Schaffen und Nachahmen: Kreative Prozesse im Mittelalter 9783110714340, 9783110713787

This volume documents the papers given at the eighteenth symposium of the German Medievalists’ Society that took place i

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German Pages 672 [674] Year 2021

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Teil 1: Verfahrensweisen
Kompilation und Kreativität
Unverständnis und Kreativität im Kopierprozess
Entkontextualisierung – Neukontextualisierung am Beispiel einer spätmittelalterlichen Sammelhandschrift
Erotische Narrative
AMAD: Neue Kontexte für den mediävistischen Diskurs
Teil 2: Imaginäre Welten
Die Erschaffung literarischer Welten im späten Mittelalter
Zwischen Tradition und Fortschritt
Hugo Primas’ Troja
‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘
Symmetrie und Symbolik
Höfische Epik neu erzählt
Ars latet arte sua
Boese bilde gebent den jungen ir alten
Teil 3: Die Welt der Höfe
Narrative Schemata in polnischer mittelalterlicher Historiographie zu deutsch-polnischen Kontakten
Prag und Burghausen um 1500
Alte Motive in neuen Kontexten
Teil 4: Religiöse Welten
Manichäismus an der Seidenstraße
Petrarcas ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ im Kontext
Das Trivulzio-Elfenbein und die Anfänge des ‚Magdalenenmotivs‘ in der Kunst
Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner im späten neunten Jahrhundert
Imitatio imitationis
‚De imitatione Christi‘
Intercessio, nicht nur imitatio
Frau Avas ‚Jüngstes Gericht‘ im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Epigonalität
Kreative Scholastik?
Mittelalterliche Alltagspsychologie
Sinnbildende Umstrukturierung?
Die Arche Noah als Pyramide
Mimesis und Aktualität
Tradition und Wandel in der Überlieferung des Gregorianischen Chorals
Klösterliche Schriftkultur im Überlieferungskontext
Einige Gründe für Variantenbildung im Gregorianischen Choral anhand von Beispielen aus dem Fragmentenbestand des Hauptstaatsarchivs Stuttgart
Digitale Methoden zur Erforschung der Überlieferungsgeschichte des Gregorianischen Chorals
Computergestützte Tools zur Codierung des Gregorianischen Chorals
Teil 5: Globale Begegnungen
Von der Reise zur Karte und zurück
Geographische Kataloge als narrative Strukturen historischen Erzählens im Spätmittelalter
Die Stimme aus dem Grab
Lagerfeuergeschichten
Namensregister
Ortsregister
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Schaffen und Nachahmen: Kreative Prozesse im Mittelalter
 9783110714340, 9783110713787

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Schaffen und Nachahmen

Das Mittelalter Perspektiven mediävistischer Forschung

Beihefte Herausgegeben von Ingrid Baumgärtner, Stephan Conermann und Thomas Honegger

Band 16

Schaffen und Nachahmen Kreative Prozesse im Mittelalter Herausgegeben von Volker Leppin unter Mitarbeit von Samuel J. Raiser

Die Drucklegung dieser Publikation wurde durch den Mediävistenverband e.V. finanziell gefördert. Der Peer Review wird in Zusammenarbeit mit themenspezifisch ausgewählten externen Gutachterinnen und Gutachtern sowie den Beiratsmitgliedern des Mediävistenverbands e.V. im Double-BlindVerfahren durchgeführt.

ISBN 978-3-11-071378-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-071434-0 e-ISBN (EPUB) ) 978-3-11-071440-1 Library of Congress Control Number: 2020948064 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort „Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter“ – unter diesem Titel fand vom 17. bis 20. März 2019 in Tübingen das 18. Symposium des Mediävistenverbandes statt. Damit haben zwei Jahre Vorbereitung ihr Ziel gefunden, bei der ich vielfach Hilfe gefunden habe. In erster Linie ist hier meine Mitarbeiterin Monika Trick zu nennen, die jederzeit die Fäden in der Hand hielt. Im Vorfeld und auch während des Kongresses sorgte sie für eine reibungslose Organisation, von der rechtzeitigen Buchung der Hotels bis zur Bereitstellung von Technik in den Räumen und Verpflegung während der Pausen. Zur Seite standen ihr dabei meine wissenschaftlichen Mitarbeiter Fabian Kunze und Jonathan Reinert sowie mehrere Hilfskräfte, unter denen ich an dieser Stelle nur Lorenz Kohl als den Gestalter des Programmheftes hervorheben kann. Ohne ein solches tatkräftiges Team hätte der Kongress nicht stattfinden können – und auch nicht ohne die finanzielle Unterstützung, für die ich mich insbesondere bei der Universität Tübingen, dem Universitätsbund Tübingen sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft bedanke. Für mich selbst ging mit diesem Symposium eine langjährige Tätigkeit in leitenden Gremien des Mediävistenverbandes zu Ende. 2005 wurde ich, damals noch unter Hans-Werner Goetz als Präsident, in den Beirat berufen, um dort das Fach Theologie zu vertreten. Diese Funktion behielt ich bei, bis ich 2011 selbst Präsident des Verbandes wurde. Nach dem Wechsel dieses Amtes in die Hände von Wolfram Drews im Jahre 2017 gehörte ich dem Präsidium noch zwei Jahre als Vertreter des nächsten Symposiumsortes an. Diese vierzehn Jahre waren prägend und bereichernd, nicht zuletzt, weil der Mediävistenverband aufgrund seiner interdisziplinären Zusammensetzung vielfache Möglichkeiten bietet, den eigenen Horizont zu erweitern. Dies geschah in all den Jahren in einer persönlich außerordentlich angenehmen Atmosphäre, die den Verband für mich zu einer Art von wissenschaftlicher Heimat hat werden lassen, der ich auch jenseits der Funktionen verbunden bleibe. Die ersten Überlegungen zum Symposium habe ich gemeinsam mit meinem Tübinger Kollegen Steffen Patzold angestellt, dem ich für das im wahrsten Sinne des Wortes kreative Thema und jederzeitige Ansprechbarkeit danke. Aus dem Kongress einen Band zu machen stellte nun den abschließenden Schritt dar – in erster Linie danke ich den Autorinnen und Autoren für die zügige Bereitstellung ihrer Beiträge und deren Bearbeitung nach einem gründlichen Peer-Review-Verfahren. Dessen Mühe hat der Beirat des Mediävistenverbandes, durchweg präzise und pflichtbewusst, auf sich genommen. Die Koordination des Ganzen lag in den Händen von Samuel Raiser, der von unterschiedlichen Studienorten im In- und Ausland aus die Entstehung des Bandes beharrlich, präzise und umsichtig gestaltet hat. Ihm sei ganz besonders Dank gesagt! Die weiteren Schritte zur Veröffentlichung haben dann die Herausgeberinnen und Herausgeber der Reihe „Das Mittelalter. Beihefte“ und

https://doi.org/10.1515/9783110714340-202

VI | Volker Leppin

der Verlag konstruktiv gestaltet, so dass ich das Buch nun froh und dankbar der Öffentlichkeit übergeben kann.

Tübingen, im Juli 2020 Volker Leppin

Inhalt Vorwort | V Volker Leppin  Einleitung | 1

Teil 1: Verfahrens weisen  Manuel Hoder  Kompilation und Kreativität Compilatio als produktionsästhetisches Verfahren im Spiegel mediävistischer Forschung | 9 Lisa Horstmann  Unverständnis und Kreativität im Kopierprozess Die Überlieferungsgeschichte bebilderter Handschriften des ‚Welschen Gastes‘ | 27 Katrin Janz-Wenig, Maria Stieglecker  Entkontextualisierung – Neukontextualisierung am Beispiel einer spätmittelalterlichen Sammelhandschrift Der Klosterneuburger Codex 845 | 49 Katharina Zeppezauer-Wachauer  Erotische Narrative Mit der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (MHDBDB) auf den Spuren kulinarischer Sexualmimesis | 69 Aglaia Bianchi  AMAD: Neue Kontexte für den mediävistischen Diskurs | 95

Teil 2: Imaginäre Welten  Christian Kiening  Die Erschaffung literarischer Welten im späten Mittelalter | 107 Christine Kämpfer  Zwischen Tradition und Fortschritt Literarische Imitation in der klassischen persischen Epik | 125

VIII | Inhalt

Susanna Fischer  Hugo Primas’ Troja Imitation und Innovation | 141 Michael Stolz  ‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ,Rappoltsteiner Parzifal‘ Kopistische Interventionen in der Abschrift Roma, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409 | 157 Nina Fahr  Symmetrie und Symbolik Bildliches Erzählen in den ‚Parzival‘-Illustrationen des CGM 19 | 171 Claudia Brinker-von der Heyde  Höfische Epik neu erzählt Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ in der Arolser Weltchronik | 191 Manfred Kern  Ars latet arte sua Tristans Bildersaal | 211 Christiane Richard-Elsner  Bœse bilde gebent den jungen ir alten Das Vorbild der Älteren als Sozialisationsinstanz im Mittelalter am Beispiel des ‚Renners‘ von Hugo von Trimberg | 227

Teil 3: Die Welt der Höfe  Andrzej Pleszczyński Narrative Schemata in polnischer mittelalterlicher Historiographie zu deutsch-polnischen Kontakten | 249 Magdalena März  Prag und Burghausen um 1500 Zwei Großbauprojekte als Indikator landesherrlicher Modernisierungsbestrebungen im bayerisch-böhmischen Raum | 263 Julia Burkhardt  Alte Motive in neuen Kontexten Antikenbezüge und politische Repräsentation am Hof des ungarischen Königs Matthias ‚Corvinus‘ Hunyadi (1458–1490) | 283

Inhalt | IX

Teil 4: Religiöse Welten  Christoph Markschies  Manichäismus an der Seidenstraße Oder: Kreative Prozesse der mittelalterlichen Neukonfigurierungen einer spätantiken Religion | 303 Grażyna Maria Bosy  Petrarcas ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ im Kontext | 323 Tobias Frese  Das Trivulzio-Elfenbein und die Anfänge des ‚Magdalenenmotivs‘ in der Kunst | 339 Dirk Krausmüller  Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner im späten neunten Jahrhundert Die Traktate des Niketas Byzantios gegen die Armenier und gegen die ,Westler‘ | 357 Krijn Pansters  Imitatio imitationis In the Footsteps of the Imitation of Christ in Early Franciscan Texts | 373 Ulrike Treusch  ‚De imitatione Christi‘ Nachahmung in christlicher Frömmigkeit im Spannungsfeld von Kompilation und Neuschöpfung | 391 Daniela Blum  Intercessio, nicht nur imitatio Konzepte der Nachahmung Christi in hagiographischen Texten des 13. Jahrhunderts | 407 Aleksej Burov  Frau Avas ‚Jüngstes Gericht‘ im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Epigonalität | 423 Marcel Bubert  Kreative Scholastik? Fragen, Probleme und Perspektiven zur Erforschung von Kreativität in mittelalterlichen Expertenkulturen | 433

X | Inhalt

Nicolas Huss  Mittelalterliche Alltagspsychologie Über die Bedeutung humoralcharakterologischen Wissens für die Literatur im 13. Jahrhundert | 451 Elke Zinsmeister  Sinnbildende Umstrukturierung? Fassungsunterschiede im ‚Evangelienwerk‘ des Österreichischen Bibelübersetzers | 469 Heide Klinkhammer  Die Arche Noah als Pyramide Neukontextualisierung hermetischer Legenden im Rahmen des Unionskonzils in Florenz | 485 Hanns Peter Neuheuser  Mimesis und Aktualität Die Generierung eines nachahmungsgerechten Archetyps für die Vollzüge der mittelalterlichen Liturgie | 509 Stefan Morent  Tradition und Wandel in der Überlieferung des Gregorianischen Chorals Liturgisch-musikalische Fragmente und digitale Untersuchungsmethoden. Eine Einleitung zu den folgenden musikwissenschaftlichen Beiträgen | 527 Peter Rückert  Klösterliche Schriftkultur im Überlieferungskontext Kontinuitäten und Brüche | 531 Waltraud Götz  Einige Gründe für Variantenbildung im Gregorianischen Choral anhand von Beispielen aus dem Fragmentenbestand des Hauptstaatsarchivs Stuttgart | 545 Stefan Morent  Digitale Methoden zur Erforschung der Überlieferungsgeschichte des Gregorianischen Chorals | 551 Paul Hoppe, Stefan Morent  Computergestützte Tools zur Codierung des Gregorianischen Chorals Ein neuer Eingabe-Editor für das MEI neumes-module | 555

Inhalt | XI

Teil 5: Globale Begegnungen  Ingrid Baumgärtner  Von der Reise zur Karte und zurück Kreative Prozesse und kulturelle Praktiken | 563 Paul Martin Langner  Geographische Kataloge als narrative Strukturen historischen Erzählens im Spätmittelalter Dargestellt am Beispiel Peter Suchenwirts | 597 Thomas Schauerte  Die Stimme aus dem Grab Dürers ,Traum des Doktors‘ und der römische Leichenfund von 1485 | 609 Wiebke Ohlendorf  Lagerfeuergeschichten Die kompilatorische Rezeption des Nibelungenstoffs bei Quentin Tarantinos ‚Django Unchained‘ | 627 Namensregister | 649 Ortsregister | 657

Volker Leppin

Einleitung Den Anstoß, das Thema „Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter“ für ein mediävistisches Symposium und damit auch für den daraus hervorgegangenen Band zu wählen, bildeten die Debatten um eine Neureflexion und -bestimmung des Verhältnisses von Schaffen und Nachahmen, die die Öffentlichkeit lange Zeit bewegt haben. Die Diskussionen über Plagiate hochrangiger Politikerinnen und Politiker stellen nur die äußerlich wahrnehmbare Spitze dieser Fragestellungen dar, die sich aus der Umwälzung medialer Prozesse ergeben. Wo ein Fingerklick das berühmte „copy and paste“ auslösen kann, wo die vermutlich meist genutzte Enzyklopädie der Welt als Kollaborationswerk im Wiki-Modus entsteht, stellen sich die Fragen nach Ursprünglichkeit und Nachahmung grundlegend neu. Nur wenige Monate nach der Tagung rief in der Tübinger Kunsthalle die Ausstellung „Comeback“ die Frage nach der verändernden Zitation als Kunstform neu ins Bewusstsein. Der Deutschlandfunk bemerkte in seinem Bericht darüber: „Aneignen, Zitieren, Kopieren, Verfremden – der kreative Rückgriff auf kunsthistorische Vorbilder hat Konjunktur“1. Man könnte den Bogen sogar noch weiter spannen, bis in bedrohliche ethische Szenarien: In die erste Vorbereitungszeit des Symposiums fielen die Nachrichten über den chinesischen Forscher He Jiankui und seine Erfolge bei der Genmanipulation von menschlichen Embryonen: „Ein Mann spielt Gott“, titelte die Süddeutsche Zeitung damals.2 Und war damit in der Beobachtung genetischer Nachahmung recht nah beim Thema „Schaffen“. All dies sind Anzeichen, dass herkömmlich der Moderne zugerechnete Konzepte von Autorschaft, Urheberrecht, Originalität und Plagiat in Bewegung geraten sind. Wenn dem so ist, stellt sich allerdings auch die Frage, ob sich das Verhältnis der modernen Kultur zu den Kulturen des Mittelalters in diesen Fragen noch ohne weiteres über dieselben dichotomischen Modelle der Alterität von Mittelalter und Moderne beschreiben lässt, wie es vielfach üblich geworden ist.3 Möglicherweise sind die Verfahren ja vergleichbar, vielleicht nähern sich nach einer Phase der Betonung unableitbarer Originalität die Konzepte von Autorschaft wieder den mittelalterlichen Verhältnissen an. || 1 https://www.deutschlandfunkkultur.de/comeback-in-der-kunsthalle-tuebingen-das-neue-im-alte n.1013.de.html?dram:article_id=454440 (02.05.2020). 2 https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/genmanipulation-china-crispr-1.4230761?reduced=tru e (02.05.2020). || Volker Leppin, Institut für Spätmittelalter und Reformation, Universität Tübingen, Liebermeisterstr. 12, D-72076 Tübingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-001

2 | Volker Leppin

Solche Überlegungen gaben den Anlass, der Spannung von Schaffen und Nachahmen bei kreativen Prozessen des Mittelalters auf dem Symposium nachzugehen. Dabei standen drei Felder im Mittelpunkt des Tagungsgeschehens: „Original – Kopie“, „Urbild – Abbild“ sowie „Entkontextualisierung – Neukontextualisierung“. Schon während der Vorbereitung zeichnete sich ab, dass sich das Interesse an diesen Schwerpunkten nicht so gleichmäßig verteilte wie ursprünglich erwartet: Die allermeisten Beiträge richteten sich auf den letztgenannten Schwerpunkt, die Fragen der Einpassung in Kontexte. Diese Umgewichtung ist einer der Gründe, warum die Publikation der Tagungsbeiträge, die ohnehin nur in Auswahl geschieht, sich nicht einfach dem Tagungsschema angleichen konnte, sondern, den nun vorhandenen Beiträgen folgend, neue und andere Schwerpunkte setzt. So geht diese Veröffentlichung den Debattenlinien nach, die sich während der Tagung herausgestellt haben. Ein wichtiger Gesichtspunkt war, danach zu fragen, welche Verfahren überhaupt gewählt wurden, um nachahmend und schöpferisch zugleich tätig zu sein. Kreativität ist auch in solchen Bereichen zu beobachten, die aus der Sicht der Moderne meist eher als Prozesse minderen Werts betrachtet werden, in der Sicht der jüngeren Mediävistik aber in ihrer eigenen Bedeutung gewürdigt wurden. Das Sammeln und Kompilieren (HODER, JANZ-WENIG / STIEGLECKER) gewinnt so eigene Dignität, ja, auch das pure Abschreiben erscheint eben als mehr als der moderne copy-Prozess, weil er Verständnis voraussetzt und wo dieses fehlt, auch Kreativität freisetzen kann (HORSTMANN). Achtet man hierauf, so wird auch deutlich, dass das, was modern als „tool“ benutzt wird (ZEPPEZAUER-WACHAUER, BIANCHI), oft eine besondere Form des Sammelns darstellt und eben hierdurch wissenschaftliche Durchdringung ermöglicht. Auch darin sind wir also unseren mittelalterlichen Vorläufern gar nicht so fern. Noch fappierender wird das Ineinander von Schaffen und Nachahmen, blickt man auf jene imaginären Welten, die für uns in den Bereich der Ästhetik fallen. Es ist deutlich erkennbar, dass Vorstellungen von genialischer Schöpferkraft wenig Anhalt in der mittelalterlichen Produktion von Kunst und ihrem zeitgenössischen Verständnis haben. Die Ästhetik des Mittelalters vollzog sich anders als die moderne, stärker eingebunden in Vollzüge sozialer Praxis,4 und muss genau deswegen auch in steter Verbindung mit diesen betrachtet werden. Das zeigt eine ganze Reihe von Beiträgen, die sich um den Hauptvortrag von Christian KIENING gruppieren. || 3 Klassisch hat die Diskussion zusammengefasst Hans-Werner GOETZ, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999; zur neueren Diskussion vgl. Manuel BRAUN (Hg.), Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität, Göttingen 2013; Klaus RIDDER u. Steffen PATZOLD (Hgg.), Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität (Europa im Mittelalter 23), Berlin 2013. 4 Vgl. hierzu Annette GEROK-REITER u. a. (Hgg.), Ästhetische Reflexionsfiguren in der Vormoderne, Heidelberg 2019.

Einleitung | 3

KIENING selbst ist anhand von drei Werken der Vorstellung von Reisen und der Erschaffung literarischer Welten im Mittelalter nachgegangen, und hat an ihnen gezeigt, wie sich auf eine Weise, die nicht einfach auf das gegenüber von Fantasie und Realität festzulegen ist, für die Rezipienten im Bereich des Bekannten Spielräume des Unbekannten eröffnen. Auch in der Literatur liegen die Fragen nach Kopie und Schaffenskraft unmittelbar ineinander (STOLZ). Vor allem aber zeichnen sich diese imaginären Welten durch vielfache literarische Bezüge aus. Zu einem wichtigen Leitthema der literaturhistorischen Beiträge hat sich so der Zusammenhang zwischen vorgegebenen Texten und ihren Nachahmungen und -dichtungen herausgestellt (KÄMPFER, FISCHER, BRINKER-VON DER HEYDE). Das, was heute vor allem in Filmen als ‚Remake‘ erscheint, hat eine lange Tradition der hochkomplexen intertextuellen Beziehung, die auf einen gemeinsamen Grundstoff oder -plot rekurriert. Film und Mittelalter können sich dabei sogar begegnen (OHLENDORF), aber vor allem gelten diese intertextuellen Bezugnahmen innerhalb der mittelalterlichen literarischen Welten selbst. Das immer Gleiche wird immer neu erzählt, und gerade darin entsteht eine künstlerisch ansprechende Form. Die imaginären Welten haben sich dabei immer wieder auch in sprachliche und real in den Handschriften greifbare Bilder umgesetzt (FAHR, KERN). So erschließen sie sich den mittelalterlichen wie den heutigen Rezipierenden auf vielfältige Weise. Zugleich sind sie an soziale Gegebenheiten zurückgebunden. Das gilt für die sozialen Welten wie etwa die Darstellung des Alters (RICHARD-ELSNER), vor allem aber für die immer wieder angesprochenen höfischen Welten (PLESZCZYŃSKI, MÄRZ, BURKHARDT). Eben hier zeigen sich auch die heute virulenten Fragen für eine Mediävistik, die sich interdisziplinär versteht. Die sozialhistorischen Forschungen zur höfischen Epik5 kann man auch kritisch befragen, ob sie der von KIENING prägnant in Erinnerung gerufenen Eigenlogik der Literatur und auch der anderen Künste immer Rechnung getragen oder nicht gelegentlich die literaturwissenschaftlichen Zugriffe durch historische gewissermaßen absorbiert haben. In der jüngeren Forschung wird immer stärker auch die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Eigenlogik des literarischen Schaffens eingeklagt6 – und doch bleibt die Aufgabe, diese Eigenlogik nicht von den festgestellten sozialen Bezügen unabhängig zu behandeln, sondern die gegenseitigen Bezüge auf- und auszuarbeiten. Der vorliegende Band leistet hierzu einen Beitrag und muss doch auch die Grenze eingestehen, dass die Beiträge je nach ihrer disziplinären Zuordnung die eigenlogisch künstlerische oder die sozialhistorisch-kontextuelle Seite stärker betonen. Ziel muss es sein, beides in einer Weise aufeinander zu beziehen, die letztlich keine Forscherpersönlichkeit für sich allein

|| 5 Klassisch: Joachim BUMKE, Höfische Kultur, 12. Aufl. München 2008. 6 Florian KRAGL u. Christian SCHNEIDER (Hgg.), Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011, Heidelberg 2013.

4 | Volker Leppin

leisten, sondern die stets nur durch das Miteinander unterschiedlicher Perspektiven angestrebt werden kann. Das gilt auf andere Weise natürlich auch für das Feld der Religion und deren Eigenlogik, der in diesem Band in sehr unterschiedlichen Perspektiven nachgegangen wird. Den Auftakt zu dieser Sektion bildet wiederum ein Plenarvortrag: Christoph MARKSCHIES’ Studie zu unterschiedlichen Transformationen des Manichäismus an der Seidenstraße mit interessanten Einblicken in die Interferenzen verschiedener Religionssysteme. Die weiteren Beiträge konzentrieren sich in auffälliger Weise auf das Motiv der Nachahmung, obwohl doch Schaffen und Schöpfung auch mancherlei Anlass für religiös-theologische Reflexionen gegeben hätten. Besondere Faszination entwickeln offenbar allgemeine Konzepte der Nachahmung oder Personen, die wie Maria Magdalena hierzu besonders einladen (BOSY, FRESE). Sie haben sich in verschiedenen Frömmigkeitsmilieus jeweils neu geformt. So liegt es nahe, dass ein Orden, der wie die Franziskaner auf eine Gründergestalt blickte, in der Christus durch die Stigmatisation neu Wirklichkeit geworden war, auch den Gedanken der Nachahmung besonders pflegte (PANSTERS), aber im Spätmittelalter dehnte sich dieses Konzept weit in Kreise allgemeiner laikaler Frömmigkeit aus (TREUSCH). Nachahmung wurde so als ethisches Konzept gelebter christlicher Frömmigkeit zu einem Impuls für bürgerliche Innovationskräfte, die dazu tendierten, die tradierten Einteilungen insbesondere zwischen Klerikern und Laien ins Wanken zu bringen. Ethisches Wohlverhalten war auch deswegen angeraten, weil das Leben unter der Spannung und Erwartung des Jüngsten Gerichts stand (BUROV) – und gerade in diesem konnten nun wieder Menschen helfen, die sich besonders durch rechte Nachahmung hervorgetan hatten, dadurch nun aber zur Fürbitte geeignet waren: die Heiligen (BLUM). Handelt es sich bei diesen Fragen um die Besonderheiten der Frömmigkeitswelt, so zeigt sich, dass in den Bereichen der Theologie im engeren Sinne ähnliche Problemfelder begegnen wie bei der Literatur: Es kommt zur Neuaufnahme literarischer Vorbilder innerhalb des eigenen Autoritätensystems (KRAUSMÜLLER) sowie zur Herausbildung von Expertenkulturen mit ihren eigenen Logiken (BUBERT), die sich dann wiederum mit ihren ausgefeilten Wissensformen anders gestalten als bestimmte alltagsweltliche Wissensformen (HUSS) und umgekehrt durch neue Wissenswelten herausgefordert werden können (KLINKHAMMER). Dass Theologie auch im Spätmittelalter nicht allein eine Sache der Universitäten blieb, zeigt sich an der Bibelübersetzungspraxis (ZINSMEISTER), die zugleich eben als Übersetzung eine eigene Form des Bezugs zwischen Original und Nachbildung mit sich brachte. Bewegen sich die Studien hier am Übergang zwischen Sprachwissenschaft und Theologie, so ist klassischerweise auch die Musik ein Feld, in dem sich Theologie in den Vollzügen mittelalterlicher Liturgie zum Ausdruck bringt (NEUHEUSER). Besondere Bedeutung kommt hier dem Gregorianischen Choral zu, dem entsprechend auf dem Kongress eine ganze, nun auch geschlossen publizierte Sektion gewidmet war, die Stefan MORENT organisiert hat (RÜCKERT, GÖTZ, HOPPE).

Einleitung | 5

Viele der Fragestellungen, die auf diese Weise behandelt wurden, erweisen sich als allmähliche Weiterbildung sehr klassischer Fragestellungen der Mediävistik. Die Frage, woher etwas stammt und wie es weiterentwickelt wird, hat auch schon im 19. Jahrhundert die Gelehrten beschäftigt – verschoben hat sich die Perspektive. Es gibt keine klare Wertung mehr in dem Sinne, dass Originalität als impliziter Maßstab gilt, sondern die verschiedenen Beiträge würdigen auch jene Formen von Kreativität, die sich selbst in Abhängigkeit von anderem verstehen. Zu solchen Verschiebungen der Fragestellungen gehört auch, dass Kulturkontakte heute in einen Kontext der Globalisierung eingezeichnet werden. Die Frage nach globalen Begegnungen bedeutet im mediävistischen Sinne nicht, dass die ganze Welt in den Blick genommen, sondern dass die geographische und kulturelle Andersheit thematisch wird. Das gilt für die Kartographie, zu der Ingrid BAUMGÄRTNER den dritten Plenarvortrag beigesteuert hat. Karten erscheinen hierin als eine hybride Gattung: Sie wurden kopiert, modifiziert und neu kontextualisiert und zeigen so exemplarisch die Spannung zwischen der Persistenz des Vorgegebenen und kreativen Neuschöpfungen. Sie sind freilich nicht das einzige Medium der Vermessung der Welt – diese konnte auch durch narrativ eingebaute geographische Kataloge erfolgen (LANGNER). Die sich in der Geographie widerspiegelnde Erfassung einer Vielfalt der Welt war dann Anregung und Herausforderung – bis dahin, dass Ereignisse in Rom ihren Niederschlag in der nordalpinen Kunst finden konnten (SCHAUERTE). Damit schließt sich der Kreis der Untersuchungen zu Schaffen und Nachahmen, in denen vor allem deutlich wird, dass sich mit diesen beiden Begriffen ein synergetisches Spannungsfeld auftut. Neuschaffung, so scheint es, geht gar nicht ohne einen Anteil der Nachahmung. Die Frage ist nur, wie sich das Verhältnis beider bestimmt. Das Thema ist wie vielleicht kaum ein anderes dazu geeignet, Alterität und Anknüpfung ineinander zu sehen. Es dient dazu, die aus der Moderne gebildeten vereinnahmenden Kategorien von Kreativität zu hinterfragen und zu unterlaufen, und es zeigt doch zugleich auch, dass eben jene vielfältigen Kreativitätsprozesse der Moderne, die den hohen normativen Ansprüchen einer Geniekultur nicht entsprechen, nicht etwa einfach Defizienzerscheinungen sind, sondern Variationen vielfach geübter Techniken, zu deren Verständnis die mittelalterliche Produktivität dient. Schaffen und Nachahmen sind offenkundig nicht in einen „künstlerischen“ Bereich der Kultur sektorierbar, sondern sie erweisen sich als Grundstruktur menschlichen Handelns auch im wissenschaftlichen, ethischen oder religiösen Feld. Es ginge wohl zu weit, mit diesem Band die Entdeckung eines homo imitans inaugurieren zu wollen, aber er stellt doch ein starkes Plädoyer für die Anerkennung der kreativen Kraft der Nachahmung dar.

| Teil 1: Verfahrensweisen

Manuel Hoder

Kompilation und Kreativität Compilatio als produktionsästhetisches Verfahren im Spiegel mediävistischer Forschung Abstract: Processes of compiling are of great importance for medieval production aesthetics. This pertains to the selective and restructuring incorporation of ancient culture into medieval thinking as well as to contemporary forms of textualisation which generate knowledge-based just as fictional literature. The discourse of ‘compilatio’, however, yet failed to be acknowledged as a creative process that is equal to ‘descriptio’ or ‘rewriting’. This paper aims at systematically bringing together the previous reflections of research on ‘compilatio’ by drawing essential lines of development in order to open up possible chances for further research. In doing so, it is emphasised that the focus should be on the processual dimension of compiling. The creativity of ‘compilatio’ becomes truly visible once the effects of emergence are revealed, which come to light through the recontextualisation of given material. Keywords: compilation, compilatio, production aesthetics, ‘Welscher Gast’, ‘Jüngerer Titurel’

1 Kompilation und Kreativität Für die Analyse, Deutung und Würdigung vormoderner Schriftlichkeit ist die Aufarbeitung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Produktionsästhetik ein Kerngeschäft mediävistischer Forschung. Wegweisend war hier bekanntlich das erstarkte Bewusstsein für die historische Kontinuität der lateinischen Dichtungstradition und ihr Weiterwirken in den volkssprachlichen Literaturen Europas1 sowie, in der Folge, das ‚Wagnis‘ einer historisierten Literaturtheorie deutschsprachiger Epik.2 In beiden Fällen wird derselbe Perspektivenwechsel vollzogen: Anstelle vormoderne Autoren

|| 1 Ernst Robert CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Aufl. Tübingen u. a. 1993. 2 Walter HAUG, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Mit einem Vorwort von Claudia BRINKER-VON DER HEYDE, 2. Aufl. Darmstadt 1992, hier S. 1, 3. || Manuel Hoder, Institut für Germanistik, Technische Universität Braunschweig, Bienroder Weg 80, D-38106 Braunschweig, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-002

10 | Manuel Hoder

an Kategorien moderner ästhetischer Theorien seit dem 18. Jahrhundert zu messen, konstituiert sich z. B. der wirkungsreiche Modellkomplex um Wiedererzählen, Rewriting und Retextualisierung aus einem Destillationsverfahren, im Zuge dessen die Aussagen und Vorgaben mittellateinischer Poetiken und volkssprachlicher Prologe unter einer übergreifenden Dichtungslehre subsumiert werden.3 Damit liegen, so zumindest der Anspruch, historische Kriterien bereit, anhand derer zeitgenössische Verschriftlichungsprozesse gewürdigt werden können, deren Bestandteile wir heute auch ‚kreativ‘ nennen würden. Für den produktionsästhetischen Diskurs der compilatio lassen sich ähnliche Bemühungen beobachten; diese haben aber nicht zu denselben Effekten geführt. Kompilation und Kreativität sind weiterhin zwei Begriffe, die größtenteils als inkommensurabel angesehen werden. 1976 veröffentlichte Malcolm B. PARKES eine Studie, in welcher der verbesserte Organisations- und Darbietungsgrad von handschriftlichen Reproduktionen ab dem 13. Jahrhundert mit dem rezeptionsästhetischen Wandlungsprozess von meditativ ausgerichteter „monastic lectio“ hin zu argumentativ-konkludierender „scholastic lectio“ verknüpft wird.4 Aus dem damit erwachsenden Bedürfnis der Wissensreorganisation extrahierte PARKES anhand verschiedener Quellentexte das Konzept der ordinatio als hochmittelalterliche Denk-, Schreib- und Darbietungspraxis „providing a theoretical foundation for attempts to meet the reader’s practical needs.“5 Für die produktionsästhetische Realisierung der ordinatio führte PARKES wiederum mit den Gewährsmännern Vinzenz von Beauvais und Bonaventura das Prinzip der compilatio „as a form of writing and as a means of making material easily accessible“6 in die Forschungsgeschichte ein. Die wissenssoziologische Herleitung des compilatio-Begriffs lässt sich potentiell auf den makroskopischen Akkulturationsprozess der antiken auctores in das mittelalterliche Denksystem erweitern. Denn die Integration der antiken Literatur erfolgte nachweislich nicht ganzheitlich, sondern durchlief vor dem Hintergrund der lectio christiana restrukturierende Prozesse der Selektion, der Entkontextualisie|| 3 Zum Wiedererzählen vgl. v. a. Franz Josef WORSTBROCK, Wiedererzählen und Übersetzen, in: Walter HAUG (Hg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, S. 128–142. Zum Rewriting vgl. Douglas KELLY, The Conspiracy of Allusion. Description, Rewriting, and Authorship from Macrobius to Medieval Romance, Leiden, Boston, Köln 1999. BUMKE unternimmt den Versuch einer systematisierten Übersicht von volkssprachlichen Bearbeitungsprozessen, die er unter dem Begriff der Retextualisierung zusammenfasst: Joachim BUMKE, Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. Ein Überblick, in: DERS. u. Ursula PETERS (Hgg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur (Sonderhefte der ZfdPh. 124), Berlin 2005, S. 6–46. 4 Malcolm B. PARKES, The Influence of the Concepts of Ordinatio and Compilatio on the Development of the Book, in: Jonathan J. G. ALEXANDER u. Margaret T. GIBSON (Hgg.), Medieval Learning and Literature. Essays presented to Richard William Hunt, Oxford 1976, S. 115–141, hier S. 115. 5 Ebd., S. 121. 6 Vgl. ebd., S. 127–133, das Zitat auf S. 137.

Kompilation und Kreativität | 11

rung und der Atomisierung einzelner Wissensbestände.7 In diesem Licht können kompilatorische Prozesse als produktionsästhetische Kategorie nicht nur einen ähnlich konstitutiven Stellenwert wie etwa die imitatio beanspruchen; sie können, wenn man ebenso die Kehrseite des partikularisierenden modus excerpatoris einbezieht, auch als kreative ars des Rekontextualisierens und Reframings verstanden werden. Dass eine Würdigung der compilatio trotz der gleichen Voraussetzungen im selben Maße ausgeblieben ist, hat mehrere Gründe. Einer davon liegt im Informationscharakter von Werken, die gewöhnlich der Textsorte ‚Kompilation‘ zugerechnet werden.8 Paradoxerweise fallen Fragen der Produktionsästhetik bei solchen Texten solange durch das Raster, wie diese ihrer eigentlichen, paradigmatischen Funktion als Nachschlagewerke nach untersucht werden, d. h. stichprobenartig und gebrauchsorientiert. Der Blick für die ästhetische Komposition des verarbeiteten Materials sollte sich in vielen Fällen erst öffnen, wenn diese Texte wie literarische Werke primär syntagmatisch nachvollzogen werden. Eng damit zusammen hängt die Überlieferungssituation der kompilatorischen Arbeit als Kulturtechnik. Im Gegensatz zum Paradigma des modus tractandi 9 oder der descriptio10 ist keine explizite ars compilatoris bzw. ‚Poetik der Kompilation‘ aufgezeichnet worden.11 Ganz im Gegenteil: Matthäus von Vendôme nutzt den Terminus compilo im Prolog seiner ‚Ars versificatoria‘ in der Bedeutung eines dilettantischen Zusammenflickens von Versen,12 welche die traditionelle Dichotomie von kreativem auctor und epigonalem

|| 7 Vgl. dazu den Überblick von Dina DE RENTIIS, Imitatio, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4 (1998), Sp. 235–303, hier bes. Sp. 246–257. 8 Darauf weist bereits Gert MELVILLE, Mittelalterliche Geschichtskompendien – eine Aufgabenstellung, in: Römische historische Mitteilungen 22 (1980), S. 51–104, hier S. 52 hin. 9 So v. a. in der ‚Poetria Nova‘ und im ‚Documentum de modo et arte dictandi et versificandi‘ Galfrids von Vinsauf. 10 So v. a. in der ‚Ars versificatoria‘ des Matthäus von Vendôme, bes. I, 38–118, zit. nach Edmond FARAL, Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Age, Paris 1924, S. 118–151. 11 Am ehesten käme dafür die Apologia Actoris Vinzenz’ von Beauvais infrage, die als eine Art Prolog zum ‚Speculum Maius‘ fungiert, vgl. dazu v. a. Alastair J. MINNIS, Late-Medieval Discussions of Compilatio and the Rôle of the Compilator, in: PBB 101 (1979), S. 385–421, bes. S. 387–398. 12 Prologus, 7, zit. nach FARAL (Anm. 10), S. 110, Sperrung MH: Amplius pannorum assutores ab inspectione hujus operis excludantur. Cum enim multi vocati sunt versificatores, pauci vero election, quidam soli innitentes vocabulo potius anhelant ad versuum numerum quam ad elegantiam numeratorum, et, versum panniculosum subvertentes, qui trunco, non frondibus efficit umbram, nugarum aggregationem nituntur in unum c o m p i l a r e – „Darüber hinaus sollten die Zusammenflicker der Lumpen [vgl. Hor. Ars poet. 16] vom Studium dieses Werkes ausgeschlossen werden. Denn obwohl viele zum Verseschmieder berufen werden, werden nur wenige wahrhaft als solche erwählt [vgl. Mt 22,14]; einige beharren (jedoch) auf der Bezeichnung und lechzen lieber nach dem (korrekten) Versmaß als nach der Eleganz des Metrums (selbst) und produzieren verderbliche Flickverse, die (nur) den Schatten eines Stammes anstelle den von Blätterwerk spenden [vgl. Luc.

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compilator nachgerade erhärtet. Will man entsprechend, e contrario, eine implizite Poetik der compilatio rekonstruieren, ist man neben historiographischen Prologen13 auf eine diskursgeschichtliche Auswertung der Nutzung poetologischer Analogien angewiesen. Beispiele hierfür wären das Prinzip der Blütenlese in Senecas Bienengleichnis14 oder die aus der Vergilrezeption stammende Metapher der Herkuleskeule.15 Mindestens ebenso drängend erscheint mir neben diesen vorwiegend quellenbezogenen Problemen eine forschungsgeschichtliche Aufarbeitung. Eine zusammenhängende Darstellung des compilatio-Diskurses in der mediävistischen Forschung seit PARKES fehlt.16 Zwar mangelt es nicht an Teilzusammenfassungen und in den einschlägigen Beiträgen an jeweils zeitgenössischen Referenzen, die für das Modell der compilatio ins Feld geführt werden. Der Gesamtzusammenhang ist aber entweder lückenhaft17 oder gar fehlerhaft18 aufgearbeitet. || Phars. I, 140] und streben danach, eine Anhäufung von lächerlichen Kleinigkeiten in eins zusammenzuraffen.“ (Übers. MH) 13 Vgl. dazu MELVILLE (Anm. 8), S. 61 f. sowie Bernard GUENÉE, L’historien et la compilation au XIIIe siècle, in: Journal des Savants 1–3 (1985), S. 119–135, hier S. 125: „L’étude attentive des prologues historiques du XIIIe siècle montre que, de plus en plus, l’historien justifie la compilation et chante ses vertus.“ 14 So u. a. bei Hieronymus, Basilius von Caesarea, Macrobius, Petrus von Blois und Richard de Bury. MELVILLE plädiert ebenfalls dafür, dass der Metaphorik der flores der Gedanke des maßgeblichen Arbeitsprinzips des Kompilierens zugrunde liegt, vgl. Gert MELVILLE, Zur „Flores-Metaphorik“ in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung. Ausdruck eines Formungsprinzips, in: Historisches Jahrbuch 90 (1970), S. 65–80, hier S. 66 mit weiteren Belegen. 15 In der ‚Vita Suetonii vulgo Donatiana‘ wird berichtet, Vergil habe den verbreiteten Vorwurf des Homer-Plagiats gegenüber seinen obtrectatores folgendermaßen gekontert, VSD, § 46, zit. nach Vergil, Landleben, hrsg. v. Johannes u. Maria GÖTTE, Vergil-Viten, hrsg. v. Karl BAYER, München, 5. Aufl. Zürich 1987: cur non illi [= obtrectatores, MH] quoque eadem furta temptarent? Verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero versum subripere – „Warum denn jene Kritiker nicht dieselben Plagiate versuchten? Aber sie würden bald einsehen, daß es leichter sei, dem Herkules die Keule als dem Homer einen Vers zu entreißen“ (Übers. BAYER, ebd., S. 229). Die Replik wird u. a. von Rufinus von Aquilea, Isidor von Sevilla, Ranulf Higdon und John Trevisa rezipiert. 16 Hilmar KALLWEIT, Kompilation, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [RLW], Bd. 2 (2007), S. 317–321, hier S. 321, Sp. 1 gibt bspw. für den compilatio-Diskurs im engeren Sinn nur den Aufsatz von PARKES (Anm. 4) an. 17 Das gilt insb. für die kontinentaleuropäische Rezeption, wo z. B. der kritische Beitrag von Richard H. ROUSE u. Mary A. ROUSE, Ordinatio and Compilatio revisited, in: Mark D. JORAN u. Kent EMERY JR. (Hgg.), Ad litteram. Authoritative Texts and their Medieval Readers, Notre Dame, IN u. a. 1992, S. 113–134 nur von Irene Ruth KUPFERSCHMIED, Untersuchungen zur literarischen Gestalt der Kristni saga, München 2009, hier S. 133–142 überhaupt konstruktiv rezipiert wird, obwohl MINNIS selbst bereits 2006 eine Übersicht über den britischen Diskurs incl. Replik veröffentlicht hatte, vgl. Alastair J. MINNIS, Nolens auctor sed compilator reputari: The Late-Medieval Discourse of Compilation, in: Mireille CHAZAN u. Dahan GILBERT (Hgg.), La méthode critique au Moyen Âge (Bibliothèque d’histoire culturelle du Moyen Âge 3), Turnhout 2006, S. 47–63, hier bes. S. 50–56. Vgl. auch Anm. 18.

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Ziel dieses Beitrages ist es daher, im modus compilatoris einen systematisierten Umriss der bisherigen zentralen Beschäftigung mit dem Konzept der compilatio seit PARKES zu skizzieren. Der Fokus liegt dabei auf logischen Entwicklungslinien und methodischen Perspektiven. Leitend wird folgender Fragehorizont sein: Kann die compilatio überhaupt als tragfähiges produktionsästhetisches Konzept eigener Provenienz gelten? Oder führt die Beschäftigung damit ins Leere, weil der Begriff eine modern-anachronistische Projektion darstellt oder zu unscharf bleibt, um damit weiterführende Aussagen treffen zu können? Daran schließt sich die Frage nach der Übertragbarkeit der compilatio weg von einem engen, auf zeitgenössische Sach- und Gebrauchstexte beschränkten Verständnis hin zur Öffnung auf die fiktionalliterarische Produktionsästhetik des Mittelalters. Schließen möchte ich mit einem Vorschlag, wie der compilatio-Diskurs für diesen Bereich weitergedacht werden könnte.

2 Compilatio als produktionsästhetisches Verfahren: eine Forschungskritik „Eine Geschichte des Kompilierens und der Kompilationsliteratur steht aus.“19 Der Versuch einer kurzen Geschichte der compilatio in der mediävistischen Forschung kann dieses Desiderat hier auch deswegen nicht kompensieren, weil beide Begriffe nicht synonym behandelt werden sollten, ebenso wenig wie etwa ‚Imitation‘ und ‚imitatio‘ oder ‚Deskription‘ und ‚descriptio‘. Der Unterschied ist nicht deshalb nötig, um den einen Begriff von Wertungen frei zu machen,20 die dem anderen inhärent sein mögen, und schon gar nicht um der retrospektiven Mediaevalisierung willen, sondern um eine diskursive Differenz zu markieren. Alle Beiträge zur compilatio sind sich explizit oder implizit darin einig, dass es sich hierbei, wenn überhaupt, um ein historisiertes produktionsästhetisches Konzept handelt, das ähnlich wie die descriptio vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Dichtungstheorie ein zeitspezifisches Bedeutungsspektrum innehat, das es in der historischen Rekonstruktion zu

|| 18 So datiert bspw. in seiner Forschungsübersicht Christian GEBAUER, Visionskompilationen. Eine bislang unbekannte Textsorte des Hoch- und Spätmittelalters (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 19), Münster 2013, S. 13–21, den Beitrag von PARKES (Anm. 4) auf das Jahr 1979, folgt trotz der Kritik von ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), bes. S. 117–119 weiterhin der überholten formalästhetischen Definition der ordinatio von PARKES und unternimmt auf S. 21–28 einen sehr bedenklichen Abgrenzungsversuch verschiedener Kompilationsgattungen, obwohl das Verständnis von compilatio als ‚genre‘ spätestens seit der Revision durch MINNIS selbst nicht mehr zur Debatte steht, vgl. MINNIS (Anm. 17), S. 53 f. 19 KALLWEIT (Anm. 16), S. 320, Sp. 2. 20 So BUMKE (Anm. 3), S. 10.

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beleuchten gilt. So wie auch in mittelalterlichen Quellen nicht jede Beschreibung den poetologischen Maximen der descriptio folgt, so ist auch nicht jeder Vorgang, den wir unter ‚Kompilieren‘ fassen würden, als compilatio zu bezeichnen. Unter compilatio fällt im Umkehrschluss die bewusste zeitgenössische Reflexion oder Anwendung von produktionsästhetischen Verfahren des Kompilierens, die erst im Kontext der vormodernen Wissenssoziologie und des historischen Dichtungsdiskurses ihre spezifische Bedeutung entfalten. Die forschungsgeschichtlichen Bemühungen darum, sich diesem Konzept zu nähern, kann man bis dato zeitlich wie räumlich recht genau in eine britische Konstitutionsphase (2.1) und eine kontinentaleuropäische Rezeptionsphase (2.2) des compilatio-Modells unterteilen.

2.1 Britische Konstitutionsphase Der Kern des Modells ging aus den Beiträgen von Malcolm B. PARKES und seinem Schüler Alastair J. MINNIS hervor. Obwohl PARKES die Begriffe ordinatio und compilatio forschungsgeschichtlich begründet, stehen diese bei ihm zugleich im Dienst der Erläuterung von Wandlungsprozessen der mittelalterlichen Buchkultur (s. oben). PARKES bietet entsprechend weniger bereits eine gezielte produktionsästhetische Diskursgeschichte der Konzepte selbst, sondern vielmehr eine des modus faciendi librum, die durch ordinatio und compilatio neue Impulse erhielten. Es ist wohl diesem doppelten Fokus auf die Konzepte und auf das mis-en-page der Handschriften geschuldet, dass PARKES compilatio neben der Definition von oben zudem als „literary form“ und „as a kind of book“21 beschreibt, sodass unklar bleibt, auf welche Ebene der Begriff abzielen soll und auch wie er in Relation zur ordinatio steht.22 Den eigentlichen Schritt hin zu einem autonomen Modell vollzieht dann der drei Jahre später erschienene Beitrag von MINNIS (Anm. 11). PARKES schließt seine Überlegungen mit der Bemerkung, dass im Zuge der neugegründeten Bettelorden und deren Predigtkultur ab dem 13. Jahrhundert „[c]ompiling became an industry“23, und führt dafür eine Äußerung aus Richards de Bury ‚Philobiblon‘ über die vielfältigen Formen der Buchproduktion durch die Ordensmitglieder an. Genau diese Vielfalt an spätmittelalterlicher literarischer Aktivität greift MINNIS auf und

|| 21 PARKES (Anm. 4), S. 128, 138. 22 So die Kritik von ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 116: „Parkes gives no general-purpose definition of the term compilatio […]. The shifts in terminology suggest an indecision as to whether compilatio is a form, a process, or a principle.“ Zur Kritik am Begriff der ordinatio vgl. ebd., S. 117–119. 23 PARKES (Anm. 4), S. 138.

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ordnet sie zuvorderst mit den Worten und ganz im Stile PARKES’ der mis-en-page zu.24 So überrascht es ein wenig, dass er kurz darauf ankündigt, die zeitgenössischen Äußerungen zur compilatio als „part of a new literary-theoretical justification of a medieval genre, of a literary form“25 auszuweisen. Während MINNIS später den Gattungsbegriff zugunsten von „discourse“26 fallenlässt, bleibt die hier vollzogene Wendung des compilatio-Konzepts hin zur Produktionsästhetik und zum Autorschaftsdiskurs in seinen folgenden Arbeiten erhalten.27 Die Tragfähigkeit von compilatio als Modell mittelalterlicher Produktionsästhetik ist daher primär an den Aussagen von MINNIS zu messen. In der Auseinandersetzung mit diesem ausgebildeten Verständnis von compilatio haben sich im britischen Forschungsdiskurs zwei zentrale Diskussionspunkte ausgebildet, die einerseits den Geltungszeitraum, andererseits die Gültigkeit des Modells betreffen. Der erste Punkt lässt sich anhand folgender Aussage Neil HATHAWAYs aufrollen: „Compiling is as old as the antique literary tradition itself.“28 Für das geltende Verständnis von Kompilieren würde diese Behauptung erst einmal niemand in Abrede stellen wollen.29 Der springende Punkt ist, ob der Satz auch dann gilt, wenn der produktionsästhetisch aufgeladene Begriff von compilatio angesetzt wird. MINNIS hatte sich hierzu klar positioniert, indem er die Apologia Actoris des ‚Speculum Maius‘ Vinzenz’ von Beauvais als Gründungsmanifest des compilatio-Diskurses im 13. Jahrhundert auswies.30 Mit Blick auf Vinzenz’ bekannte Äußerungen zum Verhältnis von antiqui und moderni sowie der Ausdifferenzierung eines spezifischen modus excerpatoris31 sei erst hier ein Reflexionsgrad erreicht worden, der eine || 24 MINNIS (Anm. 11), S. 385 f.: „The clearer the mise-en-page, the more readily a reader could follow an argument-line“ Compilatio sei zudem auf den „desire to make authoritative material more easily accessible“ zurückzuführen, vgl. das Zitat von PARKES auf S. 10. 25 Ebd., S. 388. 26 MINNIS (Anm. 17), S. 53 f. PARKES hat in einem jüngeren Beitrag dagegen MINNIS’ Begriff des genre aufgegriffen und weiterrezipiert, vgl. Malcolm B. PARKES, The Compilation of the Dominican Lectionary, in: Kaspar ELM (Hg.), Florilegien, Kompilationen, Kollektionen. Literarische Formen des Mittelalters (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 15), Wiesbaden 2000, S. 91–106, hier S. 105 f. 27 Vgl. bes. Alastair J. MINNIS, Medieval Theory of Authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages, London 1984, bes. S. 162 f., 190–210 sowie MINNIS (Anm. 17). 28 Neil HATHAWAY, Compilatio. From Plagiarism to Compiling, in: Viator 20 (1989), S. 19–44, hier S. 41. 29 Bereits Vergils Verarbeitung der ‚Ilias‘ und ‚Odyssee‘ Homers in der ‚Aeneis‘ hat diesem im spätantiken Diskurs unter seinen Kritikern den Beinamen Compilator beschert. Vgl. dazu Anm. 15. 30 Ähnlich auch Anna-Dorothee VON DEN BRINCKEN, Geschichtsbetrachtung bei Vincenz von Beauvais. Die Apologia Actoris zum Speculum Maius, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 34 (1978), S. 410–499, hier S. 411: „Vincenz gilt als Kompilator par excellence.“ 31 Vgl. ‚Speculum maius‘, Apologia Actoria, cap. 4, zit. nach ebd., S. 469 f.: antiquum certe materia et auctoritate, novum vero compilatione et partium aggregatione – „Das Alte [dieses Werks] liegt sicherlich im Stoff und seiner Verbürgung, das Neue wahrlich in seiner compilatio und der Anord-

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intendierte Abgrenzung vom Konzept des auctor erlaube.32 HATHAWAY beabsichtigte diesem rein mittelalterlichen Zuschnitt eine epochenübergreifende Kontinuitätsgeschichte entgegenzusetzen, indem er Vorarbeiten GUENÉEs zu einer diskursiven Begriffsgeschichte von compilatio seit der Antike aufgriff und umfassend ausarbeitete.33 Von den Beispielen, die HATHAWAY für spätantike Beschäftigungen mit kompilatorischen Prozessen anführt, stechen Schlüsseltexte wie Isidors von Sevilla ‚Etymologiae‘ oder die ‚Saturnalia‘ des Macrobius als ernstzunehmende Gegengewichte zu MINNIS’ Argumentation heraus.34 Gerade im Falle der ‚Saturnalia‘ scheint der infrage stehende Reflexionsgrad schwer von der Hand zu weisen sein, da Macrobius sowohl eine prototypische Apologia a(u)ctoris seines eigenen Werkes im Prolog als auch eine umfassende für Vergil im 5. Buch der ‚Saturnalia‘ bietet.35 Das Konzept der compilatio wird hier insoweit bereits produktionsästhetisch und diskursiv entfaltet. Kritisch betrachtet werden muss dagegen die Bewegung und die Zielrichtung von HATHAWAYs Begriffs- und Diskursgeschichte. MINNIS hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die nachgezeichnete Entwicklung von pejorativ-spätantiken hin zu neutral-mittelalterlichen Gebrauchssemantiken von compilo/compilatio nicht wie behauptet deskriptiv sei, da HATHAWAY mit dem unscharfen Begriff der „neutrality“ eine teleologische Wertung der Quellentexte von hinten einspiele.36 Auf diese Weise werden die jeweiligen Zeitgenossen letztlich auf eine epochenspezifische Semantik festgelegt, ungeachtet dessen, dass durchaus unterschiedliche Konnotationen von compilo innerhalb eines Werkes auftreten können. Obwohl eine Diskursgeschichte der compilatio im Stile HATHAWAYs in jeder Hinsicht wünschenswert für die Würdigung der Kompilation wäre, so muss die Vorstellung einer ‚progressiven‘ Bedeutungsverbesserung des Kompilierens wohl zugunsten einer pluralistischdynamischen Sichtweise aufgegeben werden. Zu jeder Zeit fand und findet das Kompilieren zugleich seine Liebhaber und Verächter. Damit tritt ein Aspekt in den Vordergrund, den MINNIS bereits 1979 kurz behandelt hatte. Die seit PARKES immer

|| nung seiner Teile“ sowie: Nam ex meo pauca, vel quasi nulla addidi. Ipsorum igitur est auctoritate, nostrum autem sola partium ordinatione – „Denn von mir stammt [in diesem Werk] wenig, ich habe sogar so gut wie nichts ergänzt. Daher ist deren Beitrag selbst die Autorität, unserer aber nur die Anordnung der Teile“ (Übers. MH). 32 Vgl. MINNIS (Anm. 11), S. 388–398. In der späteren Replik wird dies noch stärker herausgestellt; MINNIS (Anm. 17), S. 47: „Compilator-discourse, I contend, functioned in opposition to auctordiscourse.“ Vgl. auch ebd., S. 58–60. 33 Vgl. GUENÉE (Anm. 13), S. 122–124. Vgl. auch HATHAWAY (Anm. 28), S. 21. 34 Vgl. HATHAWAY (Anm. 28), S. 22, 24. Weitere Brückentexte könnten etwa die ‚Nottes Atticae‘ des Aulus Gellius (Mitte 2. Jh.) oder Cassiodors ‚Institutiones divinarum et saecularium litterarum‘ (Mitte 6. Jh.) bilden, vgl. dazu bereits mit Blick auf den Kompilationscharakter CURTIUS (Anm. 1), S. 441–452. ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 121–123 schließen sich für diesen Diskussionspunkt der Sichtweise HATHAWAYs an. 35 Vgl. Sat. 1.3–11 und bes. 5.11 (Vergil übertrifft Homer in entlehnten Stellen). 36 Vgl. MINNIS (Anm. 17), S. 52 f., 56 f. Vgl. auch die Kritik von ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 119 f.

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wieder angeführte Frequenzsteigerung an Werken mit dem Titel Compilatio seit dem 13. Jahrhundert ist nämlich nicht nur rein quantitativ als Ausdruck von Progression zu bemessen, sondern auch – oder vielmehr gerade – das Resultat von Zuschreibungsverfahren, mit denen Texte und Prozesse der compilatio zugeordnet werden.37 Der ‚Liber Sententiarum‘ des Petrus Lombardus z. B. wurde erst nachträglich durch bedeutende Kommentatoren wie Thomas von Aquin oder Albertus Magnus mit anerkennendem Gestus dem labor compilationis zugerechnet.38 Letzterer hat darüber hinaus gar innerhalb des Bibeltextes theologisch prekäre Ausdifferenzierungen von auctor und compilator vorgenommen.39 Zuletzt ist zu bedenken, dass die Zuschreibung compilator auch eine zeitgenössische Chance für weibliche Autorschaft bot, die strategisch in Anspruch genommen werden konnte, um sich offiziell von auktorialer Verantwortung loszusprechen, aber de facto rezeptionslenkend zu wirken.40 Gegen MINNIS ist also zu betonen, dass das Potential der compilatio, als Akt wie als Diskurs, lange vor Vinzenz von Beauvais präexistent war, für seine Argumentation spricht hingegen, dass compilatio als Diskurs im Sinne FOUCAULTs erst durch strategische Zuschreibungen im Hochmittelalter entscheidende Bedeutung gewinnt. Aufschluss über die Frage, ab wann von compilatio als Diskurs gesprochen werden kann, ergäbe daher zum einen insbesondere ein poetologischer Vergleich von Macrobius und Vinzenz von Beauvais, zum anderen eine Untersuchung der Strategien, mit denen Texte und Autoren, die sich selbst nicht compilatio oder compilator nennen, als solche etikettiert werden. Der zweite Diskussionspunkt ist Teil einer fundamentalen Begriffskritik, die Richard H. ROUSE und Mary A. ROUSE (Anm. 17) den Überlegungen von PARKES und MINNIS unterziehen. Der zentrale Vorwurf lautet, dass compilatio ein moderner Anachronismus sei,41 eine begriffliche Projektion, die folglich die Gültigkeit und Tauglichkeit des Modells insgesamt infrage stellt. Obwohl ROUSE u. ROUSE damit ein erläuterungsbedürftiges Problem ansprechen, muss ihre vereinnahmend argumentierende Kritik personal differenziert werden, denn – wie sie selbst sagen – hat MINNIS dem compilatio-Diskurs eine neue Stoßrichtung gegeben, die bei PARKES noch

|| 37 Vgl. MINNIS (Anm. 11), bes. S. 413–418. 38 Belege und Diskussion bei MINNIS (Anm. 11), S. 394, 413–15. 39 Vgl. ebd., S. 416 f. 40 Darauf weist Andrea SYRING, Compilatio as a Method of Middle High German Literature Production, in: Jacqueline HAMESSE u. a. (Hgg.), Medieval Sermons and Society. Cloister, City, University (Textes et études du Moyen Âge 9), Louvain-la-Neuve 1998, S. 117–143, hier S. 143 hin. 41 ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 123: „It is not unheard of, and may even be useful, to create new Latin words in order to refer to medieval phenomena that the Middle Ages never bothered to name […]. Ordinatio and compilatio do not quite fit into that category, though, because we are told that the modern interpretation is equivalent to how medieval writers used and thought of them. That is simply not the case.“

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nicht angelegt gewesen ist.42 Die Kritik an PARKES betrifft strukturell zwei Aspekte: Erstens die Einengung des compilatio-Begriffs auf die spätmittelalterliche Buchproduktion und zweitens die Applikation auf Chaucers ‚Canterbury Tales‘ Ende des 14. Jahrhunderts.43 In beiden Fällen ist ROUSE u. ROUSE grundsätzlich zuzustimmen. Die Zuspitzung der compilatio auf das mis-en-page der Buchproduktion durch PARKES war aber wie gesagt bereits ein Impuls für die produktionsästhetische Transformation des Modells durch MINNIS gewesen, sodass beide Ansätze unterschieden werden müssen. Ähnlich verhält es sich beim Transfer des compilatio-Begriffs auf Chaucer: Die gesammelten Rezeptionsbelege von ROUSE u. ROUSE zu Chaucer nutzen den älteren formalästhetischen Begriff von PARKES, obwohl sie auf produktionsästhetische Phänomene im Sinne von MINNIS abzielen.44 Das ist aber kein Argument gegen den grundsätzlichen Transfer des Begriffs auf Chaucers Dichtungsverfahren.45 Das abschließende Verdikt von ROUSE u. ROUSE, dass das Modell der compilatio „has done more harm than good“46, schießt insofern über das Ziel hinaus, als die Kritik nur bedingt für MINNIS’ Überlegungen greift. Sie beschränkt sich darüber hinaus auf Bedenken gegenüber der Nutzung von compilatio als Gattungsbegriff („genre with many species“) und auf die Behauptung, dass es sich im 13. Jahrhundert um ein neues Modell gehandelt habe, also auf Aspekte, die MINNIS entweder selbst revidiert oder in Auseinandersetzung mit HATHAWAY zur weiteren Diskussion geöffnet hat. Die Gefahr einer anachronistischen Projektion ist damit aber noch nicht gebannt. Dass Kompilieren als produktionsästhetisches Verfahren dezidiert zu zeitgenössischen Reflexionen angeregt hat, sollte nach den gesammelten Belegen von PARKES, MINNIS, GUENÉE und HATHAWAY außer Frage stehen.47 Wie präzise sich daraus allerdings ein kritischer Diskurs der compilatio extrahieren lässt und welche zeitliche und textsortenspezifische Extension dieser besitzt, ist noch zu klären. ROUSE u. ROUSE waren hier insbesondere in Bezug auf die zukünftige Wissenschaftspraxis skeptisch, da für sie spätestens „the start of a Continental usage“ von compilatio „is sure to take one (through the perils of translation) a step further away from consensus.“48

|| 42 Ebd., S. 116: „Minnis […] seems to have elevated compilatio into a literary theory of the thirteenth and later centuries, an interpretation that could derive from Parkes’s language but not, we think, one that Parkes himself intended.“ 43 Vgl. ebd., S. 114–117 (Chaucer), 123–128 (Buchproduktion). 44 Vgl. dazu ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 114–116. 45 So auch MINNIS (Anm. 17), S. 54–56 in seiner späteren Replik zu ROUSE u. ROUSE. 46 ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 127. 47 Vgl. auch MINNIS (Anm. 17), S. 49: „There is no doubt, then, of the frequency of such discourse, or of the extent to which it had permeated textual culture. Its historical significance is, however, much more problematic.“ 48 ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 116.

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2.2 Kontinentaleuropäische Rezeptionsphase Interessanterweise ist die Rezeption des compilatio-Modells in den seltensten Fällen darum bemüht gewesen, die eben skizzierten zentralen Diskussionspunkte aufzugreifen und weiterzuführen. Stattdessen beherrscht die kontinentaleuropäische Diskussion eindeutig Bemühungen um einen Transfer und eine gattungsübergreifende Öffnung des compilatio-Begriffs auf die mittelalterliche Produktionsästhetik als Ganzes. Ich beschränke mich für eine kurze Übersicht auf Arbeiten, die in dieser Hinsicht dezidiert mit dem Begriff der compilatio im Anschluss an PARKES und/oder MINNIS gearbeitet haben, ehe auf einzelne für die Diskussion entscheidende Aspekte eingegangen wird.49 1. Anwendung auf weitere Formen wissensvermittelnder Literatur: Visionsliteratur, Predigten, mystische Texte, Laster- und Tugendtraktate, (Welt-)Chroniken50 2. Transfer auf Lyrik: Chansonniers51 3. Transfer auf Epik a. geistlich: Legenden, Hagiographien52 b. weltlich: Antikenromane, späte Artusromane, Isländersagas53 Durch sowohl die naheliegende Anwendung des compilatio-Begriffs auf wissenssoziologisch verwandte Textsorten als auch den Transfer auf ein breites Spektrum an literarischen Texten ist bereits ein beträchtlicher Teil mittelalterlicher Schriftlichkeit durch Forschungsarbeiten auf das Prinzip des Kompilierens hin untersucht worden.

|| 49 Damit bleiben zwei Sammelbände zur Kompilation in dieser Diskussion außen vor: ELM (Anm. 26) sowie Stephan DUSIL, Gerald SCHWEDLER u. Raphael SCHWITTER (Hgg.), Exzerpieren – Kompilieren – Tradieren. Transformationen des Wissens zwischen Spätantike und Frühmittelalter (Millennium-Studien 64), Berlin, Boston 2017. 50 SYRING (Anm. 40); Kurt FRANZ, Kompilation in arabischen Chroniken. Die Überlieferung vom Aufstand der Zang zwischen Geschichtlichkeit und Intertextualität vom 9. bis ins 15. Jahrhundert (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients 15) Berlin, New York 2004, bes. S. 17–22; Susanne KAUP, De beatitudinibus. Gerhard von Sterngassen OP und sein Beitrag zur spätmittelalterlichen Spiritualitätsgeschichte, Berlin 2012, bes. S. 127–137; GEBAUER (Anm. 18), bes. S. 13–28; Bernd POSSELT, Konzeption und Kompilation der Schedelschen Weltchronik (MGH. Schriften 71), Wiesbaden 2015, bes. S. 61–65, 95–102. 51 Sylvia Jean HUOT, Lyric Poetics and the Art of Compilatio in the Fourteenth Century, Princeton 1982, bes. S. 6–13; Elizabeth W. POE, Compilatio. Lyric Texts and Prose Commentaries in Troubadour Manuscript H (Vat. Lat. 3207), (The Edward C. Armstrong Monographs on Medieval Literature 11), Lexington, KY 2000, bes. S. 16–23. 52 Monika RENER, Compilatio – ex diversis collecta compositio. Eine spätmittelalterliche Werkform, dargestellt am Beispiel der Vita S. Elyzabeth und der Vita S. Dominici des Dietrich von Apolda, in: Archiv für Diplomatik 41 (1995), S. 193–209. 53 BUMKE (Anm. 3); KUPFERSCHMIED (Anm. 17), bes. S. 133–141; Rachel RAUMANN, Kompilation und Narration. Ulrich Füetrers ‚Buch der Abenteuer‘ als epische Literatur-Geschichte (Encomia Deutsch 5), Göttingen 2019, bes. S. 121–131.

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Grundsätzlich ist dabei zu beobachten, dass compilatio sich begrifflich oft erst durch die Abgrenzung zur bloßen Sammlung konstituiert.54 Auf Predigttexte übertragen definiert SYRING compilatio als Methode der „generation of a new text by synthesizing given material and not only by collecting passages of authorities.“55 Für HUOT ist im Bereich der Lyrik das ‚Finden‘ von loci communes ebenfalls vom strukturierten Arrangement der Topoi zu trennen: „The use of the verb trover […] reminds us that, in a sense, lyric composition itself is a kind of compilation: the trouvère ‘finds’ words and images and arranges them to form a song.“56 In Bezug auf die volkssprachliche Epik wird von BUMKE und RAUMANN darüber hinaus das Ineinandergreifen von Adaptations- (materiam tractare) und Kompilationsverfahren betont.57 Der Grund für die Dominanz des Ordnungskriteriums bei der Definition von compilatio scheint darin zu liegen, dass viele Beiträge nur PARKES’ Überlegungen rezipiert haben,58 in denen das Konzept der ordinatio noch sehr stark der compilatio vorgelagert ist,59 während bei MINNIS beide Begriffe weitgehend autonom voneinander behandelt werden.60 Sicherlich ist die strukturelle und prinzipiengeleitete Anordnung von Material ein wichtiger Bestandteil von Kompilationen, aber dies ist weder eine notwendige Bedingung noch das Leitkriterium des Kompilierens als produktionsästhetischem Akt. Je stärker allerdings ‚Ordnung‘ und ‚Verschränkung‘ als differentia specifica von compilatio betont wird, desto offener lässt sich das Modell auf unterschiedlichste Verschriftlichungsprozesse erweitern, in denen vorhandenes Material synthetisiert wird. Ein inflationäres Beispiel dafür ist die Übersicht über literarische Retextualisierungsformen von BUMKE. Hier werden fast alle volkssprachlichen Antikenromane als compilationes tituliert, nur weil sie unter|| 54 Vgl. dazu auch die frühe Unterscheidung MELVILLEs (Anm. 8), bes. S. 69 f. von ‚verschränkenden‘ gegenüber ‚reihenden‘ Kompilationen, wobei MELVILLE beide als Kompilationsformen wertet, während ‚Reihung‘ in der Rezeption als Kriterium für eine bloße Sammlung angesehen wird. 55 SYRING (Anm. 40), S. 117. 56 HUOT (Anm. 51), S. 15. 57 Vgl. BUMKE (Anm. 3), S. 13 sowie RAUMANN (Anm. 53), S. 122 f., 127–129, die die Übertragbarkeit des compilatio-Begriffs auf volkssprachliche Werke insgesamt nur unter Vorbehalt für möglich hält. 58 So z. B. Joël BLANCHARD, Compilation et légitimation au XVe siècle, in: Poétique 74 (1988), S. 139– 157 und v. a. GEBAUER (Anm. 18), S. 15 trotz der rezipierten Kritik von ROUSE u. ROUSE. Vgl. auch die kritischen Überlegungen zum Ordnungskriterium von KUPFERSCHMIED (Anm. 17), S. 137–139. Einzig HUOT (Anm. 51), hier S. 1–20, nutzt ordinatio bewusst im formalästhetischen Sinne von PARKES, um das Ineinandergreifen verschiedener Instanzen bei der Produktion lyrischer Sammelhandschriften zu beschreiben. 59 PARKES (Anm. 4), S. 137: „the definition of ordinatio led to the development of the notion of compilation“. ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 117–119 kritisieren am Begriff insb., dass dieser stets kontextgebunden als partium ordinatione erscheine und daher nicht im Sinne von PARKES verallgemeinerbar sei. 60 Eine explizite Diskussion des Begriffs findet nur bei MINNIS (Anm. 11), S. 391 f. statt und das ausgehend von Formulierungen Vinzenz’ von Beauvais, der bereits als Diskursbeginn der compilatio markiert wurde.

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schiedliche Motive, Vorlagen oder gar Vorlagentraditionen ineinander verschränkt haben.61 Die schwerwiegendste Konsequenz daraus ist jedoch die perspektivische Einengung auf die resultative Ebene des Kompilierens. Der Fokus auf kompilatorische Prinzipien wie Selektion, Reduktion und v. a. Organisation62 verleitet dazu, Kompilieren ausschließlich an den Strukturen des fertigen Werks zu messen.63 Damit beraubt sich die Analyse aber nachgerade der Chance, den Akt des Kompilierens als kreativen Prozess zu würdigen. Und damit möchte ich zum letzten Teil überleiten.

3 Die Kreativität der compilatio Aus dem forschungsgeschichtlichen Abriss sind drei Aspekte als Ergebnis festzuhalten: – Entgegen der bisherigen Rezeption des compilatio-Modells gerade in der kontinentaleuropäischen Forschung sollten die Überlegungen von PARKES und MINNIS zukünftig konsequent differenziert werden. PARKES’ Verständnis von compilatio zielt entschieden auf die Ebene der Materialität und die formalästhetische Dimension von Handschriften,64 wohingegen die gesammelten Befunde von und im Anschluss an MINNIS bekräftigt haben, dass compilatio von den Zeitgenossen primär als ein bestimmtes Konzept von Autorschaft reflektiert wurde. Diese Reflexionen gilt es systematisch auszuwerten. – Die zeitliche Extension des compilatio-Diskurses reicht über den Zeitraum des 13. bis 15. Jahrhunderts hinaus, in dem der Begriff als Werktitel am häufigsten genutzt wird. In welchem Maße auch spätantike Texte wie die ‚Saturnalia‘, die ‚Institutiones‘ oder die ‚Etymologiae‘ diesem mittelalterlichen Diskurs zugeordnet werden können, sollte aber nicht maßgeblich daran entschieden werden, wie sich die jeweilige historische Semantik von compilo in eine progressive Begriffsgeschichte einbeziehen lässt. Ein vielversprechender Ansatz könnte sein, Selbstbeschreibungen von Autorschaft in Form von tradierten Analogien auf diskursive Übereinstimmungen oder Verschiebungen zu prüfen oder

|| 61 BUMKE (Anm. 3), S. 15, 16, 17: Des Pfaffen Lamprechts Werk sei eine „Alexanderdichtung, die, was die materia betrifft, als eine compilatio von französischen und lateinischen Vorlagen beschrieben werden kann.“ – „Auch Etzenbachs ‚Alexander‘ ist eine compilatio“ – „Der ‚Trojanerkrieg‘ [Konrads von Würzburg] ist also ebenfalls eine compilatio aus lateinischen und französischen Vorlagen.“ 62 Vgl. MELVILLE (Anm. 8), S. 61–77. 63 Vgl. dazu auch bes. POSSELT (Anm. 50), S. 100–102 sowie FRANZ (Anm. 50), S. 266 f. 64 Vgl. auch ROUSE u. ROUSE (Anm. 17), S. 127.

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anhand von retrospektiven Zuschreibungen nachzuzeichnen, wie die Zeitgenossen ältere Werke für ihr Verständnis von compilatio strategisch vereinnahmten. Ebenfalls zu prüfen ist, welche entscheidenden Verschiebungen der mittelalterliche Diskurs von compilatio im Zuge seiner Eindeutschung im 16. Jahrhundert65 bzw. seiner Überführung in die frühneuzeitliche Enzyklopädistik und Regelpoetik erfahren hat. Die räumliche Extension des compilatio-Begriffs hängt entscheidend von einem geeigneten tertium comparationis ab, das den Transfer eines engen, auf die gelehrt-wissensvermittelnde Literatur beschränkten Verständnisses auf ein gattungsübergreifendes Modell erlaubt. Bislang wurde dabei fast ausschließlich mit Kompilationsprinzipien wie Selektion oder Reduktion oder dem überholten Begriff der ordinatio von PARKES argumentiert. Gerade der paradigmatische Fokus auf Struktur und Ordnung droht aber nicht nur die Menge an zutreffenden Texten ins Maßlose zu treiben, sondern auch den analytischen Blick auf die Kompilation als fertiges Produkt einzuengen, sodass der prozessuale Akt des Kompilierens aus dem Blick gerät.

Selbst wenn man z. B. durch die Komplexität der Ordnung Kompilationen zu rehabilitieren suchte, so redete man doch ungewollt der klassischen Einteilung von schaffendem Autor und verarbeitendem Kompilator das Wort, wenn man Kompilieren auf die Dimension des Ordnens perspektivieren oder gar reduzieren würde. Denn kreative Prozesse, ob nun Schöpfen oder Kompilieren, sind stets das Ergebnis eines Zusammenspiels von gestalterischen und ordnenden Elementen, die ohnehin als interferierend schwer voneinander abzugrenzen sind.66 Fündig wird man für die kreative Dimension des Kompilierens als überzeitlicher Kulturtechnik v. a. in der Rekontextualisierung des verarbeiteten Materials. Denn, wie auch POSSELT betont,67 werden beim Kompilieren seltener Textfragmente zu einer textura verwoben, denen eine autonome Bedeutung innewohnt; die ars liegt darin, durch die Rekontextualisierung von sinnentleertem Material erst den intendierten Sinn als emergenten Effekt neu zu entfalten.68 Kompilieren ist als kreativer Prozess insofern weniger eine Frage der Ordnung als eine des Übergangs. Die Feststellung GUENÉEs: „La compilation n’est pas simplement répétition, elle est

|| 65 Vgl. Wolfgang PFEIFER, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2. Aufl., Bd. 1 (1993), S. 699; vgl. auch FRANZ (Anm. 50), S. 17 f. 66 Vgl. dazu grundlegend James C. KAUFMAN u. Robert J. STERNBERG (Hgg.), The Cambridge Handbook of Creativity, 2. Aufl. Cambridge 2019, bes. S. 32–34, 692–694. 67 Vgl. POSSELT (Anm. 50), S. 102, der im Anschluss ein informationstechnologisches Modell für die Beschreibung von Kompilationsprozessen entwickelt (vgl. ebd., S. 103–108). 68 Zum Begriff der Emergenz vgl. Jens GREVE u. Annette SCHNABEL (Hgg.), Emergenz. Zur Analyse und Erklärung komplexer Strukturen (stw 1917), Berlin 2011, bes. S. 7–26.

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re-création“69, ist also in Bezug auf die Generierung von Bedeutung im Zuge des Kompilierens ganz wörtlich zu nehmen. Die Kreativität des Kompilierens liegt in der Wieder-Schöpfung von Sinn, der durch Emergenzeffekte des verarbeiteten Materials entsteht. Über dieses für das Kompilieren überzeitlich gültige Merkmal können sich sodann verschiedene Textsorten in Dialog miteinander bringen lassen. In der volkssprachlichen Schriftlichkeit des Mittelalters ist der Gedanke des bruchlosen Übergangs und der kreativen Aneignung des Materials sowohl bei wissensvermittelnden Texten als auch bei Werken zu beobachten, die wir heute als fiktional einstufen würden. Thomasin von Zerklære etwa beschreibt das eigene produktionsästhetische Verfahren seines Lehrgedichts ‚Der Welsche Gast‘70 (Anfang 13. Jh.) im Prolog mit einer Baumeister-Analogie: doch iſt der ein guot zimberman der in ſînem werke kan ſtein und holz legen wol dâ erz von rehte legen ſol. daz iſt untugende niht, ob ouch mir lîhte geſchiht daz ich in mîns getihtes want ein holz daz ein ander hant gemeiſtert habe lege mit liſt, daz ez gelîch den andern iſt. dâ von ſprach ein wîſe man ‚ſwer gevuoclîchen kan ſetzen in ſîme getiht ein rede die er machet niht, der hât alſô vil getân, dâ zwîvelt nihtes niht an, als der derz vor im êrſte vant. der vunt iſt worden ſîn zehant.‘ (‚Welscher Gast‘, V. 105–122)

Die Bedingung dafür, dass fremdes Material laut des Schlussverses durch Kompilieren buchstäblich angeeignet wird, bemisst sich nicht primär am Kriterium der Ordnung oder der Kennzeichnung, sondern an der kreativen list der kompilierenden Instanz, eine Kongruenz der Bruchstellen herzustellen, die letztlich das fremde Material gelîch den andern werden lässt.71 Mit der eingeflochtenen Rede der ‚weisen‘ Autorität (V. 115) führt Thomasin dieses Verfahren zugleich performativ vor. Der || 69 GUENÉE (Anm. 13), S. 126. 70 Zit. nach Thomasin von Zirklaria, Der Wälsche Gast, hrsg. v. Heinrich RÜCKERT (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 30), Quedlinburg, Leipzig 1852, ND Berlin 1965. 71 Mit einer sehr ähnlichen Baumeister-Analogie beschreibt Christine de Pizan 200 Jahre später die Konzeption ihres ‚Livre de la Cité des Dames‘, vgl. dazu RENER (Anm. 52), S. 200, Anm. 25 sowie bes. im Hinblick auf Aspekte der Kompilation BLANCHARD (Anm. 58).

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Emergenzeffekt der compilatio besteht im Falle Thomasins zentral darin, die kompilierten Wissensbestände nicht um ihrer selbst willen zusammengetragen und geordnet, sondern im Dienste einer spezifischen Moraldidaxe refunktionalisiert zu haben.72 Für die literarische Produktionsästhetik sei zuletzt exemplarisch auf Albrechts ‚Jüngeren Titurel‘ (3. Viertel 13. Jh.) hingewiesen, in dem die Sujets von Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ und dem Fragment gebliebenen ‚Titurel‘ in einen monumentalen Erzählzusammenhang gegossen werden.73 Auch hier wird im Prolog in Bezug auf den wohlbekannten, aber klärungsbedürftigen Stoff ein rekontextualisierendes Programm für die Rezipienten ausgerufen: Hie wil ich nicht me sumen der selben sache kunde, gar all ir straze rumen. ir irreganc der wer mir lichte sunde. ich wil die krumb an allen orten slichten, wan sumeliche jehende sint, ich kunne iz selbe nicht verrichten. (‚Jüngerer Titurel‘, Str. 20)74

Kurz darauf wird der Eingangsteil des ‚Parzival‘ in zwei Blöcken wörtlich in den Prolog inseriert, aber in einer Form, in der Wolframs Verse erst in einzelne Bausteine aufgebrochen und anschließend mit zusätzlichen Erläuterung rekontextualisiert werden. Ich beschränke mich für eine Veranschaulichung auf die erste Strophe: Tab. 1: compilatio und Reframing im ‚Jüngeren Titurel‘

‚Jüngerer Titurel‘, Str. 22

‚Parzival‘, V. 1 f.

Ist zwivel nachgebure dem herzen icht die lenge, das mûz der sele sure werden ewiclich in jamers strenge. herze, hab die stæt an dem gedingen, war minne, rechten gelouben, so mac der sel an sælicheit gelingen.

Ist zwîvel herzen nachgebûr, daz muoz der sêle werden sûr.

Ungeachtet der inhaltlichen Ausrichtung der Ergänzungen, deren Prinzipien in der Forschung weiterhin umstritten sind,75 lassen sich hier dieselben produktionsästhe-

|| 72 Vgl. zuletzt auch Christoph SCHANZE, Tugendlehre und Wissensvermittlung. Studien zum ‚Welschen Gast‘ Thomasins von Zerklære (Wissensliteratur im Mittelalter 53), Wiesbaden 2018, hier bes. IX und S. 417–420 mit weiteren Literaturhinweisen. 73 Weitere in dieser Hinsicht interessante Texte wären die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin, die Artusromane des Pleiers, Konrads von Stoffeln ‚Gauriel von Muntabel‘ sowie der ‚Rappoltsteiner Parzival‘. Vgl. dazu auch RAUMANN (Anm. 53), S. 128 f. 74 Zit. nach Albrecht von Scharfenberg, Jüngerer Titurel. Bd. 1 (Strophe 1–1957), hrsg. v. Werner WOLF (DTM 45), Berlin 1955.

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tischen Techniken beobachten, die Thomasin beschrieben hat und die als kreative Dimension der compilatio ausgewiesen wurden. Raffiniert ist dieses Vorgehen umso mehr, insoweit die narrative Instanz hier nicht als Albrecht spricht, sondern zuvor die Erzählerrolle seines Vorbilds Wolfram angenommen hat.76 Durch diese gezielte und metapoetische Zuschreibung verwässert die Grenze zwischen Zitation und Schöpfung bzw. zwischen Autor und Kompilator endgültig. Der Virtuosität der Wolfram-Rolle zu huldigen bedeutet so stets im selben Atemzug die Kreativität der compilatio anzuerkennen. Was alle diese Beispiele vorführen, ist die Bedeutung des transgressiven Moments innerhalb kompilatorischer Prozesse, der sowohl bei ‚strengeren‘ wissensvermittelnden oder ‚offeneren‘ literarischen compilationes zum Tragen kommt. Die Bedeutung des Übergangs für eine emergente Zusammenführung (junctura) von Material wurde von den Zeitgenossen bereits durch die im Rahmen des mittelalterlichen Schulbetriebs unumgängliche Rezeption der antiken ‚Ars Poetica‘ des Horaz internalisiert, wo jene verspottet werden, deren Unfähigkeit darin poetische Chimären erzeugt.77 Transgressivität wird in der Folge sowohl von Chrétien de Troyes als bele conjointure78 für fiktionale als auch von Vinzenz von Beauvais für enzyklopädische Verschriftlichungsprozesse reflektiert und angewandt.79 Der compilatio als kreativer ars kommt damit im System der mittelalterlichen Produktionsästhetik eine Bedeutung zu, die es weiter zu erforschen gilt.

|| 75 Vgl. hierzu zuletzt ausführlich Thomas NEUKIRCHEN, Die ganze aventiure und ihre lere. Der ‚Jüngere Titurel‘ Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach (Beihefte zum Euphorion 52), Heidelberg 2006, bes. S. 41–92 sowie mit Blick auf die descriptiones Britta BUßMANN, Wiedererzählen, Weitererzählen und Beschreiben. Der Jüngere Titurel als ekphrastischer Roman (Studien zur historischen Poetik 6), Heidelberg 2011, bes. S. 10–18. Eine Übersicht über die Montage-Prinzipien des Prologs, gleichwohl pejorativ gedeutet, bietet Werner SCHRÖDER, Demontage und Montage von Wolframs Prologen im Prolog zum ‚Jüngeren Titurel‘ (Abhandlungen der Marburger Gelehrten-Gesellschaft 19), München 1983, bes. S. 13–24. 76 Vgl. ‚Jüngerer Titurel‘, Str. 18, 3 f.: den zwivel han ich vor ein teil verboͤ ret,/ wie er nach helle verwet, an Parzifal man daz von erste hoͤ ret bzw. die explizite Namensnennung in Str. 244, 4. 77 Vgl. Hor. Ars Poet. 1–9 sowie das auch von Matthäus von Vendôme aufgegriffene Bild der Lumpen (Hor. Ars Poet. 15–19). Vgl. Anm. 12. 78 Das ist allerdings nicht unumstritten. Vgl. zur Deutung der Stelle im Hinblick auf compilatio bes. Douglas KELLY, The Source and Meaning of Conjointure in Chrétien’s Erec 14, in: Viator 1 (1971), S. 179–200 sowie DERS. (Anm. 3), S. 81 f. 79 Das betrifft insb. die erstmals heilsgeschichtliche Reorganisation und Remodellierung des vorhandenen Wissens, wie sie Vinzenz in cap. 15 der Apologia Actoris präsentiert und die letztlich der Maxime des nulla addidi (vgl. Anm. 31) entgegenläuft.

Lisa Horstmann

Unverständnis und Kreativität im Kopierprozess Die Überlieferungsgeschichte bebilderter Handschriften des ‚Welschen Gastes‘ Abstract: The reproduction of a work in a non-typographic society is not a standardized process as we expect it to be today. Especially the copying of pictures is a complex challenge for the copyist. Using the example of the ‘Welscher Gast’, a Virtuesand-Vices doctrine by the cleric Thomasin von Zerklaere, this contribution shows the peculiarities and the potential of a historical examination of the images. The work has been handed down to us today in 24 copies, some of them in fragmentary condition. A large part of the surviving manuscript is illustrated with a cycle of pictures which is identical in number, selection and arrangement of motifs. It becomes clear that the pictures sometimes transport more content than the text provides. This diversity allows conclusions to be drawn about both the copyists and the relationship between the original and the copy in the context of the respective manuscript. The material shows how the workshops oscillate between the demand for an ‘exact copy’ and an intellectual examination of the pictures. Keywords: ‘Welscher Gast’, Transmission of illustrated manuscripts, Copying pictures

Die Vervielfältigung eines Werkes in einer non-typographischen Gesellschaft ist kein standardisierter Prozess, wie wir ihn heute erwarten. Zudem erfordert das Kopieren mittelalterlicher Kodizes weit mehr von den Kopisten als das bloße Abschreiben eines Textes. Zusammen mit der Werkstattleitung und dem Auftragge-

|| Anmerkung: Dieser Beitrag ist im Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften“ entstanden (Teilprojekt B06 „Text-Bild-Edition und Kommentar zum Welschen Gast des Thomasin von Zerklaere“). Der SFB 933 wird durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert. Ferner enthält dieser Aufsatz Ideen, die im Rahmen meiner Dissertation entstanden sind, die mit dem Titel „Ikonographie in Bewegung. Die Überlieferungsgeschichte der Bilder des ‚Welschen Gastes‘“ veröffentlicht wird. || Lisa Horstmann, Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg, Seminarstr. 4, D-69117 Heidelberg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-003

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ber zeichnen sie auch verantwortlich für die Gestaltung des Textträgers, welche die Wahrnehmung und das Verständnis des Textes entscheidend beeinflussen kann – wobei die gestalterische Durchführung letztlich den Schreibern überlassen blieb.1 Die Organisation eines Buches, von der Gliederung der Seite bis hin zur Wahl der Schriftart, bietet bereits einen rein visuellen Zugang zu diesem. Neben der optischen Organisation veranschaulichen nicht zuletzt Illustrationen, soweit vorhanden, dass ein Buch mehr ist als ein bloßes Speichermedium für einen Text. Illustrationen sind bei weitem nicht immer als eine reine Veranschaulichung oder Wiedergabe des Textes zu verstehen,2 sondern wie die Text-Bild-Forschung spätestens seit den 1980er Jahren in vielen Beispielen gezeigt hat, können Bilder den Text kommentieren, erläutern oder neue Sinnzusammenhänge erschaffen.3

|| 1 Bei Werkstattproduktionen, an denen mehrere Akteure beteiligt waren, lässt sich häufig bei der Gestaltung der Handschrift eine interne Regelhaftigkeit beobachten, die sowohl Struktur als auch die Präsentation der Handschrift betrifft. Dabei war die Einheitlichkeit des Gesamtkodex wichtiger als diejenige der Ausdruckformen einzelner Akteure wie Schreiber oder Maler. Vgl. Lieselotte E. SAURMA, Der Einzelne im Verbund: Kooperationsmodelle in der spätmittelalterlichen Buchherstellung, in: Christine BEIER u. Eveliyn Theresia KUBINA (Hgg.), Wege zum illuminierten Buch. Herstellungsbedingungen für Buchmalerei in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 177–201, hier S. 177–180. 2 Dieser Gedanke findet sich u. a. bei Norbert H. OTT, Rechtsikonographie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der ‚Sachsenspiegel‘ im Kontext deutschsprachiger illustrierter Handschriften, in: Ruth SCHMIDT-WIEGAND (Hg.), Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift. Kommentarband, Berlin 1993, S. 119–141. 3 Angestoßen wurde die Debatte in den 1960er Jahren von Wolfgang STAMMLER, der die wechselseitigen Beziehungen zwischen Schrift und Bild im Mittelalter untersuchte: Wolfgang STAMMLER, Wort und Bild. Studien zu den Wechselbeziehungen zwischen Schrifttum und Bildkunst im Mittelalter, Berlin 1962. Zum Wirken STAMMLERs: Michael CURSCHMANN, Wolfgang Stammler und die Folgen: Wort und Bild als interdisziplinäres Forschungsthema in internationalem Rahmen, in: Eckart Conrad LUTZ (Hg.), Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie (Scrinium Friburgense 11), Freiburg i. d. Schweiz 1998, S. 115–137. Neben unzähligen allgemeinen Studien folgten vor allem ab den 1980er Jahren Arbeiten, die sich mit den TextBild-Beziehungen in volkssprachigen Handschriften auseinandersetzten, die für diesen Beitrag relevant sind: Norbert H. OTT, Überlieferung, Ikonographie – Anspruchsniveau, Gebrauchssituation. Methodisches zum Problem der Beziehungen zwischen Stoffen, Texten und Illustrationen in Handschriften des Spätmittelalters (Sonderdruck aus: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit), Stuttgart 1984. DERS., Pictura docet. Zu Gebrauchssituation, Deutungsangebot und Appellcharakter ikonographischer Zeugnisse mittelalterlicher Literatur am Beispiel der Chanson de geste, in: Gerhard HAHN u. Hedda RAGOTZKY (Hgg.), Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert (Kröners Studienbibliothek 663), Stuttgart 1992, S. 187–212. DERS., Die Wahrheit der Schrift im Bild. Ikonographie als Vermittlungsinstanz des Sprachmediums, in: Andrea SCHINDLER u. Evelyn MEYER (Hgg.), Geschichten sehen, Bilder hören – Bildprogramme im Mittelalter. Akten der Tagung Bamberg 2013 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien), Bamberg 2015, S. 9–34. Michael CURSCHMANN, Hören – Sehen – Lesen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200, in: Beitraege zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 106 (1984), S. 218–257. DERS., Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Ver-

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Welchen Einfluss die Kopisten auf die Präsentation von Texten hatten, zeigt sich in der Abschrift eines Boethius-Kommentars aus dem 12. Jahrhundert (Abb. 1).4 Über einem groben kosmologischen Schema findet sich der kurze Kommentar, dass die Abbildung (figura) eingefügt sei, damit das Bild (pictura) durch Anschauung vermittle, wo die Sprache (lingua) zum Verständnis nicht ausreiche. Dem mittelalterlichen Schreiber, der den Text kopierte,5 war bewusst, dass die differierenden Systeme von ‚Text‘ und ‚Bild‘6 „verschiedene Sprachen sprechen“ und im menschlichen Verstand unterschiedlich erfasst werden.7

|| hältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit in Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse, in: Hagen KELLER (Hg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Akten des internationalen Kolloquiums, 17.–19. Mai 1989 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), München 1992, S. 211–229. DERS., Wort – Schrift – Bild. Zum Verhältnis von volkssprachigem Schrifttum und bildender Kunst vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, in: Walter HAUG (Hg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, S. 378–470. DERS., Volkssprache und Bildsprache, in: Eckart Conrad LUTZ, Johanna THALI u. Ren WETZEL (Hgg.), Erscheinungsformen höfischer Kultur und ihre Träger im Mittelalter. Freiburger Colloquium 1998, Berlin 2002, S. 9–46. Michael CAMILLE, Seeing and Reading: Some Visual Implications of Medieval Literacy and Illiteracy, in: Art History 8, 1 (1985), S. 26–49. Lieselotte E. SAURMA-JELTSCH, Zuht und wicze. Zum Bildgehalt spätmittelalterlicher Epenhandschriften, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 41 (1987), S. 42–70. DIES., Textaneignung in der Bildersprache: Zum Verhältnis von Bild und Text am Beispiel spätmittelalterlicher Buchillustration, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 41 (1988), S. 41–60. DIES., Wechselseitige Bedeutungsvorgaben von Bildern in Texten. Die Illustrationen in drei deutschsprachigen Trojaromanen des Spätmittelalters, in: Michael Viktor SCHWARZ (Hg.), Allen Mären ein Herr. Ritterliches Troja in illuminierten Handschriften, Wien 2017, S. 207–250. Andreas BIHRER, Bild und Text. Bemerkungen zur visuellen Realisierung literarischer Texte im 14. Jahrhundert, in: Poetica 29 (1997), S. 343–377. Michael STOLZ (Hg.), Buchkultur im Mittelalter. Schrift, Bild, Kommunikation, Berlin 2006. Iris HÖGER, Text und Bild im ersten Ulmer Druck des ‚Buchs der Beispiele der alten Weisen‘, Hamburg 2010. 4 Adalbold von Utrecht, Kommentar zu Boethius’ De Consolatione Philosophiae, Paris, Bibliothèque national de France, lat. 7361. Weiterführende Literatur speziell zur schematischen Abbildung auf fol. 51v: Léon PRESSOUYRE, Le cosmos platonicien de la cathédrale d’Anagni, Mélanges de l’Ecole Française de Rome 2 (1966), S. 551–593, hier S. 565; Michael CURSCHMANN, Epistemological Perspectives at the Juncture of Word and Image in Medieval Book before 1300, in: Margriet HOOGVLIET (Hg.), Multi-media compositions from the Middle Ages to the early modern period. [… a selection of papers presented at a workshop in 2002] (Groningen studies in cultural change 9), Leuven 2004, S. 1–26, hier S. 2. 5 Ob der Eingriff des Kopisten in der Pariser Abschrift stattgefunden hat oder bereits mitkopiert wurde, kann nicht geklärt werden. Doch belegt dieser Kommentar, dass es zu einem bewussten Eingriff innerhalb des Kopierprozesses des Textes von Adalbold gekommen ist. Vgl. dazu auch CURSCHMANN (Anm. 4), S. 2. 6 Das ‚Bild‘ wird dabei im Sinne von William MITCHELLs Begriff des „picture“ definiert: Während der Gegensatz „word – image“ das allgemeine Verhältnis der beiden Medien zueinander beschreibt, zielt „text – picture“ auf das Besondere, auf die Erscheinungsform der Medien im konkreten Bezug aufeinander. „Picture“ beschreibt also eine materielle Dimension des Bildes, wie es als Miniatur in

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Abb. 1: Paris, Bibliothèque national de France, lat. 7361, ca. Mitte 12. Jahrhundert, fol. 51v. Abschrift von Adalbold von Utrecht, Kommentar zu Boethius’ De Consolatione Philosophiae. Der Kopist fügte eine figura in den Kommentartext des Adalbold ein, um ihn an dieser Stelle verständlicher zu machen. Dies kommentiert er über der Darstellung mit: Subscribat[ur] figura ut quib[us] ad intellectum nostra n[on] sufficit lingua; his ad vivendu[m] satisciat pictura. Das Schema zeigt die vier Elemente und ihre Eigenschaften.

Solche Eingriffe und bewusste Veränderungen gegenüber der Vorlage, die zudem Auskunft über die wahrgenommene Bedeutung von Text und Bild geben, sind selten vom Kopisten schriftlich dokumentiert. Aufschlussreich für das Verständnis des Kopisten und die Aufbereitung der Vorlage in seiner Kopie kann eine Analyse kopial tradierter Handschriftenkorpora sein. Auf einer breiten Materialbasis können solche Kopierprozesse untersucht werden, auch wenn es keine schriftlichen Vermerke gibt und kein direktes Verhältnis von Vorlage und Kopie vorhanden ist. Werden Verän-

|| den Handschriften vorliegt, William J. T. MITCHELL, Picture theory. Essays on verbal and visual representation, 6. Aufl. Chicago 2007. 7 CURSCHMANN (Anm. 4), S. 2.

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derungen in den Handschriften innerhalb der Überlieferung nicht als Fehler kategorisiert, so haben sie das Potential Rückschlüsse auf das Verständnis der am Prozess beteiligten Akteure zu ziehen. Denn wie in der Forschung bereits vielfach diskutiert, bewegen sich Kopien im Verhältnis zu ihrer Vorlage in einem weiten Spektrum.8 Der Definition nach ist die ‚Kopie‘ allgemein das Ergebnis einer Reproduktion: Abschriften, Durchschriften, Doppelungen, Nachbildungen technischer oder manueller Art. In der Kunstgeschichte wird Kopie als Sammelbegriff für „alle reproduzierten Artefakte“ benutzt.9 So können sich die Kopien von Handschriften zwischen den beiden von Hans SWARZENSKI und Johannes TAUBERT herausgearbeiteten Kategorien von „schöpferischer“ und „exakter Kopie“ bewegen.10 Speziell für das Kopieren von Texten gibt es ebenfalls unterschiedliche Typen, die in der Forschung beschrieben werden. Der ‚Autor-Schreiber‘ schreibt nicht nur ab, er redigiert und konzipiert auch neu. Der reine ‚Kopist‘ schreibt den Text möglichst exakt ab. Als dritte Kategorie führt SCHMITZ den ‚intelligenten Schreiber‘ ein.11 Dieser versuche einen möglichst fehlerfreien Text zu (re-)produzieren. Dabei nehme er keine grundlegende Bearbeitung des Textes vor, aber durch sein eigenes Wissen, parallele Vorlagen, separate Quellen oder andere Informationen ‚verbessere‘ er den Text.

|| 8 Für die Kunstgeschichte zeugen die vielen epochen- und gattungsübergreifenden Fallstudien im Sammelband von Wolfgang AUGUSTYN und Ulrich SÖDING von den unterschiedlichen Perspektiven, das Verhältnis von Vorlage bzw. ‚Original‘ und Kopie zu beschreiben. Wolfgang AUGUSTYN u. Ulrich SÖDING (Hgg.), Original – Kopie – Zitat. Kunstwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit: Wege der Aneignung – Formen der Überlieferung (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München 26), Passau 2010. 9 Wolfang AUGUSTYN u. Ulrich SÖDING, Original – Kopie – Zitat. Versuch einer begrifflichen Annäherung, in: DIES. (Anm. 8), S. 4. 10 SWARZENSKI bezieht sich mit „creativ copy“ und „copy for the sake of recording“ zwar auf das Kopieren von Handschriften, spricht aber vornehmlich über die Schreiber. Dennoch lassen sich diese Kategorien als Extrema auch auf die Bildende Kunst anwenden, wie TAUBERT zeigt, und besonders auf die bebilderte Handschriftenproduktion fruchtbar übertragen. Vgl. Hans SWARZENSKI, The role of copies in the formation of the styles of the eleventh century, in: Millard MEISS (Hg.), Studies in Western Art: Acts of the Twentieth International Congress of the History of Art, 4 Bde., Princeton 1963, S. 7–18. Johannes TAUBERT, Zur kunstwissenschaftlichen Auswertung von naturwissenschaftlichen Gemäldeuntersuchungen, München 2003. Auch Ariane MENSGER greift die Kategorien auf. Sie charakterisiert die „freie bzw. schöpferische Kopie“ als deutlich stilistisch abgewandelt gegenüber dem Original. Vgl. Ariane MENSGER, Die exakte Kopie. Oder: die Geburt des Künstlers im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek (NKJ) / Netherlands Yearbook for History of Art 59 (2009), S. 194–221. 11 Vgl. Gerhard SCHMITZ, Intelligente Schreiber. Beobachtungen aus Ansegis- und Kapitularienhandschriften, in: Hubert MORDEK (Hg.), Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Festschrift für Horst Fuhrmann zum 65. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Horst FUHRMANN, Tübingen 1991, S. 79–94.

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Wie sich Schreiber und Zeichner in einem solchen Rahmen bewegen und welche Spuren sie durch ihre Gewohnheiten, ihre Wahrnehmung und ihr Verständnis in den Kopien hinterlassen, soll im Folgenden anhand des Handschriftenkorpus des ‚Welschen Gastes‘ genauer untersucht werden. Diese ausschließlich in Kopien enthaltene Tugend- und Lasterlehre bietet mit ihren 24 Überlieferungszeugen, von denen ein Großteil mit einem reichen Bilderzyklus versehen ist, eine reiche Materialbasis für eine ertragreiche Untersuchung der Überlieferungsgeschichte.12 Der ‚Welsche Gast‘ ist ein mittelhochdeutsches Lehrgedicht, das 1215/16 von dem Kleriker Thomasin von Zerklaere verfasst wurde.13 Thomasin schreibt als der

|| 12 Die Forschungsgeschichte zum ‚Welschen Gast‘ ist stark germanistisch geprägt. So galt das Interesse besonders zu Beginn vornehmlich dem Text und seinem Verfasser. Dazu findet sich ein kurzer Überblick bei Friedrich Wilhelm VON KRIES, Textkritische Studien zum Welschen Gast Thomasins von Zerclaere, Berlin 1967 (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 147 = N.F. 23), S. 2–3. Zu den entstandenen Editionen s. Anm. 13. Mit Adolf OCHELHÄUSER begann Ende des 19. Jahrhunderts die kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem Werk: Adolf VON OECHELHÄUSER, Der Bilderkreis zum Wälschen Gast des Thomasin von Zerclaere. Nach den vorhandenen Handschriften, Heidelberg 1890. Die Monographie enthält eine Beschreibung der Motive aller ihm bekannten Handschriften. Als Ausgangshandschrift, die für ihn am nächsten am ‚Original‘ steht, nutzt er die Handschrift A (s. Anm. 18). Im vierten Band seiner Edition widmete sich ebenfalls Friedrich Wilhelm VON KRIES (Anm. 13) dem Bilderzyklus und seiner Überlieferung. Von Handschrift G ausgehend erfasste er die Variationen der anderen Handschriften in Form eines Apparats. Explizit mit der Handschrift A und ihren Bildern beschäftigten sich Ewald VETTER und Friedrich NEUMANN: Ewald VETTER, Der welsche Gast des Thomasîn von Zerclaere. Codex Palatinus Germanicus 389 der Universitätsbibliothek Heidelberg, mit Einführung in Thomasins Verswerk von Friedrich NEUMANN (Facsimilia Heidelbergensia 4), Wiesbaden 1974. Der Sammelband von Horst WENZEL und Christina LECHTERMANN untersucht in einzelnen Beiträgen unterscheidliche Aspekte der Überlieferung von Text und Bild: Horst WENZEL u. Christina LECHTERMANN (Hgg.), Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des ‚Welschen Gastes‘ von Thomasin von Zerclaere (Pictura et poesis 15), Köln 2002. Neue Erkenntnisse zur Überlieferung des ‚Welschen Gastes‘ besonders im Hinblick auf die Handschrift G (Anm. 27) liefert der kürzlich erschiene Faksimileband: Der welsche Gast, Memb. I 120, Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, Forschungsbibliothek Gotha, mit Beiträgen u. a. von Dagmar HÜPPER, Holger RUNOW, Heike BISMARK, Luzern 2018. 13 Editionen und Übersetzungen: Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hrsg. v. Heinrich RÜCKERT, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich NEUMANN, Photomechanischer Nachdruck der Ausg. Quedlinburg und Leipzig, 1852 (Deutsche Neudrucke: Texte des Mittelalters), Berlin 1965. Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast, hrsg. v. Friedrich Wilhelm VON KRIES, 4 Bde. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 425, 1–4), Göppingen 1984–1985; Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast: Secondo il Cod. Pal. Germ. 389, Heidelberg con le integrazioni di Heinrich Rückert e le varianti del Membr. I 120, Gotha (mit deutscher Einleitung), hrsg. v. Raffaele DISANTO (Quaderni di Hesperides: Serie testi 3), Trieste 2001; Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast. Ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Eva WILLMS, Berlin 2004; Thomasin von Zirclaria, Der Welsche Gast = The Italian Guest, Translated with introduction and notes by Marion GIBBS and Winder MCCONNELL (Medieval German texts in bilingual editions 4), Kalamazoo 2009. Edition und komplette Übersetzung der Handschrift G (Anm. 27) im Faksimile (Anm. 12). Eine weite-

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„Fremde aus Italien“ (welhscher gast), wie er sich selbst bzw. sein Werk bezeichnet (V. 89). Vor allem tüchtige Menschen sollen das Buch in Ruhe lesen, schreibt er. Die Lehre über tugend- und lasterhaftes Verhalten richtet sich an den ‚deutschen Hof‘ per se: tüchtige Ritter, gute Frauen und weise Geistliche (V. 14694–14696). Die Informationen über den Autor stammen größtenteils aus seinem Text selbst. So stellt er sich in der Vorrede namentlich vor: ich heiz Thomasîn von Zerclære (V. 75) und gibt an, dass er aus der lombardischen Markgrafschaft Friaul stammt (V. 71), dem Grenzland zwischen deutsch- und italienischsprachigem Raum. Nach der politisch instabilen Zeit des deutschen Thronstreits mahnt er immer wieder zur Beständigkeit und gibt zahlreiche Beispiele für das Verhalten eines guten oder eines schlechten Herrn. Für Thomasin ist die Qualität der Herrschaft keine Gabe der Natur, sondern das Ergebnis von Erziehung.14 Eines seiner größten Anliegen ist es, vor dem Laster der Unbeständigkeit zu mahnen. Außerhalb des Werkes belegt eine einzige schriftliche Quelle die Existenz eines Tomasinus de Corclara, eines Kanonikers aus Aquileia,15 und der ‚Welsche Gast‘ ist auch der einzige Text, der unter seinem Namen überliefert ist. Von den teilweise nur fragmentarisch erhaltenen Überlieferungszeugen enthalten fast alle Illustrationen oder sind nachweislich Abschriften von bebilderten Handschriften.16 1517 der 24 Handschriften enthalten einen Bilderzyklus, der in Anzahl, Auswahl und Anordnung den idealiter 120 Motiven gleicht.18 Bereits die

|| re digitale Edition befindet sich derzeit im Aufbau: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/ (10.12.2019). Nach der Fertigstellung sollen hier sämtliche Textzeugen in digitalen Editionen zugänglich sein. Hier finden ebenfalls alle erhaltenen Handschriften als Digitalisate, sowie u. a. eine Übersicht der Motive, die nach ihren Motivnummern (Zählung nach KRIES) abgerufen werden können. Für den vorliegenden Beitrag wurde die digitalisierte Version der Edition von RÜCKERT genutzt: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/rueckert1852 (10.12.2019). 14 Horst WENZEL, Artes und Repräsentation: Zur doppelten Lesbarkeit volkssprachlicher Lehrdichtung im Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Das Mittelalter 3 (1998), S. 73–94, hier S. 77–79. 15 Necrologium Aquileiense, Udine, Biblioteca Capitolare, Ms. 33, fol. 22v. 16 Sowohl die Handschriften F, K und N als auch das Fragment Tue enthalten Aussparungen in den Textkolumnen, die vermutlich für die Bilder vorgesehen waren und unausgeführt blieben. Handschrift c enthält zwar keine Bilder, gibt jedoch das Bildprogramm an entsprechender Stelle im Text durch rubrizierte Zeilen in Form kurzer Zusammenfassungen wieder. Alle Handschriften finden sich als Digitalisate in der digitalen Edition ‚Welscher Gast – digital‘ (Anm. 13). Weiterführende Literatur und Beschreibungen finden sich online im Handschriftencensus: http://www.handschrift encensus.de/werke/377 (10.12.2019). 17 Es handelt sich um die Handschriften A (Anm. 19), G (Anm. 27), E, H (Anm. 50), Gr (Anm. 20), S, Bue, Ma, War, Erl, a, U, W, b und D (Anm. 39). 18 Die Motivzählung folgt Friedrich Wilhelm VON KRIES (Anm. 13); dieser edierte sowohl den Text basierend auf dem Leithandschriftenprinzip als auch die Bilder und Bildtexte. Da er in der Handschrift G (Anm. 27) von 1340 die vollständigste und zugleich eine autornahe Fassung zu erkennen glaubte, nutzte er diese als Leithandschrift für seine Edition. Neben der Edition des Textes und

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ältesten erhaltenen Handschriften zeugen von der Berücksichtigung der Bilder und lassen zugleich auf eine bebilderte Vorlage schließen. Die Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 389 (Sigle A)19 und das Krakauer Fragment, Berol. mgq 978 (Sigle Gr),20 in welchen die Bilder in einem recht losen Layout am Seitenrand platziert sind, rücken den Textspiegel zu Gunsten einer Illustration ein.21 In der Forschung zum ‚Welschen Gast‘ wird ausgiebig diskutiert, ob Thomasins Lehrgedicht bereits als Text-Bild-Werk angelegt wurde22 – somit wäre Thomasin der erste volkssprachige Autor, der seinem Text ein Bildprogramm beigegeben hat.23 Gesichert

|| seinen Varianten erfasste er auch die Bilder komparatistisch – gelangte jedoch nicht über einen „Katalog von Abweichung“ hinaus. Horst WENZEL, Der Dichter und der Bote. Zu den Illustrationen der Vorrede in den Bilderhandschriften des ‚Welschen Gastes‘, in: WENZEL u. LECHTERMANN (Anm. 12), S. 82–103, hier S. 85. OECHELHÄUSER (Anm. 12) stellte bereits 1890 fest, dass erstens die Auswahl und Reihenfolge der Bilder in allen Handschriften dieselbe sei, zweitens die Übereinstimmung der Bilder sich bis auf Einzelheiten verfolgen lasse und drittens auch die „Beschriftung und Schriftzettel“ gleichlautend blieben (S. 73–75). Fehler seien dabei mitkopiert worden. 19 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 389 (Sigle: A), Bayern (Regensburg?) oder Kärnten, um 1256, Pergament, 225 Blatt, 18,1 x 11,5 cm, gotische Minuskel, eine Hand, einspaltig, 106 kolorierte Federzeichnungen, drei Zeichner, zwei Bildtextschreiber. Weiterführende Beschreibungen zu Handschrift A in Auswahl: KRIES (Anm. 12), S. 22–28; VETTER (Anm. 12); Karin SCHNEIDER, Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Text- und Tafelband, Wiesbaden 1987, S. 173–175; Matthias MILLER u. Karin ZIMMERMANN, Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 304–495) (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 8), Wiesbaden 2007, S. 290–291, online zugänglich unter: https://archiv. ub.uni-heidelberg.d+e/volltextserver/8470/ (19.08.2020). 20 Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Berol. mgq 978 (Sigle: Gr), Notizen und Fragmente aus dem Nachlass von Wilhelm Grimm, Ende des 13. Jahrhunderts, Pergament, 1 Blatt, ca. 16,3 x 23,7 cm, gotische Minuskel, eine Hand, zweispaltig, 1 kolorierte Federzeichnung. Weiterführende Beschreibungen zu Handschrift Gr u. a. bei KRIES (Anm. 12), S. 36–37. 21 In Handschrift A finden sich fünf solcher Aussparungen: Je zwei Aussparungen waren vorgesehen für die schematische Darstellungen von Motiv 42 und Motiv 43 (fol. 35v und fol. 36v), zwei szenische Bilder mit Motiv 53 und Motiv 59 (fol. 49v und fol. 53v) und einmal ohne Ausführung (fol. 60r). Im Fragment Gr ist nur eine kolorierte Federzeichnung (Motiv 111) erhalten, die durch Flüssigkeit oder bewusste Beschädigung teilweise unkenntlich geworden ist. Die Miniatur wurde in einen Freiraum in der Textspalte eingepasst. 22 Sowohl die enge Verbundenheit von Text und Bild als auch Indizien im Lehrgedicht selbst stützen in der Forschung die These, Thomasin sei direkt an der Konzeption des Bilderzyklus beteiligt gewesen. Argumentationen finden sich u. a. bei Hella FRÜHMORGEN-VOSS, Mittelhochdeutsche weltliche Literatur und ihre Illustration. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte. Mit 13 Abbildungen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 43,1 (1969), S. 23–75, hier S. 36–37; Norbert H. OTT, Mise en page. Zur ikonischen Struktur der Illustrationen von Thomasins ‚Welschem Gast‘, in: WENZEL u. LECHTERMANN (Anm. 12), S. 33–64, hier S. 33–34; Michaela WIESINGER, Mischungsverhältnisse. Naturphilosophisches Wissen und die Elementenlehre in der Literatur des 13. Jahrhunderts (Hermaea Neue Folge 142), Berlin 2017, S. 17. 23 Michael CURSCHMANN, Wort – Schrift – Bild (Anm. 3), S. 383.

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festgehalten werden kann jedoch nur, dass die Bilder sehr früh als integraler Bestandteil wahrgenommen und als solcher tradiert wurden. Alle Motive des ‚Welschen Gastes‘ haben ihren inhaltlichen Ausgangspunkt im Text des Lehrgedichts bzw. Prologs, ausgenommen die Einleitungs- und Schlussbilder, die eine Art erzählerischen Rahmen bilden.24 Die Methode der Textillustration erscheint dabei auf den ersten Blick assoziativ: Der Text gibt das Stichwort, korrelierend dazu entsteht das Bild und schließt sich diesem inhaltlich an.25 Nicht immer beziehen sich die Bilder dabei auf eine klar abgrenzbare Anzahl von Versen. Zumeist ergeben die Motive kleine Handlungsbilder, in denen Beispielfiguren mit Personifikationen agieren und exemplifizierend die Lehren des Textes durchspielen. Solche Handlungsbilder setzen nicht selten dort an, wo sich der Text am abstraktesten gibt.26 Die Motive, die am vollständigsten in der Handschrift G enthalten sind,27 werden mit wenigen Ausnahmen komplett kopiert.28 Im Kontrast zur Stabilität der Makrostruktur des Bilderzyklus steht die Beweglichkeit auf der Einzelbildebene. Bereits früh in der Forschung erkannt, wurde diese Beweglichkeit bisher nicht systematisch untersucht und interpretiert. Gesteht man den Abweichungen der erhaltenen Überlieferungszeugen eine allgemeine Sinnhaftigkeit in ihrer Erscheinung zu und nimmt Abweichungen als kreative Veränderungen wahr, so gewähren sie uns Einblicke in die Arbeitsweise und die Wahrnehmung der zeitgenössischen Kopisten.

|| 24 Zu den Einleitungs- und Schlussbildern zählen die Motive 3–8 und 115–120, die ohne direkten Versbezug in der Manier der illustrierten Psychomachie-Handschriften einen Kampf der Tugenden und Laster schildern. Der adlucutio der Feldherrinnen vor den Kämpferinnen schließt sich die Schlacht zu Pferd an; am Schluss erfolgt das Niederlegen der Waffen und eine Siegesfeier der Tugenden, während die Laster im Reigen tanzend präsentiert werden. Acht der erhaltenen Handschriften tradieren diese Motive, viele davon nur teilweise, da die Handschriften besonders zu Beginn und am Ende von Blattverlust geprägt sind. 25 FRÜHMORGEN-VOSS (Anm. 22), S. 61. 26 Michael CURSCHMANN, Interdisziplinäre Beweglichkeit – wie weit reicht sie?, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 123, 1 (2004), S. 109–117, hier S. 112. 27 Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I 120 (Sigle: G), Ostfranken (?), 1340, Pergament, 102 Blatt, 32 x 24 cm, gotische Minuskel, eine Hand, zweispaltig, 119 kolorierte Federzeichnungen, drei Zeichner, ein Bildtextschreiber (vermutlich dieselbe Hand wie der Haupttext). Weiterführende Beschreibungen zu Handschrift G in Auswahl: KRIES (Anm. 12), S. 28–29; Falk EISERMANN, Katalog der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha (Vorläufige Beschreibungen), http://bilder.manuscripta-mediaevalia.de/hs//projekt_gotha.htm (10.12.2019); Neuste Erkenntnisse zu Handschrift G liefert der Faksimileband (Anm. 12). 28 Die Bildkonkordanz im Sammelband WENZEL u. LECHTERMANN (Anm. 12), S. 266–272 zeigt tabellarisch die vorhandenen und fehlenden Motive der erhaltenen Handschriften. Letztere sind zumeist auf einen Blattverlust zurückzuführen, sehr selten werden Motive bewusst ausgelassen oder vergessen.

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Abb. 2: KRIES (Anm. 13), Bd. 4, S. 154. Handschriftenstemma nach Friedrich Wilhelm VON KRIES.

Im Folgenden sollen nun einige dieser Veränderungen beispielhaft untersucht werden.29 Zwei Fallstudien zeigen unterschiedliche Aspekte, die solche Veränderungen verursachen können. Dabei werden die Bilder im Kontext der jeweiligen Handschrift gesehen und mit dem ursprünglichen Konzept verglichen, von welchem alle erhaltenen in unterschiedlichem Verwandtschaftsgrad abstammen. Als Grundlage wird das Stemma, das die Beziehungen der Überlieferungszeugen zueinander veranschaulicht, von KRIES genutzt (Abb. 2). Dieses bezieht sich maßgeblich auf Untersuchungen des Textes.30 Innerhalb der Überlieferungsgeschichte bilden sich früh zwei Zweige heraus, deren frühste bzw. aussagekräftigste Überlieferungszeugen die Handschriften A und G darstellen. Diese beiden ,Hauptrepräsentanten‘ der Überlieferungszweige sollten dabei nicht als direkte Abschriften der Autorversion verstanden werden.31 Dennoch eignen sich die beiden Handschriften und deren Vergleich, || 29 Die Auswahl der Motive für diesen Beitrag ergibt sich aus den größeren Fallstudien der Dissertation (s. Anmerkung). 30 KRIES (Anm. 13), Bd. 4, S. 154. Für KRIES bestätigen die Beobachtungen, die er bei den Bildern und Bildtexten gemacht hat, die stemmatologischen Einsichten, die er bereits aus dem Vergleich der Textvarianten gewonnen hatte. 31 K RIES (Anm. 13), Bd. 1, S. 86.

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um sich dem ursprünglichen Illustrationskonzept anzunähern, denn sie tradieren in ihren Bildprogrammen Elemente der gemeinsamen Vorlage.32

Fallbeispiel 1: Anpassung an unterschiedliche Rezeptionssituationen Das zweite Motiv des ‚Welschen Gastes‘ zeigt die Überbringung des fertigen Buches an seine Leser. An prominenter Stelle zum Prolog gehörig und vor dem eigentlichen Lehrgedicht fungiert es in der ikonographischen Funktion eines Dedikationsbildes als eine Art Scharnier zwischen Autor und Rezipient. Die dargestellte Situation im zweiten Motiv greift einige Verse der Reimvorrede auf und zeigt den „Empfang des ‚wälschen Gastes‘ in Deutschland“.33 Die Vorrede gibt Auskunft über den Autor und sein Werk, ohne dabei eine Übergabeszene, wie im Bild dargestellt, zu initiieren. Enthalten ist aber eine Anweisung, wie das Werk aufgenommen werden soll: Tiusche lant, enphâhe wol, als ein guot hûsvrouwe sol, disen dînen welhschen gast (V. 87–89, RÜCKERT (Anm. 13), S. 3)

Deutsches Land, empfange freundlich, wie es sich für eine gute Hausherrin schickt, diesen deinen welschen Gast. (Übersetzung nach WILLMS (Anm. 13))

Die Aufforderung in den Versen wird in ein konkretes Handlungsbild überführt. In Handschrift A auf folio 2r befindet sich das Bild am unteren Seitenrand und zeigt einen in Rot gekleideten Boten mit einem aufgeschlagenen Buch (Abb. 3). Sein aufgezäumter Schimmel ist an einen Baum gebunden. Kniend überreicht er den ‚Welschen Gast‘ an eine mit Schapel bekränzte Dame, die in einer Rundbogennische sitzt, umgeben von einer Architekturabbreviatur. Durch ihre Beischrift wird sie als Teuscheu zunge betitelt. In Handschrift G auf folio 8v ist die Miniatur in ein vorgesehenes Spatium in die Textspalte eingefügt (Abb. 4).

|| 32 Dieses ursprüngliche Konzept kann nicht als materieller ‚Archetyp‘ rekonstruiert werden, denn die stilistischen Änderungen machen ein solches Unterfangen unmöglich. Der Vergleich der Repräsentanten (Handschriften A und G) ermöglicht in ihren Übereinstimmungen eine Sedimentation ursprünglicher Bauelemente. Ein ähnliches Verfahren wählte auch Vera JERJEN in ihrer kürzlich erschienenen Arbeit, die sich mit den textlichen Strukturen des Werkes auseinandersetzt (Vera JERJEN, Arbeiten an Welt- und Selbstbild im ‚Welschen Gast‘ Thomasins von Zerclaere (Scrinium Friburgense 45), Wiesbaden 2019. 33 OECHELHÄUSER (Anm. 12), S. 16.

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Abb. 3: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 389 (Sigle: A), Bayern (Regensburg?) oder Kärnten, 2. Viertel 13. Jh., fol. 2r. ‚Welscher Gast‘, Motiv 2. Die Überreichung des Werkes. Der Bote (Der bot) überreicht der personifizierten deutschen Zunge das aufgeschlagene Buch des ‚Welschen Gastes‘ (Der welsch gast). Die Dame empfängt es mit den Worten: Seit mir, chan si daz?

Abb. 4: Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I 120 (Sigle: G), Ostfranken (?), 1340, fol. 8v. ‚Welscher Gast‘, Motiv 2. Die Überreichung des Werkes. Der Bote (causa efficiens) überbringt der personifizierten deutschen Zunge das Lehrgedicht Thomasins, den ‚Welschen Gast‘ (hiez welisch gast). Sie fragt den Boten nach dem Autor: Sendet mir tomasin daz?

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Stilistisch unterscheidet sich die ca. 1340 entstandene Illustration von der aus der Mitte des 13. Jahrhundert stammenden, doch zeigt sie die gleichen Bildelemente. In beiden Handschriften wird der im Text beschriebene „idealtypische Adressat“ in personifizierter Weise veranschaulicht.34 Die „deutsche Zunge“ empfängt als junge Frau und gute Hausherrin das Lehrgedicht. Der Bildtyp mit der aufgegriffenen ikonographischen Tradition des Dedikationsbildes scheint im ursprünglichen Konzept bewusst so angelegt worden zu sein und wurde als Konzept in den beiden Handschriften A und G weitertradiert. Semantische Unterschiede des Bildinhalts ergeben sich nur durch die Spruchbänder der Dame. Während sie in Handschrift A fragt: Seit mir, chan si daz?, ist an gleicher Stelle in Handschrift G zu lesen: Sendet mir tomasin daz? In den beiden Bildern des zweiten Motivs wird der Spruchbandtext von den Kopisten unterschiedlich wiedergegeben.35 Diese Unterscheide werden in der Forschung unterschiedlich bewertet: Das Spruchband in der Heidelberger Handschrift A gibt Rätsel auf. Während KRIES und OECHELHÄUSER von einer korrumpierten Stelle ausgehen,36 verstehen sowohl WENZEL als auch VETTER dies als Frage nach den sprachlichen Fähigkeiten Thomasins.37 Die Sinnhaftigkeit dieses auf den ersten Blick schwer verständlichen Spruchbandtextes wird von ihnen mit Versen Thomasins begründet, in denen er darlegt, dass er sich als Italiener stets bemüht habe, einen deutschen Text zu verfassen, der gefalle (V. 96–101). Während die Lesart in Handschrift A unikal überliefert ist, wird die Frage nach dem Autor und dessen Aussendung des Werkes an seinen Rezipienten in den meisten der erhaltenen Handschriften überliefert.38

|| 34 Horst WENZEL, Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nicht-körperlicher Nachrichtenträger, in: DERS. (Hg.), Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, unter Mitarbeit v. Peter GÖHLER u. a. (Philologische Studien und Quellen 143), Berlin 1997, S. 86–105, hier S. 90–91. 35 Eine weitere Abweichung der Bildtexte betrifft die Beischrift des ‚Boten‘. Der Überbringer des Buches wird in Handschrift G als causa efficiens bezeichnet. WACHINGER löst die Kürzung vgl. tā efficiens erstmal in der als richtig geltenden Lesart auf. Damit wird der Bote mit dem Autor verknüpft, die Wirkursache des literarischen Werkes. „Ich wage nicht, zu behaupten, daß diese Beischrift auf Thomasin zurückgeht, obwohl diese Vorstellung ihre Reize hätte […]. Aber daß im 13./14. Jahrhundert überhaupt jemand auf den Gedanken kommen konnte, einen deutschsprachigen Autor in prätentiöser Terminologie als causa efficiens zu bezeichnen, scheint mir doch bemerkenswert“, Burghart WACHINGER, Autorschaft und Überlieferung, in: Walter HAUG u. Burghart WACHINGER (Hgg.), Autorentypen (Fortuna vitrea 6), Tübingen 1991, S. 1–28, hier S. 10. 36 „die Frage der ‚deutschen Zunge‘ in A ist offensichtlich eine Korruption des ursprünglichen Textes seit aus sendet, chan si aus thomasin“, KRIES (Anm. 13), Bd. 4, S. 48; vgl. auch OECHELHÄUSER (Anm. 12), S. 16. 37 WENZEL (Anm. 34), S. 91; VETTER (Anm. 12), S. 84. 38 Insgesamt ist das Motiv 2 in sieben Handschriften enthalten – in den übrigen fehlt es meist aufgrund von Blattverlust. In den Handschriften H, a, W und b wird die Frage nach Thomasin in der Art von Handschrift G überliefert. Die Transkriptionen der Spruchbänder und der anderen Bildtexte aller erhaltenen Handschriften finden sich bei KRIES (Anm. 13), Bd. 4, S. 48.

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Abb. 5: Dresden, SLUB, Mscr.Dresd.M.67 (Sigle: D), Nordbayern (Eichstätt?), 1450–1470, fol. 5r. ‚Welscher Gast‘, Motiv 2 ‚Die Überreichung des Werkes‘. Auf einer Thronbank mit geschnitztem Baldachin sitzt eine höfische Dame, die freundlich den vor ihr knienden Kaufmann begrüßt: bis wilkum kaufman! Dieser kniet vor ihr und überreicht ihr ein aufgeschlagenes Buch (der welsch gast) und spricht sie an: gnad fraw.

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Das gleiche Motiv in der deutlich jüngeren Dresdner Handschrift (Sigle D)39 aus dem 15. Jahrhundert, die demselben Überlieferungszweig wie Handschrift A folgt, zeigt eine sowohl ikonographisch als auch in den Bildtexten abgewandelte Miniatur (Abb. 5). Die Empfängerin befindet sich nicht mehr in einer verkürzt dargestellten Stadtarchitektur, sondern sitzt auf einer einfachen Thronbank umrahmt von einer Art geschnitztem Baldachin. Im Spruchband heißt sie einen Kaufmann willkommen. Die vor ihr kniende Figur überbringt das aufgeschlagene Buch in gleicher Manier wie in den Handschriften A und G, grüßt die Dame jedoch mit gnad fraw.40 Die Beischrift der „deutschen Zunge“ fehlt. In der Miniatur in Handschrift D wird aus der Personifikation eines Empfängerkollektivs eine Einzelfigur und aus der Aussendung des Werkes mittels eines Boten der Erwerb des Buches von einem Kaufmann. Angepasst an einen geänderten Rezipientenkreis vermag das Bild auch in Handschrift D die Übergabesituation des ‚Welschen Gastes‘ in anderer Weise zu erzählen und bleibt durch die Veränderungen des Kopisten aktuell. In den Handschriften A und G (und so wahrscheinlich im ursprünglichen Konzept) wird ein in der Personifikation der „deutschen Zunge“ ein Empfängerkollektiv veranschaulicht, das einmal nach den Fähigkeiten des fremdsprachigen Autors fragt (A), einmal dessen Intention der Aussendung des Werken betont (G). In Handschrift D wird ein veränderter Rezeptionskontext veranschaulicht: Das Buch wird nun käuflich erworben und steht nicht mehr in direkter Autornähe. Es handelt sich durchaus um Abweichungen vom ursprünglichen Konzept des Motivs, die jedoch eindeutig durchdacht ein verändertes Handlungsbild evozieren. Dieses Beispiel zeigt, dass ‚Fehler‘ innerhalb einer (bildlichen) Überlieferungsgeschichte nicht eindeutig benannt werden können. Die vorschnelle Abqualifizierung von Abweichungen als ‚Fehler‘ steht dann einer Interpretation im Weg.

|| 39 Dresden, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek, Mscr. M 67 (Sigle: D), Sammelhandschrift (Minnerede ‚Wer nicht weiß, was rechte Liebe sei‘; Thomasin von Zerklaere, ‚Der Welsche Gast‘; Boner, ‚Edelstein‘; Teichner; Reimbispeln, Fabeln und Mären; Freidank, ‚Bescheidenheit‘ (Auszüge); Hugo von Trimberg, ‚Renner‘ (Auszüge)), Nordbayern (Eichstätt?), 1450–1470, Papier, 229 Blatt, ca. 30 × 21 cm, Bastarda, zweispaltig, eine Hand (‚Welscher Gast‘), 111 kolorierte Federzeichnungen. Weiterführende Beschreibungen zu Handschrift D in Auswahl: KRIES (Anm. 12), S. 62–65; Werner J. HOFFMANN, Die deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden (Vorläufige Beschreibungen), http://www.manuscripta-mediaevalia.de/?INFO_projectinfo/dres den#|5 (10.12.2019). 40 Vom Maler wurde für diesen Bildtext, der als Anrede zu verstehen ist, kein Spruchband vorgesehen. Folglich wurde dies aus der Vorlage kopiert oder explizit in Handschrift D eingeführt. Der Befund zeigt aber dennoch, dass ein Bildtextschreiber selbstständig, ohne vorherige Planung durch den Konzepteur oder Maler, den Dialog der Figuren eingeführt hat und damit vom ursprünglichen Konzept des Motivs 2 abweicht.

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Fallbeispiel 2: Anpassung durch Deutung von schwer Verständlichem Neben der Anpassung des Bildinhalts auf zeitliche, räumliche oder personelle Faktoren wird von den Kopisten besonders bei schwer verständlichen Motiven in die Darstellung eingegriffen. Für ein besseres Verständnis des Bildprogramms ordnet die moderne Forschung wie beispielsweise OECHELHÄUSER, KRIES und VETTER den Motiven korrelierende Verstellen zu, um so über den Textbezug das Dargestellte zu interpretieren. Dabei können die Textstellen in der Länge variieren und die Verse nicht immer eindeutig bestimmt werden. „In freiem Anschluss an Vers 1056 ff. ist dargestellt, welchen verschiedenen Einflüssen die Jugend ausgesetzt ist“ beschreibt beispielsweise OECHELHÄUSER den Text-Bild-Bezug zu Motiv 24.41 Spätestens durch KRIES werden dem Motiv folgende drei Verse zugeordnet: kint, lât iuch niht an trâkeit und volget vrumer liute lêre, des komt ir ze grôzer êre. (V. 1056–1058, RÜCKERT (Anm. 13), S. 29)

Kinder, lasst euch nicht mit der Trägheit ein und folgt der Lehre tüchtiger Menschen! So werdet ihr große Ehre erlangen. (Übersetzung nach WILLMS (Anm. 13))

Der Appell Thomasins an die Jugend wird in einem Handlungsbild veranschaulicht. In Handschrift A am Seitenrand von folio 17r werden sechs Figuren in Interaktion miteinander gezeigt (Abb. 6). Jede einzelne hält ein eigenes Schriftband, zwei Figuren haben zusätzliche Beschriftungen, jede gestikuliert und ist in ihrer Körperhaltung unterschiedlich in Szene gesetzt, beugt sich leicht, dreht sich, sitzt oder steht. Figuren betrachten einander, halten Blickkontakt, wenden sich ab, wenden sich zu, stehen gedrängt beieinander, berühren sich oder versuchen dies. Verständlich wird die Szene erst durch das Lesen der Bildtexte. Links in rotem Gewand hält die personifizierte Trägheit die Person vor ihr mit ganzem Körpereinsatz zurück Dv chumst tar niht. Die Zurückgehaltene bittet die ihr gegenüberstehende Person um Hilfe: Hilf mir von hinne. Diese blickt den Festgehaltenen an und ermutigt ihn: Hab gedingen zv mir. Die beiden mittleren Personen verschmelzen miteinander zu einer Art Drehfigur und leiten in eine weitere Dialoggruppe über. Die erste Figur dieser Gruppe streckt die Arme aus und spricht: Enphah mich ich bin e chom. Die zwei Tugenden sind dieser zweiten bittenden Figur zugewandt und begrüßen ihn.42 So spricht die Tüch-

|| 41 OECHELHÄUSER (Anm. 12), S. 24. 42 Bei genauer Prüfung der Originalhandschrift zeigt sich, dass auch die Beischriften „Tüchtigkeit“ und „Ehre“ vorhanden gewesen sind (bisher wurde dies lediglich über die Vergleichshandschriften für A rekonstruiert, dazu: VETTER (Anm. 12), S. 91). Unglücklich am unteren Seitenrand geschrieben, scheint die Tinte durch häufiges Blättern stark verblasst. Ansätze dieser Abnutzungsspuren werden an den Köpfen der Tugenden bereits deutlich.

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tigkeit: wis willechomen, und die Ehre fordert sogleich: Gıb mir in her. Durch das Lesen der Spruchbänder bekommt das Motiv im Bildprogramm eine zeitliche Abfolge. Für Heiko WANDHOFF entstehen zwei Sequenzen, die zwei Phasen eines Prozesses wiedergeben. Der Apell Thomasins an die jungen Leute werde als „Lernprozeß mit zeitlicher Binnengliederung“ dargestellt.43

Abb. 6: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 389 (Sigle: A), Kärnten/Steiermark, zweites Viertel 13. Jahrhundert, fol. 17r. ‚Welscher Gast‘, Motiv 24 ‚Überwindung der Trägheit‘. Die Tracheit hält die Figur vor sich fest umschlungen und spricht: Dv chumst tar niht. Diese bittet: Hilf mir von hinne. Die Person vor dem Zurückgehaltenen macht ihm Mut: Hab gedingen zv mir. Die vierte Figur wendet sich an die zwei personifizierten Tugenden Tüchtigkeit und Ehre: Enphah mich ich bin e chom. Die Tüchtigkeit empfängt ihn: wis willechomen. Die Ehre fordert sogleich: Gıb mir in her.

Diese aufeinanderfolgenden Sequenzen werden besonders in der Handschrift G durch die Dopplung der Figur des Entkommenen hervorgehoben (Abb. 7). Ein kreativer Umgang zeigt sich in Handschrift G ebenfalls bei der Beschriftung der Spruchbänder. Inhaltlich der Handschrift A ähnlich zeigen sie Variationen in der Leserichtung. Die Spruchbänder der linken drei Figuren sind von oben nach unten zu lesen – das Buch müsste um 90 Grad mit dem Uhrzeigersinn gedreht werden. Die Aussagen der anderen drei Figuren erschließen sich von unten nach oben – das Buch

|| 43 Heiko WANDHOFF, bild und schrift, volgen und versten. Medienorientiertes Lernen im ‚Welschen Gast‘ am Beispiel des ‚Lektürekatalogs‘, in: WENZEL u. LECHTERMANN (Anm. 12), S. 104–120, hier S. 114.

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müsste um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn gedreht werden. Die unterschiedliche Ausrichtung der Bildtexte korrespondieren mit dem Bildprogramm. Durch die Ausrichtung der Spruchbandtexte entstehen zwei Dialoggruppen, die im Rezeptionsprozess voneinander getrennt werden.

Abb. 7: Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. I 120 (Sigle: G), Ostfranken (?), 1340, fol. 14v. ‚Welscher Gast‘, Motiv 24. Überwindung der Trägheit. Die personifizierte Trägheit sitzt auf einer einfachen Thronbank und versucht den jungen Mann vor ihr zurückzuhalten: Dv chvmst dar niht. Dieser bittet um Hilfe: helfet mir von hinnen. Ihm wird zuversichtlich geantwortet: hab gedingen vn volge mir. Der Entkommene in der rechten Szene wendet sich an frvmcheit und Ere: Emphah mich ıch pin e chome. Die Tüchtigkeit empfängt ihn: wis wıllechome lıebe. Die Ehre fordert sogleich: Gib mir in her.

Darüber hinaus binden die Bildtexte im Motiv 2 in den Handschriften A und G das Dargestellte an den Text, indem Textsegmente im Bild wiederholt werden.44 Die Beischriften kennzeichnen die Personifikationen; in den Spruchbändern werden

|| 44 Ebd.

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Schlüsselbegriffe aus dem Text aufgenommen und im Bild implementiert.45 So werden die Bildtexte zu einem „unentbehrlichen Vermittler zwischen Text und Illustration“.46 Dennoch kommt es bei OECHELHÄUSER, KRIES und VETTER zu unterschiedlichen Deutungen, die besonders die mittleren drei unbeschrifteten Figuren betreffen. OECHELHÄUSER sieht in der Figur, die den Jugendlichen empfängt, die Opposition zur personifizierten Trägheit.47 VETTER benennt die Figur in Handschrift A als die Personifikation der „Lehre ‚frumer leute‘“.48 KRIES bezeichnet sie ebenfalls als die „frumen liute“.49 Der Plural des Textes veranlasst ihn, auch die folgende Figur, die von VETTER und WANDHOFF als zweiter Jüngling verstanden wird, in diese Gruppe der tüchtigen Leute zu zählen. Die Herangehensweise der modernen Forschung, die nicht betitelten Figuren mit Hilfe des Textes zu identifizieren, unterscheidet sich nicht von der der zeitgenössischen Kopisten. Schaut man sich das Motiv in weiteren erhaltenen Handschriften an, so fällt auf, dass auch die Kopisten nach einem Textbezug suchten. Auf folio 14v in der Berliner Handschrift H50 wird die Miniatur mit einem Rahmen versehen in die Textspalte eingepasst (Abb. 8). In dem begrenzten Bildraum stehen die Figuren dicht beieinander, ihre Spruchbänder laufen teilweise vor ihren Körpern her und sind in auffälliger Weise mit einer rubrizierten gotischen Minuskel beschriftet.51 Für die Beischriften der Figuren war teilweise nicht genug Platz, sodass diese außerhalb der Rahmung platziert sind; über Verweiszeichen werden sie den Figuren zugeordnet. In Handschrift H wurden nun auch die mittleren drei Figuren beschriftet: Der iung, Di getrew und di frum. Die zusätzlichen Beischriften identifizieren die Figuren als Beispielfiguren. So steht nun der junge

|| 45 Sowohl das Laster der Trägheit als auch die Tugend der Ehre werden als Personifikationen im Bild dargestellt und als solche durch ihre Beischrift kenntlich gemacht. Die Verben chomen und volgen, die sowohl Bestandteil der Verse als auch der Bildtexte sind, verweben Bild und Text. 46 Hella FRÜHMORGEN-VOSS, Mittelhochdeutsche weltliche Literatur und ihre Illustration, in: DIES. u. Norbert H. OTT (Hgg.), Text und Illustration im Mittelalter. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 50), München S. 1–56, hier S. 41. 47 „Letztere ist in keiner der Handschriften mit einer Beischrift versehen, soll aber wohl den Gegensatz zur Trägheit darstellen“, OECHELHÄUSER (Anm. 12), S. 24. 48 VETTER (Anm. 12), S. 91. 49 KRIES (Anm. 13), S. 65. 50 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Hamilton 675 (Sigle: H), Burgund (?), Anfang des 15. Jahrhunderts, Pergament, 120 Blatt, ca. 32 x 24 cm, Bastarda, eine Hand, zweispaltig, 109 gerahmte Miniaturen, vermutlich ein Zeichner und ein Bildtextschreiber. Weiterführende Beschreibungen zu Handschrift D in Auswahl: KRIES (Anm. 12), S. 34–36; Horst WENZEL, Thomasin von Zerklære, Der Welsche Gast. Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Ms. Hamilt. 675 der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz. Einführung (Codices illuminati medii aevi 51), München 1998, S. 33–40: http://bilder.manuscripta-mediaevalia.de/hs//CIMA/ CIMA%2051.pdf (10.12.2019). 51 Diese sorgfältig ausgeführte gotische Minuskel unterscheidet sich von der Schriftart der Verse. Für den Haupttext wird im Gegensatz zu den Bildtexten eine Bastarda verwendet.

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Mensch, an den sich die Lehren richten, als deutlich verkleinerte Figur zwischen der männlichen Personifikation des Lasters und den Tugenden und Tugendhaften.52 Durch die genaue Bezeichnung der Figuren wird deutlich, dass das Bild in Handschrift H nicht als Erzählung in mehreren Sequenzen verstanden wurde, wie sie besonders in Handschrift G durch Figurengestaltung und Spruchbandausrichtung evoziert wird. In Handschrift H manifestiert sich hingegen das Bedürfnis nach Eindeutigkeit des Dargestellten. Die schwierig zu identifizierenden Personen wurden durch die zusätzlichen Beischriften benannt.

Abb. 8: Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Ham. 675 (Sigle: H), Burgund (?), Anfang 15. Jahrhundert, fol. 14v. ‚Welscher Gast‘, Motiv 24. Überwindung der Trägheit. Das personifizierte Laster der trachait sitzt auf einer Thronbank und versucht den jungen Menschen ihr am Fortkommen zu hindern: Du chomst dar nicht. Als deutlich verkleinerte weibliche Figur bittet Der iung: helfet mir vo[n] dan. Di getrew weist sie an: nu volge mir. In ihrem Rücken steht di frum, die bereits entkommen ist und die beiden Tugenden bittet: Enphach mich ich pin echomen. Die personifizierte frumchait empfängt die Tüchtige: Wis wille chomen, während die personifizierte Err sogleich fordert: Gib mier in herr!

|| 52 Dargestellt ist eine Frau. Generell ist der Wechsel vom Geschlecht der dargestellten Figuren – ob Personifikationen oder Beispielfiguren – nicht ungewöhnlich in der Überlieferung des ‚Welschen Gastes‘ wie bereits STARKEY herausgearbeitet hat: Kathryn STARKEY, Das unfeste Geschlecht: Überlegungen zur Entwicklung einer volkssprachlichen Ikonographie am Beispiel des Welschen Gasts, in: Horst WENZEL (Hg.), Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten (Philologische Studien und Quellen 195), Berlin 2006, S. 99–138.

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Der Deutungsprozess schwer verständlicher Stellen findet bereits bei den Kopisten statt, die dementsprechend als reale Rezipienten gesehen werden können. Folglich schwierig ist auch die Zuordnung der Figuren in der modernen Forschung, da hier zumeist versucht wird, das Motiv unter Einbezug aller erhaltenen Handschriften zu beschreiben. Wie aber das Beispiel des Motivs 24 verdeutlicht, entsteht in den Handschriften ein Pluralismus an Bildern zum selben Motiv. Figuren wurden unterschiedlich von den jeweiligen Kopisten gedeutet und können somit gar nicht allgemeingültig benannt werden. Generell wurde die Gestaltung der Bilder im ‚Welschen Gast‘ von den Kopisten innerhalb der Überlieferung als beweglich empfunden. Veränderungen der Bilder finden sich im Vergleich zur Überlieferung des Textes nicht nur deutlich häufiger, sondern auch in inhaltlich gravierenderer Weise. Dies hat nicht zuletzt mit Verständnisschwierigkeiten zu tun. Heute wie damals werden die Probleme bei der Interpretation des Bildinhalts mit Hilfe des Textes des Lehrgedichts gelöst. Der Text wurde bereits von den zeitgenössischen Kopisten als autoritativ und die Bilder zwar als fester Bestandteil, aber mit starkem Bezug auf den Text verstanden. Nicht nur nimmt die Anzahl der Bildtexte zur Präzisierung des Dargestellten im Laufe der Überlieferung zu,53 sondern auch bildliche Elemente selbst werden angepasst. Jede der Handschriften changiert zwischen der Bewahrung eines ursprünglichen Konzepts und einer – teilweise intensiven – Auseinandersetzung mit Bild und Text der Vorlage. Dieses teilweise schöpferische Arbeiten der Kopisten in den Bildern verleiht jedem dieser uns überlieferten Artefakte Originalität und gewährt uns Einblicke in das sich durch die Jahre wandelnde Verständnis des Werkes durch seine Rezipienten. Die Handschriften, die in unterschiedlichem Verwandtschaftsgrad alle auf dasselbe Illustrationskonzept zurückgehen, tradieren dies teilweise sehr verschieden im Detail. In solchen Kopierprozessen konstituiert sich zum einen das Spannungsfeld von Vorlagentreue sowie Sinnpflege, die eine Bearbeitung nicht ausschließen,54 und zum anderen einem kreativen Umgang sowie eine eigene Deutung der Vorlage.55 Darüber hinaus manifestiert sich das Verständnis von Text und Bild der am Kopierprozess beteiligten Akteure.

|| 53 Die Beschriftung der in den älteren Handschriften unbeschrifteten Figuren, wie am Beispiel des Motivs 24 gezeigt, ist typisch für viele der jüngeren Handschriften und lässt sich in vielen Motiven beobachten. 54 Jan Christian GERTZ, Robert FOLGER u. Rebecca SAUER, Abschreiben und Kopieren, in: Thomas MEIER, Michael R. OTT u. Rebecca SAUER (Hgg.), Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken (Materiale Textkulturen 1), Berlin, München 2015, S. 585–596. 55 Auch wenn in diesem Beitrag kein Verhältnis zwischen Vorlage und direkter Kopie untersucht werden konnte, konnten aufgrund des reich überlieferten Materials Abweichungen im Bildprogramm einzelner Handschriften gegenüber dem ursprünglichen Konzept interpretiert werden.

Katrin Janz-Wenig, Maria Stieglecker

Entkontextualisierung – Neukontextualisierung am Beispiel einer spätmittelalterlichen Sammelhandschrift Der Klosterneuburger Codex 845 Abstract: Subject of this article is manuscript 845 of the Abbey Library of Klosterneuburg, an autograph by Peter Eckel von Haselbach written between 1489 and 1498. Based on the explicit information about the author and the audience and the well known context in which it was created, this manuscript is particularly suitable for the study of various levels of de- and re-contextualisation: On the one hand, some of the theological and catechetical texts translated from Latin into the vernacular are not just literal translations, but – like the Passion treatise – remarkable compilations; on the other hand, the explicit interconnections between the texts make it possible to trace the method and reasons why the author composed the various texts for his audience. An examination of the physical manuscript brings to light numerous references to other manuscripts written at the same time in the scriptorium of Klosterneuburg. The Codex is an example of the combination of translations, clearly focused creative compilations and newly created texts as well as the intertwining and re-contextualisation that can be observed in miscellaneous manuscripts and in the broader context of manuscript collections. Keywords: manuscript studies, vernacular language, materiality, monastic history, library history

1 Einleitung Der im Mittelpunkt des Beitrags stehende Codex 8451 wird in der Stiftsbibliothek des Augustinerchorherrenstiftes Klosterneuburg aufbewahrt.2 Für eine umfängliche Betrachtung, also eine genaue Untersuchung und Analyse des physischen Materi-

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Katrin Janz-Wenig, Institut für Mittelalterforschung, Abt. Schrift- und Buchwesen, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Hollandstr. 11–13, A-1020 Wien, Nun: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, [email protected] || Maria Stieglecker, Institut für Mittelalterforschung, Abt. Schrift- und Buchwesen, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Hollandstr. 11–13, A-1020 Wien, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-004

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als, einer inhaltlichen Tiefenerschließung der textlichen Überlieferung sowie der ansatzweisen literarhistorischen Verortung der im Codex tradierten Texte und die damit verbundene Offenlegung der verschiedenen Aspekte und Informationsschichten des Objektes bietet sich dieses Manuskript – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – gleich aus mehreren Gründen als besonders geeignet an. In diesem Beitrag wird versucht, dem Anliegen Jürgen WOLFS, Sammelhandschriften umfassender und fächerübergreifend zu betrachten, also ihr Gesamtprofil herauszuarbeiten, beispielhaft nachzukommen.4 Das Manuskript bietet zu Beginn des ersten Texts selbst alle Informationen zu Entstehungsort, Entstehungszweck und Entstehungszeit: Nach dem das dy heyligen lerer Bernhardus vnd dy anderen schreiben vnd vns lernen wye dem almächtigen got nichtz von dem menschen genämer vnd geuelliger sey dan dy andachtig betrachtung in dankchnamkait des leiden vnsers herren Ihesu Christi hab ich M. P. von Haslpach auff das gepet etlicher andachtiger meiner swestern hye ze Newburg in dem frawncloster den passion etlich mal hye pey meiner bruedern vnd vor dem gemain volk in dem herrn closter durch mich gepredigt zu deuschs ze machen fur genomen zu merer andacht der selben swestern.4

|| 1 Das Kloster wurde im Jahr 1114 vom Babenberger Markgraf Leopold III., dem nachmaligen heiligen Leopold und Landespatron von Österreich, zunächst als weltliches Kanonikerstift gegründet. Seit dem Jahr 1133 besteht es bis heute als Augustiner-Chorherrenstift. Wie üblich existierte wohl auch von Beginn an ein Frauen-Stift, das Maria Magdalena geweiht war, welches jedoch mit dem Tod der letzten Chorfrau 1578 ausstarb. Die Stiftsbibliothek verwahrt u. a. etwa 1250 mittelalterliche Handschriften, darunter auch die, die sich im Chorfrauenstift befanden, vgl. Berthold ČERNÍK, Das Schrift- und Buchwesen im Stifte Klosterneuburg während des 15. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Stiftes Klosterneuburg 5 (1913), S. 97–176. Zum Frauenstift vgl. Christiane Ulrike KURZ, ‚Ubi et est habitatio sororum et mansio fratrum‘. Doppelklöster und ähnliche Klostergemeinschaften im mittelalterlichen Österreich (Diözese Passau in den Ausdehnungen des 13. Jahrhunderts), Kiel 2015, S. 50–97. 2 Die vollständige Signatur lautet: Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 845. Im Folgenden auch für alle anderen Handschriften der Sammlung verkürzend wiedergegeben als CCl (Codex Claustroneoburgensis). 3 Jürgen WOLF, Sammelhandschriften – mehr als die Summe der Einzelteile, in: Dorothea KLEIN (Hg.), Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma (Wissensliteratur im Mittelalter, Bd. 52), Wiesbaden 2016, S. 69–81, hier, S. 79: „All die Genannten – Katalogisierer, Editoren, Literarhistoriker – nehmen Sammelhandschriften mitsamt ihrer ‚Mitüberlieferung‘ zwar wahr, listen sie auf, können sie sich aber schon allein aus arbeitsökonomischen Gründen gar nicht genauer ansehen. Dass viele Begleitinformationen damit verloren gehen, wird billigend hingenommen, letztlich meist sogar, ohne sich der Tatsache in ihrer ganzen Tragweite bewusst zu sein. Für das Gros der oben skizzierten Sammelbände und Sammelhandschriften ist aber gerade charakteristisch, dass die jeweils in einer Handschrift wie auch immer gereihten Einzeltexte miteinander korrespondieren. Oft nehmen sie […] nur ‚einfach‘ Kontakt auf, d. h. sie haben inhaltlich ähnliche Anliegen und werden deshalb – durchaus planvoll – addiert.“

Entkontextualisierung – Neukontextualisierung: Der Klosterneuburger Codex 845 | 51

Abb. 1: CCl 845, fol. 1r (Autograph). Mit freundlicher Genehmigung der Stiftsbibliothek Klosterneuburg.

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Wir entnehmen diesem Abschnitt also, dass Magister Peter von Haselbach im Auftrag der Klosterneuburger Chorfrauen seine lateinische Passionsauslegung, die er zuvor bei den Chorherren und dem Volk gepredigt hatte, nun zur Erbauung und Unterweisung der Damen in die Volkssprache übertragen hat. Dieser Teil des Codex weist außerdem noch eine Datierung auf das Jahr 14895 auf und stellt ein Autograph des Autors dar (Abb. 1).6 Peter Eckel von Haselbach (um 1440–1506)7 wurde vermutlich im Niederösterreichischen Haselbach bei Stockerau geboren und besuchte ab 1458 die Universität Wien, wo er 1465 den Titel eines Magister artium erwarb und in den folgenden Jahren nachweislich immer wieder als Leiter von Promotionsverfahren zum Bakkalaureat fungierte.8 In der zum Stift Klosterneuburg gehörenden Pfarre Kahlenbergerdorf wirkte er bis zum Jahre 1482 als Pfarrer. Danach lebte er als Weltpriester mit Stiftspräbande bei den Chorherren in Klosterneuburg. Zudem betreute er ab etwa 1490 als Seelsorger und Prediger die Augustiner-Chorfrauen von St. Maria Magdalena. Während dieser Zeit verfasste er mehrere Werke in der Volkssprache. Dass es

|| 4 Vgl. CCl 845, fol. 1r. Die Wiedergabe von Textpartien aus Handschriften erfolgt durchgehend zeichengetreu, ohne Ausgleich von u, v und w bzw. i und j; Diakritika ohne Lautfunktion wurden vernachlässigt. Abbreviationen werden stillschweigend aufgelöst, die Zeichensetzung wird in Einzelfällen zum besseren Verständnis ergänzt bzw. korrigiert. Bei Satzanfängen und Eigennamen wurde Großschreibung eingeführt. Die Getrennt- und Zusammenschreibung erfolgt nach der Handschrift; wenn diese nicht eindeutig ist, folgt die Wiedergabe entsprechend der Plausibilität. 5 CCl 845, fol. 1r: Anno 1489 (in roter Tinte), darunter in schwarzer Tinte 1489. 6 Vgl. Anm. 9. 7 Zum Autor und seinem Werk: Hartmann Joseph ZEIBIG, Die deutschen Handschriften der Stiftsbibliothek zu Klosterneuburg, in: Serapeum 11 (1850), S. 101–109, 123–125, hier S. 103 f. (Nr. 18 ff.); ČERNÍK (Anm. 2), S. 115; Hermann MASCHEK, Peter von Haselbach, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 1. Aufl., Bd. 3 (1943), Sp. 851 f. Eine erste inhaltliche Auseinandersetzung mit einer der im Codex überlieferten Predigten bietet Dietrich SCHMIDTKE, Studien zu Dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters. Am Beispiel der Gartenallegorie (Hermaea Germanistische Forschungen NF 43), Tübingen 1982, hier S. 44, 144 ff., 237 f., 516–525. Alois HAIDINGER verfasste die erste allgemein würdigende Darstellung der Person und des Schaffens, vgl. Alois HAIDINGER, Peter von Haselbach (Eckel, Peter), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 7 (1989), Sp. 436 f. sowie Bd. 11 (2004), Sp. 1192–1193. Allgemein und zusammenfassend siehe Katrin JANZ-WENIG, Peter Eckel von Haselbach, in: Verfasser-Datenbank. Autoren der deutschsprachigen Literatur und des deutschsprachigen Raums: Von den Anfängen bis zur Gegenwart (DOI: 10.1515/vdbo.vlma.3313_v2, 23.11.2017) und DIES., Zu deuʃchs ze machen zu merer andacht der ʃweʃtern. Der Klosterneuburger Kodex 845. Eine inhaltliche Annäherung mit einer Edition der ‚Predigt nach der Fußwaschung‘ des Peter Eckel von Haselbach, in: Balázs SÁRA (Hg.), Quelle und Deutung IV. Beiträge der Tagung Quelle und Deutung IV am 23. November 2016 (Series Antiquitas, Byzantium, Renascentia 33), Budapest 2018, S. 109–145 sowie Maria STIEGLECKER, Zu deuʃchs ze machen zu merer andacht der ʃweʃtern. Der Klosterneuburger Kodex 845: eine kodikologische Annäherung, ebd., S. 89–107. 8 Vgl. ausführlicher Alois HAIDINGER, Drei Determinations-Ankündigungen aus dem Stift Klosterneuburg, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 46/47 (1993/1994), S. 237–244, 425–428.

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sich bei den Niederschriften im heutigen Cod. 845 um Autographe handelt, konnte Alois HAIDINGER durch einen Schriftvergleich mit einem „Memoriale“ aus dem Stiftsarchiv nachweisen.9

2 Das Äußere der Handschrift Bei dem Codex 84510 der Stiftsbibliothek Klosterneuburg handelt es sich um eine Quarthandschrift mit einem Umfang von 154 Papierblättern.11 Den enthaltenen Datierungen zufolge wurden die Texte in Klosterneuburg wohl zwischen den Jahren 1489 bis 1498 niedergeschrieben. Der Originaleinband ist nicht mehr vorhanden. Wie die meisten Handschriften der Stiftsbibliothek wurde auch diese Mitte des 19. Jahrhunderts neu eingebunden und präsentiert sich nun als sog. „Halbfranzband mit Golddruck“.12 So ist auf dem Buchrücken die Aufschrift Haselbach XXIV zu lesen, wobei hier bei der Neubindung ein Fehler hinsichtlich der Zuordnung des Autors unterlief. Der Aufstellung und der Betitelung nach steht der Codex innerhalb einer längeren Reihe von „Haselbachhandschriften“, die allerdings Texte von Thomas Ebendorfer von Haselbach, dem bedeutenden Österreichischen Chronisten und Theologen umfassen.13 Vor- wie Nachsatzblatt, die ursprünglich der Handschrift beigebunden waren und einem Missale aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts entstammen, blieben erhalten. Das Vorsatzblatt war anfänglich kopfständig eingefügt, wurde bei der Neubindung gedreht und dann leserichtig als Vorsatzspiegel aufgeklebt. Der entsprechende Hinweis darauf ist die vermerkte Signatur sowie ein Besitzvermerk des 17. Jahrhunderts, die ihrerseits nun wiederum kopfständig sind. Im Zuge der Neu|| 9 Das Dokument Klosterneuburg, Stiftsarchiv ‚Memoriale‘: Alte Rapulatur, Kart. 75, fol. 181, Nr. 41 ist von Peter Eckel eigenhändig und mit Nennung seines Namens geschrieben worden, vgl. HAIDINGER (Anm. 7). 10 Vgl. ausführlicher STIEGLECKER (Anm. 7). 11 Die Abmessungen betragen 210×140 mm, vgl. http://manuscripta.at/m1/hs_detail.php?ID=1081 (09.08.2019) sowie http://www.handschriftencensus.de/17702 (09.08.2019). 12 Alois HAIDINGER, Katalog der Handschriften des Augustiner Chorherrenstiftes Klosterneuburg. Teil 1: Cod. 1–100 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 168, Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters II,2,1), Wien 1983, S. XIII: „die Mehrzahl der übrigen [Einbände] wurde mit ‚Halbfranzband mit Golddruck, um 1840‘ charakterisiert. Diese bald nach 1836/37 […] angefertigten Einbände zeigen mit marmoriertem Papier überzogene Pappdeckel, Rücken und Deckelecken aus Kalbsleder, Rückenfelder mit Golddruckverzierung (Titelangabe in Feld 2, Signatur im letzten Feld)“. 13 Paul UIBLEIN, Ebendorfer, Thomas, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2 (1980), Sp. 253–266, ausführlicher zu Leben und Werk vgl. Alphons LHOTSKY, Thomas Ebendorfer. Ein österreichischer Geschichtsschreiber, Theologe und Diplomat des 15. Jahrhunderts (Schriften der Monumenta Germaniae historica 15), Stuttgart 1957.

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bindung der Handschrift wurde der Buchblock zudem noch stark beschnitten, was dazu führte, dass die zahlreichen Marginalien und nachgetragenen Rubriken an den äußeren Seitenrändern oftmals nicht mehr vollständig zu lesen sind. Insgesamt enthält der Codex sieben Datierungsangaben.14 Hierbei ist festzustellen, dass die ersten zwei Texte des Manuskripts, also der Passionstraktat und der Traktat vom Leiden Mariae, die mit 109 Blättern zwei Drittel der Handschrift umfassen, die Datierungen 1489 und 1490 aufweisen, die anschließenden kürzeren Texte auf den verbleibenden 45 Blättern hingegen mit den Jahreszahlen 1496–1498 versehen sind. Der Codex setzt sich somit aus zwei Teilen zusammen, die im Abstand weniger Jahre entstanden sind.15 Auch optisch ist diese Zweiteilung gut erkennbar: Der etwas früher geschriebene erste Teil weist auf den Außenseiten fol. 1r und fol. 109v Schmutzspuren auf, zusätzlich finden sich auf fol. 109v – wie so oft am Ende einer Handschrift oder einzelner Faszikel – Skizzen und Federproben sowie ein nicht genutzter Freiraum. Die Lagen dieses Teils wurden mit Reklamanten versehen. Der Schreiber verwendete hier eine bräunliche Tinte, im zweiten Teil hingegen kam eine schwärzliche Tinte zum Einsatz und Reklamanten am Lagenende lassen sich in der Folge nicht mehr nachweisen. Ebenso finden sich keine Schmutzspuren auf den äußeren Blättern, die auf ein längeres ungeschütztes Aufbewahren der Faszikel hinweisen würden. Zudem wurde der letzte Text auf dem Nachsatzblatt (fol. I*r) zu Ende geführt, was sogar auf eine Bindung noch vor dem definitiven Abschluss der Niederschrift schließen lässt. Unterschiedlich ist auch der Aufbau der beiden Teile: Der erste Teil setzt sich ganz regelmäßig aus insgesamt neun Senionen zusammen, wobei an den letzten Senio ein Einzelblatt angefügt wurde.16 Der zweite Teil weist eine weit unregelmäßigere Bindung auf: einem Ternio, dem ein Einzelblatt vorangestellt ist, folgen zwei Senionen, ein Binio und schließlich ein Quinio, wobei der letzte Text – wie schon dargelegt – auf dem Nachsatzblatt endet.17 Ein weiteres Indiz für eine Zusammensetzung der Handschrift aus zwei Teilen ist auch, dass für den ersten Teil eine zeitnahe Abschrift, also eine Art ‚Reinschrift‘ vorliegt. Der Klosterneuburger Cod. 85918 enthält, im Gegensatz zum in Konzeptstil

|| 14 CCl 845, fol. 1r Anno 1489; fol. 109v In die Marcelli pape 1490 sowie fol. 110r und 116r Am antlas tag nach dem fuezwaschen 1498; fol. 129r De sancta Margareta anno 1496; fol. 145r De sancta Katherina 1498; fol. 150r De sancta Barbara 1498. 15 Teil 1: CCl 845, fol. 1r–109v; Teil 2: fol. 110r–150r. 16 Lagen: 8.VI96 + (VI+1)109. 17 Lagen: (III+1)116 + 2.VI140 + II144 + V154v + 1I*. 18 Vgl. https://manuscripta.at/?ID=1096 (09.08.2019) und http://www.handschriftencensus.de/ 25507 (09.08.2019).

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Abb. 2: CCl 859, fol. 1r (Abschrift). Mit freundlicher Genehmigung der Stiftsbibliothek Klosterneuburg.

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Abb. 3: CCl 845, fol. 116v (Kommentar des Schreibers zur korrekten Abfolge der Texte). Mit freundlicher Genehmigung der Stiftsbibliothek Klosterneuburg.

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gehaltenen autographen Cod. 845,19 in schön lesbarer Textualis eine weitere vollständige Überlieferung der Passionsauslegung sowie eine unvollständige Abschrift des Traktates vom Leiden Mariae (Abb. 2). Ob der Schreiber von Cod. 859 ebenso Peter Eckel – also der Autor von CCl 845 – ist, lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Schriftstile nicht eindeutig ermitteln. Allerdings finden sich zwei Vermerke der Textualishand auch im ersten Teil des Cod. 845, die eine solche Vermutung plausibel erscheinen lassen.20 Offensichtlich wurde der Codex bei der Bindung um 1500 falsch zusammengesetzt. Auf fol. 116v findet sich von der Hand Peter Eckels eine entsprechende Richtigstellung der Reihenfolge (Abb. 3): Hoc sentite in vobis quod et in Christo Ihesu, Philippen 2° ca°. Suech das nach achzehen plättelen vnd gehörtt da her fuer, do wirdest du vinden drew ding, in welchen nach volgen soldt dem herren Ihesu Christo, das ist dy dyemütikait, gehorsam vnd geduldikait. Das erst dye dyemutikait wirdest du vinden pey den wordten: hye vnd dar nach geschriben: Hoc sentite in vobis etc. Das ander voligt do engegen vber dy gehorsam. Das dritt an dem funfften plateln nach dem anderen. Der das puechlein ein gepunden hat, das hinder her für gesaczt vmb ächzehen plätell. Syech wo du wirdest vinden ain Aaa pey dem wart: Hoc sentite in vobis, vnd so do selbest vindest: Amen. So kchär wider her fuer vnd wo du wirst vinden, Bbb hye engegen so get es recht nach ainander.

3 Der Inhalt der Handschrift Teil 1 (1489–1490): fol. 1r–96r Passionstraktat21 fol. 96r–109v Traktat vom Leiden Mariae22

|| 19 Das Schriftbild in CCl 845 erweckt in manchen Eigentümlichkeiten den Eindruck eines Konzepts: Eckel verwendete so z. B. im laufenden Text keine Rubriken oder Titelüberschriften; diese fügte er in roter Tinte am Blattrand oder zwischen den Zeilen ein. 20 Vgl. Freirand von CCl 845, fol. 12v ego und fol. 24v pit Got fuer mich umb goczwillen. 21 Tit.: In nomine patris et filii et spiritus sanctus. Anno 1489. Assit principio virgo maria me. – Inc.: Nach dem das dy heyligen lerer Bernhardus vnd dy anderen schreiben vnd vns lernen wye dem almächtigen got nichtz von dem menschen genämer vnd geuelliger sey dan dy andachtig betrachtung in dankchnamkait des leiden vnsers herren Ihesu Christi hab ich M. P. von Haslpach … – … von der muesalikait vnd arbait zu der rue von der trawrikait discz iamertail zu dem end aller saligsten angesicht ansehung trostung zu komen, der du lebst vnd regierst mit got dem vater vnd dem heyligen geist am endt in ewikait. Amen. – Weitere Überlieferung: CCl 859, fol. 1r–165v. 22 Anno domini etc. 1490. Tit.: Von den leiden Maria. – Inc.: Ir andachtigen swesteren vnd iunkfrawn wye wol dem also ist, das wir etlich mitleiden vnd vnausprechlichen smerczen gehort haben vorgeschriben passion doch well wir noch thuen zu ir ain frag … – … vnd nun regiert vnd herscht mit got dem vater in aynikait des heyligen geyst ewigklich an endt, Amen. – Weitere Überlieferung: CCl 859, fol. 165v–173v, unvollständig.

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Teil 2, acht Predigten (1496–1498): fol. 110r–116r Predigt nach der Fußwaschung23 fol. 117r–121v Predigt vom Gehorsam24 fol. 122r–128v Predigt von der Geduld25 fol. 129r–134r Predigt auf die hl. Margarete26 fol. 134v–140v Predigt von der Demut27 fol. 141r–144v Predigt über die Jungfräulichkeit28

|| 23 Tit.: Am antlas tag nach dem fuezwaschen 1498 (12.04.1498). – Inc.: Exemplum dedi vobis ut quemadmodum ego feci et vos faciatis, Ioannis tercio decimo. Ich hab euch geben ain exempel als wye ich getan hab das ir auch also tuet. Also spricht Ihesus an dem ewangelii sand Iohans an dem dreyzehenten capitel (Io 13,15). Ir lieben in Christo andächtig swesteren … – … vnd heb auff sich sein chreycz vnd volg mir nach wan es ist eng der weg der do furt zu dem ewigen leben das wir dem nach volgen verliech vns Ihesus Christis durchs sein pitters leyden. Amen. – Ed.: JANZ-WENIG, Zu deuʃchs (Anm. 7), S. 126–142. 24 Tit.: Obediencia. Von der tugent gehorsam. – Inc.: Das ander das do macht den menschen ain kind vnd waren nachuolger Christi ist dy gehorsam vnd Christus hat an ym gehabt vns erzaigt so spricht Paulus: Er ist gehorsam worden pizz in den tod (Phil 2,8). Von der gehorsam spricht Bernhardus in der predigt der osteren … – … also vil von der gehorsam ist genug, thue also so wirstu leben. – lateinische Vorlage: dritter Sermo zur Oktav von Christi Geburt aus ‚Hortulus Reginae‘ des Meffreth, vgl. Gesamtkatalog der Wiegendrucke www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de (16.07.2020) im Weiteren als GW abgekürzt, Nr. 22634. 25 Tit.: Das drit stukel von der geduldikait. – Inc.: Das dritt das do macht den menschen ain kchind gotz vnd ainen waren nachvolger Christi ist dy huetterin der tugenz, dy geduld. Vnd dy hat Christus an ym gehabt als spricht Paulus in den warten vorgemelt Philipen am anderen capitel: er ist gehorsam worden pizz in den tod (Phil 2,8). Von der tugent redt Christus, Luce am XXI capitel: yn ewer geduld wert yr besiczen ewr seel … – … daz zu vns helff das vnschuldig vnd geduldig leyden vnsers herren Ihesu Christi. Amen. Das enphindt in euch das ir enphindt in dem herren Christo, Philipensis secundo, laus Christo. – lateinische Vorlage: zweiter Sermo zur Oktav von Christi Geburt aus ‚Hortulus Reginae‘ des Meffreth, vgl. GW 22634. 26 Tit.: Compleat inceptum virgo virginum Maria meum. Amen. De sancta Margareta anno 1496. – Inc.: Virgo veneranda stans in magna constancia verba contempsit iudicis. Also singt man in der hystorii von sand Margareten in der metten in dem sexten responsorii … – … sunder eingefurt werden mit den v weysen vnd also essen vnd trinken auff dem tisch Christi vnd seines vaters ewigklich. Amen. 27 Tit.: Humilitas. Von der hochen tugent dyemuetikait. – Inc.: Hoc sentite in uobis quod et in Christo Ihesu, Philipen 2° capitulo (Phil 2,5). Drew ding sein da zue vns vermant der heylig Paulus vnd dy christenlich kchirichen für halt an dem heyligen palmtag in der leczen der epistel der heyligen mess … – … Augustinus Soliloquio am XXIIII capitel: O reich ewig aller welt, do ist liecht an abgang, frid der vbertritt aller verstentnuzz in dem ruert dy seel der heyligen vnd dy ewig freyd auff iren hauppen. Das liecht verleych vnser Ihesus Christus vnser herr. Amen. – lateinische Vorlage: erster Sermo zur Oktav von Christi Geburt aus ‚Hortulus Reginae‘ des Meffreth, vgl. GW 22634. 28 Tit.: Dy iunkfrawnschafft geleicht der lilign. – Inc.: Sicut lilium inter spinas sic amica mea inter filias, 2° canticorum (Ct 2,2). Nach langenn gepeten der iunkchfrawn, meiner swesteren, flewst mir zue der adel vnd vbertrefflich wirdikait dy do verdienet hunderfaltigen lan … – … dy lieb gotz vaters vnd des suns, formaliter vnd ain ainige lieb essencialiter mit got vater vnd sunn in ewikait. Amen.

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fol. 145r–149v Predigt auf die hl. Katharina29 fol. 150r–I*r Predigt auf die hl. Barbara30 Aufgrund des Bindefehlers und der Korrektur Peter von Haselbachs kann man dem heutigen Ist-Zustand der Überlieferung einen idealen Aufbau gegenüberstellen, wie ihn der Autor und Schreiber ursprünglich im Auge hatte:31 Teil 1 (1489–1490): fol. 1r–96v Passionstraktat (1489) fol. 96r–109v Traktat vom Leiden Mariae (16.1.1490) Teil 2, Predigten (1496–1498): fol. 110r–116r Predigt nach der Fußwaschung (12.4.1498) fol. 134v–140v Predigt von der Demut fol. 117r–121v Predigt vom Gehorsam fol. 122r–128v Predigt von der Geduld fol. 141r–144v Predigt über die Jungfräulichkeit fol. 129r–134r Predigt auf die hl. Margarete (20.07.1496) fol. 145r–149v Predigt auf die hl. Katharina (25.11.1498) fol. 150r–I*r Predigt auf die hl. Barbara (4.12.1498) Die ursprünglich gedachte Gliederung des zweiten Teils der Handschrift hätte vorgesehen, dass nach der inhaltlich übergeordneten und einführenden ‚Predigt nach der Fußwaschung‘ die Sermones zu Demut, Gehorsam und Geduld folgen. An diese sollte die ‚Predigt über die Jungfräulichkeit‘ anschließen, welche wiederum als Hinführung zu den Predigten über die hl. Margarete, die hl. Katharina und die

|| 29 Tit.: De sancta Katherina 1498. – Inc.: Regnum tuum regnum omnium seculorum psalmus cxliiii (Ps 145,13). Dein reich ain zeych der vnczerganklikait. Wyer sehen das dy yrdischen kung haben grosse mächtige reich … – … mit dem vingerlein pitt wir wel vns Katherina bezaichen das wir tailhafftig werden des ewigen leben. Amen. – Vorlage: Übersetzung des Sermon zur hl. Katharina aus den Sermones de sanctis der Sammlung ‚Hortulus Reginae‘ des Meffreth, vgl. GW 22634. – Ed.: Katrin JANZ-WENIG, Die Katharinenpredigt aus der Sermones- sammlung ‚Hortulus Reginae‘ des sog. „Meffreth“ von Meißen in der volkssprachigen Bearbeitung des Peter Eckel von Haselbach, in: Balázs SÁRA (Hg.), Quelle & Deutung I.5 (Series Antiquitas, Byzantium, Renascentia 39), Budapest 2019, S. 75–131. 30 Tit.: De sancta Barbara 1498. – Inc.: Ortus conclusus soror mea sponsa. Ayn verslosser garten, swester, mein prawtt, canticorum iiii (Ct 4,12). Es ist gwonhait pey den grassen herren, kunigen vnd fursten ze haben schon chostlich gärten mit vil edelen chreyteren … – … und darnach ir sel gefurt worden zu irem sponns in das ewig leben. Amen, das es vns auch geschech. – Ed.: SCHMIDTKE (Anm. 7), S. 516–525. 31 Die in dieser Übersicht in Fettdruck markierten Texte haben eine Art Einleitungs- oder wie im Falle der ‚Predigt nach der Fußwaschung‘ Übergangs- bzw. Scharnierfunktion für die nachfolgenden Abhandlungen.

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hl. Barbara dient. Vermutlich hat Peter Eckel im Jahr 1496 mit der Niederschrift der Predigt auf die hl. Margarete begonnen. Die Fortsetzung bildeten dann die Predigten zu Demut, Gehorsam und Geduld. Diese vier Predigten befinden sich auf zwei Senionen, die mit den Kustoden 11 und 12 bezeichnet sind. Untersucht man das verwendete Papier, lässt sich feststellen, dass – abgesehen von einem einzelnen Blatt Restpapier – Papier mit dem Wasserzeichen Waage in Kreis mit Halbmond benutzt wurde, das auch in der Klosterneuburger Handschrift 115732 zu finden ist. Bei dieser handelt es sich um eine ebenfalls in deutscher Sprache geschriebene theologische Sammelhandschrift, die auf die Jahre 1495/1496 datiert ist. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Peter Eckel die genannten vier Predigten allesamt im Jahr 1496 niederschrieb, als dieses Papier im Skriptorium des Stiftes zur Verfügung stand. Es gibt weitere Hinweise, die belegen, dass die beiden Lagen einen eigenen Block bilden: Zum einen beginnt die Predigt vom Gehorsam auf einer Recto-Seite (fol. 117r), obwohl die letzte Seite (fol. 116v) der vorhergehenden Lage leer war. Zum anderen ist die vierte Predigt dieses Abschnittes zum Ende hin sehr eng bis an den unteren Rand der Seite beschrieben. Es wurde also für einige wenige Zeilen keine neue Lage begonnen. Der Buchbinder hat die mit 11 und 12 gekennzeichneten Lagen allerdings vertauscht. Zwei Jahre später, also im Laufe von 1498, dürfte unser Autor und Schreiber die beiden übergeordneten und inhaltlich einführenden Predigten ‚Nach der Fußwaschung‘ und ‚Über die Jungfräulichkeit‘ niedergeschrieben haben. Beleg hierfür ist die Verwendung von Papier mit identischem Wasserzeichen. Diesmal zeigt die Marke einen Anker im Kreis. Beide Texte beginnen auf einer RectoSeite und füllen das letzte Blatt der Lage nicht bzw. nicht vollständig. Die letzte Lage schließlich mit den Predigten auf die hl. Katharina und die hl. Barbara dürfte ebenfalls 1498, also unmittelbar vor der Bindung, entstanden sein. Die Wasserzeichen in dieser Lage zeigen das Motiv Krone. Nicht nur die physischen Merkmale des Codex lassen die intendierte Anlage der Handschrift erkennen, sondern auch die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Texten. Die ideale Reihenfolge resultiert auch aus der zeitlichen Abfolge des Passionsgeschehens, welches in mehreren Texten Gegenstand der Betrachtung ist. So setzen die Geschehnisse sowohl des Passionstraktats als auch die anschließenden Betrachtungen zum Leiden Mariae am Gründonnerstag ein. Die am Beginn des zweiten Teils des Codex stehende ‚Predigt nach der Fußwaschung‘ rekurriert mehrfach auf die vorher ausführlich dargestellten Ereignisse.33 Dieser Text verweist so beispielsweise auf den ersten Teil des Codex.34 Ebenso thematisiert er || 32 Vgl. https://manuscripta.at/?ID=1081 (09.08.2019). 33 Vgl. zur genaueren Analyse dieser Predigt JANZ-WENIG, Zu deuʃchs (Anm. 7), S. 115–121. 34 Vgl. z. B. der Verweis auf die zehn Orte des Leidens Christi, CCl 845, fol. 112v: Dy dasigen czehen ding vindest zu betrachten in meiner passion von mir gepredigt vnd in deysch gemacht und die ausführlichere Beschreibung der einzelnen gezählten Etappen, CCl 845, fol. 20r: X tail. Nun well wir sy tailen in x tail nach dem sind x stet, an den der herre geliten hat. Den ersten tail in vir tail, nach dem

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die noch in jeweils eigenen thematischen Predigten dargestellten christlichen Tugenden Demut, Gehorsam und Geduld.35 Diese inhaltlichen Rück- und Vorgriffe auf die in der Handschrift versammelten Texte weisen die erste Predigt des zweiten Teils des Codex als Scharnier zwischen den beiden Partien des Manuskripts aus. Eine ähnliche ‚Einleitungsfunktion‘ zu den drei Heiligenpredigten lässt sich bei der ‚Predigt über die Jungfräulichkeit‘ erkennen. Das anvisierte Publikum, also die Klosterneuburger Chorfrauen, werden anhand der Exempla der Heiligen über die Bedeutung der Keuschheit sowie die christlichen bzw. monastischen Tugenden ausführlich unterrichtet. Für die meisten Predigten haben sich lateinische Vorlagen nachweisen lassen. Dietrich SCHMIDTKE machte als erster darauf aufmerksam, dass die ‚Predigt auf die hl. Barbara‘ im Wesentlichen die Übersetzung einer Kompilation zweier Sermones aus der Sammlung ‚Hortulus Reginae‘ des sog. ‚Meffreth‘ von Meißen darstellt.36 Die Sermones des ‚Meffreth‘ waren durch mindestens sieben Inkunabeldrucke überregional verbreitet.37 Ihre Entstehung ist um die Mitte des 15. Jahrhunderts in der Diözese Meißen zu vermuten.38 Der in der Klosterneuburger Bibliothek erhaltene Druck mit den Heiligenlegenden des Nikolaus Kessler von 20.01.1487 könnte die direkte Vorlage für Peter von Haselbachs Übersetzungen gewesen sein.39 Auch die Predigten auf die hl. Margarete, die hl. Katharina wie auch die über den Gehorsam, die Geduld und die Demut basieren auf Sermones der Sammlung ‚Hortulus Reginae‘.40 In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass gerade für die Predigten, die jeweils eine gewisse Einleitungs- oder Übergangsfunktion zu den vorgestellten Verdeutschungen haben, bisher keine direkten Vorlagen aus den Sermones des ‚Meffreth‘ von Meißen oder auch anderer Predigten nachgewiesen werden konnten. In der ‚Predigt über die Jungfräulichkeit‘ und in der ‚Predigt nach der Fußwaschung‘ finden sich Bezüge zu liturgischen Gesängen,41 die nachweislich auch Be-

|| sind vir stet, an den er geliten hat an dem antlas tag: das mueshaus, der garten, Annas hauss, Cayffas haus. Den anderen tail in sex tail, nach dem sex stet sein, do er an dem korfreytag geliten hat: Pilatus haus, Herodes haus, dy schrann, dy stat licostratus, der weg vnder dem kreucz, dy snod stat Caluarie. Vgl. Edition, JANZ-WENIG, Zu deuʃchs (Anm. 7), S. 131 und S. 140, Anm. 49. 35 Vgl. ebd., S. 118–119. 36 SCHMIDTKE (Anm. 7), S. 44, 144 ff., 237 f., vgl. die Edition der Predigt, ebd. S. 516–525. 37 Zur Überlieferung der Drucke, u. a. GW M22634, M22646, M22648, M22652, M22657, M22662, M22665. Hinzu kommen weitere Drucke, vgl. JANZ-WENIG, Zu deuʃchs (Anm. 7), S. 113, Anm. 12. 38 Vgl. Johannes Baptist SCHNEYER, Winke für die Sichtung und Zuordnung spätmittelalterlicher lateinischer Predigtreihen, in: Scriptorium 32 (1978), S. 231–248, hier S. 239 (Nr. 39); Dietrich SCHMIDTKE, ‚Meffreth‘ von Meißen, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 6 (1987), Sp. 297–300, hier Sp. 298–299. 39 GW M22634. 40 Vgl. zu den einzelnen Texten die Anm. 24–27 und 29–30. 41 Regina D. SCHIEWER u. Hans-Jochen SCHIEWER, Predigt im Spätmittelalter, in: Mechthild HABERMANN u. a. (Hgg.), Textsorten und Textallianzen um 1500. Teilbd. I, Literarische und religiöse Text-

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standteil der Klosterneuburger Liturgie waren.42 Es ist daher anzunehmen, dass diese beiden Texte – nicht nur durch ihre ‚Scharnierfunktion‘, die Bezüge zur Klosterneuburger Liturgie oder auch die eindeutigen Rückgriffe auf die Passionsauslegung des ersten Teils des Codex in der Gründonnerstagspredigt – genuine Werke des Peter von Haselbach im engeren Sinn darstellen. Weder zum ‚Passionstraktat‘ noch zum ‚Traktat vom Leiden Mariae‘ haben sich bisher Parallelüberlieferungen oder lateinische Vorlagen nachweisen lassen. Es ist also auch bei diesen Texten davon auszugehen, dass Peter Eckel – wie er es ja selbst zu Beginn der Passionserläuterung beschreibt – seine eigenen lateinischen Texte, die wie üblich Kompilationen älterer Texte darstellten, für die Chorfrauen in die Volkssprache übertrug.43 Als Autor bzw. Übersetzer bedient sich Peter Eckel durchgehend einer einfachen, leicht verständlichen Sprache, die jedoch zur besseren Memorierbarkeit und Veranschaulichung des Dargestellten gerade in den Texten über die Passion und das Leiden Christi zur Erweckung der Compassio besonders bildreich, anschaulich und sehr detailliert beschreibt.44 Es finden sich in allen Texten affektive Anreden an das anvisierte Publikum und die „Einbeziehung des religiösen Subjekts in das Passionsgeschehen“45. Somit reihen sich die ersten drei Texte der Handschrift nahtlos in den weiteren literarhistorischen Kontext spätmittelalterlicher Passionsbetrachtungen ein. Eine starke Zunahme der Produktion solcher Darstellungen besonders ab dem 14. Jahrhundert46 – sowohl in der lateinischen wie auch in den verschiede-

|| sorten und Textallianzen um 1500 (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 9), Berlin 2009, S. 727–771, hier S. 734: „Als Ort der Frühen deutschen Predigt wird der Gottesdienst zu sehen sein, da die Predigten häufig auf das liturgische Gerüst der Messe verweisen: Einige nehmen mit Rückverweisen auf das ‚eben gehörte‘ Evangelium oder die Epistellesung Bezug und verzichten darauf, der Predigt den Text nochmals voranzustellen. […] Antiphone, Responsorien oder andere liturgische Texte schließlich stellen wie in der lateinischen Predigt der Zeit beliebte Predigtinitien oder Unterthemen der Predigten dar und werden häufig mit der Formel als wir singen unde lesen eingeleitet.“ 42 So ist die Perikope der ‚Predigt über die Jungfräulichkeit‘ Sicut lilium inter spinas eine Antiphon (Corpus antiphonalium officii, Nr. 4937), die sich auch in den Antiphonalen CCl 1012, CCl 1018 oder auch CCl 589 zum Fest Assumptio Mariae finden lassen. Im Verlauf dieser Predigt wird zudem noch auf die Sequenz Exultent Sion filiae et Israel laetetur verwiesen (Analecta hymnica medii aevi. Bd. 5, Nr. 14). 43 Eine genauere Untersuchung zu den beiden Texten des ersten Teils der Handschrift ist in Vorbereitung. 44 Allgemeiner zur erzählenden Passionsliteratur, vgl. Ulrich KÖPF, Die Passion Christi in der lateinischen religiösen und theologischen Literatur des Spätmittelalters, in: Walter HAUG u. Burghart WACHINGER (Hgg.), Die Passion Christi in der Literatur und Kunst des Spätmittelalters (Fortuna Vitrea 12), Tübingen 1993, S. 21–41, bes. S. 35. 45 Ebd. S. 40 und S. 41. 46 Hier sind zunächst die Werke des Bernhard von Clairvaux zu nennen und die v. a. im franziskanischen Kontext entstandenen und weit verbreiteten ‚Meditationes vitae Christi‘, die Texte des Franz von Assisi, Bonaventura und Ubertino da Casale, des Heinrich von St. Gallen oder des

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nen volkssprachlichen Literaturen – ist durchaus bekannt, doch stehen entsprechende Aufarbeitungen durch Editionen und weiterführende Studien der meisten dieser oftmals unikal überlieferten Texte noch aus. Im Verhältnis zur überlieferten Masse solcher Passionsbetrachtungen und -auslegungen – in welcher Textgestalt sie auch immer erhalten sein mögen – liegen bislang nur wenige Studien vor. Verwiesen sei hier summarisch nur auf Untersuchungen aus dem altgermanistischen Bereich von Kurt RUH,47 Rolf KLEMMT,48 Tobias KEMPER49 und Edgar BÜTTNER.50 Durch die genauere Betrachtung der einzelnen Texte ist ersichtlich geworden, dass die Handschrift Klosterneuburg 845 eine Sammelhandschrift mit synthetischphilologischen Eigenschaften darstellt: Die hier zusammengestellten Texte sind „aufeinander hin komponiert“ und bilden „einen Gesamttext mit allerdings noch deutlich erkennbaren Einzelpartien“.51 Ein Teil des Inhalts wurde allerdings nicht einfach abgeschrieben bzw. „nur“ übersetzt, sondern bewusst neu geschaffen, woran sich deutlich die Sammlungs- und Programmidee Peter Eckels in Bezug auf das Publikum der Chorfrauen wahrnehmen lässt. Der Codex bietet erbauliche

|| Thomas von Kempen; vgl. u. a. KÖPF (Anm. 44), S. 35–41; Tobias A. KEMPER, Die Kreuzigung Christi. Motivgeschichtliche Studien zu lateinischen und deutschen Passionstraktaten des Spätmittelalters (Münchener Texte und Untersuchungen 131), Tübingen 2006. 47 Kurt RUH, Der Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen, Thayngen 1940 und DERS., Studien über Heinrich von St. Gallen und den ‚Extendit manum‘-Passionstraktat, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 47 (1953), S. 210–230, 241–278. 48 Rolf KLEMMT, Eine mittelhochdeutsche Evangeliensynopse der Passion Christi. Untersuchung und Text. Heidelberg: Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karl-Universität zu Heidelberg, 1964. 49 KEMPER (Anm. 46). 50 Edgar BÜTTNER, Unser vrouwen klage / Der Spiegel (Altdeutsche Textbibliothek, Band 124), Berlin, Boston 2017. Desweiteren kleinere Beiträge: KÖPF (Anm. 44), Claudia LINGSCHEID, Bodleian Library, MS. Don. e. 250. Überlegungen zur Form und Funktion der lateinischen Passionsharmonie, in: Oxford German Studies 46,2 (2017), S. 173–179 (DOI: 10.1080/00787191.2017.1325161) und Béatrice GREMMINGER, Lesen im Passionstraktat des Nikolaus Schulmeister. Text, Bilder und Einrichtung des Engelberger Autographs von 1396, in: Eckart Conrad LUTZ, Martina BACKES u. Stefan MATTER (Hgg.), Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11), Zürich 2010, S. 459–482 mit S. 707–714 (Abb. 105–112). Es existiert durchaus das Bewusstsein für die Notwendigkeit, diese Texte in modernen Ausgaben zur Verfügung zu stellen. Hier ist an erster Stelle Petra HÖRNER zu nennen (z. B. Petra HÖRNER, Der Passionsbericht nach Matthäus aus der Catena aurea des Thomas von Aquin in bairischer Übersetzung. Text und Untersuchung, Berlin 2012). Walter HAUG und Burghart WACHINGER versuchten sich diesem Thema allgemeiner zu nähern, vgl. HAUG u. WACHINGER (Anm. 44). Ebenso liegen Einzelstudien zu Passionsspielen vor – z. B. Klaus AMANN, Das Pfäferser Passionsspielfragment. Edition – Untersuchung – Kommentar (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 74), Innsbruck 2010 –, ebenso zu Passionspredigten, wie z. B. Holly JOHNSON, The Grammar of Good Friday: Macaronic Sermons of Late Medieval England (Sermo 8), Turnhout 2012. Dennoch ist uns die weitaus größte Zahl der überlieferten Texte nach wie vor unbekannt. 51 WOLF (Anm. 3), S. 74.

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Informationen zu den Kernthemen des christlichen Glaubens, wie sie in den Betrachtungen zur Passion Christi kulminieren. Die teils drastischen Darstellungen dienen zur Erweckung der Compassio und Weckung der Bereitschaft zur Nachfolge Christi. Nicht nur katechetisches und biblisches Wissen wird in den einzelnen Texten vermittelt, sondern auch ganz konkretes Wissen über die notwendigen Eigenschaften und Grundvoraussetzungen für das gemeinschaftliche klösterliche Zusammenleben. Die Predigten des zweiten Teils der Handschrift dienen gleichsam als identifikatorische Exempel für die Chorfrauen.

4 Die Sammelhandschrift als Teil der Handschriftensammlung Nachdem nun sowohl die materiellen Aspekte als auch die inhaltliche Betrachtung der Handschrift erfolgte und somit der konkrete Entstehungszusammenhang sowie ansatzweise eine gewisse Verortung im literarhistorischen Kontext möglich war, ist nach der Einbettung des Codex in den Gesamtbestand der Bibliothek zu fragen. Freimut LÖSER wies aufgrund seiner Studien über Lienhard Peuger, einem Schreiber, Redaktor und Übersetzer im Kloster Melk, auf die Notwendigkeit dieser Betrachtungsperspektive besonders in Hinblick auf eine angemessene Beurteilung von Sammelhandschriften hin.52 Die Mehrzahl der österreichischen Klosterbibliotheken und somit Handschriftensammlungen stellen – ganz im Gegensatz beispielsweise zu fast allen deutschen – ununterbrochene über Jahrhunderte gewachsene Sammlungen dar, die überwiegend, wie auch im Falle etwa Melks und Klosterneuburgs, noch in situ erhalten sind. Der Blick in den Gesamtbestand einer Handschriftensammlung ist hier somit gegeben und erlaubt entsprechende Untersuchungen.53 || 52 Freimut LÖSER, Mittelalterliche Sammelhandschriften. Gesammelte Bemerkungen, in: Martina WERNLI (Hg.), Sammeln – eine (un-)zeitgemäße Passion (Würzburger Ringvorlesungen 12), Würzburg 2017, S. 95–113, hier, S. 112: „Mit Peuger greifen wir dazu exemplarisch eine weitere typische Erscheinung, die spätmittelalterliche Sammelhandschriften betrifft, [auf]. Nämlich die Tatsache, dass solche Sammelhandschriften kaum je allein stehen. Sie sind in sich bereits wieder Bestandteile von größeren Sammlungen und gehören in Bibliotheken, deren Bände, die in der Nachbarschaft aufgestellt sind, mit ihnen zusammen einen weiteren Sammelcharakter besitzen. […] So nimmt es nicht Wunder, dass spätmittelalterliche Schreiber auf eine Vielfalt von Handschriften zurückgreifen und eine Vielfalt von Handschriften produzieren, die heute, wenn man sie jeweils für sich genommen und nur für sich betrachtet unseren Blick erheblich verkürzen. Erst in der Aufstellung der Bibliothek gewinnt gewissermaßen die einzelne Sammelhandschrift ihren kompletten Sinn.“ 53 Vgl. zur Überlieferung mittelalterlicher Handschriften in Österreich Christine GLASSNER, Bändigung der Massen: Ist das Inventar der Königsweg zur Lösung des Problems? Die Erschließungssituation der österreichischen Handschriftenbestände, in: BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK (Hg.), Katalogi-

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Bereits weiter oben, im Abschnitt über den materiellen Aufbau der Handschrift, wurde im Hinblick auf das verwendete Papier des zweiten Teils der Handschrift auf einen Entstehungszusammenhang mit CCl 1157 hingewiesen. Die hier nachgewiesenen Wasserzeichen sind auch in der Piccard-Sammlung für Wien, also in unmittelbarer Nachbarschaft zu Klosterneuburg, zu finden.54 Ebenfalls Erwähnung fand bereits der Wasserzeichenvergleich von Teil 1 der Handschrift mit CCl 859. Das Wasserzeichen Anker im Kreis, wie es in der letzten Lage des ersten Teils zu sehen ist, taucht ebenso mehrfach in CCl 859 auf, ein weiteres Wasserzeichenmotiv des ersten Teils, Anker in Kreis mit Stern, in CCl 1160, einem Diurnale. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Reinschrift des Passions- und Marientraktates – wenn auch in unvollständiger Weise – relativ zeitnah auf die autographe Niederschrift erfolgt sein muss. Daneben wurde für Cod. 859 noch Papier mit anderen Marken verwendet, die auch in einem weiteren Codex der Bibliothek vorliegen. In Cod. 443, einer Postillensammlung in deutscher Sprache, sind identische Waagen- und Ankerwasserzeichen zu finden. In dieser um 1490/1492 angelegten Sammlung von Jahrespredigten zu den Evangelien vom 1. Adventssonntag bis zum 2. Sonntag nach Pfingsten findet sich ein expliziter Verweis auf Peter Eckels Passionstraktat: An dem carfreitag hincz auf den ostertag list man den pasyon den der erwirdig geistleich herr maister Peter von Haßellpach gedewchczst hat.55 Damit ist die Rezeption der Passionsauslegung Peter Eckels zeitnah zu deren Niederschrift nicht nur durch die Reinschrift in CCl 859, sondern auch in der liturgischen Praxis der Zeit als Selbstverständlichkeit belegt. Wie bereits erwähnt, ist auch davon auszugehen, dass die konkreten Vorlagen der lateinischen Sermones aus der Sammlung ‚Hortulus Reginae‘ des Meffreth in der noch heute in der Stiftsbibliothek erhaltenen Inkunabel 76856 zu sehen sind. Der starke Bezug der Predigten zu liturgischen Gesängen ist ebenso schon benannt worden. Hier bietet beispielsweise die ‚Predigt nach der Fußwaschung‘ ein Zitat aus einem Responsorium zur feria secunda nach Ostern, wie wir es im zweiten Band des großen Klosterneuburger Antiphonars, Cod. 66, finden.57 Dieses war nachweislich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Stift in Gebrauch. An diesem Beispiel zeigt sich auch die enge Verflechtung von Predigt und Liturgie.58

|| sierung mittelalterlicher Handschriften in internationaler Perspektive. Vorträge der Handschriftenbearbeitertagung vom 24. bis 27. Oktober 2005 in München. Bearbeitet von Claudia FABIAN u. Bettina WAGNER (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 53), Wiesbaden 2007, S. 37–49, hier S. 43–46. 54 Vgl. Anm. 32. 55 CCl 443, fol. 132v, zur Handschrift vgl. http://www.handschriftencensus.de/20508 (09.08.2019). 56 GW M22634, Basel, Nikolaus Kessler, 20.01.1487. 57 HAIDINGER (Anm. 12), S. 114–120. 58 Edition, JANZ-WENIG, Zu deuʃchs (Anm. 7), S. 131: „Von der dasigen engigen betrachtung der wunden Ihesu Christi werent gelobt dy heyligen Christen poten in dem respons: Qui sunt hy, dacz man von in singt, in der vesper mit dem namen der tauben, dy do fliegent zu yren fensteren.“ Ebd.

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5 Zusammenfassung Entkontextualisierung – Neukontextualisierung am Beispiel einer spätmittelalterlichen Sammelhandschrift: Der autographe Codex 845 der Klosterneuburger Stiftsbibliothek bietet mehrere Ebenen der Kontextualisierung. So zeigt schon die rein materielle Ebene vielfältige Querverbindungen zu zeitgleich entstandenen und noch heute im Bestand erhaltenen Codizes. Die gezielte Wasserzeichenanalyse eröffnet Einblicke in die Buchproduktion in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts im Stift. Auch der explizite Verweis eines zeitnah entstandenen Codex, CCl 443, verortet das Manuskript im Bewusstsein der Stiftsmitglieder und belegt seine Bedeutung in der Praxis. Neukontextualisierung findet sich in unbeabsichtigter Weise durch die eigentlich fälschliche Aufstellung des Bandes in der Reihe von Codizes, die lateinische Predigten des Thomas Ebendorfer von Haselbach tradieren. Die Textanalyse ergab ein enges Geflecht der einzelnen in der Handschrift überlieferten Abschnitte. Die bewusste Sammlungsidee des Autors, Übersetzers und Schreibers Peter Eckel ist daran zu erkennen. Die Übernahme und Übersetzung einzelner Sermones aus der Sammlung ‚Hortulus Reginae‘ – also deren Entkontextualisierung, sprich Separierung aus einer vollständigen Predigtreihe – und ihre Verwendung der Predigten als Exempel für die christlichen bzw. monastischen Tugenden sowie als Vorbildfunktion der Heiligen sind ein exzellentes Beispiel für die Neukontextualisierung und auch Funktionalisierung dieser geistlichen Texte. Darüber hinaus lassen einzelne Textpassagen eine enorme Intertextualität erkennen. Explizite Verweise der Texte untereinander belegen dies, wie auch die für uns heute in der überwiegend säkularen und lateinfernen Lebenswelt selten herzustellenden Verbindungen zu den liturgischen Gesängen, deren Kenntnis für Mönche, Nonnen und allgemein Geistliche im Mittelalter selbstverständlich war. In diesem Beitrag wurde versucht, der Forderung Jürgen WOLFS nach umfassenderen Betrachtungen von Sammelhandschriften nachzukommen.59 Es wurden gezielt Ergebnisse verschiedener Forschungen zusammengeführt: eine umfassende materielle Analyse der Handschrift, die auch die Ergebnisse der umfassenden Wasserzeichenanalysen des gesamten Klosterneuburger Bestands miteinschließt, Resultate der klassischen Handschriftenerschließung sowie Erkenntnisse aus bereits an anderer Stelle vorgenommenen und publizierten Editionen und Untersuchungen, die eine wenigstens ansatzweise literarhistorische Verortung einzelner Texte zulassen. Der besondere Fall des autographen Codex mit seinen Querverbindungen zu anderen Handschriften und Textgattungen lässt auf den beschriebenen Ebenen || S. 140 f. Anm. 54.: „CCl 66, fol. 147r: ‘Qui sunt hi sermones quos confertis ad invicem ambulantes et estis tristes, alleluia alleluia […]’. (Corpus antiphonalium officii, Nr. 4500, beruhend auf der Lesung des Tages: Lc 24,17–19).“ 59 Vgl. Zitat, Anm. 3.

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auch Rückschlüsse auf die Bestands- und Bibliotheksgeschichte zu. Die glückliche Fügung der wortwörtlich räumlich nahen Zusammenarbeit sowie die jeweiligen Spezialinteressen und -kenntnisse der Autorinnen ließen in einem auch arbeitsökonomisch vertretbaren Umfang die Betrachtung der Sammelhandschrift im Kontext des Handschriftenbestands zu.

Katharina Zeppezauer-Wachauer

Erotische Narrative Mit der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (MHDBDB) auf den Spuren kulinarischer Sexualmimesis Abstract: Medieval and early modern literature and imagery operate with iconic models that interweave individual works with one another in their motifs. The spectrum of connotations is extremely rich and includes both different genres and topoi. The narrative markers for this process of metaphorisation are the given lexical units, entities, phrases, and linguistic images from various areas of semantic meaning, among them strikingly often the concept ‘food’. The concepts of food and sexuality merge into an allegorical overwriting in text and image. The semantic tipping effect, for example from fruit to woman, is based on mimetic connections and leads to the metaphorisation of eroticised bodies. The allegorical alteration of words, meanings and pictures represents a game that is on the one hand mimetic-natural and on the other fantastic-distorting, to which the following contribution will pay more attention, especially in the area of erotically connotated descriptive formulas, vocabulary elements and narrations. With the aid of the ‘Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank’ (MHDBDB, in Engl.: Middle High German Conceptual Database) a heterogeneous spectrum of medieval literature can be established and a representative overall view of different literary genres with regard to this topic can emerge. Keywords: medieval literature, art history, Middle Ages, motives, digital humanities

Die mittelalterliche Literatur ist geprägt von sprachlichen Bildern und Sprachformeln, die meist dazu dienen, Dargebotenes auf der einen Seite virtuos zu verhüllen, es auf der anderen Seite aber gerade so weit unter diesem rhetorischen Mäntelchen

|| Anmerkung: Katharina ZEPPEZAUER-WACHAUER, Peter HINKELMANNS u. Klaus M. SCHMIDT (Hgg.), Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB), unter Mitarbeit von Daniel SCHLAGER, Salzburg 1992–, http://www.mhdbdb.sbg.ac.at/ (11.07.2019). Diese Ausführungen sind auszugsweise ebenfalls erschienen in: Katharina ZEPPEZAUER-WACHAUER, Dichtung und Nahrung im Mittelalter. Motivgeschichtliche Untersuchung zur Poetisierung des Begriffsfeldes ‚Speise‘ in der älteren deutschsprachigen Literatur (Mediävistik zwischen Forschung, Lehre und Öffentlichkeit 16), Berlin u. a. 2020, insbesondere S. 205–216. || Katharina Zeppezauer-Wachauer, Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB), Universität Salzburg, Erzabt-Klotz-Straße 1, 5020 Salzburg, Österreich, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-005

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hervorlugen zu lassen, dass die Ambiguität der einschlägigen Textpassage erahnt und beim Rezipieren derselben mitgedacht werden kann. Bildspendebereiche, die diesem Metaphorisierungsprozess zugrunde liegen, sind zahlreich: Mittelalterliche Autor*innen verwenden für ihre Texte etliche bildgebende Komplexe, darunter besonders populäre lexikalische Wortschauplätze wie beispielsweise Religion, Wehrkultur, Magie, Musik, Schrift, Kurzweil – und auffallend häufig auch den Bildspendebereich Nahrung.1 Die fantasievolle, teils allegorische Veränderung vorgegebener lexikalischer Einheiten, Entitäten, Formulierungen und Bedeutungen stellt ein schillerndes Spiel von einerseits Mimetisch-Naturhaftem und andererseits Fantastisch-Verzerrendem dar, dem der folgende Beitrag besonders im Bereich der erotisch konnotierten Beschreibungsformeln, Wortschatzelemente und Narrationen größere Aufmerksamkeit schenken wird. Das symbiotische Wechselspiel von Nahrungsaufnahme und Sexualität ist ein prominenter Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft. Es gibt dazu zahlreiche Arbeiten, auch und gerade mit Bezug zur Literatur des Mittelalters, die die moralische Unverbindlichkeit einer „gustativen Erfüllung“2 (Begriff nach Anna Kathrin BLEULER) als Metapher für sexuelle Erfüllung lesen.3 Essen wird per se durchaus häufig mit Erotik assoziiert. Auch diese Untersuchung nimmt Texte in den Fokus, welche Nahrung und Sexualität diskursiv miteinander verknüpfen. Sie tun dies über ihre grundsätzlichen Handlungskonstellationen ebenso wie über ihr spezifisches Wortmaterial, mit welchem bestimmte Kulinaria über ihre mimetische Beschaffenheit als narrative Symbole markiert werden. Um dies zu veranschaulichen, seien

|| 1 An der Universität Graz widmet sich die sprachpädagogische ‚WortSchätze‘-Initiative des Instituts für Germanistik der Frage, inwiefern soziokulturelle, sprachhistorisch und sprachpädagogisch hervorstechende Ausdrücke aus einigen der hier genannten sowie weiteren Bildspendebereichen als verstecktes Sprachgut auf die gegenwärtige Alltagssprache Einfluss nehmen. Der Terminus des ‚Wortschatzes‘ rekurriert dabei auf die Wörterverwendung einer Sprechergemeinschaft. Nicht alle im Projekt untersuchten Bildspendebereiche dienten bereits im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sprachschatz als Bildgeber. Dennoch eignet sich das Konzept recht gut dafür, sich die Muster mediävistischer Sprachsysteme und -gemeinschaften zu vergegenwärtigen. Vgl. Wernfried HOFMEISTER (Hg.), WortSchätze, https://wortschaetze.uni-graz.at/de/wortschaetze/ (11.07.2019). 2 „Die gustative Erfüllung tritt an die Stelle der sexuellen Erfüllung und wird so zu ihrem Zeichen.“ Anna Kathrin BLEULER, Essen – Trinken – Liebe. Kultursemiotische Untersuchungen zur Poetik des Alimentären in Wolframs ‚Parzival‘, Tübingen 2016, S. 126. 3 Vgl. hierzu beispielsweise Peter DINZELBACHER, Mittelalterliche Sexualität – die Quellen, in: Daniela ERLACH, Markus REISENLEITNER u. Karl VOCELKA (Hgg.), Privatisierung der Triebe? Sexualität in der frühen Neuzeit (Frühneuzeit-Studien 1), Frankfurt a. M. 1994, S. 47–110; Ernst ENGLISCH, Die Ambivalenz in der Beurteilung sexueller Verhaltensweisen im Mittelalter, in: Ebd., S. 167–186; Elke BRÜGGEN, Von der Kunst, miteinander zu speisen. Kultur und Konflikt im Spiegel mittelalterlicher Vorstellungen vom Verhalten bei Tisch, in: Kurt GÄRTNER (Hg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, Tübingen 1996, S. 240, v. a. Fußnote 21; Udo FRIEDRICH, Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2009, S. 112.

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insbesondere Obst und Gemüse zunächst in einen hermeneutischen Deutungsrahmen eingebettet.

1 Frivole Früchte und obszönes Obst: vegetabile Beschreibungsformeln von Frauenkörpern Der vegetabile Nahrungsbereich ist motivisch stark aufgeladen. Von verlockenden Paradiesfrüchten bis hin zu topischen Speiseszenen evoziert be- bzw. geschriebenes Obst und Gemüse diverse semantische Assoziationen und erzeugt unverkennbare poetologische Profile. Insbesondere süße Früchte wie Äpfel, Birnen und Kirschen werden in vielen mittelalterlichen Texten zunächst als Marker von Affektkontrolle bei Tische verstanden. Tischzuchten und Didaxen überliefern genau, wie man sie zu essen hatte: Birnen wurden vom Stiel abwärts geschält, Äpfel in genau entgegengesetzter Richtung, was das Resultat eines geschickten Zusammenspieles diätetischer Erkenntnisse und höfischer Benimmregeln ist. Kirschen mussten zwar nicht geschält werden, aber man sollte sie diskret und sorgsam verzehren. Jan-Dirk MÜLLER liest mit Norbert ELIAS Tischzuchten als „Prozeß der Zivilisation“, konkreter als „Distanzierung körperlicher Bedürfnisse“, als „Disziplinierung von Affekten“, als „Eindämmen von Gewalt“, als „Verwandlung von Fremd- in Selbstzwänge“.4 Zahlreich sind die Texte, die mit Verstößen gegen das richtige Benehmen bei Tisch spielen: Dies geschieht teilweise in den Tischzuchten selbst, genauso etwa im ‚Ring‘ Heinrich Wittenwilers oder in der ‚Halben Birne‘ Konrads von Würzburg. Zur Illustration sei ein Beispiel herausgegriffen, das die Tischzuchten nicht nur zu diskutieren, sondern gar zu karikieren scheint. Mätzli im ‚Ring‘ ist der Inbegriff höfischer Affektiertheit, wenn sie in komischem Gegensatz zum schlechten Benehmen der Hochzeitsgäste agiert: Doch so tet die praut ier recht Und frass nicht schlindent sam die knecht; Sei baiss ab einer kerssen mer Dann siben stund: daz was ein er. (WRW, V. 6125–6128)

Es wäre dies für sich genommen und ohne weitere Text- bzw. Diskurskenntnis schon witzig genug. ‚Kirschen essen‘ kann aber im Spiegel mittelalterlicher kulturel-

|| 4 Jan-Dirk MÜLLER, Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‚Halber Birne‘, in: Hans-Dieter MÜCK u. Ulrich MÜLLER (Hgg.), Interpretationen von Liedern und Spruchgedichten Oswalds von Wolkenstein (Jahrbuch der Oswald von WolkensteinGesellschaft 3), Stuttgart 1984/1985, S. 295.

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ler Codes zusätzlich auch noch als Metapher für verbotene Liebesfreuden und außerehelichen Geschlechtsverkehr gelesen werden. Aus vielen Gründen ist davon auszugehen, dass Heinrich Wittenwiler genaue Kenntnisse über die ältere volkssprachliche Dichtung hatte, in der diese Bildsprache immer wieder verwendet wird. Möglicherweise lässt sich Mätzlis ausgiebige Lust am Kirschenessen somit auch als Rückschau auf den mehrfachen Koitus mit dem Arzt Chrippenchra lesen, der ihr großen smak (Sexuallust) bereitet.5 Von einer zusätzlichen sexuellen Konnotation oder Metaphorisierung alimentärer Wörter zeugen auch einige weitere einschlägige Begriffe aus der mittelalterlichen Literatur: Mhd./fnhd. nachthunger etwa (häufiger bezeugt in den spätmittelalterlichen Fastnachtspielen) meint obszöne Gelüste, die des Nächtens auftreten. Mhd. leckerheit und mhd. geilheit können ebenso als Paradebeispiele für einen semantischen und poetologischen Kippeffekt zwischen gustativem und sexuellem Verlangen betrachtet werden.6 Diese semantische Ambiguität, ein buntes Gesamtbild an in die Texte eingeschriebenen Deutungsmöglichkeiten für Obst und Gemüse, ist mitzudenken, wenn man sich vor dieser Folie einer weiteren Sinnesebene für einzelne Früchte annähert: der etablierten kulinarischen Bildsprache, die auf ihre mimetischen Eigenschaften rekurriert. Gespielt wird häufig mit der Vorstellung erblühender Vegetation oder reifer, praller, süßer Früchte, die mit Weiblichkeit assoziiert werden. Weitaus die meisten gelten in der mittelalterlichen Kultur – und darüber hinaus – als weiblich; ausgenommen sind nur die deutlich phallisch geformten Früchte wie Wurzelgemüse etc. Viele Kenner*innen der mittelalterlichen Literatur, der Volkslieder und auch der Märchen wie Werner DANCKERT, Kurt RANKE, Karl SIMROCK und AIGREMONT haben herausgearbeitet, was an dieser Stelle nur kurz zusammengefasst werden soll: Die Birne symbolisiere die Vulva oder das Gesäß, Äpfel die Brüste, Kirschen die Brustwarzen. Diese Feststellungen wurden besonders in der älteren Forschungsliteratur zwar oftmals ohne überlieferte Belegsammlungen getroffen, was grundsätzlich natürlich zur Vorsicht mahnen sollte, doch ist die Untersuchung des entsprechenden Wortgebrauchsprofils mit heutigen technischen Mitteln das geringste Problem. Ein probates Tool ist die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB) der Universität Salzburg, die kurz vorgestellt werden und mit deren Hilfe gezeigt

|| 5 WRW, V. 2117–2168. 6 Ein Beispiel sei zur Illustration herausgegriffen: Die MHDBDB liefert zum momentanen Zeitpunkt (11.07.2019) 17 Belege für leckerheit. Ein zweiter Blick ergibt, dass einige davon den Gusto nach Speisen ausdrücken, einige hingegen sexuelles Begehren. Einmal wird ein Kuss als leckerheit bezeichnet (‚So kvsse ich dich an dinen mvnt / mit gvtem willen dristvnt.‘ / Reinhart wart vil gemeit / von der kleinen leckerheit, RF, V. 195–198). Im ‚Welschen Gast‘ wird leckerheit interessanterweise in einem Atemzug mit trunkenheit und huorgelust genannt (WGA, V. 4275–4276). Die Rezipierenden können sich selbst aussuchen, ob sie eher zur alimentären oder doch zur erotisierten Semantik tendieren.

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werden soll, wie symbolische Darstellungen und Sprachbilder vergleichsweise einfach in der mittelhochdeutschen Literatur aufgespürt werden können.

2 Nahrung und Sexualität in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank (MHDBDB) Für Fragen zu Wortschatz, Semantik, Phraseologismen und Motivforschung ist die MHDBDB aufgrund ihrer onomasiologischen Annotationen ein besonders nützliches Tool. Mit ihrer Hilfe habe ich mich auf die Suche nach Beschreibungsformeln weiblicher Körper begeben und zahlreiche Beispiele zur Unterstreichung der symbolhaften Nahrungssprache im Sinne DANCKERTs et al. gefunden. Welche Forschungs- und Annotationsprozesse zu diesen Ergebnissen führen, sei im Folgenden kurz erläutert: Die Arbeiten an einer onomasiologischen Erschließung des mittelhochdeutschen Wortschatzes begannen bereits in den frühen 1970er Jahren mit der Dissertation von Klaus M. SCHMIDT zu Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘. Als Grundlage dazu diente das 1952 von Rudolf HALLIG und Walther VON WARTBURG vorgestellte Begriffssystem, dessen erklärtes Ziel es war eine einzelsprachenunabhängige semantische Wortschatzerschließung zu ermöglichen.7 Obschon genuin französisch angelegt, funktioniert die metasprachliche Kategorisierung auch heute noch recht gut, wodurch es sich für die heikle Vermittlerrolle zwischen historischen Inhalten und modernem Nutzungsverhalten eignet.8 Inzwischen ist die auf dieses erste Projekt von SCHMIDT fußende MHDBDB auf über 10 Millionen Tokens, verteilt auf (derzeit) 666 Texte unterschiedlichster Textsorten und -gattungen, angewachsen. Ihre Weiterentwicklung obliegt seit 2002 einem an der Universität Salzburg angesiedelten Team. Neben der inhaltlichen Erweiterung steht auch die technische Überarbeitung im Fokus der gegenwärtigen Aktivitäten (bis 2021). Durch verschie-

|| 7 Rudolf HALLIG, Walther VON WARTBURG, Begriffssystem als Grundlage für die Lexikographie. Versuch eines Ordnungsschemas, Berlin 1952. 8 Zur Verwendung von HALLIG-WARTBURG als Basis des MHDBDB-Begriffssystems vgl. Klaus M. SCHMIDT, Der Beitrag der begriffsorientierten Lexikographie zur systematischen Erfassung von Sprachwandel und das Begriffswörterbuch zur mittelhochdeutschen Epik, in: Wolfgang BACHOFER (Hg.), Mittelhochdeutsches Wörterbuch in der Diskussion. Symposion zur Mittelhochdeutschen Lexikographie, Hamburg, Oktober 1985 (Germanistische Linguistik 84), Tübingen 1988, S. 35–49 und Klaus M. SCHMIDT, Ein Datenbanksystem für das Begriffswörterbuch mittelhochdeutscher Epik und Fortschritte bei der automatischen Disambiguierung, in: Kurt GÄRTNER, Paul SAPPLER u. Michael TRAUTH (Hgg.), Maschinelle Verarbeitung altdeutscher Texte IV. Beiträge zum Vierten Internationalen Symposion. Trier 28. Februar bis 2. März 1988 (Maschinelle Verarbeitung altdeutscher Texte 4), Tübingen 1991, S. 192–204.

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dene Neuerungen wie beispielsweise eine visuelle Suche, der Anschluss an das Semantic Web, die Überführung des hierarchischen Begriffssystems in eine Ontologie und die Auszeichnung der Texte im TEI/XML-Format wird der Relaunch neue Nutzungsmöglichkeiten eröffnen und die zukünftige Erweiterbarkeit der Datenbank sicherstellen. Für diesen Beitrag, dessen Abgabe auf Sommer 2019 terminiert war, war es zwar noch nötig, nach bewährtem Schema vorzugehen und die alten (teilweise durchaus veralteten) Suchformeln anzuwenden, doch der Content ist auch schon im Jahr 2019 enorm datenreich und die Ergebnisse somit sowohl in Bereichen des hermeneutischen Close als auch des empirischen Distant Reading überaus erhellend für die durchgeführte Motiv- und Metaphernanalyse. Eine erste Suchanfrage liefert – ausgehend von einer vagen RechercheHypothese – Ergebnisse zum kombinierten Auftreten von brust und apfel.9 Eingedenk der Forschungstradition seien zunächst einige Belege aus dem Œuvre Konrads von Würzburg erwähnt. In ‚Partonopier und Meliûr‘ Konrads von Würzburg fasst Partonopier Meliûr beherzt an die apfelförmige Brust: sus greif er mit der hende sîn an die frouwen mit gelust unde ruorte ir süezen brust, diu sam ein apfel was gedrât. (PRT, V. 1566–1569)

Im ‚Trojanischen Krieg‘ spannt sich die Kleidung Helenas über zwei runde ‚Kügelchen‘, die aussehen, als hätte jemand Äpfel hineingesteckt: sô daz ir brüste sinewel, alsam zwei kügellîn gedrât, enbor die keiserlîche wât gelüpfet heten über sich, als ob zwên epfel wunneclich ir waeren dar gestecket. (TRO, V. 20214–20219)

Ein nicht minder bemerkenswertes Beispiel aus dem ‚Engelhard‘ ist die Beschreibung Engeltruds: man sach ir senften brüstelîn an dem kleide reine storzen harte kleine, als ez zwên epfel waeren. (ENG, V. 3044–3047)

|| 9 Für die ‚Textsuche‘ der MHDBDB lautet der hierfür verwendete Suchstring: brust + apfel .

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Mit Blick auf die Schlüsselstellung, die Äpfeln im Text generell für zwischenmenschliche Aspekte zukommt, ist diese Stelle als besonders vielschichtig zu charakterisieren. Es gilt natürlich auch mitzubedenken, dass das Werk in keinem mittelalterlichen Textzeugen überliefert ist, sondern lediglich durch einen 1573 bei Kilian Han in Frankfurt am Main erschienenen Druck. Eine fnhd. sprachliche Redaktion ist zumindest plausibel. Diese Tatsache ändert aber nichts daran, dass die apfelförmige Brust ein prominentes mittelalterliches Sprachbild darstellt, das wahrscheinlich zur Zeit Kilian Hans immer noch aktuell war. Immerhin hallt diese Beschreibungsformel noch sehr viel länger – und auch in anderen Sprach- und Kulturräumen – nach. In der Fachliteratur kann man mitunter lesen, es handele sich bei diesen Passagen um besonders ‚Konrad-typische‘ Formulierungen.10 Das ist nicht korrekt. Das Sujet findet sich nicht einmal ausschließlich in Sprachbildern und geschriebenen Metaphern, somit nur in Text, sondern sogar in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bilderwelt, d. h. in Fresken, auf Teppichen sowie in Handschriftenillustrationen, wie im Folgenden noch illustriert wird.

3 Erotisiertes Obst zwischen Bild und Text Besonders eindrücklich spielt der ‚Codex Granatensis‘ (frühes 15. Jh., heute UB Granada) das Bildthema mehrfach durch, indem das Betasten und Sammeln weicher Früchte in thematische Nähe zu sexuellen Handlungen und Gesten gesetzt wird. Das ist umso interessanter, als die Textebene nichts dergleichen berichtet. Im Gegenteil handelt es sich um ein konventionelles ‚Tacuinum sanitatis‘, also ein Buch über die Gesundheit. Dieses Genre der Wissens- und Gebrauchsliteratur geht zurück auf die Gesundheitsregeln des irakischen Arztes Ibn Butlan aus dem 11. Jh. und fand bereits im Mittelalter seinen Weg nach Europa. Der ‚Codex Granatensis‘ wurde vermutlich im ersten Viertel des 15. Jh.s in Wien angefertigt und ist mit 611 Miniaturen des Illuminators Martinus Opifex illustriert.11

|| 10 Zum Beispiel PASTRÉ: „Etwas später beendet Konrad die Beschreibung de[s] Körpers, indem er kleine Brüste, rund wie Bälle und Äpfel erwähnt, die sich unter dem Mantel abheben (V. 20214–19). Die in dieser Hinsicht sehr zurückhaltenden deutschen Autoren sprechen davon sonst kaum.“ JeanMarc PASTRÉ, Typologie und Ästhetik. Das Porträt der Helena im ‚Trojanerkrieg‘ Konrads von Würzburg, in: Horst BRUNNER (Hg.), Konrad von Würzburg: Seine Zeit, sein Werk, seine Wirkung (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 5), Stuttgart 1988/89, S. 403. 11 Vgl. insgesamt Luis GARCÍA BALLESTER (Hg.), De natura rerum (lib. IV – XII). Comentarios, Granada 1974; zu den Miniaturen insbesondere S. 63.

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Abb. 1: Pfirsichernte, frühes 15. Jh., UB Granada, Codex Granatensis, C-67, fol. 83v (CC-BY-NC-ND).

Abb. 2: Apfelernte (süße Äpfel), frühes 15. Jh., UB Granada, Codex Granatensis, C-67, fol. 83r (CC-BY-NC-ND).

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Abb. 3: Marillenernte (Aprikosen), frühes 15. Jh., UB Granada, Codex Granatensis, C-67, fol. 82v (CC-BY-NC-ND).

Das inszenierte Narrativ der erotischen Handlungen und sexuellen Übergriffe in Verbindung mit metaphorisierter Obsternte beschränkt sich nun keineswegs auf Gebrauchstexte oder Handschriftenillustrationen. Ein Wandbehang aus dem Elsass (15. Jh.) spielt ebenfalls mit der Doppeldeutigkeit von Frauenkörper und Frucht sowohl auf Bild- als auch auf bildimmanenter Textebene. Der in die Tapisserie eingewebte Spruch lautet: Jumpffrow fin ist das opffilin min. An der Wand des heutigen Restaurants „Münsterhof“ in Zürich können die Gäste eine frivole Liebesgarten-Szene bestaunen, die eine ganz ähnliche Bildsprache aufweist. Die 1979–1980 freigelegte Seccomalerei geht wahrscheinlich auf den Schneider-Zunftmeister Niclaus von Spir als Auftraggeber zurück, der von 1357 bis 1371 Hausbesitzer des Schennis Hus (Schäniserhaus) war. Von einer auffallenden Erotisierung ist nicht nur das Paar ganz rechts, wo der junge Mann vornehmer Herkunft die verbotene Frucht betastet, während seine Angebetete eine echte Frucht pflückt, sondern auch die anderen turtelnden Edeldamen mit ihren entblößten Schulterpartien. Christian Nikolaus OPITZ weist in seiner Bildanalyse des Freskos zu Recht auf weitere interessante Bildmuster und Narrationsstrategien hin, etwa dass die begrapschte Dame eine unsittliche Spiegelung der züchtig ballspielenden Frau

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in der linken Bildhälfte zu sein scheint, die ebenfalls ihren Arm hoch erhoben hat.12 Freilich wird bei solchen Darstellungen immer auch die Erzählung des Sündenfalles mitschwingen: Weil Eva nach der verbotenen Frucht greift, greift Adam nach Eva.

Abb. 4: Apfelernte, um 1480, Wandbehang, Schloss Osthausen, Elsass, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Pierre-Yves Gabus, Cabinet d’Expertise Arts Anciens.

|| 12 Christian Nikolaus OPITZ, Imagines provocativas ad libidinem? Der nackte (Frauen-)Körper der profanen Wandmalerei des späten Mittelalters, in: Stefan BIESSENECKER (Hg.), Und sie erkannten, dass sie nackt waren. Nacktheit im Mittelalter (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 1), Bamberg 2008, S. 221–223.

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Abb. 5: Liebesgarten, 14. Jh., Seccomalerei, Amt für Städtebau, Stadt Zürich.

Die mittelalterliche Dichtung weist zahlreiche ähnliche Sprachbilder auf, die eine künstlerische, gleichsam ironische Umsetzung des ikonischen Obst-Motives und der mimetischen Parallelität von Frauenkörper und Frucht darstellen. In der ‚Minneburg‘ etwa wird die rundliche, gedrungene Form der beiden Äpfel – wie Bälle – besonders stark thematisiert: Uz irer bruste saffe Zwen eppfel sint entsprungen, Gebrutet und auch gedrungen Zu sammen als ein balle. (MNB, V. 3238–3241)

Im ‚Rädlein‘ des Johannes von Freiberg ragen die ‚Brüstlein‘ der Dame wie zwei Paradiesäpfelchen empor: dô sach er stên ir brüstelîn alsam zwei pardîsepfelîn. (RDL, V. 119–120)

Der ‚Reinfried von Braunschweig‘ metaphorisiert hochstehende, kleine Brüste ebenfalls als runde Äpfel. Dieser Beleg spiegelt allerdings noch einen anderen prominen-

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Abb. 6: Liebesgarten, 14. Jh., Seccomalerei (Ausschnitt), Amt für Städtebau, Stadt Zürich.

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ten Motivkomplex der mittelalterlichen Literatur wider, nämlich das erotische Aufblitzen weißer Frauenhaut, worüber u. a. schon Silke WINST und Martina FEICHTENSCHLAGER geschrieben haben:13 hôch und kleine bruste reht als ein apfel sinewel. wîzer denn ie krîdemel (RVBR, V. 2266–2268)

Auch bei Hugo von Montfort kommt ein weiteres markantes Sprachbild zur fruktualen descriptio-Formel hinzu, es ist gleichsam mehrfach codiert. Erneut ist die Rede von zwei Äpfelchen, die würdevoll und schön aus der Frauenbrust entspringen, jedoch vermag in der Formulierung wol gedrón (von mhd. dræjen, nhd. drehen, drechseln, töpfern) zusätzlich zur mimetischen Analogie von Brust und Frucht auch die Gemachtheit durch den Schöpfer anzuklingen: zway áphelli ich grúss, gewachsen uß deiner brust. die sind gar wol gedrón und stand ital eben, gar wirdeklich und schón. (HUG, Ld. 3, Str. 7–8, V. 27–31)

Bei der handwerklichen Schöpfung des Menschen als Werkstück handelt es sich um einen häufigen Narrationstopos, insbesondere für den poetologischen Mechanismus der descriptio von Frauenfiguren. So etwa in der ‚Weltchronik‘ des Jans von Wien (ir/dîn hals was gedræt schôn, JEW, V. 11189, V. 12517 und V. 14333; sich, paris, mînen gedræten lîp!, JEW, V. 13903). Am öftesten findet das mit feiner Handwerkskunst assoziierte Wort dræjen allerdings für die Beschreibung von Brüsten Verwendung. So beispielsweise im ‚Alexander‘ Ulrichs von Etzenbach (manec brüstel als ez waere gedraet, AXU, V. 14565), im ‚Titurel‘ Wolframs von Eschenbach (von der maget Sigûnen:/ dô sich ir brüstel draeten, TIT, V. 36,1–2), im ‚Jüngeren Titurel‘ Albrechts von Scharfenberg (der claren mait Sygunen:/ do sich ir brustel dreten, JT, V. 694,1–2; do er so minniclichen ir lip sach und ir brustel, diu gedraeten, JT, V. 1456,4; ir brustel, di gedraten, JT, V. 2521,2; und si begund enkleiden ir gedreten brustel blank, niht brunen, JT, V. 3827,2), im ‚Lohengrin‘ (Swenn sie in an diu brüstel twanc, diu dâ stuonden hôch gedraet nâch harme blanc, LGR, V. 3124–3125), des Weiteren in der oben zitierten Stelle aus Konrads ‚Trojakrieg‘, in der Helenas Brüste wie zwei

|| 13 Silke WINST, Körper und Identität. Geschlechtsspezifische Codierungen von Nacktheit im höfischen Roman um 1200, in: BIESSENECKER (Anm. 12), S. 337–354, hier S. 353. Vgl. zum Thema generell auch Martina FEICHTENSCHLAGER, Entblößung und Verhüllung. Inszenierungen weiblicher Fragilität und Verletzbarkeit in der mittelalterlichen Literatur, Göttingen 2016.

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gedrechselte Apfel-Kügelchen durch ihre Kleidung ragen. In Wolframs ‚Parzival‘ benetzen Jeschûtes Tränen ihre als feste, gedræte Kugeln erotisierten bloßen Brüste, wobei hier sogar explizit auf ‚denjenigen, der sie in bester Weise gemacht hat‘, verwiesen wird:14 daz si begôz ir brüstelîn./ als si gedraet solden sîn,/ diu stuonden blanc hôch sinewel (PZ, V. 258,25–27). Derartige Visualisierungsstrategien und Sexualmetaphern, die sich charakteristischer mimetischer Beschreibungsformeln bedienen, sind mit elektronischen Mitteln vergleichsweise leicht als Topoi zu definieren und anhand der mittelalterlichen Texte empirisch zu belegen. Eine digital vorbereitete, sorgfältige Kombination aus Close- und Distant Reading, ermöglicht es nicht nur, autorenspezifische Stilfiguren aufzuspüren, sondern eben auch jene vermeintlichen rhetorischen Dichtersignaturen als Sprachspuren des Kollektivs zu entlarven, welche nur irrtümlicherweise als kennzeichnend für bestimmte Dichter in die Forschung eingegangen sind. Die MHDBDB befähigt darüber hinaus dazu, nicht ausschließlich nach bestimmten, bereits vorab bekannten Wörtern zu suchen, sondern auch nach Bedeutungsebenen. Die Geschlechtsorgane und -merkmale sind in der mittelhochdeutschen Literatur oftmals nicht wörtlich als solche benannt, was möglicherweise mit der körperlichen Entsexualisierung und einer damit einhergehenden Pönalisierung von offensiver Sexualität durch eine monastische Erziehungslehre zu tun hat. Schon Joachim BUMKE stellte in diesem Zusammenhang fest, dass „die Wortwahl einer strikten Reglementierung unterworfen“ war und „nur ‚anständige Wörter‘ […] der Rede des Hofes gemäß“15 waren. Diese Verwendung „anständige[r] Wörter“ macht den Einsatz von bildhaften Umschreibungsformeln notwendig. Der Umstand, dass Metaphern per definitionem eben nicht direkt als solche ausgewiesen sind, erschwert die Suche natürlich. Die MHDBDB erweist sich jedoch auch für diese Problemstellung als probates Werkzeug: Mithilfe des „Begriffssystems“ kann beispielsweise eine kombinierte Kontextsuche zweier Wörter mit den lexikalischen bzw. semantischen Eigenschaften mhd. bir (nhd. Birne) und ‚weiblich‘ sowie ‚Geschlechtsmerkmale‘ durchgeführt werden:16 Ein Beispiel für komplexere fruktuale Sexualmetaphern findet sich auf diese Weise etwa im folgenden Lied Oswalds von Wolkenstein, dem eine eindeutige Bildsprache diagnostiziert werden kann, ohne dass es Birnen wörtlich als Brüste markiert. Dies geschieht natürlich insbesondere durch den regelrecht FREUD’schen

|| 14 Dieser außergewöhnlich bildhaft-ikonischen, ja beinahe voyeuristischen Textpassage widmeten sich in jüngerer Zeit gleich mehrere wissenschaftliche Arbeiten, die Frauen-descriptio, Nacktheit und Schönheit untersuchen. Vgl. hierzu etwa WINST (Anm. 13), S. 343; Susanne KOCH, Wilde und verweigerte Bilder. Untersuchungen zur literarischen Medialität der Figur um 1200, Göttingen 2014, S. 105; FEICHTENSCHLAGER (Anm. 13), S. 73. 15 Joachim BUMKE, Höfischer Körper – Höfische Kultur, in: Joachim HEINZLE (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M., Leipzig 1994, S. 75. 16 Der hierfür verwendete Suchstring lautet: bir + (21011000 & 21045000) .

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Wunsch des lyrischen Ichs, nochmals Kind sein zu dürfen, um an den weißen Birnenbrüsten saugen zu können (was dem Dichter ein Garant für – zumindest psychische – ewige Jugend zu sein scheint): Ain zwisel waidelich, darob ain maser hert, die tragt zwo bieren reich; gar süss ist ir geverrt, weiss, frisch, wo man si zert. Wer ich ain kindlin klain vernünfftig, alt und weis, und ich der bieren ain müsst saugen für mein speis, so wurd ich nimmer greiss. (OVW, V. 66,3,1–10)

Auch ein Lied des Mönchs von Salzburg lässt sich mit der durchgeführten Suche aufspüren. Die erotische Signifikanz weißer Frauenhaut erinnert an die kreideweißen Körperattribute im ‚Reinfried von Braunschweig‘ (s. o.):17 gancz lind und hel hat mein besundre liebe dirn, czway tütlein als zwo synwel pyrn (MSW, Ld. 17, Str. 2, V. 13–15)

Der aus späterer Zeit insbesondere aus dem Volkslied ‚Spannenlanger Hansel‘ geläufige Reim „Dirn“ auf „Birn“ rekurriert auf ein weiteres poetisches Sprachspiel zur weiblichen Körper-Codierung der Brust als Frucht. Oswald von Wolkenstein reimt dierne auf birne und vergleicht die weißen Brüste des Mädchens mit runden Birnen: Kain mensch gesach nie lieber diern, ich kan ir nicht volziern, weisse brüstlin, sinwel als die biern, damit si kösstlich kan hofiern (OVW, V. 46,1,6–9)

Auch der ‚Wigamur‘ weist eine ganz ähnliche Stelle auf, in der ebenfalls gängige Metaphern des mittelalterlichen Schönheitspreises abgerufen werden: Die mynigclich diern Het zway prüstlin als zwo piern, Geschmucket an jr hercze zart (WGM, V. 4931–4933) || 17 WINST (Anm. 13), S. 353. Vgl. zum Thema generell auch FEICHTENSCHLAGER (Anm. 13).

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Von gänzlich anderer Machart ist hingegen die descriptio in einem wesentlich jüngeren Fastnachtspiel. Vergleichbar mag zwar immerhin das erotische Begehren sein, doch die Erzählstrategie ist durch die Unmittelbarkeit des Frauenkörpers von einer nahezu konträren Qualität. Während vom Mönch von Salzburg, von Oswald und im ‚Wigamur‘ die Schönheit einer Angebeteten mithilfe des Reimes metaphorisiert wird, wirkt das Frauenbild in ‚Ein Vasnachtspil‘ durch die beschriebene Handlung signifikant entzaubert und wesentlich realer: Do het ein paur ein hubsche diern, Die priet die allerpesten piern Unter irem hemd in irer kachel. (Keller 9, V. 29–31)18

In all diesen Textpassagen werden Obst und Gemüse zur sexuellen Metaphorisierung bzw. zur ikonischen Ausstattung von Vergleichen mit der weiblichen Brust herangezogen. Die mimetischen Implikationen durch erotisiertes Obst und Gemüse sind keine Seltenheit, sondern ein beliebtes und häufiges rhetorisches Verfahren aus dem mittelhochdeutschen bzw. frühneuhochdeutschen Formelschatz. Etwas anders als für einzelne Körperpartien funktioniert die komplette Identifizierung von ganzem Frauenkörper und Frucht. Oswald kennt auch diese Formulierung, die zudem durch das Lemma dræjen eine mehrfache poetologische Codierung aufweist (s.o.): Si ist ain waideliche diern, gedrät sinbel recht als die biern (OVW, V. 58,2,13–14)

Ein sehr schönes Beispiel ist weiters ein Lied, das möglicherweise von Neidhart stammt – oder auch nicht. (HAUPT geht mit Berufung auf LILIENCRON davon aus, dass manche der Strophen später hinzugedichtet worden seien.) Relevant ist für diese Fragestellung allerdings ohnehin weniger der Autor, sondern vor allem der Text selbst. Er bietet ein ganzes Arsenal erotischer Metaphorik aus dem Bereich der Kulinaria. Ein Mann und eine Frau sitzen beisammen, trinken Birnenmost und essen Nüsse zusammen: ,bring uns aber einen vollen kruoc, daz wir den tac hie mit froeiden also verslissen, die brunen nusse mit ein ander bissen.‘

|| 18 Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, hrsg. v. Adelbert VON KELLER, 4 Bde., Stuttgart 1853–1858, http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb1073 7567-7 (12.07.2019), hier Bd. 1, Nr. 9 (‚Ein Vasnachtspil‘), S. 93, V. 29–31.

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do sprach diu dirn: ,dar zuo schenke ich miner teigen pirn.‘ (NEIM, V. 25,5,6–10)

Das gemeinsame Verzehren von Birnenmost und Nüssen scheint durch die poetische Tradition auf einer Metaebene deutlich erotisch konnotiert zu sein und als Sexualmetapher zu fungieren. Noch provokanter als das gemeinsame Essen von Nüssen ist wohl das Anbieten ‚teigiger‘ (weicher) Birnen bzw. einer Birne zu lesen, insbesondere durch das Possessivpronomen ‚mein‘ (miner teigen pirn). Helmut TERVOOREN bezeichnet das gemeinsame bissen von Nüssen und weichen Birnen gar als „unverkennbar[e] Koitus-Metaphern“19. Von semantischer Relevanz ist der grammatische Numerus: miner teigen pirn steht zwar eigentlich im Singular, könnte jedoch auch eine zugunsten des Reims eingekürzte Pluralform sein. Die ‚weichen‘ Birnen bilden mimetisch entweder ‚nur‘ die Beschaffenheit der weiblichen Brüste oder gar – im Singular gelesen – die Vagina nach. Tendenziell ist ein Widerspruch zwischen der Forschungsmeinung zum hauptsächlichen Symbolgehalt von Birnen (Vulva, Gesäß, vgl. oben S. 72) und den Ergebnissen der Datenbankrecherche (vgl. S. 83–86) auszumachen, in denen Birnen meistens als Symbol für Brüste, seltener für den gesamten weiblichen Körper und nur vereinzelt für die Vulva stehen, wie möglicherweise hier bei Neidhart. Verblüffend ähnlich ist die Bildsprache eines anonym überlieferten Liedes aus der Heidelberger Hs. Pal. 343: ‚Ach jungkhfrauw, wolt irs mit mir gan und do die taygen pirn stan dort aussen uff jhener heyde? ach jungkhfrauw, wolt irs mit mir gan, so gib ich euch deren taigen, der taigen, ja taigen.‘20

Es bliebe zu überlegen, was der Sprecher der Jungfrau im Austausch für ihre ‚weichen Birnen‘ denn eigentlich ‚Teigiges‘ anbietet. Wahrscheinlich handelt es sich um eine dem Neidhart-Lied sehr ähnliche Form des Austauschs sexueller Gefälligkeiten, der über alimentäre Tauschhandlungen vermittelt wird. (Zumindest stellt sich hier die Numerus-Frage nicht.) Das Motiv der Nüsse stellt einen weiteren Themenkreis der sexuell codierten Bilder Neidharts dar. Insbesondere die brunen nusse in SNE I: C 231 (s. o.) sowie auch die praune[n] haselnússe in SNE II: c 118 sind ganz klar mit erotischem Nebensinn zu lesen. Die Farbe Braun verstärkt die erotische Konnotation. „‚Nüsse kna-

|| 19 Helmut TERVOOREN (Hg.), Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, Stuttgart 1993, S. 274. 20 Arthur KOPP (Hg.), Die Lieder der Heidelberger Handschrift Pal. 343. Volks- und Gesellschaftslieder des XV. und XVI. Jahrhunderts, Berlin 1905, S. 140, Nr. 128.

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cken‘ ist schon in alter Zeit ein Euphemismus für ‚ein Weib beschlafen‘“21, schreibt beispielsweise AIGREMONT. Dies soll u. a. mit dem Bild einer „zu öffnende[n] Fruchtschale bei Weib wie bei Tier“22 zu erklären sein, hat also wiederum mimetischen Ursprung. In der Jägersprache bezeichnet man das weibliche Geschlechtsteil von Dächsin, Hündin, Füchsin, Wölfin, weiblichem Iltis und Marder immerhin bis heute als ‚Nuss‘. Diese Imagination lässt sich gut mit einem Bild aus dem ‚Codex Granatensis‘ illustrieren. Es zeigt die Ernte brauner Esskastanien. Gleichzeitig weist die Darstellung unverkennbare Sinnzusammenhänge zwischen weiblichem Genital und der ‚Nussernte‘ auf, die Körperattribute werden der Vegetationsmotivik gegenübergestellt:

Abb. 7: Kastanienernte, frühes 15. Jh., UB Granada, Codex Granatensis, C-67, fol. 87v (CC-BY-NC-ND).

|| 21 AIGREMONT, Volkserotik und Pflanzenwelt. Eine Darstellung alter wie moderner erotischer und sexueller Gebräuche, Vergleiche, Benennungen, Sprichwörter, Redewendungen, Rätsel, Volkslieder erotischen Zaubers und Aberglaubens, sexueller Heilkunde, die sich auf Pflanzen beziehen, Berlin 1997, S. 90. 22 Ebd.

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4 Phallische Pflanzen: vegetabile Beschreibungsformeln von Männerkörpern Längliche, feste Pflanzen wie Wurzelgemüse oder Rüben sind in der mittelalterlichen Literatur hingegen eher als Umschreibungsformeln für den Phallus verfestigt; die narrativen Entwürfe von Männlichkeit sind gleichsam typisch wie topisch für den Bildspendebereich Nahrung. Verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang beispielsweise erneut auf den ‚Ring‘ Wittenwilers, wo nicht nur das Geschlechtsteil der Frau als nuʒ bzw. nüssli bezeichnet, sondern auch das männliche Genital mit einer langen und zwei kurzen Wurzeln verglichen wird. Der Arzt Chrippenchra bringt Mätzli wie folgt in Fahrt: ,Mätzli Rüerenzumph, Dein nam ghört wol zuo meinem stumph: So ghört mein stumph zuo deinem muot. […] Er sängelt: ,da, da, nüssli, da, Mätzli! sta, sta, hägili, sta! Der stumphe daz sein wurtzen, Ein langeu mit zwain kurtzen. Dar zuo so ist mein wille, Daz du dich habist stille, Und lass dich nicht verdriessen: Der wurtzen muost du niessen (WRW, V. 2117–2146)

Daraufhin antwortet Mätzli: ,Nu dar, mein lieber herr, daz sei!‘ Sprach die junchfraw sorgen frei. Da mit ward sei der wurtzen essen […] Hie mit so viels im an den stekken Und hielt in pei den paiden sekken; Sei sprach: ,ier mügt mirs nicht entragen: Der wurtzen wil ich aber haben.‘ Des gab er ir der wurtzen do Auf dem banch und in dem stro. Do sei des smakes innen ward, ier muost geswinden an der vart. Der pfeffer was ier seltzen: Des muost der artzt engelten (WRW, V. 2149–2168)

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Der Fortgang der Geschichte ist bekannt: Mätzli kopuliert dreimal mit Chrippenchra (was ihn an die Grenzen seiner Kräfte bringt) und wird daraufhin schwanger. Mhd. wurtze ist in jedem Fall keine seltene Umschreibungsformel für den Phallus, ebenso sind Wörter wie niezen und ezzen für den Geschlechtsakt vergleichsweise populär. Die wurtze wird auch bei Neidhart mit männlicher Potenz assoziiert, allerdings nicht unbedingt als (direkte) Penismetapher. In SNE I: R 22 verliert ein Mädchen ihr Bewusstsein, weil ihr Galan sie mit einer wurzen in dem munde (V. 7,2) küsst. Die Mutter erwidert darauf: du bist nicht magt, dich rurent mannes minne. (V. 7,4) Zu den okkulten, alimentären und sexuellen „Sinnfacetten“ (S. 163) dieser speziellen wurtze siehe Wernfried HOFMEISTER über Minne und ‚Drogen‘ bei Neidhart.23 Ähnlich bedient sich Oswalds ‚Rübenlied‘ einer vergleichbaren bildhaften Rhetorik aus dem vegetabilen Nahrungsbereich und spielt mit einem auf den Numerus zurückzuführenden Kippeffekt: Stand auff, Maredel! liebes Gredel, zeuch die rüben auss! zünt ein! setz zü flaisch und kraut! eil, bis klüg! (OVW, V. 48,1,1–2)

Wernfried HOFMEISTER kommentiert dementsprechend seine Übersetzung von Kl. 48 („Steh auf, Margaretchen! Die Rüben gehören rausgezogen, liebe Gretel!“) wie folgt: rüben ist grammatikalisch als Plural, aber auch als Singular deutbar: Der Plural bezieht sich auf die landwirtschaftliche Bedeutungsebene, der Singular lässt an eine zusätzliche erotische Bedeutung denken („Rübe“ = „Penis“). Meine dafür neu angebotene Übersetzung versucht diese Ambiguität mittels einer allgemeinen, für beides zutreffenden Kollektivanweisung ‚nachzubauen‘.24

Rüben werden jedenfalls gemäß AIGREMONT „von altersher mit dem männlichen Gliede verglichen. […] Heutzutage [=1907–1910, Anm. d. Verf.] wird noch in der Volkssprache der penis ‚Rübe‘ genannt.“25 Ein besonders eindrückliches und gar nicht so untypisches Beispiel für das Zusammenwirken von metaphorischer Sprachverhüllung und ironisch-visueller Enthüllung ist weiters der so genannte ‚Phallusbaum‘. Die früheste bekannte Handschriftenillustration stammt aus einer Mitte des 14. Jh.s angefertigten Pariser Hs. des ‚Roman de la Rose‘ von Guillaume de Lorris und Jean de Meun. Gleich zwei Seiten || 23 Wernfried HOFMEISTER, Omnia vincit radix. Minne und ‚Drogen‘ in Neidharts Sommerlied 15, in: Helmut BIRKHAN (Hg.), Der achthundertjährige Pelzrock: Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), Wien 2005, S. 161–175. 24 Wernfried HOFMEISTER (Hg.), Oswald von Wolkenstein. Das poetische Werk, Berlin, New York 2011, S. 152, Fn. 256. 25 AIGREMONT (Anm. 21), S. 137–138.

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widmen sich im bas-de-page-Bereich dem Thema des Fruchtbarkeitsbaumes mit den phallischen Früchten: Auf fol. 106v sammelt eine Nonne Phalli in ihrem Körbchen. Auf fol. 160r ernten gleich zwei Nonnen die länglichen Früchte.

Abb. 8: Phallusbaum, um 1340, Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. fr. 25526, fol. 106v.

Dieser auffälligen ikonografischen Darstellung haben sich schon zahlreiche Wissenschaftler*innen angenommen, zuletzt Christian Nikolaus OPITZ26 und Harald WOLTER-VON DEM KNESEBECK.27 Von besonderer Relevanz ist das friktionsbehaftete Spannungsverhältnis von Textebene und Darstellungsebene der Miniaturen, das

|| 26 OPITZ (Anm. 12), S. 214–216. 27 Harald WOLTER-VON DEM KNESEBECK, Zahm und wild: Thematische Spannungsverhältnisse und ihre (topographische) Organisation: Die Wandmalereien des Jagdzimmers von Schloß Moos in Eppan, in: Eckart Conrad LUTZ, Johanna THALI u. René WETZEL (Hgg.), Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation, Burgdorfer Colloquium 2001, Tübingen 2005, S. 510–514.

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WOLTER-VON DEM KNESEBECK als „Persiflage“ auf die allegorisch-stilisierte Minnemotivik, als „subversive[n] Bezug zum Text“ und als „satirisch eingefärbtes Gegenbild zur höfisch-ideal akzentuierten Welt der Liebe des Rosenromans“28 versteht. Das scheint besonders mit Blick auf den Text des Romans wichtig, der fordert, man solle ‚unanständige‘ Dinge „mit höfischen Worten umschreiben“ (gloser par quelque courtaise parole, V. 6904).29 Der Phallusbaum ist nun aber keine spezifische Eigenheit der Pariser ‚Rosenroman‘-Handschrift und auch nicht zwingend immer an Text gebunden. Freskierte Darstellungen gibt es einige, etwa das bislang besterhaltene, im August 2000 zufällig gefundene Fresko an einer Brunnenwand in Massa Marittima (Toskana, Italien) aus dem 13. Jh., auf dem ebenfalls zwei Frauen Penisfrüchte vom Phallusbaum sammeln und in einen Behälter geben.30 Mit Manuel SCHWEMBACHER sei die „imaginative[ ] Inbezugsetzung mit dem Baum des Lebens im Garten Eden“31 für dieses Sujet unterstrichen. Dabei spiegele „die Erntesituation zusammen mit dem wiederkehrenden Gestus des Pflückens und Greifens die Geschehnisse im Garten Eden“32. SCHWEMBACHER konzentriert sich insbesondere auf den Baum von Burg Lichtenberg im Vinschgau, bei dem ein weiterer erwähnenswerter Aspekt auffällt: Als einziger bislang bekannter Phallusbaum trägt er nicht ausschließlich phallische Früchte an den Zweigen, sondern auch mit weiblicher Sexualität konnotierte Blüten – Rosen.33 WOLTER-VON DEM KNESEBECK hebt weiters die „sexuelle Attraktion der Genitalien“34 hervor, was besonders eindrücklich durch ein möglicherweise in Basel gefertigtes Holzkästchen aus dem frühen 15. Jh. bekräftigt werden kann, auf dem eine feine Dame Phalli vom Baum pflückt, während auf der gegenüberliegenden Seite ein junger Mann vornehmer Abstammung die auffallend vulvaförmigen Blätter eines Baumes betrachtet.

|| 28 Ebd., S. 506. 29 Vgl. hierzu auch Markus MÜLLER, Minnebilder. Französische Minnedarstellungen des 13. und 14. Jahrhunderts, Köln 1996, S. 54–55. 30 Bilder online bei Stefan HAMMERL, Strange Fruits. Die Geschichte des Phallusbaumes. Versuch einer Annäherung an ein vergessenes Narrativ, 2018, http://www.juwelen-hammerl.at/milionart/ DER_PHALLUSBAUM.PDF (10.07.2019), in Auszügen veröffentlicht unter: https://www.stayinart. com/phallus-baum/ (10.07.2019). 31 Manuel SCHWEMBACHER, „Ein Zimmer aldorten mit uhralten Gemehlden…“. Szenen ritterlichhöfischen Welttheaters in den gotischen Wandmalereien der Burg Lichtenberg, in: Manfred KERN (Hg.), Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie (Interdisziplinäre Beiträge zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), Heidelberg 2013, S. 426. 32 Ebd., S. 426–427. 33 Der Phallusbaum in Schloss Moos-Schulthaus in Eppan (letztes Viertel 15. Jh.) weist gleichfalls ausschließlich längliche Phallusfrüchte auf. Vgl. hierzu WOLTER-VON DEM KNESEBECK (Anm. 27), S. 514–515. 34 Ebd., S. 506.

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Abb. 9: Phallusbaum, Burg Lichtenberg in Prad, um 1390 bis 1400, Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Ältere Kunstgeschichtliche Sammlungen, Inv.Nr. Gem 1447/10, Foto: Innsbruck, Tiroler Landesmuseen.

Abb. 10: Minnekästchen, Franziskanermuseum Villingen-Schwenningen, Inv.-Nr. 11770, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung vom Amt für Kultur/Franziskanermuseum.

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Abb. 11: Minnekästchen, Franziskanermuseum Villingen-Schwenningen, Inv.-Nr. 11770, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung vom Amt für Kultur/Franziskanermuseum.

Der Reiz für diese Bildsprache liegt sicher in der spielerischen Ambiguität des Topos und seiner drastischen Kontrastierung. Während einerseits mit offensichtlichem Verweis auf den Paradiesgarten ein komplexer heilsgeschichtlicher Deutungsrahmen aufgemacht wird, sind es andererseits oberflächliche erotische Verlockungen, auf welche die über mimetische Strategien aufgerufenen imaginativen Assoziationen abzielen.

5 Zusammenschau Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur sowie Bilderwelt operiert und spielt mit festen ikonischen Vorlagen, die einzelne Werke motivisch miteinander verschränkt. Das Spektrum der Realisationen und Konnotationen ist dabei äußerst reich und umfasst sowohl profane als auch sakrale Umsetzungen, sittsam-adelige wie auch ‚unhöfische‘ Topoi unterschiedlichster Regionen und Zeiten als Teilnehmer dieses poetischen Diskurses. Dennoch scheinen die narrativen Schlüssel oder

Erotische Narrative | 93

Marker für all diese unterschiedlichen Werke die verhandelten Entitäten zu sein, z. B. Personen, Pflanzen, Tiere, Gegenstände etc. – im Falle der vorliegenden Studie also die Bildspendebereiche Nahrung und Sexualität, die Kategorien Früchte und Körperteile, gleichsam die allegorische Überschreibung der zu den jeweiligen Bereichen gehörenden Entitäten in Text und Bild. Häufiges Mittel für einen dabei stattfindenden semantischen Kippeffekt, etwa von Frucht zu Frau, ist die auf ikonischen und mimetischen Zusammenhängen beruhende Metaphorisierung erotisierter Körper, die damit eine hohe poetologische, narratologische und auch kulturelle Signifikanz aufweist. Als lohnend für einen auf Narrativ- und Motivforschung fokussierten Blick auf die Literatur des Mittelalters haben sich die Zugänge der digitalen Literaturwissenschaft erwiesen, wobei die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB) ein besonders geeignetes Werkzeug für semantische Fragestellungen darstellt. Sie ermöglicht es idealerweise, größere Mengen Text auszuwerten, gleichzeitig die Imaginationsverfahren auf einer Metaebene zu untersuchen und dadurch die szenischen und narrativen Muster, die den Texten inhärent sind, sichtbar zu machen. Überaus viele poetische Zeugnisse von Äpfeln, Birnen, Nüssen, Rüben etc. verweisen – besonders in Zusammenhang mit descriptio-Formeln oder anderen Beschreibungsstrategien – auf der Metaebene auf eine dahinterliegende Bedeutung. Wesentlich seltener sind sie nur des trockenen Detailrealismus wegen – quasi ‚illustrierend‘ – in die Texte eingeschrieben oder in den Bildwerken umgesetzt. Diskursivität und Bildlichkeit der vegetabilen Symbole tragen somit einen großen Teil zu Konnotation und Verständnis von Narrativen bei. Was nun bleibt, ist letztlich die Souveränität, mit der mit einfachen Mitteln der mimetischen Nachahmung eine völlig neue Naturwelt entworfen wird: entrückte, unnahbare Frauenfiguren, die durch deutlich vorstellbare, ja fast haptisch wahrnehmbare fruktuale Bilder zugänglicher werden; abstrakte Fruchtbarkeitstopoi, die durch eine recht direkte phallische Bildsprache an Attraktivität gewinnen. Was bleibt, ist auch die signifikante Ähnlichkeit, mit der derlei Erzählstrategien durchgeführt werden: Obschon sich die Figurenprofile mit der individuellen narrativen Absicht der jeweiligen Texte verschränken, sind sie en gros miteinander vergleichbar. Vergleichbar in kreativer Eigenständigkeit, vergleichbar in der Hervorbringung bekannter Bilder im Fantastischen. Es ist die Eigenlogik der Erzählweise, die hier so sehr fasziniert.

Aglaia Bianchi

AMAD: Neue Kontexte für den mediävistischen Diskurs Abstract: Thanks to the unique combination of an Open Access Repository and the scientific blog “Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte”, the project AMAD-Archivum Medii Aevi Digitale opens new possibilities for scientific publications as well as for dialogue and exchange in Medieval Studies. Exchange is a vital element of the project, which combines the expertise of the Chair of Medieval History at the Ludwig-Maximilians-Universität München, of the Academy Project Regesta Imperii, of the Hessischen BibliotheksInformationsSystem (HeBIS) and of the aforementioned blog. The dialogue and cooperation between the project members and with external partners make it possible to obtain the permanent and globally accessible storage and publication of scientific works in Medieval Studies, as well as their quality control and high visibility for the scientific community. Moreover, the scientific community is asked to take part in the dialogue, not only after the research is published, but also beforehand in order to help develop the repository and its functions. This article examines the role of dialogue in the project and in the concept of AMAD as well as the different forms it takes. Keywords: open access, repository, medieval studies, scientific blog

Das DFG-Projekt „Archivum Medii Aevi Digitale – Mediävistisches Fachrepositorium und Wissenschaftsblog für die Mittelalterforschung (AMAD)“1 eröffnet durch die Einrichtung eines Open Access-Fachrepositoriums mit einem Wissenschaftsblog als Qualitätssicherungs- und Impact-Instrument nicht nur neue Wege der Publikation für die Mediävistik, sondern auch neue Kontexte des wissenschaftlichen Austausches. Das Projekt selbst ist das Ergebnis eines intensiven Austausches bzw. einer Kooperation zwischen dem Wissenschaftsblog „Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte“2, dem Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte mit Schwerpunkt Spätmittelalter an der Ludwig-Maximilians-Universität || 1 www.amad.org (27.02.2020). 2 Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte (online). Verfügbar unter: https://mittelalter.hypotheses.org (27.02.2020). || Aglaia Bianchi, AMAD – Archivum Medii Aevi Digitale, Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz, Geschwister-Scholl-Str.2, D-55131 Mainz, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-006

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München (Prof. Dr. Claudia MÄRTL), den Regesta Imperii an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz3 sowie dem Hessischen BibliotheksInformationsSystem.4 Durch den fachwissenschaftlichen und technischen Austausch im Projekt und in der Fachcommunity wird ein Open Access-Fachrepositorium eingerichtet, das in enger Zusammenarbeit mit dem bereits etablierten Wissenschaftsblog als qualitativ hochwertige Publikationsplattform und Ort des wissenschaftlichen Dialogs in der Mediävistik fungiert. Die disziplinäre Vielfalt spiegelt sich auch in unterschiedlichen Publikationskulturen wider. Schon während der Projektlaufzeit werden daher erste Ergebnisse und Fragen in die Fachcommunity durch die Veranstaltung von Workshops rückgekoppelt, um das Projekt eng an den Bedürfnissen der Fächer orientiert weiterzuentwickeln. Dazu zählen nicht nur der Workshop im Rahmen des 18. Symposiums des Mediävistenverbandes „Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter“ im März 2019, sondern auch die Projektworkshops im September 2019 zum Thema Open Peer Review sowie Anfang 2021 zum Weblaunch des Repositoriums. Der fachwissenschaftliche Austausch beschränkt sich also nicht auf die Projektmitglieder, sondern Anforderungen und Bedarfe der Fachwissenschaft können laufend berücksichtigt werden. Die innovative Kombination aus Fachrepositorium mit Open Peer Review und Wissenschaftsblog soll dabei die Vorteile der Veröffentlichung in einem Verlag mit denen eines institutionellen Repositoriums vereinen. Derzeit stellt der Verlag noch die bevorzugte Variante für Publikationen dar, da die Veröffentlichungskultur der Mediävistik noch stark am gedruckten Buch orientiert ist.5 Forschende stehen Online-Publikationen mit Open Access oft skeptisch gegenüber, unter anderem aus der verbreiteten Angst, dass die Dokumente nicht geschützt seien und dass man nur einen begrenzten Einfluss darauf habe, was mit ihnen geschieht. Verbreitet ist auch das Vorurteil, Online-Publikationen seien prinzipiell in Bezug auf das Renommee nicht als gleichwertig zu gedruckten Texten anzusehen.6 Qualitätssicherung und die weitreichende Sichtbarkeit der Forschungsergebnisse spielen also bei der Entscheidung für einen Publikationsort für Forschende eine wichtige Rolle. Vermutlich auch aus diesem Grund werden im Online-Bereich häufig noch die kostenpflichtigen Angebote der Verlage bevorzugt. Denn oft können Verla-

|| 3 http://www.regesta-imperii.de/ (27.02.2020). 4 https://www.hebis.de/ (27.02.2020). 5 Eine (langsame) Veränderung des Publikationsverhaltens der Autor*innen in den Geisteswissenschaften bzw. eine Ergänzung der Publikationslandschaft kann allerdings beobachtet werden, vgl. Konstanze SÖLLNER, Warum und für wen Open Access, in: Konstanze SÖLLNER u. Bernhard MITTERMAIER (Hgg.), Praxishandbuch Open Access, Berlin u. a. 2017, PDF E-Book, S. 3–11. 6 Vgl. Britta NÖLTE, Anja OBERLÄNDER, Wie lassen sich WissenschaftlerInnen für das Thema Open Access gewinnen? – Ein Werkstattbericht (2019): http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-1687m4l5poipq9 (27.02.2020).

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ge durch fachredaktionelle Betreuung, bewährte Vertriebswege und nicht zuletzt durch das Renommee des Verlags selbst Qualitätssicherung und Verbreitung der Forschungsergebnisse gewährleisten. Eine vergleichbare Leistung ist bei Repositorien oft nicht vorhanden, da es sich, zumindest in Deutschland, überwiegend um institutionelle Repositorien und nicht um Fachrepositorien handelt.7 Repositorien bieten jedoch – anders als die meist kostenpflichtigen Angebote der Verlage, einen weltweiten, freien Zugang zu den Forschungsergebnissen. Die Veröffentlichung ist in aller Regel für die Autor*innen kostenfrei, was eine nicht unerhebliche Rolle für die oftmals noch in prekären Angestelltenverhältnissen beschäftigten Nachwuchswissenschaftler*innen spielt, die sich bei einer Verlagspublikation mit hohen Druckkostenzuschüssen konfrontiert sehen. Für diese Nutzergruppe ist auch die schnelle Verfügbarkeit der Texte, die Repositorien im Vergleich zu Verlagsangeboten anbieten können, ein entscheidender Vorteil, denn die eigene wissenschaftliche Karriere hängt mitunter nicht zuletzt vom Doktortitel und von einer gut gefüllten Publikationsliste ab. AMAD will mit der Kombination aus Open Access-Fachrepositorium und Wissenschaftsblog einen zentralen Ort für die interdisziplinäre Mediävistik schaffen. Die neue Plattform bietet zum einen die Möglichkeit zur Neueinreichung von Publikationen mit Open Peer Review, dessen Gutachten als eigenständige Publikation veröffentlicht werden können. Zum anderen finden sich dort in einem Fremddatenpool zur Mittelalterforschung Metadaten mit geprüften Links zu anderen Repositorien. Zusätzlich werden hier auch neben Kommentaren und Rezensionen zu den Neuveröffentlichungen auch alle wissenschaftlichen Beiträge des Wissenschaftsblogs laufend vorgehalten. Um den besten Weg dorthin zu finden, haben die Gründer*innen des Blogs „Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte“ Kontakt mit unterschiedlichen Expert*innen und Institutionen aufgenommen, um sich gemeinsam dem Projekt des Archivum Medii Aevi Digitale zu widmen, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Programm „Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme“ (LIS) von Oktober 2018 bis September 2021 gefördert wird.

|| 7 Vgl. die Liste der Repositorien auf der Seite der „Deutschen Initiative für Netzwerkinformation e.V.“: https://dini.de/dienste-projekte/dini-zertifikat/liste-der-repositorien/ (27.02.2020). Hier stellen Fachrepositorien deutlich die Ausnahme dar. Zu Unterschieden zwischen institutionellen und Fachrepositorien vgl. Björn GEBERT, Wissenschaftsblogs und Fachrepositorien. Wege zu Open Access in der Archäologie, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologen-Verbandes 49,2 (2018), S. 46–50, hier S. 48 f.

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1 Austausch als Grundbaustein der Wissenschaft Wissenschaft und Forschung leben vom Austausch. Denn nur dadurch können Erkenntnisse mitgeteilt und geprüft werden und die gesamte Wissenschaft voranbringen. Dafür müssen zuerst die Forschungsergebnisse sicher und dauerhaft gespeichert werden und für die weiteren Forschenden zugänglich sein. Nur so können sie sie rezipieren und sich mit anderen Forschenden darüber austauschen. Für viele Jahrhunderte waren die Aulen der Universitäten der bevorzugte Ort des wissenschaftlichen Diskurses, nun kommen verstärkt auch digitale Räume hinzu. In den letzten Jahrzehnten hat der technologische Fortschritt neue Formen des Austausches möglich gemacht, die früher nicht denkbar gewesen wären und die es gilt, im Sinne der Wissenschaftskommunikation fruchtbar zu machen. So ist es zum Beispiel möglich, auf einem Wissenschaftsblog mit Kolleg*innen aus der ganzen Welt über ein Thema zu diskutieren, oder in sozialen Medien wie Twitter die Fachcommunity einzubeziehen, zum Beispiel bei der Interpretation eines Manuskriptes.8 Mit dem geplanten Open Peer-Review-Verfahren bietet AMAD die Chance auf einen möglichst offenen Austausch zwischen Forschenden und Gutachter*innen. Auch die Publikation der Gutachten und der Kommentare aus dem Wissenschaftsblog in Verbindung mit der finalen, angenommenen Fassung eines Artikels sind neue Instrumente zur Stärkung interaktiver Kommunikation in der Wissenschaft.

2 Das Archivum Medii Aevi Digitale als Publikationsort AMAD ist vordergründig ein Fachrepositorium für die mediävistische Forschung. Es bietet Forschenden aus allen Teildisziplinen der Mediävistik eine langfristige und qualitativ hochwertige Archivierung und Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse. Diese erfolgt im Open Access, im Sinne der Berliner Erklärung; die Texte sind demzufolge nicht nur frei zugänglich, sondern stehen auch für eine Weiternutzung und -verbreitung zur Verfügung: Open access contributions must satisfy two conditions: The author(s) and right holder(s) of such contributions grant(s) to all users a free, irrevocable, worldwide, right of access to, and a

|| 8 Björn GEBERT zitiert diesbezüglich zwei besonders spannende Fälle in seinem Aufsatz, vgl. Björn GEBERT, Soll ich oder soll ich nicht?, in: Zeitarbeit: Aus- und Weiterbildungszeitschrift für die Geschichtswissenschaften 1 (2019), S. 41–49, hier S. 45 f., DOI: https://doi.org/10.25521/ztbt.2019.92 .

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license to copy, use, distribute, transmit and display the work publicly and to make and distribute derivative works, in any digital medium for any responsible purpose, subject to proper attribution of authorship […], as well as the right to make small numbers of printed copies for their personal use.9

Der Gedanke des Austausches als Basis für die Wissenschaft ist also beim Archivum Medii Aevi Digitale schon der gewählten Form der Publikation inhärent und spiegelt sich auch in der Struktur und in den Funktionen des Repositoriums wider. Die Texte werden bei AMAD dauerhaft verfügbar sein. Dies wird durch die Kooperation mit dem Hessischen BibliotheksInformationsSystem (HeBIS) gewährleistet, das die Archivierung über ein DSpace-Repositorium und somit eine dauerhafte Perspektive bietet, auch über die Finanzierungsperiode durch die DFG hinaus. Ein weiteres wichtiges Bedürfnis der Autor*innen, wie es auch im Workshop beim 18. Symposium des Mediävistenverbandes bekräftigt wurde, ist die Qualitätssicherung. Diese betrifft zunächst die Auswahl der Texte. Nutzer*innen, die im Repositorium nach mediävistischer Fachliteratur suchen (oder dort ihre Arbeit veröffentlichen möchten), wollen Qualität vorfinden. Für die Präsenz von Fachliteratur im Repositorium auch über die von AMAD veröffentlichten Texte hinaus sorgt ein sogenanntes Harvesting-Verfahren, bei dem führende Datenbanken wie z. B. die Bielefeld Academic Search Engine (BASE)10 und der Regesta Imperii (RI) OPAC, die mit mehr als 2,3 Millionen verzeichneten Werken weltweit größte mediävistische Literaturdatenbank,11 laufend durchsucht werden und deren Metadaten importiert werden. Die gezielt nach mediävistischen Inhalten ausgewählten Daten aus den Datenbanken werden in AMAD eingespeist und umgekehrt die in AMAD veröffentlichten Texte im RI OPAC aufgeführt. Durch diese Kooperation entsteht für beide Seiten mehr Sichtbarkeit für die jeweiligen Inhalte. Standardschnittstellen des DSpace-Repositoriums ermöglichen den Import und Export von Datensätzen im Dublin-Core-Format und die automatische Vergabe eines Digital Object Identifiers (DOI). Dank des Dublin-Core-Formats sind eine standardisierte Angabe von bibliographischen Metadaten und somit eine leichtere Klassifizierung der Literatur und schnellere Im- und Export-Prozesse möglich.12 Der DOI erlaubt hingegen die eindeutige und dauerhafte Identifizierung eines digitalen Objekts und somit dessen Zitierbarkeit, da er direkt und unabhängig von Veränderungen der Adresse einer Internetseite dauerhaft auf den Archivierungsort des Dokuments verweist. Dabei bleibt die Expertise der fachwissenschaftlichen Projektmitglieder fundamental für die Parametrisierung der Filtertabellen und die Kuratierung der gesuch-

|| 9 https://openaccess.mpg.de/Berliner-Erklaerung/ (27.02.2020). 10 https://de.base-search.net/about/de/index.php/ (27.02.2020). 11 http://opac.regesta-imperii.de/lang_de/ (27.02.2020). 12 Vgl. auch: https://www.dublincore.org/ (27.02.2020).

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ten Inhalte. Nur so kann sichergestellt werden, dass irrelevante Treffer ausgenommen werden. Bei neu zu veröffentlichenden Texten sorgt ein Open Peer Review-Verfahren für die Qualitätssicherung. Beim Workshop im Rahmen des Symposiums des Mediävistenverbandes wurden die Bedürfnisse der Nutzer*innen abgefragt. Daran schloss sich das Expertenworkshop im September 2019 an, in dem über Kriterien, Best Practices, Handlungsempfehlungen diskutiert und ein Konzept entwickelt wurde, das anschließend vom projektbegleitenden wissenschaftlichen Beirat evaluiert und ergänzt wurde. Für das so entstandene Open Peer Review-Konzept, das die Bedürfnisse der Fachkultur widerspiegelt, wurde dann eine Softwarelösung gesucht und die bewährte Plattform Open Journal Systems (OJS) gewählt. Folgendes Verfahren wurde vereinbart: Nach Einreichung des Manuskripts und der redaktionellen Prüfung werden zwei Fachgutachten angefordert. Während der Begutachtungsphase findet eine differenzierte Kommunikation statt: Auf der Ebene des Redaktionssystems sind Diskussionen zwischen Autor*innen, Gutachter*innen und Redaktion möglich, bei denen Missverständnisse und Unklarheiten direkt geklärt werden können, und der Autor bzw. die Autorin auf das Gutachten reagieren kann. Ebenso ist auch der direkte, geschlossene Austausch zwischen Gutachter*innen und Redaktion möglich. Nach erfolgreicher Begutachtung und, falls notwendig, Überarbeitung wird der Text auf AMAD veröffentlicht. Auf dem verlinkten Wissenschaftsblog wird die Neuveröffentlichung vorgestellt. Hier kann sich dann mittels der Kommentarfunktion die weitere mediävistische Fachcommunity über den Text austauschen. Der fachliche Diskurs ist unverzichtbar für die Wirkungskraft einer wissenschaftlichen Publikation und somit eng mit der Qualitätssicherung verbunden. Denn es genügt nicht, dass die Texte sicher und qualitätsgesichert veröffentlicht und archiviert sind. Sie müssen auch von der Fachcommunity wahrgenommen und rezipiert werden. Die Kooperation mit dem RI OPAC, der die im AMAD-Repositorium veröffentlichten Inhalte auch verzeichnet, sorgt für die erweiterte Sichtbarkeit, genauso wie die Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftsblog „Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte“. Der dynamische und interaktive Charakter eines Blogs zeigt sich dabei in den Kommentaren und Diskussionen der Fachcommunity unter den Beiträgen: Ein besonders prägnantes Beispiel liefert ein Artikel von Jan KEUPP, in dessen Kommentarbereich eine lebendige Diskussion mehrerer Forschender stattfand.13 Die Kommentare zum Artikel gingen dabei weit über kurze Meinungsäußerungen hinaus, die man aus anderen Kontexten kennt; sie waren vielmehr wissenschaftliche

|| 13 Jan KEUPP, Die Gegenstandslosigkeit des Materiellen. Was den material turn zum Abtörner macht, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte. 26.06.2017, online unter https://mittelalter.hypotheses.org/10617 (27.02.2020).

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Diskussionsbeiträge, auf die wiederum der Autor reagierte. So entstand die Situation einer fachlichen Diskussion wie bei einer Tagung, ohne dass alle Beteiligten physisch am selben Ort zur selben Zeit sein mussten. Zur Bedeutung des Wissenschaftsblogs für Kommunikation und Sichtbarkeit trägt auch und vor allem seine Reputation und seine etablierte und aktive Community bei. Bis dato wurden von über 150 Autor*innen unter den über 500 Blogbeiträgen insgesamt über 150 wissenschaftliche Artikel im engeren Sinne veröffentlicht – inklusive eines dynamisch publizierten „Beiheftes“.14 Unter den Autor*innen befinden sich überwiegend Promovierende und PostDocs, aber durchaus auch arrivierte Forscher*innen.15

3 Das Archivum Medii Aevi Digitale als Ort des fachlichen Diskurses Der fachliche Diskurs ist also ein Kernelement vom Archivum Medii Aevi Digitale, sowohl als Publikationsplattform als auch schon im Laufe des Projektes. Das Projektziel wird durch die Zusammenarbeit der Projektmitglieder und deren unterschiedliche fachwissenschaftliche, bibliothekarische, informationstechnische und kommunikationswissenschaftliche Expertise erreicht. Nur so kann ein umfassendes Angebot realisiert werden, das auch in der Praxis Bestand hat und genutzt wird. Darüber hinaus werden die Bedürfnisse der Fachcommunity berücksichtigt und diese als Adressat des Repositoriums bereits in der Planungs- und Entwicklungsphase direkt und aktiv einbezogen.16 So bot der AMAD-Workshop beim Symposium des Mediävistenverbandes im März 2019 die Möglichkeit, nicht nur das Projekt und sein Potential für neue Kontexte der Mediävistik vorzustellen, sondern auch die Fachcommunity nach ihren Bedürfnissen hinsichtlich eines Publikationsortes zu fragen. Zuerst wurden die Chancen und Risiken, die die Mediävistik in einer Open Access-

|| 14 Zu den „Beiheften“ des Blogs vgl. Björn GEBERT (Anm. 8), S. 44. Zum Blog allgemein vgl. Björn GEBERT und Lena VAN BEEK, Wissenschaftsblogs als zeitgemäße Publikationsmedien. Das Beispiel „Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte“, in: Albrecht HAUSMANN, Volker MICHEL u. Ariane RAU (Hgg.), Publizieren, Recherchieren, Partizipieren. Die Digitalisierung der Wissenschaftskommunikation in der Germanistik (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 66,3, 2019), S. 273–281, online unter DOI: https://doi.org/10.14220/mdge.2019.66.3.273 . 15 https://mittelalter.hypotheses.org/authors (27.02.2020). 16 Zur Einbeziehung der Community vgl. auch Karoline DÖRING, Nutzerbedürfnisse als Herausforderungen für die Entwicklung und den Betrieb eines interdisziplinären, mediävistischen OpenAccess-Fachrepositoriums, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 66,4 (2019), S. 172–180, DOI: http://dx.doi.org/10.3196/186429501966431 .

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Publikationsform wie AMAD sieht, gesammelt und diskutiert. Diese kreisten, wie zu vermuten war, um die Hauptthemen Kosten, Rechte, Verfügbarkeit, Sichtbarkeit und Reputation. Daraus wurden in der Diskussion konkrete Handlungsempfehlungen herausgearbeitet, die die Projektmitglieder dann bei der Weiterentwicklung des Repositoriums unterstützten.17 Im Sinne des Austausches mit der Community stand auch der schon erwähnte Expertenworkshop zur Entwicklung eines Open Peer Review-Verfahrens für AMAD. Des Weiteren wird die Fachcommunity auf dem Blog und durch einen Newsletter über die Projektsfortschritte informiert.18 Leser*innen sind aufgefordert, aktiv mitzuwirken, zum Beispiel durch Zusendung von Fragen zu AMAD, die dann in der Newsletter-Kategorie #GoodQuestion beantwortet werden. Auf diese Weise bestehen beste Voraussetzungen, die schon in der Projektlaufzeit aufgebaute wissenschaftliche Kommunikationsumgebung zu etablieren und sie nach Inbetriebnahme des Repositoriums zu einer entscheidenden Charakteristik des Archivum Medii Aevi Digitale werden zu lassen. Dessen Charakteristika der weltweiten, freien Zugänglichkeit in Kombination mit der zeiteffizienten und qualitätsgesicherten Open Access-Publikation stellen einen soliden Ausgangspunkt für einen transparenten, aktiven und dynamischen wissenschaftlichen Austausch in der Mediävistik dar.

|| 17 Für eine umfassende Analyse des Workshops vgl. DÖRING (Anm. 16). 18 Auf den Newsletter wird u. a. auf der Homepage hingewiesen, vgl. www.amad.org (27.02.2020).

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Abb. 1: AMAD. Collage von A. Bianchi, basierend auf ‚Der Taler‘ aus dem Codex Manesse (https://doi.org/10.11588/diglit.2222#0601).

| Teil 2: Imaginäre Welten

Christian Kiening

Die Erschaffung literarischer Welten im späten Mittelalter Abstract: By analyzing three paradigmatic literary texts – Petrarch’s ‘Itinerarium’, Oswald von Wolkenstein’s song about his nomadic life, and the prose novel ‘Fortunatus’– the article tries to show how forms of travel not only serve to represent existing worlds, but also to design imagined ones. Following the moves of their protagonists through known territories, the texts develop specific configurations of space and time – not just small models of the world as a whole, but literary constructions imbued by a striking worldliness. Keywords: worldmaking, literature, travel, time and space

1 Imaginative Welten Bringt nicht der Geist (animus), fragt Richard von St. Viktor in seinem im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts entstandenen Traktat ‚Benjamin maior‘, mit Hilfe der imaginatio täglich einen neuen Himmel und eine neue Erde hervor? Und könnte er nicht in einer solchen erdachten Welt (in illo phantastico mundo), wenn er wollte, wie ein zweiter Schöpfer agieren (quasi alius quidam creator) und durch seinen Willen (arbitrium) fortwährend Handlungen verursachen (actitat) und Kreaturen schaffen (format)?1 Die Aussage steht im Kontext einer differenzierten Entfaltung der menschlichen Geistes- und Seelenvermögen, und Richard geht dabei so weit, dem Menschen zuzugestehen, seine Imagination könne was auch immer zu jeder Zeit und so oft sie wolle hervorbringen, ja sie könne beinah einzigartige Geschöpfe (quasi sui generis) erzeugen – ohne vorgegebenes Material (sine praeiacenti materia), gewissermaßen aus dem Nichts (velut ex nihilo).2 || 1 Richard von St. Victor, Benjamin maior, Buch III, Kap. XXI: Nonne per imaginationem animus cotidie novum caelum, novam terram, cum voluerit, creat et in illo phantastico mundo quasi alius quidam cre- ator quantaslibet eiusmodi generis creaturas omni hora actitat et pro arbitrio format?; verbesserte Textausgabe bei Marc-Aeilko ARIS, Contemplatio. Studien zum Traktat Benjamin maior des Richard von St. Victor (Fuldaer Studien 6), Fulda 1996, hier S. 79 f.; vgl. Ritva PALMÉN, Richard of St. Victor’s Theory of Imagination (Investigating medieval philosophy 8), Leiden 2014, S. 241. 2 Richard von St. Victor, Benjamin maior, Buch IV, Kap. XX; ed. ARIS, S. 115. || Christian Kiening, Deutsches Seminar, Universität Zürich, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-007

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Zwar bleibt die konstitutive Differenz zwischen Mensch und Gott erhalten, die Kreationen des Menschen existieren nur in der Imagination. Zweifellos aber arbeitet Richard von St. Viktor hier an jener Idee menschlichen Schöpfertums, die auch andere Autoren des 12. Jahrhunderts faszinierte.3 Was die Imagination hervorbringt, neue Himmel und neue Erden, scheint den Charakter einer Welt zu besitzen, Richard spricht von einem phantasticus mundus, doch er entwickelt den Gedanken nicht weiter. Spätere werden dies tun – in einem Zusammenhang, in dem nun auch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in eine andere Perspektive rückt. Geht Richard von einer grundsätzlichen (obschon durch kategoriale Differenz gekennzeichneten) Ähnlichkeit und einer ontologischen Entsprechung zwischen Mensch und Gott aus, rückt bei manchen Nominalisten der Aspekt der epistemologischen Analogie in den Vordergrund. Sie verabschieden die Vorstellung von Instanzen, die zwischen Gott und der Schöpfung vermitteln. Stattdessen betonen sie die potentia absoluta Gottes. Zu ihr gehört es, dass der Schöpfer, wie Wilhelm von Ockham ausführt, „eine andere, bessere Welt, die von der jetzigen der Art nach verschieden ist, hätte hervorbringen können“.4 Die Herausforderung ist es dann, einen Gott zu denken, der die Freiheit des Möglichen besitzt, ohne dass dadurch die Notwendigkeit des so und nicht anders Geschaffenen preisgegeben wäre: Gemäß Nicolaus Cusanus konnte Gott „eine vollkommenere und rundere Welt und auch eine unvollkommenere und weniger runde machen, obgleich die Welt so vollkommen gemacht ist, wie sie sein konnte“.5 Auch Leon Battista Alberti lässt in seiner etwa zeitgleichen halb satirischen, halb ironischen Fürstenlehre ‚Momus‘ (1444–1450) den höchsten Gott Jupiter die Idee ventilieren, eine neue Welt zu schaffen – was aber die schwierige Frage aufwirft, wie mit der bisherigen umzugehen und wo genau die Verbesserungen anzusetzen wären.6

|| 3 Vgl. Christian KIENING, Literarische Schöpfung im Mittelalter, Göttingen 2015 mit weiterer Literatur, jetzt auch Peter VON MOOS, Homo creans in den Romgedichten Hildeberts von Lavardin. Eine re-tractatio, in: Olivier COLLET, Yasmina FOEHR-JANSSENS u. Jean-Claude MÜHLETHALER (Hgg.), Fleur de clergie. Mélanges en l’honneur de Jean-Yves Tilliette, Paris 2019, S. 169–193. 4 Wilhelm von Ockham, Opera theologica, hrsg. v. The Franciscan Institute of St. Bonaventure University. Bd. 4: Scriptum in librum primum Sententiarum, ordinatio: distinctiones XIX–XLVIII, St. Bonaventure, N. Y. 1979, S. 655, Z. 6 ff. (d. 44, q. 1): Probabile autem reputo quod Deus posset facere alium mundum meliorem isto distinctum ab isto specie. 5 Nikolaus von Kues, Gespräch über das Globusspiel, hrsg. v. Gerda VON BREDOW. Lat.-dt. (Philosophische Bibliothek 467), Hamburg 1999, n. 19: perfectiorem et rotundiorem mundum atque etiam imperfectiorem et minus rotundum potuit facere Deus, licet factus sit ita perfectus sicut esse potuit; vgl. Hans BLUMENBERG, Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium Generale 10, H. 5 (1957), S. 266–283; wieder in: DERS., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede (Reclam UB 7715), Stuttgart 1981 u. ö., S. 55–103, hier S. 87. 6 Leon Battista Alberti, Momus oder Vom Fürsten, hrsg., übers. und komm. v. Michaela BOENKE, München 1993; vgl. Hans-Christian VON HERRMANN, Neue Welt. Fiktion und Kontingenz in Leon Battista Albertis Roman ‚Momus‘, in: Daniel WEIDNER (Hg.), Figuren des Europäischen. Kulturge-

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Überlegungen wie diese machen eine Differenz sichtbar zwischen der göttlichen und der menschlichen Perspektive, eine Differenz, die sich nicht mehr ohne weiteres schließen lässt, aber auch Spielräume eröffnet. Nimmt der Mensch probehalber die göttliche Sicht auf die Welt ein, so heben sich ihm nicht, wie dies traditionell der Fall war, die irdischen Kontingenzen in einer überirdischen Providenz auf. Vielmehr zeigt sich eine Kontingenz des Ganzen, aus der der Mensch, weil sich diese Kontingenz auf den göttlichen ‚Möglichkeitssinn‘ beschränkt, herausgenommen ist. Zugleich erhält er dadurch analogische Möglichkeiten. Das menschliche Schaffen gewinnt eine Freiheitsdimension, die nicht durch den Vergleich mit der creatio ex nihilo eingeschränkt ist. Dafür können dann gerade die Sprache und die Dichtung beispielhaft sein: Sie sind anders als die mechanischen Künste nicht darauf angewiesen, Vorgegebenes nachzubilden. Sie können der Imagination Unerhörtes und Ungesehenes eröffnen und tiefste Bedeutungen erschließen. Dabei handelt es sich allerdings um Geltungsbehauptungen, die oft auf Analogiestiftungen basieren: zwischen der aufwendigen Dichtung und kostbaren Materialien, zwischen dem Tun des inspirierten Dichters, der Mythen schafft und im Modus des Allegorischen oder unter dem Gewand der Fabel ethische oder naturgesetzliche Wahrheiten verbirgt,7 und dem Tun des göttlichen Schöpfers, der die Ordnung der Welt hervorbringt und ihre Offenbarung in Wort und Schrift ermöglicht. Formen der Ekphrasis erlauben es, zwei Sphären, eine kosmologische und eine rhetorische, so miteinander zu verknüpfen, dass das Produkt einerseits als äußerst welthaltigseinshaft, andererseits als spezifisch poetisch-textuell erscheinen kann. Doch handelt es sich, wieviel Verlebendigung auch immer stattfindet, letztlich um ein auf Bildern oder Objekten Dargestelltes, nicht um Menschen, die sich in Raum-ZeitGefügen bewegen, die man als Welten bezeichnen könnte. Insofern führt von der Ekphrasis kein geradliniger Weg zum Entwurf einer faktualen oder wahrscheinlichen, möglichen oder fiktionalen welthaften Gesamtheit.8 Solche Entwürfe wird man vielleicht eher an anderer Stelle finden. Nicht in der Darstellung materieller Gegebenheiten, die die Macht der Rhetorik ausspielt. Nicht in der Theoretisierung der fictio, die vor dem Hintergrund theologischer und ethischer Fragen erfolgt. Nicht in den narrativen Ansätzen zu einem Fingieren, das man

|| schichtliche Perspektiven, München 2006, S. 179–194; generell Karl S. GUTHKE, Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und Geistesgeschichte von der kopernikanischen Wende bis zur Science Fiction, Bern, München 1983. 7 Brian STOCK, Myth and Science in the Twelfth Century. A Study of Bernard Silvester, Princeton, New Jersey 1972, S. 40 f. in Bezug auf einen Makrobiuskommentar des 12. Jahrhunderts. 8 Zum letztlich auf die Gesamtheit des Existierenden oder Geschaffenen bezogenen antiken und mittelalterlichen Begriff von Welt Walther KRANZ, Kosmos (Archiv für Begriffsgeschichte 2, Tl. 1 und 2), Bonn 1958; Hermann BRAUN, Welt, in: Otto BRUNNER, Werner CONZE u. Reinhart KOSELLECK (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7: Verw–Z, Stuttgart 1992, S. 433–510.

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mit einer gewissen Mühe auf neuzeitliche und moderne Fiktionsvorstellungen beziehen kann. Eher dort, wo es darum geht, eine Welt in der Sprache zu erfassen, in Raum und Zeit zu entfalten, an Protagonistenbewegungen entlang zu erkunden – und dies so, dass in die Schwebe gerät, ob hier etwas eher ab- und nachgebildet oder eher eigenlogisch konturiert wird. So zumindest meine Versuchsanordnung für diesen Beitrag. Ich werde im Folgenden drei Texte zwischen dem ausgehenden 14. und dem frühen 16. Jahrhundert aufeinander beziehen, die alle mit dem Modus der Reise operieren. Petrarcas ,Itinerarium‘, Oswalds von Wolkenstein ReiseLebens-Lied Kl 18 und der anonyme Prosaroman ,Fortunatus‘ benutzen das Reisen, um einen Ausschnitt der sonst bekannten Welt darzustellen, und zwar so, dass dabei historische Welt und literarische Welt in ein schillerndes Verhältnis treten.9 Die Abfolge der Texte soll keine eindeutige Entwicklung suggerieren. Es handelt sich um verschiedene Typen und Vorgehensweisen, die ein Spektrum von Möglichkeiten erkennen lassen, den Eindruck von Eigenräumen und Eigenzeiten zu erzeugen.

2 Schreibendes Reisen Francesco Petrarca schrieb 1358 für seinen Freund Giovanni Mandelli, der in diesem Jahr eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternehmen wollte, eine lateinische Schrift. Sie sollte als Reiseführer dienen und zugleich den Reisebegleiter ersetzen: Petrarca selbst erklärte sich nämlich, nicht zuletzt aufgrund seiner Seekrankheit, für unfähig, die Reise mit dem Freund zusammen zu unternehmen. So zumindest lesen wir es in eben dieser Schrift, andere Zeugnisse, die sich auf die geplante Fahrt beziehen würden, gibt es nicht. Dass Mandelli sie tatsächlich durchgeführt hat, ist sogar eher unwahrscheinlich: Schon im Juni 1358 ist seine Präsenz in Novara bezeugt. Vielleicht handelt es sich überhaupt in erster Linie um eine Idee, die Petrarca und Mandelli teilten, die Idee, Abstand von der Welt zu gewinnen und sich geistlichen Zielen zu widmen. Der Text erlangte jedenfalls schnell Verbreitung. Er ist in annähernd 40 Handschriften überliefert und wurde noch im 14. Jahrhundert ins Italienische übersetzt; in dem wohl autornächsten Codex aus Cremona trägt er den Titel Itinerarium ad sepulcrum domini nostri yehsu christi.10

|| 9 Diese Fokussierung unterscheidet meine Versuchsanordnung von der verwandten, aber eher geistesgeschichtlich ausgerichteten bei Walter HAUG, Francesco Petrarca — Nicolaus Cusanus — Thüring von Ringoltingen. Drei Probestücke zu einer Geschichte der Individualität im 14./15. Jahrhundert, in: DERS., Brechungen auf dem Weg zur Individualität, Tübingen 1995, S. 332–361. 10 Neuere gründlich kommentierte Editionen: Petrarch’s Guide to the Holy Land. Itinerarium ad sepulchrum domini nostri Yehsu Christi. Itinerary to the Sepulcher of Our Lord Jesus Christ. Facsimile edition of Cremona, Biblioteca Statale, Deposito Libreria Civica, manuscript BB.1.2.5. With an

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Um einen gewöhnlichen Pilgertext handelt es sich allerdings nicht. Nicht nur hat der Autor selbst keine Reise unternommen und gibt auch nicht vor, eine solche unternommen zu haben. Der Text weicht auch in anderer Hinsicht von der Gattung ab: (1) Es handelt sich um einen Brief, es gibt also einen bestimmten Adressaten. (2) Der Schreibende und der (potentiell) Reisende sind nicht identisch. (3) Das Ziel der Reise, das Heilige Land, nimmt nur einen geringen Raum ein, etwa ein Viertel des Gesamttextes; auch werden die Heiligen Stätten nur kursorisch behandelt. (4) Die Reiseroute folgt nicht dem häufiger gewählten Weg von Venedig aus, sie beginnt in Genua, das im 14. Jahrhundert anscheinend in Jerusalem ein Konsulat zum Schutz der christlichen Pilger unterhielt,11 und führt an der italischen Westküste entlang, bevor sie auf die Route nach Griechenland und Syrien einbiegt. Damit verbunden liegt (5) der Schwerpunkt nicht im religiösen Bereich und nicht auf dem gegenwärtigen Erscheinungsbild der Orte und Regionen, Sitten und Gewohnheiten, denen der Reisende begegnet, sondern auf ihren Beziehungen zur antiken Geschichte. Was Petrarca beschreibt, ist also nur bedingt eine Pilgerfahrt. Es ist eine Fernreise, eine Fernreise im Geiste (animo; S. 8, Nr. 7), die sich in der beständigen Spannung bewegt zwischen dem, was der Reisende auf der Fahrt sieht, und dem, was der Schreibende ihm in seinem Text vor Augen stellt. Der Text spielt denn auch mit der konstitutiven Doppelbedeutung des Wortes itinerarium: Weg und Beschreibung eines Weges. Die Vorbilder für dieses Unternehmen liegen weniger in der eigentlichen Pilgerliteratur als in den antiken Formen des Itinerars und des Periplus, der Welt- und der Länderbeschreibung. Petrarca kannte sie aus der von ihm wiederentdeckten ,Chronographia‘ des Pomponius Mela oder aus der ,Historia naturalis‘ des Plinius, die beide für den Italienteil einige Orientierung boten. Vermutlich auf der Basis eines mit Karten versehenen Portulans, wie es im 14. Jahrhundert geläufig wurde, gleitet Petrarca die italische Westküste entlang: an Rapallo, Portofino, Portovenere vorbei, hinunter nach Pisa, zwischen Piombino und der Insel Elba hindurch, über Tarquinia und Civitavecchia nach Ostia und zur Tibermündung (das vom Schiff aus nicht sichtbare Rom übergeht er mit einem eleganten Unsagbarkeitstopos). Neapel

|| Introductory Essay, Translation, and Notes by Theodore J. CACHEY JR., Notre Dame, Indiana 2002; Petrarch’s Itinerarium. A Proposed Route for a Pilgrimage from Genoa to the Holy Land. Edited and Translated with an Introduction and Commentary by H. James SHEY, Binghamton, New York 2004. Aus Gründen allgemeinerer Verfügbarkeit wird der Text im Folgenden (unter Vergleichung mit den genannten Ausgaben) zitiert nach: Francesco Petrarca, Reisebuch zum Heiligen Grab. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Jens REUFSTECK (Reclam UB 888), Stuttgart 1999. Zum Text jetzt mit weiterer Literatur Michael STOLZ, Petrarcas Itinerarium ad sepulcrum domini nostri Yehsu Christi im Spannungsfeld der Zeiten, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 93 (2019), S. 371–391. 11 Thomas HERZOG, Geschichte und Imaginaire. Entstehung, Überlieferung und Bedeutung der Sīrat Baibars in ihrem sozio-politischen Kontext (Diskurse der Arabistik 8), Wiesbaden 2006, S. 218.

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und den Vesuv, dann die sizilianische Meerenge passierend gelangen Autor und Reisender an die Grenze des italischen Erdkreises (ad finem orbis Italici; S. 44, Nr. 47). Jenseits davon beginnt mit Korfu, Kreta und den Kykladen der östliche Raum, für den Petrarca sich deutlich kürzer fasst und für den er statt einer bestimmten Route mehrere Möglichkeiten eröffnet: Je nachdem, wo man an der syrischen Küste lande, böten sich verschiedene Wege nach Jerusalem an. Bei der Weiterreise werde man dann von einem bestimmten Punkt aus, gegenüber dem legendären, von Philosophen, Dichtern und Kosmographen vielbehandelten Tanais nämlich, die Grenze zwischen Asien und Afrika sehen können. Indem Petrarca diese Grenze ins Spiel bringt, aber nicht überschreitet, demonstriert er eine Konzentration auf das westliche und östliche mediterrane Europa, das eine Art Welt in der Welt bildet, die wiederum als Kern eine Eigenwelt enthält: Italien. Der italische Bereich wird zu einem orbis, einem signifikanten Ausschnitt aus dem größeren orbis, der eine spezifische Ausdehnung in Raum und Zeit erhält. Für ihn montiert Petrarca in das itinerarische Gerüst vielfältige geographische und historische Informationen ein: aus Vergil, Cicero oder Horaz wie auch aus zeitgenössischen Chroniken.12 Diese Informationen kommentiert er seinerseits und ergänzt sie durch eigene Beobachtungen. Zwar will er, wie er eingangs schreibt, nicht als Historiograph, sondern als Kartograph oder Kosmograph auftreten (neque enim scribo nunc historiam, sed loca describo; S. 12, Nr. 13). Doch will er zugleich die jeweiligen Orte mit einer Geschichte versehen – und sich dabei selbst als geschichtsmächtiges Autorsubjekt profilieren. In diesem Sinne führt Petrarca seinen primären Leser und die anderen Leser, die er von vornherein im Auge hat, auf einen Weg, auf dem er, obschon absent, doch immer präsent ist. Er hält das Moment des Reisens und des Sehens, der Fahrt und des Aufenthalts bewusst. Er sagt: ‚wende die Augen nicht ab‘, ,von hier aus wirst du sehen‘, ,dies liegt außerhalb des Gesichtskreises‘ etc. Er lenkt die Blicke, macht auf dieses oder jenes aufmerksam, kommentiert und korrigiert, schiebt eine kurze Geschichte oder Erklärung ein – ein angelus interpres, der im wahrsten Sinne des Wortes weiß, wo es langgeht. Das zeigt sich gleich am Anfang des Weges: Genua, mit dem lateinischen Gott Janus wie dem Wort ianua (Pforte) assoziierbar, könnte einen besonders prägnanten Auftakt bilden, hier würden ein räumlicher und ein zeitlicher Beginn konvergieren; Petrarca aber unterstreicht die Unsicherheit der richtigen Deutung und bringt aus den „antiken Schriften“ (antiqua; S. 12, Nr. 13) einen anderen früheren Hauptort der Region ins Spiel bringt: Albigaunum, bezogen wohl auf das bei Pomponius Mela genannte Albenga, das aber in dieser Funktion nicht bezeugt ist. Von Anfang an deutet sich so ein eigener und eigenwilliger Anspruch an, untermauert dadurch, dass der, der hier als ‚Wegbegleiter‘ und ,Weggeleiter‘ || 12 Vgl. Petrarch’s Itinerarium, ed. SHEY (Anm. 10), Introduction.

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auftritt, ebenso über ein umfassendes Buchwissen verfügt wie über eine ausgewiesene experientia. Petrarca agiert in seinem Text nämlich nicht im Sinne der späteren Lehnstuhlreisenden, die ihre Bibliothek nicht verlassen. Er stellt gleich einleitend fest, er werde zwar die Fahrt über Meer vermeiden, aber doch durch Italien und Europa reisen – agere (S. 8, Nr. 7) ist das schillernde Wort, das er hier benutzt und das genau die Spannung zwischen einer konkreten und einer übertragenen Bewegung, einer des Reisens und einer des Schreibens zum Ausdruck bringt. Bewegt sich das Reisen im Raum, so das Schreiben in der Zeit, die aber in der Verschaltung von Vergangenheit und Gegenwart zum Zeitenraum wird. So fordert Petrarca eingangs seinen Leser auf, das Genua, von dem er schreibe, jenes, das im Zweiten Punischen Krieg zerstört und von den Römern wiederaufgebaut worden sei, zu bewundern: „die Sitten der Bevölkerung, die Lage des Ortes, den Schmuck der Gebäude und die Flotte, die – wie du es von der karthagischen geschrieben findest – schrecklich und an allen Ufern gefürchtet war“ (et populi habitum et locorum situm et aedificiorum decus atque in primis classem, quod de Tyria scriptum vides, cunctis terribilem tremendamque litoribus; S. 14, Nr. 14). Petrarca lässt die Zeiten ineinander gleiten. Er setzt nicht auf die Vergegenwärtigung der Antike, lässt sie nicht im Modus der Beschreibung wiederauferstehen. Oft genug insistiert er auf dem Abstand, der Jetzt und Einst trennt, auf dem Ruinenhaften, das der Reisende wahrnimmt. Von Luna sind ebenso nur mehr Ruinen zu sehen wie vom Wohnsitz der Cumaner Sibylle hoch über dem Averner See, auch Formiae, Liternum und Baiae bestehen nur noch aus Schutt- und Trümmerhaufen, selbst für das Heilige Land spricht Petrarca von dem Tempel oder den Ruinen des Tempels (templum seu templi ruinas; S. 55, Nr. 56), in dem Christus gelehrt hat. Eben die unvollständige, bruchstückhafte, löchrige Überlieferung der materiellen Kultur bietet aber, so scheint es, Einfallstellen für historische, kulturelle und literarische Referenzen sowie Profilierungsmöglichkeiten für das auktoriale Subjekt. Sie kreisen bei aller Vielfalt um zwei Autoren und deren Protagonisten, die berühmtesten Reisenden im mediterranen Raum: Homer und Ulysses sowie Vergil und Aeneas. Mit Ulysses vergleicht Petrarca sich selbst im Widmungsbrief zu seinen ‚Familiaria‘ (I,1) – ein zeitsemantisch kontrastiver Bezug, stellt er doch die eigene lebenslange Fremdheitserfahrung gegen die relativ kurze des Ulysses: Er hat die Grenzen der Heimat ja erst als Greis überschritten, und dabei ist – da in keinem Lebensalter irgend etwas lange dauert – im Greisenalter alles von geradezu äusserster Kürze. Ich hingegen bin in der Fremde gezeugt und in der Fremde geboren worden.13

|| 13 Francesco Petrarca, Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten, hrsg. v. Berthe WIDMER. Bd. 1, Berlin, New York 2005, S. 7; Francesco Petrarca, Le Familiari. Introduzione, traduzione, note di Ugo DOTTI, Urbino 1974, 15, Z. 126–128 (Nr. 22): Ille patrios fines iam senior excessit; cum nichil in ulla etate longum sit, omnia sunt in senectute brevissima. Ego, in exilio genitus, in exilio natus sum.

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Im ‚Itinerarium‘ ist der antike Heros für Petrarca die Figur schlechthin eines Unterwegsseins, das schließlich in die Heimat doch zurückfindet; seine Schiffbrüche und Verirrungen übergeht er, sieht ihn statt dessen als Verkörperung einer Sehnsucht nach der Ferne, die sogar den religiösen Impetus der Jerusalemfahrt überlagert: Im Heiligen Land angekommen, spricht Petrarca von dem Stachel der Tugend, der den Reisenden zu immer neuen Orten treibe, und bezieht dies auf Ulysses, Penelope und Telemachos zurück (Hic stimulus, qui Ulixem Laertis et Penelopes et Telemachi fecit immemorem, te nunc nobis, vereor, abstrahit diutius, quam vellemus; S. 58, Nr. 60).14 Vergil auf der anderen Seite ist nicht nur derjenige, der von Aeneas erzählt, er dient auch in umfassender Weise als Referenzgröße, im Blick auf historische wie geographische Gegebenheiten wie auch auf sein Leben: sein Studium in Neapel, sein Grab oberhalb der Neapolitanischen Grotte – Orte, die Petrarca selbst besuchte und in anderen Texten beschreibt.15 Dass er Vergils Grab eine prominente Rolle einräumt, das Heilige Grab in Jerusalem aber ausspart, dafür seinen Reisenden bis zum Grab Alexanders des Großen in Alexandria gelangen lässt, zeigt deutlich die vom herkömmlichen Modell der Palästinapilgerfahrt abweichende Akzentsetzung.16 Drei Tendenzen prägen im Ganzen den Text. Zum Ersten der konsequente Bezug auf den Erfahrungs- und Wissenshorizont des Autors Petrarca. Bei einer Bucht in der Nähe von Portovenere verweist er auf eine entsprechende Beschreibung in seiner eigenen unabgeschlossenen ,Africa‘ – der Schriftsteller beansprucht hier selbst den Rang eines Entdeckers. Zum Zweiten das Changieren zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung: Mal schreibt Petrarca seinem Leser die Macht der Augenzeugenschaft zu, mal betont er die Rolle des Geistes, in dem die Dinge deutlicher zu sehen seien als in der Wirklichkeit. Zum Dritten die kontinuierliche Engführung zwischen der Bewegung im Raum und jener des Schreibens. Petrarca erweckt zwar den Eindruck, den Leser auf der von ihm gewählten Route zu führen. Immer wieder wechselt er aber zur Schreibsituation, die er in paradoxer Weise auf die Reisesituation bezieht. Anfangs sieht es aus, als seien beide ineinander verzahnt: Die Lektüre der ersten Seiten scheint den Aufbruch zu verzögern (iam nimiam te moror; S. 10, Nr. 8). Dann zeigen sich Schreiben und Reisen als parallel, obschon das eine dem anderen überlegen: „Wenn du mit günstigen Winden und in schneller Fahrt nur so leicht hierhin gelangst, wie ich mit dem Stift das Ende Italiens erreiche!“ (Nr. 41). Am Ende enthüllt sich eine durchaus ungleiche Bewegung: „du hast den Weg in rund drei Monaten, ich aber in drei Tagen vollendet“ (Quod enim iter tu tribus forte vix mensibus, hoc ego triduo consummavi; S. 70, Nr. 80). Unausgesprochen bleibt, dass der Leser, und nur als solcher konnte Mandelli das Heilige Land erfahren, noch schneller als der Autor sein Ziel erreicht haben dürfte.

|| 14 Petrarch’s Guide, ed. CACHEY (Anm. 10), S. 22–24. 15 Vgl. Petrarch’s Itinerarium, ed. SHEY (Anm. 10), Introduction. 16 Vgl. auch Petrarch’s Guide, ed. CACHEY (Anm. 10), S. 30 f.

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So wie sich am Ende des ‚Itinerarium‘ die Topographie der Reise sukzessive zu einer Topologie des Wissens und der Erfahrung verschoben hat, haben sich zusehends auch die Zeitstufen verschränkt: Erweckten die Hinweise auf den Schreibakt und der beständige Gebrauch des Futurs längere Zeit den Eindruck, die Reise stehe dem schreibenden wie dem handelnden Subjekt noch bevor, gilt sie am Ende als für beide abgeschlossen. Abgeschlossen in einer Schreibbewegung, die sich als eben jener Modus erweist, in dem diese Art des Reisens überhaupt möglich ist: Souverän mit den Orten und Zeiten jonglierend situiert es sich zwischen Verharren und Bewegen. Es gibt vor, eine Welt abzubilden, die schreibend erst hervorgebracht wird – nicht im Sinne einer literarischen Fiktion, sondern einer Erfahrungsvermittlung, in der die Macht des Vermittlers beständig wirksam bleibt. Die Welt, die Petrarca zeigt, ist eine Welt ebenso der Tradition wie der Empirie – die sich beide aber nur durch den Geist des Autors hindurch manifestieren.17

3 Lyrische Welten Es ist unsicher, wie viel Oswald von Wolkenstein von Petrarca wusste und kannte, doch gibt es immerhin eine mittelbare Verbindung zwischen den beiden Dichtern: In einer vor 1425 entstandenen, heute in Wolfenbüttel aufbewahrten Handschrift wurde an den Rand eines Petrarcabriefes ein Bild Oswalds gemalt – als Pilger mit Pilgerkutte und Palmzweig.18 Nicht lange vorher, um 1416/17, könnte der adlige Tiroler Dichter ein siebenstrophiges Lied (Kl 18) verfasst haben, das als Paradigma seiner erfahrungsgesättigten und autobiographisch grundierten Lieder gilt.19 Es behandelt in der ersten Hälfte einen an Wendungen und Schicksalsschlägen reichen Lebenslauf, der vom zehnten Jahr bis in das Mannesalter reicht; der Protagonist || 17 Zu den späteren Pilgerfahrten im Geiste Kathryne BEEBE, Reading Mental Pilgrimage in Context: The Imaginary Pilgrims and Real Travels of Felix Fabri’s ‘Die Sionpilger’, in: Essays in Medieval Studies 25 (2008), S. 39–70; Kathryn M. RUDY, Virtual Pilgrimages in the Convent: Imagining Jerusalem in the Late Middle Ages, Turnhout 2011; Jacob KLINGNER, Reisen zum Heil. Zwei Ulmer ‚Pilgerfahrten im Geiste‘ vom Ende des 15. Jahrhunderts, in: Martin HUBER u. a. (Hgg.), Literarische Räume. Architekturen – Ordnungen – Medien, Berlin 2012, S. 59–73. 18 Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 11 Aug. 4°, fol. 202v; vgl. Oswald von Wolkenstein. Abbildungen zur Überlieferung II: Die Innsbrucker Wolkenstein-Handschrift c, hrsg. v. Hans MOSER, Ulrich MÜLLER u. Franz Viktor SPECHTLER. Mit einem Anhang zum ‚Wolfenbütteler Porträt‘ und zur Todesnachricht Oswalds von Wolkenstein von Hans-Dieter MÜCK (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 16), Göppingen 1973. 19 Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, hrsg. v. Karl Kurt KLEIN, 4., grundlegend neu bearbeitete Auflage von Burghart WACHINGER (Altdeutsche Textbibliothek 55), Berlin, Boston 2015 (zit.); Oswald von Wolkenstein, Lieder. Frühnhd./Nhd. Ausgewählte Texte hrsg., übersetzt und kommentiert v. Burghart WACHINGER. Melodien und Tonsätze hrsg. und kommentiert v. Horst BRUNNER (Reclam UB 18490), Stuttgart 2007, S. 130–139, 345–351 mit weiterer Literatur.

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erscheint hier als einer, der zunächst in verschiedenen Berufen und Rollen scheitert, bis er im Umkreis der Mächtigen an den Höfen seinen Platz findet, momenthaft zumindest, denn in Strophe 4, in der Mitte des Lieds, sehen wir ihn bei dem Versuch, ein semireligiöses Leben als Begarde zu führen, was durch die Minne gestört wird; zu einer conversio kommt es nicht, nach zwei Jahren nimmt der Protagonist sein weltliches Leben wieder auf. Die zweite Hälfte des Liedes widmet sich dann einem leidenschaftlich erlebten und erlittenen Minneverhältnis und schließt mit dem Blick auf die gegenwärtige Situation und die Möglichkeit von Verheiratung und Familiengründung. Oswald konturiert ein Leben in der Spannung von Welt und Minne, die er als räumlich und zeitlich verschränkt präsentiert.20 Erscheint im ersten Teil als eine der Motivationen, sich in der Welt herumzutreiben, die Minne, so kommt umgekehrt im zweiten Teil relativ unvermittelt die Welt wieder ins Spiel: in Gestalt der auf der griechischen Insel Ios anzutreffenden wunderschönen Frauen. Dominiert im ersten Teil die im Imperfekt gehaltene erzählende Behandlung der eigenen Geschichte, so im zweiten die im Präsens vorgenommene Konzentration auf ein noch gegenwärtig andauerndes Minnemartyrium.21 Als Scharnierstelle dient die mittlere Strophe, die das Thema der Wende explizit einführt, diese dann aber nicht als eine vollzogene, sondern als eine nicht dauerhaft realisierbare präsentiert. Es ist so gerade die Spannung zwischen einem anhaltenden ritterlichen Unterwegssein und der neuen Affizierung durch die Minne, die die Poetologie des Liedes bestimmt. Zu dieser Poetologie gehört, dass die entworfene Welterfahrung an einen spezifischen Lebenslauf gebunden wird. Gleich der erste Satz bringt das zum Ausdruck: Es fuegt sich, do ich was von zehen jaren alt, | ich wolt besehen, wie die werlt wer gestalt (I,1f.). Zusammengeführt werden die zeitliche und die räumliche Dimension in einer Formulierung, die allgemeines Geschick und individuelles Wollen verknüpft. Verknüpft erweisen sich im Weiteren dann auch die soziale und die literarische Existenz. Der Text beginnt mit einer biographischen Zäsur: Ich loff ze fuess mit swerer buess, | bis das mir starb mein vatter zwar, wol vierzen jar nie ross erwarb (I,9f.). Am Ende steht eine Selbstnennung (ich Wolkenstein; VII,11) und der Hinweis, das Ich habe sein Leben mit toben, wüeten, tichten, singen mangerlai (VII,2) zugebracht. Das legt nahe, das gerade zu Ende gehende Lied sei tatsächlich in bestimmter Weise Teil des zuvor beschriebenen, zwischen den Polen von Welt und Minne situierten Lebens. Zugleich sind damit mehrere Fragen aufgeworfen: Welche || 20 Burghart WACHINGER, Die Welt, die Minne und das Ich. Drei spätmittelalterliche Lieder, in: James F. POAG u. Thomas C. FOX (Hgg), Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200–1500, Tübingen 1989, S. 107–118, hier 114–117. 21 Generell zu den Zeitverhältnissen Maximilian BENZ, Christian KIENING, Die Zeit des Ichs. Experimentelle Temporalität bei Oswald von Wolkenstein, in: Sonja GLAUCH u. Katharina PHILIPOWSKI (Hgg.), Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens, Heidelberg 2017, S. 99–129, hier S. 118–125.

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Handlungsspielräume besaß und besitzt das Subjekt? Wie verhalten sich erzähltes und erzählendes Subjekt und damit auch Vergangenheit und Gegenwart zueinander? Wie steht es um die Welt, die das Ich erkunden will? Schnell zeigt sich im Text, dass die Welt, die Oswald thematisiert, keine einförmige, sondern eine vielgestaltige ist, bezogen auf die Erfahrungsdimensionen und -möglichkeiten des Subjekts. In den ersten Strophen kommt die Welt mehrfach, in religiöser, geographischer und sprachlicher Hinsicht, in den Blick. Zunächst ist die Rede davon, das Ich habe sich bei cristen, Kriechen, haiden (I,4) aufgehalten. Dann wird gesagt: Gen Preussen, Littwan, Tartarei, Türkei, über mer, | gen Frankreich, Lampart, Ispanien, mit zwaien künges her | traib mich die minn auf meines aigen geldes wer (II,1–3). Schließlich ist von unzähligen Sprachen die Rede: Franzoisch, mörisch, katlonisch und kastilian, | teutsch, latein, windisch, lampertisch, reuschisch und roman | die zehen sprach hab ich gebraucht, wenn mir zerran (II,5–7). Die anfängliche stereotype Dreiteilung in Christen, Griechen und Heiden, die dem Weltbild vieler Pilgerberichte entspräche, wird so konkretisiert im Hinblick auf die Erfahrung eines Reisenden, der mit verschiedenen Sprachen konfrontiert ist. Diese Sprachen bilden zugleich das Material, aus dem Oswalds literarische Welten gemacht sind – in durchaus eigenwilliger Weise. Drei Punkte lassen sich hervorheben. 1. In der ersten Aufzählung klingen noch itinerarische Muster an: Bewegungen nach Osten, zum Orient hin und nach Westen und Süden in Europa. Die Nennung der Sprachen hingegen folgt keiner räumlichen Logik, der Text springt hin und her zwischen romanischem, germanischem, slawischem und außereuropäischem Bereich und mischt auch das Latein darunter, das sich mit einer spezifischen Lebensweise, der klerikalen, verbindet, die in der späteren Biographie des Subjekts eine Rolle spielen wird. 2. Auch die weiteren geographischen Angaben haben zunächst eher allgemeinen Charakter: Genannt werden Inseln, Buchten, Länder, Ufer – konkret tritt nur das Schwarze Meer hervor (II,12). Dann aber verengt sich der Fokus auf spezifische Orte: den Hof zu Aragon, das südfranzösische Perpignan, wo Pedro de Luna als Gegenpapst (Benedikt XIII.) regierte und 1415 zahlreiche Herrscher bei einem Zusammentreffen versuchten, das Schisma zu beenden. In diesem Kontext gewinnen Raum und Zeit eine fast szenische Konkretheit.22 Doch unterstreicht die Tatsache, dass der Protagonist weniger als ein mit verschiedenen

|| 22 Vgl. James M. OGIER, Oswald von Wolkenstein – Clowning Around in Perpignan, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 11 (1999), S. 173–180; zum ‚Schaukasteneffekt‘ der Szene Sieglinde HARTMANN, Welterkundungsmotiv und poetische Visualisierung der Welt bei Oswald von Wolkenstein. in: Katharina BOLL u. Katrin WENIG (Hgg.), kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert, Würzburg 2011, S. 25–38.

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3.

Orden dekorierter Adliger, denn als ein Minneritter und Sänger erscheint, die spezifische Perspektivierung. Schließlich ergibt sich über diese Örtlichkeiten hinaus eine Rahmung dadurch, dass zwei mythisch-historische Inseln im Spiel sind: in der ersten Strophe Kreta (Candia), wohin das Subjekt in jungen Jahren gelangt sei, in der sechsten Ios (Nio), wo es in einem Palast 400 schöne männerlose Frauen gesehen habe, die doch mit der von ihm Angebeteten nicht konkurrieren könnten: Vierhundert weib und mer an aller manne zal | vand ich ze Nio, die wonten in der insell smal (VI,1f.). Diese Erinnerung scheint nicht nur die frühere Aussage ich hab umbfarn insel und arn, manig land (II,9) zu konkretisieren. Sie greift auch den Erzählmodus des ersten Teils auf – nun aber so, dass das Ereignis aus dem Schatz der Welterfahrung kein Handlungselement mehr ist, sondern eine rhetorische Figur: Es dient dazu, die Unvergleichlichkeit der eigenen Minnedame herauszustellen, die Minne zu emphatisieren. In diesem Kontext tritt die Welthaftigkeit zurück. Konkrete Orte in der Heimat werden nicht genannt, der Radius beschränkt sich auf jene 200 Meilen, die sich das Ich vom Objekt seiner Begierde entfernt.

Das alles zeigt: Oswald bildet nicht einfach eine vorhandene ferne oder nahe Welt ab. Er entwirft vom erlebenden und erzählenden Subjekt her eine Anschlusswelt und verflicht diese mit einer Geschichte des Subjekts, wobei diese Geschichte von der Vergangenheit in die Gegenwart führt, ohne aber geradlinig und zwangsläufig zu verlaufen. Die narrativen Miniaturen der ersten Strophe erzeugen paradigmatische Momente, die untereinander räumlich, zeitlich und kausal nur schwach verknüpft sind. Aufenthalte bei Christen, Griechen und Heiden, Situationen der Armut und der Fremdheit, des persönlichen Verlusts und der Not, Tätigkeiten als Laufbursche, Pferdeknecht, Koch und Ruderer – sie kennzeichnen den Protagonisten als einen umhergetriebenen, der auf keinen grünen Zweig zu kommen scheint. Schon die zweite Strophe aber verändert das Bild. Die Selbstbehauptung in der Welt vollzieht sich nun auf höherem Niveau. Reisen zu Land und zu Wasser, die Kenntnis der Sprachen, das Beherrschen verschiedener Musikinstrumente – der Protagonist wird zum Chamäleon: Mal ist er Adelsreisender auf Kavalierstour, mal Söldner und Glücksritter, mal Kaufmann und Entertainer. Es zeichnet sich ein bewegliches Subjekt ab, das sich gezielt in der Fortunawelt bewegt und dem das Kontingente dementsprechend in seiner klassischen Gestalt begegnet: als Schiffbruch. Es formt sich die Kontur des erfahrenen, den Wellen trotzenden Seefahrers und mit ihr das Modell des Lebens als einer Reise, die über verschiedene Stationen verläuft. Doch dieses Modell wird schnell wieder zurückgelassen: Von der Situation in Aragon und Perpignan führt kein direkter Weg zur temporären Begardenexistenz. Mit dieser wiederum tritt zwar das Minnemotiv in den Vordergrund, es bleibt aber unklar, wie der weitere Lebenslauf sich vollzieht.

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Auch das Leben als Familienvater bleibt am Ende hypothetisch. Das Ich, das sich als Wolkenstein bezeichnet (VII,11) und auf 40 bzw. 38 Jahre mit toben, wüeten, tichten, singen mangerlai zurückblickt, sagt von sich, es lebe nach wie vor unvernünftig: ich Wolkenstein leb sicher klain vernünftiklich, | das ich der werlt also lang beginn zu hellen (VII,11f.). Die Welt, die hier im Blick ist, entspricht eher dem allgemeinen Begriff von mundus als dem spezifischeren des orbis. Doch spielt das Stichwort mit der Beziehung zur anfänglichen Aussage, das Ich habe in der Jugend die Welt kennenlernen wollen. Diese Beziehung zeigt sich nun als eine, die auf einer autobiographischen Suggestion beruht, welche weder durchkreuzt noch bestätigt wird. Was bleibt, ist letztlich die Souveränität, mit der hier in Form eines schillernden Egodokuments ein ,self-fashioning‘ betrieben wird, das Räume und Zeiten virtuos verschränkt. Aus diesen Verschränkungen entsteht eine facettenhafte Welthaftigkeit, bei der das Subjekt ebenso Teil der Welt ist, wie es diese in sich trägt und aus sich hervorbringt. Das Lied entwirft ein durch Welt- und Minneerfahrung profiliertes Ich, das diese Erfahrung zwar vielleicht nicht zu einer sinnvollen Lebensgestaltung, wohl aber zu einer kunstvollen Liedform zu nutzen vermag.

4 Eigenwillige Itinerarien Der Prosaroman ,Fortunatus‘, 1509 anonym in Augsburg erschienen, entwickelt das bei Oswald greifbare Paradigma der literarischen Gestaltung von Welterfahrung narrativ weiter.23 Er erzählt das Folgende: Der zyprische Bürgersohn Fortunatus verlässt seine verarmten Eltern und scheitert zunächst als Diener in Flandern und London, bevor er im bretonischen Wald von der Jungfrau des Glücks ein unerschöpfliches Geldsäckel erhält, mit dessen Hilfe er Weltreisen unternimmt, ein Wunschhütlein gewinnt und, nach Zypern zurückgekehrt, Paläste baut, Stiftungen einrichtet und eine Grafentochter heiratet. Seinen Söhnen gelingt es nicht, die Fortune auf Dauer zu bewahren: Der eine verliert vorübergehend die beiden magischen Objekte und wird am Ende von zwei heruntergekommenen Grafen ermordet. Der andere stirbt, nachdem er das Hütlein zerstört hat, aus Gram über das Verschwinden des Bruders. Schon die über einhundert im Text vorkommenden geographischen Namen, die meisten auch anderweitig bekannt, signalisieren: Hier wird eine Welt entworfen, die

|| 23 Ausgaben: Fortunatus. Studienausgabe nach der Editio princeps von 1509. Mit Materialien zum Verständnis des Textes, hrsg. v. Hans-Gert ROLOFF (Reclam UB 7721), Stuttgart 1981; bibliographisch durch Jörg JUNGMAYR ergänzte Ausgaben 1996 und 2011; Fortunatus (1509), in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, hrsg. v. Jan-Dirk MÜLLER, Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 54 = Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 383–585 (Ausgabe), 1159–1226 (Kommentar) [zit.].

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an zeitgenössische Weltvorstellungen anschließt.24 Die Namen zentrieren sich auf relativ wenige Orte und Länder: Zypern, Flandern, England, Frankreich, Spanien, Konstantinopel, Alexandria. Aufgespannt wird ein sich nach Osten, Westen und Norden erstreckendes, im Kern europäisch-vorderorientalisches Dreieck, das zwei Auffälligkeiten besitzt: einerseits die zentrale Position Zyperns, andererseits die marginale des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Die Insel Zypern wird in vielen Palästinareiseberichten erwähnt, selten aber genauer beschrieben. Im ,Fortunatus‘ verbinden sich mit ihr mehrere Aspekte: Sie ist ressourcenreich (387,22). Sie liegt weit weg vom Bekannten (392,21f.), am Rande des mittelmeerischen Raums (so verr von land; 563,1). Und sie verfügt über andere, gleichwohl nicht ganz andere sitten / vnd gewonheiten (403,10). Geschichtslos steht Zypern für eine relative Alterität, die es möglich macht, sich auf eine Übergangszone zwischen West und Ost und auf wesentliche Momente einer (frei entworfenen) politischen Struktur zu konzentrieren. Diesem geschichtsleeren Handlungszentrum korrespondiert ein handlungsloses historisches Zentrum: Das Reich begegnet allein in Gestalt wichtiger Städte- und Ländernamen. Sie erwecken den Eindruck, die entworfene Welt sei eine nicht ganz unvertraute, die allerdings zugänglich wird im Hinblick auf einen Protagonisten, der in ihr selbst zunächst nicht völlig heimisch, aber auch nicht ganz fremd ist. In Flandern hält man Fortunatus für einen Welschen, einen Italiener, obschon er doch, wie der Erzähler vermerkt, auß zipern / vnd rechter geburd ain wolgeborner kriech was (394,1f.). Protagonist und Rezipient geraten so in eine strukturell ähnliche Position: Sie blicken von einem Punkt aus auf die Welt, in dem Zentrum und Peripherie changieren. Die Reisen, die der Protagonist unternimmt, sind klar zweigeteilt: Zweimal verlässt er Zypern, einmal in westlicher, einmal in östlicher Richtung; und zweimal kehrt er dorthin zurück, nachdem er zunächst den europäisch-christlichen, dann den außereuropäisch-heidnischen Raum durchmessen hat. Die erste Reise führt durch einen weitgehend bekannten Raum: von Nürnberg über den Oberrhein nach Köln, von dort über Flandern und England nach Schottland, durch Frankreich hindurch nach Galizien und Granada, zurück in die Provence, durch Italien hindurch nach Sizilien, von dort zurück nach Rom und Venedig, dann in weiterem Anlauf durch die ost- und nordeuropäischen Länder, bis man über Venedig wieder nach Zypern gelangt. || 24 Zu den Raumverhältnissen Bernhard JAHN, Raumkonzepte der frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen (Mikrokosmos 34), Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 305–332; Andreas RAMIN, Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität. Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit, München 1994, S. 109–130; Debra PRAGER, Fortunatus: „Auß dem künigreich cipern“. Mapping the World and the Self, in: Daphnis 33 (2004), S. 123–160; Serena PANTÈ, La dimensione spazio-temporale nel Fortunatus (1509), Palermo 2010.

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Die wesentlichen Stationen entsprechen einer geläufigen Route, wie sie zum Beispiel Hans Tucher in seinem zuerst 1484 in Augsburg gedruckten Palästinareisebericht wiedergegeben hat.25 Mit dem Unterschied allerdings, dass das Itinerar bei Tucher einen grundsätzlichen Überblick über den europäischen Raum und die Entfernung zwischen den wichtigsten Orten gibt. Im ,Fortunatus‘ dagegen wird es auf zwei Protagonisten bezogen, die den gesamten Raum bereisen, alle genannten Strecken abfahren oder abgehen – ,super traveller‘ gewissermaßen, deren Welterfahrung zumindest quantitativ kaum zu überbieten ist. Zwar werden weite Teile des Itinerars unpersönlich mitgeteilt, doch besteht kein Zweifel: es soll sich um eine tatsächliche Reisebewegung handeln. Die Aufreihung durch Item entfällt, das jeweils hinzugefügte ist („x ist die Hauptstadt von y“) verleiht der Aufzählung einen etwas weniger listenartigen Charakter. Sowohl am Anfang wie bei verschiedenen Stationen sind die Protagonisten präsent; kurz vor Ende der Reise heißt es explizit, Fortunatus hätte allso die länder vnd die künigreich alle durchtzogen (463,26f.). Mit der Anlehnung an das Tucher’sche Itinerar wird somit ein zeitgenössisches Musterweltbild aufgerufen, vor dessen Hintergrund die spezifische Welt des ‚Fortunatus‘ profiliert werden kann. Signifikant sind hierbei einige Änderungen, die sich gerade an den Scharnierstellen der Reise finden: Anfang, Mitte und Ende.26 Die Tour beginnt nicht in Nantes, wo sich Fortunatus und sein Reiseführer und Begleiter Lüpoldus gerade aufhalten, sondern irgendwo im süddeutschen Raum. Als erste Stationen werden genannt: Nürnberg, Donauwörth, Augsburg, Nördlingen, Ulm, Konstanz, Basel, Straßburg, Mainz, Köln. Der Sprung von Nantes nach Nürnberg wird nicht thematisiert. Offensichtlich sollte der Ausgangspunkt in jenem Raum angesetzt werden, der zwar nicht für die Protagonisten, wohl aber für die Rezipienten zentral ist. Das handlungslogisch leere Zentrum zeigt sich als ein erzähl- und kulturell logisch bedeutsames. Das spielt auch beim Itinerar selbst eine Rolle. Die Route nämlich, die die Protagonisten von Nürnberg nach Köln führt (das wären gerade einmal 60 damalige Meilen), wird ausdrücklich als eine umwegige entworfen, der Grund dafür: Man hätte von den über hundert Reichsstädten die namhaftesten sehen wollen, die Bischofssitze, da korten sy zu / vnd besahen alle ding (441,30). Es ist also ein spezifisches Besichtigungsprogramm, das hier absolviert wird. Es dient dazu, einerseits kulturell bekannte Muster aufzurufen, andererseits eine spezifische Eigenlogik zu profilieren. Auf dieser Linie liegt es auch, dass im Rahmen des Itinerars Orte wieder auftauchen, an denen der Protagonist sich vorher schon aufhielt: Flandern,

|| 25 Vgl. Marjatta WIS, Zum deutschen Fortunatus. Die mittelalterlichen Pilger als Erweiterer des Weltbildes, in: Neuphilologische Mitteilungen 63 (1962), S. 5–55; Hannes KÄSTNER, Fortunatus – Peregrinator mundi. Welterfahrung und Selbsterkenntnis im ersten deutschen Prosaroman der Neuzeit (Rombach Wissenschaften – Litterae 105), Freiburg 1990, S. 262–268. 26 KÄSTNER, ebd., S. 268–272.

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London, die Picardie – ein Rückbezug auf die früheren Aufenthalte erfolgt aber nicht. Das Itinerar verschränkt sich zwar mit der sonstigen Handlung. Es bildet aber mit dieser kein bruchloses Kontinuum. Es fügt sich nicht zu einer vom Text ablösbaren Karte zusammen. Es akzentuiert die genuine Welthaftigkeit des Textes. Das wird noch pointierter sichtbar genau in der Mitte der Reise, wenn der Weg erst nach Süditalien, nach Sizilien, dann wieder nach Norden, nach Venedig führt und von dort aus ins Heilige Land, wobei man auch an der Insel Zypern vorbeikommt – auch hier bleibt der Name unkommentiert, er fungiert als ein Signal, dass die erzählte Welt, in der die Insel Heimat des Fortunatus ist, nicht einfach mit der kulturell bekannten identisch ist, vielmehr eine spezifische Eigenlogik besitzt. Das wird unterstrichen dadurch, dass der nächste Abschnitt beginnt: ALs sy nu zu venedig waren / das wer der recht wege die künigreich alle durch zufaren gewesen (449,14f.). Die gerade mitgeteilte Route von Venedig ins Heilige Land entsprach also nicht der tatsächlichen Reiseroute. Fortunatus blieb in Venedig. Er schlug nicht den Weg ins Heilige Land ein, er kam nicht nach Zypern, erreichte nicht Alexandria. All dies wird sich erst im Laufe einer zweiten Reise ereignen, dort aber in anderer Reihenfolge. Die Stelle scheint also genau auf die Abweichung des erzählten von dem ihm vorausliegenden Itinerar hinzuweisen und damit auch auf die andere Logik, der der Protagonist und der Roman folgen. In subtiler Weise wird gerade dort, wo der Text am stärksten auf das kulturelle Wissen der Zeit zu referieren scheint, auch am deutlichsten seine Eigenständigkeit im Umgang mit der Darstellung von Welt sichtbar.

5 Literatur und Welt Die drei Texte stehen in keiner direkten Entwicklungslinie, sie vertreten verschiedene Genres und knüpfen nicht aneinander an. Und doch treffen sie in einer grundsätzlichen Tendenz zusammen: Sie beziehen sich mehr oder weniger detailliert auf die geographisch bekannte Welt oder Ausschnitte aus ihr, sie lassen Protagonisten durch diese Welt reisen, und sie nutzen die dabei entstehende Erfahrung dazu, der dargestellten Welt Züge zu verleihen, die den Text nicht einfach zur Fiktion machen, ihn aber als einen eigenlogischen erweisen. Nicht um die Hervorbringung unerhörter oder nie gesehener Welten geht es hier, sondern um die eigentümliche Amalgamierung von Stücken aus einem großteils bekannten Wissen. Im Bekannten eröffnen sich Spielräume für Unbekanntes. Dieses Muster kann dann auch auf andere geographische Regionen übertragen werden. In der Zeit, in der der ,Fortunatus‘ im Druck erscheint, beginnen nicht zuletzt im Gefolge der Vespuccibriefe die Ausdrücke mundus novus oder novus orbis

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geläufig zu werden.27 Die ,Welt‘, die hier gemeint ist, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie mehr als eine bloße Ansammlung von Inseln ist, nämlich ein Festland größeren Ausmaßes, das sich den drei bekannten Kontinenten zur Seite stellen lässt. Früh schon dient diese noch mit mancherlei Unsicherheiten behaftete neue ,Welt‘ als ein Rahmen, in dem die Imagination ihrerseits neue Entdeckungen unterbringen kann. Als Thomas Morus 1516 seine Schrift über den bestmöglichen Staat herausbringt, beschreibt er nicht irgendeine der mittlerweile bekannt gewordenen überseeischen Gesellschaften. Er zeigt eine unbekannte, auf die ein Begleiter Vespuccis getroffen sei, als er weiter in den neuen Gebieten umhergefahren sei. Die Insel Utopia ist eine künstliche Insel, wurde sie doch erst durch den Kulturheros Utopos vom Festland abgetrennt, sie ist Teil der Neuen Welt, aber keineswegs repräsentativ für diese, auch ihre Lage bleibt ungewiss. Diese Insel, die in vielem Züge eher einer alten Welt aufweist, ist es, an der sich das humanistische Spiel mit Möglichkeiten entfaltet, das Spiel mit dem, was Sprache und Rhetorik vermögen.28 Auch dies geht aber noch nicht mit dem Anspruch einher, in der Sprache etwas gänzlich Neues hervorzubringen, das man als eine Welt bezeichnen könnte. Eher sollen gegenwärtige politische und soziale Verhältnisse in ein schillerndes, verfremdendes Licht gerückt werden, das neben den Mächten des Faktischen auch die Macht des Imaginären beleuchtet. Bis die Literatur sich die Möglichkeit zuschreibt, tatsächlich dem Weltschöpfer analog zu agieren, werden noch einige Jahrzehnte vergehen. In Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik werden die Poetiken des 16. Jahrhunderts die Idee einer nicht nur menschlichen, sondern spezifisch dichterischen Imaginationskraft erproben.29 Etwa zur gleichen Zeit, da auch italienische Künstler die Vorstellung eines ,absolut Neuen‘ umkreisen,30 stellt ein Autor wie Philip Sidney in seiner vielleicht vor 1589 entstandenen, aber erst 1595 postum veröffentlichten ‚Defence of Poesy‘ einleitend fest, die Dichtkunst kenne anders als jede andere Kunst keine Einschränkungen. Sie basiere zwar auf „imitation or fiction“, doch dies weder im Sinne einer bloßen Nachahmung noch einer reinen Erfindung. Vielmehr bringe sie Dinge und Formen, Figuren und Gestalten ans Licht und agiere || 27 Vgl. Robert WALLISCH, Der ‚Mundus Novus‘ des Amerigo Vespucci (Wiener Studien. Beiheft 27), Wien 2002; DERS., Der Mundus Novus des Amerigo Vespucci. Text, Übersetzung und Kommentar (Edition Woldan 5), Wien 2012; Susanna BURGHARTZ, Alt, neu oder jung? Zur Neuheit der ‚Neuen Welt‘, in: Achatz VON MÜLLER u. Jürgen VON UNGERN-STERNBERG (Hgg.), Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance, München, Leipzig 2004, S. 182–200. 28 Vgl. Christian KIENING, Neue Welten – alte Zeiten. Die Temporalität des Entdeckens in der frühen Neuzeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 93 (2019), S. 493–509. 29 Vgl. Volkhard WELS, Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit (Historia Hermeneutica. Series Studia 8), Berlin, New York 2009; KIENING (Anm. 3), S. 173–183. 30 Vgl. Ulrich PFISTERER, Die Erfindung des Nullpunktes. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten, 1350–1650, in: DERS. u. Gabriele WIMBÖCK (Hgg.), Novità. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um 1600, Zürich 2011, S. 7–85.

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dabei analog zur Natur, nicht innerhalb von deren Grenzen. Der Dichter bewege sich frei im „Zodiack of his owne wit“, er könne so eine Welt hervorbringen, die wertvoller sei als die der Natur: „her world is brasen, the Poets only deliver a golden“.31 Diese Welt sei eine imaginierte und doch nicht fantasierte. Sie habe substantiellen Charakter, indem sie Modelle liefere, die ihrerseits nachgeahmt werden könnten. Auch Sidney entwickelt allerdings diesen Gedanken über die Eingangspassagen hinaus nicht weiter. Er hält zwar die Dichter für besondere Günstlinge der Götter, die mittels ihres göttlichen Furors Unsterbliches hervorbringen können. Von einer eigenen Welt spricht er dabei aber nicht mehr. Es wird weitere 50 Jahre dauern, bis Johann Michael Moscherosch die Stadt Paris als ,aultre Monde‘, ,petit Monde‘ oder ,abregé du Monde‘ bezeichnen,32 und 100 Jahre, bis Gottfried Wilhelm Leibniz die einzelne Monade als eine ,kleine‘, ,eigene‘, ,abgetrennte‘ oder ,konzentrierte‘ Welt begreifen wird.33 Im Jahr 1774 wird es dann in dem anonym erschienenen, von Christian Friedrich von Blanckenburg stammenden ,Versuch über den Roman‘ heißen: Das Werk des Dichters muß eine kleine Welt ausmachen, die der großen so ähnlich ist, als sie es nur seyn kann. Nur müssen wir in dieser Nachahmung der großen Welt mehr sehen können, als wir in der großen Welt selbst, unserer Schwachheit wegen, sehen können.34

|| 31 Sir Philip Sidney, The Defense of Poesie. Transkription durch Risa S. BEAR und Micah BEAR, Univ. of Oregon 1992/1995: http://pages.uoregon.edu/rbear/defence.html (01.10.2019). Zum Text Michael MACK, Sidney’s Poetics. Imitating Creation, Washington, D. C. 2005 (mit kritischer Edition des entsprechenden Prologteils). 32 Gesichte Philanders von Sittewald von Hanß Michael Moscherosch, hrsg. von Felix BOBERTAG (Deutsche National-Litteratur 32), Stuttgart, Leipzig 1883, S. 31. 33 Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, hrsg. v. Hubertus BUSCHE, Berlin 2009, S. 1–34, hier S. 13; s. auch BRAUN (Anm. 8), S. 462. 34 Versuch über den Roman, Leipzig, Liegnitz 1774, S. 314. – Dafür, dass sie die Vortragsversion des vorliegenden Beitrags beim Tübinger Symposium vorgetragen hat, sei Regina Toepfer (Braunschweig) herzlich gedankt.

Christine Kämpfer

Zwischen Tradition und Fortschritt Literarische Imitation in der klassischen persischen Epik Abstract: Literary imitation was not only a characteristic of medieval European literatures, but also a common practice in the Oriental Middle Ages. The theoretical foundations were laid in the 9th century by Arab literary critics, but these soon found their echo in non-Arab literatures, especially in Persian literature. In research, the role of imitation within epic poetry has been neglected, including that of ḫamsa poetry, which has shaped the Persian literary landscape since the 12th century. Ḫamsas are collections of at least five epics that go back to the poet Niẓāmī, whose prototype throughout the Middle Ages was the object of imitation and adaptation. This article is intended to show that ḫamsas were more than just formal epic collections, but rather that they formed a unique intertextual dynamic. They adapted the theoretical framework established by the Arabs in their own way and turned it into an instrument that both preserved and passed on the Persian literary tradition and invited the entire Persianate sphere to participate. Keywords: Islamic Middle Ages, Persian literature, khamesh poetry, epic poetry, literary imitation

1 Einleitung Die klassische persische Literatur ist in der westlichen Mediävistik außerhalb der Orientalistik ein noch weitestgehend unbekanntes Gebiet, doch ist man bei ihrer Erschließung mit Problemen konfrontiert, die sich auch in den Literaturen des europäischen Mittelalters finden. Die klassische Periode der persischen Literatur umfasst einen Zeitraum von circa 600 Jahren,1 sie umspannt ein Gebiet, das weit über die Grenzen des heutigen

|| 1 Als „Mittelalter“ oder „klassische Periode“ soll in diesem Artikel die Zeit von der Etablierung des Neupersischen als Literatursprache im 9./10. Jh. und der Machtergreifung der Safawiden im Jahr 1501 verstanden werden. Die Einführung der Zwölfer-Schia als Staatsreligion unter den Safawiden führte zu tiefgreifenden Veränderungen in der soziokulturellen Landschaft Irans. Technische Innovationen und die Etablierung internationaler Handelswege leiteten außerdem den Beginn der || Christine Kämpfer, Lehrstuhl für Iranistik, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Schillerplatz 17, D-96045 Bamberg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-008

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Iran hinausgeht und einen beträchtlichen Teil des Nahen Ostens, des Kaukasus, Zentralasiens und des indischen Subkontinents einschließt. Die hierdurch entstandene literarische Landschaft, lässt sich noch immer am besten in den Worten William HANAWAYs beschrieben, der bereits 1974 festhielt: Viewing Persian literature is somewhat like viewing the rugged landscape of Persia itself. From almost any place we stand we can see mountain ranges all around us. We can easily identify the highest peaks, which are always in our view and by virtue of being so have a life and personality of their own. We can see many lower peaks which to our view are less individual and clearly defined, and which often can be recognized only in their relationship to the highest peaks. Then, if we stand in the right place, we notice misty valleys in which nothing can be seen at all.2

Es gab bisher zahlreiche Versuche, die persische Literatur nach europäischem Muster zu erschließen und literarische Genres in westlichen Taxonomien zu kategorisieren. Der bisher erfolgreichste Versuch stammt von dem iranischen Gelehrten Muḥammad-Taqī BAHĀR (1886–1951), der die persische Literatur in vier Stile mit geografischen Ausrichtungen einteilte, doch hat sich auch diese Lehre der Stile (sabk-šināsī) als unzureichend erwiesen, da die Rolle von Mentalitätenumschwüngen ignoriert, und mit ihrem Hintergrund in westlichen Theorien, insbesondere der Evolutionstheorie, nur bedingt als intrinsisch anerkannt werden kann.3 In den letzten Jahren hat sich in der iranistischen Forschung ein neuer Ansatz herausgebildet, der die persische Literatur als eine zusammenhängende Tradition betrachtet, die über intrinsische Mechanismen zur Bewahrung und Weitergabe der literarischen Tradition verfügt.4 Als einer dieser Mechanismen wird die literarische Imitation angeführt, doch wurde ihre Rolle innerhalb der epischen Dichtung bisher kaum erforscht. Ein besonderes Phänomen stellt in diesem Kontext die ḫamsa-

|| frühen Neuzeit ein, deren Mentalitätenumschwung sich maßgeblich von der klassischen Periode unterscheidet. 2 William HANAWAY, Comments on literature before the Safavid period, in: Iranian Studies 7 (1974), S. 132–137, hier S. 133. 3 Bahārs Lehre der Stile war in einen nationalistischen Diskurs eingebettet, dessen Ziel die Etablierung einer nationalen iranischen Identität war. Sie unterteilt die persische Literatur in vier Stile, die grob historischen Epochen entsprechen: der Stil von Chorasan (sabk-i ḫurāsānī, 9. bis 10. Jahrhundert), der irakische Stil (sabk-i ʿirāqī, 11. bis 15. Jahrhundert), der indische Stil (sabk-i hindī, 16. bis 18. Jahrhundert) und die literarische Rückkehr (bāzgašt-i adabī, 18./19. Jahrhundert). Johannes T. P. DE BRUIJN, Classical Persian literature as a tradition, in: Ehsan YARSHATER u. Johannes T. P. DE BRUIJN (Hgg.), General introduction to Persian literature (A history of Persian literature 1), London u. a. 2009, S. 1–42, hier 4–6. Hierzu auch Roxane HAAG-HIGUCHI, Modernization in literary history. Malek al-Shoʿara Bahar's Stylistics, in: Christoph WERNER u. Bianca DEVOS (Hgg.), Culture and cultural politics under Reza Shah. The Pahlavi state, new bourgeoisie and the creation of a modern society in Iran (Iranian studies 18), London u. a. 2013, S. 19–36. 4 BRUIJN (Anm. 3), S. 1.

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Dichtung (ḫamsa-nivīsī) dar, das Abfassen von Epensammlungen, welche eine betont iranische Neuinterpretation der Nachahmungspraxis ist. In dem vorliegenden Artikel soll dargelegt werden, was die ḫamsa-Dichtung ausmachte und wie sie sich zu einer kulturübergreifenden Dynamik weiterentwickelte, die die persische Literaturtradition sowohl konservierte als auch transferierte.

2 Literatur und Nachahmung im persischen Mittelalter Im persischen Kulturraum des Mittelalters existierte kein Konzept von Literatur als belles lettres.5 Der ihm am nächsten kommende Begriff war suḫan („Rede“) im Sinne von „ausgeschmückter Rede“. Generell wurde zwischen Poetik (naẓm) und Prosa (nasr) unterschieden, wobei insbesondere die Poetik als Handwerk galt, das erlernt werden musste.6 Sie setzte sich aus drei Hauptformen zusammen: der Kasside (qaṣida), dem Ghasel (ġazal), und dem masnavī. Letzteres ist eine Langform, die der Form des Epos entspricht, doch es ist auch gleichzeitig die Form, der die Literaturtheorie die geringste Aufmerksamkeit entgegengebracht hat, was sich auch in der Diskussion um literarische Nachahmung widerspiegelt, in der hauptsächlich die Kurzformen im Fokus der Diskussion stehen.7 Dennoch liegt dem orientalischen Konzept von Originalität und Nachahmung ein Grundkonzept zugrunde, das sowohl die lyrische als auch die epische Nachahmung beeinflusst: der des maʿnā (Pl. maʿānī). Maʿnā kann sowohl „Topos“ als auch „geistiger Inhalt“ bedeuten, allerdings man kann sich dem Begriff nur annähern, da keine finite Übersetzung

|| 5 Bo UTAS, ‘Genres’ in Persian literature 900–1900, in: DERS., Manuscript, text and literature. Collected essays on middle and new Persian texts, hrsg. v. Carina JAHANI, Wiesbaden 2008, S. 219–261, hier S. 220. Der heutige Begriff adabīyāt für „Literatur“ ist ein Neologismus, der von türkischen Modernisten im 19. Jahrhundert eingeführt und in andere islamische Sprachen übernommen wurde. Er leitet sich von dem arabischen adab ab, welches „Höflichkeit“, „Etikette“ und „Bildung“ bedeutet. BRUIJN (Anm. 3), S. 3. 6 Belege hierfür finden sich in zeitgenössischen Handbüchern, wie bei Šams-i Qais (9. Jh.): „Know that poetry has tools and poesy (shaʿiri) […] the tools of poetry are correct words, palatable expressions, eloquent phrases and subtle themes which, when they are poured into the mold of acceptable meters and drawn out in a string (silk) of pleasing verses (baits) are called good poetry. The whole of the art [of poetry] lies in nothing but the perfection of its tools and devices, as the perfection of an individual is not achieved without the soundness of limbs and parts.“ Jerome W. CLINTON, Shams-i Qays on the nature of poetry, in: Edebiyât 1 (1989), S. 101–127, hier S. 103. 7 Alexander KUDELIN, Statut du pastiche dans les littératures médiévales du Moyen-Orient, in: Paola MILDONIAN (Hg.), Parodia, pastiche, mimetismo. Atti del Convegno internazionale di letterature comparate, Venezia, 13–15 ottobre 1993 Università ca’ Foscari di Venezia, Rom 1997, S. 57–63, hier 57–58.

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existiert. Die zugrunde liegende Idee war, dass ein festes und beschränktes Repertoire von maʿnā existierte, die des dichterischen Ausdrucks wert waren. Die meisten dieser maʿānī galten als bereits entdeckt und in dem existierenden poetischen Korpus ausgedrückt, gleichzeitig galten diese auch als die schönsten, während den noch unentdeckten ein nur marginaler Wert zugeschrieben wurde.8 Maʿānī wurden als allgemeines Gut angesehen, doch wurde eine Person, die ein maʿnā in den poetischen Korpus einführte, als dessen Urheber betrachtet. Diese Urheberschaft blieb so lange bestehen, bis es einem anderen Autor gelang, die Kunstfertigkeit des Urhebers zu übertreffen. Doch auch mit aller Geschicklichkeit konnte weder ein maʿnā noch ein ganzes Werk perfekt sein, da der Zustand der Perfektion dem unerreichbar Ewigen gleichkäme. Deshalb wurde jeder einzelne Autor als Teil eines Kollektivs betrachtet, die durch Können und Innovation versuchte, sich dem Absoluten immer weiter anzunähern.9 Diese Diskussion über maʿānī fand seine stärkste Rezeption in der sariqa-Theorie, der Theorie des literarischen Leihens im weitesten Sinn – was auch Plagiate einbezieht –, die sich im 9. Jahrhundert in der arabischen Literaturkritik entwickelte.10 In der persischen Literatur fand die Praktik der sariqa keinen Widerhall,11 doch ist das Konzept des literarischen Empfangens (istiqbāl) präsent, aus dem sich weitere intertextuelle Phänomene entwickelten. Die für die Epik bedeutsamsten waren die naẓīra („ähnlich“), was eine Nachdichtung bezeichnet, in dem der Autor im Rhythmus, Metrum und der Handlung dem Original folgt; und die ǧavāb („Antwort“), in der das Vorgängergedicht entweder zu einer Frage wird, die eine Antwort erfordert, oder zu einem Problem, das eine Lösung sucht.12 Um das Verhältnis der Perser zu ihrer literarischen Vergangenheit als auch das Repertoire, aus dem sie ihre Inspiration schöpften, nachvollziehen zu können, soll nun kurz auf die Entstehung der persischen Epik eingegangen werden.

|| 8 Wolfhart HEINRICHS, An evaluation of sariqa, in: Quaderni di studi arabi 5–6 (1987–1988), S. 357–368, hier S. 358. 9 KUDELIN (Anm. 7), S. 62 f. 10 Gustave E. VON GRUNEBAUM, The concept of plagiarism in Arabic theory, in: Journal of Near Eastern Studies 3 (1944), S. 234–253, hier S. 234. 11 William L. HANAWAY, The king, the poet, and the past, in: Irān-šināsī 3 (1991), S. 49–56, hier S. 49. 12 Paul E. LOSENSKY, Welcoming Fighānī. Imitation and poetic individuality in the Safavid-Mughal Ghazal, Costa Mesa 1998, 112–113.

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3 Entstehung der persischen Epik Die persische Epik hat ihren Ursprung in der vorislamischen iranischen Epik, die auf Mittelpersisch (pahlavī) verfasst wurde. Nach der Eroberung durch die Araber wurde Arabisch die Verwaltungssprache, doch war Persisch weiterhin als Vernakularsprache in Gebrauch. Ab dem 10. Jahrhundert finden sich literarische Schriftzeugnisse in einem arabisierten Persisch, das mit arabischen Buchstaben geschrieben wurde. Diese Form des Persischen wird als Neupersisch (fārsī) bezeichnet und entspricht mit kleineren Abweichungen dem Persisch, das noch heute in Iran gesprochen wird. Die ersten neupersischen Epen waren das Ergebnis von Übersetzungen, mit denen die Autoren eine Wiederbelebung der epischen Tradition anstrebten. Obwohl die frühe persische Literatur der arabischen noch stark verbunden war und auch deren formalen Rahmen übernommen hatte, bot ihnen diese kein episches Repertoire, weshalb sie auf andere Literaturen auswichen. Dies waren in erster Linie hellenistische Romanzen wie ‚Varqa-u Gulšāh‘ (‚Varqa und Gulšāh‘), ‚Vāmiq-u ʿAzrā‘ (‚Vāmiq und ʿAzrā‘), aber auch indigene Stoffe wie ‚Vīs-u Rāmīn‘ (‚Vīs und Rāmīn‘), eine mittelpersische Romanze aus der Partherzeit.13 Diese Übersetzungsunternehmungen gingen ab dem 9. Jahrhundert mit dem Wiedererwachen eines persischen Nationalbewusstseins einher, insbesondere unter der Dynastie der Samaniden (819–999), deren Herrschaftszentrum in Buchara im heutigen Usbekistan lag, und die die Produktion persischer Dichtung, Historiographie und Philosophie massiv förderten. Sie unterstanden formal dem abbasidischen Kalifen in Bagdad, letztendlich regierten sie jedoch als quasi-unabhängige Lokaldynastie in einem Gebiet, in dem sich das Arabische nie vollständig als Verkehrssprache hatte durchsetzen können.14 Es fiel in diese Zeit, dass ein Dichter namens Firdausī (940–1020) begann, die Geschichte des iranischen Volkes in Versform niederzuschreiben. Firdausī lebte in Tus im Nordosten Irans, und er entstammte der Klasse der Großgrundbesitzer (dihqān), die dem vorislamischen Erbe Irans noch stark verbunden, und in vielen Fällen des Mittelpersischen noch mächtig waren. Sein ‚Šāh-nāma‘ (‚Buch der Könige‘) vollendete er circa 1050. Es umfasst je nach Edition 50.000 bis 60.000 Verse und ist im Metrum mutaqārib verfasst, einem Metrum mit einem starken

|| 13 Eine Übersicht zur Entwicklung der neupersischen Sprache bietet John R. PERRY, New Persian. Expansion, standardization, and inclusivity, in: Brian SPOONER u. William HANAWAY (Hgg.), Literacy in the Persianate world. Writing and the social order, Philadelphia 2012, S. 70–94. Zur persischen Epik Johann C. BÜRGEL, Die persische Epik, in: Wolfhart HEINRICHS (Hg.), Orientalisches Mittelalter (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 5), Wiesbaden 1990, S. 301–318. 14 Ghazzal DABIRI, The Shahnama. Between the Samanids and the Ghaznavids, in: Iranian Studies 43 (2010), S. 13–28, hier S. 15.

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balladesken Ton, dessen archaischer Charakter durch ein reines und von arabischen Lehnwörtern frei gehaltenem Persisch unterstrichen wird. Das Epos behandelt die Geschichte der iranischen Könige von den mythischen Anfängen bis zu Sturz der Sasaniden (224 v. Chr – 651 n. Chr.) durch die Eroberung der Araber im 7. Jahrhundert, womit es zum literarischen Ventil der iranischen Nationalgeschichte wurde.15 Firdausī begann seine Arbeit an dem ‚Šāh-nāma‘ zwar unter den Samaniden, doch fiel dessen Fertigstellung in die Zeit der Ghaznawiden (977–1186), unter denen das Epos nur geringe Resonanz erfuhr. Mit dem Einzug der neuen Herrscher vollzog sich ein Mentalitätenumschwung, das Publikum bevorzugte nun Versromanzen, die in einem eloquenten, arabisierten Persisch verfasst wurden, wie es von den Hofdichtern gepflegt wurde. Historiographie wurde lokaler, gleichzeitig bewegte sich das Interesse weg von iranischen Königsidealen hin zu islamischen Werten. In diesem Kontext betrachtete man das ‚Šāh-nāma‘ wahrscheinlich als eine Anomalie, weder Literatur noch Historiographie.16 Ab dem 11. Jahrhundert begannen oft unbekannte Autoren, Epen in der Tradition des ‚Šāh-nāma‘ zu verfassen, welche im Rhythmus und Metrum dem ‚Šāh-nāma‘ folgten, häufig lehnten sie sich auch an Firdausīs Sprache an. Ihre Protagonisten stammen zum größten Teil aus dem Haus Sistan, wie auch Rustam, der größte Held des ‚Šāh-nāma‘, weshalb sie in Anlehnung an den griechischen Epen-Zyklus als „Sistan-Zyklus“ bezeichnet werden. Diese Epen waren keine bloßen Abkömmlinge des ‚Šāh-nāma‘, vielmehr begründeten sie einen neuen epischen Modus, der die von Firdausī eingeführte Betonung auf Helden anstatt des Herrschers des Herrschers fortführte. Anstelle der nationalen Geschichte standen diese nun im Mittelpunkt einer romantisierten Handlung, die in einem eloquenteren Persisch erzählt wurde.17 Die nationale Geschichte Irans wurde auf diese Weise weitergetragen und rezipiert, allerdings nicht mehr als ideologisch aufgeladenes Nationalepos, sondern als unterhaltsame Heldenepik.

|| 15 Als nationale Geschichte Irans wird die vorislamische Geschichte bezeichnet, von der Entstehung der Menschheit bis zum Ende der Sasaniden-Dynastie, wie sie durch vorislamische Quellen überliefert wurde. Der narrative Korpus bildete sich in der späten Sasanidenzeit heraus und teilte die iranische Geschichte in vier Phasen ein: Erstens, das Geschlecht der Pīšdādiyān, der mythischen Könige; zweitens, die Kayaniden; drittens, die Arsakiden; und schließlich die Sasaniden als letzte Dynastie. Es existierte keine Unterscheidung zwischen Fakten, Legenden und Mythos, was daraus resultiert, dass der Korpus verschiedene Stränge der mündlichen Geschichtsüberlieferung mit lokalen Legenden vereint. Ehsan YARSHATER, Iranian national history, in: DERS. (Hg.), The Cambridge history of Iran. In seven volumes. 4. Aufl. Cambridge 2006, S. 359–477, hier 336–367. Zum ‚Šāh-nāma‘ vgl. BÜRGEL (Anm. 13). Zum ‚Šāh-nāma‘ Djalal KHALEGHI-MOTLAGH, Ferdowsī, Abu’lQāsem. i Life, in: Ehsan YARSHATER (Hg.), Encyclopaedia Iranica. New York, S. 514–523. 16 Marjolijn VAN ZUTPHEN, Farāmarz, the Sistāni hero. Texts and traditions of the Farāmarznāme and the Persian epic cycle (Studies in Persian cultural history 6), Leiden 2014, S. 63–65. 17 Ebd., S. 65.

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Die Produktion von Heldenepen setzte sich bis ins 14. Jahrhundert fort,18 doch beeinflussten derweilen neue sozio-politische Umbrüche die Geschmäcker des Publikums, die im 12. Jahrhundert die Entstehung des romantischen Epos bedingten. Dessen Blütezeit begann mit den Epen des Dichters Niẓāmī (ca. 1141–1209), die nach dessen Tod zu einer sogenannten ḫamsa zusammengestellt wurden. Der Begriff ḫamsa leitet sich von dem arabischen Wort ḫams für „fünf“ ab und bezeichnet in erster Linie eine Kompilation von fünf Epen, doch existieren auch sittas (Hexalogien) und sabʿas (Heptalogien).19 Die ḫamsa Niẓāmīs fand in der persischsprachigen Welt rasante Verbreitung und wurde aufgrund ihrer Kunstfertigkeit zum Objekt der Nachahmung, sodass wir bis zum 15. Jahrhundert mit mehreren ḫamsas und auch Nachdichtungen einzelner ḫamsa-Epen konfrontiert sind.20 Ebendiese Sammlungen haben dazu beigetragen, dass der persischen Epik von außen betrachtet ab dem 13. Jahrhundert ein epigonischer Charakter anhaftet, die kontinuierliche Nachahmung von Niẓāmīs ḫamsa wurde als Fehlen von Kreativität und künstlerischer Originalität gedeutet. Doch es ist höchste zweifelhaft, dass zeitgenössische Dichter ihr Können Niẓāmī unterordnen wollten, weshalb noch weitere Motivationen für das Verfassen für ḫamsas existiert haben müssen.

4 Die ḫamsa von Niẓāmī Im 12. Jahrhundert war das Gebiet des Iran Teil des sich im Niedergang befindenden Seldschukenreiches (1035–1157). Es war eine Zeit politischer Unsicherheit, darüber hinaus hatte der Islam die iranische Gesellschaft durchdrungen, und die Produktion von Literatur, Kunst und Wissenschaft fand nun in einem größeren islamischen Kontext statt. Mit dieser Entwicklung ging ein Mentalitätenwechsel in philosophischen Diskursen einher, die nun das menschliche Innenleben betonten, sowie die Notwendigkeit von Selbsterkenntnis mit einem gleichzeitig sinkenden Vertrauen in traditionelle Autorität.21 Es war vor dem Hintergrund eben jener Instabilität und Weltsicht, dass Niẓāmī in den Jahren 1166 bis 1197 seine fünf Epen verfasste: ‚Maḫzan al-asrār‘ (‚Schatzkammer der Geheimnisse‘) (1166), eine didaktische Abhandlung, die sich in zwanzig

|| 18 Ebd., S. 62. 19 Johannes T. P. DE BRUIJN, Khamsa, in: Hamilton A. GIBB, Clifford E. BOSWORTH u. Peri BEARMAN (Hgg.), The encyclopaedia of Islam, Leiden u. a., S. 1009–1010, hier S. 1009. 20 Marc TOUTANT, Un empire des mots. Pouvoir, culture et soufisme à l’époque des dernier Timourides au mirroir de la “Khamsa” de Mīr ʿAlī Shīr Nawāʾī (Collection Turcica 22), Paris u. a. 2016, S. 257–258. 21 Julie S. MEISAMI, Medieval Persian court poetry (Princeton Legacy Library), 2. Aufl. Princeton 2014 (1987), 78–79.

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Kapiteln mit ethisch-didaktischen Themen auseinandersetzt; ‚Ḫusrau-u Šīrīn‘ (‚Ḫusrau und Šīrīn‘) (1176), welches die Liebesgeschichte zwischen dem persischen König Ḫusrau II. (570–628) und der armenischen Prinzessin Šīrīn erzählt; ‚Laylī-u Maǧnūn‘ (‚Laylī und Maǧnūn‘) (1188), eine arabischen Volkerzählung von der unerreichten Liebe des Dichters Qais (Maǧnūn) zu Laylī; das ‚Iskandar-nāma‘ (‚Alexanderbuch‘) (1194), das in zwei Teilen die Geschichte Alexander des Großen (356–323 v. Chr.) erzählt; und ‚Haft paykar‘ (‚Sieben Bildnisse‘) (1197), das die Geschichte des Sasanidenherrschers Bahrām Gūr (ca. 400–438) aufgreift, den die Erzählungen von sieben Prinzessinnen zum idealen Herrscher machen.22 Die inhaltliche Besonderheit dieser Epen ist, dass in ihnen das die Epik definierende Repertoire kulminiert: ‚Maḫzan al-asrār‘ steht in der Tradition der vorislamischen Weisheitsepik und vereint diese mit dem islamischen Fürstenspiegel-Genre. ‚Ḫusrau-u Šīrīn‘ und ‚Haft paykar‘ beziehen sich auf Charaktere aus dem sasanidischen Teil des persischen Nationalepos, ‚Laylī-u Maǧnūn‘ schöpft aus dem Korpus von Volkserzählungen, und das ‚Iskandar-nāma‘ vereint die Alexandererzählung aus dem persischen Nationalepos mit der griechischen Tradition.23 Diese Stränge nahm Niẓāmī zusammen und integrierte sie in ein kunstvoll elaboriertes Gefüge, welches von einer philosophisch-humanistische Weltsicht dominiert wird. Statt eines religiösen Dogmas kreierte er im Rahmen des Islam einen literarischen Universalismus, mit dem sich auch Nicht-Muslime und Nicht-Iraner identifizieren konnten. Wenn Niẓāmī also das Streben nach Gerechtigkeit als wichtigstes Unterfangen der Regentschaften von Ḫusrau II., Alexander und Bahrām Gūr ins Zentrum der Erzählung rückt, basiert dies nicht auf seinem eigenen Wunschdenken, vielmehr ist es ein Abbild des zeitgenössischen Diskurses, in dem Gerechtigkeit humanistisch und nicht religiös interpretiert wurde. In Hinblick auf die arabische Literaturtradition hält Roger ALLEN fest, dass sie einem Zusammenspiel von verschiedenen Kontexten entspringt, die sich in der

|| 22 Domenico PARRELLO, Ḵamsa of Neẓāmi, in: Iḥsān YĀRŠĀTIR (Hg.), Encyclopaedia Iranica, New York, S. 450–451, hier S. 451. 23 Was an dieser Stelle nur kurz angesprochen werden kann, findet sich ausführlich in MEISAMI (Anm. 21); Johann C. BÜRGEL, On some sources of Nizāmī’s Iskandarnāma, in: Franklin LEWIS u. Sunil SHARMA (Hgg.), The necklace of the pleiades. 24 essays on Persian literature, culture and religion; studies in Persian literature presented to Heshmat Moayyad on his 80th birthday (Iranian studies series), Leiden 2010, S. 21–30; Ali A. SEYED-GOHRAB, Layli and Majnun. Love, madness, and mystic longing in Niẓāmī’s epic romance (Brill studies in Middle Eastern literatures 27), Leiden u. a. 2003; Christine VAN RUYMBEKE, Iskandar’s bibulous business. Wine, drunkenness and the calls to the Sāqī in Nizāmī Ganjavī's Sharaf-nāma, in: Iranian Studies 46 (2013), S. 251–272; Christine VAN RUYMBEKE, Persian medieval rewriters between auctoritas and authorship. The story of Khusrau and Shirin as a case-study, in: Charles MELVILLE (Hg.), Shahnama studies. 3. The reception of the Shahnama (Studies in Persian cultural history 12), Leiden u. a. 2018, S. 269–292; Renate WÜRSCH, Niẓāmīs Schatzkammer der Geheimnisse. Eine Untersuchung zu Maẖzan ul-asrār (Literaturen im Kontext 21), Wiesbaden 2005.

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literarischen Produktion widerspiegeln: einem physischen, einem linguistischen, und einem historischem. Letzterer verfügt sowohl über eine politische als auch über eine intellektuelle Dimension.24 Betrachtet man Niẓāmīs ḫamsa aus diesen Blickwinkeln heraus, wird deutlich, dass seine Epen diese Kontexte ebenfalls repräsentieren. Der physische Aspekt wird zum einen durch die Handlungsorte bestätigt: ‚Ḫusrau-u Šīrīn‘, ‚Haft paykar‘ und das ‚Iskandar-nāma‘ spielen größtenteils im iranischen Kernland, andere Handlungsorte werden durch Ortsbeschreibungen dessen geographischen Gegebenheiten angepasst. Der linguistische Kontext wird durch das Neupersische definiert, doch ist es ein eleganteres und arabisiertes Persisch, das mit seinen rhetorischen Ausschmückungen die archaische Sprache des ‚Šāh-nāma‘ kontrastiert. Letztendlich beruft sich Niẓāmī in dreifacher Weise auf die iranische Geschichte: Erstens, durch die Verlinkung zur traditionellen Geschichte Irans durch das ‚Šāh-nāma‘; zweitens, durch Integration von philosophischen und wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit; und drittens, gibt er seinen Protagonisten durch einen iranischen Wertekodex eine persische Identität. In Niẓāmīs Schaffenszeit musste sich die iranische Identität behaupten und in just jener Zeit interpretiert sein Werk die literarische Vergangenheit neu. Die ḫamsa ist ein Kompendium von iranischen Traditionen, aber ihre moralische Autorität erreicht sie nicht allein durch die Narration, sondern auch durch seine Person als Autor. Niẓāmī führte zeitlebens einen einfachen Lebensstil in seinem Heimatort Gandscha im heutigen Aserbaidschan, weder stand er im Dienste eines Herrschers, noch stand er religiösen Institutionen nahe.25 Seine moralische Autorität begründet sich aus diesem bescheidenen Lebensstil und macht ihn zum Vertreter einer neuen Generation von islamischen Dichtern, die sich in der Dichotomie zwischen Islam und iranischer kultureller Identität bewegten. Durch die literarische Expression der persischen Identität, dichterisches Können und moralische Autorität wurde Niẓāmīs ḫamsa zu einem Prototyp, der eine neue literarische Dynamik animierte.

5 Die Dynamik der ḫamsa-Dichtung Niẓāmī lebte an der Peripherie des Seldschukenreiches, doch zirkulierten seine Texte in einem literarischen Netzwerk, das seinen Ursprung in den alten Karawanenrouten entlang der Seidenstraßen hatte. Dieses Netzwerk agierte innerhalb einer regionalen Entität, die in der neueren Forschung als „Persophonie“ oder als

|| 24 Roger ALLEN, The Arabic literary heritage. The development of its genres and criticism. Cambridge u. a. 2006 (1998), S. 12. 25 Abdolhossein ZARRINKOOB, Niẓāmī, a life-long quest for a utopia, in: Accademia Nazionale dei Lincei (Hg.), Colloquio sul Poeta Persiano Niẓāmī e la Leggenda Iranica di Alessandro Magno (Roma, 25 – 26 marzo 1975), Rom 1977, S. 5–10, hier S. 6–8.

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„persische Kosmopolis“ bezeichnet wird.26 Der Ausgangspunkt beider Konzepte ist die Existenz eines Kulturraumes, der durch das Persische als lingua franca geprägt wurde, und der sich durch ein Bewusstsein von gemeinsamen Werten und Weltanschauungen definierte. Mobilität entstand in diesem Raum durch Handelsrouten, das Umherziehen von Autoren auf der Suche nach Patronage und Ruhm, aber auch durch Pilgerrouten und Sufi-Netzwerke. Ideen, Werte und Literatur reisten so in einem Raum, der große Teile Kleinasiens, des Kaukasus, Zentralasiens und des indischen Subkontinents umfasste, und fanden Rezeption bis nach China und Südost-Asien.27 Niẓāmīs Oeuvre fiel in den Zenit der perso-kulturellen Epoche und das Tempo, in dem sich die ḫamsa in diesem Kulturraum verbreitete, belegt die Akzeptanz seines Werterepertoires. Obwohl schon vor Niẓāmī persische Werke wie das ‚Šāh-nāma‘ gelesen wurden, verfügte keines über den sprachlichen und ideologischen Universalismus, den diese Region als Anspruch an ein Werk stellte. Der erste Nachahmer Niẓāmīs war Amīr Ḫusrau Dihlavī (1253–1325), der in den Jahren 1298 bis 1302 seine naẓīra der ḫamsa verfasste, und damit zum eigentlichen Initiator der ḫamsa-Dichtung wurde. Amīr Ḫusrau war seitens seines Vaters türkischer Abstammung, seine Mutter war Hindi, wodurch er sich mühelos in beiden Kulturen und Sprachen bewegen konnte. Als persischsprachigem Dichter war ihm außerdem die größere Welt der persischen Literaturkultur und ihre innere Zirkulation bewusst. So wurden seine Werke in den Zentren der persischen Kultursphäre gelesen; gleichzeitig wurden sie auch von lokalen indischen Kritikern nach individuellen Standards beurteilt. Neben seiner Tätigkeit als Hofdichter war er auch Mitglied eines mystischen Konvents, und in seinem Schaffen musste er auch diese

|| 26 „Persophonie“ und „persische Kosmopolis“ sind beides Versuche, die den vom Persischen beeinflussten östlichen Raum des islamisierten Gebietes als Region zu konzeptualisieren. Während die „Persophonie“ die Rolle des Persischen als lingua franca als definierendes Merkmal der Region sieht, steht die „persische Kosmopolis“ in der Tradition der von Sheldon POLLOCK geprägten „Sanskrit cosmopolis“, und betrachtet den persischen Kulturraum als Gebiet, das durch eine gemeinsame Weltanschauung geprägt wurde. Da Literatur nicht allein durch ihre Sprache, sondern auf aufgrund der in ihr vermittelten Werte rezipiert wird, soll für den vorliegenden Artikel der persische Kulturraum im Sinne der Kosmopolis verstanden werden, als „an aesthetic and literary sensibility, together with an integrated understanding of moral and social order that was informed […] by ideas and values that spread through the circulation of canonical Persian texts and the growth of populations that used Persian in speaking, reading and writing.“ Richard M. EATON, The Persian cosmopolis (900–1900) and the Sanskrit cosmopolis (400–1400), in: Abbas AMANAT u. Assef ASHRAF (Hgg.), The Persianate world. Rethinking a shared sphere, Leiden 2018, S. 63–83, hier S. 64. Vgl. auch Bert G. FRAGNER, Die Persophonie. Regionalität, Identität und Sprachkontakt in der Geschichte Asiens (ANOR 5), Berlin 1999. 27 Abbas AMANAT, Remembering the Persianate, in: Abbas AMANAT u. Assef ASHRAF (Hgg.), The Persianate world. Rethinking a shared sphere. Leiden 2018, S. 15–62, hier S. 29–37.

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beiden Lebenswelten ausbalancieren.28 Amīr Ḫusraus Hauptintention war es, sich am Standard Niẓāmīs zu messen und sich auf diese Weise als Dichter zu etablieren, doch wollte er dies mit Werken erreichen, die für sein eigenes Milieu mehr Relevanz hatten. Seine Epen tragen fast dieselben Titel wie die Niẓāmīs, doch änderte er den Titel der Nachdichtung von ‚Maḫzan al-asrār‘ und er dreht die Namen der Liebespaare um, um sie von der Vorlage zu unterscheiden: ‚Maṭlaʿ al-anvār‘ (‚Aufgehendes Licht‘) (1298), ‚Šīrīn-u Ḫusrau‘ (‚Šīrīn und Ḫusrau‘) (1299), ‚Maǧnūn-u Laylī‘ (‚Maǧnūn und Laylī‘) (1299), ‚Āʾina-yi Iskandarī‘ (‚Alexandrinischer Spiegel‘) (1300) und ‚Hašt bihišt‘ (‚Acht Paradise‘) (1301). Die Epen seiner ḫamsa unterscheiden sich in der Handlung nur geringfügig vom Prototyp Niẓāmīs, doch der Schwerpunkt liegt weniger auf der Charakterentwicklung der Protagonisten als auf dem Vorantreiben der Handlung. Wodurch sie sich am meisten von der Vorlage abheben, ist die kulturelle Färbung, welche in ‚Hašt bihišt‘ am augenfälligsten ist, in das er mündlich überlieferte Erzählungen seiner Heimat integrierte.29 Dass Amīr Ḫusrau mit seiner ḫamsa noch ein weiteres Ziel verfolgte, lässt sich mit Blick auf die literarische Landschaft erkennen, in der sich zu jener Zeit zwei epische Strömungen herausbildeten: das muslimische Eroberungsepos und das hinduistische Widerstandsepos. Die beiden Formen hatten ihre Wurzeln in unterschiedlichen Sprachen, Religionen, kulturellen und historischen Sichtweisen, und standen sich in aggressiver Feindschaft gegenüber. Die eine entwickelte sich in der Ignoranz der anderen und bis auf ein paar Ausnahmen gab es keine Annäherung der Leserschaft.30 Amīr Ḫusrau bekannte sich in seinen Schriften offen zu einer politischen Intention,31 welche in Einklang mit dem Vorhaben stünde, eine islamische Literaturtradition einzuführen, um sie jener Hindi-Tradition entgegenzustellen. Nach der Pentalogie verfasste Amīr Ḫusrau noch fünf weitere Epen, die das Genre der historischen Epik begründeten, in der das ‚Šāh-nāma‘ als historisches Narrativ und die romantischen Epen Niẓāmīs miteinander verschmelzen.32 Er konsolidierte damit eine unabhängige indo-persische Literaturtradition, die zwar von der iranischen abstammte, ihre Verbindungen zur vorislamischen lokalen Literatur aber nicht verloren hatte.

|| 28 Sunil SHARMA, Amir Khusraw. The poet of Sufis and Sultans (Makers of the Muslim world), Oxford 2005, S. 38, 53. 29 Ebd., S. 23–58. 30 Aziz AHMAD, Epic and counter-epic in Medieval India, in: Journal of the American Oriental Society 83 (1963), S. 470–476, hier S. 470. 31 In ‚Iʿǧāz-i ḫusravī‘ (1319), seiner Abhandlung über Rhetorik, schreibt er: „the Rāi became hot at their words and thus disclosed the fire that burnt in their chest: ‘Our old and respectable fire-worshippers, the lamps of whose minds burnt bright, have said clearly that never can the Hindu stay before the Turk, or fire before water.’“ (Übersetzung ebd.). 32 Sunil SHARMA, Amir Khusraw and the genre of historical narratives in verse, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 22 (2002), S. 112–118, hier 112–113.

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Während die persische Literatur in Indien Fuß fasste, führte im iranischen Kernland der Einfall der Mongolen zur Zerstörung der etablierten Verbreitungsnetzwerke. Der Effekt auf die literarische Landschaft war nicht in allem negativ, so lieferte er durchaus einen neuen Impetus für die Betonung des Regionalen, doch er bedeutete gleichzeitig das vorläufige Ende für den Kosmopolitismus der frühen indopersischen Literatur. In den Nachwehen dieser historischen Zäsur verfasste Ḫwāǧū Kirmānī (1290– ca. 1350) in den Jahren 1331–1345 die dritte ḫamsa der persischen Literaturgeschichte. Ḫwāǧūs Leben und Werk waren von der Dichotomie von Hof und Mystik geprägt: Während er auf der Suche nach Patronage umherreiste, war er Anhänger eines SufiKonvents. Ḫwāǧū konnte nicht mehr auf dasselbe Verbreitungsnetz wie Niẓāmī zurückgreifen, doch ist insgesamt unklar, in welchem Radius seine Werke rezipiert und weitergetragen wurden. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund interessant, dass er das erste Werk seiner Pentalogie, die Romanze ‚Humāy-u Humāyūn‘ (‚Humāy und Humāyūn‘) (1331) am Hof der Ilkhaniden (1260–1335) in Bagdad verfasste, bevor er über Tabriz und Isfahan nach Schiraz ging. Die Titel seiner Epen unterscheiden sich gänzlich von denen Niẓāmīs oder Amīr Ḫusraus. Eine Nachdichtung ist nur das dritte Epos ‚Raużat al-anvār‘ (‚Garten der Lichtstrahlen‘) (1342), das nach dem Vorbild von Niẓāmīs ‚Maḫzan al-asrār‘ verfasst wurde, und in dem Ḫwāǧū sich in dessen Nachfolge stellt. Von den übrigen vier Epen steht nur ‚Gul-u Naurūz‘ (‚Gul und Naurūz‘) (1341) in loser Verbindung zu Niẓāmī, da es ein romantisches Epos ist, das ‚Ḫusrau-u Šīrīn‘ in der Wahl des Metrums folgt. Das ‚Kamāl-nāma‘ (‚Buch der Perfektion‘) (1343) ist eine mystische Erzählung, und im ‚Gauhar-nāma‘ (‚Buch der Edelsteine‘) (1345) setzt er den Schwerpunkt auf das Genre des dah-nāma („zehn Briefe“),33 ein Genre, das bis dato noch nicht im zentralen Fokus eines Epos stand und bis dato auch nicht für die Vermittlung eines mystischen Inhalts gebraucht wurde.34 Ḫwāǧūs Pentalogie stellt einen Bruch dar, da sie die von Amīr Ḫusrau begründete Bindung von Form und Inhalt aufbrach, und das ḫamsaKonzept dadurch ein Stück weit von Niẓāmī löst. Seine Gründe kann man nur vermuten, da sich aus den vorhandenen Texteditionen seiner Pentalogie keine Rückschlüsse auf die Beweggründe schließen lassen, ebenso wenig kann man klären, ob Ḫwāǧū von Anfang an die Intention hatte, eine Pentalogie zu verfassen, oder ob sich die Idee erst mit der Zeit entwickelte. Ein Indiz ist, dass zwischen der Abfassung von ‚Humāy-u Humāyūn‘ und ‚Gul-u Naurūz‘ zehn Jahre liegen, zwischen den darauffolgenden Epen aber je nur ein Jahr. Ein konkreter Hinweis auf den literarischen

|| 33 Ein dah-nāma ist ein poetisches Werk in masnavī-Form, in das ġazals eingebettet sind, deren Thema der Briefwechsel zwischen zwei Liebenden ist. Hierzu T. GANJEÏ, The genesis and definition of a literary composition. The Dah-nāma, in: Der Islam 47 (1971), S. 59–66. 34 Teresa FITZHERBERT, Khwājū Kirmānī (689–735/1290–1352). An éminence grise of fourteenth century Persian painting, in: Iran 29 (1991), S. 137–151, hier 138–139.

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Geschmack jener Epoche findet sich immerhin bei Ḫwāǧūs Zeitgenossen Salmān Savuǧī (1291–1377), der Vorwort seiner Nachdichtung von ‚Ḫusrau-u Šīrīn‘ schrieb, dass die Themen Niẓāmīs den ‚Schein von altem Silber‘ hätten.35 Es scheint demnach eine Kontroverse über die Epen Niẓāmīs gegeben haben, auf welche die Dichter des 14. Jahrhunderts reagierten. Ḫwāǧūs Reaktion darauf ist die bewusste Einführung neuer Themen und inhaltlicher Experimente, ihre Kongruenz lässt darauf schließen, dass er die Innovation suchte. Der Hinweis, dass die Werke Niẓāmīs als nicht mehr aktuell empfunden wurden, findet sich auch ein Jahrhundert später bei Ǧamālī, der seine Pentalogie als Antwort (ǧavāb) auf Niẓāmī konzipierte. Seine Epen folgen im Metrum und der narrativen Struktur der Vorlage, aber sie unterscheiden sich sowohl von den Titeln her als auch thematisch: ‚Tuhfat al-abrār‘ (‚Geschenk der Frommen‘) ist eine Antwort auf ‚Maḫzan al-asrār‘, ‚Mihr-u Nigār‘ (‚Mihr und Nigār‘) (1403) behandelt als Antwort auf ‚Ḫusrau-u Šīrīn‘ die Liebesgeschichte von König Mihr von Isfahan zu Prinzessin Nigār, ‚Maḥzūn-u Maḥbūb‘ (‚Maḥzūn und Maḥbūb‘) (1411–12) erzählt im Stil von ‚Laylī-u Maǧnūn‘ von der leidvollen Liebe des arabischen Prinzen Maḥzūn zu seiner Geliebten Maḥbūb, ‚Haft aurang‘ (‚Sieben Throne‘ und der persische Name für das Sternbild des Großen Bären) (1417–18) ist die ǧavāb auf ‚Haft paykar‘ mit Dārā, dem Sohn Alexanders des Großen, als Protagonisten, schließlich ist ‚Tārīḫ-i iskandarī‘ (‚Alexandrinische Geschichte‘) Ǧamālīs Antwort auf das ‚Iskandarnāma‘.36 In den Epen finden sich Verweise zu Firdausī, Amīr Ḫusrau, Ḫwāǧū und mündlich überlieferten Volkserzählungen. Er äußert sich in seinen Epen auch über Niẓāmī, dessen Werk er zu erneuern versuche, da dieser jedoch bereits die schönsten Erzählungen in einer unübertrefflichen Weise Versform übertragen habe, habe er bei Beibehaltung der äußeren Form die Charaktere ausgetauscht. Ǧamālī reagierte mit seiner Adaption auf die Erwartungen seiner Epoche, es ist eine „Revitalisierung der ḫamsa-nivīsī“37, gleichzeitig wird dadurch, dass in ihr als intertextuelle Form eine weitere intertextuelle Praktik – die ǧavāb-Dichtung – integriert wird, die am tiefsten greifende Mutation vollzogen. Der Schwerpunkt entfernt sich dadurch von der Beibehaltung der Tradition hin zu einem literaturtechnischen Experiment.38 Ǧamālī wurde einige Jahre später von dem letzten großen Epiker des persischen Mittelalters Tribut gezollt: Ǧāmī (1414–1492) gab seiner sabʿa den Namen ‚Haft aurang‘, den Titel von Ǧamālīs viertem Epos, was auf die Rezeption dessen ḫamsa in kulturellen Zirkeln hinweist. Einen Nachhall findet man ebenfalls in ‚Tuḥfat

|| 35 TOUTANT (Anm. 20), S. 303. 36 Paola ORSATTI, The ḫamsah ‘quintet’ by Ǧamālī. Reply to Niẓāmī between the Timurids and the Qarā-Qoyunlu, in: Oriente Moderno 76 (1996), S. 387–413, hier S. 388–406. 37 TOUTANT (Anm. 20), S. 306. 38 Ebd.

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al-aḥrār‘ (‚Geschenk der Freien‘), der an Ǧamālīs ‚Tuḥfat al-abrār‘ (‚Geschenk der Frommen‘) erinnert.39 Ǧāmī selbst war sowohl Hofdichter am Hof der Timuriden (1370–1507) in Herat als auch Mitglied des Naqšbandī-Ordens. Von Ǧāmīs Heptalogie sind drei Epen – ‚Tuḥfat al-aḥrār‘ (1481), ‚Laylī-u Maǧnūn‘ (‚Laylī und Maǧnūn‘) (1484) und ‚Ḫirad-nāma-yi Iskandarī‘ (‚Weisheitsbuch Alexanders‘) (1485) – aus der ḫamsa Niẓāmīs, ergänzt werden diese von den mystisch-didaktischen Epen ‚Silsilat al-zahab‘ (‚Ketten aus Gold‘) (1458) und ‚Subḥat al-abrār‘ (‚Gewänder der Frommen‘) (1481), sowie von den romantischen Epen ‚Yusuf-u Zulaiḫa‘ (‚Yusuf und Zulaiḫa‘) (1483) und ‚Salāman-u Absāl‘ (‚Salāman und Absāl‘) (1480).40 Ǧāmī erprobte sein Können in allen Arten der Dichtung, um seine Grundthese zu beweisen, dass das Leben eines Werkes nicht in seiner Form (ṣurat) bestünde, sondern in seiner inhaltlichen Tiefe (maʿanī). Er wollte beweisen, dass die klassische Form nicht gestorben sei, sondern dass ein fähiger Dichter sie wiederbeleben und ihr Gehalt verleihen konnte.41 Es herrscht noch heute eine rege und hoch polarisierte Kontroverse über Ǧāmīs Rolle innerhalb der persischen Literaturgeschichte, festgehalten werden kann jedoch, dass er sich zeit seines Lebens darum bemühte, die literarische Tradition zu konsolidieren, und eine Basis für spätere Innovationen zu legen.42 Der letzte Verfasser einer ḫamsa vor der Machtübernahme der Safawiden (1501– 1722) war Ǧāmīs Neffe Hātifī, allerdings wurden nur vier seiner fünf Epen überliefert. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf romantischer Epik liegt, und Hātifīs Innovation sich im Genre der Historiographie befinden, soll er hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden.43

6 Schlusswort In der Praxis der literarischen Nachahmung nimmt die ḫamsa-Dichtung eine besondere Stellung ein. Ḫamsas wurden lange als bloße Kompilationen mit epigonischem Charakter betrachtet, doch stehen sie für eine intrinsische Dynamik, die die persische Literaturtradition sowohl konservierte als auch innovierte. || 39 ORSATTI (Anm. 36), 410–411. 40 Paul E. LOSENSKY, Jāmi. i. Life and works, in: Iḥsān YĀRŠĀTIR (Hg.), Encyclopaedia Iranica. New York, S. 469–475, hier S. 470–474. 41 Jan RYPKA, Iranische Literaturgeschichte (Iranische Texte und Hilfsbücher 4), Leipzig 1959, S. 277; BÜRGEL (Anm. 13), S. 313. 42 LOSENSKY (Anm. 40), S. 474. 43 Die Innovation von Hātifīs ḫamsa ist das ‚Ẓafar-nāma‘, auch ‚Tīmūr-nāma‘ genannt, welches den Platz des ‚Iskandar-nāma‘ einnimmt. Das Epos preist die Taten Tīmūrs in Übereinstimmung mit den Hauptwerken der timuridischen Historiographie, und gilt als Entstehungspunkt eines neuen historiographischen Genres. Michele BERNARDINI, Hātefi, ʿAbd-Allāh, in: Iḥsān YĀRŠĀTIR (Hg.), Encyclopaedia Iranica, New York, S. 55–57, hier S. 56.

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Für den Autor diente eine ḫamsa in erster Linie zur Profilierung und Legitimation: Sie gab ihm die Möglichkeit, sein Können zur Schau zu stellen und seinen Platz in der Reihe seiner Vorgänger zu beanspruchen. Doch sie bot ihm auch die Möglichkeit, neue literarische Diskurse zu kreieren, oder literarische Traditionen zu importieren, was durch die Assimilierung von Stoffen geschah. Trotz der Vakanz eines theoretischen-methodologischen Rahmens scheint ein gedankliches Konzept für das Zusammenstellen einer ḫamsa existiert zu haben, da sie in ihrer intertextuellen Ausrichtung immer eine harmonische Entität darstellte. Für die Leserschaft war eine ḫamsa eine Momentaufnahme der literarischen Landschaft einer Epoche. Sie gab Aufschluss über das literarische Erbe sowie über den Umgang mit demselben. Obwohl die ḫamsa-Dichtung eine distinktiv persische Erscheinung ist, finden sich in ihr noch Bezüge zu dem von der arabischen Literaturkritik etablierten Rahmen. In beiden Traditionen spielt das Studium des Kanons eine bedeutende Rolle, was aus der Auffassung von Literatur als Handwerk resultiert. Auch in der persischen Epik wurden Topoi als allgemeines Gut betrachtet, deren Urheberschaft demjenigen zugeschrieben wurde, der sie als erstes verwendete, was die prototypische Stellung der Pentalogie von Niẓāmī beweist. Darüber hinaus hatten auch die persischen Autoren ein allgemeines Ziel, doch war dieses Ziel weniger die literarische Perfektion, sondern die Weitergabe der iranischen Identität, die sich im Laufe der klassischen Periode immer wieder gegen Fremdeinflüsse und Fremdherrschaft behaupten musste. Die ḫamsa-Dichtung ist das Produkt des gesamten perso-kulturellen Kulturraumes, sowohl in ihrer Verbreitung als auch ihrer Rezeption von Werten. Dieser andauernde Transfer ging allerdings mit einem Verlust des von Niẓāmī kreierten Universalismus einher, der sich für den Preis der Rezeption mit jeder weiteren lokalen Adaption verringert. Durch die ḫamsa-Dichtung fand in jedem Jahrhundert eine Neukonzeptualisierung von Stoffen und Themen statt, der der Forschung einen neuen Zugang zur klassischen persischen Literaturgeschichte eröffnen kann. Man kann jede ḫamsa vielleicht als identitätsstiftenden Fixpunkt innerhalb der persisch-literarischen Literaturgeschichte sehen, durch die jeder Autor sein Werk nicht nur in einen zeitgenössischen Kontext, sondern auch über Niẓāmī und dessen Rezeption von Firdausī in einen Bezug zu den Anfängen der persischen Epik und ihren vorislamischen Wurzeln stellt. Der abschließende Punkt, der für die ḫamsa-Dichtung bezeichnend und für ihren Erfolg verantwortlich ist, ist ihr Respekt gegenüber der Vergangenheit. Ḫamsas empfingen das literarische Erbe und machten es für eine neue Generation von Lesern zugänglich. Die Vergangenheit wurde als Lehrer gesehen, dessen Lehren nie an Aktualität verlieren sollten. Es war letztendlich dieser Respekt, der die persische Literaturtradition innovierte, konsolidierte, und in andere Länder weitertrug.

Susanna Fischer

Hugo Primas’ Troja Imitation und Innovation Abstract: My contribution is concerned with the ninth poem ‘Urbs erat illustris’ of Hugo Primas. After introductory remarks on Hugo Primas, I will give an overview of the poems on Troy from 12th century I will address in my interpretation. Then, I will look at the two mythological poems on Troy and Ulysses and explore the possibility of a connection between these poems as well as the transmission of the poems. The central part of my paper is a new interpretation of ‘Urbs erat illustris’. It is my aim to show how the literary tradition of the myth of Troy is not only imitated, but remodeled in this poem and something new is created. Keywords: Hugo Primas, Troy, Latin poetry of the 12th century

Trojas Ruinen faszinieren Autoren von der Antike bis ins Mittelalter und darüber hinaus. Ob man an Caesars Besuch an diesem Ort denkt, den Lucan im 9. Buch von ‚De bello civili‘ beschreibt, oder Alexanders in Walter von Châtillons ‚Alexandreis‘. Die Ruinen von Troja sind auch das Thema des Gedichts ‚Urbs erat illustris‘ von Hugo Primas aus dem 12. Jahrhundert, das im Zentrum meines Beitrags stehen wird. Als erstes gehe ich einführend der Frage nach, wer Hugo Primas ist, zweitens werde ich einen kurzen Einblick in die Trojadichtung des 12. Jahrhunderts geben und die Gedichte nennen, auf die ich mich in meiner Interpretation beziehe. Danach spreche ich über einen möglichen Zusammenhang der zwei Gedichte von Hugo Primas, die sich mit Troja und Odysseus befassen. Im Zentrum meines Beitrags steht die Interpretation des Gedichts ‚Urbs erat illustris‘. Es ist mein Ziel zu zeigen, wie die literarische Tradition des Mythos in dem Gedicht nicht nur imitiert, sondern modelliert wird und so etwas Neues entsteht. Ein Grund dafür, dass es bisher keine Einzelinterpretation des 9. Gedichts gibt, könnte das Urteil von CURTIUS sein, das in der weiteren Literatur nachwirkte,1 nämlich, dass es sich hierbei um rhetorische Schulübungen handle. Hier wird

|| 1 Ernst Robert CURTIUS, Die Musen im Mittelalter, in: Zeitschrift für romanische Philologie 59 (1939), 129–188, hier S. 132, Anm. 4. Ronald E. PEPIN, Literature of Satire in the Twelfth Century. A Neglected Mediaeval Genre, Lewiston, NY 1988, hier S. 75. || Susanna Fischer, Abteilung für Griechische und Lateinische Philologie, LMU München, GeschwisterScholl-Platz 1, D-80539 München, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-009

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offensichtlich Schuldichtung2 von (besserer) ‚echter‘ Dichtung abgrenzt. Das Urteil hängt mit dem Thema zusammen, denn die antithetische Darstellung des Sturzes von Troja ist ein Topos, der auch in rhetorischen Schriften genannt. In Marbods von Rennes Schrift ‚De ornamentis verborum‘, in der verschiedene rhetorische Figuren beschrieben werden, wird z. B. die exclamatio mit dem Beispiel Trojas erläutert: O Asiae flos, Troia potens! O gloria quae nunc / in cineres collapsa iaces!3 Dagegen will ich in meiner Interpretation die Originalität des Gedichts herausarbeiten, die sich im Umgang mit der klassischen Tradition und der mittelalterlichen Rezeption des Trojastoffes zeigt. Dieses Gedicht geht weit über das Übliche hinaus. Die Interpretation wird zeigen, wie Hugo Primas die klassische Tradition und die mittelalterliche Rezeption des Trojamythos adaptiert. In der mittellateinischen Literatur ist allgemein Imitation4 wichtiger als Inspiration, nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen, da besonders die Lektüre von Modellautoren beim Erlernen eine Rolle spielte.5 Imitation, die man mit Carmen CARDELLE DE HARTMANN als „kreative Imitation“ bezeichnen kann, ist daher zu verstehen als eine Adaption in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht, die etwas Neues erschafft.6

|| 2 Zu „Schuldichtung“ vgl. Peter STOTZ, Dichten als Schulfach – Aspekte mittelalterlicher Schuldichtung, in: Mittellateinisches Jahrbuch 16 (1981), S. 1–16. Nikolaus HENKEL, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte: ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, München 1988. 3 Marbodo di Rennes, De ornamentis verborum. Liber decem capitulorum. Retorica, mitologia e morali-tà di un vescovo poeta (secc. XI–XII), hrsg. v. Rosario LEOTTA, Florenz 1998, hier S. 6. Siehe auch The Arundel Lyrics: The Poems of Hugh Primas, ed. and trans. by Christopher J. MCDONOUGH, Cambridge, MA 2010, S. 253, zu Vers 11–12. Vgl. Galfred von Vinsauf, Documentum 3,25, Galfred von Vinsauf, Documentum de modo et arte dictandi et versificandi, hrsg. v. Edmond FARAL, in: DERS., Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge, Paris 1924, S. 263–320, hier S. 276. Troia, flos Asiae, auch bei Baudri von Bourgueil (carmen 7, 142), vgl. überhaupt das Lob Trojas in carmen 7, 95 f. Edition: Baudri de Bourgueil, Poèmes, Tom. 2, Texte établi, traduit et comm. par Jean-Yves TILLIETTE, Paris 1998–2002, hier Bd. 1. 4 Zur imitatio im Mittelalter vgl. Andreas BÜTTNER u. a. (Hgg.), Nachahmen im Mittelalter. Dimensionen – Mechanismen – Funktionen, Köln 2017. Carmen CARDELLE DE HARTMANN, Kreative Imitation. Die dramatica series der Roswitha von Gandersheim, in: Mittellateinisches Jahrbuch 50 (2015), S. 359–378, hier S. 359–366. Luisa LEESEMANN, Poetria nova oder: Die Poetik des Neuen. Originalität als Moment literarischer Kritik im lateinischen Hochmittelalter, in: Mittellateinisches Jahrbuch 48 (2013), S. 55–88. Hans Joachim SCHMIDT (Hg.), Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter, Berlin, New York 2005. Jan ZIOLKOWSKI, The highest form of compliment: imitatio in medieval latin culture, in: Poetry and philosophy in the Middle Ages. A Festschrift for Peter Dronke, hrsg. v. Jon MARENBON, Leiden 2001, S. 293–307. Alexandru CIZEK, Imitatio et tractatio. Die literarischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994. 5 So CARDELLE DE HARTMANN (Anm. 4), S. 364–365. 6 CARDELLE DE HARTMANN (Anm. 4), S. 365, die mit dem Begriff an Alfons Reckermann anknüpft: Alfons RECKERMANN, Das Konzept kreativer imitatio im Kontext der Renaissance-Kunsttheorie, in: Walter HAUG u. Burghart WACHINGER (Hgg.), Innovation und Originalität, Tübingen 1993, S. 98–132.

Hugo Primas’ Troja | 143

1 Hugo Primas „We are in the realm of ghosts.“7 In einem Aufsatz über Golias und andere Pseudonyme werden die Dichter, die mit den Ehrentiteln Primas, Golias oder Archipoeta bezeichnet werden, als Geister charakterisiert, da man die unterschiedlichen Zeugnisse über Dichter mit diesen Pseudonymen jeweils schwerlich einer einzelnen historischen Person zuordnen kann. Auch über die Identität des Hugo8 mit dem lateinischen Pseudonym Primas wissen wir nichts Genaues. Seine Lebensdaten liegen ungefähr in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. In einem Zusatz zu einer französischen Chronik des Richard von Poitiers aus dem Jahr 1171 wird ein Dichter mit Namen Hugo zunächst in Verbindung mit Paris, dann mit Orléans gebracht. Dieses Zeugnis scheint nahe an der Lebenszeit des Dichters zu liegen, doch man kann aufgrund wörtlicher Anklänge vermuten, dass die Informationen aus seinen Gedichten entnommen wurden:9 His etenim diebus viguit apud Parisius quidam scolasticus Hugo nomine a conscolasticis Primas cognominatus, persona quidem vilis, vultu deformis. Hic a primaeva aetate litteris secularibus informatus, propter faceciam suam et litterarum noticiam fama sui nominis per diversas provincias divulgata resplenduit.10

Weitere Autoritäten stellen den Zusammenhang mit Orléans her, das im 12. Jahrhundert ein Zentrum für das Studium antiker Autoren war. Aufgrund der unspezifischen Zeugnisse und Zuschreibungen seit dem 13. Jahrhundert, die sich nicht mehr auf die Person des Dichters Hugo Primas beziehen lassen, ist es schwierig, dessen Oeuvre zu bestimmen. 23 Gedichte werden Hugo Primas zugeschrieben,11 da sie

|| 7 Arthur George RIGG, Golias and other Pseudonyms, in: Studi medievali 3a serie 18 (1977), S. 65–10, hier S. 65. Vgl. über Hugo Primas schon Wilhelm MEYER: Die Oxforder Gedichte des Primas, hrsg. v. Wilhelm MEYER, in: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse (1907), S. 75–111, S. 113–175, hier S. 75. 8 Zu Hugo Primas vgl. die Einführungen in den Editionen von MEYER und MCDONOUGH: MEYER (Anm. 7); The Oxford poems of Hugh Primas and the Arundel lyrics, hrsg. v. Christopher J. MCDONOUGH, Toronto 1984 sowie in der Übersetzung der Gedichte: MCDONOUGH (Anm. 3). Siehe auch die unveröffentlichte Dissertation von Marian WEIß, Die mittellateinische Goliardendichtung und ihr historischer Kontext: Komik im Kosmos der Kathedralschulen Nordfrankreichs, Universität Gießen 2018, hier S. 62–70, URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2018/13626/ (01.09.2020). 9 Vgl. Francis CAIRNS, The addition to the Chronica of Richard of Poitiers, in: Mittellateinisches Jahrbuch 19 (1984), 159–161. Jean-Yves TILLIETTE, Autobiographie en vers? Lyriques et élégiaques du XIIe siècle, in: L’autobiografia nel Medioevo. Atti del XXXIV Convegno storico internazionale. Todi, 12–15 ottobre 1997, Spoleto 1998, S. 131–154, hier S. 137. 10 Richard von Poitiers, Cronica, hrsg. v. G. WAITZ, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 26, Hannover 1882, hier S. 81. 11 Vgl. WEIß (Anm. 8), S. 64–70. Ein weiteres Gedicht des Hugo Primas ist vermutlich die sogenannte „Kleidermetamorphose“, vgl. dazu Carsten WOLLIN, Mutabilität in der lateinischen Dichtung

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gemeinsam in einer Handschrift aus der Bodleian Library, Oxford (Rawlinson G 109) überliefert sind.12 Im Text von acht Gedichten der 23 wird der Ehrentitel „Primas“ genannt. Themen der Gedichte sind neben Kritik am Klerus die Liebe, Trinken und Würfelspiel. Bekannt sind die sogenannten „Mantelgedichte“,13 in denen ein solcher gewünscht, erbeten oder beschrieben wird. Daneben stehen drei Gedichte mit mythologischem Inhalt. Ein Gedicht über Orpheus und Eurydike, eines über Troja (‚Urbs erat illustris‘) und ein Odysseusgedicht (‚Post rabiem rixe‘).14

2 Troja in den Gedichten des Hugo Primas und im ‚Codex Buranus‘ ‚Urbs erat illustris‘, das neunte Gedicht in der Handschrift aus Oxford, ist eine in Hexametern verfasste Klage um Troja. Sie besteht aus zwei Teilen, die durch einen deutlichen Bruch voneinander abgetrennt sind. Im ersten Teil, den Versen 1–37, wird in plakativen Gegensätzen der einstige Zustand Trojas kontrastiert mit Troja als Ruine.15 Im zweiten Teil, den Versen 38–58, blickt das Gedicht zurück auf die Zeit

|| des Hochmittelalters. Die Kleidermetamorphosen des Hugo Primas und des Archipoeta, in: Sacris erudiri 40 (2001), S. 329–413. In der Forschung wird Hugo Primas getrennt von Primas, einem Pseudonym, das von verschiedenen Dichtern im Anschluss an Hugo Primas verwendet wurde. Vgl. dazu Carsten WOLLIN, Die Epigramme des Primas in der Handschrift London BL Cotton Vespasianus B.XIII, in: Mittellateinisches Jahrbuch 39 (2004), S. 45–69, hier S. 46. Vgl. zu Epigrammen, die Hugo Primas zugeschrieben werden können: ebd. und Carsten WOLLIN, Die Primas-Epigramme der Compilatio singularis exemplorum, in: Jahrbuch für internationale Germanistik, 33,1 (2001), S. 157–185. 12 Vgl. die Edition von MCDONOUGH (Anm. 8). Die Gedichte sind nummeriert nach dieser Handschrift. 13 Vgl. zu „Mantelgedichten“: Therese LATZKE, Der Topos Mantelgedicht, in: Mittellateinisches Jahrbuch 6 (1970), S. 109–131. Therese LATZKE, Die Mantelgedichte des Primas Hugo von Orléans und Martial, in: Mittellateinisches Jahrbuch 5 (1968), S. 54–58. 14 Zu den Gedichten vgl. Christopher MCDONOUGH, Orpheus, Ulysses and Penelope in a TwelfthCentury Setting, in: Studi Medievali 31 (1990), S. 85–123. Mary C. UHL, The learned lyrics of Hugh Primas: interpretations of Hugh’s secular latin poems with special reference to the Ars versificatoria of Matthew of Vendome, Ph.D. Diss. Cornell University, 1977. Zu ‚Post rabiem rixe‘ vgl. Christine SCHMITZ, Satirische Heimkehr eines epischen Helden. Odysseus im Gedicht Post rabiem rixe des Hugo Primas, in: Epochen der Satire. Traditionslinien einer literarischen Gattung, hrsg. v. Thomas HAYE u. Franziska SCHNOOR, Hildesheim 2008, S. 55–72 und Scott GWARA, Satire or ‘Bettellyrik’? Horatian Reflexes in Hugh of Orleans’ Post rabiem rixe, in: Mittellateinisches Jahrbuch 27 (1992), S. 211–227. 15 Zu Troja in Ruinen vgl. allgemein Sabine FORERO-MENDOZA, Le Temps des ruines: Le Goût des ruines et les Formes de la conscience historique à la Renaissance, Seyssel 2002, S. 17–30. Silvia FABRIZIO-COSTA (Hg.), Entre trace(s) et signe(s). Quelques approches herméneutiques de la ruine, Bern 2005.

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des Sturzes Trojas. Die Situation des zehnten Gedichts, ‚Post rabiem rixe‘, ist Folgende: Im 10. Jahr seiner Irrfahrten fragt Odysseus den Seher Teiresias, ob er nach Hause zurückkehren wird und ob sein Vater, seine Frau und sein Sohn noch am Leben sind. Erzählungen über Troja werden im Mittelalter in vielfältiger Form rezipiert. In der Historiographie lässt sich besonders in Chroniken die Legitimierung des Herrschaftsanspruches durch die Rückführung auf eine trojanische Herkunft von Völkern oder Dynastien beobachten.16 Anspielungen auf den Trojamythos finden wir in der mittellateinischen Literatur häufiger, doch erst ab dem 11. Jahrhundert wird der Stoff in eigenen Gedichten behandelt.17 Ab der zweiten Hälfte des 11. Jahr-

|| 16 Dazu Andrea GIARDINA, Le origini troiane, dall’impero alla nazione, in: Morfologie sociali e culturali in Europa fra tarda antichità e alto medioevo, Spoleto 1998, S. 177–210. Richard WASWO, Our Ancestors, the Trojans: Inventing Cultural Identity in the Middle Ages, in: Exemplaria 7 (1995), S. 269–290. František GRAUS, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Willi ERZGRÄBER (Hg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongreßakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989, S. 25–43. 17 Das älteste mittelalterliche Trojagedicht, von dem wir wissen, ist nicht erhalten oder nicht identifiziert. Gottfried von Reims († 1095) beschreibt es in einem poetischen Brief an einen Odo Aurelianensis. Odo erscheint Gottfried im Traum und liest aus seinem Trojagedicht vor, dessen Inhalt im Brief in einigen Distichen (carmen 2, 173–176) zusammengefasst wird. Vgl. dazu Elmar BROECKER, Gottfried von Reims, kritische Gesamtausgabe, mit einer Untersuchung zur Verfasserfrage und Edition der ihm zugeschriebenen Carmina, Frankfurt a. M. 2002, S. 173–176. Dazu und zu weiteren Gedichten Gottfrieds im Zusammenhang mit Troja vgl. Marek Thue KRETSCHMER, ‘Puer hic’, ‘ait’, ‘equet Homerum...’: literary appropiations of the Matter of Troy in Medieval Latin Poetry ca. 1070– 1170 (Part 1), in: Mittellateinisches Jahrbuch 48 (2013), S. 41–54, hier S. 50–54. Auch Baudri de Bourgueil nimmt am Ende des 11. Jahrhunderts Bezug auf Troja mit seinem Briefwechsel Helena – Paris und der Beschreibung des Wandteppichs der Adela: carmina 7/8 und carmen 134 in der Edition von TILLIETTE (Anm. 3). Ein weiterer Einzelbrief in dieser Tradition, Laodamia an Achill, ist von einem anonymen Autor überliefert. Vgl. dazu Jürgen STOHLMANN, Deidamia Achilli. Eine Ovid-Imitation aus dem 11. Jahrhundert, in: Alf ÖNNERFORS, Johannes RATHOFER u. Fritz WAGNER (Hgg.), Literatur und Sprache im europäischen Mittelalter. Festschrift für Karl Langosch zum 70. Geburtstag, Darmstadt 1973, 195–231. Vgl. zu Troja in der Literatur des Mittelalters: Werner EISENHUT, Spätantike Troja-Erzählungen. Mit einem Ausblick auf die mittelalterliche Troja-Literatur, in: Mittellateinisches Jahrbuch 18 (1983), S. 1–28. Wim VERBAAL, Homer im lateinische Mittelalter, in: Antonios RENGAKOS u. Bernhard ZIMMERMANN (Hgg.): Homer Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 329–336. Marek Thue KRETSCHMER, Literary Appropriations of the Matter of Troy in Medieval Latin Poetry ca. 1070–1170, in: Mittellateinisches Jahrbuch 49 (2014), S. 383–392. Helena DE CARLOS, De Troya a Roma en la poesía latina medieval, in: Studi medievali 50 (2009), S. 175–190. Kordula WOLF, Troja. Metamorphosen eines Mythos. Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich, Berlin 2009. Thomas HAYE, Legitimationsstrategien mittellateinischer Troja-Epiker. Ein Beitrag zur Deutung antikisierender Dichtung, in: Wiener Studien 116 (2003), S. 203–228. Jean-Yves TILLIETTE, Troiae ab oris. Aspects de la révolution poétique de la seconde moitié du XIe siècle, in: Latomus 58 (1999), S. 405–431. Arianna PUNZI, La circolazione della materia troiana nell’Europa del’200: da Darete Frigio al Roman de Troie en prose, in: Messana 6 (1991), S. 69–108. Zu Odysseus im Mittelalter allgemein vgl. Ronald E. PEPIN, Ulysses

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hunderts werden Troja-Mythen in Frankreich in Nachahmung klassischer Autoren wie Vergil, Ovid oder Lucan erzählt und es entstehen kleinere Dichtungen.18 Zwei davon sind im ‚Codex Buranus‘ überliefert. Bekannt ist der Planctus ‚Pergama flere volo‘,19 der auf um 1100 datiert wird und in 40 Distichen als ‚Carmen Buranum 101‘ neben einigen anderen Trojagedichten überliefert ist. Daneben ist ‚Pergama flere volo‘ in zahlreichen weiteren Handschriften, häufig ebenfalls mit anderen Trojagedichten, zu finden.20 Im Zentrum steht die Klage der Hecuba (22–41), in der auf das gefallene Troja als ein Ort, der von Tieren bewohnt ist, verwiesen wird: Ve ve, Troia, peris! sed iam non Troia videris,/ iam iam bubus eris pascua, lustra feris (Strophe 32).21 Inspiriert von ‚Pergama flere volo‘ ist das Gedicht ‚Viribus arte minis‘ von Petrus Sanctonensis, das in verschiedenen Fassungen von 50–100 Distichen überliefert ist.22 In einem Aufsatz von 1946 zeigte André BOUTEMY die Abhängigkeit des Gedichts ‚Urbs erat illustris‘ von ‚Pergama flere volo‘ und ‚Viribus, arte, minis‘.23 Ebenfalls beeinflusst von den beiden letztgenannten Gedichten ist das zweite Gedicht aus dem ‚Codex Buranus‘, ‚Fervet amore Paris‘ (CB 102). Es besteht aus 29 Distichen und wird Petrus Riga (um 1130–1209) zugeschrieben.24 In epigrammatischem Stil wird der Troja-Stoff stark verkürzt dargestellt.25

|| in the Twelfth Century; in: The Classical Bulletin 62,2 (1986), S. 28–31. Ruedi IMBACH, Odysseus im Mittelalter. Ein paar Hinweise; in: Burkhard MOJSISC u. Olaf PLUTA (Hgg.), Historia Philosophiae Medii Aevi: Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Festschrift für Kurt Flasch zu seinem 60. Geburtstag, Bd. 1, Amsterdam, Philadelphia 1991, S. 409–435. Thomas ZOTZ, Odysseus im Mittelalter? Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels, in: Harro VON STEIGER (Hg.), Die List, Frankfurt a. M. 1999, S. 212–240. 18 Ein Einschnitt im Zusammenhang mit der Benutzung dieser Quellen für die Beschreibung des Troja-Stoffes vollzieht sich um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Nicht mehr die genannten Autoren und die ‚Ilias Latina‘, sondern spätantike Berichte des ‚Exicidium Troiae‘ und vor allem die Berichte der angeblichen spätantiken Augenzeugen Dictys Cretensis oder Dares Phrygicus, deren ‚wahre‘ Texte den figmenta poetarum vorgezogen wurden. Vgl. die Einleitung von Jean-Yves TILIETTE in: L’Iliade. Épopée du XIIe siècle sur la guerre de Troie. Traduction et notes de C. COSME, A. FOURNIER, D. GANGLER, M. GUÉRET-LAFERTÉ, J.-L. JUPINET, L. MATHEY, F. MORA, M. POSSAMAI, O. SZERWINIACK et J.-Y. TILLIETTE, Turnhout 2003, hier S. 5–40. Eine ganze Reihe volkssprachlicher und lateinischer Dichtungen werden auf der Basis dieser Autoren, besonders Dares, geschrieben. 19 Editionen: Carmina Burana. Texte und Übersetzungen, hrsg. v. Benedikt Konrad VOLLMANN, Frankfurt a. M. 1987 und Carmina Burana (3 Bde.), hrsg. v. Alfons HILKA, Otto SCHUMANN u. Bernhard BISCHOFF, Heidelberg 1930–1970. Vgl. dazu André BOUTEMY, Le poeme Pergama flere uolo ... et ses imitateurs du XIIe siècle, in: Latomus 5 (1946), S. 233–244. 20 Vgl. HILKA u. SCHUMANN (Anm. 19), S. 141–149. 21 VOLLMANN (Anm. 19), S. 376. Vgl. MCDONOUGH (Anm. 3), S. 252 zu Vers 2. 22 ‚Viribus arte minis‘ (Petrus Sanctonensis): PL 171, 1451A–1453A, vgl. Edélestand DU MERIL, Poésies populaires latines antérieures au douzième siècle, Paris 1843, S. 400–405. 23 Vgl. BOUTEMY (Anm. 19). 24 Vgl. Carsten WOLLIN, Die Troiagedichte des Petrus Riga in den Carmina Burana (CB 102 und CB 99a), in: Sacris erudiri 43 (2004), S. 393–426. Weitere thematisch mit Troja verbundene Gedichte im

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3 Hugo Primas’ Gedichte über Troja und Odysseus Das neunte Gedicht ist verfasst in leoninischen Hexametern, in versus unisoni, das heißt in Paaren von Hexametern mit vier gleichen Reimen der Zäsuren und der Zeilenschlüsse.26 Den Abschluss des Gedichts bildet ein einzelner Leoniner: Sed iam menbra thoris dare nos monet hora soporis.27 Das in der Oxforder Handschrift folgende Gedicht ‚Post rabiem rixe‘ ist ungefähr doppelt so lang. Es unterscheidet sich in der Form der gereimten Hexameter von Gedicht Nr. 9: Die meisten der 101 Hexameter sind einzelne Leoniner, dazwischen stehen einzelne Paare und einmal drei gereimte Hexameter. Das Gedicht ist inspiriert von der Horaz-Satire 2,5, in der sich ebenfalls Odysseus und Teiresias treffen.28 Es endet mit einer Frage des Odysseus, die unbeantwortet bleibt. Weil das 9. Gedicht mit einem einzelnen Hexameter abrupt endet und das 10. Gedicht mit einer Frage aufhört, die einer Antwort harrt, wurde in der Forschung der Verdacht geäußert, dass beide Gedichte unvollständig, so MEYER in seiner Edition von 1907,29 und ein Bruchstück eines größeren epischen

|| ‚Codex Buranus‘ sind die carmina 98 und 100, die sich hauptsächlich mit der Dido-Episode beschäftigen. 25 Kurze Zusammenfassungen des Troja-Mythos waren im Mittelalter beliebt. Ein amüsantes Beispiel für eine ‚Zusammenfassung‘ ist die Vorgeschichte und Geschichte des Trojanischen Krieges in zwei Zeilen in CB 99a, das auch Petrus Riga zuzuschreiben ist: Armat amor Paridem, vult Tyndaridem, rapit illam; / Res patet, hostis adest, pugnatur, moenia cedunt. Zur Kürze und Kürzung vgl. Julia FRICK, Abbreviatio: Zur historischen Signifikanz von Kürzungsfunktionen in der mittelhochdeutschen höfischen Epik des 13. Jahrhunderts. Eine Projektskizze, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 140 (2018), S. 23–50. Christiane REITZ, Verkürzen und Erweitern – Literarische Techniken für eilige Leser? Die Ilias Latina als poetische Epitome, in: Hermes 135 (2007), S. 334–351. Arthur George RIGG, The long or the short of it? Amplification or abbreviation?, in: The journal of medieval Latin 10 (2000), S. 46–73. 26 An drei Stellen im Gedicht reimen sich nicht nur zwei Hexameter, sondern sogar drei (31–33, 41–43, 51–53). Zur Form des Gedichts vgl. MEYER (Anm. 7), S. 62–63. 27 Vers 28. Ich verwende die Verszählung der Edition von MEYER (Anm. 7). 28 Vgl. Wilhelm MEYER, Zu dem Tiresias-Gedicht des Primas (no. 10), in: Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse (1907), S. 231–245. SCHMITZ (Anm. 14). GWARA (Anm. 14). 29 MEYER (Anm. 7), S. 144. Zur Diskussion vgl. SCHMITZ (Anm. 14), S. 56–59.

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Gedichtes über die Heimkehr des Odysseus seien.30 Die These wird in der Forschung oftmals wiederholt.31 Zwei Interpretationen betonen die Eigenständigkeit des 10. Gedichts. 1992 vertritt Scott GWARA in dem Aufsatz „Satire or Bettellyrik?“ die These,32 dass Hugo Primas seine Vorlage Horaz in ein Bittgedicht umgearbeitet hat: In der Gestalt des Odysseus habe die Dichter-persona ihre Armut karikiert und sich als mythischer Bettler dargestellt.33 Christiane SCHMITZ betont 2008 in einem Aufsatz die satirischen Elemente des Gedichts und zeigt, dass der Abschluss des 10. Gedichtes nicht unvollständig, sondern im intertextuellen Zusammenhang mit der Horaz-Satire logisch ist. Die Horaz-Satire beginnt mit Odysseus’ Frage an Teiresias, wie er sein Vermögen wiederherstellen kann: Hoc quoque, Tiresia, praeter narrata petenti / responde, quibus amissas reparare queam res /artibus atque modis (Horaz, Satire 5, 1–3). Die Vorgeschichte zur Satire des Horaz ist das Thema von ‚Post rabiem rixe‘, vgl. die Worte am Ende: Ergo responde, – quia scis satis et potes –, unde / perdita restaurem.34 Beide Interpretationen betonen die Unabhängigkeit des 10. Gedichts. Gegen MEYERs These35 eines großen Trojagedichts spricht erstens die verschiedene Art der gereimten Hexameter, die die Zusammengehörigkeit zu einem Werk unwahrscheinlich macht,36 zweitens der Anschluss an die Horazsatire. Drittens markiert das Ende des 9. Gedichts einen Abschluss. Gegen MEYERs Annahme, der einzige einzelne leoninische Hexameter am Ende könnte auf die Unvollständigkeit des Gedichts verweisen, lässt sich anführen, dass es sich durchaus um einen bewussten Abschluss handeln kann. Eine mögliche Situation für einen solchen Abschluss37 ist, dass ein Grieche nach einem Abendmahl über Troja erzählt, vergleichbar wäre in der ‚Aeneis‘ der Abschluss der großen Erzählung des Aeneas mit dem Vers am Ende des 3. Buches: Conticuit tandem factoque hic fine quievit (Ver-

|| 30 Vgl. MEYER (Anm. 7), S. 144: „Spricht im 9. Gedicht Ulixes, so fällt die Situation lange nach Trojas Eroberung, in die Nähe des 10. Gedichtes, das im 10. Jahr nach Trojas Fall spielt. Hat der Primas ein größeres Gedicht über die Heimkehr des Ulixes geplant, aber nur diese Bruchstücke ausgeführt? Oder hat er dasselbe wirklich gedichtet und haben die Abschreiber uns nur diese Szenen überliefert?“ Die ‚Bruchstückthese‘ vertritt auch Karl LANGOSCH (Profile des Lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1965, hier S. 251 und S. 253–254). 31 MCDONOUGH erwähnt in seiner Edition von 1984 (Anm. 8), S. 7 noch, dass das 9. Gedicht Teil eines größeren Werkes sein könnte („may be part of a bigger composition“) und dass der Erzähler vermutlich Odysseus sei. In seiner zweisprachigen Ausgabe von 2010 (Anm. 8) weist er darauf nicht mehr hin. 32 GWARA (Anm. 14). 33 Siehe dazu SCHMITZ (Anm. 14), S. 60. 34 Hugo Primas, carmen 10, Verse 99–100 in der Edition von MEYER (Anm. 7). Vgl. dazu ausführlich SCHMITZ (Anm. 14), S. 57. 35 Vgl. SCHMITZ (Anm. 14), S. 56–58. 36 Vgl. schon MEYER (Anm. 7), S. 144, Anm. 1. 37 Vgl. MEYER (Anm. 7) und LANGOSCH (Anm. 8).

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gil, Aeneis 3, 718). Beispiele für scherzhafte Abbrüche am Ende von Gedichten finden sich auch in Horaz Satiren z. B. iam satis est... (1,1,120).38 Als Schlusstopos in mittelalterlichen Gedichten ist der nahende Abend häufig zu finden.39 Auch das Wort perorare in Vers 57 im 9. Gedicht des Hugo Primas verweist auf einen Abschluss. Betrachtet man schließlich viertens die anderen Gedichte des Hugo Primas, scheint ein längeres Epos nicht in sein Oeuvre zu passen, soweit wir das heute sehen. Neben diesen inhaltlichen Aspekten kann fünftens die Überlieferung, die bisher bei diesen Überlegungen noch nicht berücksichtigt wurde, Hinweise auf einen möglichen Zusammenhang geben. Das 9. und das 10. Gedicht sind in zwei Handschriften zusammen überliefert: in der bereits genannten Handschrift aus Oxford (R)40 und in einer Handschrift aus Berlin, jetzt Krakau (B).41 In der Handschrift B ist der Text des 9. Gedichts um drei Hexameterpaare ergänzt. Auch das 10. Gedicht ist in der Handschrift B 16 Verse länger. Während die zwei Gedichte in R im Kontext der Gedichte des Hugo Primas überliefert sind, stehen beide in B inmitten anderer Trojagedichte: neben ‚Viribus arte minis‘, ‚Fervet amore Paris‘ und einer gereimten Umarbeitung der ‚Ilias Latina‘. In B steht das 10. Gedicht vor dem 9. und beide Gedichte sind nicht voneinander abgetrennt. Die weitere Überlieferung von ‚Urbs erat illustris‘, die in den Editionen von MEYER und MCDONOUGH nicht berücksichtigt ist, weist auf den Kontext, in dem es gelesen wurde. Das Gedicht tritt in drei weiteren Handschriften häufig „in enger Verbindung oder in naher Nachbarschaft mit anderen Gedichten auf, die ebenfalls den Fall Trojas oder die Geschichte des Aeneas zum Thema haben.“42 In der Handschrift der Bibliotheca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 2719, fol. 85r aus dem 14. Jahrhundert, steht das ganze Gedicht (hier mit dem Beginn Urbs ruit illustris) nach ‚Pergama flere volo‘ und ‚Viribus arte minis‘. In einer Handschrift aus Cambridge,43 ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert, steht ‚Urbs ruit illustris‘ ohne den letzten einzelnen Hexameter nach ‚Pergama flere volo‘ zwischen ‚Viribus arte minis‘ und ‚Fervet amore Paris‘, das hier ‚Ardet amore Paris‘ heißt.44 In einer Handschrift aus München45 sind drei Hexameterpaare von ‚Urbs erat

|| 38 Vgl. SCHMITZ (Anm. 14), S. 58, Anm. 11. 39 Vgl. Ernst Robert CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1965, S. 100. 40 Oxford, Rawlinson G 109, S. 12–14 (R). Vgl. den Text der Edition von MCDONOUGH (Anm. 8). 41 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, ms. theol. lat. oct. 94, fol. 129b–130b, jetzt Krakau (B). Vgl. den Text der Edition von MEYER (Anm. 7). 42 SCHUHMANN u. HILKA (Anm. 19) in der Edition von Carmen Buranum 101, S. 144. 43 Cambridge, Corpus Christi Coll. 450, S. 198. 44 Es gibt eine Edition aus dem Jahr 1991, Hugonis Primatis Aurelianensis carmen de excidio Troiae, hrsg. v. Hirosius HARADA, in: Studies in language and culture 17 (1991), S. 77–91, die auch diese beiden weiteren Handschriften berücksichtigt. Die Edition ist so angelegt, dass man die unterschiedlichen Versanordnungen in den einzelnen Handschriften gut erkennen kann. Da jedoch alle

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illustris‘ an das Ende des Gedichts ‚Pergama flere volo‘ gestellt, der Text ist ferner mit einzelnen Stücken von ‚Viribus arte minis‘ durchsetzt. Die Rezeption und Überlieferung unterstützen die These, dass das 9. Gedicht nicht als Teil eines größeren Trojaepos zu sehen ist. ‚Urbs erat illustris‘ ist nicht im Zusammenhang mit ‚Post rabiem rixe‘, sondern vielmehr im Kontext anderer Trojagedichte zu untersuchen, in denen der Sturz Trojas thematisiert wird.

4 ‚Urbs erat illustris‘: Hugo Primas’ 9. Gedicht Im ersten Teil des Gedichts, den Versen 1–37, wird in plakativen Gegensätzen der einstige Zustand Trojas kontrastiert mit Troja als Ruine. In den Versen 1–24 wird Troja im Zustand vergangenen Ruhms und als Ruine, bewohnt von Tieren und überwuchert von Pflanzen dargestellt. Die Verse 25–37 wenden sich einem neuen Thema zu, den Edelsteinen, die gemeinsam mit Troja untergingen. Im zweiten Teil, den Versen 38–58, blickt das Gedicht zurück auf die Zeit des Sturzes Trojas. Während in 38–46 über die Gründe reflektiert wird, die zum Untergang führten, beschwören die Verse 47–55 die Episode von Priamus’ Tod herauf, ohne jedoch dessen Namen zu nennen. Das Gedicht endet mit einem Ausdruck von Emotionen und einer plötzlichen letzten Zeile, die das Gedicht in den Kontext einer Erzählung nach einem Gastmahl in einem Epos setzt. Die Pointe des Gedichts ist es, dass ungewöhnlicherweise ein Grieche hier über den Sturz Trojas klagt. Die Identität des Sprechers wird erst in Vers 45 mit der Anspielung auf das Trojanische Pferd (nostris fracta dolis) überraschend enthüllt. Im ersten Abschnitt des Gedichts, in den Versen 1–24 wird in verschiedenen Gegensatzbildern Troja in der Blüte und als Ruine beschrieben. Zwei zentrale Motive sind die Pflanzen und Tiere, die das ehemalige Troja einnehmen. Mit dem Beginn Urbs erat wird das Gedicht in den Kontext ekphrastischer Darstellungen gestellt. Diese Worte leiten in Ovids ‚Metamorphosen‘ (13, 685) eine Ekphrasis ein. Der König von Delos zeigt Ovids Aeneas einen Krater, auf dem die Verwandlung der Töchter Orions dargestellt ist. Mit urbs erat beginnt die Beschreibung der Stadt Theben. Im Zusammenhang mit der Ekphrasis steht in ‚Urbs erat illustris‘ die Visualisierung Trojas: Das Sehen des Zustands der Stadt wird dreimal in diesem Teil des Gedichts erwähnt (in den Versen 10, 15 und 25). Der Sprecher lässt den Zuhörer immer wieder andere, sich übersteigernde Aspekte des zerstörten und von verschiedensten Tieren bevölkerte Troja sehen (videas/videres/dolor est videre), die in anschaulichen Bildern geschildert werden: die Vielzahl der Tiere, welche die || erhaltenen Verse gedruckt werden und deren Reihenfolge keiner der erhaltenen Handschriften genau entspricht, erhalten wir keinen Text, den wir in den Handschriften vorfinden. 45 Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 459, fol. 191v.

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Ruinen bewohnen und die Pflanzen, welche die Ruinen überwuchern. Das Bild des gefallenen Trojas wird in ausdrucksstarken Gegensätzen gezeichnet, die einen Schwerpunkt im Bereich der Natur haben: Die einstige Stadt ist mit Gestrüpp überwuchert (ligustris) und zu Acker- und Weideland geworden (seges und greges). Es zeigt sich an dieser Stelle deutlich die Inspiration durch Hecubas Klage in ‚Pergama flere volo‘.46 Das Motiv der Überwucherung, wird in Vers 17 weiter ausgeführt, der nur in den Handschriften B und V überliefert ist: vepres et spinas veteres operire ruinas. Das Bild der überwucherten Ruinen scheint aus Lucans ‚Bellum civile‘ inspiriert, zu diesem Werk verfasste Arnulf von Orléans im 12. Jahrhundert einen Kommentar in Orléans.47 Im neunten Buch des ‚Bellum civile‘ wird Caesars Besuch der Ruinen Trojas geschildert. In den Versen 964–969 liegt mit exustae Troiae ein wörtlicher Anklang zu exustrix bei Hugo Primas vor. Bei Lucan fehlt jedoch die Betonung des einstigen Glanzes. Sogar die Ruinen werden zerstört durch die Überwucherung, wie Lucan pointiert formuliert: etiam periere ruinae (Lucan. 9, 969). An diese Vorstellung schließen Hugos Verse 23/24 an, die die Überwucherung des einstigen Trojas weiter ausführen und in denen nicht mehr von Ruinen gesprochen wird: Der Boden (humus) ist starr durch Binsengestrüpp und bringt verschiedene Gewächse hervor. Für dieses Bild, die Übernahme der Landschaft durch die Natur, gibt es zahlreiche Parallelen in anderen klassischen und mittelalterlichen Texten.48 Zentrales Thema des Abschnitts sind die Tiere in den Ruinen: In Zeile 6 werden harmlose Tierherden (greges) genannt. Sie werden nun übersteigert durch gefährliche Tiger und wilde Schlangen (nunc domus est tigris, serpentibus hospita diris, 8). Weitere Tiere sind eine Hirschkuh (cerva facit saltus, 11) und ein Löwe, der die Ruinen bewohnt (20). Schließlich: Schaf und Ziege schlafen im Heiligtum Jupiters (22). Auch in klassischen Gedichten hausen wilde Tiere am Ort Trojas, so sind in Junos Rede bei Horaz (carmen 3,3,40 f.) dort eine Viehherde (armentum) und wilde Tiere, wo damals Troja war.49 In anderen Texten, in denen Troja als Ruine im Kontrast zu einstigem Glanz beschrieben wird, ist das Thema kurz gefasst. Beispiele entsprechen üblichen Klagen um gefallene oder zerstörte Städte in der Tradition des Städtelobs, hier ist auch an die Romgedichte Hildeberts von Lavardin50 zu denken. Dort ist dieses Kontrastmotiv

|| 46 Vgl. BOUTEMY (Anm. 19). 47 Vgl. Arnulfi Aurelianensis Glosule super Lucanum, hrsg. v. Berthe Marie MARTI, Rom 1958. Vgl. MCDONOUGH (Anm. 3), S. 252 zu Vers 2. 48 Z. B. in Vergil, Aeneis 8 im Zusammenhang mit dem Platz, an dem Rom stehen wird, oder im Gedicht ‚Viribus arte minis‘: vepres et calami regna tenent Priami (47). 49 Vgl. MCDONOUGH (Anm. 3), S. 252 zu Vers 6. 50 Hildebertus Cenomannensis Episcopus Carmina minora, hrsg. v. A. B. SCOTT, 2. Aufl. München, Leipzig 1969, 2001, dort besonders carmen 36. Vgl. dazu CARLOS (Anm. 17), S. 182. Zur Tradition des Städtelobs vgl. Paolo ZANNA, Descriptiones urbium and elegy in Latin and vernaculars in the Early

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meist in einem oder in wenigen Versen wie in ‚Pergama flere volo‘ untergebracht. Im Vergleich dazu ist das Gedicht des Hugo Primas äußerst detailliert in 24 Versen. Das Stilideal der brevitas, das sich in anderen Trojagedichten wie ‚Fervet amore Paris‘ zeigt, ist hier nicht zu beobachten. Im Gegenteil: Ausführlich und zum Teil übersteigert wird ausgebreitet und dem Rezipienten anschaulich vor Augen gestellt, wie Natur und Tiere die ehemalige Stadt „einnehmen“. Die Schilderung der Tiere in den Ruinen rufen den Bibeltext auf und beschwören Jesajas Vision des untergegangenen Babylons hervor, das im Buch Jesaja als Stadt, die von Tieren bevölkert ist (Jes. 13,21–22), beschrieben wird.51 Babylons Sünde verwendet in Analogie zu Troja wäre ein interessanter Ansatzpunkt, jedoch heißt es bei Jesaja im Gegensatz zu den bei Hugo Primas genannten Herden, dass Hirten am Ort Babylons nicht lagern werden, sondern Wüstentiere (genannt sind Uhus, Strauße, wilde Hunde, Schakale). Auch im Zusammenhang mit dem Gericht an Edom, nach Jesaja 34, werden zahlreiche Tiere genannt, die dessen Ruinen in Besitz nehmen, ebenso Dornen, Nesseln und Disteln. Hier finden sich zwar keine wörtlichen Anklänge, aber deutlich inhaltliche. Zu dem Untergang einer weiteren Stadt, Tyrus, von der in Hesekiel 28 gesprochen wird, im Klagelied über den König von Tyrus, lässt sich ein Zusammenhang herstellen, mit dem sich ein Übergang zu den folgenden Abschnitten des Gedichts ergibt. In Hesekiel heißt es über Tyrus urbs inclita quae fuisti. Die Stadt hat gesündigt (durch Hochmut) und ein König ist involviert. Es werden Edelsteine52 aufgezählt und zwar auch diejenigen, die im 9. Gedicht genannt werden, nämlich Sard, Topaz, Smaragd und Onyx. Edelsteine kommen in der Bibel sehr häufig vor, auch in Bezug auf Babylon oder natürlich Jerusalem, aber die Stelle aus Hesekiel ist zentral. Troja wird so parallelisiert zu einer feindlichen paganen Stadt im Buch Hesekiel.

|| Middle Ages, in: Studi medievali, 3a serie 32 (1991), 523–596. C. J. CLASSEN, Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Hildesheim 1986. 51 Vgl. MCDONOUGH (Anm. 3), S. 252 zu Vers 6. 52 Vgl. Gerda FRIES, Edelsteine im Mittelalter: Wandel und Kontinuität in ihrer Bedeutung durch zwölf Jahrhunderte (in Aberglauben, Medizin, Theologie und Goldschmiedekunst), Hildesheim 1980, hier S. 73 zu Tyrus. Ulrich ENGELEN, Die Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1978. Christel MEIER-STAUBACH, Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert. Teil I, München 1977. Christine RATKOWITSCH, Die Edelsteinsymbolik in der lateinischen Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts Wiener Studien 105 (1992), S. 195–232. Zu diesen Edelsteinen auch Plinius, Naturalis historia 37, z. B. 37, 63–65. Vgl. MCDONOUGH (Anm. 8), S. 42, Anm. 24–25. Vgl. auch den ‚Liber lapidum‘ des Marbod von Rennes: Marbodo de Rennes, Lapidario (Liber lapidum), hrsg. v. Maria Esthera HERRERA, Paris 2005. Zur Vorlage des Edelsteinkatalogs bei Hugo Primas vgl. WOLLIN (Anm. 24), S. 424.

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Dieses biblische Motiv wird mit der klassischen Tradition der Motive um den Sturz Trojas verknüpft. In zwei Textstellen Ovids53 kommt das Motiv der Ruinen Trojas in vergleichbarer Form vor. Im ersten Heroidenbrief lässt Ovid Penelope pointiert schreiben, dass Troja für andere gefallen ist und nur für sie noch stehe – Troja, wo der siegreiche Einwohner mit erbeutetem Rind die Erde pflügt (1, 51 ff.). Hier findet sich das Motiv des zerstörten Trojas als Ackerland, das die Worte iam seges est, ubi Troja fuit (1, 56) plakativ ausdrücken. Im Penelopebrief wird weiter beschrieben, wie die halbbegrabenen Knochen der Toten beim Pflügen an die Pflugschar stoßen:54 semisepulta virum curvis feriuntur aratris / ossa. Auch in einer zweiten Ovid-Stelle, in der Pythagorasrede im 15. Buch der Metamorphosen werden in diesem Zusammenhang die Gräber genannt. Bei Ovid heißt es jedoch, statt Reichtum (pro divitiis) sind dort nun Gräber (met. 15,425). Dieses makabre Bild der Vergänglichkeit nimmt Hugo Primas nicht in das Gedicht auf. In seinem Gedicht finden sich doch divitiae – nämlich die Edelsteine. Der Abschnitt in ‚Urbs erat illustris‘ ab Vers 25 beginnt mit einem Edelsteinkatalog (Topaz, Sard, Smaragd, Onyx), der neben der Bibel inspiriert ist aus einer Version des Gedichtes ‚Viribus arte minis‘ des Petrus von Sanctonensis, in der Topaz und Sard unter den Edelsteinen genannt werden, die zusammen mit Troja untergehen. Wie die Knochen im Penelopebrief tauchen sie im Gedicht des Hugo Primas beim Pflügen auf: inclita Sardonis ictu percussa ligonis (32), durch den Schlag der Hacke. Der Gedanke wird weitergeführt in den Versen 34–37: Die Bauern verkaufen (vendit/venditur) die gefundenen Steine (inventa/repperit), die einst Schmuck eines edlen Ohres (nobilis auris onus oder allgemeiner: magno regibus empta) waren, „für ‘nen Appel und ein Ei“ (pro pane/pro nummo sive placenta). Das Thema wird als Kontrast von Luxus und Landwirtschaft ausgearbeitet. Die dargestellte Vergänglichkeit bezieht sich an dieser Stelle nicht auf die Vergänglichkeit der Menschen, an die die Knochen beim Pflügen erinnern, sondern an die Vergänglichkeit von Glanz und Größe einer Stadt oder der Dinge wie der Edelsteine. Im zweiten Teil des Gedichts, der ab Vers 38 beginnt, wird der Fokus auf die Menschen, die mit der Stadt untergehen, gerichtet. An dieser Stelle ist ein deutlicher Bruch spürbar. Dennoch ist der zweite Abschnitt des Gedichts mit dem ersten verknüpft. Zu Beginn nimmt urbs bene fecunda nulli sub sole secunda (38) das im Gedicht häufig wiederholte Motiv der vergangenen Größe auf mit dem gleichen Hexameterbeginn urbs bene wie in Vers 13 und greift fecunda aus Vers 2–4 auf. Nulli sub sole secunda wiederholt den Gedanken aus Vers 14 unaque de primis.

|| 53 Zu Ovid im Mittelalter vgl. Pierluigi Leone GATTI, Ovid in Antike und Mittelalter: Geschichte der philologischen Rezeption, Stuttgart 2014. James G. CLARK, Frank Thomas COULSON u. Kathryn Lillian MCKINLEY (Hgg.), Ovid in the Middle Ages, Cambridge 2011. 54 Vgl. Zu diesem Bild schon Vergil, Georgica 1, 493–497 im Zusammenhang mit Pharsalos und Philippi.

154 | Susanna Fischer

Mit Vers 39 ändert sich überraschend der Ton des Gedichts und die Klage endet. Der Fall Trojas wird durch die Sünde der Bewohner erklärt, wie im Buch Hesekiel: quod fuit inmunda luit et patitur gemebunda – weil Troja sündhaft war (sorduit in venere). Die überraschende Pointe des Gedichts ist die Verkehrung der üblichen Trojaklage, die von Trojanern, besonders von Trojanerinnen oder von Hecuba gesprochen wird: Nostris fracta dolis (45): durch unsere Listen mit deutlichem Anklang an ‚Aeneis‘ 2, 44 dolis Danaum – doch hier wird klar, dass ein Grieche spricht. Ab Vers 47 berührt das Gedicht wieder ein neues Thema: das Bild des Priamus, der vor dem Altar stirbt, wird aufgerufen – sein Name wird jedoch nicht genannt. Das erscheint etwas ironisch, wurde doch im ersten Abschnitt Jupiters sanctum als Unterschlupf für Schafe bezeichnet. Der Tod des Priamus ist bekannt durch die ‚Aeneis‘. Aber dort (Aeneis 2, 531 f.) wird der trojanische civis nicht als feindlich gegenüber den Göttern dargestellt (hier infensus divis in Vers 47).55 Dies und das Wort rex, das in diesem Abschnitt dreimal genannt wird, evoziert den Sturz eines biblischen Königs, der zusammen mit der sündhaften Stadt und ihren Bewohnern untergeht. Dazu kommt, dass im letzten Abschnitt die Götter auffallend häufig genannt werden, z. B. dis ea displicuere (41, sowie 47, 51, 53). Der Zusammenhang mit dem Göttlichen ruft die in der Bibel erwähnten Prophezeiungen untergegangener Städte auf. Die Worte Credebant miseri superos debere timeri in Vers 51 ruft Augustinus’ Kritik an den Göttern in ‚De civitate dei‘ 1,3 in Erinnerung, wo die Bezeichnung der Götter als besiegte Götter bei Vergil diskutiert wird.56 In diesen Zusammenhang passt die Vorstellung, dass der Aufenthalt am Altar den König und seine Familie nicht retten kann (53). Dieser Gedanke, findet sich nicht in der ‚Aeneis‘, sondern in der Dares-Tradition, nämlich in der ‚Historia Troyana Daretis Frygii‘ eines anonymen Autors, datiert auf um 1150.57 Auch Diomedes, der den toten Priamus auf seinen Wagen lädt (in Vers 55), wird in der ‚Aeneis‘ nicht erwähnt. Aber Diomedes, dessen Name einen schönen Reim bildet, scheint der griechische Held par excellence zu sein, der in den Trojagedichten dieser Zeit erwähnt wird, z. B. in ‚Pergama flere volo‘ (Strophe 13 in der Edition von VOLLMANN, siehe Anm. 19). Das Bild visualisiert den Untergang Trojas und bildet den dramatischen Abschluss des Gedichts.

|| 55 Vgl. MCDONOUGH (Anm. 8), S. 43 Anm. 45. 56 Vgl. MCDONOUGH (Anm. 8), S. 43 Anm. 47. 57 Siehe J. STOHLMANN, Anonymi Historia Troyana Daretis Frigii. Untersuchungen und kritische Ausgabe, Wuppertal 1968, hier S. 157.

Hugo Primas’ Troja | 155

5 Zusammenfassung Das Gedicht hebt im zweiten Abschnitt die Sündhaftigkeit Trojas und seiner Bewohner hervor, die zu dem Untergang der Stadt führte. Der Gedanke wird vorbereitet durch die Überblendung der klassischen Klage um Troja mit biblischen Motiven. Dennoch endet das Gedicht abrupt mit einer emotionalen Reaktion des Sprechers. Odysseus als Sprecher, wie MEYER spekuliert,58 wäre denkbar. Die Sprech-Situation müsste – aufgrund der Beschreibung der überwachsenen Ruinen – eine längere Zeit nach dem trojanischen Krieg zu setzen sein. Im Kontext der anderen Gedichte des Hugo Primas ist als Sprecher ein Dichter denkbar oder besser der Dichter, das lyrische Ich, das hier die Qualität seiner eigenen Dichtung, die sogar ihn selbst zu Tränen rührt, betont. Hinsichtlich des Versmaßes unterscheidet sich ‚Urbs erat illustris‘ von den zwei anderen Trojagedichten, die im elegischen Distichon geschrieben sind. Dieses Metrum hängt mit der Form der Klage zusammen. Aber im 9. Gedicht des Hugo Primas wird die Klage durch das Metrum und die letzte Zeile in einen epischen Kontext gestellt. Dadurch wird das kurze Gedicht in den Kontext einer Vortragssituation gestellt, die auch dem tatsächlichen Vortrag oder der Rezitation des Gedichts entsprochen haben könnte.59 So ist das Gedicht ein kunstvolles Spiel mit traditionellen Motiven des TrojaMythos sowie mit der Erwartung der Rezipienten, da das Gedicht Brüche aufweist und das Übliche verkehrt wird. Der erste Teil des Gedichts stellt ein Spiel mit ernsthaften Klagen über Trojas Fall dar. Das Motiv der Edelsteine ruft die Vision eines gefallenen Trojas durch die Schuld der Bewohner auf, die in biblischen Bildern den klassischen Mythos überlagert. Der spielerische Umgang mit dem Stoff zeigt sich in den virtuosen Antithesen, die schon zu Beginn des Gedichts zum Schmunzeln führen. Auch die Darstellung der Tiere, die die Ruinen Trojas bewohnen und die „Struppigkeit“ der Landschaft mit verschiedensten Gewächsen und Unkraut ist deutlich überzeichnet. Im zweiten Teil des Gedichts wird mit der Erwartung des Zuhörers gespielt, der eine Klage über Trojas Schicksal erwartet und herausfindet, dass ein Grieche spricht. Dass ein Grieche Trojas Schicksal beklagt, ist ungewöhnlich. Der Grieche, der Erzähler, ist von seiner eigenen Geschichte bewegt. In diesen Zusammenhang fällt, für den moder-

|| 58 MEYER (Anm. 7), S. 63. 59 Wie der Vortrag eines Gedichts tatsächlich vorzustellen ist, ist schwierig vgl. dazu Marisa GALVEZ, Songbook: How Lyrics Became Poetry in Medieval Europe, Chicago, London 2012. Carmen CARDELLE DE HARTMANN, Die Bedeutung des Klangs: Baudri von Bourgueil über die Dichter Muriel und Gottfried von Reims (c. 137 und c. 99), in: Olivier COLLET, Yasmina FOEHR‐JANSSENS u. Jean‐Claude MÜHLETHALER (Hgg.), Fleur de clergie. Mélanges en l’honneur de Jean‐Yves Tilliette, Genf 2019, S. 83–100, hier S. 98–100. Vgl auch die Einführung in: The Cambridge Songs (Carmina Cantabrigiensia), edited and translated by Jan M. ZIOLKOWSKI, New York, London 1994.

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nen Leser zumindest, das 8. Buch der Odyssee, in dem Odysseus nach dem Lied des Demodokos über Troja seine Tränen verbirgt. Das Pendant zu dieser Szene in der ‚Aeneis‘ ist Aeneas vor den Bildern mit den Darstellungen des Trojanischen Krieges im ersten Buch, wo Aeneas von Tränen und Erinnerungen ergriffen wird. In ‚Urbs erat illustris‘ wird die Situation der ‚Aeneis‘, in der Aeneas erzählt, verkehrt, da ein Grieche spricht. Hugo Primas bewegt sich in seiner Imitation nicht nur im Rahmen der literarischen Tradition, sondern geht darüber hinaus durch seine innovative Kombination und Überblendung der antiken Motive durch biblische Bilder.

Michael Stolz

‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ Kopistische Interventionen in der Abschrift Roma, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409 Abstract: This article discusses ways of transcription to be found in two German manuscripts of the 14th century. These two codices are very likely to be the exemplar and its direct copy: Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donaueschingen 97, and Rome, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409. Written before the mid of the 14th century, both manuscripts transmit a merged epic, known as the ‘Rappoltsteiner Parzifal’ that combines Wolfram von Eschenbach’s ‘Parzival’ (from 1200/10) with large insertions of originally Old French Grail-narrations. By putting the two textual witnesses alongside each other, scribal interventions occurring in the act of copying can be traced: misreadings and their corrections, the adaptation of the wording of captions, as well as techniques of abbreviation. After preliminary methodological reflections on the relationship of ‘original’ and ‘copy’, examples of the mentioned phenomena are presented with respect to a recently published digital edition of both manuscripts, available online: http://www.parzival.unibe.ch/rapp/index.html#/ Keywords: copying, media studies, Arthurian Romance, Wolfram von Eschenbach, ‘Rappoltsteiner Parzifal’

Der vorliegende Beitrag behandelt kopistische Intervention, d. h. Eingriffe in einen Text, welche im Zuge einer Abschrift erfolgen. Zu den vormodernen Praktiken des Kopierens sind diverse einschlägige Forschungsansätze entwickelt worden, so etwa von Klaus GRUBMÜLLER im Kontext des mittelalterlichen Textbegriffs1 oder zuletzt von Angehörigen des Heidelberger Sonderforschungsbereichs ‚Materiale Textkulturen‘ im Blick auf die Materialität der Überlieferung.2 Abschreiben wird dabei im Spannungsfeld von ‚Bewahren‘ und ‚Verändern‘,3 von Vorlagentreue und aktuali-

|| 1 Vgl. Klaus GRUBMÜLLER, Verändern und Bewahren. Zum Bewusstsein von Text im deutschen Mittelalter, in: Ursula PETERS (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), Stuttgart, Weimar 2001, S. 8–33. || Michael Stolz, Institut für Germanistik, Universität Bern, Länggass-Str. 49, CH-3012 Bern, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-010

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sierender Bearbeitung4 fassbar. Im vorliegenden Beitrag soll dieses Spannungsverhältnis anhand eines konkreten Fallbeispiels aus dem 14. Jahrhundert betrachtet werden – eines Fallbeispiels, das mit höchster Wahrscheinlichkeit den Bezug zwischen einer handschriftlichen Vorlage und der daraus erstellten (unmittelbaren) Abschrift erkennen lässt. Es geht um das Verhältnis der beiden den sogenannten ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ überliefernden Pergamenthandschriften Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Donaueschingen 97 (elsässisch, zwischen 1331 und 1336), und Rom, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409 (ehemals aus dem Bestand der Bibliotheca Palatina, Cod. Pal. germ. 317; niederalemannisch, 2. Viertel des 14. Jhs.).5 Da der Karlsruher Codex in der einschlägigen germanistischen Forschungsliteratur immer wieder als „Originalhandschrift“ bezeichnet worden ist,6 soll diesbezüglich von einer Relation zwischen ‚Original‘ und ‚Kopie‘ gesprochen werden. Beide Handschriften haben einen besonderen Platz in der Überlieferungsgeschichte des von Wolfram von Eschenbach kurz nach 1200 verfassten ,Parzival‘-Romans, denn sie interpolieren in Wolframs Text (bzw. im Falle des Casanatensis in Teile davon) Erweiterungen, bei denen es sich um die Übersetzungen altfranzösischer ,Conte du Graal‘-Fortsetzungen handelt. In der Karlsruher Handschrift werden diese umfangreichen Einschübe als der ,Nuwe Parzifal‘ bezeichnet (fol. 115va, im Zusammenhang einer Blattberechnung: dez nvwen parzefales […] bletter). Die ,Parzival‘-Philologie führt beide Textzeugen unter den Siglen V (für den Karlsruher Codex) bzw. V' (für

|| 2 Vgl. Jan Christian GERTZ, Sandra SCHULTZ u. Jakub ŠIMEK unter Mitarbeit von Kirsten WALLENWEIN, Abschreiben und Kopieren, in: Thomas MEIER, Michael R. OTT u. Rebecca SAUER (Hgg.), Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken (Materiale Textkulturen 1), Berlin, München, Boston 2015, S. 585–596. 3 Vgl. den Titel bei GRUBMÜLLER (Anm. 1). 4 Vgl. GERTZ u. a. (Anm. 2), S. 585 f. 5 Dazu ausführlich mit weiterer Literatur Richard F. FASCHING, Original und Kopie des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘. Handschriftliche Überlieferung und Textgenese im 14. Jahrhundert, http://www. parzival.unibe.ch/rapp/index.html#/einfuehrung (03.03.2020). Eine gedruckte Version ist publiziert in: Michael STOLZ, Parzival im Manuskript. Profile der Parzival-Überlieferung am Beispiel von fünf Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts. Mit einem Beitrag von Richard F. FASCHING, Basel, Berlin 2020, S. 145–271. Sie enthält neben der online verfügbaren Handschriftenbeschreibung (im Folgenden zitiert als „Druckversion, Teil I“) auch eine Analyse der Kopiervorgänge (im Folgenden zitiert als „Druckversion, Teil II“). 6 Vgl. Karl SCHORBACH, Einleitung, in: Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin (1331–1336). Eine Ergänzung der Dichtung Wolframs von Eschenbach, zum ersten Male hrsg. v. Karl SCHORBACH (Elsässische Litteraturdenkmäler aus dem XIV.-XVII. Jahrhundert 5), Straßburg, London 1888, ND Berlin, New York 1974 und Berlin, Boston 2010, S. VII–XLIV, hier S. XI; Joachim BUMKE, Autor und Werk. Beobachtungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G∂), in: Helmut TERVOOREN u. Horst WENZEL (Hgg.), Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte (Zeitschrift für deutsche Philologie 116, Sonderheft), Berlin, Bielefeld, München 1997, S. 87–114, hier S. 87.

‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ | 159

die mutmaßliche Abschrift im Casanatense-Manuskript).7 Während Handschrift V jedoch Wolframs Dichtung vollständig überliefert, liegen in Handschrift V' nur die beiden letzten, an den ‚Nuwen Parzifal‘ anschließenden Bücher 15 und 16 vor. Und es gibt Anzeichen dafür, dass in diesem Manuskript die Bücher 1 bis 14 von Wolframs ‚Parzival‘ gar nie abgeschrieben worden sind (vgl. unten). Der Nachweis, dass Handschrift V' unmittelbar aus der Vorlage V kopiert worden ist, lässt sich im Hinblick auf Eigenheiten der Schreibermundarten beider Handschriften, auf Besonderheiten der Setzung von Versalien, Initialen und Überschriften, auf Fehllesungen des Kopisten von V' und auf bestimmte Markierungen, die er möglicherweise in der Vorlagenhandschrift V angebracht hat, erbringen.8 Auch Fabian SIETZ hat im Rahmen seiner Untersuchungen zu den „Erzählstrategien im ,Rappoltsteiner Parzifal‘“ den Korrelationen beider Handschriften Aufmerksamkeit gewidmet.9 Er ist dabei zu dem Schluss gelangt, dass sich im Bezug beider Textzeugen Verfahren der dilatatio materiae und der abbreviatio im Wechselverhältnis beobachten lassen:10 Im Text der Karlsruher Handschrift erfährt Wolframs ,Parzival‘ mittels der einbezogenen ,Conte du Graal‘-Fortsetzungen eine Ausweitung. In der mutmaßlichen Abschrift des Casanatense-Manuskripts lassen sich hingegen auffällige Kürzungsvorgänge beobachten: Der Textbestand der übersetzten ,Conte du Graal‘-Fortsetzungen wird im zweiten Teil der Handschrift stark verdichtet.11 SIETZ deutet dieses Verfahren als eine redaktionelle ‚Verbesserung‘ der ausufernden dilatatio-Tendenzen von Handschrift V.12 Wie Richard FASCHING zeigen konnte, lässt sich der erste der beiden Schreiber des Codex Casanatensis (fol. 1r–48v) einem als ‚fränkische Epenwerkstatt‘ zu charakterisierenden Skriptorium zuordnen, in dem Wolframs Dichtungen ,Parzival‘ und ,Willehalm‘ zusammen mit ihren später hinzugedichteten Vorgeschichten und Fortsetzungen bzw. Auswei-

|| 7 Vgl. die Übersicht von Klaus KLEIN, Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften (Wolfram und Wolfram-Fortsetzer), in: Joachim HEINZLE (Hg.), Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch – Studienausgabe, Berlin, Boston 2014, S. 941–1002, hier S. 943–959, bes. S. 945, und die Angaben auf der Homepage des Parzival-Projekts: http://www.parzival.unibe.ch/hsverz.html (03.03.2020). 8 Vgl. Michael STOLZ, Die Abschrift als Schreibszene. Der ,Nuwe Parzifal‘ in der Handschrift Rom, Biblioteca Casanatense, Mss. 1409, in: Eckart Conrad LUTZ in Verbindung mit Susanne KÖBELE u. Klaus RIDDER (Hgg.), Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010 (Wolfram-Studien 22), Berlin 2012, S. 331–356, bes. S. 341–344, und FASCHING (Anm. 5), Druckversion, Teil I, S. 202 f., Teil II, S. 229 f. 9 Vgl. Fabian SIETZ, Erzählstrategien im ,Rappoltsteiner Parzifal‘. Zyklizität als Kohärenzprinzip (Studien zur historischen Poetik 25), Heidelberg 2017. 10 Vgl. ebd., zusammenfassend S. 140. 11 Während der erste der beiden Schreiber von Handschrift V' seiner Vorlage dabei recht getreu folgt (fol. 1r–48v), neigt der zweite Schreiber zu den erwähnten Kürzungen (fol. 49r–181v). Eine statistische Aufstellung der Kürzungsfrequenzen bietet SIETZ (Anm. 9), S. 133. 12 Vgl. ebd., S. 134.

160 | Michael Stolz

tungen systematisch gesammelt und abgeschrieben worden sind.13 Da Wolframs ,Parzival‘ in diesem Programm bereits vorhanden war (nämlich in Gestalt der heute in Heidelberg unter der Signatur Cod. Pal. germ. aufbewahrten Handschrift 364, ‚Parzival‘-Handschrift Z) dürfte eine neuerliche Abschrift im Kontext der erwähnten Epenwerkstatt als unnötig erachtet worden sein. Aus der Vorlage von Handschrift V wurden in der Abschrift V' also offenbar nur jene Teile abgeschrieben, die mit dem ‚Nuwen Parzifal‘ als eine Ergänzung des bereits angefertigten Bestands Wolframscher Dichtungen angesehen wurden. Die folgenden Ausführungen knüpfen an die Forschungsergebnisse von Fabian SIETZ und Richard FASCHING an, schlagen jedoch methodisch eine etwas andere Richtung ein: FASCHING rückt paläographische Befunde in den Vordergrund; SIETZ beurteilt das Verhältnis der beiden Handschriften V und V' im Bezugsrahmen der Entstehung früher epischer Parallelfassungen.14 Gegenüber dem paläographischen Zugriff einerseits und dem vorwiegend an den Produktionsbedingungen des 13. Jahrhunderts orientierten Fassungsbegriff andererseits soll im vorliegenden Beitrag die Eigenart von Kopiervorgängen hervorgehoben werden, die im medialen Kontext der Schriftlichkeit erfolgen. Für die beiden gegen Mitte des 14. Jahrhunderts angefertigten Textzeugen sind andere Entstehungsumstände anzusetzen, als sie etwa Joachim BUMKE für die Ausprägung von autornahen Fassungen in der Zeit um und bald nach 1200 geltend gemacht hat.15 Die semi-oralen Produktions- und Rezeptionsbedingungen höfischer Epik, von denen BUMKE bei seiner Fassungstheorie ausging, sind im 14. Jahrhundert keinesfalls mehr die Norm. Zumindest gilt das für die Handschrift V, über deren komplexe Anfertigung in der Zusammenarbeit von Redaktoren, Schreibern, Übersetzern wir recht genau unterrichtet sind. Im Epilog und in weiteren Paratexten ist der Herstellungsprozess mit Zeitangaben und den Namen der beteiligten Personen ausführlich dokumentiert.16 Eine in Bahnen der Schriftlichkeit vollzogene Produktion lässt sich aber auch für Handschrift V' veranschlagen, in der sich gerade über den Bezug zur mutmaßlichen Vorlage ‚Schreibprozesse‘ erkennen lassen.17

|| 13 Vgl. Richard F. FASCHING, Neue Erkenntnisse zum ,Nuwen Parzifal‘ und zu einer ,Epenwerkstatt‘ des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 147 (2018), S. 491–509. 14 Vgl. SIETZ (Anm. 9), S. 140. 15 Vgl. Joachim BUMKE, Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 [242]), Berlin, New York 1996, bes. S. 30–88. 16 Vgl. zu den Redaktoren Klaus Wisse und Philipp Colin, zu dem Übersetzer Samson Pine sowie zu den Schreibern Henselin und (möglicherweise) von Onhein die Ausführungen bei FASCHING (Anm. 5), Druckversion, Teil I, S. 173–177, 180–182. 17 Vgl. dazu STOLZ (Anm. 8) und FASCHING (Anm. 5), Druckversion, Teil II, S. 239–267.

‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ | 161

Das Verhältnis der beiden Textzeugen als ‚Original‘ und ‚Kopie‘ soll deshalb als jenes einer ‚Transkription‘ gefasst werden. Der Begriff orientiert sich an jüngeren medientheoretischen Ansätzen und an einer Systematik, in welcher der Bezug von Vorlage und Kopie konsequent in einer skripturalen Begrifflichkeit entwickelt worden ist. So geht der Sprach- und Medienwissenschaftler Ludwig JÄGER davon aus, dass eine Vorlage, die er ‚Präskript‘ nennt, erst über den Prozess der ‚Transkription‘ den Status eines ‚Originals‘ erhalten kann.18 Spezifische Eigenschaften der Vorlage, die in eine Abschrift überführt werden, bezeichnet JÄGER als ‚Script‘. Oft profiliert sich die Vorlage erst über diesen ‚Script‘-Status. Die Wahrnehmung von Vorlage und Abschrift unterliegt dabei einem dynamischen Wechselverhältnis: Das ‚Präskript‘ wird erst in seiner Transformation in ein ‚Script‘ als solches (d. h. als Vorlage) sichtbar. In Anlehnung an JÄGER wurde von Forschenden aus seinem Schülerkreis der Begriff des Nominalkompositums ‚Originalkopie‘ geprägt.19 Damit soll die doppelte Gerichtetheit, die „Bidirektionalität der transkriptiven Logik“ zum Ausdruck gebracht werden, mithin die Tatsache, dass das ‚Original‘ erst „retrospektiv“, aus dem Blickwinkel der Kopie, seinen originären Stellenwert erhält.20 Im Folgenden sollen nunmehr einige charakteristische Typen von kopistischen Interventionen in der Textgestalt von Handschrift V' vorgestellt werden: erstens Fehllesungen, zweitens der Umgang mit Überschriften und drittens Kürzungen. Die dabei zu erläuternden Beispiele finden sich allesamt im Bereich des von dem zweiten Schreiber angefertigten Teils (fol. 49r–181v). Als Grundlage wird eine Digitaledition der beiden Handschriften V und V' genutzt, die im Kontext des Berner Parzival-Projekts entwickelt worden ist, die Abschreibevorgänge in synoptischen Transkriptionen dokumentiert und jeweils Transkriptionen und Digitalfaksimiles der beiden Handschriften zeigt: http://www.parzival.unibe.ch/rapp/index.html#/ (die Verse des ‚Nuwen Parzifal‘ sind dabei durch das Kürzel „NP“ markiert).21

|| 18 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ludwig JÄGER, Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: DERS. u. Georg STANITZEK (Hgg.), Transkribieren. Medien/Lektüre, München 2002, S. 19–41; DERS., Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Transkriptionen 10 (2008), S. 8–12. Jäger spricht anstelle von ,Original‘ allerdings von ,Quelle(n)‘; der Begriff des ,Originals‘ begegnet in Schriften aus seinem Schülerkreis (dazu die nächste Anmerkung). 19 Vgl. Gisela FEHRMANN u. a. (Hgg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären (Mediologie 11), Köln 2004; Brigitte WEINGART, Originalkopie, in: Christina BARTZ u. a. (Hgg.), Handbuch der Mediologie, Paderborn 2012, S. 203–208. 20 Vgl. Gisela FEHRMANN u. a., Originalkopie. Praktiken des Sekundären – eine Einleitung, in: FEHRMANN u. a. (Anm. 19), S. 7–17, hier S. 13. 21 Die Verszählung folgt der nach Handschrift V eingerichteten älteren Ausgabe: Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin, hrsg. v. SCHORBACH (Anm. 6). Die Angaben stehen dort jeweils in der Kopfzeile. Da der ,Rappoltsteiner Parzifal‘ jedoch meist nach den Spalten und Zeilen in SCHORBACHs Ausgabe zitiert wird, werden diese vor den im Folgenden besprochenen Abschnitten zur Orientierung mit aufgeführt.

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Der zunächst zu betrachtende Typus betrifft Fehllesungen und dürfte im vorliegenden Beispiel mit schreibermundartlichen Eigenheiten in Zusammenhang stehen (Abschnitt NP 11'077–11'083 = Ausgabe SCHORBACH (Anm. 6), 249,26–32):

Abb. 1: Fehllesung in Vers NP 11'077 (Hs. V').

Wie sich erkennen lässt, tendiert der Kopist der Handschrift V' dazu, den elsässischen Dialekt der Vorlage V zu glätten: Die Verbformen ſoſent (Hs. V, fol. 170va, NP 11'078) und ſohent (Hs. V, ebd., NP 11'082, jeweils mit zu o verdumpften a) sind zu der konventionelleren Schreibweise ſaſzen bzw. ſahent normalisiert (Hs. V', fol. 59ra; anders koment – quoment in NP 11'083). Auf einen möglicherweise schreibsprachlich motivierten Glättungsversuch deuten auch Manipulationen des Kopisten bei Vers NP 11'077, der in der Vorlage V lautet: Do hies er bringen fier roſ gros (‚Da ließ er vier große Rösser bringen‘). In der Abschrift V' begegnen an dieser Stelle zwei Korrekturen (nachvollziehbar am Digitalfaksimile, in der Transkription werden – unterliniert – jeweils nur die Korrekturresultate angezeigt): Der Kopist hat das mit initialem f geschriebene Zahlwort fier zunächst verlesen und als fivr (wohl im Sinne von ‚Feuer‘) wiedergegeben.22 Er hat sich dann aber offensichtlich auf die Bedeutung als Zahlwort besonnen und die Form fivr durch das mit initialem v

|| 22 Womöglich hat der Kopist dabei an fivr ros (‚Feuerrosse‘) gedacht, was im Kontext der Artusepik nicht völlig abwegig wäre. Ich verdanke diesen Hinweis Luise BOREK (TU Darmstadt), die in diesem Bereich einschlägig gearbeitet hat. Vgl. Luise BOREK, Arthurische Pferde als Bedeutungsträger. Eine Fallstudie zu ihrer digitalen Klassifizierung. Phil. Diss. masch. TU Darmstadt, Fachbereich 2: Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, 2017.

‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ | 163

geschriebene vier ersetzt. Daraufhin hat er das in der Vorlage folgende Nomen roſ übersehen und sogleich zum nachgestellten Adjektiv gros angesetzt; nachdem er den Irrtum bemerkt hat, hat er die beiden bereits geschriebenen Buchstaben gr gestrichen und das Syntagma sodann korrekt eingefügt. In den Versen NP 11'081 und 11'083 von Handschrift V' ist das in der Vorlagenhandschrift V wiederum mit initialem f geschriebene Zahlwort fier(e) dann mit initialem v wiedergegeben. Zusammen mit der oberhalb davon erfolgenden Korrektur dokumentieren sich hier also Spuren eines Schreibprozesses, in dem sich das Textverstehen des Kopisten nach und nach vollzieht.23 Ein anders geartetes Phänomen zeichnet sich beim Umgang mit Überschriften ab, der nunmehr als zweiter Typus kopistischer Interventionen vorgestellt werden soll. Hier gilt es zunächst die Tatsache zu erwähnen, dass den Kopisten der Handschrift V' das Vorlagenmanuskript V möglicherweise gar nicht bis zur Vollendung der Abschrift zur Verfügung gestanden hat. Dies lässt sich in Einzelfällen an der inkonsequenten Übernahme von Initialen und von Textanteilen in deren Nachbarschaft erkennen.24 Es gilt aber auch für die Behandlung von Überschriften, deren Wortlaut in der Abschrift V' mitunter auffällig von jenem der Vorlage V abweicht.25 An freibleibendem Platz in der Umgebung von in Handschrift V' gesetzten Überschriften wird, wie im vorliegenden Beispiel, deutlich, dass der Kopist offenbar Platz für eine Überschrift ließ, der vom Rubrikator dann nicht gänzlich ausgefüllt wurde. Die Belegstelle stammt aus dem 15., d. h. vorletzten, Buch von Wolframs ‚Parzival‘, das ja zusammen mit dem ‚Nuwen Parzifal‘ in Handschrift V' überliefert ist (Überschrift vor ,Parzival‘ 778,13):26

|| 23 Vgl. zu diesem Vorgang auch STOLZ (Anm. 8), S. 342 f. 24 Vgl. ebd., S. 343; FASCHING (Anm. 5), Druckversion, Teil II, S. 239–242. 25 Vgl. FASCHING (Anm. 5), Druckversion, Teil II, S. 242–251. 26 Die Verszählung des ‚Parzival‘ orientiert sich an der Erstedition: Wolfram von Eschenbach, hrsg. v. Karl LACHMANN, Berlin 1833; vgl. auch die Neuauflage: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl LACHMANN. Übersetzung von Peter KNECHT. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd SCHIROK, 2. Aufl. Berlin, New York 2003.

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Abb. 2: Überschrift zu Wolframs ‚Parzival‘, Vers 778,13, Ansicht 1.

In der Vorlage V lautet die Überschrift: Hie kv(m)met kvndrie zvͦ kv́ nig artus | hof. nach parzefale. daz er herre | werde zvͦ me Grole.27 Nach dem einleitenden (für die Überschriften typischen, auf den folgenden Textabschnitt verweisenden) Adverb Hie wird erwähnt, dass die Gralbotin Kundrie an den Artushof komme, um zu verkünden, dass Parzival der neue Gralherrscher werden solle. Der daz-Satz entbehrt dabei einer einleitenden inquit-Formel; und das unmittelbar vorausgehende Syntagma nach parzefale passt sich nur unzulänglich in den Satzbau der Überschrift ein. Möglicherweise ist gemeint, dass Kundrie am Artushof ‚zu‘ Parzival kommt oder ‚nach‘ ihm fragt, um ihm zu verkünden, dass er Gralherrscher werde. In der Kopie V' hat der Schreiber am unteren Seitenrand eine Anweisung für die offenbar später vom Rubrikator einzufügende Überschrift angebracht. Die Notiz, die teilweise in lateinischer und teilweise in deutscher Sprache abgefasst ist, scheint die Verständnisschwierigkeit der in der Vorlage enthaltenen Überschrift zu spiegeln. Wenn man die Abkürzungen auflöst, dürfte das Notat folgendermaßen lauten: Kundrie ve(n)it vocauit par. (= Parzival) q(uod) fieret d(omi)n(us) zv(m) grale – d. h.: ‚Kundrie kam und rief Parzival zu, dass er Gralherrscher werden würde‘. Die in der Vorlagenhandschrift V erwähnte Ankunft der Gralbotin (Hie kvmmet Kundrie) ist hier mit dem lateinischen Verbum venit aufgegriffen; gleich daneben aber steht mit vocauit ein zweites Verbum, das nun die in Handschrift V fehlende inquit-Formel für die folgende auf Parzival bezogene Herrschaftsdeklaration einfügt.

|| 27 In der Transkription werden Abkürzungen des handschriftlichen Textes in Klammern aufgelöst; Zeilenumbruch ist durch einen Längsstrich (|) markiert.

‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ | 165

Abb. 3: Überschrift zu Wolframs ,Parzival‘, Vers 778,13, Ansicht 2 (mit eingeblendeter Notiz am unteren Seitenrand von Hs. V').

Ankunft und Aussage der Kundrie sind dann auch mit entsprechenden Verben in der Überschrift von Handschrift V' artikuliert (im Folgenden unterstrichen): Hie komet kvndrie nach parzifal vnd | ſeite ime daz er herre ſolte werdin zv | dem gral. Den lateinischen Verben venit und vocavit entsprechen in der deutschen Überschrift komet und seite. Das in Kundries Rede enthaltene Verbum fieret ist mit dem deutschen Syntagma solte werdin aufgegriffen, welches zugleich das einfache Verbum werde der Vorlage ausweitet; sowohl in der lateinischen Vorschrift als auch in der deutschsprachigen Umsetzung von Handschrift V' wird dabei über Formen des Konjunktivs Imperfekt ein vom vergangenen Sprechzeitpunkt aus in der Zukunft liegender Vorgang zum Ausdruck gebracht. Das Beispiel lässt hier einen offenbar über die Zwischenstufe der Randnotiz vermittelten Transkriptionsprozess erkennen, bei welchem die Kopie auf das Original zurückverweist, indem sie eine dort enthaltene Inkohärenz auflöst. Das flüchtig am Seitenrand angebrachte Notat und seine vom Wortlaut der Handschrift V abweichende Umsetzung deuten zudem den oben erwähnten Umstand an, dass die Vorlage den Kopisten wohl nur für einen beschränkten Zeitraum zugänglich war. Auf eine damit möglicherweise verbundene Eile lassen auch die zahlreichen Kürzungen schließen, die sich, wie erwähnt, im zweiten Teil der Abschrift finden.28

|| 28 Vgl. dazu STOLZ (Anm. 8), S. 338, 343; FASCHING (Anm. 5), Druckversion, Teil II, S. 255–267; ferner Michael STOLZ u. Richard F. FASCHING, Original und Kopie des „Rappoltsteiner Parzifal“. Kürzungsverfahren in der Abschrift Roma, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409 (erscheint in: Julia FRICK u.

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Die nur vorübergehende Verfügbarkeit der Vorlage, aber auch der teure für die Kopie verwendete Beschreibstoff Pergament könnten diese Kürzungen motiviert haben. Zur Erläuterung dieses dritten Typus von kopistischen Interventionen sei eine Szene aus dem ‚Nuwen Parzifal‘ angeführt, in deren Kontext Parzival ebenfalls zum Gralherrscher gekürt wird, hier jedoch – anders als danach bei Wolfram (‚Parzival‘, Buch 16) – nicht motiviert durch die Mitleidsfrage, sondern als Folge einer Rachehandlung, welche die Heilung von Parzivals Oheim, dem Gralkönig, auslöst (Abschnitt NP 36'202–36'209 = Ausgabe SCHORBACH (Anm. 6), 839,41–840,4):

Abb. 4: Kürzungen im Abschnitt NP 36'202–36'209 (Hs. V'), Ansicht 1.

Im Verlauf des Besuchs klärt der König seinen Neffen Parzival über die gegenseitige Verwandtschaft auf und teilt ihm mit, dass er, Parzival, ſinre ſwest(er) ſvn were, wie es in beiden Handschriften übereinstimmend heißt (NP 36'202, hier zitiert nach Hs. V, fol. 300vb). Handschrift V erwähnt daraufhin Parzivals Cousinen: Sinre Oͤheime tocht(er). die zwo megede zart (NP 36'203). Der Kopist von Handschrift V' hingegen setzt im selben Vers beim Possessivpronomen Siner an, streicht es dann aber wieder und erwähnt die Cousinen nicht eigens. Vielmehr ändert er den Wortlaut des Verses in das floskelhafte Syntagma Sie hatte freude und wu(n)ne zart (fol. 170va). Die Verbform hatte könnte sich dabei auf die in Vers NP 36'202 erwähnte Schwester des Gralkönigs beziehen. Vermutlich aber ist sie fälschlich in den

|| Oliver GRÜTTER (Hgg.), abbreviatio. Formen – Funktionen – Konzepte. Zürcher Tagung 2019, Basel, Berlin 2021).

‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ | 167

Singular gesetzt und sollte sich – korrekterweise im Plural – auf Parzival und den Gralkönig beziehen, die an dem eben erkannten Verwandtschaftsverhältnis Freude ‚hatten‘. Das nachgestellte, die freude und wu(n)ne charakterisierende Adjektiv zart ist von der Vorlage V (NP 36'203) übernommen, wo es eine Eigenschaft der beiden Cousinen beschreibt. Danach eliminiert der Kopist einige Verse, die sich in Handschrift V über einen Seitenwechsel erstrecken (fol. 300vb–301ra),29 holt sich aber das Syntagma Do ez ſlaffens zit wart aus dem in der Vorlage vorhandenen Vers NP 36'207.

Abb. 5: Kürzungen im Abschnitt NP 36'202–36'209 (Hs. V'), Ansicht 2.

Das in Handschrift V am Ende von Vers NP 36'207 stehende Syntagma uf d(er) ſtette, welches dort zugleich den Reim mit dem Folgevers herstellt, wird bei dieser Maßnahme ausgesondert. Da der auf diese Weise beschnittene Vers nunmehr mit dem Verbum wart endet, ergibt sich wie in der Vorlage die Reimfolge zart – wart (in V: NP 36'203 f., in V': NP 36'203/7). Unerwähnt bleibt in der Abschrift V' auch die in der Vorlage V enthaltene Aussage, dass der König seinem Neffen zugetan war (ſin Oͤheim liep hete, NP 36'208).30 Die Szene schließt dann in beiden Handschriften mit der || 29 In Handschrift V ist der in Handschrift V' (neben anderen) eliminierte Vers NP 36'205 vom Schreiber am Ende der rechten Spalte (fol. 300vb) unterhalb des Schriftspiegels nachgetragen worden, was in der Transkription durch grüne Einfärbung (Schreiberkorrektur) angezeigt wird. 30 Der Ausdruck Oͤheim bezeichnet an dieser Stelle den ‚Neffen‘ Parzival; vgl. zur Semantik ‚Schwestersohn‘ Matthias LEXER, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von Benecke-Müller-Zarncke, 3 Bde., Bd. 2, Leipzig 1876, ND Stuttgart 1979, Sp. 148.

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kontextuell und in der mittelalterlichen Kultur unverfänglichen Bemerkung, dass der Oheim seinen Neffen einlädt, mit ihm das Schlafgemach zu teilen (NP 36'209).31 Im Gegensatz zur Vorlage benennt der Kopist von Handschrift V' den Gralkönig mit dem aus Wolframs Dichtung bekannten Namen Anfortes (Anfortas).32 Wie aus der Abbildung ersichtlich ist, steht der entsprechende Vers in Handschrift V' in der ersten Zeile einer neuen Spalte (fol. 170vb). Das Beispiel dokumentiert den Schreibprozess eines Kopisten, der in unmittelbarer Arbeit an der Vorlage seine eigene Textversion schafft: Er streicht ein zunächst abgeschriebenes Wort, um daran anschließend einen Abschnitt zu kürzen, er kreiert unter Nutzung von vorgefundenem Material einen Füllvers und stellt – mit dem Namen des Anfortas – Zusammenhänge her, die auf den Kontext von Wolframs ,Parzival‘ verweisen. Zahlreiche weitere Belege für dieses Verfahren ließen sich anführen; mitunter kondensiert der Kopist Dutzende von Versen seiner Vorlage mit solchen Kittprozeduren.33 Die Eigenart der ‚Originalhandschrift‘ V erscheint dabei aus der Perspektive der Kopie V' in neuem Licht. Sie erweist sich, um nochmals an die Terminologie von Ludwig JÄGER anzuschließen, als ‚Skript‘. Erwähnenswert ist die Nähe zu Wolframs ,Parzival‘, die der Kopist von Handschrift V' mit der Einfügung des Namens von Anfortas bekundet, ohne dass dieser in der Vorlage V an dieser Stelle des ,Nuwen Parzifal‘ begegnet. Die Namensnennung ist um so auffälliger, als die Abschrift V' anders als die vollständige Vorlage V neben dem ‚Nuwen Parzifal‘ nur die beiden letzten Bücher 15 und 16 von Wolframs Dichtung überliefert. Doch ist in diesem Zusammenhang nochmals an das Umfeld des fränkischen Skriptoriums zu erinnern, in dem ja (mit dem Heidelberger Cod. Pal. germ. 364) auch eine vollständige Handschrift des Wolframschen ‚Parzival‘ hergestellt worden ist. Dieser Sachverhalt zeigt, dass es neben der linearen Beziehung

|| 31 In Handschrift V mit dem Verbum bat, in Handschrift V' mit dem semantisch stärkeren Verbum hiez (‚befahl‘). Vgl. zur Bedeutung des Avunkulats in der mittelalterlichen Literatur, d. h. einer engen Bindung des Neffen an seinen Oheim (Mutterbruder), die keineswegs zwingend homoerotische Züge trägt, Theodor NOLTE, Das Avunkulat in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Poetica 27 (1995), S. 225–253. 32 Vgl. zur Rolle des Anfortas in Wolframs ,Parzival‘ Elke BRÜGGEN u. Joachim BUMKE, Figurenlexikon, in: HEINZLE (Anm. 7), S. 835–938, hier S. 847–849. 33 Beispiele werden in der unter Anm. 28 genannten Literatur behandelt. – Nikolaus HENKEL, Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung, in: Joachim HEINZLE (Hg.), Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), Stuttgart, Weimar 1993, S. 39–59, hier S. 49 f., beschreibt vergleichbare Verfahren im Hinblick auf die von ihm untersuchten epischen Kurzversionen. In verschiedenen Kürzungstypen beobachtet er „Überleitungen und Verbindungen“ (S. 49), die „durch Umgestaltung im vorhandenen Versmaterial bzw. durch entsprechende Zudichtung hergestellt“ werden, hat dabei allerdings „nicht [den] einfachen Vorgang des Kopierens“, sondern einen „mit- und weitergestaltende[n] Redaktor“ im Blick (S. 50).

‚Original‘ und ‚Kopie‘ des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ | 169

von ‚Original‘ und ‚Kopie‘ auch den lateralen Kontext zu berücksichtigen gilt, wenn wir Aufschluss über kopistischer Interventionen gewinnen wollen. Das methodische Erfordernis der Berücksichtigung von Lateralität lässt sich abschließend mit einem Blick auf die Molekularbiologie illustrieren: In ihr sind Modelle entwickelt worden, die, wie es der Stanforder Pathologe Michael HENDRICKSON formuliert hat, der „Beziehung zwischen dem Phänotyp, dem Genotyp und der Umwelt“, also dem Zusammenwirken erblicher Faktoren mit davon unabhängigen äußeren Einflüssen, Rechnung tragen: „Zu dieser Mischung aus Genotyp und Umwelt muss ‚developmental noise‘, müssen Zufallsfaktoren im Lauf der Entwicklung, hinzugefügt werden. […] Umwelt und Organismus konstruieren einander gegenseitig. […] Der Ansatz ist ganzheitlich in dem Sinne, dass es keine primäre oder privilegierte Kausalität gibt. Ursächlichkeit verteilt sich sowohl über genetische (DNA, RNA) als auch über nichtgenetische Elemente (Proteine, Zellmembranmatrizes usw.)“.34 – Möglicherweise liegt die Herausforderung bei der Analyse handschriftlicher Kopiervorgänge darin, dass wir uns auf die Auseinandersetzung mit solchen Analogien in der Molekularbiologie einlassen.35

|| 34 Michael R. HENDRICKSON, Schrödingers Geist. Überlegungen zur erstaunlichen Relevanz von „Was ist Leben?“ für die Krebs-Biologie, in: Hans Ulrich GUMBRECHT, Robert Pogue HARRISON, Michael R. HENDRICKSON u. Robert B. LAUGHLIN, Geist und Materie – Was ist Leben? Zur Aktualität von Erwin Schrödinger. Aus dem Englischen von Sabine BAUMANN, Frankfurt a. M. 2008, S. 57–112, hier S. 101. 35 Vgl. zu den Potentialen und Grenzen der Vergleichbarkeit Michael STOLZ, On the Borderline of Disciplines. Concepts of Reproduction and Copying in Molecular Biology and in the Humanities. A Conversation with Christopher Howe (Molecular Biology, Cambridge), in: Gabriele RIPPL u. Michael STOLZ (Hgg.), Original und Kopie. Techniken und Ästhetiken der re-/produktiven Abweichung, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 4,3 (2019); https://doi.org/10.2478/kwg-2020-0009 (03.03.2020).

Nina Fahr

Symmetrie und Symbolik Bildliches Erzählen in den ‚Parzival‘-Illustrationen des CGM 19 Abstract: Text and image of the ‘Parzival’ within the Cgm 19 are both arranged in a three-column layout, which leads to present different specifications not only in terms of form but also content. This is especially evident within the illustration cycle. Images across the pages are linked together by means of a complex reference system, creating semantic interferences. The illustration cycle does not just have an illustrative function but possesses a narrative intrinsic logic which in some aspects refers to the paradigmatic narrative of Wolfram’s ‘Parzival’. Important elements of the pictorial narrative are the means of rhythmisation as well as the reference to the Christian iconography. My essay seeks to focus on the intrinsic rhythmisation as well as the connotations that are evoked by the use of certain iconographic models. For this purpose, I would like to differentiate between three types of illustrations: symmetrical illustrations, illustrations with reference to a certain iconography and a type of illustrations in which several functions overlap, which I will call ‘ScharnierBilder’. On the basis of a detailed analysis, I would like to point out that the transition between symmetry and symbolism plays an eminent role within this illustration cycle. Keywords: Arthurian literature, ‘Parzival’, manuscript illumination, imagery, iconography

Die 75 Pergament-Doppelblätter des Cgm 19, der ältesten bebilderten ‚Parzival‘Handschrift, stellen nicht nur aufgrund ihrer frühen Datierung und Kompilation im Sinne einer „Autorhandschrift“1, sondern gleichermaßen auch aufgrund ihres eigenständigen Bilderzyklus ein außerordentliches Beispiel hochmittelalterlicher Text-Bild-Zeugnisse dar. Der in die Mitte des 13. Jahrhunderts zu datierende Codex || 1 Vgl. Michael STOLZ, Die Münchener Wolfram-Handschrift Cgm 19. Profile einer volkssprachigen ‚Autorhandschrift‘ des 13. Jahrhunderts, in: Parzival-Projekt Bern (Hg.), Die Münchner WolframHandschrift (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 19) mit der Parallelüberlieferung zum Titurel. Parzival, Titurel, Tagelieder, DVD mit einem Begleitheft, Konzept und Einführung von Michael STOLZ, Simbach am Inn 2008, S. 7. Ich danke Mirko Breitenstein für die kritische Lektüre meines Aufsatzes und für wertvolle Anregungen. || Nina Fahr, Germanistische Mediävistik, Universität Freiburg (Schweiz), Avenue de l’Europe 20, CH-1700 Freiburg i. d. Schweiz, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-011

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enthält den ‚Parzival‘ und den ‚Titurel‘ Wolframs von Eschenbach sowie zwei Tagelieder Wolframs (MF 3, 1 ‚den morgenblic‘ und MF 4, 8 ‚sîne clâwen‘)2, komplementiert durch Prosa-Nachträge mittelhochdeutscher Mären aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.3 Die Handschrift entstammt einer professionellen Schreibwerkstatt, die bisher nicht lokalisiert wurde,4 der jedoch noch weitere Epenhandschriften zugeordnet werden können.5 Diese haben zudem formal gemein, dass sie jeweils überarbeitete Kürzungen der originären Texte anführen. Eine Besonderheit des Cgm 19 ist nicht nur sein Charakter als Werkcodex eines Autors, sondern ebenso seine, zu dieser Zeit im volksprachigen Bereich eher seltene, eigenartige Gestaltung in Bezug auf Text und Bild. Der epische Text weist durchweg ein dreispaltiges Layout auf und erinnert somit an zeitgenössische, französische Vorbilder, was aufgrund der Adaptation einer französischen Vorlage durchaus naheliegend scheint. Auch die nur wenig jüngere erste französischsprachige Handschrift des ‚Perceval‘ Chretiens de Troye6 ist dreispaltig angelegt und zudem illustriert. Diese Präsentationsform des Textes findet sich – so Karin SCHNEIDER – in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch in großformatigen Epen-

|| 2 Vgl. Des Minnesangs Frühling. I. Texte, Unter Benutzung der Ausgaben von Karl LACHMANN u. Moriz HAUPT, Friedrich VOGT u. Carl VON KRAUS, bearbeitet von Hugo MOSER u. Helmut TERVOOREN, 38., erneut revidierte Auflage, Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünster Fragment, Stuttgart 1988, S. 436–439. 3 Zur Datierung vgl. Karin SCHNEIDER, Gotische Schriften in deutscher Sprache. I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Text- und Tafelband, Wiesbaden 1987, Textband S. 150–154. Inhaltlich gliedert sich die Handschrift wie folgt: Bl. 1r–70v: Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘; Bl. 71r–74r: Wolframs von Eschenbach ‚Titurel‘; Bl. 74v: Federproben; Bl. 75r: Prosatexte (‚Der nackte Bote‘, ‚Die ertrunkene Seele‘ sowie ‚Ritter Poppe und Graf Wernart von Lewenperch‘); Bl. 75v: Wolframs von Eschenbach Tagelieder ‚den morgenblic‘ und ‚sîne clâwen‘. 4 Aufgrund der Schreibsprache, welche je nach Schreibhand alemannische oder bairische Züge aufweist, vermutet die neuere Forschung eher eine Werkstatt im alemannisch-bairischen Sprachraum, als, wie lange angenommen, eine elsässische Schreibwerkstatt. Das Korpus ist von sieben Schreibhänden zusammengetragen, die sich häufig im Umfeld von Lagenwechseln ablösen und die alle, mit Ausnahme von einer, in die Mitte des 13. Jh. datiert werden können. Eine weitere Hand fügte in der zweiten Hälfte des 13. Jh. die Prosa-Nachträge an. Vgl. STOLZ (Anm. 1), S. 33–35. 5 Unter anderen der Cgm 51 (der ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg); ein Pergament-Einzelblatt aus Wolframs ‚Parzival‘ (Cgm 194/III) sowie vermutlich zwei weitere Pergament-Blätter des ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von Ems (Salzburg, Stiftsbibliothek St. Peter, Cod. a VI 56) und (ohne eindeutigen Beweis) ein Fragment aus Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ (München, BSB, Cgm 5249/4g). Zum ‚Willehalm‘-Fragment vgl. Karin SCHNEIDER, Ein neues Fragment des WillehalmDiscissus Fr. 25, in: Joachim HEINZLE, Leslie Peter JOHNSON u. Gisela VOLLMANN-PROFE (Hgg.), Neue Wege der Mittelalter-Philologie, Landshuter Kolloquium 1996 (Wolfram-Studien 15), Berlin 1998, S. 411–416; und Martin BAISCH, Das Skriptorium des Cgm 51, in: Martin SCHUBERT (Hg.), Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien, Werke, Mäzene, Berlin 2013, S. 669–690. 6 Paris, BN, Ms. Fr. 12576.

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handschriften7 des deutschsprachigen Schriftwesens, ist dort allerdings nie so verbreitet gewesen.8 Jürgen WOLF benennt für das ausgehende 13. Jahrhundert einen Anteil von kaum mehr als 10–15% an der Gesamtüberlieferung.9 Für den deutschsprachigen Raum ist die Illustrationsweise des Cgm 19 im 13. und 14. Jahrhundert hingegen eher gewöhnlich. Während nach französischem Brauch bislang vor allem historisierte Initialen oder kleinformatige Miniaturen mit gliedernder Funktion in Schriftseiten integriert werden, finden sich nun in Textillustrationsverfahren in deutschsprachigen Gebieten ganzseitige, in zwei oder drei Register unterteilte und auf gesonderten Blättern eingeschobene Miniaturen, die aufgrund ihrer Gestaltung und Positionierung im Codex keine gliedernde Funktion mehr haben, sondern vielmehr erzählerische Eigenständigkeit beanspruchen.10 In Anlehnung an die neuere Text-Bild-Forschung können somit die Illustrationen als eigenständige Fassungen des literarischen Stoffes und nicht als dessen bloßes Beiwerk gedeutet werden. Bereits aufgrund ihrer unterschiedlichen medialen Präsenz, die individuellen Formgesetzen unterliegt, weisen Bilderzyklen nicht nur eine gewisse Eigengesetzlichkeit auf, sondern präsentieren darüber hinaus eine narrative Eigenlogik, die ein spezifisches Verständnis des literarischen Stoffes zum Ausdruck bringt. Die germanistische und kunsthistorische Forschung hat sich den ParzivalIllustrationen des Cgm 19 bereits intensiv gewidmet und diese sowohl ikonographisch analysiert als auch ihr Verhältnis zum Text gedeutet. Dabei wurden inhaltliche Korrespondenzen und Differenzen zwischen Text und Bild bereits herausgearbeitet. Auf der Basis dieser Erkenntnisse bauen die folgenden Überlegungen auf, die weder einen erneuten Text-Bild-Vergleich noch weitere detaillierte Bildbeschreibungen anstreben.11 Vielmehr geht es darum, die spezifische Rhythmisierung

|| 7 Vgl. Heinrich von Veldeke ‚Eneit‘ (Berlin, Staatsbibl., Ms. Germ. Fol. 282, ca. 1220–1230); Rudolf von Ems ‚Willehalm von Orlens‘ (Salzburg, Stiftsbibl. St. Peter, Cod. a VI 56, Mitte 13. Jh.). 8 Vgl. Karin SCHNEIDER, Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, 3., durchgesehene Auflage, Berlin, Boston 2014, S. 133. 9 Vgl. Jürgen WOLF, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Berlin, Boston 2008, S. 95. 10 Vgl. dazu: Norbert H. OTT, Bildstruktur statt Textstruktur. Zur visuellen Organisation mittelalterlicher narrativer Bilderzyklen, Die Beispiele des Wienhausener Tristanteppichs I, des Münchener Parzival Cgm 19 und des Münchener Tristan Cgm 51, in: Klaus DIRSCHERL (Hg.), Bild und Text im Dialog, Passau 1993, S. 53. 11 Für einen Forschungsüberblick siehe u. a. Elisabeth KLEMM, Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Textbd. und Tafelbd., Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 4 (1–2), Wiesbaden 1998; Bernd SCHIROK, Die Bilderhandschriften und Bildzeugnisse, in: Joachim HEINZLE (Hg.), Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, Bd. 1, Berlin, Boston 2011, S. 335–365; Anne STEPHAN-CHLUSTIN, Artuswelt und Gralswelt im Bild. Studien zum Bildprogramm der illustrierten Parzival-Handschriften (Imagines Medii Aevi 18), Wiesbaden 2004; STOLZ (Anm. 1), S. 1–71; Bernd

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der Erzählung innerhalb des Illustrationszyklus sowie die Konnotationen in den Fokus zu stellen, welche durch die Anlehnung an bestimmte ikonographische Vorlagen hervorgerufen werden. Anhand einer genauen Analyse dieser Aspekte soll gezeigt werden, dass durch die abwechselnde Präsenz von symmetrischen Formen und dem wiederholten Bezug auf die christliche Symbolsprache eine eigene, narrative Rhythmisierung der Bilderzählung erzeugt wird, die gleichsam den für Wolfram charakteristischen paradigmatischen Erzählstrukturen entspricht. Die hier im Blick stehenden zwölf Illustrationen (Abbildungen am Ende des Beitrags) finden sich auf gesonderten, eingeschobenen Pergamentblättern, die heute als folio 49 und 50 gezählt werden. Diese Einbindung entspricht in Anbetracht der Lagenordnung nicht ihrer originären Position. Unabhängig von ihrer ursprünglichen Einbindung können die Bilder als formal eigenständig betrachtet werden. Die gerahmten Miniaturen in Deckfarben und Gold sind durch waagrechte Zwischenleisten in jeweils drei Register unterteilt.12 Illustriert ist der Schlussteil der Parzival-Handlung, genauer das Ende des Gawan-Teils sowie die Feirefiz-ParzivalHandlung. Dass der Bilderzyklus nur das Ende des Romans illustriert, erscheint begründungsbedürftig und wird zuweilen als Indiz dafür verstanden, dass ursprünglich weitere Illustrationen zur Handschrift gehört haben. Aufgrund der formalen Eigenständigkeit sowie der Geschlossenheit der Bildseiten lässt sich diese Vermutung jedoch weder stützen noch widerlegen. In Anbetracht des reich illustrierten Cgm 51 aus derselben Werkstatt, dessen 30 Bildseiten ebenso gesondert angeordnet und in zwei oder drei Register unterteilt sind, sowie der im Cgm 19 auffälligen Konzentration auf den Schlussteil des Textes, ist es jedoch wahrscheinlich, dass weitere Miniaturen zum ursprünglichen Konzept der Handschrift gehört haben. Diese könnten bei einer späteren Neubindung – vielleicht des 16. Jahrhunderts – verloren gegangen sein. Möglich scheint aber auch, dass sie gar nicht erst angefertigt wurden.

|| SCHIROK (Hg.), Wolfram von Eschenbach ‚Parzival‘. Die Bilder der illustrierten Handschriften (Litterae 67), Göppingen 1985. 12 Gude SUCKALE-REDLEFSEN erkennt in der Eigenständigkeit der Bildseiten sowie der kompositorischen Anordnung in drei Registern eine Ähnlichkeit zum David-Zyklus in der Handschrift Bamberg, Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 59. Es stellt sich die Frage, inwiefern jedoch tatsächlich eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den ähnlichen Illustrationen der Handschriften besteht, oder ob es sich nicht lediglich um dieselbe, ikonographische Darstellung nach gemeinsamen Vorbildern handelt. Vgl. Gude SUCKALE-REDLEFSEN, Der Buchschmuck zum Psalmenkommentar des Petrus Lombardus in Bamberg. Bamberg Staatsbibliothek, Msc. Bibl. 59, Kommentar zur FaksimileAusgabe, Wiesbaden 1986, S. 34. Michael STOLZ weist zudem auf stilistische Übereinstimmungen des Cgm 19 „mit dem Buchschmuck einer hebräischen Bibel [hin], die im Auftrag des Rabbiners Jōsēf bar Mōše von Ulmena zwischen 1236 und 1238 im süddeutschen Raum entstand (Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Ms. B 30 - 32 inf.)“, die sich auch auf den Cgm 51 erstrecken. Vgl. STOLZ (Anm. 1), S. 8.

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Aufgrund ihrer formalen Unabhängigkeit können die Bilder nicht als parallele Illustrationen des Texts wahrgenommen werden. Vielmehr muss das Gelesene erneut in Erinnerung gerufen oder die Geschichte aus den Bildern – mithilfe der Kenntnis der literarischen Vorlage – erschlossen werden. Dadurch erhalten die Illustrationen einen besonderen Eigenwert. „Die Bilder sind in einem eigenen Block zusammengefasst und dem Text als geschlossene, isolierte Einheit von besonderer Autonomie eingefügt.“13 Nicht nur die einzelnen Register, sondern auch ein alle Register umfassender Rahmen begrenzt die Miniaturen der Bildseiten zusätzlich und hebt diese nicht nur erneut vom Text, sondern gleichermaßen auch vom Pergament-Untergrund der Blattseite ab. Der Rahmen sorgt für eine bildliche Geschlossenheit.14 Durch diese detailreiche formale Gestaltung erschaffen die Illustrationen – nach Norbert OTT – gleichsam neben dem Text – und doch im Dialog mit ihm – […] eine neue Geschichte, die anderen Strukturgesetzen gehorcht als die im Text erzählte Geschichte, und die durch die Verwendung bestimmter tradierter ikonographischer Modelle auch andere Deutungsmuster aufrufen kann.15

Das erste Register auf Blatt 49r zeigt die Lager von Artus und Gramoflanz in Joflanze nach Parzivals Kampf gegen Gramoflanz. Die Identifikation der beiden Figuren wird durch die Namensbänder ermöglicht. Die dazugehörige Textstelle, in der Gramoflanz’ Berater dem König empfiehlt, Artus darum zu bitten, dass nun wirklich Gawan gegen ihn kämpfen solle, findet sich an einer späteren Stelle des Codex: auf Blatt 60r (vgl. Pz. 709,13–20).16 Die Darstellung ist aufgrund der gleichförmigen Zelte an den beiden seitlichen Bildrändern von einer augenfälligen Symmetrie geprägt, die vor allem im Hinblick auf das zweite Register noch deutlicher heraussticht. Das zweite Register der Bildseite zeigt die Begegnung zwischen Artus und Gramoflanz mitsamt ihrem ritterlichen Gefolge (vgl. Pz. 721–723). Im Unterschied zu

|| 13 Lieselotte SAURMA-JELTSCH, Zum Wandel der Erzählweise am Beispiel der illustrierten deutschen ‚Parzival‘-Handschriften, in: Joachim HEINZLE, Leslie Peter JOHNSON u. Gisela VOLLMANN-PROFE (Hgg.), Probleme der Parzival-Philologie. Marburger Kolloquium 1990 (Wolfram-Studien 12), Berlin 1992, S. 126. 14 Anne STEPHAN-CHLUSTIN weist darauf hin, dass die meisten Bildmotive über den Bildrand hinausweisen und die Szenerie dadurch nach außen hin öffnen. Vgl. STEPHAN-CHLUSTIN (Anm. 11), S. 22–23. 15 OTT (Anm. 10), S. 54. 16 Wolframs ‚Parzival‘ wird zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl LACHMANN, Übersetzung von Peter KNECHT, Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘Interpretation von Bernd SCHIROK, 2. Aufl. Berlin, New York 2003. Vgl 709,13–20: Gramoflanz si rieten, // er möhte wol enbieten, // Artûse, daz er naeme war // daz kein ander man ûz sîner schar // gein im koem durch vehten, // daz er im sande den rehten: // Gâwân des künec Lôtes suon, // mit dem wolt er den kampf tuon.

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Wolframs Erzählung reitet der König – identifiziert durch ein Namensband – Gramoflanz hier selbst entgegen.17 Die Symmetrie des ersten Registers wird fortgesetzt. Am linken und rechten Bildrand stehen wiederum die Zelte der beiden Könige im Vordergrund. In Bezug auf die symmetrische Anordnung innerhalb der hinteren Bildebene scheint das zweite Register das erste zu spiegeln: Zelt und Baum im Hintergrund des Bildes haben die Seiten gewechselt.18 Diese augenfällige Spiegelung bezieht sich allerdings allein auf die symmetrische Anordnung, denn die Ausgestaltung der Zelte unterscheidet sich.19 Subtil eröffnet sie damit eine diagonale Leserichtung und sensibilisiert den Blick bereits zu Beginn des Bilderzyklus für weitere Spiegelungen, die sich vor allem mit der folgenden Doppelseite bestimmen lassen. Das Hauptgeschehen ist ins Bildzentrum gerückt, die beiden ‚Lager‘ begegnen sich, sind formal aber weiterhin durch den Baum im Zentrum voneinander getrennt. Die Ausrichtung der beiden einander zugewandten Pferde lenkt den Blick des Betrachters von den beiden Außenseiten des Bildraums in dessen Zentrum. Das dritte und letzte Register der ersten Bildseite enthält eine Simultandarstellung zweier eigentlich aufeinanderfolgender Szenen: im Zentrum der Versöhnungskuss zwischen Orgeluse und Gramoflanz20 sowie – durch die Handgeste betont – die Versöhnung zwischen Gawan und Gramoflanz.21 Gawan reicht seine rechte Hand dem Gramoflanz, während seine Linke die beiden sich Küssenden umfasst. Links neben Gawan taucht erstmals Parzival im Geschehen auf. Die Szenerie des Bildes weicht von der Romanhandlung ab, indem es hier nicht zum Versöhnungskuss zwischen Gawan und Gramoflanz kommt. Die Simultanität der Ereignisse innerhalb der Illustration steht in einem Kontrast zur Linearität des Textes. Diese Reorganisierung soll jedoch den Sinn der Erzählung nicht ändern, sondern vielmehr neu || 17 In der literarischen Vorlage wohnt Artus der Szene nicht persönlich bei, sondern sendet Beakurs, um Gramoflanz entgegenzureiten. Artus empfängt Gramoflanz später im Artuslager. 18 Gemeint ist das Zelt, das im ersten Register noch ‚hinter‘ Gramoflanz’ Zelt (rechts) steht, und der Baum ‚hinter‘ dem Zelt des Artus’ (links). 19 Die unterschiedliche farbliche Ausschmückung der Zelte oder Gewänder kann nicht grundsätzlich als Zeichen eines Wechsels – beispielsweise eines wechselnden Personals – gedeutet werden, denn auch das zweifelsfrei durch Namensbänder identifizierte Personal wechselt von Bild zu Bild sein(e) Gewand(farbe). Die innerbildliche Ausschmückung kann daher nicht als Identifikationshilfe herangezogen werden. 20 Bernd SCHIROK vermutet hier die Begrüßung zwischen Gramoflanz und Itonje. Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Die Bilder der illustrierten Handschriften (Anm. 11), S. 183, in Bezug auf Pz. 724,24–30: Gramoflanzes ougen // si erkanten, diu im minne truoc. // sîn freude hôch was genuoc. // sît Artûs het erloubet daz, // daz si beide ein ander âne haz // mit gruoze emphâhen taeten kunt, // er kuste Itonjê an den munt. Wahrscheinlicher ist jedoch der Versöhnungskuss, da dieser dem unmittelbar darauffolgenden illustrierten Textgeschehen vorausgeht. 21 Vgl. Pz. 729,16–26: Gramoflanz durch suone gienc // und ûf genâde gein ir dar. // ir süezer munt rôt gevar // den künec durch suone kuste, // dar umb si weinens luste. // si dâhte an Cidegastes tôt: // dô twanc si wîplîchiu nôt // nâch im dennoch ir riuwe. // welt ir, des jeht für triuwe. // Gâwân unt Gramoflanz // mit kusse ir suone ouch machten ganz.

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akzentuieren. Im Zentrum stehen die (bildlich gleichzeitigen) Versöhnungen zwischen Gramoflanz, Orgeluse und Gawan. Die Handlung wird somit komprimiert, was auch für die dargestellte Szene am rechten Bildrand gilt. Ohne weitere formale Abgrenzung zur Mittelszene knüpft sie an das Textgeschehen nach der Versöhnung Gawans mit Gramoflanz an und stellt die Eheschließung zwischen Itonje und Gramoflanz durch Artus dar. Die beiden Szenen sind formal nur durch die Verlagerung des Geschehens von außen nach innen – in das Zelt – voneinander getrennt. Sie verschmelzen innerhalb desselben Bildrahmens miteinander. Das Prinzip der Symmetrie, das die ersten beiden Register prägt, setzt sich fort. Der Blick des Betrachters wird einerseits auf das Geschehen in den Zelten sowie andererseits auf das Geschehen im Zentrum gelenkt. Für die erste Bildseite ergibt sich anhand der symmetrischen Formen eine in sich geschlossene horizontale, aber zugleich auch vertikale und diagonale Leserichtung. Dabei fördert die formale Geschlossenheit der einzelnen Register die horizontale, während die sich wiederholenden, symmetrischen Formen und Spiegelungen zu einer vertikalen und diagonalen Leserichtung auffordern. Die symmetrische Ordnung dominiert die gesamte erste Bildseite und wird nun durch die Miniatur auf der folgenden Versoseite aufgebrochen. Das erste Register der zweiten Bildseite (49v) durchbricht nicht nur die bisherige symmetrische Ordnung, sondern führt einen weiteren Deutungshorizont in die Bilderzählung ein. Der Bildstreifen zeigt die erste von insgesamt drei recht ähnlich gestalteten Illustrationen eines Festmahls.22 Nach den Naturdarstellungen der letzten Bildseite, die auf keine spezifische, symbolisch konnotierte ikonographische Vorlage zurückzuführen sind, findet sich mit dem Festmahl nun eine Zäsur nicht nur des formalen Raumarrangements, sondern auch in Bezug auf den neu eröffneten religiösen Deutungshorizont. Die Illustration generiert ihren Sinngehalt weniger immanent durch die symmetrische Ordnung als vielmehr ‚transzendent‘, indem sie eine christliche Verweissymbolik aufruft. Die Vorlage der Darstellung wird in der Ikonographie des letzten Abendmahls zu suchen sein, an deren formalen Aufbau sich die Illustration anlehnt.23 Zwar verweist nicht jede Darstellung einer gedeckten Tafel, hinter der eine Reihe von Menschen Platz gefunden hat, auf den Bildtypus des christlichen Abendmahls;24 die Bildseiten des Cgm 19 scheinen jedoch eine religiöse Suggestion gezielt herzustellen und damit einen Rezeptionshinweis zu implizieren.

|| 22 Vgl. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 19, fol. 49v (Reg. 1), fol. 50r (Reg. 2) und fol. 50v (Reg. 1). 23 Aufgrund des Fehlens eines spezifischen, volksprachigen Vorlagenrepertoires aus der weltlichen Literatur stellt die christliche Ikonographie mit biblischen Narrativen für die Buchmalerei des 13. Jahrhunderts zweifellos den Grundbestand der Darstellungsmöglichkeiten dar. Daher müssen religiöse Bezüge zunächst nicht verwundern, sondern können vielmehr als erwartbar gelten. 24 Vgl. BAISCH (Anm. 5), S. 136.

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Hierfür spricht auch das eigenständige Layout der Bildseiten. Wie Norbert OTT festgestellt hat, folgen die auf gesonderten Blättern beigefügten narrativen Bilderzyklen „einem – vor allem in der biblisch-geistlichen Ikonographie entwickelten – Typ der Buchmalerei, der sich schon in diesem Traditionsstrang dadurch auszeichnete, die Texte nicht bloß ‚bebildern‘ zu wollen, sondern […] sie mit den Mitteln der Bildkunst neu erzählt und ‚interpretiert‘.“25 Eine solche zusätzliche Interpretationshilfe eröffnet nun auch der heilsgeschichtliche Bezug, der durch die symbolhaft aufgeladene Abendmahls-Ikonographie in die Bilderzählung aufgenommen wird. Nach den vorangehenden Versöhnungsszenen der letzten Register kommt es hier nun auch zur Versöhnung zwischen Parzival und Gramoflanz, die sich freundschaftlich die Hände reichen. Dabei ist es wohl keineswegs dem Zufall geschuldet, dass Parzival mit der Versöhnungsgeste genau in dieser Illustration erstmals zum Handlungsträger wird, während er in der vorangegangenen Versöhnungsdarstellung – zwar überproportional groß – aber dennoch nur ‚passiv‘ am Rande des Geschehens dargestellt wurde. Die Bilderzählung befindet sich nach wie vor im höfischen Milieu. Noch markieren Artus und Ginover das Zentrum der Festtafel, wie sie auch das Zentrum des Artushofes bilden. Vorlegemesser mit langen Klingen kennzeichnen sie zusätzlich als Gastgeber. Auch die Umbesetzung des Personals im Vergleich zum Abendmahls-Topos unterstreicht diese Deutung. Die Versöhnungsgeste sowie die beschrifteten Namensbänder Parzivals und Gramoflanz’ lenken den Fokus jedoch zusätzlich auf die Figur, welche von nun an die Erzählung weitertragen wird. Die christliche Konnotation der Festmahlsdarstellung, in welcher Parzival als Handlungsträger erscheint, eröffnet zugleich die in der Erzählung folgende Parzival- und Gralswelt-Handlung mit der Erlösung der (Grals-)Gesellschaft im Zentrum. Ist das biblische Abendmahl unweigerlich mit dem Leidensweg Jesu verknüpft, der mit der Erlösung der Menschheit endet, so kann diese Perspektivierung programmatisch ebenso auf den weiteren Handlungsverlauf des Romans übertragen werden: Denn auch der Titelheld befindet sich auf einem Leidensweg, der letztlich in die Erlösung führen wird. Sollte die Vorausdeutung der Erlösung von und durch Parzival auch nicht die zentrale Funktion der Illustration sein, so findet der erst noch folgende Erzählstrang über die christliche Symbolik jedoch Einzug bereits in diese Bilderzählung und deutet dem Rezipienten, der die Handlung kennt, den Schluss voraus. Die Darstellung kündigt zu einem Zeitpunkt, an dem Parzival selbst zwar gerade wieder am Rande der Erzählung auftaucht, aber noch nicht im Zentrum des Geschehens steht, implizit das erneute Hervortreten des Titelhelden als zentraler Protagonist und Handlungsträger an. Die erste Illustration der zweiten Bildseite verfolgt somit mehrere Funktionen: Sie markiert das Ende der Gawan-Handlung und lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters zurück auf die wiedereinsetzende Parzival-Handlung. Folglich ist auch || 25 OTT (Anm. 10), S. 55.

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nicht weiter verwunderlich, dass eine in der literarischen Vorlage als vergezzen angeführte Textstelle aufgegriffen und herausgestellt wird: des nahtes umb ir ezzen // muge wir maere wol vergezzen. (Pz. 731,9–10). Darüber hinaus setzt mit der ersten Festmahlsdarstellung eine Rhythmisierung des Bilderzyklus ein, die im Folgenden noch ausführlicher diskutiert werden soll. Das zweite Register bricht die festliche Stimmung auf und illustriert den Zweikampf zwischen Parzival (links) und Feirefiz (rechts) genau in jenem Moment, in dem Parzivals Schwert zerspringt.26 Eigenartig mutet das Wappentier des Feirefiz an. Wolfram spricht von einem Ecidemon, bleibt in dessen Bestimmung jedoch vage, indem er es in Verbindung mit der Wunde Anfortas’ zunächst als Giftschlange beschreibt, dann aber als Feind der Giftschlangen.27 Bleibt das Wesen des Ecidemon im Text somit unbestimmt, so wird in der Miniatur jedoch sichtlich kein schlangenartiges Wesen dargestellt, sondern vielmehr ein Fuchs oder Marder. Da sich der Bilderzyklus auf den Schluss des ‚Parzival‘ konzentriert, erklärt sich möglicherweise auch die Gestalt des Ecidemon, das in der illustrierten Textstelle in der zuletzt erwähnten Bedeutung – als Feind der Giftschlangen – angeführt wird.28 Das turmartige Gebäude links im Bild könnte dann als warthûs in der sûl gedeutet werden – jener Ausguck auf dem Schloss Schastel marveile, von wo aus der Zweikampf beobachtet wird.29 Das letzte Register der zweiten Bildseite führt mit dem Moment des gegenseitigen Erkennens beider Brüder die vorangegangene Szenerie fort. Das erste Register der folgenden Seite (50r) zeigt die Rückkehr der Brüder an den Artushof. Wie bereits im zweiten Register der ersten Bildseite, in welchem Beakurs ‚unterschlagen‘ wird, weicht die Illustration auch hier vom Text ab und komprimiert das Geschehen:

|| 26 Vgl. Pz. 744,10–11: von Gaheviez daz starke swert // mit slage ûfs heidens helme brast. 27 Vgl. Pz. 481,6–18: swaz man der arzetbuoche las, diene gâben keiner helfe lôn. // gein aspîs, ecidemon, // ehcontîus unt lisîs, // jîcîs unt mêatrîs // (die argen slangenz eiter heiz // tragent), swaz iemen dâ für weiz, // unt für ander würm diez eiter tragent, // swaz die wîsen arzt dâ für bejagent // mit fisiken liste an würzen, // (lâ dir die rede kürzen) // der keinz gehelfen kunde: // got selbe uns des verbunde. Und: Pz. 736,10–14: ûf dem helme ein ecidemôn: // swelhe würm sint eiterhaft, // von des selben tierlînes kraft // hânt si lebens decheine vrist, // swenn ez von in ersmecket ist. 28 Ein weiterer möglicher Grund für die Darstellung des Ecidemon als Fuchs oder Marder könnte darin begründet liegen, dass die Gestalt der Schlange negative Assoziationen hervorrufen könnte, die hier vermieden und keineswegs auf Feirefiz übertragen werden sollten. Insbesondere in Anbetracht der sonstigen Verwendung biblischer Ikonographie wäre eine Assoziation an die Charakterisierung der Schlange in der Heiligen Schrift und eine Einordnung des Motivs in einen heilsgeschichtlichen Deutungshorizont für die Betrachter der Ecidemon-Illustration naheliegend. 29 Vgl. Pz. 755,16–21: von Schastel marveile geriten // kom ein man zer selben zît: // der seite alsus, ez waere ein strît // ûfem warthûs in der sûl gesehn, // swaz ie mit swerten waere geschehn, // ‚daz ist gein disem strîte ein niht.‘. Oder: Pz. 759,19–23: Gâwân sprach ‚mir wart gesagt // von eime strîte unverzagt. // ûf Schastel marveil man siht // swaz inre sehs mîln geschiht, // in der sûl ûf mîme warthûs.

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Parzival und Feirefiz treffen bei ihrer Ankunft am Artushof nicht unmittelbar auf Artus, sondern reiten zunächst zum Zelt Gawans, werden dort entwappnet (vgl. Pz. 755,29–756,13) und treffen erst nach einem üppigen Abendessen auf das Königspaar und dessen Gefolge (vgl. 764,24–765,30). Diesen Umweg geht die Illustration nicht, sondern rückt die Begegnung zwischen den Brüdern und Artus ins Zentrum. Die drei Bildstreifen um die Feirefiz-Parzival-Handlung sind ebenso wie die Miniatur der ersten Bildseite symmetrisch komponiert. Die zweite der insgesamt drei Festmahlsdarstellungen markiert eine weitere Zäsur innerhalb des Bilderzyklus. In ihrem Zentrum sitzt Artus, wiederum durch ein Vorlegemesser als Gastgeber identifiziert. Der König hält das Festmahl zu Ehren Feirefiz’ ab.30 Verglichen mit der ersten ist die Tafel hier jedoch leicht in den Bildhintergrund gerückt, um im Vordergrund genügend Patz für die zu den Füßen Parzivals kniende Gralsbotin Cundrie zu schaffen. Entsprechend der literarischen Vorlage ist die Hässlichkeit Cundries durch einen Eberzahn verbildlicht.31 Dieser muss als stilistisches Gnorisma verstanden werden und fungiert zugleich als Marker ihrer Andersartigkeit und Fremdheit. Die Gralsbotin wirft sich demütig vor die Füße Parzivals, um ihn um Vergebung für den einst ausgesprochenen Fluch zu bitten.32 Zwar ist Parzival räumlich gesehen erneut an den Rand der Darstellung des höfischen Milieus gestellt, gerät allerdings durch die vor ihm kniende Frauenfigur in den Fokus. Unweigerlich erinnert auch diese Szenerie an die Ikonographie des Abendmahls und der Fußfall Cundries ruft die Salbung von Bethanien respektive die ikonographische Darstellung Maria Magdalenas als Büßerin, die Jesus die Füße salbt und mit ihren Haaren trocknet, in Erinnerung.33 Insofern die Salbung in Bethanien als prophetischer Hinweis Jesu auf seinen Tod und die Erlösung der Menschheit hindeutet, erscheint der Fußfall Cundries durch diese Parallelisierung34

|| 30 Vgl. Pz. 774,13–17: Artûs warp ein hôchgezît, // daz diu des morgens âne strît // ûf dem velde ergienge, // daz man dâ mite enpfienge // sînen neven Feirefîz. 31 Vgl. Pz. 780,21–22: ir zene lanc: ir munt gap schîn // als ein vîol weitîn. 32 Vgl. Pz. 779,21–26: von dem pfärde ûfez gras. // si viel mit zuht, diu an ir was, // Parzivâle an sînen fuoz, // si warp al weinde umb sînen gruoz, // sô daz er zorn gein ir verlür // und âne kus ûf si verkür. 33 Vgl. die Evangelien von Matthäus (Mt. 26,6–13), Markus (Mk. 14,3–9) und Johannes (Joh. 12,1–8). 34 Die deutliche Orientierung an der christlichen Ikonographie lässt sich anhand von Bildvergleichen mit weiteren beispielhaft angeführten Miniaturen des 13. Jh. aus Deutschland, Frankreich und England weiter belegen. Eine exemplarische Auswahl bieten: New York, Morgan Library, Das Stundenbuch des Ghuiluys de Boisleux, Ms. M. 730, fol. 14r, Arras (Frankreich), 1243–1246; Besançon, Bibliothèque Municipale, Der Bonmont-Psalter, Ms. 54, f. 7r, Deutschland? (genauer Entstehungsort unbekannt), 1260; Ein weiterer Psalter: New York, Morgan Library, Ms. M. 521, (Einzelblatt), Canterbury (England), 1155–1160; Ein weiteres Stundenbuch: New York, Morgan Library, Ms. M. 739, fol. 21v, eventuell Bamberg (Deutschland), 1204–1219; London, British Library, Arundel Ms. 157, f. 8r, England (Oxford), 1. Viertel 13. Jh.; New York, Morgan Library, Royal 1 DX, f. 4v, England, vor 1220. Besonders sticht der Vergleich mit dem vermutlich aus Bamberg stammenden Stundenbuch aus der

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mit einer christlich-religiösen Bedeutung aufgeladen. Damit ist zum einen ein zusätzlicher heilsgeschichtlicher Bezug geschaffen, der zugleich Parzival als Heilsträger legitimiert und Cundries Bezeichnung Parzivals als krône menschen heiles (Pz. 781,14) vorwegnimmt. Zum anderen ist wiederum auf die folgende Erlösung der Gralsgesellschaft vorausgewiesen. Durch die Übertragung der höfischen Geste des Kniefalls in den christlichen Kontext der Fußwaschung – als öffentliche Anerkennung Jesu35 – wird Parzival sowohl im höfischen wie auch im christlich-religiösen Milieu der Gralswelt öffentlich rehabilitiert. Überdies kommt der zweiten Festmahlsdarstellung noch eine weitere, proleptische Funktion zu: Wie zuvor die erste Illustration des Festmahls hat auch diese Darstellung durch ihre Scharnier-Funktion einen Sonderstatus innerhalb der Bilderzählung inne. Als ,Scharnier-Bilder‘ möchte ich im Folgenden jenen im Parzival-Zyklus mehrmals vorkommenden Bild-Typus mit einem semiotischen Sonderstatus bezeichnen, bei dem sich mehrere Funktionen in einer Darstellung überlagern: Sie sind illustrativ, proleptisch, verwenden die christliche Ikonographie zur Bedeutungsgenerierung und eröffnen jeweils einen neuen Handlungsraum. Sie fungieren illustrativ in Bezug auf das je aktuelle Ereignis des Romans sowie gleichzeitig proleptisch, indem sie Motive eines folgenden Handlungsstrangs vorwegnehmen und dabei – und das ist ein entscheidendes Merkmal – vor allem einen neuen Handlungsraum eröffnen. Ihr syntagmatischer Ort im linearen Verlauf der Bilderzählung trägt grundsätzlich zur Bedeutungsgenerierung bei. Die Besonderheit der Scharnier-Bilder besteht nun allerdings in einer Bedeutungsgenerierung durch die Kombination der eben benannten Funktionen. Erst das Zusammenspiel der proleptischen Eröffnung eines neuen Handlungsraums in Verbindung mit der Verwendung der christlichen Ikonographie zur Bedeutungsgenerierung macht eine Illustration zum Scharnier-Bild, dessen ambiguer Verweischarakter rekonstruiert werden muss, damit die Bilderzählung ihre Bedeutung entfalten kann. Durch das Zusammenwirken all dieser Funktionen leisten die Scharnier-Bilder zweifelsfrei mehr als die bloße Verknüpfung verschiedener Handlungsmomente innerhalb eines Bildes oder das Aufrufen christlich-religiöser Bezüge als Deutungsperspektiven. Hierdurch heben sie sich auch von dem dritten Register der ersten Bildseite sowie der dritten Festmahlsdarstellung ab, in denen jeweils nur einzelne Aspekte wie die proleptische Funktion und die christlich-religiöse Symbolisierungsleistung erkennbar sind. Die Scharnier-Bilder leiten von der Gawan-Handlung zur Parzival-Handlung über, markieren den Übergang von der Artuswelt zur Gralswelt oder von der Gralswelt zu Feirefiz’ Auszug zur Bekehrung der Heiden. Durch ihre regelmäßige Wiederkehr entsteht die dem Illustrationszyklus eigene Rhythmisierung.

|| Morgan Library, Ms. M. 739 hervor, dessen Illustrationen fast durchgängig ein ebenfalls dreiteiliges Layout aufweisen. 35 SAURMA-JELTSCH (Anm. 13), S. 133.

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Mit der Anwesenheit Cundries wird der Rezipient unmittelbar auf die folgenden Geschehnisse in der Gralswelt vorbereitet, wie zuvor die Anwesenheit Parzivals auf die wiedereinsetzende Parzival-Handlung hingewiesen hat. Das letzte Register der dritten Bildseite führt nun fort, was Cundries Fußfall vorausgedeutet hat, und rückt die Gralswelt in den Vordergrund der Bilderzählung. Die Illustration zeigt, wie Parzival, Feirefiz und Cundrie gemeinsam zur Gralsburg Munsalvaesche reiten.36 Die Gralsburg ist am rechten Bildrand mit geöffnetem Torbogen und einer wartenden Frauenfigur dargestellt. Auf dem Doppelblatt lassen sich weitere augenfällige, rhythmisierende Wiederholungen über die einzelnen Seitengrenzen hinweg erkennen. Die Raumstruktur folgt wiederum dem Prinzip der Spiegelbildlichkeit. Die einzelnen Register finden sowohl inhaltlich in Bezug auf das Dargestellte als auch formal in Bezug auf die Darstellungsweise und schließlich in Bezug auf die Funktion der Darstellung einen diagonalen Bezug. Das erste Festmahl im ersten Register der zweiten Bildseite findet seine Entsprechung im Festmahl des zweiten Registers der dritten Bildseite. Beide Bildstreifen verwenden dieselbe ikonographische Vorlage und weisen als einzige auf der Doppelseite 49v und 50r einen goldenen Hintergrund auf. Artus bildet in beiden Registern das Zentrum der Festtafel. Im ersten Register auf Blatt 49v ist Parzival an die rechte Tischhälfte gerückt. Die gespiegelte Raumstruktur der Festtafel auf Blatt 50r zeigt ihn links. Der Buchfalz kann insofern als Spiegelachse verstanden werden, als Parzival jeweils in einer ähnlichen Distanz zur Tischmitte spiegelverkehrt platziert ist. Überdies erschließt die Parzivalfigur der Illustration beide Male eine proleptische Dimension und eröffnet – auf Blatt 50r im Zusammenspiel mit der Cundriefigur – einen neuen Handlungsraum. Nicht nur durch die Umbesetzung des Personals im Allgemeinen, sondern gleichermaßen auch durch die (Um-)Platzierung der Parzivalfigur wird hier Bedeutung generiert. Die Wiederholung des Festmahl-Motivs betont dessen Eigenständigkeit in Abgrenzung zur Darstellung des christlichen Abendmahls. Sollen durch die Verwendung der ikonographischen Vorlage auch religiöse Konnotationen als Rezeptionshinweis eröffnet werden, so betont die Illustration mit Hilfe der Umbesetzungen sowie der Wiederholungen deutlich ihren autonomen Erzählcharakter. Dargestellt ist eben nicht das christliche Abendmahl, sondern eine höfische Festmahlszene. Auch das zweite Register auf 49v verweist in der Art seiner inhaltlichen sowie formalen Gestaltung auf sein Pendant im dritten Register der gegenüberliegenden Rectoseite. Der grüne Bildhintergrund und die Doppelung des Personals – auf Blatt 50r ergänzt durch Cundrie und eine weibliche Figur – verstärken den Bezug. Beide Register zeigen Naturdarstellungen sowie eine Burg respektive – mit dem Aussichtsturm (49v) – den Teil einer Burg, einmal am linken und einmal – gespiegelt – am rechten Bildrand. Das dritte und letzte Register der zweiten Bildseite findet seinen || 36 Vgl. Pz. 786,30: kvndrie vnd(e) die zwene hin riten sie.

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diagonalen Bezug in dem unmittelbar auf der gegenüberliegenden dritten Bildseite anschließenden ersten Register. Wieder wird die Natur dargestellt, dieselbe blaue Hintergrundfarbe verwendet und auch das Personal bleibt – mit Ergänzungen – gleich. Die Farbgestaltung der Hintergründe37 sowie der Wechsel zwischen Naturund christlich-religiös aufgeladenen Festmahlsdarstellungen scheinen zumindest auf dieser Doppelseite nicht dem Zufall geschuldet zu sein und unterstützen überdies die der Bilderzählung immanente Rhythmisierung. Das erste Register der vierten und letzten Bildseite enthält die letzte der drei Festmahlszenen und vereint erneut verschiedene zeitlich nacheinander folgende Festlichkeiten um die Heilung des Anfortas auf Munsalvaesche (vgl. Pz. 794,21–26; 796,22–27) ebenso wie die festliche Gralzeremonie selbst (vgl. Pz. 807,14–813,22). Obwohl Parzival bereits gekrönt ist, bildet hier noch Anfortas und dessen Erlösung, stellvertretend für die Erlösung der Gralswelt, das Zentrum der Tafel. Die Erlösung steht somit im Fokus, während der am Rand dargestellte Parzival abermals als Handlungsträger – König und Gastgeber – aktiv wird. Erneut wird deutlich, wie die Umbesetzung des Personals eine neue Bedeutung generiert und die Illustration nicht mehr den höfischen, sondern weiterhin den christlich-religiösen Handlungsraum ins Zentrum der Bilderzählung rückt. Das mittlere Register verweist auf eine Textstelle, die zeitlich der Gralszeremonie vorausgeht: die lang ersehnte Wiederbegegnung zwischen Parzival und Condwiramurs. Der Bildstreifen zeigt beide Liebenden bereits gekrönt, was die chronologische Einordnung im Anschluss an die Gralszeremonie rechtfertigt. Das letzte Register stellt erneut heilsgeschichtliche Bezüge her und bedient sich einer simultanen Darstellungsweise. Es vereint – wie die Versöhnungen der ersten Bildseite – zwei unterschiedliche Ereignisse: am linken Bildrand die Taufe des Feirefiz durch einen die Hand über ihn haltenden Priester (vgl. Pz. 816,9–818,14). Das zweite Ereignis am rechten Bildrand zeigt Repanse mit dem Gral und Feirefiz, wie er einem Götzenbild38 den Kopf abschlägt, während er die rechte Hand über den Gral hält. Die Illustration verweist somit nicht nur auf Feirefiz’ persönliche Bekehrung,39 welche bereits in der Taufszene erkennbar wird. Durch die Szenerie um die Zerstörung des Götzenbildes wird vielmehr auf seinen missionarischen Auszug aus der Gralsburg zur Bekehrung der Heiden und die Zerstörung des Kultes

|| 37 Zum Schema der Hintergrundfarben vgl. auch SCHIROK, Die Bilderhandschriften und Bildzeugnisse (Anm. 11), S. 338. 38 Die Farbe auf dem Körper des Götzenbildes ist abgekratzt worden. Es schimmern noch goldfarbene Reste hervor. Darunter kommt die Pergamentseite zum Vorschein. 39 Vgl. Pz. 818,1–12: Feirefîz zem priester sprach // ‚ist ez mir guot für ungemach, // ich gloub swes ir gebietet. // op mich ir minne mietet, // sô leist ich gerne sîn gebot. // bruoder, hât dîn muome got, // an den geloube ich unt an sie // (sô grôze nôt enpfieng ich nie): // al mîne gote sint verkorn. // Secundill hab och verlorn // swaz si an mir ie gêrte sich. // durh dîner muomen got heiz toufen // mich.‘.

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respektive der heidnischen Religion als Ganzes verwiesen.40 Durch dieses letzte Register wird Feirefiz in die Reihe der christlichen Krieger gestellt. Die Ikonographie der Taufdarstellung, die frontale Positionierung des Täuflings mit den geöffneten sichtbaren Handflächen oder die Anwesenheit von Begleitpersonen erinnern weniger an die übliche Darstellungsweise von Taufakten, sondern unweigerlich an eine bestimmte, nämlich die Jesu Christi selbst.41 Lieselotte SAURMA-JELTSCH sieht zudem in der besonderen Form des Taufbeckens als Dreieck sowie in der Übergabe des Tuches und dem beiwohnenden Gefolge einen Bezug zu Kaiser Konstantin, durch dessen Herstellung Feirefiz zudem den vorbildlichen christlichen Herrschern und Bekehrern zugeordnet wird.42 Auch hier wird die Rhythmisierung der Bilderzählung zweifelsfrei deutlich: Auf drei aufeinanderfolgende, thematisch dicht zusammengehörige Darstellungen mit einer überwiegend illustrativen Funktion folgt jeweils ein Scharnier-Bild. Der Zyklus beginnt mit drei Bildstreifen, die den Schluss der Gawan-Handlung illustrieren (Buch XIV),43 gefolgt von einer Illustration mit Scharnier-Funktion, die von der Gawan-Handlung zur Parzival-Feirefiz-Handlung überleitet beziehungsweise beide Handlungsräume zusammenführt (Buch XIV).44 Die nächsten drei Register illustrieren die Feirefiz-Parzival Handlung (Buch XV).45 Die darauffolgende zweite Festmahlsdarstellung vereint durch die Anwesenheit der Gralsbotin Cundrie das Geschehen am Artushof – mit der Parzival-Feirefiz-Handlung im Zentrum – und die Ereignisse in der Gralswelt (Buch XV). Die letzten drei Bildstreifen zeigen das Geschehen um die Gralsburg (Buch XVI).46 Die Präsentation des gekrönten Königspaares Parzival und Condwiramurs bei ihrer Wiederbegegnung bestätigt die Zugehörigkeit zur Gralswelt. Zum Abschluss leitet das letzte Register vom Geschehen in der Gralswelt zu Feirefiz’ Abschied von der Gralsburg als christlicher Bekehrer über (Buch XVI). Der Illustrationszyklus folgt demnach nicht nur einer formalkompositorischen, sondern gleichermaßen auch einer narrativen Rhythmisierung von vier Bildstreifen zu einem Buch, wovon jeweils dem letzten eine ScharnierFunktion zukommt.47 Zudem werden die Scharnier-Bilder (Festmahl – Festmahl) sowie die Naturdarstellungen (Brüderkampf – Ritt zur Gralsburg; Erkennungsszene

|| 40 Vgl. Pz. 822,28–823,1: Feirefîz hiez schrîben // ze Indyâ übr al daz lant, // wie kristen leben wart erkant: // Daz was ê niht sô kreftec dâ. 41 Vgl. SAURMA-JELTSCH (Anm. 13), S. 134. 42 Vgl. ebd., S. 134–135. 43 Artus und Gramoflanz in ihren Zelten; Artus und Gramoflanz reiten sich entgegen; Versöhnung und Hochzeit. 44 Das Hochzeitsmahl. 45 Brüderlicher Zweikampf; Erkennen; Rückkehr an den Artushof. 46 Ritt zur Gralsburg; Festmahl auf der Gralsburg; Wiederbegegnung Parzival und Condwiramurs. 47 Diese Rhythmisierung ist mithilfe der roten und blauen Markierungen in den Abbildungen kenntlich gemacht.

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– Ankunft am Artushof) durch diagonale Verweise über die Seitengrenze der Doppelseite 49v und 50r hinweg konsequent inhaltlich und formal miteinander verknüpft und ihr Rhythmus abermals betont. Folglich entspricht die Narratologie des Bilderzyklus insofern der Narratologie des Wolframschen Romans, als beide Medien Formen der Sinnkonstitution, Ambiguisierung und Kohärenzstiftung durch paradigmatische Spiegelungen erzeugen. Der Bilderzyklus macht sich eine textstrukturelle Besonderheit des ‚Parzival‘ zu eigen und überträgt diese auf die Bilderzählung. Er ist nicht nur selbstreflektierend, sondern spiegelt gleichermaßen auch die der Wolframschen Erzählung immanenten paradigmatischen Strukturen.48 „[V]erknüpfende Querbeziehungen äußerer und auch innerer Art“49 definieren auch die Erzählweise des Illustrationszyklus. Damit wird deutlich, dass der Illustrationszyklus des Cgm 19 in konsequenter Weise nicht die Funktion der reinen, verbildlichten Darstellung des Textgeschehens im Sinne der bloßen bildlichen Wiedergabe des Textes verfolgt, sondern in Anlehnung an den Text eine Eigenlogik der Erzählweise mit einer deutlichen Rhythmisierung präsentiert. Der Bilderzyklus stellt ein in sich geschlossenes Erzählmedium sui generis dar. Die Bilderzählung wird anhand der Strukturprinzipien der Illustrationen in sich und weniger durch die Struktur des Textes bestimmt. Der Wechsel von geschlossenen symmetrischen Formen zu Bezügen auf eine christlich-religiöse Verweissymbolik und vice versa leistet dafür einen ebenso entscheidenden Beitrag wie die Einzelelemente. Insofern der Bilderzyklus Inhalte hervorhebt, die im Text nur beiläufig Erwähnung finden – verwiesen sei auf das Festmahl zur Hochzeit von Gramoflanz und Itonje oder die Zerstörung des Götzenbildes –, oder auch zentrale Geschehenskomplexe des Wolframschen Textes gar nicht thematisiert, wird einmal mehr deutlich, dass eine eigenständige Deutung der Erzählung im Fokus des Illustrationszyklus steht. Der Sinngehalt dieser Bilderzählung erschließt sich nur mithilfe der heilsgeschichtlichen Verweise. Auch die Darstellungen vermeintlich beiläufiger Ereignisse leisten daher einen äußerst wichtigen Beitrag zur Eigenlogik des Illustrationszyklus, weil der Bilderzyklus erst durch seinen gleichzeitigen Bezug auf den christlichen Symbolkosmos als geschlossene Erzählung verstanden werden kann. Dies belegt erneut die nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Autonomie der Bilder. Die Parallelisierungen erheben die Akteure des höfischen Romans in den Kontext des göttlichen Heilsplans und gleichzeitig werden die heilsgeschichtlichen Ereignisse in den Kontext des höfischen Zeremoniells übertragen. Die Heilsge-

|| 48 Zum paradigmatischen Erzählen im Parzival vgl. auch Julia RICHTER, Spiegelungen. Paradigmatisches Erzählen in Wolframs Parzival, Berlin 2015. 49 Walter HAUG, Die Symbolstruktur des höfischen Epos und seine Auflösung bei Wolfram von Eschenbach, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 668–705.

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schichte wird mit höfischen Idealvorstellungen verbunden und letztere dadurch auratisiert. Dabei steht weniger der Gedanke im Vordergrund, heilsgeschichtliche Ereignisse wie die Passion Christi oder das letzte Abendmahl im meditativen, religiösen Sinne erneut auf- und miterleben zu lassen, sondern vielmehr durch diese Verweise heilsgeschichtliche Bezüge zu eröffnen, die das Gegebene sakralisieren und Weltliches sowie Göttliches zusammenbringen.

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Abb. 1: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 19, fol. 49r.

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Abb. 2: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 19, fol. 49v.

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Abb. 3: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 19, fol. 50r.

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Abb. 4: Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 19, fol. 50v.

Claudia Brinker-von der Heyde

Höfische Epik neu erzählt Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ in der Arolser Weltchronik Abstract: The ‘Arolser Weltchronik’, named after its original place of storage and dating from around 1400, is a monumental illuminated manuscript with 220 miniatures. It not only tells – as usual – the world history divided into seven world ages, but also inserts epic narratives into it. Thus the chronicle does not end with a series of Popes and Emperors, but instead with excerpts from the ‘Arabel’ of Ulrich von dem Türlin, the ‘Willehalm’ of Wolfram von Eschenbach and the ‘Rennewart’ of Ulrich von Türheim. 45 miniatures illustrate the text. In the present essay, the excerpts from Wolfram’s ‘Willehalm’ are used to examine how the compiler has adapted Wolfram’s text for rewriting the well-known epic and how the striking cuts of the battle scenes, interpersonal scenes and narrative commentaries, rearrangements and/or additions, as well as the choice of pictorial themes change the concept and the constellation of figures in such a way that, while the history of the Empire, the Crusades and the Saints is written on the surface of the manuscript, on the text and picture level the interest and focus shifts away from the history of the Empire and the Crusades and from the figure of Willehalm to the figure of the Rennewart and his exoticism and burlesque episodes. Keywords: illuminated manuscript, world chronicle, retelling courtly epic, medieval history, compilation

Die um 1400 entstandene ‚Arolser Weltchronik‘, so genannt nach ihrem ursprünglichen Standort am Fürstenhof von Arolsen,1 ist eine der Handschriften2 einer gereim-

|| 1 Heute wird die Handschrift in der Staatsbibliothek Berlin unter der Sigle Ms.germ.fol. 1416 aufbewahrt. 1927 wurde die Handschrift von den Arolser Fürsten quasi „verheizt“, benötigten sie doch Geld für eine neue Heizung im Schloss und verkauften die Handschrift deshalb an den Leipziger Antiquar Karl W. Hiersemann, der sie seinerseits für stolze 42.500 Reichsmark an die königlich preußische Bibliothek in Berlin (heute Staatsbibliothek) weitergab. Bis heute besitzen die Fürsten von Arolsen eine umfangreiche Bibliothek. Zu Bestand und Forschung vgl. https://www.unikassel.de/projekte/fuerstenbibliothek-arolsen/projekt.html (21.08.2020); https://www.online.unimarburg.de/wolf/Waldeck/startseite-hofbibliothek.html (21.08.2020). Die Arolser Weltchronik ist || Claudia Brinker-von der Heyde, Institut für Germanistik, Universität Kassel, Höflistrasse 75, CH-8135 Langnau a. A., [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-012

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ten Weltchronik, die unter der Autorsigle Heinrich von München firmieren.3 Eine Besonderheit dieses monumentalen, 328 Blätter umfassenden Geschichtskompendiums ist, dass es nicht mit der üblichen Papst- und Kaiserreihe endet, sondern diese von fol. 271r bis zum Schluss ersetzt durch Exzerpte der wohl jedem mittelalterlichen Publikum bekannten Willehalm-Trilogie, bestehend aus der ‚Arabel‘ Ulrichs von dem Türlin, dem ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach sowie dem ‚Rennewart‘ Ulrichs von Türheim, und mit dem Tod Willehalms und einem Gebet an den Ritterheiligen schließt.4 Nur eine weitere Weltchronikhandschrift ist bekannt, in der ebenfalls die vollständige Trilogie zu finden ist,5 drei weitere Handschriften enthalten Exzerpte der ‚Arabel‘.6 Auffallend und besonders kostbar ist die Handschrift aber nicht nur durch ihren Umfang, ihre Vollständigkeit und zahlreiche Interpolationen – abgesehen von den drei Romanen finden sich auch der ‚Trojaner|| digitalisiert und abrufbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN71 7868990&PHYSID=PHYS_0001&DMDID= (21.08.2020). Eine inhaltliche Nacherzählung mit Kommentaren und vielen Abbildungen in: Claudia BRINKER-VON DER HEYDE u. Jürgen WOLF (Hgg.), Die Arolser Weltchronik. Ein monumentales Geschichtswerk des Mittelalters, Darmstadt 2014. 2 Fassung B2. Zur handschriftlichen Überlieferung und den Fassungen der Weltchronik vgl.: http://www.handschriftencensus.de/werke/544 (21.08.2020); Frank SHAW, Johannes FOURNIER u. Kurt GÄRTNER (Hgg.), Die Weltchronik Heinrichs von München Neue Ee (Deutsche Texte des Mittelalters 88), Berlin 2008, S. XXIII–XXX. 3 Einen kurzen Überblick bietet: Norbert H. OTT, Kompilation und Offene Form. Die Weltchronik Heinrichs von München, in: Gerhard WOLF u. Norbert H. OTT (Hgg.), Handbuch Chroniken des Mittelalters, Berlin 2014, S. 183–196. 4 Acht von zwölf vollständigen Willehalm-Handschriften sind zusammen mit der ‚Arabel‘, in der die Vorgeschichte Willehalms erzählt wird, und dem ‚Rennewart‘, der Wolframs Fragment zu einem Ende führt, überliefert. Werner SCHRÖDER u. Heinz SCHANZE, Neues Gesamtverzeichnis der Handschriften von Wolframs ‚Willehalm‘, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur und deutsche Literatur 91 (1961/1962), S. 201–226. In der ‚Arolser Weltchronik‘ finden sich Ulrichs von dem Türlin ‚Arabel‘ auf fol. 271ra–288ra, Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ auf fol. 288ra– 298rb, Ulrichs von Türheim ‚Rennewart‘ auf fol. 298rb–328va. 5 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf.1.5.2.Aug.fol. Vgl. Betty C. BUSHEY, Neues Gesamtverzeichnis der Handschriften der ‚Arabel‘, in: Wolfram-Studien 7, hrsg. v. Werner SCHRÖDER, Berlin 1982, S. 228–286, hier S. 273; Gisela KORNRUMPF, Die ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München. Zu Überlieferung und Wirkung, in: Peter K. STEIN, Andreas WEISS u. Gerold HEYER (Hgg), Festschrift für Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 478), Göppingen 1988, S. 493–509; Christian KIENING, Der ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach in karolingischem Kontext. Formen narrativ-historischer Aneignung eines „Klassikers“, in: Horst BRUNNER (Hg.), Studien zur „Weltchronik“ Heinrichs von München (Wissensliteratur im Mittelalter 29), Wiesbaden 1998, S. 522–568, hier S. 532–538. 6 New York City, Pierpont Morgan Library, Cod. M. 769; Gotha, Forschungsbibliothek, Cod. Chart. A 3. In der Münchner Handschrift Cgm 7377 darf angenommen werden, dass die verloren gegangenen Seiten Exzerpte des ‚Willehalm‘ und ‚Rennewart‘ enthielten. Dazu: BUSHEY (Anm. 5), S. 276–279. Zu den Exzerpten aus der ‚Arabel‘ vgl. Jürgen WOLF, Wolframs Willehalm zwischen höfischer Literatur und Memorialkultur, in: Ulrich ERNST u. Klaus RIDDER (Hgg.), Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters), Köln, Weimar, Wien 2003, S. 223–256, hier S. 247.

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krieg‘ Konrads von Würzburg7 und Bruder Philipps ‚Marienleben‘8 − sondern auch und gerade durch nicht weniger als 220 in den Text integrierte Miniaturen, die das Geschehen verbildlichen und dabei durchaus eigenwillige Akzente setzen. Sie sind in den zweispaltig geschriebenen Text eingebettet, was auf einen genauen Plan des Redaktors für die Verteilung von Text und Bild schließen lässt, musste deren Platz doch von vornherein ausgespart werden. Anders als in vielen epischen Bilderhandschriften9 verzichtet der Illuminator weitgehend darauf mit Hilfe von Tituli das Abgebildete zu kontextualisieren, es finden sich lediglich ab und an die Namen der Figuren über ihren Köpfen. Im gesamten Willehalm-Teil fehlen aber − mit einer Ausnahme10 − auch diese. Im Folgenden soll sich das Augenmerk auf diese Besonderheiten der Handschrift richten mit dem Ziel, das Verfahren des Kompilators zu entschlüsseln, ein, jedem mittelalterlichen Rezipienten wohl bekanntes Epos so zu erzählen, dass es sich in eine monumentale Weltchronik integrieren lässt. Anhand des Wolframschen ‚Willehalm‘-Teils11 soll deshalb 1. untersucht werden, wie ‚wahre‘ Literatur zu einer ‚wahren‘ Geschichte umgeschrieben und neu erzählt wird; 2. wird zu fragen sein, wie Kürzungen, Umstellungen oder auch Ergänzungen das Konzept und die Figurenkonstellationen verändern und 3. schließlich soll überlegt werden, inwiefern die in den Miniaturen gewählten Szenen die Rezeption des Texts beeinflussen.

|| 7 Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 105r–153v. Eine kommentierte Zusammenfassung in: Claudia BRINKER-VON DER HEYDE, Geschichte(n) von Troja, in: BRINKER-VON DER HEYDE u. WOLF (Anm. 1), S. 60–83. 8 Arolser Weltchronik (Anm. 1), 237r–267r. Eine kommentierte Zusammenfassung in: Kurt GÄRTNER, Das Leben Marias und ihres Sohnes Jesus, in: BRINKER-VON DER HEYDE u. WOLF (Anm. 1), S. 132–153. 9 Exemplarisch zu nennen ist für dieses Verfahren der 1334 entstandene Kasseler Willehalm-Kodex. 2° Ms. poet. et roman. 1. Digitalisat : https://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/object/130045789 2891/1/ (21.08.2020). 10 Auf fol. 274vab werden die abgebildeten Figuren mit Namen überschrieben. Arolser Weltchronik (Anm. 1). 11 Ich zitiere den Text nach Werner SCHRÖDER (Hg.), Die Exzerpte aus Wolframs ‚Willehalm‘ in der ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München (Texte und Untersuchungen zur ‚Willehalm‘-Rezeption 2), Berlin 1981. Er verwendet als Leithandschrift die Wolfenbütteler Weltchronik, nennt aber auch alle, meist nur einzelne Wörter betreffende, Abweichungen in der Arolser Weltchronik. 54 Verse fehlen in der Arolser Weltchronik, was wohl als Fehler des Schreibers zu werten ist. Alle Zitate aus der Weltchronik werden mit AW abgekürzt.

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1 Die Bearbeitung des ‚Willehalm‘ durch den Kompilator Gerade mal 2400 Verse, weniger als 20% von Wolframs ‚Willehalm‘, ergänzt um 300 von ihm selbst eingefügte Verse,12 benötigt der Kompilator, um Willehalms Geschichte zu erzählen. Ihm gehen 4000 Verse der ‚Arabel‘ voran, was immerhin 40% der Vorlage ausmacht, 9000 Verse des ‚Rennewart‘, d. h. 25% des Ausgangstextes, folgen auf ihn.13 Nimmt man noch den, der Trilogie vorgelagerten Karl-Teil dazu, in dem Willehalms Kindheits- und Jugendgeschichte erzählt wird, dann macht Wolframs ‚Willehalm‘ gerade noch 10% der gesamten Erzählung aus. Der Willehalm-Teil ist also deutlich „unterrepräsentiert“14, was sich zumindest in mancher Hinsicht damit erklärt, dass „Prologe, Exkurse, Kommentare, Reflexionen, Gebete und ausführliche Beschreibungen“ entweder ganz fehlen oder zumindest stark gekürzt werden sowie „Minnediskurs und Verwandtschaftsverhältnisse“ eine sehr viel geringere Rolle spielen als bei Wolfram. Gänzlich „ignoriert“15 werden sie deshalb aber nicht. Immerhin tritt als erster im ‚Willehalm‘-Teil Arabel man, der kuͤ nick Tybalt (Wh 8,2, AW 12) auf, der vor allem anderen der minn verlust nv chlaget, die ihm alle Freude genommen hat, erst danach den Verlust von er vnd weib/darzuͦ puͦ rg vnd lant (Wh 8,2–7;16 AW 13–17). Sein swecher (AW 20) und Arabels vater (Wh 9,21; AW 31) Terramer nutzt diese Klage, um seinen pruͦ der (Wh. 9,22; AW 32) Arofel und ihn aufzufordern, diesen Verlust zu rächen. Somit wird der erneute Kampf gleich zu Beginn sowohl mit der verlorenen minn (Wh 8,2; AW 12) begründet als auch explizit als Verwandtschaftsfehde gekennzeichnet. Als Movens für den Kampf spielt der Minnedienst dann zwar eine untergeordnete Rolle, bleibt aber doch als eine der möglichen Charakterisierungen für die Helden erhalten. So hat etwa Nipatreis, (Nouppatrîs Wh 22,18; AW 107) der weip minn (Wh 22,23; AW 110) aufs Schlachtfeld geführt, denn er rang ie nach weip lon (Wh 22,25; AW 111). Und im Unterschied zu Wolframs Willehalm, wo sich die vriundinne von Eskalabôn nach dessen Liebe sehnte (Wh 26,29), fügt in der Weltchronikfassung Esclabon selbst durch minn anderen Schaden zu (AW 123). Und sogar Gîburcs Ermahnung, angesichts der Frauen, die Willehalm am Königshof gerne ihre minne schenken möchten,

|| 12 KIENING (Anm. 5), S. 545. 13 WOLF (Anm. 6), S. 247. 14 Ebd., S. 247. 15 Annelie KREFT, Perspektivenwechsel. Willehalm-Rezeption in historischem Kontext: Ulrichs von dem Türlin Arabel und Ulrichs von Türheim Rennewart (Studien zur historischen Poetik Bd. 16). Heidelberg 2014, S. 250. 16 Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach einer Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, hrsg. v. Joachim HEINZLE, Peter DIEMER u. Dorothea DIEMER (Bibliothek deutscher Klassiker 69), Frankfurt a. M. 1991. Alle Zitate aus dem Willehalm werden mit Wh gekennzeichnet.

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an sie und ihr Leid zu denken ist, bleibt erhalten (Wh 93,8–24; AW 868–875), allerdings ohne Willehalm an seine Verpflichtung zur Liebe und triuwe zu erinnern, sondern lediglich mit dem Hinweis auf den möglichen Verlust ihres Königinnenstatus. Auffallend wenige Kürzungen erfahren – die Gespräche zwischen Gîburc und Willehalm (Wh 93,8–96,1; AW 685–755) nach der ersten Schlacht, – die Liebesnacht der beiden vor Willehalms Aufbruch nach Munleun (Wh 99,16– 100,18; AW 783–808), – Gîburcs Gebet (Wh 100,21–102,20; AW 809–831), – das Religionsgespräch zwischen der Tochter und ihrem Vater (Wh 217,1–221,27; AW 1846–1902), – die Abschiedsszene Alîses und Rennewarts, in der sich ihre Liebe andeutet (Wh 213,11–27; AW 1818–1837), – sowie das Gespräch Gîburcs mit Rennewart (Wh 289,20–294,30; AW 2261–2375). Sehr viel radikaler kürzt der Kompilator dagegen bei Willehalms Weg und Aufenthalt in Munleun sowie bei beiden Schlachten. In der ersten Schlacht nimmt der Kompilator auffallend viele Umstellungen vor, indem er jeweils bis zu 300 Verse auslässt und an deren Stelle einige wenige aus vorangegangenen Episoden einsetzt. Von den ausführlichen Beschreibungen der Kämpfer auf beiden Seiten und den Einzelkämpfen bleiben nur exemplarische, stark gekürzte Schilderungen von einigen wenigen. Vivianz wird unter Verweis auf ein puͦ ch (AW 280), mithin auf eine verwendete Quelle, in fünf Zusatzversen (AW 276—280) erst zwischen Wh 46,14 und Wh 46,15 als junger chnab (AW 277) und swester sun (AW 279) des Markgrafen eingeführt. Nicht sein Kampf, sondern sein vorbildliches Sterben als christlicher Märtyrer stehen im Zentrum. Willehalm begleitet zwar dieses Sterben, aber seine Klagen werden nur angedeutet, so dass er deutlich in den Hintergrund rückt. Die Episode verliert damit manches von der herausgehobenen Bedeutung, die Wolfram diesem Geschehen gegeben hat. Im Unterschied zur Wolfenbütteler Weltchronik Handschrift ist die ganze Passage, in der Willehalm gegen Arofel kämpft, ihn erschlägt und sich dessen ritterlicher Ausrüstung bemächtigt, nicht nur gekürzt, sondern sie fehlt gänzlich.17 In diesem Fall dürfte es sich allerdings eher um einen Schreiberfehler handeln als um die Absicht des Kompilators, weil die Folgeverse sich nicht logisch anschließen und es keine Erklärung dafür gibt, warum Willehalm vor den Toren von Orange nicht erkannt wird. Die meisten Kürzungen nimmt der Kompilator dann aber bei der zweiten Schlacht vor. Hier bleiben fast ausschließlich nur noch die Szenen übrig, in denen || 17 Es handelt sich um die Verse 545–584 in der Ausgabe von SCHRÖDER (Anm. 11).

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Rennewart auftritt.18 Der bei Wolfram häufig zu hörende christliche Schlachtruf Monschoy, als dem Marker für den Glaubenskrieg schlechthin, ist in der Arolser Weltchronik von Willehalm nur einmal in der ersten (Wh 90,24; AW 638) und ebenfalls einmal, dank eines Zusatzverses (AW 2687) des Kompilators, in der zweiten Schlacht zu hören, so wie es König Louis mit Verweis auf seinen Vater Karl bei der Fahnenübergabe an Willehalm von diesem gefordert hatte (Wh 212,17–24, AW 1802– 1809). Gänzlich ausgeblendet werden alle Kampfreden; damit fehlt auch die sogenannte Toleranzrede Gîburcs. Auch auf die zahlreichen Kommentare des Erzählers im Wolframschen ‚Willehalm‘ verzichtet der Kompilator weitgehend,19 übernimmt aber doch angesichts des Schlachtgetümmels vor Alischanz dessen sehr pointiertes, den ‚gerechten Krieg‘ in Frage stellendes Diktum: sol man ir geben rehtez wort/ die mag wol heizzen mort (Wh 10,19–20; AW 245–246), um dann mit den darauffolgenden Wolframschen Versen in dessen Erzählerrolle zu schlüpfen: swo man sluog oder stach/ swaz ich ie davon gesprach (Wh 10, 21–22; AW 247–248). Und ebenfalls mit einem Wolframschen Erzähler-Ich beginnt der Kompilator den Willehalm-Teil: dez gesweig ich nv von paiden,/den getauften vnd den haiden (Wh 8,27–28; AW 1–2).

Auf die Prologe, die in der epischen Willehalm-Trilogie die drei Teile als solche kenntlich machen und voneinander absetzen,20 verzichtet der Kompilator und er vermeidet auch, wie er dies generell bei allen seiner zahlreich verwendeten Quellen tut, jede Autorsignatur. Dennoch setzt er mit dem Wolframschen Eingangsvers zum Willehalm-Teil eine Zäsur zur vorangegangenen ‚Arabel‘. Dies im Unterschied zum Wechsel vom ‚Willehalm‘ zum ‚Rennewart‘: hier werden der letzte Vers des ‚Willehalm‘ mit dem ersten des ‚Rennewart‘ als Reimpaar verbunden und damit bleibt der Erzählfluss nahtlos erhalten: Wir suͤ llen an perg vnd an tal Rennwart suͦ chen al zehant Wan ez eruacht dez heldez hant Der christenhait gar den sig21

Wh 458,4f; AW 2741 f. R 182; AW 2743

|| 18 Dazu unten S. 201–202. 19 KIENING (Anm. 5), S. 545. 20 Vgl. den Kasseler-Willehalmkodex (Anm. 9). Mit geplanten 460, aber nur 62 ausgeführten Miniaturen gehört er zu den wichtigsten Bilderhandschriften des Mittelalters. Dazu: Joan A. HOLLADAY, Illuminating the Epic. The Kassel Willehalm Codex and the Landgraves of Hesse in the early fourteenth century (Monographs on the fine arts 54), Seattle 1996. 21 Dafür erfolgt kurz nach dem Wechsel der Vorlage eine, in der Weltchronik allerdings auch an anderen Orten zu findende Berufung auf eine nicht näher bestimmte karonik. Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 299rb.

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Ein eigenes Erzähler-Ich schaltet der Kompilator ein, wenn er beim ersten Auftreten Rennewarts eine lange Passage interpoliert, in der er Rennewarts Herkunft und die Umstände seiner Entführung detailliert ausführt (AW 1504–1585).22 Dem Leser dürften die vielen Auslassungen und Kürzungen kaum aufgefallen sein, denn der Kompilator versteht es geschickt, weit voneinander entfernte Wolfram Verse so zusammen zu binden, dass keine Brüche im Geschehen erkennbar sind. So folgen z. B. durchaus logisch auf die Willehalm Verse 47,28–48,2 unmittelbar die Verse 49,1–2: Wh 47,28

Wh 48,1 Wh 48,2 Wh 49,1 Wh 49,2

dez Margrafen swester paren Der sach ein wundez orsch da sten An chreft begund er darzuͦ gen, mit unstaten er darauf gesaz sinez schiltes er da nicht vergaz der jung helt von got erchant Rait gen dem wazzer Larchant

AW 320

AW 323 AW 325

120 Verse fehlen gar zwischen Wh 51,18 und 59,19 ohne dass es wohl einem Leser der Weltchronik aufgefallen wäre: Mit dez muͦ z ich immer jamers pflegen (Wh 51,18; AW 388) beendet der Markis seine Klage, was deshalb wohl niemanden verwundern dürfte, wenn der folgende Vers betont, dass vil unchreft der Markis truͦ g (Wh 59,19; AW 399). Es zeigt sich also, dass der Kompilator keineswegs alle nicht unmittelbar zum Glaubenskampf gehörenden Wolframschen Themen und Motive ausblendet. Sie sind zwar deutlich gekürzt und seltener, aber dies ist bei den Schlachtschilderungen nicht anders, ja diese erfahren im Verhältnis noch weit umfangreichere Streichungen. Möglicherweise will der Kompilator mit einer solchen Komprimierung Wiederholungen − sei es der Thematik oder des Geschehens − vermeiden, ein Bemühen, das in der gesamten Willehalm-Trilogie zu beobachten ist. Denn auch dort löst der Kompilator Unstimmigkeiten bzw. Widersprüche zwischen den drei Romanen weitgehend auf, und vermeidet soweit möglich Wiederholungen, so dass er die drei Teile – wie BASTERT konstatiert − „beinahe perfekt harmonisierte“23. Und weil mit diesem Verfahren die Trilogie als erzählerisches Ganzes in die Chronik eingebettet wird, bedarf es auch keiner ausführlichen Vor- oder Rückverweise. Es genügt, wenn etwa Kaiser Ludwig den Markis an seinen Vater Karl erinnert, um beim Rezipienten das Wissen von dessen Taten, aber auch der Jugendgeschichte Willehalms aufzurufen, die im, der Trilogie vorangegangenen Karlsteil erzählt worden waren. Und auch

|| 22 Dazu unten S. 202. 23 Bernd BASTERT, Rewriting „Willehalm“? Zum Problem der Kontextualisierungen des „Willehalm“, in: Joachim BUMKE (Hg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur (Zeitschrift für deutsche Philologie (Sonderheft) 124), Berlin 2005, S. 117–138, hier S. 133.

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Willehalms loyale und tatkräftige Hilfe gegen Ludwigs Konkurrenten um den Kaiserthron und in den gemeinsam geführten Kämpfen gegen die Heiden, an die er ihn erinnert (Wh 145,16–22,25–28; AW 1289–1300), findet sich bereits am Beginn des ‚Arabel‘-Teils breit ausgeführt und im Bild24 festgehalten. Beibehalten wird die Gleichzeitigkeit von Episoden. Allerdings kündigt der Kompilator durch eingeschobene Verse einen solchen Perspektivenwechsel an, etwa, wenn er sich von Willehalm auf seinem Weg nach Munleun ab- und Gîburc in Orange zuwendet: Nu lazzen wir an den zeiten Den Markis gen Franckreich reiten, vnd sagen von Terramer hie, wie ez dem mit Chyburgen ergie.25

AW 909

Spezifisch literarische Elemente, die den Wolframschen ‚Willehalm‘ prägen und so deutlich „in die Nähe des höfischen Romans rücken“26, blendet der Kompilator allerdings fast vollständig aus. Sie gehören ganz offensichtlich für ihn nicht zum Narrativ einer Geschichtsschreibung. Im ersten Teil bis zu Willehalms Reise nach Munleun sind ungeachtet vieler Auslassungen gegenüber dem Wolframschen Text keine entscheidenden Bedeutungsveränderungen festzustellen. Im zweiten Teil dagegen verschieben sich die Schwerpunkte erheblich. Bereits in der markant gekürzten Munleun Episode wird Willehalms zorniges, unbeherrschtes Auftreten mit dem Fehlverhalten seines jeweiligen Gegenübers begründet. Sogar die gewalttätige Attacke gegen seine Schwester, die nicht nur im Text, sondern auch im Bild festgehalten wird (fol. 292vb),27 endet, aufgrund einer radikalen Verkürzung des Wolframschen Texts, mit ihrem Kniefall vor Willehalm und einer Entschuldigung für ihr Fehlverhalten. Die im Willehalm so zentrale Vermittlerrolle der Alîze wird dabei nur in einem Vers angedeutet. In der weil chom fuͤ r in her Dez kuͤ s tochter Alyse vnd gewan huld seiner swester da, di chuͤ niginn, chom do san vnd viel im ze fuͤ ssen san dez muͦ st er si geniessen lan

AW 1382

|| 24 Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 272vb: Kampf gegen die Konkurrenten Ludwigs; fol. 273vb: Kampf von Ludwig und Willehalm gegen die Heiden. 25 Vgl. dazu KIENING (Anm. 5), S. 546, Anm. 91. 26 Vgl. dazu WOLF (Anm. 6), S. 249. 27 Dazu unten S. 203–204.

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vnd gab ir do huld vmb ir grozzew schuld.

Kurz danach tritt bereits erstmals Rennewart auf. Ab da rücken der gemeinsame Kampf der Christen gegen die Heiden und vor allem die Rolle, die Willehalm dabei spielt, mehr und mehr in den Hintergrund. Präsent bleibt dieser dem Rezipienten zwar weiterhin zum einen durch seine, in allen drei Teilen der Trilogie durchgängige Nennung in der Kopfzeile. Sie beginnt mit von Wilhalm bei dessen ersten Auftreten am Hof Karls des Großen28 und ändert sich beim ersten Kampf gegen die Heiden, mit dem der Arabel-Teil beginnt, in Sand Wilhalm. Andererseits taucht er weiterhin auf in den drei rot abgesetzten Rubriken. In ihnen wird die erste Schlacht,29 Willehalms Fahrt zum Kaiserhof und sein Hilfegesuch30 und die zweite Schlacht kurz zusammengefasst, wobei letztere den Blick dann aber zusätzlich bereits auf Rennewart richtet: Wie nv Wilhalm den andern streit/gesigt. Vnd wie Rennwart / sein künn mit seinem vater/ Terramer reitet.31

Damit bleiben Leser und Leserinnen nicht ratlos wie beim abrupten Ende des Wolframschen ‚Willehalm‘ zurück, sondern können, ohne Zäsur und ohne den Wechsel von einem Roman zum anderen überhaupt zu bemerken, die Taten Rennewarts weiterverfolgen. Die Willehalm-Geschichte in der ‚Weltchronik‘ besteht also keineswegs nur aus mehr oder weniger willkürlich aneinandergereihten „Versatzstücken“32 des ‚Willehalm‘, sondern erweist sich als eine erstaunlich durchdacht gekürzte und dem veränderten Gattungskontext angepasste Fassung der Vorlage. Szenen und Episoden werden vornehmlich dann übernommen, wenn sie einen Bezug zum vorangegangenen ersten oder auf den folgenden dritten Teil der Trilogie haben. Die Form des Erzählens übernimmt dabei ganz den Stil der Chronik und deren Ziel, den Ablauf der Weltgeschichte in konsequenter zeitlicher Abfolge darzustellen, was ab

|| 28 Die Verknüpfung von Karlsgeschichte und Willehalmgeschichte hat der Stricker, eine der Quellen des Kompilators, bereits vorgenommen. Dazu: KIENING (Anm. 5), S. 529. 29 Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 288ra: Wie nv Tybalt vnd Terramer / auf den Markis mit her fuoren / vnd wie Wilhalm den ersten streit / verlos vnd auch darnach gesigt. 30 Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol 290vb: Wie nv der Markis nach hilff zuo / dem kaiser fuor vnd wie im da gelang. In der Nennung zusammen mit Kaiser Ludwig will SHAW erkennen, dass Willehalm „quasi-imperial status“ erhält. Frank SHAW, Willehalm as History in Heinrich von München’s Weltchronik, in: Martin H. JONES (Hg.), Wolframs’s Willehalm. Fifteen Essays, Rochester 2002, S. 291–306, hier S. 294. 31 Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 297ra. 32 WOLF (Anm. 6), S. 249.

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und an „die Umarbeitung und Umstellungen kleinerer und größerer Passagen“33 und den Verzicht auf Nebenwege und explizit ausgeführte Vor- und Rückblenden bedingt. Damit fügt sich die Willehalm-Trilogie nahtlos in das monumentale Geschichtswerk ein und wird in seiner „De-Rhetorisierung“34 − wie es KIENING und KLEIN formulieren − wieder zu dem, als was die chansons de geste immer verstanden wurden: zu Historiographie!35

2 Veränderungen der Konzeption und Figurenkonstellationen Durch das Bestreben des Kompilators, den zeitlich-chronologischen Verlauf von Geschichte darzustellen, einer Geschichte, die sich zumindest auf der Textoberfläche durchgängig als Weltgeschichte und weitgehend auch als Reichsgeschichte36 versteht, verliert die Willehalm-Erzählung zwar viel von der „diskursiven Polyvalenz“37 der Wolframschen Vorlage, eindimensional auf den „Glaubenskampf und […] die Heiligkeit des Helden“38 fokussiert, wie in der Forschung zu lesen, ist der Text dennoch nicht. Dies hat vor allem mit den bereits oben angedeuteten Verschiebungen in den Figurenkonstellationen zu tun. Besonders deutlich werden diese bei Willehalm und Rennewart, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen. Nimmt man die der Willehalm-Trilogie vorangestellte Geschichte Karls des Großen dazu, dann beginnt der Aufstieg Willehalms zum Hauptprotagonisten bei seinem ersten Auftreten an dessen Hof, deutlich markiert mit einer roten Rubrik (fol. 271r)39 sowie der ab jetzt ihn nennenden Kopfzeile. Willehalm behält diese herausgehobene Stellung im gesamten Arabel-Teil bei. Im Willehalm-Teil aber nimmt seine Bedeutung kontinuierlich ab, weil die meisten der Episoden, in denen || 33 KIENING (Anm. 5), S. 538. 34 Ebd., S. 538; Dorothea KLEIN, Heinrich von München und die Tradition der gereimten deutschen Weltchronik, in: Horst BRUNNER (Hg.), Studien zur „Weltchronik“ Heinrichs von München (Wissensliteratur im Mittelalter 29), Wiesbaden 1998, S. 1–112, hier S. 67. 35 OTT sieht in der Weltchronik des Heinrichs von München ein „Paradigma für einen Bereich von Texten, die Bewußtsein von Geschichte im weitesten Sinne vermitteln.“ Norbert H. OTT, Kompilation und Zitat in Weltchronik und Kathedralikonographie, in: Christoph P. GERHARDT (Hg.), Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters: Tübinger Colloquium 1983, Tübingen 1985, S. 119–135, hier S. 119. 36 Vgl. WOLF (Anm. 6), S. 250. 37 BASTERT (Anm. 23), S. 134. 38 KREFT (Anm. 16), S. 250, mit Bezug auf WOLF (Anm. 6). 39 Arolser Weltchronik (Anm. 1); fol. 271r: Hort hie wie Wilhalem in chaiser karels hof cham vnd dyr ynn ertzogen wart.

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Willehalm als kämpfender, leidender und liebender Held auftritt, auf wenige Verse verkürzt werden oder auch gänzlich fehlen. Dagegen avanciert, wie oben angedeutet, Rennewart mehr und mehr zur Hauptfigur, weil die Wolframschen Passagen, in denen er agiert, nahezu vollständig in die Chronik aufgenommen sind. Erst nach seinem Tod auf fol. 322r richtet sich der Blick wieder ganz auf Willehalm, der mit seinen Taten nun explizit Rennewarts Nachfolge antritt und schließlich als Ritterheiliger stirbt. Die Willehalm-Figur gibt also gleichsam den christlich-geistlichen Rahmen ab für die sehr viel breiter und mit deutlicher Erzählfreude angelegte Rennewart-Geschichte. Eingeführt wird Rennewart wie bei Wolfram mit dem Blick Willehalms auf einen chnapp (Wh 188,1; AW 1436), der über gewaltige Kräfte verfügt, von anderen verspottet und mit seiner ungepflegten Erscheinung nicht gemäß seiner dahinter verborgenen art (Wh 188,19; AW 1454) wahrgenommen wird. Anders als bei Wolfram, wo dessen Name zunächst nur en passant fällt (Wh 189,30), zeigt der Kompilator gleichsam mit dem Finger auf ihn, um ihm seine namentliche Identität zu geben: Derselb waz gehaizzen Rennwart (AW 1455). Die böswilligen Neckereien der Höflinge erträgt er zunächst gleichmütig alz ain käusche magt (Wh 190,1; AW 1460). Doch als ihm ein knecht (Wh 190,12; AW 1471) absichtlich den Wasserzuber von den Schultern schlägt, wird er zornig und schmettert diesen kurzerhand an eine Steinsäule (Wh 187,30–188,19; AW 1435–1454). An Stelle der zunächst enigmatischen Andeutungen zur Herkunft des merkwürdigen Gesellen (Wh 188,20–189,24), die Wolfram in den Text einstreut, um erst nach und nach das Geheimnis um dessen Herkunft und Geschichte zu lüften (Wh 283,3–285,22), fügt der Kompilator die längste Interpolation ein (AW 1504–1585), in der er sofort detailreich Auskunft gibt zu Rennewarts Herkunft, Verwandtschaft, charakterlichen Eigenschaften sowie den Umständen seiner Entführung und seines Aufenthalts am Königshof.40 Erfunden hat er diese biographischen Details allerdings nicht, sondern fast wörtlich dem ‚Rennewart‘ entlehnt, wo dieser selbst sie seinem Sohn Malifer erzählt.41 Indem er dabei die dort vorhandene „Ich-Perspektive ins epische Präteritum“42 transferiert und eben nicht als direkte Rede wiedergibt, informiert nun das Ich der Chronik. Und diese Informationen sind dem Kompilator so wichtig, dass er dezidiert den Erzählfluss unterbricht und sein Publikum dafür um Nachsicht bittet, AW 1504

Hie vnder will ich ew sagen – Dez lat ewch nicht betragen –,

|| 40 Dazu KIENING (Anm. 5), S. 549. 41 Ulrich von Türheim, Rennewart (Deutsche Texte des Mittelalters 39), Berlin, Zürich 1938, vv. 17806–17865. Im Rennewart-Teil wird die Biographie dann als Erzählung Rennewarts wiederholt. 42 An der entsprechenden Stelle im ‚Rennewart‘ werden diese Informationen noch einmal an den Sohn vermittelt, nun wieder in direkter Rede. Dazu: BASTERT (Anm. 23), S. 133.

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um nach 80 Versen mit den Worten der red ich hie nv erwint (AW 1583) wieder zum Wolframschen Text zurückzukehren, von dem er jetzt fast ausschließlich nur noch die Episoden übernimmt, in denen Rennewart agiert. Alles scheint den Erzähler an dieser Figur zu faszinieren: seine ungehemmte Gewalttätigkeit, das dreimalige Vergessen der Stange, sein Eingreifen, mit dem er das fliehende christliche Heer wieder zur Umkehr auf das Schlachtfeld zwingt und seine ungewöhnliche Kampftechnik mit der Stange, mit der er so manchen Gegner besiegen kann. Dabei werden alle Reflexionen, Kommentare, Reden und auch breite Schlachtschilderungen radikal gekürzt, um das Geschehen umso deutlicher auf Rennewart zu fokussieren. Nur das Gespräch Rennewarts mit Gîburc (Wh 289,19–294,30; AW 2260–2375) ist mit Ausnahme der Schlusspassage beinahe vollständig wiedergegeben. Es fehlen damit aber genau die 30 Verse, in denen bei Wolfram Willehalm ins Zentrum gestellt wird. Denn hier erzählt sie die Geschichte der kostbaren Rüstung, die im Zusammenhang steht mit Willehalms heldenhaftem Kampf gegen die Heiden, in dem er zwar überwunden, aber nicht besiegt wurde und in Gefangenschaft kam (Wh 293,29– 294,13), sowie von der gemeinsamen Flucht (Wh 294,14–294,30). So deutet alles darauf hin, dass die erheblichen Kürzungen im zweiten Teil des ‚Willehalm‘ gerade nicht das Ziel haben, den Glaubenskampf in den Fokus des Erzählens zu rücken, als vielmehr, anstelle des in der Wolframschen Vorlage sich auf Willehalm konzentrierenden Blicks diesen auf die Figur des Rennewart und die burlesken Szenen seines Agierens zu richten.43 Durch das sofortige Aufdecken seiner heidnischen Herkunft und seines Lebens am christlichen Kaiserhof wird er vom ersten Auftreten an zum Scharnier zwischen Christen- und Heidenwelt. In ihm manifestiert sich das im Wolframschen ‚Willehalm‘ immer wieder thematisierte, vom Kompilator bisher aber nur am Rande genannte, genealogische Geflecht zwischen Heiden und Christen. Denn Rennewart hat an beiden Welten teil, ohne wirklich ganz zu einer der beiden zu gehören. Am Duktus des chronologischen Erzählens ändert sich deshalb nichts. Aber weil sich die Gewichte und das Interesse deutlich weg von den Themen Reichsgeschichte und Glaubenskampf hin zu den Taten einer in jeder Hinsicht ungewöhnlichen, zwischen den Parteien stehenden und alle Konventionen ritterlichen Verhaltens missachtenden Figur verschieben, entwickelt sich aus Wolframs Text heraus eine neue Erzählung mit einer neuen Hauptfigur, die bis zu ihrem Tod handlungsleitend bleiben wird und sich immer wieder durch Gewaltexzesse und Burlesken auszeichnet.

|| 43 Zur Fokalisierungstechnik und damit Empathielenkung im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach vgl. Verena BARTHEL, Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 50 [284]), Berlin, New York 2008, S. 86–141.

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3 Die Auswahl der Episoden in den Miniaturen als Rezeptionssteuerung Dieser im Text zu beobachtende Perspektivenwechsel weg von Willehalm hin zu Rennewart findet seinen Niederschlag nun auch deutlich in den neun Abbildungen des Willehalm-Teils. Die erste thematisiert die erste Schlacht zwischen dem heidnischen Heer unter Führung Terramers und dem christlichen Heer mit Willehalm als Anführer,44 die zweite verbildlicht die Belagerung von Orange und deren Verteidigung durch Gîburc und ihre Leute,45 die dritte, in der Willehalm zum letzten Mal im ‚Willehalm‘-Teil zu sehen ist, zeigt diesen, wie er seiner Schwester die Krone vom Kopf reißt und sie zornig an den Zöpfen packt.46 Der Blick der Rezipienten fällt damit nicht auf einen untadeligen Musterritter, sondern auf einen zornigen, jede Ritterlichkeit vergessenden Bruder, der eher Ähnlichkeiten mit dem, jenseits höfischer Normen agierenden Rennewart zeigt, denn mit einem höfischen Glaubenskämpfer. Die restlichen sechs widmen sich dann ausschließlich Rennewart. Man sieht, wie ihm von einem Reiter das Wasserbecken heruntergestoßen wird, und er diesen an die Wand schleudert,47 wie er mit erhobener Stange vor dem knienden Küchenmeister steht, kurz bevor er sie auf ihn niedersausen lässt und ihn erschlägt,48 wie er den Koch in Orange, der ihm den Bart versengt hat, gebunden an den Füssen in das Feuer wirft,49 wie er auf die erschreckten, ja erstarrten christlichen Deserteure mit der Stange eindrischt und wie er schließlich überlebensgroß mit seiner erhobenen Stange vor einem Knäuel feindlicher Reiter mit ihren Rössern steht.50 Und er bleibt auch im ‚Rennewart‘-Teil die zentrale Figur schlechthin in den Miniaturen. Ohne Abstand sind die Miniaturen in den Text eingefügt, ragen zum Teil sowohl in den Schriftraum als auch in die Seiten- bzw. Mittelränder hinein,51 besonders deutlich auf fol. 297v, wo die beiden, in Text wie Leerraum greifenden Miniaturen ein hohes Maß an Dynamik und Bewegung entwickeln.52 Anders als in Epenbilder-

|| 44 Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 288vb. https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht? PPN=PPN717868990&PHYSID=PHYS_0580&DMDID=DMDLOG_0001 (21.08.2020). 45 Arolser Weltchronik (Anm. 1). https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN 717868990&PHYSID=PHYS_0584&DMDID=DMDLOG_0001 (21.08.2020). 46 Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 292vb. https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht? PPN=PPN717868990&PHYSID=PHYS_0588&DMDID=DMDLOG_0001 (21.08.2020). 47 Abb. 1. Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 293rb. 48 Abb. 2. Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 294va. 49 Abb. 3. Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 296rb. 50 Abb. 4. Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 297va und b. 51 Vgl. Abb. 1 und Abb. 4. 52 Abb.1. Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 297v.

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handschriften der Willehalm-Trilogie, denen häufig rot rubrizierte Tituli beigegeben sind,53 die kurz den Bildinhalt wiedergeben, werden allerdings die Miniaturen in der Arolser Weltchronik ohne Hinweise auf Handlung bzw. handelnde Figuren und ohne Abstand unmittelbar in den Text eingefügt. Eine Verständnishilfe für das Abgebildete fehlt damit. Der erzählende Text allein kann dem Betrachter das Bild entschlüsseln. Und mit einer Ausnahme umrahmt er auch sehr genau das bildliche Geschehen, bzw. steht in enger Korrespondenz zu diesem.54 So folgt auf die Wahrnehmung Willehalms − do nam der Margraf war – unmittelbar das Bild dessen, was er sieht − einen Reiter, der mit einer Stange einem Wasserträger versucht, das Fass herunterzuschlagen −, um dann in der darunter stehenden Zeile den Blick auf eine der beiden Figuren, nämlich auf ein chnapp zu richten.55 Sind die Leser und Leserinnen nun ein erstes Mal Willehalms Blick gefolgt, so werden sie in allen weiteren Miniaturen Rennewart selbstständig wiedererkennen. Denn sein Erkennungszeichen bleibt mit einer Ausnahme56 immer seine Stange, seine imposante Körpergröße und seine aschfarbene Kleidung, die an Rennewarts Küchendienste erinnert. Die Kombination von Bild und auf Rennewart fokussierende Textexzerpte verlagern die Sympathie der Rezipienten damit mehr und mehr von der Figur des Willehalm hin auf die Figur des Rennewart. Die Bilder ersetzen dabei dessen, in der Weltchronik weitgehend fehlende Körperbeschreibungen, preisende Vergleiche und Erzählerkommentare, mit denen seine besondere Erscheinung im Wolframschen Text evoziert wird. Und damit verstärkt sich in ihnen die, bereits im Text beobachtete, Verschiebung der Gewichtung. Das eigentliche Thema eines weltumspannenden Konflikts zwischen Christen und Heiden, der zwischen zwei Familien ausgetragen wird, tritt deutlich in den Hintergrund zugunsten einer aus allen höfischen Konventionen herausfallenden Figur. Ausgewählt werden denn auch vornehmlich Episoden, die die burlesken Elemente der Rennewart-Figur visualisieren. Eine solche Bildauswahl aber beeinflusst maßgeblich die Rezeption des Textes. Denn Leser wie Leserinnen können durchaus von einer Miniatur zur nächsten blättern und nur den darüber und darunter stehenden Text lesen, bzw. nach den Episoden suchen, in denen Rennewart agiert. Damit wird dann aber der Erzählkontext, in dem ja auch er eingebettet ist, mit seinen anderen nur im Text, nicht aber im Bild festgehaltenen Themen und handelnden Figuren nur noch marginal wahrgenommen.

|| 53 Etwa im Kasseler Willehalm-Kodex (Anm. 9), wo die fertiggestellten Miniaturen mit Tituli versehen sind und sich bei den nicht ausgeführten Miniaturen mehrheitlich genaue Maleranweisungen finden, die wohl auch für Tituli genutzt worden wären. Z. B. fol. 28r und fol. 300r. 54 Nur auf fol. 293rb findet sich der erläuternde Text zur am Seitenende stehenden Miniatur erst auf der nächsten Seite. 55 Abb. 1. Arolser Weltchronik (Anm. 1), fol. 293 ra (oben). Vgl. zur Blick- und Sympathielenkung bei Wolfram BARTHEL (Anm. 44). 56 Abb. 3.

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Abb. 1: Arolser Weltchronik, fol. 293rb: Oben kippt ein reitender Knappe mit einer Stange Rennewart das Wasserfass von der Schulter; unten zerschmettert Rennewart Ross und Reiter an einer Säule. Alle Abbildungen aus: Heinrich von München: Weltchronik, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 1416. Digitalisat: http://resolver.staatsbibliothekberlin.de/SBB00008D0400000000

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Abb. 2: Arolser Weltchronik, fol. 294va: Rennewart holt mit seiner Stange zum Schlag gegen den vor ihm knienden Koch aus.

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Abb. 3: Arolser Weltchronik fol. 296rb: Rennewart schiebt den gebundenen Koch am Fuß ins Feuer unter dem Kessel.

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Abb. 4: Arolser Weltchronik, fol. 297v: Rennewart drischt mit seiner Stange auf die erstarrten Deserteure ein (fol. 297va) und steht überlebensgroß mit erhobener Stange vor einem Haufen zu Boden geschlagener heidnischer Reiter mit ihren Pferden (fol. 297vb).

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4 Ergebnis Die Bearbeitung des Wolframschen ‚Willehalm‘ erweist sich keineswegs als „Akt der Barbarei“, wie SCHRÖDER sich entrüstet,57 sondern als durchaus überlegt und konsequent strukturiert, mit dem Ziel, die literarische Vorlage dem Erzählduktus den anderen Teilen der Chronik anzupassen. Der Kompilator überschaut dabei nicht nur „souverän die gewaltige Textmenge des Willehalm-Zyklus“58, sondern er macht aus drei sehr heterogenen Romanvorlagen einen weitgehend homogenen Text, der eigene Schwerpunkte setzt und dabei sein Ziel, auf unterhaltsame Weise Geschichte zu erzählen, nie aus den Augen verliert. Dazu entwickelt er im Willehalm-Teil auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Konzepte und Rezeptionssignale: Kopfzeilen, Rubriken und der Schluss der Chronik markieren durchgängig Willehalm als heilige Hauptfigur und zielen auf den gottgewollten Kampf der Christen gegen die Heiden, eine Hagiographisierung, wie sie ja bereits im Wolframschen ‚Willehalm‘ angelegt ist59 und im ‚Rennewart‘ Ulrichs von Türheim weiter verfolgt wird. Die ausgewählten Episoden und die eingefügten Miniaturen aber schieben sowohl Willehalm als auch die übergeordnete Thematik von Glaubenskampf und Reichsgeschichte deutlich in den Hintergrund zugunsten einer den Kompilator offensichtlich faszinierenden, weil nicht eindeutig bestimmbaren Figur. Auf der Oberfläche der Handschrift schreibt der Kompilator Reichs-, Kreuzzugs- und Heiligengeschichte. Auf der Text- und Bildebene aber schreibt er die Geschichte Rennewarts, die in ihrer Farbigkeit, ihrem Sprengen höfischer Konventionen, ja ihrer Exotik nicht nur den Kompilator, sondern auch Rezipienten und Rezipientinnen fasziniert haben dürfte.

|| 57 SCHRÖDER (Anm. 11), S. LIII. 58 BASTERT (Anm. 23), 133. 59 Bernd BASTERT, Helden als Heilige. Chanson-de-geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum (Bibliotheca Germanica 54), Tübingen 2010, S. 293–300.

Manfred Kern

Ars latet arte sua Tristans Bildersaal Abstract: The article focusses on the true-to-life image, a motif which is quite common in high Medieval poetry. The main object of investigation is the so-called “Salle aux images” in the Tristan romance by Thomas of Britanny (1170/1180), a cave which Tristan orders to be fitted out with several images, most prominently a trueto-life statue of Ysodt. He frequently visits the cave to behold the image of his beloved mistress and kisses the statue, but also reproaches her when imagining that Ysodt could be unfaithful. The episode is analysed in its relation to classical stories dealing with the love of images, especially Ovid’s Pygmalion myth. It combines aspects of iconolatry and iconophoby and is related to discourses of mimesis in classical antiquity as well as in the Christian tradition. One of the most significant literary sources for mimetic concepts and mimetic awareness in Medieval literature, it also reflects the mediological difference between poetic and pictorial representation. Keywords: medieval Tristan-romance, Thomas d’Angleterre, Gottfried von Straßburg, salle aux images, iconolatry

Ars adeo latet arte sua, die Kunst verberge sich in und wegen ihrer Kunst, so heißt es in Ovids ‚Metamorphosen‘ (X 252)1 über die Statue aus Elfenbein, die sich Pygmalion als künstliche Geliebte erschaffen hat. Gerade das Kunstvermögen ihres Schöpfers bringt ihren Kunstcharakter, ihren Status der Gemachtheit zum Verschwinden. Diese Aussage und der Pygmalionmythos insgesamt treiben das antike Ideal einer naturgetreuen, ja hyperrealistischen Mimesis auf die Spitze. Das Mittelalter steht diesem Ideal in einer friktionsreichen Affinität gegenüber. Die Vorbehalte erklären sich aus der biblisch-theologischen Bilderskepsis, die sich zudem leicht und gerne mit einem Mimesis-Verdikt, ja mit Mimesis-Verachtung in der platonischen Tradition verbinden kann: Wenn das menschliche Kunstwerk als Abbild der Natur, die

|| 1 P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lat./Dt., übers. u. hrsg. von Michael VON ALBRECHT (RUB 1360), Stuttgart 2003. || Manfred Kern, Fachbereich Germanistik, Universität Salzburg, Erzabt-Klotz-Str. 1, A-5020 Salzburg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-013

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ihrerseits Abbild der Ideen ist, prinzipiell defizitär erscheint, so erst recht, wenn Kunstschöpfung in Konkurrenz zur göttlichen Schöpfung steht.2 Umgekehrt erbt das Mittelalter von der Antike das Faszinosum des lebensechten Kunstwerks und tritt dieses Erbe nicht zuletzt in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts nur allzu bereitwillig an. Es spiegelt sich etwa im Topos des deus artifex und treibt wie eben bei Ovid seine schwierigsten Blüten im erotischen Milieu – Blumen des Bösen schon hier. Umberto ECO hat dies mit dem ihm eigenen Gespür erkannt und in jener Szene seines Romans ‚Der Name der Rose‘ produktiv umzusetzen gewusst, in der Ubertin mit geistlich-paraerotischer Laszivität Adson darauf aufmerksam macht, wie formschön, reizvoll und mit plastischer Natürlichkeit der Künstler die Brüste der Marienstatue in der Klosterkirche zu bilden verstand.3 Für Geschichte und Theorie von Ästhetik und Nachahmung ist das von einigem Interesse und es gäbe viele motivische Konstellationen und Sujets, die sich in diesem Zusammenhang verhandeln ließen: Allen voran die Mythen von den lebenden Bildern, wie sie etwa die Sage vom Venusbild zu erzählen weiß, eine Version davon findet sich in der mittelhochdeutschen ‚Kaiserchronik‘, die um 1150 entstanden ist und zu den frühen großen volkssprachlichen Erzähltexten rechnet; eine Renaissance erfährt die Sage in der Romantik mit Eichendorffs ‚Marmorbild‘ oder

|| 2 Wenn ich recht sehe, sind die mittelalterlichen Nachahmungskonzepte noch keineswegs befriedigend erschlossen. Man wird sie auch kaum in konzisen theoretischen Schriften, denn eher in der Praxis der Künste, namentlich der Literatur selbst zu fassen bekommen. Mein Beitrag will dazu einen kleinen Impuls geben. Erschwerend kommt hinzu, dass die Künste, die wir heute unter dem Begriff ‚die schönen‘ subsumieren, in keiner gemeinsamen Systematik erfasst sind: Dichtung und Musik rechnen zu den Artes liberales, die pictura zu den Artes mechanicae, sh. Fritz KRAFFT, Artes mechanicae, in: Lexikon des Mittelalters. Studienausgabe, Bd. 1 (1999), Sp. 1063 f. Die (im weiteren Sinne) literarische Tradition kennt den Nachahmungsbegriff vor allem unter dem Aspekt der imitatio auctoritatum oder veterum, also eines – wie man versucht ist zu sagen – typisch mittelalterlichen Kontinuitätsbewusstseins. Den profundesten Ansatz zu einer historischen Profilierung des Mimesis-Begriffs im Mittelalter bietet der Artikel von Anne EUSTERSCHULTE, Nicola SUTHOR u. Dieter GUTHKNECHT, Mimesis, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5 (2001), Sp. 1232–1327, hier bes. Kap. B, Ästhetik, Poetik, III. Mittelalter, Sp. 1249–1257 (A. EUSTERSCHULTE) und Kap. C., Bildende Kunst, II. Geschichte, 2. Mittelalter, Sp. 1299–1302 (N. SUTHOR). Ansätze zu einer Theorie (hoch)mittelalterlicher ästhetischer Erfahrung, wenngleich weniger zur Frage der Mimesiskonzepte und mit Konzentration auf die bildenden Künste, bieten die Beiträge in Günther BINDING u. Andreas SPEER (Hgg.), Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts, 2., unveränderte Aufl., Stuttgart, Bad Cannstatt 1994. Zu nennen sind ferner Klaus KRÜGER, Mimesis als Bildlichkeit des Scheins. Zur Fiktionalität religiöser Bildkunst im Trecento, in: Thomas W. GAETHGENS (Hg.), Künstlerischer Austausch, Bd. 2, Berlin 1993, S. 423–436, sowie DERS., Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001 (mit wichtigen Exkursen zu mittelalterlichen Mimesis-Konzepten), für den Hinweis auf die beiden letztgenannten Titel danke ich der einen/dem einen der beiden Reviewer meines Artikels. 3 Umberto ECO, Der Name der Rose, aus dem Italienischen von Burkhart KROEBER, München, Wien 1982, Dritter Tag, Nacht, S. 307 f.

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Heines ‚Elementargeistern‘.4 Die Radikalisierung des lebensechten Bildnisses zum lebenden Bild geht auch ins Milieu der geistlichen Dichtung ein, ein schönes Beispiel bietet die Legende vom Marienbild im ‚Passional‘,5 einer umfassenden Legendensammlung aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert: Auf das Gebet eines reuigen Ritters hin, der mit dem Teufel im Bunde stand, erhebt sich das Bild der Gottesmutter vom Thron, hält Fürbitte vor ihrem Kindlein und droht ihm, es erst wieder auf den Schoß zu nehmen, wenn es dem Sünder vergibt. Verweisen ließe sich auf das literarische Phantasma vom lebensechten Bilderensemble, mit dem etwa Benoît de Sainte-Maure in seinem ‚Roman de Troie‘ (um 1165) die Liebeskammer von Paris und Helena ausgestattet sein lässt.6 Ein lebensechtes Bildnis lässt sich auch die Amazonenkönigin Candacis von Alexander anfertigen, bevor sie den König, in den sie sich vom Hörensagen verliebt, erstmals zu Gesicht bekommt. Das Motiv fand sich möglicherweise schon im ‚Alexanderroman‘ des Alberic de Pisançon (nach 1100), es findet sich jedenfalls in der Straßburger Fassung seiner mittelhochdeutschen Bearbeitung durch den sogenannten Pfaffen Lambrecht (nach 1150).7 Und im ‚Lancelot en prose‘ aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts malt sich der Titelheld einen Bilderzyklus seiner Taten, wobei er dem Gemälde Ginovers

|| 4 Für die entsprechenden Belege und für weiterführende Hinweise sh. Manfred KERN, Venus, in: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters (2003), S. 639–662, hier S. 655 f. 5 Passional. Buch I und II, hrsg. v. Annegret HAASE, Martin SCHUBERT u. Jürgen WOLF, 2 Bde. (Deutsche Texte des Mittelalters XCI), Berlin 2013, hier Bd. 1, Buch I: Marienleben, 24. Marias Fürbitte für einen Ritter, V. 16719–16364, hierzu Manfred KERN, Birkhans Vergessen und Marias barm, in: DERS. u. Florian KRAGL, Kulturphilologie. Vorträge des Festkolloquiums zum 75. Geburtstag von Helmut Birkhan (Philologica Germanica 37), Wien 2015, S. 1–18. 6 Es handelt sich um die ausführlich beschriebene sogenannte „Chambre des Beautés“, die mit vier lebensechten Automaten ausgestattet ist, zwei Jungfrauen und zwei Jünglingen, Benoît de SainteMaure, Roman de Troie, ed. par Léopold CONSTANS, 6 Bde., Paris 1904–11, ND New York, London 1968, hier Bd. 2, V. 14631–14958. 7 Pfaffe Lambrecht, Alexanderroman. Mhd./Nhd., hrsg., übers. u. komm. v. Elisabeth LIENERT (RUB 18506), Stuttgart 2007, V. 5140–5147, V. 5677–5702, mithilfe ihres Bildes kann Candacis Alexander, der inkognito an ihren Hof kommt, auch sofort identifizieren. Das Motiv wandert über die lateinische Übersetzung des Alexanderromans des Pseudo-Kallisthenes durch Leo Archipresbyter von Neapel aus dem 10. Jahrhundert in die volkssprachliche Alexandertradition, auch dieses Beispiel lebensechter Mimesis ist also antikes Erbe. Bei Lambrecht handelt es sich wie bei PseudoKallisthenes und Leo um ein Gemälde, im späteren französischen Alexanderroman, namentlich in der um 1290 entstandenen ‚Ystoire du bon roi Alexandre‘, um eine Statue, die auch in den Miniaturen der Handschrift dargestellt ist, sh. Angelica RIEGER, L’Ystoire du bon roi Alexandre. Der Berliner Alexanderroman, Handschrift 78 C 1 des Kupferstichkabinetts Preußischer Kulturbesitz Berlin, Begleitband zur Coron Exklusiv-Ausgabe, Stuttgart 2002, hier S. 199 f. Ich danke Angelica Rieger für den Hinweis auf das Motiv und den Beleg in der ‚Ystoire‘. Es wäre denkbar, dass die Veränderung vom Gemälde zur Statue dem Einfluss der Statuensaal-Episode im Thomas-Tristan, dazu im Folgenden, geschuldet ist.

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ersatzweise jene erotische Verehrung und ‚Behandlung‘ entgegenbringt, die er seiner abwesenden echten Geliebten nicht zuteilwerden lassen kann.8 Ich möchte mich nun aber auf den sogenannten Bildersaal im ‚Tristanroman‘ des Thomas von Britannien konzentrieren, der das Feld ästhetischer und kultureller Vorstellungen und Friktionen, die sich mit dem Faszinosum künstlerischer Nachahmung verschränken, in vielerlei Hinsicht so luzide wie konzis verdichtet und dabei durchaus mit den genannten Beispielen (was den erotischen Umgang mit dem Bildwerk angeht, insbesondere mit Lancelot) korrespondiert. Die Episode steht, wie man getrost behaupten darf, in einer Traditionslinie von Ovids Pygmalionmythos. Folgerichtig erzählt sie wie dieser eine Geschichte von Schaffen und Nachahmen und stellt sujetgeschichtlich, in ihrer Eigenschaft als transformierende Spiegelung des antiken Mimesis-Mythos, zugleich selbst einen Akt des nachahmenden Schaffens dar. Was mich, um es vorab zu sagen, vor allem interessiert, sind eben das Phänomen des Kunstwerks, das Echtheit simuliert, die erotische Besetzung (deutlicher schon: die erotische Ursache seiner Verfertigung), zumal die erotische Relation des Schöpfers zu seinem Geschöpf, der Aspekt der mehr oder weniger bewussten Täuschung, der ausgerechnet der Schöpfer des Kunstwerks erliegt, sobald er als dessen Betrachter auftritt (dort Pygmalion, hier Tristan), sowie die interessante Interferenz bildkünstlerischer und poetischer Mimesis, das Zusammenspiel von Sujet und Erzählen selbst. Letzteres bringt uns auf die poetologische Ebene, die eben aufschlussreiche Einblicke in historische Konturen mittelalterlicher Nachahmungsästhetik zumindest im Bereich der höfisch-säkularen Kultur freigibt. Diese Nachahmungsästhetik steht dabei zum einen thematisch, motivisch und, was das poetisch-atmosphärische Kolorit angeht, in der Tradition kanonischer antiker Dichtung; sie weiß sich zum anderen aber offenbar auch mit dem biblischplatonischen Mimesisverdacht konfrontiert.

|| 8 Le Livre du Graal. Vol. III: Lancelot. La Seconde Partie de la quête de Lancelot, édition préparée par Daniel POIRION (Bibliothèque de la Pléiade 554), Paris 2009, cap. 416–418 und 425. Die Episode findet sich auch in der mhd. Übersetzung: Prosalancelot, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hrsg. v. Reinhold KLUGE, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übers., komm. u. hrsg. v. Hans-Hugo STEINHOFF, 5 Bde. (Bibliothek deutscher Klassiker 123/183/190, Bibliothek des Mittelalters 14–18), Frankfurt a. M. 1995–2004, hier Bd. 4, S. 46,25–50,5. Hierzu Jan-Dirk MÜLLER, Pygmalion, höfisch. Mittelalterliche Erweckungsphantasien, in: Mathias MAYER u. Gerhard NEUMANN (Hgg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg i. Br. 1997, S. 465–495, hier S. 467–475.

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1 Der Bildersaal Vorab will ich einige Daten zum Text in Erinnerung rufen: Der ‚Tristan‘ des Thomas (im Folgenden TT) ist um 1170/80 verfasst und vollendet worden, die Überlieferung ist allerdings fragmentarisch. Sinnigerweise setzt sie ungefähr dort ein, wo sein großer deutscher Übersetzer, Gottfried von Straßburg (um 1205/10), abbricht. Gottfrieds ‚Tristan‘ (im Folgenden GT) ist seinerseits zwar vollständig überliefert, wurde aber eben nicht vollendet. Die verlorenen ersten beiden Drittel des ‚ThomasTristan‘ können wir aus Gottfried und der norwegischen ‚Tristansaga‘ des sogenannten Bruder Robert (um 1226) rekonstruieren, das letzte Drittel ist in umfangreicheren Fragmenten erhalten, auch hier sind wir aber immer wieder auf die Prosafassung des Robert angewiesen.9 Der Status von Thomas’ Text ist also mehr als prekär, gerade darin aber auch einschlägig für unser Thema: Wenn wir Thomas lesen wollen, lesen wir weitgehend nicht den eigentlichen, von ihm geschaffenen Text, sondern nur ein Abbild, ein nachahmendes simulacrum. Das gilt auch für die Episode vom Bildersaal, die wir über weite Strecken nur aus Roberts Saga-Version kennen.10 Sie bildet den Übergang zu Tristans Rückkehr-

|| 9 Zitate aus Thomas und Gottfried nach Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hrsg. v. Walter HAUG † u. Manfred Günter SCHOLZ, mit dem Text des Thomas, hrsg., übers. u. komm. v. Walter HAUG †, 2 Bde. (Bibliothek deutscher Klassiker 192, Bibliothek des Mittelalters 10), Berlin 2011. Die Verszählung der Thomaszitate folgt HAUG u. SCHOLZ, zusätzlich angegeben sind die Verszahlen des ersten Turiner Fragments T1, das die Episode bietet; hierzu und generell zur Thomasüberlieferung ebd., S. 752 f. Außerdem habe ich herangezogen: Tristan et Yseut. Les premières versions européennes, édition publiée sous la direction de Christiane MARCHELLO-NIZIA (Bibliothèque de la Pléiade 422), Paris 1995, der Thomas-Text findet sich hier S. 129–212, die Bildersaal-Episode S. 153–162; meine allgemeinen Angaben zu Thomas beziehen sich auf die Datierungstabelle sowie die Einleitung zum Kommentar zu Thomas, ebd., S. XLVI bzw. S. 1224. Für die Prosabearbeitung des Robert sh. ebd., S. 783–920, der Abschnitt zum Bildersaal S. 893–903 (Kap. LXXVIII–LXXXV). Für Robert habe ich außerdem konsultiert: The Saga of Tristram and Ísönd, translated with an introduction by Paul SCHACH, Lincoln, London 1973. Die Übersetzungen der Thomas-Zitate stützen sich auf HAUG und MARCHELLO-NIZIA, sind dabei aber um möglichste Nähe zum Ausgangstext und um Bewahrung von Mehrdeutigkeiten bemüht, Übersetzungen zu Gottfried von mir. 10 Grundlegende Hinweise zur Forschung und zu Fragen der Deutung der Episode gibt der Kommentar in HAUG u. SCHOLZ (Anm. 9), S. 772–777. Vgl. weiters Tracy ADAMS, Archetypes and Copies in Thomas’s “Tristan”. A Re-examination of the “Salle aux Images” Scenes, in: Romanic Review 90 (1999), S. 317–332 mit guten Hinweisen auf die mögliche Verschränkung paganer und christlicher Bildersagen (Venusbild, Marienbild) oder jedenfalls der zugrundeliegenden Vorstellungskomplexe bei Thomas; ein interessantes Rezeptionszeugnis der Thomas-Episode bietet die ‚Tavola ritonda‘, die italienische Bearbeitung des ‚Tristan en prose‘ (um 1230/40) aus dem frühen 14. Jahrhundert, die gegen ihre Quelle das Motiv einkreuzt, dass sich Tristan eine Isoldenstatue anfertigen lässt; schon Isoldes Mutter hatte sich ein Portrait der Tochter anfertigen lassen; der Prosaroman verdoppelt also das Motiv einer mimetischen ‚Vervielfältigung‘ der Protagonistin, hierzu Giulia MURGIA, Rappresentare il desiderio: la statua di Isotta nella Tavola Ritonda, in: Between III.5 (2013), S. 1–22.

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abenteuern an den Markehof. Von dort musste er fliehen, weil der König ihn und Isolde beim Ehebruch im Baumgarten ertappt hatte; Tristan kommt in die Bretagne, wo er Isolde Weißhand kennenlernt und mit nur mäßigem Erfolg zur Frau nimmt. Er kann die Ehe nämlich nicht vollziehen, denn das wäre Betrug gegenüber der blonden Isolde (dass ausgerechnet die Ehe den schlimmsten Treuebruch darstellt, ist eine der sinnigen Paradoxien des Tristanromans). Tristan ergeht sich stattdessen in Sehnsuchtsübungen gegenüber der fernen eigentlichen Geliebten. Dies gipfelt in der Errichtung des Statuensaals in einer Grotte, die ihm der Riese Moldagog geschenkt hat, zum Dank dafür, dass ihm Tristan im Kampf das Leben ließ.11 Die Grotte liegt am Meer und ist nur bei Ebbe zugänglich. Tristan lässt sie mit Holz verkleiden. Und er versieht sie mit einem Ensemble von Statuen: In der Mitte ein Bildnis Isoldes, die auf der Brust des Zwergen steht, der gegen die Liebenden am Hof Markes intrigiert hatte, zu ihrer Seite Brangäne und der Zauberhund Petitcriu, dann eine Statue des Riesen und ein Löwe, der mit seinem Schweif den Verräter Marjodo schlägt. Isolde ist im Moment des Abschieds dargestellt, als sie Tristan ihren Ring reicht, eine Inschrift auf dem Ring notiert ihre letzten Worte: „Nimm diesen Ring als Erinnerungszeichen unserer Liebe und vergiss nicht das Leid, den Kummer und die Mühsal, die wir, du der Liebe zu mir, ich der Liebe zu dir wegen, erlitten haben.“12 Die Statue verströmt zudem süßen Duft. Der mimetische Perfektionsanspruch umfasst somit auch den olfaktorischen Bereich. Der fehlende Geruch ist ja mithin das, worin sich die mimetische Täuschung verrät.13 Immer wieder besucht Tristan nun die Grotte, um Folgendes zu tun: || 11 Dies und das Folgende nach Roberts Saga-Bearbeitung, Tristan et Yseut (Anm. 9), Kap. LXXV– LXXXI, S. 889–897. 12 Die Inschrift gibt die Worte wieder, die Isolde zu Tristan beim Abschied gesprochen hatte. Robert zitiert nicht direkt die Inschrift, sondern diese Worte, der genaue Wortlaut der Inschrift bleibt unklar, er kann schwerlich so umfangreich ausgefallen sein bzw. transzendiert die Wiedergabe der Worte, was mimetisch für eine Inschrift denkbar wäre; die Stelle lautet in der französischen Übersetzung der Version Roberts nach Tristan et Yseut (Anm. 9): „Tristram, avait-elle dit, prends cette bague en souvenir de notre amour et n’oublie pas notre chagrin, notre détresse et notre misère, que tu as endurés pour l’amour de moi et moi, pour l’amour de toi.“ Der Auftrag der Geliebten entspricht ziemlich genau dem, was als Tristans Erinnerungsübung an Isoldes Bild beschrieben wird (vgl. den Beginn des folgenden Zitats). 13 Ein prägnantes Beispiel geben hierfür die beiden Schlussverse von ‚Carmen buranum‘ 186, dem letzten Lied aus der Sektion der Liebeslieder im ‚Codex buranus‘: Flos in pictura non est flos, immo figura;/ Qui pingit florem, non pingit floris odorem („Eine Blume in der Malerei ist keine Blume, vielmehr bloß deren Zeichen;/ wer eine Blume malt, malt nicht den Geruch der Blume“), Zitat nach: Carmina Burana. Texte und Übersetzungen, mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter u. Dorothee DIEMER, hrsg. v. Benedikt Konrad VOLLMANN (Bibliothek deutscher Klassiker 16, Bibliothek des Mittelalters 13), Frankfurt a. M. 1987, Übersetzung von mir; zum Lied und seiner spezifischen Text-Bild-Struktur, die die abschließende Sentenz wohl auch motiviert und in der Bilderskepsis zugleich eine konzeptuelle Skepsis gegen das Programm weltlicher Liebe

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E les deliz des granz amors, E lor travaus e lor dolurs, E lor paignes e lor ahans Recorde a l’himage Tristrans. Molt la baise quant est haitez; Corrusce soi, quant est irez, Que par penser, que par songes, Que par craire en son cuer mençoinges, Que ele mette lui en obli Ou que ele ait acun autre ami, Que ele ne se pusse consurrer, Que li n’estoce un autre amer, Que mieuz a sa volunté ait. Hiceste penser errer le fait; Errance son corage debote. Del biau Cariados se dote, Que ele envers lui ne turne s’amor: Entur li est e nuit et jor, E si la sert e si la losange, E sovant de lui la blestange. Dote, quant n’a son voler, Que ele se preigne a son poer, Por ce que ele ne puet avoir lui, Que son ami face d’autrui. Quant il pense de tel irur, Donc mustre a l’image haiur, Vient l’autre a esgarder; Mais ne volt ne seoir ne parler.

945 (T1 5)

950 (T1 10)

955 (T1 15)

960 (T1 20)

965 (T1 25)

Und die Genüsse der großen Liebe und ihre Mühen und ihre Leiden und ihre Qualen und ihre Schmerzen ruft sich Tristan vor der Statue [Isoldes] (vielleicht aber eher: ruft Tristan der Statue) in Erinnerung. (945) Viel küsst er sie, wenn er heiter ist; er entrüstet sich aber, wenn er erzürnt ist, sei es durch Denken, sei es durch Träume, sei es, weil er im Herzen den Verleumdungen Glauben schenkt, dass sie ihn dem Vergessen preisgegeben (950) oder dass sie irgend einen andren Geliebten habe, dass sie nicht an sich halten könnte, einen anderen zu lieben,

|| formuliert sh. meinen Aufsatz Suscipe, Syringula, florem! Text, Bild und Dialog in Carmen buranum 186, in: Susanne HOCHREITER u. a. (Hgg.), Ein Zoll Dankfest. Texte für die Germanistik. Konstanze Fliedl zum 60. Geburtstag, Würzburg 2015, S. 101–116, zu den mimesis- und zeichentheoretischen Implikationen der Schlussverse S. 112–115. Wohlgeruch spielt auch eine zentrale Rolle für das mimetische Totalerlebnis, das die „Chambre des Beautés“ in Benoits ‚Roman de Troie‘ (Anm. 6) ihren Bewohnern bieten soll, dafür sorgen dargebrachte Blumen (V. 14805–14808) und edles Räucherwerk aus Kräutern (V. 14899–14913). Es ist denkbar, dass die Geruchsapparatur der Isoldenstatue bei Thomas von Benoit angeregt ist. Konzeptionell könnte das Motiv vom Wohlgeruch eine parasakrale Analogie darstellen: Die Leiber der Heiligen, zumal die Leichen der Märtyrer, verströmen Wohlgeruch. Die Vorstellung geht auch in die hochmittelalterliche Chanson de Geste-Dichtung, namentlich in Wolframs von Eschenbach ‚Willehalm‘ (um 1210/15) ein.

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der ihre Wünsche leichter erfüllen würde. Dieses Denken führt ihn in die Irre, (955) die Verirrung geht ihm an seine beherzte Zuversicht. Wegen des schönen Cariado steht er in Zweifel, dass sie diesem nicht etwa ihre Liebe zuwende: Um sie ist er Nacht und Tag, er folgt ihr und umschmeichelt sie (960) und tadelt sie häufig seinetwegen. Er (Tristan) zweifelt, wenn es nicht nach ihrem Willen gehe, dass sie nimmt, was sie haben kann; dass sie, weil sie ihn nicht haben kann, einen anderen zu ihrem Geliebten macht. (965) Wenn er derart Empörendes denkt, dann bringt er dem Bildnis Hass entgegen und geht hin, um das andere anzusehen; bei diesem will er nicht länger sein noch zu ihm reden.

In seiner Liebeszerrüttung wendet sich Tristan anklagend der Statue Brangänes zu, blickt dann aber auf den Ring in Isoldes Hand und auf Isoldes Antlitz, das so aussieht wie beim Abschied. Nun bereut er wortreich und bittet das Bild der Geliebten um Vergebung wegen seiner, wie es heißt, verrückten Vorwürfe: Poi s’en deseufle un petit, Regarde en la main Ysodt: L’anel d’or doner li volt. Vait la chere e le senblant Que au departir fait son amant. Menbre lui de la covenance Qu’il ot a la deseverance. Hidonc plure e merci crie De ce que pensa folie, E siet bien que il est deceü De la fole irur que il a eü. Por iço fist il ceste image, Que dire li volt son corage: Son bon penser e sa fole errur, Sa paigne, sa joie d’amor, Car ne sot vers cui descoverir Ne son voler, ne son desir.

975 (T1 35)

980 (T1 40)

985 (T1 45)

990 (T1 50)

Danach beruhigt er sich ein wenig, (975) blickt Isolden auf die Hand: Den Ring von Gold will sie ihm geben. Und er sieht ihr Antlitz und dessen Glanz, den sie beim Abschied ihrem Geliebten zuteilwerden ließ. Er erinnert sich an die Übereinkunft, (980) die er beim Abschied einging. Daraufhin weint er und ruft um Vergebung wegen seines törichten Denkens und weiß gut, dass er betrogen wurde von dem törichten Zorn, den er hatte. (985) Denn deswegen hat er dieses Bildnis gemacht, dass er ihm seinen Herzenszustand sagen wollte: sein gutes Denken und seine törichte Verirrung, seinen Schmerz und seine Liebesfreude, denn er weiß nicht, wem sonst er es eröffnen könnte, (990) weder sein Wollen noch sein Verlangen.

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2 Mimetische Spiegelungen Ich möchte zunächst auf die Komposition der Episode eingehen. Sie scheint mir für die Narratologie des Tristanromans, aber auch generell für die poetischmimetischen Verfahren höfischer Erzählkunst charakteristisch zu sein. Getragen ist sie wesentlich von einem Prinzip der Spiegelung auf motivischer wie thematischer Ebene, und diese Spiegelungstechnik generiert ein komplexes, facettenreiches Geflecht der Bedeutung, die freilich auf nichts weniger als auf Eindeutigkeit abzielt. Was sie entäußert, ist ein hochentwickeltes Kalkül und Sensorium für ein durchdachtes narratives Arrangement oder eben ein kompositorisch-mimetisches Bewusstsein, das der Erzählung auf rezeptionsästhetischer Seite ein ebenso hohes, wenn nicht höchstes Maß an imaginativem Potenzial verleiht, das im poetischen Medium die Illusion der Echtheit tragen soll. So spiegelt der Kampf mit dem Riesen Moldagog den Kampf mit dem Riesen Urgan. Für den Sieg hatte Fürst Gilan Tristan den Hund Petitcriu zum Lohn gegeben, ein Geschöpf von Zauberkunst aus Avalon (daz vremede werc von Avalûn, GT, V. 15838), das alles Leiden vertreibt, als Kunstgeschöpf aber selbst mimetisch hergestellt und dann Teil des Statuenprogramms ist, also nochmals mimetisch reproduziert wird. Wie die Minnegrotte so wurde auch die Höhle des Bildersaals von Riesen aus dem Stein gehauen. Mit der Minnegrotte teilt er außerdem das heterotopische Moment der Abgeschiedenheit. Analogien zeigen sich zudem im Aspekt der Bildhaftigkeit bzw. der Statuarisierung der Figuren zum Bild: So vermittelt der Anblick, den die schlafenden Liebenden, Tristan und Isolde, dem Jägermeister des Königs und Marke selbst bei ihrer Entdeckung in der Grotte bieten, einen gewissen bildhaftstatischen Charakter (GT, V. 17436–17452 bzw. 17498–17626). In Betrachtung der schlafenden Liebenden ergeht sich der König auch, als er sie nach der Liebesvereinigung im Baumgarten antrifft. Hier fällt bei Gottfried explizit ein Bildvergleich – so eng wie sie umschlungen lagen, und würde man ein Bildwerk aus Erz oder Gold gießen, es könnte nicht besser gefügt sein: wîp unde neven die vander mit armen zuo z’ein ander gevlohten nâhe und ange, ir wange an sînem wange, ir munt an sînem munde; swaz er gesehen kunde, daz in diu decke sehen lie, daz vür daz deckelachen gie ze dem oberen ende: ir arme unde ir hende, ir ahsel unde ir brustbein

18195

18200

18205

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diu wâren alsô nâhe in ein getwungen unde geslozzen: unde wære ein werc gegozzen von êre oder von golde, ez’n dorfte noch ensolde niemer baz gevüeget sîn. Tristan und diu künegîn die sliefen harte suoze, ine weiz nâch waz unmuoze.

18210

(18195) Frau und Neffen fand er vor mit Armen ineinander nah und eng verflochten, ihre Wange an seiner Wange, ihr Mund an seinem Mund. (18200) Was er zu sehen vermochte, was ihn die Decke sehen ließ, was über das Decklaken reichte am oberen Ende – ihre Arme und ihre Hände, (18205) ihre Achseln und beider Brust waren so eng ineinander verschlungen und umschlossen: Und ließe sich je ein (solches) Bildnis aus Erz oder Gold gießen, (18210) es dürfte und könnte niemals besser gestaltet sein. Tristan und die Königin schliefen über die Maßen süß – ich weiß nicht nach welcher Art von Übung.

Der Liebesakt gerät auf der Vergleichsebene zum ultimativen Kunstwerk, zur Mimesis seiner selbst, die sich perfekter nicht denken lässt, weil Bild und Abbild identisch sind, weil die Liebenden ein tableau vivant bilden. In der Pose der Umarmung erscheinen sie abermals gleichsam statuarisiert. Das moralisch Prekäre, das die ehebrecherische Umarmung ausmacht, verschwindet für den Moment wenigstens, indem ihr auf einer ästhetischen Ebene der Status der Idealität zuerkannt wird. Diese ästhetische Ebene ist der rhetorisch-mimetischen Operation des Vergleichs wegen zwar auch, aber nicht nur und einfach Meta-Ebene, da der Aspekt der Betrachtung in die Handlung integriert bleibt. Die Ironie dabei ist, dass der erste Betrachter des Ehebruchs als Kunstwerk der betrogene Ehemann selbst ist – und dass der Erzähler plötzlich nicht mehr zu wissen vorgibt, welcher Beschäftigung die beiden Liebenden zuvor nachgegangen wären. Mit Ovid gesprochen hätten wir hier die komplementäre Formel zu Ars latet arte sua gegeben: simulaverat artem/ ingenio Natura suo (‚Metamorphosen‘, III 158 f.), mithilfe ihres Ingeniums – jener Geisteskraft also, die zur Kunstschöpfung befähigt – simuliert die Natur ihre eigene Künstlichkeit. Freilich, der Kunstvergleich findet sich bei Gottfried; da sich Gottfrieds Bearbeitung aber explizit als inneclîche guotez lesen, als eine kongeniale Lektüre des Thomastextes versteht (vgl. GT, V. 167–173), könnte man mit einiger Berechtigung sagen, dass er nur ins Reine bringe, was er bei Thomas zumindest zwischen den Zeilen schon stehen sah. Mehr aber noch ist die Umarmung, die die beiden Liebenden hier so perfekt verschränkt, dass sie im Bild mimetisch nicht besser zu bieten wäre, selbst eine Schöpfung poetischer Nachahmung, deren fiktionalen Status der Bildvergleich, die mimetische Operation auf zweiter Stufe gleichsam zu vergessen scheint: Den mimetischen Akt innerhalb des mimetischen System selbst mimetisch zu reproduzieren (hier hypothetisch im

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Vergleich), dieser Kunstgriff scheint das Potenzial in sich zu tragen, den mimetischen Status des poetischen Textes zu verschleiern. Die Miniatur der Münchener Handschrift weiß den Akt der Bildbetrachtung im übrigen gut ins Bild zu setzen.14 Die – soweit erkennbar – offene Mundhaltung des Königs und die zu einem Kreis zusammengeführten Daumen und Zeigefinger an seinen Händen könnten dabei eine obszöne Geste darstellen und Empörung ausdrücken wollen. Ferner verbindet der abschließende Erzählerkommentar mit dem Begriff der unmuoze und der vorgeblichen Ahnungslosigkeit die Stelle mit dem Liebesduett, das Tristan und Isolde in der Grotte spielen (GT, V. 17208), und eben mit jener Szene, in der Marke die von Tristans Schwert getrennt liegenden und schlafenden Liebenden durch eines der drei Gewölbefenster der Grotte betrachtet. Auch hier will der Erzähler zunächst nicht wissen, von welcher Art Anstrengung (arbeit, GT, V. 17561) Isoldens Teint errötet gewesen wäre. Spiegelungen zeigen sich auch im Motiv der Simulation, genauer: der simulierten Präsenz der fernen Geliebten in ihrem lebensechten Standbild. Das verbindet den Bildersaal mit jener Szene, in der Tristan vor Isolde Weißhand, ihren Eltern und ihrem Bruder Kaherdin ein Preislied auf Isolde singt (GT, V. 19196–19221). Die Zuhörer nehmen es als Lied, das die anwesende Isolde Weißhand adressiere, der Sänger selbst will es der absenten, blonden Isolde zugedacht wissen. Die doppelte Simulation gelingt über den gleichen Namen, also über jenes simulacrum, das beide Isolden bezeichnet.15 Ja, über den Namen (und ihre Schönheit) gerät Isolde Weißhand selbst zum mimeticum der blonden Isolde (TT, V. 249–254; GT, V. 18972–19040) und die Heirat mit ihr zur Mimesis einer legitimen Verbindung mit der fernen Geliebten, die freilich den Echtheitstest nicht besteht. Isoldes der Blonden Schönheit hatte Tristan (bei Gottfried, V. 8253–8300) schon nach seinem ersten Irlandaufenthalt am Markehof gepriesen. Seine Rede, die durchaus im Stile des minnesängerischen Preislieds daherkommt, wirkt auch so: Wie der Maientau die Blüten versüßt sie den Zuhörern, wie es heißt, das Gemüt (GT, V. 8301–8309), geht ihnen also an und in die emotionale Substanz. Die ästhetische Wirkung, die diese beiden Lieder Tristans dem innerdiegetischen Publikum und dem Sänger selbst gegenüber entfalten, entspricht der mimetischen Täuschung, die der Bildersaal auf Tristan ausübt. Ich werde auf diese intermediale und intermimetische Kongruenz zwischen Wort und Bild gleich zurückkommen. Sie erzeugt selbstredend zugleich Differenz. || 14 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 51, fol. 90r. Ich verzichte auf eine Abbildung, da das Digitalisat leicht zugänglich ist: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00088332-6 (14.07.2019). 15 Dass dem Motiv der mimetischen Täuschung durch das Bild im ‚Thomas-Tristan‘ jenes von der Täuschung durch das Wort, durch den gleichen Namen korrespondiert, dass der Sprache also eine nicht minder illusionäre Kapazität zukomme bzw. die sprachliche Illusion der bildlichen in der narrativen Folge sogar vorausgeht, betont Adam BRESNICK, Tristan et Iseut as a “Salle aux Images“, in: Qui parle 1 (1987), S. 62–74, online unter: https://www.jstor.org/stable/25699927 (14.07.2019).

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3 Ikonophilie und Ikonophobie Die Bezüge von Tristans Bilderübung (bei Thomas!) zu seiner Lobrede auf Isolde am Markehof und zu seinem Isoldenpreislied am Hof des Herzogs der Bretagne (bei Gottfried!) geben wie vieles andere die Affinität des ‚Thomas-‘ wie des ‚GottfriedTristan‘ zum Minnesang frei. Der Gefühlshaushalt des Bildverliebten ist ambivalent, er pendelt zwischen Aggression und Affirmation. Das entspricht den zentralen lyrischen Topoi von Klage und Preis, ebenso tun es die beiden zentralen Handlungen, das Denken, das in eine gravierende Irritation führt, und das vergegenwärtigende Betrachten (im Minnesang ist dies meist die erinnerte oder imaginative Schau der Geliebten), das der Wiedervergewisserung dient. Die Episode lässt sich somit auch als epischer Kommentar zum mimetischen Charakter der Liebeslyrik lesen: Minne wäre demnach eine Form der Ikonophilie, der ambivalenten Liebe zu einem imaginären (weiblichen) Liebesobjekt, die ein auf sich selbst zurückgeworfenes liebendes (männliches) Subjekt praktiziert.16 Das ist nicht nur poesiegeschichtlich, sondern auch kulturgeschichtlich und kulturtheoretisch bemerkenswert. Der Text setzt eine poetische Psychologie frei, die durchaus hellsichtig ein zentrales erotisches Problem fokussiert: die Unverfügbarkeit des geliebten Gegenübers, weil diesem selbst Subjektstatus zukommt. Oder anders gesagt: Dem liebenden (männlichen) Subjekt ist die Geliebte bloß im Status des simulacrums, im Status des imaginären (weiblichen) Objekts verfügbar. Was umgekehrt bedeutet, dass der ‚realen‘ Frau zumindest im poetischen Liebesdiskurs Subjektstatus zuerkannt wird, und das wäre gendergeschichtlich immerhin von einiger Relevanz. Was den Mimesischarakter der Isoldenstatue selbst angeht, so sind mehrere Aspekte auffällig, die insbesondere im Vergleich zu Ovids Pygmalionmythos die spezifischen Konturen einer mittelalterlichen Nachahmungsästhetik freigeben || 16 Dass Bildvorstellung und der Begriff des Bildes im Minnesang eine zentrale Rolle spielen, lässt sich exemplarisch insbesondere an zwei Liedern Walthers von der Vogelweide andeuten (zitiert nach: Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, 15., veränderte und um Fassungseditionen erw. Aufl. der Ausg. Karl LACHMANNS, aufgrund der 14., v. Christoph CORMEAU bearb. Ausg. neu hrsg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen v. Thomas BEIN, Edition der Melodien v. Horst BRUNNER, Berlin, Boston 2013, im Folgenden Cor/Be; die Zählung nach LACHMANN mit der Sigle L). So führt das Preislied Si wunder wol gemachet wîp (L 53,25, Cor/Be 30) die schöne Gestalt der Geliebten gleichsam idealiter vor Augen; die ostentativ angewandte Technik der descriptio entäußert dabei ein durchaus mimetisches Gestaltungsbewusstsein: Es ist das Lied, das sie im rhetorisch-mimetischen Prozess erst zu dem macht, was sie vorgeblich ‚vor dem Lied‘ sein soll, nämlich zu einem wunder wol gemachet wîp, „zu einer wunderschön erschaffenen Frau“. Umgekehrt formuliert der sogenannte ‚Alterston‘ in der fünften Strophe nach den Fassungen BC (L 67,32, Cor/Be 43.V) mit deutlichem Bezug auf das Preislied eine Absage an ein selbsterwähltes bilde, das schön gewesen sei, nun aber seinen Glanz und auch seine Redefähigkeit (!) verloren habe. Zu Bildaffinität und Bildvorstellungen im Minnesang auch MÜLLER (Anm. 8), S. 489–493, u. a. mit Bezug auf den ‚Alterston‘.

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könnten: Ich hatte schon erwähnt, dass die Statue einen besonderen Duft verströmt, die Echtheitsfiktion umfasst somit auch den Geruchssinn. Reden kann sie freilich nicht. Was künstliche Stimme hätte sein können, ersetzt der Schriftzug auf dem Ring, der Isoldes Abschiedsworte festhält. Die Schrift hält im Widerspruch zum Duft den artifiziellen Charakter des Bildnisses aufrecht, da es nur mittelbar über das Medium der Fernkommunikation, nur visuell und nicht akustisch wahrnehmbar ‚sprechen‘ kann. Dies gilt nicht in gleicher Weise für den Tastsinn. Auch wenn Tristan bei weitem nicht so eifrig wie Pygmalion mit seiner Statue herumhantiert, immerhin küsst er sie, erliegt also noch im Nahbereich des tactus wie sein antikes Vorbild der selbst erschaffenen Illusion. Ansonsten interagiert er mit Isolde – um es so zu sagen – eher auf Nahdistanz, die durch den lebensechten visus sowie durch die Schrift als Medium der Fernkommunikation repräsentiert ist. Interessanterweise spielt diese Schrift im Akt der Wieder-Vergewisserung keine Rolle, Tristan liest sie nicht. Für Isoldes Treue bürgen ihm der Gesichtsausdruck ihres Bildes und der Ring, der als ihre Gabe die Geliebte offenbar metonymisch repräsentiert und als solcher ja auch tatsächlich präsent ist: Der Ring, den die Statue in Händen hält, ist der Ring, den ihm Isolde gab. Er ist das eigentliche Wahrzeichen. Worte hingegen können trügen, wie niemand besser wissen muss als die Wortbetrüger Tristan und Isolde selbst. Wie gesagt, im Unterschied zu Pygmalion hantiert Tristan nicht viel mit seiner Statue herum, die Interaktion bleibt, wie es sich für eine Statue schickt, weitgehend statisch. Das mag mit einer entscheidenden Variation zu tun haben: Pygmalions Statue wird durch ein Venuswunder belebt, wohingegen Isoldes Statue die lebende Geliebte schon immer ‚nur‘ substituiert. Dass das Bild deshalb als defizient markiert wäre, scheint mir jedoch keineswegs plausibel.17 Eher beglaubigt die Nachgestaltung den mimetischen Wert, die lebende Isolde besichert das Abbild, wie umgekehrt das Abbild die unverbrüchliche Treue der echten Isolde besichern soll. In diesem Zusammenhang sei eine ikonographische Besonderheit festgehalten: Isolde steht auf der Brust des Zwergen, der das Liebespaar an den König verraten wollte. Die Bildkomposition scheint die Ikonographie der triumphierenden Tugend zu reflektieren, wie wir sie aus der Sakralplastik kennen, ein eindrückliches Beispiel geben etwa die Tugenden im Gewände des Mittelportals der Westfassade des Straßburger Münsters. Zur Entstehungszeit des ‚Thomas-Tristan‘ ist dieser ikonographische Typus freilich ziemlich jung. Wie so oft scheint die von der Literatur imaginierte Ikonographie der tatsächlichen also voraus zu sein.18 Wie dem auch sei, genau

|| 17 So neben MÜLLER (Anm. 8) u. a. Volker MERTENS, Bildersaal – Minnegrotte – Liebestrank. Zu Symbol, Allegorie und Mythos im Tristanroman, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), S. 40–64, hier bes. S. 45. 18 Grundlegend hierzu Michael W. EVANS, Tugenden und Laster, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4 (1972), Sp. 380–390, hier bes. Sp. 385–388. Die frühesten Bildbelege finden sich

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dies wäre jedenfalls genuin mittelalterliche Mimesis: Der Anspruch des verisimile gilt nicht nur dem Körperbild, sondern auch der allegorischen Sinndimension seiner Pose: Wie die Tugend die Untugend überwindet Isolde als Personifikation einer Liebe, die höher nicht zu denken ist, den Liebesverrat. In der Forschung wird üblicherweise der Memorialcharakter des Bildersaals hervorgehoben. Tristans ikonophiles Handeln beschränkt sich aber nicht auf eine bloße Erinnerungsübung. Es dient einer imaginativ fortgesetzten Kommunikation, die das Problem von Distanz und Absenz verhandelt. Das Bild der Geliebten ist ihm dabei das einzige, dem er seine Freude und seinen Kummer mitteilen kann. Diese Kommunikation kennt nun aber zwei Bewegungen: Betrachten und Denken. Das Betrachten des Bildnisses fingiert dabei eine Präsenz, die Freude auslöst und darin gipfelt, dass Tristan das Bildnis küsst. Der Kuss überwindet die visuelle Nahdistanz, visus wird tactus. Und der Kuss bezeichnet den höchsten Grad der mimetischen Selbsttäuschung. Das zweite aber ist das Denken, das von der Präsenz des Bildes wegführt in die Ferne, in der sich die Geliebte tatsächlich befindet und in der sie argwöhnisch als untreu imaginiert wird. Aus der imaginären Verirrung, der fole errur (TT, V. 987) des Denkens erlöst wiederum nur die effektive Betrachtung – des Ringes, des einzigen substanziellen Wahrzeichens im Bilderprogramm. Was das Denken Tristans betrifft, so scheint es eine gewisse Analogie zum Dichten zu haben, und in Tristans eifersüchtigem Denken weiß der Text denn auch zugleich eine alternative Geschichte, die Geschichte der treulosen Isolde zu erdichten. Poetologisch aufschlussreicher scheint mir jedoch ein anderer, genereller Aspekt, den ich schon angesprochen habe: Das Motiv von Bildnissen der Figuren im Text scheint den mimetischen Glaubwürdigkeitsgrad der Figuren zu erhöhen. An sich sind die handelnden Figuren ja selbst bloße simulacra, poetische Bildnisse; wenn nach diesen simulacra der Erzählung nun bildnerische simulacra in der Erzählung gebildet werden, verwischt oder verliert sich der Fiktionscharakter der Erzählung. Poetische Mimesis zehrt in diesem Sinne parasitär von der bildnerischen Mimesis, die sie selbst von sich selbst imaginiert.

|| ab 1130, wobei die Laster weitgehend dämonengestaltig sind. Menschengestalt haben sie ab dem ausgehenden 12. Jahrhundert.

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1.

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3.

Ich schließe mit vier Thesen: Der Echtheitsfiktion der Bilder, der sich Tristan selbst im Bildersaal hingibt, entspricht eine Echtheitsfiktion der Figuren des Romans, der sich auf der Ebene der Rezeption die Lesenden hingeben sollen. Wie der Bildersaal für Tristan Nahkommunikation mit der fernen Geliebten ermöglicht, ermöglicht die Erzählung den Rezipienten Nahkommunikation mit den und über die Figuren. Nicht zufällig schließt an die Episode ein Kommentar an, der das Publikum dazu anhält zu überlegen, wer von den vier Liebenden: Marke – Isolde – Tristan – Isolde Weißhand, denn nun am meisten unter der Liebe zu leiden habe. Die Entscheidung, die von den Rezipienten eingefordert wird, setzt Empathie, setzt einen Akt der identifikatorischen Nachahmung voraus. Neben der antiken Tradition täuschend echter Mimesis und pygmalionesker Bilderliebe scheint die Episode auf komplexe Weise auch Praxis und ‚Theorie‘ sakraler Ikonographie und Bilderverehrung zu reflektieren.19 Das deutet sich zum einen im Darstellungstypus der auf dem verräterischen Zwergen stehenden Isolde, der Isolde triumphans an, die den Typus der Virtutes triumphantes, möglicherweise noch bevor er bildkünstlerisch kanonisch wurde, reflektieren könnte. Zum anderen sind da die Aspekte der gebetshaften Ansprache des Bildes und der meditatio, die im Falle Tristans allerdings nicht ins Heil, sondern kontrastiv in die Verirrung führen. Zudem verleitet ihn die Bildillusion zu etwas, das in der religiösen Bilderverehrung tunlichst zu meiden ist: nicht das Bild, sondern, was es repräsentiert, soll verehrt werden.20 Wenigstens im Moment des Kusses wird Repräsentanz für Tristan freilich Präsenz der Geliebten im Bild. Auch dies könnte im übrigen ähnlichen, bis heute üblichen Praktiken der Heiligenbild-Verehrung korrespondieren. Gerade in der Allusion an sakrale Bilderverehrung wäre somit auch das Prekäre von Tristans erotisch-säkularer Idolatrie thematisiert. Und darin bedient sich der Text eben wiederum jener Potenziale, die dem Mittelalter eine einschlägige antike Tradition, namentlich Ovids Pygmalion kommuniziert hat. Phantasmen der perfekten Mimesis stehen im Mittelalter – das kann ich nur noch andeuten – im Spannungsfeld zwischen Naturbild und Kunstbild. In Chrétiens ‚Perceval‘ (V. 4194–4212) und in Wolframs ‚Parzival‘ (V. 282,20– 283,23) erkennt der Titelheld in den drei Blutstropfen im Schnee das Bild seiner Geliebten. Am Naturbild wird (im Unterschied zum Kunstbild des Tristanromans) eine metonymische Relation zwischen Abbild und Urbild konstruiert, die

|| 19 Auf diesem Aspekt haben in der Diskussion zum Vortrag auf meine eher zögernden Andeutungen hin vor allem Matthias MÜLLER, Mainz, und Heike SCHLIE, Krems, Salzburg, insistiert. Ich folge ihnen darin gerne und hebe ihn entsprechend hervor. 20 Sh. für grundlegende Informationen hierzu Wolfgang BRÜCKNER, Bild, Bilderverehrung, Bilderverbot, Bilderstreit, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2 (1994), Sp. 440–449, bes. Sp. 444– 447.

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hier wenigstens im Blut besteht (für den Schnee aber aus der Farbenmetaphorik des Schönheitspreises generiert wird). Zum antiken Phantasma des perfekten Kunstbilds scheint es ein substantialistisches oder auch transsubstantialistisches theologisches Gegenmodell zu geben. Besteht im einen das Verisimile in der Form, im Anschein, behauptet das andere ein Verum, eine Wahrheit der Relation, die in der Materie, in der geteilten Substanz besteht. Blut ist ja auch der Saft, aus dem die Vera Icon gemalt ist. Und auch im Falle des Bildersaals ist es ein Symbol mit Substanzcharakter, der echte Ring, der die Bilderübung, die zwischen glücklicher Betrachtung und in die Irre gehender Imagination schwankt, – gerade noch einmal, möchte man sagen – ins Lot bringt. 4. Der Gemachtheit der Nachahmung lässt sich in beiden Fällen nicht entraten. Parzival muss in die Blutstropfen im Schnee erst das Bild seiner Condwiramurs hineinimaginieren, in dem Moment, in dem er es tut, ist sie aber präsent, und dies womöglich substantieller noch als Isolde, wenn Tristan deren Abbild küsst. Ur- und Abbild oszillieren hier wie dort, das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

Christiane Richard-Elsner

Bœse bilde gebent den jungen ir alten Das Vorbild der Älteren als Sozialisationsinstanz im Mittelalter am Beispiel des ‚Renners‘ von Hugo von Trimberg Abstract: The present paper examines the significance of the role model, the bilde, as part of human socialisation in Hugo von Trimberg’s Middle High German didactic text ‘Renner’, written for laymen in the end of the 13th century. Hugo asserts that the model of the elderly and of persons of higher social rank is the most effective way of passing on behavioural patterns, both desirable and inappropriate ones. Instruction (lêr) and sanctioning (strâfe) for inadequate behaviour are also part of cultural transmission, but less important, according to Hugo. For example lêr to literacy can contribute to moral improvement if it is imparted through a good role model. But Hugo perceives that many clergymen, lords and heads of households are addicted to greed, gluttony and lust and thus are bad examples for children and young people. Moreover, he states that the young generation no longer wants to respect the older ones as authorities. In the last part it is presented that as well Freidank as Thomasîn von Zerklaere earlier in the 13th century point out the importance of the good example in education. This paper concludes that social and economic changes in the developing medieval towns, which took place during Hugo’s long lifetime, might have made socialisation by role models less effective. Keywords: socialisation, education, role model, Hugo von Trimberg, social history

1 Einleitung Menschen sind in ihrem Verhalten weniger als andere Lebewesen durch biologische Anlagen bestimmt. Menschliches Verhalten ist kulturell geprägt und dadurch äußerst flexibel. Jedoch ergibt sich damit die Notwendigkeit, kulturelle Muster zu tradieren.1 Für eine gelungene Sozialisation,2 um zu einem konstruktiven Mitglied || 1 Michael BÖSCH, Kultur, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2 (2011), S. 1357– 1371; Peter BERGER und Thomas LUCKMANN sehen „eine Dialektik der biologischen Grundlagen des Einzelnen und seiner gesellschaftlich produzierten Identität“ (Peter L. BERGER u. Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 23. Aufl. Frankfurt a. M. 2010, S. 192). || Christiane Richard-Elsner, Historisches Institut, Geschichte und Gegenwart Alteuropas, Fernuniversität Hagen, Lüderitzstr. 8, 40595 Düsseldorf, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-014

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seiner kulturellen Umgebung zu werden und dies auch zu bleiben, muss ein Mensch sich deshalb, besonders in der Kindheit, aber prinzipiell lebenslang, bestimmte Sachverhalte und kulturelle Muster aneignen, die sein Überleben sichern und ein sozial angemessenes Verhalten gewährleisten.3 Die Vorstellungen von einer gelungenen Sozialisation und über dazu erforderliche Lehrinhalte werden, zum Teil kontrovers, von verschiedenen Akteuren, wie zum Beispiel Eltern, Paten, Herren, Kirche und Schule, formuliert. Lernen ist jedoch ein individueller Prozess des Lernenden. Die Lerninhalte, also das, was der Mensch tatsächlich aufnimmt, entnimmt er seiner Umgebung, sozial erwünschtes und sozial für unnütz oder schädlich gehaltenes Wissen.4 Um zu gewährleisten, dass das für wichtig gehaltene Wissen aufgenommen wird und sozial angemessenes Verhalten gezeigt wird, entwickeln unterschiedliche Akteure Vorstellungen davon, wie diese Lerninhalte besonders an junge Menschen vermittelt werden und mit welchen Methoden man diesen Prozess fördern kann und sollte. Diese sind der Diskussion unterworfen und können sich verändern. Die gesellschaftliche Reaktion auf die Entwicklungstatsache, so umschrieb Siegfried BERNFELD Erziehung,5 führte gerade in der Moderne und auch im 21. Jahrhundert zu Diskussionen und Kontroversen um angemessene Wege und um Begriffe wie Erziehung, Bildung, Lehre, Lernen und Strafe. Die Wortstämme der genannten Begriffe finden sich auch im Mittelalter in Ausführungen zur gelungenen Sozialisation, die selbstverständlich nicht a priori moderne Erziehungsvorstellungen umfassen müssen.

|| 2 In den Sozialwissenschaften ist der Begriff „Sozialisation“ Diskussionen unterworfen. Für meine Ausführungen und Schlussfolgerungen ertragreich erwies sich die Begriffsbestimmung von Klaus HURRELMANN und Ullrich BAUER: „Sozialisation bezeichnet die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen, die sich aus der produktiven Verarbeitung der inneren und äußeren Realität ergibt. Die körperlichen und psychischen Dispositionen und Eigenschaften bilden für einen Menschen die innere Realität, die Gegebenheiten der sozialen und physischen Umwelt die äußere Realität. Die Realitätsverarbeitung ist produktiv, weil ein Mensch sich stets aktiv mit seinem Leben auseinandersetzt und die damit einhergehenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen versucht. Ob die Bewältigung gelingt oder nicht, hängt von den zur Verfügung stehenden personalen und sozialen Ressourcen ab. Durch alle Lebens- und Entwicklungsphasen zieht sich die Anforderung, die persönliche Individuation mit der gesellschaftlichen Integration in Einklang zu bringen, um die Ich-Identität zu sichern.“ (Klaus HURRELMANN u. Ullrich BAUER, Einführung in die Sozialisationstheorie, 11. Aufl. Weinheim, Basel 2015, S. 97). 3 Vgl. Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl. München 2007, S. 136–138. 4 Aufgrund der großen Bedeutung der intergenerationellen Weitergabe von Kultur auch im 21. Jahrhundert entstand eine Vielzahl von Lerntheorien. Zur Beschreibung des Lernens z.B. Guy BODENMANN, Meinrad PERREZ u. Marcel SCHÄR, Klassische Lerntheorien. Grundlagen und Anwendungen in Erziehung und Psychotherapie, 2. Aufl. Bern 2011, bes. S. 14–24. 5 Siegfried BERNFELD, Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Frankfurt a. M. 5. u. 6. Tsd. 1970, S. 51.

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Es wird davon ausgegangen, dass die meisten Menschen im Mittelalter vor allem durch Nachahmen und Mitmachen im Alltag sozialisiert wurden.6 Die intergenerationelle Übertragung von Kultur wurde in der Mediävistik jedoch vorwiegend als Geschichte des lateinischen Unterrichts betrachtet.7 Durch diese Herangehensweise werden erstens die die Bevölkerungsmehrheit stellenden illiteraten Menschen ausgeklammert und zweitens auch die Bildungsanteile über moralisch richtiges und sozial angemessenes Verhalten der Alphabetisierten vernachlässigt. Denn es war ausdrückliche Aufgabe des mittelalterlichen Unterrichts in der Lateinschule beides zu vermitteln, littera et mores oder, wie es in mittelhochdeutschen Quellen heißt, zucht und lernung.8 Allerdings hat die Konzentration der Forschung auf littera, den lateinisch vermittelten Kenntnissen, den unbestreitbaren Vorteil, dass dazu schriftliche Quellen in größerer Zahl zur Verfügung stehen und man sich den mündlich oder durch vorbildhaftes Handeln überlieferten Sozialisationsanteilen, wenn überhaupt, lediglich vage annähern kann. Gerade in letzter Zeit wurde auch die Sozialisation im Adel stärker beleuchtet anhand von Briefen und Erziehungstraktaten.9

|| 6 Klaus ARNOLD, Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit, Paderborn, München 1980, S. 20–23; Shulamith SHAHAR, Kindheit im Mittelalter, 4. Aufl. Düsseldorf 2004, S. 276–281. Zur Sozialisation durch Einbindung in das tägliche Leben, für den Adel auch durch Sozialisation an einem fremden Hof: SHAHAR, S. 209–224; für Bauernkinder: SHAHAR, S. 242–244; Barbara HANAWALT, The ties that bound. Peasant families in medieval England, New York, Oxford 1986, S. 182–187. 7 Gelehrte Bildung soll hier der Sozialisationsanteil durch den mittelalterlichen gelehrten Unterricht sein, der Schreib- und Lesefähigkeit über Latein umfasste sowie die Kenntnis eines mehr oder weniger großen Anteils aus dem über Jahrhunderte weitgehend gleichen Kanon an antiker und christlicher Literatur. Einführend: ANONYM, Stichwort: Erziehungs- und Bildungswesen, I. Begriffe, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3 (1999), Sp. 2196–2197; Übersichten mit weiteren Literaturhinweisen: Robert GRAMSCH-STEHFEST, Bildung, Schule und Universität im Mittelalter (Seminar Geschichte), Berlin, Boston 2019; SHAHAR (Anm. 6), bes. S. 191–237; Martin KINTZINGER (Hg.), Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 42), Wien u. a. 1996; Bernd MOELLER (Hg.), Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978/81), Göttingen 1983; über den Anteil an Alphabetisierten: Alfred WENDEHORST, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?, in: Johannes FRIED (Hg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters (Vorträge und Forschungen; Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte 30), Sigmaringen 1986, S. 9–34. 8 Michael BALDZUHN, Die Ordnung der Lateinschule. Zur Formation von Wissen in vorreformatorischen Schulordnungen, in: Gesine MIERKE (Hg.), Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne, Würzburg 2013, S. 134–152, bes. 140–141; Hugo von Trimberg formuliert im ‚Renner‘ kunst und zuht (V. 16664). 9 Carola FÖLLER, Königskinder. Erziehung am Hof Ludwigs IX. des Heiligen von Frankreich (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Band 88), Wien u. a. 2018; Benjamin MÜSEGADES, Fürstliche Erziehung und Ausbildung im spätmittelalterlichen Reich (Mittelalter-Forschungen 47), Ostfildern 2014; Gerrit DEUTSCHLÄNDER, Dienen lernen, um zu herrschen. Höfische Erziehung im ausgehenden

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Im Folgenden wird gezeigt, dass Hugo von Trimberg im für Laien konzipierten ‚Renner‘ das Vorbild, das bilde, der Älteren und Höhergestellten als wirkungsvollste Form der Weitergabe von Verhaltensmustern darstellt, sowohl von erwünschten, als auch von nicht angemessenen und verderblichen. Auch Belehrung (lêr) und Sanktionierung (strâfe) bei nicht angemessenem Verhalten werden im ‚Renner‘ als Erziehungsmethoden gewürdigt. Sie seien in ihrer prägenden Bedeutung aber untergeordnet. Adressaten für bilde, lêr und strâfe seien prinzipiell alle Menschen, aber besonders die jungen. Zunächst wird kurz auf Autor und Quelle eingegangen und auf Hugos Sicht auf lêr und strâfe, bevor es um die starke Betonung von bilde auf das Verhalten des einzelnen Menschen im ‚Renner‘ geht. Im letzten Teil wird das Vorbild als Teil der Sozialisation im Mittelalter diskutiert.

2 Hugo von Trimberg und seine Lehrdichtung ‚Renner‘ in seiner Zeit Hugo von Trimberg dürfte im 3. oder 4. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts geboren worden sein, stammte vermutlich aus dem fränkischen Oberwerrn bei Schweinfurt und starb nach 1313 vermutlich in Bamberg. Somit erreichte er ein hohes Alter. Auslandsaufenthalte sind unwahrscheinlich (V. 13950–51).10 Als Ausbildungsort käme Würzburg in Frage. Über Jahrzehnte, etwa ab 1260, war er an der Schule des St. Gangolfstifts in Theuerstadt, einer Vorstadt von Bamberg tätig (V. 24560–63, 18930–31).11 Er bezeichnet sich selbst als leien, war demnach kein Kleriker (V. 184). Er hatte eine Familie und klagt über Geldnöte,12 weil er einen großen Haushalt zu versorgen hätte (V. 18919–20). Es wird deutlich, dass seine Schule nicht mehr besonders gefragt war (V. 13517–26). Ein Grund dürfte sein, dass er den neu aufkommenden Methoden der Scholastik skeptisch gegenüberstand und auch die geeignete Lehrqualifikation nicht gehabt haben dürfte.13

|| Mittelalter (1450 – 1550) (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 6), Berlin 2011; Horst WENZEL, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995. 10 Die Versbezeichnungen beziehen sich auf Hugo von Trimberg, Der ‚Renner‘, hrsg. v. Gustav EHRISMANN, Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1908–1911 und Kommentar von Günther SCHWEIKLE, Berlin 1970. 11 Günther SCHWEIKLE, Hugo von Trimberg, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 4 (1983), Sp. 268–282, hier Sp. 269. 12 Zur dürftigen Ausstattung der Stifte, deren Pfründe der scholaster hielt, der wiederum einen vermutlich gering bezahlten rector scolarum einsetzte: Johannes FRIED, Die Bamberger Domschule bis zum Ende der Stauferzeit, in: FRIED (Anm. 7), S. 163–201, hier S. 186–187. 13 Ebd., S. 188–189.

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Hauptwerk seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist der ‚Renner‘. Hugo gibt an, dass er gelehrtes Wissen an Laien weitergeben möchte (V. 24548–51). Er hofft, dass dies ein Beitrag sei, dass die, Swelhe ez lesen oder hœren lesen (V. 19),14 sich bessern und den rechten Weg zum Heil finden (V. 32–35, 10927–28, 22225–32). Daneben schrieb er vor allem lateinische Werke für den Schulgebrauch. Die Lehrdichtung ‚Renner‘ ist Hugos Alterswerk und wurde wahrscheinlich nach 1290 begonnen. Sie erfreute sich großer Beliebtheit und gehört zu den meist überlieferten mittelhochdeutschen Texten. Dokumentiert sind Handschriften sowie ein Druck von 1549. Neben Gesamtfassungen von über 24.000 Versen entstanden vor allem im 15. Jahrhundert gekürzte Fassungen.15 Der ‚Renner‘ entzieht sich einer eindeutigen Gattungszuordnung. Günther SCHWEIKLE nennt ihn „die umfangreichste mhd. [mittelhochdeutsche] Lehrdichtung – Sündenklage, Bußpredigt, Sittenlehre und popularisierendes Wissenskompendium in einem – “. 16 Hugo unterteilt sein Werk zwar grob nach den Hauptsünden. Seine Strukturierung bezeichnen Günther SCHWEIKLE und Wolfgang SPIEWOK jedoch als assoziativ.17 Dieselben Themen werden in unterschiedlichen Variationen behandelt. Im Sinne einer Tugendlehre ist Ausgangspunkt vor allem die Behandlung von moralischem Fehlverhalten von einzelnen Bevölkerungsgruppen. Damit steht der ‚Renner‘ den aus dem frühen 13. Jahrhundert stammenden ebenfalls mittelhochdeutschen Lehrdichtungen Freidanks,18 vermutlich ebenfalls ein Stadtbürger, auf den Hugo sich ausführlich beruft (V. 15385–88, 18843–44, 19663–64), und Thomasins von Zerklaere19 nahe, der sich eher an ein höfisches Publikum richtet, aber auch den Predigten der Mendikanten, von denen Hugo vor allem franziskanisches Gedankengut gekannt haben dürfte.20

|| 14 Wolfgang SPIEWOK geht davon aus, dass das Buch nicht zur fortlaufenden Lektüre gedacht war, sondern für abschnittweises Lesen (Wolfgang SPIEWOK, Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters, Bd. 3, Greifswald 1999, S. 27). Rudolf Kilian WEIGAND sieht im Aufbau auch Memorierhilfen (Rudolf Kilian WEIGAND, Der ‚Renner‘ des Hugo von Trimberg. Überlieferung, Quellenabhängigkeit und Struktur einer spätmittelalterlichen Lehrdichtung, Wiesbaden 2000, S. 362). 15 SCHWEIKLE (Anm. 11), Sp. 269–282. 16 Ebd., Sp. 272. 17 SCHWEIKLE (Anm. 11), Sp. 275; SPIEWOK (Anm. 14), S. 26. 18 Freidank, Bescheidenheit, hrsg. v. Heinrich E. BEZZENBERGER, Halle a. d. S. 1872. 19 Thomasin von Zirclaria, Der Wälsche Gast, hrsg. v. Heinrich RÜCKERT, Quedlinburg, Leipzig 1852, ND Berlin 1965. 20 An Bettelorden befanden sich in Bamberg im 13. Jahrhundert ein Franziskaner- und ein Karmelitenkloster (Bernhard SCHIMMELPFENNIG, Bamberg im Mittelalter. Siedelgebiete und Bevölkerung bis 1370, Lübeck u. a. 1964, S. 33). Zu Ähnlichkeiten in der Auffassung von Wirtschaftspraktiken s. a. Hans-Georg VON RUNDSTEDT, Die Wirtschaftsethik des Hugo von Trimberg, in: Archiv für Kulturgeschichte 26 (1936), S. 61–72, hier S. 62, sowie Franz GÖTTING, Der Renner Hugos von Trimberg. Studien zur mittelalterlichen Ethik in nachhöfischer Zeit, München 1932, z. B. S. 14–15, 32, 50.

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Hugo von Trimberg lebte in einer dynamischen Zeit. Städtegründungen, Veränderungen in der Landwirtschaft, verstärkter Handel und Geldgeschäfte erhöhten das Warenangebot, führten aber auch zu sozialen Spannungen. Als eine Reaktion darauf formierten sich die Bettelorden, die in ihren Predigten, ebenso wie Hugo in seinem ‚Renner‘, Habgier, Geiz und Völlerei kritisierten.21 An vielen Stellen klagt Hugo über seine zeitgenössische Gegenwart und stellt sie den von ihm als vorbildhafter empfundenen Zuständen wîlent gegenüber.

3 Das Vorbild als entscheidende Sozialisationsinstanz im ‚Renner‘ Hugo präsentiert keine abgeschlossenen Ausführungen über bestimmte Sachverhalte, also auch nicht zu den hier interessierenden Betrachtungen zur Sozialisation. Sie finden sich, dem assoziativen Charakter des Textes entsprechend, an vielen Stellen.

3.1 Lêr und strâfe als Einflussfaktoren auf das Verhalten nicht nur von Kindern Im ‚Renner‘ wird dargestellt, dass lêr und strâfe eingesetzt werden, um menschliches Verhalten, nicht nur das von Kindern, in eine gewünschte Richtung zu lenken. Lêr, Belehrung, wird kognitiv mit Worten mündlich oder schriftlich vermittelt. Lehrende sind Eltern (V. 4526–27), andere Autoritäten, aber vor allem Geistliche (V. 4875). Das Gelehrte kann auch verderblich sein (V. 5163–64). Lêr im ‚Renner‘ wird vielfach mit verschriftlichten Wissensbeständen in der Heiligen Schrift, den Schriften der Kirchenväter oder denen heidnischer Autoren verbunden (V. 5655–56, 5888–89, 9295). Wer dies lesen kann, zählt zu den Gelehrten, die anderen sind die Ungelehrten (V. 19055, 1340–45). Hugo nimmt jedoch zeitgenössische Inhalte von gelehrter Bildung wahr, die er nicht für heilsbringend hält (V. 16091–98). Sanktionieren kann man gesehenes Fehlverhalten durch strâfe (V. 23695–96, 24494–97). Anders als im Neuhochdeutschen bedeutet dies vor allem Tadel, kann

|| 21 Zur Kritik an Kaufleuten s. a. Eberhard ISENMANN, Die deutsche Stadt im Mittelalter. 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, 2. Aufl. Wien u. a. 2012, S. 692–694; Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten, hrsg. v. Franz PFEIFFER, Bd. 1, Wien 1862, ND Berlin 1965, s. besonders Predigt 2 Von den fünf Pfunden, S. 11–28. Zur Sozialdisziplinierung s. a. ISENMANN, S. 465–480; Ernst SCHUBERT, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander, 2. Aufl. Darmstadt 2002, S. 194–201.

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aber auch tätliche Sanktionen umfassen. So war eine gängige Lehrmethode der mittelalterlichen Schule Prügel, wie Hugo sagt, künstlich twingen (V. 17407). Die gewünschte Wirkung von lêr und strâfe wird nicht unbedingt erzielt. Hugos Eindruck von zeitgenössischen Kindern ist: Des grûwet mir daz jungiu kint Sô traz und nu sô kriegisch sint, Daz wort und were, slege und zorn An in sô gar nu sint verlorn (V. 14831–34)

Auch kritisiert er, wenn Lehre erteilt wird und das Verhalten der lehrenden Person nicht vorbildhaft ist. Denn beides gehöre zusammen: Swer andern liuten vor wil sîn, Der ahte daz sîns lebens schîn Guot bilde in gebe und ouch sîn lêre, So bestêt sîn lop und ouch sîn êre. (V. 3929–32)

3.2 Lernen durch die Nachahmung von Vorbildern Haupteinflüsse auf ein moralisch einwandfreies Leben sind, so schreibt Hugo von Trimberg im ‚Renner‘, nicht geeignete Lehrinhalte, sondern gute Vorbilder: Niht füeget schuolern als gar uneben Als irs meisters unreht leben, Der in guot bilde sölte geben Und als ein adelar ob in sweben: (V. 17463–66)

Nichts habe einen schlechteren Einfluss auf Schüler als das unpassende Leben des Schulmeisters. Diese sollten ihren Schülern ein vorbildliches Leben vorleben. So beklagt Hugo, dass gelehrte Herren der Schule mit kleinen Schülern um Wein spielen und mit ihnen Deutsch statt Latein sprechen. Die Kinder seien anwesend, wenn die Herren ihr zuchtloses Leben treiben. So nehmen die Schüler das als Vorbild, um zu Vermögen und weltlichem Ruhm zu kommen, fährt er fort. Dies schlechte Vorbild widerspreche dem, was Schüler in der Schule lernen. Sie lernten somit, dass das in der Schule Gelernte nicht angewendet wird, wenn sie mit den gelehrten Herren der Schule zusammen sind (V. 16615–35). Ein wichtiger Einflussfaktor beim Aufwachsen von Kindern ist somit das Vorbild von Älteren, das bilde.

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Bœse bilde verderbet ouch kinde vil, Von den ich nimmer schrîben wil. Uns lêrt aber ein Philosophus In einem sînem buoche alsus: ‚Man sol grœzerre zühte walten Vor jungen kinden denne vor alten Liuten, wenne die wizzen wol Wie man lebt und leben sol: Sô weiz ein kindelîn anders niht Denne als ez hœrt und vor im siht.‘22 (V. 15053–62)

Kinder lernen, stellt Hugo fest, nur aus dem, was sie sehen und hören. Je jünger ein Kind sei, umso weniger Erfahrung und Reflexionsvermögen habe es, um das Verhalten der Älteren moralisch und im Hinblick auf Situationsangemessenheit bewerten zu können. Umso mehr sollten die Älteren sich deshalb um angemessenes Verhalten bemühen. Lernen, so wird im ‚Renner‘ vermittelt, hat demnach vor allem mit Wahrnehmung bei anderen und Nachahmen zu tun. Swer bilde bî bœsen dingen nimt, Ob der bî guoten dingen niht Sich bezzert, daz man selten siht. (V. 18184–86)

Etwas Schlechtes zu tun, heißt damit zunächst, etwas Schlechtes wahrgenommen zu haben und dies dann nachzuahmen. Moralisch richtige Entscheidungen kann man nur treffen, wenn man das richtige Verhalten kennengelernt hat, indem es von anderen vorgelebt wurde. Problematisches Verhalten ist somit nicht nur wegen der unmittelbaren Folgen zu kritisieren, sondern auch weil es anderen ein schlechtes Vorbild abgibt. So beklagt Hugo, wenn Menschen durch ihr Verhalten arglose Menschen, einveltige liute, durch bœse bilde zum Schlechteren beeinflussen. Das sei

|| 22 Dieser Ausspruch könnte durch ein bekanntes Zitat aus den Satiren Juvenals motiviert sein: Nil dictu foedum, visuque haec limina tangat intra quae puer est. Procul hinc, procul inde puellae lenonum, et cantus pernoctantis parasiti. Maxima debetur puero reverentia si quid turpe paras ne tu pueri contempseris annos. Sed peccaturo obsistat tibi filius infans (Iuv. sat. 14, 44–49). Hugo kannte Juvenal wahrscheinlich aus Florilegiensammlungen (Lutz ROSENPLENTER, Zitat und Autoritaetenberufung im Renner Hugos von Trimberg. Ein Beitrag zur Bildung des Laien im Spätmittelalter, Frankfurt a. M. 1986, S. 44–49). Hugo äußert, er halte manche Zitate aus der Bibel nicht für passend, da sie sexuelle Anspielungen enthalten (V. 17311–14). Vielleicht ist dies auch ein Grund, die Berufung auf eine Autorität recht allgemein zu halten. Auch Lutz ROSENPLENTER fand kein direkte Quelle für das Zitat (ROSENPLENTER, S. 333–335). Möglicherweise wollte Hugo hier auch die Bedeutung des Gesagten durch eine Autoritätenberufung erhöhen, und so seine Ansicht, die auch traditionellen Anschauungen entnommen sein könnte, darstellen.

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so, als würde man einen Blinden in die Irre führen (V. 18540–42). Menschen, die nie ihre Untugenden bereuten, wirkten durch ihr schlechtes Vorbild wie ein Brunnen, der alles zu Stein macht, was ihn berührt (V. 20161–72).23 Ein Mensch ist somit nicht nur verantwortlich für die unmittelbaren Konsequenzen seines Handelns, zum Beispiel die Familie in Armut zu stürzen, was laut dem ‚Renner‘ zum Beispiel durch Glücksspiel (V. 11447–61) oder Trunksucht (V. 9865–73) geschehen kann, oder das eigene Seelenheil durch unmoralisches Handeln zu gefährden (V. 9887–88). Ein Mensch ist immer auch ein Vorbild für die anderen, zum Guten oder zum Schlechten, vor allem wenn er älter, Geistlicher oder anderweitig in herausgehobener Position ist. Das Wort bilde gebraucht Hugo im ‚Renner‘ vor allem in der Bedeutung Vorbild.24 Weitere Sprachbilder für Gesehenes, das einen nachhaltigen und prägenden Eindruck beim Betrachter hinterlässt, sind spiegel und lieht. So ist die Gottesmutter aller tugend ein spiegelglas (V. 12083) und aller meide spiegel schîn (V. 13092), Jesus aller wîsheit spiegel (V. 23637-38). Im Mittelhochdeutschen steht der Spiegel metaphorisch unter anderem für das Abbild göttlicher Herrlichkeit wie auch für das Vorbild, das, an dem man sich kritisch überprüft.25 Die Metapher lieht, das ebenso wie das bilde „vorgetragen“ wird, verdeutlicht den Aspekt des Herausgehobenen, weithin Sichtbaren. Hiermit benennt Hugo Menschen in herausgehobener Stellung, deren Privilegien auch durch ihr untadeliges und vorbildliches Handeln legitimiert sein sollten, wie Geistliche und Juristen (V. 2303–09, 8642–50).

3.3 Alte als Vorbilder Eine zentrale Aufgabe der Alten, so Hugo von Trimberg, ist es, ein Vorbild für die Jungen abzugeben, denn: Swaz die jungen von den alten/ Sehent, hœrent, daz wirt behalten (V. 873–74). Aber dabei versagen die Alten häufig: Bœse bilde gebent den jungen ir alten (V. 6202), denn: Swâ die jungen sehen die alten/ An worten, an werken unzühte walten,/ Dâ nement si bœse bilde bî: (V. 10789–91).

|| 23 Hugo von Trimberg verwendet hier Thomas von Cantimpré, Liber de natura rerum, 13, 30. (s. a. ROSENPLENTER (Anm. 22), S. 479–497). 24 ANONYM, Stichwort bilde, stn, in: BMZ Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich BENECKE ausgearbeitet von Wilhelm MÜLLER u. Friedrich ZARNCKE, Leipzig (1854–1866), Bd. 1, Sp. 120a–121b; ANONYM, Stichwort bild. DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm GRIMM (1854–1961), Bd. 2, Sp. 13. 25 Zur hier angesprochenen metaphorischen Bedeutung Vorbild: ANONYM, Stichwort spiegel. DWB (Anm. 14), Bd. 16, Sp. 2235–2237: 4a,c,e,f; BMZ (Anm. 14), Stichwort spiegel, Bd. 2/2, Sp. 494b bis 495b, 1c.

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Aufgabe der Alten sei, gute Vorbilder und Ratgeber zu sein. Aber Hugo sieht nun Alte, die sich kindisch benehmen und sich so zum Gespött machen: Sô sint nu kint von sibenzic jâren/ Mit tiefen runzeln, mit grâwen hâren,/ Diu noch ir affenzegel tragent (V. 21087–89). An vielen Stellen beklagt Hugo, dass die Jungen das Falsche von den Alten lernen (V. 13695–98, 14821–22, 14881–82):26 Nu wê der werlde von ergerungen,/ Die von den alten lernent die jungen! (V. 10723–24). Sie lernen Geiz (V. 16295–96), sie werden von Alten zum Alkohol verführt mit allen seinen schädlichen Begleiterscheinungen (V. 9865–73). Früher, zum Beispiel in der Zeit der ersten Christen, jedoch seien Alte gute Vorbilder gewesen: Dô wîlent die jungen sâhen die alten Zühte, milte und êren walten, Dô nâmen si guot bilde bî in: Sît leider pfaffen und leien sin Ûf karkeit unde gîtikeit Mêr denne ûf tugent ist geleit, Des lernent die jungen bî den alten Karc sîn und bœslich guot behalten Und selten lachen in süezer güete: (V. 13867–75)

Sieht Hugo im vorstehenden Zitat, dass die Jungen bei den Alten das Falsche lernen, so bringt er im nachstehenden Zitat vor, dass Junge nun die Lehre der Alten gar nicht mehr hören wollen, was früher eine gute Gewohnheit war, nun aber nicht mehr verbreitet ist. Wilent was ein gewonheit, Von der kam êre und sêlikeit: Daz junge liute die alten êrten Und sich vorne gein in kêrten, Swenne si si mit witzen lêrten Wie si guot und êre gemêrten: Sô kêrent si nu den rücke dar Dô si der alten nement war, Und habent ir gespötte ûz in. (V. 16393–401)

|| 26 Schon im Nachwort des vor dem ‚Renner‘ verfassten ‚Solsequium‘ klagt Hugo und fragt sich, was seine zeitgenössische Jugend, die zu wenig Zucht gekannt und keine Tugenden gelernt hat, dereinst ihren Kindern verkünden werde. Er sieht, dass sie sich vor allem den weltlichen Lüsten hingeben (Sols. Nachw. V. 234–43). S. dazu Bernhard SCHEMMEL, Hugo von Trimberg, in: Fränkische Lebensbilder (Tl. 4), Würzburg, Neustadt a. d. Aisch 1971, S. 1–26, hier S. 9.

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In Hugos Gegenwart sieht er, dass die Jungen die Alten nicht mehr ehren und ihre Kenntnisse, wie man materiellen Wohlstand und Ansehen erlangen kann, nicht beachten oder verspotten.

3.4 Nahestehende, weltliche und geistliche Herren als Vorbilder Besonders in der Pflicht, als gute Vorbilder zu wirken, sind die Nahestehenden, denn, so formuliert er, welches Obst schmeckt nicht nach seinem Stamm? (V. 8170, s. a. 6992).27 Dementsprechend sollte man den eigenen Kindern ein gutes Vorbild sein: Sêlic ist der man, dem sîniu kint/ Gehôrsam und getriuwe sint/ Und den er selber guot bilde vor treit: (V. 18457–59). Allerdings gebe es Eltern, die nicht diesem Ideal entsprechen (V. 18467–70). Auch fruinde, Nahestehende aus dem persönlichen Umfeld, können durch ihr Handeln schlechte Vorbilder sein (V. 2067). Wer eine herausgehobene Position, ein ampt (V. 2789), innehabe, ist anderen ein lieht (V. 2303–09) oder trägt es vor (V. 8646) und sollte sich durch vorbildhaftes Verhalten als seiner Position würdig erweisen (V. 2788–2834). Synonym zu lieht kann in dieser Hinsicht auch die Metapher venre, Fahnenträger (V. 2831) eingesetzt werden. Wer einem Haushalt vorsteht, sollte ein gutes Vorbild für Kinder und weitere untergeordnete Mitglieder der Wirtschaftsgemeinschaft sein (V. 9305–09). Dies gelte vor allem für Herren (V. 535–558): Eine wichtige Gelegenheit, sozial bedeutsames Verhalten zu erlernen – zu sehen –, ist bei Tisch, wo Herren vor irm gesinde ansêzeclich (V. 537) sind und in ihrer Rolle wahrgenommen werden. Adlige männliche Nachkommen werden zwecks Ausbildung an fremde Höfe, in der Regel an sozial höher stehende, geschickt.28 Sie könnten jedoch nun genauso gut in ein taberne (V. 552) geschickt werden, spottet Hugo. Nur an dieser Stelle nimmt er geistliche Herren von der Kritik aus, Bî den nieman kein unzuht siht (V. 556), damit auch die Herren Bambergs, den Bischof und die Stiftsherren (V. 535–558), von denen er abhing. Was Kinder und andere sozial niedriger Gestellte sehen sollten, ist, dass das Verhalten der Herren zühticlich (V. 538), sozial angemessen, sei. Hugo beklagt jedoch, viele seien nun an zühten blint (V. 549).

|| 27 Varianten vom neuhochdeutschen „Der Apfel fällt nicht weit von seinem Stamm“, mit der Aussage, jeder wird durch seine Herkunft geprägt, finden sich in der von Hugo zitierten Form auch bei anderen mittelalterlichen Autoren (Jesko FRIEDRICH, Phraseologisches Wörterbuch des Mittelhochdeutschen. Redensarten, Sprichwörter und andere feste Wortverbindungen in Texten von 1050–1350, Berlin 2012, S. 106, 314). 28 SHAHAR (Anm. 6), S. 209–224; Karl-Heinz SPIEß, Fürsten und Höfe im Mittelalter, Darmstadt 2008, S. 30–31.

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Wie Hugo an vielen Stellen hervorhebt, ist eine wichtige Aufgabe der Geistlichen, mit ihrem Leben ein gutes Vorbild abzugeben.29 Deshalb wiege es schwerer, wenn Geistliche sich unmoralisch verhalten: Doch wizzet daz allin missetât Grœzer ergerunge an pfaffen hât Denne an leien, wenne ir leben Sölte guot bilde uns allen geben. (V. 10795–98)

Hugo sieht Geistliche ohne Eignung, schon Kinder würden zu Priestern geweiht (V. 17117) – wahrscheinlich um eine Pfründe in der Familie zu halten. Sie sollten denen, die ihnen unterstellt sind, helfen und raten, seien aber nicht dazu geeignet und könnten kein guot bilde abgeben (V. 17121–26). Viele Geistliche seien habgierig und hartherzig, wo sie doch den Armen helfen sollten, wie Hugo ausführlich darlegt, und geben so ein schlechtes Vorbild für junge Leute (V. 10767–10874). Bettelmönche wie alle Geistliche wirkten aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung als Vorbilder. Sie seien ein lieht der kristenheit, aber nicht alle Almosen werden mit Demut angenommen (V. 2309–25). Gelehrsamkeit, zum Beispiel bei Juristen, sei häufig mit Habgier und anderen Hauptsünden verbunden. Die, die anderen ein Licht vortragen sollten, fallen häufig in den Kot, sagt er (V. 8645–46). Aber letztlich werde das Verhalten von Geistlichen ebenso durch die Vorbilder beeinflusst, die sie selbst vor Augen haben: Nu machet der werlde bœse bilde Schuoler, pfaffen und münche sô wilde, Daz si der buoche lützel ahtent Und niur des lîbes lust betrahtent. (V. 21767–70)

Die Akteure, die Hugo in der Rolle von Vorbildern sieht, sollen, so wird aus dem ‚Renner‘ klar, auch in unterschiedlichem Maß lêr zur Verfügung stellen. Oberste Instanz ist Gott, der durch Jesus Lêre und bilde hât vor getragen (V. 7670–71). Im Fall der Geistlichen gilt aber das Primat dem bilde. Sie sollten ein gutes Vorbild abgeben und gelehrt sein. So lässt Hugo einen Laien zu einem Geistlichen sprechen:

|| 29 Hier einige beispielhafte Stellen: V. 2451–56, 3207–3214, 6039–40, 8106–9, 19906–10, 21555–62, 9899–9904.

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,Wöllet ir niht geben Guot bilde uns leien und sît gelêrt, Wie werdent die juden denne bekêrt?‘ Spricht der leie. (V. 8106–09)

Dies gilt für alle Geistlichen, Die got dar zuo geschaffen/ Hât, daz si guot bilde geben/ Uns leien an lêre und ouch an leben (V. 180–84).30 Nicht die Lehre an sich, sondern das Bild von Lehre, von Gelehrsamkeit, ist der Einflussfaktor auf die Laien, stellt Hugo hier klar. Das, so unterstellt er, sei das, was Geistliche an hohen Schulen lernen: Pârîs, Padouwe, Orlêns, Salerne, Bonônie, Tholêt und ouch Berne Und alle stete über alliu lant, Dâ Jesus Cristus ist bekant, Lêrnt die pfaffen daz si sîn Der werlde spiegel und ir schîn An kiusche, an zuht, an mêzikeit, An trîuwe und an bescheidenheit, An allen tugentlichen dingen (V. 2469–77)

Dies weiß er allerdings nicht aus eigener Anschauung, denn er besuchte diese bedeutenden Ausbildungsstätten nicht (V. 13950–51).

3.5 Die Rolle der Augen Die Rede von guot oder bœse bilde, von spiegel und lieht spielt auf den Gesichtssinn an. Dieser steht im ‚Renner‘ für den Bezug des Menschen zur Welt. Hugo von Trimberg bringt Augustinus vor: Etwas zu sehen bedeute nicht, es zu glauben, sondern es zu wissen. Das Auge sei der Bote des Herzens (V. 18791–18802).31 Das Herz stehe für weltliche Begierden, für die Bedürfnisse des Körpers (s. a. V. 10961–62). Die Beziehung zwischen Auge, Herz und verhängnisvollen Taten sieht Hugo folgendermaßen: Des menschen ouge hât manigen wanc: Von sînem gesihte kumt der gedanc; Der gedanc zehant den gelust gebirt, Von dem daz herze bekumert wirt;

|| 30 Fast synonym und ersetzt durch das Wort spiegel s. V. 3309–12. 31 ROSENPLENTER kann dies nicht konkret zuordnen und geht von einem Zitat aus dem Gedächtnis aus. (ROSENPLENTER (Anm. 22), S. 169–170).

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Der gelust suocht ze den sünden rât; Rât bringet verhengunge, diu die tât Zuo bringet: sô kumet gewonheit; (V. 23987–93)

Etwas zu sehen heißt demnach, die irdische Welt wahrzunehmen und über die Verbindung zum Herzen, ihren Irrungen zu erliegen. Somit ist bilde das, was mit den Augen erfasst wird, das, was als real wahrgenommen wird, der Bezug zur auch problematischen Welt. Eminent wichtig für die Sozialisation ist es demnach, gutes Handeln zu sehen, um es nachzuahmen. So kritisiert Hugo den Einsiedler, der wie der Mörder im Wald lebt und aufgrund seiner Abgeschiedenheit kein bilde geben kann (V. 22765–82).32 Wichtiger sei es, Menschen zu sehen, die so handeln, dass man ihnen gute Dinge zutraut. Doch gevellet mir baz jener leben, Die man der werlde guot bilde siht geben Und den man guoter dinge getrûwet Denne jener, vor den den liuten grûwet. (V. 22779–82)

Dies scheint an dieser Stelle wichtiger zu sein als die gute Absicht.

4 Das Vorbild als Sozialisationsinstanz im 13. Jahrhundert Aus den vorstehenden Ausführungen lässt sich herleiten, dass Hugo von Trimberg in seiner didaktischen Dichtung ‚Renner‘ das guot bilde, das Vorbild, als wirkungsvollste Art des intergenerationellen Kulturtransfers darstellt. Zusammen mit mündlicher oder für Schriftkundige schriftlicher Belehrung sowie Sanktionierung von aus seiner Sicht nicht erwünschtem Verhalten soll so das Funktionieren der Ständegesellschaft und das Seelenheil des Einzelnen sichergestellt werden. Das guot bilde dürfte nicht nur für Hugo eine bedeutende Sozialisationsinstanz darstellen. Im höfischen Umfeld wird das Vorleben von vorbildhaften Handlungen zum einen als zentraler Bestandteil der Herrschaftsrepräsentation gesehen und zum anderen als Mittel der Sozialisation des Nachwuchses. So hält Horst WENZEL zur vorbildhaften Selbstdarstellung des höfisch Lebenden fest:

|| 32 Hugo kritisiert auch an anderer Stelle, dass der Einsiedler sich mehr um seine Katzen als um die Christenheit kümmert (V. 9043–46).

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Für den höfisch Lebenden ist grundsätzlich vorauszusetzen, daß seine Vorbildlichkeit ständig überprüft wird in einem Prozeß der gegenseitigen Bestätigung und Korrektur. Sein Status muß sinnfällig werden in der Kleidung, in der Rede, im Verhalten gegenüber Frauen, in den Tischsitten und selbst bei den einfachen, ‚alltäglich‘ erscheinenden Handlungen.33

Die Vorrangstellung der gesehenen Handlungen über gehörte Belehrungen unterstreicht Thomasin von Zerklaere in seiner mutmaßlich um 1215 entstandenen Lehrdichtung für das Leben am Hof, ‚Der Welsche Gast‘. Man sol gern volgen dem man, der bezzer ist ze sehen an denn ze hoeren; daz ist der, der alsô hât der zühte lêr, daz er nâch sîner rede guot baz, danner spreche, tuot. (Der Welsche Gast, V. 647–52)34

Nachahmung ist ein Bestandteil der Sozialisation des Nachwuchses. Ebenso wie Hugo benutzt Thomasin von Zerklaere die Metapher des Spiegels für das guot bilde. Der junge Adlige solle sich einprägen, was der Beste tut. Denn tüchtige Leute sollen dem Heranwachsenden spiegel sein (Der Welsche Gast V. 618). Ebenso wie Hugo, der betont, dass Ältere schon einschätzen können, was gut und schlecht ist, und ihre Schlüsse aus dem Verhalten anderer ziehen können, rät Thomasin von Zerklaere dem adligen Nachwuchs, nicht blind alles zu übernehmen, sondern Wertungen vorzunehmen.35 Auch der vermutliche Stadtbürger Freidank mahnt in seiner Lehrdichtung ‚Bescheidenheit‘ aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, auf die sich Hugo ausführlich beruft,36 man solle Vorbild nehmen an dem, der Gutes lehrt, und selbst danach lebt. Es gebe aber genügend Menschen, die Gutes lehren, aber nicht danach

|| 33 WENZEL (Anm. 9), S. 31. 34 „Man soll bereitwillig dem Mann folgen, dem zuzusehen besser ist als ihm zuzuhören; das ist nämlich der, der sich die Lehre der guten Erziehung so zu eigen gemacht hat, daß er gemessen an seinen guten Worten noch besser handelt, als er spricht.“ (V. 647–52 Übers. WILLMS) (Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast, ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. Eva WILLMS, Berlin 2004, S. 36). 35 ein ieglîch edel kint mac/ sich selben meistern alle tac./ sehende, hoerende, ob er wil,/ und gedenkent lernt man vil./ er sol ouch haben den muot,/ merke waz der beste tuot,/ wan die vrumen liute sint/ und suln sîn spiegel dem kint./ daz kint an in ersehen sol/ waz stê übel oder wol./ siht er daz im mac gevallen,/ daz lâz nicht von sîm muote vallen./ siht er daz in niht dunket guot,/ daz bezzer er in sînem muot. (Der Welsche Gast V. 613–26). 36 ROSENPLENTER (Anm. 22), S. 395–443.

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lebten: Genuoge guote lêre gebent,/ die selbe unnützelîche leben (Bescheidenheit, 71, 9–10).37 Vorbilder sind nicht nur weltliche, sondern auch, und bei Hugo vor allem, die geistlichen Herren. Die von Hugo vertretene Ansicht, eine wichtige Funktion der Geistlichen sei, ein guot bilde abzugeben, wird auch von Thomasin geäußert.38 Religiöse Reform- und Erneuerungsbestrebungen ab dem 12. Jahrhundert waren geprägt durch das Bemühen um die imitatio Christi, Nachahmung Christi. Als besonders vorbildhaft wurde neben Bernhard von Clairvaux der Begründer des Franziskanerordens, Franziskus von Assisi, wahrgenommen.39 Das Entstehen der Mendikantenorden im 13. Jahrhundert, ihre Ansiedlung in Städten und ihre Seelsorgetätigkeit, ist als eine Reaktion auf den durch die sozialen Veränderungen hervorgerufenen Seelsorgebedarf der unteren Schichten zu sehen. Durch Predigten sollte der Einfluss der nicht päpstlich autorisierten, vielfach als Häretiker angesehenen Prediger und Glaubensrichtungen begrenzt werden. So kritisiert der einflussreiche Franziskaner Berthold von Regensburg ebenso wie Hugo die Hauptsünden Habgier, Geiz und Völlerei, die in den sich entwickelnden Städten aufträten.40 Zwar war die Predigt und damit, wie auch im ‚Renner‘ geäußert, lêr, die kognitive Belehrung, ein zentrales Mittel, um auf das Verhalten der Bevölkerung einzuwirken. Prediger waren jedoch nur wenige Brüder. Für alle Franziskaner galt hingegen, so formulieren es Mitte des 13. Jahrhunderts David von Augsburg und Berthold von Regensburg, dass sie durch ihr bonum exemplum, durch eine vorbildhafte christliche Lebensführung, nach außen wirken. Und sollte die nicht ganz so vorbildhaft sein, so sollten die Brüder zumindest kein schlechtes Beispiel abgeben. Schlechte Taten und Eigenschaften sollten den Menschen verheimlicht werden, damit sie nicht nachgeahmt werden.41 In der Mediävistik wird angenommen, dass eine Sozialisation vor allem der breiten Bevölkerungsschichten, die nicht für eine gelehrte Bildungslaufbahn vorge|| 37 Swer iu guote lêre gebe/ und selbe iht gæbeclîche lebe,/ dâ nemet ir guot bilde bî/ und enruochet, wie dem andern sî./ Diu kerze lieht den liuten birt,/ unz daz, si selbe z' aschen wirt./ Genuoge guote lêre gebent,/ die selbe unnützelîche lebent. (Bescheidenheit, 71, 3–10). Die Metapher der Kerze, die beim Brennen vergeht, findet sich auch im ‚Renner‘ V. 2803–04. 38 Daz selbe ich von den phaffen wil/ sprechen: er hât harte vil/ ze tuon, wil er âne schant/ nâch reht begên sîn ampt/ Er hât ouch ze tuon mêre/ dan singen ode schrîen sêre./ Er sol guotiu bilde geben/ mit kiuschem lîp, mit reinem leben,/ mit guotem werc, mit rede schône:/ er sol an tugenden tragen krône. (Der Welsche Gast, V. 7821–30). 39 Dina DE RENTIIS, Die Zeit der Nachfolge. Zur Interdependenz von ‚imitatio Christi‘ und ,imitatio auctorum‘ im 12.–16. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 33–46. 40 Christine GRIEB, Die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Franziskaner. Mendikantische Vorstellungen zwischen Ordensideal und Realität (Regensburger Beiträge zur Regionalgeschichte, Bd. 10), Regensburg 2010, S. 29–44. 41 Ebd. S. 59–61.

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sehen waren, im Wesentlichen über Nachahmen im Alltag erfolgte, was durch die bei Kindern angelegte Neigung zu Rollenspielen erleichtert wird.42 Dieses Muster findet sich in oralen Kulturen. Auch Ethnologen43 stellen fest, dass in traditionellen, vorwiegend oralen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts Heranwachsende in ihre späteren Aufgaben vor allem über Teilhabe und Nachahmen hineinwachsen.44 Über Lernen in der Kindheit fassen David F. LANCY, John BOCK und Suzanne GASKIN zusammen: The fourth principle is that learning – at any age – is embedded in social processes that are not necessarily organized for learning. The societies that have attracted the greatest attention from anthropologists have usually lacked formal educational institutions (aside from initiation rites). [...] The fifth principle is that children must take active part in pursuing their own education. The single most important learning is through observation.45

Die hier vorgestellten Quellen zeigen Beispiele, dass und wie dies im Mittelalter reflektiert wurde. So muss ein junger Mensch etwas Vorbildliches sehen. Denn er folgt dem, was Ältere, Erfahrenere und hierarchisch Höherstehende vorleben. Diese stehen damit in der Verpflichtung, ein gutes Vorbild abzugeben. Lernen über Nachahmen und Einbindung in den Alltag ist für den Nachwuchs jedoch vor allem produktiv, wenn die Rollen, die Kinder später einnehmen, denen ihrer Eltern gleichen. Dies dürfte aber gerade in den sich entwickelnden Städten nicht mehr durchgehend der Fall gewesen sein. Das Nachahmen von Vorbildern ist als Stütze der Sozialisation umso weniger zielführend, je mehr sich eine Gesellschaft im Verlauf einer Generation wandelt und je stärker sie funktional ausdifferenziert ist. Die zunehmende Spezialisierung der Erwerbsarbeit im Handwerk und durch den Fernhandel46 brachte es mit sich, dass handwerkliches Können und kaufmänni-

|| 42 Nachahmung als Merkmal von Spiel: Johan HUIZINGA, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg 1956, S. 10; Roger CAILLOIS, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, München, Wien 1964, S. 27–32. Kinderspielzeug für Rollenspiele: Ignatz V. ZINGERLE, Das deutsche Kinderspiel im Mittelalter. Aus dem Octoberhefte des Jahrganges 1867 der Sitzungsberichte der philos.-hist. Classe der kais. Akademie der Wissenschaften [57. Bd., S. 119] besonders abgedruckt 119–169, Wien 1868, S. 130–137; Nicholas ORME, Medieval children, New Haven u. a. 2001, S. 168–176. 43 Diskussionen über ertragreiche Anstöße aus der Ethnologie und anderen Disziplinen für die Geschichtswissenschaft und insbesondere der Sozialisation des Nachwuchses s. a. FÖLLER (Anm. 9), S. 12–15. 44 Suzanne GASKINS u. Ruth PARADISE, Learning through Observation in Daily Life, in: David F. LANCY, John BOCK u. Suzanne GASKINS (Hgg.), The Anthropology of Learning in Childhood, Walnut Creek u. a. 2010, S. 85–117. 45 David F. LANCY, John BOCK u. Suzanne GASKINS, Putting Learning in Context, in LANCY, BOCK u. GASKINS (Anm. 44), S. 3–10, hier S. 6. 46 ISENMANN (Anm. 21), S. 854.

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sches Wissen nicht mehr ohne Weiteres von jedem Kind durch Beobachtung und Mithilfe erlernt werden konnten, sondern vor allem über Lehre an wenige weitergegeben wurde. Auch arbeiteten Kinder von Handwerkern nicht immer im Handwerk der Eltern, sondern lernten und arbeiteten in anderen Sparten.47 Kulturelles Wissen wurde damit zunehmend institutionalisiert weitergegeben und weniger durch Teilnahme am sozialen Leben wie im bäuerlichen Umfeld. Weiterhin kam der Nachwuchs an Dienstboten häufig vom Land in die Stadt48 und fand dort andere Bedingungen vor als die, mit denen er aufgewachsen war, so dass in der Kindheit wahrgenommene Verhaltensmuster nicht mehr unbedingt zielführend waren. Im ‚Renner‘ kritisiert Hugo, ähnlich wie die Mendikanten, vor allem, dass das Streben nach materiellen Gütern zu Untreue und Übervorteilung führt. Seine Bemerkungen zu gîtigkeit, Habgier, in allen Bevölkerungsschichten, nehmen den Hauptteil seiner Ausführungen ein. Einveltige, also arglose, einfache Menschen, würden übervorteilt und alterten deshalb vorzeitig (V. 18549–18554). Sie durchschauten nicht die Heuchelei anderer (V. 21375–21380). In der Enge der Stadt, durch die Vielfältigkeit ihrer Bewohner, die Einflüsse durch Fremde, seien es auswärtige Kaufleute, Pilger oder Fahrende, unterlag die Sozialisation von Kindern anderen Einflüssen als im ländlichen Raum, in dem Hugo aufgewachsen sein dürfte. So kritisiert er, schon Kinder bekämen viel mehr von den Verfehlungen der älteren Generation mit, seien frühreif, ernsthaft und ohne kindliche Freude. Sie könnten sich Listen viel besser merken als die Alten (V. 14925– 14954). Junge Leute durchschauten die zeitgenössische Welt besser als ihre Väter: Des siht man jungiu fühselîn/ Vil klüeger denne ir veter sîn/ Ûf alliu bœse tückelîn (V. 21937–21938). Das macht Hugo am schwankhaften Beispiel einer Elster und ihrer Tochter deutlich. Die Elster möchte ihre Tochter die Schliche der Menschen lehren. Die Tochter kennt sich aber schon weit besser aus (V. 14956–69). So bleibt der Mutter nur zu sagen: Diu aglaster sprach: ,Var hin von mir, Ich kan niht mêr gerâten dir, Du hâst mêr liste denne ich hân!‘ (V. 14967–69)

Falls diese Wahrnehmung zutrifft, könnte das darauf hinweisen, dass junge Leute die Erfahrungen der Alten nicht immer für ausreichend befanden, weil sie die Welt für verändert hielten. Somit könnte Hugos Problematisierung von Vorbildern nicht

|| 47 Sabine von HEUSINGER, Vater, Mutter, Kind. Die Zunftfamilie als Wirtschaftseinheit, in: Eva JULLIEN u. Michel PAULY (Hgg.), Craftsmen and Guilds in the Medieval and Early Modern Periods, Stuttgart 2016, S. 157–174. 48 ISENMANN (Anm. 21), S. 87–88; s. a. J. HEERS, Stichwort: Gesinde, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4 (1999), Sp. 1402–1404, mit Beispielen aus Italien und Frankreich.

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nur ein Topos von ‚früher war alles besser‘49 sein, sondern ein Hinweis auf schnelle gesellschaftliche Veränderungen. Das Erfahrungswissen der Alten reichte an vielen Stellen nicht mehr aus. Darüber hinaus entsprachen ihre Handlungen häufig nicht den moralischen Vorgaben, die Hugo gern gesehen hätte. Denn auch die Alten und die Eliten dürften mit neuen Gegebenheiten experimentiert und versucht haben, ihren Vorteil daraus zu ziehen. Wenn die Alten als moralische Instanz für vorbildhaftes Leben somit ausfielen, bedurfte es neuer Formen der Vermittlung von moralisch angemessenem Verhalten. Als Schulrektor war Hugo von Trimberg damit vertraut, dass durch das Vermitteln von verschriftlichten Wissensbeständen auch als geeignet angesehene moralische Verhaltensweisen weitergegeben werden können. Die gelehrten Texte lagen jedoch nicht in der Volkssprache vor. Zur Verbreitung seiner Sicht auf Missstände und auf vorbildhaftes Handeln wählte er deshalb mit dem Verfassen des ‚Renner‘ den Weg, für Laien gelehrtes Wissen in der Volkssprache zu verschriftlichen. Mit schriftlich vermittelter lêr verbreitete er somit seine Einschätzung, dass erwünschtes moralisches Verhalten vor allem über guot bilde weitergetragen wird, um es wieder in einer nach wie vor vorwiegend oralen Gesellschaft zu verankern. Wenn nicht nur von ihm Traditionsabbrüche festgestellt wurden, dann liegt es nahe, dass die Bedeutung von Schriftlichkeit im Spätmittelalter auch deshalb zunahm, um sozial erwünschtes Wissen und Einstellungen weiterzugeben.50

|| 49 Zur laudatio temporis acti s. z. B. Joachim BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 12. Aufl. München 2008, S. 26–29; Heinz RUPP, Zum ‚Renner‘ Hugos von Trimberg, in: Stefan SONDEREGGER u. Max WEHRLI, Typologia litterarum, Zürich u. a. 1969, S. 233– 259, hier S. 237. 50 Zur zunehmenden Anwendung von Schriftlichkeit: ISENMANN (Anm. 21), S. 563–567; WENDEHORST (Anm. 7), S. 25, 28–33. Auch Hans-Joachim SCHMIDT sieht einen zunehmenden Bedarf an institutionalisierter Weitergabe von Normen und Verhaltensmustern ab dem 13. Jahrhundert (Hans-Joachim SCHMIDT, Mittelalterliche Konzepte zur Vermittlung von Wissen, Normen und Werten an Kinder und Jugendliche. Zur Analyse des Fürstenspiegels von Aegidius Romanus, in: Dieter BERG u. Raphaela AVERKORN (Hgg.), Europa und die Welt in der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Berg, Bochum 2004, S. 293–312, bes. S. 301–302).

| Teil 3: Die Welt der Höfe

Andrzej Pleszczyński

Narrative Schemata in polnischer mittelalterlicher Historiographie zu deutsch-polnischen Kontakten Abstract: The aim of the article is to select and analyze the most important trends existing in Polish writing in the Middle Ages, which determined the formation of opinions about Germans and their country. The author wants to find the main ideas controlling the views of Polish historiographers in the Middle Ages dealing with the subject. The issue is quite extensive and complex, so in this text only its outline is presented, the main theses that, according to the author, could explain the phenomenon. A kind of mosaic of diverse views on the Germans, which can be found in the sources, was dominated in the High Middle Ages by an extremely influential, topically strong narrative created by two chroniclers: Gallus Anonymous (early 12th century) and Wincenty Kadłubek (early 13th century). The paradigm of recognizing Germans as uncompromising enemies of Poles, written in the works of these authors, influenced a great number of assessments formed by Polish medieval chroniclers and even modern historians. Keywords: Polish medieval historiography, national prejudices and stereotypes, structures of medieval historiographic narrative

Entgegen der gängigen Meinung, es habe im Mittelalter eine beständige polnischdeutsche Feindschaft gegeben, wurden die Deutschen in Polen keineswegs nur negativ gesehen, – die Ansichten über den Nachbarn im Westen divergierten und so wurden die polnisch-deutschen Beziehungen unterschiedlich beurteilt. Das Problem ist komplex und vielseitig. Diese Skizze kann nicht die ganze Breite der Fragen beantworten, die das Titelthema anklingen lässt. Eine umfangreiche Monographie zu diesem Thema ist ein Desiderat und ihr Fehlen stellt eine ernsthafte Herausforderung für die polnische und deutsche Historiographie dar.1 Mein Ziel ist ein anderes. Es geht mir darum, die wichtigsten Tendenzen in der mittelalterlichen

|| Anmerkung: This project has received funding from the Narodowe Centrum Nauki “Polonez 2” nr rej. 2016/21/P/HS3/04017 (the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under the Marie Skłodowska-Curie grant agreement No 665778). || Andrzej Pleszczyński, Institut für Geschichte, Maria-Curie-Skłodowska-Universität, Lublin, Pl. Marii Curie-Skłodowskiej 4a, PL-20-031 Lublin, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-015

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polnischen Literatur zur Meinung über die Deutschen und deren Land wahrzunehmen, sie auszuwählen und diese dann zu analysieren. Außerdem sollen die Ideen herausgearbeitet werden, die den Ansichten der Autoren zugrunde lagen. Selbst derart eingeschränkt ist dieses Thema immer noch äußerst umfangreich und beinhaltet eine Vielzahl unterschiedlicher Probleme, so dass es hier nur in groben Zügen dargestellt werden kann. In Ermangelung angemessener Veröffentlichungen zu dieser wichtigen Frage kann aber selbst eine skizzenhafte Darstellung des Problems wissenschaftlich relevant sein. An dieser Stelle muss eine wichtige Bemerkung vorweggenommen werden: Im vorliegenden Text werde ich ‚moderne‘ politische und ethnische Begriffe verwenden. Der Inadäquatheit dieser Begriffe gegenüber den mittelalterlichen Realitäten bin ich mir bewusst. Der Charakter des Textes erlaubt jedoch nicht, hier sämtliche Komplikationen dieser Problematik darzulegen, und ein gewisser Missklang, den die verwendeten Termini mit sich bringen,2 wird in der Darlegung des Wesens der mich interessierenden Frage sicher kein Hindernis darstellen. Auf den ersten Blick scheint die Einstellung früherer polnischer Autoren gegenüber den Deutschen offensichtlich. Liest man die historischen Texte, so entdeckt man mühelos Spuren der Abneigung, manchmal sogar des Hasses gegen die Deutschen, meistens verbunden mit dem Vorwurf, sie würden die Polen verachten, sie für ein Nichts halten, ihnen ihr Land wegnehmen und sie selbst knechten und versklaven wollen.3 Das Ausmaß dieser Abneigung gibt ein altes, noch aus dem Spätmittelalter stammendes Sprichwort wieder, das auch heute noch manchmal wiederholt wird: „Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen niemals ein Bruder sein.“4 || 1 Bisher wurden nur Skizzen zu diesem Thema veröffentlicht: Jadwiga KRZYŻANIAKOWA, Poglądy polskich kronikarzy średniowiecznych na Niemcy i stosunki polsko-niemieckie [Ansichten polnischer mittelalterlicher Chronisten zu Deutschland und zu den deutsch-polnischen Beziehungen], in: Wojciech WRZESIŃSKI (Hg.), Wokół stereotypów Niemców (Acta Universitatis Wratislaviensis – Historia 114), Wrocław 1993, S. 15–72; Jerzy KRASUSKI, Obraz Niemiec i stosunków polskoniemieckich w polskich kronikach średniowiecznych [Das Bild von Deutschland und die deutschpolnischen Beziehungen in polnischen mittelalterlichen Chroniken], in: Antoni CZUBIŃSKI (Hg.), Polacy i Niemcy. Dziesięć wieków sąsiedztwa, Warszawa 1987, S. 35–68; Jerzy STRZELCZYK, Deutschpolnische Schicksalsgemeinschaft in gegenseitigen Meinungen im Mittelalter, in: Sławomir MOŹDZIOCH, Wojciech MROZOWICZ u. Stanisław ROSIK (Hgg.), Mittelalter – eines oder viele? / Średniowiecze – jedno czy wiele?, Wrocław, 2010, S. 111–126. 2 Allgemein über das Problem der Unzulänglichkeit mit modernen ethnischen und politischen Begriffe die Vergangenheit zu beschreiben: Anthony D. SMITH, The Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986; am Beispiel der Archäologie: Florin CURTA, Some remarks on etnicity in medieval Archeology, in: Early Medieval Europe 15,2 (2007), S. 159–185. 3 KRZYŻANIAKOWA (Anm. 1), S. 41–45. 4 Gerard LABUDA, Geneza przysłowia: „jak świat światem, nie będzie Niemiec Polakowi bratem” [Der Ursprung des Sprichworts: „Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen niemals ein Bruder sein“], DERS., Polsko-niemieckie rozmowy o przeszłości. Zbiór rozpraw i artykułów,

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Hinzufügen könnte man noch die in zahlreichen Texten vorkommenden Bemerkungen, die Deutschen seien überaus hochmütige Aggressoren und würden die polnischen Bräuche und die polnische Sprache verachten. Beispielhaft für dieses Phänomen ist die Äußerung des Gnesener Erzbischofs Jakub Świnka, der während der Krönung des Přemysliden Wenzel II. zum König von Polen im Jahre 1300 nach der Beurteilung der in Latein gehaltenen vorzüglichen Rede des königlichen Kaplans Johann Wulfing gefragt wurde. Er soll geantwortet haben, dieser habe zwar außerordentlich schön gesprochen, sei aber trotzdem ein „deutscher Hundekopf“ (caput canina teutonica).5 Diese Meinung passt zu den vielen (den Anthropologen auch sonst bestens bekannten) Vergleichen Fremder, die man gleichzeitig fürchtet und nicht kennt, mit unmenschlichen Wesen.6 In diesem Kontext ist die Situation allerdings verwunderlich, da es sich beim Autor dieser Äußerung immerhin um eine gebildete Person und einen hohen Geistlichen der katholischen Kirche handelte.7 Es scheint, dass der scharfe Ton dieser überlieferten Aussagen, verbunden mit neuzeitlichen Animositäten, zuerst zwischen Polen und Preußen und erst später auf das gesamte von Preußen beherrschte Deutschland ausgedehnt, dazu führte, dass die moderne Historiographie, vor allem die polnische, wenn auch nicht nur sie, diese Sicht besonderer polnisch-deutscher Animositäten im Mittelalter akzeptiert hat. In Wirklichkeit finden wir aber ähnliche Äußerungen wie die von Jakub Świnka formulierten auch in anderen Regionen des damaligen Europa, und sie dokumentieren immer einen Zustand scharfer Rivalität, wie er zwischen den heimischen Eliten und den Fremden bestand, die eine Gefahr für sie bildeten.8 Die wenigen Informati-

|| Poznań 1996, S. 99 (Erstdruck: 1966); auch: Barbara RODZIEWICZ, Póki świat światem nie będzie Niemiec Polakowi bratem – językowy stereotyp Niemca (model archaiczny) [Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen niemals ein Bruder sein – das sprachliche Stereotyp des Deutschen (archaisches Modell)], in: Annales Neophilologiarum 3 (2009), S. 129–135. 5 Petra Žitavského Kronika Zbraslavská, hrsg. v. Josef EMLER (Fontes rerum Bohemicarum 4), Praha 1884, S. 82; online: http://147.231.53.91/src/ (14.07.2019). 6 Gabriela ANTUNES u. Björn REICH (Hgg.), (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. „Corps (Dé)formés: Perceptions et l’Altérité au Moyen-Âge“. Interdisziplinäres Seminar Straßburg, 19. März 2010, Göttingen 2012. 7 Maciej MACIEJOWSKI, Orientacje polityczne biskupów metropolii gnieźnieńskiej [Politische Orientierungen der Bischöfe der Metropole Gniezno/Gnesen], Kraków 2007, S. 33 ff.; Tadeusz SILNICKI u. Kazimierz GOŁĄB, Arcybiskup Jakub Świnka i jego epoka [Erzbischof Jakub Swinka und seine Zeit], Warszawa 1956. 8 Ein Beispiel ist die Haltung eines Teils der tschechischen Elite gegenüber den Deutschen im hohen und späten Mittelalter: Martin NODL, Nationalismus und Nationalbewusstsein zu Beginn des 14. Jahrhunderts und Karls Bemühen um ein konfliktfreies Bild des Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen in Böhmen, in: Stefan ALBRECHT (Hg.), Chronicon Aulae regiae: Die Königsaaler Chronik, eine Bestandsaufnahme, Frankfurt a. M. 2013, S. 187–224; auch: Joanna SOBIESIAK, Czechs and Germans: Nationals and Foreigners in the Work of Czech Chroniclers: from Cosmas of Prague (12th Century) to the Chronicle of the So-called Dalimil (14th Century), in: Andrzej PLESZCZYŃSKI u. a.

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onen aus dem Spätmittelalter, die vom Verhältnis niederer Schichten der polnischen Gesellschaft zu den zugewanderten Deutschen berichten, sind jedenfalls frei von solch scharfen Animositäten. Mit den oben zitierten hasserfüllten Meinungen kontrastieren z. B. die in der Großpolnischen Chronik (aus dem ausgehenden 13. und 14. Jahrhundert) enthaltenen Aussagen, dass die Deutschen Staaten [haben], die an die Slawen angrenzen, oft mit ihnen verkehren und dass es auf der Welt keine anderen Völker gibt, die sich so liebenswürdig und freundschaftlich zueinander verhalten wie die Slawen und die Deutschen. So entstand auch durch Vermittlung des Lateinischen kundiger Menschen der Name Ducz, aus dem später die Bezeichnung Teutoni [entstand], und der Name Sław, nach dem die Slawen benannt sind, sowie [der Begriff] Germanen, d. h. Brüder.9

Zu diesem deutschfreundlichen Kommentar wäre noch eine Reihe von im polnischen Schrifttum enthaltenen Lobsprüchen über die Höflichkeit und Bildung der deutschen Damen hinzuzufügen, mit denen die Piastenherzöge verheiratet waren, oder auch Lob über die Vorzüge der deutschen Ritter, die als Leibwachen in deren Gefolge dienten.10 In beiden Fällen findet sich natürlich auch Tadel gegenüber diesen Personengruppen. Die verschiedenen Autoren formulierten eben unterschiedliche Meinungen. Dieses Mosaik differenzierter Meinungen der Chronisten dominierte aber in diesem Fall die außerordentlich einflussreiche, stark topische Narration, die sich gleich zu Beginn der polnischen Historiographie herausbildete und deren Charakter für eine Reihe von Urteilen ausschlaggebend war, die von polnischen mittelalterlichen Chronisten, und später sogar von neuzeitlichen Historikern, gefällt wurden. Diese Narration hatte zwei Autoren – initiiert wurde sie von Gallus Anonymus, dem Verfasser der ältesten uns bekannten, in den polnischen Gebieten verfassten

|| (Hgg.), Imagined Communities. Constructing Collective Identities in Medieval Europe, Leiden, Boston 2018, S. 322–334. 9 Chronica Poloniae maioris, hrsg. v. Brygida KÜRBIS (Monumenta Poloniae Historica, Series nova 8), Warszawa 1970, S. 6–7: Scire autem dignum est, quod Slawi et Theutonici a duobus germanis Japhet nepotibus Jano et Kuss dicuntur orte habuisse […] Theutonici cum Slauis regna contingua habentes simul conversacione incendunt, nec aliqua gensin mundo est sibi tam communis et familiaris veluti Slaui et Theutonici. Sic eciam per Latinos ducz a quo Theutonici et Slas a quo Slawi, germani qui et fratres sunt appellati. N. KERSKEN, Geschichtsschreibung im Europa der „nationes“: nationalgeschichtliche Gesamtdarstellungen im Mittelalter (Münstersche historische Forschungen 8), Köln u. a. 1995, S. 512–516. 10 KRASUSKI (Anm. 1), S. 56–63; siehe auch: Marek CETWIŃSKI, Polak Albert i Niemiec Mroczko. Zarys przemian etnicznych i kulturalnych rycerstwa śląskiego do połowy XIV wieku, in: Jerzy STRZELCZYK (Hg.), Niemcy – Polska w średniowieczu [Der Pole Albert und der Deutsche Mroczko. Darstellung der ethnischen und kulturellen Veränderungen der schlesischen Ritterschaft bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts], Poznań 1986, S. 157–169.

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Chronik, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstand.11 Erweitert und in ihrem Charakter stark verändert wurde sie dann vom ersten heimischen, in Polen wirkenden Geschichtsschreiber Wincenty Kadłubek,12 der in den Jahren 1208–1223 das Amt des Bischofs von Krakau bekleidete.13 Im Werk des Gallus Anonymus werden zwei Ereignisse aus der Geschichte der Beziehung Polens mit dem Reich ausführlicher behandelt: die Begegnung von Bolesław Chrobry und Otto III. im Jahre 1000 (der sogenannte Akt von Gnesen) sowie der Krieg Heinrichs V. mit Bolesław Schiefmund im Jahre 1109. Der Charakter dieser beiden Schilderungen erwies sich als entscheidend für die Herausbildung der erwähnten Narration, die die Sicht der polnisch-deutschen Beziehungen in der frühen Historiographie dominierte. Was den Bericht über die Begegnung in Gnesen im Jahre 1000 betrifft, so fällt außer den mit diesem Ereignis verbundenen rechtlichen Fragen, die uns hier allerdings weniger interessieren, die Schilderung des Otto III. glanzvoll bereiteten Empfangs ins Auge. Dem Anonymus zufolge soll Chrobry den Gast mit reichen Gaben begeistert haben, die er sowohl dem Kaiser selbst als auch dessen Begleitern überreichte. Der über den Reichtum seines Gastgebers erstaunte namhafte Gast soll gesagt haben, es gebühre sich nicht, dass ein so großer Herr, der in seinem Land solche Kostbarkeiten besitze, nur ein Herzog sei, und er habe sein kaiserliches Diadem vom Kopf genommen und Bolesław damit persönlich gekrönt.14 Bemerkt sei hier noch, dass der Anonymus das Gewicht der Behauptung, der Kaiser habe ihm eine Krone geschenkt, was eine starke Unterordnung Chrobrys und seines Landes unter das Reich suggerieren könnte, auf viele Arten abschwächt: vor

|| 11 Galli Anonimi chronicae et gestae ducum sive principum Polonorum, hrsg. v. Karol MALECZYŃSKI. Kraków 1952; eine deutsche Übersetzung: Polens Anfänge – Gallus Anonymus: Chronik und Taten der Herzöge und Fürsten von Polen, hrsg. v. Josef BUJNOCH, Graz, Wien, Köln 1978; über die Chronik: KERSKEN (Anm. 9), S. 491–499. 12 Mistrza Wincentego zwanego Kadłubkiem Kronika polska / Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum, hrsg. v. Marian PLEZIA (Monumenta Poloniae Historica, nova series 11), Kraków 1994; eine deutsche Übersetzung: Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius, hrsg. v. Eduard MÜHLE, Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters (Freiherr-vom-SteinGedächtnisausgabe 48), Darmstadt 2014; über die Chronik KERSKEN (Anm. 9), S. 499–505. 13 Mehr über die Person des Chronisten und sein Werk: Andrzej DĄBRÓWKA u. Witold WOJTOWICZ (Hgg.), Onus Athlanteum. Studia nad Kroniką biskupa Wincentego [Studien zur Chronik von Bischof Wincenty], Warszawa 2009. 14 Galli Anonimi chronicae (Anm. 11), S. 21; Gert ALTHOFF, Symbolische Kommunikation zwischen Piasten und Ottonen, in: Michael BORGOLTE (Hg.), Polen und Deutschland vor 1000 Jahren, Berlin, 2002, S. 305–306, schlug vor, dass diese Beschreibung eine ironische Übertreibung sei; anders – Jacek BANASZKIEWICZ, Gall as a Credible Historian, or why the Biography of Boleslav the Brave is as authentic and far from grotesque as Boleslav the Wrymouth’s, in: Krzysztof STOPKA (Hg.), Gallus Anonymous and his chronicle in the context of twelfth-century historiography from the perspective of last research, Cracow 2010, S. 19–33.

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allem durch die Betonung, alle Geschenke für den edlen Gast seien aus gutem Willen erfolgt und nicht etwa als ein diesem gebührender Tribut.15 Diese Situation steht im Kontrast zu der darauffolgenden Episode des Berichts über die polnisch-deutschen Beziehungen, die die Zeit von Bolesław Schiefmund betrifft, genauer gesagt, den von diesem geführten Krieg gegen Heinrich V. Die Sequenz von Schiefmunds Krieg mit Heinrich V. eröffnet eine Information über den angeblichen Brief des „Kaisers“ an den polnischen Herrscher, in welchem Bolesław kaiserlicher Vasall (miles suus) genannt wird.16 Diese Bezeichnung scheint der Chronist nicht in Frage zu stellen, jedoch akzeptiert er keine vollständige Unterordnung Polens unter das Imperium.17 Deshalb verweigert Schiefmund entschieden die Zahlung des Tributs, der in diesem Brief gefordert wird, und will sich dem Willen Heinrichs nicht unterordnen – auch wenn der Chronist ihm noch die Deklaration in den Mund legt, dass wenn der Kaiser gutwillig um militärische Unterstützung (um der römischen Kirche zu Hilfe zu kommen) bitten würde, er dann „nicht weniger Hilfe und Rat [von Bolesław] als deine [d. h. Heinrichs] Vorfahren bei den Unsrigen“ erhielte.18 Die Narration des anonymen Autors knüpfte hier ausdrücklich an Otto III. an, der schließlich von Chrobry „gutwillig“ nicht nur Geschenke erhalten hatte, sondern auch dreihundert gepanzerte Reiter als Unterstützung des kaiserlichen Kriegszuges nach Italien.19 Da Heinrich V. die Freiheit des polnischen Herrschers in Frage stellte, kam es zum Krieg.20 Dieser Angriff des deutschen Herrschers war aber unrechtmäßig, und deshalb verteidigte sogar die Natur ihren rechtmäßigen Herrscher Schiefmund: die Sümpfe und Wälder hinderten die Angreifer, im Land vorwärtszukommen, und

|| 15 Die Annales Quedlinburgenses, hrsg. v. Martina GIESE (MGH, Scriptores rerum germanicarum in usum scholarum separatim editi 72), Hannover 2004, S. 510–512, wo beschrieben wird, dass Bolesław Chrobry dem Kaiser einen angemessenen Tribut gezollt hätte, aber Otto diesen Tribut nicht gewollt habe. Die Quelle lässt vage vermuten, dass dies auf den frommen Moment und den Respekt vor der Grabstätte des Heiligen Adalbert zurückzuführen war. 16 Galli Anonymi chronicae (Anm. 11), S. 130. 17 Mehr über die Meinung des Chronisten zu diesem Thema: Andrzej PLESZCZYŃSKI, Das Reich und das Verhältnis des Piastenstaates zu ihm im Urteil der Chronik des sogenannten Gallus Anonymus, in: Frühmittelalterliche Studien 43 (2009), S. 297–314. 18 Galli Anonymi chronicae (Anm. 11), S. 130: quodsi bonitate, non ferociate pecuniam vel milites in auxiliam Romanae ecclesiae postulasse, non minus auxilii vel consilii forsan apud nos, quam tu antecessores apud nostros imperatrares. 19 Daniel BAGI, Die Darstellung der Zusammenkunft von Otto III. und Boleslaw dem Tapferen in Gnesen im Jahre 1000 beim Gallus Anonymus, in: Ferenc GLATZ (Hg.), Die ungarische Staatsbildung und Ostmitteleuropa, Budapest 2002, S. 177–188. 20 In Wirklichkeit war die Unterstützung, die der deutsche Herrscher Zbigniew, dem älteren Bruder von Bolesław, gewährte, der Grund für den Konflikt: Zbigniew DALEWSKI, Ritual and Politics. Writing the History of a Dynamic Conflict in Medieval Poland, Leiden, Boston, 2008, S. 13–40.

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sowohl Fliegen als auch erbitterte Bauern (rustici mordates) griffen den Feind an.21 Besonders dieses zuletzt genannte Element der topischen Konstruktion des Anonymus, das manchmal als Symptom der „patriotischen Auflehnung des polnischen Volkes“ (sic!) interpretiert wird,22 verdeutlicht stark, wie sehr der Chronist seine Erzählung stilisiert hat. Sogar die Leute Heinrichs V. sprachen ihre Bewunderung für Schiefmunds Tugenden sowie Anerkennung für die auf ihm ruhende göttliche Obhut aus und komponierten ihm ein Lied, in dem sie ihre Gefühle zum Ausdruck brachten.23 Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Kaiser, der „die uralte Freiheit Polens mit Füßen treten wollte“24, einem so vorzüglichen Monarchen nicht gleichkommen und nur „die Leichname seiner Krieger statt des geforderten Tributs in die Heimat mitnehmen“ konnte.25 In der Chronik des Gallus Anonymus spielen also Otto III. und Heinrich V. Figuren, die nach Ansicht des Autors und sicher auch seiner polnischen Mäzene sowohl die korrekten als auch die tadelnswerten polnisch-deutschen Beziehungen widerspiegelten. Die von Gallus kreierte Narration enthält viele interessante Elemente. Am wichtigsten ist für uns in dieser Hinsicht die Rolle des Landes der Piasten als Lieferant von Gütern und Unterstützung für den Kaiser – dies aber immer nur „gutwillig“. Wincenty Kadłubek übernahm die Elemente der Narration seines Vorgängers und entwickelte diese an einigen Stellen weiter, wobei der Charakter einiger Handlungsstränge geändert wurde.26 Die oben skizzierten wurden weiter entfaltet, besonders der zweite von ihnen, ohne dass es zu inhaltlichen Änderungen gekommen wäre. In Kadłubeks Chronik gab es jedoch eine wesentliche Neuerung, die sich zwar inhaltlich von der Überlieferung des Gallus Anonymus unterscheidet, aber in ihrem Sinn und ihrer Botschaft dennoch stark mit dieser verbunden ist. Der Krakauer Geschichtsschreiber führt nämlich in den einführenden Teil seines Werkes, in die sogenannte märchenhafte Geschichte, die Narration von ‚Wanda, die keinen Deut-

|| 21 Galli Anonymi cronicae (Anm. 11), S. 140. 22 Jerzy WYROZUMSKI, Historia Polski do roku 1505 [Geschichte Polens bis zum Jahre 1505], Kraków 1983, S. 102; In einem von namhaften Historikern verfassten Handbuch wurden ähnliche Aussagen vor nicht allzu langer Zeit wieder veröffentlicht: siehe Henryk SAMSONOWICZ, Andrzej WYCZAŃSKI u. Jerzy TAZBIR, Historia Polski [Geschichte Polens],Warszawa 2007, S. 55, wo, wenn der Satz des Anonymus kommentiert wird, von einer „frühen Form des Patriotismus“ die Rede ist. 23 Galli Anonymi chronicae (Anm. 11), S. 138–139. 24 Galli Anonymi chronicae (Anm. 11), S.130, 134. 25 Galli Anonymi chronicae (Anm. 11), S. 141–142. 26 Paweł ŻMUDZKI, Nowe wersje opowieści Galla Anonima w dziele Wincentego Kadłubka [Neue Versionen der Geschichten von Gallus Anonymus in dem Werk von Wincenty Kadłubek], in: DĄBRÓWKA u. WOJTOWICZ (Anm. 13), S. 312–325.

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schen wollte‘,27 ein. Deren Inhalt betrachteten Historiker der Neuzeit für gewöhnlich nur als legendär und naiv, sie interessierten sich nicht im Besonderen dafür, lediglich das Interesse der Literaturforscher wurde hier geweckt. Für uns sind sie jedoch deshalb wichtig, weil sie stark mit den bis heute lebendigen Stereotypen im Zusammenhang stehen. Deshalb wollen wir sie hier näher betrachten. Magister Vincencius (Wincenty Kadłubek) lässt die Narration über Wanda in der nicht näher bestimmten Anfangszeit einer polnischen Gemeinschaft in der Stadt Krakau spielen, die angeblich von Krak, dem Vater der Heldin, gegründet und zur Hauptstadt des Staates erklärt wurde.28 Nach seinem Tod wird Wanda dann zur Anführerin der Polen. Bald erreicht die Kunde von ihrer außergewöhnlichen Schönheit auch „einen gewissen lemanischen Tyrannen“29. Unter dieser Bezeichnung verstand der Chronist, wie andere Passagen seines Werkes zeigen, einen deutschen Herrscher. Der Herrscher dieser „Lemanen“ will sie zur Frau haben und sich mit ihr den Krakauer Thron aneignen – „in der Absicht, dieses Volk [d. h. die Polen] zu vernichten“30. Als Wanda ablehnt, versammelt der Tyrann ein mächtiges Heer und fällt in Polen ein. Bei der entscheidenden Schlacht bewirkt Wandas außergewöhnliche Schönheit dann, dass das „lemanische“ Heer nicht gegen ihre Krieger kämpfen wollen. Der auf diese Weise gedemütigte Tyrann kann seinen Misserfolg nicht ertragen und verübt Selbstmord. Bemerkenswert ist hier ein Detail: es ist nicht die Tapferkeit der „männlichen“ polnischen Kämpfer, die die Unabhängigkeit des Landes verteidigt, sondern die außergewöhnliche Schönheit einer Frau – Wandas, der archetypischen „schönen Polin“31.

|| 27 Magistrii Vicenti dicti, S. 12–13; der breitere Themenkontext der Geschichte in: Jacek BANASZKIEWICZ, Rüdgier von Bechelaren, którego nie chciała Wanda. Przyczynek do kontaktu niemieckiej Heldenepik z polskimi dziejami bajecznymi [Rüdgier von Bechelaren, den Wanda nicht wollte. Ein Beitrag zum Kontakt der deutschen Heldenepik mit fabelhaften polnischen Geschichten], in: Przegląd Historyczny 75,2 (1984), S. 239–247; auch: Leszek P. SŁUPECKI, Krak i Wanda przed Kadłubkiem, u Kadłubka i po Kadłubku [Krak und Wanda vor Kadłubek, in Kadłubek’s Werk und danach], in: DĄBRÓWKA u. WOJTOWICZ (Anm. 13), S. 160–189; DERS., Vanda mari, Vanda terrae, aeri Vanda imperet. The Cracovian tripartite earth-sea-haeven formula, in: Światowit 40 (1995), S. 158– 167. 28 Jacek BANASZKIEWICZ, Polskie dzieje bajeczne Mistrza Wincentego [Die fabelhafte polnische Geschichte von Wincenty Kadłubek], Wrocław 1998, S. 7–44. 29 Magistrii Vicenti dicti (Anm. 27), S. 12–13; Dieses und die folgenden Zitate stammen aus der Geschichte des Chronisten. 30 Magistrii Vicenti dicti (Anm. 27), S. 12–13; es ist schwer nachzuvollziehen, warum der Chronist die Absichten dieses „lemanischen Tyrannen“ so scharf fomuliert hat – auf jeden Fall scheint es, dass sich darin Ängste der damaligen politischen Eliten widerspiegeln. 31 Anna KOCHANOWSKA-NIEBORAK, Piękna Polka [Die schöne Polin], in: Alfred GALL u. a. (Hgg.), Interakcje. Leksykon komunikowania polsko-niemieckiego, Bd. 2, Wrocław, 2015, S. 55–81 – online: http://www.polska-niemcy-interakcje.pl/articles/show/66 (13.08.19); auch: Arno WILL, Kobieta polska w wyobraźni społeczeństw niemieckiego obszaru językowego od XIV do lat trzydziestych XX

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Diese Erzählung fand Eingang in das Repertoire der polnischen Nationalmythologie, und die darauf folgenden Autoren, die sie tradierten, wussten dann auch immer mehr über „Wanda, die keinen Deutschen wollte“32. Doch dies ist ein anderes Problem, das wir hier nicht weiter entfalten müssen. Bemerkenswert ist jedoch, dass es dabei nicht um eine Ablehnung der Deutschen im Allgemeinen ging, sondern lediglich um den von ihnen ausgeübten Zwang. Wichtig ist darüber hinaus, dass die Idee der Unabhängigkeit des Landes schon gleich an den Anfang der Beschreibung seiner Geschichte gesetzt und mit weiblichen Aspekten verbunden wurde. Die Bedeutsamkeit dieser Tatsache wird noch dadurch unterstrichen, dass traditionelle Gesellschaften der Anfangszeit ihrer Gemeinschaft, in der aus übernatürlichem Willen alle wichtigsten Eigenschaften des sich herausbildenden Staatswesens in Erscheinung traten, immer eine ganz besondere Bedeutung beimaßen.33 Wenn wir tiefer über den Sinn der hier skizzierten Erzählung nachdenken, bemerken wir eine Betonung des gleichsam ‚weiblichen‘ Charakters der polnischen Gemeinschaft, eine Eigenschaft, die in Kadłubeks Narration mit den ‚männlichen‘ Absichten des „lemanischen Tyrannen“ zusammenprallt, der das mit dem Römischen Reich gleichgesetzte mittelalterliche Deutschland verkörpert. Scheinbar verbindet nichts diese Innovation Kadłubeks mit dem Text der früheren Chronik des Gallus, des Archetyps – daran sei erinnert – vieler Motive des Werkes des Krakauer Bischofs. Aber wenn wir ihre Struktur mit der Überlieferung des Anonymus über den Krieg des Jahres 1109 vergleichen, dann werden interessante und wichtige Übereinstimmungen erkennbar. Wir bemerken also, dass Bolesław Schiefmund sein Land gegen den Aggressor verteidigt, aber dass auch dieses selbst seinen rechtmäßigen Herrscher in diesem Kampf unterstützt: Sümpfe, Wälder und Fliegen greifen den Feind an sowie die Bauern, die in mittelalterlichen Narrationen topisch ein Element der Natur bilden.34 Angesichts dieser Koalition chtonischnatürlicher Kräfte verleugnen die deutschen Krieger in gewissem Sinne ihren Herrscher, denn schließlich singen sie sogar ein Lied zum Lobe Bolesławs. Leichen sind die Errungenschaft dieses ungerechten Krieges – kein Tribut. Bei Kadłubek tritt || wieku [Die Polin in der Vorstellung der deutschsprachigen Gesellschaften vom 14. Jh. bis in die 1930er Jahre], Wrocław 1983. 32 Maria ŁUKASZEWICZ-CHANTRY, Wanda sarmacka Amazonka w poezji łacińskiej w Polsce od Jana z Wiślicy do Jana Kochanowskiego [Wanda, die sarmatische Amazonin, in der lateinischen Poesie in Polen von Jan von Wiślica bis Jan Kochanowski], in: Terminus 16,1 (2014), S. 71–91; Andreas DEGEN u. Elżbieta DZIKOWSKA, Wanda. Femme polonaise, in: Hans Henning HAN u. Robert TRABA (Hgg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2015, S. 524–526. 33 Eleazar MELETINSKY, The poetics of myth, New York, London 2000, S. 159–163. 34 Der legitime Herrscher sollte die Natur seines Landes beherrschen und immer Kontakt zu ihr haben: Jacek BANASZKIEWICZ, Königliche Karrieren von Hirten, Gärtnern und Pflügern. Zu einem mittelalterlichen Erzählschema vom Erwerb der Königsherrschaft (die Sagen von Johannes Agnus, Přemysl, Ina, Wamba und Dagobert), in: Saeculum 33,3–4 (1982), S. 265–286; Henry A. MEYERS u. Herwig WOLFRAM, Medieval Kingship, Chicago 1982, S. 234–236.

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dieses Motiv des Gallus nicht in Erscheinung, an seiner Stelle führt der Chronist die Geschichte mit Wanda ein. Ausgeführt wird sie anders und sie spielt in einer anderen Zeit. Aber auch hier finden wir das weibliche Element, welches das gegen den „deutschen“ Aggressor kämpfende und ihn besiegende Polentum repräsentiert. Auch dort stehen die gewöhnlichen „deutschen“ Krieger gleichsam neben den stattfindenden Ereignissen und sympathisieren in gewisser Hinsicht mit dem Gegner, den sie eigentlich bekämpfen sollten. Dieses wundersame Schema der Erzählungen beider Chronisten mag auf den ersten Blick überraschen und unverständlich erscheinen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass die Logik unserer zeitgenössischen Narrationen nicht unbedingt mit derjenigen übereinstimmen muss, von der sich die Gedanken der Autoren vergangener Zeiten leiten ließen. Wenn wir jedoch umfassend nach Analogien zu der in den Werken der hier vorgestellten Autoren vorhandenen Zusammenstellung suchen, dann finden wir eine allgemeine Ähnlichkeit mit den von ihnen angewandten Erzähllösungen in dualistischen Narrationsstrukturen, deren Wurzeln in den alten indoeuropäischen Religionen liegen. Dann wird die Situation klarer. Die Sache ist recht komplex, aber wenn wir sie auf die Grundelemente hin vereinfachen, bemerken wir, dass den Narrationen der Chronisten ein gewisser Dualismus zugrunde liegt. Dieser Dualismus gründet sich, wie wir mühelos feststellen können, auf bestimmte sehr alte Schemata. Es handelt sich um eine Opposition, die die Grundlage der Weltanschauung früherer indoeuropäischer Völker bildete und auf der Überzeugung basierte, dass das Universum in zwei Bestandteile gegliedert ist: einer von ihnen ist geistigen Charakters, er zeichnet sich durch Rationalität und mit Rechtschaffenheit verbundene Kraft aus. In stärker ausgebauten Narrationen, wo gewiss Generalisierungen formuliert wurden, assoziierte man dieses Element dann mit Zivilisation und Männlichkeit. Der Dualismus wäre keiner, wenn dieses nicht im weiblichen, materiellen und gleichzeitig naturhaft-barbarischen Element seinen Gegensatz, seine Ergänzung und Negation zugleich finden würde.35 Die Betonung oder das Übergehen einzelner Bestandteile der weiter oben skizzierten Eigenschaftenkonglomerate war abhängig von den Zielen der Narration, von der Weltanschauung des Autors und von vielen anderen Gründen, die er in seinem Text realisieren sollte.36 Das Schema war so weit elastisch, dass die naturhaftirrationale, weiche ‚Weiblichkeit‘ so sehr zunehmen konnte, dass sie zu etwas über-

|| 35 Dieses Thema ist sehr weitläufig, besitzt aber starke Verbindungen zur modernen Forschung sozialer Wahrnehmung der Geschlechter – siehe z. B. Christina HOLTZ-BACHA, Stereotype: Frauen und Männer in der Werbung, Wiesbaden 2011. 36 Beispiele angegebener Narrationen in: Jacek BANASZKIEWICZ, Wątek “ujarzmienia kobiet” jako składnik tradycji o narodzinach społeczności cywilizowanej. Przekazy “słowiańskie” wcześniejszego średniowiecza [Das Motiv der „Unterwerfung von Frauen“ als Teil der Tradition der Geburt einer zivilisierten Gemeinschaft. Slawische Überlieferungen des früheren Mittelalters], in: Roman MICHAŁOWSKI (Hg.), Człowiek w społeczeństwie średniowiecznym, Warszawa, S. 27–44.

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aus Bezauberndem und Positivem avancierte, im Gegensatz zur trockenen rationalen und blind harten, aggressiven ‚Männlichkeit‘, assoziiert mit einer korrupten Zivilisation.37 Eben eine solche Situation finden wir in der Chronikkreation von Wincenty Kadłubek. Natürlich ist die Situation nicht direkt vergleichbar. Hier geht es nur um die Quellen einer bestimmten Idee, die sich in der Chronistengeschichte widerspiegelte. Der Sachverhalt ist nicht leicht zu verstehen. Überaus erstaunlich ist es, dass diese Erzählung, in der Tat absurd, in Polen eine so atemberaubende Karriere gemacht hat, wo den Bewohnern des Landes doch ‚weibliche‘ Eigenschaften zugeschrieben wurden,38 die im Prinzip, zumindest im Mittelalter, sonst eher zur Charakterisierung Fremder und oft auch für unzivilisiert gehaltene Völker dienten.39 Es ist anzunehmen, dass der Grund hierfür in der großen Popularität des Werkes von Wincenty Kadłubek bestand, (was im häufigen Kopieren seines Inhalts zum Ausdruck kommt) und zwar nicht nur unter den Historiographen, sondern auch bei einer breiteren Gruppe von Lesern und Schriftstellern. Allerdings hätte dies noch nicht unbedingt dazu führen müssen, dass gerade das Motiv von ‚Wanda, die keinen Deutschen wollte‘, dann auch von weiteren Autoren ausgewählt und weiter entfaltet wurde. Dafür kommen noch andere Umstände in Frage. Wichtig ist wohl, dass alle auf dem Gebiet der Historiographie oder überhaupt der Literatur tätigen Polen irgendwie zu einem Stereotyp Stellung nehmen mussten, der in der Tradition des Westens schon seit der Antike existierte und im Mittelalter wiederholt wurde, nämlich dass die Bewohner der nördlich der Donau und östlich des Rheins gelegenen Gebiete Barbaren oder zumindest zivilisatorisch unterlegen seien – seit der Zeit der Karolinger wurde die Ostgrenze des barbaricum dann bis zur Elbe verschoben.40 Man konnte diese Art Begriffsschablone, die jedem eingeprägt war, der den Bildungsweg durchlaufen hatte, nicht einfach abwerfen. Zugleich existierte in Polen das Bewusstsein gewisser Unterschiede zu den Gebieten Westeuropas.41 Ein solches Ensemble, das sich darüber hinaus noch aus anderen Faktoren von geringerer || 37 Siehe z. B.: Ter ELLINGSON, The myth of the noble savage, Berkeley u. a. 2001; oder sogar: Malcolm CHAPMAN, Jeremy CLEGG u. Hanna GAJEWSKA-DE MATTOS, Poles and Germans: An international Business Relationship, in: Human Relations 57,8 (2004), S. 983–1015, hier: S. 992, 1007–1010. 38 Noch heute wird oft die außergewöhnliche Fruchtbarkeit des polnischen Bodens, die unvergleichliche Schönheit der Frauen und andere ‚wanische‘ Attribute des polnischen Landes und der polnischen Gesellschaft gelobt; siehe: KOCHANOWSKA-NIEBORAK (Anm. 31). 39 BANASZKIEWICZ (Anm. 28), S. 65–154. 40 David FRAESDORFF, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau (Orbis mediaevalis 5), Berlin 2005. 41 Andrzej JANECZEK, Świadomość wspólnoty słowiańskiej w pełnym i późnym średniowieczu [Das Bewusstsein der slawischen Gemeinschaft im hohen und späten Mittelalter], in: Krzysztof A. MAKOWSKI u. Monika SACZYŃSKA (Hgg.), Słowianie – idea i rzeczywistość. Zbiór studiów, Poznań 2013, S. 19–70.

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Bedeutung zusammensetzte, die hier nicht aufgeführt werden können, bewirkte, dass diese alte imaginäre Spaltung Europas (in einen kulturvollen und einen barbarischen Teil) auch in Polen akzeptiert wurde. Zugleich war es schwierig, sich mit der (mit dem oben dargestellten Erzählschema verbundenen) pejorativen Beurteilung des sogenannten weiblichen Charakters der Polen zu identifizieren, da dieser ja als prinzipielles Merkmal ihrer Gemeinschaft anerkannt wurde. Daher wurden in Polen Bestrebungen unternommen, um die naturhaft-landwirtschaftlich-weibliche Sphäre aufzuwerten. Ein Element dieser gleichsam ideologischen Aktion war es, die Jungfrau ‚Wanda, die keinen Deutschen wollte‘, zu kreieren und diese mythische Erzählung dann durch die Jahrhunderte hindurch zu pflegen und weiterzuentwickeln. Allerdings implizierte eine solche Lösung dann weitere ideologisch-intellektuelle Phänomene. Die Sache ist recht kompliziert, aber am wichtigsten ist für uns die Mythisierung des Charakters Deutschlands und der Deutschen sowie ihrer Beziehungen zu den Polen bzw. zu den Slawen überhaupt. Die Autoren, die sich unbewusst von einer solchen Narration leiten ließen, welche sich auf den Stereotyp des Deutschen als unerbittlichen Aggressor gründete, der nach dem Land der Polen gierte, erblickten in jedem Krieg oder bewaffneten Auseinandersetzung – wobei so etwas doch leider ganz gewöhnliche Dinge in der Geschichte sind – oder auch in anderen Angelegenheiten oft nur weitere Teile eines Puzzles, dessen Sinn darin bestand, dass „Solange die Welt besteht ...“ usw. Mit anderen Worten: Die unbewusste Akzeptanz einer bestimmten starken Meta-Narration unterwarf sich die Struktur der einzelnen MikroNarrationen und beeinflusste eine Reihe von Autorenkommentaren, die Sicht und Urteil verzerrten. Dies war zum Beispiel bei dem herausragendsten Chronisten des polnischen Mittelalters Jan Długosz der Fall. In seinen ‚Annalen des ruhmreichen Königreichs Polen‘42 sah er immer dann, wenn er über die Deutschen allgemeiner, mit einer gewissen breiteren Reflexion schrieb, in ihnen Unterdrücker und überhebliche Aggressoren, die die seit Jahrhunderten slawischen und polnischen (sic!) ostdeutschen Gebiete bis hin zur Elbe und Saale ihren rechtmäßigen Besitzern entreißen wollten.43 Aber wenn dieser Autor ohne historiographische Aufgeblasenheit über konkrete Menschen deutscher Herkunft schrieb, besonders über die in Polen lebenden, dann war ihr Bild manchmal ein ganz anderes als das weiter oben skizzierte – mehrfach betonte er ihre positiven Eigenschaften.44

|| 42 Jan DŁUGOSZ, Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae / Roczniki, czyli kroniki sławnego Królestwa Polskiego, Bd. 1–12, Warszawa 1961–2006. 43 KRASUSKI (Anm. 1), S. 64–68. 44 KRZYŻANIAKOWA (Anm. 1), S. 22–25; Jadwiga KRZYŻANIAKOWA, Niemcy w opinii Jana Długosza [Die Deutschen nach Meinung von Jan Długosz], in: CZUBIŃSKI (Anm. 1), S. 69–85.

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Die hier zusammengetragenen Beispiele zeigen, wie stark die Macht bestimmter alter Archetypen, gewisser Begriffsklischees und der intellektuellen Trägheit der sie verwendenden Autoren war (und manchmal immer noch ist).

Magdalena März

Prag und Burghausen um 1500 Zwei Großbauprojekte als Indikator landesherrlicher Modernisierungsbestrebungen im bayerisch-böhmischen Raum Abstract: About 1480 with the castle complex of Burghausen the Lower Bavarian Duke George the Rich (1455–1503) realized an expansion-project of unusual scope and according to the most modern architectural standards of his time. Not only as a place of dynastic representation, but also as a structural response to political developments (‘Turkish Menace’) and innovations of war technology (artillery), the interpretation offers a variety of meta levels of analysis. Strong parallels are found in the expansion-project of the Hradschin in Prague, begun only a few years later under George’s brother-in-law King Vladislav II. (1456–1516). The text aims to identify the potentials of architecture as a historical source for the reconstruction of transferand innovation-processes as well as complex historical contexts by using interdisciplinary methodology. Based on the comparison of the two historical projects, an interpretation of high-end artillery towers (Geschütztürme) as so-called innovationmarkers is introduced. With court architects Ulrich Pesnitzer in Bavaria and Benedict Ried in Bohemia, who as ‘masterminds’ coordinated all sub-parts of the projects, also a novel type of key figure is palpable. Taking the conceptualization itself as a characteristic of stately building in the late 15th century in Central Europe, it also is a manifestation of the contemporary intellectual currents. The fact that these projects were actually perceived in their entity as symbols with political power is evidenced by contemporary written sources. Finally, a new interpretation of such large-scale building-projects as ‘political architecture’ is attempted. Keywords: political architecture, Northern Renaissance, Germany, military architecture

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Anmerkung: Der vorliegende Text entspricht im Wesentlichen dem um Literaturangaben und Hinweise erweiterten Vortrag mit gleichem Titel, gehalten auf dem 18. Symposium des Mediävistenverbands e.V. „Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter“ vom 17.–20. März 2019 in Tübingen, als Teil der Sektion Entkontextualisierung – Neukontextualisierung. Internationale Verflechtungen und gattungsübergreifender Austausch als Katalysatoren für künstlerische Innovationen im 15. Jahrhundert, geleitet von Prof. Dr. Matthias MÜLLER, Mainz und Prof. Dr. Stephan HOPPE, München.

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Magdalena März, Institut für Kunstgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München, Schlossweg 18, D-83561 Ramerberg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-016

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Die Grundlage für die folgenden Ausführungen bildet der Vergleich der königlichen Burg auf dem Hradschin in Prag und der herzoglichen Residenz auf der Burg in Burghausen an der Salzach in ihren Bauzuständen zum Ende des 15. Jahrhunderts.1 Durch auffallend innovative Lösungen sowohl in der Konzeptionierung als auch im Detail ermöglicht die Deutung der Anlage der Burg Burghausen2 eine Vielzahl an Metaebenen der Analyse von Neuerungsprozessen. Ausgehend vom Beispiel Burghausens und im Vergleich mit der in etwa zeitgleich ausgebauten Anlage auf dem Hradschin wird durch die Einbeziehung der zeitgenössischen politischen Ideenwelt auch in der Architektur nach Motiven programmatischer Ideen für fürstliche Reformvorstellungen gesucht.

Abb. 1: Blick auf Burg und Stadt Burghausen von Süden. Im Vordergrund die Kernburg, rechts / östlich die Salzach, links / westlich hinter dem Burgberg der Wöhrsee (Salzachaltarm), ganz im Westen der Geschützturm auf dem Eggenberg. Foto: Skyfly-Pix Luftaufnahmen.

|| 1 Vgl. zum Hradschin in der fraglichen Zeit Götz FEHR, Benedikt Ried. Ein deutscher Baumeister zwischen Gotik und Renaissance in Böhmen, München 1961, hier bes. S. 12–35; Thomas DURDIK u. Petr CHOTEBOR, Die Ausstattung der Prager Burg während der Regierung von Wladislaw Jagiello, in: Juan CABELLO (Hg.), Várak a későközépkorban [Burgen im Spätmittelalter] (Castrum Bene 2), Budapest 1992, S. 340–350; aktuellere Übersicht in Richard NĚMEC, Architektur – Herrschaft – Land. Die Residenzen Karls IV. in Prag und den Ländern der Böhmischen Krone (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 125), zugl. Univ. Diss. Freiburg i. Br., Petersberg 2015, S. 27–50. 2 Burghausen bildet das zentrale Untersuchungsobjekt der in Arbeit befindlichen Dissertation der Verfasserin. Die Dissertation wird am Institut für Kunstgeschichte der LMU von Prof. Dr. Stephan HOPPE betreut. Ausführliche Projektbeschreibung in: Magdalena MÄRZ, Fürstliche Bauprojekte als Manifestationen neuer Herrschaftskonzeptionen im 15. und frühen 16. Jahrhundert. Untersucht an der herzoglichen Residenz zu Burghausen und Ansitzen im Inn-Donau-Raum, in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF: Stadt und Hof 6,6 (2017), S. 77–116; Online-Publikation verfügbar unter URI http://hdl.handle.net/11858/00-001S0000-002D-B535-1 (31.07.2019).

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Der Vergleich von Burghausen und Prag bietet sich aus verschiedenen Gründen an: Beide Anlagen erfuhren im Rahmen von fürstlichen Großbauprojekten in etwa zur gleichen Zeit in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts einen Ausbau. Welchen Umfang und welche Bedeutung diese Maßnahmen hatten, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass diese Bauphasen bis heute das jeweilige Erscheinungsbild der Örtlichkeiten prägen, wobei große Teile der originalen Bausubstanz noch erhalten sind. Hinzu kommt, dass die Bauherren untereinander verschwägert waren: Herzog Georg (1455–1503, reg. ab 1479), der letzte der drei sogenannten Reichen Herzöge von Bayern-Landshut, heiratete 1475 die jagiellonische Königstochter Hedwig von Polen (1457–1502), die Schwester des Prager Bauherren Wladislaw II. (1456–1516). Bei den legendären Feierlichkeiten der Landshuter Hochzeit waren entsprechend zahlreiche Vertreter der europäischen Elite anwesend.3 Hedwigs Vater war König Kasimir IV. von Polen, sie war die Schwester von König Wladislaw II., der ab 1471 König von Böhmen und ab 1490 König von Ungarn war.

Abb. 2: Oben: Plan der Burganlage Burghausen. Unten: Plan der Burg auf dem Hradschin in Prag, Rekonstruktion des Baubestands um 1500 (dünne Linien: heutige Bebauung). Oben: Grafik: Magdalena März, nach Bodo Ebhardt. Unten: Grafik: Magdalena März, nach Dobroslava Menclova.

|| 3 Vgl. zur Landshuter Hochzeit zuletzt Christof PAULUS u. Roman DEUTINGER (Hgg.), Das Reich zu Gast in Landshut. Die erzählenden Texte zur Fürstenhochzeit des Jahres 1475, Ostfildern 2017.

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Herzog Georg von Bayern begann etwas früher als Wladislaw4 nach seiner Hochzeit und seinem Regierungsantritt 1479 mit dem Ausbau von Burghausen: Nach dessen Abschluss diente die Burg nicht nur als Bollwerk gegen Bedrohungen von innen und außen, hier insbesondere die Osmanen. Sie war auch repräsentative Residenz, standesgemäßer Wohnsitz von Hedwig und damit Verkörperung von dynastischem Anspruch und Landesherrschaft. Die beiden Bauherren, ihre Höfe und die personellen Netzwerke, in sie eingebunden waren, wie auch die Bauprojekte ihrer Residenzen stellen gute Beispiele für die These Peter MORAWS dar, dass im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts wesentliche innovative Entwicklungen sowohl in der Politik als auch in den Künsten zu beobachten sind.5 Es scheint daher kein Zufall, dass bei den um 1480 beginnenden Bauprojekten in Burghausen und Prag sowohl in Teilbereichen und Details, als auch in der Art ihrer Umsetzung als Großprojekte nach einem neuartigen, übergeordneten Gesamtkonzept auffällig innovative Lösungen Anwendung fanden. Insgesamt deutet diese Ausgangslage auf das Verfolgen einer neuartig stringenten Programmatik in der Architektur als monumentale Kunst hin. MORAW hat die politische Seite dieser Entwicklungen als territoriale „Verdichtung“ beschrieben und auch in den Künsten ist eine solche Verdichtung von Anstrengungen zu beobachten.6 Es mag vor allem für Historiker im ersten Moment ungewöhnlich scheinen, dass das Ausgangsmedium der Überlegungen hier die Architektur ist. Architektur als Quelle bietet jedoch einige spezifische Vorteile, etwa indem konkrete, reale (= materielle) Befunde am Objekt und bauliche Details Rückschlüsse auf übergeordnete (= immaterielle) Ideen ermöglichen. In einem nächsten Schritt lassen sich weiterführende Gedanken zu den zugrundeliegenden Innovationsprozessen anstellen, Transferwege und neue Typen von Brückenfiguren rekonstruieren, und die Ergebnisse interdisziplinär verknüpfen. Der vorliegende Text möchte daher die Potentiale

|| 4 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Beginn der Bauarbeiten an der königlichen Burg Pürglitz unter Wladislaw ebenfalls bereits in die 1470er Jahre fällt, die jedoch in Stocken gerieten bzw. nur etappenweise erfolgten. Dabei ist die Feinchronologie nach wie vor nicht eindeutig geklärt: „Der anspruchsvolle Umbau der Burg Pürglitz wurde wohl gleich in den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts begonnen, doch fehlen direkte Belege sowohl in den Quellen wie am Bau selbst. […] Das völlige Fehlen konkreter Daten zur Chronologie und zu den Urhebern des Pürglitzer Umbaus ist umso mehr zu bedauern, als es sich neben dem Umbau der Prager Burg um die umfangreichste Maßnahme dieser Art in Böhmen handelte, an der offensichtlich ein Kreis eng mit dem Königshof verbundener Künstler mitwirkte.“ Vladislav RAZÍM u. Alena NACHTMANNOVÁ, Burg Pürglitz und ihr Jagdforst, in: DERS., Jirí FAJT u. Markus HÖRSCH (Hgg.), Krivoklát – Pürglitz. Jagd, Wald, Herrscherrepräsentation (Studia Jagellonica Lipsiensia 17), Ostfildern 2014, S. 143–207, hier S. 183 f. 5 Peter MORAW, Mittelrhein und fränkischer Oberrhein im ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Jan Piet FILEDT KOK (Hg.), Vom Leben im späten Mittelalter. Der Hausbuchmeister oder Meister des Amsterdamer Kabinetts, Stuttgart, Amsterdam, Frankfurt a. M. 1985, S. 31–37, hier S. 31. 6 Peter MORAW, Fürstentum, Königtum und ‚Reichsreform‘ im deutschen Spätmittelalter, in: Walter HEINEMEYER (Hg.), Vom Reichsfürstenstande, Köln, Ulm 1987, S. 117–136.

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historischer Architektur für das Entschlüsseln komplexerer, auch politischer und kultureller Zusammenhänge im jeweiligen zeitgenössischen Kontext an den genannten Beispielen erproben.

Abb. 3: Blick auf die Kernburg Burghausen von Nordosten. Foto: Martin Falbisoner, CC BY-SA 3.0.

1 Bauaufgabe Wehrbau – Geschütztürme als Innovationsindikatoren Als Einstieg in die Thematik bietet sich die Bauaufgabe Wehrbau an, denn darin lassen sich entsprechende Innovationen besonders deutlich ablesen – wer hier nicht mithalten konnte, hatte im Ringen um Macht und Einfluss schnell das Nachsehen. Den Motor dabei bilden die Entwicklungen in der Waffentechnik, die ab dem späten 14. Jahrhundert, verstärkt ab dem Beginn des 15. Jahrhunderts, Verbreitung fanden: waffenimmanente Entwicklungsstufen hatten unmittelbare Auswirkungen auf den Wehrbau und spiegelten sich als bauliche Reaktionen darin wider.7 Auch in den Ausbauprojekten von Prag und Burghausen bildet der Wehrbau wortwörtlich die Rahmenhandlung. In der Gestalt von neuartig monumentalen Geschütztürmen, konzipiert für Artillerieeinsatz sowie -abwehr in Kombination, liegt in beiden Fällen ein verhältnismäßig leicht identifizierbarer Innovationsindi-

|| 7 Vgl. u. a. Volker SCHMIDTCHEN, Bombarden, Befestigungen, Büchsenmacher. Von den ersten Mauerbrechern des Spätmittelalters zur Belagerungsartillerie der Renaissance. Eine Studie zur Entwicklung der Militärtechnik, Düsseldorf 1977; DERS., Kriegswesen im späten Mittelalter. Technik, Taktik, Theorie, Weinheim 1990; Elmar BROHL, Militärische Bedrohung und bauliche Reaktion. Festschrift für Volker Schmidtchen, Marburg 2000.

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kator vor. Ein zusätzlicher Vorteil ist die Nachvollziehbarkeit der Indikatorfunktion sowohl im Großen für ganze Bauteile – den genannten Geschütztürmen – als auch im Kleinen mit innovativen Baudetails wie Schießschartenformen, die eine rasche Innovationslogik durchliefen. Es soll hiermit keine Thesenführung im Sinne einer ‚Militärischen Revolution‘ verfolgt werden, die von manchen Autoren bis in eine globale und zu allen Zeiten gültige Dimension ausgeweitet wird.8 Auch geht es nicht darum, die Geschichte der Waffentechnik nachzuerzählen. Um eine Argumentationsgrundlage zu schaffen, muss dennoch kurz darauf eingegangen werden: Entscheidender Aspekt ist das Aufkommen und die Entwicklung von Feuerwaffen im späten Mittelalter. Diese Innovationen und die baulichen Auswirkungen fanden besonders in Grenz- und Konfliktzonen umso schnellere Verbreitung. Dadurch ergaben sich mehrere, teilweise gleichzeitig aktive Innovationsherde in unterschiedlichen Regionen in Europa, z. B. im anglofränkischen Kulturraum bedingt durch den Hundertjährigen Krieg9 oder im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen dem Reich und Burgund (Neusser Krieg). Neben diesen Kontroversen in (West-)Europa gewann die Bedrohung von Osten durch die Osmanen mit der Einnahme von Konstantinopel für Europa im Ganzen zunehmend an Bedeutung. Auch im Untersuchungsraum Bayern-BöhmenÖsterreich, der historisch betrachtet einen zusammenhängenden Kulturraum bildet, befand sich ein Epizentrum für innovativen Wehrbau. Das war bedingt durch eine ganze Reihe historischer Vorgänge und Ereignisse, die sich teilweise zeitlich und örtlich überschnitten: Zu den Hussitenkriegen (1419–1436),10 gefolgt von der ‚Türkengefahr‘,11 die ab 1453 für lange Zeit ein Hauptthema war, kamen die Ungarn|| 8 Vgl. etwa Williamson MURRAY u. MacGregor KNOX (Hgg.), The Dynamics of Military Revolution 1300–2050, Cambridge 2001. Geschuldet der unterschiedlichen Auslegung und Bewertung gibt es nicht nur eine zunehmend unüberschaubare Menge an Literatur zu diesem Topos, als positiver Effekt ergibt sich so auch eine lebendige Forschungsdiskussion. Grundlegende Werke bzw. Autoren stammen v. a. aus dem englischsprachigen Raum, etwa Geoffrey PARKER, The military revolution. Military innovation and the rise of the West 1500–1800, Cambridge 1988 oder Clifford ROGERS, The military revolution debate. Readings on the military transformation of early modern Europe, Boulder 1995. 9 Vgl. Robert Douglas SMITH u. Kelly DEVRIES, The Artillery of the Dukes of Burgundy 1363–1477 (Armour and Weapons 1), Rochester N. Y. 2005. 10 Für die Zeit der Hussitenkriege in Bayern v. a. als quellenbasierte Arbeit relevant: Michaela BLEICHER, Das Herzogtum Niederbayern-Straubing in den Hussitenkriegen. Kriegsalltag und Kriegsführung im Spiegel der Landschreiberrechnungen, Diss. phil. Regensburg 2004; zu den baulichen Manifestationen dieser Vorgänge in Bayern mit burgenkundlichem Fokus: Joachim ZEUNE, Frühe Artilleriebefestigungen der Zeit um 1420/30 in Bayern, in: DERS. u. Hartmut HOFRICHTER (Hgg.): Die Burg im 15. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung e.V. 12), Braubach 2011, S. 74–88; zuletzt Joachim ZEUNE, Burgenführer Deutscher Burgenwinkel. Symbole von Macht und Vergänglichkeit, Maroldsweisach 2016, o. S. 11 Vgl. Harald HEPPNER u. Zsuzsa BARBARICS-HERMANIK (Hgg.), Türkenangst und Festungsbau. Wirklichkeit und Mythos, Frankfurt a. M 2009.

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kriege (1446–1490)12 und außerdem regionale Adelsfehden, hier im Speziellen die Baumkircherfehde (1469–1471),13 ebenfalls im umkämpften Grenzgebiet zum Osten. Es verwundert daher nicht, dass sich in Böhmen ab den 1420er Jahren14 richtungsweisende Beispiele modernen Festungsbaus entwickelten, die bald ins benachbarte Bayern ausstrahlten. Charakteristische Elemente waren Erdwälle zum Einsatz von frühen Feuerwaffen, Holzaufbauten zum Schutz der Verteidiger, sowie insbesondere flankierend vorragende Geschütztürme, teils auf eigenen Vorwerken.15 Vereinfacht lassen sich zwei Entwicklungsstufen ausmachen: Die erste Stufe war noch auf den Einsatz von Handfeuerwaffen, d. h. vor allem Hakenbüchsen, als Mittel der Verteidigung ausgerichtet. Im Wehrbau war sie gekennzeichnet durch runde oder halbrunde bzw. hufeisenförmige Schalentürme. Diese wurden entsprechend mit auf den Einsatz von Handfeuerwaffen konzipierten Schießscharten versehen. Das Aufkommen von schwererem Geschütz für die Verteidigung bedeutete den nächsten Schritt: Einerseits hatten diese Geschütze eine verbesserte Wirkungskraft, andererseits waren sie aber auf den Türmen und Mauern nicht mehr von einer Einzelperson zu bedienen und zu manövrieren. Im Wehrbau hat sich dadurch ein neuer und für seine Entstehungszeit charakteristischer Typus, der sog. Geschützturm, entwickelt, gekennzeichnet durch eine deutliche Steigerung von Mauerstärke und Gesamtdurchmesser. Das war zum einen konstruktiv notwendig als tragfähige Grundlage für die wortwörtlich schwereren

|| 12 Peter Franz KRAMML, Salzburg und die Ungarn: Fakten, Lügen, Propaganda, in: DERS. (Hg.), Stadt, Land und Kirche. Salzburg im Mittelalter und in der Neuzeit. Beiträge der Tagung zur Emeritierung von Heinz Dopsch in Salzburg vom 13. bis 24. September 2011, Salzburg 2012, S. 113–136; Roland SCHÄFFER, Die Zeit Kaiser Friedrichs III. (1424–1493), in: Gerhard PFERSCHY (Hg.), Die Steiermark im Spätmittelalter, Wien 2018, S. 43–74, hier insb. S. 61–74 = Kap. Der große Ungarnkrieg, Besatzungszeit. Tod des Matthias Corvinus und Rückeroberung, Friede von Pressburg. Tod Friedrichs (1480–1493). Zusammenfassung. 13 Vgl. zur Baumkircherfehde neben den älteren Texten von Franz KRONES v. a. die Arbeiten von Roland SCHÄFFER, zuletzt: Die Baumkircherfehde, in: Rudolf KROPF u. Andreas LEHNER (Hgg.), Andreas Baumkircher. Leben und Sterben im 15. Jahrhundert (= Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 144), Eisenstadt 2013, S. 136–139. 14 Thomas DURDIK, Abriss der Entwicklung der böhmischen Artillerieburgfortifikationen des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts, in: Castella Maris Baltici 2 (1996), S. 35–46, hier S. 37. DURDIK nennt als Beispiele die Burgen Kalich (1421) und Sion. 15 Vgl. Thomas KÜHTREIBER u. Olaf WAGENER, ‚… sie paweten zwo pastein ob dem geschloss auf die puhl …‘. Vorwerke / vorgeschobene Befestigungen im deutschsprachigen Raum, in: Castellologica bohemica 11 (2008), S. 113–164; Thomas DURDIK, Batterieturmburgen in Böhmen, in: Castella Maris Baltici 8 (2007), S. 37–48; Peter PURTON, Bohemian fortresses and the evolution of artillery defence in the fifteenth century, in: Castle Studies Group Journal 21 (2008), S. 217–227; Heinz MÜLLER u. Reinhard SCHMITT (Hgg.), Zwinger und Vorbefestigungen. Tagung vom 10. bis 12. November 2006 auf Schloss Neuenburg bei Freyburg (Unstrut), Langenweißbach 2007, darin bes. Rudolf MEISTER, Zwinger und Vorbefestigungen im Übergang von der Burg zur Festung aus militärgeschichtlicher Sicht, S. 37–42 mit überregionaler Perspektive.

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Geschütze auf mehreren Geschossebenen. Dickere Außenmauern waren zum anderen nötig, um potentiellem Beschuss mit gleichwertigem Gerät standhalten zu können. Die Steigerung des Gesamtdurchmessers war bedingt durch den erhöhten Platzbedarf im Inneren beim Manövrieren der Geschütze zum Richten und Laden sowie Feuern, außerdem musste der Rücklauf berücksichtigt werden. Die Schartenformen16 veränderten sich entsprechend, charakteristisch wurden in einer späten Phase ab dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts sog. Maulscharten, die sowohl dem vergrößerten Rohrdurchmesser als auch dem jeweiligen Einsatzwinkel der mittleren bis schweren Geschütze Raum gaben. Damit vereinten die Geschütztürme also schon in ihrer Grundform aktive und passive Wehraspekte. Deren runde Baukörper wurden entweder deutlich vorgeschoben an der Umfassungsmauer positioniert, oder auf einem von der Kernanlage separierten Vorwerk in Stellung gebracht. Diese Art von Türmen kam in Unterschied zu den früheren Schalentürmen typischerweise erst in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts auf, natürlich mit regionaler Varianz. Ihre Errichtung und ihr Betrieb war ausnehmend teuer, angefangen bei der Geschützherstellung, über die aufwändigen Baumaßnahmen selbst bis zum Bedarf an Personal mit Spezialwissen in Bau und Bedienung. Mit dem um 1483/84 bzw. 148817 errichteten sog. Eggenberg-Turm in Burghausen (vgl. Abb. 2: E) und den beiden Daliborka und Mihulka genannten Türmen auf der Nordseite der Prager Burg aus der Zeit ab 149618 liegen noch gut erhaltene Musterbeispiele dieses neuen Typs vor (vgl. Abb. 2: D, M). Der Burghausener Eggenberg-Turm besitzt vier Geschosse, er misst bis zur Traufe gut 21 m mit einem Außendurchmesser von knapp 20 m im Erdgeschoss und einer maximalen Mauerstärke von gut 5 m, die sich erst im zweiten Obergeschoss verringert und den Treppenlauf aufnimmt. Diesen Dimensionen kommt von den beiden großen Prager Geschütztürmen der Mihulka-Turm am nächsten: Er wurde nach 1496 errichtet, besitzt eben-

|| 16 Auf die Typologie und Genese von Schartenformen, einem zentralen Thema der Burgenforschung, kann in diesem Rahmen nur oberflächlichst eingegangen werden. Weiterführend vgl. etwa Joachim ZEUNE, Schießscharten, in: DERS. (Hg.), ‚Dem Feind zum Trutz‘. Wehrelemente an mittelalterlichen Burgen, Braubach 2015, S. 159–173; zuletzt DERS., Schießscharte, Schießnische, Schießkammer, in: Burgen und Schlösser. Zeitschrift für Burgenforschung und Denkmalpflege 60,1 (2019), S. 48–51; sowie die Arbeiten von Rüdiger BERNGES, zuletzt: Schießscharten-Enzyklopädie, Bd. 1, Wuppertal 2018. 17 Dendrochronologische Holzaltersbestimmung, durchgeführt 2009 durch das Büro für Dendrochronologie und Baudenkmalpflege Otto Gschwind, Planegg. Die angegebenen Jahreszahlen beziehen sich auf fünf Beprobungen (Proben-Nrn. R2, 10–12, 14) der Deckenbalken oberhalb des 3. Obergeschosses. Der Bericht ist bei der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen (BSV), Schloss Nymphenburg, München, einsehbar. 18 Jahreszahl 1496 inschriftlich am Daliborka-Turm, dessen Errichtung derer des jüngeren Mihulka-Turms vorausging. DURDIK (Anm. 14), S. 42, mit Verweis auf DURDIK u. CHOTEBOR (Anm. 1).

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falls vier Hauptgeschosse bei einem Außendurchmesser von gut 20 m, einen Innenraumdurchmesser von ca. 10 m und entsprechender Mauerstärke. Die neuartigen Türme für Einsatz und Abwehr von Artillerie stellten eine Hochtechnologieversion möglicher Baustrategien dar, die sich nicht jedermann leisten konnte, und waren damit auch soziales wie politisches Distinktionsmerkmal. Das heißt, ihre Bauform ist nicht nur Indikator von Innovation und technischer Fortschrittlichkeit, sondern kann auf einer zweiten Bedeutungsebene als Herrschaftsgestus gelesen werden. Speziell für die kontextbezogene Analyse, wie sie hier anstrebt wird, ergibt sich im Vergleich beider Baumaßnahmen ein zusätzlicher Vorteil, denn die Bauaufgabe Wehrbau ist nicht nur wegen der leichten Erkennbarkeit besonders gut als Indikator von Innovations- und Transferprozessen geeignet; es kommt neben der offensichtlichen funktionalen Bedeutungsebene eine symbolische hinzu. So bietet sich eine Orientierung an der Semiotik von Umberto ECO an, der die Begriffspaare funktional – symbolisch und Dekodierung – Konnotierung gegenüberstellt.19 Tendenziell gilt: Je höher der Status des Bauherrn, desto mehr Gewichtung bekommt der symbolische Bereich. Hierunter fallen dann Beobachtungen wie z. B., dass es Detailformen oder ganze Baukörper gibt, die zwar funktional dem Wehrbau zuzuordnen sind, darin jedoch den rein praktischen Zweck weit übersteigen. So sind diese Baukörper und deren Details aufwändiger gestaltet, als es die bloße Funktionalität erforderte oder haben sogar gar keine. D. h. es handelt sich um Zierformen, die offensichtlich auf symbolische Wirkung abzielten und damit auf einen spezifischen ideengeschichtlichen Hintergrund verweisen. Augenfällig wird dies neben den Gesimsabschlüssen an Mihulka- und Eggenbergturm besonders bei letzterem mit der konstruktiv anspruchsvollen steinernen Wendeltreppe innerhalb der Mauer (vgl. Abb. 4), den steinmetzmäßig gearbeiteten, gestäbten Umrahmungen der Schartenöffnungen und dem Tympanonfeld des Eingangs, welches ein figürliches Relief ziert.

2 Der Hofbaumeister als Schlüsselfigur: Die Modernisierung der Ämterstruktur Es liegt die Frage nahe, auf welche Vorgänge die Umsetzung der beschriebenen Innovationen zurückgeführt werden kann, und ob konkrete Ideenvermittler auszumachen sind. In Burghausen wie in Prag wird mit dem Amt des leitenden Baumeis-

|| 19 Vgl. Umberto ECO u. Jürgen TRABANT, Einführung in die Semiotik, 5. Aufl. München 1985, S. 315–317.

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Abb. 4: Schnitt durch den Geschützturm auf dem Eggenberg bei der Burg Burghausen. Aus: Gustav VON BEZOLD, Berthold RIEHL u. Georg HAGER, Die Kunstdenkmale des Regierungsbezirks Oberbayern, Bd. 8: Bezirksamt Altötting, München 1905, S. 2496.

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ters, der sozusagen als ‚Mastermind‘ alle Aufgabenfelder koordinierte, eine neuartige Schlüsselfigur greifbar. In Prag war das ab 1489 unter König Wladislaw Benedikt Ried (um 1454–1531/34);20 ihm ging in Burghausen Ulrich Pesnitzer (um 1450–1521) unter Herzog Georg voraus,21 für den spätestens 1486 mit dessen Bestallungsurkunde22 eine entsprechende Zuständigkeit belegt ist. Detailliert werden darin die Tätigkeitsfelder Pesnitzers festgehalten: Als Zeugmeister war er zum einen Vorgesetzter aller herzoglichen Büchsenmeister und verantwortlich für die Anschaffung und Wartung des Kriegsgeräts im Herzogtum, wie es z. B. auch Pesnitzers Berichte zu Inspektionsreisen23 oder seine Autorschaft für das Landshuter Zeughausinventar dokumentieren.24 Zum anderen war er als Hofbaumeister die oberste Instanz für alle landesherrlichen Baumaßnahmen mit Schwerpunkt Wehrbau. Bei der Tätigkeit Pesnitzers lag die Gewichtung also von Anfang an eindeutig auf dem Militärischen. Hierfür spielte sein familiärer Hintergrund eine prägende Rolle: Er entstammte dem Ritteradel, Stammsitz war im namengebenden Ort Pesnica, dt. Pösnitzhofen in der Gegend von Maribor, dt. Marburg im heutigen Slowenien, also in jener damals unruhigen Grenzregion im Osten des Reichs. Im Falle Rieds wird seine Tätigkeit im Wehrbau überstrahlt von seinen außergewöhnlichen Leistungen in der Wölbkunst, die besonders die Aufmerksamkeit der Kunstgeschichte auf sich gezogen hat. Die Basis für Rieds Erfolg bildete definitiv eine steinmetzmäßige Ausbildung, womöglich in Fortsetzung einer Familientradition: Darauf weist ungeachtet der unterschiedlichen Thesen zur Herkunft Rieds25 insbesondere die hochklassige Ausarbeitung und Formgebung der Gewölberippen || 20 Vgl. zu Ried noch immer grundlegend FEHR (Anm. 1); vgl. a. die Schriften Norbert NUSSBAUMs mit Fokus auf Rieds Gewölbefigurationen, z. B. DERS., Jörg LAUTERBACH u. Thomas BAUER, Benedikt Rieds Schlingrippengewölbe auf der Prager Burg, in: In situ 7 (2015), S. 59–76 ; Franz BISCHOFF, Benedikt Ried. Forschungsstand und Forschungsproblematik, in: Evelin WETTER (Hg.), Die Länder der böhmischen Krone und ihre Nachbarn zur Zeit der Jagiellonenkönige (1471–1526) (Studia Jagellonica Lipsiensia 2), Ostfildern 2004, S. 85–98 sowie zuletzt Magdalena MÄRZ, Benedikt Ried, in: Allgemeines Künstlerlexikon, Bd. 98 (2017), S. 478–480. 21 Vgl. zu Pesnitzer Stephan HOPPE, Baumeister von Adel. Ulrich Pesnitzer und Hans Jakob von Ettlingen als Vertreter einer neuartigen Berufskonstellation im späten 15. Jahrhundert, in: Astrid LANG u. Julian JACHMANN (Hgg.): Aufmaß und Diskurs. Festschrift für Norbert Nußbaum zum 60. Geburtstag, Berlin 2013, S. 151–186. 22 Bereits 1482 sind Arbeiten Pesnitzers unter Herzog Georg nachweisbar, 1484 ist eine Übernahme der Zuständigkeit für die Arbeiten in Burghausen anzusetzen. Vgl. Johann DORNER, Herzogin Hedwig und ihr Hofstaat. Das Alltagsleben auf der Burg Burghausen nach Originalquellen des 15. Jahrhunderts (Burghausener Geschichtsblätter 53), Burghausen 2002, hier S. 74–76, mit Edition der Bestallungsurkunde von 1486 auf S. 198. 23 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Neuburger Kopialbücher, Nr. 18, fol. 290r–317r. 24 Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 130; Digitalisat: https://digi.ub.uniheidelberg.de/diglit/cpg130/0007 (31.07.2019). 25 Vgl. Anm. 20.

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hin, die auf ein mehr als eine Generation umfassendes, aufeinander aufbauendes Wissen schließen lässt. Aber nicht nur die Befestigungswerke auf dem Hradschin mit den Geschütztürmen, sondern auch weitere Anlagen in Böhmen, wie die Burgen von Pürglitz, Schwihau und Rabi, die Ried zugeordnet werden, zeigen, dass er auch im Wehrbau auf Spezialwissen zurückgreifen und den aktuellen Anforderungen genügen konnte. Es ist anzunehmen, dass Ried das Wissen um diese seinem ursprünglichen und traditionelleren Wissensschatz im Gewölbebau in Reaktion auf zeitgenössische Entwicklungen sekundär hinzugefügt hat. Dieser Aspekt ist in der Erforschung von Rieds Werdegang und Oeuvre noch immer ein weitgehendes Desiderat. Zwar waren also die Schwerpunkte der persönlichen Expertisen Pesnitzers und Rieds unterschiedlich gelagert, was auf den jeweiligen Werdegang, Ausbildung und familiären Hintergrund zurückzuführen ist. Doch waren beide durch ihr Spezialwissen jeweils auf ihre Weise für ihre Aufgabe prädestiniert. Der entscheidende Aspekt jedoch, der sie von ihren Vorgängern abhebt, war das neu eingeführte Amt des Hofbaumeisters mit landesweiter Zuständigkeit. Dadurch waren sie in der Position eines übergeordneten Bauleiters, der in seinem Aufgabenfeld autonom agieren konnte und dem alle Teilbereiche der jeweiligen Projekte unterstellt waren. Eine Hauptaufgabe und -Leistung lag also in der Koordination der einzelnen Arbeitsabschnitte. Diese Entwicklung ist ein zeittypisches Phänomen und symptomatisch für das ausgehende 15. Jahrhundert, das eine überregionale Dynamik im Bauwesen kennzeichnet. So finden sich Parallelen an verschiedenen mitteleuropäischen Fürstenhöfen, bspw. in der Person Hans Jakob von Ettlingens (um 1440 (?)–1507), der unter den Landgrafen von Hessen in etwa zur gleichen Zeit mit ähnlichen Aufgaben mit Schwerpunkt im Wehrbau betraut war.26 Pesnitzer in mehrerlei Hinsicht nahe stand außerdem Jörg Kölderer (um 1465/70–1540), der ab 1494 zunächst Hofmaler und ab 1518 Hofbaumeister unter Kaiser Maximilian I. war.27 In der Zusammenschau ist die Einführung des Hofbaumeisteramts eine Folge der allgemeinen zu beobachtenden Modernisierung des Herrschaftsapparats und der Diversifizierung der Ämterstruktur in größeren fürstlichen Territorien. Auch und vor allem im Bauwesen mussten sich die finanziellen und zeitlichen Vorteile der

|| 26 Zu Ettlingen vgl. grundlegend Reinhard GUTBIER, Der landgräfliche Hofbaumeister Hans Jakob Ettlingen. Eine Studien zum herrschaftlichen Wehr- und Wohnbau des ausgehenden 15. Jahrhunderts, 2 Bde. (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 24), Darmstadt 1973 sowie zuletzt HOPPE (Anm. 21). 27 Vgl. zu Kölderer Andrea SCHEICHL, Jörg Kölderer. Innsbrucker Hofmaler und Baumeister in Tirol zur Zeit Maximilians I. und Ferdinands I., unveröff. Magisterarbeit Wien 1992; DIES., Wer war(en) Jörg Kölderer? Innsbrucker Hofmaler und Tiroler Baumeister, in: Eva MICHEL u. Marie-Louise STERNATH (Hgg.), Kaiser Maximilian I. und die Kunst der Dürerzeit (Ausstellungskatalog Wien 2012/13), München 2012, S. 81–89.

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Neustrukturierungen bemerkbar machen. Ein Wegbereiter für Mitteleuropa war hier vermutlich der burgundische Hof, wo Herzog Philipp der Gute (1396–1467) schon 1431 eine zentralisierte Autorisierung aller Bauprojekte in seinem Territorium eingeführt hatte. Eine Generation später reformierte sein Sohn Karl der Kühne (1433–1477) 1472 die Organisation nochmals, zur maximalen Kontrolle über Vorgänge, Ausgaben und Archivierung.28 Mit dem übergeordneten, leitenden Baumeister, im Falle Burgunds dem sog. Controlleur,29 liegt somit eine zusätzliche spezielle Form eines Innovationsindikators vor, die hierin gewissermaßen ihre Personifikation findet. Zwar zeichnet sich mittlerweile ab, dass die Bewertung von Burgund als alleinigem Wegbereiter betreffend Modernisierung von Ämterstrukturen im Reich differenzierter als bisher zu betrachten ist.30 Dennoch bleibt im vorliegenden Fall für Bayern die Annahme einer Beeinflussung seitens Burgund besonders naheliegend bzw. plausibel: Schon aufgrund der dynastischen Verbindungen – die Mutter Philipps des Guten war z. B. Margarete von Bayern (1363–1424) – ist von engem und kontinuierlichem Austausch auszugehen. Direkter Kontakt lässt sich bei diversen Anlässen nachweisen, wie z. B. der 10tägige Aufenthalt Herzog Philipps in Landshut im Sommer 1454 nach dem Reichstag in Regensburg.31 Noch bessere Gelegenheit zur direkten Interaktion stellen damals die immens aufwändigen Fürstenhochzeiten dar, zu denen die o. g. legendäre Landshuter Hochzeit 1475 von Georg und Hedwig zählt: Diese standen schon dem Prinzip nach unter dem Motto potentieller Bündnisschlüsse und ließen Vertreter der meisten einflussreichen Höfe Europas an einem Ort zusammenkommen.32 || 28 Merlijn HURX, Keeping in Control. The Modernisation of Architectural Planning by Northern European Courts in the Late Middle Ages, in: Birgitte BØGGILD JOHANNSEN u. Konrad OTTENHEYM (Hgg.), Beyond Scylla and Charybdis. European courts and court residences outside Habsburg and Valois/Bourbon territories 1500–1700. Papers from the PALATIUM conference in Copenhagen and Hillerød 30 April to 2 May 2012 (Publications from the National Museum, Studies in archaeology & history 24), Odense, Copenhagen 2015, S. 292–308. 29 HURX (Anm. 28), S. 297 sowie darin Abb. 1, S. 292. 30 Vgl. etwa Malte PRIETZEL, Imitation, Inspiration und Desinteresse. Die Auseinandersetzung Maximilians I. mit den politischen Traditionen Burgunds, in: Klaus HERBERS u. Nikolas JASPERT (Hgg.), „Das kommt mir spanisch vor.“ Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1), Münster 2004, S. 87–106. 31 Vgl. etwa Werner PARAVICINI, Philippe le Bon en Allemagne (1454), in: Revue belge de philologie et d’histoire 75 (1997), S. 967–1018. 32 Die Funktion als Motor des internationalen Austauschs verdeutlicht etwa der Vergleich der Fürstenhochzeiten von Landshut und Brügge bei Karl-Heinz SPIEß, der daraus zwei überregional gültige Modelle ableitet: Das Modell Landshut als Idealversion einer Fürstenhochzeit innerhalb des Reichs, das Modell Brügge außerhalb. Karl-Heinz SPIEß, Höfische Feste im Europa des 15. Jahrhunderts; in: Michael BORGOLTE (Hg.), Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs: Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik (Europa im Mittelalter 1), Berlin 2001, S. 339–358, hier S. 350 f.

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3 Reformkonzilien als frühe Katalysatoren für bereichs- und grenzübergreifende Modernisierungsbestrebungen im Reich Frühe Schlüsselereignisse und Katalysatoren für bereichs- und grenzübergreifende Modernisierungsbestrebungen im Reich waren die Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1439). Den Streit vornehmlich geistlicher Machthaber um die Vorherrschaft und die Auflösung des Schismas zugrunde gelegt, erwuchsen aus den Konzilien, insbesondere wenn als politische Versammlungen und europäische Ereignisse verstanden,33 auch Neuerungen für die Herrschaftsführung der in das Geschehen eingebundenen weltlichen Herrschaftsträger. So profitierten diese u. a., indem sie das Erfolgsmodell der Kirchenreformer aufgriffen, deren Interessen von in römischem Recht geschulten Akademikern vertreten wurden. Viele der Reformgedanken im Reich im 15. Jahrhundert zeigen sich in auffälliger Weise in der Nähe einer „Diffusion des Humanismus“, wie es Johannes HELMRATH nennt.34 In Folge der Konzilien wurden an italienischen Universitäten adäquat ausgebildete Gelehrte zu gesuchten Beratern, und die fürstlichen Räte setzten sich auch nördlich der Alpen mehr und mehr aus Akademikern zusammen. In diesem Licht stehen entsprechend die nachfolgenden Universitätsgründungen:35 Man war dadurch nicht mehr auf den ‚Import‘ von Gelehrten angewiesen und konnte sich nach und nach einen eigenen Stab aus einheimischem Personal schaffen. Ein gutes Beispiel ist die Gründung der Universität Ingolstadt 1472, die Ludwig der Reiche von Bayern-Landshut mit Unterstützung von Enea Silvio Piccolomini bzw. Papst Pius II. (1405–1464) schon 1458 veranlasste,36 und die von Georg dem Reichen 1494 noch || 33 Gabriela SIGNORI u. Birgit STUDT (Hgg.): Das Konstanzer Konzil als europäisches Ereignis. Begegnungen, Medien, Rituale (Vorträge und Forschungen 79), Stuttgart 2014. 34 Johannes HELMRATH, Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: DERS. (Hg.), Studien zur nationalen. Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, S. 9–29. 35 Vgl. Peter MORAW, Gesammelte Beiträge zur deutschen und europäischen Universitätsgeschichte. Strukturen – Personen – Entwicklungen (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 31), Leiden 2008. 36 Maximilian SCHUH, Aneignungen des Humanismus. Institutionelle und individuelle Praktiken an der Universität Ingolstadt im 15. Jahrhundert (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 47), Leiden 2013; zur Rolle Piccolominis vgl. v. a. die Schriften Claudia MÄRTLS, etwa: Weltläufige Prälaten, wankelmütige Fürsten, wohlhabende Städte. Der Humanist Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II., 1405–1464) und Bayern, in: Hans Michael KÖRNER u. Florian SCHULLER (Hgg.), Bayern und Italien. Kontinuität und Wandel ihrer traditionellen Bindungen, Augsburg 2010, S. 103–123; sowie DIES., Herzog Ludwig der Reiche, Dr. Martin Mair und Eneas Silvius Piccolomini, in: Franz NIEHOFF (Hg.), Das Goldene Jahrhundert der Reichen Herzöge. Publikation zur Ausstellung der Museen der Stadt Landshut vom 13. November 2014 bis zum 1. März 2015 (Schriften aus den Museen der Stadt Landshut 34), Landshut 2014, S. 40–55.

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um das Georgianum erweitert wurde.37 Es kann davon ausgegangen werden, dass die Modernisierungen des Herrschaftsapparats auch das fürstliche Bauwesen miteinschlossen und folglich in den zeitgenössischen fürstlichen Bauprojekten dingliche Manifestation fanden. Übertragen auf den Vergleich von Burghausen und Prag lassen sich konkrete Beispiele und Vorgänge beobachten, die Neustrukturierungen im Bauwesen geschuldet sind:

4 Praktische Folgen im Bauwesen: Modularisierung und Prozessoptimierung Eine praktische Folge war, dass der übergeordnete Baumeister Teilaufgaben innerhalb eines Ausbauprojekts an ihm unterstellte Werkmeister, sozusagen Subunternehmer, vergab. Das ermöglichte die gleichzeitige Realisierung verschiedener Bauabschnitte, d. h. es konnte parallel im Wehr-, Wohn- und Sakralbereich im Rahmen eines übergreifenden Konzepts gearbeitet werden. Das liefert zugleich eine praktische Erklärung für den nun auffälligen Stilpluralismus innerhalb einer zusammenhängenden Bauphase, der so symptomatisch für Großbauprojekte wie in Prag und Burghausen in ihrer Entstehungszeit des ausgehenden 15. Jahrhunderts ist. Dieses Komplexitäts-Phänomen mag mit ein Grund dafür sein, warum bisher der Fokus der Kunstgeschichte eher jeweils auf Einzelabschnitten der Bauwerke lag, so dass diese zwar detailliert analysiert wurden, die Inbezugsetzung mit der Gesamtanlage und dem weitergefassten Kontext jedoch größtenteils unterblieb. Außerdem erklärt sich so ebenfalls aus einer pragmatischen Perspektive, weshalb bei den Bauprojekten auf einmal Elemente, die bisher nur für einen speziellen Bereich typisch waren, nun bereichsübergreifend vertreten sind. Da dieselben Werkmeister als ausführende Kräfte nun parallel in Wehr-, Wohn- oder Sakralbau tätig waren, kam es zu Überschneidungen: Etwa tauchten bisher typischerweise im Sakralbau verwendete Elemente der Gewölbefiguration nun im Wohnbereich auf – in Burghausen finden sich bspw. die markanten Rippenverhakungen der 1489 geweihten Hedwigs- bzw. äußeren Burgkapelle im Gewölbe des repräsentativen Erkers am Tor zum ersten Burghof wieder – oder es lassen sich Parallelen in Details formaler Gestaltung von Wohn- und Wehrbauten beobachten. Ausgehend von der praxisbezogenen Analyse sei für dieses Phänomen hier der Begriff der Modularisierung vorgeschlagen.

|| 37 Zum Georgianum vgl. zuletzt STADTMUSEUM INGOLSTADT (Hg.), Georgianum. Ein Ingolstädter Baudokument im Strom der Zeit, Begleitband zur Sonderausstellung 25. November 2018 bis 10. März 2019, Ingolstadt 2018.

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Abb. 5: Links: Gewölbe mit romanisierenden Formen im EG Fürstenbau / Palas der Kernburg Burghausen, inschriftliche Datierung 1483 im 1. OG (bei paralleler Raumanordnung in allen Geschossen). Rechts: Gewölbe mit mehrdimensional gebogenen Rippen, Verhakungen und asymmetrischer Linienführung in der Hedwigs- bzw. äußeren Burgkapelle Burghausen, geweiht 1489. Links: Foto: Magdalena März. Rechts: Foto: Stephan Hoppe.

5 Übergeordnete programmatische Aspekte und die Frage nach dem Zielpublikum In der Dimensionierung der verglichenen Bauprojekte – angefangen bei den im Bau befindlichen Großbaustellen bis hin zur Wirkung der Gesamtanlagen als Ergebnis – lässt sich eine Tendenz zur Monumentalisierung beobachten. In Verbindung mit dem verstärkten Konzeptdenken im Bauen speziell bei Großprojekten evoziert das die Frage nach programmatischen Aspekten in dieser Entwicklung. Dies deutet ein Zielpublikum an, das sich in zwei Gruppen unterteilen lässt: Ein ausgewähltes Publikum mit Zutritt zu den exklusiveren Arealen der Anlagen und eine größere, allgemeinere Öffentlichkeit. Dabei liegt es gerade bei letzterer besonders nahe, einen Bezug zur Politik nach dem Konzept der politischen Architektur38 herzustellen. Um diese Überlegung weiterverfolgen zu können, ist zunächst zu klären, ob die

|| 38 Vgl. Martin WARNKE (Hg.), Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute. Repräsentation und Gemeinschaft, Köln 1984; darin insb. die Einführung WARNKEs und Stanislaus VON MOOS, Der Palast als Festung. Rom und Bologna unter Papst Julius II., S. 106–156; sowie Klaus VON BEME, Politische Ikonologie der Architektur, in: DERS. u. Hermann HIPP (Hgg.), Architektur als politische Kultur. Philosophia practica, Berlin 1996, S. 19–34.

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Großbauprojekte von Zeitgenossen überhaupt als solche wahrgenommen wurden. Tatsächlich belegt die zeitgenössische Chronistik für Burghausen, dass nicht nur das Ergebnis, sondern bereits das im Bau befindliche Projekt Aufsehen erregte – was offensichtlich beabsichtigt war, wie es die Beschreibung der Bauarbeiten an der Burg in Burghausen in Veit Arnpecks ‚Chronicon Bajoariae‘ (entstanden 1491–1495) dokumentiert: In dem obgenannten jar [1488] liess herzog Jörg sein geschlos Burkhawsen ummauren und verseehen mit großen dicken mauren und het allerlay maurer und arbaiter, auf ainen tag wol vier tausent oder mer, ain lange zeit und verpauet wol hundert tausent gulden.39

Dass die angegebenen Zahlen auf keinen Fall realistisch sind, macht diese Stelle im Speziellen interessant, denn sie belegt bewusste Übertreibung und entsprechende Aussageabsicht. In dieses Bild fügt sich das 1488 verfasste Schreiben Georg Altdorfers, Bischof von Chiemsee, an Hippolyt d’Este, Erzbischof von Gran; die Wortwahl der Beschreibung der Bauarbeiten an der Burg zu Burghausen scheint vor diesem Hintergrund kaum zufällig getroffen: Illustris dux Georgius Bavarie incepit magnificam ac sumptuosam structuram pro municione castri Burchhausen.40 Piccolomini beschreibt die Anlage in ihrer Gestalt noch zu Lebzeiten Herzog Georgs Vater Ludwig – deren persönlicher Kontakt bei dieser Gelegenheit offenbar wird – bereits als eine in ganz Deutschland denkwürdige Burg.41 Umso nachvollziehbarer ist dann die Assoziation jüngerer Chronisten der ausgebauten Burg als eine Stadt über der Stadt.42 Auch Piccolominis Pienza-Projekt könnte dem

|| 39 Veit Arnpeck. Sämtliche Chroniken, hrsg. v. Georg LEIDINGER (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte NF 3), München 1915, S. 386, Z. 25 (Latein) und S. 637, Z. 25 (Deutsch). 40 Zitat nach Gustav VON BEZOLD, Berthold RIEHL u. Georg HAGER, Die Kunstdenkmale des Regierungsbezirks Oberbayern, Bd. 8: Bezirksamt Altötting, München 1905, S. 2449. 41 Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, hrsg. v. Rudolf WOLKAN, Bd. 1: Briefe als Bischof von Siena (23. Sept. 1450–1. Juni 1454) (Fontes rerum Austriacarum 2,68), Wien 1918, S. 503. 42 Angelus Rumpler, De Gestis in Bavaria libri VI. Ab Excessu Georgii Divitis Bav. Inferioris Ducis ad annum usque MDVI, in: Rerum Boicarum scriptores nusquam antehac editi, hrsg. v. Felix Oefele, Augsburg 1763, Teilbd. 1, S. 87–147, hier S. 128: Sed quid de castro [Burghausen] scripserim. Crediderim toto pene orbe vix similem inveniri. Accedenti non castrum, sed oppidum videri solet, multae domus mecanicis artibus dicatae, intra duos muros cernuntur. Nam habet, nisi fallor, exteriorem murum & interiorem. Arces ibi cerneres amplissimas, & Turres eminentes, quae & propugnaculis & tormentis sufficienter sunt munitae. = „Was ich aber über die Burg schreibe, das findet sich, glaube ich, beinahe auf dem ganzen Erdkreis wohl kaum in ähnlicher Weise. Dem, der dorthin kommt, erscheint es gewöhnlich nicht wie eine Burg, sondern wie eine Stadt, man sieht innerhalb zweier Mauern viele Gebäude, die den technischen Fertigkeiten gewidmet sind. Denn sie [die Burg] hat, wenn ich mich nicht täusche, eine äußere und eine innere Mauer. Man würde dort besonders ausgedehnte Bollwerke bemerken, und hervorragende Türme, die ausreichend mit Schutzwehr und Geschützen verschanzt sind.“ Die Verfasserin dankt Emanuel

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Bauherren oder zumindest den führenden Köpfen in seinem Umfeld geläufig gewesen sein. Ob und welche Ideale hier baulich Verkörperung fanden, gilt es differenziert zu betrachten.43 Davon unabhängig ist für vorliegende Gegenüberstellung jedoch von besonderem Interesse, dass für Pienza als Großbauprojekt eine zeitgenössische Aufmerksamkeit belegt ist und das Projekt im humanistischen Diskurs auf höchster Ebene thematisiert wurde,44 worin sich dessen ideelle Aussagekraft bestätigt. Ein anderes Beispiel, der Hradschin in Prag war als königliche und kaiserliche Residenz seit jeher Herrschaftssymbol und Repräsentationsort von höchstem Rang. So wurde die Architektur der Prager Burg unter Karl IV. (1316–1378) bereits als Verkörperung einer „Staatsidee“ interpretiert.45 Für die hier besprochenen Vorgänge der Modernisierung in der Generation Wladislaws bzw. Herzog Georgs erscheint in Anlehnung an MORAW die Bezeichnung als kulturelle Verdichtung passender. Dabei gilt es die politisch-administrativen Modernisierungen zu unterscheiden von jenen in den Künsten, wo sie baulich in der Tendenz zur monumentalen Selbstdarstellung Ausdruck fanden. Für die Frage nach dem programmatischen Aspekt der Vergleichsprojekte liefert erneut der Wehrbau als Rahmenhandlung weitere Ansatzpunkte: Was sollte durch die ausgebauten, wehrhaften Anlagen geschützt und verkörpert werden? Neben der Symbolisierung landesherrlicher Macht und der Schutzfunktion gegen Bedrohungen von außen bezieht sich der Schutz auch auf Werte im Inneren, von materieller wie immaterieller Art. Offensichtlich wird das in Burghausen als Aufbewahrungsort des Staatsschatzes, der, passend zum Namenszusatz der Reichen Herzöge,46 außergewöhnlich umfangreich war.47 Dass diesem Schatz auch ein immaterieller Wert anhaftete, zeigen herausragende Stücke wie das sog. Goldene Rössl,48 das ursprüng-

|| LECHENMAYR, Kommission für bayerische Landesgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, herzlich für die Übersetzung. 43 Besonders hinzuweisen ist hier auf die Erörterung von Christine SMITH, Architecture in the Culture of Early Humanism. Ethics, Aesthetics, and Eloquence 1400–1470, New York 1992, hier insb. S. 98–132. SMITH stuft darin die vom Großteil der Literatur zum Thema vertretene Auffassung von Pienza als Idealstadt als problematisch ein. Stattdessen wird eine Ausrichtung Pienzas am Konzept von „Varietas“ dargelegt. 44 Vgl. SMITH (Anm. 43), S. 98–132. 45 NĚMEC (Anm. 1), hier insb. die Kap. Die Prager Burg Materialisierung der luxemburgischen Herrschaftsidee, S. 73–86 und Fazit, S. 321–325. 46 Vgl. Walter ZIEGLER, Die Bedeutung des Beinamens ‚reich‘ der Landshuter Herzöge Heinrich, Ludwig und Georg, in: Pankraz FRIED (Hg.), Festschrift für Andreas Kraus zum 60. Geburtstag (Münchener Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte 10), Kallmünz 1982, S. 161–181. 47 Michael CRAMER-FÜRTIG u. Reinhard STAUBER, Der Burghauser Schatz der Reichen Herzöge. Bemerkungen zur Quellenlage und Probleme der Größenbestimmung, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 114/115 (1988/89), S. 5–27. 48 Das Goldene Rössl wurde zusammen mit weiteren Kleinodien aus dem Erbe Ludwigs des Bärtigen von Bayern-Ingolstadt (1368–1447) bis 1509 in Burghausen verwahrt. Renate EIKELMANN,

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lich Teil des französischen Kronschatzes war. Es verwundert daher nicht, dass die Ausbaumaßnahmen Georgs auch eine zusätzliche neue Schatzkammer (dat. 1484) miteinschlossen. Ein immaterieller Schatz der in Burghausen sicher bewahrt werden sollte, kann letztendlich auch in der Person Hedwigs selbst gesehen werden,49 passend zur traditionellen Nutzung der Burg als Wohnsitz der Fürstinnen und Witwen. Und es finden sich wiederum Parallelen in Prag bzw. Böhmen: Zwar war der Hradschin nicht Aufbewahrungsort eines Staatsschatzes – diese Funktion war auf die königliche Burg Karlstein ausgelagert, wo sich ehemals sogar die Reichsinsignien befanden, bevor sie nach Nürnberg vor den Hussiten in Sicherheit gebracht worden waren. Verkörpert durch den Veitsdom mit seiner dynastischen Grablege und dem Grab des Hl. Wenzels wurde auf dem Burgberg in Prag aber ebenfalls ein Heil(ig)tum von anderem aber mindestens ebenso hohem Wert bewahrt. Übergeordnet kann in den programmatischen Aspekten auch eine neue Orientierung von Herrscheridealen nach antikem Vorbild gesehen werden. Deren zunehmende Kenntnis kann am bayerischen wie auch am böhmischen Hof vorausgesetzt werden – der Einfluss Piccolominis ist dabei nur ein Aspekt unter vielen, der sich im Umfeld des bayerischen Hof z. B. literarisch in Form des ‚Pentalogus‘ (‚Fünfergespräch‘) nach dem Konzept eines Fürstenspiegels nachvollziehen lässt.50 Dazu gehörte auf der propagandistischen Ebene eine Sicherung der Herrschaft über Behauptungen neuartiger Tugenden; Jan-Dirk MÜLLER hat die Zusammenhänge mit Grundideen des Humanismus für den Hof Friedrichs I. des Siegreichen (1425–1476) in Heidelberg herausgearbeitet.51 Auf der praktischen Ebene geht es um eine Siche-

|| Zur Geschichte des Marienbildes, genannt Goldenes Rößl, in: Reinhold BAUMSTARK (Hg.), Das goldene Rössl. Ein Meisterwerk der Pariser Hofkunst um 1400, München 1995, S. 52–58, hier S. 54. 49 Vgl. Pauline STAFFORD, Queens and Treasure in the Early Middle Ages, in: Elisabeth TYLER (Hg.), Treasure in the Medieval West, Woodbridge 2000, S. 61–82, hier S. 64: „Queens and princesses of marriage were not only accompagnied by and exchanged with treasure, but were treasure in themselves.“ 50 Piccolomini geht in dieser Schrift wörtlich auf die Magnifizenz als Herrschertugend ein, entsprechend der größtmöglichen öffentlichen Demonstration von Macht durch inszenierte Herrlichkeit. Die Ursprünge liegen hier in der Rezeption des Aristoteles, der die Magnifizenz als Herrschertugend in der ‚Nikomachischen Ethik‘ beschreibt, auf die sich Piccolomini im ‚Pentalogus‘ bezieht. Die imaginäre Gesprächsrunde bilden neben Piccolomini selbst Kaiser Friedrich III. (1415–1493), Bischof Silvester von Chiemsee († 1453), Bischof Nicodemus della Scala von Freising († 1443) und der Kanzler Kaspar Schlick (1396–1449), das Werk entstand also im direkten Umfeld des niederbayerischen Hofes, so dass die Kenntnis der Thematik auch für den engeren Kreis des Rates und der Herzöge angenommen werden kann. Vgl. MÄRZ (Anm. 2), S. 105. Auf eine detaillierte Erörterung mit Quellenbeispielen muss aus Platzgründen an dieser Stelle verzichtet werden. Zum ‚Pentalogus‘ vgl. u. a. Kristina WENGORZ, Schreiben für den Hof als Weg in den Hof. Der ‚Pentalogus‘ des Enea Silvio Piccolomini (1443), Frankfurt a. M. 2013, S. 296. 51 Jan-Dirk MÜLLER, Der siegreiche Fürst im Entwurf des Gelehrten. Zu den Anfängen eines höfischen Humanismus in Heidelberg, in: August BUCK (Hg.), Höfischer Humanismus (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 16), Weinheim 1989, S. 17–50, hier S. 35: „Die Versuche vor

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rung organisatorischer Belange. Dadurch war sowohl für Herrschaftslegitimation auf programmatischer Ebene als auch im praktischen Sinne für den Erhalt der Machtbasis gesorgt. Begründet auf Reformgedanken und angeregt durch humanistische Diskurse, waren den Fürsten damit neue Möglichkeiten an die Hand gegeben, für ihre Herrschaft multimedial zu werben, und dabei ein möglichst breit gefächertes Publikum anzusprechen. In der Verknüpfung des Aufgreifens humanistisch geprägter Ideen mit Modernisierungen in der Herrschaftspraxis deutet sich an, dass beide Prozesse im Rahmen eines fürstlichen Territoriums in den Jahrzehnten vor 1500 mit derselben Gruppe von Ideengebern verbunden waren. Es ist mit der Wechselwirkung zwischen der Programmatik des ersten und der Pragmatik des zweiten Bereichs zu rechnen, womit sozusagen eine ‚Win-Win-Situation‘ entstand. Für die Kunst- und darin hier speziell die Architekturgeschichte bedeutet eine solche Sichtweise u. a., dass der Beginn der sog. Renaissance als heuristisches Konzept für bestimmte Innovationen früher anzusetzen wäre als nach der bisher gängigen Definition, die meist nach dem Aufkommen als typisch empfundener Stilformen gesucht hat. Von einem interdisziplinäreren Standpunkt aus betrachtet entspricht dies einem Plädoyer für eine vermehrt kulturgeschichtliche Herangehensweise, die nach Ideengebern und Konzepten fragt. Das bedeutet dabei nicht, materielle, dingliche Details außer Acht zu lassen, im Gegenteil sind diese, wie hier am Beispiel baulicher Manifestationen gezeigt, umso wichtigere Bausteine für die Rekonstruktion von Zusammenhängen und ihrer Funktion als visuelle Indikatoren ideeller Hintergründe.

|| allem der rheinischen Kurfürsten, den unfähigen Kaiser Friedrich III. zu ersetzen, haben in [Peter] Luders Perspektive zum Ziel, die Königsherrschaft allein auf ‚virtus‘ zu gründen. Unter dieser Prämisse ist die Entscheidung klar; der Rhetor – Luder – muß in öffentlicher Rede nur nachvollziehen, was das Land (‚patria‘), das Reich (‚Germania‘), ja selbst das Ausland dank [Kurfürst] Friedrichs Taten und Tugenden längst erkannt haben: er soll König sein. […] Man mag generell an der Wirksamkeit humanistischer Tugendpropaganda zweifeln. Unstreitig aber ließ sich angesichts der verfassungsrechtlichen Probleme der Pfalz ein Kernstück politischer Ethik: ‚Herrschaft qua Tugend‘ zum Ziel territorial- und reichspolitischen Handelns erklären.“

Julia Burkhardt

Alte Motive in neuen Kontexten Antikenbezüge und politische Repräsentation am Hof des ungarischen Königs Matthias ‚Corvinus‘ Hunyadi (1458–1490) Abstract: The Hungarian king Matthias ‘Corvinus’ Hunyadi (1443–1490) is known to be one of the most important late medieval patrons of art and literature. By supporting artists, scholars and writers from different countries, he made the royal court at Buda an internationally renowned center of culture and art. Commissioning pieces of art as a demonstration of erudition were useful means to represent the royal understanding of power. Even Matthias’s descent of a Transylvanian nobility, which political opponents had often abused, was interpreted in a particularly imaginative way: Italian humanists created the legend that the royal family was of ancient noble descent, namely of the ‘Corvini’ family. To this day, this reading reflects in Matthias’s cognomen ‘Corvinus’. Against this backdrop, the article discusses the significance of Matthias’s court as a center for cultural exchange and transfer. It focusses on the question of how references to ancient themes were used in the late medieval Hungarian kingdom as innovative tools of communication. Keywords: medieval Hungary, king Matthias Corvinus, royal court at Buda, renaissance, patronage of art and literature

Im September des Jahres 1471 schrieb der ungarische König Matthias Hunyadi dem italienischen Gelehrten Julius Pomponius Laetus (1428–1497) einen Brief. Mit blumigen Worten dankte er dem berühmten Humanisten für die Übersendung einiger Schreiben und Bücher. Allein der Gedanke an Pomponius und seine Gelehrtengemeinschaft, die später als „Accademia Romana“ bekannt werden sollte,1 verschaffe ihm, so der König, in den schweren Zeiten des Krieges Linderung, weshalb er sich – „wann immer Zeit dafür“ sei – mit „Vergnügen und Trost der Lektüre“ widme. Besonders angetan hatte es Matthias das Epos des römischen Dichters Silius Italicus

|| 1 Chiara CASSIANI u. Myriam CHIABÒ (Hgg.), Pomponio Leto e la prima Accademia Romana: giornata di studi, Roma, 2 dicembre 2005, Roma 2007. || Julia Burkhardt, Historisches Seminar, Universität Heidelberg, Grabengasse 3–5, D-69117 Heidelberg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-017

284 | Julia Burkhardt (ca. 25–102 n. Chr.) über den zweiten Punischen Krieg, zu dem Pomponius Laetus einen Kommentar verfasst hatte: Schon in unserer Jugendzeit hat uns Silius gefallen, und nun, da wir uns selbst im Krieg befinden, gefällt er uns umso mehr, weil Silius den Krieg besingt; und unter Berufung auf Silius können wir nicht in Abrede stellen, dass es das traurige Los von Königen ist, Kriege führen zu müssen, um häufiger Triumphe erleben zu können [...]. Ich begreife täglich, dass man keinen festen Frieden errichten kann, wenn nicht zuvor mit einem Krieg die Grundlagen für diesen Frieden geschaffen wurden.2

Sollte die Lektüre antiker Autoren also eine praktische Lebenshilfe für die alltägliche Politik bieten? Tatsächlich befand sich der ungarische König im Jahr 1471 gleich an mehreren Fronten im Krieg – im Norden Ungarns etwa im Kampf um die böhmische Krone, im Süden dagegen zur Abwehr der heranrückenden Osmanen.3 Dass Matthias Hunyadi in dieser Situation an einen italienischen Gelehrten schrieb und sich ausführlich mit dessen Lektürehinweisen befasste, ist außergewöhnlich und typisch zugleich: Außergewöhnlich, weil der enge Austausch von Herrschenden mit Gelehrten und Künstlern vor allem mit den großen Höfen Italiens assoziiert wird, mit den Häusern der Este, Gonzaga oder Sforza beispielsweise. Und typisch, weil sich Matthias ,Corvinus‘ Hunyadi (1443–1490), der von 1458 bis 1490 als König über

|| 2 Schreiben vom 13. September 1471, Nr. 532, in: Hunyadiak kora Magyarországon XI, hrsg. v. József Gróf TELEKI, Pest 1855, S. 454–455, hier S. 455: placuit namque et in juventa nostra Silius, et nunc, dum nos quoque bellis occupamur, placet eo magis, quod bella canat et ipse, eo tamen non obstante diffiteri nequimus, miseram esse Regum sortem, quod bella gerere coguntur, ut sepius suos habitura triumphos [...]. Hec vera sunt obviaque ex quotidiana jam adeo, ut non pax jam stabiliri valeat, nisi bello prius firma pacis erigantur fundamenta. Das Epos ‚Punica‘ des Silius Italicus war im 15. Jahrhundert nicht weit verbreitet. Wie Csaba CSAPODI dargelegt hat, ist es jedoch denkbar, dass eine Abschrift des Werkes über Poggio Bracciolini und dessen Handschriftenfunde in St. Gallen an Matthias’ Vater, Johannes Hunyadi, und somit nach Ungarn gelangte. Vgl. hierzu Csaba CSAPODI, Das Werk des Silius Italicus und Matthias Corvinus, in: Wolfgang MILDE u. Werner SCHUDER (Hgg.), De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken, Berlin 1988, S. 81–86. 3 S. aus der Fülle der Literatur zu Matthias Corvinus und seiner Außenpolitik besonders folgende grundlegende Studien: Antonín KALOUS, Matyáš Korvín (1443–1490). Uherský a český král [= Matthias Corvinus. Ungarischer und tschechischer König], České Budějovice 2009, bes. S. 167– 195; Jörg K. HOENSCH, Matthias Corvinus. Diplomat, Feldherr und Mäzen, Graz, Wien, Köln 1998, bes. S. 97–137; Karl NEHRING, Herrschaftstradition und Herrschaftslegitimität. Zur ungarischen Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Revue roumaine d’histoire 13 (1974), S. 463–471; Krzysztof BACZKOWSKI, Walka Jagiellonów z Maciejem Korwinem o koronę czeską w latach 1471–1479 [= Der Kampf der Jagiellonen mit Matthias Corvinus um die böhmische Krone in den Jahren 1471– 1479], Kraków 1980. Für einen Überblick s. neuerdings Julia BURKHARDT, Ostmitteleuropa als politische Region: Österreich, Ungarn und Böhmen im 15. Jahrhundert, in: Bernd SCHNEIDMÜLLER (Hg.), König Rudolf I. und der Aufstieg des Hauses Habsburg im Mittelalter, Darmstadt 2019, S. 393–410.

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Ungarn herrschte und als einer der bedeutendsten Mäzene des Spätmittelalters gilt, problemlos unter diese illustren Namen einreihen lässt.4 Durch die gezielte Förderung von Künstlern, Gelehrten und Schriftstellern aus ganz unterschiedlichen Ländern machte er den Königshof in Buda zu einem international renommierten Zentrum von Kunst und Kultur.5 Schon in den 1460er Jahren hatte Matthias Hunyadi ungarische Gesandte mit dem Ankauf von Büchern oder der Bestellung von Bildhauern und Malern in Italien beauftragt.6 Als in den 1470er Jahren die politischen Kontakte zu verschiedenen italienischen Fürstenfamilien intensiviert wurden, um familiäre und politische Allianzen zu schmieden, wirkte sich das auch auf die königliche Kulturförderung aus: Immer häufiger tauschte sich Matthias Hunyadi selbst mit humanistischen Gelehrten aus oder ließ sich von ungarischen Klerikern und Literaten beraten, die in Italien studiert hatten.7 So war

|| 4 Mäzenatentum und Kunstförderung des Matthias Corvinus haben in der geschichts-, literaturund kunstgeschichtswissenschaftlichen Forschung entsprechend viel Beachtung gefunden. Auch deshalb sei hier nur auf die grundlegendsten Arbeiten zu diesem Thema verwiesen: Jolán BALOGH, A művészet Mátyás király udvarában [= Die Kunst am Hof von König Matthias], 2 Bde. Budapest 1966; Jolán BALOGH, Die Anfänge der Renaissance in Ungarn. Matthias Corvinus und die Kunst (Forschungen und Berichte des Kunsthistorischen Institutes der Universität Graz 4), Graz 1975 (deutschsprachige Version des Textbandes von 1966); Matthias Corvinus und die Renaissance in Ungarn 1458–1541. Katalog zur Ausstellung auf der Schallaburg, 8. Mai–1. November 1982 (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums. N. F. 118), Wien 1982; Péter FARBAKY u. a. (Hgg.), Matthias Corvinus, the King. Tradition and Renewal in the Hungarian Royal Court 1458–1490. Exhibition Catalogue, Budapest History Museum, 19 March 2008–30 June 2008, Budapest 2008. Für methodische Überlegungen s. auch Johannes FRIED, Mäzenatentum und Kultur im Mittelalter, in: Ulrich OEVERMANN, Johannes SÜßMANN u. Christine TAUBER (Hgg.), Die Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersuchungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 20), Berlin 2007, S. 47–72 sowie Annette C. CREMER, Kulturelle Produktion im höfischen Kontext: Methoden und Leitfragen, in: Annette C. CREMER, Matthias MÜLLER u. Klaus PIETSCHMANN (Hgg.), Fürst und Fürstin als Künstler: herrschaftliches Künstlertum zwischen Habitus, Norm und Neigung (Schriften zur Residenzkultur 11), Berlin 2018, S. 28–46. 5 Einen Überblick bieten Paul SRODECKI, Humanistischer Wissens- und Kulturtransfer im östlichen Mitteleuropa und sein Einfluss auf das Diplomatiewesen an den Höfen der Jagiellonen und Hunyadis, in: Stephan FLEMMIG u. Norbert KERSKEN (Hgg.), Akteure mittelalterlicher Außenpolitik: Das Beispiel Ostmitteleuropas (Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung 35), Marburg 2017, S. 327–343 sowie Gyöngyi TÖRÖK, Die Ursprünge der jagiellonischen Renaissance in Ungarn während der Regierungszeit des Matthias Corvinus (1458–1490), in: Dietmar POPP u. Robert SUCKALE (Hgg.), Die Jagiellonen. Kunst und Kultur einer europäischen Dynastie an der Wende zur Neuzeit (Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums. Wissenschaftliche Beibände 21), Nürnberg 2002, S. 215–442. 6 BALOGH, Anfänge (Anm. 4), S. 1–52 sowie Louis A. WALDMAN, Commissioning Art in Florence for Matthias Corvinus: The Painter and Agent Alexander Formoser and His Sons, Jacopo and Raffaello del Tedesco, in: Péter FARBAKY u. Louis A. WALDMAN (Hgg.), Italy & Hungary. Humanism and art in the early Renaissance (Villa I Tatti 27), Florence 2011, S. 427–501. 7 Für einen Überblick s. Klára PAJORIN, The first Hungarian humanists at Matthias’ court: the early inspirers of flaunting wealth and power, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 138–145; DIES.,

286 | Julia Burkhardt beispielsweise der Humanist Johannes Vitéz (1408–1472), der Bischof von Oradea (Großwardein) und spätere Erzbischof von Esztergom (Gran), ein Erzieher des Königs;8 sein Neffe, der in Verona ausgebildete Janus Pannonius (1434–1472), avancierte zum Bischof von Pécs (Fünfkirchen),9 und den Franziskanerobservanten Gabriele Rangoni (1410–1486) berief Matthias Hunyadi in seinen Ratgeberkreis.10 Nach Matthias’ Hochzeit mit der neapolitanischen Königstochter Beatrix von Aragon 1476 kamen schließlich zahlreiche Gelehrte, Künstler und Architekten aus Italien nach Ungarn – mit königlicher Unterstützung oder zumindest in Hoffnung auf diese.11 Freilich war das kein neuer Trend: Schon Sigismund von Luxemburg (1368–1437), der von 1387 bis 1437 als König über Ungarn geherrscht hatte, hatte den Kontakt zu italienischen Gelehrten gepflegt und von namhaften Bildhauern für seine Residenz in Buda viel beachtete Skulpturen schaffen lassen.12 Unter Matthias || L’educazione umanistica e Mattia Corvino, in: Tibor KLANICZAY u. József JANKOVICS (Hgg.), Matthias Corvinus and the Humanism in Central Europe (Studia humanitatis 10), Budapest 1994, S. 185–192. 8 1471 war Vitéz an einer Verschwörung gegen König Matthias führend beteiligt; s. dazu und zum politischen Einfluss des Prälaten András KUBINYI, Vitéz János és Janus Pannonius politikája Mátyás uralkodása idején [= Die Politik von Johannes Vitéz und Janus Pannonius zur Zeit der Herrschaft von König Matthias], in: István BARTÓK, László JANKOVITS u. Gábor KECSKEMETI (Hgg.), Humanista műveltség Pannóniában, Pécs 2000, S. 7–26. Zum Wirken des Johannes Vitéz s. außerdem die Beiträge in Ferenc FÖLDESI (Hg.), A star in the raven’s shade. János Vitéz and the beginnings of humanism in Hungary. An exhibition at the National Széchényi Library. 14 March–15 June, 2008, Budapest 2008. 9 Marianna D. BIRNBAUM, Janus Pannonius: our contemporary, in: KLANICZAY u. JANKOVICS (Anm. 7), S. 49–58; s. auch KUBINYI (Anm. 8). 10 Petr HLAVÁCEK, Al servizio dell’Ordine e della cristianità: Gabriele Rangoni da Verona († 1486) e il suo operato nell’Europa centrale e in Italia, in: Frate Francesco 74 (2008), S. 71–95. 11 Árpád MIKÓ, Queen Beatrice of Aragon, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 251–265; Volker HONEMANN, The marriage of Matthias Corvinus to Beatrice of Aragón (1476) in urban and court historiography, in: Martin GOSMAN, A. MACDONALD u. Arie Johan VANDERJAGT (Hgg.), Princes and Princely Culture 1450–1650. Vol. 2 (Brill’s studies in intellectual history 118), Leiden 2005, S. 213–226; Valery R. REES, “A woman of valour”. Towards a reappraisal of the presence of Beatrix of Aragon in the Hungarian court, in: István DRASKÓCZY u. a. (Hgg.), Matthias Rex 1458–1490: Hungary at the Dawn of the Renaissance, Budapest 2013 [ohne Seitenzahlen]. Online unter http://renaissance.elte.hu/wp-content/uploads/2014/03/Valery-Rees-%E2%80%9CA-woman-of-val our%E2%80%9D.pdf (16.07.2019); Gergely BUZÁS u. József LÁSZLOVSZKY, Life at Visegrád palace under the reign of King Matthias, in: József LÁSZLOVSZKY (Hg.), Medieval Visegrád: Royal Castle, Palace, Town and Franciscan Friary (Dissertationes Pannonicae. Series 3, 4), Budapest 1995, S. 19–25. 12 Michael Viktor SCHWARZ, König Sigismunds höfischer Traum: Die Skulpturen für die Burg in Buda, in: Imre TAKÁCS (Hg.), Sigismundus Rex et Imperator. Kunst und Kultur zur Zeit Sigismunds von Luxemburg. Ausstellungskatalog; Budapest, Szépművészeti Múzeum, 18. März–18. Juni 2006; Luxemburg, Musée National d’histoire et d’art, 13. Juli–15. Oktober 2006, Mainz 2006, S. 225–235. S. außerdem BALOGH, Anfänge (Anm. 4), S. 54–103; Ernő MAROSI, L’arte alla corte di Sigismondo di Lussemburgo, in: Péter FARBAKY (Hg.), Mattia Corvino e Firenze. Arte e umanesimo alla corte del re di Ungheria. Firenze, Museu di San Marco, Biblioteca di Michelozzo 10 ottobre 2013–6 gennaio 2014,

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Hunyadi jedoch erreichte die Verbindung von Kunstförderung und Politik quantitativ wie qualitativ ein neues Niveau (eine Entwicklung, für die in der Forschung der Begriff der „corvinischen Renaissance“ geprägt wurde):13 Die Demonstration von Bildung und Gelehrsamkeit wurde ein wirkmächtiges Mittel zur Repräsentation der königlichen Macht wie auch des herrschaftlichen Selbstverständnisses.14 Für den wegen seiner Abstammung aus transsilvanischem Adel vielfach geschmähten Monarchen mögen diese Faktoren besonders wertvolle Argumente gewesen sein.15 Wenn Matthias Hunyadi also 1471 (wie eingangs zitiert) betonte, dass ihn bei der Kriegsführung die Thesen eines Dichters aus dem römischen Prinzipat leiteten, galt dies zweifellos als Ausweis seiner Belesenheit und planvollen Politikstrategie. War der König also nur darauf versessen, sich selbst zum ,Bildungskönig‘ stilisieren zu lassen? Dagegen sprechen verschiedene Gründe: seine wiederholten Rekurse auf das Königreich Ungarn als übergeordnete Größe etwa, die sorgfältige Auswahl und historische Verortung literarischer und bildlicher Motive wie auch die Nutzung und Inanspruchnahme solcher Mechanismen in der eigenen Gegenwart.

|| Firenze 2013, S. 76–81; Zsombor JÉKELY, Artisti fiorentini nel regno d’Ungheria nel periodo di re Sigismondo di Lussemburgo, in: ebd., S. 82–85. 13 Ernő MAROSI, Die corvinische Renaissance in Ungarn und ihre Ausstrahlung in Ostmitteleuropa, in: Winfried EBERHARD u. Alfred A. STRNAD (Hgg.), Humanismus und Renaissance in Ostmitteleuropa vor der Reformation (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 28), Köln 1996, S. 173–187; DERS., Die „Corvinische Renaissance“ in Mitteleuropa: Wendepunkt oder Ausnahme?, in: Bohemia 31 (1990), S. 326–338. Online unter https://www.bohemia-online.de/ index.php/bohemia/article/view/5869/9039 (30.07.2020); Thomas VON BOGYAY, Die Kunst der corvinischen Renaissance. Bemerkungen zum Problem ihrer Entstehung, Wesenszüge und Nachwirkungen, in: Südostdeutsches Archiv 13 (1970), S. 44–55. 14 Klára PAJORIN, Il ruolo degli umanisti fiorentini e ungheresi nella formazione della rappresentazione del potere di Mattia Corvino, in: FARBAKY (Anm. 12), S. 98–105; Paul SRODECKI, Panegyrics and the Legitimisation of Power: Matthias Corvinus and the Humanist Court Historiography, in: Dániel BAGI u. a. (Hgg.), Hungary and Hungarians in Central and Eastern European Narrative Sources (10th–17th centuries), Pécs 2019, S. 173–187. 15 Das Argument der ,niederen‘ Abstammung des Matthias Hunyadi fand besonders in der Auseinandersetzung mit König Friedrich III. (1440–1493) um den Einfluss in Ungarn und Böhmen Anwendung: König Matthias, Sohn des legendären Reichsverwesers Johannes Hunyadi (1385–1456) und der Adeligen Elisabeth Szilágyi (nach 1410–1483), sei (so der Habsburger) nur ein uffgeruckter; andere Zeitgenossen diskreditierten ihn gar als rex modernus. Einzelbelege für diese Schmähbegriffe finden sich bei NEHRING (Anm. 2), S. 465. S. außerdem Radu LUPESCU, Matthias Hunyadi: From the Family Origins to the Threshold of Power, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 35–50 sowie Michael BRAUER, Ulisse CECINI, Julia DÜCKER, Daniel KÖNIG u. Şevket KÜÇÜKHÜSEYIN, Rückblickend nach vorn gewandt. Funktionen kultureller Rückbindung von Alfred dem Großen zu den Osmanen (9.–16. Jahrhundert), in: Michael BORGOLTE u. a. (Hgg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter (Europa im Mittelalter 18), Berlin 2011, S. 105–195, darin besonders meinen Abschnitt (J. DÜCKER) zu „Konstruktion einer ruhmreichen Vergangenheit: Die Abstammung des ungarischen Königs Matthias Corvinus“, S. 140–153.

288 | Julia Burkhardt Die Neukontextualisierung literarischer, künstlerischer oder architektonischer Formen und Motive sowie ihre Bedeutung für die politische Repräsentation stehen deshalb im Mittelpunkt dieses Beitrags. An zwei ausgewählten Beispielen möchte ich aufzeigen, wie im spätmittelalterlichen Ungarn (vermeintlich) ältere Ordnungsmodelle reflektiert aufgegriffen und in die eigene Gegenwart integriert wurden. Dabei geht es freilich nicht um eine umfassende Darstellung der „corvinischen Renaissance“; vielmehr soll die folgende Skizze zeigen, wie Antikenbezüge – etwa in Form von Namen, Personen oder Bildmotiven – für die Zeitgenossen des 15. und 16. Jahrhunderts innovative Deutungs- und Kommunikationsformen schufen.

1 König Matthias ‚der Rabe‘ – ein Beiname macht Geschichte Der wohl offensichtlichste Antikenbezug begegnet im lateinischen Cognomen des Königs, der bis heute als Matthias ,Corvinus‘ bekannt ist. ,Corvinus‘ ist allerdings weder ein Familienname noch eine Herkunftsbezeichnung: Stattdessen handelt es sich um einen Kunstnamen, den italienische Dichter und Geschichtsscheiber kreierten – zusammen mit der Legende, wonach König Matthias Hunyadi von der römischen Patrizierfamilie der Valerier abstamme, die seit dem 4. Jahrhundert vor Christus das Cognomen ,Corv(in)us‘ führte.16 Einen historischen Ansatzpunkt für diese Deutung bot das Wappen der Familie Hunyadi, das Matthias’ Vater János Hunyadi (1407/09–1456) 1453 von König Ladislaus V. (1440–1457) verliehen worden war. János Hunyadi hatte sich als Feldherr in Kriegszügen gegen Hussiten und Osmanen großen Ruhm erworben und war deshalb 1446 beauftragt worden, dem noch minderjährigen König als Reichsverweser zur Seite zu stehen. Als Ladislaus V. 1453 mündig wurde, trat János Hunyadi als Reichsverweser zurück, wurde jedoch gleich darauf vom König zum Generalkapitän des Königreichs ernannt. Aus dieser Zeit datiert auch der kostbar ausgestaltete Wappenbrief mit der Beschreibung und bildlichen Darstellung des Wappens (Abb. 1a).17 Der viergeteilte

|| 16 Grundlegend dazu: Péter KULCSÁR, A Corvinus-legenda [= Die Corvinus-Legende], in: Gábor BARTA (Hg.), Mátyás király (1458–1490), Budapest 1990, S. 17–40. S. außerdem DÜCKER, Konstruktion (Anm. 15). 17 Zu Johannes Hunyadi s. István PETROVICS, John Hunyadi, defender of the southern borders of the medieval kindom of Hungary, in: Banatica 20, 2 (2010), S. 63–76. Online unter http://banatica.ro/ media/b202/ipjh.pdf (16.07.2019), Camil MUREŞANU, John Hunyadi: defender of Christendom, Iaşi 2001 sowie die Beiträge in: Ana DUMITRAN, Lorand MÁLDY u. Alexandru SIMON (Hgg.), Extincta est lucerna orbis: John Hunyadi and his Time. In memoriam Zsigmond Jako (Mélanges d’Histoire Générale. Nouvelle Série), Cluj-Napoca 2009.

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Schild (Abb. 1b) zeigt auf den prominenten Feldern 1 und 4 auf blauem Grund einen schwarzen Raben, den corvus, der im Schnabel einen goldenen Ring trägt. Auf den Feldern 2 und 3 ist ein steigender roter Löwe auf weißem Grund zu sehen, der in der linken Pranke eine Krone hält.18

Abb. 1a: Verleihung des Wappens an János Hunyadi durch König Ladislaus V. Wappenbrief vom 1. Februar 1453. Ungarisches Nationalarchiv-Staatsarchiv, Mittelalterliche Urkundensammlung, DL 24762.

Im Urkundentext findet sich neben der Beschreibung des verliehenen Wappens auch eine argumentativ beachtenswerte Begründung für die motivische Ausgestaltung: Während der Rabe als traditionelles Wappentier der Familie Hunyadi gewürdigt wird, erhielt János Hunyadi den Löwen als Anerkennung für seine politischen

|| 18 Wappenbrief vom 1. Februar 1453. Magyar Országos Levéltár, Sign. DL-DF 24762. Online unter https://archives.hungaricana.hu/en/charters/165166/?list=eyJxdWVyeSI6ICJKRUxaPSgyNDc2Mikif Q (16.07.2019). Edition als Nr. 177 in: Hunyadiak kora Magyarországon X, hrsg. v. József Gróf TELEKI, Pest 1853, S. 365–368. S. dazu auch Iván BERTÉNYI, Das Wappen von János Hunyadi aus dem Jahre 1453, in: Archivum heraldicum 99 (1985), S. 9–12.

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Abb. 1b: Verleihung des Wappens an János Hunyadi durch König Ladislaus V. Wappenbrief vom 1. Februar 1453 (Ausschnitt). Ungarisches Nationalarchiv-Staatsarchiv, Mittelalterliche Urkundensammlung, DL 24762.

und militärischen Verdienste zusätzlich verliehen – das Wappen wurde also bewusst erweitert. Die Farbwahl sollte die Leistungen des Wappenempfängers

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versinnbildlichen: rot galt als Ausweis der gefochtenen Kämpfe, weiß als Zeichen der Aufrichtigkeit und Treue von János Hunyadi.19 Trotz der Programmatik, mit der Alt und Neu – Rabe und Löwe – hier kombiniert wurden, war es in der zeitgenössischen Wahrnehmung aber der Rabe, der für die Familie Hunyadi stand. Diese deutlich höhere Wirkmacht lag im Umgang mit dem Wappen und seiner antikisierenden Ausdeutung begründet. Aus dem corvus der Hunyadi machten italienische Gelehrte nämlich schon bald „Corvinus“: Wohl in den 1450er Jahren verlieh der Dominikaner Petrus Ransanus (1428–1492) in seiner Abhandlung über János Hunyadi (‚De Iohanne Corvino‘) diesem den latinisierten Beinamen und entwickelte dafür auch die These der römischen Abstammung des Feldherrn.20 Damit war Ransanus einer der frühesten Vertreter der Idee, die Geschichte der Familie Hunyadi über Johannes’ Person auf die antikrömische Senatorenfamilie zurückzuführen und diese Verbindung im Beinamen ,Corvinus‘ auszudrücken.21 Bereitwillig griff seit den 1470er Jahren ein kleiner Kreis italienischer Gelehrte auf den antikisierenden Beinamen und die damit zusammenhängende Legende zurück, um König Matthias zu preisen und sich selbst dessen (materieller) Wertschätzung zu versichern. Ob Bartholomäus Fontius (1445–1513),22 Naldus Naldius || 19 Hactenus siquidem ex gracia precessorum nostrorum diuorum hungarie regum, prefatus Comes Johnnes pro armis seu nobilitatis insignijs progenitoribus suis et domui benefico munere collatis, Coruum in campo flaveo seu celestino alas paululum eleuantem sub colore naturali depictum, ac formam annuli aurei in ore gestantem habuit, et in omni usu palam pre se tulit. [...] Que enim forma leonis rubri in campo albo in statu et modo supra expresso addita conspicitur, significat antefatum Comitem Johannem superioribus nostre absencie temporibus, quibus videlicet post sedatum huius regni nostri disturbium ipse Comes Johannes officium Gubernacionis Generalis cum suo honore et onere sustulit nostro nomine et supportavit ea omnia que pro defensione Regni nostri et nostre Jure tuendo opportuna fuere in sincere fide et solicitudine que sinceritas per colorem album designatur, egit, exercuit et operatus est. Wappenbrief 1. Februar 1453, in: Hunyadiak kora X (Anm. 18), hier S. 366–367. 20 Ab ea regione Ioannes, cui Ianco apud Italos est cognomen, ex praeclaris natus maioribus, hoc est ex Romanorum posteris, oriundus est, genus nanque suum refert in antiquissimam Corvinorum familiam. Petrus Ransanus, De Ioanne Corvino, in: Petrus Ransanus, Epithoma rerum Hungararum, hrsg. v. Péter KULCSÁR (Bibliotheca Scriptorum Medii Recentisque Aevorum. Series Nova 2) Budapest 1977, S. 29–36, hier S. 34. 21 In Verbindung mit dem Thema könnte Ransanus 1456 gekommen sein, als Papst Kalixt III. zu Ehren des bei Belgrad im Kampf gegen die Osmanen gefallenen Johanns Hunyadi eine Messe feiern ließ. S. Erzsébet GALÁNTAI, Bemerkungen zum Nachleben von antiken Feldherrn- und Herosporträts. Die Gestalt von János Hunyadi in den Werken: De Ioanne Corvino von P. Ransanus und Ioannis Hunniadae res bellicae contra Turcas von Elias Corvinus, in: Chronica 6 (2006), S. 100–104. S. außerdem Sándor CSERNUS, Myth, Propaganda and Popular Etymology: János Hunyadi – „White“ or „Vlach“ Knight, in: Chronica 12 (2016), S. 125–147. 22 Bartholomäus Fontius war vermutlich der erste, der den Beinamen Corvinus nicht für den Vater Johannes Hunyadi, sondern in Bezug auf dessen Sohn Matthias verwendete. So bezeichnete er den König in einem Brief, in dem er dem italienischen Gelehrten Baptista Guarino von einer Verschwö-

292 | Julia Burkhardt (1439–1513)23 und Aurelius Lippus Brandolinus (1440–1497)24 oder der Geschichtsschreiber Antonio Bonfini (1427/34–1502/05):25 Mit dem Namen ,Corvinus‘ schufen sie die Grundlage für historische Narrationen über tugendhafte Taten einer politisch wirkmächtigen Familie, die den König der spätmittelalterlichen Gegenwart zum Inbegriff eines legitimen und traditionsbewussten Herrschers machten.26 Da die Thronansprüche des Matthias Hunyadi sich nicht aus dynastischen Verbindungen, sondern in erster Linie aus dem Ansehen seines Vaters als Reichsverweser und natürlich der Wahl durch den Adel speisten, kamen solche Modelle am Königshof sicherlich nicht ungelegen.27 Dennoch verwendete Matthias Hunyadi, der in vielen Briefen, Traktaten und Gedichten als „König Matthias Corvinus“ bezeichnet wurde, diesen Namen kein einziges Mal – zumindest nicht für sich selbst. Stattdessen begann er in den 1480er Jahren, seinen eigenen Sohn in öffentlichen Verlautbarungen „Johannes Corvinus“ zu nennen. Der 1473 geborene Johannes war aus einer unehelichen Verbindung mit der österreichischen Bürgerstochter Barbara Edelpöck hervorgegangen und sollte das einzige Kind des Königs bleiben. Konsequent versuchte Matthias Hunyadi deshalb noch zu Lebzeiten, Johannes als Nachfolger auf dem Königsthron zu etablieren.28 Er ließ dem Sohn durch Taddeo || rung in Ungarn berichtete, als „Mathias Corvinus“: Nam vir clarissimus Iohannes, Histrogoniae archiepiscopus a Mathia Corvino rege comprensus est [...]. Schreiben von 1472, Nr. 16, in: Bartholomaeus Fontius, Epistolarum Libri III, hrsg. v. Ladislaus JUHÁSZ (Bibliotheca Scriptorum Medii Recentisque Aevorum), Budapest 1931, hier S. 12. S. zudem Alessandro DANELONI, Bartolomeo Fonzio and Matthias Corvinus, in: Christian HEITZMAN u. Edina ZSUPÁN (Hgg.), Corvina Augusta: Die Handschriften des Königs Matthias Corvinus in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Supplementum Corvinianum 3), Budapest 2014, S. 153–162. 23 Klára PAJORIN, L’opera di Naldo Naldi sulla biblioteca di Mattia Corvino e la biblioteca umanistica ideale, in: Luisa ROTONDI SECCHI TARUGI (Hg.), L’Europa del libro nell’età dell’Umanesimo: atti del XIV convegno internazionale (Chianciano, Firenze, Pienza 16–19 luglio 2002), (Quaderni della Rassegna 36), Firenze 2004, S. 317–330. 24 István PUSKÁS, Aurelio Lippo Brandolino. A Florentine Humanist at Matthias Corvinus’ Court, in: Attila BÁRÁNY u. Attila GYÖRKÖS (Hgg.), Matthias and his legacy. Cultural and Political Encounters between East and West (Speculum Historiae Debreceniense 1), Debrecen 2009, S. 275–281. 25 Manuela MARTELLINI, Antonio Bonfini: un umanista alla corte di Mattia Corvino, Viterbo 2007; István Dávid LÁZÁR, Antonio Bonfini alla corte di Mattia Corvino, in: Arte lombarda Ser. NS 139 (2003), S. 12–14. 26 S. dazu KULCSÁR (Anm. 16), Christine HARRAUER, Mythos als Propaganda. Matthias Corvinus und die Legenden über seine Herkunft, in: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 43 (2003), S. 407–422 sowie Ágnes RITOÓKNÉ SZALAY, A Corvinus-legenda és a régészeti emlékek, in: Mikó ÁRPÁD u. Katalin SINKÓ (Hgg.), Történelem–Kép. Szemelvények múlt és művészet kapcsolatáról Magyarországon. Geschichte–Geschichtsbild. Die Beziehung von Vergangenheit und Kunst in Ungarn, Budapest 2000, S. 258–261. 27 Radu LUPESCU, The election and coronation of King Matthias, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 190–195. 28 Zu Johannes’ Leben s. die ausführliche Studie von Gyula SCHÖNHERR, Hunyadi Corvin János, 1473–1504, Budapest 1894. Zur Unterstützung Matthias’ für seinen Sohn s. Enikő SPEKNER, “... to be

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Ugoleto, einen Gelehrten aus Parma, eine humanistische Ausbildung zukommen und stattete ihn peu à peu mit Titeln und Ländereien aus; innerhalb weniger Jahre avancierte Johannes Corvinus auf diese Weise zu einem der wohlhabendsten Adeligen Ungarns.29 Auch gemeinsame öffentliche Auftritte von Vater und Sohn wie beispielsweise bei der Entgegennahme des Treueschwurs im besetzten Wien 1485 legen nahe, dass König Matthias seinen Sohn gezielt als legitimen Nachfolger auf den Königsthron präsentieren wollte.30 Auch als Matthias Hunyadi 1489 für seinen Sohn eine Eheverbindung mit der mailändischen Prinzessin Bianca Maria Sforza verhandeln wollte (die letztlich jedoch nicht realisiert wurde), versah er Johannes beharrlich mit dem lateinischen Beinamen. Peter KULCSÁR hat dahinter eine diplomatische Strategie vermutet – weil der Name „Corvinus“ vor allem in italienischen Hofkreisen Wirkung entfaltet habe, sei er für die Eheverhandlungen gezielt ins Spiel gebracht worden.31 Aber auch Johannes machte sich die väterliche Denomination zu eigen und zeichnete – manu propria – mit „Johannes Corvinus“.32 Zusätzlich zum Familienwappen mit dem Raben führte er ab 1503 ein Siegel mit einem weiteren Tier: pro-

|| judged worthy of your illustrious father and to rule over the Hungarians ...”. Matthias’ struggle for John Corvinus’ succession, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 513–515. Zur Beziehung zwischen Matthias Hunyadi und Barbara Edelpöck s. Vinzenz Oskar LUDWIG u. Franz MASCHEK, König Matthias Corvinus und Barbara Edelpöck, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 32 (1955/56), S. 74–93. 29 So verlieh Matthias Hunyadi seinem Sohn (pueri Johannis Coruini) beispielsweise in einer Urkunde vom 11. November 1484 alle Siedlungen und Besitztümer, die einst seiner eigenen Mutter (Erzsébet Szilágyi) gehört hatten. Edition: Nr. 719, in: Hunyadiak kora Magyarországon XII, hrsg. v. József Gróf TELEKI, Pest 1857, S. 270–271. Original: Magyar Országos Levéltár, Sign. DL-DF 37661, online unter https://archives.hungaricana.hu/en/charters/view/219437/?pg=0&bbox=1085%2C2834%2C4128%2C-931 (30.07.2020). Zu Ugoleto s. Angelo CIAVARELLA, Un editore ed umanista filologo: Taddeo Ugoleto detto Della Rocca, in: Archivio storico per le province parmensi. Serie quarta 9 (1957), S. 134–173. 30 Johannes Tichtel’s Tagebuch: MCCCCLXXVII bis MCCCCXCV, hrsg. v. Theodor Georg VON KARAJAN (Fontes rerum Austriacarum. Scriptores 1), Wien 1855, hier bes. S. 34: Sabbatho, in quo die hora decima intrauit Viennam dux ioannes, filius regis mathie vngarie [...] In quo predicto ciuitas Viennensis iurauit regi, et suo filio, et regno Vngarie, et eorum sequacibus fidelitatem. Zur ungarischen Herrschaft über Wien s. außerdem Ferdinand OPLL, Wienna caput Austrie ad Vngaros pervenit. Matthias Corvinus und Wien, in: Wiener Geschichtsblätter 65 (2010), S. 1–20 sowie Katalin G. SZENDE, “Proud Vienna suffered sore …” Matthias Corvinus and Vienna, 1457–1490, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 381–391. 31 KULCSÁR (Anm. 16), S. 35. 32 SCHÖNHERR (Anm. 28), Buch II, Kap. 1: Johannes Corvinus, dux Lipthoviensis etc. (1489). S. beispielsweise auch die Unterschrift des Johannes Corvinus auf einem Brief an Ladislaus, Ban von Kroatien, Dalmatien und Slawonien (20.06.1491). Magyar Nemzeti Levéltár, Sign. DL-DF 24857. Abb.: https://archives.hungaricana.hu/en/charters/view/228675/?pg=0&bbox=647,-2819,3865,-809 (30.07.2020).

294 | Julia Burkhardt grammatisch zeigte es den Adler Jupiters.33 Noch dezidierter als zuvor wurden also Ruhm und Ansehen der Herrscherfamilie in den Vordergrund gerückt, und mit dieser Entwicklung korrespondiert, dass auch die verstärkte Anwerbung von humanistischen Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern an den Königshof oder etwa Auf- und Ausbau der prächtigen Bibliothek des Königs (Bibliotheca Corviniana) in den Zeitraum der 1480er Jahre fallen.34 Unter dem Einfluss dieser Nachfolgeauseinandersetzungen verfasste der italienische Historiograph Antonio Bonfini ab 1488 seine ,Dekaden der Ungarischen Geschichte‘ (‚Rerum Ungaricarum Decades‘). Das umfassende Werk war noch von Matthias Hunyadi in Auftrag gegeben, aber erst nach dessen Tod vollendet worden.35 Basierend auf eigenen Vorarbeiten, darunter einer Abhandlung über die ,Herkunft des Corvinischen Hauses‘ (‚Libellus de Corvinianae domus origine‘), konstruierte Bonfini in seinen ,Dekaden‘ detailgetreu die Abstammung der Hunyadi von den altrömischen Valeriern und Sabinern. Beiläufig brachte Bonfini eine mögliche Abstammung von Jupiter selbst ins Spiel und verfolgte dann die valerische Familiengeschichte bis zu Marcus Valerius Corvus ins 4. Jahrhundert vor Christus. Nachdem diesem ein Rabe in einem Zweikampf mit einem Gallier zur Hilfe gekommen sei, habe Marcus das Cognomen Corvinus in Pannonien etabliert, wo es 1800 Jahre später (mit durchaus erstaunlichem Geschichtsbewusstsein!) für die Hunyadi wieder in Gebrauch genommen worden sei.36 Bonfinis Parallelsetzung beider Familien barg ein beachtliches politisches Postulat: So wie die römischen Corvini einst durch ein göttliches Zeichen zur Befreiung der Römer von den Barbaren auserwählt

|| 33 Péter FARBAKY, The Heir. The Role of John Corvinus in the Political Representation of Matthias Corvinus, and as Patron of the Arts, in: Livia VARGA u. a. (Hgg.), Bonum ut pulrchum. Essays in Art History in Honour of Ernő Marosi on His Seventieth Birthday, Budapest 2010, S. 413–432, hier 418. 34 Einen konzisen Überblick über die gut erforschte Bibliothek bietet Ferenc FÖLDESI, Bibliotheca Corviniana – Die Bibliothek und ihr Gedächtnis, in: Claudia FABIAN u. Edina ZSUPÁN (Hgg.), Ex Bibliotheca Corviniana. Die acht Münchener Handschriften aus dem Besitz des Matthias Corvinus (Supplementum Corvinanum I – Bavarica et Hungarica I), Budapest 2008, S. 13–27. Online unter http://mek.oszk.hu/06000/06042/06042.pdf (16.07.2019). S. außerdem die Beiträge in JeanFrançois MAILLARD, István MONOK u. Donatelle NEBBIAI-DALLA GUARDA (Hgg.), Matthias Corvin, Les bibliothèques princières et la genèse de l’état moderne (Supplementum Corvinianum 2), Budapest 2009. Online unter http://mek.oszk.hu/07400/07400/index.phtml# (16.07.2019). 35 S. zu Struktur und Widmung des Werkes Thomas WÜNSCH, Zur Funktion der humanistischen Geschichtsschreibung im politischen Konzept ostmitteleuropäischer Höfe am Ende des 15. Jahrhunderts (Krakau und Buda), in: Rudolf SCHIEFFER u. Jarosław WENTA (Hgg.), Die Hofgeschichtsschreibung im mittelalterlichen Europa. Projekte und Forschungsprobleme (Subsidia Historiographica 3), Toruń 2006, S. 219–230. S. zudem István TRINGLI, The transformation of historiography in the time of Matthias Corvinus, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 502–506. 36 Antonius de Bonfinis, Rerum Ungaricarum Decades, Bd. 3: Decas III, hrsg. v. József FÓGEL, Béla IVÁNYI u. László JUHÁSZ (Bibliotheca Scriptorum Medii Recentisque Aevorum), Leipzig 1936, lib. 9, cap. 228–230, S. 220–221.

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worden seien, obliege es nun den gegenwärtigen Corvini, die Christenheit von der Sklaverei der Ungläubigen – der Türken also – zu befreien.37 Binnen weniger Jahre war der ursprünglich in panegyrischer Absicht erfundene Beiname ,Corvinus‘ zum Auszeichnungsmerkmal und politischen Auftrag in einem neuen Kontext avanciert. Dem Königssohn Johannes Corvinus nutzte das allerdings nichts: Bis zu seinem Tode 1504 versuchte er vergeblich, seine Ansprüche auf den ungarischen Thron durchzusetzen; gegen die Friedens- und Erbvereinbarungen, die die Jagiellonen und Habsburger 1491 (Friede von Preßburg) abschlossen, kam er jedoch nicht an – Nachfolger seines Vaters Matthias wurde 1490 der Jagiellone Vladislav, in dessen Familie die ungarische Krone bis 1526 bleiben sollte.38

2 Die Sichtbarkeit der königlichen Macht an den Residenzorten Buda und Visegrád Etliche weitere Beispiele offenbaren, wie gezielt und reflektiert Rekurse auf antike Vorbilder aus Kunst, Literatur und Architektur im kommunikativen Ordnungsgefüge des Königsreichs Ungarn zur Anwendung kamen. Besonders deutlich wurde dieser Zusammenhang in Buda (Ofen), das erst seit dem 15. Jahrhundert Hauptsitz der ungarischen Könige, ihres Hofs und der Verwaltung war. Natürlich hatte es auch zuvor bedeutende Städte mit politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Vorrangstellung gegeben. Statt einer ,Hauptstadt‘ war seit dem hohen Mittelalter jedoch eine ganze ,Städtelandschaft‘ prägend gewesen: das sogenannte medium regni mit Esztergom (Gran), Visegrád (Plintenburg), Buda und Székesfehérvár (Stuhlweißenburg).39 Erst verhältnismäßig spät, nämlich zur Zeit

|| 37 Zu der dahinterstehenden Charakterisierung Ungarns als christliches ‚Bollwerk‘ gegen die Osmanen s. Paul SRODECKI, Antemurale Christianitatis. Zur Genese der Bollwerksrhetorik im östlichen Mitteleuropa an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (Historische Studien 508), Husum 2015, bes. S. 196–200. 38 Enikő SPEKNER, The End of Matthias Corvinus’ Dynastic Ambitions. Contenders for the Throne, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 525–527; Enikő SPEKNER, Die Geschichte der habsburgisch-jagiellonischen Heiratsverträge im Spiegel der Quellen, in: Martina FUCHS u. Orsolya RÉTHELYI (Hgg.), Maria von Ungarn (1505–1558). Eine Renaissancefürstin (Geschichte in der Epoche Karls V. 8), Münster 2007, S. 23–44. 39 Katalin SZENDE, Buda, Pest, Óbuda; and Visegrád, in: David WALLACE (Hg.), Europe. A literary history, 1348–1418. Vol. 1, Oxford 2016, S. 533–550; András VÉGH, Urban development and royal initiative in the central part of the kingdom of Hungary in the 13th–14th centuries. Comparative analysis of the development of the towns of Buda and Visegrád, in: Ferdinand OPLL (Hg.). Stadtgründung und Stadtwerdung. Beiträge von Archäologie und Stadtgeschichtsforschung (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 22), Linz 2011, S. 431–446; József LASZLOVSZKY u. Katalin SZENDE, Cities and Towns as Princely Seats: Medieval Visegrád in the Context of Royal Residences and Urban

296 | Julia Burkhardt Sigismunds von Luxemburg im frühen 15. Jahrhundert, war die Fokussierung auf eine Residenzstadt – Buda – erfolgt. Diplomatische wie architektonische Quellen zeigen, dass man sich die Verlegung der Residenzstadt von Visegrád nach Buda aber nicht als scharfe Zäsur, sondern vielmehr als flexible Übergangsphase vorzustellen hat.40 Ab 1410 wurden beispielsweise erhebliche bauliche Veränderungen am Königspalast eingeleitet, die Buda in den Rang der großen europäischen Residenzen jener Zeit erheben sollten; gleichzeitig wurde aber auch der Palast von Visegrád erweitert.41 Auch deshalb war die Zeit Sigismunds von Luxemburg noch von einem häufigen Wechsel zwischen den Residenzorten Visegrád und Buda geprägt, was pragmatische Gründe gehabt haben mag.42 Die Folgen dieser Politik waren noch Jahrzehnte später sichtbar: So vermerkte König Ladislaus V., als er 1457 Ausgaben für den erneuten Umbau des Königschlosses von Buda verfügte, dass der Palast „jahrelang unbewohnt“ gewesen sei.43

|| Development in Europe and Hungary, in: József LASZLOVSZKY, Gergely BUZÁS, u. Orsolya MÉSZÁROS (Hgg.), The Medieval Royal Town at Visegrád. Royal Centre, Urban Settlement, Churches, Budapest 2014, S. 9–44. S. außerdem die zahlreichen Studien in Balázs NAGY u. a. (Hgg.), Medieval Buda in Context (Brill’s Companions to European History 10), Leiden, Boston 2016. 40 Márta KONDOR, Hof, Residenz und Verwaltung. Ofen und Blindenburg in der Regierungszeit König Sigismunds – unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1410–1419, in: Karel HRUZA u. Alexandra KAAR (Hgg.), Kaiser Sigismund (1368–1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 31), Wien, Köln, Weimar 2011, S. 215–233; Petr ELBEL, Prag und Ofen als Kaiserresidenzen. Die Verlagerung des Reichsschwerpunkts nach Osten unter den Luxemburgern und deren Folgen für das Reich, in: Sabine PENTH u. Peter THORAU (Hgg.), Rom 1312. Die Kaiserkrönung Heinrichs VII. und die Folgen. Die Luxemburger als Herrscherdynastie von gesamteuropäischer Bedeutung Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters (Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 40), Wien, Köln, Weimar 2016, S. 259–330; András KUBINYI, Der königliche Hof als Integrationszentrum Ungarns von der Mitte des 15. bis zum ersten Drittel des 16. Jahrhunderts und sein Einfluß auf die städtische Entwicklung Budas, in: Evamaria ENGEL, Karen LAMBRECHT u. Hanna NOGOSSEK (Hgg.), Metropolen im Wandel. Zentralität in Ostmitteleuropa an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Forschungen zu Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa), Berlin 1995, S. 145–162. 41 Sándor TÓTH, Die Gebäude des Budaer Königspalastes zur Zeit Sigismunds von Luxemburg, in: TAKÁCS (Anm. 12), S. 2008–218; Szilárd PAPP, Made for the King: Sigismund of Luxemburg’s Statues in Buda and Their Place in Art History, in: NAGY u. a. (Anm. 39), S. 387–451. Ein Beispiel für die Zentralfunktion Budas in Sigismunds Zeit sind die dort abgehaltenen Herrschertreffen, s. dazu Balázs NAGY, Royal Summits in and around Medieval Buda, in: ebd., S. 345–365. 42 So war der Ausbau des Königspalasts um 1430 noch nicht fertiggestellt. Zugleich zeigt das Itinerar des Königs, dass sich Sigismund ab spätestens 1420 für seine ohnehin recht seltenen Aufenthalte in Ungarn stärker an Preßburg (Bratislava) als Aufenthaltsort orientierte. Vgl. hierzu die Zahlen bei ELBEL (Anm. 40), S. 313–323. Zu Preßburg s. außerdem Ernő DEÁK, Preßburgs politische Zentralfunktionen im 15./16. Jahrhundert, in: ENGEL, LAMBRECHT u. NOGOSSEK (Anm. 40), S. 163–172. 43 Zit. nach László GEREVICH, The Art of Buda and Pest in the Middle Ages, Budapest 1971, S. 101.

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Das änderte sich erst unter Matthias Hunyadi: Er residierte nicht nur mit seiner Familie in Buda, sondern versuchte mit massiven Investitionen in Architektur, Bildund Buchkultur außerdem, aus dem Palastkomplex von Buda ein Prestigeobjekt höfischer Repräsentation zu machen.44 Matthias Hunyadi ließ die Königsresidenz nicht nur baulich erweitern, sondern auch mit Marmorverkleidungen, Fresken, Majolika-Fußböden, Brunnenanlagen und reichen Bildprogrammen kostbar ausschmücken. Gleich an mehreren Orten begegnete den Besuchern dabei der Mythos des Herkules.45 So stand im Vorhof der Burg, der durch seine Nutzung als Richtplatz auch eine öffentliche Funktion hatte, eine Herkulesstatue, die König Matthias zum Gedenken an seinen Bruder Ladislaus Hunyadi (1433–1457) hatte errichten lassen. Bildprogramm und räumliche Anordnung der Statue waren eine Demonstration königlicher Macht: Am Aufstellungsort war Ladislaus Hunyadi 1457 nämlich unter dem Vorwurf des Verrats am gleichnamigen König (Ladislaus V.) ermordet, und Matthias bis zu seiner eigenen Königserhebung 1458 inhaftiert worden.46 Die am Sockel der Statue befindliche Inschrift „Der göttliche Herkules als Bezwinger der Monster“ (Divinus Hercules Monstrorum Domitor) verwies in kluger Doppeldeutigkeit nicht nur auf das antike Vorbild, sondern auf jegliche Widersacher des Hauses Hunyadi.47 Auch am Ende des prachtvollen Treppenaufgangs zum neu gebauten Palast fand sich das Herkulesthema wieder – in Form eines Bronzetors mit Reliefs zu den ,Herkulestaten‘. In diesem Fall sind neben dem Motiv auch die Form der repräsentativen Relieftür als Verweis auf antike Vorbilder und ihre mittelalterliche Rezeption || 44 S. für einen Überblick BALOGH, Anfänge (Anm. 4), S. 54–103; Valery REES, Buda as a Center of Renaissance and Humanism, in: NAGY u. a. (Anm. 39), S. 472–493 sowie Péter FARBAKY, The Royal Palace of Buda during the reigns of Matthias Corvinus and the Jagiellonian kings, in: Xavier BARRAL I ALTET u. a. (Hgg.), The art of medieval Hungary (Bibliotheca Academiae Hungariae. Studia 7), Roma 2018, S. 435–439. 45 S. hierzu Zita Ágota PATAKI, nympha ad amoenum fontem dormiens (CIL VI/5,3*e). Ekphrasis oder Herrscherallegorie? Studien zu einem Nymphenbrunnen sowie zur Antikenrezeption und zur politischen Ikonographie am Hof des ungarischen Königs Matthias Corvinus. 2 Bde., Stuttgart 2005, hier Bd. 1, S. 180–182; DIES., Buda regia. Repräsentation und Ausstattungsprogrammatik am Hofe des Königs Matthias Corvinus, in: Urszula BORKOWSKA u. Markus HÖSCH (Hgg.), Hofkultur der Jagiellonendynastie und verwandter Fürstenhäuser. The Culture of the Jagiellonian and Related Courts (Studia Jagiellonica Lipsiensia 6), Ostfildern 2010, S. 207–226. 46 Die Widmung an Ladislaus Hunyadi geht aus einer Beschreibung des Hans Dernschwarm 1553 hervor: Den Hercules hot khonig Mathiasch seinem bruder Laslo zw einer gedachnus giessen lassen vnd an die stelle in Samat hoff, alda er kopfft worden, auffrichten lassen auff ein marmelroten stain. Zit nach BALOGH, A művészet (Anm. 4), S. 140, dort auf S. 138–143 auch weitere Quellenbelege zur Herkulesstatue. S. zu Chronologie und Deutung der Ereignisse neuerdings Tamás PÁLOSFALVI, Tettes vagy áldozat? Hunyadi László halála [= Täter oder Opfer? Der Tod des Ladislaus Hunyadi], in: Századok 149 (2015), S. 383–441. 47 Zit. nach PATAKI, Buda regia (Anm. 45), S. 208.

298 | Julia Burkhardt zu verstehen: Herkules, der Unbesiegbare, begegnete Betrachtern nicht einfach als Beweis für die Bildung des Königs, sondern vielmehr als Analogie zu dessen Stärke und Macht – vergleichbare Repräsentationsformen fanden sich auch an den italienischen Herrscherhöfen der Zeit.48 Noch deutlicher offenbarte sich das Zusammenspiel der antiken Motivik vielleicht in Visegrád, der nördlich von Buda am Donauknie gelegenen Sommerresidenz von König Matthias.49 Hier stand im inneren Prunkhof ein Brunnen des renommierten Bildhauers Giovanni Dalmata (ca. 1440– 1514). Programmatisch verband er eine Herkulesfigur über der Brunnenschale mit den königlichen Wappen am unteren Brunnenbecken.50 Welche Wirkmacht die Neukontextualisierung des mit Macht und Stärke attribuierten Herkules zeitigte, belegt auch die ,Nachgeschichte‘ der Herkulesstatue von Buda: Nach der Belagerung der Stadt wurde sie in den 1530er Jahren offenbar von Ibrahim Pașa (ca. 1493–1536), dem Großwesir des Osmanischen Reichs, nach Konstantinopel gebracht. Ibrahim, der direkt am Hippodrom einen Palast besaß, ließ die Statue dem zeitgenössischen Vernehmen nach in der Mitte des Hippodroms auf einem Marmorsockel aufstellen – „als Erinnerung für die Denkenden“, wie ein osmanischer Beobachter es scharfsinnig formulierte.51 Ähnlich wie die Propagierung des Namens ,Corvinus‘ fallen auch die Aufträge zu den verschiedenen Herkules-Stücken in die 1480er Jahre. In einer Zeit höchst umstrittener Thronfolge bediente sich Matthias Hunyadi gezielt unterschiedlicher politischer, künstlerischer und literarischer Maßnahmen, um aus der Zukunft seines illegitimen Sohnes auch die Zukunft seines Königreichs zu machen. Stets begründete er seine Bau- oder Kunstförderung deshalb mit der daraus erwachsenden „Zierde für das Königsreich“ – etwa wenn er in den 1460er Jahren Baumaßnahmen in Buda mit der Sorge um das Wohl seines Reiches (pro commodo et utilitate Regni nostri)

|| 48 Für zeitgenössische Beschreibungen des Tores s. die bei BALOGH, A művészet (Anm. 4), S. 143–144 gesammelten Belege. S. zudem Valery REES, Transformation and self-fashioning: Matthias Corvinus and the myth of Hercules, in: Annual of medieval studies at Central European University Budapest 11 (2005), S. 167–186. 49 Gergely BUZÁS, The Royal Palace of Visegrád in the Time of King Matthias, in: FARBAKY, SPEKNER u. SZENDE (Anm. 4), S. 324–326. S. auch die bei s. BALOGH, A művészet (Anm. 4), S. 248–250 zusammengestellten Belege. 50 Zur Analyse und Bewertung des Brunnens s. Gergely BUZÁS, Mária RÉTI u. Endre SZŐNYI (Hgg.), The Hercules Fountain of Giovanni Dalmata in the Royal Palace of Visegrád, Budapest, Visegrád 2001. Zu Giovanni Dalmata und seinen Beziehungen zu Matthias Hunyadi s. Johannes RÖLL, Giovanni Dalmata at the court of Matthias Corvinus in Hungary, in: FARBAKY u. WALDMAN (Anm. 6), S. 645–674. 51 Zitiert nach PATAKI, nympha ad amoenum, Bd. 2, S. 431. Zur Geschichte des osmanisch besetzten Buda s. Gyözö GERÖ, Buda als Residenzstadt der ungarischen Provinz der Osmanen (1541 bis 1686), in: Gerd BIEGEL (Hg.), Budapest im Mittelalter (Schriften des Braunschweigischen Landesmuseums 62), Braunschweig 1991, S. 426–438 sowie László VESZPRÉMY, Buda: From a Royal Palace to an Assaulted Border Castle, 1490–1541, in: NAGY u. a. (Anm. 39), S. 497–512.

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begründete.52 Diese Lesart wurde nach dem Tod des Matthias Hunyadi 1490 von zeitgenössischen Beobachtern aufgegriffen. So würdigte der dalmatinische Dichter und Humanist Aelius Lampridius Cervinus (1463–1520) in seiner Trauerrede vom 4. Mai 1490 nicht nur das königliche Mäzenatentum, das aus Buda und Visegrád zwei der „großartigsten Städte“ gemacht habe; explizit verwies Cervinus auch darauf, dass diese Förderung „zum öffentlichen Nutzen“ geschehen sei.53 Auch als Matthias’ Sohn Johannes Corvinus nach dem Tod des Vaters mit den ungarischen Ständevertretern ein Abkommen schloss, fanden die transpersonellen Deutungsmuster Erwähnung, die Matthias Hunyadi anstelle individueller Vorlieben klug in den Fokus gerückt hatte: Weil der König seine Bibliothek, die berühmte Bibliotheca Corviniana, „zum Ruhm des Reiches“ aufgebaut habe, sollte sie für den weiteren Gebrauch als Sammlung bestehen bleiben.54

3 Resümee Während die Grundlage für derartige Neukontextualisierungen gelehrten Wissens über Antike und Gegenwart zweifellos Matthias’ persönliches Engagement und seine Kontakte zu den italienischen und ungarischen Gelehrten der Zeit waren, spielten die Netzwerke der Humanisten ebenso wie die der Herrscherhöfe Italiens und Ungarns bei der Diffusion und Umdeutung antiker Vorlagen gleichfalls eine erhebliche Rolle.55 Für die Untersuchung von Austausch- und Nachahmungsprozes-

|| 52 Zit. nach BALOGH, Anfänge (Anm. 4), S. 4. Weitere Beispiele bei BALOGH, A művészet (Anm. 4), S. 630–632. 53 Oratio funebris in regem Matthiam, in: Analecta recentiora ad historiam renascentium in Hungaria litterarum spectantia, hrsg. v. Stephanus HEGEDÜS, Budapest 1906, S. 47–67, hier S. 64: Duas praecipue magnificentissimas arces erexit. Alteram Budae, alteram Vicegradi ad publicos usus: quarum alteram splendidissima etiam exornavit Bibliotheca utraque vero cum omni vetustate potest certare atque illis aedificiis quae ex toto terrarum orbe mirabilia vocantur procul dubio possunt adnumerari. S. zum Leben und Werk des Cervinus Anto LEŠIĆ, Art. „Crijević, Ilija (Cervarius, Cervinus, Aelius Lampridius, Cerva, de Crieva, Lampričin)“, in: Hrvatski Biografski Leksikon 1989. Online unter http://hbl.lzmk.hr/clanak.aspx?id=3705 (28.07.2020). Zum zeitgenössischen Umgang mit dem Tod des Königs s. Áron PETNEKI, Exequiae Regis. Die Begräbniszeremonie des Königs Matthias Corvinus vor ihrem ungarischen Hintergrund, in: Lothar KOLMER (Hg.), Der Tod des Mächtigen. Kult und Kultur des Todes spätmittelalterlicher Herrscher, Paderborn 1997, S. 113–123. 54 Art. 17 des Abkommens, in: Epistolae procerum regni Hungariae. Pars I complectens epistolas ab anno MCCCCXC ad MDXXXI, hrsg. v. Georgius PRAY, Posonii 1806, S. 378–394, hier S. 393: Similiter etiam, Bibliothecam pro regni decore exstructam libris exhauriri non patiatur, sed universos libros ibidem relinqui faciat, liceat tamen eidem cum consilio, et revisione Praelatorum, et Baronum, aliquos pro suo usu de illis recipere, et de bibliotheca extrahere. 55 Zum Begriff der „Diffusion“ s. die Beiträge in: Johannes HELMRATH (Hg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002.

300 | Julia Burkhardt sen sowie den Zusammenhang von gattungsübergreifendem Mäzenatentum und politischer Inanspruchnahme des geförderten Kunstschaffens ist die Regierungszeit von Matthias Hunyadi ein bemerkenswertes Beispiel: So machte der ungarische Herrscher seinen Königshof nicht nur zu einem geachteten Zentrum von Kultur und Gelehrsamkeit; das Zusammenwirken von Hof und Humanisten erreichte auch eine neue Qualität. Gezielt wurde aus architektonischen, literarischen und künstlerischen Ausdrucksformen eine neue Herrschaftsikonographie etabliert. Mithilfe antiker Motive und ihren mittelalterlichen Reflexionen entstand so ein innovatives Programm zur politischen Repräsentation, das die familiäre Herkunft des Königs retrospektiv aufwerten, seine Herrschaft über das ungarische Königreich in der spätmittelalterlichen Gegenwart legitimieren und somit für die Zukunft absichern sollte.

|| Für Beispiele zu Verbindungen nach Italien s. außerdem Ágnes RITOÓKNÉ SZALAY, Poetischer Briefwechsel von Humanisten, in: Acta classica Universitatis scientiarum Debreceniensis 34–35 (1998–99), S. 103–115; Enrica GUERRA, The Hungarian Community in Ferrara at the Estes Court (15–16th Centuries), in: Journal of Literature and Art Studies 2 (2012), S. 567–574.

| Teil 4: Religiöse Welten

Christoph Markschies

Manichäismus an der Seidenstraße Oder: Kreative Prozesse der mittelalterlichen Neukonfigurierungen einer spätantiken Religion Abstract: According to statements of its founder, the Persian intellectual Mani, Manichaeism was developed during the 3rd century A. D. as an attempt to form a synthesis between Judaism, Christianity, Zoroastrism, and Buddhism. It was an openly missionary religion, that very adroitly made use of different media apart from written texts and managed to attract a huge amount of people (among them occasionally Augustine of Hippo who later became bishop of the Christian majority). Obviously, the leaders of the mission have adapted the religious – especially mythological – materials and rituals of this global ancient religion to local (religious) rituals, resulting in significant differences between the North-African, the Egyptian and the Iranian Manichaeism. The most exciting transformation proves to be the adaptation formed in the Early Medieval in the Oasis of Turfan where Manichaeism temporarily even became state religion of an Uighur kingdom. The inculturation in Buddhism particularly characterizes the written and archeological traditions found during the Turfan expeditions from Berlin at the beginning of the 20th century. The transformation of the late antique religion originating from Persia to be found along the Silk Route is a tremendously creative process which is outlined in the article and analyzed with regard to the focus of the volume. Keywords: Manichaeism, Mani, Oasis of Turfan, Buddha, syncretism

„Schaffen und Nachahmen“:1 Es überrascht vielleicht, dass ich hier als Beispiel für einen kreativen Prozess im Mittelalter gleich den Prozess einer Neukonfiguration einer ganzen Religion heranziehe – nämlich die nach unserer gewöhnlichen Epochenterminologie frühmittelalterliche Neukonfiguration des Manichäismus an der Seidenstraße, also die frühmittelalterliche Neukonfiguration einer im dritten nachchristlichen Jahrhundert in Persien entstandenen und bald über die ganze Mittel-

|| 1 Der Abendvortrag für das 18. Symposium des Mediävistenverbandes unter dem Titel „Schaffen und Nachahmen. Kreative Prozesse im Mittelalter“ am 19. März 2019 in Tübingen wird hier weitgehend unverändert und lediglich um Nachweise in den Fußnoten ergänzt zum Abdruck gebracht. || Christoph Markschies, Lehrstuhl für Antikes Christentum, Theologische Fakultät, HumboldtUniversität zu Berlin, Unter den Linden 6, D-10099 Berlin, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-018

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meerwelt verbreiteten spätantiken Religion, die seit dem Aufkommen der frühneuzeitlichen Religionswissenschaft als „synkretistisch“ bezeichnet wird, gern aber auch als „Vollendung“ oder „Reform“ einer Bewegung,2 die man ebenfalls seit der frühen Neuzeit „Gnostizismus“ oder mit einem antiken Allerweltswort „Gnosis“ nennt. Über die Probleme, die man sich mit der Verwendung dieser traditionsreichen Begriffe „Gnosis“, „Gnostizismus“ und „Synkretismus“ einhandelt, habe ich mich schon häufig genug geäußert3 und bin daher froh, hier unter Verwendung des Begriffs „Kreativität“ (und also weitgehend ohne das vertraute begriffliche Inventar) einen frischen Blick auf ein Forschungsfeld werfen zu können, das einen solchen begrifflichen Neuansatz angesichts der umstürzenden Veränderungen unseres Bildes antiker und mittelalterlicher Religionsgeschichte längst verdient hat. Die Verbindung einer Analyse der Neukonfiguration des Manichäismus – also der neuen Anordnung von Bestandteilen dieser Religion und der Transformation dieser Bestandteile für eine neue kulturelle, politische, soziale Situation an der Seidenstraße – mit dem Begriff „Kreativität“ drängt sich aus zwei Gründen unmittelbar auf: Der Manichäismus eignet sich als Beispiel für einen kreativen Prozess in der mittelalterlichen Religionsgeschichte, denn schon der Gründer dieser Religion, der Perser Mani, hat offenkundig ein Bewusstsein für kreative Prozesse in dieser Religion gehabt. Das dokumentiert am besten einer der wohl bekanntesten manichäischen Texte, der in verschiedenen Quellen in koptischer und mittelpersischer Sprache überliefert ist und als Ausschnitt aus einem ursprünglich mündlichen Lehrvortrag des Religionsstifters präsentiert wird.4 Es handelt sich um das berühmte || 2 Kurt RUDOLPH, Gnosis und Manichäismus nach den koptischen Quellen, in: DERS., Gnosis und Spätantike. Gesammelte Aufsätze (Nag Hammadi and Manichaean Studies 42), Leiden u. a. 1996, S. 629–654, hier S. 654. 3 In Auswahl: Christoph MARKSCHIES, Die Gnosis (C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2173), 4., durchgesehene Aufl. 2018; DERS., Gnosis und Christentum. Gesammelte Aufsätze, Berlin 2009 sowie DERS., Synkretismus V. Kirchengeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 32 (2001), S. 538–552. 4 Die Passage über die zehn Vorzüge des Manichäismus ist 1. in zwei mittelpersischen Fragmenten (T II D 126 = M 5794 sowie M 5761) erhalten: M 5794 I [= T II D 126 I] (mittelpersisch): Friedrich Carl ANDREAS u. Walter HENNING, Mitteliranische Manichaica aus Chinesisch-Turkestan II (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1933), Berlin 1933, S. 294–363, hier S. 295 f.; Mary BOYCE, A reader in Manichaean Middle Persian and Parthian. Texts with Notes (Acta Iranica 9 = 3ème ser. Textes et memoires 2), Teheran, Leiden 1975, S. 29 f.; Jes Peter ASMUSSEN, Manichaean Literature. Representative texts chiefly from Middle Persian and Parthian writings, selected, introduced, and partly translated (Persian heritage series 22), Delmar, New York 1975, S. 12; für M 5761 vgl.: Werner SUNDERMANN, Mitteliranische manichäische Texte kirchengeschichtlichen Inhalts mit einem Appendix von Nicholas SIMS-WILLIAMS (Berliner Turfantexte XI), Berlin 1981, Nr. 24, S. 131–137. – 2. dazu partiell auch im 151. Kapitel der Kephalaia: Carl SCHMIDT u. Hans Jakob POLOTSKY, Ein Mani-Fund in Ägypten. Originalschriften des Mani und seiner Schüler (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-

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Stück über zehn Gesichtspunkte (πρόσωπα), in denen die Religion (so in der mittelpersischen Version; koptisch: die Kirche), die von Mani erwählt wurde, die früheren Kirchen (bzw. Religionen) übertrifft. Als vierter Vorzug der manichäischen Religion (bzw. manichäischen Kirche) wird in jenem Text folgender Punkt aufgeführt: Die Schriften, die Weisheit, die Offenbarungen, die Gleichnisse und die Psalmen aller früheren Kirchen haben sich von überall her versammelt, sind meiner Kirche begegnet und haben sich zu der Weisheit gesellt, die ich offenbart habe. Wie ein Wasser einem anderen Wasser zufließt und sie gemeinsam dann umfangreiche Gewässer bilden, so haben sich auch die alten Bücher mit meinen Schriften zusammengefügt und sind eine einzige Weisheit geworden – solcher Art, wie sie in allen alten Geschlechtern nicht geäußert wurde 5

Diese berühmte Passage stammt aus einem höchstwahrscheinlich fiktiven Gespräch zwischen Mani und einem Jünger, das vermutlich in der ersten oder zweiten Generation seiner Schüler nachgestaltet wurde. Dazu wären auch Texte heranzuziehen, die eindeutig oder jedenfalls sehr sicher von Mani selbst stammen.6 Gewöhnlich werden diese Passagen als Beispiele für die in der Antike weit verbreitete Autorisierung einer philosophischen, politischen oder religiösen Botschaft durch Sukzessionsketten interpretiert. Versteht man aber mit Jürgen MITTELSTRAß unter „Kreativität“ eine || historische Klasse 1933), Berlin 1933, S. 4–90, hier S. 41 f.; Kephalaia I, zweite Hälfte (Lfg. 11–18), bearb. v. Alexander BÖHLIG (Seiten 244–291) u. Wolf-Peter FUNK (Seiten 292–522), Manichäische Handschriften der Staatlichen Museen zu Berlin, vormals hrsg. im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung v. Carl SCHMIDT, fortgeführt v. Wolf-Peter FUNK, Stuttgart 2018 (= 1999/2000), S. 370 (232/233)–374 (240/241). Eine schöne Synopse der beiden unterschiedlichen Texttraditionen der „Vorzüge“ hat der in Prag wirkende Koptologe Wolf OERTER unter tätiger Mithilfe Werner SUNDERMANNs vor einigen Jahren angefertigt: Wolf B. OERTER, Die „Vorzüge der manichäischen Religion“. Betrachtungen zu Kephalaia Cap. 154, in: Peter NAGEL (Hg.), Carl-Schmidt-Kolloquium an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg 1988 (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle/ Wittenberg 1990/23 [K 9]), Halle a. d. Saale 1990, S. 259–271, hier S. 266–268 mit Synopse der Texte auf S. 271. 5 Kephalaia 151 (S. 372,11–19 [S. 236 f. FUNK]). 6 Ich habe dies in einem Beitrag vor einiger Zeit ausführlicher getan am Beispiel des bei dem persischen Universalgelehrten Abū 'r-Raiḥān Muḥammad ibn Aḥmad al-Bīrūnī (973–1048) aufbewahrten Beginn seines Šāburāgān (bzw. Šāpurāķān), also des Buches, das Mani für den ihm gewogenen persischen Großkönig Šābuhr (241–272 n. Chr.) in mittelpersischer Sprache abfasste und das zu den kanonischen Büchern im Manichäismus gezählt wurde: Al-Bīrūnī, In den Gärten der Wissenschaft. Ausgewählte Texte aus den Werken des muslimischen Universalgelehrten, übers. u. erläutert v. Gotthard STROHMAIER (Reclams Universal-Bibliothek 1228), Leipzig 1988, S. 140; in englischer Übersetzung: The Chronology of Ancient Nations (=Al-Āṯār Al-Bāqīa ʿAn Al Qorūn Al-Kālīa), translated by Eduard SACHAU, Frankfurt 1969 (London 1879), S. 190. Zu diesen Zusammenhängen vgl. Christoph MARKSCHIES, Von Afrika bis China – Varietäten von Gnosis, in: Christoph MARKSCHIES u. Johannes VAN OORT (Hgg.), Zugänge zur Gnosis. Akten zur Tagung der patristischen Arbeitsgemeinschaft vom 02.–05.01.2011 in Berlin-Spandau (Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft 12), Löwen, Walpole, MA 2013, S. 1–24, Abb. 1–4 auf S. 331–335 und Vorwort, ebd., S. VII–XVII.

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Fähigkeit des Menschen und den auf dieser Fähigkeit beruhenden Prozess, „mit jeweils unverwechselbarer ‚Handschrift‘ etwas Neues zu schaffen“,7 dann beschreibt Mani in dem Text zunächst einmal nur seine eigene Kreativität: „Weisheit, die ich offenbart habe“. Nach MITTELSTRAß „verwirklicht sich der Mensch als alter deus, als schöpferisches Wesen in seiner Art“, wenn er in einem bestimmten Sinne Neues schafft, wenn er kreativ wird.8 Und tatsächlich verstand sich der am 14. April 216 n. Chr. in Mardīnū bei Seleukia-Ktesiphon geborene Mani als – wenn nicht alter deus, so doch als – „Zwilling“ oder Gefährte (griechisch: σύζυγος) eines himmlischen Offenbarers. Jener „Zwilling“ wird von Mani nach der Mani-Biographie eines spätantiken Kölner Miniatur-Codex’ als „ein guter und trefflicher Ratgeber“ (σύβουλον ἀγαθὸν καὶ χρηστόν) charakterisiert und er sagt von ihm: „Ich habe ihn erkannt und verstanden, dass ich jener bin“.9 Der Manichäismus eignet sich aber auch noch als Beispiel für kreative Prozesse in Spätantike und Mittelalter, weil – ich folge wieder MITTELSTRAß – der Begriff „kreativ“ gern für „alles Ungewöhnliche, aus dem Rahmen fallende, Bizarre, Originelle und Phantastische“ verwendet wird.10 Mindestens originell, wenn nicht bizarr und phantastisch ist es aber, wenn nach Manis Worten die Kreativität des Religionsstifters begleitet wird von der Kreativität quasi lebendiger Bücher: „Die Schriften, die Weisheit, die Offenbarungen, die Gleichnisse und die Psalmen aller früheren Kirchen haben sich von überall versammelt […] und haben sich zu der Weisheit gesellt, die ich offenbart habe“.11 Wie man auch immer von dieser für den Manichäismus charakteristischen Theorie der Beseelung unserem Geschmack nach toter Materie denkt (in der erwähnten Mani-Biographie wird sie am Beispiel einer Palme illustriert, die spricht und sich bei Mani über ihre Leiden beschwert):12 In der manichäischen Reflexion über die eigene Religion spielte die Kreativität von Anfang an eine besondere Rolle und so verwundert es nicht, dass die, die im Rahmen dieser Religion reflektierten, auch noch für unsere Maßstäbe ungewöhnlich kreativ reflektierten.

|| 7 Jürgen MITTELSTRAß, Zur Einführung in den Kreativitätsbegriff, in: Gerhart VON GRAEVENITZ u. Jürgen MITTELSTRAß (Hgg.), Kreativität ohne Fesseln. Über das Neue in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur (Konstanzer Wissenschaftsforum 1), Konstanz 2008, S. 13–18, hier S. 13. 8 Ebd. 9 Mani-Codex p. 24 [hier zitiert nach: Der Kölner Mani-Kodex. Über das Werden seines Leibes. Kritische Edition, aufgrund der von Albert HENRICHS u. Ludwig KOENEN besorgten Erstedition hrsg. u. übers. v. Ludwig KOENEN u. Cornelia RÖMER (Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Sonderreihe Papyrologica Coloniensia 14), Opladen 1988, S. 14]. 10 MITTELSTRAß (Anm. 7), S. 14 (mit Bezug auf Franz E. WEINERT, Wissenschaftliche Kreativität: Mythen, Fakten und Perspektiven (Paderborner Universitätsreden 39), Paderborn 1993, S. 3). 11 Kephalaia 151 (p. 372,11–19 [S. 236 f. FUNK]). 12 Mani-Codex p. 7 [= Papyrologica Coloniensia 14, S. 4 HENRICHS, KOENEN u. RÖMER (Anm. 9)].

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Nach diesen Vorklärungen zu den Begriffen und dem Gegenstand wenden wir uns nun derjenigen Transformationsform des Manichäismus zu, die sich (nach unserer vertrauten Epochenterminologie) an der Wende von der Spätantike zum Frühmittelalter in einer Oasenlandschaft an der Seidenstraße entwickelte und dort bis ins 14. Jahrhundert überlebte.13 Ich werde den kreativen Prozess der Neukonfiguration im Folgenden nur in sehr loser Anlehnung an bestimmte Modelle der Beschreibung eines kreativen Prozesses schildern, also beispielsweise nicht streng zwischen Phasen der Kreativität, ihren Typen wie konvergenten und divergenten Prozessen unterscheiden oder gar zwischen Prozess, Produkt und Milieu sorgfältig differenzieren.14 Solche Zurückhaltung gegenüber den verschiedenen Versuchen, in einen notorisch unpräzisen Begriff Präzision einzuziehen, erklärt sich daher, dass ich Prozesse der Kreativität praktisch ausschließlich von ihren Text gewordenen Ergebnissen in den Blick nehme und es auch kaum weitere Quellen gibt, sieht man einmal von allerlei bildlichen Darstellungen ab, die zu behandeln aber einen eigenen Vortrag erfordern würde. Noch pointierter: Wenn „Kreativität“ gewöhnlich ein Potential einer Person ist, „Ideen und Werke hervorzubringen, die von ihr selbst und von anderen als neu, ungewöhnlich und problemrelevant angesehen werden“ (so MITTELSTRAß auf der Basis des Erfurter Pädagogen Ernst HANY),15 dann blicken wir im Unterschied zu diesem gewöhnlichen Verständnis hier nicht weiter auf eine einzelne Person wie Mani oder mehrere Manichäer, sondern auf Produkte von Prozessen der manichäischen Kreativität, die im Rahmen ihrer textlichen Überlieferung als neu, ungewöhnlich und für ein Problem als Lösung relevant vorgestellt werden. Aber um dies abschließend noch einmal zu sagen: Die Anhänger der manichäischen Religion führten diese Kreativität, die sich in der sehr besonderen Entwicklung ihrer Religion ausdrückte, auf die besondere Kreativität ihres Stifters zurück, also auf eine einzelne Person. Mani soll gesagt haben: „Die Religion der Alten war in einem Land und in einer Sprache, während meine Religion so ist, dass sie in jedem Land und in jeder Sprache bekannt werden wird“.16 Damit bildet er auch nach heutigen Maßstäben ein Musterbeispiel für Kreativität im beschriebenen Sinne.

|| 13 Zum hier vorausgesetzten Verständnis von „Transformation“ vgl. Hartmut BÖHME, Einladung zur Transformation, in: Hartmut BÖHME u. a. (Hgg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, S. 7–38. 14 MITTELSTRAß (Anm. 7), S. 14–16. 15 MITTELSTRAß (Anm. 7), S. 16; von ihm zitiert nach Ernst A. HANY, Kreativität: Zufall, Mut und Strategie. Vortrag für den Regionalverband Bonn der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind e. V. gehalten am 9. Januar 1999, http://www.ehany.de/Lehre/Material/Hochbegabung/ Texte/Hb404.pdf (10.04.2020), S. 1. 16 M 5794/I/, ediert und übersetzt bei BOYCE (Anm. 4), S. 29 f. (Text a. 1.1); zum Fragment und zugehörigen Stücken auch SUNDERMANN, Mitteliranische manichäische Texte kirchengeschichtlichen Inhalts (Anm. 4), Nr. 24.1, S. 131 f.

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Bei der nun folgenden Interpretation der mittelalterlichen Neukonfiguration der manichäischen Religion an der Seidenstraße beziehe ich mich vor allem auf Texte aus der Berliner Turfan-Sammlung, die zusammen mit Fresken, Plastiken und anderen Kleinfunden die (aus heutiger Perspektive problematische) ‚Beute‘ mehrerer Expeditionen des damaligen Berliner Völkerkundemuseums in den Jahren 1904 bis 1914 waren.17 Was den Zweiten Weltkrieg überlebt hat und aus der Verlagerung zurückkehrte, befindet sich heute in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dem Museum für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen Berlin und der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Im Humboldt-Forum wird unter der rekonstruierten Schlosskuppel des 19. Jahrhunderts hoffentlich bald eine Präsentation der wichtigsten Funde zu sehen sein; in Vorbereitung dieser Neuaufstellung wurden die in Berlin erhaltenen Stücke sorgfältig restauriert.18 Ein Teil der Funde, der die Bombenzerstörung des alten Ausstellungsgebäudes (des Berliner Museums für Völkerkunde) überlebt hat, findet sich heute in Sankt Petersburg im Staatlichen Eremitage-Museum (und wohl auch ein weiterer Teil in Moskau). Das namengebende Turfan ist eine moderne Stadt in der Turfansenke im uigurischen autonomen Gebiet Xinjiang der Volksrepublik China, umgeben von einer Reihe von Ruinenstädten und verlassenen Siedlungen, in denen die Ausgrabungen stattfanden. Manichäische Stücke finden sich unter den vielen tausend Fragmenten der Textfunde19 aus der Oase von Turfan, weil der Manichäismus in den Jahren von

|| 17 Eine erste Orientierung über die Fundgeschichte, die Funde sowie ihre Edition und Präsentation bietet die Homepage des Berliner Editionsunternehmens: http://turfan.bbaw.de/projekt (10.04.2020): ausführlicher Caren DREYER (mit einem Geleitwort v. Hermann PARZINGER), Abenteuer Seidenstraße. Die Berliner Turfan-Expeditionen 1902–1914, Leipzig 2015 und DIES., Lore SANDER u. Friederike WEIS, Museum für Indische Kunst: Dokumentation der Verluste Bd. 3, Berlin 2002 (kriegsbedingte Verluste der Abteilungen Indien, Südostasien und Zentralasien des ehemaligen Museums für Völkerkunde mit Hinweisen auf die Petersburger Bestände). Eher populärwissenschaftlich angelegte Berichte legten die Expeditionsleiter vor: Albert GRÜNWEDEL, Altbuddhistische Kultstätten in Chinesisch Turkistan, Bericht über archäologische Arbeiten von 1906 bis 1907 bei Kuča, Qarašahr und in der Oase Turfan, Berlin 1912 sowie Albert VON LE COQ, Auf Hellas Spuren in Ostturkistan. Berichte und Abenteuer der II. und III. Deutschen Turfan-Expedition, Leipzig 1926. Die wissenschaftlichen Ausgrabungsberichte bibliographiert Frau DREYER, Abenteuer Seidenstraße, S. 260–264. 18 Toralf GABSCH, STAATLICHE MUSEEN ZU BERLIN (Hgg.), Auf Grünwedels Spuren. Restaurierung und Forschung an zentralasiatischen Wandmalereien, Leipzig 2012. 19 Als Überblick: Jens WILKENS, Einleitende Bemerkungen zur Gattungs- und Werksgeschichte des östlichen Manichäismus, in: Zekine ÖZERTURAL u. Jens WILKENS (Hgg.), Der östliche Manichäismus, Gattungs- und Werksgeschichte. Vorträge des Göttinger Symposiums vom 4./5. März 2010 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen N.F. 17 = Schriften der Kommission „Manichäische Studien“ 1), Berlin, Boston 2011, S. 1–9 und Xavier TREMBLAY, Pour une histoire de la Sérinde. Le Manichéisme parmi les peuples et religions d’Asie Centrale d’après les sources primaires (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 690 = Veröffentlichungen der Kommission für Iranistik 28), Wien 2001. – Vgl. auch die Beiträge im

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762 bis 840 n. Chr. im Uigurenreich eine Art Staatsreligion war und auch danach einflussreich blieb (wir werden darauf am Ende des Beitrages noch einmal ausführlicher zurückkommen), bis er, von Verfolgungen und Kriegen zurückgedrängt, im 14. Jahrhundert völlig von der Landkarte verschwand. Nach Uiguristan kam der Manichäismus im 6. oder eher 7. Jahrhundert durch die intensive Missionstätigkeit seiner Anhänger, die schon unter Mani begann, der sich zunächst nach Indien wandte, dann im persischen Raum und schließlich sogar im Kaukasus wirkte, bevor er unter dem persischen Großkönig Bahrām I. am 26. Februar 277 n. Chr. (vielleicht aber auch schon 276 n. Chr.) in Gundischapur/Beth-Lapat hingerichtet wurde.20 Man wird aber auch, wie Desmond DURKIN-MEISTERERNST einmal betont hat,21 die Folgen des katastrophalen Untergangs des Reichs der Sasaniden in Folge der arabischen Eroberung bis Mitte des 7. Jahrhunderts in Anschlag bringen müssen, die zur Flucht von persischen Manichäern und Christen über die Seidenstraße nach Zentralasien führte. Um die kreativen Veränderungsprozesse in den Blick zu nehmen, denen der Manichäismus während 800 Jahren an der Seidenstraße unterworfen war, müssen wir zunächst ganz allgemein fragen, wie sich diese Religion unter den Bedingungen Zentralasiens variierte und transformierte. Mit einer Antwort kann man es sich zunächst einmal ganz einfach machen und auf das bekannte Faktum hinweisen, dass der Manichäismus sich offenkundig immer stärker seiner neuen kulturellen, politischen, sozialen und eben auch seiner religiösen Umwelt anpasste – der zentralasiatische Manichäismus war, wie Samuel N. C. LIEU einmal formuliert hat, nun einmal keine Carbon-Kopie des persischen Urmodells oder gar seiner mittel-meerischen Versionen in Ägypten oder Nordafrika.22 Aber mit diesem klassischen, nahezu in

|| Sammelband einer Konferenz des Turfan-Unternehmens in Berlin im Jahre 2002: Desmond DURKINMEISTERERNST u. a. (Hgg.), Turfan Revisited – The First Century of Research into the Arts and Cultures of the Silk Road (Monographien zur indischen Archäologie, Kunst und Philologie 17), Berlin 2004 und den Überblick von Annemarie VON GABAIN, Das Leben im uigurischen Königreich von Qočo (830–1250) (Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica 6), Wiesbaden 1973. 20 Werner SUNDERMANN, Studien zur kirchengeschichtlichen Literatur der iranischen Manichäer III. Das überlieferte Material: historischer Bericht und Hagiographie, in: Altorientalische Forschungen 14 (1987), S. 41–107, hier S. 51–53 = DERS., Manichaica Iranica. Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Christiane RECK u. a., Bd. 1 (Istituto Italiano per l’Africa e l’Oriente. Serie Orientale Roma 89,1), Rom 2001, S. 357–423 mit Addenda et Corrigenda auf S. 424–426, hier S. 367–369; zustimmend referiert bei Alexander BÖHLIG, Manichäismus, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22 (2000 = 1992), S. 25–45, hier S. 30. 21 Mündlich in einem Gespräch im Februar 2019. 22 Samuel N. C. LIEU, Manichaeism in the Later Roman Empire and Medieval China (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 63), 2. Aufl. Tübingen 1992, S. 248; vgl. auch Desmond DURKIN-MEISTERERNST, Wie persisch war der Manichäismus in Ägypten? Wie ägyptisch ist er geworden?, in: Frank FEDER u. Angelika LOHWASSER (Hgg.), Ägypten und sein Umfeld in der Spätantike. Vom Regierungsantritt Diokletians 284/285 bis zur arabischen Eroberung des Vorderen Orients um

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jedem Beitrag über den Manichäismus verwendeten Modell der Anpassung oder Akkommodation ist noch nicht einmal ansatzweise das schöpferische Potential in den Blick genommen, das wir mit Hilfe der Begrifflichkeit „kreativer Prozess“ beschreiben wollen. Schließlich behielten gerade die Manichäer, die in der Oasensenke von Turfan lebten, zugleich auch relativ konservativ die liturgische Verwendung von Texten aus ihrer ursprünglichen Heimat in mittelpersischer und parthischer Sprache bei. Deshalb möchte ich die Instrumente meiner Analyse nun deutlich schärfer stellen und einen einzelnen, besonderen Textkomplex analysieren. Bei der dritten Berliner Turfan-Expedition der Berliner Museen in den Jahren 1905 bis 1907 wurde in der Nähe der Ruinenstadt Idikutšähri, der ehemaligen Hauptstadt des Gaochang-Reichs und des Westuigurischen Königreichs (sie wird in den alttürkischen Texten als Qočo bezeichnet),23 eine ganze Anzahl von Fragmenten eines manichäischen Pothī-Buches gefunden (T III D 246, 258/259 und 260).24 Als Fundort steht jetzt das nahe gelegene Murtuq fest. Unter einem Pothī- (oder Pustaka-)Buch versteht man ein von Buddhisten verwendetes, eigentlich indisches Buchformat, das ursprünglich aus mit einer Schnur zwischen zwei hölzernen Deckeln zusammengebundenen Palmblättern bestand, später allerdings auch im gleichen Querformat mit Papier ausgeführt wurde. Das in äußerst fragmentarischem Zustand auf uns gekommene Buch wird mit einer Miniatur eines manichäischen Electus eröffnet (MIK 8260 = T III D 260,1), die Albert VON LE COQ, Assistent des Direktors des Berliner Völkerkundemuseums und Grabungsleiters Albert GRÜNWEDEL, erst 1923 veröffentlichte,25 während die Textfragmente partiell bereits schon 1922, teilweise aber auch erst 1930 und 1958 veröffentlicht worden sind und daher der erste Versuch einer Gesamtedition des manichäischen Pothī-Buches auch erst 1982 unternommen werden konnte. Ein präziser Überblick über den Bestand ist auch nach der Publikation des verdienstvollen Kataloges von Jens WILKENS im Jahre 2000

|| 635–646. Akten der Tagung vom 7.–9. 7. 2011 in Münster (Philippika 61), Wiesbaden 2013, S. 208–219. 23 Vgl. vor allem Albert VON LE COQ, Chotscho. Facsimile-Wiedergaben der wichtigeren Funde der ersten königlich preußischen Expedition nach Turfan in Ost-Turkistan, Berlin 1913, ND Graz 1979; zuletzt Lilla RUSSELL-SMITH u. Ines KONCZAK-NAGEL (Hgg.), The Ruins of Kocho. Traces of Wooden Architecture on the Silk Road, Berlin 2016 (zu neuen chinesischen Ausgrabungen vor Ort und der Einmessung der alten Pläne der deutschen Expeditionen in eine GPS-gestützte Kartographierung der Ortslage). 24 Jens WILKENS, Alttürkische Handschriften. Teil 8. Manichäisch-türkische Texte der Berliner Turfansammlung (Verzeichnis der Orientalischen Handschriften in Deutschland XIII, 16), Stuttgart 2000, Nr. 357–380, S. 318–337; vgl. auch DERS., Musings on the Manichaean “pothi” Book, Studies on the Inner Asian Languages 23 (2008), S. 209–231. 25 Albert VON LE COQ, Die Buddhistische Spätantike in Mittelasien. Ergebnisse der Kgl. Preußischen Turfan-Expeditionen: II. Die manichaeischen Miniaturen, Berlin 1923, S. 48 f. und Taf. 7c.; zu Grünwedel vgl. Hartmut WALRAVENS, Albert Grünwedel – Leben und Werk, in: DURKIN-MEISTERERNST u. a. (Anm. 19), S. 363–369.

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für den Laien schwer zu gewinnen.26 Die Manichäer übernahmen also, mutmaßlich zu missionarischen Zwecken, eine einheimische, im Buddhismus verwendete Publikationsform, die sich deutlich von den Codices unterschied, die man im Mittelmeerraum verwendete. Das manichäische Pothī-Buch aus Murtuq bei Qočo wird mit einer Illustration eröffnet. Diese Miniatur zeigt eine bestimmte Stufe eines Angehörigen der manichäischen Religion, nämlich – ich zitiere LE COQs Beschreibung – „einen sitzenden oder knieenden electus in weißer Ritualkleidung unter einem blühenden Baum […]. Seine weiße Priestertiara hängt hinter ihm an einem Ast; vor ihm erhebt sich eine Art Altar, Pult oder Thron“.27 Im unteren Register knien zwei Figuren mit Kopfbedeckung vor einem Weihrauchständer. Der Stil der Miniatur entspricht, wie ebenfalls schon LE COQ feststellte, zeitgenössischer chinesischer Malerei.28 Nach der Miniatur folgten in dem Buch – in alttürkischer Sprache und manichäischer Schrift – insgesamt mindestens zwölf Texte auf rund fünfzig Blättern, von denen uns hier nur der zweite interessiert, der auf einen längeren ‚Großen Hymnus an Mani‘ folgt. Es handelt sich bei diesem zweiten Text ebenfalls um einen Hymnus, der im Unterschied zu den übrigen Texten des Buchs nicht nur in alttürkischer Sprache mitgeteilt wird, sondern als Bilingue auch in einer uigurisch-tocharischen Version neben der alttürkischen. Beim Uigurisch-Tocharischen handelt es sich um eine indogermanische Sprache, die zur westlichen Gruppe der Kentumsprachen gehört, auch Tocharisch B oder Turfanian; sie wurde in Qočo und Umgebung gesprochen. Alttürkisch gehört dagegen zu den in der Mission des Manichäismus in Ostzentralasien verwendeten Sprachen.

|| 26 Albert VON LE COQ, Türkische Manichaica aus Chotscho III, nebst einem christlichen Bruchstück aus Bulayïq (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse 2, 1922), Berlin 1922, Nr. 39, S. 46–48 (Transliteration des Textes); Larry V. CLARK, The Manichaean Turkic pothi-book, Altorientalische Forschungen 9 (1982), S. 145–218. 27 LE COQ (Anm. 26), S. 46. 28 So auch Zsuzsanna GULÁCSI, Manichaean Art in Berlin Collections. A Comprehensive Catalogue of Manichaean Artifacts belonging to the Berlin State Museums of the Prussian Cultural Foundation, Museum of Indian Art, and the Berlin-Brandenburg Academy of Sciences, deposited in the Berlin State Library of the Prussian Cultural Foundation (Corpus Fontium Manichaeorum. Series Archaeologica et Iconographica 1), Turnhout 2001, Nr. 69, S. 152–154 mit Fig. 69,1–4; vgl. DIES., Mediaeval Manichaean book art. A Codicological Study of Iranian and Turkic Illuminated Book Fragments from 8th to 11th Century East Central Asia (Nag Hammadi and Manichaean Studies 57), Leiden 2005, S. 188 f.

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Abb. 1: fol. 1r des manichäischen Pothī-Buches (Berlin, SMPK), © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst / Jürgen Liepe.

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Abb. 2: fol. 1v des manichäischen Pothī-Buches (Berlin, SMPK), © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst / Jürgen Liepe.

Unser in den zwei Versionen des Uigurisch-Tocharischen und Alttürkischen überlieferter zweiter Hymnus des manichäischen Pothī-Buch aus Murtuq bei Qočo wurde erstmals 1958 durch Annemarie VON GABAIN 1958 vollständig veröffentlicht und von ihr ‚Hymnus an den Vater Mani‘ überschrieben.29 Dabei ist die zweisprachige Fassung dieses Hymnus im manichäischen Pothī-Buch nicht die einzige Version dieses Textes: Frau VON GABAIN wurde die Rekonstruktion der westtocharischen wie alttürkischen Version dieses zweiten Hymnus’ der Sammlung dadurch erleichtert, dass sich auch westtocharisch-mitteliranische Bruchstücke von Bilinguen des Textes im Turfan-Fund nachweisen ließen.30 Die Handschrift des manichäischen Pothī-Buchs

|| 29 Annemarie VON GABAIN u. Werner WINTER, Türkische Turfantexte IX. Ein Hymnus an den Vater Mani auf „Tocharisch“ B mit alttürkischer Übersetzung (Abhandlungen der deutschen Akademie der Wissenschaften, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 2, 1956), Berlin 1958, S. 10–19. – Zu Annemarie von Gabain (1901–1993) vgl. Gerdien JONKER, Gelehrte Damen, Ehefrauen, Wissenschaftlerinnen. Die Mitarbeit der Frauen in der Orientalischen Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1907–1945), in: Theresa WOBBE (Hg.), Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000 (Forschungsberichte. Interdisziplinäre Arbeitsgruppen, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften 10), Berlin 2002, S. 125– 166, hier S. 144–146 sowie Jens Peter LAUT, Annemarie von Gabain 1901–1993, in: Finnisch-Ugrische Forschungen 52 (1995), S. 367–374. 30 GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 4. – Vgl. auch CLARK (Anm. 26), S. 148, 151 f., 174 f., 188, 204–206 und Georges-Jean PINAULT, Bilingual Hymn to Mani. Analysis of the Tocharian B parts, in: Studies on the Inner Asian Languages (Papers in Honour of Professor Takao Moriyasu), 23 (2008), 93–120. Eine weitere deutsche Übersetzung bei: Hymnen und Gebete der Religion des Lichts. Iranische und türkische liturgische Texte der Manichäer Zentralasiens, eingeleitet und aus dem Mittelpersischen, Parthischen, Sogdischen und Uigurischen (Alttürkischen) übersetzt v. Hans-Joachim KLIMKEIT (Abhandlungen der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften 79), Opladen 1989, S. 220 f.; vgl. auch Larry CLARK (Hg.), Uygur Manichaean Texts, Vol. 2: Liturgical Texts. Texts, Translations, Commentary (Corpus Fontium Manichaeorum. Series Turcica 2), Turnhout 2013, S. 12–14.

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stammt wahrscheinlich aus dem 9. Jahrhundert (so schon Frau VON GABAIN);31 sie wurde also wie die übrigen manichäischen Texte in alttürkischer Sprache, die sich als Ergebnis der Turfan-Expeditionen der Berliner Museen in Berlin befinden, erst nach dem Zusammenbruch des mächtigen Steppenreiches der Uiguren geschrieben, als dieses Turkvolk das Westuigurische Königreich mit der Hauptstadt Qočo (Gaochang) begründete, und damit zugleich nach der Phase der sogenannten Staatsreligion. Das Schrifttum der uigurischen Manichäer beschränkte sich – sieht man von der frühen, dreisprachigen Inschrift in chinesischer, sogdischer und alttürkischer Sprache aus Karabalgasun, der in der heutigen Mongolei gelegenen einstigen Hauptstadt eines uigurischen Khaganates im Orchontal, aus dem 8. Jahrhundert einmal ab32 – zeitlich auf das 10. sowie das 11. Jahrhundert und räumlich auf die Oasenregion Turfan und Dunhuang. Obwohl der Manichäismus zur Entstehungszeit des Pothī-Buchs nicht mehr als sogenannte Staatsreligion fungierte, bestand offenbar eine Beziehung zwischen diesem manichäischen Pothī-Buch und dem uigurischen Herrscherhaus, denn die Spende für seine Abschrift aus dem (verlorenen) Original wird als Verdienst eben diesem Herrscherhaus angerechnet.33 Doch zurück zu unserer westtocharisch-alttürkischen Bilingue aus dem manichäischen Pothī-Buch, dem ‚Hymnus an den Vater Mani‘ (fol. 25v,5–29r,5). Der Anfang ist in beiden Versionen verloren, die Fortsetzung gleich (ich zitiere die alttürkische Version): „Oh starker Mondgott, wie des Gottes Indra Diadem, wie des Gottes Brahma Kranz, strahlend zu sehen ist mein Mani-Buddha, mein Vater, deshalb verneige ich mich preisend“.34 Der westtocharische Text der Bilingue geht weitgehend parallel, aber mit einem interessanten Unterschied: Wo die alttürkische Version „mein Mani-Buddha, Vater“ hat, steht im westtocharischen Text nur „Vater Mani“. Wie die weiteren erhaltenen Fragmente des zweiten Textes aus dem manichäischen Pothī-Buch zeigen, handelt es sich um kein Versehen – auch an allen weiteren Stellen differieren beide Versionen, die westtocharische bietet nur „Vater Mani“, die alttürkische Version „mein Mani-Buddha, mein Vater“.35 Wir können an || 31 Dieses Datum ist freilich nicht wirklich sicher; jüngst wurde die gewöhnliche Frühdatierung unseres manichäischen Pothī-Buch auf das 8. bis 9. Jahrhundert ebenso vehement in Frage gestellt wie diese Erwägungen umgekehrt harsch zurückgewiesen wurden, vgl. Michael KNÜPPEL, Gedanken zum zentral- und ostasiatischen „Spät-Manichäismus“, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62 (2010), S. 384–387. 32 Yutaka YOSHIDA, Karabalgasun II. The Inscription, in: Encyclopedia Iranica, online zugänglich: http://www.iranicaonline.org/articles/karabalgasun-the-inscription (10.04.2020); Larry CLARK, The Conversion of Bügü Khan to Manichaeism, in: Ronald E. EMMERICK, Werner SUNDERMANN u. Peter ZIEME (Hgg.), Studia Manichaica. IV. Internationaler Kongress zum Manichäismus, Berlin, 14.–18. Juli 1997 (Berichte und Abhandlungen, hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderband 4), Berlin 2000, S. 83–123, hier S. 87 f. mit weiterer Lit. in den Anm. 33 GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 6 f. 34 T III D 260,34 Z. 11-15: GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 10 f. 35 T III D 260,14 Z. 21 f.: GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 12.

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dieser Stelle nicht den ganzen, metrisch verfassten Hymnus mit drei bzw. vier Langbzw. sechs Kurzstrophen in den Blick nehmen, aber es sollte deutlich geworden sein, wie sehr in diesem Text Mani und damit der gesamte Manichäismus in einem buddhistischen Kontext präsentiert wird. Nur noch ein besonders charakteristischer Vers: „nirvāņahaft ist deine Art, durchschritten habend die Zeit, von den Buddhas auf dem Scheitel getragen zu werden würdig [bist du] – darum, ja darum preise ich dich“.36 So geht das bis zum Ende unseres Textes, das allerdings nur fragmentarisch überliefert ist. Daher gibt es zu der schönen Formulierung „Lehrer Buddha-Gott“ in der letzten Zeile der alttürkischen Version des Hymnus aus dem manichäischen Pothī-Buch leider keine westtocharische Parallele.37 Frau VON GABAIN rekonstruiert als subscriptio unseres Hymnus: „Ein den Lehrer Buddha-Gott preisender […] Hymnus“,38 wobei der erhaltene Text nach „Lehrer Buddha-Gott“ abbricht. Man müsste dann für das Tocharische als subscriptio konjizieren: „Ein den Lehrer und Gott preisender Hymnus“. Da Mani, wie wir sagten, von den Manichäern mit seinem himmlischen „Zwilling“ in gewisser Weise identisch gesetzt wurde (oder besser: sein inneres Selbst), dieser „Zwilling“ aber eine Emanation des Licht-Nous und insofern göttlich war,39 hätte Mani durchaus als „Lehrer“ und „Gott“ bezeichnet werden können – und, wie wir gleich sehen werden, eben auch als „Buddha“. Soweit der zweite Text aus dem manichäischen Pothī-Buch nach seiner alttürkischen und tocharischen Version. Besonders interessant sind für unsere Zusammenhänge auch die eben schon erwähnten, von dem aus Deutschland geflüchteten Iranisten Walter Bruno HENNING (1908–1967) identifizierten und Frau VON GABAIN für ihre Edition im Jahre 1958 zur Verfügung gestellten Fragmente einer weiteren Fassung unseres Hymnus in einer mutmaßlich mitteliranisch-westtocharischen Bilingue. Auch wenn es sich nur um kleine Fragmente handelt, wird doch deutlich, dass diese ebenfalls in Turfan gefundenen Stücke belegen, dass der ‚Hymnus an den Vater Mani‘ in derselben Oase auch als Jesus-Hymnus zirkulierte. HENNING und GABAIN rekonstruieren aus den Fragmenten folgenden Text: „starker Mond, wie das Diadem des Indra, wie der Kranz des Brahma, (ist) Jesus, der strahlend zu sehende Jesus, darum, ja darum preise ich“.40 Obwohl Jesus, der Glanz, im Manichäismus als eine besondere Emanation zur Rettung der Welt und als besonderer Gesandter des Vaters der Größe gilt, wurden Person und Todesleiden des Mani vor dem Hinter-

|| 36 Rekonstruktion nach T III D 260,14 Z. 24–27: GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 31 (Edition S. 12). 37 T III D 260,19 Z. 45: GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 15. 38 Kommentar zu vorstehender Stelle bei GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 29. 39 Albert HENRICHS u. Ludwig KOENEN, Ein griechischer Mani-Codex (P. Colon. Inv. Nr. 4780), ZPE 5 (1970), S. 97–216, hier S. 183–186. 40 Rekonstruktion aus T M 177 und T II D 67 (5436): GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 37 (Textedition: S. 15).

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grund der Passion Jesu begriffen. Texte für Jesus auf Mani und umgekehrt Texte für Mani auf Jesus anzuwenden, lag also durchaus nahe.41 Der doppelte Befund der alttürkisch-tocharischen Bilingue aus dem manichäischen Pothī-Buch aus Murtuq bei Qočo einerseits und der Fragmente von mitteliranisch-westtocharischen Bilinguen wohl vom selben Ort andererseits wirft viele Fragen auf: In welcher Sprache wurde der Text erstmals verfasst? Handelte es sich ursprünglich um einen Jesus-Hymnus? Um einen Mani-Hymnus? Oder um einen auf Mani oder Jesus umgedichteten buddhistischen Hymnus? HENNING und GABAIN wussten aus den wenigen Fragmenten die Traditionsgeschichte der beiden bilinguen Versionen des Hymnus nicht zu rekonstruieren. Ob der naheliegende Eindruck, dass ein ursprünglicher Jesus-Hymnus sowohl stärkeres buddhistisches Kolorit erhielt als auch auf Mani umgeschrieben wurde, zutrifft oder umgekehrt ein ursprünglich auf Mani gedichteter Hymnus später auf Jesus übertragen wurde, ist auch heute, nach der Veröffentlichung vieler weiterer Textfragmente aus Turfan, kaum zu entscheiden.42 Wie steht es aber um die buddhistischen Elemente, die sich im Alttürkischen sehr dominant finden, aber durchaus auch im Tocharischen – so ist dort ebenfalls vom Kranz des Brahma und vom Nirvāņa die Rede, nur Buddha fehlt. Der Bonner Manichäismusforscher Hans-Joachim KLIMKEIT (1939–1999) hat in einem Beitrag unter dem Titel „Buddhistische Übernahmen im iranischen und türkischen Manichäismus“43 sorgfältig nachgezeichnet, wie von Manis erster großer Missionsreise in das buddhistische Indien im Jahre 241/242 n. Chr. an44 die Adaption buddhistischer Termini, Theologumena und künstlerischer Vorstellungen insbesondere im Osten stetig zunahm, ohne dabei die jüdisch-christlichen Grundelemente des Selbstverständnisses von Mani als „Prophet“, „Siegel der Propheten“ und „Apostel“ vollkommen zu verdrängen. Der Tübinger Koptologe Alexander BÖHLIG (1912–1996) hat einmal formuliert, dass schon Mani so wie der von ihm

|| 41 Ernst WALDSCHMIDT u. Wolfgang LENTZ, Die Stellung Jesu im Manichäismus (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 4, 1926), Berlin 1926, passim. 42 GABAIN u. WINTER (Anm. 29), S. 37 f. – CLARK (Anm. 26), S. 151, weist darauf hin, dass „this hymn is modeled on the Buddhastotrae, or praises of the Buddha, which constitute a significant portion of the Buddhist Tokharian texts“. 43 Hans-Joachim KLIMKEIT, Adaptions to Buddhism in East Iranian and Central Asian Manichaeism, in: Manfred HEUSER u. Hans-Joachim KLIMKEIT, Studies in Manichaean Literature and Art (Nag Hammadi and Manichaean Studies 46), Leiden u. a. 1998, S. 237–253 = DERS., Buddhistische Übernahmen im iranischen und türkischen Manichäismus, in: Walther HEISSIG u. Hans-Joachim KLIMKEIT (Hgg.), Synkretismus in den Religionen Zentralasiens. Ergebnisse eines Kolloquiums vom 24.5. bis 26.5.1983 in St. Augustin bei Bonn (Studies in Oriental Religions 13), Wiesbaden 1987, S. 58–75. 44 Werner SUNDERMANN, Mani, India and the Manichaean Religion, in: South Asian Studies 2 (1986), S. 11–19 = DERS., Manichaica Iranica I (Anm. 20), S. 199–215 (mit Addenda et Corrigenda auf S. 215 f.).

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bewunderte Apostel Paulus den Griechen ein Grieche und den Juden ein Jude, den Christen ein Christ, den Zoroastriern ein Zoroastrier und den Buddhisten ein Buddhist sein wollte.45 Diesem Zweck dienten seine sogenannten Missionsreisen und dem letztgenannten Ziel, den Buddhisten ein Buddhist zu sein, die erwähnte Reise nach Indien.46 In einem mitteliranischen Text aus Turfan findet sich ein Fragment eines Dialoges zwischen Mani und einem weisen Zuhörer namens Gwndyš (in koptischen Texten: Gundēš),47 das zu dieser Missionsreise gehört. Als Abschluss des Dialoges, der (fast möchte man sagen: natürlich) zur Bekehrung des Gwndyš führt, formuliert Gwndyš sein Bekenntnis: „Aber nun, da ich dich gesehen und deine Rede gehört habe, da weiß ich, dass deine Weisheit der meinen überlegen ist. Und nun weiß ich in Wahrheit, dass du der Buddha und Apostel bist“.48 KLIMKEIT erklärt solche auf den ersten Blick überraschenden Übernahmen mit der These einer inneren Nähe beider Religionen, von Buddhismus und Manichäismus: „For both religions, the world is a place of woe and suffering […]. In both religions, humankind is bound to the law of retribution, which ties people to the cycle of rebirths“.49 Dabei bleibt in Details Vieles unklar. Um beispielsweise die Geschichte der Adaption des Buddhismus durch den Manichäismus präziser und vor allem von Anfang an nachzeichnen zu können, wäre es sehr hilfreich, wenn wir beispielsweise das im Kitāb al-Fihrist des Ibn an-Nadīm erwähnte ‚Sendschreiben an Indien‘ aus der Feder Manis kennen würden. Vielleicht ist es in der bislang nicht edierten koptischen Briefsammlung Manis enthalten, die zu den berühmten Codices zählt, die Carl SCHMIDT in Ägypten erwerben konnte (P. Berol. 15998), die aber im Gefolge des Zweiten Weltkriegs weitestgehend aus Berlin verschwunden ist und heute überwiegend in Sankt Petersburg aufbewahrt wird.50 Der Berliner Manichäis|| 45 Die Gnosis. Bd. 3 Der Manichäismus, unter Mitwirkung von Jes Peter ASMUSSEN eingeleitet, übersetzt und erläutert v. Alexander BÖHLIG, Zürich 1995, S. 55. 46 Cornelia Eva RÖMER, Manis frühe Missionsreisen nach der Kölner Manibiographie. Textkritischer Kommentar und Erläuterungen zu p. 121 – p. 192 des Kölner Mani-Kodex (Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Sonderreihe Papyrologica Coloniensia 24), Opladen 1994, S. I–XVIII und jetzt Iain GARDNER, The Founder of Manichaeism. Rethinking the Life of Mani, Cambridge 2020, S. 37–58. 47 SUNDERMANN, Mitteliranische manichäische Texte kirchengeschichtlichen Inhalts (Anm. 4), S. 86. 48 M 6041 Verso, Z. 9–16; Edition und Übersetzung bei SUNDERMANN, Mitteliranische manichäische Texte kirchengeschichtlichen Inhalts (Anm. 4), Nr. 4.b.2, S. 89; vgl. dazu KLIMKEIT (Anm. 43), S. 239. 49 KLIMKEIT (Anm. 43), S. 238. 50 Iain GARDNER, Some Comments on the Remnants of the Codex of Mani’s Epistles in Middle Persian as Edited by W. Sundermann, in: TEAM TURFANFORSCHUNG (Hg.), Zur lichten Heimat. Studien zu Manichäismus, Iranistik und Zentralasienkunde im Gedenken an Werner Sundermann (Iranica 25), Wiesbaden 2017, S. 173–180 und DERS., The Reconstruction of Mani’s Epistles from Three Coptic Codices (Ismant el-Kharab and Medinet Madi), in: Paul MIRECKI u. Jason BEDUHN (Hgg.), The Light and the Darkness: Studies in Manichaeism and its World (Nag Hammadi and Manichaean Studies 50), Leiden u. a. 2001, S. 93–104.

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mus-Experte Werner SUNDERMANN (1935–2012) hat aufgrund einer sorgfältigen Analyse vor allem des Kölner Mani-Codex und mitteliranischer Texte die ziemlich überzeugende These vertreten, dass die Erfahrungen in Indien Manis Denken noch einmal stark veränderten – ein Denken, das vor dieser Reise vor allem durch das jüdisch-christliche Erbe der Taufbewegung der Elchesaiten, in der Mani bekanntlich aufgewachsen war, geprägt war und nach der Exkommunikation durch das Synhedrium (bzw. eine Synode) der Elchesaiten durch seine Kontakte zu Anhängern von Marcion, Bardaisan und Valentinus.51 Diese Gruppen rechnen wir gewöhnlich zur „Gnosis“ oder zum „Gnostizismus“, aber leider wissen wir über solche „gnostischen“ Gruppen von Anhängern des Marcion, Bardaisan und Valentinus in Persien, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sehr wenig. Es wäre an der Zeit, die Untersuchung der schwierigen Passagen christlicher und islamischer Häresiologen über einschlägige vormanichäische Gruppen in Persien, die Erik PETERSON vor Zeiten virtuos begonnen hat, wieder aufzunehmen.52 Das kann hier natürlich nicht geschehen. Gewöhnlich versucht man den am Beispiel eines Hymnus aus dem manichäischen Pothī-Buch von Murtuq bei Qočo und seinen mitteliranisch-tocharischen Parallelen explizierten Befunden durch eine Zuweisung bestimmter Begriffe an große religiöse Traditionen wie eben Christentum, Judentum, Zoroastrismus oder Buddhismus beizukommen. Den Befund in den manichäischen Texten beschrieb man seit der frühen Neuzeit – wie erwähnt – gern als „Synkretismus“, also als „Religionsvermischung“; inzwischen wird gern von „Adaption“, „Rezeption“ oder „Übernahme“ gesprochen.53 Schon länger war deutlich, dass solche Übernahmen, Rezeptionen und Adaptionen unter den Bedingungen einer multireligiösen Umwelt an der Seidenstraße nicht nach dem Bild einer Einbahnstraße modelliert werden dürfen, sondern im Blick auf den Manichäismus immer als ein kompliziertes Netzwerk von Beziehungen gedacht werden müssen. KLIMKEIT hat beispielsweise gezeigt, dass das Stichwort „Adaption“ oder „Übernahme“ im Verhältnis von Manichäismus zu Buddhismus nicht einseitig verstanden werden darf: Während ASMUSSEN in sei-

|| 51 Mani-Codex p. 94 [S. 66 HENRICHS, KOENEN u. RÖMER (Anm. 9)]; vgl. auch Johannes VAN OORT, Elkesaiten, in: Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. 2 (4. Aufl. 2000), Sp. 1227 f. Gerard P. LUTTIKHUIZEN, The Revelation of Elchasai. Investigations into the Evidence for a Mesopotamian Jewish Apocalypse of the Second Century and its Reception by Judaeo-Christian Propagandists (Texte und Studien zum antiken Judentum 8), Tübingen 1985 und F. Stanley JONES, Pseudoclementina. Elchasaiticaque inter Judaeochristiana. Collected Studies (Orientalia Lovaniensia Analecta 203), Leuven u. a. 2012. 52 Christoph MARKSCHIES, Erik Peterson und die Gnosis, in: Giancarlo CARONELLO (Hg.), Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, Berlin 2012, S. 329–356. 53 Eine Rehabilitierung des Synkretismus-Begriffs versucht jetzt: David FRANKFURTER, Christianizing Egypt: Syncretism and Local Worlds in Late Antiquity (Martin Classical Lectures), Princeton 2018. Kritischer Christoph MARKSCHIES, Synkretismus V. Kirchengeschichtlich (Anm. 3), S. 538–552.

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nen „Studies in Manichaeism“ für die Abhängigkeit der manichäischen Beichtspiegelliteratur von buddhistischen Beichtformularen zu argumentieren versuchte, stellte KLIMKEIT die Frage, ob es sich nicht umgekehrt verhalten könne.54 Allerdings gehen solche Beschreibungen noch viel zu sehr von Religionen als stabilen Entitäten aus, aus denen scheinbar bestimmte Elemente herausgebrochen und in neue Kontexte eingefügt werden könnten. Die Debatten über die Geschichte des Verhältnisses zwischen Judentum und Christentum in der Antike haben vom Paradigma einer lang anhaltenden Begegnungs- und Trennungsgeschichte mindestens auf der Ebene der gelebten Religion in den letzten Jahren zum Paradigma der partiellen Nichtunterscheidbarkeit dieser Religionen auf der Ebene der gelebten Religion geführt – statt von der allmählichen „Teilung der Wege“ („parting of the ways“)55 wird nun gern angesichts der aufeinander bezogenen gemeinsamen Entwicklungsdynamiken antiker religiöser Gruppen pointiert von „the ways that never parted“, zu Deutsch etwa „die Wege, die niemals auseinander führten“, gesprochen. Nun ist es allerdings in vielen antiken wie mittelalterlichen Kontexten problematisch, eine große Fülle von individuellen Ausprägungen gelebter Religion (oder gar von häufig fluider Religiosität) einer einzigen, bestimmten Religion zuzuweisen oder für Texte in einem fluiden Netzwerk der Übernahmen, Rezeptionen und Adaptionen klare Richtungspfeile einer einheitlichen Entwicklung bestimmen zu wollen. Man vermeidet – so stellt es sich mir jedenfalls gegenwärtig dar – derartige Sackgassen und auch die etwas ermüdenden Debatten, ob im Rahmen einer Modellbildung Essentialisierungen gerade noch erlaubt oder nicht vielmehr streng verboten sind, wenn man fragt, ob solche Phänomene nicht auch als Zeichen eines kreativen Prozesses gedeutet werden könnten. Was traditionell nach dem Modell der Interpretatio Graeca bzw. der Interpretatio Romana56 als die Interpretatio Christiana oder

|| 54 Hans-Joachim KLIMKEIT, Manichäische und buddhistische Beichtformeln aus Turfan. Beobachtungen zur Beziehung zwischen Gnosis und Mahāyāna, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 29 (1977), S. 193–228 gegen Jes Peter ASMUSSEN, Xuāstvānīft. Studies in Manichaeism (Acta Theologica Danica 7), Kopenhagen 1965, S. 203–253; vgl. Werner SUNDERMANN u. Hans-Joachim Klimkeit und die Turfanforschung, in: In memoriam Hans-Joachim Klimkeit. Reden, gehalten am 5. November 1999 anläßlich der Akademischen Gedenkfeier der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität von Helmut ROTH, Wolfgang GANTKE, Ulrich VOLLMER, Burkhard GLADIGOW u. Werner SUNDERMANN (Alma Mater 89), Bonn 2000, S. 33–39, hier S. 35. 55 James D. G. DUNN, The Parting of the Ways Between Christianity and Judaism and Their Significance for the Character of Christianity, London 1991; Judith LIEU, „The Parting of the Ways“: Theological Construct or Historical Reality?“, in: Journal for the Study of the New Testament 17 (1995), S. 101–119 sowie Annette YOSHIKO REED u. Adam H. BECKER, Traditional Models and New Directions, in: Adam H. BECKER u. Annette YOSHIKO REED (Hgg.), The Ways that Never Parted: Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages (Texts and Studies in Ancient Judaism 95), Tübingen 2003, S. 1–34. 56 Zu dieser Begrifflichkeit: Stefan PFEIFFER, Interpretatio Graeca. Der „übersetzte Gott“ in der multikulturellen Gesellschaft des hellenistischen Ägypten, in: Melanie LANGE u. Martin RÖSEL

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eben die Interpretatio Buddhica (so KLIMKEIT)57 im Manichäismus angesprochen und also als ein primär hermeneutischer Prozess interpretiert wurde, ist doch in Wahrheit ein viel umfassenderer kreativer Prozess, der nicht einfach ein x für ein u erklärt, sondern unter Benutzung, Übernahme, Rezeption und Adaption zunächst fremder religiöser Traditionen die eigene Religion, Praxis wie ihre Reflexion, überraschend neu konfiguriert (und damit transformiert, wie ich mit Blick auf die Terminologie eines Berliner Sonderforschungsbereichs sagen könnte). Das Beispiel des Manichäismus auf der Seidenstraße zeigt, dass dieser kreative Prozess eine überkommene Religion in neuen Kontexten besser lebbar machte – denn im Ergebnis stärkte der kreative Prozess die Verbindungspunkte einer Religion zu anderen Religionen, reduzierte Potential für Religionskonflikte und stärkte umgekehrt Anknüpfungspunkte für ein friedliches Zusammenleben verschiedener Religionen in einer – wie man durchaus sagen kann – multireligiösen und in Ansätzen multikulturellen Umwelt. Wenn man auf diese Weise den kreativen Prozess und eine fortwährende Neukonfiguration als ein Kernelement manichäischer Religion beschreibt (wie wir das freilich nur an einem charakteristischen Beispiel tun konnten), lässt sich nicht nur diese Religion als Religion besser verstehen als mit den klassischen Paradigmen einer essenzialisierenden Religionswissenschaft. Man versteht meiner Ansicht nach auch die Geschichte dieser Religion in unterschiedlichen antiken wie mittelalterlichen Gesellschaften besser: Es könnte durchaus sein, dass der Uiguren-Khan Bögü im Winter 762/763 n. Chr. den von den Sogdern propagierten und seiner bisherigen Religion völlig entgegengesetzten Manichäismus annahm und damit anstelle des sogenannten Tengrismus (oder Tänrismus, einer Form von Schamanismus)58 sozusagen zur Staatsreligion machte, weil diese Religion durch eben solche kreative Prozesse besonders integrationsfähig für Gesellschaften, Kulturen und Religionen an der Seidenstraße geworden war. Vergleicht man zeitgenössische christliche Texte, beispielsweise die in soghdischer Sprache abgefasste, ebenfalls in der Berliner Turfan-Sammlung aufbewahrte fragmentarische christliche Polemik gegen den Manichäismus aus dem 8. bis 10. Jahrhundert, die Nicholas SIMS-WILLIAMS ediert und kommentiert hat, dann findet sich dort ausschließlich klassische antimanichäische Polemik, aber keine kreative Übernahme und Adaption: „Ihr seid“, so wendet sich der christliche Text gegen den manichäischen Prinzipiendualismus zwischen Licht und Finsternis, „fähig zu sagen, dass Entgegensetzung über eure eigenen Götter kommt“ und von „Gottes Ewigkeit zusammen mit der Ewigkeit Satans“ die || (Hgg.), Der übersetzte Gott, Leipzig 2015, S. 37–53. Der Terminus geht auf Tacitus, Germania 43 (interpretatione Romana Castorem Pollucemque, vgl. Rudolf MUCH, Die Germania des Tacitus (Germanische Bibliothek V, 3), Heidelberg 1937, S. 380) zurück. 57 KLIMKEIT (Anm. 43), S. 244. 58 András RÓNA-TAS, Materialien zur alten Religion der Türken, in: HEISSIG u. KLIMKEIT (Anm. 43), S. 33–45.

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Rede ist.59 Die manichäischen polemischen Texte, die sich in der Turfan-Sammlung finden, polemisieren dagegen nicht gegen den Buddhismus der Menschen an der Seidenstraße, sondern sind – wie Desmond DURKIN-MEISTERERNST mit Hinweis auf ihre mitteliranische Sprache gezeigt hat – wahrscheinlich Texte aus der persischen Ursprungsregion der Religion und wenden sich gegen dortige Religiosität: „Dies ist der Götzentempel“, heißt es in einem Text (möglicherweise über eine Abbildung, die einen Tempel darstellt), „den sie ‚Haus der Götter‘ nennen. Und entsprechend diesem Namen des Hauses wären in ihm also viele ‚Götter‘ […] Doch im Inneren im ‚Haus der Götter‘ gibt es keine Götter. Die Betrogenen erkennen das nicht, denn ihre Geister sind trunken gemacht. Aber du […]“.60 Wenn man diesen Text mit DURKINMEISTERERNST in die persische Gründungsphase des Manichäismus vor der Vertreibung durch die arabische Eroberung Mitte des 7. Jahrhunderts datieren darf, dann wird das kreative Potential des Manichäismus an der Seidenstraße deutlich, der auf derartige schroffe Polemik gegen Buddhismus wie Christentum nach allem, was wir wissen, verzichtete oder jedenfalls keine neuen entsprechenden Texte produzierte, sondern über Texte integrierte. Auch wenn diese Rekonstruktion der interreligiösen Verhältnisse an der Seidenstraße eine Hypothese bleibt und die wirklichen Gründe für die zeitweilige Annahme des Manichäismus durch führende Schichten so unsicher sind wie es die Antwort auf die Frage ist, ob der Manichäismus, eine klassische Religion intellektueller Eliten, jemals bei der Mehrheit des uigurischen Volkes auf wirklich fruchtbaren Boden fiel,61 spricht doch Manches für die hier vorgetragene Hypothese. Folgt man dieser neuen Sicht, wäre auch zu verstehen, warum sich der Manichäismus von der Katastrophe des Jahres 843 n. Chr., als manichäische Priester öffentlich erniedrigt und hingerichtet und die Reste der uigurischen Turkstämme in der Gegend von Qotšo neu angesiedelt wurden, offenkundig erholt hat und erst allmählich gegen-

|| 59 Against the Manichaean Religion (E 26/3-5 [= n 145 u. a.]), hrsg. v. Nicholas SIMS-WILLIAMS, The Life of Serapion and other Christian Sogdian Texts from the Manuscripts E25 and E26 (Berliner Turfantexte 35), Turnhout 2015, S. 26–32, hier S. 26–29; vgl. auch Desmond DURKIN-MEISTERERNST, Manichaean Terminology in Sogdian, in: ACADEMIA TURFANICA (Hg.), Tulufanxue yanjiu / Journal of the Turfan Studies, Essays on The Third International Conference on Turfanstudies. The Origins and Migrations of Eurasian Nomadic Peoples. Shanghai 2010, S. 610–622. 60 Friedrich Carl ANDREAS, Mitteliranische Manichaica aus Chinesisch-Turkestan II, aus dem Nachlass hrsg. v. Walter HENNING (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 7–9, 1933), Berlin 1933, S. 294–363, hier S. 312 (= M 219 R 18 V, Z. 8–18). 61 Peter ZIEME, You guan monijiao kaijiao huigude ijian xinshilio (A new Manichean Uighur document concerning the adoption of Manicheism by the Uighurs), in: Journal of Dunhuang studies/Dunhuang xue jikan 65 (2009), S. 1–7.

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über dem Buddhismus an Boden verlor.62 Das hatte sicher auch mit Machtverhältnissen zu tun, wie ein Brief eines Manichäers über Plünderung der Schmuckelemente und Skulpturen eines manichäischen Klosters zeigt, die in ein buddhistisches Kloster eingebaut wurden; SUNDERMANN datiert ihn in das 9. Jahrhundert.63 Man könnte das allmähliche Verschwinden des Manichäismus an der Seidenstraße bis ins 14. Jahrhundert damit erklären, dass die außerordentliche Kreativitätsdynamik dieser Religion, die ihn von Anfang an prägte und die auch an der Seidenstraße zu Beginn im Frühmittelalter zu konstatieren ist, sich allmählich erschöpft hatte. Wer bloß irgendwie alles übernimmt, verliert am Schluss eben vollkommen sein Profil und damit auch alle Attraktivität. Der an und für sich fundamentale Unterschied zu Religionen, die ausschließlich auf Abgrenzung setzen, kann sich dann im Alltag sogar verlieren.

|| 62 Takao MORIYASU, Die Geschichte des uigurischen Manichäismus an der Seidenstraße. Forschungen zu manichäischen Quellen und ihrem geschichtlichen Hintergrund, übers. v. Christian STEINECK (Studies in Oriental Religions 50), Wiesbaden 2004, S. 174–192. 63 M 0112 in der Übersetzung von MORIYASU (Anm. 62), S. 175 f.; vgl. auch Geng SHIMIN u. HansJoachim KLIMKEIT, Zerstörung manichäischer Klöster in Turfan, in: Zentralasiatische Studien 18 (1985), S. 7–11.

Grażyna Maria Bosy

Petrarcas ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ im Kontext Abstract: In 1370, four years before his death, Petrarch wrote a letter to his friend Philippe de Cabassole. Therein, the poet enclosed some Latin verses written around 1336, extolling Saint Mary Magdalene as the epitome of the vita contemplativa. According to the poet himself, the verses were written in the grotto of Sainte-Baume, a place of worship for the saint. With his portrayal of the saint, Petrarch places himself in a long tradition of the veneration of Mary Magdalene. In both medieval Latin and vernacular Romance poetry, Mary Magdalene, among female biblical figures, is a source of inspiration only second to the Mother of God – whether as the chosen testis and nuntia of the Resurrection, as peccatrix and exemplum of redemption, or as an exemplary lover, following Luke 7. How does Petrarch tie his ‘Carmen de beata Maria Magdalena’ to a poetic canon influenced by hagiographic writings and legends? To which extent does he succeed in creating an original new emphasis? Why does this text accompany Petrarch for over 30 years, and in which manner? Those questions shall be resolved in the following piece. Keywords: Petrarch, Mary Magdalene, ‘Carmen de beata Maria Magdalena’, vita contemplativa, medieval poetry

1 Vorüberlegung: Die Florentiner Magdalenentafel als Exempel Um Petrarcas ca. 13361 verfasstes ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ im Kontext zu verstehen, bietet es sich an, einen Blick auf eine wohl um 12802 von einem anony-

|| 1 Die Datierung des ‚Carmen‘ ist umstritten. PINTO-MATHIEU gibt als Entstehungsjahr 1338 an (vgl. Élisabeth PINTO-MATHIEU, Marie-Madeleine dans la littérature du Moyen Age, Paris 1997, S. 183). Die Herausgeber der ‚Rerum Senilium‘ argumentieren schlüssig ausgehend von Angaben, die in Petrarcas Brief von 1370 an Philippe de Cabassole zu finden sind, und schlagen so das Jahr 1336 vor (vgl. Pétrarque, Lettres de la vieillesse XII–XV/Rerum senilium XII–XV, édition critique d’Elvira NOTA, traduction de Jean-Yves BORIAUD, présentation, notices et notes de Ugo DOTTI, Paris 2006, S. 617, Anm. 10). Dieser Datierung schließe ich mich an. || Grażyna Maria Bosy, Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaft, Universität Bonn, Lennéstr. 6, D-53113 Bonn, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-019

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men Florentiner Meister gefertigte Altartafel zu werfen, die seit 1817 in der Galleria dell’Accademia in Florenz ausgestellt wird und den Titel ‚Maddalena penitente e otto storie della sua vita‘ trägt.3 Diese Tafel stellt ein frühes Zeugnis der erweiterten Maria-Magdalena-Ikonographie dar. In Auftrag gegeben wurde das Altarbild vom Servitenorden aus Florenz für die Kirche Santissima Annunziata. Dieser Orden gehörte, wie die Franziskaner und Dominikaner, den asketischen Strömungen des 13. Jh.s an, in deren Zentrum neben dem Predigen die vita contemplativa steht.4 Die Szenenfolge des Altarbildes, dessen Entstehung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Reliquienentdeckung der Heiligen im südfranzösischen Saint-Maximin (1279) stehen dürfte, „avancierte im Trecento in der Wandmalerei zum festen Bestandteil im Bildprogramm der Magdalenenkapellen“5. Während sich bis zum 12. Jh. die Darstellungen der Heiligen eher auf deren Einbeziehung in die entsprechenden Szenen aus dem Leben Christi beschränkten, kam es seit dem späten 12. Jh. „unter der Führung Frankreichs [zur] Entwicklung einer eigenen Typik [der Heiligen] und […] von speziell auf ihr Leben bezogenen Zyklen“6, die seit dem 13. Jh. auch um legendäre Elemente erweitert sein konnten. Dabei wurden das Salbgefäß und das lange Haar zu Attributen der Heiligen in der gesamten westlichen Welt, der Typus der haarummantelten nackten Büßerin aber setzte sich von Italien aus vor allem in der gesamten Romania durch.7 Eine solche Darstellung prägt auch das Zentrum der spitzgiebeligen Holztafel mit den Maßen von 164x76cm.8 Die schmale Zentralfigur hält in der linken Hand eine Schriftrolle mit den Worten NE/DESP[ER]ETIS/VOSQVI/PECCARE/SOLETIS/ EXEMPLO/Q[V]EMEO/VOSREPA/RATEDE/O9 (Übers.: „Verzweifelt nicht, die ihr zu sündigen pflegt. Erneuert euch durch mein Beispiel für Gott“). Diese Botschaft weist die Figur als exemplum der reuigen Sünderin aus. Das Salbgefäß als charakteristisches Attribut fehlt. Dass es sich um Maria Magdalena handelt, zeigen – neben dem

|| 2 Vgl. Silke TAMMEN, Eine gemalte Magdalenenvita um 1280. Bild und Text, Sehen und Hören auf der Florentiner Pala des Magdalenenmeisters, in: Dieter R. BAUER u. Klaus HERBERS (Hgg.), Hagiographie im Kontext. Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung, Stuttgart 2000, S. 130–154, hier S. 130. 3 Das Gemälde wurde 1890 unter der Nummer 8466 inventarisiert. 4 Vgl. Isabelle RENAUD-CHAMSKA, Marie-Madeleine en tous ses états. Typologie d’une figure dans les arts et les lettres (IVe–XXIe siècle), Paris 2008, S. 157. 5 Thomas ZELLER, Die Salbung bei Simon dem Pharisäer und in Bethanien. Studien zur Bildtradition der beiden Themen in der italienischen Kunst von den Anfängen im 9. Jh. bis zum Ende des Cinquecento, Köln, Weimar 1997, S. 172. 6 Ulrike LIEBL, Maria Magdalena, in: Lexikon des Mittelalters, 10. Aufl., Bd. 6 (1980), Sp. 282–284, hier Sp. 284. 7 Vgl. LIEBL (Anm. 6), Sp. 284. 8 Cf. TAMMEN (Anm. 2), S. 130. 9 Vgl. ebd.

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Abb. 1: ‚Maddalena penitente e otto storie della sua vita‘, anonymer Florentiner Meister, um 1280, Galleria dell’Accademia, Florenz (Foto: Grażyna Maria Bosy).

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Haar, von dem die Heilige gleichwie von einem Mantel bedeckt wird – die acht Szenen, von denen die Zentralfigur umgeben ist und die der kundige Betrachter als Episoden aus dem im Mittelalter so konstruierten Leben der Heiligen erkennt. Dabei ist die Tafel von oben links nach rechts zu lesen und beginnt mit drei biblischen Szenen, die überwiegend durch das Johannes-Evangelium inspiriert sind: Die Fußsalbung im Hause des Pharisäers10 oben links leitet den Zyklus ein, der sich mit der Auferweckung des Lazarus fortsetzt und zu der berühmten Noli-me-tangereEpisode aus dem Johannes-Evangelium führt. Jeder Bibelkenner wird bei dieser Zusammenstellung der Szenen protestieren. Die Salbungsszene, die den Zyklus eröffnet, ist zwar Bestandteil aller vier Evangelien, doch kein Evangelist berichtet von einer Salbung durch Maria Magdalena. Da es sich um eine Fußsalbungsszene handelt, scheiden Markus (14, 3–9) und Matthäus (26, 6–13) aus, die von einer Salbung des Hauptes durch eine namenlose Frau berichten. Lukas (7, 36–50) und Johannes (12, 1–11) bieten das einprägsame Bild der Fußsalbung. Während Lukas von einer namenlosen Sünderin berichtet, die die Füße Jesu nicht nur salbt, sondern mit ihren Tränen wäscht, sie küsst und mit dem Haar trocknet, schreibt Johannes diese Rolle Maria von Bethanien, der Schwester von Martha und Lazarus zu. Das zweite Bild des Zyklus zeigt ebenfalls Maria von Bethanien, auf deren Bitten hin Jesus ihren Bruder Lazarus wieder zum Leben erweckt, wie das JohannesEvangelium (11, 1–45) berichtet. Die dritte Szene schließlich zeigt Maria Magdalena als erste Auferstehungszeugin in der berühmten Noli-me-tangere-Szene, die zum Sondergut des Johannes-Evangeliums (20, 11–18) zählt. Verknüpft werden somit mindestens zwei Figuren zu einer: Maria von Bethanien, Maria Magdalena und – denkt man an die Darstellung bei Lukas (7, 36–50) – auch die namenlose Sünderin. Dies ist nicht etwa ein Produkt der Kunst, sondern ein Resultat der mittelalterlichen Exegese. Die Tradition der Verschmelzung der drei Figuren zu einer setzt wahrscheinlich mit den berühmten ‚Homiliae in Evangelia‘ Gregors des Großen (540–604) ein. In der 33sten Homilie, die 590/91 vorgetragen wurde, heißt es: Hanc vero quam Lucas peccatricem mulierem, Ioannes Mariam nominat, illam esse Mariam credimus, de qua Marcus septem daemonia eiecta fuisse testatur.11 Diese Deutung, die in der westlichen12 Tradition weit verbreitet war,13

|| 10 Die Salbungsszene ist eine der zentralen Szenen der Magdalenen-Zyklen in der Kunst (vgl. ZELLER (Anm. 5), S. 171 f.), wobei ZELLER betont, dass es sich hier um eine erstmalige Einbindung der Salbungsszene in einen Magdalenen-Zyklus handle (vgl. ebd., S. 172). 11 Gregor der Große, Homiliae in Evangelia/Evangelienhomilien, Bd. 2, übers. und eingeleitet v. Michael FIEDROWICZ, Freiburg u. a. 1998, S. 310 und 312. Übers.: „Lukas bezeichnet sie als eine Sünderin, Johannes aber als Maria; wir glauben, dass sie jene Maria ist, der, wie Markus bezeugt, sieben Dämonen ausgetrieben wurden.“ 12 Vgl. Alain MONTANDON, Marie-Madeleine, in: Pierre BRUNEL (Hg.), Dictionnaire des mythes féminins, Paris 2002, S. 1261–1269, hier S. 1262: „Si les Orientaux pensaient qu’il y avait trois personnes distinctes, l’Église catholique en fit pour longtemps une seule et même personne – essentiellement

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prägte das viel tradierte Bild der Maria Magdalena als reuige Sünderin, die die Füße Jesu küsst, wie sie bei Lukas (7, 36–50) erscheint.14 Zurück zum Florentiner Altarbild: Die vierte Szene der Tafel präsentiert Maria Magdalena als Missionarin und leitet so den Legenden-Teil15 ein, der sich auf der gesamten zweiten16 Tafelhälfte fortsetzt und die Heilige primär als Büßerin und Asketin zeigt. Diese Szenen gehen auf die besonders in Frankreich und Italien tradierten Legenden vom Leben der Heiligen zurück. Die erste lateinische Vita der Magdalena, ‚Vita eremitica‘, entstand im 9. Jh. in Süditalien: Maria Magdalena tut in der Wüste Buße und empfängt schließlich von einem anderen Eremiten die letzte Kommunion, stirbt und wird begraben. Die vollständigste Sammlung der Legendentradition, auf die sich der Magdalenen-Kult stützt, der insbesondere zwischen dem 11. und dem 13. Jh. in den französischen Kultzentren Vézelay (Burgund) und St-Maximin-la-Sainte-Baume (Provence) blüht, zeigt der Text ‚De sancta Maria Magdalena‘ aus der ‚Legenda aurea‘ (um 1264) des Dominikanermönchs Iacopo da Varazze (1230–1298), die im Spätmittelalter zu einem der bekanntesten und mit über 1000 Handschriften am meisten verbreiteten Volksbücher avancierte. Auch die ‚Legenda aurea‘ identifiziert Maria Magdalena mit der namenlosen Sünderin aus dem Lukas-Evangelium sowie mit Maria von Bethanien. Maria Magdalena soll, begleitet von Martha, Marthas Dienerin Marcella, Lazarus, Maximinius und Sedonius, auf einem Schiff ohne einen Steuermann auf dem Meer ausgesetzt worden sein, gelangte schließlich nach Marseille, wo sie predigte und Wunder wirkte.17 Diese Tätigkeit als Missionarin thematisiert die vierte Szene der Magdalenentafel. Die in den mittelalterlichen Hymnen als apostola apostolorum18 besungene Heilige wird || avec Grégoire le Grand – à qui parfois on rattache Marie l’Égyptienne, en raison de son passé de prostituée, puis de sa conversion et de sa vie érémitique et miraculeuse dans le désert“. 13 Erst 1517 mit der Schrift ‚De Maria Magdalena et triduo Christi disceptatio‘ von Jacques Lefèvre d’Étaples (1450/55–1536) wurde diese Deutung angezweifelt. Vgl. dazu Victor SAXER, Le culte de Marie Madeleine en Occident, Paris 1959, S. 9 f. 14 Die Salbung durch die Sünderin (Lk 7, 36–50) war auch bis 1969 in der katholischen Kirche die Bibelstelle, die am 22. Juli zum Festtag der Maria Magdalena vorgelesen wurde. Erst Papst Paul VI. änderte 1969 diese Bibelstelle in Joh 20, 1–2/17–18. 15 Die ältesten Legenden verlegen die letzten Jahre der Maria Magdalena nach Ephesus, wo sie seit dem 6. Jh. verehrt wird. Die erste lateinische Vita der Heiligen aus dem 9. Jh., die in Anlehnung an die ‚Vita der Maria Aegyptiaca‘ entstand, berichtet davon, dass die Heilige nach Christi Himmelfahrt 30 Jahre in der Wüste verbringt und Buße tut. Von einem anderen Eremiten empfängt sie dann die letzte Kommunion und stirbt. Die Verehrung der Schwestern Martha und Maria sind in Bethanien schon im 6. Jh. bezeugt. Vgl. dazu SAXER (Anm. 13), S. 9 f. 16 Vgl. TAMMEN (Anm. 2), S. 138. 17 Jacobus de Voragine, De sancta Maria Magdalena, in: Legenda aurea/Goldene Legende, Bd. 2, Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno W. HÄUPTLI, Freiburg u. a. 2014, Bd. 2, S. 1234–1259, hier S. 1238 und 1240. 18 So wird Maria Magdalena schon von Hippolyt von Rom in seinem ‚Commentarius in Canticum Canticorum‘ bezeichnet, später tituliert sie auch Petrarcas Freund, Philippe de Cabassole, so. Vgl.

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hier in dieser Funktion präsentiert.19 Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Position und Gestik der Heiligen, die analog zur Christusfigur in der Noli-metangere-Szene der Magdalenentafel konstruiert ist. Die vier folgenden Szenen thematisieren das Büßerleben der Heiligen. Statt des roten Gewandes trägt Maria Magdalena nun – wie die Zentralfigur – ein dichtes Haarkleid. Die Elevationsfigur der fünften Szene erinnert daran, dass die Heilige laut der Legende siebenmal täglich von Engeln emporgehoben wurde, um die himmlischen Chöre zu hören. Die sechste Szene zeigt, wie die Heilige himmlische Speise von einem Engel erhält, während das siebte Bild die letzte Kommunion Maria Magdalenas darstellt, die diese, der Legende nach, vom heiligen Maximin erhält.20 Das Begräbnis durch Bischöfe schließt den Zyklus ab und knüpft mit der Raumstruktur der gewölbten Decke an die Eröffnungsszene an. Die Höhle, die im Hintergrund der Szenen 5–7 zu sehen ist, ist die östlich von Marseille gelegene Sainte-Baume, in der Maria Magdalena nach ihrer Flucht aus Palästina der Legende nach 30 Jahre gebüßt haben soll. Der Kult der Heiligen in Sainte-Baume ist spätestens seit dem 12. Jh. belegt21 mit einer expliziten Lokalisierung des Asketenortes in der ‚Vita eremitica beatae Mariae Magdalenae‘ aus dem 12. Jh.22 Die erste explizit datierte Beschreibung von Sainte-Baume als Pilgerort (1248) verdanken wir einem Mönch.23 Schließlich führt 127924 die vom Haus Anjou25 vorangetriebene Entdeckung der Magdalenenreliquien in der Krypta der Kirche von Saint-Maximin und die Bestätigung der Echtheit durch Papst Bonifaz VIII. (1295) zur Blüte des Magdalenenkultes in Südfrankreich.26 Karl II. von Anjou lässt in Saint-

|| dazu Klaus-Bernward SPRINGER, Paulus, Maria, Johannes, Maria Magdalena und Katharina von Alexandrien – Vorbilder für Kontemplation und Apostolat, in: Sabine VON HEUSINGER (Hg.), Die deutschen Dominikaner und Dominikanerinnen im Mittelalter, Berlin, Boston 2016, S. 443–480, hier S. 474. 19 Predigende Frauen waren zur Zeit der Entstehung der Tafel keine Selbstverständlichkeit. Pikant ist diese Gegenüberstellung auch aus dem Grund, dass die Noli-me-tangere-Szene im MA immer wieder als Verbot für Frauen, das Priesteramt auszuüben gelesen wurde, so auch bei Thomas von Aquin. Vgl. TAMMEN (Anm. 2), S. 143. 20 Anders als in der ‚Legenda aurea‘ erhält die Heilige hier die letzte Kommunion nicht in der Kirche, sondern in der Wildnis. 21 Vgl. SAXER (Anm. 13), S. 129. Saxers Recherchen haben ergeben, dass sich der Kult zwischen 1117 und 1123 entwickelt haben muss – parallel zur Gründung der Abtei von Montrieux. Vgl. ebd., S. 130–132. 22 Vgl. ebd., S. 151. 23 Vgl. ebd., S. 205 f. 24 Vgl. ebd., S. 16 f. 25 1254 ist der Besuch des Königs Ludwigs IX. in der Grotte bezeugt. Sicher ist es kein Zufall, dass die Heiligsprechung von Ludwig IX. im Jahre der Entdeckung der Reliquien stattfand, die von seinem Neffen, Karl II. von Anjou, angetrieben wurde. 26 Gleichzeitig verliert auch das burgundische Vézelay, das als französisches Zentrum der Magdalenen-Verehrung bekannt war, seine Vorrangstellung als Kultort. Vgl. z. B. SAXER (Anm. 13), S. 350.

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Maximin eine Basilika und ein neues Kloster errichten und die Dominikaner werden zu Hütern des Ortes, wobei die Heilige noch im gleichen Jahr in der Ordensliturgie als Patronin der Dominikaner erscheint.27 In diesem Zusammenhang erfährt auch die von der Basilika Saint-Maximin etwa 20km entfernte Grotte Sainte-Baume eine Aufwertung und wird zunehmend zu einem wichtigen Pilgerort. Die Florentiner Magdalenentafel verdichtet die seit dem 13. Jh. verknüpften Bibel- und Legendenepisoden zu einem Bild – und in dieser durch Italien und Südfrankreich stark geprägten Tradition ist auch Petrarcas ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ zu sehen. Wie knüpft Petrarca in seinem Text an die Tradition an und welche Neuakzentuierung erfährt die Figur in seinen Versen? Sehen wir dort vor allem die testis und nuntia der Auferstehung – wie in der Dichtung des 11. und 12. Jh.s28 oder die peccatrix und vorbildhafte Liebende, die in den Texten des 13. Jh.s29 als exemplum auf die Erlösbarkeit des Menschen verweist?

2 Petrarcas ‚Carmen de Maria Magdalena‘ 1370, vier Jahre vor seinem Tod, schreibt Francesco Petrarca (1304–1374), bereits aus Südfrankreich nach Italien zurückgekehrt, einen Brief an seinen Freund, Gönner und Bischof von Sabina, Philippe de Cabassole.30 Dem Brief legt Petrarca, auf ausdrücklichen Wunsch des Adressaten hin, einige lateinische versiculos incorrectos31 bei, die um 1336 entstanden und der heiligen Maria Magdalena gewid-

|| Anmerkung: Papst Étienne IX. hat 1058 in einer Bulle bestätigte, dass sich das Grab der Maria Magdalena in Vézelay befinde. Im 8. Jh. werden zum ersten Mal die Reliquien der Heiligen erwähnt. Vgl. dazu Victor SAXER, Les origines du culte de Sainte Marie Madeleine en Occident, in: Eve DUPERRAY (Hg.), Marie Madeleine dans la mystique, les arts et les lettres, Paris 1989, S. 33–47, hier S. 35. Mitte des 8. Jh.s soll Vézelay in den Besitz der Reliquien der Heiligen gekommen sein, wovon hagiographische Schriften aus dem 11. Jh. berichten. Vgl. SAXER (Anm. 13), S. 50. 27 Vgl. TAMMEN (Anm. 2), S. 142 f., Anm. 38. 28 Vgl. dazu die Zusammenstellung der ältesten liturgischen Zeugnisse der Magdalenen-Verehrung bei SAXER (Anm. 13), S. 363–386. 29 Vgl. PINTO-MATHIEU (Anm. 1), S. 278. 30 Philippe de Cabassole (1305–1372) war zu der Zeit, als das Gedicht entstand, Bischof der Diözese Cavaillon (1334–1366), in der Vaucluse liegt, später war er Bischof von Marseille (1366–1368) und von Sabina (1368–1372). Er ist auch der Verfasser der Schrift ‚De vita et miraculis beatae Mariae Magdalenae‘ und des ‚Libellus hystorialis Marie beatissime Magdalene‘, in dem er auch von persönlichen Erfahrungen mit Wundern berichtet, die die Heilige auf seine Bitten hin gewirkt haben soll. Vgl. dazu Katherine LUDWIG JANSEN, The Making of the Magdalen. Preaching and Popular Devotion in the Later Middle Ages, Princeton 2001, S. 308–309. 31 Rerum senilium (Anm. 1), XV, 15, 3. Damit folgt Petrarca einer bereits zu seiner Zeit existierenden Tradition, eine oder mehrere Nächte in der Grotte zu verbringen, um der Heiligen zu gedenken und/oder Buße zu tun. Vgl. dazu LUDWIG JANSEN (Anm. 30), S. 282–283.

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met sind. Dieses ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ sendet er, wie er betont, über dreißig Jahre nach seiner Entstehung, seinem Freund in unverändertem Zustand zu.32 Das Gedicht sei, so Petrarca in seinem Brief, in spelunca illa devotissima entstanden, ubi […] felix illa peccatrix Maria Magdalena triginta vel eo amplius annis penitentiam suam egit.33 Gemeint ist die Grotte von Sainte-Baume, die Petrarca tatsächlich wiederholt besuchte, was durch Angaben in seinen Korrespondenzen und Traktaten bezeugt ist.34 Wie die Ausführungen im Brief an Philippe de Cabassole zeigen, vermengt auch Petrarca, der mittelalterlichen Tradition folgend, Legendenelemente, biblische Szenen und Auslegungen der Kirchenväter. In jener spelunca also habe er drei Tage und drei Nächte, tres dies et totidem noctes,35 verbracht, wobei ihm in einer Vision sein Freund Philippe de Cabassole erschienen sei und ihn darum gebeten habe, einige Verse zu Ehren der Heiligen, illius sanctissimae mulieris ad gloriam,36 zu schreiben. Bis heute erinnert im Übrigen ein ins Französische übersetzter Auszug aus Petrarcas ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ am Eingang zum Sanktuarium von Sainte-Baume an die besondere Verknüpfung des italienischen Dichterfürsten mit diesem Ort.37 Das ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘, das aus 36 in Hexametern verfassten Versen und einem isolierten Vers besteht, kann in drei thematische Einheiten gegliedert werden und ergibt – stellt man die drei Einheiten nebeneinander – gewissermaßen ein Triptychon, in dessen Zentrum das von Petrarca imaginierte Kreuzmysterium steht. Den linken Flügel bilden biblische Reminiszenzen und den rechten die Legendendichtung mit der Kultstätte Sainte-Baume, die in zweifacher Weise das ‚Carmen‘ Petrarcas prägt – als Ort der Inspiration und als Gegenstand der Dichtung zugleich. Dulcis amica Dei, lacrimis inflectere nostris, Atque humiles attende preces, nostreque saluti Consule. Namque potes; nec enim tibi tangere frustra Permissum gemituque pedes perfundere sacros,

|| 32 Neque enim in eis aliquid muto, multa cum possim, quo scilicet non quid sum sed quid eram videas et cum voluptate quadam adolescentie nostre rudimenta memineris. Rerum senilium (Anm. 1), XV, 15, 5. 33 Ebd., XV, 15, 1. 34 Vgl. PINTO-MATHIEU (Anm. 1), S. 183. Vgl. auch LUDWIG JANSEN (Anm. 30), S. 283, die die Jahre 1338, 1347 und 1353 angibt. 35 Rerum Senilium (Anm. 1), XV, 15, 2. 36 Ebd., XV, 15, 3. 37 DUPERRAY betont zudem, dass sich eine Abschrift des ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘, „fort connue par la tradition orale et populaire“, im 16. Jh. nachweislich in der Grotte von Sainte-Baume befand und von den Pilgern als Gebet gesprochen wurde. Eve DUPERRAY, Le Carmen de beata Maria Magdalena. Marie-Madeleine dans l’œuvre de François Pétrarque: image emblématique de la Belle Laure, in: Eve DUPERRAY (Hg.), Marie Madeleine dans la mystique, les arts et les lettres, Paris 1989, S. 273–288, hier S. 277.

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Et nitidis siccare comis, ferre oscula plantis, Inque caput Domini preciosos spargere odores, Nec tibi congressus primos, a morte resurgens, Et voces audire suas et membra videre, Immortale decus lumenque habitura per evum, Nequicquam dedit etherei Rex Cristus Olimpi. Viderat Ille cruci herentem, nec dira paventem Iudaice tormenta manus turbeque furentis Iurgia et insultus, equantes verbera linguas; Sed mestam intrepidamque simul, digitisque cruentos Tractantem clavos, implentem vulnera fletu, Pectora tundentem violentis candida pugnis, Vellentem flavos manibus sine more capillos. Viderat hec, inquam, dum pectora fida suorum Diffugerent, pellente metu. Memor ergo revisit Te primam ante alios, tibi se prius obtulit uni; Te quoque digressus terris et ad astra reversus Bis tria lustra tibi, nunquam mortalis agentem Rupe sub hac aliud, tam longo in tempore, solis Divinis contentam epulis et rore salubri. Hec domus antra tibi stillantibus humida saxis Horrifico tenebrosa situ, tecta aurea regum, Delitiasque omnes et ditia vicerat arva. Hic inclusa libens, longis vestita capillis Veste carens alia, ter denos passa decembres, Diceris hic non fracta gelu, nec victa pavore; Namque famem et frigus, durum quoque saxa cubile Dulcia fecit amor spesque alto pectore fixa. Hic hominum non visa oculis, stipata cathervis Angelicis, septemque die subvecta per horas, Celestes audire choros alterna canentes Carmina corporeo de carcere digna fuisti. Tu vive et vale, nostri memor.38 Liebliche Freundin Gottes, erbarme dich unserer Tränen, beachte auch die demütigen Gebete und sorge für unser Seelenheil. Du kannst es nämlich: weder war es dir ohne Grund erlaubt, die heiligen Füße zu berühren, sie mit Seufzern zu benetzen und sie mit deinen glänzenden Haaren zu trocknen, die Füße mit Küssen zu bedecken und auf das Haupt des Herrn kostbare Düfte zu gießen, noch gestand dir, als er vom Tode auferstand, Christus, der König des ewigen Olymps, grundlos die ersten Begegnungen zu sowie seine Worte zu hören und seine Glieder zu sehen, der, die du daraus ewigen Ruhm und Glanz für alle Zeiten schöpfen wirst. Jener hatte gesehen, wie sie sich an das Kreuz klammerte, die Verwünschungen und Folter der jüdischen Schar sowie die Beleidigungen und Beschimpfungen der wütenden Menge nicht fürchtete, wobei die Schläge den Worten gleichkamen; aber betrübt und unerschrocken zugleich berührte sie mit ihren Fingern die blutigen Nägel, füllte mit ihren Tränen die Wunden aus, schlug mit heftigen Faustschlägen gegen ihre weiße Brust und riss mit ihren Händen wild

|| 38 Rerum Senilium (Anm. 1), S. 425 und 427, Übers.: Grażyna Maria Bosy.

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die blonden Haare heraus. Er hatte dies gesehen, wiederhole ich, während die treuen Herzen der Seinen auseinanderflohen, da die Angst sie verjagte. Eingedenk dessen besuchte er dich folglich als Erste vor allen anderen, dir allein erschien er zuerst. Dich [besuchte er] auch, nachdem er von der Erde weggegangen und in den Himmel zurückgekehrt war, dir [erschien er] zweimal drei Lustren lang, die du unter diesem Felsen niemals wie eine Sterbliche handeltest und dich in so langer Zeit mit nichts anderem als mit göttlichen Speisen und dem heilsamen Tau begnügtest. Diese Wohnstätte, eine durch die tropfenden Felsen feuchte Grotte, durch die schreckliche Lage finster, hatte für dich goldene Königshäuser und alle Genüsse und Reichtümer der Gefilde überwunden. Hier, freiwillig eingesperrt, mit deinem langen Haar bekleidet, ohne andere Kleidung, hast du dreimal zehn Dezember ertragen, man sagt von dir, dass du durch die Kälte nicht geschwächt und von der Angst nicht besiegt wurdest. Den Hunger und die Kälte, auch das harte Felsenbett haben nämlich die Liebe und die tief im Herzen eingepflanzte Hoffnung erträglich gemacht. Hier, von den Augen der Menschen nicht erblickt, umgeben von Engelsscharen und siebenmal am Tag für Stunden emporgehoben, warst du würdig, aus deinem körperlichen Gefängnis heraus die himmlischen Chöre, die ihre Wechselgesänge anstimmten, zu hören. Lebe wohl und gedenk unser.

Das Gedicht beginnt, wie es für mittelalterliche Hymnen und Litaneien typisch ist, mit einer Anrufung der Heiligen als amica Dei (V. 1). Maria Magdalena, die im Mittelalter zum „Modell für Buße […] und paradigmatische Hoffnung aller Sünder“39 wurde, wird um Erbarmen und Fürsprache angefleht. Sie erscheint in dieser invocatio als Medium zwischen Gott und den Menschen, denn die Betonung liegt darauf, dass ihre Fürsprache Erfolg verspricht: namque potes (V. 3). Die folgenden Verse liefern – jeweils eingeleitet mit nec (V. 3 und V. 7) – die Erläuterung, warum der Heiligen diese Fähigkeit zugesprochen wird, indem auf zwei biblische Szenen angespielt wird. In der Salbungsszene (V. 3–6) verknüpft Petrarca, der bereits erläuterten mittelalterlichen Exegese folgend, zwei Evangelien-Traditionen zu einem Bild. Seine Maria Magdalena salbt die Füße Jesu, trocknet sie mit ihrem Haar und küsst sie (V. 3 f.) wie im Lukasevangelium, doch sie gießt auch kostbare Düfte inque caput Domini (V. 6), womit Petrarca wiederum an Matthäus (26, 6–13) und Markus (14, 3–9) anknüpft. Beide Evangelisten betonen zudem die Bedeutung der Salbung als Akt der Präfiguration (Mt 26, 12 und Mk 14, 8; vgl. auch Joh 12, 7) und den daraus erwachsenden Ruhm (Mt 26, 13 und Mk 14, 9), was auch Petrarca in seinem Gedicht einfließen lässt: Immortale decus lumenque habitura per evum (V. 9).40 Die zweite biblische Szene, die den linken Flügel des Triptychons abrundet, ist die Begegnung mit dem Auferstandenen (V. 7 f.). Namentlich wird Maria Magdalena als Zeugin der Auferstehung bei Markus (16, 9), Lukas (24, 10) und Johannes (20, 1) genannt. Bei Markus und Johannes erscheint sie aus der Gruppe der Frauen losgelöst, wobei nur Johannes die Szene ausschmückt, was in der Kunst in den

|| 39 SPRINGER (Anm. 18), S. 476. 40 Auch die ‚Legenda aurea‘, (Anm. 17), S. 1236, berichtet in der Darstellung der Vita der Heiligen von einer Fußsalbung im Hause des Pharisäers: pedes eius lacrimis lavit, capillis tersit et unguento pretioso perunxit.

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zahlreich umgesetzten Noli-me-tangere-Darstellungen aufgegriffen wird. Wenn Maria in Petrarcas Gedicht die Worte Jesu hört, ihn sieht (Et voces audire suas et membra videre, V. 8), ihn jedoch nicht berührt, so ist die Anspielung an die viel zitierte Szene aus dem Johannes-Evangelium deutlich, ohne dass die berühmten Worte Jesu wiederholt werden. Petrarca wählt diese zwei Bibelszenen (Fußsalbung und Begegnung mit dem Auferstandenen), um die besondere Stellung der Figur in der Bibel zu betonen und die Nähe zwischen ihr und Jesus deutlich zu machen. Maria Magdalena vollzieht den Akt der Präfiguration in einer mystisch anmutenden Salbung, in der sich Tränen und Küsse mit wertvollen Salben vermischen – und ihr erscheint der Herr zuerst. Das zentrale Bild des ‚Carmen‘ bietet die Begegnung zwischen Jesus und Maria Magdalena am Kreuz. Zwar berichten drei der Evangelisten – Matthäus (27, 56), Markus (15, 40) und Johannes (19, 25) – von der Präsenz der Heiligen während der Kreuzigung, doch beschränken sich diese Bibelstellen allein auf eine Erwähnung der Figur als Zeugin der Kreuzigung. Nach Matthäus und Markus beobachtet Maria Magdalena mit anderen die Szene aus der Ferne, im Johannes-Evangelium steht sie direkt am Kreuz. Weitere Kommentare fehlen. Petrarca imaginiert an dieser Stelle seines ‚Carmen‘, gewiss in Anlehnung an die Fußsalbung bei Lukas, ein originelles Bild und verdichtet den Schmerz, die Trauer und die Unerschrockenheit der Heiligen zum zentralen Bild seines Triptychons, das die Verse 11–20 umfasst. Dieses Kreuzmysterium, das der Leser aus der Perspektive des Gekreuzigten erlebt, was das wiederholte viderat (V. 11 und V. 18) verdeutlicht, macht das Novum dieser Magdalenen-Dichtung aus.41 Zwar gibt die Kunst des 13. und 14. Jahrhunderts bereits die Richtung vor, da sich Magdalena in der Kreuzigungsszene aus der Frauengruppe löst und zu Fuße des Kreuzes dargestellt wird,42 jedoch übersteigt die Intensität der Darstellung zweifellos das bekannte Schema. In Petrarcas ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ kniet die Heilige am Kreuz, erträgt die Beschimpfungen der wütenden Menge (V. 12–14), rauft voller Schmerz ihr goldenes Haar (V. 17), schlägt mit den Fäusten voller Trauer an ihre Brust (V. 16), greift nach den blutigen Nägeln (V. 14–15) und wäscht mit ihren Tränen die blutenden Wunden aus (V. 15). Blut und Tränen vermischen sich in diesem einprägsamen Bild zu einer Einheit – sie werden, so PINTO-MATHIEU, zu den „éléments de la sublimation, ceux de

|| 41 LUDWIG JANSEN (Anm. 30), S. 284, tut Petrarcas ‚Carmen‘, das sie in ihrer Untersuchung beiläufig erwähnt, Unrecht, wenn sie ausführt, dass die darin dargestellten Themen „quite familiar“ seien: „Mary Magdalen’s conversion, her fidelity at the cross, and her eremitical retreat from the world“. Gerade die Szene am Kreuz ist ein Novum und folgt den stereotypen Bildern nicht. 42 Vgl. dazu auch HOFSTÄTTER, der darlegt, dass Maria Magdalena sich in der bildenden Kunst erst ab dem 12. Jh. aus den Szenen, die mit dem Leben Christi zu tun haben, löst und zum eigenständigen Bildmotiv wird. Hans HOFSTÄTTER, Darstellungen der Maria Magdalena in der Bildenden Kunst, in: Dietmar BADER (Hg.), Maria Magdalena – Zu einem Bild der Frau in der christlichen Verkündigung, München, Zürich 1990, S. 72–84, hier S. 72.

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l’amour mystique“.43 Nicht eine schamhafte und zurückhaltende Maria Magdalena wird hier dargestellt, die zwar liebevoll, aber züchtig das Kreuz umfasst, wie sie in zahlreichen Bildern des 13. und 14. Jahrhunderts erscheint. Vielmehr zeigt die Figur an dieser Stelle, wie schon PINTO-MATHIEU richtig feststellt, den „pathos furieux des pleureuses antiques“44 und erscheint in der Kreuzigungsszene in einer erstaunlichen Körperlichkeit,45 die erst in der Renaissance in dieser Form auftauchen sollte. Die im Zentrum seines Triptychons dargestellte pietà-Erfahrung, die Jesus in seinem Todeskampf als stiller Beobachter miterlebt, deutet Petrarca als zentral für die Erwählung Maria Magdalenas zur ersten Zeugin der Auferstehung. Sie wird als traurig und unerschrocken zugleich charakterisiert, mestam intrepidamque simul (V. 14), was sie von den anderen Anhängern Jesu unterscheidet, die vor der Kreuzigung fliehen (vgl. V. 18–19). So schließt das Kreuzmysterium – wie schon das erste Bild des Triptychons – mit einer Anspielung an Markus 16,9 und Johannes 20, 14–18 und den Worten: Te primam ante alios, tibi se prius obtulit uni (V. 19 f.) – und somit mit der Begründung der Auserwählung Maria Magdalenas. Diese Anspielung leitet zum dritten Bild des ‚Carmen‘ über, in dem Petrarca die Legende vom Büßerleben der Heiligen evoziert (V. 21–36). Jesus offenbarte sich Maria Magdalena, so heißt es, auch nach seiner Himmelfahrt, ad astra reversus (V. 21) bis tria lustra (V. 22), also 30 Jahre lang. Diese Textstelle stellt eine Potenzierung der privilegierten Erscheinung nach der Auferstehung (vgl. V. 20) dar und somit eine weitere Phase der Aufstiegs Maria Magdalenas. Als Ort der Offenbarung wird eine Felsengrotte (domus antra, V. 25) benannt. Diese Grotte von Sainte-Baume wird als Ort der Inspiration zum poetisierten Ort selbst, der zu einem prägnanten Bild der Entbehrung Maria Magdalenas stilisiert wird, wobei die Heilige im letzten Teil des ‚Carmen‘ völlig überhöht erscheint: ihre Handlungen werden als einem Sterblichen unähnlich charakterisiert (nunquam mortalis agentem, V. 22). Allein von himmlischer Speise und von Tau ernährt sie sich, was das Wunder dieses Eremitendaseins hervorhebt. Es folgt eine Beschreibung46 der Beschaffenheit der Grotte: sie ist dunkel (tenebrosa, V. 26) und feucht (humida, V. 25) – dieser Ort der Askese erscheint deutlich als Gegenbild zum weltlichen Glanz (tecta aurea regum,/Delitiasque

|| 43 PINTO-MATHIEU (Anm. 1), S. 184. 44 Ebd. 45 GIBALDI hebt Petrarcas ‚Carmen‘ als Inspirationsquelle für spätere barocke MagdalenenDichtungen hervor: „Anticipating the Baroque commingling of the flesh and the spirit is the insistence here not just on the beauty of the saint’s soul, but on her physical attractiveness as well“ (Joseph GIBALDI, Patrarch and the baroque Magdalene tradition, in: The Hebrew University Studies in literature and the arts 3,1 (1975), S. 1–19, hier S. 4). GIBALDI hebt vor allem die nahezu erotische Körperlichkeit in Petrarcas eingeflochtenen Legenden-Elementen hervor und konzentriert sich in seiner Darstellung auf die Rezeption derselben. 46 PINTO-MATHIEU (Anm. 1), S. 184, spricht von einer „description volontairement outrée“ der Grotte, was die wenigen Verse jedoch nicht hergeben.

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omnes et ditia, V. 26 f.). Die Betonung der Tatsache, dass die Heilige auf Paläste und Reichtümer verzichtet, ist als Anspielung auf die ‚Legenda aurea‘ zu verstehen, in der Maria Magdalena als vom königlichen Geschlecht abstammend vorgestellt wird.47 Der locus penitentiae erscheint aber auch als Gegenbild zu den „béatitudes angéliques“48, die die Heilige dort erfährt, denn sie wird septemque die subvecta per horas (V. 34), also zu den kanonischen Zeiten,49 von den Engeln in den Himmel emporgehoben. Diese elevatio, die an Szenen aus der ‚Vita der Maria Aegyptiaca‘ erinnert, wird auch in der ‚Legenda aurea‘50 beschrieben. Maria Magdalena hört, noch in ihrem Körper gefangen (vgl. V. 36), siebenmal am Tag himmlische Gesänge (celestes […] choros alterna canentes, V. 35), weil sie als würdig (digna, V. 36) erachtet wird, dies zu tun – ein weiterer Hinweis auf die Auserwählung. Nackt und allein von ihrem langen Haar bedeckt, longis vestita capillis/Veste carens alia (V. 28 f.), glüht die Heilige in ihrer freiwillig gewählten Abgeschiedenheit vor Liebe (inclusa libens V. 28/hominum non visa oculis V. 33) – und sie besiegt so Hunger und Kälte, denn famem et frigus […]/Dulcia fecit amor (V. 31 f.). Die in der Askese transzendierte Liebe der Magdalena wird hier – in Anlehnung an das berühmte Zitat aus dem Lukas-Evangelium (7, 47) – Dimissa sunt ei peccata multa, quoniam dilexit multum – zur treibenden Kraft, die die Heilige am Leben erhält. Neben der Liebe ist es die Hoffnung (spesque, V. 32), die das Dasein in der Entbehrung erträglich macht, wobei die Engelschöre quasi einen Schutzschild um sie bilden (stipata cathervis/Angelicis V. 33 f.). Dieser dritte Flügel des ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘, in welchem die Stille respektive harmonische Himmelsklänge dominieren, fungiert als Antithese zur zentralen Szene, in der Schreie und die Gewalt der Kreuzigung überwiegen.51 Das Gedicht schließt, wie es beginnt, mit einer Bitte um Fürsprache (nostri memor V. 37).

3 Conclusio: Petrarcas Konzept der vita contemplativa Warum nimmt dieser Text eine so zentrale Rolle für den Dichter ein, dass er seine mit 32 Jahren verfassten Verse im reifen Alter – kurz vor seinem Tod – noch einmal zitiert? Mehrere Gründe scheint es da zu geben. Zum einen fällt die Bekehrung des || 47 Vgl. Legenda aurea (Anm. 17), S. 1234. Interessant ist die Tatsache, dass die erste französische Übersetzung der ‚Legenda aurea‘ 1335, also kurz vor der Entstehung von Petrarcas ‚Carmen‘ erschien. Zu dieser Zeit lebte Petrarca in Südfrankreich. 48 PINTO-MATHIEU (Anm. 1), S. 184. 49 DUPERRAY (Anm. 37), S. 279 sieht hier eine Zahlensymbolik. 50 Vgl. Legenda aurea (Anm. 17), S. 1248. 51 Cf. dazu DUPERRAY (Anm. 37), S. 279.

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Augustinus, den sich Petrarca pedantisch zum Vorbild nahm,52 auch in sein zweiunddreißigstes Lebensjahr. Das Entstehungsjahr des ‚Carmen‘ ist passenderweise auch das Jahr, auf das Petrarca seine berühmt gewordene Besteigung des Mont Ventoux datiert – und es ist auch die Zeit, in der er die ersten Gedichte seines ‚Canzoniere‘53 verfasst. In dieser Zeit trifft Petrarca, der von der Furcht um sein Seelenheil nahezu besessen war,54 eine wichtige Entscheidung, die sich in seinem Umzug nach Fontaine-de-Vaucluse widerspiegelt, wo er zwischen 1337 und 1353 immer wieder verweilt und äußerst produktiv ist. Es ist die Entscheidung für die vita contemplativa, die er quasi als freiwilliger Eremit55 – nicht im religiösen, sondern im weltlichen Sinne – in Südfrankreich im Tal der Sorgue, das er „zu seinem Refugium“56 macht, findet. Später stellt er in einem seiner Altersbriefe fest, dass einzig die Zeit, die er in Vaucluse verbracht habe, es wert sei, Leben genannt zu werden.57 In der Zeit, in der Petrarca in dem kleinen Ort lebt, besucht er wiederholt die Grotte von Sainte-Baume und beginnt 1346 die Arbeit an seinem Traktat ‚De vita solitaria‘, in dem er das Lob der freiwillig gewählten Abgeschiedenheit anstimmt. Während Petrarca die religiös motivierte Abkehr von der Welt, und somit den Weg, den sein Bruder Gherardo58 gewählt hat, in seiner 1347 ebenfalls in Fontaine-de-Vaucluse entstandenen Schrift ‚De otio religioso‘ reflektiert, einem Text, den er seinem Bruder widmet und in dem er ebenfalls die Bedeutung Maria Magdalenas hervorhebt, rechtfertigt er in ‚De vita solitaria‘ seine im gewissen Sinne nicht-religiös motivierte vita contemplativa. Maria Magdalena wird dabei zur Identifikationsfigur und der Besuch von Sainte-Baume zum Schlüsselmoment59 für seine Reflexion über den richtigen Lebensweg. Teile des an Philippe de Cabassole gerichteten – und bereits hier zitierten – Briefes sind deutlich an das zehnte Kapitel des zweiten Buches von ‚De

|| 52 Florian NEUMANN, Francesco Petrarca, 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 82. 53 Auf deutliche Parallelen zwischen dem Aufbau des ‚Canzoniere‘ und Petrarcas ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ hat DUPERRAY (Anm. 37), S. 273 hingewiesen: „Le culte magdalénien de Pétrarque“, so DUPERRAY, „donne à sa poésie amoureuse une grandeur et une signification nouvelle“ und mache das Gedicht über Maria Magdalena im gewissen Sinne zum ‚Canzoniere‘ „en miniature“. 54 DUPERRAY (Anm. 37), S. 280 spricht hier richtig und pointiert von einer „crainte perpétuelle pour son salut, une véritable obsession de la damnation“. 55 Vgl. dazu: Karlheinz STIERLE, Le Vaucluse de François Pétrarque: un lieu de mémoire, in: DERS. (Hg.), Petrarca-Studien, Heidelberg 2012, S. 163–172, hier S. 167. 56 NEUMANN (Anm. 52), S. 36. 57 Vgl. Rerum Senilium (Anm. 1), X, 2. 58 Vgl. PINTO-MATHIEU (Anm. 1), S. 183. Dass Maria Magdalena, die seit dem 13. Jh. „eine wichtige Leitfigur“, SPRINGER (Anm. 18), S. 474, für viele Bettelorden wurde, auch für das Kloster von Montrieux eine zentrale Rolle spielte, ist an dieser Stelle nicht unbedeutend. 59 Auch für seinen Bruder Gherardo ist die Grotte zu einem Ort der Erkenntnis geworden. In einem Brief der ‚Familiaria‘ (X, 4) berichtet der Dichter, dass sein Bruder die Entscheidung für das Mönchsleben in der Chartreuse de Montrieux 1343 nach einem Besuch der Grotte getroffen habe. Vgl. PINTO-MATHIEU (Anm. 1), S. 183.

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vita solitaria‘ angelehnt. Diese Schrift ist Philippe de Cabassole gewidmet, für den Petrarca auch das ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘ schreibt – und hier schließt sich der Kreis. Die Grotte von Sainte-Baume bezeichnet Petrarca in seinem Traktat als wahrhaft heiligen Ort, der durch Schauder Ehrfurcht erzeugt: locus est sacer, quodam horrore venerabilis.60 Oft sei er dort gewesen, einmal sogar drei Tage und drei Nächte – und zwar non sine voluptate.61 Dieses symbolische dreitägige Wachen ist ein tief religiöses Bild der Erkenntnis, die dem von seinen Zweifeln und der Suche nach innerem Frieden getriebenen Dichter an diesem Ort zuteilwird. An dieser Stelle seines Traktats reflektiert Petrarca – ganz in der Manier der Kirchenväter – auch die beiden Prinzipien der vita activa und der vita contemplativa, indem er auf die berühmte als Sondergut im Lukas-Evangelium (10, 38–42) überlieferte Geschichte von Maria und Martha eingeht, wobei er Maria als multo sanctior deutet und betont, dass sie de optime partis electione laudata est.62 Das kontemplative Leben erscheint als dem tätigen und aktiven gegenüber überlegen. Wie Maria Magdalena, die sich der ‚Legenda aurea‘ nach, in die Einsamkeit zurückzieht, da sie nach höherer Betrachtung strebt, supernae contemplationis avida,63 und die contemplatio interna64 zu ihrem Prinzip macht, wählt Petrarca Fontaine-deVaucluse als seinen Ort der Abgeschiedenheit und folgt somit im gewissen Sinne ihrem Beispiel. Ähnlich wie Magdalena in ihrem Büßerleben die imitatio Christi vollzieht, geht Petrarca den Weg der imitatio der Heiligen. In diesem Kontext kann sein ‚Carmen de beata Maria Magdalena‘, das sich mit seiner Plastizität und seiner Mischung aus betonter Körperlichkeit und innerer Betrachtung von den moralisierenden Bildern des Mittelalters entfernt, als Akt der schöpferischen Exegese und poetisches Bekenntnis zur vita contemplativa im Sinne Petrarcas gelesen werden, wie er sie in seinem Traktat ‚De vita solitaria‘ erläutert.

|| 60 Francesco Petrarca, De vita solitaria, hrsg. v. Marco NOCE, Milano 1992, S. 252. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Legenda aurea (Anm. 17), S. 1246. 64 Vgl. ebd., S. 1234.

Tobias Frese

Das Trivulzio-Elfenbein und die Anfänge des ‚Magdalenenmotivs‘ in der Kunst Abstract: In late medieval literature and art, the image of Saint Mary Magdalene is highly ambivalent: She appears as saint and sinner, seductress and repentant. As is well known, this is the result of an early conflation of different biblical women. Mary Magdalene, the follower of Christ and witness of his crucifixion and resurrection, was conflated with Mary of Bethany and the unnamed “sinful woman” who anointed Jesus’ feet. Pope Gregory the Great popularized this conflation, the ‘Magdalenenmotiv’, in the 6th century, but in the visual arts the motiv was only introduced centuries later. It is surprising that Mary Magdalene’s image does not figure prominently in early medieval art, until at least the 9th/10th century. That said, the Trivulzio-Ivory, a late antique plaque in the collection of the Milanese Castello Sforzesco, is of great importance to the study of MagdaleneIconography. The piece, dated to the 5th century, was originally part of a diptych, probably made in a Roman workshop. It depicts the Holy Sepulchre with the two Marys in front and a seated figure on a rock. This seated figure is ambiguous and can be understood both as an angel and the resurrected Christ. In the same way, the depiction of the two Marys – one standing, one kneeling – is ambiguous too. This is probably the very first example of the conflation of Mary Magdalene with Mary of Bethany in Christian art and also of the Noli me tangere (as a small depiction in the background). The Milanese ivory plaque shows not only a highly innovative Iconography but also – according to patristic concepts – an example of a successful religious conversion. Keywords: Mary Magdalene, Trivulzio-Ivory, Holy Sepulchre, conversion, ambiguity

Maria Magdalena zählt ohne Zweifel zu den prominentesten weiblichen Heiligen der christlichen Kirche; groß ist die Fülle an Magdalenen-Darstellungen, die allein aus der Zeit des späten Mittelalters überliefert sind: Die Heilige ist in der Buch- und Tafelmalerei ebenso wie in der Bauskulptur anzutreffen; sie ist sowohl im szenischen Kontext, in der Passions- und Osterikonographie sowie Legendenerzählung, verbreitet als auch als repräsentative Einzelfigur bekannt.1 Dabei ist das Bild der Maria Magdalena nicht nur ein zutiefst widersprüchliches – es bezieht aus seiner

|| Tobias Frese, ZEGK – Institut für Europäische Kunstgeschichte, Universität Heidelberg, Seminarstraße 4, D-69117 Heidelberg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-020

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charakteristischen Ambivalenz geradezu den Reiz und seine Relevanz. So wird die Heilige als Prototyp der Büßerin, aber auch als Personifikation der Schönheit und Verführung in Szene gesetzt. Eine der eindrucksvollsten, aber auch schockierendsten Darstellungen des ersten Typus hat Donatello Mitte des 15. Jahrhunderts geschaffen.2 Die vollplastische, annähernd lebensgroße Holzfigur, die heute im Dommuseum von Florenz aufbewahrt wird, zeigt eine ausgemergelte Frau im härenen Gewand (Abb. 1). Ihr Gesicht erscheint von Entbehrungen gezeichnet, die Augen liegen in tiefen Höhlen, einzelne Strähnen ihres wilden Haars züngeln ihr über die eingefallenen Wangen. Die Figur präsentiert die Heilige schonungslos in ihrer ganzen Hinfälligkeit und Sterblichkeit. Geradezu die Antithese zu diesem ‚Schreckensbild‘ stellt die bemalte Holzskulptur von Gregor Erhart im Pariser Louvre dar:3 Im eleganten Kontrapost steht die Heilige nackt vor dem Betrachter – nur bedeckt von ihrem langen Haar (Abb. 2). Das Inkarnat wirkt durch die lebensnahe Bemalung nicht nur verblüffend realistisch, die nackte Haut der Frau wird geradezu voyeuristisch zur Schau gestellt. Die Rede vom „Reiz der Maria Magdalena“4 bekommt hier einen unübersehbar erotischen Akzent.

|| 1 Vgl. Marga ANSTETT-JANßEN, Maria Magdalena in der abendländischen Kunst. Ikonographie der Heiligen von den Anfängen bis ins 16. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1962; DIES., Maria Magdalena, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7 (1968), Sp. 516–541; Gertrud SCHILLER, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 3, Gütersloh 1971, S. 95–98. 2 Donatello, Maria Magdalena, 1453–1455, Silberpappelholz, 1,88 m, Museo dell’Opera del Duomo Firenze. Vgl. H. W. JANSON, The Sculpture of Donatello, Vol. 2, Princeton 1957, S. 190 f.; Frederick HARTT, Donatello. Prophet of a Modern Vision, New York 1973, S. 383; Donatello e i Suoi. Scultura Fiorentina del primo Rinascimento, hrsg. v. Alan Phipps DARR u. Giorgio BONSANTI, Florenz 1986, S. 170 f.; Kelly BARNES-OLIVER, Legendary Penance: Donatello’s Wooden Magdalen, in: Athanor 17 (1999), S. 25–33; Ulrich PFISTERER: Donatello und die Entdeckung der Stile 1430–1445, München 2002, S. 430 f.; Giovan Battista FIDANZA, Donatellos Maria Magdalena. Technik und Theologie einer Holzfigur, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 62 (2014), S. 127–144. 3 Gregor Erhart, Maria Magdalena, um 1510, Lindenholz, 1,77 m, Musée du Louvre. Vgl. Agnès CASCIO u. Guilette LÉVY, Étude et restauration de la Sainte Marie-Madeleine de Gregor Erhart, in: Sophie GUILLOT DE SUDUIRAUT (Hg.), Sculptures médiévales allemandes, Paris 1993, S. 337–356; Sophie GUILLOT DE SUDUIRAUT, Gregor Erhart. Sainte Marie-Madeleine (Collection Solo: Département des Sculptures Nr. 6), Paris 1997; Sophie GUILLOT DE SUDUIRAUT, Dévotion et séduction. Sculptures souabes des musées de France vers 1460–1530, Paris 2015, Kat.-Nr. 50, S. 367–375; Ulrich SÖDING, Von der Spätgotik zur Renaissance. Meisterwerke der Skulptur in Ulm und Augsburg nach 1494, in: Wolfgang AUGUSTYN u. Eckhard LEUSCHNER (Hgg.), Kunst und Humanismus, Passau 2007, S. 105–132. 4 So der Titel des am 19. März 2019 auf dem 18. Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen von Angelika Rieger organisierten und moderierten Panels. Der vorliegende Text beruht auf dem dort gehaltenen Vortrag, in welchem Ergebnisse aus der Habilitationsschrift „Ambiguität, Liminalität und Konversion. Bilder der Christophanie von der Spätantike bis ins frühe Mittelalter“ vorgestellt wurden, die der Autor im Jahr 2018 an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg eingereicht hat. Die folgenden Ausführungen stellen eine stark gekürzte und leicht modifizierte Version des ersten Kapitels dar.

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Abb. 1: Donatello: Maria Magdalena. 1453–1455. Florenz, Museo dell’Opera del Duomo. Joachim POESCHKE, Donatello und seine Zeit (Die Skulptur der Renaissance in Italien, Bd. 1), München 1990, Tf. 128.

Abb. 2: Gregor Erhart: Maria Magdalena. Um 1510. Paris, Louvre. Georges DUBY u. Michelle PERROT, Geschichte der Frauen im Bild, Frankfurt a. M. 1995, S. 63.

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Abb. 3: Ravenna, S. Apollinare Nuovo, 6. Jh. Frauen am leeren Grab. © Universität Trier, Fach Kunstgeschichte. Foto: Andreas Thull.

Abb. 4: Sog. Reidersche Tafel. Rom, um 400. München, Bayerisches Nationalmuseum. 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. 3 Bde. Ausst.-Kat. Paderborn 1999, Bd. 2, S. 689, Abb. X.2.

Das Trivulzio-Elfenbein und die Anfänge des ‚Magdalenenmotivs‘ in der Kunst | 343

Die von Donatello und Erhart geschaffenen Skulpturen stellen ohne Zweifel künstlerische Höhepunkte am Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit dar. Die beschriebenen Charakteristika sind aber das Resultat einer kreativen Neukontextualisierung der biblischen Figur, die bereits ein Jahrtausend zuvor einsetzte. Wie bekannt, wurde Maria Magdalena in der kirchlichen Tradition sowohl mit Maria aus Bethanien (vgl. Lc 10, 38–42; Io 11, 1–45; 12, 1–11) als auch mit der salbenden Sünderin (vgl. Lc 7, 36–49) identifiziert. Aus der Jüngerin Jesu wurde auf diese Weise – theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich höchst folgenreich – eine reumütige peccatrix. Bei Gregor dem Großen (um 540–604 n. Chr.) ist dieses sog. ‚Magdalenenmotiv‘ bereits voll ausgebildet und gilt von diesem Zeitpunkt an als exegetisch verbindlich. In der christlichen Kunst ist die Heilige dagegen lange Zeit kaum anzutreffen. So reichhaltig und spektakulär das Bildmaterial des späteren Mittelalters und der Neuzeit ist, so spärlich sind die Bildzeugen aus dem ersten Jahrtausend. Weder in der Katakombenmalerei noch der Sarkophagskulptur oder Kleinkunst sind repräsentative Bilder der Maria Magdalena überliefert. Selbst in der frühen Osterikonographie spielt diese Heilige zunächst keine herausragende Rolle. Wir müssen sie zwar unter den Frauen am leeren Grab Christi vermuten (Abb. 3 und 4), bildlich hervorgehoben wird diese Figur jedoch zunächst nicht.5 Es muss fast überraschen, dass die wohl bekannteste biblische Episode, das Noli me tangere, in der die Heilige alleine dem Auferstandenen begegnet (Io 20, 11–18), als Bildmotiv erst im 9. und 10. Jahrhundert und zunächst eher vereinzelt auftaucht.6 Maria Magdalena, so scheint es, war in der Spätantike und im frühen Mittelalter über Jahrhunderte hinweg gleichsam unsichtbar. Eine bedeutsame Ausnahme stellt diesbezüglich ein Bildzeugnis aus der Zeit um 400 n. Chr. dar: das sog. Trivulzio-Elfenbein, das im Mailänder Castello Sforzesco aufbewahrt wird (Abb. 5). Mit 30 cm Höhe handelt es sich um eine vergleichsweise großformatige Elfenbeintafel, die sich, abgesehen von einem langen Riss auf der rechten Seite, in einem guten Erhaltungszustand befindet.7 Die Tafel wurde vermut|| 5 Dies gilt auch für die östlichen, frühbyzantinischen Darstellungen. Wenn, wie in der Osterminiatur des Rabula-Codex (6. Jh.) zu sehen, eine der Frauen am Grab eigens mit Nimbus hervorgehoben wird, so handelt es sich nicht um Maria Magdalena, sondern um Maria, die Mutter Jesu. Vgl. Kurt WEITZMANN, Eine vorikonoklastische Ikone des Sinai mit der Darstellung des Chairete, in: Tortulae: Studien zu altchristlichen und byzantinischen Monumenten. Römische Quartalschrift 30. Supplement (1966), S. 319 f.; SCHILLER (Anm. 1), S. 20; Polyvios KONIS, The Post-Resurrection Appearences of Christ. The case of the Chairete or ‘All Hail’, in: Rosetta 1 (2006), URL: http://www.rosetta.bham. ac.uk/Issue_01/Konis.htm (22.10.2020), S. 32, 34. Die schon bei Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostomos nachweisbare Integrierung der Muttergottes in die Ostergeschichte ist in der westlichen Kirche nicht geläufig. 6 Vgl. SCHILLER (Anm. 1), S. 95 f. 7 Mailand, Castello Sforzesco, Civiche Raccolte di Arte applicata ed Incisioni, Inv.-Nr. 9. Höhe: 30, 7 cm, Breite: 13, 4 cm. Die Elfenbeintafel wurde im Jahr 1935 aus der Sammlung des Gian Gia-

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lich in Rom hergestellt und bildete ursprünglich wohl die linke Seite eines Diptychons.8 Das Thema der Darstellung ist auf den ersten Blick einfach identifizierbar: Offensichtlich handelt es sich um das am Ostermorgen leere Grab Christi, vor dem die Marien von der frohen Botschaft der Auferstehung erfahren. Unten links erkennt man eine auf einem Felsen sitzende Figur, die sich mit einem Redegestus an die Frauen wendet – es sind nur derer zwei zu sehen, was der Erzählversion des Matthäusevangeliums entspricht (Mt 28, 1–10). Es ist hier die Rede von Maria von Magdala und der „anderen Maria“, die sich nach dem Sabbat beim „Aufleuchten des Morgens“ zum Grab Christi aufmachten. Es handelt sich bei der Elfenbeintafel um eine äußerst qualitätsvolle Arbeit, die mit einer originellen, durchdachten Bildkomposition und einer hohen schnitztechnischen Akkuratesse aufwartet. So ist das Relief zwar recht flach gehalten, beeindruckt aber durch eine hohe Präzision der Darstellung: Graphisch genau wurden die Gesichter ausgearbeitet; wirkungsvoll die Konturlinien der Figuren betont. Souverän organisierte der Schnitzer das Formgefüge im hochrechteckigen Bildfeld und schenkte auch kleinen Details große Aufmerksamkeit. Erwähnt sei nur die feine Darstellung des Kuppeldaches,9 die von der Beobachtungsgabe des Künstlers und wohl auch dem hohen Anspruch des (unbekannten) Auftraggebers zeugt. Insgesamt fällt die Größe und Präsenz des Grabbaus auf, der fast das gesamte Bildfeld ausfüllt und dieses im unteren Bereich samt Rahmung sogar komplett einnimmt. Dies ist ein durchaus irritierendes Moment: Schließlich bildet der LotosPalmettenfries die äußere Grenze des Bildes und zugleich die seitlichen Kanten des Grabunterbaus. Zudem erstreckt sich dieser Fries nicht nur am äußeren Rand der

|| como Trivulzio erworben. Vgl. Wolfgang Fritz VOLBACH, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters (Kataloge des Röm.-Germ. Central-Museums 7), Mainz 1916, 2. Aufl. Mainz 1952, Kat.-Nr. 111, S. 58; Age of Spirituality. Late Antique and Early Christian Art. Third to Seventh Century (Ausst.-Kat. Metropolitan Museum of Art), hrsg. v. Kurt WEITZMANN, Princeton 1979, Kat.-Nr. 453, S. 504 f.; Dale KINNEY, A Late Antique Ivory Plaque and Modern Response, in: American Journal of Archaeology 94 (1994), S. 465; Wolfgang KEMP, Christliche Kunst. Ihre Anfänge, ihre Strukturen, München u. a. 1994, S. 212–217; Beat BRENK, Das Trivulzio-Elfenbein und seine antiarianische Mission, in: Tobias FRESE u. Annette HOFFMANN (Hgg.), Habitus. Norm und Transgression in Bild und Text, Berlin 2011. 8 Darauf verweisen die kleinen Bohrlöcher auf der rechten Randleiste, an der vermutlich Scharniere befestigt waren. Zudem sind in den oberen Ecken nur zwei Evangelistensymbole (Lukas, Matthäus) zu sehen. So ist es mehr als wahrscheinlich, dass auf der verlorenen, rechten Tafel die beiden Pendants (Markus, Johannes) gezeigt wurden. Letztlich bleibt dies aber spekulativ. 9 Deutlich erkennbar ist die Deckung des Daches mit tegula und imbrex. Vgl. die äquivalenten deutschen Bezeichnungen „Klosterziegel“, „Priependach“ oder „Mönch-und-Nonnen-Deckung“. Vgl. Ulrich BRANDL u. Emmi FEDERHOFER, Ton und Technik. Römische Ziegel, Stuttgart 2010; Hans ECKERT, Das Dach und seine Deckung, Köln 1956.

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Abb. 5: Sog. Trivulzio-Elfenbein. Rom, um 400. Mailand, Castello Sforzesco. Serena ENSOLI, Maria ANDALORO, Aurea Roma. Dalla città pagana alla città Cristiana, Rom 2000, S. 612, Tf. 313.

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Tafel, sondern durchläuft diese auch horizontal auf halber Höhe. Könnte man also zunächst meinen, zwei übereinander angeordnete Bildfelder mit verschiedenen Szenen vor sich zu haben, so erkennt man auf den zweiten Blick, dass die mittlere Leiste ein Dachgesims darstellt und im Bildfeld darüber der zylindrische Abschluss des kubischen Grabbaus darunter zu sehen ist.10 Die gestalterische Merkwürdigkeit besteht also darin, dass Elemente der Architekturdarstellung, das Dachgesims und die Kanten des Mausoleums, mit der Rahmung der Elfenbeintafel, der ästhetischen Grenze des Bildes, verschmelzen, wodurch ein eigentümlicher Kippeffekt entsteht: Die Differenz zwischen Darstellung und Bildträger gerät ins Wanken. Zudem muss überraschen, dass die beiden Wächter nicht neben dem Grab positioniert sind, sondern kurioserweise auf dessen Dach Platz genommen haben. Sie sind nicht schlafend, sondern im Zustand größter Erregtheit vorgestellt. Auf die Knie gesunken, beugen sie sich herab und scheinen mit größter Anteilnahme auf das Geschehen darunter zu blicken; ihre ausgreifende Gestik und bewegten Gewänder lassen auf innere Erschütterung schließen.11 Ohne Zweifel wird hier der Bericht des Matthäusevangeliums veranschaulicht, demzufolge die Soldaten „aus Furcht erbebten“ (prae timore exterriti sunt), als sie den Engel vor dem Grab erblickten (Mt 28, 3 f.). Ist hier aber wirklich ein Engel zu sehen? Erkennbar ist, dass die sitzende Figur nicht nur eine Schriftrolle in der Hand hält, sondern auch einen scharf konturierten Nimbus hinter dem Kopf trägt. Zudem ist eine der Marien vor ihm niedergefallen und scheint seine Füße zu berühren. So ist es durchaus nachvollziehbar, dass sich die meisten Kunsthistoriker für eine Identifikation der Figur als Christus ausgesprochen haben.12 Zu sehen sei, so der erstmals von Kurt WEITZMANN geäußerte Vorschlag, das sog. „Chairete-Motiv“: Die Begegnung der Marien mit dem auferstandenen Christus.13 So wird im 28. Kapitel des Matthäusevangeliums erzählt, dass Maria Magdalena und „die andere Maria“ das leere Grab und den Engel „mit Furcht und

|| 10 Wolfgang KEMP hat dies als medienreflexives Moment interpretiert. Vgl. KEMP (Anm. 7), S. 214; KINNEY (Anm. 7), S. 465 spricht von einer „bizarren“ Komposition. 11 Zum Motiv des vom Wind aufgeblähten Mantels als Chiffre von Emotion und Empathie bereits in der heidnisch-paganen Kunst vgl. BRENK (Anm. 7), S. 248 f. 12 Hubert SCHRADE, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 1: Die Auferstehung Christi, Berlin 1932, S. 31; WEITZMANN (Anm. 5), S. 321 f.; Age of Spirituality (Anm. 7), Kat.-Nr. 453, S. 504; BRENK (Anm. 7), S. 246. BRENK wies darauf hin, dass ein Nimbus für eine Engelsdarstellung dieser Zeit sehr ungewöhnlich wäre und letztlich die „Schriftrolle in der linken Hand […] eindeutig für Christus“ spreche. Wolfgang VOLBACH, einer der besten Kenner spätantiker Elfenbeinkunst des frühen 20. Jhs., hatte die sitzende Figur dagegen noch ohne weitere Diskussion als Engel bezeichnet. VOLBACH (Anm. 7), S. 58, Nr. 111. Ebenso Günter RISTOW, Passion und Ostern im Bild der Spätantike, in: Dagmar STUTZINGER (Hg.), Spätantike und frühes Christentum (Ausst.-Kat. Liebieghaus Frankfurt a. M.), Frankfurt a. M. 1983, S. 365 und KEMP (Anm. 7), S. 212–217. 13 WEITZMANN (Anm. 5), S. 321 f.; BRENK (Anm. 7), S. 247 f. Zur kunsthistorischen Entwicklung des sog. Chairete-Motivs vgl. KONIS (Anm. 5).

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großer Freude“ (cum timore et magno gaudio) verließen, um den Jüngern die frohe Botschaft zu übermitteln. Sodann erfolgt die plötzliche Begegnung mit Christus selbst: Et ecce Iesus occurrit illis dicens: ‚Havete‘. Illae autem accesserunt et tenuerunt pedes eius et adoraverunt eum. Und siehe, Jesus kam ihnen entgegen und sprach: ‚Seid gegrüßt‘. Sie aber traten hinzu, umfassten seine Füße und warfen sich vor ihm nieder. (Mt 28, 9)

Es ist tatsächlich kaum von der Hand zu weisen, dass die Szene des TrivulzioElfenbeins auf diese Passage rekurriert. Insbesondere das demütige Knien der vorderen Maria direkt zu Füßen der Gestalt deutet auf eine Begegnung mit dem Auferstandenen selbst hin. Aber: anders als es der Evangelientext nahelegt, wird hier offensichtlich nicht gezeigt, wie Christus fernab des Grabes den Frauen „entgegenkommt“ (occurrere). Im Gegenteil: In großer Ruhe sitzt die Gestalt auf einem massiven Felsen vor dem Grab.14 Dieser bildliche Hinweis, der deutlich für eine Engelserscheinung spricht, ist ebenso wenig zu leugnen wie die ikonographischen Indizien, die eine Christusdarstellung nahelegen. Man kann also davon ausgehen, dass die beiden im 28. Kapitel des Matthäusevangeliums direkt hintereinander geschalteten Begegnungen – erst mit dem Engel und dann mit Christus – auf dem Relief synchronisiert und in einer einzigen Szene vereinigt wurden. Die Zusammenführung der Szenen auf dem Trivulzio-Elfenbein sollte aber m. E. nicht als künstlerische Notlösung angesehen werden,15 sondern als ein Gestaltungsmittel, bei dem der Kippeffekt eine zentrale Rolle spielt. In diesem Sinne ist die himmlische Gestalt auf dem Felsen als eine semantisch ambivalente Figur zu verstehen, deren Rezeption durch das Frauenpaar vor Augen geführt wird. Die spezifische Anordnung der beiden Marienfiguren forciert diesen Eindruck: Während die eine noch steht und sich leicht vornüber gebeugt dem Sitzenden zuwendet, kauert die andere mit gesenktem Blick auf dem Boden. Zu sehen sind hier nicht nur zwei Epiphanien, sondern, so scheint es, auch zwei unterschiedliche Reaktionen: Die aufrechtstehende Frau empfängt noch die Botschaft des Engels (Mt 28, 5–7); die auf dem Boden Kauernde ist schon vor Christus niedergefallen (Mt 28, 9 f.). Auf diese Weise realisiert das Relief erstens eine narrative Sukzession gemäß dem Evangelienbericht, impliziert zweitens eine Hierarchie der Ehrerbietung und führt drittens auch eine Stufenfolge der Erkenntnis vor Augen: Während die stehende Maria noch

|| 14 Der Kontrast zwischen dem Sitzen der Engel und dem Stehen des Auferstandenen wird insbesondere im Johannesevangelium (Io 20, 12) scharf gezeichnet. Vgl. Andrea TASCHL-ERBER, Maria von Magdala – Erste Apostolin? (Herders Biblische Studien Bd. 51), Freiburg u. a. 2007, S. 132. 15 WEITZMANN (Anm. 5), S. 322 f.; vgl. auch Kurt WEITZMANN, The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai: The Icons. Vol 1: From the Sixth to the Tenth Century, Princeton 1976, S. 27.

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mit dem Engel kommuniziert, hat die andere bereits begriffen, dass sie es mit dem Auferstandenen selbst zu tun hat. Die Zeitlichkeit dieses Vorgangs wird hierbei eigens thematisch: Sowohl das Überraschende und Plötzliche einer biblischen Gotteserscheinung16 als auch die spezifisch kognitive Verzögerung auf Seiten der menschlichen Protagonisten.17 Das augenblickliche Umschlagen des Rezeptionsmodus ist offensichtlich das zentrale Thema der Tafel: Wie der Betrachter des TrivulzioElfenbeins bei der Beurteilung der Rahmen-Ornamentik zwischen zwei Sichtweisen schwankt bzw. recht plötzlich von einer zur anderen Perspektive ‚springt‘, so wechseln in analoger Weise auch die bildimmanenten Perspektiven der dargestellten Marien. Weitere Metamorphosen erfährt das Bildformular durch die kleinen Reliefszenen auf den Türflügeln des Mausoleums. Diese Tür erscheint bereits durch die mittige Platzierung, die breite Palmettenrahmung und ihrer schieren Größe wegen als bedeutungsvoller Bildträger – als monumentales Diptychon, dessen Reliefs prominent in Szene gesetzt werden.18 Diese sind jeweils paarweise nebeneinander angeordnet: Das oberste Reliefpaar zeigt die Auferweckung des Lazarus (Io 11, 1–45). Als Präfiguration des Ostergeschehens überrascht dieses Thema an dieser Stelle wenig. In unserem Kontext ist aber darauf hinzuweisen, dass bei der Lazarus-Episode zwei Frauenfiguren eine bedeutende Rolle spielen: Es sind die aus Bethanien stammenden Maria und Martha, die Schwestern des Lazarus. Dem Bericht des Johannesevangeliums zufolge eilten die beiden Schwestern Jesus entgegen, als dieser in Bethanien eintraf, nachdem Lazarus bereits verstorben war. Zuerst wird die Begegnung mit Martha geschildert, die Jesus Vorhaltungen macht („Herr, wärst Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“, Io 11, 21), aber sich dennoch zu Jesus als Messias bekennt.19 Sodann die Konfrontation mit Maria, die Jesus „zu Füßen fällt“ (cecidit ad pedes eius) und zu weinen beginnt (Io 11, 32 f.). Dieser dramatische Bericht wird nun auf den Türflügeln des Mausoleums gerade nicht gezeigt; die kleinen Reliefs zeigen in größter Knappheit nur den in Binden eingewickelten Lazarus mit dem Wundertäter gegenüber. Es liegt aber nahe, in den großen Marienfiguren der Elfenbeintafel – eine stehend, eine zu Füßen Christi –

|| 16 Das plötzliche Erscheinen Gottes, dessen „sudden appearance“, ist schon für die im Alten Testament beschriebenen Theophanien charakteristisch. Vgl. George W. SAVRAN, Encountering the Divine. Theophany in Biblical Narrative, London, New York 2005, S. 69–78. Zum ‚Überraschungscharakter‘ vgl. Elpidius PAX, Epiphaneia. Ein religionsgeschichtlicher Beitrag zur biblischen Theologie (Münchner Theologische Studien Bd. 40), München 1955, S. 107 f. 17 Diese Verzögerung der Erkenntnis („delay in recognition“) tritt insbesondere bei Theophanien in Engelsgestalt auf, bei der die Engel (Malakhim) als solche zunächst nicht erkannt werden. Vgl. SAVRAN (Anm. 16), S. 78–80. 18 Zu diesen Bildern im Bild vgl. KEMP (Anm. 7), S. 212–214 und BRENK (Anm. 7), S. 251–253. 19 „Aber auch so weiß ich: Was Du von Gott erbittest, das wird Dir Gott geben […] Ja, Herr, ich glaube, dass Du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist“ (Io 11, 22/27).

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auch eine Anspielung auf Maria und Martha der Lazarus-Episode zu sehen. In diesem Sinne wäre auf dem Trivulzio-Elfenbein erneut eine szenische Überblendung zu konstatieren, woraus erstaunliche Wandlungen resultieren: Das Grab Christi wandelt sich zum Grab des Lazarus, der Auferstandene wird zum Wundertäter. Und: Aus den Frauen vor dem leeren Grab werden Maria und Martha, die klagenden, trauernden und den Messias bekennenden Schwestern des Lazarus. Bekanntlich wurden die beiden Schwestern aus Bethanien von christlichen Theologen seit jeher in ihrer Unterschiedlichkeit gewürdigt. Die entscheidende Textgrundlage bildet das zehnte Kapitel des Lukasevangeliums, in welchem ein Gastmahl im Hause der Martha geschildert wird. Hier wird Martha als diejenige beschrieben, die „durch vielerlei Dienste beansprucht war“ (satagebat circa frequens ministerium), während ihre Schwester Maria Jesus zu Füßen saß und seiner Rede zuhörte (Lc 10, 38–42). Die beiden Schwestern wurden entsprechend dieser Darstellung seit frühester Zeit als Repräsentantinnen des aktiven und kontemplativen Lebens (vita activa und contemplativa) verstanden. In der Patristik avancierten sie geradezu „zum festen Typus für die beiden Lebensformen des Christenmenschen“20. Augustinus, der wohl wirkmächtigste Theologe des Westens in der Zeit um 400 n. Chr. – der Entstehungszeit des Trivulzio-Elfenbeins – interpretierte das Schwesternpaar als ein Sinnbild der Kirche in ihrer Gesamtheit: Martha als Repräsentantin der gegenwärtigen Kirche in der irdischen Drangsal (vita praesens, laboriosa, aerumnosa, temporalis), Maria als Repräsentantin der Kirche in ihrer ewigen Herrlichkeit (vita futura, quieta, beata, aeterna).21 Das letzte Ziel der Gläubigen ist nach Augustinus die Schau Gottes (visio Dei), die den Höhepunkt der Kontemplation darstellt (ad summitatem contemplationis).22 Maria von Bethanien, die den „besten Teil“ (optima pars) gewählt habe, gilt Augustinus als Repräsentantin dieses höchsten Ziels. Es ist nun sehr verlockend, in den beiden Frauen auf der Trivulzio-Tafel das ungleiche Schwesternpaar zu erkennen – die aufrecht Stehende als Martha und die vor den Füßen Jesu Kniende als Maria – und damit in der Szene insgesamt eine symbolische Repräsentation der vita activa und vita contemplativa mit all ihren ekklesialen Implikationen zu vermuten.23

|| 20 Joseph RATZINGER, Die Kirche in der Frömmigkeit des heiligen Augustinus, in: Jean DANIÉLOU u. Herbert VORGRIMLER (Hgg.), Sentire Ecclesiam. Das Bewusstsein von der Kirche als gestaltende Kraft der Frömmigkeit, Freiburg i. Br., Basel, Wien 1961, S. 153. Ausführlich zur patristischen Exegese: Daniel A. CSÁNYI, Optima pars. Die Auslegungsgeschichte von Lk 10, 38–42 bei den Kirchenvätern der ersten vier Jahrhunderte, in: Studia monastica 2 (1960), S. 5–78. 21 Larissa Carina SEELBACH, Martha und Maria, in: Augustinus-Lexikon, Bd. 3 (2010), Sp. 1169. 22 Augustinus, Epistulae 120, 1, 4; Ders., De trinitate 1, 8, 17. 23 Die untere Szene des Elfenbeins wurde interessanterweise von Hans HOFSTÄTTER als direkte Illustration von Lc 10, 38–42 verstanden. Vgl. Hans H. HOFSTÄTTER, Darstellungen der Maria Magdalena in der bildenden Kunst, in: Dietmar BADER (Hg.), Maria Magdalena – Zu einem Bild der Frau in der christlichen Verkündigung, München, Zürich 1990, S. 73 u. Abb. 3. Dies ist zwar kaum haltbar

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Diese zunächst assoziative Verknüpfung verdichtet sich zu einer wirklich alternativen Lesart, bedenkt man, dass in einigen apokryphen Texten auch bei der Schilderung des leeren Ostergrabes von Maria und Martha die Rede ist, eine Eigentümlichkeit, die sich etwa bei einem anerkannten katholischen Kirchenlehrer wie Hippolyt von Rom (um 170–235 n. Chr.) findet.24 Aufschlussreich ist insbesondere dessen Hoheliedkommentar, da in dieser Schrift eine sehr geschlechtsspezifische Botschaft der österlichen Erscheinungen vermittelt wird: Im Sinne des Hohenliedes beschreibt Hippolyt die Frauen am Grab Christi – hier Maria und Martha – als sehnsuchtsvoll Suchende, die letztlich das Objekt ihrer Liebe finden und nicht mehr loslassen. Als Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts repräsentieren sie gemeinsam die „neue Eva“: Im Gegensatz zur ersten Frau der Schöpfung, die Gott gegenüber ungehorsam war und Lüge verbreitete, hätten Maria und Martha an ihrem auferstandenen Herrn festgehalten, die Wahrheit verkündet und seien von Jesus erhöht worden. Die Ostergeschichte wird von Hippolyt somit als eine echte Konversionsgeschichte interpretiert: Aus Vertreterinnen des sündigen Geschlechts werden „Apostolinnen der Apostel“ (apostolae apostolorum), ein Ehrentitel, der hier zum ersten Mal belegt ist und später u. a. von Hieronymus aufgegriffen wird.25 Hat nun der Auftraggeber des Trivulzio-Elfenbeins diesen Kommentar des Hippolyt gekannt und den Schnitzer angehalten, die Kernbotschaft von der „neuen Eva“ im Bildgefüge zur Anschauung zu bringen? Auch wenn sich dies nicht mit letzter Sicherheit bejahen lässt, so ist doch festzuhalten, dass nahezu sämtliche Theologen patristischer Zeit auf den Topos der „neuen Eva“ zurückgreifen, wenn es um die Exegese des Ostermorgens geht.26 Aus der sündhaften Frau, so der Grundtenor, wird die fromme Botin; aus der Unheilsgeschichte wird eine Heilsgeschichte. Es kann also kaum bezweifelt werden, dass bei der Konzeption des TrivulzioElfenbeins diese um 400 n. Chr. so dominante Osterexegese eine Rolle gespielt hat. Dies umso mehr, als das Thema des Wandels bzw. der Umkehr auch auf den anderen Reliefdarstellungen der Grabestür als wichtige Aussage erkennbar ist: Direkt

|| und scheint eher auf einem ikonographischen Missverständnis des Autors zu beruhen; dennoch ist die Maria/Martha-Thematik für das Elfenbein relevant, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 24 Vgl. Urban HOLZMEISTER, Die Magdalenenfrage in der kirchlichen Überlieferung, in: Zeitschrift für katholische Theologie (ZKTh) Vol. 46, No 3 (1922), S. 566 f.; Rosemarie NÜRNBERG, Apostolae Apostolorum. Die Frauen am Grab als erste Zeuginnen der Auferstehung in der Väterexegese, in: Georg SCHÖLLGEN u. Clemens SCHOLTGEN (Hgg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift für Ernst DASSMANN (Jahrbuch für Antike und Christentum: Ergänzungsband 23), Münster 1996, S. 228 f.; TASCHL-ERBER (Anm. 14), S. 590–92, 605. 25 Vgl. TASCHL-ERBER (Anm. 14), S. 592; Anne JENSEN, Maria von Magdala – Traditionen der frühen Christenheit, in: Dietmar BADER (Hg.), Maria Magdalena – Zu einem Bild der Frau in der christlichen Verkündigung, München, Zürich 1990, S. 41 f. 26 Vgl. NÜRNBERG (Anm. 24), 233 f.; KONIS (Anm. 5), S. 32; TASCHL-ERBER (Anm. 14), S. 589–604.

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unter der Lazarus-Aufweckung ist das Zusammentreffen des Zachäus mit Jesus zu sehen (Lc 19, 1–10). Wieder handelt es sich um eine Christus-Begegnung; wieder steht ein existentieller Gesinnungswandel im Fokus der Erzählung: Aus Zachäus dem Zöllner, einem „Sünder“ (peccator), wird ein Gerechter Gottes. Im untersten Reliefpaar kommen die Christus-Begegnung und das BekehrungsThema nochmals voll zur Entfaltung. Hier ist nun, so meine ich, tatsächlich das Noli me tangere aus dem Johannesevangelium zu sehen, also das Bild der Maria Magdalena, die dem Auferstandenen alleine begegnet (vgl. Io 20, 11–18).27 Sollte dies zutreffen, so würde sich hier auf der Trivulzio-Tafel tatsächlich das erste bekannte Zeugnis dieses Bildmotivs in der christlichen Kunst finden lassen, allerdings versteckt als Bild im Bild.28 Gemäß dem Johannesevangelium vermutete Maria Magdalena zunächst, der Leichnam Jesu sei entwendet worden, woraufhin ihr zwei Engel erschienen und, nachdem sie sich umgewandt hatte (conversa), schließlich der Auferstandene begegnete. Maria Magdalena aber „meinte, es sei der Gärtner“ (Io 20, 14) und forderte diesen auf, das Versteck des Leichnams zu verraten. Die entscheidende Wendung und damit der Höhepunkt der Episode wird in knappster Form vorgetragen: Dicit ei Iesus: ‚Maria!‘ Conversa illa dicit ei: ‚Rabbuni‘, quod dicitur magister. Dicit ei Iesus: ‚noli me tangere, nondum enim ascendi ad Patrem meum‘. Jesus sagte zu ihr: ‚Maria!‘ Da erkennt sie ihn und sagt zu ihm ‚Rabbuni‘, das heißt: Meister. Jesus sagt zu ihr: ‚Halte mich nicht fest. Denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgestiegen‘. (Io 20, 16 f.)

Wie verhalten sich nun die kleinen Bilder auf den Türflügeln zur großen Szene davor? Wie ist diese tautologische Konsequenz, mit der die Bilder an dieser Stelle aufeinander bezogen und miteinander verschachtelt sind, zu bewerten? Formal ist zu

|| 27 Vgl. BRENK (Anm. 7), S. 251. 28 Es muss eingeräumt werden, dass sich das Thema der Darstellung aufgrund fehlender Attribute der rechten Figur nicht mit absoluter Sicherheit bestimmen lässt. So bietet KEMP (Anm. 7), S. 214 die „Heilung des Blinden“ (gem. Io 9) als alternative Deutungsmöglichkeit des untersten Reliefpaars an. Allerdings wäre gerade die Trennung der beiden Figuren (durch den Türspalt) in diesem Falle widersinnig. Schließlich ist der unmittelbare Körperkontakt, das Bestreichen der Augen, das ikonographische Erkennungsmerkmal schlechthin dieser johanneischen Wundergeschichte. So gehört das Handauflegen, die impositio manus, auch zu den verbindlichen Merkmalen spätantiker Darstellungen der Blindenheilung. Vgl. Claudia NAUERTH, Heilungswunder in der frühchristlichen Kunst, in: Dagmar STUTZINGER (Hg.), Spätantike und frühes Christentum (Ausst.-Kat. Liebieghaus Frankfurt a. M.), Frankfurt a. M. 1983, S. 340–342. Vgl. etwa die entsprechende Darstellung auf der Lipsanothek in Brescia. Richard DELBRÜCK, Probleme der Lipsanothek in Brescia, Bonn 1952, S. 28. Zudem scheint es sich bei der kleinen Figur auf dem Trivulzio-Elfenbein mit größter Wahrscheinlichkeit um eine Frau zu handeln: Mit langem Mantel und bedecktem Haupt fungiert sie als kleine Version der ‚großen‘ Marien davor.

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beachten, dass die kleine Figur im Türfeld genau zwischen den großen Frauenfiguren im Vordergrund platziert wurde, so dass sie, derartig betrachtet, als ambivalente Figur erscheint: Unentschlossen und schwankend zwischen Stehen und Knien, zwischen Kommunikation und Anbetung. Dies korrespondiert durchaus mit der Schilderung im Johannesevangelium, das nicht nur Positives über Maria Magdalena zu berichten weiß: So hat die Erscheinung der Engel erstaunlicherweise keinen sofortigen Bewusstseinswandel der Magdalena zur Folge; selbst nach der wunderbaren Angelophanie geht sie von einem natürlichen Vorgang aus und meint, der Leichnam Christi sei gestohlen worden. Auch die anschließende Christophanie wird als solche zunächst gar nicht wahrgenommen: Als Christus ihr selbst begegnet, wiederholt sie ihren Verdacht und erkennt nicht einmal ihren eigenen Herrn. Schließlich verbietet ihr der Auferstandene, sie zu berühren: Noli me tangere. So kann es nicht verwundern, dass diese prominente Jüngerin auch von den Kirchenvätern in zwiespältiger Weise beurteilt wurde. In den Predigten und Briefen des Ambrosius (um 340–397 n. Chr.) und Augustinus (354–430 n. Chr.) erscheint das Noli me tangere als zentrales Motiv mit pastoralem Mahncharakter. Von beiden Kirchenvätern wird Maria Magdalena als Frau, die noch nicht glaubte bzw. deren „Glaube an die Auferstehung noch schwankte“29, vorgestellt. Sie ist diejenige, die den Leichnam Jesu suchte, die also noch in körperlichen Kategorien dachte. Magdalena sei von Jesus zu Recht zurückgewiesen worden, da sie noch nicht eingesehen habe, dass es „um die geistige Berührung, das heißt die Annäherung durch den Glauben“30 gehe. Sowohl Ambrosius als auch Augustinus machen aber darauf aufmerksam, dass sich bei Magdalena eine Wandlung vollzogen habe, als sich diese von den Engeln zu dem Auferstandenen umdrehte (conversa) und von Christus direkt mit dem Namen Maria angesprochen wurde: In diesem Moment, so Augustinus, „kehrte sie sich auch mit dem Herzen um“31 und erkannte Christus als conversa, als „Bekehrte“. Warum aber wurde sie schließlich dennoch von Jesus mit den Noli me tangereWorten zurückgewiesen? Augustinus bezeichnet dies als eine „in jeder Hinsicht sonderbare Frage“32 und gelangt schließlich zu dem Schluss: Maria Magdalena wurde zwar in ihrer Hinwendung zum Herrn tatsächlich zum Glauben bekehrt; in inhaltlich-dogmatischer Hinsicht sei ihr Glaube aber noch nicht vollkommen gewesen. In diesem Sinne ermahnt Augustinus seine Zuhörerinnen und Zuhörer, sich zu den katholischen Dogmen, insbesondere zum Dogma von der Wesensgleichheit von

|| 29 Ambrosius, De virg. 4, 23. PL MIGNE 16, 270. Vgl. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 237. 30 Augustinus, Ep. 149, 32. CSEL 44, 378. Vgl. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 240. 31 Augustinus, Jo. Ev. Comm. 121, 2. CCL 36, 666. Vgl. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 240. 32 Augustinus, Jo. Ev. Comm. 244, 2. PL MIGNE 38, 1149. Vgl. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 240.

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Vater und Sohn sowie zur Zwei-Naturen-Lehre zu bekennen.33 Maria Magdalena wird als Personifikation der Kirche und figura aller Christen verstanden, die niemals ablassen sollten, sich um den rechten Glauben zu bemühen. Ähnlich wie Augustinus argumentiert auch Ambrosius: Noch stärker als ersterer insistiert er aber auf dem Moment der Wandlung. So habe Magdalena, als sie sich umwandte und sich zu bekehren anfing, den Namen „Maria“, der jungfräulichen Mutter Jesu, erhalten. In diesem Augenblick sei ihr klar geworden, dass es „die Seele ist, die Christus geistig gebiert“34. Anders als Augustinus scheint Ambrosius von einem vollkommenen Glauben der bekehrten Maria Magdalena überzeugt zu sein. In einem Kommentar zum Hohenlied weist der Mailänder Bischof darauf hin, dass das Berührungs-Verbot zwar im Johannesevangelium, nicht aber im Matthäusevangelium erwähnt wird, obwohl in beiden Christophanie-Erzählungen ausdrücklich von Maria Magdalena die Rede ist – einmal alleine (Io 20), einmal in Begleitung einer „anderen Maria“ (Mt 28). So lautet Ambrosius’ Empfehlung an den Gläubigen bzw. die Gläubige: Tange ergo et fide tene et constringe fideliter pedes eius, ut virtus de eo exeat et sanet animam tuam. etsi dicat: ,noli me tangere‘, tu tene. Berühre ihn also und halte ihn fest im Glauben, damit Kraft von ihm ausgehe und deine Seele heile. Auch wenn er sagt ‚Berühre mich nicht‘, halte Du ihn!35

Dies sei legitim, da das Noli me tangere nur an diejenige Maria Magdalena gerichtet war, die noch ungläubig war und nicht wusste (nescit), aber eben nicht an die altera Maria Magdalena adressiert war, die wusste (scit)36 und bekannte, „dass Christus sowohl Mensch als auch Gott ist“.37 Nimmt man das Bildformular des Trivulzio-Elfenbeins ernst, so ist hier die prominente Jüngerin insgesamt zweimal zu entdecken. Einmal als ‚Bild im Bild‘ auf dem untersten Feld des rechten Türflügels, wo die Maria Magdalena des Johannesevangeliums gezeigt wird: Obwohl bereits „bekehrt“, ist sie noch von ihrem Herrn getrennt und darf diesen nicht berühren. Diese Trennung wird durch den Türspalt und die Separierung der Figuren in zwei Bildfelder sehr anschaulich. Ein zweites Mal muss sie aber auch im Vordergrund gesucht werden, da hier schließlich die Marien des Matthäusevangeliums zu sehen sind: Maria von Magdala und die nicht spezifizierte „andere Maria“ (Mt 28, 1). Hier ist die Trennung aufgehoben: Die bei-

|| 33 Augustinus, Jo. Ev. Comm. 244, 3. PL MIGNE 38, 1149. 34 Ambrosius, De virg. 4, 20. PL MIGNE 16, 271. Übers. n. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 237. 35 Ambrosius, De Isaac uel anima 5, 43. CSEL 32, 1, 667/11 f. Übers. n. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 237. 36 Ambrosius, Exp. Luc. 10, 153. SC 52, 207. 37 Ambrosius, Exp. Luc. 10, 163 f. SC 52, 210 f. Übers. n. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 238.

354 | Tobias Frese

den Marien begegnen Christus von Angesicht zu Angesicht, wobei die auf dem Boden Kniende die Füße Christi zu berühren scheint. Ist nun in dieser kauernden Gestalt Maria Magdalena zu sehen? Ist hier die bildliche Identifizierung von Maria Magdalena mit Maria von Bethanien, das sog. ‚Magdalenenmotiv‘, erkennbar? Für die Zeit um 400 n. Chr. wäre dies äußerst bemerkenswert, da sich dieses Motiv nur ein einziges Mal, bei Hieronymus, nachweisen lässt38 und zu dieser Zeit definitiv noch nicht zum theologischen Gemeingut gehört.39 Vorbereitet wird die Identifizierung der beiden biblischen Figuren allerdings durch die erwähnte Integrierung von Maria und Martha in die Ostergeschichte, die sich u. a. bei Hippolyt finden lässt.40 Zudem wird Maria von Bethanien im Lukas- und Johannesevangelium an unterschiedlichen Stellen explizit als diejenige geschildert, die Christus zu Füßen sitzt (sedens secus pedes Domini, Lc 10, 39), diesem zu Füßen fällt (cecidit ad pedes eius, Io 11, 32 f.) und dessen Füße salbt (unxit pedes Iesu, Io 12, 3). Im Falle des Trivulzio-Elfenbeins wird die gestische Bezugnahme der Figur auf die Füße des Herrn derart deutlich in Szene gesetzt, dass sich diese Lesart geradezu aufdrängt. Stellt die Mailänder Tafel somit das früheste bekannte Bildzeugnis dieses ,Magdalenenmotivs‘ dar? Angesichts der disparaten Quellenlage scheint bei der Beantwortung dieser Frage entsprechend Vorsicht geboten. Dies umso mehr, als bei der Identifizierung der Figuren auf dem Trivulzio-Elfenbein potentiell noch mit einer ganz anderen Möglichkeit gerechnet werden muss: Kann es sich bei den dargestellten Frauengestalten nicht auch um ein und dieselbe Person – eben um Maria Magdalena – handeln, simultan vorgestellt in unterschiedlichen Bewegungsstadien? Abwegig erscheint dies nicht: Offensichtlich sind die Marien in Physiognomie und Kleidung nicht zu unterscheiden. Stärker ins Gewicht fällt aber, dass auf dem Trivulzio-Elfenbein die Gesten der Frauen exakt identisch dargestellt sind. Zudem ist die Gemeinsamkeit des Fußpunkts in der rechten unteren Ecke zu beachten, der als Ausgangspunkt einer einheitlichen Körperbewegung fungiert. So hat es den Anschein, eine Figur werde genau im Augenblick des Niederfallens gezeigt – inhaltlich gewendet: im entscheidenden Moment der Erkenntnis, in dem sich die Figur vor ihren Augen in Christus verwandelt. Dieser Wandlungseffekt bildet meines Erachtens die Pointe und den ‚Reizʻ dieses Elfenbeinreliefs. Die Bildaussage zielt auf das Moment der Bekehrung und Glaubensfestigung: So verstehen Augustinus und Ambrosius die heilige Maria Magdalena als figura aller Christen, die stets um den rechten Glauben zu ringen haben. Der direkte Appell des Augustinus an die Zuhörer seiner Predigten lautet, Maria

|| 38 HOLZMEISTER (Anm. 24), S. 570. 39 Bei anderen Theologen der Zeit, etwa Augustinus, lässt sich diese Identifizierung nicht nachweisen. HOLZMEISTER (Anm. 24), hier bes. S. 573–75. 40 HOLZMEISTER (Anm. 24), S. 566 f.

Das Trivulzio-Elfenbein und die Anfänge des ‚Magdalenenmotivs‘ in der Kunst | 355

Magdalena in ihrer Bekehrung zu folgen bzw. in der Taufe ihr Bekehrungswerk zu vollenden: Hoc audiunt qui baptizantur: hoc credunt antequam baptizentur. Quando ergo credunt, Maria tangit Christum. Das hören die, die getauft werden, das glauben sie, bevor sie getauft werden. Wenn sie also glauben, berührt Maria Magdalena Christus.41

|| 41 Augustinus, Jo. Ev. Comm. 245, 3 f. PL MIGNE 38, 1152 f. Übers. n. NÜRNBERG (Anm. 24), S. 241.

Dirk Krausmüller

Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner im späten neunten Jahrhundert Die Traktate des Niketas Byzantios gegen die Armenier und gegen die ,Westler‘ Abstract: The Constantinopolitan author Nicetas Byzantius who flourished in the second half of the ninth century was a professional polemicist. In two treatises he inveighed against the Christology of the Armenians and the Trinitarian theology of the ‘Westerners’. In the former text he continued a centuries-old debate, which permitted him to make ample use of older literature. In the latter text he focused on the filioque, which had only become a contentious issue in his lifetime. This meant that he had to create new arguments, which he did through recourse to Late Antique philosophical texts. Keywords: Niketas Byzantios, Sahak Mrut, filioque

1 In Byzanz läßt sich das Spannungsfeld zwischen Tradition und Neuerung vielleicht in keinem Bereich so deutlich beobachten, wie im theologischen Diskurs. In meinem Aufsatz möchte ich mich auf die zweite Hälfte des neunten Jahrhunderts beschränken. Zu diesem Zeitpunkt waren innerbyzantinische Kontroversen beigelegt. Der Ikonoklasmus spielte kaum noch eine Rolle im öffentlichen Diskurs, obwohl es sicher noch bekennende Ikonoklasten gab.1 Diese neue Einmütigkeit ging jedoch einher mit theologischen Auseinandersetzungen mit Nachbarvölkern, die den neuen politischen Realitäten geschuldet waren. Im Osten hatten die Armenier

|| 1 Cf. Cyril MANGO, The Liquidation of Iconoclasm and the Patriarch Photios, in: Anthony BRYER u. Judith HERRIN (Hgg.), Iconoclasm. Papers given at the Ninth Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Birmingham, March 1975, Birmingham 1977, S. 133–140; u. Despina STRATOUDAKI-WHITE, Patriarch Photios and the Conclusion of Iconoclasm, in: Greek Orthodox Theological Review 44 (1999), S. 341–355. || Dirk Krausmüller, Institut für Byzantinistik und Neogräzistik, Universität Wien, Hollandstraße 11–13, A-1020 Wien, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-021

358 | Dirk Krausmüller

nach Jahren der engen Abhängigkeit von den abbasidischen Khalifen neuen Spielraum gewonnen, was sie Byzanz als potentielle Verbündete interessant machte.2 Dabei erwiesen sich dogmatische Unterschiede als ein Stolperstein. Während die Byzantiner die chalzedonische Lehre von der einen Hypostase und den zwei Naturen akzeptierten, bestanden die Armenier darauf, daß das inkarnierte Wort nur eine Natur habe. Im Westen war es mit dem Aufstieg des Frankenreiches ebenfalls zu einer neuen politischen Konstellation gekommen. Hier war die Situation allerdings etwas anders. Die westliche Kirche akzeptierte dieselbe christologische Lehre wie die Byzantiner. Die Crux lag hier in der Trinitätstheologie. Die Franken hatten einen Zusatz ins gemeinsame Glaubensbekenntnis eingefügt, demzufolge der Heilige Geist nicht nur vom Vater, sondern auch vom Sohn ausging. In beiden Fällen kam es zu dogmatischen Auseinandersetzungen, die ihren Niederschlag in Texten fanden. Die bedeutendste Rolle dabei kam zweifelsohne dem gelehrten Patriarchen Photios zu. An zweiter Stelle muß man aber seinen Zeitgenossen und Mitarbeiter Niketas Byzantios nennen.3 Niketas, über dessen Lebensumstände wir kaum etwas wissen, war ein professioneller Polemiker. Er schrieb Traktate gegen die Armenier, gegen die Franken und auch gegen die Muslime. Im folgenden werde ich mich auf die ersten beiden Texte konzentrieren.4 Sie sind von der Forschung bisher eher stiefmütterlich behandelt worden. Zum antiarmenischen Traktat gibt es nur ein paar Bemerkungen von Igor DORFMANNLAZAREV.5 Der Traktat gegen die Franken ist von Peter GEMEINHARDT, Edward SIECIENSKI und insbesondere Tia KOLBABA diskutiert worden.6 Aber auch hier ist noch viel zu tun. Was fehlt, ist die Identifizierung und Analyse des Materials, das aus || 2 Zu den byzantinisch-armenischen Beziehungen cf. Timothy W. GREENWOOD, Chapter 8: Armenian Neighbours, in: Jonathan SHEPHERD (Hg.), The Cambridge History of the Byzantine Empire, c. 500–1492, Cambridge 2009, S. 333–364. 3 Cf. Antonio RIGO, Niceta Byzantios, la sua opera e il monaco Evodio, in: Gianfrancesco FIACCADORI, Andrea GATTI u. Sergio MAROTTA (Hgg.), In partibus Clius. Scritti in onore di Giovanni Pugliese Carratelli, Naples 2006, S. 147–187. 4 Zur anti-islamischen Polemik cf. Manolis ULBRICHT, Coranus Graecus: Die älteste überlieferte Koranübersetzung in der Ἀνατροπὴ τοῦ Κορανίου des Niketas von Byzanz, Diss. Freie Universität Berlin 2015, u. Dirk KRAUSMÜLLER, Murder is good if God wills it. Nicetas Byzantius’ polemic against Islam and the Christian tradition of divinely sanctioned murder, in: Al-Masaq. Islam and the Medieval Mediterranean 16 (2004), S. 163–176. 5 Cf. Igor DORFMANN-LAZAREV, Arméniens et Byzantins à l’époque de Photius: Deux débats théologiques après le Triomphe de l’Orthodoxie (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium. Subsidia 117), Leuven 2004, S. 86–87. Für eine eingehendere Diskussion des Textes cf. Dirk KRAUSMÜLLER, Christology in ninth-century Constantinople: Nicetas Byzantius’ treatise Against the Armenians, Manuskript 2019 (erscheint in: Journal of Eastern Christian Studies). 6 Cf. Peter GEMEINHARDT, Die Filioque-Kontroverse zwischen Ost- und Westkirche im Frühmittelalter, Berlin, New York 2002, S. 302–307; Tia KOLBABA, Inventing Latin Heretics: Byzantines and the Filioque in the Ninth Century, Kalamazoo 2008, S. 120–128; und A. Edward SIECIENSKI, The Filioque: History of a Doctrinal Controversy, New York 2010, S. 101–102.

Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner | 359

älteren theologischen und philosophischen Texten entlehnt ist. Um diese Lücke zu schließen, werde ich an ausgesuchten Passagen festzustellen versuchen, in welchem Maße Niketas der Tradition verhaftet war und wo er Neuerungen einführte.

2 Zunächst also zur Kontroverse mit den Armeniern. Im Jahre 877 schrieb Patriarch Photios von Konstantinopel einen Brief an den armenischen Prinzen Aschot, in dem er eine Union zwischen der byzantinischen und der armenischen Kirche vorschlug.7 Fünf Jahre später kam das Antwortschreiben, verfaßt von dem armenischen Bischof Sahak Mrut, in dem das Angebot abgelehnt wurde.8 Sahaks Polemik gegen chalzedonische Glaubenssätze empörte die Byzantiner. Zwei Widerlegungen sind erhalten, ein langer Brief, den Photios selbst schrieb,9 und ein Traktat, den der „Lehrer und Philosoph“ Niketas Byzantios im Namen des Patriarchen verfaßte.10 Beide Texte haben dieselbe Struktur. Argumente aus Sahaks Werk werden wiedergegeben und dann widerlegt. Trotz dieser grundsätzlichen Ähnlichkeit unterscheiden sie sich aber erheblich voneinander. Photios’ Brief ist aus einem Guß. Alle Elemente sind lückenlos miteinander verwoben. Im Gegensatz dazu besteht Niketas’ Traktat aus klar voneinander abgegrenzten Blöcken. Zudem findet man dort Zitate aus Sahaks Werk in griechischer Übersetzung, während Photios lediglich kürzende Paraphrasen bietet. Er ist daher besonders gut für eine Rekonstruktion der Debatte geeignet.11 Der Schlagabtausch läßt sich an einem Beispiel gut illustrieren. Sahak hatte erklärt, daß es legitim sei, Christus als eine Natur zu definieren. Der Mensch sei ja auch nur eine Natur, obwohl Seele und Leib durchaus voneinander verschieden seien. Dann hatte er argumentiert, daß die Byzantiner sich in Widersprüche verwickelten, wenn sie sowohl beim Menschen als auch bei Christus von zwei Naturen sprächen.

|| 7 Cf. DORFMANN-LAZAREV (Anm. 5), S. 82–83. 8 Cf. DORFMANN-LAZAREV (Anm. 5), S. 85–86. 9 Photios, Epistula 284, hrsg. v. Basileios LAOURDAS u. Leendert G. WESTERINK, Photius, Epistulae et Amphilochia, III: Epistularum pars tertia, Leipzig 1985, S. 1–97, teilweise ediert mit französischer Übersetzung in Jean DARROUZÈS, Deux lettres inédites de Photius aux Armeniens, in: Revue des Études Byzantines 29 (1971), S. 137–181. Cf. auch die Anmerkungen in DORFMANN-LAZAREV (Anm. 5), S. 87–91. 10 Niketas Byzantios, Refutatio epistolae regis Armeniae, ed. Jacques-Paul MIGNE (Patrologia Graeca 105), Paris 1862, Sp. 588–656. 11 Cf. KRAUSMÜLLER (Anm. 5).

360 | Dirk Krausmüller Armenisches Original:

Griechische Übersetzung in Niketas’ Traktat:

Արդ, եղիցի մեզ աւրինակ մարդս. որպէս ի վերայ սորա ասի, որ ինչ անկ է մարմնոյ, եւ որ ինչ մարթ է հոգւոյ։ Բայց մարդն ոչ ասի երկու բնութիւնք՝ այլ մի։ Իսկ եթէ ոք ընդդէմ եկեալ երկուս ասիցէ բնութիւն Քրիստոսի, երիս լինի հաստատեալ. երկուք մարդկային եւ մի աստուածային։12

Καὶ γίνεται ὁ ἄνθρωπος παράδειγμα, καθὼς καὶ οἱ Πατέρες ἐλάλησαν καὶ διήγγειλαν, τί ἐστι τοῦ σώματος, καὶ τί ἐστι τῆς ψυχῆς. Ἀλλ᾽ ὁ ἄνθρωπος οὐ λέγεται δύο φύσεις ἔχειν. Εἰ δὲ ἀνθίσταταί τις καὶ λέγει δύο φύσεις ἐπὶ ἀνθρώπου, λοιπὸν καὶ ὁ Χριστὸς τρεῖς φύσεις ἔχει, δύο τῆς ἀνθρωπότητος, καὶ μίαν τῆς θεότητος.13

Que l’homme nous serve donc d’exemple. Comme je l’ait dit ci-dessus, il y a ce qui relève de corps et ce qui correspond à l’âme, mais l’homme est dit non pas deux natures, mais une seule. Et si quelqu’un vient s’y opposer et dit ‘deux natures du Christ’, alors, c’est trois qu’ on aura affirmées: deux humaines et une divine.14

Und der Mensch wird zum Paradigma, wie auch die Väter sagten und verkündeten, was zum Körper und was zur Seele gehört. Aber man sagt nicht, daß der Mensch zwei Naturen habe. Und wenn jemand Einspruch erhebt und von zwei Naturen beim Menschen spricht, dann hat folglich Christus auch drei Naturen, zwei der Menschheit und eine der Gottheit.

Das war keineswegs ein neues Argument. Man findet es schon in einem chalzedonischen Text des frühen sechsten Jahrhunderts, dem Traktat ,Contra Nestorianos et Eutychianos‘ des Leontios von Byzanz.15 Dort wird der folgende Einwand in den Mund eines monophysitischen Interlocutors gelegt. Καθώς σοι ἔδοξε προδιεστείλω ἐπὶ τοῦ καθ᾽ ἕκαστον ἀνθρώπου, δύο λέγεσθαι καὶ μίαν, ἐξ οὗ τί ἀκολουθεῖ; Τὸ ἐπὶ Χριστοῦ μὴ δύο μόνον φύσεις ὁμολογεῖν, ἀλλὰ καὶ τρεῖς.16 Nach deinem Gutdünken hast du beim individuellen Menschen eine vorbereitende Distinktion gemacht, daß man von zwei spricht und nicht von einer. Was folgt daraus? Daß man bei Christus nicht nur zwei Naturen bekennt, sondern sogar drei.

|| 12 Sahak Mṙut, Պատասխանի Թղթոյն Փոտայ Գրեալ Սահակայ Հայոց Վարդապետի, Հրամանաւ Աշոտայ Հայոց Իշխանաց Իշխանի Response to the Letter of Photius Written by Sahak Vardapet of the Armenians on Request of Ashot, Armenian Prince of Princes, in Մատենագիրք Հայոց Թ. [Library of Armenian Literature. Volume 9], ed. Y. K‘ĒOSĒIAN, Lebanon 2008, S. 36.35–37. I would like to thank Dr. Benedetta Contin for her help with the Armenian text. 13 Zitiert nach Niketas, Refutatio, Sp. 629C1–7; cf. Photius, Epistula 284, S. 65.2137–2138. 14 DORFMANN-LAZAREV (Anm. 5), S. 41. 15 Zu Leontios cf. Daniel HOMBERGEN, The Second Origenist Controversy. A New Perspective on Cyril of Scythopolis’ Monastic Biographies as Historical Sources for Sixth-Century Origenism, Rome 2001, S. 133–138. 16 Leontios von Byzanz, Contra Nestorianos et Eutychianos, hrsg. v. Brian E. DALEY, Leontius of Byzantium. Complete Works (Oxford Early Christian Texts), Oxford 2017, S. 156.16–18.

Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner | 361

Niketas entgegnet, daß man bei Verbindungen immer nur die unmittelbaren Komponenten berücksichtige. Man sage ja auch, Elektron sei zusammengesetzt aus Gold und Silber, und nicht aus den vier Elementen. Auch dies ist ein traditionelles Argument. Das läßt sich durch einen Vergleich von Niketas’ Text mit einer Passage aus einem anderen christologischen Traktat des sechsten Jahrhunderts zeigen. Dieser Traktat, welcher nur in Auszügen erhalten ist, wird Herakleianos, dem Metropolitan von Chalkedon, zugeschrieben.17 Niketas:

Herakleianos:

Εἰ μὲν γὰρ πᾶσα σύνθεσις μὴ ἐκ τῶν προσεχῶς συντεθέντων συντεθεῖσθαι ἐλέγετο, ἀλλ᾽ ἐκ τῶν πόρρω, τάχα ἂν εἶχε χώραν τὸ παρὰ σοῦ καθ᾽ ἡμῶν γραφόμενον. Εἰ δ᾽ οὐδεὶς τῶν εὖ φρονούντων φήσειεν, ἐκ τῶν πόρρω ἀλλ᾽ ἐκ τῶν προσεχῶς καὶ ἀμέσως, καὶ οἱονεὶ μερῶν ἢ στοιχείων τάξιν ἐν τῷ ὅλῳ ἐχόντων συντεθεῖσθαι τὸ συντεθειμένον λέγεται, ἀνίσχυρον καὶ μάταιον τὸ παρὰ σοῦ γραφόμενον.18

Πᾶν σύνθετον ἐξ ἐκείνων λέγεται συντεθεῖσθαι, ἐκ τῶν προσεχῶς εἰς τὴν αὐτοῦ σύνθεσιν παραλαμβανομένων ἁπλῶν τινων καὶ στοιχείων λόγον ἐπεχόντων ἐν τῇ συνθέσει τῶν ὅλων καὶ τῇ πρὸς τὸ πᾶν συγκρίσει.19

Denn wenn man sagen würde, daß jede Zusammensetzung nicht aus den näheren Komponenten zusammengesetzt sei, sondern aus den ferneren, würde das von dir Geschriebene zutreffen. Aber wenn kein vernünftig Denkender sagen würde: „aus den ferneren“, sondern man sagt, daß das Zusammengesetzte aus den näheren und unmittelbaren“ zusammengesetzt sei, die im Ganzen die Rolle von Elementen haben, ist das, was du geschrieben hast, schwach und sinnlos.

Man sagt, daß jedes Zusammengesetzte aus jenen zusammengesetzt ist, aus den näheren, zur Zusammensetzung hinzugezogenen Einfachen, welche in der Zusammensetzung der Ganzen und im Vergleich mit dem Ganzen den Status von Elementen haben.

Wie man leicht sehen kann, finden sich sehr ähnliche Formulierungen im älteren Text. Das läßt keinen Zweifel daran, daß Niketas hier einfach nur altes Material reproduziert. Wenn man andere Passagen in Niketas’ Traktat analysiert, kommt man zum selben Ergebnis. Oft sind ganze Argumente ohne nennenswerte

|| 17 Zu Herakleianos cf. Alois GRILLMEIER u. Theresia HAINTHALER, Christ in Christian Tradition, 2.3: The Churches of Jerusalem and Antioch from 451 to 600, übersetzt von Marianne EHRHARDT, Oxford 2013, S. 130–147. 18 Niketas, Refutatio, Sp. 633A13–B6. 19 Doctrina Patrum, hrsg. v. Franz DIEKAMP, Doctrina Patrum de Incarnatione Verbi. Ein griechisches Florilegium aus der Wende des 7. und 8. Jahrhunderts, Münster 1907, S. 207.19–208.3.

362 | Dirk Krausmüller

Änderungen aus älteren Texten entlehnt, was dem Text über weite Strecken den Charakter eines Florilegiums gibt.20 Dasselbe trifft aber auch auf Sahaks Text zu. Das heißt, daß der Schlagabtausch zwischen Sahak und Niketas gleichsam nach einem Drehbuch ablief, das dreihundert Jahre früher geschrieben worden war. Sowohl Argumente als auch Gegenargumente waren vorgegeben. Hier kann man deutlich sehen, daß der christologische Diskurs stark ritualisiert war. Dennoch muß man festhalten, daß die Traktate des Photios und des Niketas in ihrer Zeit innovativ waren. Aus dem siebten und achten Jahrhundert sind keine von Konstantinopolitanern geschriebenen anti-monophysitischen Texte erhalten, und es ist fraglich, ob solche Texte überhaupt existierten. Das hat wohl zwei Gründe. Zum einen wurde in diesen ‚dunklen‘ Jahrhunderten nur wenig geschrieben, und zum anderen gab es nach dem Verlust der östlichen Provinzen wohl keine monophysitischen Gemeinden mehr auf byzantinischem Boden.21 Man kann daher davon ausgehen, daß Photios und Niketas ihre Argumente erst aus älteren Texten zusammensuchen mußten, die wohl in der Zwischenzeit wenig gelesen worden waren. Der Schlagabtausch war möglich, weil beide Seiten auf dieselbe Art von Texten zurückgriffen und weil es in beiden Ländern Menschen gab, die beide Sprachen beherrschten und so zu Übersetzungen in der Lage waren.22

3 Im Gegensatz dazu war die anti-westliche Polemik etwas ganz Neues. Die Byzantiner hatten erst im frühen neunten Jahrhundert erfahren, daß die Franken das nizänische Glaubensbekenntnis durch Hinzufügung des filioque verändert hatten.23 Zu einer wirklichen Auseinandersetzung kam es erst während des ersten Patriarchats des Photios, als Byzantiner und Lateiner versuchten, die neu bekehrten Bulgaren unter ihre kirchliche Kontrolle zu bringen.24 Im Jahre 867 schrieb Photios an seine östlichen Kollegen, er wolle ein Konzil abhalten, in dem die westlichen Irrtümer diskutiert werden sollten. Als Hauptproblem identifizierte er den Ausgang des Heiligen Geistes vom Vater und vom Sohn. Er erklärte, daß eine solche Lehre zwei Prinzipien in die Gottheit einführe und damit den Status des Christentums als

|| 20 Cf. KRAUSMÜLLER (Anm. 5). 21 Cf. John F. HALDON, Byzantium in the Seventh Century. The Transformation of a Culture, Cambridge 1990, S. 338–339; u. DERS., Dark-Age Literature, in: Dean SAKEL (Hg.), Byzantine Culture. Papers from the Conference ‘Byzantine Days of Istanbul’, May 21–23, 2010, Ankara 2014, S. 71–82. 22 Cf. Gilbert DAGRON, Formes et fonctions du pluralisme linguistique à Byzance (IXe-XIIe siècle), in: Travaux et Mémoires 12 (1994), S. 219–240. 23 Cf. GEMEINHARDT (Anm. 6), S. 140–146. 24 Cf. GEMEINHARDT (Anm. 6), S. 179–188.

Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner | 363

monotheistische Religion gefährde.25 Außerdem argumentierte er, daß alle Bezeichnungen in der Trinität entweder nur einer Person oder allen dreien zugleich zukommen könnten. Ginge der Geist vom Vater und vom Sohn aus, so müsse der Geist auch von sich selbst ausgehen. Photios schrieb später seinen Traktat ‚Mystagogia‘, in der er eine große Zahl von Argumenten bot, die alle dasselbe Thema variieren.26 Auch in dieser Debatte spielte Niketas Byzantios eine herausragende Rolle. Er verfaßte einen anti-westlichen Text, bestehend aus über zwanzig separaten Argumenten, unter dem Titel ,Syllogistische Kapitel formuliert aufgrund der allgemeinen Vorstellungen über Gott und der apodiktischen und dihäretischen Methode und dialektischer Ausgangspunkte und naturkundlicher Beweise‘ (κεφάλαια συλλογιστικὰ ἐκ κοινῶν περὶ θεοῦ ἐννοιῶν καὶ ἀποδεικτικῆς καὶ διαιρετικῆς μεθόδου καὶ διαλεκτικῶν ἀφορμῶν καὶ φυσικῶν ἐπιχειρημάτων τεχνολογηθέντα).27 In der Tat bemüht sich Niketas durchweg, seine Thesen von allgemein anerkannten Vorstellungen abzuleiten, die auch sein Gegenüber akzeptieren mußte.28 Die Beweise an sich unterscheiden sich nicht sehr von denen des Photios.29 Sie sind aber im allgemeinen bedeutend umfangreicher. Ein Grund dafür ist, daß Niketas Exzerpte aus älteren Texten in seine Argumentation integriert. Im siebten Kapitel zitiert er eine Passage aus der ,Expositio fidei‘ des Johannes von Damaskos, allerdings ohne Nennung des Namens, wie es der Fall ist bei älteren Autoren wie etwa Gregor von Nazianz.30 Das läßt vermuten, daß der Damaszener im späten neunten Jahrhundert noch nicht als Autorität galt. Ein Vergleich zeigt, daß Niketas seine Vorlage recht frei behandelt. Erst am Ende der Passage findet sich ein direktes Zitat.

|| 25 Cf. GEMEINHARDT (Anm. 6), S. 193–194. 26 Cf. GEMEINHARDT (Anm. 6), S. 277–285. 27 Niketas, Capita syllogistica, hrsg. v. Joseph HERGENROETHER, Monumenta graeca ad Photium ejusque historiam pertinentia, Regensburg 1869, S. 84–137, insbesondere S. 84. 28 Cf. Nicetas, Capita 11, S. 111.14–15: εἰ πᾶσιν οἷς τὸ κρίνειν ἐπιστημόνως καὶ ὀρθῶς πρόσεστι δῆλον καθέστηκεν ὅτι ; u. Capita 20, S. 127.18–19: εἰ πᾶσι τοῖς περὶ τὸ θεῖον εὐσεβεῖν ἐθέλουσιν δῆλον καθέστηκεν, ὅτιπερ . 29 Photios, Mystagogia, 6, 11, hrsg. v. Joseph HERGENROETHER, Photii Constantinopolitani liber de Spiritus sancti mystagogia, Regensburg 1857, S. 10–11, 15; Cf. GEMEINHARDT (Anm. 5), S. 277–282, 302; u. KOLBABA (Anm. 5), S. 120–128. 30 Cf. z. B. Niketas, Capita 7, Sp. 105.3–9.

364 | Dirk Krausmüller Niketas:

Johannes:

Ἡ ἐφ᾽ ὧν ἂν κατηγορῆται, ἤγουν ἡ θεία καὶ μακαρία φύσις, τὸ ἔμπαλιν ἔχει, οἷον ἐπὶ τοῦ πατρὸς καὶ τοῦ υἱοῦ καὶ τοῦ ἁγίου πνεύματος πλείστην τὴν κοινωνίαν καὶ σχεδὸν εἰπεῖν ἐν πᾶσι, πλὴν μόνης μιᾶς τῆς τῶν ὑποστατικῶν ἰδιοτήτων διαφορᾶς εὑρισκομένης. ταῦτα δέ ἐστιν ἀγέννητον, γεννητόν, ἐκπορευτόν· τὰ δὲ ἄλλα πάντα κοινά· ἐξαιρέτως δὲ τὴν εἰς ἄλληλα περιχώρησιν ἔχουσιν ἀσυγχύτως, οὐχ ὥστε ἀλείφεσθαι, ἀλλ᾽ ὥστε ἔχεσθαι ἀλλήλων, κατὰ τὸν τοῦ κυρίου λόγον· ἐγὼ ἐν τῷ πατρὶ καὶ ὁ πατὴρ ἐν ἐμοί.31

Ἐπὶ δὲ τῆς ἁγίας καὶ ὑπερουσίου καὶ πάντων ἐπέκεινα καὶ ἀλήπτου τριάδος τὸ ἀνάπαλιν. ἐκεῖ γὰρ τὸ μὲν κοινὸν καὶ ἓν πράγματι θεωρεῖται διά τε τὸ συναΐδιον καὶ τὸ ταυτὸν τῆς οὐσίας … πλἠν τῆς ἀγεννησίας καὶ τῆς γεννήσεως καὶ τῆς ἐκπορεύσεως, ἐπινοίᾳ δὲ τὸ διῃρημένον […] οὔτε γὰρ τοπικὴν ὡς ἐφ᾽ ἡμῶν δυνάμεθα ἐπὶ τῆς ἀπεριγράπτου λέγειν θεότητος διάστασιν […] ἐν ἀλλήλαις γὰρ αἱ ὑποστάσεις εἰσίν, οὐχ ὥστε συγχεῖσθαι, ἀλλ᾽ ὥστε ἔχεσθαι κατὰ τὸν τοῦ κυρίου λόγον· ἐγὼ ἐν τῷ πατρὶ καὶ ὁ πατὴρ ἐν ἐμοί.32

Bei derjenigen, von der sie ausgesagt werden, das heißt, die göttliche und selige Natur, verhält es sich umgekehrt, denn im Falle des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes gibt es eine sehr große Gemeinsamkeit sozusagen in allem, mit der einzigen Ausnahme, daß sich der eine einzige Unterschied der hypostatischen Eigenschaften findet – diese sind ungezeugt, gezeugt, und ausgegangen –, während alles andere gemeinsam ist. Insbesondere haben sie den Übergang ineinander ohne Vermischung, nicht so, daß sie verschmiert wären, sondern so, daß sie aneinander hängen, gemäß dem Wort des Herrn: „Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir.“

Im Falle der heiligen und überwesentlichen und völlig transzendenten und unfaßbaren Trinität verhält es sich umgekehrt, denn dort wird das Gemeinsame und Eine in Wirklichkeit gesehen wegen der Gleichewigkeit und der Identität der Substanz, und die Trennung im menschlichen Geist, [...] denn wir können bei der unumschriebenen Gottheit nicht von räumlicher Entfernung sprechen, wie es bei uns der Fall ist, [...] denn die Hypostasen sind ineinander, nicht so, daß sie vermischt wären, sondern so, daß sie aneinander hängen, gemäß dem Wort des Herrn: „Ich bin im Vater, und der Vater ist in mir.“

Johannes macht eine strikte Unterscheidung zwischen Gott und seinen Geschöpfen. Er behauptet, nur die drei Hypostasen Vater, Sohn und Heiliger Geist seien eins bezüglich ihrer Natur, während in der Schöpfung Naturen wie zum Beispiel die menschliche nur dem Namen nach eins seien und es so viele Naturen wie Individuen gebe. Dabei geht er soweit zu behaupten, daß im Falle der Gottheit die Unterscheidung in drei Hypostasen nur im erkennenden menschlichen Geist, nicht

|| 31 Niketas, Capita 7, S. 105.13–106.14. 32 John of Damascus, Expositio fidei 8, hrsg. v. Bonifatius KOTTER, Die Schriften des Johannes von Damaskos, Bd. 2 (Patristische Texte und Studien 12), Berlin, New York 1973, S. 28.224–29.256.

Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner | 365

aber in Realität existiere.33 Interessanterweise fehlt dieses ,häretische‘ Detail in Niketas’ Text, was vermuten läßt, daß er sich der Problematik bewußt war.34 Daß Niketas Johannes’ theologische Position gut kannte, läßt sich auch am Gebrauch des Begriffs περιχώρησις ablesen. Er kommt zwar nicht in dieser, aber an mehreren anderen gleichgearteten Stellen in der ,Expositio fidei‘ vor.35 Die Frage stellt sich nur: was hat das alles mit dem Ausgang des Heiligen Geistes zu tun? Die Antwort ist: nicht viel. Am Ende des Kapitels erklärt Niketas, daß der Heilige Geist kein Geschöpf sei.36 Dazu hätte es aber des langen Zitates kaum bedurft. Dies zeigt deutlich, wie schwer es Niketas fiel, existierende theologische Argumente auf das neue Problem des filioque anzuwenden. Patristische Texte spielen nur eine untergeordnete Rolle in Niketas’ Text. Häufiger nimmt er Bezug auf die Lehrmeinungen von Philosophen, die identifiziert werden als „solche, die sich in dieser Materie auskennen“ (οἱ περὶ ταῦτα δεινοί).37 Ein typisches Beispiel für diese Vorgehensweise ist das elfte Kapitel. Dort unterscheidet Niketas zwischen Idiomen der Natur und Idiomen der Hypostase. Im ersten Fall nennt er als Beispiel die Fähigkeit zu lachen, die allen Menschen eigen ist, und im zweiten Fall verweist er auf die verschiedenen Existenzweisen der ersten Menschen: Adam wurde aus Erde geformt, Eva wurde aus Adam genommen, und Seth wurde von Adam und Eva gezeugt.38 Beide Beispiele finden sich in älterer theologischer Literatur, bei Gregor von Nazianz etwa und bei Gregor von Nyssa.39 Sie dienten dazu, die kappadokische Trinitätslehre zu illustrieren, derzufolge man bei Gott zwei Aspekte auseinanderhalten muß, Eigenschaften, die allen drei Mitgliedern der göttlichen Spezies oder „Natur“ zukommen, und Eigenschaften, die nur einem Mitglied zukommen. Anders verhält es sich mit der folgenden Passage. Sie hat ein Gegenstück in der ,Isagoge‘, einer Einführung in die Philosophie, die der neuplatonische Denker Porphyrios von Tyros im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung verfaßt hatte.40

|| 33 Cf. Dirk KRAUSMÜLLER, Responding to John Philoponus: hypostases, particular substances and perichoresis in the Trinity, in: Journal for Late Antique Religion and Culture 9 (2015), S. 13–28. 34 Die Leugnung der wirklichen Unterscheidung der Hypostasen wurde dem libyschen Häretiker Sabellius vorgeworfen. 35 Cf. Richard CROSS, Perichoresis, Deification, and Christological Predication in John of Damascus, in: Mediaeval Studies 62 (2000), S. 69–124. 36 Niketas, Capita 7, S. 107.14–108.1. 37 Niketas, Capita 19, S. 126.8–14. 38 Niketas, Capita 11, S. 111.15–112.1. 39 Cf. Alexander GOLITZIN, Adam, Eve, and Seth: Pneumatological Reflections on an Unusual Image in Gregory of Nazianzus’s Fifth Theological Oration, in: Anglican Theological Review 83 (2001), S. 537–546; u. Andrew RADDE-GALLWITZ, Basil of Caesarea, Gregory of Nyssa, and the transformation of divine simplicity (Oxford Early Christian Studies), Oxford 2009. 40 Cf. Jonathan BARNES, Introduction by Porphyry, translated with a commentary, Oxford 2003.

366 | Dirk Krausmüller Niketas:

Porphyrios:

Καὶ τὰ μὲν τῆς φύσεως ἰδιώματα οἱ περὶ ταῦτα δεινοὶ τετραχῶς ἀφορίζουσι· τὰ μὲν μόνῳ καὶ παντὶ καὶ ἀεὶ ἐνυπάρχειν, οἷον τὸ γελαστικὸν τῷ ἀνθρώπῳ, τὰ δὲ μόνῳ μὲν καὶ ποτέ, οὐ μὴν δὲ καὶ παντί, ὡς ἀνθρώπῳ τὸ γεωμετρεῖν, τὰ δὲ παντὶ μὲν καὶ ἀεί, οὐ μόνῳ δέ, ὡς ἀνθρώπῳ τὸ δίποδι, τὰ δὲ μόνῳ καὶ παντί, οὐκ ἀεὶ δε, ὡς ἀνθρώπῳ τὸ ἐν γήρᾳ πολιοῦσθαι.41

Τὸ δὲ ἴδιον διαιροῦσι τετραχῶς· καὶ γὰρ ὃ μόνῳ τινὶ εἴδει συμβέβηκεν, εἰ καὶ μὴ παντί, ὡς ἀνθρώπῳ τὸ ἰατρεύειν ἢ τὸ γεωμετρεῖν· καὶ ὃ παντὶ συμβέβηκεν τῷ εἴδει, εἰ καὶ μὴ μόνῳ, ὡς τῷ ἀνθρώπῳ τὸ εἶναι δίποδι· καὶ ὃ μόνῳ καὶ παντὶ καὶ ποτέ, ὡς ἀνθρώπῳ παντὶ τὸ ἐν γήρᾳ πολιοῦσθαι. τέταρτον δέ, ἐφ οὗ συνδεδράμηκεν τὸ μόνῳ καὶ παντὶ καὶ ἀεί, ὡς τῷ ἀνθρώπῳ τὸ γελαστικόν.42

Diejenigen, die sich in diesen Dingen auskennen, unterscheiden die Idiome der Natur auf vierfache Weise. Manche finden sich nur in einer Natur und in allen Individuen und immer, wie z. B. die Fähigkeit zu lachen beim Menschen, andere nur in einer Natur und manchmal, aber nicht in allen Individuen, wie z. B. das Betreiben der Geometrie beim Menschen, andere finden sich in allen Individuen und immer, aber nicht in einer Natur allein, wie die Zweifüßigkeit beim Menschen, und wieder andere finden sich in einer Natur allein und in allen Individuen aber nicht immer, wie das Ergrauen im Alter beim Menschen.

Sie unterscheiden das Proprium auf vierfache Weise: was einer einzigen bestimmten Art zukommt, aber nicht jedem, wie das Betreiben von Medizin und Geometrie beim Menschen, was einer ganzen Art zukommt, aber nicht ihr allein, wie die Zweifüßigkeit beim Menschen, was nur einer Art zukommt und allen Individuen und manchmal, wie das Ergrauen im Alter bei allen Menschen, und zum vierten, wo in einer Spezies allein und in allen Individuen und immer zusammenkommen, wie die Fähigkeit zu lachen beim Menschen.

Der Vergleich zeigt, daß sich Niketas sehr eng an den ursprünglichen Text hält. Es ist durchaus möglich, daß er die ,Isagoge‘ kannte, wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß er die Passage aus einem logischen Kompendium zitierte.43 In jedem Fall ist das Zitat eine Neuerung im theologischen Diskurs. Frühere Autoren hatten philosophische Begriffe und Konzepte verwendet, aber sie waren nicht so weit gegangen, in ihre Texte längere Zitate einzufügen und ihre Autoren als Autoritäten anzuerkennen. Interessanterweise komplementiert Niketas das Zitat mit einer Unterscheidung zwischen vier verschiedenen Arten von hypostatischen Idiomen.

|| 41 Niketas, Capita 11, S. 112.1–6. 42 Porphyrios, Isagoge, hrsg. v. Adolf BUSSE, Porphyrii Isagoge et in Aristotelis Categorias Commentarium (Commentaria in Aristotelem Graeca 4), Berlin 1887, S. 12.13–18. 43 Cf. Mossman ROUECHÉ, A Middle Byzantine Handbook of Logic Terminology, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 29 (1980), S. 71–98, insbesondere S. 91–92. Dieser Text kann jedoch nicht Niketas’ Quelle gewesen sein, da er erklärende Zusätze enthält, wie z. B. πᾶς γὰρ ἄνθρωπος δίπους, οὐ μόνον δὲ ἄνθρωπος δίπους, ἀλλὰ περιστερὰ καὶ τὰ τοιαῦτα.

Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner | 367

Ὡσαύτως δὲ καὶ τὰ ὑποστατικὰ τετραχῶς ἀφορίζονται· τὰ μὲν μόνῳ καὶ ποτὲ ἐνυπάρχειν, τὰ δὲ μόνῳ καὶ ἀεί, τὰ δὲ ποτὲ μέν, οὐ μόνῳ δέ, τὰ δὲ ἀεὶ μέν, οὐ μόνῳ δέ.44 Ebenso werden auch die hypostatischen auf vierfache Weise unterschieden. Manche sind in einem Individuum und manchmal vorhanden, andere in einem Individuum und immer, andere nicht nur in einem Individuen und manchmal, und wieder andere nicht nur in einem Individuum und immer.

Diese Unterscheidung findet sich in keinem philosophischen Text und ist zweifellos Niketas’ eigener Beitrag. Er nahm offensichtlich das Porphyrios-Zitat als Vorlage, um eine analoge Unterscheidung zu treffen. Der Sinn dieser Unterscheidungen ist sehr fragwürdig. Wenn Theologen von natürlichen Idiomen sprachen, meinten sie Eigenschaften, die eine ganze Spezies charakterisieren. Im Gegensatz dazu bezeichnet Porphyrios’ Begriff des „Proprium“ allgemein Eigenschaften, die sich in Mitgliedern einer Spezies finden. Zumindest eine der von ihm genannten Optionen, das Betreiben der Geometrie, ist kein natürliches Idiom im eigentlichen Sinne, da es sich nur in einigen menschlichen Individuen findet. In der Tat begegnet derselbe Fall in Niketas’ Liste der hypostatischen Idiome. Wie ich erwähnt habe, spricht er auch dort von Eigenschaften, die sich manchmal und in mehreren Individuen finden. Auch in diesem Fall hat die Diskussion wenig mit dem Problem des filioque zu tun. Niketas erklärt, daß nur zwei Szenarien auf die Gottheit zutreffen. Natürliche Idiome in Gott existieren immer und in allen drei Personen, während hypostatische Idiome nur in einer Hypostase und immer zu finden sind.45 Nach all dem Aufwand ist das ein recht mageres Resultat. Niketas hatte offenbar eine große Vorliebe für Unterscheidungen, denen er große Beiweiskraft zusprach. Mehrmals betont er, daß die von ihm präsentierten Dihäresen seinem Gegenüber keinen Ausweg ließen.46 Wenn man seine Quellen identifiziert, zeigt sich, daß er nicht nur den Inhalt der ,Isagoge‘, sondern auch die neuplatonische Kommentartradition kennt. Eine detaillierte Unterscheidung der verschiedenen Typen von Gegensätzen in zwanzigsten Kapitel hat eine fast wörtliche Parallele in Johannes Philoponos’ Kategorienkommentar.47

|| 44 Niketas, Capita, 11, S. 112.6–8. 45 Niketas, Capita 11, S. 113.10–11, 114.10–12. 46 Cf. die Formel ἄφυκτος διαίρεσις in Niketas, Capita 11, S. 112.7, 114.14. 47 Zu Johannes Philoponos cf. die Beiträge in Richard SORABJI (Hg.), Philoponus and the rejection of Aristotelian science, Ithaca NY 1987.

368 | Dirk Krausmüller Nicetas:

Philoponos:

Ταῦτα δὲ οἱ περὶ ταῦτα δεινοὶ τετραχῶς ἀφορίζουσιν· ἢ γὰρ ἐν λόγοις φασὶν εἶναι ἢ ἐν πράγμασι· καὶ τὰ μὲν ἐν λόγοις ποιεῖ τὸ κατὰ ἀντίφασιν ἀντικεῖσθαι, τὰ δὲ ἐν πράγμασιν ἢ ἐν σχέσει ἢ ἀσχέτως παραλαμβάνεται· καὶ τὰ μὲν ἐν σχέσει ἄλληλά τε συνεισάγουσι καὶ ἄλληλα συμφθείρουσι καὶ ποιεῖ τὸ πρός τι ἀντικεῖσθαι· τὰ δὲ πάλιν ἄσχετα ἔχουσι μεταβολήν, εἰ μὴ οἷς φύσει τὸ ἓν πρόσεστι, καὶ ποιεῖ τὸ κατ᾽ ἐναντίωσιν ἀντικεῖσθαι· ἢ τὸ μὲν πέφυκε μεταβάλλειν, τὸ δὲ μή, καὶ ποιεῖ τὸ κατὰ στέρησιν καὶ ἕξιν.48

Ἵνα οὖν μάθωμεν διὰ τί τέσσαρα μόνα, εἴπωμεν οὕτως· τὰ ἀντικείμενα ἢ ὡς λόγοι ἀντίκεινται ἢ ὡς πράγματα. τὰ δὲ ὡς πράγματα ἀντικείμενα ἢ ἐν σχέσει τινὶ θεωρεῖται ἢ ἄσχετά εἰσι. καὶ εἰ ἄσχετά ἐστιν, ἢ μεταβάλλει εἰς ἄλληλα ἢ οὐ μεταβάλλει. ὡς λόγοι μὲν οὖν ἀντίκεινται κατάφασις καὶ ἀπόφασις, […], ὡς πράγματα δὲ καὶ σχέσιν ἔχοντα ἀντίκεινται τὰ πρός τι, […] ὡς πράγματα δὲ καὶ σχέσιν μὴ ἔχοντα καὶ μεταβάλλοντα εἰς ἄλληλα τὰ ἐναντία, […] ὡς πράγματα δὲ ἄσχετα καὶ μὴ μεταβάλλοντα εἰς ἄλληλα ἕξις καὶ στέρησις.49

Diejenige, die sich in diesen Dingen auskennen, definieren diese auf vierfache Weise. Sie sagen, daß sie entweder in Begriffen oder in Dingen sind. Und diejenigen, die in Begriffen sind, führen dazu, daß Dinge kontradiktorisch entgegengesetzt sind, während diejenigen, die in Dingen sind, entweder in Beziehung oder ohne Beziehung aufgefaßt werden. Und diejenigen, die in Beziehung stehen, führen einander ein und heben einander auf, und resultieren in Relativen, während diejenigen, die ohne Beziehung sind, eine Verwandlung verursachen, und in einem konträren Gegensatz resultieren. Oder das eine ist imstande sich zu verändern, und das andere nicht, und das Resultat ist Privation und Besitz.

Damit wir verstehen, warum es nur vier gibt, sagen wir so. Was entgegengesetzt ist, ist entgegengesetzt als Begriffe oder als Dinge. Und diejenigen, die als Dinge entgegengesetzt sind, werden entweder in Beziehung oder ohne Beziehung gesehen. Und wenn sie ohne Beziehung sind, verwandeln sie sich in einander, oder sie verwandeln sich nicht. Bejahung und Verneinung sind also als Begriffe entgegengesetzt, […] als Dinge, die in Beziehung sind, sind Relative einander entgegengesetzt, [...] und als Dinge, die ohne Beziehung sind und sich ineinander verwandeln, sind die konträren, [...] als Dinge ohne Beziehung und ohne Verwandlung in einander Besitz und Privation.

Die Ähnlichkeiten zwischen den zwei Passagen lassen keinen Zweifel daran, daß Niketas einen älteren Text exzerpierte. Allerdings ist es unwahrscheinlich, daß Philoponos’ Kommentar seine direkte Vorlage war. In einem logischen Kompendium, das Michael Psellos zugeschrieben wird, finden sich weitere Entsprechungen wie etwa τὸ κατὰ ἀντίφασιν ἀντικεῖσθαι und εἰ μὴ οἷς φύσει τὸ ἓν ὑπάρχει, obwohl die charakteristische Unterscheidung zwischen ἐν σχέσει und || 48 Niketas, Capita 20, S. 128.8–129.2. 49 Johannes Philoponos, Kategorienkommentar 10 [Arist. P. 11b16], ed. Adolf BUSSE, Philoponi (olim Ammonii) in Aristotelis Categorias commentarium (Commentaria in Aristotelem graeca 13), Berlin 1898, S. 168.19–27.

Tradition und Innovation im theologischen Diskurs der Byzantiner | 369

ἀσχέτως dort fehlt.50 Das läßt vermuten, daß Niketas aus einer anderen Quelle schöpfte. Da die Kategorienkommentare des Olympiodoros, Elias (David) und Simplikios textlich stark abweichen, wird es wohl entweder ein verlorener Kategorienkommentar oder ein Kompendium gewesen sein.51 Auch hier ist der Ertrag für die Trinitätstheologie gering. Zum Schluß erklärt Niketas nur, daß keiner der verschiedenen Arten von Gegensätzen auf Gott zutrifft. Das zwanzigste Kapitel ist von beträchtlicher Länge, was auch daran liegt, daß verschiedene Einwände widerlegt werden. In einem Fall erklärt Niketas, daß positive und negative Aussagen in Gott einander ausschließen. Wenn die Aussage „Gott ist gerecht“ zutrifft, dann ist die Aussage „Gott ist ungerecht“ notwendigerweise unwahr. Dann allerdings setzt er folgendes hinzu. Εἰ δέ τις ἀναιδέστερον πρὸς ταῦτα διατεθείη λέγων· καὶ πῶς ὁ μέγιστος ἐν θεολογίᾳ Διονύσιος πάσας ἐπὶ θεοῦ τὰς τῶν κρειττόνων καταφάσεις καταφάσκει καὶ πάσας ἀποφάσκει, οἷον ὅτι ἐστὶ φῶς, οὐκ ἐστὶ φῶς, ἀλλ᾽ ὑπὲρ φῶς, ἐστὶ δικαιοσύνη, οὐκ ἐστὶ δικαιοσύνη, ἀλλ᾽ ὑπὲρ δικαιοσύνην, καὶ ὅσα τούτοις παραπλήσια, φαμὲν οὖν πρὸς αὐτόν …52 Doch wenn jemand mit übermäßig schamloser Einstellung darauf erwiderte: ‚Und warum bejaht Dionysios, der größte in theologischen Fragen, alle Bejahungen des größeren Dinge, und verneint dann alle, wie z. B. er ist Licht, ist nicht Licht, sondern jenseits des Lichts, er ist Gerechtigkeit, ist nicht Gerechtigkeit, sondern jenseits der Gerechtigkeit, und was immer diesem ähnlich ist‘, da sagen wir zu ihm …

Dieses Gegenargument basiert auf Aussagen, die sich am Anfang von Pseudo-Dionysios’ Traktat ,De divinis nominibus‘ finden.53 Dort werden in der Tat mehrere Dinge über Gott behauptet und dann wieder verneint. In seiner Widerlegung erklärt Niketas, daß in diesem Falle die Verneinungen nicht die Bejahungen aufheben, sondern sie übertreffen, und daß Verneinungen und Bejahungen auf verschiedene Dinge bezogen seien, die Gottheit selbst und die göttlichen Ideen. Dies ist allerdings kein originales Argument, da sich eine solche

|| 50 Michael Psellos, Opusculum 52, hrsg. v. John M. DUFFY, Michaelis Pselli philosophica minora, I: Opuscula logica, physica, allegorica, alia, Stuttgart 1992, 226.233–244. 51 Olympiodoros, Kategorienkommentar, hrsg. v. Adolf BUSSE, Olympiodori prolegomena et in Categorias commentarium (Commentaria in Aristotelem graeca 12), Berlin 1902, S. 134–135; Elias (David), Kategorienkommentar, ed. Adolf BUSSE, Eliae in Porphyrii Isagogen et in Aristotelis Categorias commentaria (Commentaria in Aristotelem graeca 18.1), Berlin 1900, S. 242; und Simplikios, Kategorienkommentar, hrsg. v. Karl KALBFLEISCH, Simplicii in Aristotelis Categorias commentarium (Commentaria in Aristotelem graeca 8), Berlin 1907, S. 283. 52 Niketas, Capita 20, S. 129.11–14. 53 Pseudo-Dionysios, De divinis nominibus, 1.6, hrsg. v. Beate R. SUCHLA, Corpus Dionysiacum, I: Pseudo-Dionysius Areopagita de divinis nominibus (Patristische Texte und Studien 33), Berlin, New York 1990, S. 118.4–119.9.

370 | Dirk Krausmüller

Präzisierung schon in Pseudo-Dionysios’ Text findet.54 Das ist nur der erste der Einwände, die Niketas in sein Kapitel einfügt. Es folgen noch eine Reihe ähnlicher Einwürfe. Sie geben dem Text einen ausgeprägt dialogischen Charakter. Das alles ist aber nur eine Fiktion.55 Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Niketas westliche Texte zur Trinitätstheologie kannte. Im übrigen sind solche Texte von ganz anderer Natur. Theodulf von Orléans präsentiert nur Väterzitate, während Ratramnus von Corbie den doppelten Ausgang des Heiligen Geistes mit der Konsubstantialität zu begründen sucht.56 Mit seinen fiktiven Gegenargumenten wendet Niketas nur das an, was er in der Schule gelernt hatte, nämlich alle erdenklichen Einwände zu einer These zu bedenken und dann nacheinander zu widerlegen. Charakteristischerweise verwendet er mit „Enstasis“ mehrmals einen rhetorischen Fachterminus.57

4 Abschließend läßt sich sagen, daß die beiden Kontroversen, an denen sich Niketas beteiligte, völlig unterschiedlicher Natur waren. Der Streit mit den Armeniern war zwar ein neues Phänomen im neunten Jahrhundert, da es über zwei Jahrhunderte keine Auseinandersetzung mit den Monophysiten gegeben hatte. Jedoch war die Art und Weise, in der die Debatte geführt wurde, sehr der Tradition verpflichtet. Sowohl Sahak als auch Niketas reproduzierten Argumente, die über zweihundert Jahre früher formuliert worden waren, was dem Austausch einen ritualisierten Charakter verleiht. Trotzdem war dies ein echter Dialog. Das lag auch daran, daß es sowohl in Byzanz als auch in Armenien Menschen gab, die beide Sprachen beherrschten und die Dokumente des jeweiligen Gegners übersetzen konnten. Der Streit mit den westlichen Christen über das filioque war von ganz anderer Natur. Hier konnte Niketas auf keine älteren theologischen Texte zurückgreifen, die ihm gebrauchsfertige Argumente geliefert hätten. Wenn er dennoch Zitate präsentiert, dann haben sie wenig mit dem eigentlichen Thema zu tun. Eine größere Rolle spielen Entlehnungen aus dem philosophischen Diskurs, die zum Teil von beträchtlicher Länge sind. Das ist ein Novum in der byzantinischen Theologie. Selbst Photios hatte in seinen Schriften gegen das filioque nicht so direkt aus philosophischen Texten zitiert und auf Philosophen als Autoritäten verwiesen.

|| 54 Pseudo-Dionysios, De mystica theologia 2, hrsg. v. Jacques-Paul MIGNE (Patrologia Graeca 3), Paris 1857, Sp. 1000AB: δέον […] μὴ οἴεσθαι τὰς ἀποφάσεις ἀντικειμένας εἶναι ταῖς καταφάσεσιν, ἀλλὰ πολὺ πρότερον αὐτὰς ὑπὲρ τὰς στερήσεις εἶναι. 55 Charakteristischerweise gab KOLBABA ihrem Buch den Titel „Inventing Latin Heretics“. 56 Cf. GEMEINHARDT (Anm. 6), S. 152–157; u. KOLBABA (Anm. 6), S. 152. 57 Cf. Vessela VALIARVITCHARSKA, Rhetoric in the Hands of the Byzantine Grammarian, in: Rhetorica 31 (2013), S. 237–260, insbesondere S. 215.

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Jedoch zeigt die Weise, in der Niketas philosophisches Gedankengut verwendet, daß sein Verständnis doch recht begrenzt war. Zudem kann man nicht sicher sein, daß er auf die Originaltexte zurückgriff. Es ist möglich, daß er sein Wissen aus Kompendien zog. Auch in diesem Fall hat der Text einen dialogischen Charakter. Allerdings ist Niketas’ Gegner eine fiktive Gestalt. Einer der Gründe für dieses Dialogisieren im Monolog war sicherlich, daß die sprachliche Barriere in diesem Fall unüberwindlich war.

Krijn Pansters

Imitatio imitationis In the Footsteps of the Imitation of Christ in Early Franciscan Texts Abstract: Francis of Assisi (†1226) was not only a charismatic follower of Christ, but also an exemplary leader with many followers who were also followers of Christ. In the transition from his words to his Bible-based writings and in the transmission of these writings into new literary and spiritual contexts, we discern five exemplary ways of imitation: Francis as imitator of Christ, Francis as spiritual leader, literal imitation, shared imitation, and literary imitation. We also discern three historical processes: one of juridification, one of feminization, and one of spiritualization. In all five ways and all three processes, we see shifting political and spiritual interests at work. After Francis had laid down his main message in a rule and a testament, essential elements of these works resurged in Franciscan and papal documents that aimed to provide legal support to different religious groups and positions on the matter of true imitation. When Clare of Assisi cited the words of Francis in her own letters and rules, she not only stressed female elements in them but also explained their meaning to her own community in more suitable, viz., contemplative, terms. The multiple times that Bonaventure of Bagnoregio used Francis as an exemplar in his legal and spiritual treatises, he presented his deeds and words as those of a true spiritual imitator of Christ. This paper ventures on well-trodden paths, but its fresh perspective of key motifs in shifting contexts will hopefully open up the fairly complex literary process in which “Francis the lover of Christ” is continually echoed and the echo continually copied into new texts with different purposes, audiences, and backgrounds. Keywords: Francis of Assisi, exemplarism, spirituality

1 Introduction In 2019, it is exactly 900 years ago that saint Francis of Assisi (d. 1226) went to Egypt to visit sultan Malek Al-Kamil in order to preach the gospel.1 In many places, people now celebrate this important event as groundbreaking and exceptional, usually framing it as an early form or even as the first example of interreligious dialogue between Christians and Muslims. Two of many examples may suffice to show what

|| Krijn Pansters, Franciscan Study Center, Tilburg University, Nieuwegracht 65, NL-3512 LG Utrecht, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-022

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initiatives are taken to highlight this memorable meeting and to use it in a modernday context. The first example is the two-day seminar of the Interfranziskanische Arbeitsgemeinschaft (Infag) “Franziskus und der Sultan – Dialog statt Hetze” in Zell am Main, 29–31 March 2019, whose poster has the following: Entgegen der vor 800 Jahren vorherrschenden christlichen Meinung, Kreuzzüge als adäquates Mittel der Missionierung und der Befreiung des Hl. Landes zu sehen, setzte der heilige Franziskus 1219 bewusst ein Zeichen des Dialogs. [...] Wie begegnen wir ‚dem Fremden‘? [...] Im Grundlagenseminar 2019 betrachten wir – ausgehend von der historischen Begegnung – den Religions- und Kulturdialog heute in unterschiedlichsten Facetten und suchen nach unseren Möglichkeiten des Aufeinanderzugehens und Kennenlernens des Fremden. [...] Unter der Devise ‚Vom Streitgespräch zum Kulturdialog‘ soll es dann praktisch werden, inklusive verschiedener Exkursionsangebote mit Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergründen.2

The second example is a learning module developed for schools in Belgium and the Netherlands, “Franciscus en de sultan, 800 jaar ontmoeting” (“Francis and the sultan, 800 years of meeting”), whose introduction states: Francis set an example for his time. His action radically diverged from what the Zeitgeist demanded of him. Like sultan Malek Al-Kamil, he broke the chain of violence of his time in order to meet the other out of a desire for fraternity and peace. Our time, too, is marked by fear for the other, war, and terrorist attacks against innocent citizens, whether Jewish, Christian, or Muslim. We need bridge-builders, people who reach out to ‘the other,’ often ‘the enemy.’ How can this historial meeting of Francis and the sultan of Egypt inspire us to that, today?3

These spiritually rich initiatives are generally poor in historical awareness. Their problem is not their religious or political motivation, but their historical claim

|| 1 As Francis states in his Rule, chapter 16 (on going among the infidels): “to acknowledge that they are Christians [...] to announce the Word of God [...] in order that [unbelievers] may believe in almighty God [...] and be baptized and become Christians because no one can enter the kingdom of God without being reborn of water and the Holy Spirit.” Two recent publications that are very clear about the purpose of Francis’ mission: Katharina HEYDEN, Die legendäre Begegnung zwischen Franz von Assisi und Sultan Melek al-Kamil oder: Von der geschichtsprägenden Absicht in Geschichten, in: Mediaevistik 31 (2018), pp. 203–229; Volker LEPPIN, Franziskus von Assisi, Darmstadt 2018, pp. 187–198. 2 https://franziskaner.net/grundlagenseminar-franziskus-und-der-sultan/ (10.06.2019). 3 “Franciscus stelde een teken in de tijd. Hij deed iets radicaal anders dan wat de tijdsgeest hem influisterde. Net zoals sultan Malek Al-Kamil verbrak hij de spiraal van geweld waarin zijn tijd verwikkeld was om de ander te ontmoeten vanuit een verlangen naar broederschap en vrede. Ook in onze tijd die getekend wordt door angst voor de andere, oorlog en terroristische aanslagen tegen onschuldige burgers, of ze nu joods, christelijk of moslim zijn, is er nood aan bruggenbouwers, aan mensen die ‘de andere’, soms ‘de vijand’ de hand reiken. Hoe kan deze historische ontmoeting van Franciscus met de sultan van Egypte ons vandaag de dag daartoe inspireren?” (https://www.kuleuven.be/thomas/page/franciscus-en-de-sultan/ (10.06.2019)).

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(“ausgehend von der historischen Begegnung”; “this historical meeting”). Consequently, they promote forms of imitation that are, technically, false. It was Francis’ primary aim to convert the sultan to Christianity, albeit in a peaceful way that opposed the violence of the crusader and Muslim armies. Most modern-day followers of Francis, however, want peace, not conversion.4 The misunderstanding is therefore not spiritual but historical: these genuine believers who rightly refer to the roots of their spiritual tradition ignore certain historical realities – facts established by scholarship – or use them rather selectively, happy to create or reproduce a narrative that ignores the complexity of the event. But is it not true that we, narrators who may also be imitators, have to try to tell the whole story in order to do justice to Francis and serve the truth? Exactly this is what makes the matter so very interesting: trying to tell the whole story is what almost never happens in the event of spiritual imitation, whether in 1219 or 1519 or 2019.5 Imitational narrative constitutes, by its very nature, an interpretation of a selection: of gestures, of stories, of acts, of views. It captures the imitation of the aspects that draw a particular person or group to a particular person or text. In this article, I will deal with the imitation of Francis of Assisi. The poor and powerful men and women who followed in his footsteps probably form one of the strongest and most striking traditions of spiritual imitation. Their stories, laid down in primary witness accounts of an exciting new “Rule and Life,”6 also form a textbook case of selectivity, subjectivism, adaptation, and accentuation in imitational discourse. The early sources and documents are a wonderful playground for historians who are looking for a whole range of imitation-motifs. Although much has been written on Franciscan imitatio, both Francis’ imitation of Christ and the || 4 See, for example, Krijn PANSTERS and Jan SLOOT, De Franciscaanse Beweging. Vijftig jaar in het spoor van Franciscus en Clara van Assisi, Nijmegen 2015, passim. Four dimensions of modern Franciscan spirituality are identified in this book: Francis and Clare as source of spirituality; community as place of spirituality; social themes (ecology, poverty, peace); and individual spiritual development. Some Franciscan authors discuss Christian conversion from within, for example David B. COUTURIER, The Four Conversions: A Spirituality of Transformation, St. Bonaventure 2016. 5 Scholarly discourse and spiritual imitation come together in this year’s international conference “The Franciscan Legacy from the 13th Century to the 21st: Assessing the Continuing Significance of St Francis and Franciscan Traditions of Theology, Spirituality, and Action. An International Conference in Honour of the 800th Anniversary of St Francis’ Meeting with Sultan Malek Al-Kamil” in Durham, 5–7 November 2019. 6 Francis, Rule 1,1 (Francis of Assisi, Early Documents 1, ed. Regis J. ARMSTRONG et al., New York et al. 1999, p. 100). Apart from the works of Francis (his Rule, Admonitions and Testament) and Clare (her Rule), I use the following selection of earliest sources: Life of Francis (1228–1229), The Sacred Exchange between Saint Francis and Lady Poverty (b. 1238), Remembrance of the Desire of a Soul (1245–1247), The Assisi Compilation (b. 1260), and the relatively late Life of Juniper (included in manuscripts of the Fioretti (fourteenth century)). I furthermore use Jacques de Vitry’s Letter (1220) and Historia Occidentalis (c. 1225), the bull Quo elongati (1230), and the Franciscan Constitutions of Narbonne (1260).

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followers’ imitation of Francis and Christ,7 nowhere have the different dimensions of early Franciscan imitation been studied together and in a systematic way, namely, as manifestations of Francis as imitator of Christ; Francis as spiritual example; literal imitation of Francis; shared imitation of Francis; literary imitation of Francis; and further Franciscan imitative uses (of fools, of Lady Poverty, and of Christ in the fraternity). With these, I have thus selected a number of exemplary ways of imitation – ways in which Francis becomes a spiritual example to the readers of these texts. I label them imitatio imitationis because, ultimately, they are all imitations of the primary form of imitation of going in the footsteps of Jesus Christ, in the way of earlier Christian imitators like the apostles and the saints.

2 Francis and Christ The first exemplary way of imitation in the early sources concerns Francis as imitator of Christ – a recurring motif in early Franciscan hagiography. The earliest biographer, Thomas of Celano, writes in chapter 30 of his Life of Francis (1228–1229): His highest aim, foremost desire, and greatest proposal was to pay heed to the holy gospel in all things and through all things, to follow the teaching of our Lord Jesus Christ and to retrace His footsteps completely with all vigilance and all zeal, all the desire of his soul and all the fervor of his heart.8

Another example is The Sacred Exchange between Saint Francis and Lady Poverty (b. 1238), which calls Francis “the Savior’s true imitator and disciple” who “gave himself with all eagerness, all longing, all determination to searching for, finding,

|| 7 See, for example, Malcolm D. LAMBERT, Franciscan Poverty: The Doctrine of the Absolute Poverty of Christ and the Apostles in the Franciscan Order 1210–1323, St. Bonaventure 1998, pp. 33–72; LEPPIN (note 1), pp. 247–251, 259–262, 287–291; Frank PETERS, Aus Liebe zur Liebe. Der Glaubensweg des Menschen als Nachfolge Christi in der Spiritualität des hl. Franziskus von Assisi (Veröffentlichungen der Johannes-Duns-Skotus-Akademie für franziskanische Geistesgeschichte und Spiritualität 6), Kevelaer 1995; André VAUCHEZ, Francis of Assisi: The Life and the Afterlife of a Medieval Saint, trans. Michael F. CUSATO, New Haven, London 2012, pp. 45–49; Sigismund VERHEY, Der Mensch unter der Herrschaft Gottes. Versuch einer Theologie des Menschen nach dem hl. Franziskus von Assisi, Düsseldorf 1960, pp. 81–106; Kenneth Baxter WOLF, The Poverty of Riches: St. Francis of Assisi Reconsidered, Oxford 2003, 39–68. See furthermore note 48. 8 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 254.

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and embracing holy poverty.”9 Many more such parallels are drawn by the hagiographers between Francis and Christ, each with their own thematic focus.10 The link is established by Francis himself: in his own actions (as recorded in the documents) and in his own writings, for example in chapter 6 of the Admonitions: Let all of us, brothers, consider the Good Shepherd Who bore the suffering of the cross to save His sheep. The Lord’s sheep followed Him in tribulation and persecution, in shame and hunger, in weakness and temptation, and in other ways; and for these things they received eternal life from the Lord. Therefore, it is a great shame for us, the servants of God, that the saints have accomplished great things and we want only to receive glory and honor by recounting them.11

In his Testament, especially, Francis makes it very clear that Christ is the origin and foundation of his way of life: The Lord gave me, Brother Francis, thus to begin doing penance in this way: for when I was in sin, it seemed too bitter for me to see lepers. And the Lord Himself led me among them and I showed mercy to them. [...] And after the Lord gave me some brothers, no one showed me what I had to do, but the Most High Himself revealed to me that I should live according to the pattern of the Holy Gospel. [...] And those who came to receive life gave whatever they had to the poor and were content with one tunic, patched inside and out, with a cord and short trousers. We desired nothing more.12

Note three things here. First, Francis receives, passively, internal commands and directions from the Lord Jesus Christ (“The Lord gave me”), and he does, actively, as the Lord does (“I showed mercy”). Second, Francis’ imitation is most visible on the outside: in gestures, in giving, and in clothing. Third, Francis here also imitates in writing, by actually quoting from Sirach 35:4 (“Whoever shows mercy”) and refering, indirectly, to Tobit 1:3 (“I performed many acts of charity”).

|| 9 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 530. Celano, The Remembrance of the Desire of a Soul 2,162 has the following: “But in order to show himself in all things a true imitator (imitatorem) of Christ [...]” (Francis of Assisi, Early Documents 2, ed. Regis J. ARMSTRONG et al., New York et al. 1999, p. 386). 10 The parallels are echoed in historiographical discourse, for example in Luke of Túy, Against the Errors of the Albigensians (1231–1234): “pious testimony is set forth that in the hands and feet of blessed Francis four marks of nails appeared in this soldier of Christ. These demonstrated his perfect victory over the struggle of the world and that by the sign of the four nails of our Lord’s Passion he was a imitator (sequelam) of his King, Jesus Christ” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 596). 11 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 131. 12 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, pp. 124–125.

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3 Setting an Example The second exemplary way of imitation in the sources concerns Francis as a spiritual leader. His leadership takes two forms: indicative and imperative.13 On the one hand, he is a leader who indicates by his own deeds and gestures what the brothers, his followers, should do. For example in chapter 53 of The Assisi Compilation (b. 1260): One time when blessed Francis was at that same place, a certain brother, a spiritual man, an elder in religion, was staying there. He was very sick and weak. Considering him, blessed Francis was moved to piety toward him. The brothers back then, sick and healthy, with cheerfulness and patience took poverty for abundance. They did not take medicines in their illnesses, but more willingly did what was contrary to the body. Blessed Francis said to himself: ‘If that brother would eat some ripe grapes early in the morning, I believe it would help him.’ One day, therefore, he secretly got up early in the morning, and called that brother and took him into the vineyard which is near that same church. He chose a vine that had grapes that were good and ready for eating. Sitting down with that brother next to the vine, he began to eat some grapes so that the brother would not be ashamed to eat alone, and while they were eating them, that brother praised the Lord God. As long as he lived, he always recalled among the brothers,with great devotion and flowing tears, the mercy the holy father had done to him.14

This is indicative leadership: showing by deeds, and the rest will follow.15 On the other hand, Francis is also a commander, viz., a leader who tells his brothers what to do. An example of his imperative leadership can be found in chapter 17 of Celano’s Life of Francis: The brothers at that time begged him to teach them how to pray, because, walking in simplicity of spirit, up to that time they did not know the Church’s office. Francis told them: ‘When you pray, say “Our Father” and “We adore you, O Christ, in all your churches throughout the whole world, and we bless you, for by your holy cross you have redeemed the world.”’ The brothers, devout disciples of their master, strove diligently to observe this. For they attempted to fulfill completely not only the things he told them as brotherly advice or fatherly commands, but even those things he thought or meditated upon, if they could know them by some indication. The blessed father told them that true obedience is not about just what is spoken but also about what is thought, not just what is commanded but what is desired, that is: ‘If a brother subject

|| 13 Krijn PANSTERS, Exemplarisch leiderschap, in: Willem Marie SPEELMAN (ed.), Volg de liefde! Leiderschap in het licht van Franciscus en Clara van Assisi, Utrecht 2019, pp. 31–47. 14 ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 152. 15 Another example is Celano, Legend for Use in the Choir 2: “He taught them to eliminate their vices, to repress urgings of the flesh, and to render their exterior senses insensitive to all things that clamor for attention. For as often as he himself felt the tickling of the flesh – as often happened – he used to immerse himself into a ditch filled with ice and snow. All of the others with him used to imitate this example (exemplum imitantur) of mortification” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 321).

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to a prelate not only hears his words but understands his will, he should immediately ready himself fully for obedience, and do whatever by some sign he knows the other wants.’16

This is all legal language: orders like “When you pray, say” and “If a brother, he should” indicate an imperative imitation, viz., a following in function of obedience. What preceeds it is, again, indicative imitation: “even those things he thought or meditated upon, if they could know them by some indication”; “do whatever by some sign he knows the other wants.”

4 Literal Imitation The third exemplary way of imitation in the sources is literal imitation. Most interesting is the example of one of the first brothers, John the Simple. In chapter 61 of the Assisi Compilation we read about this “man of amazing simplicity:” So, whenever blessed Francis was in some church or in some other place to pray, he wanted to watch and observe him so that he could imitate all his gestures. If blessed Francis knelt, or joined his hands toward heaven, or spat, or coughed, he would do the same. With great joy, blessed Francis began to reprove him for these kinds of simplicity. But he answered: ‘Brother, I promised to do everything you do. Therefore I want to do everything you do.’17

Another imitator-brother is Juniper, who followed Francis not only blindly but also indiscriminately. Like Francis, he is also known as a ‘jester of the Lord.’ In his case, irony becomes the greatest teacher of true imitation, which should revolve around spiritual insight. Several illustrations of his imitational zeal can be found in the The Life of Juniper, a work often included in manuscripts of the Fioretti (fourteenth century), like this one in chapter 4: Brother Juniper was so full of pity and compassion for the poor, that when he saw anyone poor or naked he immediately took off his tunic, or the hood of his clock, and gave it to him. The guardian therefore laid an obedience upon him not to give away his tunic or any part of his habit. A few days afterwards, a poor half-naked man asked an alms of Brother Juniper for the love of God, who answered him with great compassion: ‘I have nothing which I could give thee but my tunic, and my superior has laid me under obedience not to give it, nor any part of my habit, to anyone. But if thou take it off my back I will not resist thee.’ He did not speak to a deaf

|| 16 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 222. 17 ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 164. Celano, The Remembrance of the Desire of a Soul 2,143 has the following: “The saint often proposed his life as worth imitating (imitandam) and merrily calling him not Brother John, but Saint John” (ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 369).

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man; for the begger forthwith stripped him of his tunic, and went off with it. When Brother Juniper returned home, and was asked what had become of his tunic, he replied: ‘A good man took it off my back, and went away with it.’ And as the virtue of compassion increased in him, he was not contented with giving his tunic, but would give books, or clocks, or whatever he could lay his hands on, to the poor. For this reason the brethren took care to leave nothing in the common rooms of the convent, because Brother Juniper gave away everything for the love of God and to the glory of his name.18

This text, in all its display of naivety, was a great teaching tool in the time of its writing (and up until today). True imitation is not literal imitation without thinking (too literal imitation), but imitation combined with common sense. This message was well received in a time when the Franciscans were actually involved in a struggle to discern the direction of the Order: toward more literal or more mitigated forms of the life of poverty.

5 Shared Imitation The third exemplary way of imitation in the sources is shared imitation. About this way we can be brief, as it essentially concerns the whole history of the Order from the very beginning. Franciscan religious have founding father Francis as their icon, exemplar, and patron. Each and everyone in their own way follow “his form, rule and teaching” and adopt his “norm of life” (him as a norm of life), as can be seen in chapter 15 of Celano’s Life of Francis: Thanks and the voice of praise resounded everywhere, as many, casting aside earthly concerns, gained knowledge of themselves in the life and teaching of the most blessed father Francis and aspired to love and reverence for their Creator. Many people, well-born and lowly,

|| 18 The Little Flowers of St. Francis of Assisi, trans. Arthur LIVINGSTONE, Grand Rapids 1930, p. 146. Cf. in modern Italian translation: “Tanta pietà avea alli poveri Frate Ginepro e compassione, che quando vedea alcuno che fusse vestito male o ignudo, di subito toglieva la sua tonica, o lo cappuccio della sua cappa, e davalo al così fatto povero: e però il Guardiano gli comandò per obbedienza ch’egli non desse a nessuno povero tutta la sua tonica, o parte del suo abito. Avvenne caso, che a pochi dì passati scontrò uno povero quasi ignudo, domandando a Frate Ginepro limosina per lo amore di Dio; a cui con molta compassione disse: lo non ho ch’io ti possa dare, se non la tonica: ed ho dal mio Prelato per la obbedienzia, che io non la posso dare a persone, nè parte dello abito: ma se tu me la cavi di dosso, io non ti contraddico. Non disse a sordo: che di subito cotesto povero gli cavò la tonica a rovescio, e vassene con essa, lasciando Frate Ginepro ignudo. E tornando al luogo e addomandato dove era la tonica, risponde: Una buona persona la mi cavò di dosso, e andossene con essa. E, crescendo in lui la virtù della pietà, non era contento di dare la sua tonica, ma dava e’ libri, paramenti e mantella, e ciò che gli venia alle mani dava ai poveri. E per questa cagione li Frati non lasciavano le cose in pubblico, perocchè Frate Ginepro dava ogni cosa per l’amore di Dio, e a sua laude” (Fioretti di San Francesco, trans. Luigi LUZZATTI, Milano 1917, p. 197).

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cleric and lay, driven by divine inspiration, began to come to Saint Francis, for they desired to serve under his constant training and leadership. All of these the holy one of God, like a fertile stream of heavenly grace, watered with showers of gifts and he adorned the field of their hearts with the flowers of perfection. He is without question an outstanding craftsman, for through his spreading message, the Church of Christ is being renewed in both sexes according to his form, rule and teaching, and there is victory for the [triple] army of those being saved. Furthermore, to all he gave a norm of life and to those of every rank he sincerely pointed out the way of salvation.19

There are multiple imitatio-aspects in this rich text. Spiritual imitation contains, among other things, thanks and praise; knowledge of oneself in the life and teaching of the father; aspiration and inspiration; a desire to serve under his constant training and leadership; grace and gifts; his form, rule, and teaching; a norm of life; and the way of salvation.20 This complexity of the phenomenon of imitation, which connects knowledge with inspiration and desire with gift, we also find in many other Franciscan hagiographical texts. Responding to concrete circumstances such as spiritual and institutional changes in the Order, they focus again and again on the originary form (Francis) and the originary norm (his life).21

6 Literary Imitation The fifth exemplary way of imitation in the sources is literary imitation. One example taken from the early Franciscan documents will show how imitation works in the case of the copying of central motifs, in particular through direct reference. It illustrates, on the one hand, the literary relationship between Francis and Clare as a reflection of their spiritual relationship, and, on the other hand, the reception of key

|| 19 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 216. 20 Other examples are given by Julian of Speyer, The Divine Office of Saint Francis 6: “Grant, that by imitating him (ex eius imitatione) we may look away from everything on earth, in order to enjoy forever sharing the gifts of heaven” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 330); Henri d’Avranches, The Versified Life of Saint Francis 5: “A man of discretion in Assisi sees the great man’s footmarks worth imitating (imitanda), and begins to shoulder poverty’s ignoble burden” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 461); Celano, The Remembrance of the Desire of a Soul 1,75: “Struck to the heart by what he saw, the priest cast off harmful delay, left the world and became a perfect imitator (imitator) of the man of God (2 Kgs 1:10)” (ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 320). 21 On the relation between norm and form in the spiritual program of the Franciscan Order, see Krijn PANSTERS, Norm and Form: Virtues as Constituents of Identity in Medieval Religious Communities, in: M. BREITENSTEIN et al. (eds.), Identität und Gemeinschaft. Vier Zugänge zu Eigengeschichten und Selbstbildern institutioneller Ordnungen (Vita regularis. Abhandlungen 67), Berlin 2016, pp. 99–124. See also Giorgio AGAMBEN, The Highest Poverty: Monastic Rules and Form-of-Life, trans. Adam KOTSKO, Stanford 2013, pp. 60–61.

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Christian-Franciscan formulations in the later documents. As medieval spiritual theologians, Francis and Clare use the Bible to explain their most fundamental views and to reassert the importance of their message.22 When Francis speaks about the sublimity of the highest poverty, for instance, he speaks intensively ‘biblical,’ like in chapter 6 of his Rule of 1223: Let the brothers not make anything their own, neither house, nor place, nor anything at all. As pilgrims and strangers in this world, (1 Pt 2:11) serving the Lord in poverty and humility, let them go seeking alms with confidence, and they should not be ashamed because, for our sakes, our Lord made Himself poor in this world (2 Cor 8:9). This is that sublime height of most exalted poverty which has made you, my most beloved brothers, heirs and kings of the Kingdom of Heaven, poor in temporal things but exalted in virtue (Jac 2:5). Let this be your portion which leads into the land of the living (Ps 142:6).23

No surprise here, as these are popular biblical passages. This franciscanized biblical speech, however, becomes female franciscan speech in chapter 8 of the Rule of Clare, written in 1253 (30 years after the Rule of Francis): Let the sisters not appropriate anything to themselves, neither a house nor a place nor anything at all; instead, as pilgrims and strangers in this world (1 Pt 2:11) who serve the Lord in poverty and humility, let them confidently send for alms. Nor should they be ashamed, since the Lord made Himself poor in this world for us (2 Cor 8:9). This is that summit of the highest poverty which has established you, my dearest sisters, heiresses and queens of the kingdom of heaven; it has made you poor in things but exalted you in virtue (Jac 2:5). Let this be your portion which leads into the land of the living (Ps. 142:6) [emphasis added].24

In multiple places, Clare literally repeats the words of Francis. In doing so, she seems to express her desire for full, literal, imitation, her aim to get as close as possible to her spiritual father also after his death, her will to be obedient in acting and writing. In those delicate places where the female form is absolutely required, however, different words are used but with substantially the same spiritual meaning. Words taken from Francis (including his borrowings from the Bible) now express the essence and destination of Franciscan sisterhood, viewed and lived in a typical biblical-franciscan way. Sisters, who cannot do without a house and a place and “anything at all,” now go “as pilgrims and strangers in this world” on a purely spiritual path, in the way of religious women (peregrinae et advenae). They cannot go seeking for alms (vadant) but need to send for alms (mittant). They cannot be heirs and kings (heredes et reges) of the Kingdom of Heaven but they are its heiress-

|| 22 See Krijn PANSTERS, Spiritual Morality: The Religious Orders and the Virtues, 1050–1300, unpublished dissertation, Louvain 2019, p. 191; Krijn PANSTERS, Spirituele ethiek. Franciscaanse perspectieven, Eindhoven 2017, pp. 78–87. 23 ARMSTRONG, Francis of Assisi 1, p. 103. 24 Regis J. ARMSTRONG (ed.), Clare of Assisi: Early Documents, New York 2006, p. 119.

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es and queens (heredes et reginas), like heirs and kings poor in things and exalted in virtue. Spiritual solutions like these, marking real imitational problems in the shift from male and itinerant to female and enclosed, reveal Clare’s resolution to remain as close as possible to Francis and his way of life. Pope Gregory IX already referred to the same passage in the Rule of Francis in his bull Quo elongati, issued in 1230 (seven years after the Rule): Furthermore, the Rule clearly states that ‘the brothers shall not appropriate anything as their own, neither a house nor a place nor anything at all.’ But as time goes on the brothers fear that the poverty of the Order will be compromised, especially since some people have been maintaining that moveable property belongs to the brotherhood in common. And so in this matter also you have humbly requested us to give attention to these threats for the sake of your consciences and for the purity of the entire Order. Therefore, we decree that property may be possessed neither individually nor in common. However, the brotherhood may have the use of equipment or books and such other moveable property as is permitted, and that the individual brothers may use these things at the discretion of the general and provincial ministers. Dominion over places or houses is excepted; this is the right of those to whom you know they belong.25

In the use and explanation of the words of Francis, we see four fundamental changes between regula and bulla. First, a religious possibility (nihil sibi approprient) becomes a juridical problem (nichil sibi approprient). Second, the poverty of Christ (paupertate Domino) becomes the poverty of the Order (ordinis paupertatem). Third, the humility of Christ (humilitate Domino) become the humility of the brothers (humiliter). Fourth, seeking alms with confidence (vadant pro eleemosyna confidenter) becomes a humble request to the pope (humiliter supplicatum) – supplicare (to beg on one’s knees) being the same word for seeking alms and making requests. Although not all changes concern the best way of imitating Francis directly, we can use contrasting passages like these in particular as a lens on real and difficult material and spiritual developments within the order from the moment of Francis’ death in 1226, when discussions on the true nature of the Franciscan imitation of the imitation of Christ start. Essentially, these developments and discussions are one continuous commentary on Francis as a model and the biblical truths that he mirrors.26 In 1253, 23 years after this bull, an

|| 25 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 573. 26 Not only 1 Pt 2:11, 2 Cor 8:9, Jac 2:5 and Ps 142:6 in chapter 6 of the Rule, but also the amalgam of synoptic texts that had been Francis’ initial inspiration: “Do not get any gold or silver or copper to take with you in your belts, no bag for the journey or extra shirt or sandals or a staff, for the worker is worth his keep” (Mt 10:9–10); “He told them: ‘Take nothing for the journey – no staff, no bag, no bread, no money, no extra shirt’” (Lk 9:3); “They went out and preached that people should repent” (Mk 6:12). To these texts come the three texts that the first brothers found in answer to their prayer (Anonymous Perusinus 11): “Jesus answered, ‘If you want to be perfect, go, sell your possessions and give to the poor, and you will have treasure in heaven. Then come, follow me’” (Mt 19:21); “Then

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independent and courageous Clare of Assisi returns to the literal spiritual text of Francis, quite literally ignoring the developments and discussions among his male followers.27 The juridification of the Franciscan charism continues, however, under General Minister Bonaventure. Chapter 3 of the Constitutions of Narbonne of 1260, composed under his direction, deals with the same matter in equally juridical but more spiritual terms: Since according to the Rule ‘the brothers should appropriate nothing for themselves,’ we ordain that the brothers not take any one to court, either on their own or on another’s behalf, over any temporal thing or injury, so that in all things the purity ‘of the highest poverty’ might be observed.28

Here, like in the papal bull, Francis’ “most exalted poverty” (altissima paupertas) becomes associated with purity. But whereas Pope Gregory IX means the purity of the entire Order (totius ordinis puritati), Bonaventure means the purity of the highest poverty (puritas altissimae paupertatis) itself! Our main imitational category of “being poor in temporal things but exalted in virtue” (pauperes rebus fecit, virtutibus sublimavit) is now a sign of authentic spirituality in the context of internal obedience.

7 Further Uses These and more examples show in which ways Franciscan imitation is itinerant itself, always appearing in a form that fits (and confounds) the current context.29 The

|| Jesus said to his disciples, ‘Whoever wants to be my disciple must deny themselves and take up their cross and follow me’” (Mt 16:24); “If anyone comes to me and does not hate father and mother, wife and children, brothers and sisters – yes, even their own life – such a person cannot be my disciple” (Lk 14:26). See PANSTERS (note 22), p. 33; William J. SHORT, The Rule and Life of the Friars Minor, in: Michael J. P. ROBSON (ed.), The Cambridge Companion to Francis of Assisi, Cambridge 2011, pp. 50–67 (54–55). 27 On the developments and discussions around her own way of life, see Bert ROEST, The Rules of Poor Clares and Minoresses, in: Krijn PANSTERS (ed.), A Companion to Medieval Rules and Customaries (Brill’s Companions to the Christian Tradition 93), Leiden, Boston 2020, pp. 315–342. 28 Writings Concerning the Franciscan Order, trans. Dominic V. MONTI (Works of St. Bonaventure 5), St. Bonaventure 1994, p. 88. 29 I take the word “confound” from Francis’ Salutation of the Virtues: “Holy Poverty confounds the desire for riches, greed, and the cares of this world” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 165). This in order to show that with every reproduction/reformulation comes discussion, contention, and friction.

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term imitation is furthermore used in three other meanings.30 First, Francis “became an imitator of those whom the Jewish leaders considered ignorant and without learning” after his conversion.31 Second, Lady Poverty herself invites the brothers to imitate her. Some of them, however, question her good intentions: “she wants to seduce us into imitating her. She is miserable and wants us to be miserable with her.”32 Third, the imitation of Christ remains central also for the Franciscan brothers themselves. This is shown in chapter 11 of the first book of Celano’s Remembrance of the Desire of a Soul (1245–1247), where it is told that Francis tells the Pope a parable about a poor woman and a king: Francis himself was this woman, not because he was soft in his deeds, but because he was fruitful and bore many children. The desert was the world, which was then wild and sterile, with no teaching of virtue. The many beautiful children were the large number of brothers, clothed with every virtue. The king was the Son of God, whom they resemble by their holy poverty. They were fed from the king’s table, refusing to be ashamed of their lowliness, when, in imitation of Christ, they were content to live on alms and realized that because of the world’s contempt they would be blessed.33

Does the fact that Francis bares many children mean that he “imitates” a woman? Regardless of the answer, the brothers are the children of Francis, clothed, like father, like son, with every virtue.34 Moreover, they resemble Christ, whom they imitate by their holy poverty.35

|| 30 Related terms used are: example, following, footsteps/footmarks, image, likeness, mirror, model, and resemblance. See, for example, The Assisi Compilation 41: “Zeal for souls, which filled him completely, made him want his sons to resemble him as a true likeness (sibi filios vera similitudine respondere)” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 2, p. 144). 31 Celano, Life of Francis 10 (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 204). Before his conversion, Francis was “a zealous imitator (aemulator) of foolishness” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 183). 32 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 543. See also in another chapter: “I surely want each one of you to become an imitator of the holy ones (sanctorum imitatorem) who have inherited me in faith and in patience” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 549). Other virtues can also be “imitated,” for example in chapter 103 of the Assisi Compilation: “but wanted and preached to the brothers to be eager to have and imitate (imitari) pure and holy simplicity” (ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 207). 33 ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 255–256. Another example is Fregit Victor 6 (sometimes attributed to Celano): “Tell us, tell us why, O Francis – To the cross why were you fastened? – In that this world abdicating – And the Cross by imitating, – Of Christ’s life I was conveyor” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 358). 34 Cf. Francis’ imitation of the life of his parents in chapter 1 of Celano’s Life of Francis: “And by long imitating (imitatus) their worthless life and character he himself was made more vain and arrogant” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 182). The imitation of the bad example goes back to Adam, for example in The Sacred Exchange between Saint Francis and Lady Poverty: “The miserable one believed the evil counselor. He agreed, consented and, oblivious of God his creator

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8 Conclusion Hagiographical narrators are imitators who “ignore certain historical realities or use them rather selectively, happy to create or reproduce a narrative that ignores the complexity of the event.”36 They “tell only a few things, to be imitated by posterity,”37 giving spiritually meaningful interpretations of (aspects worth following in) a selection of gestures, stories, acts, and views.38 But what about modern medievalists, who do “try to tell the whole story in order to do justice to Francis and serve the truth”?39 In a way, many of them resemble the medieval chronicler and theologian Jacques de Vitry, for whom description and admiration go together perfectly. In one of his letters (1220), the canon regular states that the Order of Lesser Brothers “expressly imitates the pattern of the primitive Church and the life of the apostles in everything.”40 In his Historia Occidentalis (c. 1225), he calls the Order “a religious way of life which should be admired and imitated.”41 In the same vein, the famous Franciscan historian Kajetan ESSER, who published important historical studies like Anfänge und ursprüngliche Zielsetzungen des Ordens der Minderbrüder42 and Die

|| (Dt 32:18), imitated (imitatus est) the first transgressor” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 538). 35 In Celano, The Remembrance of the Desire of a Soul 2,117, the Lord also speaks to Francis about his followers: “I have entrusted this to you, a simple man, so that the things that I work in you for others to imitate (imitanda) may be followed by those who want to follow” (ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 349). 36 See above, Introduction. The hagiographer “wishes to demonstrate to his faithful public the divine origin of the saint’s actions and the imitable aspects of his holiness” (Krijn PANSTERS, Dreams in Medieval Saints’ Lives: Saint Francis of Assisi, in: Dreaming 19 (2009), pp. 55–63 [62]). 37 Celano, The Remembrance of the Desire of a Soul 2,61 (ARMSTRONG (note 9), Francis of Assisi 2, p. 308). 38 See, for example, LEPPIN (note 1), p. 16: “der Erinnerungsauftrag [to Celano] diente nicht der Klärung der Vergangenheit, sondern der Orientierung in der Gegenwart. So liest sich diese zweite Vita über weite Strecken geradezu wie ein Kommentar zur gültigen Regel der Franziskaner: Der Franziskus der zweiten Vita lebt vor, wie diese zu erfüllen ist.” Leppin refers to the “perspective” of the biographers and the “fantasy” of their contemporaries (p. 23). 39 See above, Introduction. I am not discussing here the related issue of fragmentary sources: modern biography, too, “schafft so gesehen eine Konstruktion von Sinn aus den Fragmenten” (LEPPIN (note 1), p. 23). 40 Jacques de Vitry, Letter 6 (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 580). See also his Historia Occidentalis 4: “thus imitating (imitantes) more explicitly the life of the apostles” (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 582). 41 Jacques de Vitry, Historia Occidentalis 16 (ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, p. 585). 42 Kajetan ESSER, Anfänge und ursprüngliche Zielsetzungen des Ordens der Minderbrüder (Studia et documenta Franciscana 4), Leiden 1966.

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Opuscula43 alongside theological bestsellers like Der Orden des heiligen Franziskus. Seine geistige Gestalt und seine Aufgabe im Reiche Gottes44 and Antwort der Liebe. Der Weg des franziskanischen Menschen zu Gott,45 writes in the foreword to the latter: In diesem Sinn wird hier der Versuch gewagt, den Weg des franziskanischen Menschen zu Gott darzustellen. Unser Versuch möchte aufweisen, wie solche ‚Askese‘ als dankbare Antwort auf Gottes Liebe sich in der Geistigkeit des hl. Franziskus ausgestaltet und entfaltet. Damit soll allen, die sich dem Geist des Heiligen von Assisi verbunden wissen, ein Weg gewiesen sein, den zu gehen ihr besonderer Auftrag in der Kirche ist.46

Clearly devotion-driven and fitting in the time of the book’s appearance (1958– 1967), ESSER’s central Anliegen is Franciscan imitation through presentation (aufweisen) and edification (weisen).47 Nowadays, the history of spiritual imitation is the domain of all kinds of scholars: historians, theologians, educational scientists, and so forth.48 In the study of medieval theological traditions especially, a certain tension between historical reconstruction and contemporary retrieval remains unresolved.49 Some scholars are clearly presenters of medieval ideas, committed to offering heuristic strategies and hermeneutical tools for understanding, for example, spiritual journeys or moral || 43 Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi, ed. Kajetan ESSER and Engelbert GRAU (Neue textkritische Edition. Spicilegium Bonaventurianum 13), 2nd ed. Grottaferrata 1989. 44 Kajetan ESSER, Der Orden des heiligen Franziskus. Seine geistige Gestalt und seine Aufgabe im Reiche Gottes, 2nd ed. Werl 1952. 45 Kajetan ESSER and Engelbert GRAU, Antwort der Liebe. Der Weg des franziskanischen Menschen zu Gott (Bücher franziskanischer Geistigkeit 3), 3rd ed. Werl, 1967. 46 ESSER (note 45), p. 7. 47 See PANSTERS (note 22), p. 60. Two more examples: Klaus HEMMERLE, Theologie als Nachfolge. Bonaventura – ein Weg für heute, Freiburg et al. 1975; Peter MORANT, Unser Weg zu Gott. Das Vollkommenheitsstreben im Geiste des hl. Franziskus (Franziskanische Lebenswerte 6), Zürich et al. 1965. 48 See, for example, Giles CONSTABLE, Three Studies in Medieval Religious and Social Thought: The Interpretation of Mary and Martha. The Ideal of the Imitation of Christ. The Orders of Society, Cambridge 1995; Hans Jürgen MILCHNER, Nachfolge Jesu und Imitatio Christi. Die theologische Entfaltung der Nachfolgethematik seit den Anfängen der Christenheit bis in die Zeit der devotio moderna – unter besonderer Berücksichtigung religionspädagogischer Ansätze (Religionspädagogische Kontexte und Konzepte 11), Münster 2004. 49 See PANSTERS (note 22), pp. 201–202; Krijn PANSTERS, review of Michael F. CUSATO, Timothy J. JOHNSON and Steven J. MCMICHAEL (eds.), Ordo et Sanctitas: The Franciscan Spiritual Journey in Theology and Hagiography. Essays in Honor of J. A. Wayne Hellmann, O.F.M. Conv. (The Medieval Franciscans 15), Leiden, Boston 2017, in: Speculum 94 (2019), pp. 826–827. On the meaning of the term retrieval, see Keith D. WARNER, Retrieving Franciscan Philosophy for Social Engagement, in: The Cord 62 (2012), pp. 401–421; Keith D. WARNER, The Retrieval of a Distinctly Franciscan Spirituality and Intellectual Tradition, https://stfrancis.clas.asu.edu/article/retrieval-distinctly-franciscanspirituality-and-intellectual-tradition (16.06.2019).

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visions. Others are more defenders of those traditional positions, promotors of ‘the Christocentric nature of all knowledge’ or even critics of the weaknesses in a medieval author’s ‘continually relevant’ theology. Like their medieval predecessors, these scholars do not hesitate to connect the professional with the personal, cognition with affection, and learning with love. By their interpretations and reimaginations, they demonstrate how these theological texts can be read in the historical context as well as in the context of prayer and meditation. Maybe, however, modern-day medievalists still have not sufficiently answered the question to what extent the utilization of medieval knowledge and the exchange with society at large is truly worth pursuing.50 In the case of Franciscan imitation and imagination, it has often been suggested that this tradition offers an exemplary way conducive to social equality and justice, spiritual vitality, integrity and virtue, and the like.51 Should our imitational texts be made fruitful within the problem-driven framework of contemporary society, then two things always have to be taken into consideration: bias and background. On the one hand, both the medieval authors (being narrator-imitators) and the modern interpreters (including narrator-imitators) have their own approaches and agendas, informed by the frames of their preference and the formats of their field.52 On the other hand, both groups take part in distinctive normative discourses.53 Due to these personal and structural variables, the faces of Francis are principally as manifold as those of his many followers. Let us therefore return, by way of conclusion, to the simplicity of the Franciscan way of Gospel life and ask ourselves: who would not want to be like Celano’s Francis, who appeared so gloriously in innocence of life, in simplicity of words, in purity of heart, in love of God, in fraternal charity, in enthusiastic obedience, in agreeable compliance, in angelic appearance, [f]riendly in

|| 50 I mean by way of a critical, bias-resistant, value-seeking, interdisciplinary theory independent of a dogmatic framework and the subjectivity surplus of previous generations. I would also like to draw attention to two conferences of the Internationale Gesellschaft für Theologische Mediävistik (IGTM) that dealt (indirectly) with this matter: “Aktualität der Theologie des Mittelalters” (Freiburg, 2000) and “Aufgabe und Selbstverständnis theologischer Mediävistik” (Trier, 2010). 51 See Krijn PANSTERS, Franciscan Virtue: Spiritual Growth and the Virtues in Franciscan Literature and Instruction of the Thirteenth Century (Studies in the History of Christian Traditions 161), Leiden 2012, pp. 199–200 for a critical reflection. See also PANSTERS (note 22), pp. 222–227 (“A Lesser Ethics – Concern for the Common Good”) for a project proposal with a Franciscan focus on moral integrity. 52 PANSTERS (note 22), p. 193. 53 See for the Middle Ages: Berndt HAMM, Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation: der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, Archiv für Reformationsgeschichte 84 (1993), pp. 7–82; Doris RUHE and Karl-Heinz SPIESS (eds.), Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa, Stuttgart 2000. See for modernity: Rainer FORST and Klaus GÜNTHER (eds.), Die Herausbildung normativer Ordnungen. Interdisziplinäre Perspektiven, Normative Orders 1, Frankfurt a. M. 2011; Niklas LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, esp. p. 445.

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behavior, serene in nature, affable in speech, generous in encouragement, faithful in commitment, prudent in advice, efficient in endeavor, [...] gracious in everything, [t]ranquil in mind, pleasant in disposition, sober in spirit, lifted in contemplation, tireless in prayer, [...] fervent in everything, [f]irm in purpose, consistent in virtue, persevering in grace, [...] the same in everything, [s]wift to forgive, slow to grow angry, free in nature, remarkable in memory, subtle in discussing, careful in choices, [...] simple in everything, [s]trict with himself, kind with others, [...] discerning in everything!54

|| 54 ARMSTRONG (note 6), Francis of Assisi 1, pp. 252–253. See Krijn PANSTERS, Franciscan Virtue Ethics, in: Franciscan Connections/The Cord 68 (2018), pp. 22–26 (25).

Ulrike Treusch

‚De imitatione Christi‘ Nachahmung in christlicher Frömmigkeit im Spannungsfeld von Kompilation und Neuschöpfung Abstract: The theological idea of man as the image of God leads to the following question in the domain of Christian spirituality: How can man, as image, live according to the archetype Jesus Christ? Thus, the imitation of Christ becomes the ideal of late medieval piety. ‘De imitatione Christi’, edited (or written) by Thomas a Kempis, was published around 1425 A. D. in the context of the devotio moderna and is said to be the most famous spiritual book of the fifteenth century. The book shows how one should follow Christ in vita et mores, emphasizing suffering, humility and obedience, as well as withdrawal from the world in favor of an inward spiritual life in loving relationship with Christ. One thesis of the article is that one finds in ‘De imitatione Christi’ a certain openness, both in its content (as a compilation of traditional monastic piety) and in its form (as a rapiarium). This allowed for its transfer into other contexts: outside of monastic life or even into other denominational settings. For the latter, the translations and interpretations of ‘De imitatione Christi’ in German Pietism are an example. Keywords: imitation of Christ, monastic piety, devotio moderna, Christian spirituality

Nicht nur für die (neuplatonische) Theologie, sondern auch für die christliche Frömmigkeit ist das Verhältnis von Urbild und Abbild ein grundlegendes Konzept. Der schöpfungstheologische Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen führt in der Frömmigkeit zur Frage, wie der Mensch als Abbild dem Urbild Jesus Christus entsprechend leben soll. Denn so zu sein bzw. werden wie Jesus Christus ist das Ziel christlicher Lebensgestaltung. Jesus Christus ist das Urbild und zugleich das Vorbild (exemplum) für den Gläubigen, dessen Lebensführung ein nachahmendes Abbild Christi sein soll. Das Einüben eines solchen christus-gemäßen Lebens steht unter unterschiedlichen, aus dem biblischen Zeugnis hervorgehenden Leitbegriffen wie Heiligung (vgl. 1 Kor. 1, 2), Leben im (Heiligen) Geist oder Vervollkommnung (vgl. Mt. 5, 48), vor allem aber Nachfolge (vgl. Mk 2, 14) und Nachahmung.

|| Ulrike Treusch, Historische Theologie, Freie Theologische Hochschule Gießen, Rathenaustr. 5–7, D-35394 Gießen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-023

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Nachahmen (imitari) und Nachfolgen (sequi) werden in der mittelalterlichen Frömmigkeit, ausgehend von Augustin (Quid est enim sequi nisi imitari?),1 meist nicht unterschieden. Vielmehr bedeutet Nachfolgen das Nachahmen von Jesus Christus in seiner Göttlichkeit und ab dem 11. Jahrhundert in der lateinischen Christenheit primär in seiner Menschlichkeit, seinem irdischen Leben und Handeln.2 Die Imitatio Christi wird so zum Leitmotiv der Frömmigkeit des späten Mittelalters, was sich auch in der Vielzahl erbaulicher Schriften spiegelt, die dazu Anleitung geben. Unter diesen nimmt die Schrift ‚De imitatione Christi‘ eine herausragende Rolle ein. Die Schrift, deren Autor oder Redaktor der Augustiner-Chorherr Thomas von Kempen (1379/80–1471) war,3 entstand zwischen 1418 und 1425 im Umfeld der Devotio moderna und kann auch als deren exemplarischer literarischer Ausdruck gelten.4 In der Nachahmung des menschlichen Jesus in vita et mores betont sie das Leiden, die Abtötung von Leidenschaften, die Tugenden Demut und Gehorsam sowie den Rückzug aus der Welt zugunsten eines innerlichen geistlichen Lebens in unmittelbarer Beziehung zu Jesus Christus. Bereits im 15. Jahrhundert wurde die Schrift über monastische Kreise hinaus rezipiert; in den folgenden Jahrhunderten avancierte sie zu einem überkonfessionell gelesenen und übersetzten Klassiker der

|| 1 Augustinus, De sancta virginitate 27 (Augustinus, De fide et symbolo [...], Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 41, hrsg. v. Joseph ZYCHA, Wien 1900, S. 264). 2 Vgl. zur Nachahmung Christi in seiner Göttlichkeit z. B. das ostkirchliche Konzept der Theosis (deificatio), ein Transformationsprozess, dessen Ziel die Ähnlichkeit und die Vereinigung mit Gott ist. Vgl. auch die immer noch grundlegende Studie von Giles CONSTABLE, Three Studies in Medieval Religious and Social Thought. The Interpretation of Mary and Martha. The Ideal of the Imitation of Christ. The Orders of Society, Cambridge 1995, hier S. 145–248. CONSTABLE arbeitet heraus, dass es im 11. und 12. Jahrhundert zu einer Wende von der Konzentration auf die Göttlichkeit Christi zu seiner Menschlichkeit kam: „The shift in the eleventh and twelfth centuries from concentrating on Christ’s divinity to following His humanity thus reflected a new interest in the behaviour of man, which contributed to the emergence of a more ethical character in Christianity“ (S. 169). Zur Imitatio-Frömmigkeit vgl. auch Ulrich KÖPF, Das Ideal der Nachfolge Christi im abendländischen Mittelalter, in: Wilfried HÄRLE, Matthias HEESCH u. Reiner PREUL (Hgg.), Befreiende Wahrheit. Festschrift für Eilert Herms zum 60. Geburtstag (Marburger Theologische Studien 60), Marburg 2000, S. 121–139, bes. S. 138 f. 3 Vgl. einführend Ulrich KÖPF, Thomas von Kempen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 33 (2002), S. 480–483. Die Diskussion um die Autorschaft soll an dieser Stelle nicht erneut aufgenommen werden, vgl. dazu Nikolaus STAUBACH, Eine unendliche Geschichte? Der Streit um die Autorschaft der ‚Imitatio Christi‘, in: Ulrike BODEMANN u. DERS. (Hgg.), Aus dem Winkel in die Welt. Die Bücher des Thomas von Kempen und ihre Schicksale (Tradition – Reform – Innovation 11), Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 9–35. 4 Vgl. CONSTABLE (Anm. 2), S. 238: „In the fifteenth century the ideal of imitating Christ’s humanity is found in the works particularly of writers associated with the movement known as the Devotio moderna, and also in those by humanists“.

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Erbauungsliteratur.5 Einen Einblick in den kreativen Prozess des Nachahmens bietet ‚De imitatione Christi‘ gleich in mehrfacher Hinsicht: in Inhalt, Form und Rezeption. Daher soll zunächst (1) das inhaltliche Konzept der Nachahmung Christi zwischen Rezeption von Tradition und Neuakzentuierung skizziert werden, um von hier aus (2) Form und Stil der Schrift in den Blick zu nehmen. Hier ist zu prüfen, inwiefern die formale Gestaltung und literarische Verfahren wie Selektion, Kompilation und Reduktion das Anliegen der Schrift, den Leser in die Nachahmung Christi zu führen, unterstützen. Eine These dieses Beitrags ist es, dass sowohl das inhaltliche Konzept als auch die Form, in der diese Inhalte vermittelt werden, bereits zur Entstehungszeit so offen waren, dass eine neue Lesergruppe außerhalb des Klosters erreicht und eine breite Rezeption ermöglicht wurde, was (3) abschließend anhand eines Aspekts der Rezeptionsgeschichte gezeigt werden soll: Die Lektüre-Empfehlung und Neuübersetzung von ‚De imitatione Christi‘ im Pietismus bezeugt den kreativen Prozess der Neukontextualisierung, indem die Aussagen der Schrift, die bleibend Gültigkeit für die christliche Frömmigkeit beanspruchen, in einem zeitlich späteren und konfessionell anderen Kontext wiederaufgenommen werden.

1 Das inhaltliche Konzept der Nachahmung Christi zwischen Tradition und Neuakzentuierung Für die Schrift ‚De imitatione Christi‘ ist der Titel, der in den Handschriften des 15. Jahrhunderts meist noch fehlt, zugleich das Programm, das inhaltlich entfaltet wird: Der Leser soll zur Nachahmung des irdischen Jesus angeleitet werden. Der spätere Titel nimmt das Incipit und leitende Bibelwort des ersten der vier Bücher auf: Qui sequitur me, non ambulat in tenebris, dicit Dominus. Haec sunt verba Christi, quibus admonemur, quatenus vitam eius et mores imitemur, si velimus veraciter illuminari, et ab omni caecitate cordis liberari.

|| 5 Zur Überlieferung von ‚De imitatione Christi‘ in Zahlen: „mehr als 770 erhaltene Handschriften, davon ca. 150 mit volkssprachlichen Übersetzungen, unter ihnen ca. 70 niederländische und mehr als 60 deutsche, d. h. nieder-, mittel- und vor allem oberdeutsche“ (KÖPF (Anm. 3), S. 481 f.), 76 Inkunabeln und ca. 3.000 Ausgaben in rund 100 Sprachen. Vgl. zur Überlieferung zusammenfassend Paul VAN GEEST, Erika BAUER u. Burghart WACHINGER, Thomas Hemerken von Kempen, Imitatio Christi, in: Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 9 (1995), Sp. 862–882.

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‚Wer mir nachfolgt, wandelt nicht im Finsteren‘, kündet der Herr. (Joh 8,12) Das sind Worte Christi, die uns mahnen, sein Leben und Tun nachzuleben, wenn anders wir wahrhaft erleuchtet und der Blindheit des Herzens entschleiert werden wollen. (I, 1, 1–2)6

Unter dem Leitgedanken der Nachahmung Christi in vita et mores entfalten die vier Buchteile unterschiedliche Aspekte der Imitatio-Frömmigkeit.7 Buch 1 leitet in 25 Kapiteln zum geistlichen Leben (Admonitiones ad spiritualem vitam utiles) an, während Buch 2 in 12 Kapiteln das innere Leben (ad interna) des Gläubigen betrachtet. Das umfangreiche dritte Buch (59 Kapitel) fragt nach dem inneren Trost (interna consolatio) für den Gläubigen durch den ständigen Umgang mit Christus. Buch 4 schließlich bereitet auf den Empfang des Sakraments der Eucharistie vor. Die Verben imitari und sequi finden sich nach dem Incipit nur noch vereinzelt in ‚De imitatione Christi‘8 und auch in anderen Thomas-Schriften selten.9 Inhaltlich aber dient die Schrift durchweg der Darstellung der Imitatio Christi und der Einladung, diesen Weg zu beschreiten. Die hier vorgestellte Imitatio ist eine verinnerlichte, weltabgewandte und asketische Frömmigkeit. Sie greift wie alle Formen christlicher Frömmigkeit selektiv einzelne Aspekte aus Lebensweise und Handeln Jesu auf und zeichnet sich durch Demut und Selbstverachtung, Dienst, Gehorsam und Weltflucht aus (Buch 1).10 Diese Haltung ist Voraussetzung für das innere Leben, in dem der Gläubige Christus in sich begegnet und wie Christus leidet (Buch 2),11 um von Christus im Leiden auch getröstet zu werden (Buch 3).12 „Demut“ || 6 De imitatione Christi I, 1, 1–2. Die Textzitate und Verweise folgen der leicht zugänglichen zweisprachigen Ausgabe von Paul MONS: Thomas von Kempen, De imitatione Christi Libri Quatuor. Die vier Bücher der Nachfolge Christi, hrsg. v. Paul MONS, Regensburg 1959 (u. weitere unveränderte Auflagen). Die lateinischen Zitate in diesem Beitrag entsprechen zugleich der historisch-kritischen Edition von LUPO (De imitatione Christi libri quatuor. Edizione critica, hrsg. v. Tiburzio LUPO S.D.B. (Storia e Attualità 6), Città del Vaticano 1982); Unterschiede gibt es nur vereinzelt in der Nummerierung der Unterabschnitte. 7 Die Mehrheit der überlieferten Handschriften sowie frühen Drucke bezeugt die Reihenfolge der Bücher I–IV, das Thomas-Autograph von 1441 (Brüssel, Bibliothèque royale de Belgique [KBR], ms. 5855–61) jedoch die Reihenfolge I–II–IV–III. 8 Vgl. zu imitari: De imitatione Christi I, 1, 1–2; III, 56, 3; IV, 18. Sequi findet sich häufiger: I, 1, 4–5; I, 4, 3; I, 9, 2; I, 18, 2; I, 23, 8 und öfter in den Büchern II–IV. 9 Vgl. die Wortfamilie imitari, in: Thesaurus Thomae a Kempis (Thesaurus Patrum Latinorum. Series A), hrsg. v. Paul CHANDLER u. CETEDOC, Turnhout 1994, S. 117. 10 Vgl. exemplarisch die Aussagen zur Demut im ersten Buch: I, 1, 7; 5, 10; 6, 2; 7, 5.11.13; 8, 4; 12, 3; 13, 12 und öfter. Zum Gehorsam: I, 9; zur Weltflucht: I, 1, 12; I, 20; vgl. auch II, 1, 1–2. 11 Zum Leiden vgl. in Buch II: II, 1, 24; 3, 19; 6, 9; 10, 2; 11, 1.4; 12, 1 etc. 12 Diskutiert wird, ob Buch III damit als Höhepunkt der innigen Beziehung zwischen dem Gläubigen und Christus zu einer unio mystica führt, vgl. unter Annahme der Reihenfolge der Bücher I–II–IV–III Rudolf Th. VAN DIJK, Askese oder Mystik? Der entscheidende Rang des ‚Buches der inneren Tröstung‘ in der ‚Nachfolge Christi‘ des Thomas a Kempis, in: BODEMANN u. STAUBACH (Anm. 3), S. 173–187, hier S. 187: „Die ‚Nachfolge Christi‘ eröffnet durch die communio mit dem eucharistischen Christus eben den Weg zur unio mystica mit Gott.“

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und „demütig“ sein (humilitas, humilis) sowie „leiden“ (pati) sind dementsprechend die häufigsten Begriffe in ‚De imitatione Christi‘ und zeigen, dass Jesus in seinem irdischen Leben vor allem in seinem Leiden wahrgenommen wird.13 Christus pati voluit et despici, et tu audes de aliquo conqueri? Christus wollte leiden und geschmäht werden, und du wagst dich zu beklagen? (II, 1, 24) Qui melius scit pati, maiorem tenebit pacem. Iste est victor sui et dominus mundi, amicus Christi et heres caeli. Wer am besten zu leiden vermag, hat den tieferen Frieden. Der ist Sieger über sich und Beherrscher der Welt, ein Freund Christi und Erbe des Himmels. (II, 3, 19) Tota vita Christi crux fuit et martyrium [...]. Erras, erras, si aliquid quaeris, quam pati tribulationes. Das ganze Leben Jesu war Kreuz und Martyrium [...]. Du irrst, Freund, du irrst, wenn du anderes suchst, als das Leid zu ertragen. (II, 12, 29–30) Et si eligendum tibi esset, magis optare deberes pro Christo adversa pati, quam multis consolationibus recreari: quia Christo similior esses, et omnibus Sanctis magis conformior. Wenn dir die Wahl bliebe, solltest du eher wünschen, Drangsale für Christus zu leiden, als süße Tröstungen zu erfahren. Du würdest Christus und allen Heiligen gleichförmig. (II, 12, 58)

Um diesen Leidensweg nachzuahmen, muss der Gläubige täglich sein Kreuz auf sich nehmen, im Kampf gegen seine Begierden, in Demut und Gehorsam und im Rückzug aus der Welt. Nur die Kreuzesnachfolge führt zu einem christus-gemäßen inneren geistlichen Leben. Trotz der nur groben Skizze ist erkennbar, dass das inhaltliche Konzept von Christus-Nachahmung nicht neu ist. Die Schrift ‚De imitatione Christi‘ erhebt diesen Anspruch auch nicht, sondern hier werden, ausgehend von zahlreichen Bibelzitaten und -verweisen, traditionelle Elemente einer verinnerlichten, christuszentrierten Nachfolge rezipiert und kompiliert. Das Nachahmen ist nicht nur der Inhalt der Schrift, sondern wird auch methodisch durch ‚Nachahmen‘, respektive durch das Zusammenstellen der Tradition, vermittelt. Der Schaffensakt liegt in der inhaltlichen Selektion des Textmaterials und in dessen Darbietung. Beides führt dazu, dass die zunächst im Mönchtum zu verortende Imitatio-Frömmigkeit einem breiteren Leserkreis eröffnet wird.

|| 13 Vgl. zur Entwicklung und Bedeutung der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit Ulrich KÖPF, Die Passion Christi in der lateinischen religiösen und theologischen Literatur des Spätmittelalters, in: Walter HAUG u. Burghart WACHINGER (Hgg.), Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters (Fortuna vitrea 12), Tübingen 1993, S. 21–41, hier S. 39 f.

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1.1 Rezeption der Tradition Die Auswahl und Aufnahme christlicher Frömmigkeitstraditionen in ‚De imitatione Christi‘ ist in der Forschung bereits vielfach untersucht worden. Unzählige direkte Bibelzitate oder paraphrasierte Bibelworte, dazu Zitate von ausgewählten Kirchenvätern der Alten Kirche, vor allem von Augustinus, aber auch von Anselm von Canterbury, Bernhard von Clairvaux, Hugo und Richard von St. Victor, Ludolf von Sachsen u. a. sind in der Schrift aufgenommen.14 Giles CONSTABLE betont zu Recht die Traditionsgebundenheit der Schrift: The most influential exposition of this ideal was the treatise entitled ‚The imitation of Christ‘, which summed up and handed on to later generations much of the spiritual teaching of the twelfth and early thirteenth centuries. Indeed, aside from a single reference to St Francis and two possible quotations from Henry Suso and John of Schoonhoven, this work contains no word that could not have been written about 1200.15

Dabei werden bewusst Aussagen und Autoren v. a. aus dem monastischen Kontext zusammengestellt. Sie vermitteln eine Frömmigkeitsform, die das innerliche geistliche Leben in einer Haltung der Demut mit der Zurückgezogenheit aus der Welt verbindet und daher ihren Ort ursprünglich in der vita contemplativa im Kloster hatte. Auch ‚De imitatione Christi‘ ist zunächst an Mönche bzw. Religiosen adressiert, die bereits in Weltabgeschiedenheit leben,16 und hatte einen ersten Sitz im Leben möglicherweise im Novizen-Unterricht, vielleicht im Kloster der AugustinerChorherren auf dem Agnetenberg bei Zwolle, wo Thomas von Kempen wirkte. Thomas’ Konvent gehörte der Bewegung der Devotio moderna an, einer von Geert Groote (1340–1384) in den Niederlanden begründeten Frömmigkeitsbewegung, die sowohl von den Klöstern der Regularkanoniker als auch den Brüder- und Schwesternhäusern als Formen semireligiosen Lebens getragen wurde. Unter dem

|| 14 Vgl. CONSTABLE (Anm. 2), S. 240. Zu den Schriftzitaten zusammenfassend Kenneth Michael BECKER, Aspects of the ‚Imitatio‘ / Scripture interface, in: BODEMANN u. STAUBACH (Hgg.) (Anm. 3), S. 124–138. Zur Kirchenväter-Rezeption vgl. Nikolaus STAUBACH, Reform aus der Tradition. Die Bedeutung der Kirchenväter für die Devotio moderna, in: Hagen KELLER, Christel MEIER u. Thomas SCHARFF (Hgg.), Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern (Akten des Internationalen Kolloquiums 8.–10. Juni 1995), München 1999, S. 171–201. Zur Aufnahme antiker, nicht-christlicher Autoren: Martin REIß, Die Zitate antiker Autoren in der Imitatio des Thomas von Kempen, in: STADT KEMPEN (Hg.), Thomas von Kempen. Beiträge zum 500. Todesjahr. 1471–1971, Kempen 1971, S. 63–77. 15 CONSTABLE (Anm. 2), S. 239. 16 Vgl. De imitatione Christi I, 17 zur vita monastica, vgl. I, 20, 17 (coenobita aut devota eremita); I, 20, 31 (homo religiosus); I, 21, 14 (devotus religiosus); I, 22, 35 (tamquam boni novitii); I, 25, 27 (religiosus) und öfter in den folgenden Buchteilen.

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Leitgedanken der „Reform aus der Tradition“,17 so Nikolaus STAUBACH, nahm die Devotio moderna bewusst die monastische Tradition der vita contemplativa auf. Auch ‚De imitatione Christi‘ bleibt damit dem monastischen Paradigma mittelalterlicher Frömmigkeit verhaftet, aber das inhaltliche Konzept einer individuellen Frömmigkeit weist bereits über diesen Adressatenkreis hinaus, wie auch die Devotio moderna nicht nur von Ordensangehörigen, sondern auch den semireligiosen Brüdern und Schwestern vom gemeinsamen Leben getragen wurde.

1.2 Öffnung für einen neuen Adressatenkreis Diese Rezeption und Kompilation traditioneller Elemente einer monastischen Frömmigkeit war offensichtlich anschlussfähig für Semireligiosen und auch für fromme Laien. Obwohl die ersten Adressaten im Kloster lebende Religiosen waren, fand ‚De imitatione Christi‘ rasch eine Leserschaft außerhalb des Religiosentums. Wenn die Schrift aber die als vollkommen geltende Nachfolge eines koinobitischen, kontemplativen Lebens vorstellte, bedurfte es starker inhaltlicher Akzente und ggf. einer selektiven Lektüre, um dieses Ideal an Leser außerhalb des Klosters zu vermitteln. Gerade die Konzentration auf Christus allein und seine Beziehung zum einzelnen Gläubigen eröffnete ein Leben in der Imitatio Christi, das unabhängig von einem äußeren gemeinschaftlichen oder monastischen Kontext war. So lässt die Schrift auch, abgesehen von den erwähnten Hinweisen auf die vita monastica, keinen unmittelbaren historischen Kontext einer bestimmten Ordensregel, eines Klosters oder fester Tagesabläufe erkennen. Nur der geforderte Gehorsam gegenüber einem Oberen (praelatus) setzt zunächst ein koinobitisches Leben voraus,18 ist aber nicht zwingend an dieses gebunden, sondern könnte sich auch auf das Verhältnis von geistlichem Begleiter oder Beichtvater zum einzelnen Gläubigen beziehen. Darüber hinaus spricht die Schrift durchweg den Einzelnen an; er soll durch die Betrachtung von Leben und Leiden Christi individuell Christus erfahren. Zu dieser Erfahrungsfrömmigkeit tritt, wenn auch weniger prominent, eine ethisch-moralisch betonte Nachfolge. Jesus ist nicht nur in seinem Leiden, sondern auch in seinem Leben Vorbild (exemplum), z. B. im Kampf gegen Leidenschaften und Begierden und in seinem Gehorsam gegenüber dem Vater. In der Betonung der individuellen, inneren Beziehung zwischen Christus und der gläubigen Seele treten nicht nur die Mitmenschen oder auch die nur selten erwähnten Heiligen zurück;19 auch die Heilsmittlerschaft der Kirche findet in den || 17 STAUBACH (Anm. 14), S. 171. 18 Vgl. De imitatione Christi I, 9, 1–4 u. 11. 19 Die Heiligen werden gelegentlich als Vorbilder genannt, vgl. De imitatione Christi I, 11, 4: Quare quidam Sanctorum tam perfecti et contemplativi fuerunt? Vgl. I, 18: De exemplis sanctorum Patrum u. a.

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ersten drei Büchern keine Erwähnung. Allerdings zeigt das vierte Buch mit einer Anleitung zur Eucharistie-Vorbereitung, dass das geistliche Leben seinen Raum innerhalb der kirchlichen Vollzüge und der christlichen Gemeinschaft behält, möglicherweise sogar in der Eucharistie ihren Höhepunkt findet. ‚De imitatione Christi‘ führt damit inhaltlich ein Ideal von Imitatio Christi vor Augen, das in der monastischen Tradition wurzelt und zu einer verinnerlichten, kontemplativen Frömmigkeit anleitet, aber zugleich offen ist im Blick auf die Realisierung durch Nicht-Religiosen. Diese Offenheit entsteht inhaltlich durch die Konzentration auf Christus und den Glaubenden und wird andererseits durch die offene Form der Schrift unterstützt.

2 ‚De imitatione Christi‘ – eine offene Form ‚De imitatione Christi‘ ist nicht nur in vier Bücher unterschiedlicher Länge mit 12 bis 59 Kapiteln gegliedert, sondern die Kapitel bestehen wiederum aus kurzen, nummerierten Absätzen, die oft nur einzelne Sätze umfassen. Für diese formale Gestaltung finden sich in der modernen Forschung Bezeichnungen wie „eine Sammlung geistlicher Anweisungen“,20 Florilegien, Exzerpte oder Kompilation. Zur didaktischen Gliederung tritt eine Vielfalt an literarischen Darstellungsformen von weisheitlich anmutenden Sprüchen21 und konkreten Aufforderungen an den Leser über Gebetspassagen und einzelne Beispielerzählungen bis zur Dialogform der Bücher 3 und 4. Der Text ist damit „nicht in sich geschlossen und inhaltlich klar strukturiert“,22 sondern unter dem Leitgedanken der Imitatio und dem Thema des einzelnen Buches werden kurze Sinnabschnitte zusammengestellt. Angesichts der Entstehung von ‚De imitatione Christi‘ in den Kreisen der Devotio moderna scheint die dort übliche Rapiariumspraxis zum Darstellungsprinzip gewählt zu sein.

2.1 Das Rapiarium als literarisches Modell Für das inhaltliche Anliegen, in die Imitatio Christi einzuführen, bot sich offensichtlich das Rapiarium als Modell an, was zugleich auf die Lektürepraxis der Devotio

|| 20 KÖPF (Anm. 3), S. 481. 21 Dagegen betont Gerhard RUHBACH, Thomas von Kempen, in: Christian MÖLLER (Hg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 1, Göttingen, Zürich 1994, S. 341–352, hier S. 345, den pastoralen Charakter: „Selbst wenn manche Äußerungen – zumal wegen ihrer Kürze – weisheitlichen Charakter zu haben scheinen, Thomas hat sie nicht sapiential, sondern pastoral gemeint.“ RUHBACH vergleicht sie daher mit den Apophthegmata der Wüstenväter. 22 KÖPF (Anm. 3), S. 480.

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moderna verweist.23 Hier wurde Erbauungsliteratur gelesen, abgeschrieben und zur persönlichen Aneignung exzerpiert. Die Lektüre war bewusst beschränkt auf das, was der correctio morum diente,24 und zielte ausschließlich auf die „Bekehrung zu einer dem apostolischen Lebensideal entsprechenden forma vivendi“.25 Der Einzelne sollte sich die so selektierte und funktional reduzierte Lektüre „durch Exzerption in privaten Florilegien (Rapiarien) oder Gedächtnisnotizen sowie wiederholte Meditation“ intensiv aneignen.26 Aus dieser Praxis der Aneignung geht auch die Schrift ‚De imitatione Christi‘ hervor, die selbst kein Rapiarium ist, aber die Rapiariumspraxis zum Form- und Darstellungsprinzip wählt. Daß gerade diese planlose und individuelle Rapiariumspraxis mit ihrer lockeren Assoziation einzelner puncta auch bewußt zum literarischen Darstellungsprinzip gemacht werden konnte, zeigen die Mosaiktraktate des Thomas von Kempen, am eindrucksvollsten seine ‚Imitatio Christi‘.27

Die Gliederung in kleine Sinnabschnitte hat nicht nur didaktische Funktion, z. B. für den Unterricht der Novizen, sondern fördert wie ein persönliches Exzerpt die individuelle Aneignung des Inhalts. Zur Meditation der vita Christi fordert die Schrift eingangs programmatisch auf: Summum igitur studium nostrum sit, in vita Jesu

|| 23 Unter Rapiarium (von lat. rapere) wird hier eine Zusammenstellung von geistlichen Anweisungen und Zitaten für die individuelle Glaubenspraxis verstanden, wie sie typisch für die Devotio moderna war. Vgl. Nikolaus STAUBACH, Von der persönlichen Erfahrung zur Gemeinschaftsliteratur. Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen geistlicher Reformtexte im Spätmittelalter, in: Ons Geestelijk Erf 68 (1994), S. 200–227, hier S. 223: „Eine durch puncta, kurze Sinneinheiten konstituierte, man möchte sagen ‚pointilistische‘ Textstruktur, das Fehlen einer übergreifenden Disposition, Wechsel der grammatischen Person in einer zwischen Selbstgespräch und Dialog oszillierenden Rollenverteilung sowie die rasche Abfolge verschiedener Aussageformen wie Erzählung, Ermahnung, Meditation und Gebet sind Kennzeichen eines literarischen Werktyps, der deutlich auf die devote Lese- und Verarbeitungstechnik mit ihrem alternierenden Übungsprogramm verweist, ohne ursächlich von ihr abhängig zu sein.“ So auch DERS., Text als Prozeß. Zur Pragmatik des Schreibens und Lesens in der Devotio moderna, in: Christel MEIER u. a. (Hgg.), Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur. Akten des Internationalen Kolloquiums 26.–29. Mai 1999, München 2002, S. 251–276, hier S. 274. 24 Mit STAUBACH (Anm. 14), S. 175. 25 STAUBACH (Anm. 14), S. 176. 26 STAUBACH (Anm. 14), S. 180. Vgl. Nikolaus STAUBACH, Diversa raptim undique collecta: Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna, in: Kaspar ELM (Hg.), Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen (Wolfenbütteler MittelalterStudien 15), Wiesbaden 2000, S. 115–147, hier S. 123: „Auch wenn die Devoten wohl nicht länger als die Urheber des Rapiariums gelten können, soll ihnen doch das Verdienst, aus einer profanen Aufzeichnungstechnik des Schul- und Universitätsgebrauchs eine geistliche Übung entwickelt zu haben, keineswegs bestritten werden.“ 27 STAUBACH (Anm. 14), S. 186.

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Christi meditari (I,1,3). Die Meditation der einzelnen Sinnabschnitte führt den Leser in die eigene Nachahmung Christi. War im Kloster die Meditation der Heiligen Schrift ein fester Bestandteil des geistlichen Lebens, so werden hier die bereits pointiert zusammengestellten Aussagen zur Imitatio Christi zum Gegenstand der Meditation.28 Angelehnt an die devote Rapiariumspraxis unterstützt die Form den Inhalt und den Vollzug des Meditierens und damit Einübens. In der Zusammenstellung von Anweisungen, Bibelzitaten, Gebeten und Dialogen bietet ‚De imitatione Christi‘ zugleich einen tendenziell offenen Text, der noch durch persönliche Notizen ergänzt und abgeschrieben werden sollte.29

2.2 Übersetzung in Volkssprache Für die rasche und weite Rezeption der Schrift sorgten auch die frühen Übersetzungen und Übertragungen aus dem Lateinischen in die Volkssprachen. Die lateinische Fassung ist in Form, Sprache und Stil sorgfältig gestaltet, „vornehmlich mit dem Kunstmittel des durch Endreim noch betonten Satzparallelismus, die dem ganzen Werk seine unverwechselbar-einheitliche Prägung gibt.“30 Im Zuge der Übersetzung – ins Deutsche bereits ab 1434 – scheint es zu einer sprachlich-stilistischen Vereinfachung zu kommen.31 Die grundlegende Form der kurzen Sinnabschnitte wird in den volkssprachlichen Übersetzungen gewahrt, ebenso das Prinzip der Repetition, aber die bewusste stilistische Gestaltung scheint zurückzutreten gegenüber auf den Inhalt konzentrierten Textfassungen. Nach der Provenienz der Handschriften kamen die ersten Leser und Leserinnen der volkssprachlichen Ausgaben noch aus monastischen Reformkonventen und Devotenhäusern.32 Getragen wurde die frühe || 28 Vgl. STAUBACH (Anm. 14), S. 193: „Nachahmung der in der Vita Jesu und den Vitae patrum vorliegenden Lebensmodelle führt zur Vollkommenheit; der [Heiligen; erg. U.T.] Schrift bedarf es nur insoweit, als sie Exempla und Regeln für die Tugend überliefert. Da die Bibel weithin dunkel und schwierig ist, eignet sie sich nur in Teilen zur devoten Lektüre und muß stets im Licht der Väterkommentare aufgefaßt und verstanden werden.“ 29 Dafür spricht die bis ins 17. Jahrhundert nachzuweisende Abschreibtradition, die „zeigt, daß die schreibende Aneignung weiterhin zur asketischen Praxis gehörte“, so Monika COSTARD, Die ‚Imitatio Christi‘ im Kontext spätmittelalterlicher Laienlektüre im Mutterland der Devotio Moderna, in: BODEMANN u. STAUBACH (Anm. 3), S. 36–64, hier S. 50. 30 STAUBACH (Anm. 23), S. 208 f. 31 Diese These wird mit aller Vorsicht aufgestellt und bedarf noch einer vertieften Überprüfung der (gesamten) frühen volkssprachlichen Handschriften, die für den vorliegenden Beitrag nicht geleistet werden konnte. 32 Vgl. zur frühen Rezeption auch Uwe NEDDERMEYER, ‚Radix Studii et Speculum Vitae‘. Verbreitung und Rezeption der ‚Imitatio Christi‘ in Handschriften und Drucken bis zur Reformation, in: Johannes HELMRATH u. Heribert MÜLLER (Hgg.), Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, Bd. 1, München 1994, S. 457–481, hier S. 465. Zur süddeutschen Rezeption in den Klöstern der Melker Reform mit dem Ziel des Aufbaus einer Laienbrüderbibliothek vgl. Werner WILLIAMS-KRAPP,

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volkssprachliche Rezeption aber „von einer neuen Leserschicht: den gebildeten Laien aus einem entwickelten städtischen Milieu“.33 Die frühen Übersetzungen bezeugen einen Prozess kreativer Aneignung der Schrift darin, dass häufig nur einzelne der vier Bücher ‚De imitatione Christi‘ übersetzt und verbreitet wurden, auch als Teil von geistlichen Sammelhandschriften.34 Der Inhalt, die Anleitung zur Imitatio, und die grundlegende formale Gestaltung nach dem Vorbild eines Rapiariums wurden beibehalten, aber in Sprache und Stil für einen neuen Leserkreis adaptiert. Damit war das inhaltliche und formale Konzept der Schrift offensichtlich zugleich so wichtig und überzeitlich gültig wie offen genug, dass es in andere Kontexte transferiert werden konnte. Inhaltlich vermittelt ‚De imitatione Christi‘ eine christuszentrierte, verinnerlichte Frömmigkeit, wie sie zwar charakteristisch für das kontemplative Mönchtum war, die aber als eine (nicht dominante) Form christlicher Frömmigkeit stets existiert. Die Darstellungsform ist ebenfalls nicht zeitgebunden und für unterschiedliche Adressaten zugänglich.35 Die Offenheit für neue Leserkreise jenseits des Religiosentums einerseits und die formal offene Anlage der Schrift andererseits führte seit der Entstehungszeit in den 1420er Jahren zur einer breiten, intensiven und langanhaltenden Rezeption, was abschließend ein exemplarischer Blick auf den Transfer des Imitatio-Konzepts in den Protestantismus des 17. Jahrhunderts zeigen soll.

|| Die süddeutschen Übersetzungen der ‚Imitatio Christi‘. Zur Rezeption der Devotio moderna im oberlant, in: BODEMANN u. STAUBACH (Anm. 3), S. 65–79. 33 COSTARD (Anm. 29), S. 36. Laie ist hier nach COSTARD nicht primär kirchenrechtlich, sondern als Bildungsbegriff zu verstehen für den i. d. R. der lateinischen Lektüre nicht fähigen Christen. 34 Für den Nordwesten zeigt dies die Handschriftenliste von COSTARD (Anm. 29), S. 55–63, für den süddeutschen Raum WILLIAMS-KRAPP (Anm. 32), S. 75–79, sowie Erika BAUER, Die oberdeutsche Überlieferung der Imitatio Christi, in: James HOGG (Hg.), Spätmittelalterliche geistliche Literatur in der Nationalsprache, Bd. 1 (Analecta Cartusiana 106), Salzburg 1983, S. 111–135. 35 Ähnlich COSTARD (Anm. 29), S. 53 f., die nicht von einem offenen Konzept spricht, aber für den frühen Übergang vom monastischen ins laikale Umfeld begünstigende „Interessen und Konstellationen“ erkennt: die Zugehörigkeit von ‚De imitatione Christi‘ zu den geistlichen Einführungstexten, die „Unterweisungsfunktion“ der Schrift, die „eingeübte Rezeption in geistlichen Konventen“, die „lockere inhaltliche Fügung“, die „Eignung des Textes für die Privatlektüre und seine inhaltliche Anpassung an zahlreiche Nachbartexte“ und „vor allem das Subjektive, Phantasievolle und Sensible“.

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3 Ein Beispiel aus der Rezeptionsgeschichte: ‚De imitatione Christi‘ im Pietismus des 17. Jahrhunderts Zwischen Entstehung sowie erster Verbreitung der Schrift ab 1425 und ihrer Rezeption im 17. Jahrhundert liegen rund 250 Jahre, in denen die religiöse Einheit der lateinischen Christenheit zerbrach und sich auch die Frömmigkeit konfessionell unterschiedlich entwickelte.36 So löste die Reformation des 16. Jahrhunderts das monastische Frömmigkeitsideal zugunsten einer protestantischen Alltags- und Laienspiritualität ab, in der jeder Christ die biblischen Schriften in der Predigt hören und auch selbst lesen sollte.37 Entsprechend war den Reformatoren wie Martin Luther oder Johannes Calvin ‚De imitatione Christi‘ zwar bekannt, ihre Leseempfehlung galt jedoch zuerst der Heiligen Schrift. Im Kontext der europäischen Frömmigkeitsbewegungen des 16. und 17. Jahrhunderts war es im deutschsprachigen Protestantismus der Pietismus, der ‚De imitatione Christi‘ neu für sich entdeckte als eine Bereicherung reformatorischer Frömmigkeit.38 Die Christozentrik und Hinführung zu einer individuellen inneren Erfahrung Gottes waren überkonfessionell ansprechend. ‚De imitatione Christi‘ enthielt „genau das, wessen die fromme christliche Leserschaft beider Konfessionen zu ihrer Erbauung und zu ihrem Seelenheil bedurfte: die persönliche Christus-Liebe und -nachfolge, die Meditation über Leben, Leiden und Sterben des Herrn, die Gewissenserforschung, die Weltverachtung, die Ablehnung theologischphilosophischer Gelehrsamkeit, die ‚pietistische‘ Ausrichtung als solche mit ihrem

|| 36 Zur Entwicklung christlicher Frömmigkeit ab dem 16. Jahrhundert vgl. Philip SHELDRAKE, Spirituality. A Brief History, 2. Aufl. Chichester (UK) 2013, bes. S. 110–144. Zur protestantischen Frömmigkeit vgl. Lucian HÖLSCHER, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, bes. S. 17–87; Peter ZIMMERLING, Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge, Göttingen 2003; DERS. (Hg.), Handbuch Evangelische Spiritualität. Bd. 1: Geschichte, Göttingen 2017. 37 Vgl. Volker LEPPIN, Martin Luthers (1483–1546) Spiritualität, in: ZIMMERLING (Hg.), Handbuch (Anm. 36), S. 81–97, hier S. 91: „Für Luther ist es die Christus treibende, Glauben weckende Kraft des Wortes, die die Schrift im Kern ausmacht. Auf die so verstandene Schrift aber soll sich das ganze Glaubensleben, ja, das Leben überhaupt konzentrieren“. 38 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Ulrike BODEMANN-KORNHAAS, „ein grosser, edler, thewrer schatz ligt inn disem kleinen buechlin begraben“. Die einzigartige Verbreitungsgeschichte der ‚Nachfolge Christi‘ des Thomas von Kempen, Kempen 2006. Zu den Übersetzungen vgl. Maximilian VON HABSBURG, Catholic and Protestant Translations of the ‚Imitatio Christi‘, 1425–1650. From Late Medieval Classic to Early Modern Bestseller (St. Andrews Studies in Reformation History), Farnham (GB) 2011, zu den protestantischen Übersetzungen: S. 107–177. Spezifisch zu den englischen Übersetzungen des 16.–17. Jahrhunderts vgl. die jüngst erschienene Studie von Florian KUBSCH, Crossing Boundaries in Early Modern England. Translations of Thomas à Kempis’s ‚De imitatione Christi‘ (1500–1700) (Religion und Literatur 6), Wien, Zürich 2018.

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nicht als Widerspruch empfundenen Sündenbewußtsein und ihrer Erwählungsgewißheit.“39 Die Form der Schrift bot darüber hinaus eine gewisse Interpretationsfreiheit. So lasen, empfahlen und edierten protestantische Theologen im 17. Jahrhundert die Schrift ‚De imitatione Christi‘ nicht mehr als das (einzige) Frömmigkeitsideal, sondern zur Pflege und Vertiefung der individuellen Christusbeziehung. Der lutherische Theologe und Pfarrer Johann Arndt (1555–1621) gab im Herbst 1605 unter dem Titel ‚Zwey uhralte und edle Büchlein‘ die ‚Theologia deutsch‘ und die ‚Nachfolgung Christi‘ – ohne das vierte Buch – heraus.40 Aus beiden Büchern sowie Exzerpten aus Johannes Tauler kompilierte er sein Hauptwerk, die ‚Vier Bücher Von wahrem Christenthumb‘ (1610), dessen erster Band bereits im Frühjahr 1605 erschienen war.41 Die ‚Vier Bücher‘ wurden mit rund 123 Auflagen bis 1740 rasch zu einem Klassiker protestantischer Erbauungsliteratur. Arndt rezipierte darin nicht nur intensiv die Schrift ‚De imitatione Christi‘,42 sondern empfahl auch deren Lektüre, da er sie zu den „ex spiritu“ geschriebenen Werken zählte.43 Die vorreformatorischen Schriften griff er auf, um zu zeigen, was christliche Frömmigkeit, mithin „wahres Christentum“, sei.44 || 39 Kurt RUH, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 4: Die niederländische Mystik des 14. bis 16. Jahrhunderts, München 1999, S. 186–194, hier S. 194. Ähnlich CONSTABLE (Anm. 2), S. 241 f.: „This combination of external pessimism and internal optimism, of rejection of the world and visible things with interior virtue and purity, all in the name of Christ, had a traditional quality which doubtless contributed to the popularity of the Imitation among Protestants as well as Catholics.“ 40 Johann Arndt, Zwey uhralte und edle Büchlein, Magdeburg 1605. 41 Johann Arndt, Von wahrem Christenthumb heilsamer Busse, wahrem Glauben, heyligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen. Das erste Buch, Frankfurt a. M. 1605. Ab 1695 erschienen die ‚Vier Bücher‘, das ‚Paradiesgärtlein‘ und weitere Schriften unter dem Titel ‚Sechs Bücher vom wahren Christentum‘. 42 Vgl. Edmund WEBER, Johann Arndts ‚Vier Bücher vom wahren Christentum‘ als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung (Schriften des Instituts für wissenschaftliche Irenik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. Main), Marburg 1969, bes. S. 42–49. Ergänzend Hans SCHNEIDER, Johann Arndts ‚Vier Bücher vom wahren Christentum‘. Offene Fragen der Quellen- und Redaktionskritik, in: DERS. (Hg.), Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621) (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 48), Göttingen 2006, S. 197–215. 43 Brief von Johann Arndt an Johann Gerhard, 15. März 1603, jüngst abgedruckt in: Klaus VOM ORDE (Hg.), Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium (Edition Pietismustexte 8), Leipzig 2016, S. 7–13, hier S. 9. Vgl. dazu auch SCHNEIDER (Anm. 42), S. 222–225. 44 Vgl. Ferdinand VAN INGEN, Die Wiederaufnahme der Devotio Moderna bei Johann Arndt und Philipp von Zesen, in: Dieter BREUER u. a. (Hgg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Bd. 2 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), Wiesbaden 1995, S. 467–475, hier S. 468: „Die Imitatio-Lehre als sittliche Verpflichtung für ein Christenleben erreichte mit Johann Arndt ihre größte Breitenwirkung im lutherischen Protestantismus“. Vgl. Thomas ILLG, Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 44), Göttingen 2011.

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Auch der lutherische Theologe Philipp Jakob Spener (1635–1705) empfahl in seiner Reformschrift ‚Pia desideria‘ (1675), die zunächst als Vorrede zu Arndts ‚Postille‘ erschien, die Lektüre der ‚Theologia deutsch‘, von Taulers Schriften sowie „Thomae a Kempis Nachfolgung Christi“.45 Er formulierte damit eine Lektüre-Trias, die typisch für den Pietismus wurde. Die Tauler-Lektüre empfahl Spener nur mit gleichzeitigem Hinweis darauf, wie sehr Martin Luther diese bereits geschätzt habe; dagegen galt ‚De imitatione Christi‘ als inhaltlich unproblematisch und theologisch weitgehend unverdächtig. Gottfried Arnold (1666–1714) jedoch lässt in seiner ‚Unpartheyischen Kirchenund Ketzerhistorie‘ (1699) gewisse Vorbehalte erkennen: Ich will aber zufoerderst etlicher Theologen gedencken / an denen noch etwas gruendliches und guts gewesen [...]. Der bekanteste darunter ist wol Thomas von Kempen [...]. Ihm schreibet man nun insgemein [...] auch die bekannten buecher von der nachfolge CHristi zu / darueber aber unter den Papisten sonderlich ein grosser streit entstanden ist. [...] Inzwischen entschuldigen es dennoch viel bekante maenner aus allerhand partheyen wider die einwuerffe und ruehmen hingegen / wie auch billich ist / die gaben und den ausdruck / die Gott diesem manne / wo und wer er auch gewesen von dem wahren weg gegeben hat. Sie uebersehen auch gerne die schwachheiten / welche ihm noch aus dem Pabstthum anhangen. 46

Dennoch forderte auch Arnold zur Lektüre der Schrift auf, allerdings mit einem „geist der prueffung“,47 und gab 1712 selbst eine deutsche Ausgabe von ‚De imitatione Christi‘ heraus.48 Die Neuausgaben bzw. Übersetzungen im Pietismus zeigen die Möglichkeiten und Grenzen des Transfers der spätmittelalterlichen Schrift in einen zeitlich und konfessionell neuen Kontext. Wie Johann Arndt druckte auch der reformierte Theologe Gerhard Tersteegen (1697–1769) in seiner Neuausgabe (1730) von ‚De imitatione Christi‘ das vierte Buch nicht ab.49 Dessen Inhalt, die Vorbereitung auf die Eucharistie, war für den Herausgeber bzw. die protestantische Leserschaft

|| 45 Philipp Jakob Spener, Pia desideria Oder Hertzliches Verlangen Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen, Frankfurt a. M. 1675 (Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe, Bd. 1: Die Grundschriften, Teil 1, hrsg. v. Kurt ALAND u. Beate KÖSTER, Gießen 1996, S. 85–257, hier S. 236–238). 46 Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie von Anfang des Neuen Testaments biß auff das Jahr CHristi 1688, Frankfurt a. M. 1699, hier Bd. 1, Buch 15, Kap. 3, S. 410. 47 Ebd. 48 Gottfried Arnold, Thomas von Kempis Geistreiche Schrifften, So wol die vier Bücher von der Nachfolge Christi als dessen andere in 24 Büchern bestehende vortreffliche Betrachtungen, Leipzig 1712. 49 Gerhard Tersteegen, Thomae a Kempis Bücher von der Nachfolge Jesu Christi. Auffs neue, nach einer der allerältesten Handschrifften, treulich übersetzet, und an statt des vierten Buchs vermehret mit denen Göttlichen Hertzens-Gesprächen des gottseligen Gerlachs [Gerlach Peters, 1378–1411, erg. U.T.], insgemein genandt der andere Thomas a Kempis, Düsseldorf 1730.

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entweder irrelevant oder – vermutlich eher – theologisch anstößig. So konnte das Imitatio-Konzept einer verinnerlichten Frömmigkeit in Inhalt und Form zunächst leicht in einen historisch und theologisch anderen Kontext, z. B. den Pietismus, transferiert werden, bedurfte dann aber doch gewisser Auslassungen oder einer Kommentierung, z. B. durch ein apologetisches Vorwort des Herausgebers.50 Im Prozess der Neukontextualisierung wurde die Schrift modifiziert, wobei der Inhalt weitgehend, die Form fast immer beibehalten wurde.

4 ‚De imitatione Christi‘ – Tradition und Innovation Uwe NEDDERMEYER stellt in seiner Untersuchung der Verbreitung und Wirkung der ‚Imitatio Christi‘ abschließend fest: „Als wohl einziges mittelalterliches Werk hat sich nur die ‚Imitatio Christi‘ in der Neuzeit ihren ursprünglichen Benutzerkreis – auch außerhalb von Theologie und Wissenschaft – erhalten und sogar neue Leserschichten hinzugewinnen können.“51 Die Gewinnung neuer Leserschichten war nur möglich, weil die Schrift von vornherein so angelegt war, dass sie inhaltlich den breiten Strom der (monastischen) Tradition der Imitatio-Frömmigkeit aufnahm und kompilierte, zugleich aber in der gewählten Darstellungsform nach dem Vorbild eines Rapiariums selektierte und reduzierte. Inhalt und Form von ‚De imitatione Christi‘ bezeugen eine kreative Auseinandersetzung mit der Imitatio-Frömmigkeit, und in der Darstellungsform war die Schrift bereits zeitgenössisch offen für Leser innerhalb und außerhalb des Mönchtums. Die fortgesetzte Rezeption der Schrift über Konfessionsgrenzen hinweg ist Zeugnis sowohl für den überzeitlich gültigen Inhalt als auch den kreativen Prozess der Aneignung und Vermittlung dieser Frömmigkeitsform in einer „Wiederkehr des Gleichen“ in sprachlicher Variation.52

|| 50 Vgl. Nikolaus STAUBACH, Von der Nachfolge Christi und ihren Folgen, oder: Warum wurde Thomas von Kempen so berühmt?, in: Kempener Thomas-Vorträge, Kempen 2002, S. 85–104, hier S. 89: „Übersetzung, Umformung und Adaptation, Anpassung an den literarischen Zeitgeschmack und an die Vorstellungen und Gebräuche religiöser Gruppen und Zirkel – nur durch solche Modi der Veränderung war die universelle Gültigkeit und Akzeptanz der ‚Imitatio Christi‘ über Sprach-, Länder-, Epochen- und Konfessionsgrenzen hinweg zu gewährleisten.“ 51 Uwe NEDDERMEYER, Verfasser, Verbreitung und Wirkung der ‚Imitatio Christi‘ in Handschriften und Drucken vom 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Kempener Thomas-Vorträge (Anm. 50), S. 55–83, hier S. 79. 52 In Anlehnung an die von Nikolaus STAUBACH (Anm. 50), S. 104, geprägte Wendung: „Die Wiederkehr des Gleichen im Wechsel kann jedoch auch als Motto stehen für die gesamte Rezeptionsgeschichte jenes Buches und seine zahllosen Verwandlungen durch mehr als ein halbes Jahrtausend.“

Daniela Blum

Intercessio, nicht nur imitatio Konzepte der Nachahmung Christi in hagiographischen Texten des 13. Jahrhunderts Abstract: The Brabant lives presented here understand the imitation of Christ as a radical imitation of Christ’s Passion. This means, that also the soteriological punch line of Jesus’ death on the cross, his vicarious suffering for the salvation of others, is imitated. The protagonists complete their imitatio Christi by lovingly using their own bodies to help other persons to salvation. The religious logic to follow Jesus in his loving self-giving is consistently understood and presented as a biblical concept. Keywords: hagiography, imitatio Christi, representation, soteriology, late Middle Ages

1 Einleitung Ein am Kreuz hängender Christus. Aus dem Oberkörper, dem Kopf, den Beinen und den ausgestreckten Armen strömt Blut; es bildet einen dichten Vorhang aus gleichmäßig angeordneten Strichen. Am linken Rand kniet eine betende Frau; umgeben ist die Szene von Rosen, Nelken, Erdbeeren und Bienen. Diese Szene zeigt ein niederländischer Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert. Er stellt die Kreuzesvision der Birgitta von Schweden (1303–1373) dar. Sie hatte bereits als Kind Visionen. Im Alter von acht Jahren, so wird berichtet, erschien ihr erstmals der gekreuzigte Christus. Gegen ihren Willen wurde sie im jugendlichen Alter verheiratet, bekam Kinder und lebte am königlichen Hof in Schweden. Nach dem Tod ihres Mannes 1344 entschloss sie sich zu einem asketischen Leben, gründete eine Ordensgemeinschaft und war als Politikberaterin für den schwedischen Hof und die römischen Päpste tätig. Birgitta hatte viele Christusvisionen, die sie notierte und ins Lateinische übersetzen ließ; gerade die Geburts- und Kreuzesvisionen hatten großen Einfluss auf die Darstellung biblischer Perikopen in der spätmittelalterlichen Kunst.1 || 1 Vgl. dazu Hans AILI u. Jan SVANBERG, Imagines Sanctae Birgittae. The Earliest Illuminated Manuscripts and Panel Paintings Related to the Revelations of St. Birgitta of Sweden (2 Bde.), Stockholm 2003. || Daniela Blum, Diözesanmuseum Rottenburg, Karmeliterstraße 9, D-72108 Rottenburg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-024

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Am Beispiel des Bildes einer solchen Offenbarung, eben des niederländischen Holzschnitts aus dem 16. Jahrhundert, entfaltet der britische Kunsthistoriker Neil MACGREGOR in seinem Buch „Leben mit den Göttern“ ein fiktives Gespräch.2 MACGREGOR lässt zunächst die Religionshistorikerin Karen ARMSTRONG zu Wort kommen. Sie ordnet die Szene folgendermaßen ein: Diese Szene hier ist für mich so furchtbar, dass es eben gerade deshalb schwer ist, überhaupt Mitleid zu empfinden. Es wirkt so, als stünde Gott hinter dieser entsetzlichen Gewalt und Folter, als würde Gott sie irgendwie billigen, um die Welt zu retten. Das erscheint mir wie eine Perversion der christlichen Botschaft. […] Die westliche Kirche, in der das Kreuz dominiert, hat uns […] über Jahrhunderte hinweg mit schrecklicher, endloser Schuld beladen, so dass wir im Sumpf der eigenen großen Unzulänglichkeit feststecken.3

MACGREGOR hält dieser skeptischen Position die Bildinterpretation von Eamon DUFFY entgegen. DUFFY argumentiert vom linken Bildrand her, von der knienden Gestalt der Birgitta, und deutet das Bild als Ausdruck einer zunehmenden Vertiefung der Spiritualität: Im 13. und 14. Jahrhundert bildet sich in Europa eine neue Art von spiritueller Innerlichkeit heraus […]. Die Menschen interessieren sich mehr für das, was wir heute die menschliche Psyche nennen. […] Dieser Glaubensansatz erfasst auch die Welt der Laien, in der die Menschen innerhalb ihrer religiösen Erfahrungen eine größere Bandbreite an Emotionen erkunden. […] Birgitta ist sich darüber im Klaren, dass hier ein Mensch verblutet, aber darin sieht sie ein Bild für Gottes Liebe, die überströmt wie ein mächtiger Fluss oder ein gewaltiges Meer. […] Für sie offenbart sich in einem solchen Bild die Fülle der Liebe und Barmherzigkeit Gottes.4

MACGREGOR schließt sich der zweiten Position an und plädiert dafür, Kreuz, Folter und Blut vom Standpunkt der betenden Birgitta und damit womöglich der Mehrheit der mittelalterlichen Menschen her zu sehen und zu deuten als „Fest der Liebe und Gnade“5. Was geschieht am Kreuz? Und wie ist auf dieses Geschehen adäquat zu reagieren? Um die mittelalterliche Aktualisierung dieses Heilswissens geht es in diesem Beitrag. Ich diskutiere die Frage am Beispiel von hagiographischen Texten aus dem 13. Jahrhundert, die in Flandern und Brabant entstanden sind. Diese Texte bieten

|| 2 Neil MACGREGOR, Leben mit den Göttern, übers. v. Andreas WIRTHENSOHN u. Annabel ZETTEL, München 2018, S. 311–318. 3 Ebd., S. 313 f., mit Bezug auf Karen ARMSTRONG, Die Geschichte von Gott. 4000 Jahre Judentum, Christentum und Islam, übers. v. Doris KORNAV, Ursel SCHÄFER u. Renate WEITBRECHT, München 2012. 4 MACGREGOR (Anm. 2), S. 316 f., mit Bezug auf Eamon DUFFY, The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England, 1400–1580, New Haven u. a. 1992. 5 MACGREGOR (Anm. 2), S. 317. Vgl. auch Neil MACGREGOR u. Erika LANGMUIR, Seeing Salvation. Images of Christ in Art, New Haven u. a. 2000.

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sich an, weil sie in der Forschung noch relativ wenig bearbeitet wurden.6 Außerdem präsentieren sie höchst unterschiedliche Protagonistinnen und Protagonisten – Männer und Frauen, Ordensleute und Laien, Mönche und Reclusinnen, Beginen und Konversenbrüder. Ich lese die Viten als diskursive und theologische Texte, d. h. sie diskutieren die Möglichkeiten christlichen Lebens im 13. Jahrhundert und nehmen damit am theologischen, vor allem ethischen, soteriologischen und gnadentheologischen Diskurs ihrer Zeit teil. Dezidiert also werden die Viten hier nicht nur als biographische Texte, sondern als Quellen mit einer weitreichenderen, normativen Intention diskutiert. In der Forschung gibt es eine lange Tradition, die hagiographisch beschriebenen Praktiken mittelalterlicher Texte als Versuche einer intensiven Christusimitation zu lesen. Diese Arbeiten werden zunächst in einer kurzen Synthese vorgestellt (2.). Ich schlage vor, die hagiographisch beschriebenen Praktiken auch als Interzessionsversuche zu lesen, als diskursive Aktualisierung des Golgathageschehens nämlich (3.). Diese Interpretationslinie wird im Fazit mit den anfänglich präsentierten Überlegungen Neil MACGREGORs ins Gespräch gebracht (4.).

2 Imitatio: Leiden in der Nachfolge Christi Als Beispiele sollen drei Viten aus dem Brabant dienen, die Vita der Maria von Oignies (VMO),7 die Vita der Ida von Nivelles (VIN)8 und die Vita des Arnulf von Villers (VArnf).9

|| 6 Vgl. für eine kurze forschungsgeschichtliche Einordnung Anneke B. MULDER-BAKKER, Holy Lay Women and their Biographers in the Thirteenth Century, in: Living Saints of the Thirteenth Century. The Lives of Yvette, anchoress of Huy; Juliana of Cornillon, author of the Corpus Christi Feast; and Margaret the Lame, anchoress of Magdeburg, hrsg. v. Anneke B. MULDER-BAKKER (Medieval Women. Texts and Contexts 20), Turnhout 2011, S. 1–42; Martinus CAWLEY, Introduction to the Lives, in: Send me God. The Lives of Ida the Compassionate of Nivelles, Nun of La Ramée, Arnulf, Lay Brother of Villers, and Abundus, Monk of Villers, by Goswin of Bossut, hrsg. v. Martinus CAWLEY (Medieval Women. Texts and Contexts 6), Turnhout 2003, S. 1–26. 7 Vgl. Jakob von Vitry, Das Leben der Maria von Oignies, in: Jakob von Vitry, Das Leben der Maria von Oignies / Thomas von Cantimpré, Supplementum, hrsg. v. Iris GEYER (Corpus Christianorum in Translation 18), Turnhout 2014, S. 63–171. Die hier verwendete deutsche Übersetzung folgt diesem Band, die lateinische entstammt aus: Iacobus de Vitriaco, Vita Marie de Oegnies, hrsg. v. Robert B. C. HUYGENS (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 252), Turnhout 2012. Die ‚Vita Mariae Oigniacensis‘ (1215) bildet die „erste spirituelle Biographie des Mittelalters einer Frau und […] Prototyp für spätere Darstellungen von hochmittelalterlicher neuer Heiligkeit“; Iris GEYER, Einleitung, in: Jakob von Vitry, Das Leben der Maria von Oignies / Thomas von Cantimpré, Supplementum, hrsg. v. Iris GEYER (Corpus Christianorum in Translation 18), Turnhout 2014, S. 9–53, hier S. 15. 8 Vgl. Goswin von Bossut, The Life of Ida the Compassionate of Nivelles, in: Send me God. The Lives of Ida the Compassionate of Nivelles, Nun of La Ramée, Arnulf, Lay Brother of Villers, and

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Wer waren die historischen Personen, deren Leben nach ihrem Tod hagiographisch erfasst wurde? Maria von Oignies (1177–1213) wird in der Forschung den unabhängig lebenden semireligiosae bzw. mulieres religiosae zugeordnet und als erste Begine bezeichnet. Sie stammte aus Nivelles und war als junge Frau verheiratet worden. Zusammen mit ihrem Mann entschied sie sich für ein keusches Leben und pflegte mit ihm die Aussätzigen im Leprosenhaus in Willenbroek. Später zog sie sich – wohl mit der Zustimmung ihres Mannes – nach Oignies im heutigen Belgien und in den Umkreis der dortigen Augustinerchorherren zurück, wo sie einen Kreis gleichgesinnter Frauen und anderer Asketen um sich sammelte.10 Ida von Nivelles (1190–1231) floh im jugendlichen Alter vor einer arrangierten Ehe von zu Hause, lebte zunächst im Beginenhof von Nivelles und trat mit 16 Jahren in das Zisterzienserkloster Kerkom ein, mit dem sie später nach La Ramée umzog. Dort wurde sie aufgrund ihrer bilingualen Fähigkeiten – sie sprach Frühformen des Niederländischen und des Französischen – auch in Verwaltungsabläufe einbezogen und arbeitete als Katechetin. Sie starb mit 32 Jahren, wohl an der Tuberkuloseerkrankung, an der sie über Jahre gelitten hatte. Der Laienbruder Arnulf (1200–1248) schließlich arbeitete als Bote und Kutscher zwischen seiner Zisterzienserabtei Villers und den klostereigenen Grangien, den landwirtschaftlichen Höfen des Klosters.11 Die Viten, die über diese Personen verfasst wurden, stellen eine doppelte Transformation religiösen Wissens dar. Sie beziehen sich auf konkrete, historische Personen, die sich der praktischen Nachfolge Christi verschrieben und ihr Leben als Adaption des in den Evangelien beschriebenen Lebens Christi verstanden. Sie führten jedenfalls ein solch eindrückliches religiöses Leben, dass nach ihrem Tod eine Vita geschrieben bzw. in Auftrag gegeben wurde. Die Autoren wiederum konstruierten aus den Informationen, die sie über die Personen aus eigener Anschauung oder aus Erzählungen hatten, hagiographische Texte.12 Diese Texte brachten die Biogra-

|| Abundus, Monk of Villers, hrsg. v. Martinus CAWLEY (Medieval Women. Texts and Contexts 6), Turnhout 2003, S. 29–120. Die hier verwendete lateinische Fassung der Vita ist entnommen aus: Goswin de Bossut, Vita Idae Nivellensis, in: Chrysostomos Henriquez, Quinque prudentes virgines, Antwerpen 1630, S. 199–297; die deutschen Übersetzungen stammen von der Verfasserin. 9 Vgl. Goswin von Bossut, The Life of Arnulf. Lay Brother of Villers, in: Send me God. The Lives of Ida the Compassionate of Nivelles, Nun of La Ramée, Arnulf, Lay Brother of Villers, and Abundus, Monk of Villers, hrsg. v. Martinus CAWLEY (Medieval Women. Texts and Contexts 6), Turnhout 2003, S. 125–206. Die hier verwendete lateinische Fassung der Vita ist entnommen aus: Goswin de Bossut, Vita Arnulfi, in: Acta Sanctorum, Juni 7, hrsg. v. Daniel PAPEBROECK, Paris 1867, S. 558–589; die deutschen Übersetzungen stammen von der Verfasserin. 10 Zur Person Marias von Oignies vgl. GEYER (Anm. 7), S. 24–46. 11 Zur Person Idas von Nivelles und Arnulfs von Villers vgl. CAWLEY (Anm. 6), S. 8–18. 12 Selbstverständlich ist die hier eingezogene Unterscheidung zwischen den historischen Personen und dem hagiographischen Bericht künstlich, da gerade die hagiographischen Berichte biographische Informationen liefern. Die Unterscheidung dient dazu, die mehrfache Transformation biblischen Wissens herauszustellen. Iris GEYER trifft diese Unterscheidung in der ‚Vita Mariae

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phien durch permanente biblische Anspielungen ins Gespräch mit den Texten des Alten und Neuen Testaments und stellten sie als eine Aktualisierung eines Lebens nach dem Evangelium dar. Die Autoren, die die Biographien von Maria, Ida und Arnulf als Aktualisierung biblischen Wissens verfassten, verfügten über eine profunde theologische Bildung. Der Autor der ‚Vita Mariae Oigniacensis‘, Jakob von Vitry (1160/70–1240), trat nach seinem Pariser Studium bei Petrus Cantor (ca. 1130–1197) in das Augustinerchorherrenstift St. Nikolaus in Oignies ein. Er lernte dort Maria von Oignies kennen; ob er ihretwegen dorthin kam, lässt sich nicht klären. Jedenfalls wurde er zum Beichtvater Marias. Im Jahr 1215, kurz nach ihrem Tod am 23. Juni 1213, verfasste er ihre Vita. Seine tiefe Verbundenheit zu Maria drückt sich darin aus, dass er nach ihrem Tod einen Finger der Verstorbenen bei sich in einem Kästchen um den Hals trug. Im Jahr 1216 wurde Jakob zum Bischof von Akko bestellt und reiste nach Palästina. In dieser Zeit begann er auch seine historiographischen Werke, zunächst die ‚Historia Orientalis‘, später die ‚Historia Occidentalis‘. 1225 verließ er Akko und kehrte als Weihbischof nach Lüttich zurück. Nach seinem Tod 1240 wurde er auf eigenen Wunsch in dem kleinen Dorf beigesetzt.13 Seine ‚Vita Mariae Oigniacensis‘ gilt als Modellvita, die einen neuen Heiligkeitstypus innerhalb der Kontexte des frühen 13. Jahrhunderts vermittelt.14 Die ‚Vita Idae‘ und die ‚Vita Arnulfi‘ sind Auftragswerke, verfasst von Goswin von Bossut, dem Kantor der Abtei von Villers. Goswin kannte Ida und Arnulf nicht und verfasste ihre Viten als Auftragswerke auf die Bitte von Abt William von Dogelbert (1221–1237) hin. Villers war in der Mitte des 13. Jahrhunderts ein florierendes und kulturell blühendes Zisterzienserkloster, dem ca. 100 Mönche und 300 Laienbrüder angehörten. Die Mönche lebten von der Landwirtschaft, standen im

|| Oigniacensis‘ ebenfalls, allerdings um zu zeigen, dass Marias und Jakobs Vorstellungen einer weiblichen vita religiosa durchaus kollidierten, etwa als Maria am Kreuzzug teilnehmen oder auf Wanderpredigerschaft gehen wollte – religiöse Vollzüge, die Frauen im 13. Jahrhundert nicht offenstanden. Hier bewahrte Jakob Maria mutmaßlich vor der Häretisierung. Zur Unterscheidung von Hagiographie und Biographie vgl. GEYER (Anm. 7), S. 30–36. Zum Konzept der Transformation religiösen Wissens vgl. Andreas HOLZEM, Die Wissensgesellschaft der Vormoderne. Die Transferund Transformationsdynamik des ‚religiösen Wissens‘, in: Klaus RIDDER u. Steffen PATZOLD (Hgg.), Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik 23), Berlin 2013, S. 233–265. Zur praktischen Durchführung des Konzepts vgl. Renate DÜRR u. a. (Hgg.), Religiöses Wissen im vormodernen Europa. Schöpfung – Mutterschaft – Passion, Paderborn 2019. 13 Zur Person Jakobs von Vitry vgl. GEYER (Anm. 7), S. 14–16. 14 Vgl. Anneke B. MULDER-BAKKER, General Introduction, in: Jakob von Vitry, Mary of Oignies. Mother of Salvation, hrsg. v. Anneke B. MULDER-BAKKER (Medieval Women. Texts and Contexts 7), Turnhout 2006, S. 1–31; GEYER (Anm. 7); André VAUCHEZ, La sainteté contre l’hérésie. La Vie de Marie d’Oignies de Jacques de Vitry, in: DERS. (Hg.), Les Hérétiques au Moyen Âge. Suppôts de Satan ou chrétiens dissidents?, Paris 2014, S. 198–213.

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Austausch mit den Bürgern der umliegenden Städte und den dortigen Handwerksbetrieben, nahmen aus der Ferne aber auch Anteil an der Entwicklung einer frühurbanen Kultur in den südlichen Niederlanden.15 Goswin bekleidete als Kantor das höchste Amt nach dem Abt und dem Prior und war verantwortlich für die Chöre und die Liturgie. Er verfasste in den 1230er Jahren drei Viten von Personen aus seinem klösterlichen Umfeld: die hier thematisierten Viten der Ida von Nivelles und des Laienbruders Arnulf sowie die Vita des Mönchs Abundus (gest. 1239).16 Die beiden Autoren Jakob von Vitry und Goswin von Bossut präsentieren ihre Protagonistinnen und Protagonisten im Bestreben, Christus so weit als möglich nachzufolgen. Dabei legen die Autoren aber unterschiedliche Schwerpunkte, welche Aspekte des Lebens Jesu besonders imitiert werden: Ida von Nivelles, auch genannt Ida Compassionata, widmet ihr Leben dem intensiven Gebet für das Heil der sie umgebenden Menschen und spuckt Blut, wenn sie um das Heil einer lebenden oder verstorbenen Seele bangt. Für diese Sorge wird sie beständig angefeindet, aber sie interpretiert jede Missbilligung als Opfer für ihren geliebten Herrn. Als sie einmal längere Zeit keine Feindschaft erfahren hat, so erzählt die Vita, betritt sie eine Kirche und fragt Christus am Kreuz, warum er ihr kein Leiden schicke. Maria von Oignies führt, so ihre Vita, ein vollkommenes, asketisches Leben. Eines Tages allerdings erinnert sie sich, dass sie während einer ernsten Krankheit in ihrer Jugend gezwungen war, Fleisch und Wein zu sich zu nehmen. Sie ist angewidert und will diesen Genuss wiedergutmachen: Vor der Glut des Geistes gleichsam trunken, schnitt sie, um des süßen Fleisches des Osterlammes willen, aus Ekel vor ihrem eigenen Fleisch mit einem Messer ziemlich große Stücke ihres Fleisches heraus. Diese verbarg sie aus Scham in der Erde und weil sie, von allzu großer Liebesglut entflammt, den Schmerz des Fleisches überwand, erblickte sie in dieser geistigen Ekstase einen der Seraphim, der ihr beistand. Die Stellen ihrer Wunden fanden die Frauen, als sie ihren toten Körper wuschen und wunderten sich. Wer würde [...] nicht auch beim schwachen Geschlecht über die so große Kraft einer Frau in Erstaunen geraten, die von Liebe verwundet, von den Wunden Christi gestärkt, die Wunden des eigenen Körpers für nichts achtete?17 (VMO I, 22)

|| 15 In Städten wie Antwerpen, Brüssel, Löwen, Lüttich, Mecheln oder Namur hatte sich ein Gewerbe- und Handelswesen herausgebildet. Vgl. die Karte in: Send me God. The Lives of Ida the Compassionate of Nivelles, Nun of La Ramée, Arnulf, Lay Brother of Villers, and Abundus, Monk of Villers, hrsg. v. Martinus CAWLEY (Medieval Women. Texts and Contexts 6), Turnhout 2003, S. xxvi. 16 Zur Person Goswins von Bossut vgl. Barbara NEWMAN, Preface. Goswin of Villers and the Visionary Network, in: Send me God. The Lives of Ida the Compassionate of Nivelles, Nun of La Ramée, Arnulf, Lay Brother of Villers, and Abundus, Monk of Villers, hrsg. v. Martinus CAWLEY (Medieval Women. Texts and Contexts 6), Turnhout 2003, S. xxix–xlvii, hier S. xxxiii f. 17 Fervore enim spiritus quasi inebriata, pre dulcedine carnium agnis paschalis carnes suas fastidiens frusta non modica cum cultello resecavit, que pre verecundia in terram abscondit, et quia

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Diese Episode, von einem Seraphen wohlwollend betrachtet, wird in der Forschung als frühe Form einer Selbststigmatisierung gedeutet.18 Maria habe sich also selbst die Kreuzeswunden Christi zugefügt. Iris GEYER wendet sich aufgrund des Bußzusammenhangs gegen eine solche Interpretation und bringt ein, dass Marias Umfeld die Narben erst nach ihrem Tod entdeckte.19 Der Autor, Jakob von Vitry selbst, ordnete diese Episode in sein Gesamtkonzept der Vita; er stellte das Ereignis in den Zusammenhang der Buße und hielt am Ende dieses Kapitels fest, dass Maria „von Liebe verwundet, von den Wunden Christi gestärkt, die Wunden des eigenen Körpers für nichts achtete“ (VMO I, 22). Er wollte diesen körperlichen Eingriff als Gesinnungstat, als Akt der Liebe und Buße, und damit in Zusammenhang mit den vielen Tugenden sehen, mit denen sie der Herr wie mit wertvollen Edelsteinen geschmückt hatte.20 Caroline WALKER BYNUM wiederum interpretiert solche Liebestaten als „imitatio Christi, eine Bemühung, die Tiefen der Menschlichkeit Jesu in dem Moment auszuloten, da sein Menschsein am bedrängendsten und erschreckendsten war – im Moment seines Sterbens“21. Jedenfalls wird in all diesen Interpretationen deutlich, wie nahe Maria in der beschriebenen Passage dem körperlichen Ideal des gekreuzigten Christuskörpers kommen will.22 Arnulf von Villers wird im hagiographischen Text als einfacher Landarbeiter vorgestellt, der im Gespräch mit den Arbeitern des Klosters und den umliegenden Bauern ist, aber mit großer spiritueller Ernsthaftigkeit eine körperzentrierte Frömmigkeit betreibt. Er versucht systematisch, seinen Körper zu zerstören. Nach der Terz legt er seine Tunika ab und schlägt sich mit einem Metzgerbesen hinter ver-

|| nimio amoris incendio inflammata carnis dolorem superavit, unum de seraphim in hoc mentis excessu sibi assistentem aspexit. Loca vero vulnerum, cum corpus eius in morte lavarent, mulieres invenerunt et ammirate sunt, quia autem ex eius confessione predicta cognoverant, quid esset intellexerunt. Qui […] cur non etiam in sexu fragili tantam mulieris fortitudinem obstupescant, que caritate vulnerata et Christi vulneribus vegetata proprii corporis contempsit vulnera?; Iacobus de Vitriaco (Anm. 7), S. 66 f. 18 Peter DINZELBACHER, Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn 1992, S. 187. Die Analogie zu den Stigmatisierungsbeschreibungen in den Viten des Franz von Assisi, insbes. zu 1 C 94, ist evident. Vgl. Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung oder Vita des hl. Franziskus [1 C], in: Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnissen über ihn und seinen Orden, hrsg. v. Dieter BERG u. Leonhard LEHMANN, Kevelaer 2009, S. 195–288. 19 Vgl. GEYER (Anm. 7), S. 51. 20 [I]ntueamur enim quantis virtutum gemmis tanquam vas auri solidum ornatum omni lapide precioso amicam tuam preciosam exornasti, quantis miraculis illam abiectam et irrisam a secularibus decorasti; Iacobus de Vitriaco (Anm. 7), S. 61. 21 Caroline Walker BYNUM, Mystikerinnen und Eucharistieverehrung im 13. Jahrhundert, in: DIES., Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters (Gender studies), Frankfurt a. M. 1996, S. 109–147, hier S. 119 f. 22 Vgl. für eine Einordnung in der neueren Forschungsgeschichte Joshua S. EASTERLING, Ascetic Blood. Ethics, Suffering, and Community in Late-Medieval Culture, in: Larissa TRACY u. Kelly DEVRIEs (Hgg.), Wounds and Wound Repair in Medieval Culture, Leiden, Boston 2015, S. 369–388.

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schlossenen Türen. Manchmal schafft er 1900 Schläge. Danach rollt er sein frisch geschlagenes Fleisch in Brennnesseln. Er trägt einen Mantel aus Igelfellen mit nach innen gewendeten Stacheln und schläft auf einem hölzernen Kreuz. Das ist seine beinahe mimetische Form der Christusnachfolge, die Jesus Christus bis in einzelne, in den Evangelien beschriebene Praktiken hinein nachahmt. Die Zisterzienserin Ida, die Begine Maria und der Laienbruder Arnulf werden in ihrem radikalen Versuch weniger einer imitatio Christi als einer imitatio passionis beschrieben: Dezidiert benennt die ‚Vita Mariae Oigniacensis‘ das Kreuz Christi als Ausgangspunkt der Bekehrung Marias (VMO I, 16). Ida, Maria und Arnulf foltern den eigenen Leib, empfangen die Wunden Christi, verwandeln ihre Leiden in körperliche Gebete. Ihr Leiden ist aber nicht nur physisch, sondern Teil und Ergebnis der Intensität ihres inneren Lebens. Die Frage ist: Warum verstehen die Viten Christusnachfolge als Passionsnachfolge? Arnulfs Vita gibt auf diese Fragen einige direkte Antworten. Die Vita beschreibt Arnulf mit den klassischen Bezeichnungen der antiken Märtyrerakten: der Diener Gottes, der Kämpfer, der Soldat, der Athlet. Ein Großteil der Vita Arnulfs folgt damit einer älteren Logik, der spätantiken Martyriumslogik, die auch in vielen frühmittelalterlichen Mönchsviten zu greifen ist (VArnf II, 21j).23 Offensichtlich konnte auch im 13. Jahrhundert der Asket noch als Nachfolger der Märtyrer verstanden werden, als jener, der aus dem Bekenntnis zu Christus heraus seinen Leib mit eigener Hand abtötet. Die Viten bewerten die körperlichen Praktiken der Protagonistinnen und Protagonisten aber keineswegs nur positiv. Im Gegenteil, sie verurteilen sie und präsentieren sie als nicht-imitable Lebensformen. Arnulfs Praktiken werden als „barbarisches Verhalten“ (VArnf I, 4d) bezeichnet. Ständig treten in der Vita Menschen auf, die Arnulf fragen, warum er seinen Körper zerstöre. Eine besonders eindrückliche Passage möchte ich zitieren: Eines Tages kam ein Mönch zu der Grangie, auf der der Mann Gottes [Arnulf] wohnte. Er fragte den Stallmeister, wo Arnulf sein könnte. Der Stallmeister, sein Name war Nicolas, antwortete, er sei ‚in seinem Purgatorium‘. Dieses Wort verblüffte den Mönch, der fragte, welche Art von Purgatorium gemeint sei. So erzählte Nicolas, dass Arnulf damit beschäftigt sei, seinen Körper mit den üblichen Purgatoriumsschlägen zu traktieren. […] Nicolas klopfte an die Zellentür, kündigte den Mönch mit Namen an und erzählte von seiner Ankunft und von seinem freundlichen Begehren eines Gesprächs. Arnulf warf die Tunika um sich, zog seinen Mantel an und kam heraus. Der Mönch, der bemerkte, wie verdreckt die Tunika mit Blut war, und wie das Blut noch immer tropfte und von seinem frisch geschlagenen Fleisch rann, war so voller Schmerz im Herzen, dass er in Tränen ausbrach und Arnulf fragte: ‚Warum?‘ Er sagte: ‚Ich bin

|| 23 Für eine religionsgeschichtliche Einordnung vgl. Arnold ANGENENDT, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 4. Aufl. Darmstadt 2009, S. 572–577, 595 f.

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schmerzerfüllt und berührt vom Versuch, ein solches Martyrium zu erleiden! Warum, liebster Freund, warum gibst Du Dich selbst einem solchen Tod hin?‘ Darauf hielt er die scherzhafte Antwort, dass er nicht sich, sondern seine Sünden dem Tod hingebe.24 (VArnf I, 3d)

Fast ununterbrochen muss Arnulf in der Vita seine Bußpraktiken verteidigen. Auch in der ‚Vita Mariae Oigniacensis‘ werden die Leser explizit vor der Imitation der Praktiken Marias gewarnt; ihre Leidenschaft und ihr Eifer sollen bewundert, nicht imitiert werden. Ihr ‚Exzess‘ wird als Privileg der Gnade beschrieben, ein Privileg, das kein allgemeines Gesetz begründe (VMO I, 12). Diese geradezu negative Didaktik der Viten zeigt, dass Leidensnachfolge Christi ein gefährlicher Weg ist. Dann lautet die Frage umso mehr, warum die Viten eine solche Kreuzesnachfolge darstellen. Die Vita Arnulfs gibt eine Antwort: So groß nämlich war die Liebe, die Arnulf sich inkorporieren wollte, mit vollem Herzen, bis in seine Eingeweide.25 (VArnf I, 3b)

Arnulf will die Liebe Christi in seine Eingeweide inkorporieren. Eingeweide, viscera, ist ein prominenter biblischer Terminus: Die Prophezeiung des Zacharias aus dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums nennt die barmherzige Liebe Gottes die viscera misericordiae Dei (Lk 1,78). Im Hebräischen hat die Liebe Gottes fleischliche Aspekte.26 Genau diesen Bezug eröffnet auch die Vita Arnulfs. Die Liebe Gottes zeigt sich am menschlichen Körper. Auch in Marias Vita wird beschrieben, wie Maria entflammt ist von der Liebe Gottes und sich deshalb Fleischstücke aus dem Leib schneidet (VMO I, 22). Christi Liebe ermöglicht körperliches Leiden oder – umgekehrt – das Leiden ist ein Spiegel der Liebe Christi.

|| 24 Quodam die, cum Monachus quidam venisset ad grangiam, ubi idem vir Domini [Arnulfus] morabatur, interrogavit Fratrem stabularium, nomine Nicolaum, ubinam ille esset. Qui respondens dixit, eum esse in purgatorio. Ad quod verbum cum Monachus miraretur, et interrogaret, cujusmodi esset illud purgatorium; praedictus Frater subintulit dicens: Quia ille more solito verberibus purgatoriis corpus suum affligebat. […] Statimque pulsans ad ositum cellae, evocavit virum Dei, nuntians ex nomine Monachum advenisse, qui ejus sanctum et familiare exoptabat colloquium. Confestim ille tunica se rursum circumamictans, caputiumque resumens, egressus est. Cum autem Monachus videret tunicam ejus, sanguine cruentatam, rivulis sanguinis de corpore ejus recenter flagellati decurrentibus; prae dolore cordis lacrymatus est, ita ut vir Domini causam lacrymarum ejus ab eo sciscitaretur. Qui respondens dixit: Tactus sum dolore cordis intrinsecus, attendens mirabile martyrium. Et quare, carissime, interficis temetipsum? Ad quod verbum ille Monacho jocose satisfaciens, non se sui ipsius, sed peccatorum interfectorem esse respondit; Goswin de Bossut (Anm. 9), S. 560 f. Man kann diese Passage auch als eine Art lebendes Meditationsbild lesen, das die Hörer in die compassio mit Arnulf und damit mit Christus führen soll. 25 Hunc amorem totis medullis cordis inviscerare sibi cupiens servus Christi, coepit semetipsum vilipendere, et sui corporis quodammodo oblivisci; Goswin de Bossut (Anm. 9), S. 560. 26 Das hebräische Wort rachamim (Mitleid) und das hebräische Wort ræchæm (Mutterschoß) kommen von derselben Wurzel, racham (Erbarmen).

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Ida, Arnulf und Maria wollen so Mensch sein, wie Christus Mensch war, in liebender Selbsthingabe, die vor Schmerz nicht zurückschreckt. Sie wollen die Tiefen der Menschlichkeit Jesu ausloten – genau in dem Moment, als diese Menschlichkeit am schmerzhaftesten und grausamsten war, im Moment seines Todes, als er sich für die Erlösung der Menschen hingab.

3 Intercessio: Diskursive Aktualisierung des Golgathageschehens Die religiöse Logik, Jesus in seiner liebenden Selbsthingabe zu folgen, hat Konsequenzen. Ida, Arnulf und Maria leiden nicht nur mit Christus, sondern auch physisch für andere, weil Christus sein Leben für andere geopfert hat. Sie vollenden ihre imitatio Christi, indem sie liebend ihre eigenen Körper für andere einsetzen. Diese Konzepte finden sich deutlich in den hagiographischen Texten. Die Vita preist Idas virtuose caritas et compassio (VIN 29). Sie leidet von ganzem Herzen mit all jenen, die sie in Sünde verstrickt weiß (VIN 30b). Arnulf wiederum erleidet in der Selbstflagellation auch die Strafen der Sünden anderer: Und als das Schlagen immer weiterging, nannte er [Arnulf] einmal diesen speziellen Bruder, einmal diese Freunde, und nun diese devote Frau, der er sehr in Christus zugetan war. Heftiges Schlagen und heftiges Beten, so dass der Herr jedem die gnädige Vergebung seiner Sünden oder eine Erleichterung des Schmerzes gewähre.27 (VArnf I, 11b)

Die Vita betont, dass Arnulfs Schlagen aus seiner Liebe folge und wieder ist Liebe ein Geschenk der Gnade (VIN 30i) – das Geschenk, mit Christus aus Liebe für andere zu leiden: Am Ende botest Du [Arnulf] dem Herrn der Majestät Dein eigenes Blut an, weil der Herr in seiner Passion sein eigenes Blut für dich hingegeben hat! Was aber brachte dich dazu, Dein Fleisch mit so einem furchtbaren Stock zu schlagen, und, noch weiter, in den Nesseln zu wälzen? Es war sicher Liebe: eine Liebe, die so stark war, dass

|| 27 Et tunc valide se flagellando, nominatim commemorabat aliquos fratrum suorum, nunc vero aliquos amicorum, nunc vero religiosas mulieres dilectas sibi in Christo, quibus sive gratiam et remissionem peccatorum, sive levamen in tribulationibus, a Domino transmitti flagitabat; Goswin de Bossut (Anm. 9), S. 565.

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sie solches ertrug, eine Liebe, die aus den Tiefen deines Herzens kam, eine Liebe, die durch die Wunden deines Fleisches floß. […] Oh, die Freiheit, die der Herr dir gab, […] mobilisierte dich gegen deinen Körper!28 (VArnf I, 4d)

Das Konzept, das hier diskutiert wird, so meine These, ist Stellvertretung, intercessio. Arnulf, Ida und Maria können die Strafen der Sünden anderer tragen, wie Jesus Christus es getan hat, so konzipieren es die Viten.29 Wie er am Kreuz für die Sünden der Menschen gelitten hat, so leiden diese drei für andere, um die Strafen der Sünden dieser Personen auf sich zu nehmen. Ihre imitatio Christi reicht bis zum Letzten – und das ist der stellvertretende Dienst Jesu am Kreuz, der für die Menschen ins Leiden gegangen ist, um sie von ihren Sünden zu erlösen. Menschliche Stellvertretung bzw. menschliche Erlösungshilfe für andere war im Mittelalter – und ist im Übrigen bis heute – ein theologisch äußerst umstrittenes Konzept.30 Es kann die Einzigartigkeit der Heilstat Christi am Kreuz in Frage stellen: Wenn die Protagonistinnen und Protagonisten Christi Leiden am Kreuz wiederholen, war es dann nicht ausreichend? Die Hagiographie aber präsentiert das Stellvertretungskonzept als lebensweltliche Aktualisierung biblischen Wissens. Bereits die || 28 [U]t merito offerres Domino majestatis sanguinem tuum, qui tempore passionis suae gratanter obtulit pro te Deo Patri sanguinem suum. Et unde tandem tantam cocepisti audaciam, ut carnem tuam tam horribilis ferulae ictibus dissecares, insuper et urticis exureres? Nisi ex praesumptione ferventis amoris, qui de infimis cordis tui per vulnera carnis ebulliebat? […] Quoniam tantam consecutus es a Domino vitae et spiritus libertatem, ut ad omnia corpori tuo contraria te insuperabilem exhibeas; Goswin de Bossut (Anm. 9), S. 561. 29 Das in den Viten beschriebene Konzept übersteigt auch die frühmittelalterlichen Innovationen des Bußwesens, konkret die redemptio, also die Delegierung von Bußleistungen auf andere, und die commutatio, die Austauschbarkeit von Strafen, z. B. durch kürzere, aber intensivere. Beide Konzepte geschehen auf ausdrücklichen Wunsch der Büßenden. 30 In der Deutung um Tod und Auferstehung Jesu stehen in der mittelalterlichen Theologie die Begriffe intercessio und satisfactio nebeneinander. Die Satisfaktionstheorie etwa eines Anselm von Canterbury (1033–1109) führt aber in eine andere Richtung; Anselm arbeitet mit anderen theologisch-philosophischen Konzepten als die Autoren der hier analysierten Viten. Ein Bezug des hier verhandelten Konzepts der intercessio zu Anselms Theorie wäre also vorschnell. Für eine Erläuterung der mittelalterlichen Satisfaktionstheorie und auch für den Versuch, Anselm von Canterburys Satisfaktionstheorie im Anschluss an biblische Konzepte zu interpretieren, vgl. Helmut STEINDL, Genugtuung. Biblisches Versöhnungsdenken – eine Quelle für Anselms Sationsfaktionstheorie? (Studia Friburgensia, N.F. 71), Freiburg i. d. Schweiz 1989. Ebenfalls einen Versuch, die mittelalterliche Theologie in ihrem historischen Kontext zu verstehen, liefert Otto Hermann PESCH, Anselm von Canterbury und die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung Christi. Eine kleine kritische Ehrenrettung, in: Béatrice ACKLIN ZIMMERMANN u. Franz ANNEN (Hgg.), Versöhnt durch den Opfertod Christi? Die christliche Sühnetheologie auf der Anklagebank, Zürich 2009, S. 57–73. Im Übrigen lassen sich im religiösen wie im herrschaftlichen Bereich im Mittelalter unterschiedliche Formen von Handlungs- und Entscheidungsvollmachten als Konzepte von Stellvertretung interpretieren. Vgl. dazu jüngst Claudia ZEY, Stellvertretung im Mittelalter. Konzepte, Personen und Zeichen im interkulturellen Bereich. Tagung auf der Insel Reichenau 13.–16. März 2018 (Protokoll über die Arbeitstagung, Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte 419), Konstanz 2018.

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Evangelisten und Paulus interpretieren Jesu Opfer in diese Richtung, als stellvertretenden Dienst am Anderen.31 Der johanneische Jesus erklärt, dass es keine größere Liebe gebe als die, dass einer sein Leben gebe für seine Freunde; an anderer Stelle erklärt er die gegenseitige Liebe zum Erkennungszeichen seiner Jünger.32 Die mittelalterlichen Viten adaptieren dieses biblische Wissen in sehr spezifischer Weise: Sie verstehen Jesu Leben und Tod zentral und vor allem als Stellvertretungsdienst, als stellvertretendes Leiden und Sterben für seine Freunde, und spitzen die Theologie des Neuen Testaments auf eine Theologie der Stellvertretung zu. Sie können sich dabei wohl auf die historischen Personen hinter den Viten beziehen, die das Neue Testament ebenfalls in dieser Zuspitzung praktisch nachvollzogen haben. Die doppelte Transformation biblischen Wissens – einmal in gelebtes Leben und von dort her in eine hagiographische Schrift – dient dazu, eine letztlich theologische Idee zu präsentieren: In den Viten von Maria, Arnulf und Ida wird die Idee einer freien, personalen und nicht-magischen körperlichen Stellvertretung präsentiert, die sich als dezidiert biblisch versteht und interzessorisches Gebet genauso umschließt wie physisches Leiden, um die drohenden oder bereits akuten Fegefeuerstrafen der Sünden anderer zu tragen. Die hagiographischen Konzepte der Stellvertretung beruhen auf der vollen Transparenz zwischen Gottes Heilsplänen und seinen Heiligen: Die Protagonistinnen und Protagonisten erleben permanent einen Gott, der gesehen, gehört, gefühlt

|| 31 Prägnant zusammengefasst lautet das neutestamentliche Stellvertretungskonzept: „Jesu Stellvertretung ist keine Ersatzhandlung: sie ist exklusiv insofern, als kein Sünder sich selbst erlösen kann; u. zugleich inklusiv, weil sie den Sünder nicht nur rechtfertigt, sondern z. Mitvollzug befähigt. Zum Mitsterben u. Mitauferstehen in Christus gehören das Aufgeben des sündigen Für-sich-Seins u. die Einverleibung in den Leib Christi durch das Für-andere-Sein […]. Im Hl. Geist ist jeder befähigt, mit Christus Stellvertreter zu sein […]; jeder ist auf je einmalige Weise berufen, teilzunehmen am ,Ausleiden dessen, was an den Leiden Christi noch aussteht‘ (Kol 1,24)“; Karl-Heinz MENKE, Stellvertretung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 9 (2009), Sp. 951–956 (Kursivierung im Original). 32 Joh 15, 12–14 (Vulgata): [H]oc est praeceptum meum ut diligatis invicem sicut dilexi vos maiorem hac dilectionem nemo habet ut animam suam quis ponat pro amicis suis vos amici mei estis si feceritis quae ego praecipio vobis; Joh 13, 34 f. (Vulgata): [M]andatum novum do vobis ut diligatis invicem sicut dilexi vos ut et vos diligatis invicem, in hoc cognoscent omnes quia mei discipuli estis si dilectionem habueritis ad invicem. Vgl. für eine Einführung in die biblische Stellvertretungstheologie Bernd JANOWSKI, Ecce homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Themen biblischer Theologie (Biblisch-Theologische Studien 84), 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2009. Für einige spätantike und frühmittelalterliche Heiligenviten wurde die Verwendung biblischer Texte bereits genauer analysiert. Vgl. Dieter von der NAHMER, Bibelbenutzung in Heiligenviten des Frühen Mittelalters (Beiträge zur Hagiographie 19), Stuttgart 2017. Der Autor wehrt sich insbesondere dagegen, die Verwendung biblischer Texte in hagiographischen Texten als bloßen Topos zu verstehen. Die mittelalterlichen Hagiographen und die Leserinnen und Leser bzw. Hörerinnen und Hörer der Texte verband ein spezifisches Wissen um die Inhalte biblischer Texte, so dass die Hagiographen darauf vertrauen konnten, dass bloße Anspielungen ebenso wie verbale Anleihen verstanden wurden.

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werden kann. Und die Hagiographie zeigt eine Transparenz zwischen der irdischen Welt und den Jenseitsorten; nur daher wissen Ida, Arnulf und Maria, wo sie interzessorisch tätig werden können.33 Die Vita Idas berichtet etwa, dass Ida die Fegefeuerstrafen mit der Seele des Vaters einer Mitschwester teilt. An einer anderen Stelle betet sie für eine verstorbene Frau, die ebenfalls im Fegefeuer harrt. Als Ida Blut für sie spuckt, wird sie plötzlich in das Fegefeuer gerissen und erkennt die Frau in den stinkenden Wassern wieder. Sie nimmt die Frau bei der Hand, um sie über eine rettende, aber enge Brücke mitzunehmen und zu Christus zu führen, der auf der anderen Seite wartet. Aber die Frau fürchtet sich vor der engen Brücke. Christus sagt zu der Frau: „Erleide es, süße Tochter, dass ein rettendes Leiden für dich vollbracht wurde. Und verliere nicht aus dem Blick, was ich für dich erlitten habe, um dich zu erlösen“ (VIN 9b). Am Ende ist die Angst der Frau aber zu groß und Ida muss die Frau im Wasser zurücklassen und allein zu Christus gehen. Diese Erzählung verwebt subtil Christi erlösendes Leiden, Idas rettendes Handeln und den freien Willen einer Person, die nicht zu Christus umkehren will.

4 Fazit Die drei Viten bilden nicht nur unterschiedliche Berufungen innerhalb des Zisterzienser- und Beginenwesens des 13. Jahrhunderts ab, sie präsentieren unterschiedliche, biblisch inspirierte interzessorische Wege – einer wahlweise über Askese, Selbststigmatisierung, Schläge oder Krankheit inkorporierten Fürsprache bei Christus, dessen heilsgeschichtliche Vermittlungsstellung gewahrt bleibt. Alle diese Wege sind sozial ausgerichtet, d. h. die in den Texten beschriebene Stellvertretung dient dem Heil anderer. Die Viten beschreiben weniger religiöse Selbstverwirklichung, als die Rettung lebender und verstorbener Seelen vor der drohenden oder bereits eingetretenen Gefahr des Fegefeuers. Das Heil anderer, sehr konkreter Menschen ist der Fluchtpunkt, von dem her die Viten gelesen werden können. Gleichzeitig präsentieren sich die hagiographischen Stellvertretungskonzepte selbst als biblisch verwurzelt. Ida, Maria und Arnulf vollenden in der intercessio für andere ihre imitatio Christi. Dieses Konzept ist bereits mittelalterlich umstritten, weil Christus für alle gelitten hat, seine Stellvertretung war laut dem biblischen Zeugnis total und braucht keine Ergänzung. Auf der anderen Seite aber erweitern bereits die johanneischen Schriften und Paulus den stellvertretenden Dienst Christi auf alle Christen: Wahres Leiden und wahre Liebe eines Menschen wird verstanden als stellvertretender diakonischer Dienst. Diese spezifische biblische Spur verfolgen die hagiographischen Texte weiter und transformieren das stellvertretende Leiden

|| 33 Vgl. NEWMAN (Anm. 16), S. xlv f.

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Christi in das stellvertretende Leiden der Heiligen: Die Heiligen, so stellen die Texte klar, imitierten nicht nur Christi Leben, sondern auch das Entscheidende seines irdischen Lebens, seinen stellvertretenden und erlösenden Tod für seine Freunde. In den hagiographischen Texten begegnet Stellvertretung meist theologisch ‚korrekt‘, nämlich aufgrund der Voraussetzung der Reue: Der Sünder erkennt seine Schuld, bereut und bittet den religiösen Virtuosen um sein Mitleiden. Es gibt aber eine Ausnahme: Wenn ein Sünder von einer anderen Person geliebt wird. Die Liebe einer anderen Person reicht, um Arnulf oder Ida zu mobilisieren, stellvertretend für die geliebte Person ihre Sündenstrafen zu erleiden. Geliebt zu werden ersetzt persönliche Reue. Die Hagiographie des 13. Jahrhunderts präsentiert hier die Idee einer christlichen Heilsgemeinschaft, in der Körper, Gebet, Liebe und Nächstenliebe sorgfältig ineinander verwoben sind. Langfristig führte diese spezifische Transformation des biblischen Stellvertretungsgedankens in eine weitreichende theologische Debatte: Kann zum Opfer Christi etwas hinzugefügt werden oder nicht? Bereits die spätmittelalterliche Frömmigkeitstheologie beantwortete diese Frage dezidiert negativ; der reformationsgeschichtliche Diskurs entzündete sich mit an diesem theologischen Problem, das nun als Frage nach der Rechtfertigung des Menschen diskutiert wurde.34 Auf der Ebene der hagiographischen Texte des 13. Jahrhunderts und ihrer Sinnabsicht aber stellt sich dieses Problem gar nicht: Stellvertretendes Leiden für andere wird hier als biblisches Konzept verstanden und präsentiert. An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf den anfangs angesprochenen Holzschnitt der Kreuzesvision zurückkommen. Das sprachliche Bild findet sich analog in der Vita Arnulfs. Dort wird erzählt, dass Arnulfs Herz so entflammt sei von Liebe, „dass Tropfen von feurigem roten Blut oft aus seinem Körper austraten wie Funken“35 (VArnf II, 1e). Diese Analogie zeigt, wie nahe Arnulfs stellvertretender Liebensdienst bis in die metaphorische Sprache hinein an die Kreuzestat Christi gerückt wird.

|| 34 Vgl. Berndt HAMM, Was ist Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrhundert, in: Hans-Jörg NIEDEN u. Marcel NIEDEN (Hgg.), Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Wolfgang Sommer zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1999, S. 9–45. Vgl. zum reformatorischen solus Christus in der umfangreichen Literatur folgende jüngere, konzise Beiträge: Dietrich KORSCH, Glaube und Rechtfertigung, in: Albrecht BEUTEL (Hg.), Luther Handbuch, 3. Aufl. Tübingen 2017, S. 418–428; Volker LEPPIN, Solus Christus. Zur Genese einer reformatorischen Exklusivpartikel aus der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, in: DERS., Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und Reformation, Tübingen 2015, S. 279–302. 35 Inde est quod ex igne isto, quo ardebat cor ejus, guttae sanguinis rubicundae, ad similitudinem ignis, tamquam sintillae quaedam, de corpore ejus frequenter exsilienbant; Goswin de Bossut (Anm. 9), S. 566.

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Neil MACGREGOR macht darauf aufmerksam, dass der Holzschnitt mit dem Kreuz Christi unrealistisch sei – und zwar bereits für die Zeitgenossen. Das Blut tropft nicht realistisch aus den Wunden, sondern bildet einen dichten Vorhang aus gleichmäßig angeordneten roten Strichen.36 Man kann fragen, ob das nicht auch für die Hagiographie gilt: Werden nicht auch in den Viten unrealistische Gewaltbilder erzählt, um die Fülle der Liebe Gottes zu zeigen? Vermutlich verhüllen das Blut der Passion bzw. die gewaltvoll beschriebenen Praktiken der hagiographischen Protagonistinnen und Protagonisten allzu oft, um was es dem Holzschnitt bzw. der Hagiographie in der Kernaussage geht – um die Fülle der Liebe Gottes am Kreuz. Und wie Gott zugunsten von Menschen durch Menschen handelt. Insofern aktualisiert die Hagiographie Christus als Erlöser, dessen Erlösungstat nachzuahmen ist, aber auch radikal als Menschen, dessen Menschsein durch seine Liebesfähigkeit am Kreuz vollendet wurde.

|| 36 Vgl. MACGREGOR (Anm. 2), S. 317.

Aleksej Burov

Frau Avas ‚Jüngstes Gericht‘ im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Epigonalität Abstract: The present article focuses on the depiction of the end of the world, a popular theme in medieval apocalyptic literature, in the poem ‘The Last Judgement’, composed by the German poetess Frau Ava (†1127). Ava, an anchoress in Melk Abbey, modelling her poem on the Latin texts of Pseudo-Beda and Petrus Daminanus, illustrates the Last Judgement as a fifteen-day event. The literature presents evidence that the scenario depicted in her poem is a blend of the two Latin texts (GREINEMANN 1986, 168–173). However, the question arises whether Ava’s poem should be seen merely as a compilation of the texts known to her. It should be noted that in trying to construct a plausible scenario of the Last Judgement, Ava, unlike Pseudo-Beda and Petrus Daminanus, does not refer to St. Jerome. Instead, she mentions wisten ‘wise men’ (line 10), whose identities are not known, thus demonstrating originality and creativity. The present article provides a few explanations why Ava’s poem contains divergences from the Latin texts as well as suggests possible intertextual links between ‘The Last Judgement’ and the apocalyptic song ‘Muspilli’ (circa 870), which have not been considered in the literature yet. Keywords: medieval apocalyptic literature, Frau Ava’s poem ‘The Last Judgement’, creativity and epigonality

1 Einleitende Bemerkungen In der germanistischen Mediävistik sorgt Frau Avas geistliche Dichtung aufgrund ihrer Überlieferung für eine rege Diskussion.1 Allein dem Problemfeld der Einheitlichkeit bezüglich der Autorschaft wurden zahlreiche Studien – in erster Linie in der älteren Ava-Forschung – gewidmet. So vertrat GRIMM den Standpunkt, dass lediglich

|| 1 Die Dichtung Frau Avas ist in zwei Handschriften überliefert: in der Vorauer Sammelhandschrift (2. Hälfte des 12. Jh.) und in der Görlitzer-Handschrift (14. Jh.). Keine der Handschriften beinhaltet das komplette Werk Frau Avas: Der Vorauer Handschrift fehlt der ‚Johannes‘ sowie ein Blatt im ‚Leben Jesu‘; in der Görlitzer Handschrift fehlen dagegen die Schlussverse des ‚Jüngsten Gerichts‘. Vgl. Friedrich MAURER, Die Dichtungen Frau Ava, Tübingen 1966, S. IX. || Aleksej Burov, Institut für Sprachen und Kulturen im Ostseeraum, Universität Vilnius, Universiteto g.5, LT-01513 Vilnius, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-025

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‚Das Jüngste Gericht‘ ohne Vorbehalte als Werk Frau Avas in Betracht käme. Frau Ava als Autorin des ‚Johannes‘ und des ‚Leben Jesu‘ lehnte GRIMM dagegen vehement ab.2 SCHERER und SCHRÖDER vertraten die Überzeugung, dass bei der Entstehung der Werke einer der Söhne Avas aktiv mitgewirkt hаbe.3 Durch die Analyse des Partikelgebrauchs stellte DE BOOR seinerseits fest, dass die Frau Ava zugeschriebenen Werke zwei verschiedene Stile aufweisen und „Merkmale zweier charakteristisch verschiedener Persönlichkeiten an sich tragen“4. Nach KIENAST bieten die Handschriften keine Grundlage für die Annahme, sie seien das Ergebnis einer kollektiven Tätigkeit gewesen. Sie lassen allerdings die Existenz eines verschollenen Originals und sogar eines interpolierten Archetypus’ (*VG), von dem beide Handschriften unabhängig entstanden sind, vermuten.5 Dagegen war die Autorschaft Avas in Bezug auf die ganze Dichtung für GREINEMANN unstrittig. In Anlehnung an WESENICK, die sich in ihrer Arbeit der Reim- und Stilanalyse der Ava-Dichtung zuwandte,6 behauptete die langjährige Priorin der Benediktinerinnen von der Hl. Lioba in Freiburg, dass der in der Dichtung zu beobachtende Gattungswechsel nicht auf verschiedene Autoren zurückzuführen sei, sondern sich durch den Themenwechsel im Rahmen einer einheitlichen Komposition erklären lasse.7 In der modernen Ava-Forschung betrachtet man alle vier Texte – ‚Johannes‘, ‚Leben Jesu‘, ‚Antichrist‘ und ‚Das Jüngste Gericht‘ – als integrale Bestandteile eines einheitlichen Werks.8 Auch die Gleichsetzung Frau Avas mit der 1127 verstorbenen und in den Annalen mehrerer Klöster erwähnten Inkluse namens Ava war in der Forschung längere Zeit umstritten.9 Für die im Titel dieses Aufsatzes anklingende Frage nach dem Verhältnis von Kreativität und Epigonalität im ‚Jüngsten Gericht‘ ist die Diskussion der Quellen, auf die Ava zurückgriff, von zentraler Bedeutung. Allgemein anerkannt ist, dass die

|| 2 Wilhelm GRIMM, Zur Geschichte des Reims, Berlin 1852, S. 38. 3 Wilhelm SCHERER, Geistliche Poeten der deutschen Kaiserzeit (Heft 2), Straßburg 1874, S. 64–77; Edward SCHRÖDER, Aus der Gelehrsamkeit der Frau Ava, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 66 (1929), S. 171–172, hier S. 171. 4 Helmut DE BOOR, Frühmittelhochdeutsche Studien, Halle a. d. Saale 1926, S. 168. 5 Richard KIENAST, Ava-Studien I., in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 74 (1937), S. 1–36, hier S. 5. 6 Gertrude WESENICK, Frühmittelhochdeutsche Dichtung des 12. Jahrhunderts aus der Wachau: Frau Avas Gedichte, Wien 1963, S. 419. 7 Eoliba GREINEMANN, Die Gedichte der Frau Ava. Untersuchungen zur Quellenfrage, Freiburg i. Br. 1968, S. 4. 8 Vgl. Maike CLAUßNITZER u. Kassandra SPERL (Hgg.), Ava: Geistliche Dichtung, Stuttgart 2014, S. X–XIV. 9 Johann KELLE, Geschichte der deutschen Literatur von der ältesten Zeit bis zum dreizehnten Jahrhundert (Band 2), Berlin 1896, S. 161; Cornelis SOETEMAN, Deutsche geistliche Dichtung des 11. und 12. Jahrhunderts, Stuttgart 1963, S. 59.

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Heilige Schrift als eine der wichtigsten Quellen fungierte.10 KELLE stellte allerdings in Frage, ob Ava die schriftliche Form der Bibel nutzte.11 Das in den V. 367–369 des ‚Jüngsten Gerichtes‘ überlieferte Bekenntnis der Dichterin Diezze buoch dihtote / zweier chinde muoter. / diu sageten ir disen sin gab Anlass zur Annahme, sie habe den biblischen Stoff lediglich in mündlicher Form gekannt.12 Die Rolle der mündlichen Überlieferung betont außerdem SCHACKS. Nach ihm ließ sich Frau Ava von erlebten Passions- und Osterspielen inspirieren.13 THORAN vertritt die Auffassung, dass Ava keine Passionsspiele erlebt haben konnte, weil die ersten Passionsüberlieferungen erst aus dem Jahr 1187 stammen. Ihr zufolge sind nur die sog. Vorformen der Passionsspiele wie Antiphonen, Responsorien, liturgische Zeremonien der Karwoche und Palmsonntagsprozessionen denkbar.14 Die Bedeutung der liturgischen Texte auf die Dichtung Avas unterstrich schon GREINEMANN in ihrer 1968 verfassten Doktorarbeit „Die Gedichte der Frau Ava. Untersuchungen zur Quellenfrage“.15 Zu den möglichen Quellen sollte man nach KIENAST außerdem die theologischen Schriften von Beda Venerabilis (672–735), Hrabanus Maurus (780–856), Alcuin (735–804) und Honorius Augustodunensis (1080–1150) hinzurechnen.16 Auch volkssprachige Texte wie ‚Genesis‘, ‚Exodus‘, ‚Numeri‘, ‚Ezzo-Lied‘ und ‚Himmel und Hölle‘ sollten nach KELLE in Erwägung gezogen werden.17 In Bezug auf den uns interessierenden Abschnitt – die Darstellung des Weltuntergangs im ‚Jüngsten Gericht‘ (V. 1–160) – herrscht in der Forschung jedoch eine erstaunliche Eintracht: Nach KELLE, KIENAST und GREINEMANN ist der Text eine volkssprachige Version des sog. 15-Tage-Weltvernichtungsmodells.18 Als mutmaßliche Quelle des im Mittelalter wohlbekannten Modells kommt für DORIA entweder ‚De qvindecim signis‘ von Pseudo-Beda (um 1200) oder der ‚92. Brief‘ Petrus Damianus’ (1007–1072) in Betracht.19 Damit ist die Schilderung des Weltuntergangs im ‚Jüngsten Gericht‘ ein ostentatives Beispiel des Epigonalen. Allerdings ist zu fragen, ob das offensichtlich Epigonale die Kreativität ausschließt. Im Folgenden wird diese Frage am Beispiel der Schilderung des Weltuntergangs in Frau Avas ‚Jüngstem Gericht‘ untersucht. || 10 KELLE (Anm. 9), S. 158; GREINEMANN (Anm. 7), S. 1; CLAUßNITZER, SPERL (Anm. 8), S. XV. 11 KELLE ebd. 12 Barbara GUTFLEISCH-ZIECHE, Volkssprachliches und biblisches Erzählen biblischer Stoffe, Frankfurt a. M. 1997, S. 143; KELLE ebd.; SCHRÖDER (Anm. 3), S. 171. 13 Kurt SCHACKS, Die Dichtung Frau Avas, Graz 1986, S. 371. 14 Barbara THORAN, Frau Avas „Leben Jesu“ – Quellen und Einflüsse. Eine Nachlese, in: Annegret FIEBIG u. Hans-Jochen SCHIEWER (Hgg.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200, Berlin 1995, S. 321–331, hier S. 322–323. 15 GREINEMANN (Anm. 7), S. 8–12. 16 KIENAST (Anm. 5), S. 27–34. 17 KELLE (Anm. 9), S. 159. 18 KELLE ebd.; KIENAST (Anm. 5), S. 34; GREINEMANN (Anm. 7), S. 166–173. 19 Arianna DORIA, Frau Ava. Forschungsbericht, Kommentar und italienische Übersetzung, Triest 2003, S. 21.

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2 Zur Schilderung des Weltuntergangs in Frau Avas ‚Jüngstem Gericht‘ Die die ersten 160 Verse des Werkes umfassende Schilderung des Weltuntergangs reiht Ava – gemäß dem biblischen Kanon – zwischen der Beschreibung der Antichrist-Herrschaft, die in der Forschung als eines der vier selbständigen Werke Avas betrachtet wird, und der Szene der Parusie in den Versen 161–195 ein. Den Weltuntergang schildert Ava als einen weltimmanenten Vorgang, der sich in 15 Tage einteilen lässt: am 1. Tag diu wazer smiegent sich an den grunt (V. 18), am 2. Tag get iz [wazer] aver wider uz (V. 24), am 3. Tag fliuzet ob der erde / daz wazer al ze berge (V. 33–34), am 4. und 5. Tag zergat / swaz vettech unde chla hat (V. 57–58), am 6. Tag sieht man Wunderzeichen an Sonne und Mond (V. 59–66), am 7. Tag horet man diche / doner unde bliche (V. 73–74), am 8. und 9. Tag wird die Erde durch gewaltige Erdbeben erschüttert (V. 79–95), am 10. und 11. Tag werden von Menschen erschaffene Schätze wie Burgen, Goldgefäße und Kirchenkelche vernichtet (V. 96–116), am 12. Tag klagen Tiere zusammen mit Menschen über das bevorstehende Ende (V. 117– 124), am 13. Tag tuont sich diu greber uf (V. 127), am 14. Tag verlieren Menschen ihren Verstand (V. 140), am 15. Tag hevent sich vier winde / in allen den enden, / ein fiur sich enbrennet, / daz diese werlt verendet (V. 151–154). In ihrer Studie zur Quellenfrage des oben zusammengefassten Abschnittes ist GREINEMANN der Nachweis gelungen, dass es sich um einen „Mischtext“ handelt. Im Wesentlichen gibt Ava den pseudo-bedischen Text wieder, der durch die damianische Textfassung, im Einzelnen in der Darstellung des 4., 5., 8., 9. und des 14. Tages, ergänzt wird. Bei der Schilderung des 6., 7. und des 15. Tages stellt GREINEMANN Abweichungen von lateinischen Vorlagen fest, die sich durch das „katechetische Anliegen“ Avas erklären lassen und auf das patristische Predigtgut zurückzuführen sind.20 In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, ob sich die schöpferische Kraft Avas mit dem Kompilieren des pseudo-bedischen und des damianischen Gedankenguts verbraucht hat. Die Auseinandersetzung mit Vers 10, der in der Forschung bisher keine Aufmerksamkeit gefunden hat, erweitert meines Erachtens die skizzierte Fragestellung um zusätzliche Gesichtspunkte.

|| 20 GREINEMANN (Anm. 7), S. 168–173.

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3 Finfzehen zeichen gescehent, / so die wisten jehent (V. 9–10) Trotz der in der Forschung etablierten Auffassung, es handle sich um einen prophetisch-apokalyptischen Text,21 fällt bei genauerer Analyse des Prologs des ‚Jüngsten Gerichts‘ (V. 1–8) auf, dass sich das Gedicht von anderen prophetischapokalyptischen Schriften unterscheidet: Nu sol ich rede errechen, vil vorhtlichen, von dem jungisten tage, als ich vernomen habe, unde von der ewigen corone, die got gibet ze lone, swelhe wole gestriten, an dem jungisten zite.22

Vergebens sucht man im zitierten Prolog nach Hinweisen auf die Unmittelbarkeit des Erhalts des geheimen Wissens. Solche Hinweise gehören laut TILLY zu den wichtigsten inhaltsbezogenen Kriterien prophetisch-apokalyptischer Literatur.23 Gemäß der christlichen apokalyptischen Tradition wird die Botschaft dem Seher bzw. dem Hörer direkt von den Vertretern des Jenseits übermittelt. Ein Engel, ein Heiliger oder auch sogar Gott selbst können als Quelle der Enthüllung des Geheimen (gr. ἀποκάλυψις) fungieren. So kommt Johannes in der ‚Geheimen Offenbarung‘ „in eine Entrückung des Geistes“ und hört hinter sich unmittelbar „eine Stimme, gewaltig wie von einer Posaune“24. Auch Esra erfährt über bevorstehende Katastrophen direkt von einem Engel: „Und der Engel, der zu mir gesandt war, namens Uriel, antwortete mir und sprach zu mir“25. In der apokryphen ‚Apokalypse Petri‘ wird der Visionär sogar direkt vom Herrn unterrichtet: „Daraufhin zeigte mir der Herr ein riesiges Gebiet außerhalb dieser Welt, in überhellem Licht“26. Auch für prophetisch-apokalyptische Texte des Mittelalters scheint dieses Prinzip eine große Bedeutung gehabt zu haben. Ein Beispiel bietet die aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts stammende Schrift ‚Diu vrône botschaft ze der christenheit‘:

|| 21 KIENAST (Anm. 5), S. 28; GREINEMANN (Anm. 7), S. 7. 22 Frau Ava, Das Jüngste Gericht, in: Frühmittelhochdeutsche Literatur, hrsg. v. Gisela VOLLMANNPROFE, Stuttgart 1995, S. 34–57, V. 1–8. 23 Michael TILLY, Apokalyptik, Tübingen 2012, S. 49. 24 Offb. 1, 10. 25 4. Esra-Apokalyse, hrsg. v. Frederik J. KLIJN, Berlin 1992, Kapitel IV. 1. 26 Apokalypse Petri, in: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, hrsg. v. Klaus BERGER u. Christiane NORD, Regensburg 2005, Kapitel 5, 15.

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Von himele chom ein vrôniu botschaft ze Jêrusalêm ûf sant Pêters alter mit grôzer chraft. an ein marmelîn tavel si geschriben was, als si der engel dar nâch las. [...] Dô begunde der engel den liuten Die vrône botschaft bediuten.27

Frau Ava wird der Sinn der Botschaft dagegen nicht von einem Engel gedeutet, sondern von ihrem eigenen Sohn, was sie am Ende ihres Gedichtes bekennt: Dizze buoch dihtote / zweier chinde muoter. / diu sageten ir disen sin (V. 367–369). Allerdings sind schon in den angeblichen Quellen, im ‚De qvindecim signis‘ Pseudo-Bedas und im ‚92. Brief‘ Petrus Damianus’, keine der üblichen Hinweise auf den unmittelbaren Kontakt zu Vertretern des Jenseits zu finden. Die Glaubwürdigkeit des Berichts über die bevorstehenden Katastrophen wird dort – und später auch in den Schriften des Petrus Comestor (um 1100–1178) – durch Referenz auf den heiligen Kirchenvater Hieronymus (347–420) gesichert: Tab. 1: Lateinische Quellen des 15-Tage-Szenariums. Referenz auf den Hl. Hieronymus.

Petrus Damiani (1006–1072)

Pseudo-Beda (Ende 11. / Anfang 12. Jh.)

Petrus Comestor (um 1100–1178)

Illud tamen, quod de quindecim signis totidem dierum diem iuditii praecedentium beatum Yeronimum referre didicimus, his eisdem verbis inserere non superfluum iudicamus.28

Quindecim signa quindecim dierum ante diem iudicii, inuenit Hieronymus in annalibus Hebraeoru.29

Ieronimus autem in annalibus Hebreorum inuenit signa XV dierum ante diem iudicii, set utrum continui futuri sint dies illi an interpolati, non expressit.30

Auch andere deutschsprachige Texte, die das bedische bzw. damianische 15-TageWeltvernichtungsmodell rezipieren, untermauern die Glaubwürdigkeit ihrer Berichte durch den Hinweis auf Hieronymus:

|| 27 Diu vrône botschaft ze der christenheit, hrsg. v. Robert PRIEBSCH (Grazer Studien zur deutschen Philologie. Bd. 2), Hildesheim 1976, V. 43–46; 61–62. 28 Die Briefe des Petrus Damiani, hrsg. v. Kurt REINDEL (Monumenta Germaniae Historica. IV. Band, Teil 3, Brief 92), München 1989, S. 20–21. 29 Collectanea Pseudo-Bedae, hrsg. v. Martha BAYLESS u. Michael LAPIDGE, Dublin 1998, S. 178, Z. 1–2. 30 De signis. xv. dierum. von Petrus Comestor, in: Das Münchner Gedicht von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht, hrsg. v. Christoph GERHARDT u. Nigel PALMER, Berlin 2002, S. 64–65.

Frau Avas ‚Jüngstes Gericht‘ im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Epigonalität | 429

Tab. 2: Volkssprachliche Quellen des 15-Tage-Szenariums. Referenz auf den Hl. Hieronymus.

‚Linzer Antichrist‘, um 1170

‚Das Münchner Gedicht‘, 1347

‚St. Galler Weltgericht‘, 2. Hälfte des 14. Jh.

Iedoch hat Iheronimus gescribin in annalibus von vunfzehin dagis, daz inwil ich niut verdagin, die suln han mislichiu zeichin, daz sint gotis bouchin.31

Jeronimus hat geschriben und spricht alsus: an den fuenfzehen tagen hebt sich ain iamercliches clagen, wie iedlicher tag bringt sin clag.32

[W]er schön mär vernemen wil der schwig stil vff ain zil als ich uch nu sage von dem iungsten tage wie furchteklich er vns kunt [verkünd ich] uch zestund. [Nach des heilgen Jeron]imus sage [die welt] vergatt in XV tagen.33

In Frau Avas ‚Jüngstem Gericht‘ findet man jedoch weder den Hinweis auf einen Vertreter aus dem Jenseits noch auf den heiligen Hieronymus. Die Glaubwürdigkeit des Berichtes wird durch die Referenz auf die nicht näher präzisierten Weisen gesichert: Finfzehen zeichen gescehent, so die wisten jehent (V. 1–10).

Die Auseinandersetzung mit Texten wie ‚Genesis‘, ‚Exodus‘, dem ‚Ezzo-Lied‘ und ‚Himmel und Hölle‘, die in der Forschung als mutmaßliche volkssprachige Quellen Frau Avas gelten, hat allerdings gezeigt, dass der Hinweis auf die Weisen einer anderen Quelle entstammen muss. Verzichtet der unbekannte Autor des althochdeutschen ‚Himmel und Hölle‘ generell auf die Erwähnung seiner Quelle, so fungiert im althochdeutschen ‚Exodus‘, der ‚Wiener Genesis‘ und im ‚Ezzo-Lied‘ die Heilige Schrift als Garant für die Glaubwürdigkeit des Erzählten: Nû fernemet, mîne lieben, ich wil iu eine rede fore tuon. ube mir got der guote geruochet senten ze muote daz ich chunne reden alsô ich diu buoch hôre zelen, sô wurde diu zala minnechlîch: dem gotes wuntere ist niweht glîch.34

|| 31 Linzer Antichrist oder Von den letzten Dingen, in: Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts, Bd. 3., hrsg. v. Friedrich MAUER, Tübingen 1970, S. 361–427, V. 51.1–6. 32 Von den fuenfzehenn zaichenn vor dem iungsten tag, in: GERHARDT u. PALMER (ANM. 30), S. 13–22, hier V. 12–16. 33 Das St. Galler Weltgericht, hrsg. v. Hellmut ROSENFELD, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 109, Heft 2 (1980), S. 119–128, V. 1–8. 34 Wiener Genesis V. 1–231. Kommentar und Interpretation, hrsg. v. Josef EßER (Göppinger Arbeiten zur Germanistik Nr. 455), Göppingen 1987, V. 1–4.

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Ich tâte iw gerne chunde, wan daz mich irrent sunde, ettewaz von den buochen da wir inne sculen suochen des himelisken chuniges êre.35 Ich will iu aben allen eine vil ware rede vor tuon: von dem minem sinne von dem rehten anegenge, von den genaden also manechvalt, di uns zu den buochen sint gezalt, uzzer genesi unt zu libro regnum, der welt al ze genaden.36

Darüber hinaus zeigt die Analyse der einschlägigen Literatur, dass im Rahmen der Diskussion über mögliche Quellen des von Ava geschilderten Szenariums dem althochdeutschen ‚Muspilli‘-Lied bis heute keine Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Dies ist umso erstaunlicher, da sich im Kernbereich der Darstellung dieses vermutlich um 870 entstandenen Liedes37 das apokalyptische Szenarium befindet (V. 37–38, 48–57): Daz hortih rahhon dia uueroltrehuuison, daz sculi der antichristo mit eliase pegan. […] doh uuanit des uilo […] gotmanno, daz hlias in demo uuige aruuartit uuerde. so daz hliases pluot in erda kitriufit, so inprinnant die perga, poum ni kistentit enihc in erdu, aha artruknnet, muor uarsuuilhit sih, suilizot lougiu der himil, mano uallit, prinnit mittilagart; denni kistentit eki in erdu uerit denne stuatago in lant,

|| 35 Altdeutsche Exodus, hrsg. v. Kossmann ERNST (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte 57), Tübingen 1886, V. 1–6. 36 Ezzo-Lied (Das Vorauer Fragment), in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, Bd. 1, hrsg. v. Walter HAUG u. Benedikt Konrad VOLLMANN, Frankfurt a. M. 1991, S. 573, V. 13–20. 37 Die Datierung des Liedes ist umstritten. Als eventuelle Entstehungszeit kommt das ausgehende 8. und die zwei Hälfte des 9. Jahrhunderts in Frage. Mehr dazu: Hermann SCHNEIDER, Kleinere Schriften zur germanischen Heldensage und Literatur des Mittelalters, Berlin 1962, S. 170; Walter HAUG, Das Muspilli oder Über das Glück literaturwissenschaftlicher Verzweiflung, in: Wolfgang MOHR u. Walter HAUG (Hgg.), Zweimal Muspilli, Tübingen 1977, S. 24–79, S. 7.

Frau Avas ‚Jüngstes Gericht‘ im Spannungsfeld zwischen Kreativität und Epigonalität | 431

uerit mit diu uuiru uiriho uuison: dar ni mac denne mak andremo helfan vora demo muspille.38

Im Unterschied zu Avas Darstellung wird im ‚Muspilli‘-Lied weder das pseudobedische noch das damianische Weltvernichtungsmodell rezipiert und dementsprechend nicht als 15-Tage-Prozess geschildert.39 Der Bericht ist viel weniger detailliert, umfasst lediglich sechs Verse (51–56) und zielt auf die Rolle des Feuers im Weltvernichtungsprozess: Berge werden brennen (V. 51), Wasser und Moore vertrocknen durch die entstandene Hitze (V. 52–53), der Himmel und der Erdkreis vergehen in Flammen (V. 53–54). Das Lied weist außerdem Unterschiede in der Schilderung des Wassers im Vernichtungsprozess auf: Ihm räumt der unbekannte Autor des Liedes lediglich die Rolle des Objekts – nicht die des Mittels40 – der Vernichtung ein. Dies wiederum steht im Einklang mit christlicher apokalyptischer Tradition.41 Trotz offensichtlicher Unterschiede in Darstellungsform und Darstellungsinhalt wird die Glaubwürdigkeit des im ‚Muspilli‘-Lied geschilderten Szenariums ebenso wie im ‚Jüngsten Gericht‘ Frau Avas durch die Referenz auf die uueroltrehuuison42 gesichert. Unter uueroltrehuuison versteht MÜLLER „die Kundigen des Rechts der Welt“43. HAUG übersetzt dieses dreigliedrige Kompositum als „die den Weltlauf kennen“44. Es ist nicht Intention dieses Aufsatzes zu entscheiden, ob es sich hier um Rechtsgelehrte oder um Wissende des Weltlaufs handelt. Der semantische Schwerpunkt des deutschen Kompositums liegt auf der letzten Komponente, in diesem Fall || 38 „Ich hörte die Kundigen des Rechts der Welt sagen, / dass der Antichrist mit Elias kämpfen wird. / [...]. / Doch es glauben viele Gottesmänner, / dass Elias in diesem Kampf verwundet werde, / so dass des Elias Blut auf die Erde tropft: / Dann brennen die Berge, kein einziger Baum bleibt stehen / auf der Erde, die Wasser trocken aus, / das Moor verschlingt sich, die Flammen verbrennen den Himmel, / der Mond fällt herunter, es brennt der Erdkreis, / kein Stein bleibt bestehen, wenn der Sühnetag ins Land zieht, / er kommt mit Feuer, sucht die Menschen auf: / Da kann kein Verwandter dem anderen helfen vor dem muspilli“. Muspilli, in: HAUG u. VOLLMANN (Anm. 36), S. 50–57, V. 37–59. 39 Zur Zeitfrage im ‚Muspilli‘-Lied siehe Aleksej BUROV, Das ahd. Temporaladverb sar im Kontext der Diskussion über das Konzept zweier Gerichte im Muspilli, in: Lew ZUBATOW u. Alena PETROVA (Hgg.), Sprache verstehen, verwenden, übersetzen: Akten des 50. Linguistischen Kolloquiums in Innsbruck 2015, Frankfurt a. M. 2018, S. 409–415. 40 Im apokalyptischen Denken Frau Avas spielt Wasser als Mittel der Weltvernichtung eine der bedeutendsten Rollen neben Feuer, Erdbeben und Wind. Mehr dazu: Aleksej BUROV, Wasser als Bestandteil des eschatologischen Ereignisses in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in: Moderne Sprachen (Bd. 60.1), Vienna 2016, S. 87–102. 41 Die Bedeutung des Feuers während der Weltvernichtungsprozesses betonte unter anderen Hippolytus von Rom (170–235) in seiner Schrift ‚De Christo et Antichristo‘. Hippolytus von Rom, Das Buch über Christus und den Antichrist, hrsg. v. Valentin GRÖNE (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Serie, Bd. 28), München 1872, Kapitel 41, S. 39. 42 Muspilli (Anm. 38), V. 37. 43 Stefan MÜLLER, Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie, Stuttgart 2007, S. 205. 44 HAUG (Anm. 37), S. 53, V. 37.

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auf dem uuison. Im ‚Muspilli‘-Lied sind es daher die Weisen, deren Autorität für den Aufbau des Berichts über das bevorstehende Weltende in Anspruch genommen wird. Da der Forschung bis heute keine anderen alt- bzw. frühmittelhochdeutschen apokalyptischen Texte mit der Referenz auf die nicht näher präzisierten Weisen bekannt sind, liegt die Vermutung nahe, dass Frau Ava das Lied gekannt haben könnte. Diese Überlegung soll hier nicht als Behauptung, sondern eher als eine vage Vermutung verstanden werden. Der Erforschung der intertextuellen Beziehungen zwischen Avas ‚Jüngstem Gericht‘ und dem althochdeutschen ‚Muspilli‘ sollte meines Erachtens demnächst verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden.

4 Schlussfolgernde Bemerkungen Das Fehlen eines Hinweises auf den heiligen Hieronymus im Gedicht Frau Avas bestätigt die Annahme, dass die Inkluse den pseudo-bedischen bzw. den damianischen Text in mündlicher Form gekannt hat. Für möglich halte ich außerdem den Eingriff des theologisch gebildeten Sohnes in den Schaffensprozess Frau Avas; diesem war anscheinend keine Schrift des Hieronymus bekannt, in der der Weltuntergang als ein 15-Tage andauernder Prozess geschildert wird. Demgemäß hat er der Mutter von solch einem Hinweis womöglich abgeraten.45 Die bedische Referenz auf Hieronymus gilt in der Forschung bis heute als nicht nachweisbar.46 Durch den theologisch gebildeten Sohn bzw. durch Frau Avas eigenes theologisches Wissen lässt sich außerdem der Verzicht auf die Erwähnung der Heiligen Schrift erklären, die sonst in den volkssprachigen Texten wie dem ‚Ezzo-Lied‘, der ‚Wiener Genesis‘ oder dem ‚Exodus‘ als Quelle des geheimen Wissens fungiert. Das im ‚Jüngsten Gericht‘ geschilderte Szenarium hat nämlich keine Entsprechung im Alten oder Neuen Testament. Die durchgeführte Analyse erlaubt die Vermutung, dass sich die Dichterin für einen Kompromiss entschieden hat: Da das aussagekräftige 15-TageSzenarium des Weltuntergangs weder durch die Heilige Schrift noch durch die Autorität des heiligen Hieronymus gesichert werden konnte, untermauert Frau Ava ihre Darstellung durch Referenz auf die eher neutralen Weisen, die sie möglicherweise noch aus dem ‚Muspilli‘-Lied gekannt hat. Die Bezugnahme auf die Weisen kann meines Erachtens als evidenter Beweis für den kreativen Umgang Frau Avas mit dem im Prinzip epigonalen Stoff des 15-Tage-Weltuntergang-Szenariums betrachtet werden.

|| 45 Die intensiven Eingriffe des theologisch gebildeten Sohnes wurden von SCHRÖDER am Beispiel des Gebrauchs der biblischen Figur von Philippus Nathanael (Joh. 1, 45) unter anderem in Avas Werk ‚Leben Jesu‘ nachgewiesen. Siehe dazu SCHRÖDER (Anm. 3). 46 Gustav GRAU, Quellen und Verwandtschaften der älteren germanischen Darstellungen des Jüngsten Gerichts, Göttingen 1908, S. 272.

Marcel Bubert

Kreative Scholastik? Fragen, Probleme und Perspektiven zur Erforschung von Kreativität in mittelalterlichen Expertenkulturen Abstract: In a longstanding tradition, scholasticism is considered to be virtually the antonym of creativity. Before the Scientific Revolution of the 17th century, according to this narrative, medieval scholars do not seem to have produced substantial innovations, but remained almost static within their theological and Aristotelian paradigms. At first glance, this judgement even seems to be adequate, considering the fact that many scholastics did not actually pretend to create new ideas but underlined the view that human beings, from a theological point of view, did not have the capability to ‘create’ anything at all. However, this does of course not mean that there are in fact no creative intellectual processes in medieval scholasticism. Nevertheless, the question of how these phenomena can be methodologically investigated is by far more difficult and related to intricate epistemological problems. This article intends to discuss theoretical approaches from the fields of sociology and cognitive psychology, concerning their heuristic potential for the purpose of analyzing creative practices in the learned ‘expert cultures’ of the Middle Ages. Keywords: expert cultures, scholasticism, creativity, sociology of knowledge, cognitive psychology

1 Einleitung: Von der Scholastik nichts Neues Als Theodor W. ADORNO im Jahre 1955 seine Bilanz aus dem damaligen Zustand der „Neuen Musik“ zog, kam er zu einem vernichtenden Urteil: Jenes ästhetische Programm, in dem das Innovationspostulat der abendländischen Musik zu sich selbst gekommen war, jene subversive Strömung, die den Ton des Affirmativen verschmähte, gerade diese urdynamische Aufbruchskunst, deren Wesen in der „Kündigung des Einverständnisses“ lag – sie zeigte nunmehr, so ADORNO, „Symptome der falschen Befriedung“. Dieses „Altern der Neuen Musik“ aber hat seine Ursache, wie ADORNO dem schadenfrohen „Einwand der Reaktion“ zähneknirschend zugesteht, in nichts anderem als eben in dem Umstand, dass sich in die moderne Kunst „Scholastik“ eingeschlichen habe und sich unaufhaltsam ausbreite. Dass die

|| Marcel Bubert, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Domplatz 20–22, D-48143 Münster, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-026

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dereinst innovative und dynamische Kunst zur „Scholastik“ geworden ist, begründet für ADORNO ihren Selbstverrat, insofern der schöpferische Impuls der heroischen Zeit in ein starres System geronnen ist, das nicht mehr durch Aufbruch und Innovation, sondern durch Statik, Affirmation, ja man möchte sagen, Autoritätshörigkeit gekennzeichnet ist.1 Der Begriffsgebrauch, dessen sich ADORNO bedient, mithin das kulturelle Image, das der Begriff der Scholastik verkörpert, steht freilich in einer langen Interpretationstradition,2 in der die Scholastik als generalisierter Gegenpol des Kreativen fungiert. Vom Humanismus Francesco Petrarcas3 über den Empirismus Francis Bacons,4 die Skepsis René Descartes’ und der Aufklärungsphilosophie,5 bis hin zur ästhetischen Urteilskraft Theodor W. ADORNOS konstituierte die universitäre Scholastik immer wieder die profilbildende Kontrastfolie intellektueller Neuerungen. Die muffige Dialektik eines rückwärtsgewandten Schulbetriebs wurde hier gleichsam zum Inbegriff einer „Erziehung zur Müdigkeit“6. Auch an jüngeren Postfigurationen dieser Denkfigur, in der die Neuerungsfeindlichkeit mittelalterlicher oder vormoderner Wissensordnungen als das schlichtweg Andere moderner Dynamiken begegnet, mangelt es bekanntlich nicht. Nicht nur die kreativitäts- und innovationsbezogenen Modernisierungsnarrative der neueren Soziologie, wie die von Harmut ROSA oder Andreas RECKWITZ über die „Steigerungsgesellschaft“7 oder die „Erfindung der Kreativität“8, stehen in der Tradition

|| 1 Theodor W. ADORNO, Das Altern der Neuen Musik, in: DERS., Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a. M. 2003, S. 143–167. 2 Zur Deutungsgeschichte der Scholastik allgemein: Frank REXROTH, Die scholastische Wissenschaft in den Meistererzählungen von der europäischen Geschichte, in: Klaus RIDDER u. Steffen PATZOLD (Hgg.), Die Aktualität der Vormoderne (Europa im Mittelalter, Bd. 23), Berlin 2013, S. 111– 134. 3 Ruedi IMBACH, Virtus illiterata. Signification philosophique de la critique de la scolastique dans le ‚De sui ipsius multorum ignorantia‘ de Pétrarque, in: DERS. u. Catherine KÖNIG-PRALONG, Le défi laique. Existe-t-il une philosophie de laics au Moyen Âge?, Paris 2013, S. 167–192. 4 Steven SHAPIN, The Scientific Revolution, Chicago 1996, S. 121, 140; Julian MARTIN, Francis Bacon, the State, and the Reform of Natural Philosophy, Cambridge 1992. 5 Zur Polemik gegen die Scholastik zusammenfassend: David LINDBERG, Conceptions of the Scientific Revolution from Bacon to Butterfield: A Preliminary Scetch, in: David LINDBERG u. Robert WESTMANN (Hgg.), Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge 1990, S. 1–26; zu Descartes als Kritiker: John SCHUSTER, Descartes-Agonistes. Physico-Mathematics, Method and CorpuscularMechanism, 1618–33, Dordrecht 2013. 6 In scherzhafter Anlehnung an Theodor W. ADORNO, Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker, 1959–1969, hrsg. v. Gerd KADELBACH, 13. Aufl. Frankfurt a. M. 1991. 7 Hartmut ROSA, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. 8 Andreas RECKWITZ, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt a. M. 2012.

Kreative Scholastik? | 435

eines entsprechenden „historisch vermittelten Deutungsschemas“9. Auch Rudolf STICHWEH hat wiederholt die (im Wortsinne) ‚autopoietische‘ Produktion des modernen Wissenschaftssystems von der administrativen ‚Organisation‘ der Wissensbestände in vormodernen Gelehrtenkulturen unterschieden.10 Nun wird es kaum mehr überraschen, wenn ich an dieser Stelle sage, dass im vorliegenden Beitrag eine andere Perspektive auf die scholastische Wissenskultur des Mittelalters formuliert werden soll. Doch so sehr man sich als Mediävist provoziert fühlt, seine historischen Schützlinge gegen die bis heute grassierenden Vorurteile humanistischer Provenienz zu verteidigen, so sollte man nicht so naiv sein zu glauben, ein nachdrücklicher Hinweis auf die – ohne jeden Zweifel – originellen und innovativen Leistungen mittelalterlicher Gelehrter würde die Dinge schon ins rechte Licht rücken und zeigen, wie die Scholastik jenseits aller Klischees „eigentlich gewesen“ ist. Auch wenn man tatsächlich leichtes Spiel hätte, zahlreiche zukunftsweisende Neuerungen auf den Gebieten der Logik und Sprachphilosophie,11 der Mechanik und Statik,12 der Optik und ‚Physik‘13 oder der politischen Theorie anzuführen, so lauert doch nichtsdestoweniger auf Schritt und Tritt die Gefahr, die eigene, historisch und kulturell bedingte Kategorie der Kreativität ins finstere Mittelalter rückzuprojizieren und einzelne Scholastiker vorschnell und anachronistisch zu wissenschaftlichen Originalgenies zu stilisieren. Schaut man nicht auf die wenigen herausragenden Denker, sondern auf die breite Masse der kleinen, unpopulären, mitunter anonymen Autoren von Kommentaren und Traktaten, so wird man schnell in seinem apologetischen Enthusiasmus gebremst. Wenn ein typischer Aristoteles-Kommentar aus dem Lehrbetrieb der mittelalterlichen Universität eines nicht ist, dann originell.14 Immer wieder dieselben Questiones zu den ,Zweiten Analytiken‘, zur ‚Physik‘, ‚Metaphysik‘ oder ‚Nikomachischen Ethik‘ des Philosophen werden in ähnlicher Weise diskutiert, oder gleich aus anderen Kommentaren

|| 9 Otto Gerhard OEXLE, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Peter SEGL (Hg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, S. 307–364. 10 Rudolf STICHWEH, Die Autopoiesis der Wissenschaft, in: DERS., Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Bielefeld 2013, S. 47–72. 11 Paradigmatisch etwa in der „Logica Modernorum“: Henk A. G. BRAAKHUIS, Logica Modernorum as a Discipline at the Faculty of Arts of Paris in the Thirteenth Century, in: Olga WEIJERS u. Louis HOLTZ (Hgg.), L’enseignement des disciplines à la Faculté des arts (Paris et Oxford, XIIIe et XIVe siècles) (Studia artistarum 4), Turnhout 1997, S. 129–145. 12 Marshall CLAGETT, The Science of Mechanics in the Middle Ages, Madison 1959. 13 Klassisch: Anneliese MAIER, Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, 2. Aufl. Rom 1966. 14 Zur Gattung des Kommentars siehe: Olga WEIJERS, La structure des commentaires philosophique à la Faculté des arts: quelques observations, in: DIES., Études sur la Faculté des arts dans les universités médiévales. Recueils d’articles, Turnhout 2011, S. 191–218; Jan-Hendryk DE BOER, Kommentar, in: DERS., Marian FÜSSEL u. Maximilian SCHUH (Hgg.), Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch, Stuttgart 2018, S. 265–318.

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wörtlich übernommen.15 Der Eindruck einer epigonenhaften, ja geradezu lustlosen Reproduktion des Immergleichen, der sich daraus ergibt, verpasst demjenigen, der mit den überkommenen Klischees endlich aufräumen möchte, unweigerlich zunächst einen heftigen Dämpfer. Hat man es hier nicht doch mit einer fundamental anderen Wissenschaftskultur zu tun, die mit anderen epistemischen Ordnungen, anderen Rationalitätskriterien, und vor allem, einer gänzlich anderen Finalität intellektueller Produktion verbunden ist? Die Feststellung von Andreas RECKWITZ, dass es heutzutage vollkommen absurd wäre zu sagen, man wolle in seiner Arbeit nicht kreativ sein, scheint für diese Wissenskultur jedenfalls nicht ohne weiteres zu gelten. Im Alltag des scholastischen Paradigmas, also dem, was Thomas KUHN die „normale Wissenschaft“ genannt hat,16 erhebt kein Magister den Anspruch, mit seiner dialektischen Durchdringung kanonischer Referenztexte irgendetwas epistemisch Neues zu generieren, das über den etablierten ‚Forschungsstand‘ hinausginge. Vielmehr scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein: Gerade die prominentesten Scholastiker sind es, die die Annahme menschlicher ‚Kreativität‘ grundsätzlich zurückweisen. Wenn Thomas von Aquin in seiner ‚Summa theologiae‘ festhält, quod nulla creatura possit creare17, scheint er damit die allgemeine, in augustinischer Tradition stehende Sichtweise mittelalterlicher Gelehrter über die gestalterischen Möglichkeiten des Menschen auf den Punkt zu bringen.18 Die Vorstellung, dass Menschen nicht nur mit vorgegebenem Material etwas „machen“ (facere), sondern Neues erschaffen (creare), scheint, so betrachtet, tatsächlich erst im späten 18. Jahrhundert denkbar zu werden. Die Verschiebung vom Prinzip der imitatio zur creatio, von der Nachahmung zur Schöpfung, die Hans BLUMENBERG und andere an der Schwelle zur säkularisierten Moderne verortet haben,19 ließ zunächst Dichter, später sogar Komponisten wie Carl Philipp Emanuel

|| 15 Exemplarisch: Anonymus Magister Artium, Questiones super librum Ethicorum, hrsg. v. Iacopo COSTA (Studia artistarum 23), Turnhout 2010; Anonymus Magister Artium, Questiones super Physicam, hrsg. v. Albert ZIMMERMANN (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 11), Berlin 1968. 16 Thomas S. KUHN, The Structure of Scientific Revolutions, 5. Aufl. Chicago 2012. 17 Thomas von Aquin, Summa theologiae, in: Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici Opera omnia, cura et studio fratrum praedicatorum, Bd. 4, Rom 1888, pars I, q. 45, art. 5, ad 3. 18 Solus creator est Deus, hatte Augustinus in seiner Schrift ‚De Trinitate‘ festgehalten (Sancti Aurelii Augustini De Trinitate Libri XV, ed. W. Mountain, Turnhout 1968, Buch III, S. 143); siehe dazu auch: Walter HAUG, Die theologische Leugnung der menschlichen Kreativität und die Gegenzüge der mittelalterlichen Dichter, in: Renate SCHLESIER u. Beatrice TRINCA (Hgg.), Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft, Hildesheim 2008, S. 73–87; Christian KIENING, Literarische Schöpfung im Mittelalter, Göttingen 2015, S. 7–11. 19 Hans BLUMENBERG, Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen, in: DERS., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981,

Kreative Scholastik? | 437

Bach oder Georg Friedrich Händel,20 zu ‚Originalgenies‘, und damit zu Schöpfern von ‚Werken‘ werden, denen eine autonome Substanz zukommt, die sich nicht mehr auf vorgegebenes Material reduzieren lässt, sondern neuen werkimmanenten Sinn konstituiert.21 Einmal in der Welt, entfaltete diese Denkfigur des Genie-Diskurses rasch eine expansive Potenz: Der ‚geniale Wissenschaftler‘, der nicht schon Vorhandenes ‚auffindet‘, sondern etwas Neues ‚erfindet‘, sollte bald ebenfalls zum Rollenarsenal moderner Gesellschaften gehören. Die mittelalterliche Wissenschaft der Scholastik liefert dazu offenbar das Gegenmodell. Nicht neue Erfindungen, auch nicht neue Interpretationen der Autoritäten, sondern das dialektische Aufdecken der darin vorgegebenen Wahrheit, gilt als Prinzip der „scholastischen Methode“.22 Hatte ein früherer Exeget diese Wahrheit schon gefunden, war ‚Abschreiben‘ nur konsequent. Eine „Kreatur“ konnte nichts substantiell Neues mehr hinzufügen. Was Andreas RECKWITZ als Kennzeichen des Kreativitätsdispositivs der Gegenwart beschreibt, nämlich eine „Kopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ“, scheint in dieser Wissenskultur demnach exakt auf den Kopf gestellt: Man wollte nicht kreativ sein und man sollte es auch nicht sein!23 Bestätigt dies nicht die althergebrachten Deutungen? „Fröhlich“ mag die Scholastik in ihrer institutionalisierten Selbstreferentialität gewesen sein.24 Aber kreativ?

2 Kreativität beobachten Vor dem Hintergrund dieses zunächst ernüchternden Eindrucks dennoch von einer „kreativen Scholastik“ des Mittelalters zu sprechen, erweckt nicht nur den Verdacht eines naiven oder sogar trotzigen Anachronismus; auf der ‚Kreativität‘ scholastischer Wissensproduktion zu beharren, führt vielmehr auf das unbequeme Terrain eines ganz grundsätzlichen erkenntnistheoretischen und epistemologischen

|| S. 55–103; siehe auch Hans Robert JAUß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982. 20 Erik FISCHER, Das „Nachleben“ Georg Friedrich Händels, oder: Die Inszenierung einer Rezeptionsgeschichte als Wirkungsgeschichte, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 191–197. 21 Zur Entstehung des Genie-Diskurses: Jochen SCHMIDT, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985. 22 Klassisch: Martin GRABMANN, Die Geschichte der scholastischen Methode, 2. Bde., Freiburg 1909–1911; siehe auch Ulrich LEINSLE, Einführung in die scholastische Theologie, Paderborn 1995. 23 RECKWITZ konstatiert „[…] eine Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung: Man will kreativ sein und man soll es sein“ (RECKWITZ (Anm. 8), S. 10). 24 Frank REXROTH, Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters (Historische Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung), 2. Aufl. München 2019.

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Problems, das in den Theoriedebatten der historischen Kulturwissenschaften alles andere als geklärt ist. Denn die Frage, ob Kreativität eine historisch unbedingte mentale Fähigkeit menschlicher Subjekte ist, die auch unabhängig davon existiert, dass sich jemand beobachtend darauf bezieht, oder ob es sich dabei um eine diskursive Konstruktion handelt, die von der spezifischen Episteme jener Kultur abhängt, in der sie als kognitive Eigenschaft beobachtet und zugeschrieben wird, diese Frage findet in verschiedenen Theoriekontexten nach wie vor unterschiedliche Antworten.25 Gegenüber der konstruktivistischen Wissenssoziologie, die im Anschluss an Peter BERGER und Thomas LUCKMANN26 sowie Michel FOUCAULT ‚Kreativität‘ als Kategorie der Selbst- und Fremdbeobachtung, mithin als kommunikative Zuschreibung begreifen muss, erheben etwa die Forschungen der Kognitionspsychologie einen viel grundsätzlicheren Anspruch. Die psychologischen Studien zu ‚Expertenwissen‘27 definieren die Fähigkeit, die Probleme eines spezifischen Bereichswissens auf innovative Weise zu lösen, als allgemeines und objektives Charakteristikum kognitiver Exzellenz.28 Wie später diskutiert wird, gibt es gute Gründe dafür, dass dort, wo sich die historischen Kulturwissenschaften für ‚Experten‘ zu interessieren begonnen haben,29 die Perspektive der Psychologie bislang wenig rezipiert wurde. Adäquater erschienen hier die Ansätze der Wissenssoziologie, die sich mit der sozialen Konstruktion, der Inszenierung, Wahrnehmung und Zuschreibung von Expertise beschäftigt. Ein Experte ist hier nicht über seine ‚wirkliche‘ Expertise, sondern über eine in bestimmten Kommunikationssituationen von Beobachtern attribuierte sozia-

|| 25 Dies ist auch ein zentraler Streitpunkt in der berühmten Debatte zwischen Michel FOUCAULT und Noam CHOMSKY: Noam CHOMSKY u. Michel FOUCAULT, The Chomsky-Foucault Debate on Human Nature, New York 2006. 26 Peter L. BERGER u. Thomas LUCKMANN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 24. Aufl. Frankfurt a. M. 2012; sowie die diskurstheoretische Weiterführung: Reiner KELLER u. a. (Hgg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung, Konstanz 2005. 27 K. Anders ERICSSON (Hg.), The Road to Excellence. The Acquisition of Expert Performance in the Arts and Sciences, Sports, and Games, Mahwah 1996; DERS. u. Jacqui SMITH (Hgg.), Toward a General Theory of Expertise, Cambridge 1991; Michelene T. H. CHI u. a. (Hgg.), The Nature of Expertise, Hillsdale 1988. 28 Dazu auch: Marcel BUBERT, The Attribution of What? Grenzen der Expertise zwischen sozialer Konstruktion und mentaler Realität, in: Marian FÜSSEL, Frank REXROTH u. Inga SCHÜRMANN (Hgg.), Praktiken und Räume des Wissens. Expertenkulturen in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2019, S. 19–41. 29 FÜSSEL, REXROTH u. SCHÜRMANN (Anm. 28); Björn REICH, Frank REXROTH u. Matthias ROICK (Hgg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne (Beiheft der Historischen Zeitschrift 57), München 2012, S. 12–44; Frank REXROTH, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter (Freiburger Mediävistische Vorträge 1), Basel 2008.

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le Rolle definiert, die an die konstitutive Komplementärrolle des Laien gebunden bleibt.30 Ob es sich dabei um unvereinbare Gegensätze handelt, sei vorerst dahingestellt.31 In den weiteren Ausführungen möchte ich zunächst besprechen, ob und, wenn ja, in welchem Maße, die kognitionspsychologische Perspektive als solche für die historische Erforschung von ‚Kreativität‘ und kreativer Wissenspraxis in der Scholastik des Mittelalters unter bestimmten Parametern nicht doch aufschlussreich und heuristisch fruchtbar sein könnte. Denn sucht man nun jenseits der ‚Selbstbeschreibung‘ der mittelalterlichen Gelehrten, also jenseits des theologischen Verdikts über das menschliche Schöpfertum oder der Beteuerungen, nur eine vorgegebene Wahrheit aufdecken oder bewahren zu wollen, nach etwaigen Formen kreativer Wissenspraxis und Innovation, so stellt sich freilich die Frage, wie diese methodisch erforscht werden können. Eine solche Perspektive einzunehmen, also danach zu fragen, wo die Scholastiker denn nicht doch – unabhängig davon, wie sie sich selbst beschrieben oder von anderen beschrieben wurden – in ihrer gelehrten Praxis ‚kreative‘ Leistungen erbrachten, würde hier insofern das (in postmodernen Zeiten höchst fragwürdige) Unterfangen implizieren, nach beobachterunabhängiger Kreativität zu fragen. Dabei darf man freilich nicht durcheinanderkommen: Absolute beobachtungsunabhängige Kreativität gibt es nie und nimmer. Nur sind es hier die forschenden Subjekte, die rückblickenden Historiker und Historikerinnen, nicht die zeitgenössischen Beobachter, die diese Kreativität registrieren und zuschreiben. Von Zeitgenossen beobachtete und attribuierte Innovation findet sich durchaus in sehr verschiedenen Kontexten, nicht selten im Rahmen von Kritik und Zensur: Der erfinderische Roger Bacon etwa wurde im Franziskanerorden aufgrund „verdächtiger Neuerungen“ zu Hausarrest verurteilt.32 Kreative Ansätze wurden hier kritisch beäugt, aber eben damit als solche registriert, attribuiert und auf diese Weise erst hervorgebracht. Sieht man vom Urteil der Zeitgenossen jedoch ab und möchte selbst beobachten, wo mittelalterliche Gelehrte in ihrer Praxis ‚innovativ‘ waren, ist eine entsprechende

|| 30 Zur Performativität von Expertenkulturen: Frank REXROTH u. Teresa SCHRÖDER-STAPPER (Hgg.), Experten, Wissen, Symbole. Performanz und Medialität vormoderner Wissenskulturen, München 2018; zum Wechselspiel von Inszenierung und Zuschreibung: Marcel BUBERT u. Lydia MERTEN, Medialität und Performativität. Kulturwissenschaftliche Kategorien zur Analyse von historischen und literarischen Inszenierungsformen in Expertenkulturen, in: Ebd., S. 29–68. 31 Um eine Verbindung von Soziologie und Psychologie bemüht sich: Harald A. MIEG, The Social Psychology of Expertise. Case Studies in Research, Professional Domains, and Expert Roles, Mahwah 2001; siehe ebenso: BUBERT (Anm. 28). 32 Jeremiah HACKETT, Roger Bacon: His Life, Career and Works, in: DERS. (Hg.), Roger Bacon and the Sciences. Commemorative Essays (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 57), Leiden 1997, S. 9–24; zu Zensur im Mittelalter: Luca BIANCHI, Censure et liberté intellectuelle à l’université de Paris (XIIIe-XIVe siècles), Paris 1999.

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Methodenreflexion unumgänglich – eine Reflexion, die auch über das grundsätzliche Erfordernis hinausgeht, die (zwangsläufig arbiträr gesetzten) Parameter zu definieren, anhand deren Kreativität erst registrierbar wird. Drei Möglichkeiten bieten sich an, um beobachterunabhängige Kreativität (im oben definierten Sinne) zu erforschen: (1) Eine Möglichkeit bestünde darin, nach den heimlichen Strategien zu suchen, mit denen die Scholastiker ihre kreativen Ansätze und theoretischen Innovationen zu vertuschen versuchten, etwa durch den Vorwand, Altes zu wiederholen oder die göttliche Weltordnung aufzudecken, durch die willkürliche Auswahl und Umdeutung von Autoritäten oder durch eine Beglaubigung mittels fingierter Quellen. Die Künstler, besonders die Dichter des Mittelalters haben die „theologische Leugnung der menschlichen Kreativität“ gerade auf diese Weise unterlaufen, indem sie solche Strategien entwickelten, um ihre Neuerungen zu kaschieren.33 Es gäbe Gründe dafür anzunehmen, dass manche Scholastiker, die vorgaben, eine metaphysisch fundierte und gottgewollte Ordnung passiv zu beschreiben, tatsächlich höchst eigensinnige und innovative Vermessungen der Wirklichkeit vornahmen.34 (2) Eine andere Möglichkeit könnte darin liegen, die intellektuellen Dynamiken zu fokussieren, die aus Konflikten und Konkurrenzen zwischen mittelalterlichen Gelehrten oder ‚Schulen‘ resultierten. Insbesondere die konfliktbedingten Dynamiken der Positionierung und Abgrenzung innerhalb gelehrter Konstellationen waren es, aus denen die philosophischen Neukonzeptionen hervorgingen, die aus heutiger Sicht besonders ‚modern‘ erscheinen. Innovationen entstehen in einem solchen sozialen Spannungsfeld primär deshalb, weil man sich von seinen Gegnern unterscheiden möchte. Im Hinblick auf diese produktiven Effekte des ‚Streits‘35 habe ich an anderer Stelle von „kreativen Gegensätzen“ gesprochen.36 Darum soll es im Folgenden aber nicht gehen. (3) Eine dritte Option wäre demgegenüber möglicherweise aus den Ansätzen der kognitionspsychologischen Expertenforschung zu gewinnen. Zumindest scheinen, in freier Aneignung und mit Vorsicht gehandhabt, einige Begriffe und ‚Versuchsanordnungen‘ der Psychologie zu heuristischen Zwecken adaptierbar. Dazu könnte

|| 33 HAUG (Anm. 18), S. 77; ähnlich bereits Umberto ECO, Kunst und Schönheit im Mittelalter, München 1991, S. 13; siehe ebenso Christian KIENING (Anm. 18), der die kreativen Spielräume betont, welche die Dichter nutzten, um den (ontologisch unüberwindlichen) Graben zwischen göttlicher und menschlicher Schöpfung etwa durch Analogien zu überbrücken (S. 182 f). 34 Zu diesem Ansatz: Marcel BUBERT, Gelehrte Autorität und die Ordnung der Dinge. Über Wissen, Macht und die Vermessung der Wirklichkeit im Mittelalter, in: Das Mittelalter 23,1 (2018), S. 48–66. 35 Georg SIMMEL, Der Streit, in: Georg SIMMEL, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hrsg. v. Otthein RAMMSTEDT, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1999, S. 284–382. 36 Marcel BUBERT, Kreative Gegensätze. Der Streit um den Nutzen der Philosophie an der mittelalterlichen Pariser Universität (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 55), Leiden 2019.

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etwa das Konzept der sog. „contrived tasks“ zählen. Gemeint ist damit eine künstlich arrangierte Konfrontation mit Herausforderungen, welche die alltäglichen Routinen von Experten durchbrechen, aber gleichwohl, was entscheidend ist, in ihre epistemische Zuständigkeit fallen. Empirische Studien haben nahgelegt, dass Experten insbesondere dann innovative Ansätze generieren, wenn außergewöhnliche Probleme ihrer epistemischen Domäne eine Neukonfigurationen und ‚kreative Anpassung‘ der Strukturen und Inhalte ihres Wissensbestands erfordern. Die ‚originellen‘ Lösungen, die daraus entstanden, verweisen auf eine tiefenstrukturelle mentale Wissensrepräsentation, welche die spontane Herstellung neuer Verbindungen zur Reaktion auf unvorhergesehene Bedarfsfälle erlaubt. Um diesen Ansatz zu erklären und zu erörtern, ob er für die historischen Expertenforschung hilfreich sein kann, ist ein näherer Blick auf die Expertenpsychologie nötig.37

3 Generative Grammatik des Wissens? Zur Erforschung von Expertise hat die kognitive Psychologie seit den 1960er Jahren differenzierte Kriterien erarbeitet und in zahlreichen empirischen Studien erprobt.38 Ausgehend von der ‚Bereichsspezifizität‘ des Expertenwissens besteht ein zentrales Anliegen dieser Forschungen darin, die besondere mentale Organisation des Wissens durch Experten zu untersuchen, welche sie von ‚Laien‘ (der jeweiligen Domäne) unterscheidet und in die Lage versetzt, in ihrem spezifischen Feld höhere Leistungen zu erbringen. Diese ‚Überlegenheit‘ der Leistung ist freilich an willkürlich gesetzte Kriterien gebunden. Dass die dabei identifizierten Experten allerdings unter entsprechenden Parametern den Nicht-Experten kognitiv weit überlegen waren, ist angesichts der empirischen Resultate unbestreitbar. Die entscheidende Frage dieser Forschungen zielt daher darauf ab, welche an ein spezifisches Problemfeld hochgradig angepassten kognitiven Muster diese Leistungen ermöglichen. Eine klassische Studie von Allen NEWELL und Herbert SIMON formulierte 1972 die These, dass der Unterschied zwischen Experten und Laien in einer Wissensdomäne vor allem in der Weise besteht, in der „Problemräume“ (problem spaces) durchsucht und kategorisiert werden.39 Um diese Vorgänge zu erfassen, haben sich „contrived

|| 37 Damit ist keinesfalls gesagt, dass dieser Zugang den soziologischen Ansätzen (1) und (2) in irgendeiner Hinsicht überlegen wäre; es geht eher darum, die bislang nicht rezipierte psychologische Perspektive einmal zur Debatte zu stellen und versuchsweise zu operationalisieren. 38 Zusammenfassend: Paul FELTOVICH u. a., Studies of Expertise from Psychological Perspectives, in: K. Anders ERICSSON u. a. (Hgg.), The Cambridge Handbook of Expertise and Expert Performance, Cambridge 2006, S. 41–67; Michelene T. H. CHI, Laboratory Methods for Assessing Experts’ and Novices’ Knowledge, in: Ebd., S. 167–184. 39 Allen NEWELL u. Herbert SIMON, Human Problem Solving, Englewood Cliffs 1972.

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tasks“ als besonders ergiebig erwiesen: Man konfrontiert Experten mit Aufgaben, die über ihre gewohnten Tätigkeiten hinausgehen und damit eingeübte Verhaltensmuster irritieren, aber trotzdem noch zu ihrem epistemischen Zuständigkeitsbereich zählen. Bahnbrechend in dieser Hinsicht waren bereits die Studien von Adriaan DE GROOT zu Schachmeistern aus den 1960er Jahren.40 Vor die Herausforderung gestellt, nach wenigen Sekunden die Positionen auf einem Schachbrett zu memorieren, waren die Experten im Gegensatz zu Anfängern in der Lage, nicht nur einzelne Figuren, sondern ganze Konstellationen zu rekonstruieren. Bezeichnenderweise funktionierte dies nur, solange die aufgestellten Figuren auch sinnhafte Konstellationen ergaben, nicht hingegen, wenn sie willkürlich verteilt waren. Dieses in der Psychologie als „chunking“ bezeichnete Phänomen verweist auf die Fähigkeit von Experten, in der Perzeption bereichsspezifischer Probleme komplexe Cluster von Einheiten zu bilden, welche die erfassten Einzeldaten vorsortieren.41 Wenn die kognitive Organisation auf Grundlage abstrakter Prinzipien erfolgt, ergibt sich jedoch ebenso ein offeneres Muster von (möglichen) Verbindungen. Die Studien zu contrived tasks auf verschiedenen Gebieten haben nahegelegt, dass diese abstraktere und zugleich offenere mentale Struktur die Herstellung von dynamischen Relationen ermöglicht, wodurch sich ein hohes Maß an Flexibilität bei der Lösung bereichsspezifischer Probleme ergibt.42 Im Hinblick auf die flexiblere Struktur der Wissensorganisation wird daher ein wesentliches Merkmal hoch entwickelter Expertise in der Fähigkeit zu einer ‚kreativen‘ Anpassung von Wissen gesehen, im Sinne einer Kreativität, die in produktiver Weise auf neuartige Probleme der eigenen Domäne zu reagieren erlaubt.43 Das „chunking“ liefert dafür insofern eine Voraussetzung, als die routinisierte Bildung von Clustern von der kognitiven Überforderung entlastet, die mit der Sortierung unspezifischer Datenmengen verbunden wäre. Dass der innovative Charakter der Expertise von einigen Psychologen als zentrales Element, ja bereichsmodifizierende Kreativität sogar als höchste Ausprägung

|| 40 Adriaan DE GROOT, Thought and Choice in Chess, Mouton 1965; DERS., Perception and Memory versus Thought. Some Old Ideas and Recent Findings, in: Benjamin KLEINMUNTZ (Hg.), Research, Method, and Theory, New York 1966, S. 19–50. 41 William CHASE u. Herbert SIMON, Perception in Chess, in: Cognitive Psychology 4 (1973), S. 55– 81; ebenso waren Architekten bei der Rekonstruktion von Blaupausen in der Lage, ganze Cluster von Räumen statt einzelner Raumelemente wahrzunehmen: Omer AKIN, Models of Architectural Knowledge, London 1980. 42 DIES. u. a., Expertise in Problem Solving, in: Robert STERNBERG (Hg.), Advances in the Psychology of Human Intelligence, Bd. 1, Hillsdale 1982, S. 7–75. 43 FELTOVICH u. a. (Anm. 38), S. 55–57; Robert WEISBERG, Models of Expertise in Creative Thinking. Evidence from Case Studies, in: ERICSSON u. a. (Anm. 38), S. 761–787; DERS., Creativity and Knowledge. A Challenge to Theories, in: Robert STERNBERG (Hg.), Handbook of Creativity, New York 1999, S. 226–250.

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von Expertise angesehen wird,44 ist allerdings erst das Ergebnis eines Paradigmenwechsels der jüngeren Psychologie. Eine derartige Auffassung von Kreativität wäre innerhalb des Paradigmas, das die lernpsychologische Forschung noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts dominierte, kaum denkbar gewesen. Der Behaviorismus B. F. SKINNERs betrachtete den Prozess des Wissenserwerbs als Vorgang von Reiz und Reaktion im Rahmen einer „operanten Konditionierung“45: Der Erwerb von Expertise führt in dieser Perspektive zur Etablierung eines festen Nexus zwischen problematischen Situationen und angemessenen Reaktionen, die sich bei Erfolg stabilisieren. Aus behavioristischer Sicht bestünde Expertise primär in der Fähigkeit, in eingeübten Situationen mit passenden Maßnahmen zu reagieren. Mit dem Aufkommen des cognitive turn in der Psychologie wurde ein neues Verständnis des Wissenserwerbs etabliert. Ein entscheidender Impuls zu dieser ‚kognitiven Revolution‘ ging bekanntlich von Noam CHOMSKYs 1959 publizierter Rezension zu SKINNERs Buch „Verbal Behavior“46 sowie anschließenden Arbeiten CHOMSKYs aus. CHOMSKY nahm an, dass Individuen über einen mentalen Schematismus verfügen, der sie in die Lage versetzt, in höchst kreativer Weise unendlichen Gebrauch von endlichem Material zu machen. Zugrunde liegt unter anderem die Beobachtung, dass jeder Sprecher sehr frühzeitig die Fähigkeit hat, Phrasen und Sätze zu produzieren, die er niemals zuvor in dieser oder ähnlicher Form gehört hat, ja die vielleicht überhaupt noch nie artikuliert wurden. Zentral ist für CHOMSKY dabei, dass derartige generative Prinzipien nicht gelehrt oder antrainiert werden, sie also nicht als Reaktion auf externe Stimuli entstehen.47 Es ist diese spezifische Form von Kreativität, um deren Erforschung die Kognitionspsychologie seither in vielen anderen Bereichen bemüht war. Bezeichnenderweise zählen Studien über Expertise dabei zu den aufschlussreichsten.48 Die Theorie von William CHASE und Herbert SIMON aus dem Jahre 1973 legte die Ansicht nahe, dass Expertise nicht einfach als Akkumulation von Wissensinhalten, sondern als komplexes kognitives Muster zu betrachten sei. Dessen Funktion erschöpfe sich nicht darin, mechanisch bestimmte Wissensdaten zu reproduzieren, sondern befähige dazu, das mental repräsentierte Wissen kreativ an neue Probleme und veränderte Bedingungen anzupassen.49 Wie Paul FELTOVICH u. a. betont haben,

|| 44 K. Anders ERICSSON, The Acquisition of Expert Performance. An Introduction to Some of the Issues, in: DERS. (Anm. 27), The Road to Excellence, S. 1–50. 45 Burrhus Frederic SKINNER, The Behavior of Organisms. An Experimental Analysis, New York 1938; DERS., Science and Human Behavior, New York 1953; DERS., Verbal Behavior, New York 1957. 46 Noam CHOMSKY, Verbal Behavior by B. F. Skinner, in: Language 35 (1959), S. 26–58. 47 DERS., Cartesian Linguistics. A Chapter in the History of Rationalist Thought, Cambridge 2009; DERS., Sprache und Geist, Frankfurt a. M. 2015. 48 Übersicht bei WEISBERG (Anm. 43). 49 CHASE u. SIMON (Anm. 41); DIES., The Mind’s Eye in Chess, in: William CHASE (Hg.), Visual Information Processing, New York 1973.

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sind Experten zwar einerseits mit der Aufgabe konfrontiert, passende Maßnahmen zur schnellen Problemlösung bereitzustellen, gleichzeitig aber auch damit, die kontingenten, unerwarteten und neuen Probleme ihrer Domäne anzugehen.50 Die Effizienz dieses generativen Schemas steht mit der Funktionsweise der mentalen Wissensorganisation bei Experten in engem Zusammenhang: So wie Schachmeister und Architekten nicht einzelne Elemente, sondern komplexe Konfigurationen wahrnehmen, so verfügen Experten grundsätzlich über differenzierte Perzeptionsmuster, die im Bedarfsfall restrukturiert werden können. Die tiefenstrukturelle Organisation des Wissens, also die Kategorisierung nach abstrakten Prinzipien, ermöglicht die spontane Herstellung neuer intrinsischer Relationen zur Anpassung an neue Umstände.

4 Erkenntnistheoretische Vorbehalte Vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Prämissen und Fragestelllungen hat die psychologische Expertiseforschung reichhaltige empirische Resultate hervorgebracht. Doch während die kognitionspsychologischen Parameter zur Beschreibung von ‚Expertise‘ durch empirische Studien mit lebenden Individuen erprobt wurden,51 bleibt deren Anwendbarkeit für die historische Forschung freilich höchst problematisch. Immer noch bleibt der gravierendere Einwand bestehen, den bereits Michel FOUCAULT gegen Noam CHOMSKY vorgebracht hat: In FOUCAULTs Perspektive ist es anachronistisch, Konzepte wie ‚Kreativität‘ als universale Merkmale des menschlichen Geistes zu betrachten, insofern diese Konzepte, wenn sie von einer modernen Wissenschaft formuliert werden, Produkte moderner Diskurse und keine anthropologischen Konstanten sind. Gerade die Einsicht, dass der Kreativitätsbegriff der kognitiven Psychologie erst durch den „cognitive turn“ seit den 1960er Jahren und insofern in einem spezifischen Paradigma entstanden ist, unterstreicht dies umso mehr. Dies ist kein trivialer Einwand, sondern ein erkenntnistheoretisches Problem, das hier nicht in seiner ganzen Komplexität diskutiert werden kann. Freilich macht es einen grundlegenden Unterschied, ob analytische Kategorien im Sinne eines strengen Wissenschaftsrealismus verwendet werden, d. h. mit dem Anspruch, die ‚Ontologie‘ der beschriebenen Realität adäquat zu repräsentieren, oder ob sie

|| 50 FELTOVICH u. a. (Anm. 38), S. 56. 51 Wie etwa von Sylvia SCRIBNER, die in Tests mit Lagerarbeitern ein immenses kreatives Repertoire von Lösungsstrategien im Hinblick auf neue Herausforderungen im Bereich der Logistik und Verladung von Produkten zeigen konnte: Sylvia SCRIBNER, Studying Working Intelligence, in: Jean LAVE u. Barbara ROGOFF (Hgg.), Everyday Cognition. Development in Social Context, Cambridge, MA 1984, S. 9–40.

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unhintergehbar hypothetisch und approximativ bleiben.52 Für die historische Forschung ließe sich der kognitionspsychologische Ansatz natürlich nur dann operationalisieren, wenn die Kategorie der „kreativen Expertise“ nicht mit dem Anspruch verbunden ist, in den Kopf der Akteure zu schauen, sondern einen heuristischen Begriff darstellt, der eine Hypothese über mentale Dispositionen erlaubt. In erkenntnistheoretischer Hinsicht ergibt sich hier also durchaus eine ähnliche Situation wie im Falle der Erforschung von Intentionalität: Obwohl sich die ‚geistigen Zustände‘ historischer Akteure als solche unserer Erkenntnis entziehen, bleibt es bei aller poststrukturalistischen Dezentrierung des Subjekts für die Forschung schlicht unerlässlich, regelmäßig Vermutungen darüber anzustellen, welche „Absichten, Pläne und Strategien“ mit beobachteten Handlungen verbunden waren. Entscheidend ist auch hier, dass diese Hypothesenbildung methodisch reflektiert erfolgt.53 Doch selbst wenn man dieses Argument akzeptiert, so stellen sich für Mediävisten wiederum ganz andere Probleme bei der Quellenlage: Denn die Frage, inwiefern sich Formen eines kreativen Wissensgebrauchs in der Praxis historischer Akteure beobachten und empirisch belegen lassen, ist nicht weniger schwierig. In vielen Fällen ist es schlicht unmöglich, begründete hypothetische Vermutungen über die mentale Disposition von Individuen anzustellen. Im Gegensatz zu Psychologen haben Historiker keine Möglichkeit, willkürlich arrangierte Tests durchzuführen, sondern sind auf die Beobachtung überlieferter Expertenpraxis verwiesen. Dennoch muss dies nicht bedeuten, dass es überhaupt kein empirisches Material gäbe, das sich unter psychologischen Vorzeichen sichten ließe. Relevant wären dafür Fälle, in denen mittelalterliche Träger von Sonderwissen in Situationen gerieten, die den Rahmenbedingungen von contrived tasks strukturell analog sind: Herausforderungen, die ihre spezifischen Wissensfelder betrafen, sie aber vor ungewohnte, ihre alltägliche soziale Praxis durchbrechende Schwierigkeiten stellten. Die Art und Weise, wie gelehrte Experten des Mittelalters die Elemente ihrer Wissensbestände konfigurierten, wenn sie durch ereignishafte Probleme aus der institutionalisierten Praxis der „normalen Wissenschaft“ (wie sie sich etwa in gelehrten Kommentaren manifestiert) herausgerissen wurden, könnte Hinweise auf die Momente und Funktionsweisen eines kreativen Wissensgebrauchs liefern.

|| 52 Zum Wissenschaftsrealismus: Mario DI CARO, Zwei Spielarten des Realismus, in: Markus GABRIEL (Hg.), Der Neue Realismus, Berlin 2014, S. 19–32; eine philosophische Begründung liefert Hillary PUTNAM, What is Mathematical Truth?, in: DERS., Mathematics, Matter and Method. Philosophical Papers, Bd. 1, Cambridge 1975, S. 60–78. 53 Dazu: Jan-Hendryk DE BOER u. Marcel BUBERT (Hgg.), Absichten, Pläne, Strategien. Erkundungen einer historischen Intentionalitätsforschung (Kontingenzgeschichten 5), Frankfurt a. M. 2018.

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5 Forschungsperspektiven: Kreative Experten und ihre Probleme Eine umfassende Quellenanalyse und empirische Auslotung dieses Ansatzes würde freilich den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Hier ging es zunächst um „Fragen, Probleme und Perspektiven“. Zum Abschluss sei daher nur ein knapper Ausblick auf mögliche Untersuchungsfelder gegeben. Außergewöhnliche, aber domänenspezifische Probleme boten sich den Gelehrten des Mittelalters in sehr verschiedenen Kontexten. Dies konnten rein innerwissenschaftliche Fragen sein, die sich aus ungewohnten Diskussionszusammenhängen ergaben. Doch es liegt auf der Hand, dass derartige Spezialprobleme nicht zuletzt dann auftraten, wenn Gelehrte jenseits ihrer normalen Wissenschaft in die Rolle eines ‚Experten‘ schlüpften, der sich auf außerakademische Aufgaben einließ. Da die Expertise der Juristen im späten Mittelalter von zunehmender sozialer Relevanz war, gerieten Legisten und Kanonisten immer häufiger in die Situation, als Experten von ratsuchenden Laien konsultiert zu werden.54 Insofern die Expertenrolle dabei zugeschrieben wurde, war sie also als solche sozial konstruiert. Dies ist hier entscheidend, weil erst dadurch die nötige ‚Bereichsspezifizität‘ zustande kommt: Juristen werden (in diesem Fall) als Juristen konsultiert, nicht als Seelsorger oder Apotheker. Psychologisch ist nun jedoch von Interesse, welche konkreten Lösungen sie zur Bewältigung der bereichsspezifischen Probleme generierten. Nichtalltägliche und daher irritierende Herausforderungen innerhalb der sozial konstruierten Zuständigkeit ergaben sich etwa im Verlauf der großen Konflikte zwischen weltlichen Herrschern und Päpsten, wenn beide Seiten ihre Juristen konsultierten und mit ungewohnten Streitfragen konfrontierten. Im 13. Jahrhundert passierte dies den Juristen Kaiser Friedrichs II., als sich dessen Konflikt mit dem Papsttum zuspitzte. Auf dem Höhepunkt des Streits zwischen Friedrich und Papst Innozenz IV., im Kontext der Absetzung des Staufers auf dem Konzil von Lyon im Jahre 1245, ergab sich tatsächlich eine ungewohnte Konfliktlage, auf die das universitäre ‚Training‘ der Juristen nicht vorbereiten konnte.55 Auf diese explosive Situation reagierte ein Advokat Friedrichs, Thaddeus von Suessa, mit gewagtem Vorgehen:

|| 54 Exemplarisch: Helmut WALTHER, Learned Jurists and the Profit for Society: Some Aspects of the Development of Legal Studies at Italian and German Universities in the Late Middle Ages, in: William J. COURTENAY u. Jürgen MIETHKE (Hgg.), Universities and Schooling in Medieval Society (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 10), Leiden 2000, S. 100–126. 55 Peter HERDE, Friedrich II. und das Papsttum. Politik und Rhetorik, in: Mamoun FANSA (Hg.), Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums, Mainz 2008, S. 52–65; Gerhard BAAKEN, Die Verhandlungen von Cluny (1245) und der Kampf Innocenzʼ IV. gegen Friedrich II., in: DERS. u. a. (Hgg.), Imperium und Papsttum. Zur Geschichte des 12. und 13. Jahrhunderts, Köln 1997, S. 247–288; Wolfgang STÜRNER, Friedrich II., Bd. 2: Der Kaiser 1220–1250, Darmstadt 2003.

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Sein Appell an ein zukünftiges Generalkonzil, um das Urteil des Papstes anzuzweifeln, war in der Tat eine unerhörte Neuerung.56 Zum Zweck der Legitimierung dieser höchst ungewöhnlichen Maßnahme adaptierte Thaddeus konventionelle juristische Formeln, um sie dann so zu kombinieren, dass sie seiner neuartigen Strategie den Anschein juristischer Rechtmäßigkeit verliehen. Dass der Experte der Kanonistik hier keine antrainierte, bereits bewährte Reaktion auf konventionelle Probleme im Sinne einer ‚operanten Konditionierung‘ zur Schau stellt, sondern die Bestandteile seiner Expertise in neuer Weise organisiert, zeugt von einer dynamischen Wissensorganisation, die eine kreative Anpassung an die ungewohnte Situation ermöglicht. Diese Form eines kreativen Expertisegebrauchs, also die situativ maßgeschneiderte, prinzipienbasierte Neukonfiguration von Bereichswissen zur Lösung unvorhergesehener Probleme, lässt sich in vielen Kontexten mittelalterlicher Expertenkulturen beobachten. Nicht nur Juristen, auch Philosophen und Theologen gerieten mitunter in die Situation, als Experten auf Probleme der außerakademischen Welt antworten zu müssen. Spektakuläre Konflikte konnten auch hier ungewöhnliche Lösungen erfordern. Der berühmte ‚Defensor pacis‘ (1324) des Marsilius von Padua, den der Scholastiker Ludwig dem Bayern widmete, ist aus einem solchen Kontext hervorgegangen.57 Anders als in einem ‚normalen‘ Kommentar aus dem universitären Lehrbetrieb, wird hier die aristotelische Politiktheorie auf eine aktuelle Problemkonstellation bezogen.58 Freilich bedeutet dies nicht, dass neue Ideen durch neue gesellschaftliche Bedingungen ‚determiniert‘ werden. Innovationen in der politischen Theorie konnten jedoch unter solchen stimulierenden Bedingungen besonders in Fahrt kommen, wenn diese die Eigendynamik der generativen Prinzipien anstießen. In psychologischer Hinsicht geht es aber vor allem darum, wie diese generativen Prinzipien der Wissensorganisation arbeiten. Weniger die ‚Originalität‘ neuer Ideen, sondern die kreative Aneignung und situationsspezifische Aktualisierung von Bereichswissen ist dabei von Interesse. Für Irritationen, die diese Prozesse anregten, waren die scholastischen Experten aber sehr empfänglich. Als der Philosoph und Theologe Johannes Quidort im Jahre 1302 vom französischen Königshof, der sich in einen spektakulären Machtkampf mit Papst Bonifaz VIII. verstrickt hatte, um

|| 56 Thomas WETZSTEIN, Die Autorität des ordo iuris. Die Absetzung Friedrichs II. und das zeitgenössische Verfahrensrecht, in: Hubertus SEIBERT (Hg.), Autorität und Akzeptanz. Das Reich im Europa des 13. Jahrhunderts, Ostfildern 2013, S. 149–182. 57 Jürgen MIETHKE, Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, Tübingen 2008, S. 204–247; Frank GODTHARDT, Marsilius von Padua und der Romzug Ludwigs des Bayern. Politische Theorie und politisches Handeln, Göttingen 2011. 58 Im Prolog kündigt Marsilius an, dass er ein Problem behandeln wird, das Aristoteles nicht habe vorhersehen können, weshalb es hier überflüssig sei, die Aussagen des Stagiriten schlicht zu wiederholen (Marsilius von Padua, Defensor pacis, hrsg. v. Richard SCHOLZ (MGH Fontes Iuris Germanici Antiqui 8), Hannover 1933, S. 8 f.).

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ein Gutachten zum Verhältnis von geistlicher und weltlicher Gewalt gebeten wurde,59 lieferte der Scholastiker alles andere als eine konventionelle politische Theorie, die schulmäßig gelernte Antworten reproduzierte. Als Experte der aristotelischen Philosophie fiel das zur Debatte stehende Problem durchaus in seine epistemische Zuständigkeit, war in diesem Sinne also ‚bereichsspezifisch‘; die zu bewältigende Streitfrage jedoch überstieg angesichts ihrer Brisanz alle wissenschaftlichen Aufgaben, mit denen der Gelehrte bis dahin befasst gewesen war. Das Gutachten, das Johannes schrieb,60 kann als eine maßgeschneiderte Lösung betrachtet werden, die an das ungewohnte Problem in spezifischer Weise angepasst war. Die Art und Weise aber, in der Johannes diese Aufgabe anging, lässt eine wissensmäßige Kreativität erkennen, die durch die freie Aneignung und Vernetzung verschiedener Wissensbestände neuartige Argumente fabrizierte. Mit seinen Referenzen verfuhr Johannes teilweise in einer derartig freien Form, dass vom originalen Kontext der angeführten Gedanken nichts mehr übrigblieb. Virtuos kombiniert der Gelehrte die Theoreme der ‚Nikomachischen Ethik‘ und der ‚Politik‘ des Aristoteles, um auf Grundlage dieser neu arrangierten Argumentationsstruktur die Unabhängigkeit der weltlichen von der geistlichen Macht theoretisch zu begründen. Diese produktive Adaptation und Transformation von Elementen der aristotelischen Philosophie basiert hier nicht auf konkreten Ähnlichkeiten, sondern auf abstrakten Homologien, die ihre Neukonfiguration ermöglichen. Von Aristoteles’ Urteil, dass sich in einem Haus nicht eine Person um viele Aufgaben kümmern sollte,61 über das Theorem, dass die Natur nur eine Potenz verleiht, wenn auch Aktualisierung möglich ist,62 bis hin zur Verpflichtung auf das Gemeinwohl und zum Vorgehen gegen Staatsfeinde63 wird alles in einen neuen Argumentationszusammenhang eingelesen und aufeinander bezogen. Dies sind ‚dynamische Verbindungen‘, die offensichtlich auf einer abstrakten und flexiblen Wissensorganisation beruhen, welche den Experten zu einer kreativen Problemlösung befähigt.

6 Schlussbetrachtung: Kreative Scholastik! Die anfangs aufgeworfene Frage, ob die Rede von der „kreativen Scholastik“ ein dreister oder trotziger Anachronismus bleiben muss, konnte in diesem Beitrag nur oberflächlich diskutiert werden. Dass es legitim ist, nach analogen Praktiken eines

|| 59 Zu Johannes Quidort: Chris JONES (Hg.), John of Paris. Beyond Royal and Papal Power, Turnhout 2015; Karl UBL, Johannes Quidorts Weg zur Sozialphilosophie, in: Francia 30,1 (2003), S. 43–72. 60 Johannes Quidort, De regia potestate et papali, hrsg. v. Fritz BLEIENSTEIN, Stuttgart 1969. 61 Ebd., S. 107 f. 62 Ebd., S. 115. 63 Ebd., S. 75 f., 196.

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kreativen Wissensgebrauchs zu suchen, auch wenn die Zeitgenossen keinen analogen Begriff menschlicher ‚Kreativität‘ hatten, mag vielleicht einleuchten. Schwieriger erschien aber die Frage, in welchem Kontext derartige Praktiken eigentlich zu erwarten wären. Deutlich sollte geworden sein, dass die Suche nach kreativer Wissenspraxis zunächst kommunikative Räumen differenzieren müsste. Dies gilt sowohl innerhalb des gelehrten Feldes und scholastischer Textsorten, als auch im Verhältnis von inner- und außerakademischen Kontexten. Dieselben Akteure, die im Medium des Aristoteles-Kommentars längst geklärte Fragen lustlos reproduzierten, liefen in anderen Kontexten zu Hochform auf, wenn sie das gleiche Material hemmungslos eigensinnig umdeuteten und für neue Problemlagen adaptierten. Das generative Prinzip, von begrenztem Material nahezu unbegrenzten Gebrauch zu machen, indem Wissensbestände im Bedarfsfall neu arrangiert werden, begegnet in der überlieferten Wissenspraxis historischer Experten offenbar nicht zuletzt dann, wenn diese, wie die Probanden der modernen Kognitionspsychologie, mit bereichsspezifischen Irritationen konfrontiert werden, die jenen der contrived tasks analog sind. Eine Problemlage, die routinisierte Verhaltensmuster aufbricht, aber innerhalb der eigenen epistemischen Domäne zu bewältigen ist, führte nicht zu radikal neuen Methoden, sondern zu kreativen Neukonfigurationen des Bereichswissens auf Grundlage abstrakter Homologien. Derartige Phänomene scholastischer Kreativität begegnen offenbar besonders (aber nicht ausschließlich) außerhalb der „normalen Wissenschaft“ im Sinne Thomas KUHNs. Damit konnte eine Verschiebung des Kommunikationsraums verbunden sein: Schlüpften die scholastischen Gelehrten in die Rolle des ‚Experten‘, so waren sie nicht mit wissenschaftlichen Fragen im engeren Sinne, sondern mit den Anliegen ihrer Klienten befasst, die ungewohnte Probleme aufwerfen konnten, für die jeweils ‚maßgeschneiderte‘, also neu arrangierte Lösungen generiert werden mussten. Der durch die Deutungstradition vermittelte Eindruck, dass die Bezeichnung „kreative Scholastik“ allenfalls als Inbegriff des Oxymorons erscheinen kann, bestätigt sich nur dann, wenn man an den falschen Stellen sucht. Zu den ‚falschen‘ Stelle für die Suche nach kreativen Prozessen im Mittelalter zählen freilich keinesfalls pauschal die Produkte normaler Wissenschaft. In Aristoteles- und Sentenzen-Kommentaren wurden mitunter höchst innovative, ja subversive Gedanken produziert, etwa über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren, über das Universalienproblem oder Impetustheorien.64 In der Logik (für die Kritiker der || 64 Zu Debatten über Tiere demnächst: Marcel BUBERT, The Order of Creatures. Conflicting Demarcations of Humans and Animals in the European Middle Ages (erscheint in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte); einige der zentralen Beiträge zum Universalienstreit wurden im ganz konventionellen Genre des Sentenzen- oder Aristoteleskommentars erbracht, etwa von Johannes Duns Scotus, William von Ockham, Gabriel Biel u. a.: Hans-Ulrich WÖHLER (Hg.), Texte zum Universalienstreit, Berlin 2014; zur Impetustheorie: Jürgen SARNOWSKY, Die aristotelisch-scholastische Theorie der Bewegung. Studien zum Kommentar Alberts von Sachsen zur Physik des Aristoteles, Münster 1989, S. 381–404.

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Scholastik der Inbegriff nutzloser Spitzfindigkeit) ging man im 13. Jahrhundert selbstbewusst dazu über, neue theoretische Bereiche zu erschließen, die nicht von Aristoteles vorgegeben waren. Der Oxforder Gelehrte William von Sherwood hat mit seiner Schrift über die ‚Syncategoremata‘ (also die nicht selbstständig bezeichnenden Sprachzeichen) einen der innovativsten Beiträge zur Theoriebildung der mittelalterlichen Logik geleistet.65 Derartige ‚Neuerungen‘ vollzogen sich geradezu unmerklich, aus der Eigendynamik scholastischer Debatten, ohne dass damit ein explizites Innovationspostulat oder ein Kreativitätsimperativ der Wissenschaftskultur verbunden war. Auch ohne eine derartige Selbstbeschreibung finden sich hier gleichwohl analoge Praktiken ‚autopoietischer‘ Wissensproduktion. Diese kreativen Prozesse, die eine Rede von der „kreativen Scholastik“ ebenso rechtfertigen könnten, liegen allerdings auf einer anderen Ebene als jene, die in diesem Beitrag primär in den Blick genommen wurden. Das psychologische Konzept der „contrived tasks“ rückt demgegenüber stärker jene Situationen in den Fokus, in denen Scholastiker eben nicht aus der inneren Dynamik gelehrter Debatten innovativ wurden, sondern aufgrund exogener Stimuli in die Lage gerieten, als Experten eine neuartige Lösung für ein ungewohntes Problem zu kreieren. Für die Erforschung von Kreativität in mittelalterlichen Expertenkulturen scheint diese Trennung der Ebenen und der damit verbundenen Kommunikationsräume heuristisch sinnvoll zu sein. In der scholastischen Wissenschaft des Mittelalters entstanden Innovationen demnach aus sehr unterschiedlichen Gründen, teilweise aus intrinsischer Motivation, oftmals aber aufgrund exogener Impulse durch außerordentliche Problemlagen. Diese Kreativität der Scholastik jenseits ihrer historisch bedingten Selbstbeschreibung zu konstatieren, also als Historiker zu beobachten und zuzuschreiben, muss erkenntnistheoretisch keine Bauchschmerzen bereiten, solange man die durch die Beobachtung selbst erbrachte Konstruktionsleistung im Blick behält und nicht in einen naiven Realismus verfällt, der den alten Klischees die eigentliche Scholastik entgegenhalten möchte. Dass die hier genannten Akteure, wie Thaddeus von Suessa und Johannes Quidort, über eine ‚kreative Expertise‘ im psychologischen Sinne verfügten (also über kognitive Fähigkeiten, die auch dann existieren würden, wenn sich kein Zeitgenosse beobachtend darauf bezogen hätte), lässt sich festhalten, ohne eine konstruktivistische Sichtweise preiszugeben. Zumindest so betrachtet, mag es weniger fragwürdig erscheinen, dem interdisziplinären Methodenspektrum zur Erforschung schöpferischer Wissenskulturen neue Theoriebausteine hinzuzufügen, und sei es nur um tunlichst zu verhindern, dass sich in die historische Expertenforschung Scholastik einschleicht.

|| 65 William von Sherwood, Syncategoremata, hrsg. v. Christoph KANN u. Raina KIRCHHOFF, Hamburg 2012.

Nicolas Huss

Mittelalterliche Alltagspsychologie Über die Bedeutung humoralcharakterologischen Wissens für die Literatur im 13. Jahrhundert Abstract: This paper examines the variability and adaptability of scientific discourses in medieval literature from the perspective of a medieval understanding of the body and the character. Special attention is paid to the four humours and all the other interrelated sets of four within natural philosophy, which are omnipresent in medieval medicine. After the so-called humoral characterology (a theory of personality) had emerged from humoral pathology schemes of late antiquity by the 12th century, this discourse becomes an encyclopaedic commonplace in a Latin-clerical setting during the 13th century. In this field the humoral characterology is pushed into the background by Aristotelianism, the scientia experimentalis and the direct reception of Galen and Avicenna. However, these humoral-characterological schemes find a new home in popular medicine such as mnemonic verses like the ‘Regimen sanitatis Salernitanum’ or vernacular pharmacopoeias such as the ‘Hochdeutsche Bartholomäus’, the ‘Deutsche Salernitanische Arzneibuch’ or the pharmacopoeias from Ortolf of Baierland. Based on these 13th century pharmacopoeias, the paper will show which core elements of the scholastic and Latin texts survive and are structured in a new way. Basically, the paper tries to argue in favour of ‘folk psychology’ as a key concept for our approach to Middle High German literature: humoral-characterological schemes are seen as ‘everyday psychology’. In this way some literary figures, such as Tschinotulander in Albrecht’s ‘Jüngerem Titurel’ can be read in a more coherent way. Keywords: pharmacopoeia, medical knowledge, adaption of knowledge, ‘Jüngerer Titurel’, humors

Wenn eine Erzählung an dem Punkt angekommen ist, an dem sie eigentlich ein Happy End finden könnte, die Handlung aber dennoch nicht endet, stellt man sich die Frage, warum und vor allem wie es wohl weitergeht. Dies ist auch der Fall in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘,1 einem nachklassischen Artusroman aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert, der die Geschichte um ein bereits bei Wolfram von Eschenbach angelegtes Minnepaar umfangreich und ausführlich weiter- und wiederer-

||

Nicolas Huss, Deutsches Seminar, Abteilung Germanistische Mediävistik, Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, D-72074 Tübingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-027

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zählt. Bei dem Paar handelt es sich um die Figuren Sigune und Tschinotulander, die bereits im ‚Parzival‘ Wolframs zu finden sind und in den sogenannten ‚Titurel‘Fragmenten2 zu zentralen Figuren der Erzählung werden. Diese Textfragmente, in denen es neben der Jugendgeschichte von Sigune und Tschinotulander hauptsächlich um den Erwerb und Verlust des Brackenseils geht (eine prächtige mit einer Schrift aus Edelsteinen versehene Hundeleine, die Tschinotulander Sigune zum Geschenk macht, nachdem er einen entlaufenen Jagdhund eingefangen hat), bilden die Grundlage für den ‚Jüngeren Titurel‘, der auf dem Fundament dieser Fragmente die Geschichte um das Minnepaar fortsetzt. Zunächst interessiert im Folgenden einer von mehreren Erzählabschnitten des ‚Jüngeren Titurel‘, an dem eine Figurenmotivation kaum bis gar nicht mehr erkennbar ist.3 Eingeleitet wird das Textstück damit, dass das Brackenseil – ein besonderes Ding, das Tschinotulander als Liebesgabe beziehungsweise Minnebeweis seiner Geliebten Sigune zurückbringen sollte,4 damit Sigune die Lektüre der darauf geschriebenen Tugendlehre beenden kann – am Artushof öffentlich verlesen wird.5 Dem vorausgegangen war, wie in den Fragmenten Wolframs vordisponiert, der Verlust der Hundeleine.6 An den Artushof gelangte das Brackenseil, da sich dessen || 1 Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel Band 1 (Strophe 1–1975), hrsg. v. Werner WOLF (Deutsche Texte des Mittelalters 45), Berlin 1955. 2 Wolfram von Eschenbach, Titurel, hrsg., übers. u. mit einem Stellenkommentar versehen von Helmut BRACKERT u. Stefan FUCHS-JOLIE, Berlin, New York 2003. 3 Siehe hierzu auch: Florian KRAGL, Klarifunkel. Oder: Warum beim „Jüngeren Titurel“ der Teufel nicht im Detail steckt, in: Martin BAISCH u. a. (Hgg.), Der ‚Jüngere Titurel‘ zwischen Didaxe und Verwilderung, Göttingen 2010, S. 139–182. 4 Vgl. Jüngerer Titurel (Anm.1), Str. 1214–1216: Diu strang ir was gebunden zu herzen also nahen. ir kriec gar unerwunden will durch richheit nach dem seile gahen. si sprach: ‚al roͤ misch rich wer dir ze chleine gen dirre selben strangen, were dir kunt di schrift dar an so reine. / Solch aventiur ist wesende geschriben an der strangen. bin ich di niht zu lesende, so ist mir gar unmære Katelangen und swaz mit ieman richheit kund gebieten. da vur ich dannoch wolde der schrift an dem seile mich genieten. / Di red bin ich dir gebende noch nieman zu vare. wern aber wir beide lebende die endelosen zit komender jare, so daz din munt sprech nach miner minne, diu muͤ st dir immer wilden, dune brehtes mir di strang, die nu was hinne.‘ 5 Vgl. ebd., Str. 1871: Einen schriber wol geleret man lesen hiez die strangen. nu moht diu schrift geheret uber al von man zu manne niht gelangen. da von muͦ st man si von ring zu ringe lesen al den werden, vrowen schar und herren sunderlinge. – Es folgt von Strophe 1874–1927 die Tugendlehre, die auf dem Brackenseil geschrieben steht. Hierbei sind vor allem die zwölf Tugendblumen hervorzuheben, die in den Strophen 1911–1925 auserzählt werden. Nach der editorischen Kennzeichnung durch Werner WOLF sind dies belde, küsche, milt, triwe, maz an allen dingen, sorge, scham, bescheiden, stæte, diemüte, gedulde und minne. – Wobei hier zu erwähnen ist, dass die ersten beiden Tugenden nicht so leicht zu identifizieren sind, da diese in einer Art chiastischen Stellung stehen: mit zuhten belde, küsche, ein lutzel vrebele[.] Ebd., Str. 1911. 6 Vgl. ebd., Str. 1204: Er was ouch Ekunate des tages alrerst entrunnen. den vrowen rief si drate. die heten sine spise do gewunnen. in daz gezelt hie gahten si vil balde. der hunt was uz geloufen. do horte man in gahes da zu walde.

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aktuelle Besitzerin, Jeschute, ebenfalls dort eingefunden hatte. Alle Anwesenden sind von seiner magischen Wirkung erquickt und von Freude erfüllt: Alle vreude cleine was wider der aleine, Die vreude der schrifte gie von dar zu di buͦ chstab waren.

uber al uf Floritschanze swenne man in do las di lere ganze. der steine krefte, di liebsten mere dann von meisterschefte.7

Auch kann Sigune nun ihre Lektüre des Brackenseils – nachdem sie diese ja nicht beenden konnte, da der Bracke ihr mitsamt dem Seil entlaufen war – auch bequem im Privaten fortsetzen.8 Im Anschluss nimmt die Handlung jedoch einen eher unerwarteten Fortgang, obwohl jetzt doch einem glücklichen Ausgang der Liebesgeschichte von Sigune und Tschinotulander nichts mehr im Wege zu stehen scheint. Nachdem Sigune die Lektüre des Brackenseils abschließen konnte, erklärt sie zugunsten Tschinotulanders ihren Verzicht auf den dauerhaften Besitz der Hundeleine.9 Dieser beschließt nun aber, seine Minnedame erneut zurückzulassen, um ein

|| 7 Ebd., Str. 1930. Übersetzung: „Der ganze feine Frohsinn verweilte erneut indes auf Floritschanze, sobald man dort die ganze Lehre verlas. Der Frohsinn der Schrift ging von der Kraft der Edelsteine aus, aus welchen die Buchstaben gefertigt waren. Diese erfreuten darüber hinaus durch Kunstfertigkeit.“ 8 Es geht Sigune hauptsächlich um das Beenden ihrer Lektüre der auf dem Brackenseil geschriebenen Tugendlehre, weniger um den Besitz der Hundeleine. Vgl. ebd, Str. 1858 (des bin ich gernde […], daz ich di schrift vol lese an dem seile). 9 Vgl. ebd., Str. 1946: Do sprach die Tschosiane vruht: ‚ich bin vor pine vri und leides ane, sit du ab Orilus und Leheline ritterlich erstritten hast di strangen. – Für Sigune ist zu diesem Zeitpunkt die Aufgabe, die sie Tschinotulander stellte (nämlich das Brackenseil zurückzuerlangen) erledigt. Sie beharrt nicht mehr auf den Besitz der Hundeleine. Vgl. Conrad BORCHLING, Der jüngere Titurel und sein Verhältnis zu Wolfram von Eschenbach, Göttingen 1897, S. 40. – Das Brackenseil bleibt aber weiterhin als ‚Konfliktmaterial‘ aktiv, ohne jedoch direkt etwas mit dem nun folgenden Orientzug zu tun zu haben. Auf diesen Punkt hat auch Katharina PHILIPOWSKI treffend hingewiesen, wenn sie sagt, dass Tschinotulander nur noch der Tod als Option bliebe, damit die von Sigune ökonomisierte Minne als Gabe letztlich eine ‚freie‘ Gabe sei. Vgl. Katharina PHILIPOWSKI, ich hete kranke sinne, / daz ich im niht minne gap (Parzival 141,20 f.). Minne als lön und als gäbe im Tristan und im Jüngeren Titurel, in: Margareth EGIDI u. a. (Hgg.): Liebesgaben: kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Philologische Studien und Quellen 240), Berlin 2012, S. 101–118, S. 113–114, 116–117. – Es bleibt an dieser Stelle allerdings zu fragen, inwieweit der Tod überhaupt als Gabe gelten darf, da durch Erzählerkommentar (er jach, er wolt ir minne nimmer gewalten, biz si gewaltihlichen daz bracken seil fur eigen mocht behalten. Jüngerer Titurel (Anm. 1), Str. 1957) das Brackenseil weiterhin als Gabe im Spiel bleibt, auch wenn Sigune dieses nicht mehr verlangt. An dieser Stelle argumentiere ich, dass es eine andere Gabe (Salamanderschild) ist, die zu diesem Verhalten Tschinotulanders führt. Sigune ist auch bereits vor Tschinotulanders Orientreise bereit, sich ihm hinzugeben, womit ihre Minne als ‚freie‘ Gabe gelten kann; allerhöchstens geknüpft an Tschinotulanders zuvor vollbrachte kämpferische Leistung um das Seil. Diese Taten wiederum schmälern den Wert von Sigunes Minne nicht. Deshalb

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weiteres Mal in den Orient zu fahren, den er zuvor schon als Knappe Gahmurets, Parzivals Vater, bereist hat.10 Die Gründe für seine Entscheidung, die vom Text bereitgestellt werden, erscheinen wenig plausibel angesichts der Tatsache, dass Tschinotulander nun endlich in erfüllter Minne mit seiner Auserwählten leben könnte. Das Hilfegesuch des Baruch, eines Herrschers aus dem Orient, die Rache für den Tod seines eben dort gefallenen Ziehvaters Gahmuret sowie die erneute Erprobung seiner Kampffähigkeiten sind – dies legt die Erzählung jedenfalls nahe – keineswegs ausreichende Motivationsgründe, die Tschinotulanders stures Beharren auf der Orientfahrt und die Abkehr von der Möglichkeit eines Happy Ends der Geschichte seiner Liebe zu Sigune erklären könnten. Tatsächlich ist es so, dass vielmehr ein weiteres magisches Ding die Beweggründe des Protagonisten zu verstehen hilft. Es handelt sich um den ihm vom Baruch einst geschenkten Salamanderschild.11 Das bedeutet zugleich, dass hier keine tiefenpsychologischen Überlegungen weiterhelfen, das Motivationsgefüge zu entschlüsseln, sondern es ist in diesem Fall ein Tier, das, folgt man mittelalterlichen Darstellungen,12 aussieht wie ein kleiner dicker Drache und in einen goldenen Schild fest eingeschlossen wurde. Auf die eben ins Spiel gebrachte Szene werde ich später noch einmal zurückkommen. Zunächst möchte ich allerdings näher auf das Denksystem eingehen, auf welches das Elementen-Tier des Feuers in Verbindung mit (dem Innenleben) einer literarischen Figur verweist: die Humoralcharakterologie. Vorab sei dafür der Begriff der Alltagspsychologie geklärt, wie er im Folgenden verwendet und ins Verhältnis zur auf den vier Körpersäften basierenden Persön-

|| ist es nicht zwingend Sigunes Minne, die dazu führt, dass Tschinotulander „Sigune nur noch sein junges Leben“ geben kann. PHILIPOWSKI (Anm. 9), S. 114. 10 Das finale Abschiedsgespräch findet sich in den Strophen 2541–2568 im ‚Jüngeren Titurel‘. Vgl. Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel Band 2/1 (Strophe 1958–3236), hrsg. v. Werner WOLF (Deutsche Texte des Mittelalters 55), Berlin 1964. 11 Zum Schild vgl. Jüngerer Titurel (Anm. 1), Str. 1696–1698: Er sant im ouch des goldes geworht einen schilt drivalden. der was vil riches soldes wert, ein salomander drinn behalden. innen holtz des berges Agremonte, mit fiur dar in gesmelzet, dar inne der salomander lebendes wonte. / Ob den nageln gevieret gelochert venster wehe, swenn er buhurdieret, daz man daz fiur her zu do blicken sehe. der wurm zu aller zit lief sunder reste im schilte nach trendels maze. durch daz sach man daz fiur in werder gleste. / Der schilt der was gesteinet so rich und also tiure, der art also gereinet, swenn der salomander in dem fiure durch daz golt den steinen gab sunder hitze, so begunde iegliches varwe brehen gelich der liehten sterne glitze. – Ebenfalls zentral sind die Ausführungen hierzu bei Wolfgang WEGNER und Hans-Henning RAUSCH. Speziell zum Salamander vgl. Wolfgang WEGNER, Albrecht, ein poeta ductus rerum naturae? Zum Umfang und Funktionalisierung naturkundlicher Realien im Jüngeren Titurel (Europäische Hochschulschriften Reihe I Deutsche Sprache und Literatur 1562), Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 144–146. Vgl. Hans-Henning RAUSCH, Methoden und Bedeutung naturkundlicher Rezeption und Kompilation im „Jüngeren Titurel“ (Mikrokosmos 2), Frankfurt a. M. 1977, S. 93–113. 12 Vgl. beispielsweise Koninklijke Bibliotheek, KB, KA 16, 126r oder Kongelige Bibliotek, Gl. kgl. S. 1633 4º, Folio 55v.

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lichkeitslehre13 gesetzt wird. Hierzu dient ein Blick in die volkssprachige Medizinliteratur des 13. Jahrhunderts. Dargelegt werden soll, dass ein ursprünglich im gelehrten Kontext verhandeltes Denkmodell seinen Fortgang in populäreren und praktischeren Texten findet. Im Anschluss daran wird zu fragen sein, warum und inwiefern dieses Konzept für die Analyse literarischer Texte brauchbar ist und weshalb vor allem das beginnende Spätmittelalter als Untersuchungszeitraum hier besondere Beachtung findet. Eine humoralcharakterologische Analyse der eingangs angeführten Textpassage aus dem ‚Jüngeren Titurel‘ bildet den Abschluss. Als Terminus technicus für die Bezugnahme auf humorale Persönlichkeitsmerkmale soll hier der Begriff der Alltagspsychologie bzw. folk psychology dienen. Alltagspsychologie meint an dieser Stelle kein Konzept von basalen bzw. historisch invariablen Prinzipien, sondern ein historisch bedingtes Nachdenken über Psyche und Persönlichkeit des Menschen. Ohne zu sehr auf die Unterschiede in der Auffassung eines Konzepts der folk psychology einzugehen, soll diese hier als „‘conceptual framework’ and/or ‘network of principles’ […] used by ordinary people to understand, explain and predict their own and other people’s behaviour and mental states“14 verstanden werden. Die Brücke von einer folk psychology zur literaturwissenschaftlichen Figurenanalyse lässt sich dank der Arbeit von Fotis JANNIDIS zu „Figur und Person“15 schlagen. JANNIDIS hat darin festgestellt, dass „die Konstruktion […] fiktionale[r] Welten […] ja nicht direkt die aktuale Welt in irgendeiner Form ‚wider[spiegelt]‘, sondern die jeweilige menschliche Wahrnehmung dieser Welt.“16 Ich verstehe das System allerdings als noch variabler und dynamischer, als es der womöglich statisch wirkende Begriff der folk psychology vermittelt. Es geht nicht darum, etwas grundlegend Menschliches universalistisch zu erklären, wie dies beispielsweise die Moralpsychologie versucht, indem man davon ausgeht, dass bestimmtes Verhalten evolutionsbedingt abläuft.17 Vielmehr geht es darum, für einen bestimmten historischen Zeitraum bestimmte Deutungsmuster herauszuarbeiten, die Charakter und Verhalten der Menschen erklären sollen, und diese als historisch ausgeformte Psychologie ernst zu nehmen. Hier bildet das beginnende Spätmittelalter diesen historischen Zeitraum.

|| 13 Hierbei knüpfe ich an die Arbeit von Harald DERSCHKA an: Harald DERSCHKA, Die Viersäftelehre als Persönlichkeitstheorie. Zur Weiterentwicklung eines antiken Konzepts im 12. Jahrhundert, Ostfildern 2013. 14 Barbara VON ECKHARDT, Folk Psychology (1), in: Samuel GUTTENPLAN (Hg.), A Companion to the philosophy of mind, Malden, Oxford, Victoria 1994, S. 300. 15 Fotis JANNIDIS, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie (Narratologia 3), Berlin, New York 2004. 16 Ebd., S. 192. 17 Zum Beispiel die Moralphilosophie von HAIDT. Vgl. Jonathan HAIDT, The righteous mind: Why good people are divided by politics and religion, New York 2012.

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Die Humoralcharakterologie bezeichnet nach Harald DERSCHKA die humorale Persönlichkeitslehre auf dem Fundament der sogenannten Vier-Säfte-Lehre. Nachdem im 13. Jahrhundert das Interesse der scholares am humoralcharakterologischen Viererschema abebbte,18 suchte sich diese Persönlichkeitstheorie neue Rezeptionsfelder und fand sie unter anderem in der populären, eher praktisch ausgerichteten Medizin.19 Ausgangspunkt war neben den volkssprachigen Arzneibüchern das möglicherweise auf dem Wissensstand Hochsalernos basierende ‚Regimen sanitatis Salernitanum‘.20 Dabei handelt es sich um Merkverse, in welchen medizinisches Wissen laientauglich aufbereitet wurde. Die, wie DERSCHKA es nennt, „Popularisierung des Viererschemas“21 fand ihren Niederschlag schließlich in den volkssprachigen Arzneibüchern des 13. Jahrhunderts. Von diesen sind uns heute noch drei umfangreichere Werke erhalten.22 Das berühmteste, mit über 200 Handschriften23 am häufigsten überlieferte, vermutlich um 1300 entstandene volkssprachige Arzneibuch ist das des Ortolf von Baierland. Älter sind der ‚Hochdeutsche Bartholomäus‘ und das ‚Deutsche Salernitanische Arzneibuch‘.24

|| 18 Vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 227–228. 19 Vgl. Ebd., S. 228. 20 Regimen sanitatis Salerni sive Scholae Salernitanae De conservanda bona valetudine praecepta, hrsg. v. Johann C. G. ACKERMANN, Stendal 1790. Mit einer poetisch umgestalteten Übersetzung: Das Medizinische Lehrgedicht der Hohen Schule zu Salerno (Regimen sanitatis Salerni), hrsg. v. Paul TESDORPF u. Terese TESDORPF-SICKENBERGER, Berlin 1915. Zur Übersicht: HAAGE u. WEGNER (Anm. 11), S. 218–219. 21 DERSCHKA (Anm. 13), S. 229. 22 Neben den hier genannten drei Arzneibüchern wäre für ausführlichere Studien auch die deutsche Fassung des ‚Secretum Secretorum‘ von Hiltgart von Hürnheim zu berücksichtigen. Vgl. Hiltgart von Hürnheim, Secretum Secretorum, hrsg. v. Reinhold MÖLLER (Deutsche Texte des Mittelalters 56), Berlin 1963. – Der Text ist auf das Ende des 13. Jahrhunderts (1282) datierbar. Vgl. William CROSSGROVE, Die deutsche Sachliteratur des Mittelalters (Germanistische Lehrbuchsammlung 63), Bern 1994, S. 69. – Ebenso gilt es die enzyklopädischen volkssprachigen Texte (‚Lucidarius‘ und ‚Mainauer Naturlehre‘) zu berücksichtigen. 23 Vgl. Ortrun RIHA, Das Arzneibuch Ortolfs von Baierland (Wissensliteratur im Mittelalter 50), Wiesbaden 2014, S. 15. 24 Für den ‚Bartholomäus‘ gibt es zwar eine textkritische Edition, diese berücksichtigt allerdings nur einzelne Handschriften aus der Londoner British Library: Der Hochdeutsche Bartholomäus, hrsg. v. Walter L. WADRALE u. James FOLLAN, o. O. 1993. Allerdings steht eine neue Edition auf Basis der ältesten Handschriften von Bernhard SCHNELL kurz vor dem Abschluss (Stand Winter 2020). Ich orientiere mich hier an den folgenden Handschriften des 13. Jahrhunderts: München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 92, München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 14851 und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 785. Wie viele Handschriften des ‚Bartholomäus‘ wirklich existieren, konnte bislang noch nicht endgültig aufgezeigt werden. – Für das ‚Deutsche Salernitanische Arzneibuch‘ existiert nur eine unzureichende Abschrift der Handschrift aus Breslau, dem sogenannten ‚Breslauer Arzneibuch‘ (Breslau, Universitätsbibliothek, früher Stadtbibliothek, Cod. R 291): Das Breslauer Arzneibuch R.291 der Stadtbibliothek, hrsg. v. Georg Alexander Constantin KÜLZ u. Emma KÜLZ-TROSSE, Dresden 1908. Eine umfangreiche Edition des ‚Deutschen Salernita-

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Über die Zusammenhänge und Quellen der volkssprachigen Arzneibücher ließen sich wohl jeweils eigene Monographien verfassen, weshalb an dieser Stelle nur in aller Kürze die möglichen Tradierungslinien des humoralcharakterologischen Wissens in die volkssprachigen Arzneibücher skizziert werden. Für den ‚Hochdeutschen Bartholomäus‘ nimmt Gundolf KEIL im Verfasserlexikon zwei Textkorpora an, aus denen sich der Text bediene. Das sind zum einen vorsalernitanische Texte wie Plinius und Texte salernitanischer Provenienz, unter denen vor allem die ‚Practica Bartholomei‘ einen besonderen Platz einnimmt.25 Bezüglich des ‚Deutschen Salernitanischen Arzneibuchs‘ gibt uns KEIL keine allzu genauen Auskünfte, nur dass sich das erste Buch und somit die Komplexionenlehre dieses Textes auf Abū ʾAlī al-Ḥusain ibn ʾAbdallāh Ibn Sīnā (latinisiert Avicenna) berufe.26 Die Nennung der arabischsprachigen Autorität lässt – auch wenn man skeptisch sein mag, was den Inhalt der Komplexionenlehre angeht – zumindest vermuten, dass auch Übersetzungen aus Toledo als Quellen in Frage kommen. Für das ‚Ortolf’sche Arzneibuch‘ sind die zu vermutenden lateinischen Quellen bereits aufgearbeitet und könnten Hinweise liefern, ob das Wissen wie vermutet über Hochsalerno in den deutschen Sprachraum gelangte.27 Durch die Arbeit Ortrun RIHAs bezüglich der Quellen Ortolfs von Baierland lässt sich folgende Wissenstradierung erkennen: Als arabischsprachige Texte sind nach RIHA unter anderem Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarīyāʿ ar-Rāzī (latinisiert Rhazes) und Alī ibn al-ʾAbbās al-Maǧūsī (latinisiert Haly Abbas) auszumachen.28 Salerno ist für die Wissensvermittlung aus den arabischsprachigen Texten an dieser Stelle das richtige Stichwort. Es ist anzunehmen, dass Ortolf den Großteil seines Wissens über Texte aus Salerno bezog. Vor allem treten Constantinus Africanus, Urso von Salerno und ein gewisser Marius hervor.29 Letzterer ist sehr wahrscheinlich allerdings kein Text salernitanischer Produktion.30 Zusammenfassend lässt sich hier sagen, dass die antiken, spätantiken und arabischsprachigen Texte den deutschsprachigen Autoren über die Schulen von Salerno und später auch Toledo zugänglich gemacht wurden. Geht es jetzt aber im Speziellen um

|| nischen Arzneibuchs‘ befindet sich aktuell in Planung bei Elke KROTZ in Wien (Stand Winter 2020). Folgende Handschriften sind für mich zentral: Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 1239 und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek Cod. Donaueschingen 785. 25 Vgl. Gundolf KEIL, ‚Bartholomäus‘, in: Verfasserlexikon Bd. 1 (1978), Sp. 609–615. Zur Practica vgl. DERS., Bartholomäus Salernitanus, in: Verfasserlexikon Bd. 1 (1978), Sp. 623–625. 26 Vgl. Gundolf KEIL, ‚Deutsches Salernitanisches Arzneibuch‘, in: Verfasserlexikon Bd. 2 (1980), Sp. 69–71. 27 Zu den Quellen: Ortrun RIHA, Ortolf von Baierland und seine lateinischen Quellen. Hochschulmedizin in der Volkssprache (Wissensliteratur im Mittelalter 10), Wiesbaden 1992. 28 Vgl. Ebd., S. 14–44. 29 Vgl. Ebd., S. 45. 30 Vgl. Marius, On the Elements. A critical Edition and Translation, hrsg. v. Richard C. DALES, Berkeley, Los Angeles, London 1976, S. 4–6 und RIHA (Anm. 23), S. 46–47.

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humoralcharakterologisches Wissen, treten als Zwischenstufe31 in der Rezeption und Überlieferung unter anderem Texte wie das ‚Regimen sanitatis Salernitatum‘ hervor. Das Wissen dieser ‚Merkverschen‘ lässt sich mitunter auf Vorlagen salernitanischer Provenienz zurückführen.32 Da es hier (bisher) keinen direkten Quellennachweis gibt, lässt sich dies nur anhand der Beschreibung der charakterologischen Eigenheiten in diesem Regimen nachvollziehen. Texte, die hierbei ins Zentrum treten, sind ‚De quattuor humoribus‘33 und ‚Flores diaetarum‘.34 Diese scheinen dem ‚Regimen sanitatis Salernitanum‘ sowie Ortolf35 und dem ‚Deutschen Salernitanischen Arzneibuch‘ als Vorlagen gedient zu haben.36 Dies wird sich im Folgenden bei einer exemplarischen Untersuchung der humoralen Charakterzuschreibungen der cholerischen Person im Regimen und in den drei volkssprachigen Arzneibüchern zeigen.37

|| 31 Im Sinne vom Übergang in die Volkssprachigkeit und nicht zwingend in Bezug auf die Chronologie der einzelnen Texte. Vgl. hierzu auch Anm. 37. 32 Eine weitere Quelle für die Komplexionsverse stellt Beda Venerabilis dar. (Vgl. Martin MOSIMANN, Die „Mainauer Naturlehre“ im Kontext der Wissenschaftsgeschichte (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 64), Tübingen, Basel 1994, S. 229). Auch eine direkte Rezeption spätantiker Texte lässt sich nicht ausschließen. 33 Der Text wird nach DE RENZI einem gewissen Johannes Monachus zugeschrieben, einem Schüler des Constantinus Africanus. Von vielen Seiten wurde allerdings kritisiert, dass es hierfür keine ausreichenden Belege gäbe. Bisweilen bleiben Autor und Datierung somit unklar. Vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 80. 34 Dieser Text wird laut OSTERMUTH einem gewissen Johannes de Sancto Paulo zugeschrieben. Vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 83. 35 Vgl. RIHA (Anm. 23), S. 55–57. 36 Neben den charakterlichen Eigenschaften gibt es einen sehr deutlichen physiognomischen Hinweis darauf, warum vor allem der Text des ‚Flores diaetarum‘, der spätantike ‚Vindicianbrief‘ und der Text des Pseudo-Soran als Wissensträger hervortreten. In den drei letztgenannten Texten findet sich der Hinweis auf das frühe Ergrauen des phlegmatischen Menschen. Vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 56, 87. – Im ‚Hochdeutschen Bartholomäus‘ wird diese Eigenschaft der melancholischen Person zugeschrieben: So ist der mensch melancolicus. […] der wirt shir gra. (München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 92, fol. 1v.) – Im ‚Deutschen Salernitanischen Arzneibuch‘ entspricht die Zuschreibung der phlegmatischen Person: Daz flevma machet […] shir gra (Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 1239, fol. 12r.) Dies zeigt, dass vor allem die zentralen Texte salernitanischer Provenienz, die Harald DERSCHKA bereits in Bezug auf die Humoralcharakterologie ausmachen konnte, wohl auch zentrale Quellen für humoralcharakterologische Zuschreibungen in den deutschsprachigen Arzneibüchern sind. 37 Ob die lateinischen Merkverse des ‚Regimen sanitas Salernitanum‘ vor oder nach dem ‚Deutschen Salernitanischen Arzneibuch‘ entstanden sind, lässt sich nicht nachvollziehen. Hier fehlen die einschlägigen Datierungen. Allerdings scheinen die Charaktereigenschaften, wie sie in den Regimen vorkommen, bereits vor oder spätestens zur Entstehungszeit des ‚Deutschen Salernitanischen Arzneibuchs‘ nachweisbar. Vgl. Erfurt, Universitäts- und Forschugsbibliothek, CA 4°, fol 40v. Vgl. auch: Karl SUDHOFF, Regimen Sanitatis Salernitanum, in: Archiv für Medizingeschichte 12 (1920), S. 149–180, S. 152.

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Die Vielfalt an Texten, die den volkssprachigen Arzneibüchern als Quellentexte zur Verfügung stehen, belegt, dass im 13. Jahrhundert in deutschsprachigen Texten ein breites Feld an rezipiertem und rezipierbarem Wissen zur Verfügung stand. Dieses Wissen wurde extrahiert, tradiert und kompiliert. Deshalb ist vor allem bei dem in Schemata überlieferten Wissen um die vier Säfte eine gewisse Inkohärenz nicht selten. Das Kompilieren sowie auch das Übersetzen und alles, was zwischen diesen beiden Vorgängen liegt (wie das Ergänzen oder Abändern einer Übersetzung), führt zu eben dieser Variabilität und teilweise auch zu neu zusammengesetzten Charakterzuschreibungen. Für einen Einblick in die Überlieferung humoralcharakterologischen Wissens in der volkssprachigen medizinischen Gebrauchsliteratur beschränke ich mich hier auf den cholerischen Charaktertyp und seine Charakterisierung in den populären und damit auch praktisch ausgerichteten medizinischen Texten. Im ‚Regimen sanitatis Salernitanum‘ wird der cholerische Mensch folgendermaßen charakterisiert: Est et humor cholerae, qui competit impetuosis, hoc genus est hominum cupiens praecellere cunctos: Hi leviter discunt, multum comedunt, cito crescunt. Inde magnanimi sunt, largi, summa petentes, hirsutus, fallax, irascens, prodigus, audax, astutus, gracilis, siccus croceique coloris.38

Hier wird so gut wie die gesamte ‚Choleriker-Klaviatur‘ bespielt. Es finden sich vor allem etliche Nennungen von Eigenschaften, die so auch in salernitanischen Texten auftauchen. Vor allem ‚De quattor humoribus‘ und ‚Flores diaetarum‘ sind hier hervorzuheben. Die Eigenschaft des guten Stoffwechsels (cito crescunt) findet sich mit cito digerens in beiden salernitanischen Texten wieder.39 Auch das Adjektiv ‚mutig‘ (audax) taucht in den Merkversen wie in den beiden Texten aus Salerno auf.40 Weitere Beschreibungen des Charakters und der Physiognomie werden mindestens mit semantisch eng verwandten Wörtern übereinstimmend vorgenommen. Inwieweit zeigen sich diese Typenbeschreibungen in den volkssprachigen Texten? Im ‚Hochdeutschen Bartholomäus‘ findet sich bei der Beschreibung des cholerischen Menschen eine der wenigen charakterologischen Zuschreibungen des Arzneibuches überhaupt: daz bedutet dat der mensch ist Colericus. Der hat des pluͦ tes

|| 38 TESDORPF u. TESDPORPF-SICKENBERGER (Anm. 20), S. 85. Übersetzung: „Auch gibt es die Feuchte der gelben Galle, die den Ungestümen zukommt. Diese Art von Menschen ist begierig alle zu übertreffen: Diese lernen leicht, verzehren viel und wachsen schnell. Deshalb sind sie mutig, freigiebig, nach dem Äußersten strebend, roh, trügerisch, zornig, verschwenderisch, kühn, listig, dünn, dürr und von gelbroter Farbe.“ 39 cito digerens ist die durch Harald DERSCHKA grammatikalisch angepasste Form für seine tabellarische Auflistung der humoralcharakterologischen Eigenschaften der beiden hier erwähnten Texte. Vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 85. 40 Vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 85.

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zevil […] der muz durch not. Gahmuͦ tes sin.41 So ist die cholerische Person gahmuotic. Der semantische Bereich dieses Attributs reicht von ‚eilfertig‘ bis ‚jähzornig‘.42 Im ‚Deutschen Salernitanischen Arzneibuch‘ ist die Charakterisierung schon ausführlicher: Div rot colera machet den menschen. zornich. sinnerich. lernich. ringe. chvͤ ne. mager. fræzzich.43 Hier finden sich wörtlich übersetzt annähernd alle Eigenschaften des cholerischen Charakters aus dem ‚Regimen‘ sowie den Texten aus Salerno wieder. Bei Ortolf von Baierland kommt noch eine charakterliche Komponente hinzu, die die Eigenschaften der cholerischen Person recht gut vereint: er ist an seÿnen dingen vnstet.44 Die Unbeständigkeit scheint bei allen feinen Unterschieden der Charakterisierung das verbindende Element zu sein. Auch ist es die Unbeständigkeit, die Tschinotulanders Charakter im ‚Jüngeren Titurel‘ wohl am besten beschreibt. Diese kurze Analyse der cholerischen Person zeigt bereits, wie variabel und dynamisch auf der einen und kontinuierlich auf der anderen Seite das humoralcharakterologische System ist. Mustercharaktere können neu besetzt werden und werden dies mitunter auch. Mischformen sind anzunehmen45 und im Prinzip besitzt jeder Text ein eigenes humoralcharakterologisches System, das durch Kompilation anderer Texte entstanden ist. Dennoch lassen sich Grundtypen, aber auch Mischformen, so die These, in Form einer Alltagspsychologie beschreiben, da es trotz der Varianz bestimmte immer wiederkehrende Muster gibt. Und vor allem auch unser heutiges Bild des melancholischen Charakters zeigt, wie persistent dieses Bild in unserem kulturellen und kommunikativen Gedächtnis ist.46 Versteht man dieses humoralcharakterologische Wissen nun als Persönlichkeitstheorie und nimmt an, dass es im 13. Jahrhundert seinen Weg in die Volkssprache findet, ist es durchaus

|| 41 München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 92, fol. 1r. 42 Nach Matthias LEXER ist gachmuot selbst mit ‚Jähzorn‘ zu übersetzen, während das Adjektiv gachmoutec ‚vehement‘ entspricht und die gachmuotecheit der ‚Eilfertigkeit‘. Vgl. ‚gachmuot‘, ‚gachmuotec‘, ‚gachmuotecheit‘, in: Matthias LEXER, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (1992), S. 722. – Nach dem GRIMM’SCHEN Wörterbuch, das wie auch LEXER als Belegtext auf die Edition des Bartholomäus durch PFEIFER aus dem 19. Jahrhundert verweist, ist Gahmutig mit ‚Vehemens‘, ‚grimmig‘, ‚heftig‘ oder ‚zornmütig‘ zu übersetzen. Vgl. ‚Gahmutig‘, in: Jakob GRIMM u. Wilhelm GRIMM, Deutsches Wörterbuch (1878), Sp. 1148. 43 Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 1239, fol. 12r. 44 RIHA (Anm. 23), S. 43. In Gänze heißt es über den cholerischen Charakter bei Ortolf: Hat er der hicz vnd der dürre mer denn der kelten oder der feuchten, so ist er gach czornig vnd der czoren ist schir hin. Vnd er ist an seÿnen dingen vnstet vnd mager vnd clein an dem leib, […]. Vnd jst seÿnes guts milt vnd geit hin, das jn darnach gerewet, vnd jst künes mütes. Ebd. 45 Vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 94. Bei Wilhelm von Conches sind Zwischenstufen anzunehmen: inaequalitas numerosa et multiplex. Wilhelm von Conches, Philosophia, hrsg. v. Gregor MAURACH, Pretoria 1980, S. 38. 46 Nach Jan ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Jan ASSMANN u. Tonio HÖLSCHER (Hgg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19.

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als ein Denksystem dieser Zeit ernst zu nehmen und verdient entsprechend Aufmerksamkeit. Womöglich ist die Humoralcharakterologie keine Konkurrenz zu anderen Denkmustern und Systemen des Mittelalters, die unseren Blick auf zeitgenössische Texte lenken. Denn es scheint weniger die direkte Rezeption von humoralen Wissensbeständen als vielmehr eine Art Allgemeinwissen der Produzierenden und Rezipierenden zu sein. Michaela WIESINGER hat sich in Bezug auf naturphilosophisches Wissen in der Literatur SEARLEs Background-Theorie bedient und spricht von einem vorintentionalen Bereich, in dem sich naturphilosophisches Wissen befinde.47 Ich möchte hieran anknüpfen und gehe noch einen Schritt weiter. Die Annahme einer alltagspsychologisch verankerten humoralcharakterologischen Denkweise postuliert nicht nur die Abbildung der Gesellschaft in der Literatur oder umgekehrt. Es geht vielmehr um das direkte und indirekte Vorkommen einer im Alltag der historischen Rezipierenden funktionierenden Laienpsychologie (folk psychology). An dieser Stelle kann der Vergleich zu unserer heutigen, in allen Lebensbereichen psychologisierten Gesellschaft gezogen werden. Ähnlich wie unsere Alltagspsychologie lässt sich die Humoralcharakterologie im 13. Jahrhundert als eine ‚Historische Alltagspsychologie‘ einschätzen. Im Folgenden soll die These, dass zu dieser Zeit die Humoralcharakterologie in der Literatur verstärkt hervortritt, empirisch überprüft werden. Es zeigt sich wechselseitig auch in der Literaturproduktion dieser Zeit, dass vor allem im beginnenden Spätmittelalter eine Zunahme naturphilosophischer, medizinischer und humoralcharakterologischer Begrifflichkeiten zu verzeichnen ist. Doch warum ausgerechnet das ausgehende 13. und beginnende 14. Jahrhundert? Zum einen setzt hier die volkssprachige Überlieferung humoralcharakterologischen Wissens ein, was eine breitere Rezeption ermöglichte. Zum anderen zeigt sich in der Literatur eine zunehmende Rezeption mikro- wie makrokosmologischen Wissens. Zu vermuten ist nicht nur eine Teilhabe an gelehrten Wissenskulturen der Zeit, dies war auch schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts der Fall, sondern eine lebensweltliche und damit zugleich unbewusste Rezeption aufgrund des Gebrauchs der humoralcharakterologischen Terminologie im ‚historischen Alltag‘. Indizien in diese Richtung liefert eine Recherche in den in der MHDBDB erfassten Textbeständen. Diese wurden auf zunächst drei deutliche Stichwörter mit zugehörigen Varianten durchsucht: element48, tempern49 und complexio50. Vor allem der letzte Begriff ist

|| 47 Vgl. Michaela WIESINGER, Mischungsverhältnisse: Naturphilosophisches Wissen und die Elementenlehre in der Literatur des 13. Jahrhunderts, Berlin 2017, S. 16. 48 Zugehörige Varianten: elementum, elament(e), element(a/e/â/en), elimenten, ellemen(d)t, ellimenten, elment(e). 49 Zugehörige Varianten: getemper(et/ieret/irt/t/ten/tt), temper(ende/ent/ie/n/ns/nt/t/te), temperung(e), tempervnge. 50 Zugehörige Varianten: complexus, complex(en/ie/ein), complexio(n/ne), complexiô, conplex(en/io/te).

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recht eindeutig auf die Humoralcharakterologie als Denksystem rückführbar. Hier zeigt sich nun folgendes Bild:51 Tab. 1: Texte und zugehörige Trefferzahl beim Suchwort element Texte

Treffer

Frauenlob (Heinrich von Meißen): Gesamte Lyrik

23

Mainauer Naturlehre

13

Albrecht: Jüngerer Titurel

9

Thomasîn von Zerclaere: Der Welsche Gast

9

Heinrich von Neustadt: Gottes Zukunft

8

Für das noch reichlich vielschichtige Wort element, das aber bereits begrifflich mit dem Makrokosmos verknüpft ist, befindet sich der ‚Jüngere Titurel‘ bereits unter den Top Five der Suchergebnisse.52 Betrachtet man bei dieser Suche allerdings den Textumfang, muss die Position des ‚Jüngeren Titurel‘ etwas relativiert werden, da er mit 235.300 Wörtern53 der deutlich längste Text in diesem Zusammenhang ist. Umso erstaunlicher ist hier die Anzahl an Treffern in Bezug auf Frauenlob. Bezogen auf die gesamte Lyrik, die in der MHDBDB erfasst ist, umfasst der Text 67.269 Wörter, was grob ein Drittel vom Umfang des ‚Jüngeren Titurel‘ darstellt. Auch die ‚Mainauer Naturlehre‘ schert etwas aus, da sie mit nur 5.192 Wörtern einen deutlich kleineren Text darstellt. Allerdings ist dies in Bezug auf das Suchwort element mit dem Themenkomplex des Textes zu erklären.

|| 51 Die ersten drei Tabellen zeigen im Folgenden jeweils die fünf Ergebnisse der MHDBDBUntersuchung, in denen sich das gesuchte Lemmata am häufigsten wiedergefunden hat. Die vierte Tabelle zeigt alle zehn Texte an, in denen das Lemma complexio vorkommt. Die Texte, die nach dem Verfasserlexikon zwischen 1250 und 1350 zu datieren sind, sind fett hervorgehoben. 52 Unter den Bedeutungen findet sich für elementum in der MHDBDB folgenden Auflistung. In Klammer befindet sich der Zifferncode, durch welchen die Bedeutung in der MHDBDB realisiert ist (Stand 04/19): Universum/Welt (10000000); Himmel/Atmosphäre/Himmelskörper (11000000); Planet Erde (12000000); Wasser/Flüssigkeiten (12020000); Lateinisch (23123100); Feuer (31231000); Verhältnis/Ordnung/Wert (31300000); Alchemie (32300000). Es zeigt sich anhand der Bedeutungen ein deutlicher Bezug zu makrokosmologischen Lehren und Naturphilosophischem, wenn auch noch nicht im Speziellen zur Humoralpathologie oder -charakterologie. 53 Diese und alle weiteren Angaben zur Wortmenge beziehen sich auf die Angaben in der MHDBDB.

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Tab. 2: Texte und zugehörige Trefferzahl beim Suchwort tempern Texte Albrecht: Jüngerer Titurel

Treffer 12

Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit

7

Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat

5

Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg

5

Frauenlob (Heinrich von Meißen): Gesamte Lyrik

5

Diese Tabelle führt der ‚Jüngere Titurel‘ deutlich an. Auf der Ebene der Quantität gilt auch hier zu beachten, dass nicht alle Texte an den Umfang des ‚Jüngeren Titurel‘ heranreichen. ‚Der Trojanische Krieg‘ von Konrad von Würzburg hingegen schon. So kann hier zumindest vorsichtig eine Sonderstellung des ‚Jüngeren Titurel‘ angenommen werden. Im Hinblick auf die Bedeutung der Lemmata nähert sich die Untersuchung dem Bereich der Charakterologie an.54 Noch eindeutiger ist der Bezug zur Viersäftelehre und der dazugehörigen Persönlichkeitstheorie allerdings beim Wort complexio.55 Tab. 3: Texte und zugehörige Trefferzahl beim Suchwort complexio Texte

Treffer

Frauenlob (Heinrich von Meißen): Gesamte Lyrik

5

Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich

5

Albrecht: Jüngerer Titurel

2

Ulrich Füetrer: Lanzilet

2

Prosa-Lancelot

2

Das Ergebnis zeigt, dass es auch hier wieder der ‚Jüngere Titurel‘ und FrauenlobTexte sind, die in der Analyse durch ihre Nähe zu humoralcharakterologischen Termini auffallen. Eine Beschäftigung mit der Humoralcharakterologie scheint folglich neben dem ‚Jüngeren Titurel‘ auch für Frauenlob und womöglich ebenso für

|| 54 Hier ist neben den Bedeutungen, die dem physikalischen Bereich entspringen, vor allem die Bedeutung der objektbezogenen Aktivität/Tätigkeit (21072000) hervorzuheben, da dies einen Rückschluss auf die Tätigkeit der Säfte bei der Temperierung des Körpers zulässt. 55 Hier finden sich in der MHDBDB folgende Bedeutungen: Mensch/Körper und Gliedmaßen (21030000); Geist/Seele (22000000); Lateinisch (23123100); Existenz (31100000); Eigenschaften/Zustände (31200000). Neben der Bedeutung Lateinisch sind die alles Verweise auf physiognomische, physiologische und psychische Eigenschaften des Menschen und/oder Körpers.

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den ‚Wilhelm von Österreich‘ angebracht. Betrachtet man nochmals die Quantität der Texte, sind die beiden letzteren gegenüber dem ‚Jüngeren Titurel‘ aufgrund der höheren Trefferzahl und niedrigeren Wortzahl etwas hervorzuheben. Insgesamt gibt es, durchsucht man die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank nach dem Stichwort complexio, zehn Texte, in denen dieses Wort vorkommt. Tab. 4: Texte mit mindestens einem Treffer beim Suchwort complexio Frauenlob (Heinrich von Meißen): Gesamte Lyrik Johann von Würzburg: Wilhelm von Österreich Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat Reinfried von Braunschweig Albrecht von Eyb: Ehebüchlein Minneburg Albrecht: Jüngerer Titurel Ulrich Füetrer: Lanzilet Prosa-Lancelot Wunderer

Sieben der zehn Texte sind auf den Zeitraum zwischen 1250 und 1350 zu datieren (hier fett hervorgehoben). Dies spricht für die These, dass im beginnenden Spätmittelalter so etwas wie ein Trend oder Hype um die Humoralcharakterologie, aber natürlich auch Naturphilosophie einzusetzen scheint. Es ist auch deutlich zu erkennen, dass der ‚Jüngere Titurel‘ in dieser kurzen Datenbankanalyse omnipräsent ist. Zudem ist bei der Erwähnung des Wortes complexio im Text des ‚Jüngeren Titurel‘ in beiden Fällen der Bezug zu einer Figur oder dem Innenleben einer Figur gegeben.56 Ich komme nun auf die zu Beginn erwähnte Textstelle des ‚Jüngeren Titurel‘ und den kleinen dicken Drachen zurück. Der Salamander, der das Tier des Feuers ist, nimmt im ‚Jüngeren Titurel‘ einen speziellen Platz in der Erzählung ein. Bevor Tschinotulander zum zweiten Mal in den Orient aufbricht, wird ihm vom Baruch ein Geschenk überreicht: ein Schild aus Tigergold, in welchem ein Salamander einge-

|| 56 Die Textstellen finden sich in Strophe 681 und Strophe 4038. Jüngerer Titurel (Anm. 1), Str. 681: Ir natur complexio getempert und gemezzen mit elementen was also, daz rehter forme wart da nicht vergezzen ze wunsche wol nach hochgelobtem prise, also daz in nicht gebrach wan vite lignum zu paradise. – Hier geht es um die complexio von Herzeloyde. In Strophe 4038 geht es um die complexio in Bezug auf die Minne, die durch die Pfeile Amors verursacht wird. Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel Band 2/2 (Strophe 3237–4394), hrsg. v. Werner WOLF, Berlin 1968, Str. 4038: Niht gar wol underbinden kann si der varw gesihte. Swer sie zereht ervinden will, daz muͦ z ein fisicus die rihte sin gelert von der natur conplexte. ich vind si mit der tate zeprim, zenon, zevesper oder zu sexte.

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schlossen ist.57 Wie kann dieser nun die Erklärung dafür sein, dass Tschinotulander Sigune nicht den Vorzug vor der Orientreise gibt? Bevor hier das Angebot einer humoralcharakterologischen Lesart unterbreitet wird, soll kurz die Geschichte des Minnepaares skizziert werden. Tschinotulander und Sigune sind wie bereits in Wolframs ‚Titurel‘-Fragmenten zentrale Figuren in Albrechts ‚Jüngerem Titurel‘. Die Minne der beiden, bereits von Kindesbeinen an entfacht, kann bei Albrecht als eine Art vorbildliche Liebe gelten, die parallel zur Liebe ihrer Zieheltern, den Eltern Parzivals, gelesen werden kann. Doch scheint zu Beginn des Textes die Liebe in beiden bereits zu sehr zu lodern: ‚Owe Sigun, di clare,‘ ‚du gist mir hitz furware der zallen ziten lebet in dem fiure! danne suͤ ze diner varwe,

sprach Tschinotulander, mer dann der Agrimont dem salomander, so duhte mich, du werest ungehiure.‘58

Die immer wieder als sehr stark und ausufernd beschriebene Minne des Figurenpaares ist den accidentia animi zuzurechnen. Diese zählen zu den sex res non naturales, die die menschliche Säftemischung oder eben complexio beeinflussen.59 Die vordergründige Lösung, die der Text zum Einfangen der Feuerbrunst und der Wiederherstellung des Säftegleichgewichts bietet, ist ein zufällig sich ergebendes Geschenk: das Brackenseil. Die Hundeleine kann als ein magisches Ding der idealen complexio gelten. Seine Struktur, sein Aussehen, seine Wirkung und seine Inschrift deuten an vielerlei Stellen im Text darauf hin.60 Doch der Bracke entkommt Sigune und das

|| 57 Vgl. Anm. 11. 58 Jüngerer Titurel (Anm. 1), Str. 786. Übersetzung: „‚Oh weh Sigune die Schöne‘, sprach Tschinotulander, ‚du schenkst mir wahrlich mehr Hitze als der Berg Agrimont dem Salamander, der zu jeder Zeit im Feuer lebt! Daher schien mir die Lieblichkeit deines Anblicks so, als ob du unheimlich wärst.‘“ – Diese Strophe ist bei Albrecht einer Strophe vorangestellt, die denselben SalamanderVergleich bedient und in dieser Weise schon in Wolframs ‚Titurel‘ vorkommt. Bei Wolfram heißt es: ouwê des, mir ist sîn kunft alze tiure, nâch dem ich dicke erkalde und dar nâch, als ich lige in dem gneistenden viure. sus erglüete mich Schîonatulander: mir gît sîn minne hitze al Agremuntîn dem wurme salamander. Titurel (Anm. 2), Str. 121. – Diese Strophe findet sich bei Albrecht in folgendem Wortlaut: Owe, sin kumft, sin werder gruͦ z ist leider mir zu tiwer, nach dem ich dicke erkalten muͦ z, und darnach, als ich læge in gluͤ endem fiwer, alsus ergluͤ t mich Tschinotulander. mir git sin minne hitze als Agremont dem wurme salomander. Jüngerer Titurel (Anm. 1), Str. 804. 59 Siehe hierzu: Wolfram SCHMITT, Res non naturales, in: LMA, Bd. 7 (1995), Sp. 751–752. Vgl. WEGNER (Anm. 11), S. 209, 218. 60 Das Brackenseil ist zwölf Klafter lang und in vier Abschnitte zu unterteilen, die jeweils eine andere Farbe besitzen. Zwelf klafter was mit lenge daz seil, des varwe vier von siden waren: gel, brun, gruͤ ne, rot so was diu vierde, immer swa diu spanne erwant, geworht in ein ander mit gezierde, ebd., Str. 1185. – Allein die Tetraden lassen einen metonymischen Rückschluss auf die vier Säfte zu. Die hier genannten Farben entsprechen der Edition des ‚Jüngeren Titurel‘ von WOLF und stimmen mit den Farben überein, die in der entsprechenden Strophe in Wolframs ‚Titurel‘ vorkommen: gel,

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Schicksal nimmt seinen Lauf. Zurück zu jener Stelle im Text, die bereits erwähnt wurde: Tschinotulanders Entschluss zum Aufbruch in den Orient im Anschluss an die öffentliche Verlesung des Brackenseils. Hier kommt der Stellenwert des Salamanderschilds für Tschinotulanders Entscheidungen ins Spiel. Die complexio des Liebespaars war, wie oben gezeigt, durch zu stark entfachte Minne in ein Ungleichgewicht geraten. Gehen wir davon aus, dass die Funktion des Brackenseils als magisches Ding darin liegt, Ordnung zu stiften, indem es Einfluss auf die complexio der Figuren nimmt, können wir annehmen, dass dem Salamanderschild eine ähnliche Kraft zu unterstellen ist. Doch dieses Ding, die Hitze und das Feuer in sich tragend, führt nun nicht den Ausgleich herbei, sondern facht das Feuer in Tschinotulander weiter an, sodass selbst die Rezeption des Brackenseils es nicht vermag, Tschinotulanders humoraler Austrocknung entgegenzuwirken. Ein eindeutiger || grüene, rôt, brûn diu vierde, Titurel (Anm. 2), Str. 144. – Neben dem hier benutzen Text des ‚Jüngeren Titurel‘, der der Leithandschrift folgt, finden sich in anderen Handschriften auch andere Farben. An dieser Stelle ist zu fragen, ob hier die Farben der Elemente wiederzuerkennen sind. Grün könnte der Farbe des Wassers entsprechen, sowie rot der Farbe des Feuers. Allerdings ist sich die mittelalterliche Naturphilosophie nicht einig über die Farbe der Elemente. So berichtet Marius, dass diese eigentlich farblos sind: Videntur, inquam, huiusmodi colores habere, sed in rei veritate, nullo participant colore, sicut patens est in tellure, DALES (Anm. 30), S. 58. – Bei Urso von Salerno hingegen ist nur die Luft ein farbloses Element, während den anderen die Farben rot (Feuer), weiß (Wasser) und schwarz (Erde) zugeschrieben werden. Vgl. Urso von Salerno, De commixtionibus elementorum libellus, hrsg. v. Wolfgang STÜRNER (Stuttgarter Beiträge zur Geschichte und Politik 7), Stuttgart 1976, S. 54. – Neben den Farben müssen auch die Edelsteine, die das Brackenseil schmücken und aus denen die Schrift besteht, miteinbezogen werden. Vgl. Jüngerer Titurel (Anm. 1), Str. 1188–1189. Auch hier lässt bereits die Tatsache, dass nach mittelalterlicher Lithologie Edelsteine inhärente Kräfte besitzen, die sich auch auf den Körper auswirken, die Möglichkeit offen, dem Brackenseil eine Einflussnahme auf die complexio der Figuren zuzuschreiben. So gilt beispielsweise der Smaragd, aus dem die Buchstaben der Brackenseilinschrift sind (Smarac warn di buͦ chstaben, ebd., Str. 1188), bei Hildegard von Bingen als „gutes Mittel gegen alle Gebrechen und Krankheiten des Menschen“. Übersetzung durch Peter RIETHE: Hildegard von Bingen, Das Buch von den Steinen, nach den Quellen übersetzt und erläutert v. Peter RIETHE, Salzburg 1979, S. 34. Lat.: Et ideo smaragdus fortis est contra omnes debilitates et infirmitates hominis. Hildegard von Bingen: Opera Omnia, hrsg. v. Jacques-Paul MIGNE (Patrologia Latina 197), Paris 1855, Sp. 1249. Auch die weiteren auf dem Brackenseil untergebrachten Edelsteine stützen – zieht man Hildegard hinzu – die These, dass das Seil unter anderem zur Reorganisation der complexio der beiden Figuren dient: Der Diamant steht für staete. Vgl. WEGNER (Anm. 11), S. 84. Der Chrysolith hilft nach Hildegard gegen Herzschmerzen: Et qui in corde dolet, ipsum lapidem baumoleo intingat, et tunc ita oleo intinetum super locum ubi dolet striché, et melius habebit. Opera Omnia (Anm. 60), Sp. 1254. Übersetzung vgl. RIETHE (Anm. 60), S. 50. Auch wirkt dieser Stein gegen Furcht und Traurigkeit (also gegen Melancholie), vgl. WEGNER (Anm. 11), S. 95. Der Türkis wirkt sich ebenfalls positiv auf die Tugenden aus: zuht, diemuͤ te wirt von im enzundet. Albrechts Jüngerer Titurel Band 3/2 (Strophe 5418–6327), hrsg. v. Kurt NYHOLM (Deutsche Texte des Mittelalters 77), Berlin 1992, Str. 6231. Zuletzt sei noch auf den Hyazinth verwiesen, der gegen Wahnsinn hilft, der sich aus Bezauberung oder Magie ableitet: Et si quis per fantasma aut per magica verba bezaubert est, Opera Omnia (Anm. 60), Sp. 1251. Übersetzung vgl. RIETHE (Anm. 60), S. 36.

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Hinweis auf Tschinotulanders cholerischen Übermut findet sich bereits direkt nach der öffentlichen Verlesung der Brackenseilinschrift: Nu sach man tegelichen die ellenthaften slichen hiute also und morgen sus unkunde. Tschinotulander

abent unde morgen uz durch aventiure gar verborgen, was daz meisteil tægelichen tunde.61

Und hier schließt sich der Kreis. Der Salamander, beziehungsweise der Schild, trägt an dieser Stelle die Schuld an der Sturheit Tschinotulanders, sodass er darauf beharrt in den Orient zu fahren.62 Die vorgeschobenen Antriebe für seine Orientfahrt liefern im Zirkelschluss wiederum Hinweise auf eine zunehmend cholerische complexio Tschinotulanders. Die Motivationsstränge laufen deshalb so oft ins Leere, weil Tschinotulander eben keinen gefestigten Charakter besitzt, sondern ganz der Unstetigkeit der cholera rubis entspricht. Erst als er den Schild später verliert, bietet sich wieder ein Weg zum Ausgleich seiner complexio. Zusammenfassen lassen sich die Beobachtungen zum literarischen Text wie folgt: Die accidentia animi können wie auch die Dinge die complexio der Figuren beeinflussen. So beeinflusst die starke Minne die Säftemischung von Sigune wie Tschinotulander, die durch das Brackenseil als magisches Ding wieder reguliert werden soll. Dies gelingt bei Sigune; bei Tschinotulander hingegen hat der Salamanderschild seine cholerische Disposition soweit verstärkt, dass die Rezeption des Brackenseils nicht regulierend wirken kann, solange Tschinotulander den Salamanderschild besitzt. Die Veränderung der complexio verursacht seinerseits sogenannte seelische Affekte (animae passiones),63 die dann wiederum die Handlungsweise der Figur bedingen können. Figurenhandlung kann dann als Hinweis auf || 61 Titurel (Anm. 1), Str. 1931. Übersetzung: „Nun sah man täglich morgens und abends die Tapferen um der Aventiure willen nach draußen schleichen; heute ebenso wie morgen in einer Weise, wie man es noch nie gehört hat. Tschinotulander war derjenige, der dies größtenteils täglich tat.“ 62 Und ebenso beharrt er darauf, das Brackenseil in den Besitz von Sigune zu bringen, auch wenn diese nicht mehr darauf besteht. Vgl. Anm. 9. 63 Bei Urso von Salerno heißt es: Ex natura complexiones sic variantur animae passiones, quare si quis habuerit cor calidum et siccum debet esse animosus, furiosus, iracundus, si frididum erit timidus et pusillanimis. Urso von Salerno, Aphorismen. Die medizinisch-naturphilosophischen Aphorismen und Kommentare (Aphorismi) des Magister Urso Salernitanus. Nach Hss. lat. und dt., hrsg. v. Rudolf CREUTZ. Mit einführenden Worten von Paul DIEPGEN (Quellen und Studien zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin 5 H.1), S. 74. Übersetzung: „Der Natur gemäß verändern die Komplexionen auf folgende Weise die seelischen Affekte; daher: Wenn jemand ein warmes und trockenes Herz hat, dann resultiert daraus, dass er mutig, rasend und jähzornig ist. Wenn es kalt ist, wird er furchtsam und ängstlich.“ – In der Edition von CREUTZ sind die Wörter complexiones und animosus Korrekturen des Editors. Ersteres ist eigentlich coniunctionis, während das andere fehlt und in der Edition ergänzt wurde. Zur Komplexionenlehre bei Urso von Salerno vgl. DERSCHKA (Anm. 13), S. 86–88.

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bestimmte charakterologische Dispositionen einer Figur dienen. Durch dieses Angebot einer humoralcharakterologischen und alltagspsychologischen Figurenanalyse können somit Textstellen in ihren Motivationszusammenhängen sinnvoll gelesen werden, die zunächst merkwürdig unterbestimmt scheinen. Bei Hildegard von Bingen liest sich dies so: Elementa autem unamquamque naturam hominis bibunt, cum homo elementa in se trahit, quia homo cum illis est et illa cum homine, et secundum hoc sanguis hominis inundant. Unde etiam scriptum est: ‚caelum et terra plangunt super hominem‘, quoniam inquieta bella in operibus hominum elementa saepe conmovent, quemadmodum homo rete in manu sua teneat et illud moveat; ita et homo elementa conmovet, quod secundum opera eius auram emittunt.64

Hildegard beschreibt, wie die innere Unruhe des Menschen, hervorgerufen durch die Säfte, selbst Naturkatastrophen auszulösen vermag – was im ‚Jüngeren Titurel‘ während der Orientfahrt Tschinotulanders, der den Salamanderschild mit sich führt, auch tatsächlich geschieht –, und sie stellt umgekehrt auch dar, wie die äußeren auf die inneren Elemente einwirken können, in unserem Fall: der Salamander im Schild auf Tschinotulander.

|| 64 Hildegard von Bingen, Causa et curae, hrsg. v. Laurence MOULINIER (Rarissima mediaevalia 1), Berlin 2003, S. 41–42. Der Text wurde entgegen der Edition leicht angeglichen in Bezug auf die Buchstaben ‚v‘ und ‚u‘. Vgl. hierzu auch DERSCHKA (Anm. 13), S. 159. Übersetzung nach RIHA: „Die Elemente aber trinken jede Natur des Menschen, wenn der Mensch die Elemente an sich zieht, weil der Mensch mit ihnen ist und sie mit dem Menschen, und dementsprechend fließt das Blut des Menschen über. Deshalb steht auch geschrieben: ‚Himmel und Erde klagen über den Menschen‘, weil die ruhelosen Streitigkeiten in den Werken der Menschen oft die Elemente aufrühren, wie wenn ein Mensch ein Netz in seiner Hand hält und es bewegt. So bewegt auch der Mensch die Elemente, dass sie seinen Werken entsprechend einen Luftstrom aussenden.“ Hildegard von Bingen, Ursprung und Behandlung der Krankheiten. Causae et Curae. Vollständig neu übersetzt und eingeleitet von Ortrun RIHA, hrsg. v. der Abtei St. Hildegard, Eibingen, 3. Aufl. Beuron 2016, S. 43.

Elke Zinsmeister

Sinnbildende Umstrukturierung? Fassungsunterschiede im ‚Evangelienwerk‘ des Österreichischen Bibelübersetzers Abstract: Of the so called Austrian Bible Translator’s (Österreichischer Bibelübersetzer) ‘Gospel Work’ (‘Evangelienwerk’) exists, apart from its original version, a second, edited version, most likely to have originated within a short period of time after the first. The two texts have been preserved in several manuscripts each, including full length copies as well as fragments and excerpts; however, of the original version only one complete copy has been preserved which dates to a comparatively young age and has been partially modernized. In regard to content, differences between the two versions of the ‘Gospel Work’ occur primarily in the arrangement of the text’s components. The creator of the edited version reorganizes the text by grouping together passages with connected contents, and sorting quotations by the order in which they are arranged in the Bible; in the process, he removes the original Translator’s introductions and connecting phrases or replaces them with summaries of the Bible verses following, short headlines or Scripture references. In thusly interfering with the original text, the editor destroys its deliberate and sophisticated structure, a process, which results in the loss of references created by the Translator, as well as his instructions for the text’s interpretation which are often included in the original introductions and connecting phrases. Keywords: Bible, vernacular translation, revision, restructuring

Das Werk des sogenannten Österreichischen Bibelübersetzers1 böte sich in mehrerlei Hinsicht für eine Analyse unter dem Stichwort „Entkontextualisierung – Neukontextualiserung“ an. So greift der Anonymus beispielsweise – wie in der mittelalterlichen Bibelkommentierung üblich – für die Glossierung der von ihm übersetzten || 1 Zum Österreichischen Bibelübersetzer und seinem Werk vgl. Martin SCHUBERT, Der Pilatusprozess beim Österreichischen Bibelübersetzer, in: Eva ROTHENBERGER, Martin SCHUBERT u. Elke ZINSMEISTER (Hgg.), Editionen deutscher Texte des Mittelalters – Aktuelle Projekte. Beiträge des Festkolloquiums zum 80. Geburtstag von Rudolf Bentzinger am 22. August 2016 (Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Sonderschriften 50), Erfurt 2019, S. 57–88, hier S. 57–58 und Anm. 1 mit weiterer Literatur. || Elke Zinsmeister, Der Österreichische Bibelübersetzer – Gottes Wort deutsch, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jägerstr. 22/23, D-10117 Berlin, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-028

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Bibelbücher auf unterschiedliche Quellen zurück und kombiniert die aus diesen Quellen gewonnenen Exzerpte in seinem Kommentar entsprechend seinem eigenen Anliegen. Weiterhin finden sich unter den Textzeugen des ‚Alttestamentlichen Werks‘ zwei Handschriften, in denen auf die Vorreden das Buch Daniel – noch vor Genesis und Exodus – folgt. Zu überlegen wäre, wie sich diese Voranstellung des Prophetenbuchs auf die Lektüre der folgenden Bücher auswirkt. Unklar bleibt allerdings ob die ungewöhnliche Kontextualisierung des Daniels der Textgenese oder der Überlieferungsgeschichte und damit der Rezeption zuzuschreiben ist.2 Zu letzterer zählt – um einen dritten Aspekt zu nennen – in jedem Fall die Exzerptüberlieferung, in der nur Ausschnitte des ursprünglichen Textes in neue Kontexte integriert weitergegeben werden. Eine Dissertation zu diesen Strategien des Exzerpierens und Kompilierens der Exzerpthandschriften des ‚Evangelienwerks‘ des Österreichischen Bibelübersetzers wird von Christiane RÖMER, Berlin, vorbereitet. In vorliegendem Beitrag geht es ebenfalls um die Überlieferungsgeschichte des ‚Evangelienwerks‘: Es ist in zwei verschiedenen Fassungen auf uns gekommen, zu denen Gisela KORNRUMPF bereits 1991 anmerkte, dass „am auffälligsten […] Unterschiede in der Textfolge [sind], während der Textbestand weniger stark betroffen ist und am wenigsten der Text selbst tangiert sein dürfte“.3 Die Frage, inwiefern sich diese Änderungen in der Textgliederung und -reihenfolge auf das Verständnis des Textes auswirken, war der Ausgangspunkt für die folgende Analyse der Fassungsunterschiede. Ihr voran stelle ich eine bis dato fehlende umfassende Beschreibung der Überlieferung. Das ‚Evangelienwerk‘ des Österreichischen Bibelübersetzers ist eine mit ausführlichem Kommentar versehene und durch apokryphe Geschichten angereicherte Evangelienharmonie, die in den Beginn der Apostelgeschichte mündet und abgerundet wird durch die Pilatus-Veronika-Legende sowie die Geschichte der Zerstö-

|| 2 Es handelt sich um die Handschriften V [Rom (Vatikanstadt), Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Ross. 694; vgl. http://www.handschriftencensus.de/7188 (12.08.2019)] und Me1 [Melk, Stiftsbibl., Cod. 329 (411; H 24); vgl. http://www.handschriftencensus.de/19239 (12.08.2019)]. Mit S [Schlierbach, Stiftsbibl., Cod. 16; vgl. http://www.handschriftencensus.de/3743 (12.08.2019)] liegt allerdings auch ein Textzeuge vor, in dem auf die Vorreden Genesis folgt, während Daniel an späterer Stelle eingeordnet ist; die restliche Überlieferung enthält jeweils nur einzelne Bibelbücher. Zum ‚Alttestamentlichen Werk‘ und seiner Überlieferung siehe: Klaus WOLF u. Magdalene TERHORST, Mer puch zemachen ist dehain ende. Das „Alttestamentliche Werk“ des Österreichischen Bibelübersetzers, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 62 (3/2017), S. 51–55. 3 Gisela KORNRUMPF, Das ‚Klosterneuburger Evangelienwerk‘ des österreichischen Anonymus. Datierung, neue Überlieferung, Originalfassung, in: Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters. Beiträge eines Kolloquiums im Deutschen Bibel-Archiv, unter Mitarbeit von Nikolaus HENKEL hrsg. v. Heimo REINITZER (Vestigia Bibliae 9/10 [1987/1988]), Bern u. a. 1991, S. 115–131, hier S. 123.

Sinnbildende Umstrukturierung? | 471

rung Jerusalems.4 Momentan wissen wir von insgesamt 30 Textzeugen, die sich auf fünf Vollhandschriften, zwölf Fragmente sowie 13 Exzerpthandschriften verteilen, eine der Exzerpthandschriften ist allerdings zerstört5 und ein Fragment gilt als verschollen.6 Die Überlieferung lässt sich einteilen in eine Erstfassung *Gö und deren Bearbeitung *SK,7 wobei die älteste erhaltene Handschrift S (Schaffhausen, Stadtbibl., Cod. Gen. 8), die auf ca. 1340 datiert wird, bereits die Bearbeitung enthält. Nur in Handschriften der Bearbeitung findet sich zudem ein Abschnitt mit einer Angabe zum Jahr 1330, do daz puech geschriben wurde (S, fol. 6v), wobei aber unklar ist, ob damit die „Bearbeitung oder eine im Kolophon datierte Handschrift des ‚Evangelienwerks‘, die [dem Bearbeiter] als Grundlage diente, oder das Original“ gemeint ist,8 sodass 1330 lediglich als Terminus post quem für die Abfassung des ‚Evangelienwerks‘ gelten kann, eine frühere Entstehung aber nicht unwahrscheinlich ist. Der Erstfassung *Gö lassen sich die Vollhandschrift Gö (Göttweig, Stiftsbibl., Cod. 222 [rot] / 198 [schwarz] [früher C 2]), acht Fragmente sowie zehn Exzerpthandschriften zuordnen. Zur Bearbeitungsfassung *SK zählen neben der durch Blattverlust große Textlücken aufweisenden Handschrift S mit K2 (Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 51), K1 (Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 4) und Nü (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Löffelholz-Archiv D 654) drei weitere Vollhandschriften, zwei Fragmente und drei Exzerpthandschriften. Die fünf Einzelblätter des einen Fragments gehören dabei zu einem Codex, der bis 1945 als Vollhandschrift N (Neiße/Nysa, Gymnasialbibl., Cod. A VIII 9) vorlag und heute verschollen ist. Neben den seither wieder aufgetauchten Einzelblättern existieren Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer ganzen Reihe von Illustrationsdetails der Handschrift, die auch kleinere Textstücke überliefern. Ein erster Unterschied zwischen den beiden Fassungen ist mit diesem Überblick über die Überlieferungssituation bereits angesprochen: Die Erstfassung ist uns vor

|| 4 Zur Bezeichnung ‚Evangelienwerk‘ und zur Abgrenzung von verwandten Textsorten siehe Kurt GÄRTNER, ‚Klosterneuburger Evangelienwerk‘, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 4 (1983). Sp. 1251. 5 Die Handschrift Sf (Privatbesitz Adolf Sutro, San Francisco) wurde beim Erdbeben 1906 vernichtet, vgl. zu dieser und allen weiteren Handschriften des ‚Evangelienwerks‘ das Verzeichnis der Textzeugen im Handschriftencensus mit weiterer Literatur und ggf. Link zum Digitalisat: http:// www.handschriftencensus.de/werke/1984 (12.08.2019). 6 St. Lambrecht, Stiftsbibl., ohne Sign. (2). Drei der Fragmente wurden erst vor kurzem von Christine GLAßNER, Wien, im Rahmen der noch nicht abgeschlossenen Katalogisierung österreichischer Klosterbibliotheken entdeckt; auf weitere Funde darf gehofft werden. 7 Benannt sind die beiden Fassungen nach den jeweiligen Haupthandschriften. Die Editionen der beiden Fassungen werden eine Zählung nach Kapitel, Absatz, Satz enthalten; da sie noch im Entstehen sind, wird im Folgenden nicht diese Zählung angegeben, sondern Sigle und Folio der jeweiligen (Leit-)Handschrift. Die Zitate sind aber – entsprechen dem Vorgehen in den Editionen – leicht normalisiert und mit einer Interpunktion versehen. Diesem Beitrag liegt die Edition der Erstfassung zugrunde, soweit sie bisher vorliegt, d. h. bis Kapitel 142 bzw. Gö, fol. 214va. 8 KORNRUMPF (Anm. 3), S. 125, vgl. dort auch S. 116–118.

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allem in kleinteiliger Fragment- und Exzerptüberlieferung erhalten; über weite Strecken ist Gö der einzige Zeuge für den Text, ohne Parallelüberlieferung aus der eigenen Fassung. Ganz anders sieht die Überlieferungslage bei der Bearbeitung aus. Auch wenn die älteste Handschrift wegen Blattverlust oft ausfällt, ist mit den drei weiteren Vollhandschriften stets genug Material vorhanden, um die Lücken zu füllen. Hinzu kommen die durch die Einzelblätter und Fotos erhaltenen Textstücke von N, die wohl als direkte Abschrift von S entstanden ist und deren Text „wortgetreu kopiert“.9 Bietet N Text, wo S ausfällt, springt N als Leithandschrift ein, ansonsten K2 oder K1. Ein zweiter Unterschied ist durch das Alter der Handschriften gegeben. Handschrift Gö lässt sich durch die enthaltenen Wasserzeichen ins sechste Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts datieren und ist damit die jüngste der Vollhandschriften. Sie weist teilweise einen modernisierten Sprachstand auf, was sich in Wortersatz, z. B. bei modernem genesung für genist,10 bei der Verwendung von Doppelformeln wie den yttweis oder die smach für obprobrium der Vulgata (Lc 1,25)11 und in einer modernisierten Syntax zeigt. Die Edition der beiden Fassungen des ‚Evangelienwerks‘, die in einem gemeinsamen Vorhaben der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit einer Arbeitsstelle an der Universität Augsburg und der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften entsteht,12 wird nach dem Leithandschriftenprinzip erstellt. Es wird also nicht versucht, einen Urtext zu rekonstruieren, sondern für jede Fassung wird jeweils eine Handschrift ausgewählt, deren Text der Fassungsedition zugrunde gelegt und in den nur bei sinnentstellenden Fehlern eingegriffen wird. Da Gö die einzige Vollhandschrift der Erstfassung ist, kann nur sie als Leithandschrift für diese Fassung verwendet werden, auch wenn sie sehr jung ist. Für die Bearbeitungsfassung hingegen steht mit Handschrift S eine || 9 Kurt GÄRTNER u. Bernhard SCHNELL, Die Neisser Handschrift des ‚Klosterneuburger Evangelienwerks‘, in: Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters. Beiträge eines Kolloquiums im Deutschen Bibel-Archiv, unter Mitarbeit von Nikolaus HENKEL hrsg. v. Heimo REINITZER (Vestigia Bibliae 9/10 [1987/1988]), Bern u. a. 1991, S. 155–171, hier S. 164. Der Schreiber löst lediglich die Abbreviaturen auf, lässt die Superskripte weg, modernisiert die Orthographie etwas und übernimmt die Interpunktion nur unvollständig (vgl. ebd., S. 164–165). 10 Dreimal im Kommentar zu Is 62,1. Das gängige genist ist belegt durch die Handschriften der Fassung *SK (vgl. S, 4v), aber auch durch die zu *Gö gehörende und auf etwa 1380/1390 datierte Exzerpthandschrift V (Rom [Vatikanstadt], Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Ross. 694; vgl. 93rb); in Gö, 13ra findet sich an allen drei Stellen stattdessen genesung bzw. genesungen, was sich in den einschlägigen Wörterbüchern für die mittel- und frühneuhochdeutsche Zeit nicht nachweisen lässt. Der älteste Beleg im Deutschen Wörterbuch weist ins beginnende 17. Jahrhundert, vgl. http://www. woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=genesung (12.08.2019). 11 *SK (vgl. K2, 7ra) bietet mit itwiz das ältere Wort, das laut Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bd. 8 (1997–2013), Sp. 240, nur bis ins ältere Frühneuhochdeutsch hinein gebräuchlich war. Die das alte Wort erläuternde Doppelformel ist nur in Gö, 7vb belegt, allerdings fehlt für dieses Kapitel Parallelüberlieferung aus *Gö. 12 Vgl. http://bibeluebersetzer.badw.de/das-projekt.html und http://www.bbaw.de/forschung/ bibeluebersetzer (12.08.2019).

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Leithandschrift zur Verfügung, die durch ihr Alter einen autorzeitnahen Sprachstand aufweist, und auch die beiden Klosterneuburger Handschriften, die einspringen, wo S ausfällt, sind deutlich älter als Gö.13 Schwierigkeiten bereitet die Datierung von N, deren Schrift ins beginnende 15. Jahrhundert weist, während die Illustrationen auf 1482 datiert werden können.14 Eine Sonderrolle kommt den Exzerpthandschriften zu, die einzelne Teile aus dem ‚Evangelienwerk‘ enthalten und diese allein15 oder kombiniert mit anderen Texten des Österreichischen Bibelübersetzers16 oder in Sammelhandschriften zusammengestellt mit Texten anderer Herkunft präsentieren.17 Die Exzerpthandschriften lassen sich zwar allesamt einer der beiden Hauptfassungen zuordnen, weichen in der Textgestaltung aufgrund ihrer jeweils speziellen Kompilationsstrategien aber oft stark von der Mitüberlieferung ab. Für diese Analyse werden sie daher nur berücksichtigt, sofern dies nicht der Fall ist. Bevor ich auf die inhaltlichen Unterschiede der beiden Fassungen eingehe, skizziere ich kurz den Aufbau des Textes in der Erstfassung am Beispiel von Gö. Die Handschrift gliedert den Text in rund 250 Kapitel.18 Er beginnt mit einem Prolog (fol. 1ra–4vb), gefolgt von der Geschichte von Jesu Geburt und Kindheit (fol. 5ra–50vb), an die sich die Wundertaten und Gleichnisse, also das Wirken Jesu, anschließen || 13 K1 wird auf um 1410 datiert, K2 durch die Wasserzeichenanalyse ins 2. Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, vgl. Handschriftencensus (Anm. 5). 14 Walther DOLCH datiert die Handschrift in seiner 1910 für die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften erstellte Beschreibung auf „vor 1482“ und bezieht sich dabei auf die Initiale „A“ auf fol. 120v, die in ihrem Balken neben den Initialen „W. S.“ die Zahl „82“ enthält, vgl. Handschriftenarchiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften: Neiße, Bibliothek d. Staatl. Gymn. Carolinum, A VIII 9, Walther Dolch (1910) 4 + 1 Bll. Diese Datierung nimmt Martin ROLAND, ‚Klosterneuburger Evangelienwerk‘. Handschrift Nr. 35.0.4., in: Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters (KdiH), begonnen von Hella FRÜHMORGEN-VOSS und Norbert H. OTT, hrsg. v. Ulrike BODEMANN, Kristina FREIENHAGEN-BAUMGARDT u. Peter SCHMIDT, Bd. 4,1, München 2012, http://kdih.badw.de/datenbank/handschrift/35/0/4, zuletzt geändert am 31.08.2018 (12.08.2019), auf und stärkt sie durch eine stilistische Einordnung der Illustrationen, wobei er davon ausgeht, dass „der Zeichner ein wesentlich älteres Vorbild adaptiert“, allerdings mit eindeutigen Modernisierungen. Er widerspricht damit der Datierung von GÄRTNER u. SCHNELL (Anm. 9), S. 156, die die Schrift als „eine sorgfältige Textura, durchgehend von einer Hand um 1400 geschrieben“ beschreiben, wodurch „als Datierung das Jahr 1482“ ausscheide (ebd. S. 157). Beide Datierungen lassen sich ggf. aber vereinen, wenn man in Betracht zieht, dass einzelne Produktionsschritte, wie die Kolorierung, mit großem zeitlichen Abstand zur Herstellung der Abschrift erfolgt sein können. Für Hinweise zu den Datierungsmöglichkeiten und ihrer Interpretation danke ich Astrid Breith, Regina Cermann und Christine Glaßner (Wien), Rudolf Gamper (Winterthur) sowie Jürgen Wolf (Marburg). 15 Vgl. z. B. Mk (Melk, Stiftsbibl., Cod. 804 (805; O 43). 16 Vgl. z. B. V. 17 Vgl. z. B. Be (Berlin, Staatsbibl., Hdschr. 411). 18 In Kapitel 249 bricht die Handschrift mit Blattverlust ab. Ein Vergleich mit den Handschriften der Bearbeitungsfassung legt nahe, dass noch ein oder zwei Kapitel folgten.

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(fol. 50vb–280vb); die folgende Passionsgeschichte (fol. 280vb–350rb) geht über in die Apostelgeschichte (fol. 350rb–361rb), abgeschlossen wird der Text durch die beiden apokryphen Erzählungen der Pilatus-Veronika-Legende (fol. 361rb–365vb, dann Blattverlust) und der Zerstörung Jerusalems. Den weitaus größten Umfang nimmt also Jesu Wirken ein, das in Gö rund zwei Drittel des gesamten Textes füllt. Dieser Teil unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass ihm keine stringente Chronologie inhärent ist, die Anordnung der einzelnen Kapitel daher beliebiger ist. Vor allem im Teil über Jesu Geburt und Kindheit bis hin zur Versuchung Jesu sowie in der Passionsgeschichte sind immer wieder Kapitel eingeschoben, die alttestamentliche Prophezeiungen enthalten, die sich meist auf die im nachfolgenden Kapitel übersetzte Evangelienstelle beziehen. Die einzelnen Kapitel sind in der Regel zweigeteilt: Sie beginnen mit einer Übersetzung aus dem Neuen Testament, auf die im zweiten Teil – markiert durch rubriziertes Glos und eine Initiale, also deutlich abgesetzt – der Kommentar folgt. Anders gestaltet es sich bei den Kapiteln mit alttestamentlichen Weissagungen. Bei diesen folgt nach jedem einzelnen Zitat ein Kommentar, sodass sich Bibeltext und Kommentar ständig abwechseln; Initialen entfallen für die Binnengliederung und auch die Markierung durch rubriziertes Glos ist nur bedingt durchgehalten. Durchgängig im gesamten ‚Evangelienwerk‘ ist aber stets genau unterschieden zwischen biblischem Text auf der einen und apokryphen Einschüben und Kommentar auf der anderen Seite.19 Der Kapitelbeginn ist in der Regel durch eine Initiale sowie die marginal stehende rubrizierte römische Kapitelzählung gekennzeichnet. Oftmals findet sich auch eine Rubrik mit der Stellenangabe zum im Anschluss übersetzten Abschnitt aus den Evangelien oder einer kurzen Überschrift, dies in erster Linie bei Kapiteln mit alttestamentlichen Prophezeiungen oder apokryphem Text; so wird beispielsweise das Kapitel zu Jesu Kindheit, das sich auf Konrads von Fußesbrunnen ‚Kindheit Jesu‘ stützt,20 eingeleitet durch die Rubrik: Von unsers herren Jhesu Cristi kinthait. Zudem gibt es, gleichsam als Scharnier zwischen den Kapiteln, eine Überleitung. Varianz zwischen den beiden Fassungen ist zwar auf Wort- und Phrasenebene gegeben, aber nicht in einem solchen Maß oder einer solchen Qualität, dass dies die Rede von verschiedenen Fassungen rechtfertigen könnte.21 Auch der Textbestand

|| 19 Zum Umgang des Bibelübersetzers mit Apokryphen vgl. Martin SCHUBERT, Ander heilige geschrifft. Die Haltung zu Apokryphen im ‚Evangelienwerk‘ des Österreichischen Bibelübersetzers, in: Jens HAUSTEIN u. a. (Hgg.), Traditionelles und Innovatives in der geistlichen Literatur des Mittelalters (Meister-Eckhart-Jahrbuch, Beihefte 7), Stuttgart 2019, S. 211–226. 20 Vgl. Kurt GÄRTNER, Die Heilige Familie unter den Räubern, in: Akademie Aktuell. Zeitschrift der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 62 (3/2017), S. 44–50. 21 Interessant werden könnte hier vor allem ein genauer Vergleich der Übersetzungen der Bibeltexte, vgl. KORNRUMPF (Anm. 3), S. 130, Anm. 45; siehe auch den Abschnitt von Christiane RÖMER im Sammelbeitrag Sarah ALTENDORFER u. a., Zwischen Tradition und Innovation. Text- und überliefe-

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der beiden Fassungen unterscheidet sich nur marginal.22 Ein deutlicher Wille zur Umgestaltung zeigt sich aber in der Organisation des Textes. Das betrifft zum einen die Übergänge zwischen den Kapiteln und zwischen den verschiedenen Weissagungen in den Kapiteln mit alttestamentlichen Prophezeiungen, zum anderen die Anordnung des Textes auf der Ebene der Kapiteleinteilung und damit auch ihrer Reihenfolge sowie der Reihenfolge der Absätze in einzelnen Kapiteln – dies vor allem in denjenigen mit alttestamentlichen Prophezeiungen.

1 Übergänge In der Erstfassung *Gö sind aufeinanderfolgende Kapitel durch Überleitungen verbunden, die in der Regel noch vor der Initiale stehen, die den Beginn des neuen Kapitels markiert. Im einfachsten Fall verdeutlichen sie lediglich, dass der Kommentarteil beendet ist, und nun wieder Bibeltext folgt.23 Teilweise fallen sie aber auch sehr ausführlich aus und erläutern beispielsweise inhaltliche Verknüpfungen zwischen den Kapiteln.24 Diese Überleitungen tilgt der Bearbeiter und ersetzt sie durch Rubriken, die eine Kurzzusammenfassung des folgenden Bibeltextes bzw. des Kapitels enthalten.25 Vor allem in den Kapiteln mit alttestamentlichen Prophezeiungen finden sich in *Gö Überleitungen auch in der Binnengliederung. So wird die Übersetzung von Is 60,1–2 eingeleitet durch: Aber schreibt Ysaias von unsers herren zukunft und auch von der kunft der dreyer kunig und sprichet also (Gö, fol. 12vb). In der Bearbeitungsfassung *SK entfällt diese Überleitung, markiert ist der Zitatanfang durch das lateinische Initium: Surge illuminare iherusalem et cetera. Das sprichet also sowie die Rubrik: Item ysaie lx capitulo (K2, fol. 10rb). Lateinischer Text und die Bibelstellenangabe finden sich allerdings auch in Handschriften der Erstfassung,

|| rungsgeschichtliche Beobachtungen zu den Werken des Österreichischen Bibelübersetzers, in: HAUSTEIN u. a. (Anm. 19), S. 191–210, hier S. 203–206. 22 Vgl. KORNRUMPF (Anm. 3), S. 125. 23 Siehe etwas Kapitel 35: Nu greiffen wir wider zu dem ewangely, da wir es liessen (Gö, fol. 41rb) oder mit Bezug auf das Kommende Kapitel 67: Nu gee wir zu dem ewangeli, das sand Lucas von diesen sachen schreibt, das spricht also (Gö, fol. 84rb). 24 Siehe etwas Kapitel 12: Ir habent vernomen von unsers herren Jhesu Christi geslacht, nu vernemt auch von sand Johanns des tauffers geslacht und von seinr kundung und von seinr gepurd, der unsers herren furlauffer haisset, wann er mit der gepurd yn dyese welt vor lieff. Er lieff ym auch aus diser welt mit marter vor und yn der werlt lieff er ym mit der predig und mit der tauffe vor. Da von sagt die geschrifft ee van seinr gepurd, dan von unsers herren gepurd. (Gö, fol. 7rb); weitere Beispiele bei KORNRUMPF (Anm. 3), S. 124. 25 Siehe etwa Kapitel 12: Der engel tet Zacharie chunt, das im sein hawsfraw Elspet einen sun gepar, und nanten Johens (K2, fol. 6vb) oder Kapitel 14: Von unsers herren zu chunft auf dis werlt habent die weyssagen geschriben (K2, fol. 9va).

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sind also nicht fassungsunterscheidend.26 Laut Gisela KORNRUMPF sind diese Überleitungen oder „Zwischenstücke […] wohl als Hilfe für diejenigen gedacht, die das ganze Buch fortlaufend, aber mit Unterbrechungen lesen oder hören; öfter sind es auch ‚Rezeptionsanweisungen‘“.27 Durch das Weglassen der Überleitung geht in *SK an dieser Stelle eine solche Rezeptionsanweisung verloren, die besagt, dass die Weissagung des Propheten nicht nur auf die Ankunft des Herrn, sondern auch auf das Kommen der Heiligen drei Könige zu beziehen ist.

2 Kapiteleinteilung und -reihenfolge Die Einteilung in Kapitel lässt sich besonders gut in denjenigen Handschriften verfolgen, die eine Kapitelzählung enthalten, wie dies bei Gö der Fall ist. Diese Zählung wird durch drei der Fragmente bestätigt, was die Vermutung nahelegt, dass sie nicht eine Zutat der einzelnen Schreiber ist, sondern originär zu Erstfassung *Gö gehört.28 Auch in der Bearbeitungsfassung *SK finden sich Handschriften mit einer Kapitelzählung, die aber deutlich von derjenigen der Erstfassung abweicht,29 was daran liegt, dass der Bearbeiter die Kapitel nach einer anderen Systematik einteilt. So wird in *SK oft inhaltlich Zusammengehörendes in einem Kapitel zusammengefügt.30 Das betrifft eine ganze Reihe der Zusammenstellungen alttestamentlicher Prophezeiungen, die in der Erstfassung in eigenen Kapiteln stehen, in der Bearbeitung dagegen mit den Evangelientexten, auf die sie bezogen werden, in einem Kapitel vereinigt sind. Entsprechend werden beispielsweise die Kapitel 27 (Alttestamentliche Prophezeiungen der Beschneidung Jesu) und 28 (Jesu Beschneidung, Lc 2,21) der Fassung *Gö in der Bearbeitung zusammengefasst zu Kapitel 22.

|| 26 So folgt z. B. in G1 (Graz, Landesarchiv, Fragm. Germ. 12/1, und Graz, Universitätsbibl., Ms. 1703 Nr. 99) nach der Überleitung die rubrizierte Stellenangabe und daraufhin der gesamte lateinische Bibeltext. 27 KORNRUMPF (Anm. 3), S. 123–124. 28 Mit Gö übereinstimmende Kapitelzählungen finden sich in G2 (Graz, Landesarchiv, Fragm. Germ. 12/2) und einem neu gefundenen Fragment aus Admont (vgl. oben Anm. 4); in M (Michaelbeuern (bei Salzburg), Stiftsbibl., Man. perg. 7, Fragm. perg. I, 16a, und Salzburg, Universitätsbibl., Cod. M II 272 und Cod. M II 273) stimmt die auf fol. 139v gegebene Zählung mit Gö überein, während diejenigen auf fol. 247v und fol. 253r um ein bzw. zwei Zähler abweichen. In der Edition von *Gö wird der Systematik der Kapiteleinteilung in Gö gefolgt und auch dort gegen die Handschrift durchgesetzt, wo sie in Gö z. B. durch Doppelzählung gestört ist. 29 S hat eine arabische Kapitelzählung, die sich identisch in N findet. Die römische Kapitelzählung in K2 ist lückenhaft, stimmt aber, wo vorhanden, meist mit S überein; vgl. hierzu auch meinen Abschnitt im Sammelbeitrag ALTENDORFER u. a. (Anm. 21), S. 201–203. 30 Vgl. KORNRUMPF (Anm. 3), S. 123.

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Umfangreiche Umstellungen finden sich vor allem im großen Mittelteil zu Jesu Wirken, der weniger als die anderen Teile durch eine feststehende Chronologie der Ereignisse geprägt ist. So stehen in *SK die meisten Kapitel zu Wundertaten Christi31 oder auch die Kapitel mit Gleichnissen zusammen. Die Jüngerberufungen werden sogar in ein einziges Kapitel zusammengeführt. An diesem Beispiel sei verdeutlicht, zu welch massiven Umstellungen die neue Systematik führt. In der Erstfassung stehen die Jüngerberufungen in den Kapiteln 45 (Die ersten Jünger, Io 1,35–51), 55 (Der Fischzug des Petrus, Lc 5,1–11), 59 (Die Berufung der ersten Jünger, Mt 4,18–22; Mc 1,16–20) und 60 (Die Berufung des Matthäus und das Mahl mit den Zöllnern, Mt 9,9–13; Mc 2,14–17; Lc 5,27–32), wobei die Berufung des Matthäus in Kapitel 60 eine Einheit bildet mit den im Matthäusevangelium folgenden Abschnitten zur Frage nach dem Fasten (Mt 9,14–17) und zur Heilung einer blutflüssigen Frau und der Auferweckung eines Mädchens (Mt 8,18–26). Der Bearbeiter dagegen hat alle Jüngerberufungen zusammengezogen und mit der Bibelstelle über den Ernst der Nachfolge (Mt 8,19–22; Lc 9,57–62), die in *Gö erst in Kapitel 94 folgt, zu einem Kapitel vereinigt (Kapitel 35 in *SK). Allerdings belässt er die fünf Abschnitte getrennt, sodass sich innerhalb des Kapitels fünfmal Bibeltext und Glosse abwechseln, erstere jeweils eingeleitet durch eine Rubrik mit einer Kurzzusammenfassung, ebenfalls rubrizierten Stellenangaben sowie den lateinischen Initien. Die beiden in Kapitel 60 der Erstfassung zusätzlich enthaltenen Bibelstellen füllen in *SK jeweils ein eigenes Kapitel (47 bzw. 48). In den Kommentarteilen der Kapitel gibt es immer wieder Querverweise auf bereits Behandeltes oder noch Kommendes. So heißt es in der Glosse zu Kapitel 112 (Die Heilung eines besessenen Knaben, Mt 17,14–20; Mc 9,13–28; Lc 9,37–42; Lc 17,6): Da unser herre zu der schar kam – wann er was mit ettleichen seinen jungern hindan gewesen, da die rede von seinem tod geschach – da pat yn ain man mit grozzer andacht umb seinen sun. (Gö, fol. 158rb; vgl. S, fol. 88r)

Die Erklärung bezieht sich zum einen auf den Beginn des Übersetzungsteils, wo es heißt, dass Jesus vom Berg herab zu den anderen Jüngern kam und bei diesen eine große Menschenmenge sah. Zum anderen wird aber auch Jesu Abwesenheit erläutert, die allererst zu der Situation geführt hat: Zusammen mit ein paar wenigen Jüngern war er fortgegangen und zwar dorthin, wo die rede von seinem tod geschach. Damit knüpft der Bibelübersetzer an das vorhergehende Kapitel 111 an, das von der Verklärung Jesu handelt, die auch in allen synoptischen Evangelien direkt vor der Heilung des besessenen Knaben steht. Anders als die Kapitelüberleitungen – die zum Teil, wie oben beschrieben, ebenfalls Hinweise auf vorhergehende oder nachfolgende Kapitel enthalten, und damit auch auf die Reihenfolge derselben – tilgt der || 31 Vgl. KORNRUMPF (Anm. 3), S. 123.

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Bearbeiter diese internen Verweise nicht. In *SK wird aber das Wunder der Besessenenheilung an einer früheren Stelle erzählt (Kapitel 68, die Verklärung folgt in Kapitel 103), und zwar in einer Reihe mit weiteren Kapiteln, die von Wunderheilungen handeln. Der Verweis auf die Verklärung als vorgängiges Geschehen geht hier also ins Leere. Nur wenige Sätze weiter findet sich ein weiterer Verweis: Nu mocht man fragen, seit unser herre den zwelfpoten gewalt hiet gegeben, das sie die teufel aus den lewten getriben mochten, als yr vor an ainem ewangeli vernomen habt, warumb sie den diesen teufel aus den lewten nicht getreiben mochten. (Gö, fol. 158va)

Die Macht zur Austreibung unreiner Geister erhalten die Apostel bei ihrer Berufung (Mt 10,1; Mc 3,15), die in *Gö in Kapitel 89 erzählt wird, also muss der Verweis an dieser Stelle nach vorne gehen: als yr vor […] vernomen habt. Diesmal hat der Bearbeiter aufgepasst. In *SK steht die Berufung der Zwölf in Kapitel 87, also erst nach der Heilung des besessenen Knaben. Entsprechend ändert der Bearbeiter die Richtung des Verweises, sodass in es *SK nun heißt: als ir hernach an einem andern ewangeli vernemend werdet (S, fol. 88r).

3 Reihenfolge der alttestamentlichen Prophezeiungen In den Kapiteln mit alttestamentlichen Prophezeiungen sind die Zitate mit den dazugehörigen Glossen in der Bearbeitungsfassung oft neu sortiert und zwar so, dass „Weissagungen ein und desselben Propheten – in Gö über ein Kapitel verstreut – nun ohne Unterbrechung und in biblischer Ordnung aufeinander folgen“.32 Mit Beispielen aus Kapitel 14 stelle ich dieses Verfahren mit seinen Auswirkungen im Folgenden vor. Das Kapitel umfasst 26 Zitate mit Weissagungen zur Geburt Jesu, denen in *Gö nach der Rubrik: Von unsers herren zukunft eine Überleitung vorangestellt ist, die den Bezug zu den es einrahmenden Kapiteln herstellt, die ebenfalls alttestamentliche Prophezeiungen enthalten, einmal zum Verlangen der Propheten nach Christi Geburt (Kapitel 13) und zum anderen zur Verkündigung der Geburt Christi (Kapitel 15): Seid ir nu vernamen habt die pegird der heiligen vater und gottes weyssagen, so horet und merchkt, was sie von seiner heiligen zukünfft auf diese werlt geweissagt haben mit der lere des heiligen geistes, das ir wisset und verstet, wie alles das yn der ewigen gothait geordent ist, das an

|| 32 KORNRUMPF (Anm. 3), S. 123.

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unserm herren Jhesu Cristo ergangen ist. Nach der selben weissagung so hort und vernembt ain wenig von der kündung, wie der heilig engel unsern herren Jhesum Cristum unser fraw sand Marien gekundet hat. (Gö, fol. 10vb)

Die Reihe der Weissagungen wird eröffnet durch zehn Zitate aus dem Buch Jesaja: (1) Is 55,10–11; (2) Is 61,11; (3) Is 40,9–10; (4) Is 2,2–3; (5) Is 11,1–4; (6) Is 45,1–3; (7) Is 51,5; (8) Is 60,1–2; (9) Is 62,1; (10) Is 62,11,

gefolgt von 16 Zitaten aus unterschiedlichen Büchern: (11) Agg 2,7–8; (12) 1. Par 17,11–14; (13) Ecl 6,10; (14) Iob 28,1; (15) Ioel 3,18; (16) Mi 4,1–3; (17) Mi 4,8; (18) Hab 3,2–3; (19) Hab 3,6.8; (20) Ier 23,5–6; (21) Ier 31,22; (22) Za 6,12–13; (23) Is 4,1; (24) Za 2,10–11; (25) Ps 18,7; (26) Ps 49,1–3 + Dn 9,24.

Darunter findet sich mit (23) ein weiteres Jesaja-Zitat, das zwischen zwei Weissagungen des Zacharias eingebettet ist, deren zweite (24) in der biblischen Reihenfolge vor der ersten (22) kommt. Die einzelnen Zitate sind jeweils kurz eingeleitet, beispielsweise mit: Von unsers herren zukunft spricht Johel der weissag also (Gö, fol. 13va). Diese Über- bzw. Einleitungen tilgt der Bearbeiter und setzt stattdessen zu Beginn die Rubrik Von unsers herren zuchunft auf dis werlt habent di weissagen geschriben und spricht Ysajas ii (N, fol. 21r), in der die Kapitelüberschrift mit der Stellenangabe zum ersten Zitat verknüpft ist; auch alle weiteren Zitate sind mit einer rubrizierten Stellenangabe gekennzeichnet und allen Zitaten geht das lateinische Initium voraus. Außerdem sortiert der Bearbeiter die Zitate um, sodass am Anfang alle Weissagungen Jesajas, und zwar in der biblisch korrekten Reihenfolge, stehen. Und auch die beiden Weissagungen des Zacharias gegen Ende des Kapitels folgen nun aufeinander, beginnend mit der in der Bibel zuerst kommenden. Die Anordnung der restlichen Zitate entspricht der von *Gö vorgegebenen Reihenfolge. Die Kriterien, nach denen der Bearbeiter die Zitate neu sortiert, sind also leicht greifbar: Die Weissagungen ein und desselben Propheten sollen gebündelt sein und gemäß der biblischen Anordnung aufeinander folgen. Lässt sich nun aber auch für die Reihenfolge der Erstfassung eine Systematik erkennen oder hat der Bibelübersetzer die Zitate willkürlich aneinandergereiht?33 Zur Beantwortung der Frage werde ich im Folgenden die Reihung der Jesaja-Zitate am Anfang des Kapitels sowie das gegen Ende eingefügte Jesaja-Zitat in seinem Kontext genauer betrachten. Die Reihe der Zitate eröffnet (1) Is 55,10–11 nach der Einleitung: Nu hort des ersten von unsers herren zukunfft, wie yn got selb der welt verhaissen hat, spricht Ysaias der weissag also (Gö, fol. 10vb)

|| 33 Zu fragen wäre auch, ob der Bibelübersetzer die Reihenfolge der Weissagungen übernommen hat. Dies zu klären, bleibt künftigen Quellenuntersuchungen überlassen.

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Der Bibelübersetzer stellt also an den Beginn eine Weissagung, die Gott selbst zitiert, und gibt ihr mit dem expliziten Hinweis auf Gott als Sprechenden besonderes Gewicht, zumal dieser als beste Autorität gelten kann, wenn es darum geht zu erklären, wie Jesu Leben und Wirken im göttlichen Heilsplan verankert ist – was das erklärte Ziel der oben zitierten Überleitung ist. Gott vergleicht sein eigenes Wort mit Regen und Schnee, die vom Himmel fallen, aber nicht dorthin zurückkehren, sondern das Erdreich befeuchten und Frucht tragen lassen, sodass es Samen für die Aussäenden und Brot für die Essenden gibt; genauso komme auch das Wort Gottes nicht leer zu ihm zurück, sondern es erfülle, wofür es geschickt wurde. In der Glosse wird Gottes Wort auf Jesus Christus hin ausgelegt: Wie Regen und Schnee ist er auf die Erde gekommen, wäscht dort die Menschen von ihren Sünden rein, verleiht ihnen die Tugend der guten Werke und bringt die Seelen als Ernte zurück in den Himmel. Auch gibt er den Säenden Samen, das heißt, den Aposteln und anderen Lehrern seine Lehre, und den Essenden Brot, das heißt, den Gläubigen das Wort Gottes, durch das sie das ewige Leben erlangen. Erst als er mit seinem Martyrium alles erfüllt hat, das ihm aufgetragen war, ist er in die göttliche Herrlichkeit eingezogen. Der Kommentarteil endet mit der Bitte, Jesus Christus möge uns auch helfen durch sein gotleiche parmhertzychait und durch seinen tod, ebenfalls dorthin zu kommen (Gö, fol. 11ra). Mit der ersten Weissagung wird also nicht nur das anstehende Thema – das Kommen Jesu Christi auf die Erde – behandelt, sondern es wird zugleich ein Bogen geschlagen über Christi Wirken hin zu seiner Rückkehr in den Himmel. Mit der abschließenden Bitte wird durch die Verwendung des Plurals für das Personalpronomen die Gemeinschaft der Gläubigen aufgerufen, die auch den Bibelübersetzer und seine Rezipienten umfasst. Das Gleichnis im folgenden Zitat (2) Is 61,11 knüpft mit der Frucht tragenden Erde und dem Samen sprießen lassenden Garten an die Bildebene des vorangehenden Gleichnisses an. Die dazugehörige Glosse endet mit dem Lobgesang der Engel aus Lc 8,11: ‚Lob und ere sey got in der obristen hoche‘, der als Beleg dafür genommen wird, dass Jesus Christus auff gegangen [ist] mit dem ewigen lobe (Gö, fol. 11rb). Zum einen wird Jesus gleichgesetzt mit dem aufgehenden Samen, zum anderen ist durch die Wortwahl (obriste hohe, ûf gan) ein assoziativer Übergang zu den nächsten beiden Weissagungen (3) Is 40,9–10 und (4) Is 2,2–3 hergestellt, in denen ein Berg im Mittelpunkt steht. Der Kommentarteil zum zweiten dieser Zitate (4) endet mit der Beschreibung des langen Unfriedens, der mit Christi Geburt von einer siebenjährigen Friedenszeit abgelöst wird. Es folgt mit (5) Is 11,1–4 das Bild von der Wurzel Jesse, aus deren Spross eine Blume hervorgeht, auf der Gottes Geist rastet. Über Maria, die mit dem Spross gleichgesetzt wird, wird Jesus – die Blume – in das Geschlecht Davids, dessen Vater Jesse war, eingereiht. Mit der in Is 11,4 beschriebenen Richtertätigkeit ist der Übergang zu den folgenden Weissagungen (6) Is 45,1–3 und (7) Is 51,5 geschaffen, in denen der Prophet wiederum Gott selbst sprechen und seinen Gesalbten und Heiland ankündigen lässt, dem er alle Tore öffnen werde und der – als seine Arme – das Volk richten wird. So wie oben mit dem ersten und zweiten Zitat (Samen, Ernte) und dem dritten

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und vierten Zitat (Berg) jeweils zwei Weissagungen zusammengestellt sind, die sich einer ähnlichen Bildsprache bedienen, folgt auf Zitat (8) Is 60,1–2, in dem es um das Licht geht, das über Jerusalem aufgehen wird, in Zitat (9) Is 62,1 das Bild vom Heiland, der erzundet wirdet als ain lampas, also eine Fackel, die Licht ins Dunkel bringt (Gö, fol. 12vb). Das letzte Zitat der Reihe (10) Is 62,11 spricht von der durch Gott auf der ganzen Welt verbreiteten Verkündigung der erfolgten Ankunft des Heilands, der den Lohn mit sich bringt, weil – so wird in der Glosse ausgeführt – er selb der lon und loner ist (Gö, fol. 13ra). Die zehn Weissagungen des Jesaja gehen also aus von Gottes Vorhersage des Wirkens seines Worts und schließen mit seiner Verkündigung der Ankunft seines Heilands; die Weissagungen dazwischen sind gruppiert nach ihren Bildelementen. Diesen wohldurchdachten Aufbau zerstört der Bearbeiter durch seine Neusortierung nahezu vollständig. Mit Zitat (23) Is 4,1 folgt an späterer Stelle im Kapitel eine weitere Weissagung Jesajas. Sie ist dort Teil einer Argumentation, die mehrere Zitate umfasst, beginnend mit einer Einleitung und (21) Ier 31,22: Von unsers herren zukunft und von seinr gepurd von der raynen magt sand Marien sprichet aber Jeremias der weyssag: ‚Unser herr hat ain newes beschaffen auf dem erdreich: ain maget umbgeyt ainen man‘ (Gö, fol. 15ra)

Der Sohn, den Maria gebiert, ist zwar ein junges Kind gemäß seiner Menschheit, doch gleichzeitig gemäß seiner Gottheit ein alter Mann. Der Kommentar endet mit den Worten an diesem mane [Jesus Christus] ligent vil ausgenomner tugent (Gö, fol. 15rb), worauf die Einleitung zum folgenden Zitat (22) Za 6,11 direkt Bezug nimmt: Von dem mane sprichet Zacharias der weyssag: ‚Nembt war, des mannes nam haisset „der aufgend“ […]‘ (Gö, fol. 15rb). Auch die Einleitung des darauffolgenden Jesaja-Zitats (23) Is 4,1 knüpft mit den Worten: Jesus Cristus ist der man, von dem Ysaias sprichet daran an (Gö, fol. 15rb) und ebenso die Glosse zu dieser Stelle, die betont, dass am Tag der Empfängnis die sieben Kardinaltugenden den man Jhesum Cristum ergriffen haben (Gö, fol. 15va). Die phrasenweise Auslegung der Bibelstelle mündet in eine mit Amen beschlossene Bitte um Erlösung von der Schmach der Sünden. Beendet wird die Glosse allerdings durch einen Rückbezug auf Zitat (21): Secht, das ist der man, den die maget sand Maria umbvieng, den doch hymel und erde nicht begreyffen müggen. Diese schryft des weyssagen verkernt die valschen juden mit neyde und sprechent, der weyssag hab gesprochen, ain weyb, nicht ain maget geper ainen sun. Secht, wie ain offne lüge das ist, wann es ist nicht ain newes ding, ob ain weyb ainen sun gepar, wann das ist

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von anegeng der werld unzelleich geschehen. Secht, also verkern sy die heiligen geschryfft an aller stat, das ain yeglich synnig mensch doch wol versteht, das sie ligent und nicht versten wellent. (Gö, fol. 15vb)34

Dass hier nochmals auf den Wortlaut der Weissagung Jeremias eingegangen wird, legt nahe, dass (22) und (23) als Erläuterungen innerhalb des Kommentarteils zu (21) konzipiert sind, nicht als eigenständige Zitate. In Handschrift Gö ist – wie oben beschrieben – die Binnengliederung in den Kapiteln mit alttestamentlichen Prophezeiungen nicht sonderlich übersichtlich gestaltet, sodass sich hier kein klares Bild ergibt. Die Exzerpthandschrift V, die viele alttestamentliche Prophezeiungen in völlig neuer Anordnung überliefert,35 wobei jeder Neueinsatz deutlich durch eine Initiale und eine Rubrik gekennzeichnet ist, bestätigt aber den Befund für die Erstfassung: Die Zitate (21), (22) und (23) bilden hier eine Einheit mit (21) als Ausgangszitat mit Initiale sowie lateinischem Initium und Stellenangabe in Rubrik, während (22) und (23) ohne weitere Markierung im Fließtext stehen. In der Bearbeitung *SK hingegen ist diese Einheit zerstört, da das Jesaja-Zitat (23) in den Block der Weissagungen Jesajas an den Beginn des Kapitels verschoben ist, und zwischen die Zitate von Jeremia (21) und Zacharias (22) noch das zweite Zacharias-Zitat (24) eingeschoben ist. Dass der am Ende von (23) stehende Abschnitt, der sich auf das Jeremia-Zitat in (21) bezieht, in *SK nicht getilgt oder umgestellt ist, sondern nun ohne sinnvolle Anbindung im Block der Jesaja-Zitate steht, lässt vermuten, dass der Bearbeiter die durchaus durchdachte Komposition des Bibelübersetzers nicht erkannt hat. Er hat vielmehr mechanisch die Weissagungen nach den oben genannten Kriterien neu sortiert und dabei diejenigen Ein- bzw. Überleitungen, die er als solche erkannte oder für überflüssig hielt, getilgt. Gerade diese Zwischenstücke dienen aber oftmals der Rezeptionsführung und verdeutlichen die Zusammenhänge zwischen den Weissagungen. In Zitat (14) Iob 28,1 greift der Bearbeiter ein, um das vorgegebene Schema (erst steht die Weissagung, dann folgt der Kommentar) gegen das an dieser Stelle vermeintlich fehlerhafte Original durchzusetzen. Denn entgegen dem Usus steht in (14) nicht das übersetzte Bibelzitat am Anfang. Der gesamte Abschnitt lautet in *Gö: Unser herre Jhesus Christus ist golt und sylber geleichet durch manige sache, wan als das gold und auch sylber verporgen ist, untz es an das liecht pracht wirdet, also was auch unser herr Jhesus Christus den lewten verpargen, untz er yn diese werlt geruchte zu chomen. Da von sprach

|| 34 Zum Antijudaismus im ‚Evangelienwerk‘ vgl. Manuela NIESNER, „Wer mit juden well disputiren“. Deutschsprachige Adversus-Judaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 128), Tübingen 2005, S. 159–301; siehe auch den Abschnitt von Magdalena TERHORST in: ALTENDORFER u. a. (Anm. 21), S. 192–194. 35 So geht dem aus (21) bis (23) bestehenden Abschnitt in V ein Psalmen-Zitat aus Kapitel 22 (Alttestamentliche Prophezeiungen der menschlichen Geburt Jesu) voraus, während ihm ein JesajaZitat aus Kapitel 15 (Alttestamentliche Prophezeiungen der Verkündigung) folgt.

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Job: ‚Das sylber hat seiner adern anevang,36 und das golt hat die stat, da es ze samen geplasen wirdet.‘ Also ward das hymelisch gold, unser herr Jhesus Cristus, mit des heiligen geists zundar yn der rainen maget sand Marien leichnam emphangen und erchuckhet. (Gö, fol. 13va)

Der Schreiber von Handschrift V hat offensichtlich nicht erkannt, dass hier ein abweichender Aufbau vorliegt. Wie gewohnt ist in V daher der Absatz mit einer Initiale sowie der Stellenangabe in Rubrik versehen und der vermeintliche Kommentar mit rot unterstrichenem Glosa eingeleitet, das hier aber zwischen der Einleitung Da von sprach job und dem Bibelzitat zu stehen kommt (V, fol. 91va). Das zeigt, dass in V versucht wird, die Binnengliederung zu systematisieren, aber auch, dass die unorthodoxe Reihenfolge dieses Abschnittes bereits im Original angelegt war. Anders als dem Schreiber von V war dem Bearbeiter die Abweichung offensichtlich aufgefallen. Er stellt schemagerecht um, sodass in *SK das Bibelzitat am Anfang steht, dem – mit Glosa entsprechend markiert – der Kommentar folgt, und zwar zuerst der in *Gö dem Zitat vorangehende Text, dann der dort dem Zitat folgende, der nun aber nicht mehr, wie dort durch also ward (‚genauso wurde‘) direkt an das Zitat angeschlossen ist, sondern nur noch durch Ez wart auch an den ersten Kommentarteil angehängt ist (vgl. K2, fol. 11rb). Damit tritt aber der in der Erstfassung im Fokus stehende Zusammenhang in den Hintergrund, nämlich der Vergleich: Wie das Gold an bestimmten Orten geschmolzen wird, so wird Jesus in Maria mit dem Heiligen Geist empfangen und zum (menschlichen) Leben gebracht. Natürlich gibt es in *SK auch Änderungen im Vergleich zur Erstfassung, die eindeutig als Besserungen angesprochen werden können. So findet sich am Ende von Kapitel 141 (Von den anvertrauten Pfunden, Lc 19,12–28) eine Erläuterung zum Wort euge, in der es heißt, dass euge laut Chrysostomos ettwann [bedewt] frewd, als hie an diesem ewangeli des ersten stet (Gö, fol. 213rb). Das ist nicht korrekt, da euge in derselben Bedeutung bereits im vorangehenden Kapitel 140 (Von den anvertrauten Talenten, Mt 25,14–30) zu finden ist, also nicht nur im ‚Evangelienwerk‘, sondern auch in der Bibel vor der bezeichneten Stelle im Lukasevangelium bzw. in Kapitel 141. Die gesamte Erläuterung ist in *SK ans Ende des Kapitels mit der Matthäusstelle versetzt, hier in Kapitel 131 (die Stelle aus dem Lukasevangelium folgt erst in Kapitel 147).

4 Fazit Abschließend lässt sich sagen, dass das ‚Evangelienwerk‘ des Österreichischen Bibelübersetzers ein bewusst komponiertes Werk ist mit einer Rezeptionssteuerung durch Ein- und Überleitungen sowie interne Verweise. Die sehr früh entstandene

|| 36 seiner adern anevanch V, sein adern angevangen Gö.

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Bearbeitung sortiert den Text neu nach äußerlichen Kriterien und tilgt die Zwischenstücke – und dies auf so mechanische Weise, dass viele Ungereimtheiten entstehen. Dass der Bibelübersetzer selbst sein Werk auf diese Weise überarbeitet hat, „wobei der Anstoß zur Bearbeitung aus dem Kreis der gelehrten Berater gekommen sein könnte, die der Anonymus in seinen Schriften mehrfach erwähnt“37 ist daher unwahrscheinlich, auch wenn durchaus denkbar ist, dass den gelehrten Beratern der eigenständige Zugriff auf die biblischen Texte missfallen und solche Vorbehalte tatsächlich die Überarbeitung angestoßen haben könnten. Sicherlich war die Bearbeitung dazu gedacht, neuen Sinn zu generieren.38 Leider gehen durch sie aber vielmehr die vom Bibelübersetzer gesetzten sinnvollen Bezüge verloren. Umso erfreulicher ist, dass die Bearbeitung die Erstfassung nicht verdrängen konnte, wie die parallele Überlieferung beider Fassungen zeigt.

|| 37 KORNRUMPF (Anm. 3), S. 125. 38 Zumal laut KORNRUMPF (Anm. 3), S. 124, „die Umgestaltung […] vielleicht […] mit dem Entwurf eines Bildprogramms verbunden [war]“. Inwiefern dieses Bildprogramm Einfluss auf die Umgestaltung gehabt haben könnte, bleibt zu untersuchen.

Heide Klinkhammer

Die Arche Noah als Pyramide Neukontextualisierung hermetischer Legenden im Rahmen des Unionskonzils in Florenz Abstract: The paper reflects the topic of the symposium “Creation and Imitation, Creative Processes in the Middle Ages” by focussing the re-contextualisation of hermetic ‘Pyramid Legends’ in the context of the Florence Union Council (1438/39). It formulates the thesis that the topos of antediluvian wisdom of Egypt and of Hermes Trismegistos was strategically instrumentalized for the Council’s discussions by pinpointing the non-controversial common basis of faith in both Eastern and Western Church as well as producing arguments for overcoming the schism. This can be observed in two image cycles with scenes from the Old Testament: the ‘Gates of Paradise’ by Lorenzo Ghiberti (1378–1455) and the Genesis frescos of Chiostro Verde in Santa Maria Novella by his apprentice Paolo Uccello (1397–1475). In both, Noah’s Ark is depicted in the shape of the pyramids of Giza. The iconological analysis suggests that motifs from the ‘Pyramid Legends’ served as textual templates for this imagery. Only here pyramids have been described as some kind of Ark, providing shelter and retreat against the Flood. Hermes Trismegistos, their builder, is said to have foreseen the Deluge even before Noah and hereby saved paradisiacal wisdom. The hermetic ‘Pyramid Legends’ draw a genealogy from Hermes back to Adam. This – together with other Hermetica – could have helped to overcoming controversial religious-political conceptions. This included after all issues concerning the Trinity, which were to be conciliated based on an undeniable while paradisiacal ‘Prisca Philosophia’ of a ‘Hermes Christianus’. Keywords: Florentinum, Hermes Trismegistos, prisci philosophi, pyramid legends, Noah’s Arc

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Anmerkung: Ich danke für anregende und kritische Diskussionen: Jenny BORNEMANN, Andreas GORMANS, Berthold HUB, Hannelore KLINKHAMMER-BOHL, Judith und Karsten LEY, Anke NAUJOKAT, Claus PÜTZ, Christian RAABE, Thomas SCHARFF, Bruno SCHINDLER, Wilhelm SCHIRRMANN-KLINKHAMMER, Christoph F. WEBER.

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Heide Klinkhammer, Lehrstuhl für Architekturgeschichte, RWTH Aachen, Schinkelstraße 1, D-52062 Aachen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-029

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1 Einführung Die Untersuchung greift die Fragestellung des Symposiums zu „Schaffen und Nachahmen, Kreative Prozesse im Mittelalter“ am Beispiel der Neukontextualisierung ‚hermetischer Pyramidenlegenden‘ im Kontext des Florentiner Unionskonzils (1438/39) auf. Der Topos der vorsintflutlichen Weisheit Ägyptens und des Urweisen Hermes Trismegistos wurde offenkundig instrumentalisiert, um unstrittige gemeinsame Glaubensgrundlagen von Ost- und Westkirche aufzuzeigen und Argumente für die Aufhebung des Schismas zu generieren. Diese These wird am Beispiel zweier Bilderzyklen entwickelt, die im direkten Umfeld des Konzils entstanden. In beiden Bilderzyklen mit Szenen des Alten Testamentes wird die Arche Noah in Gestalt der Pyramiden von Gizeh dargestellt: an der Paradiesestür Lorenzo Ghibertis (1378–1455) und im Chiostro Verde in Santa Maria Novella durch Ghibertis Schüler Paolo Uccello (1397–1475). Die ikonologische Analyse wirft die Frage auf, ob Motive der ‚Pyramidenlegenden‘ als textliche Vorlagen für die Bildkonstruktionen gedient haben, zumal hier Pyramiden als Schutz vor der Sintflut beschrieben werden und Hermes Trismegistos, dessen Genealogie bis auf Adam zurückgeführt wird, als ihr Erbauer in ihnen die paradiesische Weisheit gerettet habe. Die nächste Frage geht dahin, inwieweit diese Legenden gemeinsam mit anderen ,Hermetica‘ nutzbar gemacht wurden, um kontroverse religionspolitische Vorstellungen der Konzilsteilnehmer inklusive des ,Filioque‘ auf der Grundlage der unstrittigen, weil paradiesischen ‚Prisca Philosophia‘ des ‚Hermes Christianus‘, zu befrieden. Abschließend wird die Funktion der ‚Pyramidenarchen‘ als sublimer Verweis auf die erhoffte Union unter römischem Primat und der Unterstützung durch die Medici dargelegt.

2 Das ‚Florentinum‘ Nach den Konflikten auf dem Baseler Konzil bezüglich Papismus und Konziliarismus und der Seuchengefahr in Ferrara holte Papst Eugen IV. (1383–1447) das Konzil nach Florenz. Das ‚Florentinum‘ wurde nun ganz der Aufhebung des Morgenländischen Schismas unter päpstlichem Primat gewidmet. Cosimo de’ Medici (1389– 1464), ein vehementer Vertreter der Kirchenunion, gewährleistete die Finanzierung,1

|| 1 Zur Abhängigkeit des Papstes von der Finanzierung durch die Medici siehe Jürgen DENDORFER, Veränderungen durch das Konzil? Spuren der Wirkungen des konziliaren Zeitalters auf die Kurie unter Papst Eugen IV., in: Heribert MÜLLER (Hg.), Das Ende des konziliaren Zeitalters (1440–1450),

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und das bereits 1418 zum Papstsitz umgebaute Dominikanerkloster Santa Maria Novella diente als Tagungsort.2 An kirchenpolitisch vergleichbar aufgeladenen Orten ist zu erwarten, dass die Ikonographie der Kunstwerke der scholastischen Bibelauslegung folgt, zumal sich Uccellos Genesisfresken in unmittelbarer Nähe zum damaligen Kapitelsaal mit dem Freskenzyklus zum Triumph des Thomas von Aquin von Andrea di Bonaiuto (1365)3 befinden, in dem die thomistische Lehre als Systembild vermittelt wird. Die Konzeption der Darstellungen musste demnach der kanonischen Lesart entsprechen und textliche Vorlagen gegebenenfalls neu kontextualisieren. Bereits im Petrusbrief (3,20–21) wurde die zeitliche Rettung in der Arche als typologischer Verweis auf die Taufe als ewiger Rettung beschrieben. Im Anschluss daran sah Augustinus (354–430) Christus in Noah präfiguriert und die Arche als Gleichnis der Kirche (‚De Civitate Dei‘ XVI, XXV). Gestalt, Symbolik und Aufteilung der Arche wurden in der Patristik nach den Vorgaben der Genesis (1. Mose 6,14–16): 50 Ellen breit, 30 Ellen hoch, 300 Ellen lang, die Spitze eine Elle, diskutiert. Origenes (185–254)4 interpretierte die Angaben als stufenförmige Architektur, nicht aber als ideale, ,echte‘ Pyramide und Hugo von Sanct Victor (1097–1141) kam zu der Auffassung, eine pyramidale Gestalt sei nicht schwimmfähig.5 Er entwickelte dagegen in ‚De arca Noe morali‘ ein mnemonisches Lehrbild des vierfachen Wortsinnes, demzufolge die erste Arche „Arche Noah“ genannt werde, „die zweite die Arche der Kirche, die dritte Arche der Weisheit und die vierte Arche der mütterlichen Gnade.“6 Bildliche Darstellungen von ‚Pyramidenarchen‘ sind äußerst selten. Anke NAPP verweist auf drei Beispiele in der Buchmalerei des 14. Jahrhunderts, die allerdings

|| München 2012, S. 105–132. Grundlegend zum Unionskonzil vgl. Paolo VITI (Hg.), Firenze e il Concilio del 1439. Convegno di Studi, Firenze 29 novembre – 2 dicembre 1989, 2 Bde., Florenz 1994. 2 Isnardo Pio GROSSI o.p., Der Dominikanerorden, in: Umberto BALDINI (Hg.), Santa Maria Novella. Kirche, Kloster und Kreuzgänge, Stuttgart 1982, S. 19–29, bes. S. 29: Alle Tagungen des Konzils wurden im großen Saal des päpstlichen Appartamentes abgehalten. 3 Maurizio DEZZI BARDESCHI, Sole in Leone. Leon Battista Alberti, Astrologia, cosmologia e tradizione ermetica, in: Psicon 1 (1974), S. 33–37, bes. S. 36. 4 Vgl. Hans Martin VON ERFFA, Ikonologie der Genesis. Die christlichen Bildthemen aus dem Alten Testament und ihre Quellen, Bd. 1., München 1989, 1.4 Sintflut, S. 432–507, bes. S. 443, 452. Richard KRAUTHEIMER u. Trude KRAUTHEIMER-HESS, Lorenzo Ghiberti, 3. Aufl. Princeton New Jersey 1982, S. 177. Amy R. BLOCH, Lorenzo Ghiberti’s Gates of Paradise. Humanism, History, and Artistic Philosophy in the Italian Renaissance, Cambridge 2016, S. 80, 82 und 297,16, 17, 18 und 25. 5 Vgl. Hugonis de S. Victore Opera Omnia, hrsg. v. J.-P. MIGNE, Paris 1854, S. 618–681: ‚De arca Noe morali‘, S. 627: Cur sententiae plura refragari videntur, primum quod haec forma ad natandum non videtur esse idonea. Ebd: ‚De arca Noe mystica‘, S. 681–701. 6 De arca Noe morali (Anm. 5), S. 618–681, S. 626: Primam vocemus arcam Noe, secundam arcam Ecclesiae, tertiam arcam sapientiae, quartam arcam matris gratiae. Übersetzung durch die Verfasserin.

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keine echten Pyramiden zeigen. Der Zeichner der ,Chronica Mediolanensis‘ (1350)7 mag Hugos Zweifel an der Schwimmfähigkeit der Pyramidenform geteilt haben. Seine ‚Pyramidenarche‘ ist in eine Art rund geformten Schiffsrumpf gesetzt.

3 Die Florentiner ‚Pyramidenarchen‘ Ghiberti gestaltete die erste ‚Pyramidenarche‘ im öffentlichen Raum. Die Paradiesestür war im Entwurf 14378 fertig, wurde aber erst 1452 an das Hauptportal des Baptisteriums transloziert, mit ‚erinnerndem Blick‘ in den Dom Santa Maria del Fiore hinein, den Ort, an dem am 6. Juli 1439 die Unionsbulle ‚Laetentur Coeli‘ über die Aufhebung des Schismas zwischen römisch-katholischer und griechischer Kirche verkündet worden war. Die zweite Inszenierung von ‚Pyramidenarchen‘ in Uccellos Sintflutfresko entstand zwischen 1443 und 1447 als Memorialbild der erfolgreichen Union im Chiostro Verde in Santa Maria Novella, dem Austragungsort des Konzils und dem Ort, an dem am 4. Februar 1442 die Bulle der Union mit den Kopten verlesen worden war.9 Da weder die Patristik noch die Origenesrezeption für die Darstellung geometrisch echter Pyramiden als Bauform der Arche sprechen, scheint die von Ghiberti und Uccello entwickelte Darstellungsform auf einer direkten Auseinandersetzung mit den Pyramiden von Gizeh und den ‚Pyramidenlegenden‘ zu beruhen. Dafür spricht eine nicht schlüssig geklärte Gestalt in Visionsgestus in Uccellos Sintflutfresko. Volker GEBHARDT10 konnte aus dem Vergleich ihrer Physiognomie mit

|| 7 Anke NAPP, ‚In Terra Aegypti‘ – Das Bild des Alten Ägypten von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit, Baden-Baden 2015, S. 111–112: ‚Chronica Mediolanensis‘, 1350, Arche in Pyramidenform. Siehe auch BLOCH (Anm. 4), S. 297,16. 8 Vgl. KRAUTHEIMER u. KRAUTHEIMER-HESS (Anm. 4), S. 167: Die Entwürfe für die einzelnen Tafeln waren „zweifellos“ am 4.4.1437 fertig. Alexander PERRIG, Lorenzo Ghiberti. Die Paradiesestür. Warum ein Künstler den Rahmen sprengt. Frankfurt 1997, S. 69, S. 42–43: 1425 schlossen Calimala und Ghiberti den Vertrag zur Ausführung der Paradiesestür ab mit der Genehmigung, sein eigenes Bildprogramm und Gliederungskonzept zu verwirklichen. 9 GROSSI (Anm. 2), S. 29. 10 Volker GEBHARDT, Ein Porträt Cosimo de’Medicis von Paolo Uccello: Zur Ikonologie der Sintflut im Chiostro Verde von Santa Maria Novella in Florenz, in: Pantheon 48 (1990), S. 28–35. Wenn die Datierung des Freskos vor 1464 korrekt ist, wurde es noch zu Lebzeiten Cosimos erstellt und ist damit eine zeitgenössische Bestätigung der Gesichtszüge Cosimos. Vgl. Tobias LEUKER, Cosimo de’ Medici als weiser Helfer der Kirche – Zur Sintflut-Lünette Paolo Uccellos im Chiostro Verde, in: DERS., Bausteine eines Mythos, Köln, Weimar, Wien 2007, S. 61–67, hier S. 63. Antony GRAFTON, The Chronology of the Flood, in: Martin MULSOW u. Jan ASSMANN (Hgg.), Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs, München 2006, S. 65–85. Eugenio MARINO, Il ‚Diluvio‘ di Paolo Uccello nel Chiostro di S. Maria Novella e i suoi (possibili) rapporti con il Concilio di Firenze, in: VITI (Anm. 1), S. 317–387; bes. S. 364: MARINO sieht in dem ‚Gigante–benedicente‘ Papst Eugen IV.

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posthumen Medaillen Cosimos de’ Medici überzeugend darlegen, dass sie Porträtzüge Cosimos d. Ä. trägt und daraus schließen, dass das Fresko als promediceisches Memorialbild für das erfolgreiche Konzil zu lesen sei. Allerdings ist mit der Identifizierung des Porträts die Funktion der visionären Gestalt im theologischen Kontext der Sintflut nicht geklärt. Erst wenn man die ,Pyramidenlegenden‘ zur Analyse des Bildprogramms befragt, erschließt sich die Frage, warum die Arche als Pyramide, die unverkennbar an die Pyramiden von Gizeh erinnert, dargestellt ist, warum im Chiostro Verde sogar zwei ‚Pyramidenarchen‘ dargestellt sind, und welcher biblisch-mythischen Person Cosimo seine Gesichtszüge ‚leiht‘.

Abb. 1: Lorenzo Ghiberti, Die Arche Noah (ca. 1436–37?), Paradiesestür, Baptisterium San Giovanni, heute Museo dell’Opera di Santa Maria del Fiore, Foto: Professor Steven ZUCKER, 2014. © Su concessione del Fondo edifici di Culto, amministrato dal Ministero dell’Interno. https://www.flickr.com/photos/profzucker/15900355731 (31.01.2020).

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Abb. 2: Paolo Uccello, Die Sintflut (ca. 1443–1447?), ehemals Chiostro Verde, Santa Maria Novella, auf Leinwand aufgezogenes Fresko, jetzt Museo di Santa Maria Novella, Foto: Bruno SCHINDLER, 2016. © Su concessione del Fondo edifici di Culto, amministrato dal Ministero dell’Interno.

4 Die ,Pyramidenlegenden‘ Bisher ist der Transfer der im arabischen Raum kompilierten ‚Pyramidenlegenden‘ nach Florenz ein Forschungsdesiderat. Einige dieser Legenden waren bereits im 10. Jahrhundert in Andalusien bekannt.11 Auch über arabischsprachige Übersetzer auf dem Konzil, z. B. Beltramo Minganelli (ca. 1370–1460?),12 könnten sie überliefert

|| 11 Vgl. Kevin VAN BLADEL, The Arabic Hermes. From Pagan Sage to Prophet of Science. Oxford 2009, S. 122–124. Ulrich HAARMANN, Das Pyramidenbuch des Abu Ga’far Al-Idrīsī, Beirut 1991, S. 81, 82: Al-Idrīsī bezieht sich in seinen Darstellungen der ‚Pyramidenlegenden‘ weitgehend auf Abū Maʿšar und den Andalusier Ibn Gulgul (943–994 n. Chr.). Beide waren bereits Albertus Magnus und Thomas von Aquin bekannt. Abū Maʿšar/Albumasars Schriften lagen zudem seit dem 12. Jahrhundert in Übersetzungen durch Johannes Hispalensis bzw. Herman von Carinthia vor. Vgl. F. BURNETT, The Legend of the Three Hermes and Abū Maʿšar’s Kitāb al-Ulūf in the Latin Middle Ages, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 39 (1976), S. 231–234. 12 Vgl. Angelo Michele PIEMONTESE, La Lingua Araba Comparata da Beltramo Mignanelli (Siena 1443). Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 48,1/2 (1995), S. 155–170, www.jstor.org/ stable/43391214 (19.03.2019).

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Abb. 3: Detail: Cosimo als Hermes-Henoch, Foto: Bruno SCHINDLER, 2016. © Su concessione del Fondo edifici di Culto, amministrato dal Ministero dell’Interno.

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worden sein. Berthold HUB13 vermutet, dass Ghiberti die ‚Pyramidenlegenden‘ kannte. Es liegt nahe, Ghibertis und Uccellos ‚Pyramidenarchen‘ als ‚missing links‘ zwischen der Entstehung der ,Pyramidenlegenden‘ im koptisch-arabischen Raum und ihrer Rezeption im lateinischen Sprachraum zu betrachten. Sicher ist zudem, dass Filarete (1400–1469?), der an der ersten Bronzetür mitarbeitete, arabische ‚Pyramidenlegenden‘ in seinem Architekturtraktat als Inspiration für seine Erzählungen verwendete.14 Ciriaco d’Ancona (1391–1455), ein persönlicher Freund Ghibertis, hatte auf verschiedenen Reisen, die er als Kaufmann im Auftrag Eugens IV. und Cosimos d. Ä. unternahm, Ägypten besucht und die Cheopspyramide bestiegen. Er brachte eigenhändige Zeichnungen und Hieroglyphenabschriften mit.15 Es ist denkbar, dass Ciriaco in Kairo mit dem Kairiner Universalgelehrten Al-Maḳrīzī (1364–1442)16 zusammentraf und dessen Sammlung der ‚Pyramidenlegenden‘ kennenlernte. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Kairo (1433/34) besuchte Ciriaco Ghiberti und sah die Bronzetüren des Baptisteriums noch im Entstehen.17 Möglicherweise erfuhr Ghiberti auf diesem Wege von den ,Pyramidenlegenden‘. Da der Entwurf der Paradiesestür erst 1437 fertig gestellt war, ist anzunehmen, dass Ciriacos Berichte die Ausführung beeinflusst haben.

|| 13 Berthold HUB stellte mir freundlicherweise seinen Text zur Arche Noah als Pyramide zur Verfügung: Berthold HUB, Die Arche Noah als Pyramide. Vortrag am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut. 30.11.2017–2.12.2017, Manuskript (erscheint in: Fabian JONIETZ, Wolf Dietrich LÖHR u. Alessandro NOVA (Hgg.), Ghiberti teorico: Natura, arte e coscienza storica nel Quattrocento, Mailand 2020). 14 Zu Filaretes Kenntnis der Pyramidenlegenden und des „Schatzes Alexanders“ siehe Heide KLINKHAMMER, Schatzgräber, Weisheitssucher und Dämonenbeschwörer. Die motivische und thematische Rezeption des Topos der Schatzsuche in der Kunst vom 15. bis 18. Jahrhundert. Berlin 1992, S. 69–75 und grundlegend zu Filarete: Berthold HUB, Filarete. Der Architekt der Renaissance. Demiurg und Pädagoge, Wien 2020, S. 313–369. HUB macht S. 31, 6 darauf aufmerksam, dass Vasari irrtümlich von der zweiten Bronzetür sprach. 15 Laurentius Mehus, Kyriaci Antonitani Itinerarium nunc primum ex MS. Cod. in lucem frutum ex bibl. Ilus. clarissimique Baronis Philippi Stosch, Florenz 1742, S. 52 und grundlegend: Michail CHATZIDAKIS, Ciriaco d’Ancona und die Wiederentdeckung Griechenlands im 15. Jahrhundert (Cyriacus, Studien zur Rezeption der Antike 9), Berlin 2012, S. 65, 417. 16 Grundlegend: Erich GRAEFE, Das Pyramidenkapitel in Al-Maḳrīzīs Hitat. Inaugural Dissertation Leipzig 1911 sowie HAARMANN (Anm. 11), Michael COOK, Pharanonic History in Medieval Europe, in: Studia Islamica 57 (1983), S. 67–103; BLADEL (Anm. 11), S. 135. Antony FODOR, The Origins of the Arabic Legends of the Pyramids, in: Acta Orientalia Hungaricae 23 (1970), S. 340–341. Florian EBELING, Das Geheimnis des Hermes. Geschichte des Hermetismus von der Antike bis zur Neuzeit, München 2005, bes. S. 62–100. David PORECCA, The Influence of Hermetic Texts on Western Europe Philosophers and Theologians (1160–1300), Warburg Institute School of Advanced Study University of London 2001, S. 36. 17 Francesco Scalamonti, Vita viri clarissimi et famosissimi Kyriaci Anconitani, hrsg. v. Charles MITCHELL u. Edward W. BODNAR, Philadelphia 1996, S. 69, 102.

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Al-Maḳrīzī hatte auf der Grundlage früherer Schriften Al-Idrīsīs (1173–1251),18 Al-Bīrūnīs (gest. 1048), Abū Maʿšars/Albumasars (787–886)19 und anderer sowohl antike wie jüdische, christliche und islamische Quellen zur Klärung von Funktion, Symbolik und Erbauung der Pyramiden genutzt und miteinander verglichen. So wird mehrfach erzählt, dass die „beiden Pyramiden“ errichtet wurden, um vorsintflutliches Wissen, Schätze20 und Menschen21 vor der angekündigten Sintflut zu retten. Der Erbauer der Pyramiden sei Hermes Trismegistos, der mit dem alttestamentarischen Henoch und dem koranischen Idrīs identifiziert werde.22 Wie in der römisch-griechischen Tradition, derzufolge es mehrere Gestalten mit Namen Hermes oder Mercurius gegeben habe, die auf den ägyptischen Gott Thot zurückgeführt wurden,23 sprechen auch die ,Pyramidenlegenden‘ von mehreren Hermesge-

|| 18 Zu Al-Idrīsī als Verfasser eines Pyramidenbuches, siehe HAARMANN (Anm. 11), S. 44–49 und Ulrich HAARMANN, Das pharaonische Ägypten bei islamischen Autoren des Mittelalters, in: Erik HORNUNG (Hg.), Zum Bild Ägyptens im Mittelalter und in der Renaissance, Freiburg i. d. Schweiz, Göttingen 1990, S. 30 sowie COOK (Anm.17), S. 79 f. 19 HAARMANN (Anm. 11), S. 81, 82. Vgl. COOK (Anm. 17), S. 87 und David PINGREE, The Thousands of Abū Maʿšar, London 1968, S. 14. 20 Vgl. Jan ASSMANN, Das gerettete Wissen. Flutkatastrophen und geheime Archive, in: MULSOW u. ASSMANN (Anm. 10), S. 291–201. Jan ASSMANN, Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik, in: Richard FABER (Hg.), Sozialismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994, S. 45–60. 21 GRAEFE (Anm. 16), S. 74, 29: Al-Maḳrīzī berichtet nach dem persischen Universalgelehrten Al-Bīrūnī, dass „die beiden Pyramiden“ von den „Bewohner(n) des Westens“ errichtet wurden „um sich bei der Katastrophe hineinzubegeben. Die Spuren des Wassers der Sintflut und die Beschädigungen durch die Wogen sind bis zur halben Höhe der beiden Pyramiden deutlich zu erkennen; über sie hinweg sind die Fluten nicht gegangen. So weit Al-Bīrūnī.“ Vgl. auch Patrick FRANKE, Orte verborgenen Wissens: Die ägyptischen Pyramiden aus Sicht der mittelalterlichen Araber, in: Armenuhi DROST-ABGARJANI (Hg.), Vom Nil an die Saale, Halle 2008, S. 93–111, S. 105. 22 GRAEFE (Anm. 16), S. 77,30. S. 61, 24 und S. 77, 33: Al-Maḳrīzī referiert „Es gibt Leute, die sagen: Der erste Hermes, welcher der ‚dreifache‘ in seiner Eigenschaft als Prophet, König und Weiser genannt wurde (es ist der, den die Hebräer Henoch, den Sohn […] des Sohnes Adams – über ihm sei Heil – nennen, und das ist Idrīs), der las in den Sternen, dass die Sintflut kommen werde. Da ließ er die Pyramiden bauen und in ihnen Schätze, gelehrte Schriften und alles, worum er sich sorgte, dass es verloren gehen und verschwinden könnte, bergen, um die Dinge zu schützen und wohl zu bewahren.“ Vgl. FRANKE (Anm. 21), S. 98: Al-Idrīsī hatte selbst Pyramidenforschungen betrieben. Die Pyramiden sind demnach ‚heilige Orte‘. Die „beiden großen Pyramiden“ entsprechen dem Sternbild Zwillinge und dem Planeten Merkur – Hermes, dem Planeten der Weisheit, dessen Spiritualität die gesamte Umgebung beeinflusse. 23 Zur traditio graeca bzw. latina siehe Herodot (‚Historien‘ 2,50). Die Übersetzbarkeit der Götternamen bestand bereits im 15. Jh. v. Chr. Vgl. Jan ASSMANN, Maat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München 1990, S. 23. Cicero (‚De natura deorum‘ 3,56) spricht von fünf Gestalten mit Namen Mercurius, die wiederum Hermes und dem Ägypter Theut/Thot entsprechen. Zur Genealogie der Hermesgestalten siehe weiter FODOR (Anm. 16), S. 336 und 341, EBELING (Anm. 16), S. 72–74. Alexandra von LIEVEN, Thot selbdritt: Mögliche ägyptische Ursprünge der

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stalten: es variiert, ob der erste oder der zweite Hermes die Sintflut – noch vor Noah24 – vorausgesehen habe. Er sei der einzige Ägypter, den Noah auf der Arche mitgenommen habe. Dies berichten seine Nachfahren Illu und Barta,25 die von ihm die älteste Schrift ererbt hätten.

5 Hermes Trismegistos als ‚Priscus Philosophus‘ Möglicherweise hat Ciriaco Ghiberti und die Gelehrtenkreise um Eugen IV. und Cosimo de’ Medici auf die Nutzbarkeit der ,Pyramidenlegenden‘ als Verweis auf die ‚Prisca Theologia‘26 des Hermes Trismegistos aufmerksam gemacht, zumal er selbst von der Gestalt des Weisen so beeindruckt war, dass er ihn als seinen persönlichen Schutzgeist ansah. In einem Brief an Pietro Bonarelli vom 15. März 1423 berichtet er von seiner Traumvision, die er unter Berufung auf die Kirchenväter und Dante zur Apologie antiker und heidnischer Literatur gestaltete: die Beschäftigung mit antiker Weisheitsliteratur sei für den christlichen Glauben „nützlich“ und „durchaus mit ihm vereinbar“.27 Die Vereinnahmung des Hermes zum ‚Hermes Christianus‘ hatte bereits bei Lactanz (240–320),28 Didymus dem Blinden (300–398)29 und Quodvultdeus, der

|| arabisch-lateinischen Tradition dreier Hermesgestalten, in: Die Welt des Orients 37 (2007), S. 69–77 und BURNETT (ANM. 11), S. 231. 24 Der priesterlichen Überlieferung der Genesis (4–5) zufolge nimmt Henoch in einer genealogischen Linie, die von Adam über Seth zu Noah führt, die siebte Stelle ein. Er ist als Vater Methusalems der Großvater Lamechs und der Urgroßvater Noahs, vgl. entsprechend GRAEFE (Anm. 16), S. 77, 30. 25 GRAEFE (Anm. 16), S. 68: Ilu und Barta „stammten von einem Manne ab, der zu den ältesten Bewohner Ägyptens gehört habe. Keiner außer ihm von den Ägyptern entging der Sintflut, und er nur deshalb, weil er sich zu Noah – über ihm sei Heil! – begab und auf ihn vertraute. Noah nahm ihn auf der Arche mit: und als das Wasser der Sintflut sich verlaufen hatte, begab er sich in Begleitung mehrerer Söhne Hams, des Sohnes Noahs, nach Ägpyten und lebte dort bis zu seinem Tode. Seine Kinder aber erbten die Kenntnis der ältesten Schrift der Ägypter, und wir haben sie in ununterbrochener Folge von ihm ererbt.“ 26 Ciriaco stand unter anderem mit Filarete, Niccolo Niccoli (1365–1447) und Filelfo (1398–1441) in engem Kontakt. S. auch: Caesare VASOLI, Der Mythos der ‚Prisci Theologi‘ als Ideologie der Renovatio, in: Martin MULSOW (Hg.), Das Ende des Hermetismus. Historische Kritik und neue Naturphilosophie in der Spätrenaissance, Tübingen 2002, S. 19–61, bes. S. 44–47. 27 Vgl. Karl August NEUHAUSEN, Die Reisen des Cyriacus von Ancona im Spiegel seiner Gebete an Merkur (1444–1447), in: Wolf-Dieter LANGE (Hg.), Diesseits und Jenseitsreisen im Mittelalter, Bonn, Berlin 1992, S. 147–174, hier S. 155, s. auch S. 161. Scalamonti (Anm. 17), S. 146, 20. 28 Siehe zur kontinuierlichen Christianisierung des Hermes: Claudio MORESCHINI, ‚Hermes Christianus‘. The Intermingling of Hermetic Piety and Christian Thought, Turnhout 2011 und Andreas LÖW, Hermes Trismegistos als Zeuge der Wahrheit. Die christliche Hermetikrezeption von Athenagoras bis Laktanz, Berlin, Wien 2002, bes. S. 99, S. 195. Vgl. Harald HAFERLAND, Hermes als

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lange mit Augustinus verwechselt wurde, begonnen. Auf seine antiarianische Schrift ‚Adversos quinque haereses‘ geht die Überzeugung zurück, Hermes habe die Trinität bekannt.30 Im 14. Jahrhundert wurde Hermes/Mercurius in einer illustrierten Abschrift des ‚Liber Introductorius‘ des Michael Scotus (1180–1235) sogar als Bischof mit Mitra, Bischofsstab und Buch dargestellt.31 Die Wertschätzung des Hermes als christlich instrumentalisierbarem ‚Prisco Philosopho‘ hatte eine lange Tradition. Insofern ist nicht verwunderlich, dass Cosimo de’ Medici Schriften, die mit der Weisheit des Hermes/Mercurius in Verbindung gebracht wurden systematisch suchen ließ. Um 1460 gelangten die später unter dem Namen ‚Pimander‘ bekannten hermetischen Schriften (Codex Laurentianus LXXI, 33) in den Besitz Cosimos und wurden zu einem der Katalysatoren der Renaissance.32 In diesem Kontext sind die ,Pyramidenlegenden‘ in der transkulturellen und transreligiösen Fassung Al-Maḳrīzīs eine logische Ergänzung der übrigen ,Hermetica‘, wird doch in unterschiedlichen Fassungen berichtet, wie die paradiesische Weisheit von Adam auf genealogischem Erbweg über Hermes/Henoch weitergeleitet wurde.

6 Unionskonzil und Neukontextualisierung hermetischer Legenden Hauptthema des Unionskonzils war – nicht zuletzt angesichts der ‚Türkengefahr‘ – die Aufhebung des Schismas und die Wiedervereinigung von West- und Ostkirche. Insofern wurde systematisch nach Verbindendem gesucht und in der Anerkennung

|| Gründerfigur im Mittelalter. Transformationsformen des Mythos, in: Udo FRIEDRICH u. Bruno QUAST (Hgg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2004. S. 177–194, bes. 180–183. Grundlegend auch: Matthias HEIDUK, Gewachsene Traditionen. Zur Formierung hermetischer Überlieferungen im Mittelalter, in: Andreas B. KILCHER (Hg.), Constructing Tradition. Means and Myths in Western Esotericism, Leiden, Boston 2010, S. 47–70. 29 Carsten COLPE u. Jens HOLZHAUSEN, Das ‚Corpus Hermeticum‘ Deutsch, 2 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1997, 7.2, S. 589. Ps.-Didymus, ‚De Trinitate‘ II 3 und II 27. 30 ‚Opera Quodvultdeo Charthaginiensi Episcopo tributa‘, hrsg. v. René BRAUN (Corpus Christianorum Series Latina 60), Turnhout 1976, S. 286. Siehe Matthias HEIDUK, Offene Geheimnisse – Hermetische Texte und verborgenes Wissen in der mittelalterlichen Rezeption von Augustinus bis Albertus Magnus. Diss Freiburg i. Br. 2007, S. 60 und EBELING (Anm. 16), S. 69. 31 Michael Scotus (1180–1235), ‚Astrologia cum figuris‘, BSB Clm 10268, 14. Jh. (85), urn:nbn:de:bvb:12-bsb00002270-2 (25.01.2019), S. 174. Vgl. HEIDUK (Anm. 30), S. 164; EBELING (Anm. 16), S. 69. 32 COLPE u. HOLZHAUSEN (Anm. 29) sowie Esteban LAW, Das ‚Corpus Hermeticum‘ – Wirkungsgeschichte, Teil 1., Stuttgart-Bad Cannstatt 2018.

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‚vorsintflutlicher Weisheit‘, die für alle Konzilsteilnehmer Gültigkeit hatte, gesehen. Die ‚Prisca Philosophia‘ oder ‚Prisca Theologia‘33 konnte von östlichen wie westlichen Protagonisten des Konzils als gemeinsamer Glaubensinhalt diskutiert werden. Wie kaum ein anderer war Hermes Trismegistos hier als Vermittler geeignet, zunächst als ägyptischer ‚Priscus Philosophus‘, der von Gott der Erkenntnis der Trinität für würdig befunden wurde, dann aber – in seiner Identifikation mit dem alttestamentarischen Henoch (wie dem koranischen Idrīs) – sogar als biblischmythische Gestalt. Folglich war die in den ‚Pyramidenlegenden‘ beschriebene ‚Pyramidenarche‘ sogar im Sinne des römischen Primates lesbar, wie es Papst Bonifaz VIII. 1302 in der Bulle ‚Unam Sanctam‘ – ursprünglich in anderem Zusammenhang – verlauten ließ: Eine Arche Noachs gab es nämlich zur Zeit der Sintflut, die die eine Kirche vorausbildete; in einer Elle vollendet hatte sie einen Führer und Lenker, nämlich Noach; außerhalb dieser wurden, wie wir lesen, alle Wesen auf der Erde vernichtet.34

Formulierte diese Bulle zunächst den absoluten Führungsanspruch des Papstes in der Auseinandersetzung mit Philipp IV. von Frankreich, so stehen im 15. Jahrhundert die Kontroversen zwischen Konziliarismus und Papismus und die Einheit von Ost- und Westkirche unter päpstlichem Primat im Vordergrund. Die Gestalt der ‚Pyramidenarche‘ scheint besonders geeignet, diese Forderung sublim zu verbildlichen.

7 Zur ikonologischen Analyse: Lorenzo Ghibertis Paradiesestür Die zehn Tafeln der Paradiesestür verbildlichen alttestamentarische Szenen, die – an den Weisheitssprüchen (10,4) orientiert – in einer Art ‚Lehr-Dekalog‘ von Sündenfall, Gnade und den Bünden Gottes mit den Menschen handeln und sowohl Szenen des Neuen Testamentes präfigurieren als auch die aktuelle Thematik und

|| 33 VASOLI (Anm. 26), S. 19–61. Zu Bemühungen im Kontext des Unionskonzils drei Religionen zu versöhnen, vgl. auch Anke NAUJOKAT, ‚Non est hic‘. Leon Battista Albertis Tempietto in der Cappella Rucellai, Aachen, Berlin, Brüssel 2011, S. 14, S. 181 und S. 205–211. 34 Bonifaz VIII. ‚Unam sanctam‘, 18.11.1302: Una nempe fuit diluvii tempore arca Noe, unam Ecclesiam praefigurans, quae in uno cubito consummata unum, Noe videlicet, gubernatorem habuit et rectorem, extra quam omnia subsistentia super terram legimus fuisse deleta. Peter HÜNERMANN u. Heinrich DENZINGER (Hgg.), Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg i. Br. 2009, S. 385–387 (Übersetzung ebd.).

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Abb. 4: Lorenzo Ghiberti, Paradiesestür (1425–1437, 1452 eingebaut), Baptisterium, San Giovanni, heute Museo dell’Opera del Duomo di Santa Maria del Fiore, Foto: Bettina RÖHRIG. © Su concessione del Fondo edifici di Culto, amministrato dal Ministero dell’Interno. http://www.florentinermuseen.com/foto/duomo%20museum/image/porta1.jpg (30.03.2018).

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das Ziel des Unionskonzils – die Aufhebung des Schismas – vorwegnehmen. Es mag genügen, die Aktualisierung der theologisch-politischen Aussage an zwei Tafeln darzulegen: der Sintflutszene mit der ‚Pyramidenarche‘ und der den ‚Zehnerzyklus‘ abschließenden Szene der Verbindung Salomons mit der Königin von Saba. Der Besuch der Königin von Saba bei Salomon kann an dieser Stelle als Präfiguration der besiegelten Union von Ost- und Westkirche gelesen werden: Salomon reicht der Königin die linke Hand. Mit dem Gestus der Vermählung ‚zur linken Hand‘ wird zweifelsfrei die im Unionskonzil angestrebte Aufhebung des Schismas und die Wiedervereinigung von Ost- und Westkirche unter dem Primat des römischen Papstes verbildlicht. Nicht zuletzt durch die zeitgenössische Kleidung der Protagonisten und die an das Mittelschiff des Florentiner Domes erinnernde Architektur wird die Aktualität des Geschehens heraufbeschworen.

8 Die ‚Pyramidenarche‘ als vollkommener Körper Ghiberti geht in seinen ‚Commentarii‘ nicht auf die Bilderfindung der ‚Pyramidenarchen‘ ein, aber er setzt sich ausführlich mit zeitgenössischen Überlegungen zur Wahrnehmung, zur Zentralperspektive und zur ‚Sehpyramide‘ auseinander.35 Wie Alberti (1404–1472) und Brunelleschi (1377–1446) verwendet er den Begriff Pyramide zur Klärung des perspektivischen Sehvorgangs. Die exakte Geometrie der Pyramide verweist in diesem Sinne auf die Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen36 und Ghibertis ‚Pyramidenarche‘ wird zum Inbegriff vollkommener Architektur nach göttlichen Maßvorgaben. In die glatte Außenhaut des perfekt anmutenden geometrischen Körpers37 sind die in der Genesis angegebenen Maße mit römischen Ziffern eingraviert. Aber, ähnlich wie Masaccio (1401–1428) in der Trinità,38 scheint Ghiberti hier die Perspektive als Bedeutungsperspektive zu thematisieren. Die Maßangaben widersprechen der Darstellung: Den Ziffern zufolge müsste die Längsseite das Sechsfache der Breitseite betragen. Die drei C für 300 Ellen auf der Längsseite folgen der biblischen Zahl, ebenso die fünf X auf der Breitseite und die drei X für die Höhe. Die Ziffern suggerie|| 35 Siehe KRAUTHEIMER u. KRAUTHEIMER-HESS (Anm. 4), S. 157–225. 36 Vasari (1511–1574) lobt die perspektivische Darstellung, allerdings erwähnt auch er mit keinem Wort die ungewöhnliche Bilderfindung der Pyramidenarche. Giorgio Vasari, Das Leben des Lorenzo Ghiberti, Berlin 2011, S. 37. 37 Claus PÜTZ (IGPM) RWTH machte mich darauf aufmerksam, dass die geometrische Darstellung nicht korrekt gezeichnet sei. Hier fragt sich, ob dies einer noch nicht vollständig beherrschten Zentralperspektive geschuldet ist, oder – ähnlich wie in Masaccios Trinità – die Unterschiede zwischen göttlichem und menschlichem Blickwinkel vergegenwärtigt. 38 Alexander PERRIG, Masaccios Trinità und der Sinn der Zentralperspektive, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21 (1986), S. 11–43.

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ren also einen Baukörper mit unterschiedlichen Seitenlängen. Dennoch ist die Arche in Ghibertis Relief klar als Pyramide aus vier gleichschenkligen Dreiecken in ähnlichen Böschungswinkeln und Proportionen wie die Pyramiden von Gizeh lesbar. Auch die Tiere, die sich auf die Rückseite der Arche zu zubewegen scheinen, markieren durch ihre Proportionierung, dass die Architektur als Pyramide mit gleichschenkligen Dreiecken über quadratischem Grundriss zu verstehen ist.39 Der menschliche Betrachter erkennt in der zentralperspektivischen Darstellung den geometrischen Körper der vollkommenen Pyramide. Der scheinbare Widerspruch zwischen göttlicher Maßvorgabe und menschlicher Ausführung ist aufgehoben, da aus einem göttlichen Blickwinkel, einem ‚Visus perfectus‘ (Andreas GORMANNS) Umfassenderes und Vollständigeres sichtbar ist, und damit sogar der patristische Streit, ob Pyramiden schwimmen und wie die Geschöpfe in der Arche ihren Platz finden, gelöst ist. Ghiberti verbildlicht die Verschmelzung zweier Narrative: Die von Hermes gerettete vorsintflutliche, paradiesische Weisheit beflügelt die scholastische Hoffnung, durch Aufbietung aller Künste und Wissenschaften den ‚status corruptionis‘, in den der Mensch nach dem Sündenfall geraten war, zu verlassen und den ‚status gratiae‘ wieder zu erlangen.40 Die Arche in Gestalt vollkommener Architektur als Pyramide ist Zeichen höchster Kunstfertigkeit nach göttlicher Maßgabe. In der bildlichen Darstellung wurden die ‚Pyramidenlegenden‘ offenkundig scholastisch vereinnahmt, um die ‚Prisca Philosophia‘ als vermittelnde Instanz zwischen den widerstreitenden Positionen von Ost- und Westkirche in Anspruch nehmen zu können.

9 Paolo Uccello, Sintflutlünette im Chiostro Verde von Santa Maria Novella Der zweite Bilderzyklus mit ‚Pyramidenarchen‘ betrifft die Genesisfresken des Ghiberti-Schülers Paolo Uccello im Chiostro Verde von Santa Maria Novella. Der Chiostro Verde liegt im Westen der Kirche. Im vierten Joch nach dem Portal zum Kircheninneren befindet sich im östlichen Flügel des Kreuzgangs die aus vier

|| 39 GRAEFE (Anm. 16), S. 59, 12. Al-Maḳrīzī referiert die Beschreibungen der Dimensionen verschiedener Pyramiden. Allen gemeinsam ist, dass die Dreiecke gleichschenklich seien und sich über quadratischem Grundriss erheben. Zu den römischen Zahlen siehe Berthold HUB (Anm. 14) und BLOCH (Anm. 4), S. 86. 40 Andreas GORMANS, ‚Visus perfectus‘ – oder die Kunst, den Sündenfall vergessen zu machen, in: David GANZ u. Thomas LENTES (Hgg.), Sehen und Sakralität in der Vormoderne, Berlin 2011, S. 240–265.

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Einzelmotiven bestehende Sintflutszene. Die Lesart geht von oben links nach rechts und dann von links unten nach rechts. Die Lünette zeigt zwei aus Holz gezimmerte ‚Pyramidenarchen‘, Anfang und Ende der Sintflut können simultan gelesen werden. Allerdings ist denkbar, dass gezielt auf zwei verschiedene Pyramiden angespielt wird. Immerhin hatte Hermes „die beiden Pyramiden“ zum Schutz vor der Sintflut errichtet.41 Im unteren Teil des Freskos sind das Opfer Noahs vor der ‚Pyramidenarche‘ und die darauffolgende Trunkenheit Noahs thematisiert. Die Szene vor der ‚Pyramidenarche‘ wird durch den Regenbogen begrenzt. Die auf Noah segnend herabschwebende Gottesgestalt ist in Nimbus, Handhaltung und Kleidung anamorphotisch auf Noah bezogen und verbildlicht so die bei Augustinus (‚De Civitate Dei‘ XVI, XXV) formulierte Vorstellung von Noah als Typus Christi.

Abb. 5: Florenz, Santa Maria Novella, Chiostro Verde, Foto: Maria Giovanna Galasso MELILLO. © Su concessione del Fondo edifici di Culto, amministrato dal Ministero dell’Interno. https://sharingmyitaly.files.wordpress.com/2012/04/p1010644.jpg (30.03.2018).

|| 41 HUDSON zufolge spricht die Position der Nägel und der Proportion anderer strukturierender Elemente für zwei unterschiedliche Archen. Hugh HUDSON, Paolo Uccello: the life and work of an Italian Renaissance artist. PhD thesis, University of Melbourne 2005, S. 120.

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10 Cosimo als Methusalem oder Henoch/Hermes? Wichtigster Schlüssel zur Analyse der ‚Pyramidenarchen‘ im theologischen Kontext ist die zentrale Figur mit Cosimo-Physiognomie in der Lünette. Die interessanteste These zur Frage, welche biblische Gestalt diese Figur verkörpere, hat Anthony GRAFTON42 aufgestellt. Er vermutet einen Verweis auf Methusalem und bezieht sich auf Überlegungen des Augustinus (‚De Civitate Dei‘ XV, XI) über die Widersprüche in der hebräischen und christlichen Zeitrechnung. Nach hebräischer, cabalistischer Chronologie sei Methusalem während der Flut gestorben, nach christlicher Rechnung dagegen habe er die Sintflut um 14 Jahre überlebt. GRAFTON schließt daraus, Uccello sei hier eine geniale Lösung des exegetischen Rätsels des Augustinus gelungen, insofern als er Methusalem in einem Zwischenstadium darstelle, zwischen den Sterbenden und den Geretteten. Augustinus (‚De Civitate Dei‘ XV, XIII) korrigiert sich allerdings selbst wenig später: Die älteste hebräische Tradition werde durch drei griechische, eine lateinische und eine syrische Handschrift gestützt, denen zufolge Methusalem bereits sechs Jahre vor der Flut gestorben sei – und er glaube einer Urschrift mehr als Bearbeitungen der Übersetzer. eines steht mir unzweifelhaft fest: […] bei Abweichungen in der beiderseitigen Textüberlieferung hat man, […] dem Urtext zu glauben, aus dem die Übersetzung in eine andere Sprache durch Dolmetscher vorgenommen worden ist. Findet sich doch auch in manchen Handschriften und zwar in drei griechischen, einer lateinischen und einer syrischen, übereinstimmend die Angabe, daß Methusalam sechs Jahre vor der Sündflut gestorben sei.43

Wahrscheinlicher scheint, dass mit der biblischen Gestalt nicht Methusalem, sondern sein Vater Henoch gemeint ist. Nach scholastischer Lehre wäre eine Funktion des Methusalem im Literalsinn im Kontext der Sintflut nicht nachvollziehbar, vor allem aber fehlte der Bezug zu Cosimo de’ Medici. Dies ist bei Henoch anders, da jener mit Hermes, dem von Cosimo hochgeschätzten ‚Prisco Philosopho‘, identifiziert wird: In den ,Pyramidenlegenden‘ verkörpert Hermes in der Gleichsetzung mit Henoch44 zudem tatsächlich eine biblische Gestalt, die, wie Noah, als der von der || 42 GRAFTON (Anm. 10), S. 66. 43 Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus zweiundzwanzig Bücher über den Gottesstaat. Aus dem Lateinischen übers. von Alfred SCHRÖDER, Kempten, München 1911–16, http://www.unifr. ch/bkv/kapitel1933-12.htm (15.01.2019). 44 VON ERFFA (Anm. 4), 1.4 Sintflut, S. 432–507: „Und dieweil er ein göttliches Leben führte, nahm ihn Gott hinweg, und er ward nicht mehr gesehen“ (Gen. 5,25), siehe ebd. zu Henoch S. 418–428: „Henoch wandelte mit Jahwe und ward hinweggenommen als ein Wunder der Erkenntnis für alle Geschlechter.“ (Sir 44,16), „Der Hebräerbrief nennt Henoch als Exempel für die Möglichkeit einer Erlösung durch Glauben, und Augustinus sah in ihm den zu seiner Zeit einzigen Vertreter der Ekklesia“ (Enarratio in Ps. 128, 2).

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göttlichen Weisheit (Weish. 10,4) vor der Flut „auf wertlosem Holz“ gerettete „Gerechte“ angesehen werden kann. Der Genesis (Gen. 5,24) zufolge war Henoch der erste Mensch, der von Gott „von der Erde entrückt“ wurde.45 Er war demnach noch vor der mosaischen Gesetzgebung von Gott für würdig befunden worden, zur Erkenntnis der Trinität zu gelangen. Zudem ist Hermes für Cosimo ebenso eine Identifikationsfigur wie für Ciriaco d’Ancona.

11 Der Visionär und seine Vision In der Sintflutszene klammert sich ein Ertrinkender an die Füße der exponierten Gestalt,46 die sich nicht um das Sterben rechts und links kümmert, sondern in die Ferne blickt – als erhalte sie gerade eine Vision. Die Blickrichtung des Visionärs scheint direkt durch die Wand zu gehen – und die Trinität zu erkennen.47 Masaccios berühmtes Trinitätsfresko (1425–1428) befindet sich exakt auf der Rückwand des Sintflutfreskos Uccellos im Inneren der Kirche. Die Szenen sind offenkundig aufeinander bezogen.

12 Objekt der Vision: Die Trinität und die Frage des ‚Filioque‘ Objekt der Vision des Henoch/Hermes/Cosimo ist eine ganz bestimmte Ansicht der Dreifaltigkeit. In Masaccios Trinità im Kircheninneren wird ein wesentlicher Streitpunkt des Unionskonzils vorweggenommen, nämlich die Frage, ob der Heilige Geist gleichermaßen von Gott Vater und Gott Sohn ausgehe – ‚Filioque‘48 – oder ob es eine hierarchische Abfolge gebe.

|| 45 Bereits im 12. Jahrhundert wird in den Fresken in Saint-Savin-sur-Gartempe innerhalb des gleichen Bildabschnittes die Himmelfahrt Henochs mit Gottes Auftrag zum Bau der Arche an Noah dargestellt. (Vgl. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c7/Meister_von_Saint-Savinsur-Gartempe_001.jpg (12.08.2019). Entrückungsberichte von Hermes, Henoch wie Idrīs gibt es gleichermaßen in gnostischer, jüdischer und islamischer Tradition. Vgl. FODOR (Anm. 16), S. 342–346. 46 GEBHARDT (Anm. 10), S. 28–35. Siehe: Franco BORSI, Stefano BORSI, Paolo Uccello, London 1994, S. 178–187 und GRAFTON (Anm. 10), S. 65–85. 47 Vgl. BORSI, BORSI (Anm. 46), S. 182. 48 Joannes de TORQUEMADA O.P., ‚Apparatus super Decretum Florentinum Unionis Graecorum. Ad Fidem Manuscriptorum Editit, Introductione, Notis, Indicibus Ornavit Emmanuel Candal‘. S. I.

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Masaccios Trinità lässt die Sichtweise der hierarchischen Abfolge zu und ermöglicht einen versöhnlichen Blick auf den seit karolingischer Zeit bestehenden Disput zwischen Ost- und Westkirche, so wie es die Ostkirche glaubt und wie es in den Konzilen von Nicaea (325) und Konstantinopel (381) definiert worden war. Der Heilige Geist in Gestalt einer Taube geht von Gott Vater aus und sendet seine Strahlen auf den Gekreuzigten. Henoch/Hermes/Cosimo erhält also genau die Vision der Dreifaltigkeit aus der auf ein versöhnliches Ende des Unionskonzils geschlossen werden kann.

Abb. 6: Masaccio, Trinità, Santa Maria Novella, ca. 1425–1428, Foto: Antonio QUATTRONE, 2016. © Su concessione del Fondo edifici di Culto, amministrato dal Ministero dell’Interno. https://www.smn.it/en/artworks/masaccios-holy-trinity/ (30.03.2018). Abb. 7: Masaccio, Trinità, Santa Maria Novella, ca. 1425–1428, Foto: Francesco BINI (Sailko), John T. SPIKE, Masaccio, Rizzoli libri illustrati, Milano 2002, © Su concessione del Fondo edifici di Culto, amministrato dal Ministero dell’Interno. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d2/ Masaccio%2C_trinit%C3%A0.jpg (30.03.2018).

|| Vol. II, Fasc. I, Rom 1942, S. 22: Probatur 1 definitio (Spiritum Sanctum et a Filio procederé), […] Probatur 5 definitio (de primatu Ecclesiae Romanae).

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13 Die Vereinigungsbulle ‚Laetentur Coeli‘ Das Konzil kam der Ostkirche in der Frage, ob die Lehren beider Seiten vom Heiligen Geist rechtgläubig seien, entgegen. In der Frage nach dem Primat des Papstes ‚De Primatu Ecclesiae Romanae‘ wurde allerdings entschieden, dass der römische Bischof als erster Bischof der Christenheit anzuerkennen sei.49

14 Schluss Meine Vermutung, die Standfigur mit den Porträtzügen des Cosimo stelle Hermes Trismegistos dar, während er als ,Priscus Philosophus‘ Gotteserkenntnis im Sinne der docta religio50 erfährt, impliziert, dass Hermes als transreligiöse wie transkulturelle Gestalt in das scholastische System integriert wurde und die bekannten und neuen ‚hermetischen‘ Texte in diesem Sinne ganz gezielt neu gelesen und kontextualisiert wurden. Cosimo als vehementer Vertreter der Union ist offenbar als der visionierende Hermes Trismegistos ‚Christianus‘51 in die Szenerie der Sintflut einbezogen, so wie es in den ,Pyramidenlegenden‘ beschrieben wird: Er sieht die Sintflut noch vor Noah voraus und erbaut daraufhin die Pyramiden als Speicher für vorsintflutliches Wissen und Rückzugsort vor der Flut. Ähnlich visionär agierte Cosimo, indem er Florenz förderte, die Einheit der Kirche durch die Finanzierung des Konzils52 rettete und nicht zuletzt, indem er die ‚Weisheit der Alten‘ systematisch suchen und zum Nutzen aller bewahren ließ. Die florentinischen ‚Pyramidenarchen‘ sind Indizien dafür, dass die ,Pyramidenlegenden‘ vereinnahmt wurden, um Glaubenssätze, die es im Unionskonzil durchzusetzen galt, als bereits vorsintflutliche, paradiesische Weisheit darstellen zu können und an dieser Stelle sogar der Ostkirche entgegenzukommen. || 49 Siehe hierzu die Bulle ‚Papa Eugenio IV, Laetentur Caeli, 6 luglio 1439‘, Bolla sull’Unione con i Greci, Concilio di Firenze, in: Conciliorum Oecumenicorum Decreta, edizione bilingue, hrsg. v. G. ALBERIGO u. a., Bologna 2013, S. 523–528. Georgius HOFMANN, Acta Camerae Apostolicae et civitatum venetarum, Ferrariae, Florentiae, Ianuae de Concilio Florentino, Vol. III, Fasc. I., Rom 1950, S. 18. 1453 wurden die Konzilsbeschlüsse nach dem Fall Konstantinopels bereits ausgesetzt. 50 Quamobrem tota Priscorum Philosophia nihil est aliud, quam docta religio. Marsilio Ficino, Marsilio Opera Omnia, 4 Bd., Turin 1959 (Nachdruck der Ausgabe Basel 1576), S. 854. Zit. nach: Manuela KAHLE, Zum Beispiel Sokrates. Diss. München 2012, S. 179. 51 Siehe hierzu LÖW (Anm. 28) sowie MORESCHINI (Anm. 28), Marsilio Ficino e il Ritorno di Ermete Trismegisto, Florenz, Amsterdam 2000, S. 31. VASOLI (Anm. 26), S. 17–61, Maria MUCILLO, Der ‚scholastische‘ Hermetismus des Annibale Rosselli und die Trinitätslehre, in: MULSOW (Anm. 27), S. 61–105. 52 LEUKER (Anm. 10), S. 63.

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Die Lesart ist folgende: Nachdem Hermes Trismegistos/Henoch die vorsintflutliche Weisheit und vor allem die Kenntnis des einen Gottes in der Trinität aus dem Paradies gerettet hat, ist er endgültig als ‚Hermes Christianus‘ ausgewiesen. Cosimo, der PRIMUS PATER PATRIAE 53 verschmilzt mit jenem Hermes, der als ‚Priscus Philosophus‘ nicht nur die Sintflut voraussah, sondern implizit auch die relevanten Themen des Florentiner Unionskonzils und die Fragen zur Dreifaltigkeit inklusive des ‚Filioque‘-Disputes.54 Dies wäre die erste subtile Identifizierung einer Person mit Hermes Trismegistos. Cosimo wird panegyrisch zu ‚Cosimo Trismegisto‘, so wie er vorher bereits durch Ciriaco d’ Ancona mit dem heiligen Arzt Cosmas identifiziert worden war.55 Der die Dreifaltigkeit visionierende Hermes (Cosimo) Trismegistos vor der ‚Pyramidenarche‘ mit ihrem einzigen Führer Noah56 bekräftigt die Ziele der erfolgreichen Union im Sinne der Bulle ‚Laetentur Coeli‘: Aufhebung des Schismas unter römischem Primat mit Hilfe der Weisheit der Alten, die dies prophetisch vorher sahen. In ähnlicher Weise wird Hermes Trismegistos wenig später 1488 als Übermittler seiner ägyptischen ‚Prisca Theologia‘, die natürlich christlich lesbar ist, im Fußbodenmosaik des Domes von Siena im Kreise der Sibyllen dargestellt. Bekanntlich wurden die in Byzanz erworbenen hermetischen Schriften – im 15. Jahrhundert unter dem Namen ‚Pimander‘ bekannt – niemals auf den Index der verbotenen Bücher gestellt. Aus gutem Grund: Papst Leo X. (1475–1521) war selbst ein Medici – seine Indizierung galt Luther, nicht etwa dem Medici-Heros Hermes Trismegistos.

15 Von Cosimo Trismegistos zu Sixtus Trismegistos Etwa 100 Jahre später ist es nicht mehr befremdlich, dass sich sogar ein Papst ‚Trismegistos‘ nennen lässt. Sixtus V. wird 1590 in der Widmungsschrift Domenico

|| 53 Tobias LEUKER, Die beiden Medaillen für Cosimo Pater Patriae: Ikonographie, Urheberschaft, Datierung, in: DERS. (Anm. 11), S. 113 f. Vgl. GEBHARDT (Anm. 10), S. 34. 54 Im 16. Jh. wird die Filioque-Frage direkt mit Hermes Trismegistos in Verbindung gebracht: Hannibal Rosselli, Pymander Mercurii Trismegisti. Liber secundus de Spiritus Sanctus et Angelis, Krakau 1585, S. 24 zum Filioque: spiritus sanctus a patre & filio procedat. Vgl. MUCILLO (Anm. 52), S. 61–105. 55 In einem undatierten Brief an Eugen IV. schreibt Ciriaco: Cosmas silicet Mediceus. Abgedruckt in: Mehus (Anm. 15), S. 13. Ciriaco di Ancona hat zudem 1436 den Bezug zwischen Florenz und den Pyramiden von Gizeh expressis verbis formuliert, als er Niccolo Niccoli die Hieroglyphenabschriften der Cheopspyramide zukommen ließ. Er hielt sie für phönizische Buchstaben, die er zwar nicht lesen könne, die aber der etruskischen Schrift der ‚florentissimae Tuscorum urbis‘ (Florenz) glichen, Mehus (Anm. 15), Itinerarium, S. 52. 56 Vgl. Bonifaz VIII. ‚Unam sanctam‘, 18.11.1302 (Anm. 34).

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Fontanas zu seinem Werk ‚Della Trasportazione dell’ Obelisco Vaticano‘ in griechischen Buchstaben expressis verbis direkt unterhalb der Darstellung der päpstlichen Tiara als ‚Trismegistos‘ – ‚Τρισμέγιστος‘ tituliert – in direkter Anlehnung an den ägyptischen Weisen, dessen Weisheiten in den Hieroglyphen auf den Obelisken vermutet wurden.

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Abb. 8: Domenico Fontana, Della trasportazione del’obelisco vaticano et delle fabriche di nostro signore papa Sisto V., Rom 1590, S. 166, https://archive.org/details/gri_33125008662708/page/ n166 (Ghetty Research Institute, gemeinfrei, 07.03.2019).

Hanns Peter Neuheuser

Mimesis und Aktualität Die Generierung eines nachahmungsgerechten Archetyps für die Vollzüge der mittelalterlichen Liturgie Abstract: The present investigation focuses the conflict between the ideal to reproduce the reported acts of Jesus on the one side, and the conditions of symbolic forms of liturgical rituals on the other. The paper shows that already the intention to find and present the archetype is a measure of theological construction, imposed by necessity of actualisation in the concrete worship. Keywords: archetype, imitation, liturgy, symbol, semiotics

1 Vom existentiellen Nachfolgeideal zur zeichenhaften Nachahmungspraxis Der Personenkreis, der ausweislich der Apostelgeschichte schon in biblischer Zeit als „Christen“ bezeichnet wurde (Apg 11,26; vgl. auch 1 Kor 1,11–52), trug diesen Namen aufgrund der seinem Religionsstifter gewidmeten Memorialfunktion – aber wohl nicht, weil die Gläubigen diesem Historischen Jesus lediglich passiv ‚in Gedanken nachhingen‘, sondern vor allem, weil sie als geradezu politisch-religiöse Parteigänger mit nachahmenden Handlungsweisen in Erscheinung traten.1 Christi Namen zu tragen, kam einem Bekenntnis gleich (1 Ptr 4,16) und zudem der Erfüllung eines Auftrages, der mit dem Begriff von der „Nachfolge“ (Mt 4,19 u. ö.) verbunden war. Die Aufforderung zur Nachfolge erlaubte nun eine Vielzahl an Repliken und Rekursen auf den Historischen Jesus, der ein Beispiel (exemplum) hinterließ, um seinen Spuren folgen zu können (1 Ptr 2,21). Auf die Frage des wohlhabenden Mannes „Was muss ich tun (quid faciam), um das Ewige Leben zu gewinnen?“ verweist Jesus auf die Gebote, fordert ihn auf, den irdischen Reichtum zu verkaufen und sagt: „dann komm und folge mir nach (sequere me)“

|| 1 Vgl. Elias J. BICKERMAN, The name of Christians, in: DERS. (Hg.), Studies in Jewish and Christian History, Bd. 2, Leiden 2007, S. 794–808, Zitat S. 807: „they were agents, representatives of the messiah“. Vgl. auch Erik PETERSON, Christianus, in: DERS. (Hg.), Frühkirche, Judentum und Gnosis. Studien und Untersuchungen, Rom u. a. 1959, S. 64–87. || Hanns Peter Neuheuser, Eichendorff-Straße 1, D-50823 Köln, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-030

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(Mk 10,17–21). Dieser „asketisch-radikalisierte“ Imperativ2 zu einer ‚existenziellen Nachfolge‘ unter Verwendung der sprachlichen Umschreibung mit dem Wortfeld sequere ist oft anzutreffen (vgl. Mt 8,22; 16,24b; Joh 12,26a; 21,22; vgl. auch Mt 10,38; Lk 9,61), und zwar in der Regel mit der Aufforderung, einen geänderten ganzheitlich-moralischen Habitus einzunehmen,3 der in seiner Rigorosität gerade über eine äußerliche oder nur abstrakt-zeichenhafte Einzelhandlung hinausgehen sollte. Die anderen Formen der Annäherung an das Erbe Jesu sind in den antiken und mittelalterlichen Quellen mit einer Vielzahl von lateinischen Begriffen beschrieben worden: allegatio, frequentatio, imitatio, iteratio, memoria, modulatio, recursus, reductio, renovatio, repetitio oder sequentia, woraus bereits die breite Auffassung der theologischen Memorialhandlungen sichtbar wird. Hinzutritt das griechische Begriffsfeld der mimesis, das vor allem die im Folgenden besonders interessierende Verbindung zur Beschreibung der Mimik, der Körpersprache, der dynamischen Interaktion und Performativität der Vollzüge in den rituellen Zeichenhandlungen leistet.4 Die vorliegende Darstellung soll demgemäß zeigen, wie die Handlungen Jesu als Bedeutung tragend ausgewählt und zu einem nachahmungsgerechten (mimetischen) Instrumentarium ausgebaut wurden (2.1–2.2), so dass solche Archetypen in der mittelalterlichen Liturgie rezipiert werden konnten (2.3). Zuletzt wäre nach dem Stellenwert der Aktualität als leitender Vorstellung dieses Prozesses zu fragen (3).

2

Entfaltung des mimetischen Instrumentariums

2.1 Die Grundlegung der biblischen Archetypik für den christlichen Gottesdienst Durch die ständig wiederholte Lektüre der Heiligen Schrift, die unfraglich im Rang des metahistorischen Wortes Gottes stand, war die Heilsgeschichte und die Jesuserzählung der antiken und mittelalterlichen Theologie kognitiv und in feiernder Form als Grundlage einer literarischen Mimesis bekannt, zumal – wie Rupert von Deutz hinzufügt – auch die Apostel ihre Briefe kanonisierten und in der gottesdienstlichen || 2 Vgl. Karl Martin FISCHER, Asketische Radikalisierung der Nachfolge Jesu, in: Theologische Versuche 4 (1972), S. 11–25. 3 Vgl. Friedrich W. HORN, Mimetische Ethik im Neuen Testament, in: Ulrich VOLP u. a. (Hgg.), Metapher, Narratio, Mimesis, Doxologie. Begründungsformen frühchristlicher und antiker Ethik, Tübingen 2016, S. 195–204. 4 Vgl. hierzu immer noch die grundlegende Arbeit von Jean-Claude SCHMITT, La raison des gestes dans l’occident médiéval, Paris 1990, deutsch: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992. – Vgl. zur rhetorischen und mimetischen Körpersprache aus aktuell philologischem Blickwinkel Cornelia MÜLLER, Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich, Berlin 1998.

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Praxis als Lesungen (epistulae appellatae) dem Evangelienvortrag vorausschickten.5 Dies bezog sich ebenso – wie unten zu zeigen sein wird – auf die Aufträge Jesu zum unmittelbaren Gedächtnishandeln. Schon den ersten Christen muss der rituelle Vortrag aus der Heiligen Schrift über die bloße Kulturtechnik des Zitierens hinaus als eine Art der ‚nachlebenden‘ Erinnerung erschienen sein. An spolienhaften Texten besaßen sie die sog. Herrenworte, darunter vor allem das „Vaterunser“, dessen Text die Apostel von Jesus unter dem Imperativ erhalten hatten: „Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt“ [und so weiter] (Mt 6,9–13; Lk 11,2). Die liturgische Einleitungsformel zum „Vaterunser“-Gebet erinnert daher ausdrücklich an die Vorbildhaftigkeit des Textes und den Gebetsauftrag:6 Praeceptis salutaribus moniti et divina institutione formati audemus dicere. Das „Vaterunser“ wurde in der Folge ein zentraler Bestandteil des christlichen Gottesdienstes7 und der Reflexion bedeutender antiker und mittelalterlicher Theologen.8 Zum eigenen Umgang mit sakralen Texten erfahren wir von Jesu aktiver Teilnahme am Gottesdienst in der Synagoge von Nazaret, vom Aufstehen, von der Entgegennahme und dem Öffnen des Buches, vom Vortrag aus der Schrift, vom rituellen Schließen des Buches, vom Niedersetzen und Auslegen des Wortes (Lk 4,16–27; vgl. Mt 13,54; Mk 6,1–2).9 Jesus unterwirft sich hier dem traditionellen Synagogenritual und lässt keine individuellen Gesten erkennen; unklar bleibt lediglich, warum die Tora-Lesung keine Erwähnung findet. Gleichwohl galt die ‚Ritualität‘ dieses jüdischen Gottesdienstes als vorbildhaft für die mittelalterliche Wortliturgie des

|| 5 Rupert von Deutz, De divinis officiis 1,32, hrsg. v. Rhabanus HAACKE (CCCM 7), Turnhout 1967, S. 26, Zeile 742. 6 Vgl. Bonifatius FISCHER, Praeceptis salutaribus moniti, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 1 (1950), S. 124–127. – Zum Verhältnis biblisch bezeugter Herrenworte und liturgischen Texten vgl. Hanns Peter NEUHEUSER, Gotteswort und Menschensprache. Zur rituellen Präsentation des Bibeltextes in der dichotomen Wortliturgie, in: Thomas HONNEGGER u. a. (Hgg.), Gottes Werk und Adams Beitrag. Formen der Interaktion zwischen Mensch und Gott im Mittelalter, Berlin 2014, S. 256–273. 7 Neben dem Gebrauch in der Messfeier vgl. auch den bereits im ‚Sacramentarium Gelasianum‘ [GeV] geschilderten Einsatz des Paternoster in der Taufliturgie, vgl. GeV 320–327, hrsg. v. Leo Cunibert MOHLBERG, Liber sacramentorum, Rom 1960, S. 52–53. – Vgl. auch Anna Kai-Yung CHAN, Il padre nostro nei principali commenti patristici e il suo uso nella liturgia latina, Rom 1993, S. 261–292. 8 Vgl. die neue Edition von Hugo von St. Viktor, De oratione dominica, bearb. von Francesco SIRI, (CCCM 276), Turnhout 2017. – Anstelle eines weiteren Quellenreferats vgl. die Überblicke von CHAN (Anm. 7), sowie die Sammelbände von Francesco SIRI (Hg.), Le Pater noster au XIIe siècle. Lectures et usages, Turnhout 2005, und Florian WILK (Hg.), Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten, Göttingen 2016. 9 Zu Lk 4,16–27 vgl. Hermann L. STRACK u. Paul BILLERBECK, Exkurse zu einzelnen Stellen des Neuen Testaments, Bd. 1, München 1969, Exkurs 8, S. 153–188, zum Haftara-Vortrag S. 165–171, zur Schriftauslegung S. 171–188.

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Christentums10 und für die Handhabung der buchgewordenen Schrift als kulturhistorisch relevantes Artefakt innerhalb einer umfassend wirkenden Sakralkonzeption.11 Der nach jüdischem Beispiel kanonisierte und perikopisierte Text der Heiligen Schrift12 regte durch „seasoning the bible and biblifying time“13 an, die Heilsgeschichte als Ganzes und insbesondere die narratio von Jesu Erdenleben darzustellen und konkret im Jahresverlauf nacherleben zu lassen.14 So entstand der Zyklus des liturgischen Kalenders, der auf gedrängte Weise den Ablauf der Geschichte von Jesu Geburt bis zur Geistsendung nachvollziehbar machte und welcher zu einer chronologischen Festfolge von Weihnachten bis Pfingsten ausgekleidet wurde, und zwar in teils äußerst anschaulicher Weise. Die kalendarische Darstellung von Jesu Leben, Wirken, Tod und Auferstehung in der Karwoche und an Ostern15 ahmt mit dem liturgischen Triduum den im biblischen Text genannten Zeitraum dramatisierend und überdies synchronisierend nach,16 wobei in unserem Zusammenhang die

|| 10 Ordo Romanus 1, Nr. 20–65, hrsg. v. Michel ANDRIEU, Les ordines romani du haut moyen âge, Bd. 2, Löwen 1948, S. 73–90. – Vgl. auch Nikolaus GUSSONE, Der Codex auf dem Thron. Zur Ehrung des Evangelienbuches in Liturgie und Zeremoniell, in: Hanns Peter NEUHEUSER (Hg.), Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, St. Ottilien 1995, S. 191–231. 11 Aus der Fülle der Literatur vgl. zuletzt Larry W. HURTADO, The earliest christian artifacts. Manuscripts and christian origins, Cambridge 2006, vgl. etwa Kapitel 2: The early christian preference for the codex (S. 43–93). – Karel VAN DER TOORN, Scribal culture and the making of the hebrew Bible, Cambridge, London 2007. – Zum umfassenderen Kontext vgl. Hanns Peter NEUHEUSER, Die kulturhistorische Grundlegung der christlichen Sakralkonzeption in der Jüdischen Bibel, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 124 (2013), S. 185–211. 12 Vgl. exemplarisch Jean-Daniel KAESTLI u. a. (Hgg.), Le canon de l’Ancien Testament. Sa formation et son histoire, Genf 1984. – Peter BRANDT, Endgestalt des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel, Berlin 2001, S. 125–217. 13 Vgl. Daniel STÖKL BEN EZRA, Seasoning the Bible and biblifying time through fixed liturgical reading systems, in: Jonathan BEN-DOV u. a. (Hgg.), The construction of time in antiquity. Ritual, art and identity, New York 2017, S. 227–247. 14 Zur Theologie des liturgischen Jahreszyklus ist weiterhin von Bedeutung das Werk von Joseph PASCHER, Das liturgische Jahr, München 1963. – Vgl. auch Matias AUGÉ, Teologia dell’anno liturgico, in: L’anno liturgico. Storia, teologia e celebrazione, Genua 1988, S. 11–34. – Karel DEDDENS, Annus liturgicus. Een onderzoek naar de ontwikkeling van het kerkelijk jaar, Goes 1975. 15 Den besten Überblick über die Theologiegeschichte und die liturgische Gestaltung der Heiligen Woche bietet immer noch das magistrale Werk von Herman A. P. SCHMIDT, Hebdomada sancta, 2 Bände, Rom 1957, hier Bd. 2: Fontes historici, commentarius historicus. 16 Vgl. Balthasar FISCHER, Von einem Pascha-Triduum zum Doppeltriduum der heutigen Rubriken, in: DERS. (Hg.), Paschatis Sollemnia, Freiburg 1959, S. 146–156. – Vgl. auch Annie JAUBERT, La date de la cène. Calendrier biblique et liturgie chrétienne, Paris 1957, mit der Tabelle im Anhang. – Josef A. JUNGMANN, Die Vorverlegung der Ostervigil seit dem christlichen Altertum, in: Liturgisches Jahrbuch 1 (1951), S. 48–54. – Willi FLEMMING, Die Gestaltung der liturgischen Osterfeier in Deutschland, Wiesbaden 1971. – Als Fallbeispiel sei erwähnt Urban AFFENTRANGER, Dramatische Elemente in

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theatralischen Passions- und Osterspiele ausdrücklich ausgeklammert seien.17 Die liturgische Feier des Palmsonntags (dominica in palmis) erinnert schon nach dem Bericht der spätantiken Pilgerin Egeria an den triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21,1–11; Mk 11,1–11; Lk 19,28–38; Joh 12,12–19):18 Nach dem Vortrag der Erzählung vom Empfang Jesu mit den Palmwedeln (cum ramis et palmis) zieht die Gemeinde mit dem Bischof zur Kirche, „wie der Herr damals begleitet worden ist (quo tunc Dominus deductus est)“.19 Das Mittelalter nimmt diesen Archetyp durch die Verwendung der Palmzweige, das Schmücken der Straßen, die Prozession, den Gesang des „Hosianna“ etc. in die liturgischen Formen auf, in vielen Fällen durch den Gebrauch einer hölzernen Jesusfigur auf dem sog. Palmesel.20 Für naturgemäß nicht körperlich nachvollziehbare Ereignisse wie die Grablegung oder die Himmelfahrt Christi schafft die liturgische Praxis Surrogate, wie die Depositio crucis in einem sog. Sepulkrum21 oder die zur Kirchendecke hinaufgezogenen ChristusSkulpturen.22 Sogar die Grabesruhe Jesu nach seinem Kreuzestod ahmt die Kirche e silentio mit einem dem Karfreitag folgenden ‚liturgiefreien‘ Tag nach.23 Wir sehen, wie Jesus bestrebt war durch sein Beispiel zu wirken, jedoch sind zudem weitere in die Zukunft weisenden Anordnungen zu seelsorglichen und liturgischen Handlungen zu beachten, etwa jene Befehle, welche die christliche Gemeinde ausdrücklich zum komplexen Handeln aufforderten. Hierzu gehören die in Form von Imperativen gekleideten Gebote Jesu zur Feier der Eucharistie („Tut dies zu meinem Gedächtnis“ als später Zusatz in Lk 22,19, übernommen aus 1 Kor 11,24 und 25), zur Vornahme von Taufhandlungen sowie zur Wortverkündi-

|| der Karwochenliturgie an der Bischofskirche in Chur, in: Bündner Monatsblatt 5–6 (1979), S. 137–156. 17 Anstelle der kaum mehr zu überblickenden Sekundärliteratur zu diesem Thema sei lediglich einführend hingewiesen auf das zweibändige Werk von Bernd NEUMANN, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, München u. a. 1987, mit ausführlichen Text-, Quellen- und Literaturnachweisen. 18 Vgl. Brent KINMAN, Jesus’ entry into Jerusalem in the context of Lukan theology and the politics of his day, Leiden 1995, mit Angabe älterer Literatur. 19 Egeria, Itinerarium 31,3, hrsg. v. Ezio FRANCESCHINI u. Robert WEBER (CCSL 175), Turnhout 1965, S. 77. – Vgl. Rupert von Deutz, De divinis officiis 5,7 (Anm. 5), S. 156. 20 Vgl. Hermann Josef GRÄF, Palmenweihe und Palmenprozession in der lateinischen Liturgie, Kaldenkirchen 1959, zum Palmesel S. 128–130. – Reinhard MEßNER, Die mittelalterliche Palmprozession als Weg des Gedenkens, in: Andreas SOHN (Hg.), Wege der Erinnerung im und an das Mittelalter, Bochum 2011, S. 21–44. – Zum Palmesel vgl. die Fallstudie von Andreas HEINZ, Palmprozession und Palmesel in Trier, in: Kurtrierisches Jahrbuch 46 (2006), 159–166. 21 Vgl. Solange CORBIN, La déposition liturgique du Christ au vendredi saint. Sa place dans l’histoire des rites et du théâtre religieux, Paris 1960. 22 Vgl. Hans Ruedi WEBER, Die Umsetzung der Himmelfahrt Christi in die zeichenhafte Liturgie, Bern u. a. 1987, mit Quellentexten. 23 Einen ersten Überblick vermitteln die geschichtlichen Ausführungen bei Gerhard RÖMER, Die Liturgie des Karfreitags, in: Zeitschrift für katholische Theologie 77 (1955), S. 39–83.

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gung („Taufet“, „Lehret“, „Machet die Menschen zu Jüngern“ gemäß Mt 28,19–20, vgl. den jüngeren Mk-Schluss 16,15), ferner die Vollmachten zum Lösen und Binden von Sünden (Joh 20,23; vgl. Lk 24,47): Diese Gebote waren – anders als die Schlüssel- und Hirtenvollmacht (Mt 16,19; Joh 21,15–19) – nicht an eine Einzelperson, sondern an eine Gemeinschaft gerichtet,24 die sich spätestens beim Empfang der Auferstehungsbotschaft konstituiert hatte, nämlich „die Frauen“ und „die Elf“ (Lk 24,9–10; vgl. Mt 28,8).25 In der Wortwahl von Anton VÖGTLE handelt es sich um „ekklesiologische Auftragsworte des Auferstandenen“26 an die Protagonisten der in der Folgezeit wachsenden Gemeinde, wobei deren rituelle Ausgestaltung jedoch offenblieb: War der eucharistische Befehl Hoc facite durch das voraufgegangene Handeln Jesu noch im Bereich des operativ Vorstellbaren, so fehlte es den anderen Imperativen an der archetypischen Vorgabe für eine konkrete Ritualform; sogar die Wassertaufe des Johannes, die der Historische Jesus selbst empfangen hatte, war bereits in apostolischer Zeit in den Bereich des Vorläufigen und Metaphorischen verschoben worden (Mt 3,11; Mk 1,8; Lk 3,16; Joh 1,26.31.33, vgl. auch 3,5; Apg 1,5; 11,16). Jesus selbst nahm keine Vorbild stiftenden Taufhandlungen vor (vgl. Joh 4,2), jedoch, so fragte Rupert von Deutz: „Wie aber tauften seine Jünger?“:27 nämlich wohl in Form der Immersionstaufe.28 Die Problematik des Imperativs und der Konzeption einer nachahmenden Zeichenhandlung sei an einem zentralen Beispiel erläutert. Ein in unserem Zusammenhang suggestives Merkmal einer gottesdienstlichen Memorialkultur erblickt die theologische Forschung traditionell in der Botschaft vom Abschiedsmahl Jesu:29 Diese Erzählung und insbesondere der Text des ‚Einsetzungsberichtes‘ resp. die ‚Abendmahlsworte‘ sind sowohl von bibelwissenschaftlicher, philologischer als

|| 24 Die ältere Forschung zu dieser Vollmacht fasst zusammen Béda RIGAUX, Lier et délier. Les ministères de réconciliation dans l’église des temps apostoliques, in: La Maison-Dieu 117 (1974), S. 86–135. – Die exegetische Deutung liefert Anton VÖGTLE, Das Problem der Herkunft von Mt 16,17– 19, in: DERS. (Hg.), Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte, Freiburg 1985, S. 109–140. – Zur Ableitung der Bußliturgie aus dieser Vollmacht vgl. Raymund KOTTJE, Bußpraxis und Bußritus, in: Segni e riti nella chiesa altomedievale occidentale, Bd. 1, Spoleto 1987, S. 369–395. – Martin OHST, Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im hohen und späten Mittelalter, Tübingen 1995. 25 Vgl. Gerhard LOHFINK, Der Ablauf der Osterereignisse und die Anfänge der Urgemeinde, in: Studien zum Neuen Testament, Stuttgart 1989, S. 149–167. 26 So Anton VÖGTLE, Ekklesiologische Auftragsworte des Auferstandenen, in: DERS. (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien. Beiträge zur Evangelienforschung, Düsseldorf 1971, S. 243–252. 27 Rupert von Deutz, De divinis officiis 6,35 (Anm. 5), 220, Zeile 1300. 28 Vgl. hierzu zuletzt Jürgen BÄRSCH, Der Wasserritus der Taufe im Spiegel der mittelalterlichen Liturgiepraxis und -kommentare, in: Gerlinde HUBER-REBENICH u. a. (Hgg.), Wasser in der mittelalterlichen Kultur, Berlin 2017, 354–366, speziell S. 359–361. 29 Vgl. die klassische Arbeit von Joachim JEREMIAS, Die Abendmahlsworte Jesu, 1. Aufl. Göttingen 1935.

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auch liturgiehistorischer Seite von alters her stark reflektiert worden; die Problematik ist erst 2017 in einem Sammelband von über 2000 Druckseiten entfaltet worden.30 Die Fragestellung weckt unsere Aufmerksamkeit, weil das Abschiedsmahl Jesu seit biblischen Zeiten (Paulus, Lukas-Ergänzung „Tut dies…“) als Archetyp für nachfolgende Nachahmungsakte galt, jedoch wohl selbst mimetischen Charakter aufwies, so dass zu Recht die Möglichkeit der Transferierung eines Memorialgehaltes in Betracht gezogen werden muss. Das berichtete Geschehen von Jesu Abschiedsmahl stand nämlich zweifellos in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem jüdischen Pesachfest der Ungesäuerten Brote (Mt 26,2.17–19; Mk 14,1.12.14.16; Lk 22,1.7–8.11.15; vgl. Joh 13,1–2), dessen Gehalt in der Erinnerung an den heilsgeschichtlich denkwürdigen Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und insbesondere an den zuvor in Eile erfolgten Verzehr des Pesachlammes bestand (vgl. Ex 12,1–13,16).31 Aufschlussreich erscheint nun, dass das Vierte Evangelium, das im Gegensatz zu den Texten der Synoptiker nur die Andeutung eines Abschiedsmahles kennt, den Augenblick des Todes Jesu am Kreuz mit dem Zeitpunkt harmonisiert hat, da die jüdischen Pesachlämmer geschlachtet wurden.32 Zwar betonen auch die Synoptiker den Kontext der jüdischen Mahlüberlieferung, nehmen aber keinen direkten Bezug auf den jüdischen Erinnerungstopos. Die ältere theologische Forschung ist zum Teil noch lange davon ausgegangen, dass das Abschiedsmahl Jesu mit einem Pesachmahl identisch war33 und hat versucht, die Einzelelemente der synoptischen Berichte mit den Darlegungen der rabbinischen Quellen (Pesachim 10) zu harmonisieren, etwa den Kelch aus Lk 22,17 mit dem ersten Kelch des Sederritus, den Kelch aus Mt 26,27 und Mk 14,23 mit dem dritten Sederkelch oder die Danksagung der Synoptikertexte mit dem zweiten Teil des Hallel-Gebetes.34 Die Interpretation der Mischna ist jedoch schon früh zu einem negativen Ergebnis gekommen, man denke nur an den 1912 verfassten Kommentar von Georg BEER.35 Die neuere Forschung hat bestätigt, dass für die Antike, geschweige denn für die Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels, der für das Schlachten der bei den Synoptikern vermissten Pesachlämmer erforderlich war, keine sicheren || 30 Vgl. David HELLHOLM u. a. (Hgg.), The Eucharist. Its origins and contexts, 3 Bände, Tübingen 2017. Anstelle der kaum noch zu überschauenden Spezialliteratur vgl. die Einführung bei François BOVON, Das Evangelium nach Lukas, Bd. 4, Düsseldorf 2009, S. 219–252, mit umfangreicher Bibliographie. 31 An die Komplexität memorialer Konnotationen beim Pesachfest erinnert Georg BRAULIK, Leidensgedächtnisfeier und Freudenfest, in: DERS. (Hg.), Studien zur Theologie des Deuteronomiums, Stuttgart 1988, S. 95–121. 32 Zu dieser diffizilen Thematik vgl. zuletzt Roland BERGMEIER, Beobachtungen zum johanneischen Passa, in: Münchener Theologische Zeitschrift 69 (2018), S. 28–41. 33 Vgl. STRACK u. BILLERBECK (Anm. 9), Bd. 1, Exkurs 4, S. 41–76, insb. 56–60. 34 Vgl. Ebd., S. 75–76. 35 Vgl. Georg BEER, Pesachim. Text, Übersetzung und Erklärung (Die Mischna 2,3), Gießen 1912, insb. S. 92–109.

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Nachrichten über den Verlauf des Hausritus am Sederabend vorliegen.36 Die früheste und wirkmächtigste Evangelienredaktion unserer Perikope erfolgte vielmehr durch die paulinische Theologie:37 Diese – erklärte Christus selbst als Pesachlamm und füllte damit die Lücke in den synoptischen Texten (vgl. 1 Kor 5,7: etenim pascha nostrum immolatus est Christus), – präsentierte eine eigene Abschiedsmahlerzählung als Antwort auf defizitäre Vollzüge des iterierten „Herrenmahls“ (1 Kor 11,23–34), – lieferte sogar den ebenfalls bei den Synoptikern vermissten Memorialgehalt der Erlösung (aus Ex) als substantiellen Kontext des jüdischen Pesachfestes nach (1 Kor 10),38 ohne das frühchristliche „Herrenmahl“ ausdrücklich mit der Feier von Pesach (oder Ostern) zu verbinden, obwohl das Fest der Ungesäuerten Brote auch nach Tod und Auferstehung Jesu weiter begangen wurde (vgl. Apg 12,3; 20,6), – fügte den Gedächtnisbefehl (1 Kor 11, 24 und 25) in das Lukasevangelium ein. Diese nachösterliche Sichtweise hat also seit biblischen Zeiten unsere Auffassung vom Abschiedsmahl Jesu und dessen ‚Nachahmbarkeit‘ bestimmt. In der Retrospektive verfügte die Eucharistiefeier (der mittelalterlichen Liturgik) in den Worten Joseph PASCHERS über „die eigenartige dramatische Form, in der das geschichtliche Abendmahl im christlichen Kult zur Darstellung kommt“; diese „sollte auf den geschichtlichen Vorgang hinweisen, in der die Feier fortlebte“,39 und

|| 36 Vgl. etwa ferner die instruktive Studie von Günter STEMBERGER, Pesachhaggada und Abendmahlsberichte des Neuen Testaments, in: Kairos 29 (1987), S. 147–158, vgl. zudem Baruch M. BOKSER, The origins of the Seder. The Passover Rite and early rabbinic judaism, Berkeley 1984, Joseph TABORY, The Passover ritual throughout the generations, Tel Aviv 1996, sowie die monumentale Arbeit von Clemens LEONHARD, The jewish Pesach and the origins of the christian Easter. Open questions in current research, Berlin 2006. Vgl. die neuere Zusammenfassung bei Clemens LEONHARD, Pesach and Eucharist, in: HELLHOLM (Anm. 30), Bd. 1, S. 275–312. – Vgl. überdies die Studie von Israel Jacob YUVAL, Pessach und Ostern. Dialog und Polemik in Spätantike und Mittelalter, Trier 1999. 37 Vgl. zum Kontext auch Peter WICK, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit, Stuttgart 2002, insb. S. 168–243. 38 Vgl. Peter VON DER OSTEN-SACKEN, Geschrieben zu unserer Ermahnung. Die Tora in 1 Kor 10,1–13, in: DERS. (Hg.), Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus, München 1989, S. 60–86. – Clemens THOMA, Memoria der Rettung, Feier des Glaubens im Judentum, in: Angelus A. HÄUßLING (Hg.), Vom Sinn der Liturgie. Gedächtnis unserer Erlösung und Lobpreis Gottes, Düsseldorf 1991, S. 45–61. – Lawrence A. HOFFMAN, A symbol of salvation in the Passover seder, in: Paul F. BRADSHAW u. a. (Hgg.), Passover and Easter. The symbolic structuring of sacred seasons, Notre Dame 1999, S. 109–131. 39 Joseph PASCHER, Die christliche Eucharistiefeier als dramatische Darstellung des geschichtlichen Abendmahles, München 1958, Zitate S. 4 und 11.

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den Memorialcharakter vom Bericht in Ex auf das Tun Christi übertragen. Im Hinblick auf die Zeichenhandlung Jesu differenziert die moderne Forschung hier stärker, ja hält sogar eine Umkehr der mimetischen Richtung für möglich, so dass etwa Frühformen späterer Sederrituale Jesu Abschiedsmahlserzählung zitiert haben könnten.40 Die christliche Liturgiehermeneutik des Hochmittelalters kann vielleicht bereits von der jüdischen Textentwicklung der rabbinischen Quellen, insbesondere der Pesach-Haggada, profitiert haben.41

2.2 Die Reduzierung archetypischer Handlung auf Einzelgebärden Neben solchen komplexen Archetypen aus dem Leben und Wirken Jesu war für die Liturgiehermeneutik natürlich auch der Kanon einzelner Gesten und Gebärden von Bedeutung. Gemeint sind spirituelle Ausdruckshandlungen Jesu, die seine Predigten und Lehren im Wortsinne ‚paradigmatisch‘ unterstützen sollten und die in der Sicht der mittelalterlichen Theologie als protoliturgische Zeichenhandlungen (pronuntiatio) aufgefasst und zur rituellen Nachahmung vorgesehen worden sind. So beziehen sich Schriftzeugnisse auf religiöse Gebärden Jesu beim persönlichen Gebet, etwa auf das Erheben der Augen (Mk 6,41; 7,34; Joh 11,41; 17,1) oder das Zu-Boden-Werfen beim Ölberggebet (Lk 22,41.45; Mt 26,39; Mk 14,35). Das Erheben der Hände Jesu zum Segen (vgl. Lk 24,50) mag überdies eine Vorlage für den archaischen Gebetstypus der sog. Orantenhaltung42 gebildet haben. Diese Mimik und Gebärden wurden zu Standardhaltungen des christlichen Gebets in Antike und Mittelalter.43 Sodann sei noch auf den Ritus der Fußwaschung am Donnerstag der

|| 40 Vgl. STEMBERGER (Anm. 36), S. 157. – Apodiktisch YUVAL (Anm. 36), S. 22. – Israel Jacob YUVAL, La croisée des chemins. La Haggadah de la Pâque juive et les Pâques chrétiennes, in: Florence HEYMANN u. a. (Hgg.), L’historiographie israélienne aujourd’hui, Paris 1998, S. 47–78. – Israel Jacob YUVAL, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter, Göttingen 2007, S. 81–90. – Vgl. auch Stephan WAHLE, Gottes-Gedenken. Untersuchungen zum anamnetischen Gehalt christlicher und jüdischer Liturgie, Innsbruck u. a. 2006, etwa S. 361–387. 41 Vgl. BOKSER (Anm. 36). 42 Vgl. Theodor KLAUSER, Studien zur Entstehungsgeschichte der christlichen Kunst, Teil II, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 2 (1959), S. 115–145, mit Denkmälerkatalog. 43 Vgl. Max WILCOX, The prayer of Jesus in John XI.41b–42, in: New Testament Studies 24 (1977– 1978), S. 128–132. – Vgl. Thomas OHM, Die Gebetsgebärden der Völker und das Christentum, Leiden 1948, S. 352–357. – Gerhart B. LADNER, The gestures of prayer in papal iconography of the thirteenth and early fourteenth centuries, in: Sesto PRETE (Hg.), Didascaliae. Festschrift für Anselm Maria Albareda, New York 1961, S. 245–275. – Przemysław MROZOWSKI, Genuflection in medieval western culture. The gesture of expiation. The praying posture, in: Acta Poloniae historica 68 (1993), S. 5–26. – Vgl. die Beiträge insbesondere zur Augenerhebung, zum Knien und Kniebeugen sowie zu den

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Karwoche erinnert, welcher die Bibelstelle aufgreift, wonach Jesus, nachdem er auf rituelle, aber gleicherweise traditionelle Weise die Füße der Apostel gewaschen hatte,44 nach Joh 13,1–17 die Generalformel ausspricht: „Ich habe euch ein Beispiel (exemplum) gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“ (V. 15). Die christliche Fußwaschungsliturgie erinnert überdies mit ihrem Introitusvers Mandatum novum do vobis (vgl. Joh 13,34) daran, dass die archetypische Handlung als Auftrag begriffen werden soll:45 Die Apostel und alle kirchlichen Oberen (omnesque praelatos ecclesiae) waren nach dem Benediktinermönch Rupert zu jenem spirituellen und rituellen Reinigungsakt verpflichtet worden.46 Schließlich erwähnen wir die Schilderung des Johannesevangeliums, als der österliche Jesus die Jünger behaucht (insufflavit) mit den Worten: accipite Spiritum Sanctum (Joh 20,22).47 Die mittelalterliche Liturgie kennt nun die Behauchung des Täuflings im Rahmen des vielgestaltigen Taufritus zur Kennzeichnung der Geistzuwendung: „Johannes, empfange durch dieses Anhauchen den Heiligen Geist“.48 Dieser Gestus schließt bereits nach Ambrosius, der den spätantiken Nachahmungsakt dokumentiert, den Taufakt ab, da nach dem Wasserritus etc. „noch die Vollendung (perfectio) geschehen muss, indem auf die Anrufung des Bischofs hin der Heilige Geist eingegossen wird“;49 der Kirchenvater spricht hier von dem signaculum spiritale (vgl. auch die Redeweise in Gen 2,7 vom spiraculum vitae bei der Lebenshauchzuwendung).50 Aber auch innerhalb der hochmittelalterlichen Ölweihe am Hohen

|| Gebetsgesten in dem Sammelband von Constantin ANDRONIKOF (Hg.), Gestes et paroles dans les diverses familles liturgiques, Rom 1978. 44 Insbesondere hat Christoph NIEMAND, Die Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums. Untersuchungen zu ihrer Entstehung und Überlieferung im Urchristentum, Rom 1993, auf die komplexen religions- und redaktionsgeschichtlichen Hintergründe der Erzählung hingewiesen. Vgl. auch die wegen der Quellennachweise weiterhin wichtige Arbeit von Thomas SCHÄFER, Die Fußwaschung im monastischen Brauchtum und in der lateinischen Liturgie, Beuron 1956. – Vgl. zuletzt John Christopher THOMAS, Footwashing in John 13 and the johannine community, Sheffield 1991, und Luise ABRAMOWSKI, Die Geschichte von der Fußwaschung, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 102 (2005), S. 176–203. 45 Sicard von Cremona, Mitralis 6,12, hrsg. v. Gábor SARBAK u. Lorenz WEINRICH (CCCM 228), Turnhout 2008, S. 479–480. 46 Rupert von Deutz, De divinis officiis 5,21 (Anm. 5), S. 177, Zeile 1270. – Zum Ritus vgl. Pontificale Romanum saec. XII 30C, Nr. 20, hrsg. v. Michel ANDRIEU, Le pontifical romain au moyen âge, Vatikanstadt 1938–1940, Bd. 1, S. 233. – Pontificale Romanum Germanicum, Ordo XCIX, Nr. 287, hrsg. v. Cyrille VOGEL u. Reinhard ELZE, Le pontifical romano-germanique du dixième siècle, Bd. 2, Vatikanstadt 1963, S. 77–78. 47 Vgl. J. Duncan DERRETT, Why did Jesus blow on the disciples?, in: Bibbia e oriente 40 (1998), S. 235–246. 48 Pontificale Romanae Curiae 53,4, hrsg. v. Michel ANDRIEU (Anm. 46), Bd. 2, S. 514. 49 Ambrosius, De sacramentis 3,8, hrsg. v. Otto FALLER (CSEL 73), Wien 1955, S. 42. 50 Vgl. Jacques T. A. G. M. VAN RUITEN u. a. (Hgg.), Dust of the ground and breath of life, Leiden 2016.

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Donnerstag sowie bei der Taufwasserweihe findet in der Tradition der Sakramentare, der Ordines Romani und der Pontifikalehandschriften eine Behauchung der Materie statt:51 Nach Sicard tritt durch die Behauchung die Dritte Person Gottes in die Öffentlichkeit (in publicum).52 Erkennbar wird hier die hermeneutische Transformationsleistung nachahmender Akte, ungeachtet ihrer enthistorisierten Gestalt. Die Analyse von archetypischen Handlungen erweist sich in anderen Fällen jedoch als viel problematischer. Dies wird deutlich bei den Gesten des Brotbrechens sowie des Darreichens des gebrochenen Brotes durch Jesus: Sie galten bereits den Emmausjüngern als Erinnerungsmerkmal (Lk 24,30–31; vgl. auch Joh 21,13–14), womit durch das ‚Wiedererkennen‘ ein wesentliches Merkmal mimetischen Vorgehens angesprochen wird – gerade dann, wenn ein individueller Gestus vom tradierten Usus abwich: Das rituelle Brotbrechen hatte sich zwar gegen die Banalität des alltäglichen Aktes zu behaupten, doch weist die Handlung in der Antike nach Clemens LEONHARD keineswegs zwingend die von den Christen unterlegte exklusive Bedeutung eines Eucharistiebezuges (Apg 2,42; 20,7.11; 27,35) auf.53 Im Übrigen ist deutlich, dass die im christlichen Gottesdienst praktizierte Herauslösung des Brotbrechens aus der Handlungsabfolge des biblisch-archetypischen Abschiedsmahlgeschehens und die Konstruktion eines zeitlich nachgelagerten Brotbrechungsritus einer antimimetischen Intention folgen.54 Sonstige Zeichenhandlungen Jesu, die für eine rituelle Nachahmung hätten genutzt werden können, sind den Evangelisten nicht berichtenswert erschienen. Im Gegensatz zur Behauchung sind die Inventionen der Salbung und der Handauflegung zu nennen, die zunächst im Sinn einer Krankensalbung zu verstehen waren und wohl erst nach dem Tode Jesu, nämlich nachpfingstlich, mit der Geistbitte verbunden wurden (Mk 6,13; Jak 5,14). So hatte beispielsweise nach Gregor IX. die Weihe der Priester und Diakonen durch eine „Handauflegung durch leibliche Berührung zu erfolgen, gemäß dem von den Aposteln [!] eingeführten Ritus (manus impositionem tactu corporali, ritu ab apostolis introducto), falls unterlassen, muss der Gestus wiederholt werden“55 – gemeint ist Apg 6,6; 1 Tim 4,14; 5,22; 2 Tim 1,6.56 || 51 Vgl. den Nachweis der Quellen bei Peter MAIER, Die Feier der Missa chrismatis. Die Reform der Ölweihen des Pontifikale Romanum, Regensburg 1990, S. 99–100, 132, 138, 142 und 148. Vgl. auch Eduard STOMMEL, Studien zur Epiklese der römischen Taufwasserweihe, Bonn 1950, S. 105–108. 52 Sicard von Cremona, Mitralis 6,12 (Anm. 45), S. 475. 53 Vgl. Clemens LEONHARD, Brotbrechen als Ritualelement formeller Mähler bei den Rabbinen und in der Alten Kirche, in: Constanza CORDONI u. a. (Hgg.), Let the wise listen and add to their learning (Prov 1,5). Festschrift für Günter Stemberger, Berlin 2016, S. 501–519. – Vgl. bereits früher Siegfried STEIN, The influence of symposia literature on the literary form of the Pesah Haggadah, in: Journal of Jewish Studies 8 (1957), S. 13–44. 54 Vgl. auch Henri DE LUBAC, Corpus mysticum. Kirche und Eucharistie im Mittelalter, Einsiedeln 1969, etwa S. 359. 55 Gregor IX., Epistola „Presbyter et diaconus“ von 1232 Dezember 9, hrsg. v. Lucien AUVRAY, Les registres de Grégoire IX., Bd. 1, Paris 1896, Nr. 988, Sp. 581.

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Gerade am Komplex der Behauchung, der Salbung und der Handauflegung lässt sich erkennen, dass die Reduzierung und Isolierung einzelner Gesten den Bedeutungszusammenhang von Zeichen nur rudimentär aufzeigen kann. Inwiefern darüber hinaus auch die Handlungen der Apostel eine Nachahmungsintention aufwiesen und Handlungen Jesu authentisch widerspiegelten, die im Mittelalter hätte aufgegriffen werden können, wäre eine weitere Forschungsfrage.57 Auf der anderen Seite ist evident, dass religiöse Gebärden Vorbildcharakter für mittelalterliche Zeichenhandlungen im profanen Bereich annehmen konnten: Am Beispiel der semiund paraliturgischen Darstellungen könnte gezeigt werden, wie groß das Bedürfnis des Mittelalters war, die Vorgaben der archetypischen Handlungen Jesu in freien Nachschöpfungen zu dramatisieren: Wie schon der genannte Einritt Jesu in Jerusalem, der nicht nur die liturgische Palmsonntagsprozession, sondern auch säkulare Aufführungen wie zeremonielle Herrschereinzüge58 hervorbrachte, waren expressive Karfreitagsprozessionen ebenso wie die Geistlichen Spiele als interpretierende Medien der amtlichen Liturgie aufzufassen.59 Beispiele aus der paraliturgischen Nachahmungspraxis können wir den Gebärden des Lehnswesens60 oder überhaupt dem Recht61 sowie den militärischen Ritualen62 entnehmen.

2.3 Die hochmittelalterliche Rezeption der Archetypik Die biblisch bezeugten Handlungen Jesu sind bereits in früh- und hochmittelalterlicher Zeit keineswegs als homogenes Corpus verstanden worden, so dass die Mediävistik zweckmäßig von einer Archetypik im Sinne einer Verfahrensweise sprechen sollte, die in unterschiedlichen Ausprägungen von einer unkritischen Identifizierung über die dogmatische Überprägung bis hin zu Umkehrungen in der ‚Nachah|| 56 Vgl. zuletzt Laurence DECOUSU, Imposition des mains et onction. Recherches sur l’adjonction des rites additionels dans les liturgies baptismales primitives, in: Ecclesia orans 34 (2017), S. 11–46. 57 Die Handauflegungen Jesu erscheinen nur im Kontext mit Heilungen und Geistreinigungen. Bei der Krankensalbung durch die Jünger nach Mk 6,13 bleibt es Spekulation, ob sie einer vorbildhaft wirkenden Handlung Jesu folgte. 58 Vgl. Pierre DUFRAIGNE, Adventus Augusti, adventus Christi. Recherche sur l’exploitation idéologique et littéraire d’un cérémoniel, Paris 1994. – Vgl. Dagmar STUTZINGER, Der Adventus des Kaisers und der Einzug Christi in Jerusalem, in: Spätantike und frühes Christentum, Frankfurt 1983, S. 284– 307, insb. S. 294–296. 59 Vgl. Carla DAUVEN-VAN KNIPPENBERG, Dramatic celebration of Easter festival, in: Paul POST u. a. (Hgg.), Christian feast and festival, Löwen u. a. 2001, S. 406–422. 60 Vgl. Jacques LE GOFF, Les gestes symboliques dans la vie sociale, les gestes de la vassalité, in: Simboli e simbologia nell’alto medioevo, Bd. 2, Spoleto 1976, S. 679–779. 61 Vgl. Ruth SCHMIDT-WIEGAND, Gebärdensprache im mittelalterlichen Recht, in: Frühmittelalterliche Studien 16 (1982), S. 363–379. 62 Vgl. Peter OCHSENBEIN, Beten mit zertanen Armen. Ein alteidgenössischer Brauch, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 75 (1979), S. 129–172.

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mungsintention‘ reichen. Für Hugo von St. Viktor ist das biblisch bezeugte Abschiedsmahl Jesu unstrittig identisch mit der personal erfolgten „Einsetzung des eucharistischen Heilsinstruments (sacramentum) durch Christus selbst“.63 Für Remigius von Auxerre bestand kein Zweifel, dass „der vom katholischen Priester bei der Konsekration des Weins benutzte Kelch kein anderer ist als jener, der vom Herrn den Apostel gereicht wurde (non est alius, nisi ipse quem Dominus apostolis tradidit)“.64 Noch Hildegard von Bingen nahm in ihrem Eucharistietraktat pauschal Bezug auf das Geschehen beim Abschiedsmahl Jesu und fordert mit der visionär vernommenen Stimme Gottvaters, rituell „nicht über das Beispiel (exemplum) hinauszugehen, wie mein Sohn Brot und Kelch nahm und seinen Jüngern zum Essen und Trinken reichte.“65 Der Text der Bibel dürfe nach der Schlussfolgerung der Äbtissin weder verkürzt noch überschritten werden (ne exemplum transcendat [!]). Die rekonstruierende Interpretation der urchristlichen Liturgie versuchte hierbei, in der Bibelexegese zugleich eine geschichtliche Dimension zu erkennen. Bonizo von Sutri betonte eine einfache Ausgangsform der Messe, worin lediglich über Brot und Wein das Herrenwort des Vaterunsers gesprochen wurde.66 Offensichtlich war auch Rupert von Deutz der Meinung, dass die ersten Konsekrationen „nur aus den Worten des Herrn und nur dem Gebet des Herrn (cum ad sola verba Domini solamque dominicam orationem)“ bestanden hätten.67 Nach Innocenz III. muss die liturgische Konsekrationsformel unveränderlich bleiben, und zwar unabhängig vom biblischen Bericht deshalb, weil „die Form der Worte, wie sie sich im Kanon finden, sowohl die Apostel als auch ihre Nachfolger von ihm empfangen haben“.68 Treue Bewahrung und Ausschmückung von Liturgiegestalt und Liturgiegehalt stellten für Rupert jedoch keine Gegensätze dar, zumal der Glaube der Frühzeit noch roh (rudis) und der ‚Vergoldung‘ bedürftig (deauraretur) gewesen sei.69 Die Kirche habe daher nach und nach aus ihrem Schatz „neue Erinnerungszeichen der Frömmigkeit (nova pietatis monumenta)“ hervorgeholt. Der Kontext des Deutzer Abtes erläutert schließlich, wie

|| 63 Hugo von St. Viktor, De sacramentis 2,8,1 (MIGNE PL 217,461D). 64 Remigius von Auxerre, De divinis officiis 40 (MIGNE PL 101,1260D). 65 Hildegard von Bingen, Sci vias 2,6,47, hrsg. v. Adelgundis FÜHRKÖTTER u. Angela CARLEVARIS (CCCM 43), Turnhout 1978, S. 270–271. 66 Bonizo, De sacramentis ecclesiae (MIGNE PL 150,857–866). – Zu diesem Missverständnis vgl. auch Johannes BRINKTRINE, Das Vaterunser als Konsekrationsgebet, in: Theologie und Glaube 9 (1917), S. 152–154. 67 Rupert von Deutz, De divinis officiis 2,21 (Anm. 5), S. 52, Zeilen 738–740. 68 Innocenz III., De missarum mysteriis 4,8 (MIGNE PL 217,869BC). – Ders., Epistola „Cum Marthae circa“ von 1202 November 29, hrsg. v. Othmar HAGENEDER, Die Register Innocenz III., Bd. 5, Wien 1993, Nr. 120 (121), S. 234–239, hier S. 237. 69 Rupert von Deutz, De divinis officiis 2,21 (Anm. 5), S. 52, Zeile 741.

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diese Vorgehensweise konkret zu verstehen sei, nämlich in den Ergänzungen des Messordos durch die Einzelinterventionen der Päpste.70 Zusammengefasst kann man hinsichtlich des mittelalterlichen Umgangs mit dem Nachahmungsprinzip verschiedene Einflussfaktoren erkennen, die bezüglich ihrer Intentionen in Verfahren der Historisierung,71 der Allegorisierung,72 der Ritualisierung versus Wiederholungsideal73 sowie vor allem in der dogmatischen Systematisierung und Verrechtlichung74 praktische Gestalt annahmen, so wie sie die Aufarbeitung der Irritationen im Berengarstreit um den – nachahmende Aspekte inkludierenden – Bildbegriff im Kontext von Transsubstantiation und Realpräsenz notwendig machte. Das sakramententheologische Theologumenon von der Gegenwart Christi in der Liturgie überlagerte schließlich die Intention zur Nachahmung archetypischer Handlungen des Historischen Jesus. Insoweit bleibt abschließend zu fragen, wie angesichts dieser Einflussfaktoren das Prinzip des Nachahmens und noch mehr dessen Modifikation legitimiert werden konnte.

3 Dynamisierung des mimetischen Instrumentariums: Überlieferung und Aktualität Die in der Liturgie gehandhabte Zeichensprache bedarf nach allgemeiner Erfahrung zwar nicht der stringentesten rationalen Begründung, jedoch sehr wohl einer Mindestplakativität und -plausibilität, um ihre Zeichenwirkung in der gottesdienstlichen Realität effizient entfalten und die Bedeutungsebenen offenlegen zu können;

|| 70 Vgl. die Belege bei Hanns Peter NEUHEUSER, Autorität und Autoritäten des Messordo bei Rupert von Deutz, in: Heinz FINGER u. a. (Hg.), Rupert von Deutz – Ein Denker zwischen den Zeiten? Köln 2009, S. 81–110. 71 Vgl. exemplarisch Christina PÖSSEL, Appropriate to the Religion of their time. Walahfrid’s historicisation of the liturgy, in: Elina SCREEN u. a. (Hgg.), Writing the early medieval west, Cambridge 2018, S. 80–97. 72 Hierzu immer noch maßgebend Reinhard MEßNER, Zur Hermeneutik allegorischer Liturgieerklärung in Ost und West, in: Zeitschrift für katholische Theologie 115 (1993), S. 284–319 und 415–434. – Vgl. ferner Herbert SCHNEIDER, Roman liturgy and frankish allegory, in: Julia M. H. SMITH (Hg.), Early medieval Rome and the christian west, Leiden u. a. 2000, S. 341–379. 73 So spricht Innocenz III. wohl bewusst nicht von einer Wiederholung (der historischen Situation), sondern von einer Regelmäßigkeit der Feier (coeperunt apostoli […] frequentare). Innocenz III., De missarum mysteriis, Prolog (MIGNE PL 217,773C). – Zu den Gesetzmäßigkeiten der dynamischen Zeichenhandlungen vgl. Bruce KAPFERER, Ritual dynamics and virtual practice. Beyond representation and meaning, in: Social analysis 48,2 (2004), S. 35–54. 74 Vgl. hierzu nur Ludwig HÖDL, Die Confessio Berengari von 1059. Eine Arbeit zum frühscholastischen Eucharistietraktat, in: Scholastik 37 (1962), S. 370–394. – Vgl. zu den umfassenden Hintergründen Toivo HOLOPAINEN, Dialectic and theology in the eleventh century, Leiden u. a. 1996.

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dies gilt auch für das Verhältnis von Archetyp und nachahmenden Elementen. Den Ansprüchen der je aktuellen Liturgiegemeinde, dass nicht lediglich abstrakthistoristisch verfahren wird, wird entgegengewirkt durch eine weitere Kraftquelle, die man in aller gewollter Doppeldeutigkeit mit ‚Aktualität‘ zu umschreiben vermag: Überlieferung besteht daher sowohl in einem Rückblick auf den Archetypus als auch in einem selbstvergewissernden Akt der Gegenwartsgestaltung in Aktualisierung einerseits und Aktivierung andererseits. Die Aktualität des Memorialaktes erweist sowohl 1. das zeitlich (z. B. kalendarisch) sinnvolle Aufgreifen des Archetyps, 2. die Substantialität des mimetischen Materials als auch 3. den Bezug zur Intention einer konkreten Liturgiegemeinde und ihrer (‚aktuellen‘) Vollzüge (actus), wobei alle Faktoren die Realisierung des Überlieferungsgeschehens ausmachen. Ein passendes Doppelbeispiel zur Veranschaulichung bietet der Vollzug des jüdisch-christlichen Pesach/Pascha-Festes: In dem einen Fall des Sedermahles wird die Aktualität in der rituellen Frage des jüdischen Jungen deutlich, der wissen möchte, „wie sich diese Nacht [und ihre spezifische Zeichensprache] von den anderen Nächten unterscheidet“ (yPes 10,4).75 Die Frage löst dann die katechetische Erinnerung an den Auszug des Volkes Israels aus Ägypten und die Begründung dafür aus, warum die aktuelle Sedergemeinschaft mimetisch in einer Weise an das in Eile vollzogene Auszugsmahl erinnert, „so, als sei man dabei gewesen“ (yPes 10,5): Durch die Pesach-Haggada wird die Intention befördert, dass der „act of remembrance“ zu einer Handlung „of personal identification“ transformiert wurde.76 Kulturgeschichtlich entfaltet sich hier gewissermaßen die „Suggestion des Tatsächlichen (aura [!] of factuality)“.77 In dem anderen Fall der Osternachtfeier kennen wir im Lateinischen Ritus entsprechend die nächtliche Wortliturgie, bei welcher im „Exsultet“-Gesang immer wieder die Besonderheit Haec nox est oder in huius igitur noctis gratia betont wird,78 bevor auch dort eine der Lesungen den Auszug aus Ägypten schildert. Beide Gottesdienste haben als Substanz den Rekurs auf die göttliche Erlösungstat, die zeichenhaft durch eine spezifische Mimetik aktualisiert, d. h. in einen handelnden Vollzug, eingebracht wird, der die feiernde Selbstvergewisserung der Gemeinde zum Gegenstand hat. Das

|| 75 Der Traktat Pesachim wird zitiert nach: Talmud Yerushalmi. Pesachim. Pesachopfer, übersetzt und hrsg. v. Andreas LEHNARDT, Tübingen 2004, S. 373–375. 76 Vgl. den Beweis überzeitlicher Gültigkeit dieser Intention bei Carole B. BALIN, The modern transformation of the ancient Passover Haggadah, in: Paul F. BRADSHAW u. a. (Hgg.), Passover and Easter. Origin and history to modern times, Notre Dame 1999, S. 189–213, Zitat S. 189. 77 So Clifford GEERTZ, Religion as a cultural system, in: The interpretation of cultures, New York 2001 (zuerst publiziert 1966), S. 87–125, hier S. 90. 78 Pontificale Romanum Germanicum, Ordo XCIX, Nr. 347 (Anm. 46), Bd. 2, S. 112. Vgl. Rupert von Deutz, De divinis officiis 6,32 (Anm. 5), S. 214. – Vgl. hierzu Norbert LOHFINK, Das Exsultet deutsch. Kritische Analyse und Neuentwurf, in: Georg BRAULIK u. a. (Hgg.), Osternacht und Altes Testament, Frankfurt 2003, S. 83–120.

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österliche Hodie strahlt dann in die Liturgieformulare anderer Feste – einschließlich der adaptierten Texte des Ordo missae – hinein79 und wird zum Prinzip des Liturgiefeierns überhaupt. Hierin kann man seit der Antike eine liturgische Gegenwartsbestimmung erkennen, wie Laktanz beweist: Haec est nox quae a nobis propter adventum regis ac Dei nostri pervigilio celebratur.80 Aufgabe des Menschen bleibt es, im Sinne der isidorischen Zeitbestimmung die Gegenwart mit einer rituellen Feier per actus humanos aktiv auszufüllen,81 so dass unser Postulat von der dichotomen Aktualität Realisation erfährt. Wie oben angedeutet, lieferte dann die Scholastik mit ihren Nuancierungen das Begriffsmaterial, um deutlicher die Handlungen des Historischen Jesus und die aktualisierten anthropogenen Nachahmungsakte – „jedes Jetzt der Jetztzeit“ – vom aktuellen Wirken des überzeitlichen Christus zu unterscheiden; hierdurch ist die liturgische Zeitdimension mitsamt der Geschichtstheologie wesentlich neu geprägt.82 Bereits Augustinus hatte im Jahre 400 die ‚neuen Praktiken‘ zu rechtfertigen, etwa andere kirchliche Gebote, „die nicht durch die Schrift, sondern durch die Überlieferung beachtet werden (quae non scripta sed tradita custodimus)“,83 worunter u. a. das Nüchternheitsgebot, die Lehre vom Ungesäuerten Brot oder die Ausweitung des Ordo-Sakraments auf die Bischofskonsekration etc. zählen. Innocenz III. beschrieb jene Unterschiede in der Quellenlage dahingehend, dass die Apostel das, was die Evangelisten ausgelassen hatten, „entweder mündlich oder durch ihr Tun ergänzten (supplevisse verbo vel facto expressisse)“.84 An anderer Stelle sagte derselbe Papst, die Apostel hätten durch den Auftrag (Unterweisung) beim Abschiedsmahl Jesu „begonnen, das allerheiligste Geheimnis aus diesem Grund häufiger zu feiern […] und dabei die Form in den Worten bewahrt und die Materie in den Dingen beibehalten“.85 Dies ließ die Schlussfolgerung zu, auch andere Praktiken der Apostel – wir ergänzen: ggf. andere Texte als der biblische Bericht über das Abschiedsmahl Jesu – seien (später) kontextualisiert und verschriftlicht worden. Ansonsten war man bemüht, die Apostel nicht in einen inhaltlichen Gegensatz zum Evangelium zu bringen, dessen Posaune (evangelii tubam) sie vom Herrn entgegennahmen.86 Die hochmittelalterliche Reflexion dieser Konkurrenzierung wird nach

|| 79 Vgl. Stephan WAHLE, Das Gedächtnis im Heute feiern. Zur existentiellen Bedeutung liturgischer Anamnese, in: Geist und Leben 88 (2015), S. 133–144. 80 Laktantius, Divinae institutiones 7,19, hrsg. v. Samuel BRANDT (CSEL 19), Prag 1890, S. 645. 81 Isidor von Sevilla, Etymologiae 5,31, hrsg. v. Wallace Martin LINDSAY, Bd. 1, Oxford 1911, zur Stelle. 82 Vgl. Max SECKLER, Das Heil in der Geschichte. Geschichtstheologisches Denken bei Thomas von Aquin, München 1964, etwa S. 235–236, Zitat S. 236. 83 Augustinus, Epistola 54,1, hrsg. v. Aloys GOLDBACHER (CSEL 34,2), Prag u. a. 1898, S. 159. 84 Innocenz III., Epistola „Cum Marthae circa“ (Anm. 68), S. 235. 85 Innocenz III., De missarum mysteriis, Prolog (MIGNE PL 217,773BC). 86 Vgl. Leo der Große, Epistola 9 (MIGNE PL 54,624B–627B).

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Bonaventura durch die Begriffspaare apostoli – evangelistae, instituunt – narrant zusammengefasst,87 deren Qualität das memoriale Instrumentarium, also sowohl Textrezeption als auch gestisch-aktive Mimetik, auszulösen vermag.88 Erkennbar wird nun die Verschränkung von archetypischem Vorbild, dem überlieferungsgerechten Auftrag zum aktuellen und aktiven Wirken sowie der Nachahmungspraxis in rituellen Zeichenhandlungen, die in hier nicht mehr behandelten, zudem kulturtechnisch-ästhetisch interessanten Framing-Verfahren neu kontextualisiert wurden.

|| 87 Vgl. Bonaventura, Sentenzenkommentar IV d 8 p 2 a 1 q 2 (Opera omnia 4), Quaracchi 1889, S. 193–195. 88 So spricht Amalar davon, Stephanus sei zwar (der erste) Diakon gewesen, habe aber gleichsam seines Amtes als Lektor nicht walten, d. h. das Evangelium nicht (rituell) verkünden können, weil es noch nicht niedergeschrieben war, vgl. Amalar von Metz, Liber officialis 2, 11, 4 und 12, 15, hrsg. v. Jean Michel HANSSENS, Opera liturgica omnia, Bd. 2, Rom 1948, S. 221 und 226.

Stefan Morent

Tradition und Wandel in der Überlieferung des Gregorianischen Chorals Liturgisch-musikalische Fragmente und digitale Untersuchungsmethoden. Eine Einleitung zu den folgenden musikwissenschaftlichen Beiträgen Abstract: The following papers (p. 529–562) read during the 18th symposion of the Mediävistenverband on March 19th in Tübingen approach the phenomenon of variance and continuity, of tradition and change in the transmission of Gregorian chant as the earliest notated repertory of European music history. Research into liturgicalmusical fragments of former monasteries can provide new insights which broaden the current view of chant transmission in particular in regard to regional variants or traditions of monastic orders. Examples are taken from the running research project “Erschließung mittelalterlicher Musikfragmente aus württembergischen Klöstern im Hauptstaatsarchiv Stuttgart”, funded by the German Research Foundation and located at the Department of Musicology at Tübingen University. These findings have to be contextualized in the general history of transmission in particular compared to the background of traditions and breaks within the history of monastic writing. New impulses for these research questions can also be expected from methods of Digital Humanities. Of particular interest here are new digital tools for the encoding of monodic music repertories in relation to questions of “original and copy” and the highly complex transmission of chant. Keywords: monastic traditions, Gregorian chant, musical fragments, variants, digital humanities

Der Gregorianische Choral gilt seit der Karolingerzeit und bis heute (II. Vatikanum, Liturgiekonstitution Art. 116) als der in einheitlicher Form überlieferte und vorgetragene Gesang der römischen Liturgie, als sakrosankt kanonisiert im Mythos der Inspiration Papst Gregors des Großen durch den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube und durch immer neue kirchliche Verlautbarungen. Einerseits zeigt seine schriftlich greifbare Überlieferung eine große Einheitlichkeit, andererseits erweist der Choral sich im Detail als vielfältig und divergent.

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Stefan Morent, Musikwissenschaftliches Institut, Universität Tübingen, Schulberg 2, D-72070 Tübingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-031

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Die Beiträge der Sektion, die innerhalb des 18. Symposions des Mediävistenverbandes am 19. März 2019 in Tübingen stattfand, nehmen dieses Phänomen von Varianz und Kontinuität, von Tradition und Wandel im ältesten notierten Repertoire europäischer Musikgeschichte und seiner Überlieferung in den Blick. Die Beobachtung, dass für den Gregorianischen Choral Einheitlichkeit zwar angestrebt und verordnet wurde, doch immer wieder Individualität durch Varianten in der Melodie artikuliert werden konnte, die zwar nie vom Vorbild völlig abwich, aber doch so weit, um lokalen und ordensspezifischen Traditionen Ausdruck zu geben, harrt noch einer tiefgreifenden Erforschung. Ebenso muss das Verhältnis zwischen Norm und Abweichung neu bestimmt werden.1 Neue Erkenntnisse hierzu lassen sich besonders aus der Erforschung liturgischmusikalischer Fragmente aus Klosterbeständen gewinnen, die das bisherige Bild für die Choralüberlieferung teilweise entscheidend erweitern und ergänzen, zumindest aber ihre Ausdifferenzierung verdeutlichen und so zu einer größeren Tiefenschärfe beitragen können. Dies betrifft vor allem regionale Varianten oder Ordenstraditionen, von denen bisher wenige oder gar keine Quellen bekannt waren.2 Einzuordnen sind diese Befunde in den allgemeinen Überlieferungskontext, insbesondere vor dem Hintergrund von Traditionen und Brüchen in der klösterlichen Schriftkultur.3 Als Beispiel dient das DFG-Projekt „Erschließung mittelalterli-

|| 1 Zum Hintergrund vgl. Andreas TRAUB und Felix HEINZER, Neue Quellen zur Choralreform in Hirsau und der „Tonar des Wilhelm von Hirsau“, in: Musik in Baden-Württemberg, Jahrbuch 2005, S. 77–92. 2 Hierzu Stefan MORENT, Musikalisch-liturgische Fragmente aus den Zisterzienserklöstern Herrenalb und Schöntal im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, in: Joachim WERZ (Hg.), Zisterzienser. Konzeptionen klösterlichen Lebens, Regensburg 2017, S. 135–144 und Andreas TRAUB, Peter RÜCKERT, Musikalische Fragmente. Zur mittelalterlichen Liturgie württembergischer Klöster und ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 76 (2017), S. 161–176. Hierbei kann aus der Verwendung eines Fragments als Einbandmaterial für Akten eines Klosters keinesfalls automatisch geschlossen werden, dass es ebenfalls aus den ehemaligen liturgischen Musikhandschriften dieses Klosters stammt. Fragmente und Trägerarchivalien können durchaus und sehr häufig verschiedener Provenienz sein. Dies lässt sich dadurch erklären, dass aus anderen Klöstern Handschriften durch Tausch oder Kauf in die Klosterbibliothek kamen und später makuliert wurden, ein Kloster seine Akten auswärts binden ließ oder die klostereigene Bindewerkstatt auch fremdes Makulaturfragment etwa von fahrenden Händlern kaufte und verwendete; vgl. hierzu Stefan MORENT, Zur Choralüberlieferung der Zisterzienser. Neue musikalisch-liturgische Fragmente aus dem Kloster Maulbronn im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, in: Joachim WERZ (Hg.), Die Lebenswelt der Zisterzienser. Neue Studien zur Geschichte eines europäischen Ordens, Regensburg 2020, S. 357–369. 3 Peter RÜCKERT u. Dieter PLANCK (Hgg.), Anfänge der Zisterzienser in Südwestdeutschland. Politik, Kunst und Liturgie im Umfeld des Klosters Maulbronn (Oberrheinische Studien 16), Ostfildern 1999.

Tradition und Wandel in der Überlieferung des Gregorianischen Chorals. Einleitung | 529

cher Musikfragmente aus württembergischen Klöstern im Hauptstaatsarchiv Stuttgart“ am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Tübingen.4 Neue Impulse bezüglich der genannten Forschungsfragen sind auch von Methoden der Digital Humanities zu erwarten. Von besonderem Interesse sind hierbei in Bezug auf die Fragen nach dem Verhältnis von ‚Original und Kopie‘ bzw. ‚Urbild und Abbild‘ neu entwickelte und neu zu entwickelnde digitale Werkzeuge zur Codierung monodischer Musikrepertoires.5 Digitale Methoden eröffnen neue Möglichkeiten, die Forschungsfragen zur hochkomplexen Überlieferung des Chorals zu untersuchen und neu beantworten zu können.

|| 4 https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophische-fakultaet/fachbereiche/altertums-und-kun stwissenschaften/mwi/forschung/drittmittelprojekte/erschliessung-mittelalterlicher-musik-fragme nte-dfg (24.02.2020). Das Projekt wurde in seiner ersten Phase für drei Jahre (2017–2020) bewilligt und inzwischen um zwei weitere Jahre (2020–2022) verlängert. 5 Vgl. hierzu die Tools von Tim EIPERT (Würzburg) auf https://codepen.io/timeipert (24.02.2020), der leider krankheitsbedingt seine Teilnahme an der Sektion absagen musste. Als Ersatz konnte dankenswerterweise kurzfristig Paul Hoppe (Tübingen) gewonnen werden.

Peter Rückert

Klösterliche Schriftkultur im Überlieferungskontext Kontinuitäten und Brüche

1 Einführung Anknüpfend an die einführenden Gedanken zu ‚Original und Kopie‘ im Kontext des Gregorianischen Chorals, soll im Folgenden die klösterliche Schriftkultur angesprochen und damit seine Überlieferung verfolgt werden. Wie die monastische Geschichte selbst, ist diese Überlieferungsgeschichte über das Mittelalter hinweg gekennzeichnet von ständigen Erneuerungen, Reformen, die wir bis zur Reformation beispielhaft skizzieren wollen. Diesen Prozessen der Reform und Erneuerung eignete stets das Bewusstsein der eigenen Tradition – die in der Regel als Ideal empfunden wurde – ebenso wie das Streben nach Wahrheit, Ursprünglichkeit und Verbindlichkeit.1 Zunächst soll die Überlieferung der Klosterarchive und -bibliotheken im Fokus stehen; die frühen monastischen Träger der Schriftkultur, vor allem Benediktiner und Zisterzienser, werden kurz vorgestellt. Damit sind die Kontinuitäten und Brüche in ihrer monastischen Entwicklung mit ihrer Schriftkultur und Liturgie zu verknüpfen und für den deutschen Südwesten zu verfolgen. Bekanntlich hat gerade für das Herzogtum Württemberg die Einführung der Reformation ab 1534 für einen radikalen Umbruch besonders im Hinblick auf die

|| 1 Vgl. allgemein hierzu Peter RÜCKERT, Klosterreform und Schriftkultur – Süddeutsche Benediktinerkonvente im 15. Jahrhundert, in: Gerfried SITAR OSB u. Martin KROKER (Hgg.), Die Macht des Wortes. Benediktinisches Mönchtum im Spiegel Europas, Regensburg 2009, Bd. 1, S. 327–340, sowie demnächst DERS., Skriptorien – Bibliotheken – Archive? Zur spätmittelalterlichen Schriftkultur in südwestdeutschen Benediktiner- und Zisterzienserklöstern, in: Armin SCHLECHTER (Hg.), Gesammelt – geplündert – gerettet. Zur Geschichte der Klosterbibliotheken in Südwestdeutschland (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe B) (im Druck). Siehe vor allem auch die Forschungen von Felix HEINZER, Klosterreform und mittelalterliche Buchkultur im deutschen Südwesten (Mittellateinische Studien und Texte 39), Leiden, Boston 2008. || Peter Rückert, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, KonradAdenauer-Str. 4, D-70173 Stuttgart, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-032

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damit verbundene Auflösung der Klöster und ihrer altgläubigen Liturgie gesorgt.2 Dieser Umbruch hatte ebenso massive Überlieferungsverluste wie neue Überlieferungskontexte zur Folge, die es hier im programmatischen Sinne von „Schaffen und Nachahmen“ als kreative Prozesse beispielhaft zu verstehen gilt.3

2 Monastische Schriftkultur im Mittelalter: Kontinuitäten und Brüche Ausgehend von der aktuellen Überlieferung der Klöster und Stifte in den Archiven und Bibliotheken wird deutlich, dass den geistlichen Gemeinschaften europaweit der Hauptanteil mittelalterlicher Schriftzeugnisse zu verdanken ist. Mit dem Auftreten der Benediktinerklöster im frühen Mittelalter, der Zisterzienser und Prämonstratenser im 11. und 12. Jahrhundert und den späteren Bettelorden waren gleichzeitig Wellen von Schriftlichkeit verbunden, die nicht nur der geistlichen Schriftkompetenz entsprechen, sondern als Ausdruck ihrer Reformbestrebungen zu bewerten sind: von der Verrechtlichung ihrer Besitzansprüche bis zur Fixierung ihrer Liturgie. Und diese Wellen setzten sich fort und werden gerade bei den zisterziensischen Reformen ab dem 14. Jahrhundert und den benediktinischen Reformkongregationen im 15. Jahrhundert greifbar.4 Die größten mittelalterlichen Überlieferungsfonds in südwestdeutschen Archiven stellen heute das Benediktinerkloster Weingarten (im Hauptstaatsarchiv Stuttgart) und das Zisterzienserkloster Salem (im Generallandesarchiv Karlsruhe), im traditionell katholischen Oberschwaben gelegen.5 Auch die Reste ihrer ehemaligen Bibliotheken sind noch sehr ansehnlich und gut bekannt. Anders als im alten Herzogtum Württemberg wurden diese Klöster erst im frühen 19. Jahrhundert säkularisiert und haben daher ihre alten Archiv- und Bibliotheksbestände noch in der || 2 Siehe dazu jetzt die einschlägigen Beiträge in: Freiheit – Wahrheit – Evangelium. Reformation in Württemberg, bearb. von Peter RÜCKERT, 2 Bde., Ostfildern 2017, sowie Andreas ODENTHAL, „nach der gebreuchlichen lateinischen Translation gelesen und gesungen“. Zur Stundenliturgie in den Klöstern Württembergs nach Einführung der Reformation, in: Günter FRANK u. Volker LEPPIN (Hgg.), Die Reformation und ihr Mittelalter (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, Bd. 14), StuttgartBad Cannstatt 2016, S. 327–361. 3 Ausführlicher dazu Peter RÜCKERT, Württembergische Reformationsgeschichte und ihre Überlieferung, in: Freiheit – Wahrheit – Evangelium (Anm. 2), S. 14–21. 4 RÜCKERT (Anm. 1), HEINZER (Anm. 1). 5 Ausführlicher zu diesen Überlieferungskomplexen Peter RÜCKERT, Urkundenregestierung und digitale Edition. Neue Erschließungsformen im Kontext der südwestdeutschen Überlieferung, in: Robert KRETZSCHMAR (Hg.), Staatliche Archive als landeskundliche Kompetenzzentren in Geschichte und Gegenwart. Zum 65. Geburtstag von Volker Rödel (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 22), Stuttgart 2010, S. 357–374.

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Neuzeit anwachsen lassen und gut bewahrt.6 Wie bereits angedeutet, ging der große Umbruch monastischer Lebensweise und Schriftkultur in den größeren Territorien und den meisten Reichsstädten im deutschen Südwesten allerdings schon mit der Reformation im 16. Jahrhundert einher. Und auch davor, über das Mittelalter hinweg, hatten Zentralisierungen und Vereinheitlichungen in den geistlichen Gemeinschaften und Orden zu verbindlichen Liturgiereformen geführt. Die Ergebnisse und Konsequenzen dieser mittelalterlichen Reformen können wir heute noch greifen, nicht nur durch zeitgenössische normative Vorgaben und musikwissenschaftliche Expertise zur Notation und Melodik, sondern auch durch die Makulierung nicht mehr gebräuchlicher Choralhandschriften.7 Diese wurden nämlich in der Regel nicht entsorgt, sondern sollten wiederverwendet werden. Das wertvolle Pergament als Schriftträger wurde gleichsam ,recycelt‘; es konnte, wenn nicht wiederbeschrieben, so jedenfalls als Umschlag bzw. Einbandmaterial für andere Schriftstücke dienen.8 Auch wenn die eigentliche Funktion der liturgischen Handschrift damit verloren war, im neuen Überlieferungskontext konnten die musikalischen Fragmente jedenfalls noch ihre sakrale Aura ausstrahlen und ihre ästhetische Wirkung erhalten. Besonders aufwändig geschmückte Blätter mit Miniaturen sollten noch immer besonders beeindrucken und so ihre Überlieferung sichern. Dazu ein konkretes Beispiel: Am Tag Johannes des Täufers, dem 24. Juni 1505, fertigt Magister Johannes Bremgarter, der Sekretär des Herrenalber Abtes Marx Gernsbacher (Markus Schön aus Gernsbach, amt. 1505–1535), das Incipit zu einem Litterarum Ordo registralis (Abb. 1). Er hatte ein ausführliches Verzeichnis über die Briefe und Urkunden seines Klosters erstellt, das alphabetisch geordnet und einfach || 6 Dazu wiederum ausführlicher RÜCKERT (Anm. 1) sowie besonders zu Salem Uli STEIGER, „Iste liber est domus de Salem“ – Skriptorium und Bibliothek der Zisterzienserabtei Salem, in: Musikalische Fragmente. Mittelalterliche Liturgie als Einbandmakulatur, bearb. von Andreas TRAUB u. Annekathrin MIEGEL, 2. Aufl. Stuttgart 2012, S. 8–14; DERS., „Die Macht des Wissens“. Skriptorium und Bibliothek Salems im Mittelalter, in: Werner RÖSENER u. Peter RÜCKERT (Hgg.): Das Zisterzienserkloster Salem im Mittelalter und seine Blüte unter Abt Ulrich II. von Seelfingen (1282–1311) (Oberrheinische Studien, Bd. 31), Ostfildern 2014, S. 179–212. Des Weiteren speziell zur Choralüberlieferung und Liturgie in Salem die Beiträge von Andreas TRAUB, Choralüberlieferung in Salem, ebd., S. 213–228, und P. Alberich Martin ALTERMATT O.Cist., Zisterzienserliturgie in Salem im Mittelalter, ebd., S. 229– 252. 7 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Peter RÜCKERT und Andreas TRAUB, Musikalische Fragmente. Zur mittelalterlichen Liturgie württembergischer Klöster und ihrer Überlieferung, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 76 (2017), S. 161–176. 8 Grundlegend hierzu wiederum Musikalische Fragmente (Anm. 6). Vgl. dazu jetzt auch die einschlägigen Beiträge in: Hanns Peter NEUHEUSER u. Wolfgang SCHMITZ (Hgg.), Fragment und Makulatur. Überlieferungsstörungen und Forschungsbedarf bei Kulturgut in Archiven und Bibliotheken, (Buchwissenschaftliche Beiträge, Bd. 91), Wiesbaden 2015, darin vor allem: Hanns Peter NEUHEUSER, Zu den Perspektiven der Fragmentforschung, S. 1–14, sowie Matteo NANNI, Caroline SCHÄRLI u. Florian EFFELSBERG (Hgg.), Ein Kleid aus Noten. Mittelalterliche Basler Choralhandschriften als Bucheinbände, Basel 2014.

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handhabbar die wertvollen Archivbestände des Zisterzienserklosters Herrenalb im Schwarzwald erstmals ausführlich beschreibt.9 Sein neuer Abt Markus hat gerade sein Amt angetreten und will sich die Schriftkultur im Kloster, die Ordnung im Archiv und den Ausbau der Bibliothek nun sehr angelegen sein lassen;10 also ist ihm sein geistlicher Sekretär Bremgarter damit gerne zu Diensten.

Abb. 1: Titelseite des Litterarum Ordo registralis von Johannes Bremgarter für Kloster Herrenalb, 1505 (HStA Stuttgart A 605 A 489 [117,40]).

Seine neue Registratura Litterarum wird bald darauf eingebunden in ein prächtiges Einzelblatt aus einem früheren Antiphonar aus dem späten 15. Jahrhundert mit deutschen Neumen auf Linien und einer aufwändigen P-Initiale mit Adam und Eva (Abb. 2a/b). Offensichtlich hatte dieses Antiphonar jetzt keine liturgische Funktion mehr für die Herrenalber Zisterzienser; es hatte ausgedient und wurde auseinandergenommen. Die wertvollen Pergamentblätter konnten nun auch als Einband für das neue Archivverzeichnis wiederverwendet werden – jedenfalls wurde dieses

|| 9 Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 605 A 489 (117,40). 10 Renate NEUMÜLLERS-KLAUSER, Stifter – Schirmer – Mönche. Mittelalterliche Inschriften im Kloster Herrenalb, in: Peter RÜCKERT u. Hansmartin SCHWARZMAIER (Hgg.), 850 Jahre Kloster Herrenalb. Auf Spurensuche nach den Zisterziensern (Oberrheinische Studien 19), Ostfildern 2001, S. 61–74, hier: S. 73.

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Abb. 2a: Einband des Litterarum Ordo registralis von Johannes Bremgarter für Kloster Herrenalb, 1505 (HStA Stuttgart A 605 A 489 [117,40]).

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Abb. 2b: Ausschnitt aus dem Einband des Litterarum Ordo registralis von Johannes Bremgarter für Kloster Herrenalb, 1505 (HStA Stuttgart A 605 A 489 [117,40]).

Verzeichnis damit neu gebunden und beschriftet mit Registratura Litterarum in lacunario repositarum. Die Briefe bzw. Urkunden des Klosters lagerten also in einem holzvertäfelten Magazin; immerhin damals schon über 1.000 Pergamenturkunden.11 Damit hat sich zumindest ein besonders schönes Blatt eines älteren Antiphonars aus Herrenalb erhalten, das mit der damaligen Liturgiereform der Zisterzienser offenbar veraltet war und makuliert werden konnte? So stellt sich dieser Befund jedenfalls im Überlieferungskontext dar,12 mit dem Wissen, dass die Herrenalber Mönche ihre Bücher damals selbst eingebunden haben.13 Auch bei den benachbarten Benediktinerklöstern, die sich zu dieser Zeit in der Bursfelder Reformkongregation zusammengeschlossen hatten, hat die Liturgiereform zur Anlage neuer Choralhandschriften geführt und damit die Makulierung der älteren zur Folge, wie dies etwa für die Abtei Gottesaue (bei Karlsruhe) bekannt ist:14

|| 11 Vgl. die Bestände A 489 und A 489 K im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. 12 Zu Herrenalb jetzt im Besonderen Stefan MORENT, Musikalisch-liturgische Fragmente aus den Zisterzienserklöstern Herrenalb und Schöntal im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, in: STAATLICHE SCHLÖSSER UND GÄRTEN BADEN-WÜRTTEMBERG (Hg.), Die Zisterzienser. Konzeptionen klösterlichen Lebens, Regensburg 2017, S. 135–144. 13 Vgl. Felix HEINZER, Herrenalb – Frauenalb – Lichtenthal: Spurensuche in einem bibliotheksgeschichtlichen Dreieck, in: RÜCKERT u. SCHWARZMAIER (Anm. 10), S. 75–88. 14 Peter RÜCKERT, Gottesaue. Die Urkunden der Benediktinerabtei 1150–1550 (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 55), Stuttgart 2000; hier v. a. S. 9 ff. Jetzt ausführlicher dazu DERS., Die Benediktinerabtei Gottesaue. Studien zu ihrer Geschichte und den

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Nach den Statuten der Bursfelder Reformkongregation war die Korrektur des Psalters 1469 abgeschlossen. Zur Reform des Antiphonars und des Graduale wurde damals eine Kommission eingesetzt, der auch die Äbte von Hirsau und Gottesaue angehörten. Die Liturgiereform der Bursfelder sollte in den nächsten Jahren umgesetzt werden, und auch Gottesaue sollte im Jahr 1474 unter anderem eine Abschrift des neuen Antiphonars erhalten. Entsprechend finden sich makulierte Blätter älterer Psalter und Antiphonarhandschriften als Einbandfragmente in neueren Gottesauer Büchern und Inkunabeln wieder, die von den Mönchen vor Ort selbst gebunden wurden. Im Benediktinerkloster Wiblingen (bei Ulm), einem weit ausstrahlenden Zentrum der „Melker Reform“ kontrastiert der Überlieferungsbefund besonders eklatant mit seiner einstigen Bedeutung: Das Wiblinger Skriptorium des 15. Jahrhunderts wie die Klosterbibliothek mit über 500 Bänden galten bis zur Reformation als Vorbild für die Blüte der Gelehrsamkeit und des Unterrichts im Kloster.15 Doch wurden vor Ort ebenfalls bereits um 1500 mehrere Choralhandschriften aus der Frühzeit des Klosters makuliert und als Spiegel oder Vorsatzblätter für Inkunabeln genutzt. Dies zeigt beispielhaft ein Einzelblatt aus einem Missale des 12. Jahrhundert mit den Messen der drei nachweihnachtlichen Festtage16 (Abb. 3). Deutlich wird auch hier, dass überkommene liturgische Handschriften aus dem Gebrauch gezogen und mit der Klosterreform durch neue ‚Ausgaben‘ ersetzt wurden. Machen wir noch einen Seitenblick ins reiche und prominente Zisterzienserkloster Maulbronn: Bei Bauarbeiten wurde hier vor wenigen Jahren ein Talmudfragment entdeckt, dessen Text offenbar um 1300 von einer Pariser Vorlage kopiert worden war17 (Abb. 4). Dieser außerordentliche Fund verweist zumindest beispielhaft auch auf die Rezeption der verschriftlichten Tora und damit die Transformation des mittelalterlichen Judentums im zisterziensischen Milieu. 200 Jahre später allerdings, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, besaß der Text hier keine Bedeutung mehr. Auch er wurde makuliert, und das Pergament diente noch als Spiegel zum Einband eines ,Liber miraculorum ordinis cisterciensis‘, eines Mirakelbuchs, das damals offensichtlich in Maulbronn neu gebunden wurde.18 Das Pergamentfragment und der Holzdeckel mit dem Buchtitel sind als letzte, zufällig geborgene Reste geblieben. Und damit kennen wir zumindest auch ein kleines Bruchstück mehr von der geistlichen Kultur und ihrer verschwundenen Blüte im mittelalterlichen Maulbronn.

|| benediktinischen Reformen im deutschen Südwesten (Studien zur Germania Sacra, Neue Folge 11), Berlin, Boston 2020, S. 25–30. 15 Dazu ausführlicher RÜCKERT u. TRAUB (Anm. 7), S. 170. 16 WLB Stuttgart Inc. Fol. 652 (HB). 17 Vgl. Görge K. HASSELHOFF u. Óscar DE LA CRUZ, Ein Maulbronner Fragment der lateinischen Talmudübertragung des 13. Jahrhunderts (mit Edition), in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 74 (2015), S. 331–344. 18 Dazu wiederum RÜCKERT u. TRAUB (Anm. 7), S. 169.

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Abb. 3: Blatt eines Missale aus dem Kloster Wiblingen, 12. Jahrhundert (WLB Stuttgart Inc. fol. 652 [HB]).

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Abb. 4: Talmudfragment aus Kloster Maulbronn (Staatliche Schlösser und Gärten BadenWürttemberg).

3 Der Umbruch der Reformation Ist über das Mittelalter hinweg von einem ständigen Wandel klösterlicher Schriftkultur im Verbund mit wiederkehrenden Reformprozessen zu sprechen, so hat die Einführung der Reformation für die betreffenden Territorien tatsächlich für einen

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Umbruch gesorgt: Dieser Umbruch betraf freilich kaum die pragmatische Schriftlichkeit, die Verwaltungsdokumentation, und auch weniger das literarische Profil, als vielmehr und essentiell die Liturgie. Kurz: der lateinische gregorianische Choral hatte ausgedient, die „papistischen Gesangbücher“ wurden von der neuen Lehre ausgemustert; die neue evangelische Kirche gründete auf der „deutschen“ Bibel und einem deutschsprachigen Fundament zur Gestaltung des Gottesdienstes für die Gemeinde.19 Das Mönchtum wurde abgeschafft, die Klöster wurden aufgelöst, ihre Archive zur Besitzdokumentation möglichst von den neuen weltlichen Herren übernommen, ihre Bibliotheken ebenso, ihre Liturgica – meist unter den Armen flüchtiger Mönche und Nonnen – verstreut oder zerstört. Die neue weltliche Verwaltung des vormaligen Kirchenguts konnte die großen, robusten Pergamentblätter der altgläubigen Choralhandschriften gut zum Einbinden ihrer breit erstellten Dokumente, vor allem der Urbare und Lagerbücher, brauchen. Und so finden sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ganze Serien an Verwaltungsakten und Amtsbüchern in „musikalische Fragmente“ gebunden.20 Dies betrifft grundsätzlich alle reformierten Territorien, vor allem aber ist diese Wiederverwendung liturgischer Handschriften im deutschen Südwesten und in Skandinavien bekannt. Das großartige Material der „Database of medieval Fragments at the Stockholm National Archives“ bietet mehr als 22.000 Fragmente, die von rund 6.000 Handschriften stammen, davon sind ca. 75 % Liturgica!21 Mit ähnlichen Verhältnissen dürfte auch im deutschen Südwesten zu rechnen sein, wie die laufende Erfassung der archivischen Überlieferung erwarten lässt. Deutlich ist, dass mit der Reformation der Klöster im Herzogtum Württemberg nach 1534 die liturgischen Schriftzeugnisse des Mittelalters weitestgehend vernichtet wurden. Es gibt nur einzelne intakte Codizes bzw. Chorbücher, die in besonderen Überlieferungskontexten erhalten geblieben sind. Der ganz überwiegende Großteil der altgläubigen liturgischen Handschriften wurde auseinandergenommen und makuliert. Verfolgen wir diesen Befund zeitübergreifend am Genius Loci, an der relativ dichten Überlieferung des Zisterzienserklosters Bebenhausen bei Tübingen:22 Hier wird man bereits im 13. Jahrhundert von einem funktionierenden Skriptorium und

|| 19 RÜCKERT (Anm. 2), ODENTHAL (Anm. 2). 20 Vgl. Musikalische Fragmente (Anm. 6). 21 Vgl. Felix HEINZER, Medial Ambiguity: Liturgical Books of the Latin Church and their Changing Status in Medieval Tradition, in: Manuscript Cultures, No 10, Hamburg 2017, S. 31–50, hier S. 46. 22 Zum Folgenden vgl. ausführlich Peter RÜCKERT, Mittelalterliche Schriftkultur in Bebenhausen: Skriptorium – Bibliothek – Archiv, in: Klaus Gereon BEUCKERS u. Patricia PESCHEL (Hgg.), Kloster Bebenhausen. Neue Forschungen (Wissenschaftliche Beiträge der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg, Bd. 1), Bruchsal 2011, S. 187–200, sowie Uli STEIGER, Ex monasterio nostro Bebenhusen. Die Beziehungen der Zisterzen Salem und Bebenhausen: bibliotheksgeschichtliche Betrachtungen, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 72 (2013), S. 75–104.

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einer gut sortierten Bibliothek wie einem gepflegten Archiv ausgehen dürfen. Für Bebenhausen bieten nun einzelne Makulaturfragmente auch außergewöhnliche Eindrücke von den literarischen Beschäftigungen der Mönche: Ein Pergamentblatt zeigt eine Darstellung des Lignum vitae, des Lebensbaums mit allegorischen Früchten und Blättern, welche die Eigenschaften Christi in lateinischen Inschriften und teilweise auch mit deutschen Übersetzungen bieten.23 Die Darstellung dürfte in dem Fragment aus Bebenhausen mit ihrem unteren Teil zu etwa zwei Dritteln erhalten sein; sie wurde allerdings nur ansatzweise ausgeführt.24 Der Überlieferungszusammenhang, der paläographische und sprachliche Befund datieren das Blatt ins frühe 14. Jahrhundert – ein einzelner, aber doch beispielträchtiger Fund zum zeitgenössischen literarischen Milieu in Bebenhausen und der dortigen Rezeption mystischer Texte.25 Es ist davon auszugehen, dass dieses außergewöhnliche Zeugnis früher Mehrsprachigkeit, das wohl einmal als Wandplakat dienen sollte,26 auch in Bebenhausen selbst entstanden ist. Das Pergamentblatt mit dem Lignum vitae wurde schon bald makuliert und diente dann als Einband für ein Urbar, das 1354/55 die Einkünfte der Bebenhäuser Pflege Tübingen beschreibt. Durch diese Einbandfragmente wissen wir jetzt immerhin auch von der Textproduktion und -rezeption in Bebenhausen; die anhaltende Makulierung der theologischen und liturgischen Texte schon seit der Mitte des 14. Jahrhunderts lässt hier einen beträchtlichen Bibliotheksbestand erwarten, der dann bei der Textproduktion der klösterlichen Wirtschaftsverwaltung stoffliche Wiederverwendung fand. Mit der Einführung der Reformation in Württemberg und der Auflösung des Klosters wird auch in Bebenhausen das Archiv nach Stuttgart verfrachtet und die Bibliothek verstreut. Ein Bebenhäuser Inventar von 1632 nennt „lauter alte, papistische Bücher […], die man für gering achte“ und die anschließend offenbar zum Einbinden von Rechnungsbänden verwendet wurden.27 Jedenfalls finden sich Blätter zweier Antiphonale aus dem 15. Jahrhundert als Einbände damaliger Rechnungen wieder. Sie gehören in einen gemeinsamen Überlieferungskontext und lassen die Makulatur der Chorbücher und die Wiederverwendung ihrer einzelnen Blätter für

|| 23 Vgl. Nigel F. PALMER u. Peter RÜCKERT, Das „Lignum vitae“ aus Bebenhausen, in: Barbara FLEITH u. René WETZEL (Hgg.), Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte (Kulturtopographie des alemannischen Raums, Bd. 1), Berlin, New York 2009. Zum Folgenden ausführlicher RÜCKERT, Mittelalterliche Schriftkultur (Anm. 22), S. 190 ff. 24 Hauptstaatsarchiv Stuttgart J 522 A 723. 25 Vgl. allgemeiner dazu sowie zu weiteren Baumallegorien im zisterziensischen Umfeld auch Walther CAHN, Bernard and Benedict. The Ladder Image in the Anchin Manuscript, in: Ratio fecit diversum. San Bernardo e le arti (Arte medievale, Bd. 8,2), Rom 1994, S. 33–43, wieder abgedruckt in: Walther CAHN, Studies in medieval art and interpretation, London 2000, S. 407–435, hier S. 413. 26 PALMER u. RÜCKERT (Anm. 32), S. 123. 27 Musikalische Fragmente (Anm. 6), S. 23.

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diese Rechnungsserie der Bebenhäuser Klosterverwaltung im frühen 17. Jahrhundert konkret nachvollziehen28 (Abb. 5). Etwas später ist dann auch ein weiteres Antiphonale aus dem 15. Jahrhundert makuliert worden: Ein Doppelblatt ziert den Einband eines Rechnungsbandes der Klosterverwaltung von 1654/55 und verweist gleichzeitig auf die anhaltende Fragmentierung der liturgischen Überlieferung in Bebenhausen.29

Abb. 5: Blätter eines Antiphonale als Einbände für Archivalien aus Bebenhausen, 15. Jahrhundert (HStA Stuttgart A 303 Bde. 1327 und 1328).

Ein letztes Beispiel: ein Amtsbuch, das die württembergische Verwaltung im Jahr 1590 zur Dokumentation ihrer Besitzrechte und Einkünfte im Amt Calw anlegen ließ, weist wiederum ein großes, beschnittenes Pergamentblatt als Einband auf, das

|| 28 Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 303 Bd. 1328. Vgl. die beiden Rechnungsbände von 1633/34 mit Blättern aus demselben Antiphonale in Musikalische Fragmente (Anm. 6), S. 55. 29 Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 303 Bd. 1330. Vgl. dazu wiederum RÜCKERT u. TRAUB (Anm. 7), S. 167 f.

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noch aus dem 15. Jahrhundert stammt30 (Abb. 6). Es ist notiert mit einem der Responsorien zur Septuagesima, aber wo kam es her? Aus welcher altgläubigen Gemeinschaft oder monastischen Institution ist das große Chorbuch zum Recycling, vielleicht schon in einzelne Blätter auseinandergelegt, nach Calw gekommen? Vielleicht aus Hirsau, der benachbarten, berühmten Benediktinerabtei? Man könnte es, angesichts der bekannten Zerstörung der großartigen Hirsauer Bibliothek,31 zumindest vermuten. Die melodische Fassung spricht allerdings für zisterziensische Herkunft. Mit diesen anregenden aktuellen Befunden und irritierenden Fragen ist nun überzuleiten zu weiteren Erörterungen aus musikwissenschaftlicher Perspektive. Zunächst halten wir kurz fest: Die Überlieferung des Gregorianischen Chorals ist durch Reform- und Erneuerungsprozesse geprägt. Sie gaben Anlass zum ‚Schaffen und Nachahmen‘ bei der Produktion neuer liturgischer Handschriften – orientiert am Ideal der Tradition und Wahrheit – wie zur Zerstörung und Makulierung ausgedienter Liturgica. Deren stoffliche Wiederverwendung hat im mittelalterlichen, altgläubigen Kontext jedenfalls ihre sakrale Aura erhalten können. Nach der Reformation kann auch davon nicht mehr die Rede sein; hier ist ihre Funktion allein reduziert auf robuste Stofflichkeit und vielleicht noch ästhetische Ausstrahlung. Diese mutierten ‚musikalischen Fragmente‘ als Überreste mittelalterlicher Liturgie gilt es in ihrem ursprünglichen Sinn wiederzuentdecken; auch dies ein kreativer Prozess wissenschaftlicher Rekonstruktion.

|| 30 Hauptstaatsarchiv Stuttgart H 101/13 Bd. 9. 31 Felix HEINZER, Buchkultur und Bibliotheksgeschichte Hirsaus, in: LANDESDENKMALAMT BADENWÜRTTEMBERG (Hg.), Hirsau St. Peter und Paul 1091–1991, bearb. v. Klaus SCHREINER (Forschungen und Berichte zur Archäologie des Mittelalters 19, Teil 2), Stuttgart 1991, S. 259–296.

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Abb. 6: Blatt eines Antiphonale, 15. Jahrhundert (HStA Stuttgart H 101/13 Bd. 9).

Waltraud Götz

Einige Gründe für Variantenbildung im Gregorianischen Choral anhand von Beispielen aus dem Fragmentenbestand des Hauptstaatsarchivs Stuttgart 1 Veränderungen aus ideologischen Gründen Die Tatsache, dass es in der Geschichte des Gregorianischen Chorals zu Reformen und melodischer Variantenbildung kommt, kann bei der Bestimmung und Identifizierung von liturgisch-musikalischen Fragmenten helfen. Durch das Mittel des Melodievergleiches kann oftmals die vermutete Herkunft eines Fragmentes gestützt, in Frage gestellt oder auch völlig verworfen werden. So ergibt der Vergleich der Melodien auf dem Fragment A 605 A 489 (117,40) des Hauptstaatsarchivs Stuttgart (s. hierzu die Diskussion und Abb. 2a/b im vorausgehenden Beitrag von Peter RÜCKERT) mit zisterziensischen Quellen eindeutige Unterschiede. Es kann also nicht aus dem Kloster Herrenalb selbst stammen. Als weiteres Beispiel soll das Ende des Responsorienverses Formavit igitur dienen. Die Tonfolge bei (spira)culum lautet auf dem Fragment aG FGaGaca, während die Vergleichsquelle Wien, ÖNB 17991 die deutlich kürzere Tonfolge GF GFa notiert. Beide Arten der Veränderung – d. h. der Melodieredaktion bzgl. Tonhöhe wie auch Tonzahl – gehören zu den Mitteln der Melodiereform des Zisterzienserordens, wonach u. a. tonartlich mehrdeutige Stellen durch Tonhöhenveränderung emendiert und ausufernde Melismen gekürzt werden. Wie bei Melodiereformen anderer Orden liegt auch dem Zisterzienserchoral ein bewusstes Verändern aus ideologischen Motiven wie Einfachheit und Klarheit zugrunde. Da die Melodieüberlieferung bei den Zisterziensern auf einen ‚Normkodex‘ zurückgeht, von dem die weiteren Exemplare abgeschrieben wurden, halten sich die melodischen Abweichungen auch in späteren Handschriften in sehr engen Grenzen. Größere Unterschiede zu

|| 1 Antiphonar aus dem Zisterzienserstift Rein, 13. Jahrhundert. || Waltraud Götz, Musikwissenschaftliches Institut, Universität Tübingen, Schulberg 2, D-72070 Tübingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-033

546 | Waltraud Götz

dieser Melodieüberlieferung, wie sie bei dem Einbandfragment A 605 A 489 (117,40) zu sehen sind, deuten daher auf eine nichtzisterziensische Herkunft des Fragments.2 Anhand dreier Einbandfragmente aus dem HStA Stuttgart soll diese Gegebenheit nochmals näher erläutert werden. Die Fragmente stammen von den Archivalien H 101/54 Bd. 26,3 H 199 Bd. 604 und H 235 Bd. 104.5 Alle drei Einbände zeigen Abschnitte aus dem Responsorium Docebo te des Michaels-Offiziums. Auf folgende Differenzen soll hier aufmerksam gemacht werden: – Bei tuo hat Fragment H 101 andere Spitzen- und Zieltöne als H 199 und H 235:



tu-

o

H 101/54 Bd. 26:

GahaGa

GGF

H 199 Bd. 60:

GacaGa

aca

H 235 Bd. 104:

GacaGa

Gaca

Kurz vor Ende des Responsoriums bei prin(ceps) wird das Melisma in Fragment H 101 über den Ton d bis zur Oberoktave f ausgeweitet, während die anderen beiden Fragmente – wiederum übereinstimmend – d und f auslassen. prinH 101/54 Bd. 26:

F

H 199 Bd. 60 und H 235 Bd. 104: FG

(ceps) acc df ed acc

ed

Das bereits genannte Zisterzienserantiphonale Wien, ÖNB 1799 zeigt an beiden Stellen dieselbe Melodie wie H 101. Damit kann für dieses Fragment, das um eine Trägerarchivalie des Oberamtes Stuttgart gebunden ist, mit größter Sicherheit eine zisterziensische Herkunft angenommen werden.

|| 2 Zur Choralreform der Zisterzienser zusammenfassend: Andreas TRAUB, Zur Choralüberlieferung bei den Zisterziensern, in: Peter RÜCKERT u. Dieter PLANCK, Anfänge der Zisterzienser in Südwestdeutschland. Politik, Kunst und Liturgie im Umfeld des Klosters Maulbronn (Oberrheinische Studien 16), Stuttgart 1999, S. 167–179. 3 Trägerarchivalie aus dem Oberamt Stuttgart, Fragment aus dem 14./15. Jahrhundert, Musik in Quadratnotation geschrieben. 4 Trägerarchivalie aus dem Spital Rottweil, Fragment aus dem späten 15. Jahrhundert, Musik in deutschen Neumen auf Linien geschrieben. 5 Trägerarchivalie aus dem Benediktinerkloster Weingarten, Fragment aus dem 14. Jahrhundert, Musik in deutschen Neumen auf Linien geschrieben.

Einige Gründe für Variantenbildung im Gregorianischen Choral | 547

2 Veränderungen aus strukturellen Gründen Neben den Veränderungen durch Reformen, die das komplette Gesangsrepertoire der Messe und des Stundengebetes betreffen, sollen hier noch weitere mögliche Gründe für Melodieunterschiede benannt werden. Zunächst geht es um Variantenbildung aufgrund struktureller Vorgaben. Gemeint ist die Anpassung von Text an eine vorgegebene musikalische Form. Hierfür soll aus dem Responsorium Homo dei ducebatur des Andreas-Offiziums der Vers Cumque carnifices als Beispiel dienen. Der vollständige Text lautet: Cumque carnifices ducerent eum ut crucifigeretur factus est concursus populorum clamancium et dicencium [Repetenda: Innocens eius sanguis sine causa damnatur]. Die Vertonung des Verses ist auf zwei Fragmenten des HStA zu sehen: B 499 Bd. 107*6 und H 201 Bd. 133.7 Für traditionelle Responsorienverse gibt es zweiteilige, formelhafte Modellmelodien mit folgendem Aufbau: Intonationsformel a – Rezitation auf einer Tonhöhe (hier: F) – Mittelkadenz (5–6 Silben) // Intonationsformel b – Rezitation auf einer Tonhöhe (hier: D) – Schlusskadenz (5 Silben)

Idealerweise sind die zu unterlegenden Texte ebenfalls zweiteilig mit zwei annähernd gleich langen Zeilen. Der vorliegende Vers ist von seiner Struktur her interessant, da er verschiedene Möglichkeiten der Gliederung hat: Cumque carnifices ducerent eum ut crucifigeretur |1| factus est concursus populorum |2| clamancium et dicencium

In beiden Fällen wird einer der beiden Textabschnitte deutlich umfangreicher als der andere. Die vorliegenden Quellen gehen mit dieser Situation verschieden um:

|| 6 Trägerarchivalie aus dem Zisterzienserkloster Salem, Fragment aus dem 14. Jahrhundert, Musik in deutschen Neumen auf Linien geschrieben, nicht zisterziensischer Herkunft. 7 Trägerarchivalie aus Ilshofen, Fragment aus dem 15. Jahrhundert, Musik in deutschen Neumen auf Linien geschrieben.

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B 499 hat bei |1| den Ansatz zur Mittelkadenz (fettgedruckte Tonfolge in der Übersicht), führt sie aber nicht korrekt zu Ende. Die ‚richtige‘ Mittelkadenz steht erst bei |2|. Durch die angedeutete Mittelkadenz bei crucifigeretur wird eine zu lange monotone Rezitation in der ersten Hälfte vermieden. H 201 dagegen setzt die Mittelkadenz gleich bei |1| ein. Um die Rezitation der zweiten Vershälfte nicht ausufern zu lassen, erhält populorum einen gestaltenden Akzentpes. |1| B 499 Bd. 107:8 F H 201 Bd. 133:

|2| DF

DC

FG

cru- ci- fi- ge-

re-

tur

F

DEFE

FD

FE FG EF FE FG EF

FE

FG

EF

DEFE FD

(con) cur- sus

po-

pu-

lo-

rum

//

//

//9

DF

D

//

Der Vergleich mit weiteren Quellen zeigt, dass beide Textgliederungen sowohl in monastischen als auch in säkularen Antiphonaren vertreten sind.

3 Gleicher Text, verschiedene Melodie: Veränderungen durch Neukomposition Für die Antiphon Maria turbata est/Maria turbatur für das Fest der Verkündigung Mariens finden sich im Bestand des Hauptstaatsarchives Stuttgart zwei Fragmente: J 522 E II 40110 und H 101/39 Bd. 17.11 Das Fragment J 522 ist schlecht zu lesen, bei H 101 ist nur die linke Hälfte des Schriftspiegels zu sehen. Trotz dieser Einschränkungen ist klar erkennbar, dass es sich um zwei verschiedene Melodien handelt. H 101 zeigt – soweit sichtbar – die reguläre Melodie im III. bzw. IV. Ton, während J 522 eine eigene Melodie im transponierten II. Ton enthält.12 Die Abbildung zeigt die Zusammenstellung der beiden Melodien – soweit lesbar:

|| 8 Auf dem Fragment ist der Gesang eine Quinte höher notiert. 9 Die vorausgehenden Rezitationssilben der zweiten Vershälfte sind durch das Signaturschild verdeckt. 10 Trägerarchivalie ist unbekannt, Fragment um 1300, Musik in deutschen Neumen auf Linien geschrieben. 11 Trägerarchivalie aus Möckmühl, Fragment um 1500, Musik in deutschen Neumen auf Linien geschrieben. 12 Auf die Antiphon folgt in J 522 das Psalmincipit Domini est terra mit der Melodie des II. transponierten Psalmtons.

Einige Gründe für Variantenbildung im Gregorianischen Choral | 549

H 101: E

Ga

a

//

//

//

//

//

//

//

FE

DE

E

EDG

Ma- ri-

a

turtur-

baba

tur/ ta

est

in

ser-

mo- ne

an-

ge-

li

et

E

FG

G

Ga

ca

a

a

a

GF

a

c

Ga

a

ede

H 101: a

J 522:

J 522:

G

a

//

//

//

edchac

Ga

a

GF

G

G

//

//

//

co-

gi-

ta-

bat

qua-

lis

es-

set

haec/ i-

sta

sa-

lu-

ta-

tio

e

d

efge e

e

dc

d

e

c

ded

ch

cdc

//

//

Der Abgleich mit über 30 weiteren digital zugänglichen Quellen führt zu dem Ergebnis, dass dort in Quellen ab dem 12. Jahrhundert nur die Version aus H 101 vertreten ist. Die Melodie in J 522 scheint ein Unikum zu sein. Gerade bei den Gesängen des Stundengebetes tritt dieser Fall immer wieder auf. Unter Umständen wurden die überlieferten Melodien im Laufe der Zeit als nicht mehr zeitgemäß oder nicht festlich genug empfunden. Abhilfe sollte eine Neuvertonung der alten Texte schaffen,13 die eventuell nur lokale Verbreitung fand. Die Suche nach Referenzhandschriften für Melodieverläufe ist digital über Handschriftendatenbanken wie „Global Chant Database“14 oder „Cantus Database“15 möglich, allerdings werden dabei bisher nur Funde angezeigt, die in den Tonhöhen exakt übereinstimmen. Sollte es von der Melodie in J 522 im Pool dieser Datenbanken Varianten geben, werden sie nicht als relevant erkannt und nicht angezeigt. Um Varianten zu finden, ist ein Tool nötig, das ähnliche Tonfolgen aufspüren kann. Damit wäre es möglich zu verifizieren, ob es sich bei J 522 tatsächlich um ein Unikat handelt oder nur um eine Erscheinungsform einer mehrfach überlieferten Grundmelodie.

|| 13 Darüber hinaus gab es auch die vollständige Neukonzeption eines Offiziums: neuer Text und neue Musik. 14 http://www.globalchant.org/ (24.02.2020). 15 http://cantus.uwaterloo.ca/home/ (24.02.2020).

Stefan Morent

Digitale Methoden zur Erforschung der Überlieferungsgeschichte des Gregorianischen Chorals Eine umfassende vergleichende Erschließung der äußerst umfangreichen Choralüberlieferung mit einem Quellenbestand in Handschriften und Drucken über mehr als 1.000 Jahre ist in Hinblick auf Kontinuität und Varianz mit herkömmlichen Forschungsmethoden nicht zu leisten. Der entscheidende Mehrwert der digitalen Erschließung und Darstellung der Choralüberlieferung ist darin zu sehen, dass erst im digitalen Medium die verschiedenen Entwicklungslinien, Transformationen und Interdependenzen als die eigentliche Dimension des Chorals für die Musikgeschichte sichtbar werden. Durch die Begrenztheit gedruckter Ausgaben musste diese Transparenz notwendigerweise bisher beschnitten und Aussagen auf stichprobenartige Schätzungen reduziert werden. Medial an das Papier und methodisch an eine postulierte ‚Urfassung‘ gebunden, waren und sind sie notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Durch digitale Methoden kann ein neues Licht nicht nur auf Fragen nach Abhängigkeiten der Choralreformen verschiedener Orden untereinander und auf mögliche lokale Beeinflussung verschiedener Institutionen fallen, sondern auch auf das Verhältnis zwischen dem Anspruch sakrosankt offenbarter Melodien und der tatsächlichen Vielfalt der melodischen Gestalten. Im Folgenden sollen hierzu einige Aspekte zu solchen digitalen Methoden und Techniken kurz vorgestellt werden. Die Befunde des DFG-Projekts „Erschließung mittelalterlicher Musikfragmente aus württembergischen Klöstern im Hauptstaatsarchiv Stuttgart“1 werden auf der neuen Plattform „Fragmentarium“2 verwaltet und präsentiert, die darüber hinaus neue und einfache Methoden zum Vergleich von Handschriftenfragmenten erlaubt. Die Verwendung von IIIF (International Image Interoperability Framework) ermöglicht mithilfe des „Mirador“-Viewers einen komfortablen Umgang mit den Digitalisaten. Neben der Darstellung der physischen Abfolge des Fragmentenbefundes || 1 https://uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophische-fakultaet/fachbereiche/altertums-undkunstwissenschaften/mwi/forschung/drittmittelprojekte/erschliessung-mittelalterlicher-musikfragmente-dfg (24.02.2020). 2 https://fragmentarium.ms (24.02.2020). || Stefan Morent, Musikwissenschaftliches Institut, Universität Tübingen, Schulberg 2, D-72070 Tübingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-034

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kann auch eine rekonstruierte inhaltliche Abfolge zusammengehörender Fragmentseiten innerhalb eines aus mehreren Einheiten bestehenden Fragments, aber auch über verschiedene Fragmente hinweg sowie der direkte Vergleich im Browserfenster von Digitalisaten aus verschiedenen online-Repositorien visualisiert werden.3 Da die Digitalisate hierbei nur eingebunden und nicht lokal gespeichert werden, erleichtert dies Probleme mit Rechtefragen beträchtlich. Einen Schritt weiter geht das in Zusammenarbeit mit dem Projekt „e-codices“4 und der Stiftsbibliothek St. Gallen entwickelte Projekt „e-sequence“,5 das zum ersten Mal anhand ausgewählter Sequenzen von Notker Balbulus Methoden der Verbindung von Audio-Einspielungen mit Digitalisaten mittelalterlicher Neumenhandschriften zeigte. Klangbeispiele können dazu dienen, eine der Variantenarten innerhalb der Choralüberlieferung zu verdeutlichen: Nämlich die Varianz zwischen der Notation des Chorals, die z. B. bei der Alteration von Tönen nur eine reine Schreibkonvention dokumentieren kann, und ihrer akustischen Umsetzung. Um die Choralmelodien selbst einer digitalen Untersuchung zugänglich zu machen, müssen sie in computerlesbarer Form codiert werden. Hier hat sich die sogenannte Music Encoding Initiative (MEI)6 seit einigen Jahren zu einem innerhalb der Musikwissenschaft wachsend anerkannten und akzeptierten Codierungsstandard entwickelt. Die modulare Grundstruktur von MEI erlaubt auch die Codierung spezieller Notationsformen. Im Bereich der älteren Musik betrifft dies vor allem die Mensural- und Neumennotation. Hierzu wurden im von der DFG geförderten Forschungsprojekt „TüBingen“ (2007–2009) erstmalig Methoden der Codierung von Neumenschriften mit der XML-basierten Musikrepräsentation MEI sowie der Visualisierung von Variantenüberlieferung und verschiedener Transkriptionsmodi im Browser entwickelt. Hier erscheinen die originalen Neumenzeichen (Neumen auf Linien in der handschriftlichen Überlieferung zu den Gesängen der Hildegard von Bingen) zusätzlich über der „Eierkohlennotation“ in SVG und blau gefärbte Noten zeigen Varianten an, die bei Mouse-over visualisiert werden.7 Das MEI neumes-modules wurde für die seit Ende 2018 aktuelle Version Mei 4.0 inzwischen so erweitert, dass es den Anforderungen verschiedener Neumenfamilien und anderer Notationsformen gerecht wird. Dies betrifft insbesondere die

|| 3 Vgl. hierzu mit Screenshots Stefan MORENT, Zu einigen Aktivitäten der Digital Musicology auf dem Gebiet der älteren Musikgeschichte, in: Die Musikforschung 4 (2018), S. 358–365, hier S. 363. 4 https://www.e-codices.unifr.ch/de (24.02.2020). 5 https://www.e-sequence.eu (24.02.2020). 6 https://music-encoding.org (24.02.2020). 7 http://www.dimused.uni-tuebingen.de/hildegard (24.02.2020).

Digitale Methoden zur Erforschung des Gregorianischen Chorals | 553

Repräsentation adiastematischer Neumen, da das bisherige neumes-module für Neumen auf Linien entwickelt wurde.8 In Hinblick auf die so codierten Choralmelodien können insbesondere in Zusammenarbeit mit der Informatik dort bereits etablierte Algorithmen zur Ähnlichkeitsmessung, Clone-Entdeckung, sowie Variantenmodellierung, -repräsentation, -visualisierung und -analyse von Programmen9 so angepasst werden, dass sie statt auf Programmen auf Noten arbeiten und dadurch Tools und Konzepte zur Entdeckung, Repräsentation, Abfrage, Suche und Analyse von Notentexten, ihrer Varianten und ihrer zeitlichen und geographischen Entwicklung entstehen. So wird es möglich werden, z. B. die Transformation der melodischen Gestalt eines Gesanges in ihrer zeitlichen und räumlichen Dimension – etwa der Verteilung auf verschiedene Ordensniederlassungen – darzustellen und zu verfolgen. Dies ist zwar bereits heute mit Hilfe verschiedener Datenbanken10 und von Digitalisaten zu erreichen, aber immer nur rudimentär mit großen zeitlichen wie geographischen Lücken und einem enormen zeitlichen Aufwand. Ebenso eröffnen sich auf Grundlage der Codierung und der genannten Tools Suchmöglichkeiten nach Choralvarianten für einen cantus firmus (etwa für die Requiem-Vertonungen des 15. und 16. Jahrhunderts) oder nach Choralzitaten in mehrstimmiger Musik.11 Der entscheidende Unterschied zu ähnlichen bereits existierenden Projekten zum Vergleich von Varianten in der Choralüberlieferung, wie z. B. „Antiphonale/Graduale Synopticum“,12 besteht darin, dass nicht wie dort nur mit Grafiken von Notendarstellungen gearbeitet wird, sondern die Melodien selbst in MEI codiert und damit Computeroperationen zugänglich sind. Die Suchfunktionen in der CANTUS-Datenbank erlauben bisher nur die Suche nach genau gleichen Melodien und nicht den Vergleich ganzer Melodien untereinander.13 Um die Grundlage der codierten Choralmelodien in überschaubarere Zeit herzustellen, existieren bisher zwei Ansätze: Die Codierung erfolgt direkt in MEI per Hand oder es wird versucht, durch optische Mustererkennung auf den Digitalisaten der || 8 https://music-encoding.org/schema/4.0.1/mei-Neumes.rng (24.02.2020); vgl. Elsa DE LUCA u. a., Capturing Early Notations in MEI: The Case of Old Hispanic Neumes, in: Musiktheorie 34 (2019), S. 229–245. 9 Christian KÄSTNER, Alexander DREILING u. Klaus OSTERMANN, Variability Mining: Consistent Semiautomatic Detection of Product-Line Features, in: IEEE Transactions on Software Engineering 40 (1) (2014), S. 67–82. 10 Vgl. hierzu z. B. die CANTUS Index-Datenbank: http://cantusindex.org (24.02.2020). 11 Martin JUST, Josquins Chanson „Nymphes, Napées“ als Bearbeitung des Invitatoriums „Circumdederunt me“ und als Grundlage für Kontrafaktur, Zitat und Nachahmung, in: Die Musikforschung 43 (1990), S. 305–335. 12 http://www.omnigreg.at/wiki/doku.php (24.02.2020). 13 Zur geplanten Weiterentwicklung vgl. jetzt Debra LACOSTE, Networking Chant Databases – The Cantus Index, in: Musiktheorie 34 (2019), S. 196–214.

554 | Stefan Morent

Handschriften die Neumen automatisch zu erkennen und in MEI zu codieren, wie es im Projekt „Cantus Ultimus“14 oder dem „Optical Neume Recognition Project“15 erprobt wird. Momentan benötigten diese Tools aber noch eine relativ große Nachbearbeitung per Hand.16 Beschleunigt werden kann die Codierung aber auch durch einen bisher fehlenden graphischen, webbasierten Eingabe-Editor für das MEI neumes-module. Gegenüber der Codierung ganz von Hand kann so mindestens eine entscheidende Beschleunigung der Codierungsgeschwindigkeit erreicht werden. Vom Einsatz solcher digitalen Tools ist zu erwarten, dass die Erforschung der Choralgeschichte in einen neuen Blickwinkel gestellt werden kann, darunter der Paradigmenwechsel von der Suche nach einer wie auch immer gearteten ‚ursprünglichen‘ Fassung eines Gesangs hin zu einer von wertenden Vorstellungen freien Dokumentation seiner prozesshaften Veränderung über Raum und Zeit. An die Stelle einer Vereinheitlichung und Harmonisierung tritt so eine Dokumentation der Vielfalt der Überlieferung.17

|| 14 https://cantus.simssa.ca (24.02.2020). 15 http://www.cs.bham.ac.uk/~aps/research/projects/neumes/neumes.php (24.02.2020). 16 Vgl. Tim EIPERT u. a., Editionsphilologische, informationstechnische und musiktheoretische Aspekte des digitalen Edierens einstimmiger Musik des Mittelalters am Beispiel des CORPUS MONODICUM, in: Musiktheorie 34 (2019), S. 215–228. 17 Vgl. hierzu Stefan MORENT, Das Projekt „eChant“ oder: Wie gefährlich sind musikalische Varianten, in: Kristina RICHTS u. Peter STADLER (Hgg.), „Ei, dem alten Herrn Zoll’ ich Achtung gern“. Festschrift für Joachim Veit zum 60. Geburtstag, München 2016, S. 537–550.

Paul Hoppe, Stefan Morent

Computergestützte Tools zur Codierung des Gregorianischen Chorals Ein neuer Eingabe-Editor für das MEI neumes-module Wie der Titel bereits erkennen lässt, sollen an dieser Stelle computergestützte Möglichkeiten zur Codierung des Gregorianischen Chorals beleuchtet werden, insbesondere ein neu entwickelter Eingabe-Editor für das MEI neumes-module. Ziel bei der Entwicklung dieses Tools war es vor allem, die Eingabe von Neumen im MEI-Format komfortabler zu gestalten und so auch Benutzern den Zugang zu ermöglichen, die mit Code und computergestützten Tools wenig Erfahrung haben und sich nicht erst mit technischen Konventionen und Standards auseinandersetzen wollen. Zudem wurde die Applikation als Webanwendung gestaltet, um langwierige und komplizierte Installationen zu vermeiden sowie den Zugriff für den User so einfach wie möglich zu gestalten. Warum ist der Einsatz von Computern im Zusammenhang mit der musikwissenschaftlichen Analyse von Choralüberlieferung überhaupt sinnvoll? An oberster Stelle steht hier wohl der Zugriff auf die große Zahl an Quellen. Ein Überblick über tausende von Handschriften und Drucken und deren Digitalisate, die den Choral über Raum und Zeit überliefern, ist ohne technische Unterstützung kaum denkbar. Andere potentielle Vorteile bieten sich in der Analyse und dem Vergleich der Quellen selbst. Denkbar wäre, mithilfe passender Algorithmen Korrelationen aufzudecken, die ansonsten übersehen worden wären. Auch statistische Erhebungen wären durch zukünftige Projekte viel leichter realisierbar. Bevor aber über die Bearbeitungsmöglichkeiten mit Computern nachgedacht werden kann, muss zuerst eine Datenstruktur geschaffen werden, die alle wichtigen Informationen sinnvoll speichert und dadurch die maschinelle Bearbeitung ermöglicht. An dieser Stelle kommt XML ins Spiel. XML steht für Extensible Markup Language (= erweiterbare Auszeichnungssprache).1 Die Grundidee von XML besteht darin, Daten hierarchisch strukturiert dazustellen und dabei sowohl von Menschen als auch von Maschinen lesbar zu

|| 1 https://www.w3.org/XML (24.02.2020). || Paul Hoppe, [email protected] || Stefan Morent, Musikwissenschaftliches Institut, Universität Tübingen, Schulberg 2, D-72070 Tübingen, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-035

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sein. Die relevanten Daten werden dabei von sogenannten Tags umfasst, die in einer Art Baumstruktur angeordnet sind. Jeder, der schon einmal eine Website besucht hat, ist bewusst oder unbewusst mit HTML (Hypertext Markup Language) in Berührung gekommen, welches von XML abgeleitet ist. Auch die Benutzeroberflächen von Apps oder anderen Programmen benutzen zum Großteil XML, um Positionen und Relationen der einzelnen angezeigten Elemente zu bestimmen. XML an sich ist sehr generell und kann für Vieles verwendet werden. Um XML für einen bestimmten Zweck zu nutzen, kann es mithilfe von Regeln eingeschränkt werden. Dies bezieht sich vor allem auf Regeln zur Benennung von Tags und darauf, welche anderen Tags und Inhalte von einem Tag eingeschlossen werden dürfen. Diese Regeln werden entweder in einer Document Type Definition (DTD) oder in einem Schema festgelegt. Somit können real existierende Strukturen maschinell modelliert werden. Am einfachsten ist XML anhand eines praktischen Beispiels zu verstehen. Im folgenden Codebeispiel wird ein Buchladen mit den dort erhältlichen Büchern in XML-Form beschrieben: Listing 1: Codebeispiel bookstore

Harry Potter und der Stein der Weisen J.K. Rowling

Dracula Bram Stoker

An diesem Beispiel lässt sich gut die grundsätzliche, baumartige Struktur von XML-Dokumenten erkennen. Die Wurzel, also das übergeordnet zu beschreibende Element, ist der Buchladen, der durch das Tag beschrieben wird. Innerhalb dieses Tags werden einzelne Bücher mit dem Tag beschrieben, die wiederum eigene, sich unterscheidende Elemente einschließen. Eine mögliche Regel für das obige Beispiel wäre zum Beispiel, dass das Element nur Elemente mit der Bezeichnung beinhalten darf. Im Grunde fungiert hier also als Container für einzelne Elemente. In XML können auch musikalische Strukturen und Quellen abgebildet werden. Um Neumen zu kodieren, wurden bereits mehrere bestehende XML-Formate auf ihre Eignung geprüft. Neben MEI standen MusicXML und NeumesXML zur Auswahl, jedoch erfüllte keines der drei Formate die Anforderungen vollständig. Manche

Computergestützte Tools zur Codierung des Gregorianischen Chorals | 557

Formate konnten Neumen kodieren, nicht jedoch den kritischen Bericht, oder umgekehrt. Am Ende fiel die Wahl auf MEI. Bei der Music Encoding Initiative (MEI)2 handelt es sich um eine Communitybasierte Plattform, deren Absicht in der Entwicklung einer maschinenlesbaren Codierung von musikalischen Dokumenten liegt. Die Mitglieder setzen sich aus verschiedensten musikwissenschaftlichen Feldern zusammen, mit dem Bestreben, ein möglichst breit gefächertes Regelwerk für unterschiedliche Musikbereiche zu entwickeln. Daraus ist ein XML-Schema entstanden, dessen Regeln auch für die Kodierung von Neumen genutzt werden konnte. MEI konnte von Beginn an Varianten, Quellenbeschreibungen sowie den kritischen Bericht abbilden. Das einzige, was vorerst fehlte, war die Kodierung von Neumen. Da MEI modular aufgebaut ist, konnte eine eigenes Modul für Neumen innerhalb von MEI entwickelt werden. Das erste MEI neumes-module wurde 2007–2009 an der Universität Tübingen im Rahmen des „TüBingen“-Projektes von Stefan Morent und Gregor Schräder in Zusammenarbeit mit Perry Roland, dem ursprünglichen Entwickler von MEI, entwickelt.3 Mithilfe des Moduls konnten nun auch Neumen auf Linien in MEI kodiert werden: Listing 2: Codierung des Beginns der Antiphon ‚O splendidissima gemma‘ in MEI

O





|| 2 http://music-encoding.org (24.02.2020). 3 Gregor SCHRÄDER, Ein XML-Datenformat zur Repräsentation kritischer Musikeditionen unter besonderer Berücksichtigung von Neumennotation, Tübingen 2007 (Download: http://www. dimused.uni-tuebingen.de/downloads/studienarbeit.pdf (24.02.2020).

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Abb. 1: Hildegard von Bingen (1098–1179): Antiphon ‚O splendidissima gemma‘ (Beginn), Dendermonde, Sint-Pieters-en Paulus-Abdij, [B-DEa] Ms. 9, f. 154.

Der obige Codeabschnitt beschreibt die erste Silbe der Antiphon ‚O splendidissima gemma‘ von Hildegard von Bingen. Dabei wird im -Tag die Silbe O sowie die dazugehörige Neume, ein Porrectus, mit den entsprechenden Tonhöhen gespeichert. Auch Details, wie die Rubrizierung des O in der Originalquelle und die Tatsache, dass es sich um eine Initiale handelt, werden abgebildet. Die direkte Eingabe des MEI-Codes ist für User ohne tiefergehende Computerund Programmierkenntnisse ungewohnt bis abschreckend und generell mühsam und zeitraubend. Deshalb schien ein Tool zur vereinfachten Eingabe wünschenswert und sinnvoll. Es existieren bereits Ansätze, MEI-Files automatisiert zu erstellen, so zum Beispiel das Neon-Projekt,4 das auf der Basis von Handschriften-Scans und deren optischer Erkennung MEI-Code erzeugt. Neon beschränkt sich jedoch auf die Abbildung von Neumen in einem MEI-File und umfasst bisher z. B. nicht den kritischen Bericht. Außerdem können bei automatischer Bilderkennung immer Fehler auftreten, die im Endeffekt doch wieder manuell nachbearbeitet werden müssen.5 Das Tool MerMEId6 unterstützt die Bearbeitung von Metadaten eines MEI-Files, nicht jedoch die Codierung von Neumen. Zur Visualisierung von Neumen verschiedener Schriftfamilien existiert momentan leider kein aktuelles Tool. Der Verovio-Viewer7 hat sich inzwischen zu einem weit verbreiteten Renderer für MEI-Files entwickelt, kann aber momentan noch keine Neumennotationen darstellen. Neon stellt die Neumen nur in Quadratnotation dar.8 Am ehesten in Frage kommt der von Gregor Schräder und Stefan Morent entwickelte MEI

|| 4 http://neon.simssa.ca (24.02.2020). 5 Neon2, http://ddmal.music.mcgill.ca/Neon (24.02.2020), kann auch als graphischer Editor verwendet werden, jedoch nur für die Neumenzeichen, nicht aber für die Textsilben. 6 http://www.kb.dk/en/nb/dcm/projekter/mermeid.html (24.02.2020). 7 http://www.verovio.org/index.xhtml (24.02.2020). 8 Zu dem im Projekt CORPUS MONODICUM entwickelten neuen Editor MonodiPlus vgl. Tim EIPERT u. a., Editionsphilologische, informationstechnische und musiktheoretische Aspekte des digitalen Edierens einstimmiger Musik des Mittelalters am Beispiel des CORPUS MONODICUM, in: Musiktheorie 34 (2019), S. 215–228.

Computergestützte Tools zur Codierung des Gregorianischen Chorals | 559

neumes-Viewer,9 der ein MEI-File parst und es anschließend inklusive Varianten mit originalen Neumenzeichen im Browser darstellt.10 Leider basiert das Tool momentan noch auf einer älteren Version von MEI, das mittlerweile in der Version 4.0 verfügbar ist. Der von Paul Hoppe neu entwickelte Eingabe-Editor ist in diesem Kontext als Allrounder und Einstiegspunkt zu sehen. Es wird ein von Grund auf neues MEI-File erzeugt. Dabei ist die Edition von Metadaten und Quellen möglich, ebenso wie die Eingabe von Neumen. Es gibt eine rudimentäre graphische Darstellung des aktuell bearbeiteten Dokuments, dessen Genauigkeit ausreichend genug ist, um zu erkennen, welche Noten einer Neume in welcher Tonhöhe eingegeben wurden. Die graphische Darstellung ist jedoch nicht so ausgereift wie beim MEI neumes-Viewer. Vielmehr handelt es sich um eine Hilfestellung und Kontrollmöglichkeit. Somit hat der Benutzer die Möglichkeit, eine einfache Eingabemaske im Internet-Browser zu nutzen, ohne sich um spezielle Aspekte des zugrundeliegenden Datenformats kümmern zu müssen. Als Kontrolloptionen dienen der im Eingabefenster entstehende und parallel mitverfolgbare XML-Text sowie die graphische Anzeige:

Abb. 2: Screenshot des Eingabetools.

|| 9 Gregor SCHRÄDER, Webbasierte Visualisierungskonzepte für digital kritische Musikedition am Beispiel von meiNeumes, Diplomarbeit Tübingen 2008. 10 http://www.dimused.uni-tuebingen.de/hildegard (24.02.2020).

560 | Paul Hoppe, Stefan Morent

Am Ende der Eingabe eines Gesangs ergibt sich ein Dokument, das diesen in XML nach Regeln des aktuellen MEI neumes-module 4.0 beschreibt: Listing 3: Codierung des Beginns der Antiphon ‚O splendididissisma gemma‘ in MEI 4.0

O





Dadurch können dieser und weitere Gesänge aus dem Choralrepertoire und anderen monophonen Repertoires des Mittelalters – durch das neue Tool wesentlich beschleunigt – computergestützten Untersuchungen zugeführt werden.11

|| 11 Das Tool ist unter https://github.com/IRadioactiveman/MEITextEditor (24.02.2020) zugänglich.

| Teil 5: Globale Begegnungen

Ingrid Baumgärtner

Von der Reise zur Karte und zurück Kreative Prozesse und kulturelle Praktiken Abstract: This essay concentrates on the creative potential of mapping for the subsequent processing of travels, experiences, and descriptions as well as on the associated cultural techniques, such as copying, imitating, quoting, de-contextualizing, re-contextualizing, and transplantation. It focuses on the transformation from travel to map and from the map back to the space traveled. Based on examples in which travel knowledge and cartographic skills are intertwined, the essay illuminates the wide spectrum of possibilities and creative processes. To this end, the investigation will consider, first, how the traditional worldviews in the minds of travelers resulted from a process of re-contextualizing through copying and citing; second, the paths of cartographic implementation through transformative imitation and imaginative understanding; third, the concrete expectations for mapping in the process of writing political claims to power; and fourth, the dynamics of transplantation into new areas of knowledge that came with the capturing of new worlds around 1500. Keywords: medieval and Renaissance maps, cultural techniques, creative potential of mapping, travel experiences and cartographic skills, new worlds around 1500

Im Roman ‚Karte und Gebiet‘ erfindet Michel HOUELLEBECQ für seinen Protagonisten, den Künstler Jed Martin, eine Ausstellung, deren Titel „Die Karte ist interessanter als das Gebiet“1 die Kategorien Karte und Raum miteinander in Beziehung setzt und gleichzeitig die Frage nach der Relation von Bild und Abbild, von Realität und geschaffener Welt aufwirft. Als interessanter bewertet der Autor das kreativ Gestaltete, in diesem Fall die vom Künstler fotografierte und digital bearbeitete MichelinStraßenkarte. Nur sie spiegele das eigentlich Beachtenswerte, ganz im Gegensatz zum ungeschliffenen, wenngleich technisch komplexen Satellitenfoto, das in seiner Unmittelbarkeit geradezu langweile. Im Wettbewerb beider Medien gewinne, so HOUELLEBECQ, das gezeichnete Geflecht von Symbolen und Bedeutungen, deren relationales Zusammenwirken das Territorium erst zum Leben erwecke. Kartogra-

|| 1 Michel HOUELLEBECQ, Karte und Gebiet, übers. v. Uli WITTMANN, Köln 2011, 2. Aufl. 2015, S. 78 (franz. Originalausg. Paris 2010). || Ingrid Baumgärtner, FB 05 Gesellschaftswissenschaften, Universität Kassel, Nora Platiel-Straße 1, D-34109 Kassel, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-036

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phische Plastizität, so die Folgerung, entstehe also nicht durch eine Nähe zur Realität, sondern aus der Relation der von ihrem Schöpfer gewählten Inhalte zu ihrer Interpretation durch ihren Betrachter. Diese Erkenntnis führt zur Frage nach den kreativen Prozessen in der Kartographie und deren Potentialen. Im Zentrum steht das Verhältnis zwischen den Vorgaben (sei es von Reisenden oder anderen Informierenden) und deren kartographischen Darstellungen, genauer zwischen einfacher Kopie und kreativer Ausdeutung. Denn eine Karte zu erstellen, bedeutet nicht einfach, eine präexistente Wirklichkeit eins zu eins abzubilden, sondern vielmehr eine Kulturtechnik anzuwenden und Spielräume zu eröffnen.2 Mittelalterliche Kartenmacher konzipierten mit Linien und Zeichen einen Raum, von dem sie nur Ausschnitte kannten und immer nur einen Bruchteil sehen konnten.3 Den Rest ergänzten sie aus ihrer Vorstellungskraft: Sie interpretierten Daten und Erkenntnisse, sie passten die jeweiligen Darstellungsformen an individuelle, gesellschaftliche, kulturelle oder wissenschaftliche Erfordernisse an und sie (re)konstruierten Raumgefüge. In einem schöpferischen Prozess verformten sie räumlich dimensionierte Beschreibungen zu kartographischen Bildern. Karten waren und sind dynamisch: Einerseits werden sie selbst erschaffen, immer wieder angepasst, verändert und schließlich in vielfältiger Weise verbreitet und rezipiert; andererseits kreieren sie umgekehrt räumliche Vorstellungen, dadurch Räume und letztlich ‚Realität‘. Komplex war überdies der Weg von der Reise zur Karte, vom Erlebten zur Schaffung des Raumes, vom Sehen und Beschreiben zum Kartieren. Reisende und Kartographen wollten Bekanntes und Neues anschaubar machen – in Worten und Bildern, in Form von Skizzen und Reinzeich-

|| 2 Vgl. John Brian HARLEY u. David WOODWARD (Hgg.), The History of Cartography, Bd. 1–2, Chicago, London 1987–1998; David WOODWARD (Hg.), The History of Cartography, Bd. 3,1–2, Chicago, London 2007; John Brian HARLEY, The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, hrsg. v. Paul LAXTON, Baltimore, London 2001; Ingrid BAUMGÄRTNER, Weltbild und Kartographie, in: Gert MELVILLE u. Martial STAUB (Hgg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Darmstadt 2008, Bd. 1, S. 390–394 u. Bd. 2, S. 443; Ingrid BAUMGÄRTNER u. Stefan SCHRÖDER, Weltbild, Kartographie und geographische Kenntnisse, in: Johannes FRIED u. Ernst-Dieter HEHL (Hgg.), Weltdeutungen und Weltreligionen 600 bis 1500 (WBG-Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert 3), Darmstadt 2010, S. 57–83; Ute SCHNEIDER, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, 4. durchgesehene und aktualisierte Aufl. Darmstadt 2018; Vadim OSWALT, Weltkarten – Weltbilder. Zehn Schlüsseldokumente der Globalgeschichte, Stuttgart 2015; Ingrid BAUMGÄRTNER, Die Welt in Karten. Umbrüche und Kontinuitäten im Mittelalter, in: Uta GOERLITZ u. Meike HENSEL-GROBE (Hgg.), Mediävistik und Schule im Dialog (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 22, Heft 1), Berlin 2017, S. 55–74. 3 Axel GOTTHARD, In der Ferne. Die Wahrnehmung des Raumes in der Vormoderne, Frankfurt a. M. 2007, S. 131–132 bezeichnet die Kleinräumlichkeit der vormodernen Raumwahrnehmung mit dem Begriff der ‚Inselraumstruktur‘ und als „Patchwork qualitativ besonderer Rauminseln, die mit je eigenem Personal ausgestattet und nicht gleichermaßen für jedermann zugänglich“ waren.

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nungen, auf Pergament, Papier, Holz oder Stein. Sie rekurrierten auf das, was sie wussten, erlebten und sahen. Sie wollten dem Darzustellenden gerecht werden und mussten doch dem oft gegensätzlichen Erwartungshorizont des Publikums entgegenkommen. Sie imitierten das Traditionelle und erprobten doch Originelles in einer Typen- und Formenvielfalt, die alle formalen Kategorisierungen von den einfachen TO-Schemata bis hin zu den Welt-, Regional- und Seekarten weit überschritt. Grundlegend für kartographische Transformationen waren verschiedene Kulturtechniken wie Kopieren, Imitieren, Zitieren, De-, Re- und Neu-Kontextualisieren bis hin zur kreativen Schöpfung des Neuen. Alle diese Methoden verweisen auf eine doppelte Prozesshaftigkeit: einerseits von der Reise im Raum zur Karte und andererseits von der Karte zurück zum bereisten Raum. Im Fokus der folgenden Ausführungen stehen deshalb Fragen nach dem schöpferischen Potential des Kartierens in der Weiterverarbeitung des Reisens, Erlebens und Beschreibens. Dementsprechend konzentriert sich der Beitrag auf Beispiele, in denen sich kartographische Fertigkeit und Reisewissen verschränken und bei denen die Zuweisung neuer Bedeutungen und Umdeutungen im Mittelpunkt stehen. Auch wenn wir dabei am Ende im 16. Jahrhundert ankommen, so liegt es mir fern, eindeutige Entwicklungen für das Spätmittelalter suggerieren zu wollen. Es geht vielmehr darum, das große Spektrum an Möglichkeiten zu erkennen und die daraus resultierenden Spannungen produktiv zu nutzen. So widmet sich das Folgende erstens den Weltbildern im Kopf der Reisenden als Ergebnis eines ständigen Kopierens und Re-Kontextualisierens, zweitens der kartographischen Umsetzung des Erlebten im Imitieren und imaginativen Nachvollziehen, drittens den Erwartungen an das Kartieren im Kontext politischer Machtdiskurse und viertens der schöpferischen Neugestaltung bei der Erfassung der bis dahin in Europa unbekannten geographischen Räume um 1500.

1 Weltbilder im Kopf der Reisenden – Kopie und Re-Kontextualisierung Wenn mittelalterliche Reisende den Daheimgebliebenen erklären wollten, wohin sie ausgezogen waren und wie dies mit der Gestalt der Erde korrelierte, lag es nahe, gängige Modelle zu bemühen. Dies wusste auch der Ulmer Dominikaner Felix Fabri (1437/38–1502), der im Jahr 1480 und erneut 1483 in das Heilige Land pilgerte, ehe er seine Erfahrungen in mehreren Berichten niederschrieb. Für ein gelehrtes Publikum konzipiert war sein ,Evagatorium‘, in dem er die irdischen Dimensionen mittels der drei großen, die Welt formenden Meere definierte: „Der Ozean“, so räsoniert er,

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„heißt auch gewaltiges ozeanisches Meer, weil er die Erde kreisförmig umschließt“,4 während Mittelmeer und Schwarzes (oder Pontisches) Meer in diesen Weltenozean eingeschrieben wären. Den Ausgangspunkt solcher Feststellungen bildete die griechische Erfindung des Okeanos samt nachfolgenden Diskursen um die Erdteilgrenzen, die später die Kirchenväter und weitere Autoren mit christlicher Symbolik anreicherten.5 Dieser Weltenozean schuf auch den Rahmen, den der Dominikaner nutzte, um die Wanderung eines Jerusalempilgers von Erdteil zu Erdteil zu konturieren: „Er beginnt nämlich die Seefahrt in Europa und gelangt sowohl über Kreta als auch Rhodos und Zypern nach Asien, dann durchquert er Ägypten, um nach Alexandria zu gelangen, und kommt in Afrika an. Der Nil nämlich trennt Asien von Afrika.“6

|| 4 Félix Fabri, Les Errances de frère Félix, pèlerin en Terre sainte, en Arabie et en Égypte. Édition critique, hrsg. v. Jean MEYERS u. Michel TARAYRE, Bd. 1–6 (Textes litteraires du Moyen Age 25, 26, 31, 32, 40, 41), Paris 2013–2017, hier Bd. 1, S. 354–356: Mare in genere est triplex, scilicet mare magnum, mare maius et mare maximum. Mare magnum est mare Mediterraneum, quod dicitur mare nostrum; mare maius est mare Ponticum; mare maximum est oceanus, quod ambit mundum. […] Oceanus uel oceanum mare maximum, quod exterius per modum circuli ambit orbem terrarum eumque amplectitur. […]. Oceanus ille manat ex orbe, et in ipso est radix eius et principium; finis quoque eius est apud finem illius. Übersetzung ins Deutsche frei nach Margit STOLBERG-VOWINCKEL, in: Quellen zur Geschichte des Reisens im Spätmittelalter, ausgewählt und übers. v. Folker REICHERT unter Mitarbeit v. Margit STOLBERG-VOWINCKEL, Darmstadt 2009, S. 155. Vgl. Fratris Felicis Fabri Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem, hrsg. v. Konrad Dietrich HAßLER, 3 Bde. (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 2–4), Stuttgart 1843–1849, Bd. 1, S. 107; Stefan SCHRÖDER, Zwischen Christentum und Islam. Kulturelle Grenzen in den spätmittelalterlichen Pilgerberichten des Felix Fabri (Orbis medievalis. Vorstellungswelten des Mittelalters 11), Berlin 2009, S. 53–76. Zu Felix Fabri vgl. Folker REICHERT u. Alexander ROSENSTOCK (Hgg.), Die Welt des Frater Felix Fabri (Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Ulm 25), Weißenhorn 2018; Folker REICHERT, Felix Fabri, Marco Polo und die japanischen Inseln, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 75 (2019), S. 615–625; Susanna E. FISCHER, Erzählte Bewegung. Narrationsstrategien und Funktionsweisen lateinischer Pilgertexte (4.–15. Jahrhundert), (Mittellateinische Studien und Texte 52), Leiden, Boston 2019. 5 Vgl. Ingrid BAUMGÄRTNER, Europa in der Kartographie des Mittelalters. Repräsentationen – Grenzen – Paradigmen, in: Ingrid BAUMGÄRTNER u. Hartmut KUGLER (Hgg.), Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte (Orbis mediaevalis 10), Berlin 2008, S. 9–28, hier S. 11–17; Klaus OSCHEMA, Bilder von Europa im Mittelalter (Mittelalterforschungen 43), Ostfildern 2013, S. 88– 96; Christoph MAUNTEL u. a., Mapping Continents, Inhabited Quarters and The Four Seas. Divisions of the World and the Ordering of Spaces in Latin-Christian, Arabic-Islamic and Chinese Cartography in the Twelfth to Sixteenth Centuries. A Critical Survey and Analysis, in: Journal of Transcultural Medieval Studies 5,2 (2018), S. 295–367; Ingrid BAUMGÄRTNER, Winds and Continents: Concepts for Structuring the World and Its Parts, in: Ingrid BAUMGÄRTNER, Nirit Ben-Aryeh DEBBY u. Katrin KOGMAN-APPEL (Hgg.), Maps and Travel in the Middle Ages and the Early Modern Period. Knowledge, Imagination, and Visual Culture (Das Mittelalter. Beihefte 9), Berlin 2019, S. 91–135, hier S. 105–110. 6 MEYERS u. TARAYRE (Anm. 4), Bd. 1, S. 362: In Europa enim nauigare incipit, et in Creta et Rodo et Cypro Asiam tangit, dum uero in Alexandriam Aegypti peruenit, in Affrica erit. Nilus enim diuidit

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Fabris Zeilen, um 1484 in Latein verfasst, greifen das abstrakte TO-Schema mittelalterlicher Weltkarten auf und knüpfen damit an das Vorwissen einer Leserschaft an, in deren Köpfen sich diese Dreiteilung längst festgesetzt hatte. Denn zu größeren Reichweiten hatte dem Modell schon Isidor von Sevilla verholfen, der im 14. Buch seiner ‚Etymologiae‘7 wie auch in seiner gerne gelesenen Naturkunde ,De natura rerum‘8 ein Bild der Erde entwarf, das in Hunderten von Abschriften das ganze Mittelalter hindurch rezipiert und mit passenden Skizzen in TO-Form illustriert wurde.9 In aller Konventionalität bot die Dreiteilung zwischen Asien, Europa und Afrika eine verlässliche Grundlage, um Bewegungen im maritimen Raumgefüge der Ökumene so zu veranschaulichen, dass jeder Rezipient die Aussage sofort verstehen konnte. So scheint sich dieses Modell eines aus Gewässern geformten T im O des Weltenozeans schon bald konkretisiert und autoritativ verfestigt zu haben, so dass unzählige Beschreibungen und Kartierungen dieser Vorgabe folgten.

|| Asiam ab Affrica, in cuius Affricana parte est Alexandria. Vgl. HAßLER (Anm. 4), Bd. 1, S. 110; Übersetzung ins Deutsche von STOLBERG-VOWINCKEL (Anm. 4), S. 159. 7 Vgl. Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive Originum libri XX, hrsg. v. Wallace M. LINDSAY, 2 Bde., Oxford 1911, ND Oxford 1987, XIV, 2.1–3: Orbis a rotunditate circuli dictus, quia sicut rota est; unde brevis etiam rotella orbiculus appellatur. Undique enim Oceanus circumfluens eius in circulo ambit fines. Divisus est autem trifarie: e quibus una pars Asia, altera Europa, tertia Africa nuncupatur. 2 Quas tres partes orbis veteres non aequaliter diviserunt. Nam Asia a meridie per orientem usque ad septentrionem pervenit; Europa vero a septentrione usque ad occidentem; atque inde Africa ab occidente usque ad meridiem. 3 Unde evidenter orbem dimidium duae tenent, Europa et Africa, alium vero dimidium sola Asia; sed ideo istae duae partes factae sunt, quia inter utramque ab Oceano mare Magnum ingreditur, quod eas intersecat. Quapropter si in duas partes orientis et occidentis orbem dividas, Asia erit in una, in altera vero Europa et Africa. 8 Vgl. Isidore de Séville, Traité de la nature, hrsg. v. Jacques FONTAINE, Bordeaux 1960 (Bibliothèque de l’École des Hautes Études hispaniques, fasc. 28), ND 2002, cap. 48, S. 324–327; diese Edition mit französischer Übersetzung folgt München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 14300 (8. Jh.) und zeigt entsprechend zu den späteren Druckausgaben des 15.–18. Jahrhunderts sieben Diagramme in Nachzeichnung, hier ohne TO. Vgl. Isidore of Seville, On the Nature of Things, Translated by Calvin B. KENDALL u. Faith WALLIS, Liverpool 2016, S. 75–76 sowie S. 66–101 zu den Editionen und den überlieferten Handschriften, bei deren Kurzbeschreibung jeweils angegeben ist, welche Diagramme enthalten sind. 9 Patrick GAUTIER DALCHÉ, der seit Jahren an der Erfassung der schematischen TO-Karten vor 1200 arbeitet, bemerkte schon 1994, eine Liste von 400 Handschriften mit solchen Schemata erstellt zu haben; vgl. Patrick GAUTIER DALCHÉ, De la glose à la contemplation. Place et fonction de la carte dans les manuscrits du Haut Moyen Âge, in: Testo e Immagine nell’Alto Medioevo (Settimane di Studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 41), Spoleto 1994, S. 693–771, hier S. 702; auch in: DERS., Géographie et culture. La représentation de l’espace du VIe au XIIe siècle (Variorum Collected Studies Series CS 592), Aldershot 1997, Nr. VIII. Vier Jahre später kannte er bereits 625 Karten in 465 Manuskripten; vgl. Patrick GAUTIER DALCHÉ, ‘Mappae mundi’ antérieurs au XIIIe siècle dans les manuscrits latins de la Bibliothèque Nationale de France, in: Scriptorium 52 (1998), S. 102– 162, hier S. 110. Inzwischen hat sich die Anzahl der bekannten TO-Darstellungen nochmals deutlich erhöht, wobei die versprochene Katalogisierung bald zu erwarten ist.

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Abb. 1: TO-Karte, 9. Jahrhundert; Brüssel, Königliche Bibliothek Belgiens, Ms. 9311-19, fol. 89v.

Dabei erlaubte die pragmatische Umsetzung der Kugelgestalt in eine dreigeteilte Kreisform ganz verschiedene, durchaus einfallsreiche und intentionale Interpretationen:10 Manche Isidor-Kopisten konzentrierten sich, wie in einer Handschrift in Brüssel aus dem 9. Jahrhundert (Abb. 1), auf die schlichte Aufteilung der Welt.11 Andere wie der Zeichner des Manuskripts in Aix-en-Provence aus dem 12. Jahrhundert (Abb. 2) ergänzten geographische Regionen- und Ortsnamen, Kolorierungen

|| 10 GAUTIER DALCHÉ, De la glose (Anm. 9), S. 700–704; Evelyn EDSON, Maps in Context. Isidore, Orosius, and the Medieval Image of the World, in: Richard J. A. TALBERT u. Richard W. UNGER (Hgg.), Cartography in antiquity and the Middle Ages. Fresh perspectives, new methods (Technology and change in history 10), Leiden, Boston 2008, S. 219–236. 11 TO-Karte, 9. Jahrhundert; Brüssel, Königliche Bibliothek Belgiens, Ms. 9311-19, fol. 89v.

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Abb. 2: TO-Karte, Mitte 12. Jh., in Aix-en-Provence, Bibliothèque Méjanes, Ms. 25 (914), fol. 293r.

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Abb. 3: Noachidenkarte, zweite Hälfte 9. Jh.; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 236, S. 89.

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Abb. 4: TO-Erdteil- und V-Noachiden-Karten, frühes 9. Jahrhundert; Rouen, Bibliothèque Municipale, MS 524, fol. 74v.

und Symbole, darunter das in Dreiecksform gestaltete Mündungsgebiet des Don.12 Und Weitere, genannt sei beispielhaft die St. Gallener Handschrift (Abb. 3),13 teilten im biblischen Sinne die Söhne Noahs den Erdteilen zu oder kombinierten, wie im Entwurf von Rouen (Abb. 4), gar die TO-Erdteil-Karte mit einer zusätzlichen V-Noachiden-Karte.14 Alle diese Illustrationen, die den Isidor-Text in einfache Grafiken übersetzten, eigneten sich, um räumliche Ordnungsvorstellungen im Gedächtnis zu verankern, kontemplativ anzuwenden und assoziativ zu ergänzen. Hunderte

|| 12 Vgl. die TO-Karte, Mitte 12. Jahrhundert, in Aix-en-Provence, Bibliothèque Méjanes, Ms. 25 (914), fol. 293r. Ähnlich ist u. a. die TO-Karte, zweite Hälfte 9. Jahrhundert, mit drei Kontinenten und eingeschriebenen Textlegenden in Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Pal. lat. 834, fol. 90v. 13 Noachidenkarte, zweite Hälfte 9. Jahrhundert; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 236, S. 89. 14 TO-Erdteil- und V-Noachiden-Karten, frühes 9. Jahrhundert; Rouen, Bibliothèque Municipale, MS 524, fol. 74v; vgl. Chet VAN DUZER, A Neglected Type Of Medieval Mappamundi and its Re-Imaging in the Mare historiarum (BnF MS Lat. 4915, fol. 26v), in: Viator 43,2 (2012), S. 277–301, hier S. 294 mit Abb.

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überlieferter Exemplare in ungezählten Varianten bekunden,15 dass solche Raumentwürfe beim Kopieren situativ angepasst und – übrigens bis heute – immer wieder neu interpretiert wurden.

Abb. 5: TO-Initiale; Florenz, Biblioteca Laurenziana, Conv. Sopp. 319, fol. 90v.

|| 15 Marcel DESTOMBES (Hg.), Mappaemondes A.D. 1200–1500. Catalogue préparé par la Commission des cartes anciennes de l’Union géographique internationale, Amsterdam 1964 erfasste in seinem vorläufigen, auf die Zeit nach 1200 konzentrierten Katalog insgesamt 283 Weltkarten. Zur Überarbeitung des Katalogs vgl. GAUTIER DALCHÉ, De la glosse (Anm. 9), S. 702; GAUTIER DALCHÉ, ‘Mappae mundi’ (Anm. 9), S. 102–162.

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Denn nicht zuletzt geht das Logo des Mediävistenverbands auf die T-Initiale einer Florentiner Isidorhandschrift des 13. Jahrhunderts zurück (Abb. 5), in der eine Personalisierung der Terra die gerahmte, dreigeteilte Weltscheibe hinter sich erhebt. Der Kopf der bekleideten Figur formt deren Zentrum, der Oberkörper deren Mittelmeer und die materielle Körperlichkeit der Erde fließt harmonisch in das traditionelle Schema ein.16 Weitreichende Umdeutungen haben die Gestalt an neue Bedürfnisse angepasst; das Männchen mit der Weltscheibe steht heute für eine interdisziplinäre, interkulturelle und internationale Ausrichtung der Mediävistik, die unter Bezug auf Isidors enzyklopädische Weltsicht Verbandsmitglieder aus allen Erdteilen umfasst.

Abb. 6: Umzeichnung der Erdteile im TO aus Gottes Perspektive und auf der Herefordkarte mit den invertieren Kontinentbezeichnungen AFFRICA und EUROPA in der unteren Hälfte der geosteten Karte.

Eine völlig andere Rekontextualisierung des TO lässt sich in der Herefordkarte erkennen, deren Kartenschöpfer – wie Marcia KUPFER gezeigt hat – bewusst mit den Konventionen des Kopierens und Nachahmens brachen, um ihr gelehrtes Publikum mit einem speziellen Effekt zu erfreuen.17 Sie invertierten die golden ausgeführten Inschriften AFFRICA und EUROPA in der unteren Hälfte der geosteten Karte (Abb. 6): AFFRICA zieht sich diagonal über das europäische Kartenviertel, EUROPA über das afrikanische. Diese Inversion des TO-Schemas, die in der bisherigen Forschung immer als Fehler eines sorglosen Schreibers interpretiert worden war, fließt zusammen mit Gottes Blick nach Westen, der gleichsam ein Spiegelbild der

|| 16 Florenz, Biblioteca Laurenziana, Conv. Sopp. 319, fol. 90v; vgl. EDSON (Anm. 10), S. 222–223; BAUMGÄRTNER, Welt in Karten (Anm. 2), S. 64–65. 17 Vgl. Marcia KUPFER, Art and Optics in the Hereford Map. An English Mappa Mundi, c. 1300, New Haven 2016, S. 43–49.

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beiden westlichen Landmassen auf die dreigeteilte Ordnung projiziert.18 Das verdrehte, religiös konnotierte TO-Schema war im 12. Jahrhundert entwickelt worden, ehe beide, die komplexe mappa mundi und die geometrische Abstraktion, in der Herefordkarte ineinanderflossen. Ziel sei es gewesen, ein Kunstwerk zu schaffen, das zur Meditation über die Reziprozität menschlichen und göttlichen Denkens wie Handelns anregte, um Gottes Schöpferkraft bestaunen zu können. Ergebnis war eine Neuschöpfung, nämlich eine Repräsentation beider Perspektiven innerhalb einer einzigen Figur: die konventionelle Dreiteilung und Gottes invertierte Sicht auf die Welt.19 Der Ulmer Reisende Felix Fabri dürfte zwar weder die T-Initiale der Florentiner Handschrift noch die raffiniert gespiegelte Anlage der Herefordkarte gekannt haben, aber er wusste um die vielfältigen Möglichkeiten der Terra im Orbis, die er mit weiteren Kartenbildern in Einklang zu bringen hatte. Bei seinem zweiten Venedig-Besuch inspizierte er die etwa 2 x 2 m große, nach Süden ausgerichtete Wandkarte, die Fra Mauro im August 1460 fertiggestellt hatte. Fabri bewunderte, wie er in seinem Bericht vermerkt, vor Ort deren grandiose Schönheit.20 Die Karte bestätigte ihn in seinem Weltbild, dass erstens der Weltenozean den Raum der bekannten Erde konstituiere und zweitens Mittelmeer und Schwarzes Meer die drei recht unterschiedlich großen Erdteile voneinander trennten.21 Vermutlich hat Fabri auch verstanden, dass Fra Mauros Weltsicht in vielen Punkten von seinem eigenen Blick differierte, etwa zur Grenzziehung zwischen den drei Landmassen. Denn Fra Mauro löste die Grenzen auf, indem er die wissenschaftlichen Kontroversen bis zu den moderni rekapitulierte, um festzustellen, dass solche imaginären Linien zwar beliebt, aber seiner Meinung nach non molto necessaria, also absolut nicht nötig, und die Diskussionen dazu materia tediosa, langweiliges

|| 18 Vgl. KUPFER (Anm. 17), S. 135 zum TO-Schema in verschiedenen Kontexten; Wesley M. STEVENS, The figure of the earth in Isidore’s ‘De natura rerum’, in: DERS., Cycles of time and scientific learning in Medieval Europe (Variorum Collected Studies CS 482), Aldershot 1995, Nr. III, S. 268–277, hier S. 274–277 zum Phänomen der spiegelverkehrten Bilder in Texten von Isidor und in der Astronomie. 19 Vgl. KUPFER (Anm. 17), S. 120. 20 Felix Fabri berichtet, sie an einem der letzten Tage seines zweiten Venedig-Aufenthalts gesehen zu haben, als er die Kirche San Cristoforo (della Pace) der weisen Mönche auf einer Insel zwischen der Dogenstadt und Murano besuchte: MEYERS u. TARAYRE (Anm. 4), Bd. 1, S. 350: Est enim inter Venecias et Murianam insula, in qua est ecclesia noua et pulchra sancti Christophori cum monasterio ordinis albi. In illo monasterio est depicta una mappa mundi ualde pulchra. Vgl. HAßLER (Anm. 4), Bd. 1, S. 106. 21 Eine solche Vorstellung von der Ordnung der Welt entsprach nicht antiken und modernen Auffassungen, nach denen das Land die Meere konturierte. Vgl. Christoph MAUNTEL, Vom Ozean umfasst. Gewässer als konstitutives Element mittelalterlicher Weltordnungen, in: Friedrich EDELMAYER u. Gerhard PFEISINGER (Hgg.), Ozeane, Mythen, Interaktionen und Konflikte, Münster 2017, S. 57–74.

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Zeug, seien.22 Fabri festigte hingegen mit seinen Wegbeschreibungen und Anekdoten eher die Idee von erdteilbezogenen Scheidelinien. So betonte er die religiösen und ethnischen Differenzen zwischen Christen und Heiden, zwischen Europäern und Afrikanern. An der schmalen Meerenge zwischen dem heidnischen Königreich Marokko und dem christlichen Spanien stünden beiderseits Waschfrauen, die miteinander in tiefem Streit lägen und ihre Animositäten nicht zügeln könnten,23 so dass sich die Aufteilung der Erde auch inhaltlich erklären lasse.

Abb. 7: Weltkarte nach Ptolemäus, Ulm 1482.

Dergleichen Gedanken zum Eigenwert der damals bekannten Erdteile schlugen sich nicht zuletzt im kartographischen ‚Reframing‘ der Ptolemäus-Rezeption nieder, in || 22 Piero FALCHETTA, Fra Mauro’s World Map, with a Commentary and Translations of the Inscriptions (Terrarum Orbis 5), Turnhout 2006, S. 637. Zum Kontext vgl. u. a. Felicitas SCHMIEDER, Venedig als Umschlagplatz von Weltwissen im Spätmittelalter, sichtbar gemacht auf zwei Mappae Mundi, in: Romedio SCHMITZ-ESSER (Hg.), Venezia nel contesto globale. Venedig im globalen Kontext, Rom 2018, S. 27–43. 23 MEYERS u. TARAYRE (Anm. 4), Bd. 1, S. 362: Stant enim femine lotrices in utraque parte, pagane in Maroth, christiane in Hyspania, et corixantur, et ibi diuiditur Affrica ab Europa. Vgl. HAßLER (Anm. 4), Bd. 1, S. 110; Übersetzung ins Deutsche von STOLBERG-VOWINCKEL (Anm. 4), S. 161.

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deren Verlauf Länder und Kontinente in individueller Farbgebung voneinander abgesetzt wurden. Der Ulmer Druck der Ptolemäus-Weltkarte von 1482 (Abb. 7), den Fabri zwischen seinen Reisen studiert haben muss, visualisiert Afrika in hellem Gelb, Asien im papierfarbenen Cremeweiß und Europa mit England in einem leichten Braun; so konnten auch Randgebiete präzise zugeordnet werden. Eine modifizierte Farbenwahl verwendeten übrigens die Drucker ein Jahrzehnt später für die zeitgenössischen Ausgaben der Schedelschen Weltkarte: Der Kolorator der Wolfenbütteler Ausgabe hat beispielsweise Afrika in Gelb, Asien einschließlich England in Ocker und Europa in Grün erfasst und damit an deren trockene Sandwüsten, rötliche Gesteinsformationen und üppige Vegetationen angeknüpft. Solchen Farbmodellen folgten zahlreiche Karten bis ins 18. Jahrhundert,24 ohne dass dieses Farbsystem bis dahin wirklich standardisiert worden wäre und einen klaren Maßstab für die Einordnung des vierten Kontinents Amerika vorgegeben hätte. Erst die Moderne erfand bei nachträglichen Kolorierungen eine gewisse Einheitlichkeit, indem etwa das Gelb für Asien an die chinesische Hautfarbe erinnern sollte und damit ein Völkerstereotyp wie die ‚gelbe Gefahr‘ ins Gedächtnis rief. Erdteilbezogene Raumkonstruktionen bildeten, so lässt sich resümieren, das ganze Mittelalter hindurch ein Grundschema, das kreativ variiert und ausgestaltet wurde.25 Die Handlungskraft kartographischer Artefakte festigte sich im ständigen Kopieren und Rekontextualisieren. Die Ausgestaltungen wirkten wieder auf den Raum wie auf ihre Schöpfer zurück. Selbst einfache Kopien des TO-Schemas, das fest im Denken von Enzyklopädisten, Reisenden und ihrem Publikum verankert war, blieben nicht unverändert, sondern wurden vielfältig an immer neue Bedürfnisse angepasst. Einprägsame Muster wie das TO boten eine feste Basis, die kreativ zu variieren war. Kreativität machte aus Räumen dynamische Konstrukte, deren individuelle Ausstattung sich konstant im Fluss befand. Diese Prozesshaftigkeit entstand aus situationsbedingten Modifikationen, bedeutungsrelevanten Hinzufügungen, signifikativen Verschiebungen oder individualisierender Farbgebung und verstetigte sich beim Kopieren in jeweils neuen Kontexten. Bei dieser kontinuierlichen Anpassung lässt sich gemäß Bruno LATOURs Statement von den ‚Dingen von Belang‘ eine gewisse Handlungsmacht der Artefakte selbst erkennen,26 die mit der Wirkmacht der Karten und kartographischen Skizzen auf das menschliche Denken nur allgemein zu beschreiben ist.

|| 24 SCHNEIDER (Anm. 2), S. 143–144 mit Abbildungen. 25 Vgl. MAUNTEL u. a. (Anm. 5), S. 295–367; BAUMGÄRTNER, Winds (Anm. 5), S. 104–116. 26 Vgl. Bruno LATOUR, Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, übers. v. Heinz JATHO, Zürich 2007.

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2 Zur Umsetzung des Erlebten – Imitieren und Nachvollziehen Noch kreativer als das Kopieren im Zuge der Rekontextualisierung waren die kartographischen Vorstellungen und Ideen, mit denen die Reisenden zu ihrem Publikum in der Heimat zurückkehrten. Denn die zahlreichen Herausforderung, mit denen sie konfrontiert waren, förderten ihre Kreativität, also die Fähigkeit „dynamisch Neues hervorzubringen“,27 um das abweichende Andere gegenüber dem standardisierten Bekannten, das Fremde im Gegensatz zum Eigenen einzufangen. Dass solche Bemühungen mit einer sinnlich-affektiven Komponente verbunden waren, zeigt

Abb. 8: Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae (Autograph), letztes Viertel 15. Jh.; Ulm, Stadtbibliothek, Hs 19 555-2, fol. 51v.

|| 27 Vgl. Andreas RECKWITZ, Design im Kreativitätsdispositiv (Studienhaft Problemorientiertes Design 6), Hamburg 2018, S. 7–8 mit einer Definition von Kreativität und Anmerkungen zum heutigen Kreativitätskonzept in gesellschaftlicher Disposition.

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sich, wenn wir darauf blicken, wie die reisenden Individuen den eigenen Anschauungen Ausdruck verliehen. Der redegewandte Felix Fabri war nicht gerade der Begabteste unter ihnen, wenn es darum ging, die Eindrücke aus der Fremde auch zeichnerisch zu vermitteln. Das Ulmer Autograph seines ,Evagatorium‘ (Abb. 8) zeigt eine ungelenke handschriftliche Skizze, sicherlich unverwechselbar und damit auch kreativ, die den kleineren Moses- und den größeren Katharinenberg auf dem Sinai zu erfassen und an deren Fuß das Katharinenkloster zu verorten sucht.28 Als Kartierung will man diese Strichzeichnung am Textrand nicht so recht durchgehen lassen. Aber als Zeugnis verbürgte sie Fabris Präsenz am Berg Sion und verlieh dem Text im Sehen und Berühren einen besonderen Grad an Authentizität. Andere Reisende hatten das Heilige Land wahrscheinlich nur in Worten beschrieben und es den Kopisten überlassen, die strukturellen Instruktionen in kartographische Bilder umzusetzen. Besonders gelungen ist dies in der diagrammatischen Neuformulierung zum Heilig-Land-Reisebericht Burchards vom Berg Sion. Burchards Beschreibung erklärt, wie sehr er sich um Verständlichkeit bemühte und darauf bedacht war, die Vorstellungskraft der Leser systematisch zu lenken. Er habe sich überlegt, „einen zentralen Punkt zu definieren und um ihn herum das gesamte Land angemessen anzuordnen.“ Dazu habe er die am Meer gelegene Stadt Akkon ausgewählt. „Von ihr habe ich“, so schreibt er, „vier Linien, den vier Teilen der Welt entsprechend, gezogen und jedes Viertel gedrittelt“, um letztlich jedem der zwölf Himmelswinde eine oder mehrere Stätten aus der heiligen Schrift zuzuordnen, so dass deren Lage und Anordnung leichter zu finden wäre.29

|| 28 Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae (Autograph); Ulm, Stadtbibliothek, Hs. 19 555-2, fol. 51v; letztes Viertel 15. Jh.; vgl. Ingrid BAUMGÄRTNER, Felix Farbis Räume, in: REICHERT u. ROSENSTOCK (Anm. 4), S. 173–200, hier S. 198. 29 Burchard of Mount Sion, OP, Descriptio terrae sanctae, hrsg. u. übers. v. John R. BARTLETT, Oxford 2019, S. 6 (englische Übersetzung auf S. 7): Aduertens autem, quomodo possem hec utiliter decribere, ita ut possent a legentibus imaginatione facili comprehendi, cogitaui centrum aliquod in ea ponere et circa illud totam terram modo debito ordinare. Et ad hoc elegi ciuitatem aconiensem, tanquam plus aliis notam, que tamen non est in medio, sed in occidentali eius fine supra mare sita. Et ab ipsa protraxi quattuor lineas, quattuor mundi partibus respondentes, et quamlibet quartam diuisi in tria, ut responderent duodecim diuisiones iste duodecim ventis celi, et in singulis diuisionibus posui ciuitates et loca in scripturis magis nota, ut singulorum locorum situs et dispositio posset de facili reperiri, ad quam partem mundi esset collocata. Vgl. Burchard de Monte Sion, Descriptio terrae sanctae, in: Peregrinatores medii aevi quatuor, hrsg. v. Johann C. M. LAURENT, Leipzig 1873, S. 11– 94, hier S. 21. Englische Übersetzungen vorher u. a. bei Denys PRINGLE (Hg.), Pilgrimage to Jerusalem and the Holy Land, 1187–1291 (Crusade Texts in Translation 23), Farnham 2012, S. 241–320, hier S. 242–243; Aubrey STEWART, Burchard of Mt. Sion, Description of the Holy Land (Literary of the Palestine Pilgrims’ Text Society), London 1896, ND New York 1971, hier S. 4–5.

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Abb. 9: Winddiagramm, 15. Jahrhundert; München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 569, fol. 186v.

Dieses Kartieren im Geiste, das traditionelle Ordnungssysteme wie die Einteilung nach Erdteilen und Windrichtungen ins Gedächtnis rief, strukturierte ein konkretes

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Territorium. Später folgten Weiterverarbeitungen mit visuellen Schöpfungen, bei denen die Kopisten ihr kreatives Potential verwirklichten.30 Im Münchner Kodex ist diese Übertragung ins Visuelle besonders gut geglückt (Abb. 9):31 Das an der Küste gelegene Akkon, ein Dreieck mit Wehrtürmen und Stadttoren, dominiert die gesamte Konstruktion. Von ihm gehen zwölf nach Winden benannte Sektoren zu Land und Wasser aus. Sieben beschriftete Doppellinien mit Richtungspfeilen überspannen das Land, fünf unbeschriftete das Wasser, dessen Küstenlinie im genordeten Schaubild klar umrissen ist. Die in der Beschriftung angedeutete Drehbarkeit der Figur ist Teil einer Haptik, die dem Bild eine gewisse Selbständigkeit verleiht. Dabei führt die dichotomische Überlagerung von Landsegmenten, Winden und Erdteilen zu einer topologischen Umdeutung und zu einem im Diagramm versinnbildlichten Bedeutungsgewinn, der etwa in den realitätsnahen Seekarten zum Heiligen Land von Pietro Vesconte und seinen Nachfolgern völlig verloren geht. Bei solchen Übertragungen vom Reisebericht in die Karte scheint das Heilige Land keine unwichtige Rolle gespielt zu haben. Grundlegend dafür war, dass sich das Re-Memorieren der Passion in topographischen Räumen vollzog und die Situation in der Fremde zur zeichnerischen Kreativität im Imitieren, Vergleichen und Rekontextualisieren ermutigte. Denn eine zentrale Funktion der Texte war es, den Daheimgebliebenen das imaginative Nachvollziehen der Passion und Pilgerreise zu ermöglichen. Zu diesem Zweck verfasste etwa Hans Tucher der Ältere nicht nur einen eigenen Reisebericht, den er zwischen 1482 und 1486 in verschiedenen Ausgaben publizierte,32 sondern er sandte am 6. August 1479 auch einen Brief und eine kartographische Skizze des Kreuzwegs an seinen Bruder Endres in der Heimat.33 Mit || 30 London, British Library, Add. Ms. 18929, fol. 1r–50v (ca. 1380–1420, Langversion), fol. 51r mit Winddiagramm; Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. Lat. Oct. 293, fol. vor Ir (14–15. Jh., Langversion); München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 569, fol. 184r–210v (15. Jh., Kurzversion), fol. 186v mit Winddiagramm; Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. geogr. 59, S. 10–69 (16. Jh., Langversion), S. 13 mit Winddiagramm. Vgl. BAUMGÄRTNER, Winds (Anm. 5), S. 93–104 mit weiterer Literatur. 31 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 569, fol. 186v. 32 Randall Eugene HERZ, Die „Reise ins gelobte Land“ Hans Tuchers des Älteren (1479–1480). Untersuchungen zur Überlieferung und kritische Edition eines spätmittelalterlichen Reiseberichts (Wissensliteratur im Mittelalter 38), Wiesbaden 2002, hier S. 4–6; Randall Eugene HERZ, Studien zur Drucküberlieferung der „Reise ins gelobte Land“ Hans Tuchers des Älteren. Bestandsaufnahme und historische Auswertung der Inkunabeln unter Berücksichtigung der späteren Drucküberlieferung, Nürnberg 2005; vgl. Erhard PASCHER, Das Reisebuch des Hans Tucher (Armarium 3), Klagenfurt 1978. Zu Hans Tucher, Felix Fabri u. a. vgl. zuletzt Susan B. EDGINGTON, A rough guide to the Holy Land. Pilgrims’ use of the Mount Zion library in the fifteenth century, in: Iris SHAGRIR, Benjamin Z. KEDAR u. Michel BALARD (Hgg.), Communicating the Middle Ages. Essays in Honour of Sophia Menache (Crusades – Subsidia 11), London, New York 2018, S. 157–168. 33 Hans Tucher, Brief vom 6. August 1479, in: Randall Eugene HERZ, Briefe Hans Tuchers d. Ä. aus dem Heiligen Land und andere Aufzeichnungen, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 84 (1997), S. 61–92, hier S. 63–72.

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Brief und Kartierung wollte er seinen Mitbürgern den Stadt- und Sakralraum Jerusalem verdeutlichen, so dass sie an seinen Erfahrungen teilhaben konnten. Hans Tuchers Karte, heute in Paris (Abb. 10),34 von seinem Bruder Endres kopiert und zusammen mit dem Brief in sein persönliches Druckexemplar eingebunden, vermittelt eine komplexe räumliche Vision. Auf den ersten Blick zeigt sie den Kreuzweg vom Palast des Pilatus bis Golgota innerhalb der Struktur der Kardinalrichtungen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von Osten nach Westen. Das lineare Erscheinungsbild wird, wie Christian KIENING herausgearbeitet hat,35 bei näherer Betrachtung vielschichtig und zirkulär, denn erst mit dem Drehen der Seite lassen sich die verschiedenen Inschriften sukzessiv entziffern und interpretieren. Wenn wir mit dem Wort auffgang (Sonnenaufgang) und dem Haus des Pilatus im Osten beginnen und gemäß mittelalterlichem Richtungsdenken dem Weg nach Westen, also nach unten, folgen, stehen die Texte auf der linken Seite auf dem Kopf. Drehen wir das Blatt um 90 Grad, so lassen sich die Texte im Süden besser erkennen. Alle Schreibrichtungen sind so konzipiert, dass wir die weiteren Informationen nur dann erhalten, wenn wir das Blatt immer wieder aus einer anderen Richtung fixieren. Schließlich wird uns klar, dass die Details zu den Orten sowie die Entfernungen und Ereignisse an den betreffenden Wegstationen, die von kleinen Bögen an der Mittellinie gekennzeichnet werden, getrennt voneinander aufgelistet sind und die einander gegenüberliegenden Seiten sich ergänzen. Sie können aber nur miteinander verbunden werden, wenn wir das Blatt ständig in alle vier Richtungen drehen. Die Notwendigkeit dieses Vorgehens wird im Text explizit reflektiert.36 Unsere Wahrnehmung dynamisiert also den Gegenstand; das haptische Suchen am materiellen Objekt stimuliert die Imagination. Denn nur im Geiste lassen sich die diagrammatischen und textuellen Präsentationen von Ereignissen und multiplen Vernetzungen zu einem vertieften Gesamterlebnis der Passion verbinden. Die Karte, die traditionelles Wissen vollkommen neu strukturiert, geht weit über den linearen Charakter des Kreuzwegs hinaus. Der Pilger konnte seinen Rundweg an jeder der zahlreichen Stationen beginnen und der lokalen Topographie folgen, anstatt gleichsam chronologisch die Passion Christi abzuarbeiten. Die originelle Karte und ihre performative Strategie machen die Wechselbeziehungen zwischen

|| 34 [Hans Tucher] Karte des Weges der Kreuztragung Christi, Paris, Bibliothèque Nationale, Rés O2 f. 13 ad 1, fol. 6r. 35 Christian KIENING, Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter, Zürich 2016, S. 304–310; DERS., Mediating the Passion in time and space, in: DERS. u. Martina STERCKEN (Hgg.), Temporality and Mediality in Late Medieval and Early Modern Culture (Cursor Mundi 32), Turnhout 2018, S. 115–146. Vgl. auch FISCHER (Anm. 4), S. 236–264 zur Frage der emotionalen Erfahrung und deren Nacherleben bei Burchardus de Monte Sion. 36 HERZ (Anm. 33), S. 77, Z. 17–18: So man das puch legt in die vier ort, so sicht man eigenlichen, wie […].

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Abb. 10: Endres Tucher nach Vorlage von Hans Tucher, Karte des Weges der Kreuztragung Christi, 1479; Paris, Bibliothèque Nationale, Rés O2 f. 13 ad 1, fol. 6r.

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Stätten und Ereignissen spürbar. Sie erlaubte es zudem, die Heiligen Stätten in den sozialen und intellektuellen Kontext Nürnbergs zu übertragen.37 Denn Hansens Brief an den Bruder und Endres Vorwort translozierten die entfernten Ereignisse in die Heimat: So zählte Hans Tucher gemäß der Karte etwa 1.050 Schritte vom Haus des Pilatus bis zum Ort der Kreuzigung. Sein Bruder Endres übertrug diese Zahl sofort auf die Stationen des Kreuzwegs in Nürnberg, der vom Neuen Tor zum Friedhof St. Johann außerhalb der Stadtmauern führte.38 Beide Darstellungen unterschieden sich deutlich von der typischen Stationenfolge, die die kleinen, für jedermann käuflichen Pilgerführer vorgaben. Auch Hans Tuchers Brief aus Jerusalem lässt mit nahezu jedem Satz die vertraute Umgebung der Heimatstadt aufscheinen, in der St. Sebald der religiöse Hauptbezugspunkt der politischen Elite war: Davon wil ich ein wiennig schreiben ein gleichnuß von Sant Sebolcz kirchen, wiewol der thempel nicht als langk ist, so ist er doch weitter etc. […] Item das thor get in den thempel, als wer es die thur zu Sant Sebolcz kirchen, die do untter unser lieben Frawen thur in die kirchen get. […] Item dornach gingen wir mit der proczessen von derselben stat vor der kapellen gerichcz hinauff, als pei dem sagerer zu Sant Sebolt. Do ist der kerker gewest, […] Item dornoch gingen wir mit der proczessen als zu Sant Sebolt hinauff zu dem sacrament. Do stet ein altar in einem swipogen. […] Item dornoch ginge wir mit der proczessen hinumb als zu Sant Sebolt pei Sant Petterß Altar […] Item dornoch ginge wir aber herab als zu Sant Sebolt pei unsser lieben Frawen thur.39

Über mehrere Seiten hinweg zog Tucher Parallelen zwischen der Heilig-Grab-Kirche und der nahe dem Nürnberger Rathaus gelegenen Ratskirche St. Sebald. Denn Tucher war sich bewusst, dass er seine letzte Ruhestätte in der Ratskirche St. Sebald finden würde. Dies erklärt die Vergleiche der Proportionen und Formen, der Abmessungen und Prozessionswege.40 St. Sebald, Tuchers Meinung nach die größere

|| 37 KIENING, Fülle (Anm. 35), S. 310. Vgl. Gabriela B. CHRISTMANN, Das theoretische Konzept der kommunikativen Raum(re)konstruktion, in: Gabriela B. CHRISTMANN (Hg.), Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Theoretische Konzepte und empirische Analysen (Theorie und Praxis der Diskursforschung), Wiesbaden 2016, S. 89–117, die den kommunikativen Aspekt von Raumkonstruktionen betont. 38 HERZ (Anm. 33), S. 77, Z. 11–14: So weit is hie zu Nurembergk von dem newen thor piß an den goczaker pei sant Johanns. Das hot man abgeschritten und do auff dem goczaker eigenlichen geschriben vor etlichen jaren, und ee mein pruder, der Hans Tucher senior, uber mere fure. In Übersetzung: „So weit ist es hier in Nürnberg vom neuen Tor bis zum Friedhof bei St. Johann. Das hat man abgeschritten und auf dem Friedhof ausdrücklich schriftlich festgehalten, und dies, bevor mein Bruder, Hans Tucher Senior, seine Fahrt ins Heilige Land unternommen hat.“ Vgl. KIENING (Anm. 35), S. 310. 39 HERZ (Anm. 33), S. 66, 68, 69. 40 Zur methodischen Annäherung vgl. Arnold ESCH, Gemeinsames Erlebnis – individueller Bericht. Vier Parallelberichte aus einer Reisegruppe von Jerusalempilgern 1480, in: Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), S. 385–416; veränderter Wiederabdruck in: Arnold ESCH, Zeitalter und Men-

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Kirche, erlaubte es ihm und seinen Mitbürgern, einen imaginären Erinnerungsraum um das heimische Heiligengrab zu schaffen. So sollte es möglich werden, das Passionsgeschehen kollektiv nachzuerleben und individuelle Heilshoffnungen mit politischem Machtstreben zu verbinden. In diesem Sinne war das kreative Kartieren Teil einer Gesamtstrategie. Weder Diagramm noch Tucherplan waren unmittelbare Visualisierungen des Erlebten, sondern entfalteten ihre Kraft in der Haptik des Drehens und Wendens, im Lesen und im Nachahmen. Ihre vielschichtigen Strukturen eröffneten den Rezipienten die Möglichkeit, sich einer tieferen religiösen Wahrnehmung und einem intensiven Nacherleben der einzigartigen Wanderung durch das Heilige Land oder die Heilige Stadt hinzugeben. Das Imitieren und Nachvollziehen kartographischer Vorgaben gipfelte in einem emotionalen Erlebnis. Spezielle kulturelle Techniken der Repräsentation vertieften also die religiösen Dimensionen; sie kreierten sinnliche Reaktionen und schufen eine emotionale Spiritualität, die der sensuellen Erfahrung der Pilgerschaft nahekam. So wie Pilger daran interessiert waren, tragbare bewegliche Objekte zu besitzen und mit sich fortzuführen, entwickelten die Schreiber, Kopisten und Kartographen kreative Instrumente, um die Landschaften gefühlsbetont zu dynamisieren.

3 Erwartungen an das Kartieren – Diskurs und Realität Solche Beispiele sollen nicht verdecken, dass es jenseits des Kartierens von Weltwissen und sakralen Erinnerungsräumen auch andere Kartierungen gab, die unseren heutigen Vorstellungen von Karten vielleicht eher entsprechen. So ist drittens nach dem Prozess der Verschriftlichung kartographischer Informationen im Kontext der Erwartungen an das Kartieren zu fragen. Blicken wir dazu nach Venedig in eine Konstellation, in der die führenden Politiker um ihre Besitzungen fürchteten. Unter dem unmittelbaren Druck, dass die Osmanen vorrückten und bereits Athen und Mistra eingenommen hatten, überlegte der Zehnerrat zu Jahresbeginn 1460, wie die recht unterschiedlichen Teile des venezianischen Herrschaftsgebiets effektiv zu verteidigen wären.41 Aufgrund der || schenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, S. 189–216, hier S. 236–237. 41 Emanuela CASTI, State, Cartography, and Territory in Renaissance Veneto and Lombardy, in: WOODWARD (Anm. 2), Bd. 3,1, S. 874–908, hier S. 878 mit Anm. 11; CASTI ging von der Anwendung des Dekrets auf der Terraferma aus. Pierre MACKAY, The Dieci Call for Maps in 1460, Version vom 11.08.2013, URL: https://digital.lib.washington.edu/researchworks/handle/1773/23893 (14.09.2020), betonte hingegen, dass das Dekret auf die gesamten venezianischen Besitzungen zu übertragen sei.

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Weitläufigkeit der herrschaftlichen Ansprüche waren die in der Lagune sitzenden Ratsmitglieder mit der substantiellen Aufgabe, über die Abwehrstrategien für ihre Städte und Befestigungen in all ihren zersplitterten Territorien entscheiden zu müssen, deutlich überfordert. Vor allem gab es Niemanden, der detailliertere Informationen zur genauen Größe, Begrenzung und Umgebung der einzelnen Besitztümer hätte liefern können. Mit einer Zweidrittelmehrheit (elf dafür und zwei dagegen bei vier Enthaltungen)42 erließ deshalb der seit 1355 als fester Bestandteil der Regierung bestehende Zehnerrat, zu dessen Mitgliedern jenseits der zehn Räte noch der Doge und sechs Berater zählten, am 27. Februar 1460 ein Dekret. Ziel war es, die venezianischen Rettori, die vor Ort eingesetzten regionalen Verwalter, anzuweisen, genaue Karten und Beschreibungen jedes einzelnen Standorts zu erstellen.43 Dieser Beschluss sollte der Gefahr vorbeugen, in entscheidenden Situationen den Auskünften beliebig Unbekannter mit divergierenden Interessen vertrauen zu müssen. So verfügten die Dieci, dass die Staatskanzlei und die Räumlichkeiten des Zehnerrats künftig realitätsnahe Darstellungen aller venezianischen Städte, Länder, Befestigungen, Provinzen und Orte beherbergen sollten, so dass jedem Entscheidungsträger eine entsprechende Grundlage in vera pictura, einem wahrheitsgetreuen Bild, und nicht nur als vage Meinung vorliegen würde. In diesem Sinne erging der Befehl an jede unterstellte Stadt und Region, ein kompetentes Beratungsgremium aus ausgewählten Bürgern, Praktikern und gebildeten Männern regionaler Herkunft zu konstituieren. Sie sollten Informationen über den jeweiligen Distrikt, seine Landschaften und Stätten gemäß den Himmelsrichtungen sammeln, Flussläufe und Ebenen erfassen und die genauen Entfernungen von Ort zu Ort in Nah und Fern bestimmen.44 Gelehrte und Praktiker sollten die

|| 42 Venedig, Archivio di Stato, Consiglio di Dieci, Deliberazioni miste, Registro XV (1454–1459), fol. 197r vom 27. Februar 1459 (=1460): De parte – 11, De non – 2, Nonfinitus – 4. 43 Venedig, Archivio di Stato, Consiglio di Dieci, Deliberazioni miste, Registro XV (1454–1459), fol. 197r vom 27. Februar 1459 (=1460): Cum de civitatibus, castellis et provinciis, que nostro dominio per die gratia subiecte sunt, nemo est de regentibus, qui, quando de illis locis consulitur, sciat dare particularem informationem de situ eorum, de latitudine et longitudine e[orum], de confiniis et que dominia vicina sunt et qui passus, et si informatio petitur ab aliquibus aliquando et semper dissident, quia aut ita putant aut ita vellent. Unde pro omni bono respectu providendum est habere in cancellaria nostra aut camera consilii nostri decem in vera pictura formam et exemplum omnium civitatum, terrarum, castellorum, provinciarum et locorum nostrorum, ut quicumque volens consulere et providere supra predictis habeat veram et particularem noticiam ad iudicium et non ad opinionem alicuius. 44 Venedig, Archivio di Stato, Consiglio di Dieci, Deliberazioni miste, Registro XV (1454–1459), fol. 197r vom 27. Februar 1459 (=1460). Vadit pars quod auctoritate huius consilii scribatur et mandetur omnibus rectoribus civitatum, terrarum et castellorum nostrorum quod habito bono et vero consilio a civibus terre et ab aliis praticis et intelligentibus civitatis aut loci sui designari faciant terram locum et districtum suum per signa ventorum et orientis et ponentis castella, flumina, planiciem et distantiam

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Ergebnisse sorgfältig auf ihre Qualität überprüfen, um nach Beendigung ihrer Arbeiten dieses Bild (illam picturam) den Herrschenden in Venedig zur Verfügung zu stellen. Die Sprache des Dokuments ist besonders aufschlussreich, da sich aus der Amtspflicht zur Geheimhaltung solcher Ratsdokumente eine große Unmittelbarkeit der Argumentation ergab. Die Aufgeregtheit des Zehnerrats, keine belastbaren Informationen zu besitzen, um die anstehenden brisanten Angelegenheiten sachgerecht entscheiden zu können, bricht wiederholt durch die vornehme Zurückhaltung. Die Dieci beschweren sich, dass sie beliebige Personen (aliquibus), die nur vage Meinungen oder Wünsche äußern konnten (aut ita putant aut ita vellent), über Venedigs entfernte Besitzungen befragen müssten. Sie insistieren auf schriftlicher Evidenz (veram et particularem noticiam ad iudicium) statt beliebiger Meinungsbilder (et non ad opinionem alicuius). Sie verlangen nach dem Fachwissen Einheimischer und Erfahrener, anstatt dem Zufallswissen ausgeliefert zu sein. Es sollte eine detaillierte Kartierung nach Maßstab (designatio ordinate depicta) gefertigt und von lokalen Experten (a doctis et praticis) daraufhin geprüft werden, ob tadellos und fehlerfrei gemalt worden sei. Die Dieci wollten endlich verlässliche Daten, um geeignete Maßnahmen beschließen zu können. Die Idee, die Welt bis ins Detail kartographisch zu konfigurieren und die Politik über die vera pictura mit der gesellschaftlichen Realität zu verbinden, ging vor allem aus der aufkeimenden und vehement vertretenen Überzeugung hervor, dass eine sachkundige Territorialverwaltung fundierte Auskünfte über die territorialen Bedingungen voraussetze. In diesem Sinne definierten die Dieci ihre Handlungsmacht in der Zusammenführung von drei Machtebenen, die alle, wenngleich institutionell voreinander geschiedenen, im Kartieren miteinander verbunden wurden: das geographisch-technische Wissen von Experten, die Entscheidungsfindung der legislativen Gewalt im Rat und die Ausführung der Bestimmungen zur Erfassung der Herrschaftsgebiete in der Exekutive.45 Mindestens ebenso bemerkenswert wie diese Verfügung ist ein späterer Hinweis darauf, dass diese Art des Kartierens auch praktiziert worden sein dürfte, zumindest im östlichen Mittelmeer an den gefährdeten Grenzlinien zu den Osmanen. Denn zwanzig Monate nach dem ersten Erlass entschieden die Dieci nahezu einstimmig (14, 0, 3) und höchst zuversichtlich, mit welchem Programm die venezianische Herrschaft in Euböa (Negroponte) zu verteidigen wäre.46 Sie waren fähig, mit größter Präzision vernünftige Empfehlungen auszusprechen. Es kann nicht anders sein, als || de loco ad locum et loca vicina nobis et distantiam eorum et illarum designationem ordinate depictam faciant diligenter a doctis et praticis examinari si bene et recte depicta est. Et hoc facto illam picturam mittere debeant nostro dominio. 45 CASTI (Anm. 41), S. 878. 46 Venedig, Archivio di Stato, Consiglio di Dieci, Deliberazioni miste, Registro XVI (von 1460 an) vom Oktober 1461. Vgl. MACKAY (Anm. 41).

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dass sie dafür eine hervorragende kartographische Darstellung von der Hauptstadt der Insel und deren Umgebung besaßen, auch wenn wir nicht genau wissen, ob diese Karte damals nicht schon längst existierte und gar nicht erst auf das Dekret von 1460 hin produziert wurde. Beschreiben und Kartieren vor Ort galten wohl nicht nur den Dieci als sichere Methoden, um eigene geographische Vorstellungen zu überprüfen, territoriale Ressourcen auszuschöpfen und Herrschaftswissen umzusetzen. Aber für den Zehnerrat wurden die Besitzungen erst auf diese Weise fassbar, sichtbar und damit regierbar. Für die Dieci ersetzte und schuf die Karte lokale Realität. In dieser Hinsicht hatte die schöpferische Kraft des Kartierens also weitreichende politische, militärische und ökonomische Auswirkungen.

4 Erfassung und Erschaffung neuer Welten Ob das, was für das weitgehend bekannte und systematisch beherrschte Mittelmeer funktioniert haben mag, auch auf die Meere und Territorien der Neuen Welt zu übertragen war, sollen zuletzt noch einige Beispiele veranschaulichen, die als Ikonen auf dem Weg zu einer angeblich modernen Kartographie zu gelten haben. Denn bedeutete das, was uns heute ‚modern‘ erscheint, auch kreativ? Zu verbinden ist dieser Blick in neue Welten deshalb mit der Frage nach der schöpferischen Kraft und dem innovativen Potential der aus der Erfassung eines bis dahin unbekannten Kontinents entstehenden kartographischen Artefakte. Im Jahre 1494, nur wenige Jahrzehnte nach dem Beschluss der Dieci und der Fertigstellung der Fra Mauro-Karte, beschlossen Spanier und Portugiesen im Vertrag von Tordesillas, die Welt untereinander aufzuteilen.47 Auch wenn die Verhandlungspartner die räumlichen Dimensionen nicht viel besser als Felix Fabri, Fra Mauro und die venezianischen Ratsherren verstehen konnten, legten sie eine Demarkationslinie fest, die mitten durch den Atlantik von Nord nach Süd verlaufen sollte, und zwar 370 spanische Meilen (gut 1800 Kilometer) westlich der Kapverdischen Inseln. Östlich davon sollte alles den Portugiesen, alles Westliche den spanischen Königen gehören. Es war eine Teilung, die bis heute nachwirkt, obwohl die Beteiligten ihr Handeln nur bedingt einschätzen konnten und schon gar nicht die technischen Möglichkeiten besaßen, um solche Distanzen im offenen Meer zu vermessen. Absurd erscheint uns heute der ehrgeizige Plan, innerhalb von zehn

|| 47 Ute SCHNEIDER, Tordesillas 1494 – Der Beginn der globalen Weltsicht, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 54 (2003), S. 39–62; Ingrid BAUMGÄRTNER, Neue Karten für die Neue Welt? Kartographische Praktiken der Exploration, in: Raimund SCHULZ (Hg.), Maritime Entdeckung und Expansion. Kontinuitäten, Parallelen und Brüche von der Antike bis in die Neuzeit (Historische Zeitschrift. Beihefte N.F. 77), Berlin, Boston 2019, S. 243–268, hier S. 254–257.

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Monaten eine gemeinsame Flotte von jeweils gleicher Stärke aussenden und eine feste Markierung ‚in situ‘ von der Arktis zur Antarktis ziehen zu wollen. Denn die Aufgabe, den Längengrad zu bestimmen, war technisch zu komplex und sollte erst 250 Jahre später gelöst werden.

Abb. 11: Juan de la Cosa, Portulankarte, um 1510; Madrid, Museo naval, Inventarnr. 257.

Da die Grenzziehung in einem nahezu unbekannten Raum also nicht zu realisieren war und die Expertenkommission, die für die Markierungen vor Ort vorgesehen gewesen wäre, die Reise nie antrat, gewann die topographische Repräsentation auf Karten und Globen an Bedeutung. Auf spanischer Seite soll sich Juan de la Cosa (gest. 1510), ein Lotse und Begleiter von Kolumbus, um 1500 daran versucht haben, die theoretisch vereinbarte Linie erstmals zu konkretisieren (Abb. 11).48 Erhalten ist allerdings nur eine mutmaßlich vor 1510 in Form eines Portulans erstellte Kopie, deren Authentizität aufgrund ihrer späten Auffindung 1832 in einem Pariser Antiquariat immer wieder angezweifelt wurde. Sie wäre aber die einzige Hinterlassenschaft, um die gerne wiederholte Behauptung zu unterfüttern, Kolumbus und sein

|| 48 Juan de la Cosa, Portulankarte, um 1510; Madrid, Museo naval, Nr. 257; Abb. u. a. bei SCHNEIDER (Anm. 2), S. 94–95; Catherine HOFMANN, Héléne RICHARD u. Emmanuelle VAGNON (Hgg.), L᾿âge d᾿or des cartes marines. Quand l’Europe découvrait le monde, Paris 2012, S. 114–115; Pauline Moffitt WATTS, The European Religious Worldview and Its Influence on Mapping, in: WOODWARD (Anm. 2.), Bd. 3,1, S. 382–400, bes. S. 386–387 und Abb. 30.9. Vgl. Felipe FERNÁNDEZ-ARMESTO, Maps and Exploration in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: WOODWARD (Anm. 2), Bd. 3,1, S. 738– 759, hier S. 748–749; Jeffrey JAYNES, Christianity Experience on Medieval Mappaemundi and Early Modern World Maps (Wolfenbütteler Forschungen 149), Wiesbaden 2018, S. 269–272, bes. S. 269.

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Umfeld hätten Kartierungen nicht nur benutzt, sondern selbst angefertigt. Der Kartograph spanischer Herkunft (oder Verbundenheit) bildete die Welt jedenfalls so ab, dass der neue Kontinent im Westen nahezu ausschließlich seinen königlichen Hoheiten gehörte und der Schutzherrschaft des für die Seefahrt zuständigen Heiligen Christophorus unterstand. Dabei verwies die figürliche Abbildung im Zentrum Amerikas am Übergang vom Nord- zum Südkontinent auch auf dessen Entdecker Christoph Kolumbus und die königliche Macht hinter ihm. Besser hätte also die spanische Dominanz kaum inszeniert werden können, zumal Portugal nur winzige Zipfel an den äußersten Enden des Kontinents abbekam.

Abb. 12: Cantino-Planisphäre, 1502; Modena, Biblioteca Estense Universitaria, C.G.A.2.

Eine portugiesische Interpretation zeigt sich in der sog. Cantino-Planisphäre (Abb. 12), die 1502, als sie hergestellt wurde, den afrikanischen Küstenverlauf beeindruckend exakt verzeichnete.49 Auch sie, wiederum eine Kopie, aber als ein nach Italien transportiertes Raubgut zeitnah dokumentiert, reproduziert bereits die Neue Welt und öffnet den Pazifik zum Indischen Ozean. Ihr unbekannter Zeichner schlug jedoch Brasilien, in dessen Osten sein Landsmann Pedro Álvares Cabral zwei Jahre zuvor gelandet war, als eine Art Insel, die er mit exotischen Bäumen, bunten Papageien und einen langen Texteintrag prächtig ausgestaltete, der portugiesischen Sphäre zu. Diese Maßnahme hatte große Auswirkungen. Die Demarkationslinie verschob sich ein ganzes Stück nach Westen, so dass das portugiesische Territorium auf ein Mehrfaches vergrößert wurde.

|| 49 Cantino-Planisphäre, 1502; Modena, Biblioteca Estense Universitaria, C.G.A.2; Abb. u. a. bei SCHNEIDER (Anm. 2), S. 98–99; SCHNEIDER (Anm. 47), S. 56–59; HOFMANN, RICHARD u. VAGNON (Anm. 48), S. 132–133. Vgl. BAUMGÄRTNER (Anm. 47), S. 255 mit weiterer Literatur.

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Parteigänger beider Seiten hatten also die Vereinbarungen über die jeweils beanspruchten Herrschaftsgebiete kartographisch umgesetzt und waren dabei zu recht unterschiedlichen Interpretationen gelangt. Eine gemeinsame Expertenkommission sollte Abhilfe schaffen. Ihre Mitglieder begannen, die antiken Quellen sorgfältig zu studieren und deren Aussagen miteinander zu vergleichen. Aber sie schafften es nicht, beide Partien mit einem einzigen Bild zufriedenzustellen. Denn beide Länder beriefen sich auf unterschiedliche Traditionen, vor allem auf voneinander abweichende Berechnungen des Erdumfangs, auf differierende Projektionsformen und divergierende Positionierungen (Kapverdische Inseln). Spannend für unsere Fragestellung ist jedoch das Vorgehen bei den Bemühungen um kartographische Realität. Denn wiederum agierten Praktiker, Gelehrte und Politiker, aber die Konkurrenz bei der Vermessung des Raums verstärkte die Notwendigkeit, neue intersubjektive Methoden zu verlangen. Dabei prallten konträre Vorstellungen vom ‚richtigen‘ geographischen Wissen unter dem Diktat politischer Interessen aufeinander: empirische Praxis gegen gelehrte Wissenschaft, Seeleute gegen Kosmographen, Mündlichkeit gegen Schriftlichkeit, partikulares Wissen gegen den Wunsch nach Generalisierbarkeit. Es ging also darum, welche Relevanz der maritimen Praxis in Relation zur topographischen Weltrepräsentation beizumessen wäre, um das gemeinsame politische Ziel unter Wahrung des eigenen Vorteils zu erreichen. Unabhängig vom Grenzstreit waren die frühen Karten von de la Cosa und Cantino so angelegt, dass sie die brennende Frage, ob die neu entdeckten Inseln und Territorien zu Asien gehörten oder nicht, geschickt umgingen. Erst die Weltumrundung Magellans und seiner Seeleute (1519–1522) führte zu einer gänzlich neuen Definition des Raumes.50 So war die seit griechischer Zeit bekannte Kugelgestalt der Erde erstmals konkret erlebt worden, denn die Entdeckung der Westpassage bewies, dass die beiden Hemisphären grundsätzlich miteinander verbunden waren. Die politische Tragweite dieser Erkenntnisse war enorm:51 Sie veranlasste Spanier und Portugiesen, ihre Kontroversen um die Aufteilung der Welt auch jenseits des Atlantiks entlang der Philippinen und Molukken, der sog. ‚Gewürzinseln‘, auszutragen. Der Streit um die molukkischen Handelsrechte entfachte intensive Kontroversen um die Abgrenzung der zwei Hälften einer Erde, deren Globusgestalt empirisch bestätigt worden war.

|| 50 Cristoforo Colombo e l’apertura degli spazi: Mostra storico-cartografica, 2 Bde., Rom 1992; Davide SCRUZZI, Eine Stadt denkt sich die Welt. Wahrnehmung geographischer Räume und Globalisierung in Venedig von 1490 bis um 1600, Berlin 2010, S. 116–117. 51 Arndt BRENDECKE, Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 110–119 zur Politisierung des Raumes; Jörg DÜNNE, Der verschwundene Tag. Weltreisen und die Datumsgrenze seit der Frühen Neuzeit, in: Achim LANDWEHR (Hg.), Grenzerfahrungen (Studia Humaniora 48), Düsseldorf 2015, S. 75–97.

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Bis 1529, also 35 Jahre lang, blieb es, was die gemeinsame Darstellung betraf, bei der textuellen Beschreibung. Zuletzt fand sich eine Lösung auf praktischem Weg, als der immer finanzbedürftige Kaiser Karl V. seine angeblichen Handelsrechte im Vertrag von Saragossa (1529) in einem genialen Streich zu einem Höchstpreis an Portugal, den wohl rechtmäßigen Besitzer, verpfändete.52 Erst danach konnte eine Linie, auf die man sich aus politischen, nicht aus kartographischen Gründen einigte, bildlich fixiert werden. Der spanische Hegemonialanspruch drückte sich fortan dadurch aus, dass die vorgesehene Demarkationslinie auf einer spanisch autorisierten Seekarte eingezeichnet und in doppelter kartographischer Ausfertigung von beiden Herrschern anerkannt wurde. Geschaffen war damit eine Musterkarte für die Zukunft, eine gemeinsame Praxis von Realität und ein „verbindliches Referenzsystem“,53 wenngleich keine konsensuale oder realitätsgetreue Repräsentation geographischen Wissens. Die mentalen Karten der Seefahrer waren schematisch; ihre Reisewege über die großen Meere folgten den Winden. Wichtig waren die Küstenlinien, weniger die exakten Entfernungen. Amerika-Reisende selbst haben deshalb solche Erfahrungen nur zögerlich kartiert. Die einzige Kolumbus zugeschriebene Karte ist längst als Fälschung überführt. Und ob sein auf zwei Fahrten mitreisender Bruder Bartolomeo bei den drei Kartenskizzen von Alessandro Zorzi mitgewirkt hat,54 ist nicht eindeutig geklärt. Asien und Europa liegen hier einander gegenüber; nur wenige Längengrade trennen die Kanaren und Azoren von den Antillen, die Kolumbus bei seinen ersten beiden Fahrten erkundet hatte. Das ihnen gegenüber zwischen Asien und Europa liegende Festland ist als mundo novo bezeichnet, deren verlängerte Küstenlinie westlich in den asiatischen Kontinent überleitet. Die Skizze belegt, wie schwer es den Reisenden fiel, die Neuentdeckungen zu kartieren. In die zeitgenössischen Karten floss diese Sicht des Entdeckers ohnehin nur vereinzelt ein. Denn die größte Breitenwirkung erfuhr solches Wissen über professionelle Kartenmacher, die sich angesichts der unbekannten Räume eher an festen Vorgaben orientierten als sich kreativ entfalten zu wollen. Mit derartig normierten Seekarten

|| 52 Wolfgang REINHARD, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016, S. 139 zum Vertrag von Saragossa. 53 SCHNEIDER (Anm. 47), S. 61. 54 Folker REICHERT, Columbus und Marco Polo – Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), S. 1–63, hier S. 39 u. 50; DERS., Die Erfindung Amerikas durch die Kartographie, in: Archiv für Kulturgeschichte 78 (1996), S. 115– 143, hier S. 122; auch in: DERS., Asien und Europa im Mittelalter. Studien zur Geschichte des Reisens, Göttingen 2014, S. 447–476, hier S. 452–452; FERNÁNDEZ-ARMESTO (Anm. 48), S. 748.

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Abb. 13: Battista Agnese, Pazifischer Ozean von den Molukken bis nach Amerika mit der Halbinsel Kalifornien und den Neuentdeckungen an der Ostküste Nordamerikas; Kassel, Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, 4° Ms. Hist. 6, fol. 6v–7r.

eroberte beispielsweise der Venezianer Battista Agnese die führenden Höfe Europas.55 Seine Werkstatt schuf in den Jahren 1534/35 bis 1564 mehr als 70 handgemalte Portulan-Atlanten und etliche Einzelkarten, die zeigen, wie sich Erkenntnisinteresse und Veranschaulichungsformen wandelten und wie empirisch-vermessungstechnische Erfahrungen die astronomisch-kosmographischen Ansätze erweiterten. Für die neue Welt folgte Agnese den Entwürfen von Diogo Ribeiro (gest. 1533), Mitarbeiter

|| 55 Vgl. u. a. Angelo CATTANEO, L’Atlante nautico di Battista Agnese. Descrizione codicologica e analisi storico-cartografica, in: Battista Agnese. Atlante nautico. Codice conservato presso la Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze con la segnatura Banco Rari 32. Saggi e commenti, Rom 2008, S. 139–161; Ingrid BAUMGÄRTNER, Battista Agnese e l’atlante di Kassel. La cartografia del mondo nel Cinquecento, in: Ingrid BAUMGÄRTNER u. Piero FALCHETTA (Hgg.), Venezia e la nuova Oikoumene. Cartografia del Quattrocento / Venedig und die neue Oikoumene. Kartographie im 15. Jahrhundert (Venetiana 17), Rom, Venedig 2016, S. 245–270; Der Portulan-Atlas des Battista Agnese. Das Kasseler Prachtexemplar von 1542, hrsg., eingeleitet und kommentiert v. Ingrid BAUMGÄRTNER, Darmstadt 2017; Ingrid BAUMGÄRTNER, Atlas Heinrichs VIII. Battista Agnese. Barb. Lat. 4357. Kommentarband zur Faksimile-Edition der Handschrift aus der Biblioteca Apostolica Vaticana, Vatikanstadt, Stuttgart 2020 mit weiterer Literatur.

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von Hernando Colón in der Casa de la Contratación in Sevilla,56 dessen Kartierungsarbeiten für Kaiser Karl V. und Magellan größtes Aufsehen erregt hatten. Solche Kartographen schufen gleichsam neue Welten aus dem Nichts. Sie kartierten den Pazifischen Ozean von den Molukken bis Amerika (Abb. 13) und erfassten die großen Neuerungen. Beispielweise veranschaulichte Battista Agnese recht früh die Halbinsel Niederkalifornien, die der Steuermann Francisco de Ulloa 1539 entdeckt hatte, als er im Auftrag von Hernán Cortés die Küste in Richtung Norden erkunden wollte. Gleichzeitig konkretisierte er die weit nach oben gezogene Ostküste Nordamerikas, an der entlang Estevam Gomez 1524 die Nordpassage zum Orient gesucht hatte.57 Die Kartenbilder zeigen also eine kontinuierliche Anpassung an die zur Verfügung stehenden Wissensbestände. Die zügige Rezeption und kopierende Verarbeitung solcher Informationen zeigt, wie aufmerksam marktorientierte Kartenmacher den aktuellen Kenntnisstand verfolgten und wie unverkennbar sie sich den neuen Paradigmen unterwarfen. Die Fragmentierung der Küstenverläufe zeigt jedoch auch die Grenzen des empirischen Wissens. Bei Battista Agnese setzt sich die Fragmentierung Nordamerikas auch an der Ostküste fort. Dort war Estevam Gomez nur bis zur Höhe von Cap Race (44° Nord) gekommen, ehe er feststellte, dass das Land nicht enden wollte, und er sich zu einer Umkehr entschließen musste. Der Wendepunkt lag realiter noch viel weiter im Süden, als dies Ribeiro und in dessen Folge Agnese in ihren Küstenlinienkarten vermerkten. Für die Neue Welt lässt sich also beobachten, dass die kartographischen Schöpfungen, sobald sie anerkannt waren, wieder in Kopien übergingen. Gerade solche Kopien vermittelten vermeintliche Sicherheit in einer geographischen Umbruchszeit und halfen bei der Kontingenzbewältigung. In der Forschung wurden sie lange Zeit nur deshalb als kreativ wahrgenommen, weil sie neue Räume verzeichneten und politische Ansprüche dokumentierten. Das geeignete Medium war die Gattung der Seekarten, die Realität erschuf, ohne sie wirklich abzubilden. Nicht zuletzt etablier|| 56 BRENDECKE (Anm. 51), S. 119–122 zur Casa de la Contratación. Zur Entwicklung der zeitgenössischen italienischen Kartographie vgl. Marica MILANESI, La cartografia italiana nel Medio Evo e nel Rinascimento, in: La cartografia italiana. Circle de conferéncies sobre historia de la cartografia. Tercer curs, Barcelona 1993, S. 15–80. Zu Diogo Ribeiro vgl. Armando ZUZARTE CORTESÃO, Diogo Ribeiro, in: Cartografia e Cartografos portugueses dos seculos XV e XVI, Lissabon 1935, S. 130–167; L. A. VIGNERAS, The Cartographer Diogo Ribeiro, in: Imago Mundi 16 (1962), S. 76–83; Surekha DAVIES, The Navigational Iconography of Diogo Ribeiro’s 1529 Vatican Planisphere, in: Imago Mundi 55 (2003), S. 103–112; Jerry BROTTON, A History of the World in Twelve Maps, London u. a. 2012, S. 186–217, hier S. 212–214; Ingrid BAUMGÄRTNER, Dynamiken in der Kartographie um 1500, in: Bernd HAMM, Frank REXROTH u. Christine WULF (Hgg.), Reichweiten. Dynamiken und Grenzen kultureller Transferprozesse in Europa, 1400–1520, Bd. 2 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neue Folge, Bd. 49,2), Berlin, Boston 2021 (im Druck). 57 Pierluigi PORTINARO u. Franco KNIRSCH, The Cartography of North America, 1500–1800, New York 1987.

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te die Kartenbeilage zum Vertrag von Saragossa ein Referenzsystem, in das alle weiteren Territorien künftig zu integrieren waren. Modern bedeutete hier nicht progressiv oder kreativ, sondern eher normiert, intersubjektiv und angepasst.

5 Ein kurzes Fazit Das schöpferische Potential des Kartierens in der Weiterverarbeitung des Reisens, Erlebens und Beschreibens war eng mit Kulturtechniken wie Kopieren, Imitieren, Zitieren, De-, Re- und Neu-Kontextualisieren verbunden. Im Fokus der Ausführungen standen die Transformationen von der Reise zur Karte und von der Karte zurück zum bereisten Raum. Anhand von Beispielen, in denen sich Reisewissen und kartographische Fertigkeiten verschränken, ging es darum, das große Spektrum an Möglichkeiten auszuleuchten und die kreativen Prozesse zu fassen. Dazu wurden vier Themenbereiche angerissen: erstens die traditionellen Weltbilder und Figuren im Kopf der Reisenden als Ergebnis einer Rekontextualisierung beim Kopieren und Zitieren, zweitens die Wege kartographischer Umsetzung im transformierenden Imitieren und imaginativen Nachvollziehen, drittens die konkreten Erwartungen an das Kartieren im Prozess der Verschriftlichung politischer Herrschaftsansprüche und viertens die Dynamiken der Neukontextualisierung unterschiedlicher Wissensräume bei der Erfassung neuer Welten um 1500. Dabei lässt sich resümieren, dass Karten eine hybride Gattung bildeten, deren Bestandteile kopiert, imitiert, kreativ modifiziert und rekontextualisiert wurden. Gerade Abweichungen, Unstimmigkeiten und Alteritäten stimulierten Reisende und Kartographen dazu, neue visuelle Wege zu suchen und zu kreativen Schöpfungen zu gelangen. Was war kopierende Nachahmung, was bereits kreative Schöpfung? Die Prozesse der Kreativität lassen sich nur von den Berichten, Skizzen und Karten her rekonstruieren; für das Kreative selbst hatten die Kartographen keinen Begriff. Trotzdem war Kartieren ein enorm kreativer Prozess, bei dem Kopieren und Neukontextualisieren zu Umsemantisierungen und individuellen Lösungen führten. Es entstanden Karten, in denen die Persistenz des Vorgegebenen und die schöpferische Kraft der Neukonstituierung zu neuen Interpretationen und kreativen Weiterentwicklungen führten. Die Fähigkeit, Neues zu erschaffen, wuchs mit den Möglichkeiten, die neuen Erfahrungen in einem Referenzsystem zu verorten, wohingegen die Kreativität sogar eher gehemmt wurde, wenn völlig neue Erfahrungen das Bewährte in Frage stellten. Gerade die Erfassung der Neuen Welt zeigt, wie eindimensional in solchen Fällen die Paradigmen der Kreativität angewendet wurden.

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Abb. 14: Erschaffung der Welt durch Gottes Hand, Hartmann Schedel, Weltchronik, 1493, fol. IVr.

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Zu erinnern ist nochmals an die Plastizität der Michelin-Straßenkarte: Reisende wie Kartographen schufen mehr oder weniger dicht gedrängte (Re)Konstruktionen territorialer Ordnungen, die nicht nur vorhandene Raumkonfigurationen widergaben, sondern relational bestimmte Räume generier(t)en und dadurch „(räumlich definierte) Realität“58 schufen. Dabei ist man fast dazu verleitet, die Kreativität der Reisenden und Kartographen als eine Nachahmung des göttlichen Schaffens zu sehen, das Hartmann Schedel so wunderbar ins Bild gesetzt hat (Abb. 14), als er in seiner Weltchronik von 1493 die Erschaffung der Welt durch Gottes Hand inszenierte.59 Sicherlich konnte die Hand des Geo- und Kartographen keinen ebenbürtigen Status erreichen, aber sie versinnbildlicht den schöpferischen Akt des Kartierens in handlungsorientierter Perspektive. Vielleicht könnte man sagen: Gott schuf die Welt, die Kartographen kreierten und modifizierten den Raum.

|| 58 Tanja MICHALSKY, Karten schaffen Räume. Kartographie als Medium der Wissens- und Informationsorganisation, in: Ute SCHNEIDER u. Stefan BRAKENSIEK (Hgg.), Gerhard Mercator. Wissenschaft und Wissenstransfer, Darmstadt 2015, S. 15–38, hier S. 38. 59 Hartmann Schedel, Weltchronik, 1493, fol. IIv–IVv. Ich bedanke mich bei Dr. Anne Bloemacher, Kunstgeschichte an der Universität Münster, für die anregenden Gespräche und den Hinweis auf Gottes Hand.

Paul Martin Langner

Geographische Kataloge als narrative Strukturen historischen Erzählens im Spätmittelalter Dargestellt am Beispiel Peter Suchenwirts Abstract: This paper discusses narrative features in Late Middle Ages texts. In general, Geographic Catalogues are in focus of the argumentation. As a special form of repetition Geographic Catalogues have a double relevance in formal aspects and also with regard to the content, this structure is a narrative feature. With Geographic Catalogues it is able to describe the sphere of influence of the ruling noble class. This paper proofs, if the form of enumeration in Geographic Catalogues are useful to differentiate genres. Additionally, the heraldic poems of Peter Suchenwirt, as an example of Geographic Catalogues are proved for a continuation of positive images of Polish nobles in the literature of High Middle Ages to the Late Middle Ages. It shows an unified discourse of assessments in Literature for medieval nobility. The question of assessments with a view to Polish nobles and knights, who appear on the one hand as literary figures in poems, on the other hand are mentioned in chronicles, will be discussed in this paper. The ambivalent assessments in this two genres make it clear, that depending on the intentional alignment of a text, different perspectives on these knights and nobles were possible. This illustrates a literally operation and standard of value that can be seen in aristocratic literature in High Middle Ages as well as in Late Middle Ages. Keywords: geographic catalogues, heraldic poems Polish nobles, Peter Suchenwirt

1 Geographische Kataloge als narrative Strukturen Geographische Kataloge1 sind erzählerische Mittel, die unterschiedliche Funktionen in Texten übernehmen können, zugleich treten sie als spezifische Form der Aufzählung in verschiedenen Gattungen auf. Neben der Funktion, mit der der Autor seine geographischen Kenntnisse unter Beweis stellt, wie u. a. bei Tannhäuser oder

|| Paul Martin Langner, Instytut Neofilologii, Uniwersytet Pedagogiczny Kraków, ul. Studencka 5, PL-31-116 Kraków, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-037

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Boppe, oder mit den geographischen Kenntnissen satirisch spielt, wie in Wittenwilers ‚Ring‘, wurden Geographische Kataloge auch für Machtpräsentation herangezogen, worauf im Folgenden näher eingegangen wird. Damit ist die Diversität der intratextuellen Funktionen und Wirkungsbereiche Geographischer Kataloge angelegt. Diese Funktionen und Wirkungsbereiche Geographischer Kataloge an Beispielen zu skizzieren, ist einer der Aufgaben des nachstehenden Artikels. Dabei stellt sich die besondere Frage danach, ob Formen dieser Aufzählungen dazu beitragen könnten, als Merkmal bei der Bestimmung von Gattungen oder „Subtypen“2 genutzt zu werden. Als Beispiel dienen Reimreden des Spätmittelalters, wobei sich der Aufsatz auf heraldische Reimreden von Peter Suchenwirt konzentriert. Die Reimrede lässt sich als literarische Gattung seit Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisen,3 sie wird bis ins 15. Jahrhundert in der Literatur als ‚Subtyp‘ erzählender Versprosa fortgeschrieben. Die Gattung der ‚Reimrede‘ resp. ‚rêde‘ wird durch wenige, unspezifische, formale Merkmale gekennzeichnet.4 Formal lassen sich nur Merkmale zweier häufig verwendeter Reimschemata, Reimpaare oder kreuzweise gereimte Verse, bemerken, die die Texte kennzeichnen, was sie jedoch nicht signifikant von anderen Gattungen differenziert. Auch die ihr zugeschriebene Länge von bis zu 2200 VV ist nicht kennzeichnend. Bei der Wappendichtung, die gleichfalls zu den Reimreden gerechnet wird, ist es zusätzlich das Blasonieren, die Beschreibung der für die geehrte Persönlichkeit stellvertretenden Wappen und heraldischen Zeichen, die in der Dichtung genannt, beschrieben und ausgelegt werden. Bei der Wappendichtung kann als signifikantes Merkmal der Gattung zusätzlich das ‚argumentum a gestis‘ genannt werden. Bei diesem Merkmal werden in narrativer Form Taten der jeweils gefeierten Persönlichkeit aufgezählt und hervorgehoben. Die Texte der Wappendichtung richteten sich entweder an noch Lebende oder häufiger an die Hinterbliebenen bereits Verstorbener, der Text kann demnach die

|| 1 Edward VISSER, Formale Typologien im Schiffskatalog der Illias. Befunde und Konsequenzen, in: Hildegard L. C. TRISTRAM (Hg.), Neue Wege der Epenforschung, Tübingen 1998, S. 25–44, hier bes. S. 39–42. – Zur mittelalterlichen Literatur s. a. Johannes SPICKER, Geographische Kataloge bei Boppe. Eine Anregung, in: Horst BRUNNER u. Helmut TERVOOREN (Hgg.), Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung (Beiheft zum Bd. 119 der ZsfdPhil.), Berlin 2000, S. 208–221. 2 Hugo KUHN, Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur, in: DERS., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959. 3 Als früher Text dieser Gattung wird Konrad von Würzburgs ‚Turnier von Nantes‘ (um 1258/9) gewertet, der Wappen vieler Ritter beschreibt, vgl. Joachim HEINZLE, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Neuzeit. Bd. 2: Vom hohen zum späten Mittelalter. Teil 2: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90), Königsstein Ts. 1984, S. 52–53. 4 Ausführlich dazu u. a. Karina KELLERMANN, Abschied vom „historischen Volkslied“. Studien zur Funktion, Ästhetik und Publizität der Gattung historisch-politische Ereignisdichtung, Tübingen 2000. – Karina KELLERMANN, Eine kurtze rede wore. Die vier politischen Reimreden des Lupold Homburg, in: Wolfram-Studien 24 (2017), S. 199–219.

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Aufgabe einer Preisrede oder eben vor allem einer Totenklage übernehmen. Eine Persönlichkeit durch Wappen, heraldische Zeichen, durch die Beschreibung von Taten und das Lob seiner moralischen Integrität wertend zu erfassen, stellt demnach ein Bündel von inhaltlichen Merkmalen zusammen, die in der Funktion der Texte (vor einem größeren höfischen Publikum Totenklage oder Preisrede zu sein) ihre Spezifik findet. Die beiden Textformen werden von BRINKER-VON DER HEYDE als ‚heraldische Preisrede‘ oder als ‚heraldische Totenklage‘ unterschieden.5 Entgegen anderer Autoren wird im vorliegenden Beitrag daran festgehalten,6 dass die Wappenbeschreibungen oder das argumentum a gestis für den Gefeierten narrativ vermittelt werden. Der Bericht von Handlungen und Vorgängen, die Bildung von Metaphern und die Nutzung von Allegoresen sind narrative Elemente. Ein Meister dieser heraldischen Preisrede und Totenklage war Peter Suchenwirt. Erhalten haben sich von ihm mehr als 50 Reimreden, in denen er unterschiedliche europäische Herrscher rühmte. Suchenwirt selbst war ein Autor stadtbürgerlicher Herkunft aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, der vor allem für österreichische Fürsten, aber auch für den brandenburgischen Hof und König Ludwig I. von Ungarn dichtete. In seinen Texten finden sich die Beschreibungen von ritterlichen Taten der Fürsten und Adligen, denen die jeweilige rêde gewidmet war. Suchenwirt konnte die Wappen der Gefeierten eingehend beschreiben und durch das argumentum a gestis die besonderen Züge der jeweiligen Persönlichkeit hervortreten lassen. Verschiedentlich nutzte er auch Geographische Kataloge. Anhand der Beschreibung der als Geographische Kataloge bezeichneten Aufzählungen soll die Frage diskutiert werden, inwieweit dieses narrative Moment der Aufzählung geographischer Regionen, möglicherweise für die Bestimmung der Gattung rêde genutzt werden kann. Eine der häufigsten Formen Geographischer Kataloge ist die Aufzählung. Eine Aufzählung ist eine spezifische Form der Wiederholung, damit gehört sie zu den narrativen Verfahren in literarischen Texten.7 Wird eine Aufzählung aus der || 5 Claudia BRINKER-VON DER HEYDE, von manigen helden gute tat. Geschichte als Exempel bei Peter Suchenwirt, Frankfurt a. M. 1987. – Zu den Gattungsbezeichnungen s. a. Claudia BRINKER-VON DER HEYDE, Peter Suchenwirt, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 9, Sp. 481–488. 6 ZIEGLER spricht der Gattung der rȇde insbesondere den narrativen Charakter ab und kommt damit in die Schwierigkeit in seiner merkmalsgestützten Beschreibung der Gattung, erzählende Passagen in Exempla als Subtyp der rȇde zu integrieren. Hans-Joachim ZIEGLER, Rede, in: Lexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3 (2003), S. 235–237. 7 S. u. a. folgende Darstellungen und monographische Sammelbände: Henning BRINKMANN, Wiederholung als Gestaltung in Sprache und als Wiederverwendung von Sprache, in: Wirkendes Wort 33 (1983), S. 71–93. – Carola HILMES u. Dietrich MANTHY (Hgg.), Dasselbe noch einmal: Die Ästhetik der Wiederholung, Wiesbaden 1998. – Robert ANDRÉ u. Christoph DEMPMANN (Hgg.), Paradoxien der Wiederholung (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 17), Heidelberg 2003. – Peter PÜTZ, Wiederholung als ästhetisches Prinzip (Aisthesis Essay 17), Bielefeld 2004.

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Perspektive der Rhetorik betrachtet, so erinnert sie an ein additives Verfahren, ist z. B. einer Accumulatio oder Enumeratio ähnlich. Die aneinander gereihten Elemente einer Aufzählung (und einer Accumulatio) können syndetisch oder asyndetisch auftreten. Durch rhythmische Gliederungen kann der Eindruck des additiven Charakters von Aufzählungen noch intensiviert werden.8 Wiederholungen stellen in epischen, aber auch lyrischen Texten formale Verfahren dar,9 mit denen gleiche oder ähnlich gestaltete Textbausteine, hier die Aufeinanderfolge geographischer Bezeichnungen, angeführt werden. Als Wiederholung wird die erneute Wiedergabe einer formgleichen oder formähnlichen Struktur bzw. inhaltlichen Replik in unmittelbarem oder mittelbarem Abstand im Text als Differenz des Vorhergehenden bezeichnet. Sie tritt durch die Repetition in Differenz zu dem vorhergehenden Textmoment, auf das sie sich bezieht. Dabei muss eine zeitliche wie inhaltliche Differenz unterschieden werden – selbst bei zeichenidentischer Replik eines zuvor genannten Textmoments schafft die zeitlich verzögerte Wiedergabe eine inhaltliche und formale Divergenz zwischen beiden. Während dieser Verzögerung stockt zudem der Erzählfluss der Handlung. Es wird dadurch sichtbar, dass selbst bei einer Wiederholung geographischer Bezeichnungen, die in narrativen Texten als Aufzählung erscheint, der Charakter der geographischen Gegebenheiten nicht nur einer additiven Aneinanderreihung folgt, sondern in den Nennungen zugleich auch Differenz mitgedacht werden muss. Diese Differenz, die den Aufzählungen in Geographischen Katalogen eigen ist, ist der bezeichnende Effekt der Ausweitung der durch den Katalog zusammengestellten Regionen. D. h. dass das formale Mittel der Addition sich zum inhaltlichen Moment für Darstellungen von Macht wandelt. Die in der Wiederholung angelegte Differenz vertritt auf diese Weise einen sich ergebenden Macht- und Herrschaftsbereich, der mit einer Persönlichkeit, auf den sich die Aufzählung bezieht, verbunden ist. Damit wird der Geographische Katalog zu einem narrativen Mittel, mit dem Macht beschreibbar und damit empfindbar wird. Als Abstraktum kann Macht nur benannt werden, möglicherweise kann diese Nennung durch Epitheta gesteigert werden, beschreiben kann man Macht ohne Hinzuziehung von Handlungsmomenten oder eben Aufzählungen nicht. Der Geographische Katalog ist ein geeignetes Mittel, Macht literarisch gestaltbar und damit beschreibbar zu machen. Für die Macht eines Fürsten oder einer literarischen Figur stehen die in den Geographischen Katalogen aufgeführten Regionen.

|| 8 Dabei können Aufzählungen zusätzlich durch klangliche und metrische Entsprechungen rhythmisch gestaltet sein, wie sie zuweilen in Volksliedern, Abzählreimen oder als Stilelemente in kurzen Erzählungen auftreten. 9 Gute Beispiele finden sich in den Gedichten von Tannhäuser (s. u. Anm. 11) oder Boppe (s. Heidrun ALEX, Der Spruchdichter Boppe. Edition-Übersetzung-Kommentar, Tübingen 1998, S. 68 f.).

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Eine Aufzählung (oder Wiederholung) bedeutet in der Regel die Unterbrechung des linearen Erzählstranges in einer Handlung. Solange eine Aufzählung ausgeführt wird, ist die Chronologie und Sukzession der Handlungsführung, wie oben bereits angemerkt, in der erzählten Zeit ausgesetzt. Nur wenn die Aufzählung mit Handlungselementen verbunden wird, wird deutlich, wie die Aufzählung zur narrativen Strategie des Erzählens werden kann. Die Aufzählung von Gefolgsleuten Etzels am Beginn der 22. Aventiure des Nibelungenliedes nach Glaubenszugehörigkeit, ethnischer Zuordnung resp. kulturellen Gewohnheit lässt für den Zuhörer die sukzessive Annäherung einer großen Gruppe von Rittern nachvollziehbar werden und verleiht den Figuren eine bestimmte Identität. In dieser Aufzählung sind die Gefolgsleute von König Etzel unterwegs zur Huldigung der neuen Frau Etzels, Kriemhild.10 Erst nach dem dritten Mal, bei dem der Zug der Ritter vom Erzähler in den Blick genommen wird, werden die Namen einzelner Figuren genannt. In narrativen Texten übernehmen, wie gesagt, Aufzählungen geographischer Gegebenheiten häufig die Funktion, Macht- oder Herrschaftsbereiche abzustecken.11 Die durch den Vortrag eines literarischen Textes sich sukzessiv ausbreitende Aufzählung vermittelt dem Zuhörer durch die zeitliche Dehnung im Vortrag die geographische Weite eines Herrschaftsgebietes und umschreibt die damit verbundene Macht des bezeichneten Herrschers. Wenn auch Macht keine moralische Kategorie darstellt, wie etwa Mildtätigkeit, Güte, Gerechtigkeit, so kann sie im Rahmen dieser aufzählenden Reihung positive Wertung erhalten. Damit wird deutlich, dass die Aufzählung einerseits ein narratives Element ist, das sich nicht in einer formalen

|| 10 Martin-M. LANGNER, Eingeschriebene Performanz. Narratologische Strukturen zur Darstellung von Bewegung in mittelalterlichen Texten, in: Aleksandra BEDNAROWSKA u. a. (Hgg.), Anwendungsorientierte Darstellungen zur Germanistik. Modelle und Strukturen (Perspektivenwechsel 3), Berlin 2013, S. 223–241. 11 Beispiele für Aufzählungen in lyrischen und epischen Texten des Hoch- und Spätmittelalters sind: Pfaffe Konrad, Rolandslied, VV 6805–6857; – König Rother, VV 4864–4875; – Tannhäuser nutzt in der vierten Stanze seines 12. Lied asyndetische Aufzählungen von Flüssen, die durch europäische Städte fließen (VV 4–11), wodurch er einerseits auf sein Wissen anspielt, aber auch andererseits mit spielerischem Charakter die Besonderheiten europäischer Landschaften in diesem Geographischen Katalog umschreibt. – In einem Preislied, Lied 1, Stanze 14, wird von Tannhäuser wiederum die europäische Gefolgschaft eines Herrschers aufgezählt, wodurch Macht und Freigiebigkeit des Herrschers angedeutet werden. Tannhäuser nutzt diese Form der Aufzählung spielerisch und zumeist in der oben beschriebenen Weise. Zitiert nach: Tannhäuser. Die Gedichte der Manessischen Handschrift. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Einleitung, Edition, Textkommentar Maria Grazia CAMMAROTA. Übersetzungen von Jürgen KÜHNEL, Göppingen 2009. – Einen Geographischen Katalog bietet auch Wittenwiler im ‚Ring‘ VV 7676–7682 (Verszählung folgt der Ausgabe von Edmund WIESNER, Heinrich Wittenwilers Ring. Nach der Meininger Handschrift, Leipzig 1931), wobei er auf den Reichtum der Städte „Chraków“ und „Presslaw“ [Wrocław] anspielt. Hinzuzufügen wären auch die Geographischen Kataloge in Liedern Oswalds von Wolkenstein, z. B. Die Gedichte Oswalds von Wolkenstein, hrsg. v. J. SCHATZ, 2. verb. Aufl. Göttingen 1904, Nr. 64, S. 160; Nr. 65, S. 164 und 166.

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Struktur erfüllt, andererseits aber durch ihre auf die Handlung retardierend wirkende Sukzession zum signifikanten Merkmal der jeweiligen Figur wird. Inhaltlich vertreten Geographische Kataloge die Entfaltung von Macht durch die Größe eines Herrschaftsgebietes bei der Vorstellung eines Mächtigen, der neben seinen positiven moralischen Eigenschaften auch noch über einen großen Herrschaftsraum verfügt. Geographische Kataloge sind demnach keine rein formalen Merkmale, sondern sie können als narrative Textbausteine fungieren. Diese Beobachtung soll an Beispielen aus den Reimreden Peter Suchenwirts verdeutlicht werden. Im ersten Beispiel, in der rȇde über die ‚zweyen Päbste‘ von Suchenwirt,12 entstanden wahrscheinlich kurz nach 1378, werden die Gebiete aufgeführt, deren Herrscher sich am Anfang des Schismas auf die Seite des erstgewählten Papstes Urban VI. gestellt haben: Dy lant di sind mir wol bechant von Leyfflant in Tuschkane, von dem Rein in Ungerlant die sind mit pabst Urbane. Noch ist mit uns, daz wil ich reden, fümf chünichreich bechennet: Půllen, Norbeg, Temmarch, Sweden und Engellant genennet;13

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Zunächst spannt Suchenwirt einen europäischen Rahmen auf, er nennt Livland und die Toskana, den Rhein und das Land der Ungarn. Es handelt sich um ein geographisches Viereck, das in seiner Nord-Süd-Ausdehnung vom Baltikum bis nach Italien reicht, und in einer West-Ost-Achse vom Rhein bis nach Ungarn. Diesem umfassenden Bild Europas fügt er fünf weitere nord- und zentraleuropäische Königreiche hinzu, die die Nord-Ost-Flanke des europäischen Raumes bilden und von denen der Autor sagt, dass sie auf der Seite Urbans ständen.14 Aus der Sicht Öster|| 12 Die bisher einzige Ausgabe: Alois PRIMISSER, Peter Suchenwirts Werke aus dem 14. Jahrhundert, Wien 1827. 13 Ebd., S. 108. 14 Interessant an dieser Aufzählung ist aber ein Fehler des ersten Herausgebers von Suchenwirt, Alois PRIMISSER, der in seinem Kommentar die Bezeichnung „Püllen“ nach häufigem Vorgehen als Neapel auflöst. Zugleich aber bereitet es ihm Schwierigkeiten zu erklären, wie Neapel in dieser Aufzählung auftreten könne. Gerade Neapel bekannte sich nicht zu Urban, sondern zu Clemens VII. Was PRIMISSER aus der Sicht des Jahres 1827 nicht realisierte, war, dass das zuerst angesprochene Königreich eben Polen sein muss und nicht Neapel. Die Bezeichnung Neapel würde in der Ordnung des Geographischen Katalogs regional und machtpolitisch völlig aus dem Rahmen fallen. Aber mehr noch ist festzustellen, dass Neapel, das in der Tat häufiger als Püllen bezeichnet wurde, sich auf die Seite von Clemens VII. gestellt hatte. Dieser Angaben von PRIMISSER folgen noch bis zur jüngsten Vergangenheit Editoren, z. B. Eva u. Hansjürgen KIEPE (Hgg.), Gedichte 1300–1500. Nach

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reichs war dies die Gruppe von Ländern auf der päpstlichen Seite, während die südeuropäischen Regionen, zu denen u. a. Frankreich und Neapel gehörten, sich nach der Auffassung derjenigen, die zu Urban hielten, einem illegitimen, schismatischen Papst, Clemens VII., angeschlossen hatten. Das Schisma hatte eine tiefe Kluft durch Europa gezogen. Damit erhält die europäische Karte, mit der Suchenwirt diesen Abschnitt begonnen hatte, noch eine zusätzliche Bedeutung. Sein Bild eines christlichen Europas endet am Rhein und damit grenzt er Frankreich aus, es endet zudem in der Toskana, wodurch er Neapel aus dem christlichen Raum ausschließt. Zugleich bestätigt diese rȇde die eigene Position, die auch politisch zu verstehen ist, denn die beiden durch den Hundertjährigen Krieg miteinander kämpfenden Länder, England und Frankreich, markierten zugleich die Lager des Schismas. Suchenwirt suggeriert durch die Aufzählung der europäischen Regionen, die sich für Urban erklärt haben, dass der größere Teil Europas unter der geistlichen Herrschaft Papst Urbans steht. In dieser Reimrede wird der spirituelle und machtpolitische Einzugsbereich von Urban nachgezeichnet. Bestätigt werden diese Beobachtungen durch den Geographischen Katalog, der in der zeitlich schwer zu bestimmenden „Reimrede vom Pfenning“ [sic!] zu finden ist. Der Pfennig ist ein oft genutztes Motiv des Spätmittelalters, mit dem Käuflichkeit und moralische Entgleisungen weltlicher und geistlicher Fürsten gegeißelt wurde. Auch in dieser rȇde Suchenwirts entsteht ein Katalog von Ortsnamen, die der personifizierte Pfennig erwähnt, weil er dort jeweils mit rauben, prennen, morden, steln, // chain poshait chan sich mir verheln (VV 91–92) sein Unwesen trieb.15 Dass Suchenwirt eine Anzahl von Städten nennt, von denen die meisten Bischofssitze sind, mag ein Zeichen eines am Hof eines Adligen dichtenden Autors sein, der die häufig anzutreffende Spannung zwischen weltlicher und geistlicher Macht ausspielt, jedoch kommentiert der Autor diese Auswahl nicht: tzu dautschen landen ich mich went, Metz und Trier, Chöln, Maintz: Ich bin behender vil wen Haintz, der underm hüt wol gaukeln chan; die lant ich wol versuechet han, Chur und Chostnitz, Strazspurch, Pasel; Mein art durichwurtzet als ein hasel Speyr, Wurnitz, Wirtzpurch dy stet,

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|| Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge (Epochen der deutschen Lyrik 2), München 1972, S. 139. 15 Eine vergleichbare Aufzählung findet sich in dem zwischen 1400 und 1440 entstandenen ‚Erlauer Osterspiel‘ (VV 180–185). In einem langen Geographischen Katalog reiht der Knecht Rubin Städte und Regionen auf, in denen er Spitzbübereien verübte oder hemmungsloses k. o.-Trinken erlebte. Vgl. hierzu: Karl Ferdinand KUMMER (Hg.), Spiele 3, Wien 1882, S. 35–89, hier S. 42, V 180.

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Auspurch, Padenberch ye tet waz den fürsten wol antzam, in Meychsen pluem der ern stam, Regenspurch, Freysing, Chyemse, ich pin bechennet dennoch me tze Saltzpurch und tze Pazzaw, in Aglay rastet unser vraw, Trient und Prichsen, Gurk und Lavant, tzu Utin, tzu Sekkaw chom ich draffent, Fümfchirchen, Agreim, Gran und Rab, Erlach, dez wiertz ich chünd hab, tzu Olmuntz und tzu Gelatschawn, tzer Neizz und auch tze Toppoltschan, Lewtmüschel, Newnburch und tze Prag, Merspurch ich chenn, als ich dir sag, tze Maidburch und tze Halberstat mein suechen chainen winchel lat, Prezzla ist mir vil wol chund,16

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Die Liste der angeführten Städte geht über den zitierten Anschnitt hinaus. In diesem Text werden vereinzelt Landmarken der Regionen greifbar. So gibt der Erzähler zusätzlich u. a. Hinweise auf geographische Besonderheiten, wie den Fluss: tzer Neizz (Neisse).17 Das Pfennig-Gedicht scheint eher lakonisch zu sein. Wie bereits gezeigt werden konnte, übernimmt der Geographische Katalog die Funktion, einen Machtbereich zu umschreiben. Je umfangreicher die Aufzählung geographischer Regionen im Text auftrat, die dem Pfennig untertan sein sollten, desto mächtiger erscheint der Einzugs- und Geltungsbereich eines Verständnisses, nach dem mit Geld alles zu regeln sei. Macht – hier negativ besetzt – wird damit kritisch gesehen, das narrative Moment ist wiederum die Aufzählung in Form eines Geographischen Katalogs quer durch Europa. Diese Beobachtungen machen deutlich, dass die rȇde mit Handlungsdarstellungen, der Beschreibungen von Taten (argumentum a gestis) und den als Wiederholungen gekennzeichneten Aufzählungen in Geographischen Katalogen Momente nutzt, die als narrative Verfahren anzusehen sind. Um Wertungen in erzählenden Texten zum Ausdruck zu bringen, werden Aufzählungen verwendet, die mit positiven Beschreibungen in der Wappendichtung korrespondieren. Der Geographische Katalog entwirft durch die Größe des Herrschaftsraumes für die angesprochene Persönlichkeit eine Wertung, in diesem Falle für die Personifikation des Geldes.18

|| 16 PRIMISSER (Anm. 12), S. 93–96, hier S. 94. 17 Ebd., S. 93, V 62. 18 Ein Verfahren, das auch für fiktionale Dichtungen anzunehmen ist, ob im Rolandslied oder im König Rother – die Aufzählungen von Regionen beleuchten den jeweiligen Herrscher.

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Geographische Kataloge sind demnach nicht nur als Wiederholungen formal zu erfassen, sondern schaffen auch durch einen narrativen Akzent, der mit der aufzählenden Wiederholung verbunden ist, eine inhaltliche Dimension für den Text. Diese Textmomente, die dazu verhelfen, den Anlass, das Publikum und die Vortragssituation zu erschließen, sind zudem intentional. Außerdem provozieren diese Erzählstrategien, Wertungen, die vom Auftraggeber/Autor für das jeweilige Publikum textlich vorbereitet wurden, mögliche Emotionalisierungen oder Zustimmungen. Dennoch ist nachzuvollziehen, dass die Aufzählungen Geographischer Kataloge nicht als Kriterium für die Gattung der Reimrede herangezogen werden kann, da weder die Art der Wertungen, noch ihre Verwendung spezifisch für Reimreden angesehen werden können. Als gattungsübergreifendes Stilmittel werden Geographische Kataloge auch in anderen Gattungen oder Subtypen in vergleichbarer Form verwendet und verliert damit ihren markierenden Charakter für nur eine Gattung.

2 Bilder polnischer Ritter in Dichtungen des Hochund Spätmittelalters Das hier vorgelegte Ergebnis steht noch in einem anderen Kontext und beweist spezifische Entwicklungen in der deutschsprachigen Adelsdichtung des Spätmittelalters. In einigen prominenten Dichtungen des Hochmittelalters treten in Aufzählungen, die dazu dienen, den Herrschaftsbereich der literarischen Figur Etzel zu kennzeichnen, polnische Ritter oder Fürsten auf. Dabei fällt auf, dass diese Aufzählungen von Gefolgsleuten Etzels vor allem Geographischen Katalogen gleichen, in denen die polnischen Ritter und Fürsten positiv charakterisiert werden.19 Dieser Kontext kann hier nur knapp angemerkt werden, da eine Studie zu diesem Thema vorliegt,20 die dem Verständnis und der bildlichen Darstellung polnischer Ritter in der deutschen Literatur des Hochmittelalters gewidmet ist. In dieser Studie wurden sechzehn hochmittelalterliche narrative Texte aus dem Umkreis der Karls- und Dietrich-Epen sowie des Nibelungenlieds und lyrische Texte untersucht. Gemeinsam ist den untersuchten hochmittelalterlichen Texten (ca. 1150 bis 1300) der Befund, dass in ihnen ein übereinstimmendes, positives Bild polnischer Ritter und der Region,

|| 19 Auch ungarische Ritter treten als Figuren in den literarischen Texten auf. Die Beobachtungen zu den ungarischen Rittern ähneln einerseits den Ergebnissen hinsichtlich der polnischen Ritter und Fürsten, jedoch werden diese viel früher und auch schon im Rahmen der Adelsliteratur ambivalent bewertet. Eine Veränderung der Bewertung polnischer Ritter lässt sich dagegen erst in der Literatur der Stadt und damit in einem Zeitraum nach 1400 nachweisen. 20 Martin-M. LANGNER, Annäherung ans Fremde durch sprachliche Bilder. Die Region Polen und ihre Ritter in Dichtungen des Hochmittelalters, Berlin 2018.

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aus der sie stammten, gezeichnet wird. Nur der Roman ‚Biterolf und Dietleib‘21 (ca. 1254/68) stellte polnische Ritter als unloyale Gefolgsleute dar.22 Dabei wird in der genannten Studie sichtbar, dass die Nennungen polnischer Ritter oder der Region Polen in narrativen Strukturen auftreten wie z. B. bei den Geographischen Katalogen (beginnend mit dem ‚Rolandslied‘, ‚König Rother‘, ‚Der Karl‘ vom Stricker) oder in Aufzählungen bei Handlungsabläufen (z. B. am Beginn der 22. Aventiure des Nibelungenliedes). Wenige Beispiele enthalten reguläre Handlungsbeschreibungen, in denen polnische Fürsten oder Ritter als Akteure erscheinen (z. B. in dem Fragment ‚Dietrich und Wenezlan‘).23 Im Vergleich von Textpassagen aus diesen Dichtungen entsteht in der Summe ein Bild, bei dem die polnischen Ritter als kampferprobte, loyale, reiche und hilfsbereite Gefolgsleute gezeigt werden.24 Aus dem Gesagten ergibt sich die Schlussfolgerung, dass in dem geschlossenen Feld der Adelsliteratur des Hochmittelalters und Spätmittelalters polnische Ritter in der Gesellschaft des europäischen Adels mental positiv verortet und integriert waren, was letztlich historiographisch u. a. durch die Heiratspolitik zwischen polnischen und deutschen resp. anderen europäischen Adelshäusern bestätigt wird. Die Aufzählungen in verschiedenen Dichtungen zeigen, wie sich im Hochmittelalter dieses positive Bild manifestiert. Mit Blick auf die Nennung polnischer Fürsten und Ritter lässt sich bei Suchenwirt ebenfalls ein positives Bild von ihnen konstatieren.25 Damit wird die Funktion von Aufzählungen erkennbar, die – verbunden mit geographischen Angaben – Wertungen erkennbar machen. Die Ausrichtung polnischer Adliger auf die europäische Hofkultur wird in Reimreden Suchenwirts gleichfalls betont. In der Totenklage auf Herzog Albrecht III. von Österreich stellt Suchenwirt nicht dessen erfolgreichen, militärischen Leistungen in den Vordergrund,26 sondern der Autor beschreibt das gesellschaftliche Leben, das bei der Ankunft des Heeres von Albrecht in zwei Städten Polens aufblüht. Mögen diese kurzen Beschreibungen in der Reimrede auch floskelhaft erscheinen, lässt sich an ihnen dennoch ablesen, dass die polnischen Adligen auf die hohe militärische Disziplin des österreichischen Heeres mit höfischer Kultur reagieren. Berichtet wird in der Reimrede, dass der

|| 21 Biterolf und Dietleib, hrsg. v. Oskar JÄNICKE (Deutsches Heldenbuch 1), Berlin 1866, ND Berlin, Zürich 1963. 22 LANGNER (Anm. 20), S. 74–81. 23 Elisabeth LIENERT u. Viola MEYER (Hgg.), Alpharts Tod. Dietrich und Wenezlan (Texte und Studien 3), Tübingen 2007. 24 LANGNER (Anm. 20), S. 106. 25 LANGNER (Anm. 20), S. 123–137. 26 Der Feldzug wird mit dem Heidenfeldzug Ludwigs v. Ungarn von 1351 verglichen und findet noch einmal in der heraldischen Totenklage auf Friedrich von Kreutzpeckh († 1360) Erwähnung; vgl. PRIMISSER (Anm. 12), XIV. Das Aufmarschgebiet des christlichen Heeres in Litauen wurde durch den Durchzug von Polen und Masuren erreicht (V. 118).

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Heereszug von Herzog Albrecht III. 1377 gegen die heidnischen Litauer von Österreich kommend ohne Plünderungen oder Ausschreitungen, wohl geordnet und sehr gut ausgerüstet durch Polen zog und es bei seiner Ankunft in Breslau und später in Thorn jeweils ein Fest des ansässigen Adels gab: die zarten minichleichen weip, di tzierten iren stoltzen leib tzu vrawden maniglaye recht als der chule maye blůmet anger und den walt. man sach da frewde manikvalt mit schimphen, tantzen, lachen;27

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In einer anderen Reimrede spricht Suchenwirt auch die Schwierigkeiten an,28 die der Sohn Albrechts, Wilhelm (um 1370–1406), hatte, der den Anspruch auf den polnischen Thron und eine Ehe mit der Tochter Ludwigs I. von Ungarn, Hedwig, nicht gegen den polnischen Adel und die Bürgerschaft der Königsstadt Krakau durchsetzen konnte. Stattdessen musste Wilhelm akzeptieren, dass Hedwig den litauischen Prinzen Władysław II. Jagiełło (vor 1362–1434) heiratete. Interessant an der Darstellung von Suchenwirt ist, dass er sich verpflichtet sah, die Verantwortlichen aus dem Adel zu verschweigen und die Bürger der Königsstadt als diejenigen zu benennen, die in den Krönungsvorgang eingegriffen hätten. Dieser Form der Loyalität scheint Suchenwirt gegenüber seinen adligen Auftraggebern verpflichtet gewesen zu sein. Zugleich wird der Befund positiver Wertungen polnischer Adliger und Ritter in Dichtungen auffällig, wenn lateinische Chroniken in die Betrachtung einbezogen werden. Hier finden sich zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert ganz unterschiedliche Wertungen, z. T. positive29 und negative30 Beschreibungen polnischer Ritter. Auch Chroniken gehören – wie die schriftlich fixierten Dichtungen – zur Adelsliteratur. Diese Beobachtung lässt erkennen, dass in Texten zweier Gattungen für die gleiche Rezipientengruppe widersprüchliche Bilder polnischer Ritter und Adliger existieren. Es ergibt sich damit der Eindruck, dass der deutschsprachige Adel Gelehrte und Dichter beauftragte, unterschiedliche Wertungen in ihren Texten festzuschreiben, obwohl sie für den gleichen Rezipientenkreis bestimmt waren. Dieser Befund legt nahe, weiter zu prüfen, in welcher Form unterschiedliche Gattungen und ihre Merkmale Einfluss auf die Darstellung haben.

|| 27 PRIMISSER (Anm. 12), S. 9. 28 PRIMISSER (Anm. 12), S. 65–68. 29 Z. B. Annalista Saxo, hrsg. v. Georg WAITZ (MGH Scriptores rerum Germanicorum 6), Hannover 1844, S. 542–777, hier S. 769 (ad domini 1135). – s. a. Herbordi Dialogus de Vita Ottonis Babenbergensis, hrsg. v. Rudolf KÖPKE (MGH Scriptores rerum Germanicorum 33), Hannover 1868, S. 53. 30 Z. B. Annalista Saxo (Anm. 28), S. 678.

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Die angeführten Beispiele, die im dichterischen Werk Peter Suchenwirt Bezug auf Polen nehmen, zeigen die gleiche intentionale Ausrichtung wie diejenigen Texte, die für das Hochmittelalter bereits untersucht worden sind. D. h. in der Adelsliteratur des ausgehenden 14. Jahrhunderts wird die positive Sicht polnischer Fürsten und Ritter in dichterischen Texten der Adelsliteratur des Hochmittelalters fortgeschrieben. Als Arbeitsergebnis lässt sich in Hinblick auf die Funktion mittelalterlicher Texte konstatieren, dass Dichtungen ebenso wie Chroniken zwar als Darstellungen historischer Ereignisse gehört und gelesen wurden, jedoch hat wohl niemand aus Dichtungen Rechtsansprüche für den Auftraggeber des jeweiligen Textes ableiten wollen. Dagegen konnten aus Chroniken, Rechtsansprüche formuliert werden. Nicht klar ist, ob es nicht auch eine Differenz in der Präsentationsform von Dichtungen und Chroniken im Mittelalter gegeben hat. Dichtungen wurden sicherlich vor dem Hof und damit vor einem heterogenen Publikum vorgetragen.31 Ob dagegen Chroniken in gleicherweise vorgelesen wurden, erscheint fraglich. Vielleicht kann deshalb abschließend die Vermutung geäußert werden, dass Dichtungen ein ritterlich-höfisches Ideal artikulierten, während die Chroniken eine Handreichung zur Verfügung stellen, aus denen rechtliche Ansprüche abgeleitet werden konnten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Geographische Kataloge und Aufzählungen in Dichtungen als Darstellungsmuster genutzt wurden, die einerseits Machtbereiche beschreiben, Machthaber auszeichnen und andererseits Darstellungen von Wertungen ermöglichen. So wird der Einzugsbereich von Papst Urban VI. durch Aufzählungen europäischer Länder abgesteckt. Der Geographische Katalog, den der Pfennig als sein Herrschaftsbereich umreißt, lässt zudem erkennen, dass die zeitweiligen Spannungen zwischen geistlichen und weltlichen Fürsten sich auch in den Reimreden Suchenwirts niederschlagen. Es wurde deutlich, dass Geographische Kataloge in mehreren Funktionen in Texten unterschiedlicher Gattungen nachgewiesen werden können. Dabei wurde jedoch erkennbar, dass Geographische Kataloge als Gattungsmerkmal signifikant sind. Inwieweit Präsentationsformen von Gattungen Einfluss auf die Darstellung von Wertungen haben können, muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

|| 31 Claudia BRINKER-VON DER HEYDE, Die literarische Welt des Mittelalters, Darmstadt 2007, S. 97–117.

Thomas Schauerte

Die Stimme aus dem Grab Dürers ,Traum des Doktors‘ und der römische Leichenfund von 1485 Abstract: Albrecht Dürer’s engraving ‘The Doctor’s Dream’ was, due to the small ring on the finger of the great female nude since Erwin PANOFSKY, mostly interpreted as the seduction of the young Astrolabius by Venus. However, the source text in question was not printed until 1849, and such a negative characteristic of the ancient goddess of love does not fit in well with the heyday of Nuremberg humanism. An unpublished letter to the important Nuremberg humanist Hartmann Schedel, on the other hand, refers to the famous discovery of a virtually intact girl’s body in Rome in 1485, to which Konrad Celtis, Dürer’s mentor and friend at the time, wrote an epigram. Schedel’s letter explicitly mentions the ring on the finger of the corpse. Since the physiognomy of the sleeping person allows identification with Celtis with astonishing clarity, the visual sense now presents itself in a completely new light: In a dream vision, the Roman girl’s corpse appears to the poet and challenges him to awaken in the face of the ongoing destruction of the ancient heritage. From the point of view of humanistic letter literature, the copperplate engraving thus translates the topical demand into the image that the partner should write more and publish what he has written immediately. Hartmann Schedel is therefore certainly an inspiration or even a commissioner of the copperplate engraving. Keywords: Albrecht Dürer, Konrad Celtis, reception of antiquity, Rome, humanism

Im Zentrum dieser Überlegungen steht Albrecht Dürers um 14981 entstandener Kupferstich, der bis heute oftmals unter dem populären, doch etwas willkürlichen Titel „Der Traum des Doktors“ erscheint, in der Fachliteratur aber inzwischen meist neutraler als „Versuchung des Müßiggängers“ bezeichnet wird (Abb. 1).2 Das eher || 1 Datierung nach der schlüssigen Stilkritik bei Erwin PANOFSKY, Zwei Dürerprobleme (Der sogenannte „Traum des Doktors“ und die sogenannten „Vier Apostel“), in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 8 (1931), S. 1–48, hier S. 1. 2 Die ältere Forschungsliteratur bei Rainer SCHOCH, Matthias MENDE u. Anna SCHERBAUM (Hgg.), Albrecht Dürer. Das druckgraphische Werk, Bd. 1: Kupferstiche, Eisenradierungen und Kaltnadelblätter, München, London, New York 2001, Nr. 18 (Rainer SCHOCH); dort nicht erwähnt: || Thomas Schauerte, Museen der Stadt Aschaffenburg, Schlossplatz 4, D-63739 Aschaffenburg, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-038

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kleinformatige Blatt3 zeigt nahsichtig einen engen Stubeneinblick, der links von einem großen Kachelofen dominiert wird. Dieser ist von einer Art offenem, hölzernen Kabinett umgeben, in dessen rechte Wandung eine Sitzbank eingelassen ist. Auf ihr verkörpert ein nicht mehr ganz junger Mann schlafend das Urbild von trägem Wohlbehagen: Weiche Kissen stützen ihn, und die Hände sind untätig in die Ärmel geschoben. Kachelofen, Pelzkragen und die bequasteten Kissen rufen den Eindruck saturierter Wohlhabenheit hervor. Der Mann trägt eine Kappe oder Haube, deren Fehlinterpretation als „Doktorhut“ auch zum apokryphen Titel des Werks geführt hat.4 Denn Attribute der Gelehrsamkeit wie Bücher oder Schreibzeug sucht man vergebens, so dass eine differenzierte Ansprache des Mannes als Geistlicher, Jurist, Arzt oder sonstwie Gelehrter nicht möglich ist. So konnte sich letztlich jeder angesprochen fühlen, der sich das Blatt als Sammler leisten konnte. Doch unverkennbar befindet sich dieses Idyll der Behaglichkeit im Zustand der Bedrohung: Im Rücken des Schläfers ist ein fledermausartiger Teufel mit langem, schuppigen Schwanz im Begriff, ihm mittels eines Blasebalgs durch das Ohr allerlei offensichtlich ungute Gedanken einzublasen. Als eigentliche Hauptfigur aber weist in der vordersten Bildebene eine weitgehend nackte, fast blatthohe Frauengestalt im Kontrapost mit wehenden Locken auf den Ofen, wobei ihr Blick auf dem Schlafenden ruht. Und schließlich ist im linken Vordergrund neben einer Kugel ein geflügelter Putto zu sehen, der in die Beschäftigung mit zwei Stelzen versunken ist. Das Gesicht des Mannes mit den erschlafften Zügen, dem langen, leicht gebogenen Nasenrücken und den herabgesunkenen Mundwinkeln verrät genaue Beobachtung und kommt einer porträthaften Individualisierung so nahe, dass mindestens an eine vorhergehende Studie im persönlichen Umfeld Dürers gedacht werden kann. Auch die Möglichkeit eines konkret benennbaren Zeitgenossen kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, wie abschließend zu zeigen sein wird.

|| Claude MAKOWSKI, Albrecht Dürer. Le songe du Docteur et la sorciere. Nouvelle approche Iconographique, Genf 1999, der jedoch auf eher abseitige alchemistische Interpretationen abhebt; vgl. ferner Thomas SCHAUERTE, Albrecht Dürer: Das große Glück. Kunst im Zeichen des geistigen Aufbruchs, Ausstellungskatalog Kulturgeschichtliches Museum Osnabrück, Bramsche 2003, Nr. 129. Die bislang offenbar letzte und ausführlichste Erörterung ist das Kapitel „Traumphysiologie und Bildwerdung: Albrecht Dürers Der Traum des Doktors“ in: Tanja KLEMM, Bildphysiologie. Wahrnehmung und Körper in Mittelalter und Renaissance, Berlin 2013, S. 209–246. Sie betont vor allem Traum- und Schlafzustand des Mannes im Lichte mittelalterlicher und neuplatonischer Traumtheorien, was für die hier vorgeschlagene Deutung nachrangig ist. 3 18,3/18,4 x 11,8 cm; herangezogen wurde das Exemplar der Graphischen Sammlung der Museen der Stadt Nürnberg, Inv.-Nr. Gr.A.12851 (Sammlung Diehl). 4 Nach Moriz THAUSING, Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, 2 Bde., 2. Aufl. Leipzig 1884, Bd. 1, S. 214. Eine ausführliche Diskussion der Kopfbedeckung bei KLEMM (Anm. 2), S. 210 f.

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Abb. 1: Albrecht Dürer: Sog. Allegorie der Trägheit („Der Traum des Doktors“), ca. 1498. Kupferstich, 19,1 x 12,2 cm. © Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, Inv.-Nr. Gr.A. 12851 (Sammlung Diehl).

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Erwin PANOFSKY hatte 1931 die für lange Zeit schlüssigste Interpretation zu Dürers Kupferstich vorgelegt, und so besteht seither relative Einigkeit darüber, dass der Schlafende als Verkörperung der Acedia, der Todsünde der Trägheit also, anzusehen ist. Denn bereits Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ von 1494 mit den Illustrationsholzschnitten Albrecht Dürers schnitt dieses Thema an und bot damit auch für die vorliegende bildliche Umsetzung den ikonografischen Rahmen. Wiewohl gerade bei diesem Kapitel nicht Dürer, sondern ein schwächerer Künstler zum Zuge kam, schildert die Illustration hier zwei entscheidende Konsequenzen der Trägheit, die auch im Kupferstich aufscheinen. Denn der Narr mit dem Spinnrocken am Feuer ist so traͤ g/ das jm verbrennt // Syn schyenbeyn/ ee er sich verwennt5. Wenn auch auf Dürers Darstellung die Gefahr von Verbrennungen zumindest nicht im wörtlichen Sinne gegeben ist, so können doch kaum Zweifel darüber bestehen, dass von der einlullenden Wärme des mächtigen Kachelofens genau die gleiche Gefahr für den Schläfer ausgeht. Diese spricht auch Sebastian Brant an, und der Sämann auf dem Holzschnitt verkörpert sie, wenn es im Verstext heißt: Der boͤ s vyndt/ nymbt der tragkeyt war/ vnd saͤ gt gar bald syn somen dar6. Faulheit beschwört also unverzüglich den Teufel aus der Hölle herauf, was bei Dürer durch direkte Präsenz sogar noch drastischer und direkter dargestellt wird als im ‚Narrenschiff‘. Insofern kann also mit PANOFSKY für alle weiteren Deutungen zumindest von einer Verkörperung der Acedia durch den Schlafenden als hinreichend gesichert ausgegangen werden. Geradezu apodiktisch jedoch äußert er sich über die weitere Interpretation des Blattes: „So darf es denn von vornherein als ausgemacht gelten, daß diese Verbindung eines schlafenden Menschen mit einem satanischen Ohrenbläser und einer nackten Frau nebst Amorino nur eine beispielhafte Verführungsszene bedeuten kann“. Dabei kann er sich immerhin auf die früheste literarische Beschreibung des Blattes von 1576 durch Giorgio Vasari in der Vita des Dürer-Kopisten Marcantonio Raimondi berufen, der ebenfalls von „Venus, die ihn im Traum verführt“ spricht.7 Denn ausgehend von dem Ring, den die Nackte am kleinen Finger der linken Hand trägt, führt PANOFSKY als den eigentlichen Gegenstand der Bilderzählung eine Episode aus der gereimten deutschen ,Kaiserchronik‘ des Hochmittelalters an.8 Der heidnische Jüngling Astrolabius hatte sich in Rom derart in ein antikes Standbild der Venus verliebt, dass er ihr als Zeichen dieser Liebe heimlich einen Ring ansteck-

|| 5 Sebastian BRANT, Das Narren schyff Ad Narragoniam, Basel (Meister des Haintz Narr) 1494, fol. rr. 6 Ebd., fol. rv. 7 PANOFSKY (Anm. 1), S. 3 f. Ihm folgt Berthold HINZ, Aphrodite. Geschichte einer abendländischen Passion, München, Wien 1998, S. 195: „Die dem sogenannten Doktor offensichtlich im Traum erscheinende nackte Frau läßt sich durch ihren Begleiter, den geflügelten Amorknaben, zweifelsfrei als die antike Liebesgöttin identifizieren.“ Übersetzung der Vasari-Stelle bei KLEMM (Anm. 2), S. 209. 8 Eberhard NELLMANN, Kaiserchronik, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 4 (1983), Sp. 949−964; DERS., Kaiserchronik, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5 (1991), Sp. 856 f.

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te. Durch seine Freunde und einen christlichen Priester wird er von dem Bann aber gelöst und die Gruppe der Jünglinge am Ende auch getauft. Was sich auf den ersten Blick recht einleuchtend liest, bietet auf den zweiten allerdings erhebliche Probleme, denn der Jüngling, den man in dem Schlafenden auf Dürers Kupferstich schwerlich wird erkennen wollen, fand eben vor lauter Liebestollheit überhaupt keinen Schlaf mehr: er was naht unde tac / daz er slâfes niende phlac. Dabei suchte ihn zudem die Wahnvorstellung heim, dass er dem geliebten Götterbild beiwohne.9 Gerade von dieser deutlich erotischen Konnotation führt – abgesehen von der Nacktheit der Frau – kein Weg zu Dürers Kupferstich, wie auch umgekehrt das Motiv der Acedia in der Legende keine Rolle spielt. Dass zudem die Geschichte von Astrolabius so beliebt gewesen sei, dass ein jeder belesene Betrachter sie anhand dieser Szene sogleich vor Augen gehabt hätte,10 ist stark zu bezweifeln angesichts der Tatsache, dass sie sich das gesamte Mittelalter hindurch niemals novellenartig verselbständigt hatte, forterzählt, paraphrasiert oder um 1500 auch nur ein weiteres Mal bildkünstlerisch umgesetzt worden wäre.11 Doch vor allem ist einzuwenden, dass PANOFSKYS Quelle eine um 1145 in Regensburg entstandene, mittelhochdeutsche und zudem unvollendete Reimchronik ist, deren eigentliches Anliegen – die Darstellung vom Übergang des antikrömischen Caesarentums auf die deutschen Kaiser des Mittelalters – durch weitschweifige Fabeleien wie jener von Astrolabius und einem nur geringen Wahrhaftigkeitsanspruch verunklärt wird. Damit war sie sowohl für die Historiografen wie auch für die Philologen unter den Humanisten ohne nennenswertes Interesse, und so erklärt es sich auch, dass das Werk zwar in zahlreichen mittelalterlichen Abschriften existiert, vor 1849 aber niemals gedruckt wurde.12 || 9 PANOFSKY (Anm. 1), S. 11 f.: er wânde, daz daz pilde bî im laege. 10 Dies will PANOFSKY (Anm. 1), S. 10, unter Verweis auf Wilhelm von Malmesbury und eine Novelle von Prosper Mérimée (sic!) nahelegen. Keinerlei Resonanz des Motivs dagegen bei Manfred KERN u. Alfred EBENBAUER (Hgg.), Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin 2003, S. 639–662, zur Astrolabiuslegende S. 647 f. 11 Vgl. in diesem Sinne KERN u. EBENBAUER (Anm. 10), S. 655, die auf die ältere, doch anders sich entwickelnde Erzählung bei Wilhelm von Malmesbury im Kontext des Pygmalion-Mythos’ verweisen. NELLMANN (Anm. 8) formuliert es deutlicher (Sp. 961 f.): „Gemessen an der reichen und weitgestreuten Überlieferung sind die bisher nachgewiesenen Spuren literarischer Rezeption […] nicht eben zahlreich.“ Und weiter: „Panofskys These von Dürers Kenntnis der vv. 13086 ff. […] ist kaum haltbar.“ 12 Hans F. MASSMANN, Der Keiser und der Kunige Buoch oder die sogenannte Kaiserchronik, 3 Bde., Quedlinburg, Leipzig 1849–1854. Für Nürnberg selbst ist nur ein Fragment aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Germanischen Nationalmuseum nachgewiesen (Sign. Hs 22067, laut OnlineKatalog dem Museum 1867 von einem Heidelberger Gelehrten übereignet), vgl. Edward SCHRÖDER (Hg.), Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 8: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters, T. 1), Hannover 1892, S. 18. Von den sieben Abschriften und Fragmenten in der Bayerischen Staatsbibliothek scheint keines aus Nürnberg dorthin gelangt zu sein.

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Der entscheidende Grund für die Ablehnung von PANOFSKYS Deutung aber liegt auf einer ganz anderen Ebene. Denn es muss für Dürers humanistisches Milieu ernsthaft bezweifelt werden, dass diese negative Charakteristik der Venus als Werkzeug der Hölle, die dem Erkenntnishorizont eines Regensburger Geistlichen des Hochmittelalters entstammt, noch von Belang gewesen sein sollte. Dieses Motiv aber ist für die Einverwandlung antiker Motive in Literatur und Bildender Kunst, wie sie Dürer und sein humanistisches Umfeld damals angestrebt haben, so unbrauchbar wie nur irgend möglich, und es ist PANOFSKY selbst, der dies unfreiwillig bestätigt: Ganz sachgerecht führt er Dürers berühmten, programmatischen Ausspruch aus dem Entwurf für die Vorrede zu seinem unvollendeten Malerei-Traktat an, wie man für die bestmögliche Darstellung Christi den Apoll und für jene Samsons den Hercules heranziehen solle. Damit betont er – wiederum zu Recht – die Tatsache, dass mit Dürers Werken erstmals in der deutschen Kunst die Entsprechung von antiquarischem Inhalt und antiquarischer Form diskutiert wird. Doch die Auslassungszeichen in dem Zitat13 betreffen genau jenen Abschnitt in Dürers Gedankengang, der seiner negativen Deutung der Venus diametral zuwiderläuft: Denn wie die Künstler der Antike prawcht haben Fenus als das schönste weib, also woll wir dy selb tzirlich gestalt krewschlich darlegen der aller reinesten jungfrawen Maria, der muter gottes.14 PANOFSKY hat also offenbar erkannt, dass seine Argumentation an dieser Stelle problematisch geworden wäre, und die bewusste Stelle gezielt unterdrückt.15 So ist nach einer Interpretation zu suchen, die Dürers aktiver Teilhabe an der antiquarisch-humanistischen Hochkultur um 1500 mehr entspricht. Dabei ist zunächst zu fragen, ob aus dem bildlichen Sachverhalt heraus keine Alternative zur negativen Venus-Ikonografie herleitbar wäre. Hier ist die Bilderzählung noch einmal beim Wort zu nehmen, der zufolge die Frau ja durch die Wange der Ofenbank von der Teufelserscheinung räumlich und optisch deutlich getrennt ist, so dass sie nicht ohne weiteres als Verführerin zum höllischen Gefolge gezählt werden kann. Sie präsentiert sich auch dem Schlafenden – zumal mit verhülltem Schoß – nicht frontal, sondern wendet sich mit ihrer Kopfwendung und Gestik sowie redend geöffnetem Mund an ihn. Unterstrichen wird dies noch durch den Zeigegestus, der sich letztlich nur auf den großen Kachelofen beziehen lässt. Da dieser jedoch als Spender der einlullenden Wärme integraler Bestandteil des Bedrohungsszenarios ist, müsste also in Erwägung gezogen werden, dass die Frauengestalt den Schläfer

|| 13 PANOFSKY (Anm. 1), S. 16, Anm. 33. 14 Hans RUPPRICH (Hg.), Dürer. Schriftlicher Nachlass, Bd. 2: Die Anfänge der theoretischen Studien / Das Lehrbuch der Malerei (...) / Ein Unterricht alle Maß zu ändern, Berlin 1966, S. 104. 15 Später weitete PANOFSKY seine These noch dahingehend aus, dass der Schläfer „als ein moralisch-satirischer Vorläufer der Melencolia I gedeutet werden“ könne, vgl. Raymond KLIBANSKY, Erwin PANOFSKY u. Fritz SAXL, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, München 1990 (engl. EA London 1964), S. 428.

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vor den Gefahren der Acedia warnt und ihn zum Erwachen und zur Aufnahme einer Tätigkeit anhält. Ebenso ist zu beachten, dass sich das Verhängnis bei genauem Hinsehen ja noch nicht vollzogen hat, denn zum einen ist dem Mann bereits die rettende Warnerin erschienen und zum anderen steckt die Mündung des Blasebalgs noch nicht in seinem Ohr. Es hat sogar den Anschein, als wenn auch der Putto – zumal ohne Bogen und Pfeile – nicht zwingend als Amor anzusprechen sei und seine ikonografische Bewandtnis stattdessen genau darin bestünde, das Unentschiedene der Situation zu veranschaulichen: Es ist noch nicht ausgemacht, ob es ihm gelingen wird, die beiden Stelzen zu ersteigen und damit seine Schritte zu machen, ohne zu stürzen. In dieselbe Richtung weist auch die Ikonografie der Kugel, die auf zwei weiteren Kupferstichen Dürers als Bildmetapher der Unsicherheit und Unentschiedenheit erscheint.16 Vor diesem Hintergrund kann man auch aus PANOFSKYS prinzipiell wohl zutreffender Betonung des Fingerrings, an den er die Argumentationskette der Astrolabiuslegende knüpft, einen ganz anderen Schluss ziehen. Denn letztlich könnte auch er als Hinweis darauf gedeutet werden, dass es sich bei der Nackten eben nicht um eine antike Göttin handelt, weil ein solcher Ring gegen das antiquarische Decorum verstoßen hätte, wie noch zu zeigen sein wird. Um wen also handelt es sich bei der bildbeherrschenden Frauengestalt dann? Einen wichtigen Fingerzeig bietet hier ein ikonografischer Umweg in Gestalt eines Kupferstichs, der die Signatur des Giovanni Antonio da Brescia trägt (Abb. 2).17 Wie die meisten Werke des oberitalienischen Meisters ist er undatiert und zeigt einen Frauenakt, der vor dem kleinteiligen Landschaftshintergrund mit seinem niedrigen Horizont groß und massig wirkt. Leicht vorgeneigt verharrt die Nackte steif und etwas unbeholfen in einem mühsam wirkenden Kontrapost und rafft mit der Linken den Mantelsaum vor ihrer Scham, während sie mit der rechten Hand hinter sich zu greifen scheint. Bei seitenverkehrter Betrachtung offenbart der Vergleich mit dem Dürerschen Frauenakt eine Reihe von Übereinstimmungen – genannt seien hier jeweils die anatomische Gestaltung des Oberkörpers sowie die Stellung von linkem Arm und Bein –, so dass sie der Italiener von Dürer übernommen haben dürfte. Die offene Datierungsfrage ist hier besonders problematisch, weil sich die landläufige Festlegung auf 1509 oder später nicht so ohne weiteres festschreiben lässt. Dazu ist auch die Inschrift in der unteren linken Ecke zu betrachten: Rome noviter repertvm

|| 16 So stehen die Personifikationen der Fortuna von etwa 1495/96, vgl. SCHOCH (Anm. 2), Nr. 5, und der Nemesis von etwa 1500, vgl. ebd. Nr. 33, jeweils auf einer Kugel als Ausdruck der Willkür ihrer Gunst. 17 Zu Person und Werk zuletzt Gudula METZE, Ars nova. Frühe Kupferstiche aus Italien. Katalog der italienischen Kupferstiche von den Anfängen bis um 1530 in der Sammlung des Dresdener Kupferstichkabinetts, Petersberg 2013, S. 148–157.

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Abb. 2: Giovanni Antonio da Brescia: ROM[A]E NOVITER REPERTVM, ca. 1500–1520. Kupferstich, 30,1 x 20,9 cm. © The British Museum, London, Inv.-Nr. 1860,0609.44.

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Abb. 3: Sog. Venus Mazarin. Römisch, 2. Jahrhundert n. Chr. Marmor, 184 cm. © The J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Inv.-Nr. 54.AA.11.

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(unlängst in Rom gefunden) ist dort in Capitalis antiqua zu lesen. Dies ist augenscheinlich auf einen Antikenfund zu beziehen, der als „Badende Venus“ um 1510 in Rom nachzuweisen ist und sich heute als „Venus Mazarin“ im Getty Museum in Los Angeles befindet (Abb. 3).18 Allerdings zeigt der direkte Vergleich, dass der qualitativ eher mittelmäßige Stich, abgesehen von linkem Arm und Gewandpartie, gar kein genaues Abbild dieser Statue gibt, sondern wie in einem Pasticcio auch Elemente anderer antiker Frauenakte zeigt, darunter nicht zuletzt jener Dürers von 1498, bei dessen Stich er sich namentlich in der plastischen Ausformulierung des Oberkörpers bedient zu haben scheint. Dies kann indes kaum überraschen, da von seiner Hand auch ein seitenverkehrter, sehr schematischer Nachstich der „Versuchung des Müßiggängers“ in toto existiert.19 Auffallend ist auch, dass Giovanni Antonio da Brescia in seiner Inschrift gar nicht erwähnt, dass es sich bei dem Fund um eine Venus gehandelt hat; zudem fehlt der Delphin als jenes Attribut, das dem kundigen Betrachter den Sachverhalt sofort klar gemacht hätte. So scheint es ihm weniger um die bildliche Dokumentation eines bestimmten Antikenfunds gegangen zu sein, als vielmehr um die Tatsache, dass eben nach Rom kommen müsse, wer die Antike in ihrer Gesamtheit erfahren wolle. Dies träfe dann aber auch auf einen römischen Antikenfund ganz anderer Natur zu, der dem Künstler zweifellos bekannt war, weil er seit seiner Ausgrabung im April 1485 rasch zu einer echten Sensation geworden war, die im Grunde bis in die Gegenwart fortwirkt.20 Auf ihn war 1860 kein geringerer als Jacob BURCKHARDT im Rahmen seiner berühmten Studie über die italienische Renaissance-Kultur aufgrund der breiten literarischen Überlieferung dieses Fundes gestoßen.21 HÜLSEN hat diese 1883 gesammelt und rekonstruiert den Vorfall aus mehreren Quellen wie folgt: Mitte April 1485 wurden bei Gelegenheit von Grabungen in dem dem Kloster S. Maria Nuova gehörigen Fondo Statuario etwa am 6. Meilenstein der Via Appia mehrere antike Monumente gefunden: zwei Statuenbasen mit Inschriften des Praefectus praetorio Herennius Potens, Reste || 18 Vgl. Phyllis Pray BOBER u. Ruth RUBINSTEIN, Renaissance Artists and Antique Sculpture. A Handbook of Sources, London 1986, Nr. 15. 19 Vgl. Arthur Mayger HIND, Early Italian Engraving. A Critical Catalogue, Bd. 7: Known masters other than Florentine monogrammists and anonymous, New York 1948, Nr. 38. 20 Bis heute ist im Musée Wicar in Lille die Wachsplastik eines jungen Mädchens (sog. „Tête de cire“) zu sehen, mit ihrer zeitlosen Schönheit eines der bekanntesten Stücke der Sammlung. Nachdem man sie zunächst für ein Werk aus dem Umkreis Raffaels oder Leonardos hielt, verwies der deutsche Kunsthistoriker Henry THODE 1883 auf die Möglichkeit, dass es sich bei dem Kopf in Lille um eine zeitgenössische Wachsnachbildung dieses Mädchengesichts nach seiner Exhumierung handeln musste, womit also die Kunstauffassung der Antike und der italienischen Renaissance in diesem außerordentlichen Porträt im wahren Wortsinne miteinander verschmolzen worden seien, vgl. Henry THODE, Die römische Leiche vom Jahre 1485. Ein Beitrag zur Geschichte der Renaissance, in: Mittheilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 4 (1883), S. 75–91. Heute gilt es als spätbarocke Wachsplastik ohne Bezug zu der römischen Mädchenleiche. 21 Jacob BURCKHARDT, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860, S. 183 f.

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eines Grabes von Freigelassenen der gentes Tullia und Terentia, endlich in einem inschriftenlosen Sarkophag eine durch künstliche Mittel conservirte antike Leiche. Dass sie weiblichen Geschlechts gewesen, ist von der Mehrzahl der Autoren überliefert. Die Glieder hatten ihre natürliche Biegsamkeit, das Haar seine schwarze Farbe, die Zähne und Nägel ihre Festigkeit und Weisse bewahrt. Angeblich fand man auch Schmuck an Haupt und Fingern der Leiche. – Der Körper wurde am folgenden Tage im Palast der Conservatoren öffentlich ausgestellt und erregte das Interesse der Antiquare wie die Neugierde des Volkes im höchsten Grade. Nach wenigen Tagen aber ward der Körper durch den Einfluss der Luft schwarz, worauf er in Folge eines päpstlichen Befehles heimlich ausserhalb der Porta Pinciana verscharrt wurde.22

BURCKHARDTS Haltung gegenüber dem Sensationsfund war von einer gewissen Skepsis getragen, aber seine Einschätzung des Vorfalls dürfte kaum an Gültigkeit verloren haben, wenn er schreibt: Das Rührende an der Sache ist nicht der Thatbestand sondern das feste Vorurtheil, daß der antike Leib, den man endlich hier in Wirklichkeit vor sich zu sehen glaubte, nothwendig herrlicher sein müsse als Alles, was jetzt lebe.23

Von dieser Stelle aus sei der Blick erneut auf Dürers Kupferstich gerichtet. Es gibt nämlich zwei Quellennachweise dafür, dass die römische Mädchenleiche von 1485 auch in seinem engsten intellektuellen Umfeld literarisch verarbeitet wurde. Hier ist an erster Stelle der bekannte Nürnberger Arzt und Humanist Hartmann Schedel zu nennen, der in seiner bedeutenden, in weiten Teilen noch unausgewerteten Münchner Handschrift über die römischen Altertümer auch ein Kapitel über Grabinschriften bedeutender Frauen aufgenommen hat.24 Dort findet sich eine weitere Beschreibung des Leichenfundes in Gestalt eines Briefs von einem Unbekannten aus Rom an Schedel vom 15. April 1485.25 Er ist der Forschung seit langem bekannt,26

|| 22 Christian HÜLSEN, Die Auffindung der römischen Leiche vom Jahre 1485, in: Mittheilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 4 (1883), S. 433–449, hier S. 448. 23 BURCKHARDT (Anm. 21), S. 184. 24 Zu Schedel vgl. Franz-Josef WORSTBROCK u. Beatrice HERNAD, Hartmann Schedel, in: Der deutsche Humanismus 1480−1520. Verfasserlexikon, Bd. 2 (2008), Sp. 819−840; Hartmann Schedel, Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus, entstanden zwischen 1502 und 1505, mit Nachträgen bis 1512, Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 716, vgl. zuletzt die Beschreibung in: WELTEN DES WISSENS. Die Bibliothek und die Weltchronik des Nürnberger Arztes Hartmann Schedel (1440–1514), Ausstellungskatalog Bayerische Staatsbibliothek München 2014, München 2014, Kat.Nr. 3.4 (Kerstin HAJDÚ). 25 Demnach sind Teile der Handschrift älteren Datums als der Zeitraum ihrer Zusammenstellung. 26 Neben dem von HÜLSEN herangezogenen Steffano Infessura (vgl. Anm. 22) ist besonders der Codex Ashmolensis zu erwähnen, eine Zusammenstellung antiker Funde von der Hand des Bartolomeo Fonzio (ca. 1446–1513) in der Bodleian Library in Oxford (MS. Lat. misc. d. 85), weil er eine Zeichnung des Leichnams enthält, vgl. unter unter https://digital.bodleian.ox.ac.uk/inquire/p/e61d 293e-c778-44d8-9182-7aa528fafe69 (31.08.2019). Zahlreiche weitere Quellen und auch das Nachleben dieser Episode noch in Drucken des 16. Jahrhundert zitiert HÜLSEN (Anm. 22).

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doch weil er für diese Überlegungen von entscheidender Bedeutung ist, folgt hier die vollständige Übersetzung: Es folgt die Klage um den Leichnam einer Frau, ausgegraben in Rom 1485. 1485 15. April, Rom Meinen Gruß zuvor! Da ich weiß, dass Du äußerst begierig auf Neuigkeiten bist, hat es mich gedrängt, Dir das zu schreiben, was sich neulich an Wunderdingen zugetragen hat. Unlängst wurde von jenen, die die Grundmauern alter Gebäude durchforsten,27 außerhalb der Porta Appia, weit vor der Stadt, fünf Meilen, das sind 5000 Doppelschritte, ein nahezu unversehrter weiblicher Leichnam in einem Sarkophag aus kostbarstem Marmor gefunden, an einem Ort, der heute Statuarium [svw. „Platz der Standbilder“, Anm. d. Verf.] heißt. Der Leichnam hatte die Haare auf dem Kopf zu einem Knoten gewunden und in einer Verschlingung am Hinterkopf zusammengebunden (wie heute die Ungarn), und er war mit einer goldenen Haube bedeckt gewesen und mit einer goldenen Schnur, die das Haupt zierte[.] Aber die Binde und die Schnur waren geraubt worden, zusammen mit einem Ring, den sie an der linken Hand am Ringfinger trug, wie der Abdruck zeigt. Die Augen waren geöffnet, Ohren, Nase, Wangen, Bauch, Arme, Hände, Oberschenkel, Unterschenkel, Knie, Schienbeine, Füße – soll ich noch mehr sagen? Alle Körperteile [waren] unversehrt, und auf Berührung und Druck erhoben sie sich wieder [erg. zu alter Form], ganz so, dass man sie für Wachs halten könnte. Sämtliche Formen jenes Leichnams beweisen, dass sie eine ganz außerordentliche Schönheit besessen hat. Freilich haben die Entdecker, die nirgends gefunden werden (es herrscht nämlich die Meinung, dass sie auch Gegenstände von bedeutendem Wert mit dem Körper gefunden hätten), verkündet, es seien 1500 Jahre, die jene bereits tot sei. Aber darüber ist das Volk in verschiedene und gegensätzliche Meinungen gespalten; mit einem Wort: Man schätzt, es seien annähernd tausend Jahre. Die meisten wollen, es sei Tulliola,28 die Tochter Ciceros. Denn erstens ist ihr Grabmal, dessen Inschrift ich gesehen und gelesen habe, bei dem des Vaters dort in nächster Nähe; zweitens weil an jenem Ort, wo sie bestattet war, Cicero Grundstücke besessen hatte. Aber wessen Tochter oder Gattin sie auch immer gewesen sei, so hat sie doch zweifellos berühmte Eltern gehabt, weil eine solche Sorgfalt und Mühe auf die Erhaltung ihres edlen Körpers verwendet wurde; mit Myrrhe, Aloë-Balsam, Zedernöl und vielen anderen starken Duftwässern ist der Körper geschützt worden (in der Dicke zweier Finger), dass er durch deren Qualität bis auf den jetzigen Tag völlig unversehrt geblieben ist, wenigstens soweit man das sehen konnte. Ich wünschte, Du hättest sie mit mir an dieser Stelle gesehen, wo sich dieser Fund ereignet hat. Die Haut war weiß und alles weich, sie roch wunderbar – das wäre Dir wahrhaftig ein höchst erfreulicher Anblick gewesen. Welch ein Menschenauflauf, welche Volksmenge damals an dieser Stelle und bei dem Leichnam das war, kann ich mit Worten kaum ausdrücken. Aber am folgenden Tag ist sie auf das Kapitol hergebracht worden, wo dann der Zustrom der Menschen noch größer war, besonders der Frauen. Du würdest glauben, es hätte dort Ablässe gegeben, und noch heute kommen sie dorthin. Ihr Grabmal wurde der Erde noch nicht entrissen; dennoch verbreitet man, es sei eine gewisse Grabinschrift gefunden worden, die besagt, dass jene Julia Prisca Secunda gewesen sei, Tochter des Quintus Clodius. Und darunter: ‚Und in || 27 Infessura schreibt hier fodientes et qui super eos erant, vgl. THODE (Anm. 20), S. 83. 28 Hier weist sich der Schreiber durch die Verkleinerungsform Tulliola für Tullia als Kenner der Briefe aus, die Cicero aus der Verbannung an seine Familie geschrieben hat, vgl. M. Tulli Ciceronis epistularum ad familiares libri XVI, hrsg. v. Helmut KASTEN, 2. Aufl. Darmstadt 1976, B. 14: 1,3; 2,1; 3,1; 8,1.

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nichts hat sie jemals einen Fehler begangen, als darin, dass sie gestorben ist.‘ Und unten[:] ,in Rom, im Haus des Scipio‘. Das sind die Dinge, die sich in Rom allerjüngst ereignet haben, und wie sich die ganze Stadt zum Schauen aufgemacht hat. Wenn noch anderes vorfällt, werde ich es Dich wissen lassen. Wie es unserem Papst29 geht, ist mir nicht recht klar; er wurde nämlich von niemandem gesehen; ich glaube dennoch, dass er an irgendeiner Krankheit leidet. Du lebe wohl und sei nachsichtig mit meinem Geschwätz. Wie ich es geschrieben habe, so haben sich die Dinge ereignet. Ich glaube mit Sicherheit, dass dies ein bedeutendes Vorzeichen gewesen ist; mögen es die Götter zum Guten wenden. Noch einmal: Leb wohl!30

Wenn PANOFSKY also zumindest mit seiner Vermutung recht gehabt hätte, dass der Fingerring als der entscheidende Schlüssel für das richtige Verständnis von Dürers Kupferstich anzusehen sei, dann kann dieser ebensogut die Perspektive einer Neuinterpretation eröffnen: Demnach erschiene hier in einer Traumvision die römische Mädchenleiche mitsamt dem „Ring, den sie an der linken Hand am Ringfinger trug“ pars pro toto für die antike Kultur in ihrer Gesamtheit dem Schläfer und spricht ihn mahnend an: Ihre Überreste drohten unterzugehen, wenn er – seinerseits pars pro toto für die Humanisten – sich nicht erhebe und sie in seinen Werken fortleben lasse. Entspräche diese Deutung an sich schon dem hohen Ton der humanistischen Antikenbegeisterung weit mehr als die christliche Moraldidaxe der mittelalterlichen Astrolabius-Legende, so gibt es auch noch einen weiteren Quellentext aus Dürers engstem Umkreis, der die neue Interpretation stützt. Denn tatsächlich hat sich mit dem römischen Leichenfund auch niemand geringeres als der damals führende deutsche Humanist Konrad Celtis dichterisch auseinandergesetzt, der aufgrund der engen Zusammenarbeit mit Albrecht Dürer einen prägenden Einfluss auf dessen frühe geistige Entwicklung genommen hatte. Sie sollte mit dem vielbesprochenen Philosophie-Holzschnitt, den sie gemeinsam entwickelt hatten, in den ‚Quatuor libri amorum‘ von 1502 einen Höhepunkt finden.31 Kenntnis von dem Fund hatte Celtis davon vermutlich als unmittelbarer und mit den italienischen Humanisten bestens vernetzter Zeitzeuge, aber da er mit Hartmann Schedel befreundet und beim Projekt des ‚Archetypus‘ ebenso involviert war, könnte auch dieser die Quelle der Anregung gewesen sein. In einem Epigramm nun legt der Humanist unter dem dem Titel ‚De puella Romae reperta‘ dem Mädchen die folgende Mahnung an die Nachwelt in den Mund:

|| 29 Der kränkliche Innozenz VIII., reg. 1484−1492. 30 Folgt das Epigramm, s. Anhang I. Für die kritische Durchsicht von Transkription und Übersetzung sei Joachim GRUBER, Erlangen, an dieser Stelle herzlich gedankt. 31 Dazu noch immer grundlegend Dieter WUTTKE, Humanismus als integrative Kraft. Die Philosophia des deutschen ‚Erzhumanisten‘ Conrad Celtis, in: DERS., Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren (Saecvla spiritalia, Bd. 29/30), 2 Bde., Baden-Baden 1996, Bd. 1, S. 389–354; zuletzt Thomas SCHAUERTE, Dürer & Celtis. Die Nürnberger Poetenschule im Aufbruch, München 2015.

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Tausend Jahre hindurch ruhte ich eingeschlossen in diesem Grabhügel; nun ausgegraben, spreche ich zu den Römern: Keinen von den römischen Bürgern vom alten Schlage sehe ich, keine Männer, hervorragend durch Gerechtigkeitssinn und Frömmigkeit. Sondern ich erblicke mit traurigem Herzen nur große Ruinen, Grabmäler schon für die Männer aus alter Zeit. Wenn du mir nach hundert Jahren wieder begegnen wirst, wird kaum etwas übrig sein vom römischen Namen, denke ich.32

Perspektiviert man diese Worte nun auf Dürers sprechenden Frauenakt und den trägen Schläfer, dann ergäbe dies durchaus Sinn: Anstatt sich faul der gefährlichen Ofenwärme und damit den Nachstellungen des Teufels auszusetzen, solle er sich lieber aufraffen und vom antiken Erbe retten, was noch zu retten sei. Nachdem aber der Name des Konrad Celtis nun auch an dieser wichtigen Stelle gefallen ist, sei der Blick noch einmal auf die bereits erwähnte starke Porträthaftigkeit der Gesichtszüge des Schlafenden gerichtet. Von den bisherigen Identifikationsversuchen hat sich bislang zwar keiner durchgesetzt,33 doch ist die Hypothese BONNETS von 2001, wonach es sich dem um den damals knapp vierzigjährigen Konrad Celtis handeln solle, hier wohl noch eimal einer Prüfung zu unterziehen.34 Die Gegenüberstellung mit dem Porträt auf dem sogenannten „Sterbebild“, das Hans Burgkmair d. Ä. für den Dichter 1507 geschaffen hatte (Abb. 4), lässt in der Tat verblüffend starke Übereinstimmungen erkennen: Hier wie dort finden sich der lange Nasenrücken, die markant herabgezogenen Mundwinkel, das ausgeprägte Doppelkinn sowie ein ähnlicher Zuschnitt der Augenbrauen, und auch ein Altersunterschied von etwa zehn Jahren erschiene zwischen den beiden Bildnissen vertretbar. Es wäre nun auf den ersten Blick natürlich eine zweifelhafte Ehre, durch das Verbreitungsmedium der Druckgrafik eine allgemein bekannte Persönlichkeit als Faulpelz hinter dem Ofen bloßzustellen.35 So dürfte der volle Bildsinn von Dürers Kupferstich erst dann erschlossen sein, wenn sich auch der vermeintliche Widerspruch dieser – fraglos sehr ungewöhnlichen – Identifikation auflösen ließe. Doch wenn das Kunstwerk tatsächlich so eng mit den Literaturen seiner Entstehungszeit interagiert, wie es die bisherigen Überlegungen nahelegen, dann müsste auch die Ermunterung, die dem schlafenden Celtis hier durch die Erscheinung des römischen Mädchens zuteilwird, ihre Entsprechung in der humanistischen Schrift- und Brief-

|| 32 Lateinischer Wortlaut s. Anhang II. Das Epigramm wurde erst 1827 gedruckt; Übersetzung nach Leonard FORSTER, Selections from Konrad Celtis 1459–1508. Edited with Translation and Commentary, Cambridge 1948, S. 35. 33 Vgl. SCHOCH (Anm. 2), S. 65, 67. 34 Anne-Marie BONNET, ‚Akt‘ bei Dürer (Atlas. Bonner Beiträge zur Renaissanceforschung, Bd. 4), Köln 2001, S. 104 f., unter Verweis auf Burgkmairs Holzschnitte und das enge Verhältnis, das zwischen Dürer und Celtis bestand (s. o. Anm. 31). 35 Vgl. in diesem Sinne gegen sämtliche Identifikationsversuche SCHOCH (Anm. 2), Nr. 15.

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Abb. 4: Hans Burgkmair d. Ä.: Bildnis des Konrad Celtis. Det. aus: Epitaph des Konrad Celtis, Holzschnitt 1507/08. Gegenüberstellung mit dem Kopf des Schlafenden aus Abb. 1.

kultur finden. Und tatsächlich findet sich ein literarisches Äquivalent dazu: Dabei geht es um die topische Aufforderung an einen Adressaten, angesichts seiner überragenden Geistesgaben nun auch endlich im Sinne des Humanismus und seiner Verbreitung aktiv tätig zu werden. Dies formuliert etwa Celtis selbst in der Ode an seinen Mentor und Mäzen Sixtus Tucher,36 doch wird er auch seinerseits zum Adressaten solcher Exhortativ-Topik, wenn ihn sein Freund Sebald Schreyer in einem Brief so dringlich dazu auffordert, seine Schriften endlich drucken zu lassen, dass sich der Dichter genötigt sieht, sein Zögern zu rechtfertigen, indem er dem Nürnberger Freund am 1. Februar 1502 – also im unmittelbaren Vorfeld der Publikation der ‚Amores‘ − ausführlich schreibt: Du forderst mich mit vielen gerechten und gewichtigen Gründen auf, meine Schriften, mit denen ich mich schon über elf Jahren trage, herauszugeben. Ich weiß, Du tust es aus treuem und redlichem Herzen, und längst würde ich Deinem vernünftigen Rat gefolgt sein, wenn mich nicht ein ernsthafter Grund und, ich möchte sagen, die Rücksicht auf die Seltsamkeit dieser

|| 36 Eckart SCHÄFER, Oden, Epoden, Jahrhundertlied / Libri odarum quattuor, cum epodo et saeculari carmine, Tübingen 2008, S. 149, v. 29 f.: „Dich, den unsere Bücher rühmen, werden daher bald alle Völker im Erdkreis lesen“ – wenn Tucher nur endlich aufhörte, sich mit profanen Rechtsgeschäften herumzuschlagen; vgl. dazu Antonia LANDOIS, Gelehrtentum und Patrizierstand. Wirkungskreise des Nürnberger Humanisten Sixtus Tucher (1459–1507), Tübingen 2014, S. 277.

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Geburt37 zurückgehalten hätte. [...] Nicht zu jeder Zeit nämlich und nach ihrem Belieben, sondern nur, wenn sie von einer Kraft in ihnen, oder soll ich sagen: von einer Gottheit, getrieben, in Begeisterung geraten, und wenn der Schaffensdrang sie überkommt.38

Tatsächlich bestand bei Celtis ein gewisser Widerspruch zwischen seiner poetischen Vielgeschäftigkeit und den verhältnismäßig wenigen Drucken bei Lebzeiten. Doch ist es im hier gegebenen Zusammenhang wohl am interessantesten, dass auch Dürer eine solche dichterische Aufforderung von Seiten des Celtis zuteilwurde. Sie findet sich in den seit ihrer späten Entdeckung 1967 durch WUTTKE vielbesprochenen Epigrammen, in denen der Dichter den Künstler absichtsvoll zu einer Reinkarnation von Apelles, dem berühmtesten Maler der Antike verklärt. Dort heißt es zum Schluss: „Mach dich ans Werk, male unsere Philosophie, die dir alles Wissen der ganzen Welt vermittelt.“39 Der Kreis zwischen den hier Beteiligten schließt sich angesichts der Tatsache, dass Hartmann Schedel eine Mittlerfunktion zwischen Dürer und dem häufig abwesenden Celtis besessen haben dürfte, wie seine bildlichen und schriftlichen Notate zum Philosophie-Holzschnitt zeigen.40 Er kommt als Anreger, vielleicht auch Geldgeber für Dürers außergewöhnlichen Kupferstich also durchaus in Frage. In einer Art imitatio poetarum setzt er ins Bild um, was in der Literatur der Zeit geläufig war, und wendet sich zunächst direkt an Konrad Celtis mit der Aufforderung, seine Anstrengungen für die Verbreitung von Humanismus und antiker Kultur zu verstärken. Was ihn zunächst als problematisch erscheinen lassen mag, ist paradoxerweise auch ein starkes Argument für diesen Deutungsansatz: die Tatsache nämlich, dass Dürers frühe, humanistisch beeinflusste Blätter in der Einflusssphäre des Konrad Celtis entstanden sind und dabei ganz offensichtlich von der Hoffnung getragen waren, dass der Humanist auch publizistisch vor dem großen Durchbruch stünde, womit die zahlreichen Interferenzen zwischen dessen Publikationen und Dürers Druckgrafik für jeden Gebildeten alsbald leicht greifbar geworden wären.41 So dürfte auch von Seiten des Künstlers das Anliegen seines Kupferstichs an Celtis ein zutiefst persönliches gewesen sein, denn ohne eine gedruckte Fassung des Epigramms auf den römischen Leichenfund musste der Kupferstich beinahe zwangsläufig unver-

|| 37 Hier im Sinne von Geburt eines Textes. 38 Hans RUPPRICH, Der Briefwechsel des Konrad Celtis, München 1934, S. 473; Übersetzung bei Kurt ADEL, Poeta laureatus, Graz 1960, S. 108. Der Brief Schreyers selbst ist nicht überliefert. 39 Übersetzung bei: Jörg ROBERT, Dürer, Celtis und die Geburt der Landschaftsmalerei aus dem Geist der „Germania illustrata“, in: Daniel HESS u. Thomas ESER (Hgg.), Der frühe Dürer, Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum 2012, Nürnberg 2012, S. 65–77, hier S. 71. 40 Vgl. ausführlich Peter LUH, Kaiser Maximilian gewidmet. Die unvollendete Werkausgabe des Conrad Celtis und ihre Holzschnitte (Europäische Hochschulschriften, Reihe 28, Bd. 377), Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 64–122. 41 Für die etwa 1496 als Gruppe entstandenen Holzschnitte Ercules, ‚Männerbad‘ und ‚Reiter und Landsknecht‘ vgl. SCHAUERTE (Anm. 31), passim.

Die Stimme aus dem Grab | 625

ständlich werden – ein Schicksal, das er dann mit vielen druckgrafischen Werken aus Dürers Frühzeit teilte.

Quellenanhang I Sequitur Deploratio Cadaueris muliebris effossi Rome 1485. · 1485 · · Aprilis · xv · Romae ·:− Salutem. Quum te Rerum nouarum cupidissimum esse sciam: non alienum ab animo meo duxi: ea ad te perscriberem quae nuper accidissent mirabilia. Jnuentum est Superioribus42 ab his qui fundamenta antiquorum edificiorum percontantur: extra portam Apiam longe ab urbe quinque lapidum est quinque milium passuum. Muliebre cadauer penitus integrum In loco quidem nunc Statuarium appellatur In Sepulcro marmoreo speciosissimo: Habens Caput: Crines in nodum tortos: & in nexum collectos in occiput (quemadmodum hodie vngari) infulaque aurea tectum erat cum aureo funiculo caput tingente: Sed infula: funiculumque raptus fuere: vna cum annulo: quem in sinistra manus gerebat annulari digito/ ut vestigium indicat: Oculi aperti erant/ Aures/ nasus/ Male/ venter/ Brachia/ manus/ femora/ crura/ Genua/ Tibie/ pedes. Quid plura? totius corporis partes integre/ tacteque et presse/ surgebant: perinde ut ac Cera ducebantur. Omnis illius cadaueris liniamenta/ eximiam pulchritudinem in ea fuisse prae se ferunt. Annos 24. ex specie nata fuisse videtur. Cadaueris quippe inventores: qui nusquam reperiuntur (est enim opinio illos res magnis valoris cum corpore inuenisse) publicauerunt esse 1500 annos quibus illa mortua est. Sed de hoc in diuersa & in contraria scinduntur uulgus: Prorsus tamen existimatur esse prope millesimum annum. Plerique Ciceronis filiam voluere Tulliolam. Namque monumentum illius[,] Cuius Epigramma vidi et legi eo loco[,] patris illic est in proximo loco: tum quod eo in loco ubi humata illa erat: Agros habuerit Cicero. Verum cuiuscumque vel filia vel vxor fuerit: Illustres profecto parentes habuit[,] Cum tanta adhibita sit ad illius nobilissimi corporis conuersacionem & industria & cura/ Mirra et balsamo Aleo oleo Cedrino/ multisque ex aliis liquoribus fragrantissimis corpus munitum est (duorum digitorum spissitudine) quorum virtute in hucusque diem integerrimum mansit: sub specie videntis. Quam cuperem vna mecum eo in loco vidisses/ vbi id repertum extitit. Cutis alba erat: et omnia mollia: optime olebat: profecto tibi Jocundissimum visum fuisse. Quantum hominum concursus: Quanta tum illius loci: et cadaueris frequentacio populi erat: verbis vix consequi possum. Postero autem die: allatum in Capitolium fuit: vbi tunc maior atque confluctus hominum: praesertim feminarum. Crederes indulgentias illic fuisse: et hodie accedunt. Monumentum illius ex terra non est adhuc euulsum: Ferunt tamen Epitaphium quoddam Inuentum: Quod dicit illam fuisse Juliam priscam secundam. Quinti Clodij. F[ilia]. Et inferius[:] Nihil vnquam peccauit: nisi quod mortua est. Subtusque Rome In domo Scipionis. Hec sunt quae nouissime Rome contigerunt: & quomodo tota vrbs spectatum profecta est. Si qua alia acciderint te certiorem reddam. Quo pacto se habeat pontifex noster mihi non satis constat: a nemine enim videtur: puto tamen eum adhuc aliqua egritudine laborare. Tu vale: & ineptijs meis parce. Hec ut scripsi ita contigere. Existimo certo hoc magno fuisse prodigio: Dij bene vertant Jterum vale ·:−

|| 42 Erg.: diebus.

626 | Thomas Schauerte

Epigramma ·:− Me licet absumptum corpus spectetis & umbram Et nihil extincto gutture posse loqui Spiritus hic habitat viuo quoque clauditur arctu Nostraque in exiguo sanguine vena tepet. Quid iuuat hoc igutur [sic] spoliato corpore membra Inficere et somnos ledere quidue iuuat[?] Nec mihi sunt vestes: has si mihi surristis alter Sic vernat cineri crudior ore tuo Nonne satis fuerat violasse sepulchra: parentes Que mihi tam luctu composuere graui[?]43

Quellenanhang II De puella Romae reperta Annos mille super44 tumulo hoc conclusa iacebam; Haec nunc Romanis extumulata loquar: Non veteres video Romano more Quirites, Justitia insignes nec pietate viros. Sed tantum magnas tristi cum mente ruinas Conspicio, veterum iam monumenta virum. Si mihi post centum rursus revideberis annos, Nomen Romanum vix superesse reor.45

|| 43 Transkription nach SCHEDEL (Anm. 24), fol. 283v−286r. 44 Verbesserung von subter (nach HARTFELDER) zu super nach Dieter WUTTKE, Textkritisches Supplement zu Hartfelders Edition der Celtis-Epigramme, in: Klaus HEITMANN u. Eckhart SCHROEDER (Hgg.), Renatae litterae. Studien zum Nachleben der Antike und zur europäischen Renaissance. August Buck zum 60. Geburtstag, S. 105–130, hier S. 110, 119. Für diese und andere Hinweise sei Dieter WUTTKE, Bamberg, herzlich gedankt. 45 Transkription nach Karl HARTFELDER (Hg.), Fünf Bücher Epigramme von Konrad Celtes, Berlin 1881, ND Hildesheim 1963, S. 57.

Wiebke Ohlendorf

Lagerfeuergeschichten Die kompilatorische Rezeption des Nibelungenstoffs bei Quentin Tarantinos ‚Django Unchained‘ Abstract: The hero’s wife in the American blockbuster ‘Django Unchained’ (2012) by Quentin Tarantino is called Broomhilda. The name is used within the film as a reference to German sagas, namely to the character Brunhild of the ‘Nibelungenlied’ or to Brünnhilde from Richard Wagner’s ‘Ring des Nibelungen’, respectively. In this respect, German studies oriented towards cultural analysis considered the whole film as an adaptation of the Nibelungs. In this article, I examine the plausibility of this consideration by comparing the reception of essential motifs and structural elements of the Nibelungen narration at different stages of canonization. Special emphasis is placed on film adaptations, beginning with Fritz Lang’s ‘Nibelungenfilm’ (1924). The core thesis is that the compilatory storytelling, which is typical for the reception of the Nibelungs, offers great opportunities to tie in with changed conditions of understanding. With ‘Django Unchained’, Tarantino places himself in this tradition of artistic-receptive creativity and thus creates an independent contribution to the further development of the Nibelungen narration. The multi-layered meaning of this narrative finally unfolds with the knowing recipient. Keywords: Nibelungen, medievalism, adaptation, intermediality, motif analysis

Wenn es um die Filme des US-amerikanischen Regisseurs und Drehbuchautors Quentin Tarantino (*1963) geht, würde es wenig wundern, wenn dabei von den „reißerischen Qualitäten des Stoffes, den extremen Emotionen und Taten, die das Geschehen vorantreiben, den Strömen von Blut, die vergossen werden“2, die Rede wäre. Tarantino ist seit Beginn seiner Arbeit bekannt für die drastische Darstellung von Gewalt, die oft explizit und mit viel Filmblut in Szene gesetzt wird. Das obige Zitat bezieht sich jedoch nicht auf Tarantino, sondern auf den Nibelungenmythos, der in verschiedenen Versionen ebenso blutig und reißerisch präsentiert wird, wie man es von Quentin Tarantino kennt.2

|| 1 Joachim HEINZLE, Einleitung. Mythos Nibelungen, in: DERS. (Hg.), Mythos Nibelungen, Stuttgart 2013, S. 7–69, hier S. 7. || Wiebke Ohlendorf, Institut für Germanistik, Linguistik und Mediävistik, TU Braunschweig, Bienroder Weg 80, D-38106 Braunschweig, [email protected] https://doi.org/10.1515/9783110714340-039

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Daher überrascht es auch nicht, dass Tarantino in seinem Film ‚Django Unchained‘ (2012)3 Bezüge zum Nibelungenstoff erkennen lässt. Der Film spielt im Jahr 1858 und thematisiert die Sklaverei in den USA, wobei die Geschichte des Sklaven Django (Jamie Foxx) in den Fokus genommen wird. Gemeinsam mit dem deutschen Zahnarzt Dr. King Schultz (Christoph Waltz), der ihn eingangs aus der Hand von Sklavenhändlern befreit, unterstützt er diesen zunächst bei der Kopfgeldjagd, bevor beide beschließen, Djangos Frau zu retten, die an den sadistischen Plantagen- und Sklavenbesitzer Calvin Candie (Leonardo DiCaprio) verkauft worden war. Ihr Name ist Broomhilda (Karry Washington), womit die erste offensichtliche Verbindung zum Nibelungenstoff gezogen wird. In Interviews, die Tarantino zu ‚Django‘ gegeben hat, wird diese Verbindung oft hervorgehoben, jedoch meist von den Journalistinnen und Journalisten selbst. Im Magazin ‚Der Spiegel‘ führen die Interviewpartner an, „sogar das Nibelungenlied“4 käme vor – eine Feststellung, die von Tarantino bestätigt wird. Auch andere Interviews und Filmkritiken geben entsprechende Deutungen vor, stellen aber auch differenzierter einen Rückgriff auf die ‚Nibelungensage‘ fest.5 Diese Beispiele stammen aus deutschsprachigen Medien.6 Der Regisseur selbst spricht davon, dass der Film Ähnlichkeiten mit einem Märchen habe: „And so in fairy-tale terms they’re going to the evil kingdom. And Broomhilda […] is the princess in the tower.“7 Es gibt also je nach Hintergrund der Betrachtung verschiedene Deutungsmuster, die der Regisseur jeweils nutzt. Für die ästhetische Arbeitsweise Quentin Tarantinos ist dabei selten nur eine einzige Quelle relevant, sondern es werden verschiedene inhaltliche und strukturelle Referenzen genutzt, die den Film zum Produkt einer kompilatorischen Rezeptionsästhetik machen. || 2 Vgl. Bettina BILDHAUER, Visuality, Violence and the Return of the Middle Ages: Quentin Tarantino’s ‚Inglourious Basterds‘ as an Adaptation of the Nibelungen Story, in: DIES. u. Chris JONES (Hgg.), The Middle Ages in the Modern World. Twenty-first Century Perspectives (Proceedings of the British Acadamy 208), Oxford 2017, S. 254–275, hier S. 255: „‚Medieval‘ and ‚blood‘ go together throughout Tarantino’s oeuvre.“ 3 Quentin TARANTINO (Regie und Drehbuch), Django Unchained, USA 2012. 4 Andreas BORCHOLTE u. Thomas HÜETLIN, ‚Django‘-Regisseur Tarantino. „Das ist das Höllenfeuer“, in: Der Spiegel. 22.01.2013 https://www.spiegel.de/kultur/kino/interview-mit-django-unchainedregisseur-quentin-tarantino-a-878318.html (14.03.2019). 5 Vgl. Martin WITTMANN, „Ich habe Glück.“ Interview mit Quentin Tarantino, in: Süddeutsche Zeitung. 11.01.2013 https://www.sueddeutsche.de/kultur/quentin-tarantino-ueber-glueck-luckyson-of-a-bitch-1.1570233 (14.03.2019) oder Sigrid FISCHER, „Ein Stückchen deutscher Seele und Kultur ist in mir.“ Regisseur Quentin Tarantino im Corsogespräch. Deutschlandfunk 15.01.2013 https://www.deutschlandfunk.de/ein-stueckchen-deutscher-seele-und-kultur-ist-in-mir.807.de.htm l?dram:article_id=234305 (14.03.2019). 6 Auf die Inspiration Tarantinos durch Wagners Ring, mit dem ihn Christoph Waltz bekannt gemacht haben soll, und das Bedürfnis der deutschsprachigen Medien, eine Verbindung zur hiesigen Kultur herzustellen, weist BILDHAUER (Anm. 2), S. 257 hin. 7 Henry Louis GATES Jr., „An Unfathomable Place“, in: Transition 112 (2013), S. 46–66, hier S. 57.

Lagerfeuergeschichten | 629

Diesen Überlegungen geht mein Beitrag im Folgenden nach, indem zunächst der Nibelungenstoff und seine Rezeption vorgestellt werden. Anschließend suche ich nach inhaltlichen und formalen Verbindungen zwischen den Rezeptionsstufen des Stoffs und ‚Django Unchained‘. These ist dabei, dass Tarantino die bekannten Zeugnisse des Nibelungenstoffs aufnimmt, miteinander in Bezug zur eigenen Bildsprache und Ästhetik sowie neuer Handlungselemente setzt und daraus ein kompiliertes Gesamtwerk schafft. Die Möglichkeit, derart mit dem Stoff umzugehen, ist dabei bereits in dessen Ursprung und seiner frühen Weiterverarbeitung angelegt. Durch eine – schon zum Beginn der Adaptionen – fragmentiert-polyvalente Form der Rezeption bietet es sich auch für moderne Künstlerinnen und Künstler an, die histoire für vielfältige Interpretationen zu nutzen und sie kreativ zu rekontextualisieren. Es liegt dabei aber beim Rezipienten – wie sich bereits an den Interviews zeigt – die intertextuellen und intermedialen Bezüge sowie einen rezeptionsästhetischen Mediävalismus darin zu erkennen.

1 Der Nibelungenstoff und seine Rezeption bis Wagner Schon die Untersuchung eines einzelnen Textes als Grundlage seiner weiteren Rezeption und Adaption kann umfassend sein. Betrachtet man den inhaltlichen und strukturellen Zusammenhang innerhalb eines ganzen Stoffkontinuums, wird die Sachlage ungleich komplexer. Eine gemeinsame histoire des Nibelungenstoffs im GENETTE’schen Sinne zu bestimmen, ist bereits darum schwierig, weil kein einzelner und fester Text dafür verwendet werden kann. Als Hilfskonstruktion bietet es sich an, in den verschiedenen Versionen des Stoffs nach Gemeinsamkeiten in Motivik und Struktur zu suchen und damit eine Untersuchungsgrundlage zu schaffen. Als Basis dient mir die Übersicht über die Entwicklung des Nibelungenmythos nach Joachim HEINZLE.8 Der Nibelungenstoff hat danach eine realhistorische Basis. In der ‚Älteren Edda‘ werden auf literarische Weise die kriegerischen Auseinandersetzungen der Burgunden mit den Hunnen Mitte des 5. Jahrhunderts verarbeitet.9 Das ‚Alte Atlilied‘ zeige, „dass der politisch-militärische Ereigniszusammenhang auf elementare menschliche Affekte und Konflikte reduziert ist: Geldgier […]; Stolz; […] familiäre Verbundenheit“10. Für die ‚Edda des Snorri Sturluson‘ gibt Arnulf KRAUSE an, dass sie als „Mythologie“ fungiere und dadurch eine Sammlung älterer

|| 8 Vgl. HEINZLE (Anm. 1). 9 Vgl. HEINZLE (Anm. 1), S. 8 f. 10 HEINZLE (Anm. 1), S. 11.

630 | Wiebke Ohlendorf

Geschichten zusammenhalte.11 In der weiteren Entwicklung verbindet sich die Burgundersage mit der nordischen Sage um Siegfried, was in der schriftlichen Überlieferung als ‚Nibelungenlied‘ (13. Jhd.)12 bezeugt ist. Dieses besteht seinerseits aus zwei Erzählkomplexen: den Erzählungen von Siegfrieds Jugend und der Erzählung von Siegfrieds Tod. Im Zentrum des ersten Komplexes stehen die Tötung eines Drachen, der Erwerb eines Schatzes und – in der nordischen Überlieferung – die Erlösung einer gebannten Jungfrau. […] Der zweite Erzählkomplex der Siegfriedsage, die Überlieferung von Siegfrieds Tod, schlägt die Brücke zur Burgundersage. Siegfried heiratet die Schwester der burgundischen Könige und wird von ihnen bzw. mit ihrer Duldung ermordet.13

Das Verhalten der Schwester nach dem Tod Siegfrieds gestaltet sich je nach Rezeptionszeugnis anders. In der ‚Völsungensaga‘ (zweite Hälfte 13. Jhd.) ist sie „die Rächerin ihrer Brüder“. Im ‚Nibelungenlied‘ ist ihr „Rollenwechsel – von der Rächerin der Brüder an ihrem zweiten Mann zur Rächerin ihres ersten Mannes an den Brüdern – […] sicher vollzogen.“14 Das Bedürfnis der Frauenfigur nach Rache bleibt also grundsätzlich erhalten, jedoch ändern sich die Zielrichtung und die Verbundenheit mit den Figuren. Mit HEINZLE lassen sich folgende charakteristische Merkmale des Nibelungenstoffs festhalten. Außerhalb der erzählten Welt sind zwei Punkte markant: 1. eine historische Grundlage wird literarisch interpretiert und 2. verschiedene erzählerische Versionen werden miteinander amalgamiert. Als inhaltliche Konstanten erkennt HEINZLE die basalen menschlichen Emotionen Stolz, familiäre Verbundenheit und Rache sowie die Geldgier als Handlungsmotivator. Motive, die über Versionen hinweg Bestand haben, sind die Drachentötung, der Schatz bzw. Hort, die Erlösung einer Jungfrau und die Hochzeit des/der Helden. In dieser Übersicht läuft alles auf das ‚Nibelungenlied‘ als einer entscheidenden Kanonisierungsstufe des Stoffs hinaus, in der dann zwangsläufig alle Merkmale vorhanden sind. Nachfolgende Stoffbearbeitungen setzen auf unterschiedliche Weise die bis dahin begründeten Traditionen fort. Zwei Beispiele betrachte ich genauer. Im ‚Lied vom Hürnen Seyfrid‘ aus dem 16. Jahrhundert sind das ‚Nibelungenlied‘ und die ‚Edda‘ miteinander verwoben; damit ist die formale Konzeption des Nibelungenstoffs mit seiner Vermischung von Erzählkomplexen erkennbar. Zu dieser Art der Gestaltung schreibt Horst BRUNNER, dass „der Redaktor der Fassung m […] den 1. Teil des ‚Nibelungenliedes‘ mit den im ‚Hürnen Seyfrid‘ erzählten Taten des Helden

|| 11 Arnulf KRAUSE, Nachwort, in: Die Edda des Snorri Sturluson, hrsg., übers. und kommentiert v. Arnulf KRAUSE, Stuttgart 1997, S. 252–271, hier S. 252. 12 Zur Datierung vgl. auch Michael CURSCHMANN, ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘, in: Verfasserlexikon, Bd. 6 (1987), online über Verfasser-Datenbank: https://www.degruyter.com/view/VDBO/vdbo. vlma.3094 (29.07.2019), Abschnitt A. Stoff und Quellen. 13 HEINZLE (Anm. 1), S. 15–16. 14 HEINZLE (Anm. 1), S. 17.

Lagerfeuergeschichten | 631

kompiliert“15 hat. Auch Ursula SCHULZE spricht in diesem Zusammenhang von einer „kompilatorische[n] Aufbereitung“16. Zur weiteren Charakterisierung der kompilatorischen Eigenart des ‚Hürnen Seyfrid‘ sollen die anderen der oben genannten Merkmale des Nibelungenstoffs in tabellarischer Form aufgeschlüsselt werden. Dieses Analyseraster wird auch für die im Folgenden untersuchten Bearbeitungen des Nibelungenstoffs genutzt, um die stofflichen Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. Tab. 1: Analyseraster zum ‚Hürnen Seyfried‘ ‚Hürnen Seyfrid‘ Historischer Kontext

(nein)

Formale Zweiteiligkeit

(ja)

Affekte/Konflikte

ja

Siegfrieds Jugend

Siegfrieds Tod

Drachentötung

ja

Schatz

ja

Erlösung der Jungfrau

ja (Kriemhild)

Verschiedene Erzählkomplexe

ja (diverse)

Ehe mit Gudrun/Kriemhild

ja

Siegfrieds Ermordung

ja

Rache Gudruns/Kriemhilds

nein

Die markantesten Besonderheiten, die dieser Text im Diskurs des Nibelungenstoffs aufweist, sind das Fehlen einer historischen Einbettung in den Burgunderkontext (Siegfried ist hier allerdings noch der Sohn des Königs der Niederlande),17 das Fehlen der Figur Brünhild (die hier als Jungfrau in Nöten durch Kriemhild ersetzt wird) und das fehlende Motiv der Rache. Verstärkt betont werden die Verbindungen verschiedener Erzählkomplexe und die formale Zweiteiligkeit, die sich in der Kompilation äußert. Die Wagner-Oper, die aus heutiger Sicht als zweite wesentliche Kanonisierungsstufe des Nibelungenstoffs angesehen werden kann, erweitert die Perspektive. Auch

|| 15 Horst BRUNNER, Hürnen Seyfrid, in: Verfasserlexikon, Bd. 4 (1983), online über VerfasserDatenbank: https://www.degruyter.com/view/VDBO/vdbo.vlma.1918 (29.07.2019). 16 Ursula SCHULZE, Das Nibelungenlied (RUB 17604), Stuttgart 2001, S. 276. 17 Vgl. ‚Hörnerner Siegfried‘, s. l. 1591, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, S. 9, http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001782500000000 (11.08.2019).

632 | Wiebke Ohlendorf

Richard Wagner nutzt für seinen ‚Ring des Nibelungen‘ vielfältige Quellen und bearbeitet diese „über ein Vierteljahrhundert, von 1848 bis 1874“18. Erste Veröffentlichungen dazu erscheinen ab 1863, bis das Werk 1876 uraufgeführt wird. Egon VOSS bemerkt zur Grundlage des Librettos, dass das ‚Nibelungenlied‘ als „Vorlage und Quelle“ nicht „genügte“ und „schon Siegfried’s Tod in erheblichem Maße auch von anderen sogenannten altnordischen Quellen geprägt ist.“19 Damit sind die ‚Edda‘ und die ‚Völsungensage‘ gemeint, die mit dem ‚Nibelungenlied‘ die älteren Grundlagen für Wagner bilden. Aber auch neuere Bearbeitungen des Nibelungenstoffs (z. B. Hebbel) und wissenschaftliche Publikationen im 19. Jahrhundert haben Einfluss auf Wagners Libretto genommen.20 Tab. 2: Analyseraster zu Richard Wagners ‚Ring des Nibelungen‘ ,Ring des Nibelungen‘ Historischer Kontext

nein

Formale Zweiteiligkeit

ja (vier Teile)

Affekte/Konflikte

ja

Siegfrieds Jugend

Siegfrieds Tod

Drachentötung

ja

Schatz

ja

Erlösung der Jungfrau

ja

Verschiedene Erzählkomplexe

ja

Ehe mit Gudrun/Kriemhild

ja

Siegfrieds Ermordung

ja

Rache Gudruns/Kriemhilds

nein

Die historische Grundlage spart Wagner weitestgehend aus und baut seine Handlung auf einer germanisch-mythologischen Basis auf. Der Ursprung aller Ereignisse liegt bei Wagner im Agieren der Götter, nicht in historisch-kriegerischen Auseinandersetzungen. Auch die für das ‚Nibelungenlied‘ elementare Rache Kriemhilds als Motivation der Handlung nach dem Tod Siegfrieds ist hier nicht relevant. Das korre-

|| 18 Carl DAHLHAUS, Richard Wagners Musikdramen (RUB 9490), Stuttgart 1996, S. 121; eine zeitliche Übersicht über die Versionen bietet Egon VOSS, Kommentar, in: Richard WAGNER, Der Ring des Nibelungen, hrsg. u. komm. v. Egon VOSS (RUB 18628), Stuttgart 2009, S. 431–552, hier S. 444–450. 19 VOSS (Anm. 18), S. 452. 20 VOSS (Anm. 18), S. 454 f.

Lagerfeuergeschichten | 633

liert damit, dass die Figur Gudruns/Kriemhilds zugunsten Brünnhildes reduziert wird. Mit der Bearbeitung durch Wagner ist eine prägende Form des Nibelungenstoffs entstanden, die sich auch in weiteren Rezeptionen21 und Adaptionen22 finden lässt. Jede weitere Interpretation nutzt Elemente der Nibelungen-historie, fügt aber auch eigene hinzu, sodass sich der Stoff mit zeitgenössischen Motiven anreichert und so modern rezipier- und verstehbar bleibt, wie sich auch in seiner filmischen Bearbeitung zeigt.

2 Der Nibelungenstoff und seine filmische Adaption Bedingt durch den Wechsel des Mediums geraten beim Film spezifische Darstellungsmodi in den Fokus, die die Rezeption entscheidend beeinflussen. Das sind vor allem visuelle Inszenierungen, die – je nach Verbreitungsgrad des Films – vor allem entscheidend am Image der Siegfried-Figur beteiligt sind. Ich werde im Folgenden nur adaptierte Realverfilmungen des Nibelungenstoffs berücksichtigen und keine abgefilmten Opernaufführungen des Wagner’schen ‚Rings‘:23 Tab. 3: Übersicht adaptierte Realverfilmungen Jahr

Titel/Produktionsland

Regie/Drehbuch

1924

Die Nibelungen, D (Teil 1: Siegfried, Teil 2: Kriemhilds Rache)

Regie: Fritz Lang Drehbuch: Thea von Harbou

1957

Sigfrido, IT (dt: Siegfried - Die Nibelungensaga)

Regie: Giacomo Gentilomo, Drehbuch: Ders., Giorgio Costantini u. Antonio Ferrigno

|| 21 Vgl. dazu einführend Mathias HERWEG u. Stefan KEPPLER-TASAKI, Mittelalterrezeption. Gegenstände und Theorieansätze eines Forschungsgebiets im Schnittpunkt von Mediävistik, Frühneuzeitund Moderneforschung, in: DIES. (Hgg.), Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur, Berlin, Boston 2012, S. 1–12. 22 Zu Adaption vgl. Linda HUTCHEON, A Theory of Adaptation, New York 2006. 23 Die Daten entstammen den Angaben der ‚Internet Movie Data Base‘ für die jeweiligen Filme. Vgl. https://www.imdb.com/ (31.07.2019). Für eine detaillierte Übersicht verschiedener medialer Zugänge sei auf die Zusammenstellung von Martin SCHUBERT, Gunter E. GRIMM u. Uwe WERLEIN verwiesen. Vgl. http://www.nibelungenrezeption.de/ (29.07.2019).

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Jahr

Titel/Produktionsland

Regie/Drehbuch

1965

Il tesoro della foresta pietrificata, IT (dt. Der steinerne Wald)

Regie: Emimmo Salvi Drehbuch: Ders., Luigi Tosi, Adriano Antonelli u. Benito Ilforte

1966/67

Die Nibelungen, D (Teil 1: Siegfried 1966, Teil 2: Kriemhilds Rache, 1967)

Regie: Harald Reinl Drehbuch: Ders., Harald G. Petersson u. Ladislas Fodor

1971

Siegfried und das sagenhafte Liebesleben Regie: Adrian Hoven der Nibelungen, D Drehbuch: Fred Denger u. Brigitte Parnitzke

2004

Der Ring der Nibelungen. Der Fluch des Drachen, D (Originaltitel: ‚Ring of the Nibelungs‘)

Regie: Uli Edel Drehbuch: Ders., Diane Duane u. Peter Morwood

2005

Siegfried, D

Regie: Sven Unterwaldt Drehbuch: Tom Gerhardt u. Herman Weigel

2008

Die Jagd nach dem Schatz der Nibelungen, TV-Film, D

Regie: Ralf Huettner Drehbuch: Stefan Dähnert u. Derek Meister

Durch diverse Rezeptionen entsteht ein Netzwerk24 an intermedialen Bezügen, eine Intertextualitätskette, in der sich der Nibelungen-Diskurs und seine Inszenierungscharakteristika gegenseitig beeinflussen. Die auffälligsten und für ‚Django Unchained‘ wirkmächtigsten Beispiele sind dabei nicht automatisch die künstlerisch etablierten Filme. Der Film von Adrian Hoven ist beispielsweise eine Erotikkomödie, der zwar nur ein grober Handlungsrahmen aus dem Nibelungenstoff zugrundeliegt, die aber hinsichtlich des übermännlichen Heldenbildes und Tarantinos Vorliebe für B-Movies aufschlussreich ist. Fritz Langs Nibelungenfilme25 haben rund 50 Jahre nach der Uraufführung der ‚Ring‘-Tetralogie Wagners Premiere und stehen in vielen Details in dessen Tradition. Der Film besteht aus zwei Teilen (‚Siegfried‘ und ‚Kriemhilds Rache‘), die jeweils in sieben „Gesänge“ untergliedert sind. Abgesehen vom „Ersten Gesang“26 des ersten Films, in dem Siegfrieds Figur eingeführt und die Drachentötung gezeigt wird, folgt die Handlung weitestgehend dem ‚Nibelungenlied‘:27 || 24 Der Begriff ‚Netzwerk‘ ist hier in einem vortheoretischen Sinne verwendet, um einen ersten Überblick zu erhalten. 25 Fritz LANG, Die Nibelungen. Restaurierte Fassung mit rekonstruierter Originalmusik. Teil 1: Siegfried und Teil 2: Kriemhilds Rache (Süddeutsche Zeitung Cinemathek, Stummfilm), München, Berlin 2012. 26 LANG, Siegfried (Anm. 25), 00:00:00–00:22:44. 27 Vgl. zu den Bezügen auf das Nibelungenlied, die Bearbeitung Hebbels und die Oper Wagners Christian KIENING u. Cornelia HERBERICHS, Fritz Lang: Die Nibelungen (1924), in: Christian KIENING u.

Lagerfeuergeschichten | 635

Tab. 4: Analyseraster zu Fritz Langs ‚Die Nibelungen‘ ,Die Nibelungen‘ Historischer Kontext

nein

Formale Zweiteiligkeit

ja

Affekte/Konflikte

ja

Siegfrieds Jugend

Siegfrieds Tod

Drachentötung

ja

Schatz

ja

Erlösung der Jungfrau

nein

Verschiedene Erzählkomplexe

ja

Ehe mit Gudrun/Kriemhild

ja

Siegfrieds Ermordung

ja

Rache Gudruns/Kriemhilds

ja

Der inhaltliche Beginn lässt sich ebenso auf Wagners Oper zurückführen wie die visuelle Inszenierung der Figur Siegfrieds.28 Immerhin wird schon in der Regieanweisung von Wagners Libretto Siegfried „in wilder Waldkleidung, mit einem silbernen Horn an einer Kette“ beschrieben, der „mit jähem Ungestüm aus dem Walde“29 hereinstürmt. Diese Visualisierung übernimmt Lang offensichtlich. Die Darstellung Siegfrieds „als strahlender, mit einem Fell dürftig bekleideter Heros“30 ist als Bild auch über den Lang’schen Nibelungenfilm hinaus erhalten geblieben. Auf den Plakaten bzw. Covern einiger der oben gelisteten Filme ist die männliche Heldenfigur mit Lendenschurz oder Fellkleidung in wechselnder Länge versehen, der muskulöse Oberkörper ist zumeist unbedeckt.31 Erst die SiegfriedFigur im TV-Film von Uli Edel ist wieder stärker bekleidet. Inhaltlich ist der „Erste Gesang“ des Lang’schen Films ebenfalls prägend, denn die weiteren Verfilmungen arbeiten meist mit der Szene der Drachentötung und

|| Heinrich ADOLF (Hgg.), Mittelalter im Film (Trends in Medieval Philology 6), Berlin 2006, S. 196–198. 28 Vgl. ‚Die Nibelungen‘ (Lang), https://www.imdb.com/title/tt0015175/mediaviewer/rm323374848 0 (04.08.2019). 29 WAGNER (Anm. 18), Siegfried, S. 207. 30 KIENING u. HERBERICHS (Anm. 27), S. 205. 31 Vgl. z. B. ‚Die Nibelungen Teil I: Siegfried‘ (Reinl), https://www.imdb.com/title/tt0060749/med iaviewer/rm1061658368 (04.08.2019) oder ‚Siegfried und das sagenhafte Liebesleben der Nibelungen‘ (Hoven) https://www.imdb.com/title/tt0067753/mediaviewer/rm2129807104 (04.08.2019).

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dem damit verbundenen Schatz.32 Die weitere Entwicklung der Filmfigur Siegfried zeigt, dass sein Tod durch Intrigen und Eifersucht aufgrund seiner Position zwischen zwei Frauen ein relativ fester Bestandteil der Handlung der ausgewählten Beispiele bleibt. Die Perspektive der Frauen wechselt jedoch je nach Sympathielenkung.33 Wie auch in den Vorbildern gibt es einerseits Brunhild als erste und zugleich wahre Liebe Siegfrieds (z. B. bei Uli Edel), andererseits spielt manchmal auch Kriemhild als zweite Frau die entscheidende Rolle (z. B. in ‚Sigfrido‘).

Abb. 1: Vergleich der Siegfried-Figur nach Wagner (Jean de Reszke, um 1896), Lang (Paul Richter, 1924) und der Neuauflage des Films von Harald Reinl. Links: Félix Nadar (MetOpera Database), gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11876497 (05.08.2019). Mitte: Bildzitat aus LANG, Teil 1 (Anm. 25), 00:12:01, Rechts: Bildzitat aus https://www.imdb.com/title/tt0060949/mediaviewer/rm1427976192 (26.02.2020).

Den Verfilmungen ist gemein, dass sie Elemente aus den vorangegangenen Rezeptionszeugnissen selektieren und je nach Bedarf neu zusammensetzen oder gar Neues hinzuerfinden. Der Nibelungenstoff ist zu umfangreich und komplex, als dass man

|| 32 Vgl. z. B. ‚Sigfrido‘ (Gentilomo), 00:17:54–00:19:50; ‚Die Nibelungen‘ (Reinl), 00:41:56– 00:47:47. – Im Fall des italienischen Films ‚Der steinerne Wald‘ sind weiterhin Elemente aus dem ‚Herrn der Ringe‘ eingebunden. Das Fantasyepos bietet Überschneidungen in der Darstellung der Drachenfiguren (So wacht der Drache Smaug im ‚Kleinen Hobbit‘ bzw. im ‚Herrn der Ringe‘ ebenfalls über einen Schatz), was angesichts der mediävistischen Arbeiten J. R. R. Tolkiens sicherlich ebenfalls als Referenz auf alte Stoffe zu lesen ist. 33 In ‚Der steinerne Wald‘ ist keine Gudrun/Kriemhild-Figur angelegt; die grundlegende Eifersucht besteht hier zwischen den Schwestern Erika und Siglinde.

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ihn in einer einzelnen filmischen Nachbearbeitung bändigen könnte; also muss immer eine Auswahl getroffen werden. Je nach Film werden für die Story unterschiedliche Inhaltselemente zusammengetragen, die beim Publikum dann eine bestimmte Rezeptionswirkung verursachten. Dem ordnet sich auch der Inszenierungsstil unter. Zum Lang’schen Werk stellen Christian KIENING und Cornelia HERBERICHS fest, dass ihm ein „Eklektizismus“ zu eigen ist, der „mit einem Höchstmaß an Kunst auch ein Höchstmaß an Natürlichkeit zu erreichen beansprucht.“34 Dieses Bedürfnis nach einem natürlichen Zusammenhang der kompilierten Erzählkomplexe ist auch in den anderen Filmen erkennbar, wo die Handlungselemente zum Teil noch ausgeweitet werden. „Eine auf diese Weise organisierte Geschichte“, stellt JanDirk MÜLLER für das ‚Nibelungenlied‘ fest, kann später veränderten Interessenlagen und gewandelten Verstehensbedingungen, anspruchsvolleren Erwartungen von zureichender Motivation, neuen Gesellschaftsbildern und Werterneuerungen angepaßt werden und sich damit im Laufe der Jahrhunderte immer weiter von ihrem Ausgangspunkt entfernen.35

3 ‚Django Unchained‘ und die Referenzen zum Nibelungenstoff An Filme Quentin Tarantinos wird MÜLLER dabei wohl kaum gedacht haben. Dass der Nibelungenstoff aber weit gefasste Anknüpfungsmöglichkeiten an veränderte Verstehensbedingungen bietet, verdeutlicht der Film ‚Django Unchained‘ besonders. Die tabellarische Übersicht der etablierten Motive zeigt, dass einige von ihnen sich auch hier wiederfinden lassen, allerdings an den spezifischen Verstehenskontext angepasst. Für die Überlegung, ‚Django‘ als Nibelungenliedrezeption zu werten, sind in der Motivtabelle aber überraschend wenige Bestätigungen zu finden. Dies gilt es im Anschluss genauer zu betrachten. Das historische Setting ist bei Tarantino zwar nicht inhaltlich, aber doch formal zu finden: als eine kritische Auseinandersetzung mit dem System der Sklaverei und damit mit einer Zeit der US-amerikanischen Geschichte. Die Einblendung des Handlungsjahres 1858 zu Beginn des Films wird „Two years before the Civil war“ untertitelt. Das ruft für das Publikum einerseits die vorhandenen Hintergrundinformationen für diese Zeit und ihre historischen Umstände auf. Andererseits macht es deutlich, dass hier aus einer Nullfokalisierung heraus eine proleptische Deutung der nun folgenden Handlung gegeben wird. Der Ausgang der Geschichte hat offenbar einen Zusammenhang mit den geschichtlichen Abläufen des Bürgerkriegs. || 34 KIENING u. HERBERICHS (Anm. 27), S. 198 f. 35 Jan-Dirk MÜLLER, Das Nibelungenlied (Klassiker Lektüren 5), Berlin 2002, S. 23.

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Tab. 5: Analyseraster zu Quentin Tarantinos ‚Django Unchained‘ ‚Django Unchained‘ Historischer Kontext

ja (angepasst)

Formale Zweiteiligkeit

(nein)

Affekte/Konflikte

ja

Siegfrieds Jugend

Siegfrieds Tod

Drachentötung

metaphorisch

Schatz

nein (metaphorisch)

Erlösung der Jungfrau

ja

Verschiedene Erzählkomplexe

(ja)

Ehe mit Gudrun/Kriemhild

nein

Siegfrieds Ermordung

nein

Rache Gudruns/Kriemhilds

nein (ausgeführt durch Django)

Eine formale Zweiteilung im Sinne des Nibelungenstoffs lässt sich in ‚Django‘ nicht erkennen. Im Film findet sich zwar mehr als ein Handlungsstrang; diese lassen sich aber eher mit Questen vergleichen. Dass der Film „in bester Manier der Doppelwegstruktur eines arthurischen Romans“36 strukturiert ist, stellt schon Ingrid BENNEWITZ fest. Beispiel für diese Questen sind demnach „[d]ie erfolgreiche Beendigung der gemeinsamen Kopfgeldjagd und die Freilassung Djangos“ sowie die „Befreiung Brunhildas durch den schwarzen Drachentöter Django und seinen deutschen Brautwerbungshelfer Dr. King Schultz.“37 In diesem und vielen anderen Werken Tarantinos spielen basale Affekte und Emotionen eine große Rolle. So ist beispielsweise die gewaltsame Rache38 immer wieder ein Motiv für das Handeln der Figuren.39 In ‚Django‘ ist neben der Rache außerdem die Liebesgeschichte zwischen dem Titelhelden und Broomhilda relevant. Die Drachentötung kann in ‚Django‘ nur als in metaphorischer Weise gegeben angenommen werden. Tarantino verzichtet auf Fantasyelemente wie auf Drachen|| 36 Ingrid BENNEWITZ, Siegfried Unchained, oder: Die gefährliche Brautwerbung des Quentin Tarantino, in: Detlef GOLLER u. Nora GOMRINGER (Hgg.), Nie gelungen Lied – der Nibelunge Nôt (Die Horen 252), Göttingen 2013, S. 140–144, hier S. 142. 37 BENNEWITZ (Anm. 36), S. 142. 38 Vgl. auch BILDHAUER (Anm. 2), S. 255. 39 Z. B. in ‚Kill Bill‘, USA, Volume 1 (2003) und Volume 2 (2004) oder ‚Inglourious Basterds‘, USA (2009).

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modelle; vielmehr überträgt er die fraglichen Eigenschaften auf Menschen. „Stephen, die rechte Hand von Plantagenbesitzer Candie, ist der Drache“40, schlägt er als Interpretation vor. Dieser Sicht folgt auch Franziska BERGMANN in ihrer Beschäftigung mit den Referenzen des Films zu Richard Wagner. „In Anlehnung an das Ungeheuer Fafner ist Stephen von Tarantino gleichsam als ‚Hausdrache‘ gestaltet.“41 Ebenso ist es mit dem Motiv des Schatzes bzw. Horts. Folgt man der Interpretation Stephens als Drache, so wäre die Plantage ‚Candyland‘, die von ihm beschützt wird, der Ort des Schatzes. Da sich Broomhilda im Haus befindet, kann auch möglicherweise sie als personifizierter Schatz gesehen werden. Geldgier ist hier nicht zu finden, obwohl die Kopfgeldjagd Djangos und Schultz’ durchaus einträglich ist. Tarantino bestätigt solche Annahmen im Spiegel-Interview, indem er auf Analogien hinweist: „Candyland ist der Hindarfjall“42. Diese Aussage zeigt, dass Tarantino sich hierbei nicht auf das ‚Nibelungenlied‘, sondern auf die nordischen Quellen bezieht, da der Hindarfjall der Berg in der ‚Völsungasaga‘ und der ‚Snorri Edda‘ ist, auf dem die schlafende Brünhild von Sigurd geweckt wird,43 während er im ‚Nibelungenlied‘ ungenannt bleibt. Damit ist die Erlösung der Jungfrau als Motiv ebenfalls im Film zu finden, selbst wenn Broomhilda bereits Djangos Frau ist. Da Tarantinos ‚Siegfried‘ nicht stirbt, müssen auch die mit dem Tod zusammengehörenden Motive nicht im Film verarbeitet werden. Einzig die Zusammenführung verschiedener Erzählkomplexe ist vorhanden. Diese sind aber durch den strukturellen Aufbau der verschiedenen Questen zu erklären und nicht zwangsläufig durch die Fusion verschiedener historisch gewachsener Versionen einer Figur. Es gibt hier nur eine Frauenfigur; Siegfrieds jeweilige Liebe zu Brünhild und Gudrun/Kriemhild muss nicht motiviert und in Einklang gebracht werden. Damit schwindet auch die im ‚Nibelungenlied‘ so brisante Eifersucht zwischen den Frauen. Dadurch, dass Django überlebt und seine Ermordung entsprechend nicht wie bei Siegfried gerächt werden muss, entfällt auch dieser Punkt. Allerdings ist die Rache nach wie vor ein relevanter Faktor im Film. Sie wird aber auf Django übertragen, der die Misshandlungen an ihm und seiner Frau dadurch vergilt, dass er die Plantage letztlich niederbrennt. Broomhilda bleibt am Ende nur noch die Rolle der begeisterten Frau, die dem Mann nach vollzogener Rache im Schein der explodierenden Farm freudig applaudiert.44 Diese Reduktion des weiblichen Anteils an der Vergeltung für das Leid, das ja beiden angetan wurde, geht mit der Konzentration

|| 40 BORCHOLTE u. HÜETLIN (Anm. 4). 41 Franziska BERGMANN, Black Empowerment und Siegfried. Zur Korrektur eines wagnerschen Heldenmythos in Quentin Tarantinos Django Unchained, in: Stefan BORNCHEN, Georg MEIN u. Elisabeth STROWICK (Hgg.), Jenseits von Bayreuth. Richard Wagner heute. Neue Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Paderborn 2014, S. 297–311, hier S. 303. 42 BORCHOLTE u. HÜETLIN (Anm. 4). 43 Z. B. für ‚Die Edda des Snorri Sturluson‘. KRAUSE (Anm. 11), S 149. 44 Vgl. TARANTINO (Anm. 3), 02:40:40.

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auf den männlichen Helden einher.45 Die Inszenierung Djangos in derselben Szene läuft entsprechend als Held mit Zigarette im Mundwinkel, verspiegelter Sonnenbrille und einem lässigen Spruch zum Inferno ab. „Let’s get outta here“, ist sein einziger Kommentar, nachdem sein Pferd auf die wartende Broomhilda zutänzelt. Unterstützt wird diese Wirkung durch die Filmmusik und deren Refraintext: „He’s the top of the West, always cool, he’s the best, he keeps alive with his colt 45.“46 Das Lied ist bereits 1970 in der italienischen Westernkomödie ‚Die rechte und die linke Hand des Teufels‘47 zu hören. Mit einer derartigen Überlagerung von Bild, Musik, Liedtext und Metaphorik wird deutlich, was Tarantino aus dem Nibelungenstoff macht, denn „[d]ie Siegfried-Sage ist ein Spaghetti-Western.“48

4 Tarantinos kompilatorische Ästhetik Die Mischung verschiedener Genremerkmale, wie die des Western und eines Films mit historischen Inhalten,49 oder die Übernahme von visueller Inszenierung aus bekannten Vorlagen sind für die Arbeitsweise Tarantinos üblich. Er verschachtelt Referenzen und Zitate „by including the tale within the tale, the myth within the myth.“50 Dieses ästhetische Verfahren wird im Folgenden an Filmszenen erläutert, in denen die in den vorigen Kapiteln herausgearbeiteten Motive der Rezeptionsstufen des Nibelungensstoffs in neuem Kontext wiederzufinden sind. Tarantino entlehnt den Namen seiner Heldin aus der Nibelungensage und passt ihn zugleich an das amerikanische Setting an. Mit ‚Broomhilda‘ wird aber nicht nur auf die Siegfried-Sage angespielt, sondern mit dem Namen folgen diverse Elemente aus verschiedenen Rezeptionsstufen, die strukturell und inhaltlich in die Rahmenhandlung des Films integriert werden. King Schultz ist über den deutschen Namen von Djangos Frau überrascht und erzählt auf Nachfrage am abendlichen Lagerfeuer auf einem höhlenartigen Berg die „story about Broomhilda“:

|| 45 Vgl. dazu auch BERGMANN (Anm. 41), S. 310. Zur vergleichbaren Reduktion der Frauenrollen vgl. auch Regina TOEPFER, Die Frauen von Bechelaren. Stand, Herkunft und Geschlecht im Nibelungenlied sowie in Thea von Harbous Nibelungenbuch und in Fritz Langs Film Die Nibelungen, in: Nataša BEDEKOVIĆ, Andreas KRAß u. Astrid LEMBKE (Hgg.), Durchkreuzte Helden. Das „Nibelungenlied“ und Fritz Langs Film „Die Nibelungen“ im Licht der Intersektionalitätsforschung (GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht 17), Bielefeld 2014, S. 211–238. 46 TARANTINO (Anm. 3) 02:41:14–02:41:31. 47 Annibale E I Cantori Moderni, Trinity (Titole), vgl. https://www.imdb.com/title/tt1853728/sound track?ref_=tt_trv_snd (10.08.2019). 48 BORCHOLTE u. HÜETLIN (Anm. 4). 49 Zur Begrifflichkeit des Mittelalterfilms vgl. Christian KIENING, Mittelalter im Film, in: DERS. u. ADOLF (Anm. 27), S. 3–101, hier S. 4 f. 50 GATES Jr. (Anm. 7), S. 57.

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Django:

Heißen viele bei Ihnen zu Hause Broomhilda?

Schultz:

Brunhilde … ist der Name einer Figur in der berühmtesten aller deutschen Legenden überhaupt.

D.:

Es gibt ’ne Geschichte über Broomhilda?

Sch.:

Naja ja, gibt es. [Pause]

D.:

Kennen Sie sie?

Sch.:

[lacht] Hm, jeder Deutsche kennt diese Geschichte. [Pause] Willst du, dass ich sie dir erzähle? [Pause] Also… Brunhilde war eine… Prinzessin. Sie war eine Tochter von Wotan, Gott aller Götter. Naja, und ihr Vater war sehr wütend auf sie.

D.:

Was war denn los?

Sch.:

Hmm, so genau weiß ich das nicht mehr, sie hat ihm irgendwie nicht gehorcht. Er verbannt sie auf den Gipfel eines Berges.

D.:

Broomhilda is’ auf’m Berg?

Sch.:

Das ist eine deutsche Legende, da kommt immer irgendwo irgendwie ein Berg vor. Und er beordert einen feuerspeienden Drachen dorthin, den Berg zu bewachen. Und er schließt sie ein, in einen Kreis aus Höllenfeuer. Und dort muss Brunhilde schmachten. Es sei denn, ein strahlender Held erscheint, tapfer genug, sie zu retten.

D.:

Und so’n Kerl erscheint auch?

Sch.:

Ja, Django. Tatsächlich passiert das dann. Ein Kerl namens Siegfried.

D.:

Und Siegfried rettet sie? [Pause]

Sch.:

Auf ziemlich spektakuläre Art. Er klettert den Berg hoch, weil er keine Angst davor hat. Er erschlägt den Drachen, weil er keine Angst vor ihm hat. Und er geht durch das Höllenfeuer, weil Brunhilde es wert ist.

D.:

Ich weiß, wie’s ihm geht.

Sch.:

Ich glaube, das wird mir jetzt allmählich auch klar. 51

Auffällig ist der Wechsel zwischen den Versionen ‚Broomhilda‘ und ‚Brunhilde‘. Schultz nutzt die vermeintlich deutschere, aber trotzdem nicht die umgelautete Version, Django verwendet durchweg den tatsächlichen Namen seiner Frau. Diese Differenz bleibt über den Film hinweg bestehen und findet sich auch im englischsprachigen Original, was andeutet, dass die jeweils referenzierte Figur eine andere ist. Für Schultz überlagert sich das Schicksal von Djangos Frau mit dem der Frau aus seiner Erzählung. Er stellt die Rettung Broomhildas gleich mit der Brunhildes und sieht in ihr die Prinzessin, die befreit werden muss. Dadurch bekommt das individuelle Schicksal Broomhildas einen eigenen, sagenhaften Charakter, der Kampf gegen Calvin Candie wird zu einem gegen das globale Böse. Dementsprechend identifiziert sich Django schnell mit dem Helden aus Schultz’ Geschichte und beschließt die Rolle anzunehmen.

|| 51 Dialog übertragen nach TARANTINO (Anm. 3), 00:40:05–00:50:36.

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Dies – dass Namen nicht nur Geschichten evozieren, sondern möglicherweise gleich einen ganzen Mythos in eine Erzählung hineintransportieren – versetzt wiederum Django in großes Erstaunen […]. Auf Djangos Wunsch hin verwandelt sich King Schultz nun selbst in einen Geschichtenerzähler, der gleichsam in einer Art ‚Gute-Nacht-Geschichte‘ […] eine neue Variante des Nibelungen-Mythos entwickelt, die an Richard Wagners ‚Ring‘ orientiert ist, ohne in ihm aufzugehen, und zugleich auf den schwarzen Helden Django zugeschnitten ist[.]52

In Bezug auf mittelalterliche Erzählstrategien stellt Ingrid BENNEWITZ inhaltliche Referenzen von der Geschichte des „schwarzen Siegfried[s]“53 Django zum „für die Literatur des europäischen Mittelalters wesentlichen Strukturprinzips […] der sogenannten gefährlichen Brautwerbung“54 fest. Indem Django die Aufgabe der Brautwerbung annimmt, folgt er auch den Gefahren, die eine Brautwerbung bedeutet. Gleichermaßen ist damit der positive Ausgang für das Paar vorherbestimmt, wenn das Schema bis zum Ende befolgt wird. Tarantino variiert das Schema aber dahingehend, dass die ‚Braut‘ bereits mit Django verheiratet ist und nur zurückerobert werden muss. Allerdings ist das Schema der gefährlichen Brautwerbung schon in der mittelalterlichen Literatur variabel: the bridal-quest schema does not have the same thematic purpose or importance in any of the texts; ‘schema’ is moreover perhaps an inappropriate word for a motif that is used flexibly and with very different motivation in a wide range of medieval German texts.55

Die entsprechende Variation dieses Schemas in ‚Django‘ steht also völlig in der Tradition des mittelalterlichen Erzählens. Die Brautwerbung ist für den Film eine der relevantesten Handlungsmotivationen, denn Django stellt die Rettung seiner Frau von nun an an erste Stelle. Hinsichtlich der Inszenierung der Lagerfeuergeschichte „unter freiem Himmel und Sternenglitzern, in einer Felslandschaft“ bemerkt BENNEWITZ, dass diese Landschaft „auch als Eingang zu Fafnirs Höhle dienen könnte.“56 Die Entwürfe für das Bühnenbild der Uraufführung des ‚Rings‘ (1876) lassen eine ebenso ähnliche Szene erkennen wie Langs Film, wenn Siegfried von Kriemhild erfährt. An diesen Szenen mag Tarantino sich visuell orientiert haben, wie ein Vergleich mit dem Setting der Filmszene zeigt.57

|| 52 BENNEWITZ (Anm. 36), S. 141 f. 53 BENNEWITZ (Anm. 36), S. 142. 54 BENNEWITZ (Anm. 36), S. 142. 55 Sarah BOWDEN, Bridal-quest Epics in Medieval Germany: A Revisionary Approach (Bithell series of dissertations 40), Cambridge 2012, S. 2. 56 BENNEWITZ (Anm. 36), S. 141 f. 57 BILDHAUER verweist außerdem darauf, dass das Höhlensetting auch bei Lang zum Geschichtenerzählen genutzt wird, und belegt dies an einer Filmszene aus der Begegnung Siegfrieds mit Alberich, die von Volker als Einblendung am Nibelungenhof berichtet wird. BILDHAUER (Anm. 2), S. 257 f.

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Abb. 2: Bühnenbildentwurf von Josef Hoffmann nach einer Postkarte von Viktor Angerer, Siegfried erfährt von Kriemhild in Langs Nibelungenfilm, Skizze der Szene im Film ‚Django Unchained‘ (v.l.n.r.). Links: Viktor Angerer, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:B%C3%BCh nenbildentwurf_Siegfried.JPG (20.03.2019), Mitte: Bildzitat aus LANG (Anm. 25), Siegfrieds Tod: 00:08:35, Rechts: Skizze durch die Verfasserin nach TARANTINO (Anm. 3).

Deutlich erkennbar ist die höhlenartige Ausbuchtung, in der Schultz sitzt und vom Schein des Lagerfeuers hinter Django beschienen wird. Als wäre es nicht genug der visuellen Verweise, spricht Schultz genau im Moment dieser Szene darüber, dass Berge in deutschen Geschichten unerlässlich seien, und verweist danach mit dem Finger auf den Feuerring, der die schlafende Brunhilde auf der Spitze des Berges umringt. If Schultz’s narrative is based on Wagner, the setting of the storytelling scene, a bare mountain landscape of strangely smooth rockfaces with arched recesses, comes directly from Lang’s film, where similar scenes of storytelling take place in front of just such rockfaces.58

Inhaltlich ist die Lagerfeuergeschichte innerhalb der Filmgeschichte an Wagners ‚Ring‘ orientiert, wie ein direkter Vergleich mit der ‚Walküre‘ zeigt. Dort heißt es im dritten Aufzug/dritte Szene: Bei der letzten Anrufung schlägt er [Loge] mit der Spitze des Speeres dreimal auf den Stein, worauf diesem ein Feuerstrahl entfährt, der schnell zu einem Flammenmeere anschwillt, dem WOTAN mit einem Winke seiner Speerspitze dem Umkreis des Felsens als Strömung zuweist. Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!59

Rein formal allerdings kann Schultz vom ‚Ring‘ nichts wissen, worauf schon BERGMANN hinweist: Schultz fasst nicht das […] Nibelungenlied zusammen, sondern bezieht sich bei seiner Nacherzählung […] auf Wagners Siegfried, weil sonst der Name ‚Brünnhilde‘ keine derart zentrale

|| 58 BILDHAUER (Anm. 2), S. 257 59 WAGNER (Anm. 18), S. 202.

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Rolle spielen würde. Wagners Siegfried-Version kann Schultz jedoch während des Zeitraums, in dem die Handlung von Django Unchained spielt – 1858 – unmöglich kennen, weil die erste Veröffentlichung der Ring-Dichtung in das Jahr 1863 fällt.60

BERGMANN wertet das als ein „ausgeprägtes Spiel mit Anachronismen“61 mit einer deutlichen „Verweisstruktur“62, womit auch impliziert ist, dass Tarantinos Geschichte nicht das Ergebnis einer unsauberen Recherche sein könne. Wenn dieser Anachronismus Absicht ist, lässt es den Schluss zu, dass die Bezüge zum ‚Nibelungenlied‘ vielleicht doch nicht so kategorisch abzulehnen sind, wie BERGMANN äußert. Einerseits nutzt Schultz die Namensversion ‚Brunhilde‘ und nicht die auf Wagner bezogene Version ‚Brünnhilde‘.63 Andererseits legt gerade das Ende des Films nahe, in dem alles wie in den einleitend für das ‚Nibelungenlied‘ konstatierten „Strömen von Blut“ endet, dass das handlungstreibende Moment dafür die Rache ist, die aus dem Plot um Kriemhild genommen ist. Sie wäre hier für die Rettung Broomhildas gar nicht notwendig oder folgerichtig. Tarantino nutzt also das Ende des ‚Nibelungenlieds‘ in der Art einer mise en abyme als Verweis auf das Ende des Films. Im Nibelungenlied heißt es dazu in der 39. aventiure: 2369 ,Ich bringez an ein ende‘, sô sprach daz edel wîp. [… ] 2377 Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp. ze stücken was gehouwen dô daz edele wîp.64

Alle, die dem Tode geweiht sind, sollen also sterben. Dieser Vorgabe folgt Tarantino, allerdings mit einer Umdeutung des tragischen Endes für die Protagonisten, die dem Tod entkommen. Obwohl es nicht explizit zur Handlung von Schultz’ Lagerfeuergeschichte gehört, ist dieses blutige Ende doch spezifisch für das ‚Nibelungenlied‘. Franziska BERGMANN konstatiert zudem Ähnlichkeiten in der Darstellung und Inszenierung der Figuren Django und Siegfried in einer „hypervirile[n] Heldenpose“65 ebenso wie zwischen dem sadistischen Plantagenbesitzer Calvin Candie und

|| 60 BERGMANN (Anm. 41), S. 299; vgl. auch BILDHAUER (Anm. 2), S. 257. 61 BERGMANN (Anm. 41), S. 299. 62 BERGMANN (Anm. 41), S. 297 63 In den Handschriften des ‚Nibelungenlieds‘ wird die nichtumgelautete Schreibung bzw. verwendet. Vgl. ‚Das Nibelungenlied und die Klage‘ (Handschrift A), BSB Cgm 34, S. 13, Sp. b, http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00035316/image_17 (10.08.2019) oder Die St. Galler Nibelungenhandschrift B ‚Nibelungenlied‘ und ‚Klage‘, in: St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 857, S. 305, Sp. a, https://www.e-codices.ch/de/list/one/csg/0857 (10.08.2019). In Langs Film wird der Name ebenfalls in dieser Version genutzt. 64 Zitiert nach Das Nibelungenlied, nach dem Text von Karl Bartsch u. Helmut de Boor, übersetzt u. kommentiert von Siegfried GROSSE, Stuttgart 2002. 65 BERGMANN (Anm. 41), S. 300.

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Richard Wagner, da beide eine ähnliche Vorliebe für Mode und Backenbärte teilen.66 Gerade die überbetonte Männlichkeit stimmt mit dem bereits erwähnten Ende des Films und Djangos Agieren als Westernheld überein. Dass dieses Bild im Nibelungendiskurs zu finden ist, betont auch die ‚hypervirile‘ Version des Erotikfilms von 1971. Wenige Jahre nach seinem Erscheinen ist der Zweiteiler (1966/67) von Harald Reinl 1976 als gekürzter Einteiler neu aufgelegt worden. In der Gestaltung eines neuen Filmcovers zeigt sich Siegfried 1976 als blonder Krieger im Fellhöschen,67 der sogar noch muskulöser ist als sein offensichtliches Vorbild Raimund Harmstorf 1971.68 Da Quentin Tarantino sich immer wieder als Fan von B-Movies bekennt, ist die Verbindung zur – wenn auch bekleideten – Machofigur nachvollziehbar. Alle genannten Beispiele belegen die kompilatorische Arbeitsweise des Regisseurs, für die er in frühen Jahren seines Schaffens auch kritisiert wurde.69 Filmkritiken aus dem Beginn seiner Karriere weisen allerdings auch auf das kreative Potential dieser Herangehensweise hin: Tarantino tut in ‚Pulp Fiction‘ das, wozu er als Filmfreak mit enzyklopädischem Cineastenwissen wohl geboren ist: Er verbindet Verehrung und Ketzerei. Er nimmt die alten Geschichten und erfindet sie neu, dreht und verfremdet sie, bis sie die denkbar absurdeste Wendung genommen haben.70

Positiver beschreibt dies BILDHAUER, wenn sie von „encyclopedic knowledge of film and culture“ spricht.71 Dies deutet auch an, dass die Interpretationsleistung durch das Kompilieren stärker beim Publikum liegt, als wenn die Verbindungen allzu offensichtlich wären. Dieses Urteil über Tarantinos künstlerisches Vorgehens ähnelt inhaltlich der Feststellung MÜLLERs zur Organisation des Nibelungenstoffs, der an andere Verstehensbedingungen angepasst werden und sich immer weiter vom Ausgangspunkt entfernen könne.72 Es liegt also nahe, dem Film keine Verbindung mit dem Nibelungenstoff zu attestieren, die über die Figuren (BENNEWITZ) und die Bezüge zur nordischen Sage bzw. die Wagner’sche Bearbeitung (BERGMANN) oder die emotionalen Grundgedan-

|| 66 Vgl. BERGMANN (Anm. 41), S. 308–310. 67 Vgl. https://www.imdb.com/title/tt0060949/mediaviewer/rm1427976192 (09.08.2019). 68 Zum Plakat des Erotikfilms vgl. Anm. 31. 69 Zum immer noch aktuellen Diskurs über das Leihen, Adaptieren und der kreativen Kompilation sei als Beispiel auf den Blogeintrag von Felix STEPHAN verwiesen. Vor allem in den Kommentaren ist der Vorwurf des Plagiats präsent. Vgl. Felix STEPHAN, Talente leihen, Tarantino klaut, in: Teilchen, Zeit-Online 03.09.2015, https://blog.zeit.de/teilchen/2015/09/03/talente-leihen-tarantino-klaut/ (28.07.2019). 70 Susanne WEINGARTEN, Der Killer als Plauderer. ‚Pulp Fiction‘, in: Der Spiegel 44/1994, S. 237–242, hier S. 239. 71 BILDHAUER (Anm. 2), S. 255. 72 Vgl. MÜLLER (Anm. 35), S. 23.

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ken (BILDHAUER) hinausgehen. Dies lässt sich inhaltlich und motivisch gut durch die „Entlarvung“ falscher Bezüge begründen: Die vermeintlichen Elemente des Nibelungenlieds sind keine und Tarantino ließe sich unsaubere Quellenarbeit vorwerfen. Allerdings können die Verweise auf stoffliche – auch auf das Nibelungenlied – und strukturelle Aspekte beim Publikum Sinn konstituieren und so ein rezeptionsästhetisches Gefüge bilden. Die Deutung eines nibelungischen Endes mit Blut, Tod und Zerstörung wird zwar durch Schultz und seine Lagerfeuergeschichte nicht sprachlich gegeben, kann aber für ein historisch textinformiertes und cineastisch geschultes Publikum durch die Bildsprache und Inszenierung von Figuren und Musik auf die vielschichtigen Lagen der Rezeptionszeugnisse hindeuten, die sich in den obigen Beispielen gezeigt haben.

5 Fazit Der Nibelungenstoff ist nach wie vor fruchtbar und bringt – wie seit Beginn seiner Entstehung – immer neue Varianten und Deutungen hervor. Mathias HERWEG und Stefan KEPPLER-TASAKI sprechen von „Rezeptionsphänomene[n] [...], die sich […] vom Ausgangspunkt weit entfernen, das Rezipierte in Projektion eigener Bestrebungen und Bedürfnisse remodellieren und sogar neue, rezentere Erinnerungsorte generieren können.“73 Da der Stoff bereits eine lange Tradition von „neuen Gesellschaftsbildern und Werterneuerungen“74 hinter sich hat, bietet er sich offenbar dafür an, auch in der Gegenwart wie im Falle von Tarantinos „durchaus eigenwillige[r] Nibelungen-Version“75 im Geiste kompilatorischer Erzählverfahren des Mittelalters zu funktionieren. Man könnte sagen, der Stoff ‚provoziere‘ diesen kreativen, kompilatorischen Umgang. Tarantino nutzt für seinen Film nur die Elemente, die ihm für seine Geschichte notwendig erscheinen: Schultz erzählt Django die Geschichte von Wagners Brünnhilde, Tarantino aber verweist mit dem blutigen Ende auf die Schlacht an Etzels Hof aus dem ‚Nibelungenlied‘. Das zeugt davon, dass die Mischung der beiden Versionen keine willkürliche, eklektische Mischung aus nicht ganz korrekt recherchierter literarischer Grundlage ist, sondern eine bewusste Variation zugunsten seines eigenen Kunstwerks, dessen netzwerkartige Verweisstruktur sich beim Publikum entfaltet. HERWEG und KEPPLER-TASAKI beschreiben das Verfahren der Rezeption allgemein als „Rückgang oder Rückgriff über eine Distanz hinweg, [in dem] das Vergangene bewusst in die eigene Gegenwart hineingestellt“76 wird. Das bewusste Schaffen eines neuen Kunstwerks ist dabei der kreative Akt des || 73 HERWEG u. KEPPLER-TASAKI (Anm. 21), S. 6. 74 MÜLLER (Anm. 35), S. 23. 75 BENNEWITZ (Anm. 36), S. 141. 76 HERWEG u. KEPPLER-TASAKI (Anm. 21), S. 2.

Lagerfeuergeschichten | 647

Kompilierens, der eine Art Markenzeichen Tarantinos geworden ist. Für seine Art künstlerischer Kompilationen wird er interessanterweise ausgerechnet mit dem Begriff „Genie“77 betitelt, der seit Goethe mit der Vorstellung eines eigenständig und aus sich selbst heraus schaffenden Künstlers verbunden ist. Das Spiel mit der Deutung der Filme und der Erwartung des Publikums gehört zur Selbstinszenierung des Regisseurs als Genie, denn er setzt sich als jemand in Szene, der die Verweisstruktur seines Werks überblickt, womit er immer neue Schichten von Deutungen anbietet. Auf die Bemerkung hin, er würde für seinen Western „auf die Nibelungensage“ zurückgreifen, antwortet er mit einer Beschreibung seiner Arbeitsweise und seiner Inspiration: Ich habe anfangs noch gar nicht daran gedacht. Ich schreibe, schreibe, schreibe also, und irgendwann haben sie den ‚Ring‘ in der Oper in Los Angeles gezeigt, und Christoph Waltz hat mich mitgenommen. Nach und nach habe ich dort die Parallelen zwischen der SiegfriedGeschichte und der Django-Geschichte erkannt. Ich dachte, mein Gott, das könnte klappen.78

Auch hier sind die Frage nach der ‚Nibelungensage‘ und die Antwort im Sinne des ‚Rings‘ nicht ganz aufeinander bezogen. Als Interpretation gehören aber beide Deutungen für ‚Django‘ – wie sich gezeigt hat – zusammen. Beide Assoziationen können funktionieren, da der Film genügend Interpretationsspielraum dafür lässt. Das kreative Kompilieren steht nicht nur bei der Produktion im Vordergrund, sondern auch bei der rezeptionsästhetischen Interpretation auf der Ebene des Publikums. Vielleicht ist das ein Grund für den Erfolg von Tarantinos Filmen, weil so viele Rezipientinnen und Rezipienten sie zu ihren eigenen machen können. Tarantino gibt dem Publikum eine Deutungsmacht, ‚Django‘ auf verschiedene Art und Weise zu verstehen und damit erneut zu selektieren und rezeptiv zu kompilieren, wo Anknüpfungspunkte für die individuelle Verstehenssituation zu finden sind.

|| 77 Vgl. z. B. STEPHAN (Anm. 69). 78 WITTMANN (Anm. 5).

Namensregister Absāl 138 Abū ʾAlī al-Ḥusain ibn ʾAbdallāh Ibn Sīnā (Avicenna) 457 Abū Bakr Muḥammad ibn Zakarīyāʿ ar-Rāzī (Rhazes) 457 Abū Maʿšar 493 Abundus 412 Adalbold von Utrecht 30 Adam 78, 365, 486, 495, 534 Adson 212 Aelius Lampridius Cervinus 299 Aeneas 113 f., 148–150, 154, 156 Agnese, Battista 592 f. Albéric de Pisançon 213 Alberti, Leon Battista 108, 498 Alberto Cantino 589 f. Albertus Magnus 17 Al-Bīrūnī 493 Albrecht III. (Österreich) 606 f. Albrecht von Eyb 464 Albrecht von Scharfenberg 24 f., 81, 451, 462–465 Albumasar 493 Alī ibn al-ʾAbbās al-Maǧūsī (Haly Abbas) 457 Alkuin 425 Alexander der Große 81, 114, 132 f., 135, 137 f., 141, 213 Al-Idrīsī 493 Alîse 195, 198 Al-Maḳrīzī 492 f., 495 Altdorfer, Georg 279 Ambrosius von Mailand 352–354, 518 Amīr Ḫusrau Dihlavī 134–137 Amor 615 Andrea di Bonaiuto 487 Anfortas 168, 179, 183 Anselm von Canterbury 396 Antonio Bonfini 292, 294 Apelles 624 Apoll 614 Arabel 192, 194, 196, 198–200 Aristoteles 435, 448–450 Arndt, Johann 403 f. Arnold, Gottfried 404 Arnpeck, Veit 279 Arnulf von Orléans 151

https://doi.org/10.1515/9783110714340-040

Arnulf von Villers 409–420 Arofel 194 f. Artus 19, 164, 175, 177–182, 184 f., 451 f. Aschot I. (Armenien) 359 Astrolabius 612 f., 615, 621 Attila (Etzel) 601, 605, 629, 646 Augustinus von Hippo 154, 239, 349, 352, 354, 392, 396, 487, 495, 500 f., 524 Aurelius Lippus Brandolinus 292 ʿAzrā 129

Bach, Carl Philipp Emanuel 437 Bacon, Francis 434 Bacon, Roger 439 Bahrām I. (Persien) 309 Bahrām V. (Persien) 132 Barbara (Heilige) 59–61 Barbara Edelpöck 292 Bardaisan/Bardesanes 318 Barlaam 463 f. Barta 494 Bartholomäus Fontius 291 Beakurs 179 Beatrix von Aragon 286 (Ps.-)Beda 425 f., 428, 431 f. Beda Venerabilis 425 Beltramo Minganelli 490 Benedikt XIII. (Pedro de Luna) 117 Benoît de Sainte-Maure 213 Berengar 522 Bernhard von Clairvaux 50, 242, 396 Berthold von Regensburg 242 Birgitta von Schweden 407 f. Biterolf 606 Blanckenburg, Christian Friedrich von 124 Boethius 29 f. Bögü 320 Bolesław I. (Polen) 253 Bolesław III. Schiefmund (Polen) 253 f., 257 Bonarelli, Pietro 494 Bonaventura 10, 384, 525 Bonifaz VIII. 328, 447, 496 Bonizo von Sutri 521 Boppe 598 Brahma 314–316

650 | Namensregister

Brangäne 216, 218 Brant, Sebastian 612 Bremgarter, Johannes 533–536 Broomhilda 628, 638–641, 644 Bruder Philipp 193 Bruder Robert 215 Brunelleschi, Filippo 498 Brünhild 631, 633, 636, 639, 641, 643 f., 646 Buddha 314–317 Burchard vom Berg Sion 578 Burgkmair, Hans d. Ä. 622 f.

Cabral, Pedro Álvares 589 Caesar, Gaius Iulius 141, 151 Calvin, Johannes 402 Candacis 213 Candie, Calvin 628, 641, 644, 639 Cariado 217 f. Celtis, Konrad 621–624 Cheops 492 Chrétien de Troyes 25, 172, 225 Chrippenchra 72, 87 f. Cicero, Marcus Tullius 112, 620, 625 Clemens VII. 603 Colón, Hernando 593 Condwiramurs 183 f., 226 Constantinus Africanus 457 Cortés, Hernán 593 Corvinus, Johannes 292 f., 295, 299 Cosa, Juan de la 588, 590 Cosmas (Heiliger) 505 Cyriacus von Ancona 492, 494, 502, 505

Daniel 470 Dante Alighieri 494 Dares Phrygius 154 David 480 David (Neuplatoniker) 369 David von Augsburg 242 Demodokos 156 Descartes, René 434 Didymus der Blinde 494 Dietleib 606 Dietrich 605 f. Diomedes 154 (Ps.-)Dionysios 369 f.

Django 628 f., 634, 637–647 Długosz, Jan 260 Donatello 340 f., 343 Dürer, Albrecht 609, 611–615, 618 f., 621 f., 624 f.

Egeria (Pilgerin) 513 Eichendorff, Joseph von 212 Elias (David) (Neuplatoniker) 369 Engeltrud 74 Erhart, Gregor 340 f., 343 Esclabon 194 Esra 427 Eugen IV. 486, 492, 494 Eurydike 144 Eva 78, 350, 365, 534 Ezzo 425, 429, 432

Fabri, Felix 565, 567, 574–578, 587 Fafnir 639, 642 Feirefiz 174, 179–184 Filarete 492 Firdausī 129 f., 139 Fontana, Domenico 506 f. Fortuna 118 Fortunatus 110, 119–122 Fra Mauro 574, 587 Franz von Assisi 242, 373, 375–383, 385–388, 396 Frau Ava 423 f., 426, 429–432 Freidank 231, 241 Friedrich I. (Pfalz) 281 Friedrich II. (HRR) 446 Füetrer, Ulrich 463 f.

Gahmuret 454 Gallus Anonymus 252 f., 255, 257 f. Ǧamālī 137 f. Ǧāmī 137 f. Gawan 174–178, 180 f., 184 Geoffrey Chaucer 18 Georg (Bayern) 265 f., 273, 275 f., 279–281 Gernsbacher, Marx 533 Gherardo 336 Ghiberti, Lorenzo 486, 488 f., 492, 494, 496–499

Namensregister | 651

Gîburc 194–196, 198, 202 f. Gilan 219 Ginover 178, 213 Giovanni Antonio da Brescia 615 f., 618 Giovanni Dalmata 298 Goethe, Johann Wolfgang von 647 Gomez, Estevam 593 Goswin von Bossut 411 f. Gottfried von Straßburg 215, 219–222 Gramoflanz 175–178, 185 Gregor der Große 326, 343, 527 Gregor IX. 383 f., 519 Gregor von Nazianz 363, 365 Gregor von Nyssa 365 Gredel 88 Groote, Geert 396 Gudrun 631–633, 635, 638 f. Guillaume de Lorris 88 Gul 136 Gulšāh 129 Gwndyš 317

Haintz 603 Han, Kilian 75 Händel, Georg Friedrich 437 Hans Jakob von Ettlingen 274 Hātifī 138 Hebbel, Christian Friedrich 632 Hecuba 146, 151, 154 Hedwig von Anjou 607 Hedwig von Polen 265 f., 275, 277 f., 281 Heine, Heinrich 213 Heinrich V. (HRR) 253–255 Heinrich von Meißen 462–464 Heinrich von München 192 Heinrich von Neustadt 462 Helena 74, 82, 213 Henoch 491, 493, 495 f., 501–503, 505 Herakleianos von Chalkedon 361 Herennius Potens 618 Herkules 297 f., 614 Hermes (Merkur) 491, 493–495, 499–504 Hermes Christianus 486 Hermes Trismegistos 486, 493 f., 496, 504 f. Hesekiel 152, 154 Hieronymus 354, 428 f., 432 Hildebert von Lavardin 151

Hildegard von Bingen 468, 521, 552, 558 Hiob 483 Hippolyt d’Este 279 Hippolyt von Rom 350, 354 Homer 113 Honorius Augustodunensis 425 Horaz 25, 112, 147–149, 151 Hrabanus Maurus 425 Hugo Primas 141–144, 147–153, 155 f. Hugo von Montfort 81 Hugo von St. Viktor 396, 487 f., 521 Hugo von Trimberg 230–242, 244 f. Humāy 136 Humāyūn 136 Hunyadi, János 288–291 Hunyadi, Ladislaus 297 Hunyadi, Matthias 283–288, 291–295, 297–300 Ḫusrau II. (Persien) 132 f., 135–137 Ḫwāǧū Kirmānī 136 f.

Ibn an-Nadīm 317 Ibn Butlan 75 Ibrahim Pașa 298 Ida von Nivelles 409–412, 414, 416–420 Idrīs 493, 496 Illu 494 Indra 314 f. Innozenz III. 521, 524 Innozenz IV. 446 Isidor von Sevilla 16, 524, 567 f., 571, 573 Isolde 216–219, 221–225 Isolde Weißhand 216, 221, 225 Itonje 177, 185

Jacobus de Voragine 327 Jakob von Vitry 386, 411–413 Jakub Świnka 251 Jan van Schoonhoven 396 Jans von Wien 81 Janus 112 Janus Pannonius 286 Jean de Meun 88 Jeremia 481 f. Jesaja 152, 475, 479, 481 f. Jeschute 82, 453 Jesse 480

652 | Namensregister

Jesus 50, 57, 62, 64, 113, 178, 180 f., 184, 186, 235, 238 f., 242, 315 f., 324, 326–328, 331–334, 343 f., 346–348, 350 f., 353 f., 358–364, 375–379, 381–383, 385, 391–405, 407, 409 f., 412–421, 424, 473, 476–483, 487, 500, 502 f., 509–522, 524, 541, 581 f., 614 Joel 479 Johann von Würzburg 463 f. Johannes (Evangelist) 326, 332–334, 418 f., 427, 518 Johannes Chrysostomos 483 Johannes der Täufer 423 f., 514, 533 Johannes Philoponos 367 f. Johannes von Damaskos 363–365 Johannes von Freiberg 79 John the Simple 379 Josaphat 463 f. Julia Prisca Secunda 620, 625 Julius Pomponius Laetus 283 f. Juniper 379 f. Juno 151 Jupiter 108, 151, 154, 294

Kaherdin 221 Karl der Große 194, 196 f., 199 f., 605 f. Karl der Kühne 275 Karl II. von Anjou 328 Karl IV. (HRR) 280 Karl V. (HRR) 591, 593 Kasimir IV. (Polen) 265 Katharina (Heilige) 59–61 Kessler, Nikolaus 61 Klara von Assisi 381–384 Kölderer, Jörg 274 Kolumbus, Bartolomeo 591 Kolumbus, Christoph 588 f., 591 Konrad von Fußesbrunnen 474 Konrad von Würzburg 71, 74 f., 82, 193, 463 Konstantin der Große 184 Kriemhild 601, 631–635, 638 f., 642–644 Kundrie 164 f., 180–182, 184

Ladislaus V. (Ungarn) 288–290, 296 f. Laktanz 494, 524 Lancelot 213 f., 463 Laylī 132, 135, 137 f.

Lazarus 326 f., 348, 351 Leibniz, Gottfried Wilhelm 124 Leo X. 505 Leontios von Byzanz 360 Lioba (Heilige) 424 Lohengrin 81 Lucan 141, 146, 151 Ludolf von Sachsen 396 Ludwig I. (Frankenreich) 196 f. Ludwig I. (Ungarn) 599, 607 Ludwig IV. (HRR) 447 Ludwig IX. (Bayern) 276, 279 Lukas (Evangelist) 326 f., 332 f., 337, 349, 354, 415, 483, 515 f. Lüpoldus 121 Luther, Martin 402, 404 f.

Macrobius 16 f. Magellan, Ferdinand 590, 593 Maǧnūn 132, 135, 137 f. Maḥbūb 137 Maḥzūn 137 Malek Al-Kamil 373 Malifer 201 Mandelli, Giovanni 110, 114 Mani 304–307, 311, 313–318 Marbod von Rennes 142 Marcella 327 Marcion 318 Marcus Valerius Corvus 294 Mardīnū 306 Maredel 88 Margarete (Heilige) 58–61 Margarete von Bayern 275 Maria (Mutter Jesu) 54, 57, 59 f., 62, 65, 193, 212 f., 353, 479–481, 483, 548 f., 583 Maria Magdalena 180, 323–337, 339, 341, 343 f., 346, 348 f., 351 f., 354 Maria von Oignies 409–419 Marius 457 Marjodo 216 Marke 216, 219, 221, 225 Markus (Evangelist) 326, 332–334 Marsilius von Padua 447 Martha 326 f., 337, 348 f. Martin, Jed 563 Martinus Opifex 75 Masaccio 498, 502 f.

Namensregister | 653

Matthäus (Evangelist) 326, 332 f., 477, 483 Matthäus von Vendôme 11 Mätzli 71 f., 87 f. Maximilian I. (HRR) 274 Maximin (Heiliger) 327 f. Mechthild von Magdeburg 463 Medici, Cosimo de’ 486, 489, 491 f., 494 f., 501–505 Meffreth von Meißen 61, 65 Meliûr 74 Methusalem 501 Michael Psellos 368 Michael Scotus 495 Mihr von Isfahan 137 Moldagog 216, 219 Mönch von Salzburg 83 f. Morus, Thomas 123 Moscherosch, Johann Michael 124 Moses 578

Naldius, Naldus 291 Naurūz 136 Neidhart 84 f., 88 Nicetas 368 Niclaus von Spir 77 Nicolas 414 Nicolaus Cusanus 108 Nigār 137 Niketas Byzantios 358–371 Nipatreis 194 Niẓāmī 131–139 Noah 486 f., 489, 494, 496, 500 f., 504 f., 570 f. Notker Balbulus 552

Odysseus 114, 141, 144 f., 147 f., 155 f. Olympiodoros 369 Orgeluse 176 f. Origenes 487 f. Orion 150 Orpheus 144 Ortolf von Baierland 456–458, 460 Oswald von Wolkenstein 82–84, 88, 110, 115–119 Otto III. (HRR) 253–255 Ovid 146, 150, 153, 211 f., 214, 220, 222, 225

Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) 276, 279, 281 Paris 81, 146, 149, 152, 213 Partonopier 74 Parzival 82, 158–161, 163–166, 168, 171–176, 178–185, 225 f., 452, 454, 465 Paulus 317, 418 f., 515 Penelope 114, 153 Pesnitzer, Ulrich 273 f. Peter Eckel von Haselbach 52 f., 57, 59–63, 65 f. Petitcriu 216, 219 Petrarca, Francesco 110–115, 323, 329 f., 332–334, 336 f., 434 Petrus 427, 477, 487, 583 Petrus Cantor 411 Petrus Comestor 428 Petrus Damianus 425 f., 428, 431 f. Petrus Lombardus 17 Petrus Ransanus 291 Petrus Riga 146 Petrus Sanctonensis 146 Peuger, Lienhard 64 Pfaffe Lambrecht 213 Philipp III. (Burgund) 275 Philipp IV. (Frankreich) 496 Philippe de Cabassole 329 f., 336 f. Photios 358 f., 362 f., 370 Pietro Vesconte 580 Pilatus 470, 474, 581, 583 Plinius der Ältere 111, 457 Pomponius Mela 111 f. Porphyrios von Tyros 365–367 Priamus 150, 154 Ptolemäus 575 f. Pygmalion 211, 214, 222 f., 225 Pythagoras 153

Qais 132 Quidort, Johannes 447, 450 Quintus Clodius 620, 625 Quodvultdeus 494

Raimondi, Marcantonio 612 Rāmīn 129 Rangoni, Gabriele 286 Ratramnus von Corbie 370

654 | Namensregister

Reinfried von Braunschweig 79, 83 Remigius von Auxerre 521 Rennewart 192, 194–196, 199–209 Repanse 183 Ribero, Diego 592 f. Richard de Bury 14 Richard von Poitiers 143 Richard von St. Viktor 107 f., 396 Ried, Benedikt 273 f. Roland 606 Rother 606 Rudolf von Ems 463 f. Rupert von Deutz 510, 514, 518, 521 Rustam 130

Saba, Königin von 498 Sahak Mrut 359, 362, 370 Salāman 138 Salmān Savuǧī 137 Salomo 498 Samson 614 Schedel, Hartmann 576, 595 f., 619, 621, 624 Schreyer, Sebald 623 Schultz, King 628, 638–641, 643 f., 646 Scipio 621, 625 Sedonius (Heiliger) 327 Seneca 12 Seth 365 Seuse, Heinrich 396 Sforza, Bianca Maria 293 Sibylle von Cumae 113 Sicard von Cremona 519 Sidney, Philip 123 f. Siegfried 630–636, 638–645, 647 Sigismund von Luxemburg 286, 296 Sigune 452–454, 465, 467 Sigurd 639 Silius Italicus 283 f. Simplikios 369 Sirach 377 Šīrīn 132 f., 135–137 Sistan 130 Sixtus Trismegistos 505 Sixtus V. 505, 507 Snorri Sturluson 629, 639 Spener, Philipp Jakob 404 Stephen 639

Suchenwirt, Peter 598 f., 602 f., 606–608

Tannhäuser 597 Tauler, Johannes 403 f. Tersteegen, Gerhard 404 Teiresias 145, 147 f. Telemachos 114 Terentia 619 Terramer 198, 203 Thaddeus von Suessa 446, 450 Theodulf von Orléans 370 Thomas Ebendorfer von Haselbach 53, 66 Thomas von Aquin 17, 436, 487 Thomas von Britannien 214 f., 220, 222 f. Thomas von Celano 376, 378, 380, 385, 388 Thomas von Kempen 392, 394, 396, 399, 404 Thomasîn von Zerclaere 23–25, 32–34, 38 f., 42 f., 231, 241 f., 462 Thot 493 Tobit 377 Tristan 214–226 Tschinotulander 452–454, 460, 464–468 Tucher, Endres 580–583 Tucher, Hans d. Ä. 121, 580–583 Tucher, Sixtus 623 Tullia 619 f., 625 Tybalt 194

Ubertin 212 Uccello, Paolo 486–488, 490, 492, 499, 501 f. Ugoleto, Taddeo 293 Ulloa, Francisco de 593 Ulrich von dem Türlin 192 Ulrich von Etzenbach 81 Ulrich von Liechtenstein 73 Ulrich von Türheim 192, 209 Ulysses 113 Urban VI. 602 f., 608 Urgan 219 Uriel 427 Urso von Salerno 457 Utopos 123

Valentinus 318

Namensregister | 655

Vāmiq 129 Varqa 129 Vasari, Giorgio 612 Venus 212, 223, 612, 614, 617 f. Vergil 12, 16, 112–114, 146, 154 Veronika (Heilige) 470, 474 Vespucci, Amerigo 122 f. Vinzenz von Beauvais 10, 15, 17, 25 Vīs 129 Vitéz, Johannes 286 Vivianz 195 Vladislav II. (Böhmen und Ungarn) 265 f., 273, 280, 295, 607

Wilhelm (Österreich) 607 Wilhelm von Ockham 108 Wilhelm von Österreich 463 f. Willehalm 159, 192–200, 202–204, 209 William von Dogelbert 411 William von Sherwood 450 Wincenty Kadłubek 253, 255–257, 259 Wittenwiler, Heinrich 71 f., 87, 598 Wolfram von Eschenbach 24 f., 81 f., 158 f., 163–166, 168, 172, 174, 176, 179, 185, 192–202, 204, 209, 225, 451, 465 Wotan 641, 643 Wulfing, Johann 251

Wagner, Richard 629, 632–636, 639, 642 f., 645 f. Walter von Châtillon 141 Wanda 255 f., 258–260 Wenezlan 606 Wenzel II. (Böhmen) 251 Wenzel (Heiliger) 281 Wigamur 83

Yusuf 138

Zacharias 415, 479, 481 f. Zachäus 351 Zorzi, Alessandro 591 Zulaiḫa 138

Ortsregister Abbasidenreich 358 Afrika 112, 309, 566 f., 573, 575 f., 589 Agnetenberg 396 Agrimont 465 Ägypten 309, 317, 335, 373, 486, 492, 494, 496, 505, 515, 523, 566 Aix-en-Provence 568 f. Akkon 411, 578, 580 Albenga 112 Albigaunum 112 Alexandria 114, 120, 122, 566 Alischanz 196 Alpen 276 Amerika 123, 576, 587, 589, 591–594, 628 Andalusien 490 Anjou 328 Antarktis 588 Antillen 591 Aquileia 33, 604 Arabien 129 f. Aragon 117 f. Arktis 588 Armenien 357–360, 370 Arolsen 191 Aserbaidschan 133 Asien 112, 126, 134, 142, 309, 311, 566 f., 576, 590 f. Athen 584 Atlantik 587, 590 Augsburg 119, 121, 472, 604 Avalon 219 Averner See 113 Azoren 591

Babylon 152 Bagdad 129, 136 Baiae 113 Baltikum 602 Bamberg 230, 237 Basel 90, 121, 276, 486, 603 Bayern 38, 40, 265, 268 f., 275, 281, 472 Bebenhausen 540–542 Belgien 374, 410 Berlin 98, 308, 310, 314, 317, 320 Bern 239

https://doi.org/10.1515/9783110714340-041

Bethanien 180, 348 f. Beth-Lapat 309 Bielefeld 99 Böhmen 265, 268 f., 281 Bologna 239 Brabant 408 f. Brandenburg 472, 599 Brasilien 589 Bretagne 119, 216, 222 Brixen 604 Buchara 129 Buda (Ofen) 286, 295–299 Bulgarien 362 Burghausen 264–267, 270–273, 277–281 Burgund 46, 268, 275, 327, 629–631 Bursfelde 536 f. Byzanz 357–360, 362, 370, 505

Calw 542 Cambridge 149 Cap Race 593 Chiemsee 604 China 134, 308, 576 Chur 603 Civitavecchia 111 Cremona 110

Dänemark 602 Delos 150 Dendermonde 558 Deutschland 37, 64, 97, 121, 173, 279, 315, 531, 533, 540, 603 (s. a. Römisches/ Deutsches Reich) Don 571 Donau 259 Donauwörth 121 Dunhuang 314

Edom 152 Eichstätt 40 Elba 111 Elbe 259 f. Elsass 77

658 | Ortsregister

England 120, 268, 576, 602 f. Erlach 604 Esztergom (Gran) 286, 295, 604 Euböa 586 Europa 9, 75, 112 f., 117, 120 f., 251, 259 f., 268, 275 f., 408, 565–567, 573, 575 f., 591 f., 603 f.

Ferrara 486 Flandern 119–121, 408 Florenz 324, 486, 488, 490 f., 498–500, 503–505 Floritschanze 453 Fontaine-de-Vaucluse 336 f. Formiae 113 Franken 38, 44, 159, 168 Frankenreich 358, 362 Frankfurt a. M. 75 Frankreich 117, 120, 146, 172 f., 198, 268, 324, 327–329, 336, 496, 603 Freiburg i. Br. 424 Freising 604 Friaul 33

Galizien 120 Gandscha 133 Gaochangreich 310 Gelatschawn 604 Genua 111–113 Ghaznawidenreich 130 Gizeh 486, 488 f., 492, 499 Gnesen 253 Golgota 581 Gottesaue 536 Göttweig 471 Granada 120 Griechenland 111, 117 f., 120, 566 Gundischapur 309 Gurk 604 Györ 604

Halberstat 604 Haselbach 52 Heidelberg 85, 281 Heiliges Land 110 f., 113 f., 120–122, 328, 374, 411, 565, 577 f., 580, 584

Herat 138 Hereford 573 f. Herrenalb 533–536, 545 Hessen 96, 274 Hirsau 537, 543 Hunnenreich 629

Idikutšähri 310 Indien 126, 134, 136, 309, 317 f. Ingolstadt 276 Ios 116, 118 Irland 221 Isfahan 136 Island 19 Italien 33, 90, 111–114, 120, 122, 254, 276, 284–286, 299, 324, 327, 329, 589, 602

Jerusalem 111 f., 114, 152, 428, 471, 474 f., 481, 513, 520, 566, 578, 581, 583 f. Joflanze 175

Kahlenbergerdorf 52 Kairo 492 Kalifornien 592 f. Kanaren 591 Kappadokien 365 Kapverdische Inseln 587, 590 Karabalgasun 314 Karlsruhe 536 Karlstein 281 Kärnten 38, 43 Karthago 113 Katharinenberg 578 Kaukasus 126, 134, 309 Kerkom 410 Kleinasien 134 Klosterneuburg 49, 51–56, 60–66, 471, 473 Köln 120 f., 603 Konstantinopel 120, 268, 298, 359, 362, 503 Konstanz 121, 276, 603 Korfu 112 Krakau 34, 149, 253, 255 f., 257, 607 Kreta 112, 118, 566 Kyburg 198 Kykladen 112

Ortsregister | 659

La Ramée 410 Landshut 265, 275 Larchant 197 Lavant 604 Lemanien 256 f. Lewtmüschel 604 Lichtenberg (Prad) 90 f. Linz 429 Litauen 117, 607 Liternum 113 Livland 602 Lombardei 117 London 119, 122 Luna 113 Lüttich 411 Lyon 446

Magdeburg 604 Mainz 96, 121, 603 Maribor 273 Marokko 575 Marseille 327 f. Massa Marittima 90 Maulbronn 537, 539 Meersburg 604 Meißen 61 Melk 64, 537 Metz 603 Mistra 584 Mittelmeer 304, 566, 573 f. Molukken 590, 592 f. Mongolei 136, 314 Mont Ventoux 336 Moskau 308 München 604 Munleun 195, 198 Munsalvaesche 182 f. Murtuq 310 f., 313, 316, 318

Naher Osten 126 Nantes 121 Naumburg 604 Nazareth 511 Neapel 111, 114, 603 Neiße 604 Nicaea 503 Niederlande 374, 396, 407 f., 412, 631

Nil 566 Nivelles 410 Nördlingen 121 Norwegen 602 Novara 110 Nürnberg 120 f., 281, 583, 619, 623

Oberwerrn 230 Oignies 410 f. Okeanos 565–567, 574 Olmütz 604 Olymp 331 Oradea (Großwardein) 286 Orange 195, 198, 203 Orbis 574 Orchontal 314 Orient 120, 127, 454, 464–468, 593 Orléans 143, 151, 239 Osmanisches Reich 266, 268, 584, 586 (s. a. Türkei) Österreich 64, 268, 469 f., 473, 483, 599, 602, 606 f. (s. a. Römisches/ Deutsches Reich) Osthausen (Elsass) 78 Ostia 111 Oxford 450

Padenberch 604 Padua 239 Pannonien 294 Paris 124, 143, 239, 411, 537, 588 Parma 293 Parthien 129 Passau 604 Pazifik 592 f. Pécs (Fünfkirchen) 286, 604 Perpignan 117 f. Persien 126–131, 133 f., 136, 139, 303, 309, 317 f., 321 Pesnica 273 Philippinen 590 Picardie 122 Pienza 279 Piombino 111 Pisa 111 Polen 249–254, 256–260, 265, 602, 606–608

660 | Ortsregister

Portofino 111 Portovenere 111, 114 Portugal 587, 589–591 Prad 91 Prag 264–267, 270 f., 274, 277, 280 f., 604 Preßburg 295 Preußen 117, 251 Provence 120, 327 Pürglitz 274

Qočo 310 f., 313 f., 316, 318, 321

Rabi 274 Rapallo 111 Ravenna 342 Regensburg 38, 275, 604, 613 Rhein 120, 259, 602 f. Rhodos 566 Rom 111, 113, 120, 151, 342, 344 f., 407, 486, 496, 498, 504 f., 507, 612, 615 f., 618–622, 625 f. Romania 324 Römisches Reich 113, 283, 287 f., 291, 294, 613, 617 f., 619 Römisches/Deutsches Reich 120, 249–254, 256–260, 268, 295 (s. a. Deutschland, Österreich)

Saale 260 Sabina 329 Sainte-Baume 328–330, 334, 336 f. Saint-Maximin 324, 329 Saint-Maximin-la-Sainte-Baume 327 Salem 532 Salerno 239, 456 f., 459 f. Salzach 264 Salzburg 72 f., 604 Sankt Petersburg 308, 317 Santa Maria Nuova 618 Saragossa 591, 594 Schaffhausen 471 Schastel marveile 179 Schiraz 136 Schottland 120 Schwaben 532 Schwarzes Meer 117, 566, 574

Schwarzwald 534 Schweden 407, 602 Schwihau 274 Seckau 604 Seidenstraße 133 Seldschukenreich 131, 133 Seleukia-Ktesiphon 306 Sevilla 593 Sinai 578 Sizilien 112, 120, 122 Skandinavien 540 Slowenien 273 Sorgue 336 Spanien 117, 120, 575, 587–591 Speyer 603 Steiermark 43 Stockerau 52 Stockholm 540 Straßburg 121, 213, 223, 603 Stuttgart 541 Syrien 111 f. Székesfehérvár (Stuhlweißenburg) 295

Tabriz 136 Tanais 112 Tarquinia 111 Tartarei 117 Theben 150 Theuerstadt 230 Timuridenreich 138 Toledo 239, 457 Topoľčany 604 Tordesillas 587 Toruń (Thorn) 607 Toskana 90, 602 f. Trient 604 Trier 603 Troja 141 f., 144, 146–155, 463 Tübingen 316, 528 f., 540 f., 557 Turfan 308, 310, 313–317, 320 f. Türkei 117, 134 (s. a. Osmanisches Reich) Tyrus 152

Uiguristan 309 f., 314, 321 Ulm 121, 537, 565, 574–578 Ungarn 265, 269, 284–288, 293, 295, 299, 602, 620, 625

Ortsregister | 661

Usbekistan 129 Utin 604 Utopia 123

Venedig 111, 120, 122, 574, 584–587, 592 Vesuv 112 Vézelay 327 Villers 410 f. Visegrád (Plintenburg) 295 f., 298 f.

Weingarten 532 Wiblingen 537 f. Wien 52, 65, 75, 293, 432, 546 Willenbroek 410

Wolfenbüttel 115, 195, 576 Worms 603 Wrocław (Breslau) 604, 607 Württemberg 529, 531 f., 540–542, 551 Würzburg 230, 603

Xinjiang 308

Zagreb 604 Zell am Main 374 Zürich 77, 79 f. Zwolle 396 Zypern 119 f., 122, 566