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German Pages [329] Year 2000
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Dirk Lanzerath
Krankheit und ärztliches Handeln Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik
BAND 66 ALBER PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997437 .
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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Zu diesem Buch: Die zu ethischen Irritationen führenden Erweiterun gen der Handlungsmöglichkeiten innerhalb der modernen Medizin werfen die Frage nach dem Krankheitsbegriff und seiner handlungs leitenden Funktion in signifikanterWeise neu auf. Die Rekonstruktion des Krankheitsbegriffs in seiner Verwiesenheit auf Natur; Gesellschaft und Subjekt erschließt zum einen sein Verhältnis zu anderen Schlüssel begriffen wie Gesundheit; Lebensqualität sowie Behinderung und zeigt zum anderen die Integration verschiedener Aspekte und Bezüge in die Einheit eines praktischen Begriffs und Urteils. Ein so entwickelter Krankheitsbegriff orientiert sich daran; Kranksein als eine Weise des Menschseins so zu fassen; daß die kommunikative Komponente des seine Befindlichkeit mitteilenden Menschen wesentlich zur Konstitu tion von Krankheit gehört. Dabei erweist sich der Arzt als jene Instanz; die dem um Selbstauslegung bemühten Kranken nicht nur im engeren Sinne therapeutische; sondern auch - gegen technizistische Verkür zungen - hermeneutische Hilfestellung gibt. Contemporary medicine has opened up possibilities that are causing moral concerns. This situation calls for a renewed look at the concept of disease/illness and the way in which that concept guides ouractions. Reconstructing the concept of disease/illness within the context of nature, society and subject reveals its relationship to other key concepts such as health; quality of life; and disability. Such a reconstruction also yields an Integration of its different aspects and relationships into the um'ty of a concept orjudgment ofpractical reason. Thus the concept of disease/illness grasps beingill as a way ofbeinghuman; in other words: a person’s communicatinghis orher condition is an essential and constitutive element of his or her disease/illness. Contrary to a reductionist view ofthe physician as a technician; in this theory the physician is seen as one who provides hermeneutic as well as therapeutic support for the sick person’s efforts of self-interpretation. Der Autor: Dr. phil. Dirk Lanzerath; geb. 1966; Studium der Biologie; Philosophie; Kath. Theologie; war 1993-1998 wissenschaftlicher Mit arbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Bonn und am In stitut für Wissenschaft und Ethik; seit 1999 ist er Leiter der wis senschaftlichen Abteilung des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften in Bonn.
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Dirk Lanzerath Krankheit und ärztliches Handeln
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Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 66
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Krankheit und ärztliches Handeln Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik
Verlag Karl Alber Freiburg/München
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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. -D5
Die Deutsche Bibliothek - CVP-Einheitsaufnahme Lanzerath, Dirk: Krankheit und ärztliches Handeln : zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik / Dirk Lanzerath. Freiburg (Breisgau) ; München : Alber, 2000 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 66) Zugl.: Bonn, Llniv., Diss., 1998 ISBN 3-495-47921-X
Texterfassung: Autor
Gedruckt aufalterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2000 Einbandgestaltung: Eberle H Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2000 ISBN 3-495-47921-X
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Meinen Eltern
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie sowie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts »Die >Natürlichkeit< der Natur und die Zumutbarkeit von Risiken« entstanden und wurde im Sommersemester 1998 von der Philo sophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertationsschrift angenommen. Angeregt hat diese Ar beit Herr Professor Dr. phil. Dr. h. c. Ludger Honnefelder, dem ich an erster Stelle für seine Unterstützung, seine Kritik und die Abfassung des Erstgutachtens danke. Herr Professor Dr. phil. Wolfram Hogrebe hat es dankenswerterweise übernommen, das Zweitgutachten zu er stellen. Viele Anregungen aus medizinischer Perspektive verdanke ich Herrn Professor Dr. med. Dr. h. c. Kurt Fleischhauer und Herrn Professor Dr. med. Peter Propping. Besonders dankbar bin den Pro jektleitern sowie meinen Kolleginnen und Kollegen im genannten Forschungsprojekt, die nicht müde wurden, verschiedene Thesen die ser Arbeit immer wieder zu diskutieren. Die Arbeit entstand wäh rend meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) sowie am Deutschen Referenzzen trum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE), an deren beider Aufbauphasen ich mich unter Leitung von Professor Honnefelder beteiligen durfte. Die Inhalte der Studie sind durch die zahlreichen Erfahrungen geprägt, die ich an beiden Einrichtungen habe machen können. Daher bin ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von IWE und DRZE für die wissenschaftliche sowie menschliche Un terstützung sehr dankbar, die mich während der Fertigstellung der Studie begleitet haben. Mit vielen Mühen war die Durchsicht des Manuskripts verbunden, die insbesondere Frau Barbara Schmitz auf sich genommen hat. Ihr danke ich besonders für ihre Geduld, ihre Hinweise und ihren Zuspruch. Für die sorgfältige Betreuung bei der Drucklegung bin ich dem Verlag Karl Alber, und besonders Herrn Dr. ^ 9
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Vorwort
Falk Redecker, zu großem Dank verpflichtet. Herrn Professor Dr. Jan Peter Beckmann danke ich als Mitherausgeber der Reihe »Praktische Philosophie« für die Aufnahme der Studie in diese Reihe. Der Deut schen Forschungsgemeinschaft sei für den Druckkostenzuschuß ge dankt, der die Drucklegung ermöglichte. Nicht zuletzt danke ich mei nen Eltern, die mir das Studium ermöglicht haben und bei denen ich immer Unterstützung für meine akademischen Tätigkeiten finden konnte. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Bonn, im Oktober 1999
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Dirk Lanzerath
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Inhalt
Vorwort........................................................................................
9
Einführung und Exposition der Fragestellung......................
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A. Medizin und ärztliches Handeln I.Das ärztliche Handeln als Kunst; 1. 2. 3. 4.
te/v^
....
23
Die te/v^ laTQix^............................................................ Die Einsicht in die Natur............................................... Ärztliches Handeln in der noHc;.................................. Ärztliches Handeln und ethische Grundhaltungen ...
24 31 45 51
II. Medizinische Wissenschaft und ärztliche Kunst
....
54
Wissen und Können in der Medizin............................ Medizin zwischen Wissenschaft und Praxis ................ Ärztliches Urteilen und Handeln................................... Die »Regeln der Kunst«..................................................
55 62 70 73
III. Der Strukturwandel in der Medizin..............................
78
1. Ärztliche Teleologie und medizinische Ethik in der mo dernen Gesellschaft......................................................... 2. Die erweiterten Handlungsmöglichkeiten der Medizin 3. Die Ausweitung der Zielsetzungen ärztlichen Handelns
79 80 82
1. 2. 3. 4.
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Inhalt
B. Der Krankheitsbegriff und seine Konstitutionsverhältnisse
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I. Krankheit und Natur..........................................................
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1. Krankheiten als natürliche Entitäten............................ a. Die Einführung der Taxonomie in die Krankheits lehre ........................................................................... h. Das Problem der Abgrenzung.................................. c. Referenz und Intentionalität von Sprachen............. d. Nosologie und ärztliches Handeln............................ 2. Biologische Dysfunktionen und homoiostatische Stö rungen .............................................................................. a. Der Körper als Maschine............................................ b. Das autopoietische System......................................... c. Der funktionalistische Krankheitsbegriff................ d. Die homoiostatische Störung.................................. e. Der systemtheoretische Krankheitsbegriff ................ 3. Gesundheit und Normalität............................................ a. Die statistische Norm............................................... b. Die ideale Norm ........................................................ c. Das Pathologische und die Normativität des Lebens d. Ärztliches Handeln und die individuell natürliche Normalität .................................................................. e. Die genetische Normalität ......................................... 4. Die Natürlichkeit der Natur ......................................... a. Vorgegebenheit und Aufgegebenheit der Natur . . . b. Das Streben nach der Erfüllung naturaler Grund bedürfnisse .................................................................. c. Krankheit und das gelingende Leben ...................... d. Der Körper als physiologisches Sensorium .............
91 92 96 98 101 106 106 114 117 125 126 129 131 133 134 140 145 147 148 150 156 163
II. Krankheit und Gesellschaft...............................................
168
1. Der Kranke als soziales Wesen...................................... a. Krankheit und teleonomisches Entfaltungsvermögen b. Arztrolle und Krankenrolle......................................
170 171 174
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Inhalt
2. Krankheit als soziale Konstruktion............................... a. Krankheit als Etikett.................................................. h. Diskriminierung und Eugenik................................... 3. Kranke und fürsorgliche Gesellschaft............................ a. Die Selhstauslegung des Kranken in der Gesellschaft h. Fürsorge und Solidargemeinschaft............................
178 179 183 189 189 191
III. Krankheit und Subjekt....................................................
195
1. Krankheitserfahrung und Selhstauslegung................... a. Krankheit zwischen Deskription und Evaluation . . h. Krankheit und Lehenswelt......................................... c. Krankheit und kontingente Existenzweise................ d. Psychische Störung und Krankheitserlehen............ 2. Leihsein und Körperhahen............................................ a. Die schwierige Einheit des Menschen...................... h. Die exzentrische Positionalität des Menschen .... c. Kranksein im Modus von Verkörperung und Entkörperung .................................................................. 3. Krankheit und Lehensqualität......................................... a. Lehensqualität und Patientenzentrierung.............. h. Die individuelle Therapiehewertung........................ c. Operationalisierharkeit und Allokation................... d. Lehensqualität in der medizinischen Ethik................ 4. Krankheit und Behinderung......................................... a. Behinderung und Selhstauslegung........................... h. Die soziale Ausgrenzung von hehinderten Menschen c. Ausgrenzung und pränatale Diagnostik ................... d. Behinderung und »wrongful life«............................ e. Behinderung und gelingendes Lehen ......................
196 196 203 206 210 215 216 218 221
226 228 229 230 234 238 239 242 244 247 250
C. Praktischer Krankheitsbegriff und ärztliches Handeln I. Der praktische Charakter des Krankheitsbegriffs ....
255
1. Der Kranke als Behandlungshedürftiger ...................... 2. Evaluation des Patienten und ärztliche Praxis ............
256 258 13
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Inhalt
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3. Kommunikation mit zwei Sprachen............................ 4. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient .
263 267
II. Die ethische Funktion des Krankheitshegriffs................
270
1. Ärztliche Indikation und Patientenwille 2. »Krankheit« als Grenzhegriff.........................................
271 277
Schlußhemerkung.....................................................................
283
Literatur.....................................................................................
287
Personenverzeichnis..................................................................
313
Sachverzeichnis........................................................................
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Einführung und Exposition der Fragestellung
Während in medizinischen Handbüchern und Lexika viele Krankhei ten im Detail beschrieben sind, sucht man in der Regel vergeblich nach dem Stichwort »Krankheit«.1 Der Begriff ist offenbar unscharf, schwer abzugrenzen, und zu jenen Grundbegriffen gehörig, von de nen I. Kant sagt, daß sie zwar erörterbar oder beschreibbar, aber kaum definierbar seien.2 »Was gesund und was krank im allgemeinen bedeutet, darüber zerbricht sich der Mediziner am wenigsten den Kopf«3, bemerkt der Arzt und Philosoph K. Jaspers. Es fehle gar - so wird an anderer Stelle angemerkt - der Medizin an einem einheit lichen Krankheitsbegriff, einer bindenden »disziplinären Fundamen talmatrix«4. J. Gottschick geht sogar soweit zu sagen, die Heilkunde benötige gar keinen »allgemeinen Krankheitsbegriff, weil sie sich nur mit Einzelkrankheiten zu befassen hat und einer genauen Grenzzie hung zwischen >krank< und >gesundseine Naturself< that one may constitute by one's self-determination, i. e. by the free choices towards which all one's practical reasoning is directed.«211 Nussbaum geht in ihrem starken unbestimmten Entwurf über das Gute (thick vague conception of the good) davon aus, daß eine Gesellschaftsordnung nur dann verwirklicht werden kann, wenn sich die Gesellschaft über die Bedingungen für ein vollständiges gutes menschliches Leben bewußt ist. Dazu ist es notwendig, sich vor Augen zu führen, welche Grundbedingungen essentiell zum Mensch sein dazugehören und durch welche anthropologischen Grundkon
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»bonum est faciendum, malum est vitandum« Vgl. J. Finnis (21985), 53. Vgl. ebd., 136-142. Vgl. ebd., 122. Ebd., 124.
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B. I. Krankheit und Natur
stanten alle Menschen miteinander verbunden sind. Dem Vorwurf von kulturrelativistischer Seite begegnet sie mit dem Hinweis, daß im Anschluß an die Aristotelische Lehre von den ^atvö^eva, Men schen einander als Menschen erkennen und miteinander sinnvoll kommunizieren können, weil sie die gleichen Grunderfahrungen und Grundfähigkeiten besitzen, unabhängig von den verschiedenen Traditionen, religiösen Vorstellungen oder metaphysischen Annah men. Diese gehen in die freie Handlungswahl des Menschen mit ein, nach der er sein Leben nicht einfach lebt, sondern bewußt führt, in dem er seine natürlichen Strebungen einem reflektierten Urteil durch die praktische Vernunft im Sinne von ^qÖv^olc; unterzieht. Damit folgt der Mensch als Freiheits- und Vernunftwesen nicht ein fach seinen Naturstrebungen, sondern seinen selbstgesetzten Zielen, zu denen er Stellung bezogen hat: Setzt Handeln ein Streben voraus, so erfolgt es jedoch nicht aus Ursachen, sondern aus Gründen.212 Soll Handeln nun »einerseits von Vernunft bestimmt sein, an dererseits aber einem Streben entspringen und dessen Vollendung darstellen, müssen die beiden Strukturen sich komplementär verhalten.«213 Nach der Vernunft zu handeln heißt, das als gut erkannte als ein zu tuendes anzuerkennen. Mit Rekurs auf Aristoteles erscheint Natur - so L. Honnefelder - »als Handlungsprinzip in Form der alles Handeln in Bewegung setzenden Strebensnatur einerseits und deren die Ziele des Handelns konkret bestimmenden Vollendungsgestalt andererseits. Beide Erscheinungsweisen der Natur stehen nicht in einem einsinnigen Abhängigkeitsverhältnis, sondern in einem durch die Vernunft zu vermittelnden Verweisungszusammenhang.«214 Auch Nussbaum geht es nicht darum, den Gottesstandpunkt oder einen »viewpoint from nowhere« einnehmen zu können, sondern die unbedingten Bedingungen gelingenden menschlichen Lebens aufzuzeigen (thick), sie gegenüber verschiedenen Traditionen offen zu halten (vague) und sie gleichzeitig einer relativistischen Beliebig keit zu entziehen. Dies bedeutet anzuerkennen, daß der Mensch von Natur aus zerbrechlich und daher bedürftig ist. Diese Zerbrech lichkeit (fragility) und Bedürftigkeit begrenzt des Menschen Lebens führung. Finnis stellt eine Liste von »basic goods« oder »basic needs« auf,212 213 212 Aristoteles, Ethica Nicomachea VI13,1144b14-1145a11. 213 L. Honnefelder (1992b), 154. 214 Ebd., 157.
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4. Die Natürlichkeit der Natur
die er als eine geschlossene, nicht hierarchische Liste betrachtet. Er möchte damit dem Vorwurf entgehen, die Grundgüter willkürlich auf einige wenige zu reduzieren oder aber umgekehrt eine beliebig offene Liste aufzustellen, die sich dem Vorwurf des Relativismus aus setzen müßte. Kulturrelativ seien nicht die Grundgüter selbst - viel mehr seien diese kulturanthropologisch manifest und stünden nicht zur Disposition -, sondern kulturrelativ sei deren Bewertung und Interpretation im einzelnen. Als basic goods führt Finnis auf: life, knowledge, play, aesthetic experience, sociability/friendship, practical reasonableness sowie religion. Auch Nussbaum stellt eine Liste auf, die die menschliche Lebensform charakterisiert: mortality, hu man body, pleasure and pain, cognitive capability, early infant de velopment, practical reason, affiliation with other human beings, relatedness to other species and to nature, humor and play, separateness sowie strong separateness.215 Im Gegensatz zu Finnis hält Nussbaum eine solche Liste für nicht geschlossen, da sich die Bewer tung der eigenen Natur ändere und man von anderen Kulturen Ver haltensweisen lernen könne, die man bislang ignoriert habe. Beide Autoren nehmen diese anthropologische naturale Basis als selbstevi dent an, sie sei transkulturell, habe prämoralischen Charakter und sei in diesem Sinne nicht präskriptiv. Die Frage nach der Moralität wird erst durch die Realisations- und Vollzugsmöglichkeiten sowie das darin enthaltene Konfliktpotential aufgeworfen. Inwieweit diese Ansätze näher betrachtet für eine Ethiktheorie tragfähig sind und wo die Defizite liegen, dem kann hier nicht nach gegangen werden.215 216 Für unseren Zusammenhang ist jedoch bemer kenswert, daß in beiden Listen das Streben nach Gesundheit oder nach Freiheit von Schmerzen unter den Stichworten life (Finnis) so wie human body, pleasure and pain (Nussbaum) diskutiert wird.217 Der Vollzug gelingenden Lebens ist an diese natürlichen Rahmen bedingungen gebunden, die wesentlich Grenzen und Kapazitäten menschlichen Lebens bestimmen und individuelle wie gesellschaft liche Orientierung geben. Wenn es zu den Aufgaben des Staates ge hört, die Grundfähigkeiten und -bedürfnisse des Menschen zu ach ten, so ist die Gesundheitsfürsorge eine institutionalisierte Form der
215 Diese Liste wird von ihr ergänzt durch eine Liste von »basic human functional capabilities«. 216 Vgl. hierzu ausführlich L. Siep (1997). 217 Vgl. hierzu auch R. J. Dubos (1959), 278-779.
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B. I. Krankheit und Natur
Anerkennung des menschlichen Strehens nach Gesundheit, obwohl es dann immer noch jedem einzelnen freistehen mag, seine Gesund heit zu ruinieren.218 Wenn diese natürlichen Grundstrehungen und -hedürfnisse die Bedingung der Möglichkeit gelingenden Lehens markieren und diese Bedingungen erhalten sowie geschützt werden sollen, dann ist dies eine Orientierung an der Natur des Menschen, die diese nicht verbessert, sondern zunächst als vorgegeben annimmt und als sich selbst aufgegehen achtet. An dieser Grundstruktur ori entiert sich auch das ärztliche Handeln, insofern es sein Ziel ist, nicht die menschliche Natur verbessern zu wollen, sondern den kranken Menschen - in Orientierung an der Natur - zu heilen. Die mensch liche Natur wird damit zu einer Quelle für Wertschätzungen, indem »die Wahrung der Natürlichkeit der Natur auch den ohjektiv erkenn haren menschlichen Fähigkeiten am ehesten gerecht wird.«219 Sicher lich sind Bedürfnisse in vielfacher Hinsicht kultur- und epochenrela tiv, aher es gilt, private und kurzfristige Bedürfnisse von elementaren Grundhedürfnissen zu unterscheiden. »Bei aller Vielfalt und Künst lichkeit der menschlichen Kulturformen und der individuellen Le hensweisen wird man ohne Rahmenvorstellungen dessen, was ein Mensch normalerweise hraucht, um ein gelungenes Lehen zu führen, in der Ethik nicht auskommen.«220 Wie immer sich Gesundheit und Krankheit zur menschlichen Natur einerseits und zu sozialen Kon ventionen andererseits verhalten mögen, so ist man sich aher doch prinzipiell darüher einig, was im Bereich hygienischer Bedingungen und medizinischer Grundversorgung trotz aller systemimmanenten Rahmenhedingungen jedem Menschen als Menschen zusteht.221 Grundsätzlich läßt sich festhalten, daß Krankheit das auf der Strehensnatur des Menschen aufhauende zielgerichtete Handeln als Vor aussetzung gelingenden menschlichen Lehens gefährden oder gar ganz unmöglich machen kann.
c. Krankheit und das gelingende Leben In seiner »welfare theory of health« nimmt L. Nordenfelt diesen Ge danken auf und führt aus, daß Gesundheit und Glück durch die Stre-
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Vgl. M. C. Nusshaum (1993), 343. L. Siep (1993), 147. Ders. (1997), 18. Ehd., 24.
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4. Die Natürlichkeit der Natur
bensnatur des Menschen miteinander verbunden sind. Gesundheit sei nämlich die Fähigkeit, Ziele zu realisieren und Glück (happiness) sei jener Zustand, der aus der Realisierung dieser Ziele resultiert. Daher sei Gesundheit eine entscheidende Voraussetzung, eine not wendige Bedingung für ein gelingendes Leben.222 »A is in health if, and only if, A has the ability, given standard circumstances, to realize his vital goals, i. e. the set of goals which are necessary and together sufficient for his minimal happiness.«223 Umgekehrt ist Krankheit genau dann gegeben, wenn der Betroffene seine »vital goals« nicht oder nur teilweise realisieren kann.224 Dabei steht das biologische Verständnis von Krankheit (disease) keineswegs - so Nordenfelt im Gegensatz zur »vital goal notion of health«, vielmehr sei die bio logische Ordnung eine notwendige Bedingung für Gesundheit. Sein Konzept gehe aber davon aus, daß Gesundheit nicht identisch mit der biologischen Ordnung ist.225 »As we understand the notion, biologi cal order is that set of biological functions which, given standard circumstances, makes it possible for the subject to satisfy his vital goals.«226 Rahmenbedingungen der Bedürfnisstruktur und individu elle Verwirklichung sind dabei unterschieden, denn auch dann, wenn die verschiedenen Bestandteile der Wohlfahrt ein glückliches Leben grundsätzlich ermöglichen, so garantieren sie es damit noch nicht.227 In modifizierter Weise verstehen auch C. Whitbeck228 und I. Pörn229 Krankheit als einen individuellen Zustand, der die Fähig keit, individuelle Ziele zu realisieren, einschränkt oder gar zerstört durch mangelnde Anpassungsfähigkeit. Während beide Autoren dies grundsätzlich auf alle selbstgesetzen Ziele beziehen (subject goal
222 Vgl. L. Nordenfelt (1987), 88. 223 L. Nordenfelt (1987), 90; vgl. auch H. T. Engelhardt (1978), 605: »A more restrained definition of health would propose health to be that state of physiological and psychological function which allowed the achievement of those goals and states held to be proper to humans.« 224 »P is unhealthy (or ill) to some degree, if and only if P, given standard circumstances, cannot realise all his vital goals or can only partly realise them.« L. Nordenfelt (1993a), 280. 225 Vgl. ders. (1987), 130. 226 Ebd., 130-131. 227 Vgl. hierzu auch N. Rescher (1972). 228 Vgl. C. Whitbeck (1981). 229 »An agent is in good health if and only if he has the repertoire which his generalized adaptedness requires; his health is less good, or he is ill to some extent, if and only if his repertoire is inadequate.« I. Pörn (1993), 301.
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B. I. Krankheit und Natur
theory), schränkt L. Nordenfeit dies auf solche Ziele ein, die er »vital goals« nennt, als Ziele, die notwendig und zusammen hinreichend sind für ein minimales Glück.230 Denn nicht alle Ziele seien realisti scherweise zu erreichen und nicht jede Unfähigkeit, ein Ziel zu er reichen, sei gleichzusetzen mit Krankheit.231 Als Beispiele für »vital goals« nennt er: ausreichende Ernährung, ein schützendes Zuhause, ökonomische und soziale Sicherheit.232 Die Frage, wann ein Ziel auch ein vital goal ist, hängt von einem Urteil über die wahrscheinliche Beziehung zwischen der Realisation des Ziels und dem daraus er wachsenden Glück ab. Dieses Urteil kann vom Handelnden selbst, aber auch von einem externen Beobachter gefällt werden.233 Ent scheidend ist, daß es sich um individuelle Zielsetzungen handelt.234 Nordenfelt stellt aber keine direkte Beziehung zwischen der menschlichen Natur und dem Urteil über die Zielsetzungen des Menschen her. Im Gegensatz zu den Listen von Finnis und Nuss baum stellt Gesundheit selbst für Nordenfelt kein Bedürfnis als Teil der Liste dar, vielmehr ist sie Voraussetzung dafür, die Ziele (basic vital goals/basic needs) erstreben zu können.235 Gesundheit ist ein Gut (good), um Ziele (goals) zu realisieren. Der Krankheitsbegriff (illness) läßt dann auch Abstufungen zu von einer eingeschränkten Fähigkeit bis zur Unfähigkeit, Ziele zu realisieren. Der handlungs leitende Begriff für Arzt und Gesundheitswesen aber ist für Nordenfelt - wie auch für Whitbeck und Pörn - nicht der Krankheits-, son dern der Gesundheitsbegriff. Der Gesundheitsbegriff ist jedoch - im Gegensatz zum »negativen Krankheitsbegriff«236 - viel weiter gefaßt und verleitet eher zu Melioration, Enhancement oder Eugenik als zur Heilung und Linderung, was an späterer Stelle noch näher aus geführt werden soll.237 Ist Gesundheit ein Zustand, »der dem einzelnen die Ausübung seiner körperlichen und geistigen Funktion ermöglicht«238, ist Krank 230 Vgl. L. Nordenfelt (1987), 90. 231 Vgl. ebd., 74. 232 Vgl. ebd., 91. 233 Vgl. ebd., 96. 234 Vgl. ebd., 322. 235 »A person A is in health if, and only if, he has the ability, given standard circumstances, to fill his basic needs.«, (L. Nordenfelt (1987), 63). 236 Jaspers spricht auch von Krankheit als einem »allgemeinen Unwertbegriff« (vgl. K. Jaspers (51965), 655). 237 Vgl. Kap. B II. 238 O. Seewald (1989), 651.
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4. Die Natürlichkeit der Natur
heit derjenige Zustand, der genau diese Fähigkeiten einschränkt. Nordenfeit unterscheidet den Zustand der Krankheit als nicht-ge sund - im Sinne der genannten Definition - von dem der Krankheit als »medical illness«: »A is ill (in a medical sense) if, and only if, A in standard circumstances is disahled from realizing his vital goals, hecause of at least one malady which is helieved to he in principle curahle.«239 Hier zeigt sich üher das suhjektiv-handlungstheoretische Moment hinaus das kurable, d. h. das ärztliche Moment des Krank heitshegriffs. Die Frage, oh der Arzt selhst an der Formulierung der vital goals Anteil hat, wird von Nordenfelt verneint. Dies komme nur dem Betroffenen zu. Wohl aher giht es einen Einfluß auf Krankheits auffassungen seitens der zuständigen Stellen im Gesundheitswesen, da hier strukturelle Voraussetzungen für eine entsprechende kura tive Medizin staatlicherseits geschaffen werden müssen.240 Die enge Verbindung zwischen goals/happiness und health/illness führt in Nordenfelts Theorie dazu, daß er hinsichtlich der Ant wort auf die Frage, oh die Schwangerschaft aufgrund der vielen mit ihr verhundenen hinderlichen Beschwernisse als Krankheit zu hezeichnen sei, eine Unterscheidung einführt. Es sei zu differenzieren zwischen der gewollten Schwangerschaft einerseits, die eine notwen dige Bedingung und hinsichtlich der Beschwerden ein notwendiges Ühel darstellt, um den Kinderwunsch - als goal - zu erfüllen, sowie andererseits der ungewollten Schwangerschaft, die nicht aufgrund dieser Zielsetzung entstanden sei. Unter diesen Umständen könne dann, wenn die Mutter nicht glücklich mit ihrem Kind ist, dieser Zustand durchaus als »illness« hezeichnet werden.241 Ähnlich analy siert er das Prohlem, oh Homosexualität eine Krankheit darstelle. Auch wenn sie im Vergleich zur Mehrheit der Bevölkerung eine Ahnormalität im Sexualverhalten sei, könne dies noch kein Anlaß sein, Homosexualität als Krankheit zu hezeichnen. Denn - so Nordenfelt Homosexuelle können ihre Zielsetzungen grundsätzlich genauso realisieren wie Heterosexuelle. Es sei denn, sie hätten den Wunsch, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen. Ahgesehen davon, oh dies wirklich zu den vital goals zu zählen ist, seien Homosexuelle hiologisch prinzipiell in der Lage, Kinder zu zeugen, denn Homosexualität enthalte schließlich keineswegs die Eigenschaft
239 L. Nordenfelt (1987), 111. 240 Vgl. ehd., 129. 241 Vgl. ehd., 114.
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infertil zu sein. Aber wenn es nun für einige Homosexuelle ein »vital goal« ist, sich den Kinderwunsch und den Wunsch nach Familien gründung zu erfüllen, und nicht eine für sie sexuell unbefriedigende heterosexuelle Partnerschaft wollen, dann gebe es gute Gründe, da von auszugehen, daß es dieser Gruppe große Schwierigkeiten bereite, dieses »vital goal« zu realisieren. Diese Menschen können dann - so Nordenfelt - durchaus aus ihrem Selbstverhältnis heraus als »ill« qualifiziert werden.242 Hier stellt sich aber die Frage, ob dies eine hinreichende Bedingung ist, in diesen Fällen Homosexualität als Krankheit zu bezeichnen. Denn die Zeugung eines Kindes ist an die Heterosexualität als eine natürliche Voraussetzung gebunden. Auch wenn Homosexualität verschiedentlich als eine Abweichung von der biologischen Durchschnittsnorm aufgefaßt wird, sie eine genetische Determinante243 haben mag und - biologisch gesprochen - dem Fort pflanzungsverhalten der Art Homo sapiens entgegenläuft, so ist dies aber kein Zustand, der dem gelingenden Leben eines Individuums grundsätzlich entgegensteht - zumindest nicht mehr als andere na türliche Zustände auch, wie z. B. als Mann geboren zu sein. Vielmehr ist es genau diese Natur, die einem Menschen vorgegeben und als solche aufgegeben ist. Die damit zusammenhängenden Hindernisse für ein gelingendes Leben liegen nicht im Natürlichen, sondern in gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen. Halten wir an der Natürlichkeit der Natur als Rahmenbedingung unseres mensch lichen Lebens fest - auch und gerade in bezug auf die Realisierung unserer selbst gesetzten Ziele -, dann scheint es nicht angemessen zu sein, hier von Krankheit zu sprechen. Genauso wenig kann die Tat sache, daß der Wunsch eines Mannes, einmal ein Kind auszutragen, unerfüllt bleiben muß, hinreichend dafür sein kann, diese biologische Normalität des Mann-Seins aufgrund der Nichteinlösbarkeit des Wunsches als krank zu bezeichnen. In Auseinandersetzung mit Boorse' funktionalistischer und Nordenfelts evaluativer Theorie glaubt K. W. M. Fulford, daß beide Autoren viel weniger weit voneinander entfernt sind, als sie selbst meinen. Vielmehr würden sie sich in der Praxis ergänzen, denn in der medizinischen Ausbildung, in der medizinischen Forschung und in der klinischen Praxis werde sowohl auf das deskriptive wie auf das normative Element des Krankheits-/Gesundheitsbegriffs zurück 242 Vgl. ebd., 137-139. 243 Vgl. P. Propping (1989), 356-358.
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gegriffen. Fulford votiert daher für eine »Brückentheorie« zwischen beiden Konzepten aufgrund ihrer strukturellen Interdependenz. Die Brücke bildet der Begriff der »illness« bzw. diejenige Phänomeno logie von »illness«, welche die biologische Betrachtungsweise von »disease« (Boorse) mit der sozialen Betrachtungsweise von »health« (Nordenfelt) verbindet.244 »Illness sits between bodily/mental parts (which become diseased) and social structures (within the values of which standards of health are defined): similarly, the actions of indi vidual agents sit between the functioning of their bodily/mental parts (on which indeed actions are contingently dependent) and social roles by which (at least in part) the competence of an agent's action are measured.«245 Damit wird das praktische Moment des Krank heitsbegriffs und die Relevanz für das ärztliche Handeln betont. Of fen bleibt aber weiterhin die Frage nach den Konstitutionsverhält nissen. Eine ähnliche Brückenbildung versucht K. Fedoryka, indem sie eine Unterscheidung zwischen der Selbstaktualisierung als Funktion der Natur (Organe, Stoffwechsel usf.) und als der Funktion individu eller freier Akte (Zwecksetzungen, Handlungen usf.) einführt.246 Da mit versucht sie naturalistische Elemente von Boorse mit den evaluativen Elementen von Nordenfelt zu verbinden. Während erstere Funktionsweisen natürlich ablaufen, werden letztere durch freies Handeln realisiert. Dieses Handeln kann aber gleichzeitig zu einer erheblichen Beeinträchtigung der natürlichen Funktionalität führen wie beispielsweise durch Rauchen. Für Fedoryka ist Gesundheit ein Gut - oder genauer, ein Maß jenes Guts eines Lebewesens - das eine unmittelbare Funktion der Natur dieses Lebewesens ist. Daher ist Gesundheit beschränkt auf die Sphäre der Aktualisierung, die nicht durch die Wirkung individueller freier Akte vollzogen werde. Sie sei vielmehr eine Dimension des Individuums, in der sich eine bestimm te Entfaltung dieses Wesens durch die Wirkung seiner natürlichen Struktur zeige. Damit - so Fedoryka - seien die evaluativen und de skriptiven Elemente der beiden Theorien miteinander verbunden. Denn es gebe eine deskriptiv feststellbare Struktur eines Wesens was Boorse »species design« nennt -, die eine Funktionalität hin
244 Vgl. K. W. M. Fulford (1993). 245 Ebd., 308; vgl. hierzu auch L. Nordenfelt (1993b). 246 Vgl. K. Fedoryka (1997), 154.
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sichtlich eines Ziels enthalte, d.h. eine »natürliche Evaluation«.247 Daher brauche man auf der praktischen Ebene keine Kategorie ein zuführen - nämlich die der Werte - die man auf der theoretischen Ebene verneint habe.248 »What we have is a notion of a goal, namely the natural actualization of the organism, which is simultaneously the end of functions, and that in reference to which functions of the organism are determined as good. This goal is not set by individual decision, but by the somatic and psychological structure of the organism itself. Moreover, while there is reference to an individual organism in the definition of health, this is not a reference to the actual interests and desires of the organism.«249 Insofern sei es auch kein Widerspruch, wenn sich das Gesundheitswesen grundsätzlich an einem Grundkonsens orientiere und nicht an den realen Interessen von bestimmten Individuen. Dieses Modell habe - so Fedoryka - drei Vorzüge: (i) Der so gestaltete Gesundheitsbegriff - als Voraussetzung für die Aktuali sierung der menschlichen Natur - erlaube eine unproblematische Extension über den personalen Bereich hinaus, was die evaluativen Theorien nicht ermöglichen. Damit sei der Gesundheitsbegriff auch übertragbar auf Kinder oder nicht einwilligungsfähige Personen. (ii) Darüber hinaus sei dieser Begriff kompatibel mit den vielen Phä nomenen, die sich mit Abwesenheit von Gesundheit beschreiben las sen und nicht deckungsgleich mit Krankheit sind (z. B. Dysfunktion, Schmerz, Behinderung). (iii) Schließlich sichere dieses Modell das Maß an Objektivität und grundsätzlicher Anwendbarkeit, ohne den Gesundheitsbegriff und insbesondere die Gesundheit von Personen reduktionistisch auf bloß mechanistische Prozesse zu verkürzen. Denn Funktionalität müsse keineswegs ein mechanistischer Begriff sein, vielmehr rekurriere er auf ein organisiertes »Ganzes« und wi derstehe einer Analyse in ausschließlicher Terminologie isolierter physikalischer oder mentaler Prozesse. Damit seien - durch die Ideen von Funktion und natürlicher Selbstaktualisierung - die beiden op positionellen Positionen der deskriptiven und der normativen Ge sundheitsvorstellungen vereint.250
247 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Canguilhem und seine Vorstellung von der »Nor mativität des Lebens« in Kap. B I 3. 248 Vgl. K. Fedoryka (1997), 155. 249 Ebd., 155-156. 250 Vgl. ebd., 156-157.
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Fedorykas Ziel scheint es zu sein, für ein geeignetes Gesund heitssystem einen angemessenen Gesundheitshegriff zu formulie ren, der einerseits eine anthropologische Ohjektivität und damit einen üherindividuellen Standard hewahrt, aher für den andererseits akzeptiert wird, daß die hierfür notwendige Evaluation nicht einfach auf einen naturwissenschaftlichen Befund reduzierhar ist. Für diese Konzeption muß vorausgesetzt werden, daß ein konsensfähiges, ra tionales Interesse hesteht, Gesundheit als einen wünschenswerten Zustand zu hetrachten. Da Fedoryka mehr das Gesundheitssystem als den individuellen Kranken im Blick hat, lassen sich hier auch nur Teilaspekte hinsichtlich von Krankheits- und Gesundheitshegriff er warten. Ist in der Tat eine Evaluation von Krankheit nicht ohne Blick auf das natürliche Funktionieren des Körpers möglich, so ist die Eva luation aher immer eine individuelle, genauso wie die Natur, auf die rekurriert wird, eine individuelle ist. Freilich geschieht dies im so zialen Kontext - entsprechender Varianz unterliegen die Zielset zungen - und freilich müssen die individuellen Evaluationen nicht grundverschieden sein, denn wir gehören derselben Artnatur an. Das eigentlich transkulturelle Moment des Krankheitshegriffs ist dann nicht in der Transkulturalität der Werte und Ziele zu suchen, sondern in dem Phänomen, daß Krankheiten als Zustände aufgefaßt werden, die in nahezu allen erdenklichen Kulturen oder Umgehun gen Menschen davon ahhalten, wichtige, von ihnen gesetzte Ziele zu erreichen, ohwohl die Ziele selhst kulturvariant sein mögen.251 Ein Blick auf die Natur des Menschen hei der Interpretation von Krank heiten ist offensichtlich unumgänglich, doch erfolgt dieser Blick in erster Linie nicht in theoretischer, sondern in evaluativer und prakti scher Ahsicht. d. Der Körper als physiologisches Sensorium
Üher die Medizin der Antike wurde - wie gezeigt - zum ersten Mal ein Naturhegriff in praktischer Ahsicht formuliert, den Aristoteles in seiner p,eo6r^c;-Lehre aufnimmt. Die Mitte zwischen Ühermaß und Mangel sowie das Besondere des Einzelfalls - denn die Mitte hedeutet nicht für jeden dasselhe und kann auch hei derselhen Person zu unterschiedlichen Zeiten jeweils anders ausfallen252 - hestimmen in 251 Vgl. A. Caplan et al. (1981), xxv. 252 »So wird also der Fachmann Ühermaß und Mangel meiden und die Mitte suchen und
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nerhalb des ärztlichen Handelns das für den Patienten Abträgliche wie Zuträgliche253 und erfordern eine Einsicht in die allgemeine wie in die besondere 9ÜOL5, d. h. in die individuelle Körperkonstitution als ein Kranksein, das sich nicht als einheitlich statische Größe dar stellt.253 254 Dieses naturgemäße ärztliche Handeln bedeutet in der Um kehr, die Natur nicht verbessern zu wollen, sondern sich an der Natur zu orientieren. Dieser Naturbegriff ist für eine Reflexion des ärztlichen Han delns und seiner Orientierung an Gesundheit und Krankheit in der Antike wie heute ein Schlüsselbegriff. Mit der Verleugnung der Na tur im Menschen - so M. Horkheimer und T. W. Adorno - »wird nicht nur das Telos der auswendigen Naturbeherrschung, sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig.«255 Ob wohl er sich nicht explizit auf Hippokratische, wohl aber auf Aristo telische Schriften bezieht, greift L. Schäfer in der Formulierung sei nes »physiologischen Naturbegriffs« auf diese Figur zurück, wenn er versucht, eine Möglichkeit zu finden, auf das Naturverhältnis des Menschen zurückzugehen, ohne sich dem Vorwurf des naturalisti schen Fehlschlusses auszusetzen. Schäfer geht davon aus, daß der Mensch als Organismus in physiologischer Wechselwirkung mit sei ner Umgebung steht. »Aufgrund des metabolischen Eingelassenseins unseres Körpers in Zirkulationsprozesse der Natur können wir unse ren Körper als Sensorium für die Verträglichkeit der äußeren Bedin gungen, unter denen wir leben, betrachten.«256 Die Philosophie hat bisher das Verhältnis des Menschen zur Natur nur nach der Seite der Vernunft (Spontaneität) ausgelegt und bedacht. Der Begriff des Stoffwechsels spreche demgegenüber das rezeptive, passive Moment, die leibliche Affektion an, die jetzt stärker beachtet werden soll. Die Zerstörung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen zeige genau dieses durch ein verengtes Naturverhältnis entstandene Defizit.257 Auch der Empirismus habe das Naturverhältnis des Menschen in wählen, die Mitte aber nicht der Sache nach, sondern im Bezug auf uns.« (Aristoteles, Ethica Nicomachea 1106b 5-7); vgl. dazu auch ebd. 1173al5-28. 253 Vgl. Platon, Politeia 341d-342e; vgl. dazu auch Corpus hippocraticum, De morbo sacro, XXI, Oeuvre II. 254 Vgl. Corpus hippocraticum, De flatibus, I, Oeuvre II; vgl. dazu auch Corpus hippo craticum, De victu l, II, Oeuvre IV. 255 M. Horkheimer/T. W. Adorno (1969), 61. 256 L. Schäfer (1993), 225. 257 Vgl. ebd., 225.
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einer abstrakten Perspektive als Rezipieren reiner Information auf gefaßt. Demgegenüber weist Schäfer darauf hin, daß wir als Organis men ja nicht nur Information aufnehmen, sondern im realen Stoff wechsel mit der Natur stehen. Dann bringe das Körperempfinden die für das Leben relevante Gesamtbilanz dieses metabolischen Austauschs mit der Umwelt zum Ausdruck. »In einer metaphorischen Wendung könnte man sagen, der Zustand des Organismus, d. h. das körperlich sich manifestierende Wohlbefinden, fungiert gleichsam wie ein Meßinstrument der Natur.«258 Damit werde die Natur nicht als die Gesamtheit des Vorhandenen unter allgemeinen Gesetzen verstanden, »sondern im Sinne des Zuträglichen und Abträglichen, des Bekömmlichen und Unbekömmlichen werden die Außendinge wertend auf die Lebenseinheit bezogen. [...] Von diesem Zentrum des Lebendigen her, das Natur positiv und negativ auf sich bezieht, ergibt sich ein ganz anderer Naturbegriff als der gängige.«259 Mit dem physiologischen Naturbegriff erfolgt eine neue quali tative Bewertung und Gewichtung des Mensch-Natur-Verhältnisses, denn »im physiologischen Verhältnis gibt es keine bloßen Bestände, es gibt nicht die Neutralität des bloß Vorhandenen«;260 vielmehr ist alles gewichtet und bewertet gemäß Zuträglichkeiten und Abträglichkeiten.261 Schäfers Ansatz bleibt bewußt anthropozentrisch und
258 Ebd., 229. 259 Ebd., 229. Eine Bedeutung von »gesund« in unserer Alltagssprache ist die, dasjenige als gesund zu bezeichnen, was »der Gesundheit zuträglich« ist (z.B. vitaminreiche Kost); das Gegenteil, das was »der Gesundheit abträglich« ist, wird dann als »ungesund« bezeichnet. Dieses Ungesunde mag dann als Quelle der Krankheit betrachtet werden. 260 Ebd., 232. 261 In diesem physiologischen Naturbegriff kehren Begriffe und Vorstellungen wieder, die im Aristotelischen Konzept der Natur Geltung besaßen und die durch die neuzeitli chen Naturwissenschaften verabschiedet worden waren: 1. Die Rückkehr zur Endlich keit: Die physiologische Natur zeigt vergleichsweise enge Grenzen der Wechselwir kung, wenn man z.B. Nahrungsketten betrachtet. Wie rasch vermeintlich endgültig deponierte Stoffe in angereicherter Form als Gifte auf unseren Speiseplan treten, zeigt uns räumliche und zeitliche Endlichkeit der physiologischen Natur. 2. Die Rückkehr zu einer qualitativen Betrachtung: »Bekömmlich«, »giftig«, »verdorben« sind wertende Prädikate, die man gewöhnlich für eine rein naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Natur nicht verwendet. 3. Die Rückkehr zu den Elementen: Zwar sind es nicht mehr Feuer, Wasser, Erde, Luft, aber unter physiologischer Perspektive Cadmium, Blei, Phos phate, Stickoxide oder andere chemische Elemente bzw. Verbindungen. 4. Die Rückkehr zu einem aristotelischen Erfahrungsbegriff: Es ist nicht die planmäßig veranstaltete Vor gehensweise der wissenschaftlichen Erfahrung, sondern die »Unmittelbarkeit des auf uns Einwirkenden, die Leib- und Sinnzentrierung des uns Umgebenden, die für das
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scheint sogar einem extremen Subjektivismus im Sinne eines >Leibempfindens< das Wort zu reden. Festzustellen ist, daß das körperliche Wohlergehen als Sensor eines intakten Metabolismus der diagnosti schen und prognostischen Unterstützung durch die Medizin bedürfe. Die Medizin selbst verfüge jedoch nicht über einwandfreie Normen, die zwischen >gesund< und >krank< rein objektiv zu trennen erlaubten; vielmehr müsse sie für ihre Urteile von den Äußerungen des Wohl befindens des Individuums Gebrauch machen. Darüber hinaus bedürfe dieses individuelle körperliche Wohlergehen als Sensor eines intakten externen Metabolismus jedoch einer Ergänzung durch sta tistische Gesamtheiten und Auswertungsverfahren.262 Der Leiblichkeit als solcher kommt damit keine normative Funktion zu, sie fungiert vielmehr als reiner Indikator des intakten oder gestörten externen Metabolismus. Es ist unsere Leiblichkeit, die uns an diese Welt bindet. Unsere leibliche Integrität fungiert als ein »potentieller Falsifikator für die Zuverlässigkeit technischer Verfah ren«263. »Die Sollens-Sätze, die wir im Ausgang von einem physio logischen Naturbegriff formulieren,« - so Schäfer - »ziehen m. E. nicht den naturalistischen Vorwurf auf sich; denn ihr Gesolltsein folgt nicht aus dem normativ gedachten Naturverhältnis, sondern folgt aus den Pflichten, die wir gegen uns selbst haben und insbeson dere hier aus der Pflicht, daß wir für unsere leibliche Gesundheit Sorge zu tragen haben.«264 Dem trägt auch H. Schaefer Rechnung, wenn er sagt: »Dem Naturwissenschaftler kann allein schon wegen der enormen meßtechnischen Empfindlichkeit aller Sinnesorgane nicht verwunderlich sein, daß in der (subjektiven) Empfindung sich von der Norm (also insbesondere vom bisherigen Lebenslauf) abwei chende Lebensprozesse subjektiv zuerst kundgeben müssen. Daraus allein folgt, wie unwissenschaftlich es sein muß, den sog. >Befunden< ein solches Übergewicht über Abweichungen des >Befindens< zu ge ben, wie dies die klassische Medizin getan hat [...]. Die Richtigkeit dieser These hat sich in epidemiologischen Untersuchungen mehr fach erwiesen. Die Befindlichkeit des Patienten ist vielfach als Diagnostikum sog. >harten Daten< überlegen«.265 Für das ärztliche Han physiologische Denken kennzeichnend sind, verweisen strukturell auf einen Typus von Erfahrung, den Aristoteles entwickelt hat« (L. Schäfer (1993), 236); vgl. ebd., 335-336. 262 Vgl. ebd., 237-242. 263 Ebd., 243. 264 Ebd., 245. 265 H. Schaefer (1976), 22 (Hervorhebung im Original).
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dein ist das Fazit zulässig, daß nicht das Gemessene das Maß für die ärztliche Behandlung ist, sondern das Angemessene.266 Der Arzt be nötigt hierfür - so R. Koch - ein »gleichmäßiges Vertrauen zur Na tur«266 267, um eine »Unterscheidung zwischen Nützlichem und Schäd lichem«268 zu treffen. Dann ist der Heilvorgang weniger Vollmacht des Arztes über die Natur und deren Umbiegen, sondern vielmehr eine Art Mithilfe im Rahmen des Vollzugs natürlicher Vorgänge.269 Es sei festgehalten, daß in der Diskussion um den Krankheits begriff in vielfältiger Weise auf den Naturbegriff Bezug genommen wird. Aber es konnte gezeigt werden, daß Krankheitszustände keine Zustände sind, die in der Natur einfach ablesbar wären, sondern vielmehr als solche zu interpretieren sind. Die Natur, die es zu betrachten gilt, ist in diesem evaluativen Verhältnis nicht ein »nur Gegenüber«, sondern Teil des Betrachtenden selbst. Dies läßt eine methodisch reduzierte naturwissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Natur zwar zu, aber Naturverhältnis und evaluatives Moment des Krankheitsbegriffs gehen hierin nicht auf. Die Sprache der Moleküle und Medikamente muß - so A. Kleinman - ergänzt werden durch die Sprache von persönlicher Erfahrung und Sinngebung.270 271 So stehen Krankheit und Gesundheit in einem Span nungsfeld von naturaler Vorgabe und habitueller Aufgabe, zwischen Sein und Seinkönnen.271 W. Wieland betont, daß nicht zufällig an diesem Punkt der anthropologisch-ethischen Reflexion gerade der Begriff der Natur den Bezugspunkt für die neuartigen Probleme angibt.272 Da die Eingriffe in die menschliche Natur durch die moderne Biomedizin immer tiefer gehen, ist es von hoher praktischer Bedeu tung, Natur gleichzeitig als Grenze und Aufgabe wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung erfolgt nicht solipsistisch, sondern im Kontext von Gruppen und Gesellschaften mit unterschiedlichen Wertauffas sungen, die in die Evaluation von Krankheit mit eingehen.
266 Vgl. dazu auch H.-G. Gadamer (1993), 167. 267 R. Koch (1923), 147. 268 Ebd., 149. 269 Vgl. H.-G. Gadamer (1993), 162. 270 Vgl. A. Kleinman (1988), 266. 271 Vgl. W Korff (1985), 60, 65-78; W. Kluxen (1974), 29, 27-49; D. Seedhouse (1986), 61. 272 Vgl. W. Wieland (1986), 16.
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Während C. Boorse betont, daß Krankheiten als biologische Dys funktionen in ihrem wesentlichen Kern unabhängig von kulturellen Einflüssen oder gesellschaftlichen Wertemustern beschreibbar sind, machen J. Margolis und H. T. Engelhardt die Relation der Begriffe Krankheit und Gesundheit zu sozialen und kulturellen Faktoren deutlich, so daß Krankheit und Gesundheit nur auf dem Hintergrund kultureller Bedingungen und Wertüberzeugungen zu begreifen sei en. Dem reduktionistisch angelegten Boorseschen Krankheitsbegriff steht die weit gefaßte Gesundheitsbeschreibung der Weltgesund heitsorganisation (WHO) diametral gegenüber, denn sie trägt über die psycho-physischen Momente hinaus den sozialen Aspekten von Krankheit und Gesundheit Rechnung. In der WHO-Beschreibung wird nämlich Gesundheit als ein »Zustand vollständigen körper lichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Frei seins von Krankheit und Gebrechen«1 verstanden. Aber schon K. Jas pers hat diese Beschreibung mit Spott versehen, indem er vermerkt, daß er an ihr gemessen »dreimal täglich krank« sei. C. W. Hufeland hat diese Kritik im Grunde 1795 bereits vorweggenommen. Er schreibt, daß die absolute Gesundheit ein Ideal sei, das einen »voll kommenen regelmäßigen und harmonischen Zustand der Organe, Kräfte und Functionen des menschlichen Wesens« beschreibe, der aber sehr »selten« sei. Nach dieser Bestimmung wäre nämlich »der allergrösste Theil der civilisirten Menschen krank«.2
1 »Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity«, WHO (1946); diese Beschreibung wird von der Bundesärztekammer kommentiert: »Dieser Gesundheitsbegriff ist irreal. Gesundheit ist die aus der personalen Einheit von subjektivem Wohlbefinden und objektiver Belast barkeit erwachsende körperliche und seelische, individuelle und soziale Leistungsfähig keit der Menschen.«, Bundesärztekammer (1986), 6. 2 Demgegenüber kennt er die »relative Gesundheit«; sie sei derjenige »Zustand der Organe, Kräfte und Functionen«, der »etwas vom naturgemäßen« abweiche. Aber diese
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Trotz berechtigter Kritik wird in dieser Formulierung der WHO die für den Gesundheitsbegriff - und damit auch für den Krankheits begriff - wesentliche soziale Dimension betont.*3 Nimmt man diese Beschreibung als Definition, dann wird Gesundheit nicht mehr als ein begrenztes Gut oder als eine Voraussetzung für das Erstreben von Gütern4 aufgefaßt. Vielmehr werden physische, soziale und öko nomische Gesundheit (oder Wohlbefinden) mit einer unbeeinträch tigten Glücksfähigkeit identifiziert. Damit läge der »golden key«, die Lösung aller Probleme - auch der sozialen wie Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit - in den Händen der Medizin.5 Dies nährt jene utopische Hoffnung, die die anthropologische Notwendigkeit von Krankheit und Tod leugnet und eine einst auf das Jenseits gerichtete Erlösungsvorstellung auf das diesseitige Leben bezieht.6 Das Ergeb nis wäre eine Medikalisierung der Welt, die dazu führen könnte, daß Medizin - in einer mißverstandenen Form von »public health« als social engineering - zu einem gefährlichen sozialen und politischen Instrument der Manipulation wird. Gerade das Euthanasieprogramm des Dritten Reichs kann als Beispiel für eine Medikalisierung der sozialen Frage dienen. Denn was nicht im Namen der Moralität ge tan werden darf, wird dann im Namen der »Gesundheit« rechtfertig bar.7 Die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen sozialen Proble men und Gesundheit sollen keineswegs geleugnet werden, aber die Identifikation von sozialem Wohlbefinden und Krankheit ist irreführend;8 D. Callahan spricht von einem »abuse of language«.9 Die Formulierung von 1946 muß freilich im Rahmen der ersten Aktivi täten der Vereinten Nationen gelesen werden, die immer wieder un terstrichen haben, daß Weltgesundheit und Weltfriede untrennbar miteinander verbunden sind. Sicherlich liegt die Stärke dieser Be schreibung der WHO in dem Versuch, den Gesundheitsbegriff in
Abweichung sei »nicht von der Art, dass sie die Verrichtung wirklich stört, oder als Abweichung percipirt wird.« C. W. Hufeland (1795), 19. 3 Vgl. hierzu F. Deich (1957), 497-498. 4 Vgl. Kap. B 14. 5 Vgl. D. Callahan (1973), 83; vgl. hierzu auch L. Breslow (1972). 6 Vgl. I. Illich (1975). 7 Vgl. D. Callahan (1973), 82. 8 Vgl. hierzu auch C. Whitbeck (1981), 617; E. L. Bandman/B. Bandman (1981), 683 689; H. T Engelhardt (1978), 605. 9 D. Callahan (1973), 84.
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einen breiten Kontext der menschlichen Lehenswelt einzuordnen. Aber die Identifizierung von Gesundheit mit Glück, die ausgeweitete Rolle der Medizin und des ärztlichen Handelns, die vorschnelle Kategorisierung des Individuums als Kranken, die Vermischung von Medizin und Moralität sowie die unklare Abgrenzung der Medizin zu anderen Berufsfeldern,10 machen eine Verteidigung der WHOGesundheitsauffassung schwierig. Die Einflüsse der Gesellschaft auf die Bewertung des Krank heitshegriffs sind jedoch sehr ernst zu nehmen. So stellt sich die Fra ge, in welcher Weise die sozialen Rahmenhedingungen auf das Krankheitsverständnis des Individuums wirken und wie durch sie das Rollenverhalten von Ärzten und Kranken konstituiert wird (1. Der Kranke als soziales Wesen). Welches Bild von den kranken Mitgliedern der Gesellschaft wird demgegenüher durch die Auffas sung gefördert, daß - antithetisch zur naturwissenschaftlich-reduktionistischen Krankheitsauffassung - Krankheiten in erster Linie von sozialen Bedingungen konstruiert seien (2. Krankheit als soziale Konstruktion)? Inwiefern gehen schließlich die sozialen Rahmenhe dingungen als konstitutive Elemente in einen praktischen Krank heitshegriff mit ein (3. Kranke und fürsorgliche Gesellschaft)?
1. Der Kranke als soziales Wesen Um die evaluativen und normativen Momente des Krankheits hegriffs zu verstehen, ist ein Blick auf sozialwissenschaftliche Ana lysen in diesem Zusammenhang hilfreich. Hierhei ist zu unterschei den zwischen sozioepidemischen Analysen, in denen aufgezeigt wird, inwieweit Faktoren wie Alter, Geschlecht, Rasse, Lehensstandard, Bildung, Erziehung, Hygiene, Gesundheitssysteme oder die Zuge hörigkeit zu einer sozialen Schicht die Entstehung und Verhreitung von Krankheiten heeinflussen, und sozialen Rollenanalysen auf der Ehene der Arzt-Patient-Beziehung sowie den soziokulturellen Über legungen darüher, welche evaluative Bedeutung Krankheit für Pa tienten und Ärzte hat und wie diese Bedeutung die Natur von Macht- und Autoritätsverhältnissen einer Gesellschaft reflektiert. Besonders die letzten heiden Untersuchungsformen sind für den nor mativen Gehalt des Krankheitshegriffs relevant. 10 Vgl. ehd., 83; W. Wieland (1995), 70.
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1. Der Kranke als soziales Wesen
Wenn auch Gesundheit nicht, wie dies die WHO-Beschreihung suggeriert, identisch ist mit einem allgemeinen und vollkommenen Wohlergehen des Menschen, so sind doch »Krankheit« und »Ge sundheit« ganz zentrale Aspekte der conditio humana. Da der Mensch sowohl ein lebendiger und biologisch beschreibbarer Orga nismus als auch ein sozial handelndes Wesen ist, können Aspekte von Gesundheit und Krankheit aus organischer wie aus soziokultureller Perspektive beschrieben werden.11 Die Persönlichkeit des Men schen - so der Sozialwissenschaftler T. Parsons - ist jener Teil der mit der Steuerung des konkreten Verhaltens befaßten Mechanismen, »der genetisch auf die Verinnerlichung sozialer Objekte und kultu reller Muster im Verlauf des Sozialisierungsprozesses zurückgeht. Im Unterschied dazu besteht der Organismus aus jenem Teil des kon kreten lebenden Individuums, der der ererbten Konstitution und den formenden Prozessen der physischen Umwelt zugeschrieben werden kann.12 Mit Rückgriff auf Aristoteles' Charakterisierung des Men schen als ^mov nokmxöv, die ihn als soziales Wesen aus seiner bio logischen Konstitution heraushebt, beschreibt Parsons den Men schen als ein Mitglied strukturierter sozialer Systeme, in denen er als ein personales Wesen handelt und sich verhält. Als ein solches individuelles Mitglied sei auch der Kranke anzusehen, denn Gesund heit und Krankheit seien nicht Eigenschaften von Kollektiven, Ge sellschaften, Populationen oder Arten, sondern von Individuen. Da mit Parsons organismische Konzeptionen von Krankheit und Gesundheit mit sozialen Komponenten verbinden kann, greift er auf den Begriff der Teleonomie zurück, wie ihn E. Mayr für die Biologie ausgearbeitet hat. a. Krankheit und teleonomisches Entfaltungsvermögen
Um die metaphysischen Konnotationen des traditionellen Teleolo giebegriffs zu umgehen, definiert Mayr die Teleonomie als das Ver mögen (capacity) oder die Neigung (propensity) eines Organismus erfolgreich zielorientierte Funktionsverläufe besonders im Bereich des Verhaltens zu unternehmen, ohne selbst Zwecke zu setzen. Er intendiert damit, die Kategorie des zielorientierten Verhaltens mit den Ebenen der anatomischen Strukturen und physiologischen Pro 11 T. Parsons (1978), 598. 12 Ders. (1964), 259-260.
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zesse zu verknüpfen.13 14 Teleonomie sei dann in einem grundsätz lichen Sinne ein funktionaler Begriff, der diejenigen Bedingungen zu verstehen hilft, unter denen notwendige Eigenschaften von be stimmten Organismen verwirklicht werden können. Hinsichtlich der Interpretation dieses Bedingungsgefüges sei der Teleonomiebegriff auf den Prozeß der physischen Entwicklung genauso anwend bar wie auf den der Sozialisierung. Parsons will nun im Anschluß an Mayr diese Rahmenbedingungen über die internen anatomisch-phy siologischen Zusammenhänge und deren Interaktionen mit der Um welt hinaus ausdehnen, um auch die Ebene von sozialer Interaktion und kultureller Symbolisation innerhalb des Gefüges der conditio humana einzuschließen. Gesundheit kann aus sozialwissenschaftlicher Perspektive - so nun Parsons - aufgefaßt werden als ein teleonomisches Vermögen eines individuellen lebendigen Systems,14 d. h. als ein Zustand opti maler Leistungsfähigkeit eines individuellen Menschen, der es er möglicht, daß dieser diejenigen Rollen und Aufgaben erfüllen kann, für die er sozialisiert ist. »The teleonomic capacity that we wish to call health is a capacity to maintain a favorable, self-regulated state, which is a prerequisite of the effective performance of an indefinitely wide range of functions both within the system and in relation to its environments.«15 16 Aus dieser Sicht kann dann die Krankheit (illness)16 eines Individuums als eine Beeinträchtigung dieses teleonomischen Vermögens gesehen werden. So kann ein krankhafter Zu stand das Ergebnis eines fehlerhaften Umgangs mit Erfordernissen der externen Umwelt sein. Es kann aber auch an gestörten Wechsel wirkungen zwischen organischer Ebene und der Handlungsebene lie gen. Die von C. Boorse angegebene Definition, daß ein Organismus dann gesund sei, wenn er alle Funktionen gemäß seinem Bauplan Umwelt-Verhältnis ausführen kann,17 ist strukturell vergleichbar mit Parsons Definition auf soziologischer Ebene: somatische Gesund heit ist der Zustand, eine optimale Fähigkeit zu besitzen, um wert geschätzte Aufgaben effektiv ausführen zu können, für die jemand 13 Vgl. Kap. B I 2 und 3. 14 Vgl. T. Parsons (1978), 590-591; Parsons nimmt Anregungen aus der allgemeinen Systemtheorie auf, ohne selbst einen systemtheoretischen Ansatz im engeren Sinne zu vertreten. 15 Ebd.,591. 16 Vgl. zur englischen Terminologie Kap. B III. 17 Vgl. Kap. B I 2.
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1. Der Kranke als soziales Wesen
sozialisiert ist.18 Durch die funktionelle Ähnlichkeit beider Definitio nen ergänzen sie sich. Während Boorse beansprucht, eine vollständi ge Definition gefunden zu haben, ist sich hingegen Parsons seiner soziologischen Perspektive bewußt. Schlüsselbegriff für Parsons sozialwissenschaftliche Betrach tung des Kranken ist der Begriff der »sozialen Rolle«. Das Individu um in einer Gesellschaft ist in verschiedene soziale Rollen verwickelt, welche die integrierende Matrix der verschiedenen Aufgaben und damit verbundenen Verpflichtungen ausmachen. In einer solchen Gesellschaft werden Gesundheits- und Krankheitsbegriff unter handlungstheoretischer Sicht zu einem allgemeinen symbolischen Mittel des Austauschs (»generalized symbolic medium of interchange«)19; dieses dient ähnlich wie etwa Geld oder Sprache den kommunikativen und handelnden Haltungen. Aus dieser Rollen matrix erwächst die Erwartungshaltung innerhalb der Gesellschaft, daß ein durchschnittliches Mitglied dieser Gesellschaft bestimmte variierende, aber grundsätzlich determinierbare Ebenen der Gesund heit im Sinne des beschriebenen teleonomischen Vermögens auf weist. Eine bestimmte Belastbarkeit innerhalb der Gesellschaft müsse dann dem Individuum zugemutet werden können. Hier oblie ge es dann der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und -fürsorge, u. U. regulierend einzugreifen.20 Damit sind die Interpretationen von Krankheits- und Gesundheitszuständen über die Subjektperspektive hinaus in die gesellschaftlichen Erwartungen mit eingebunden. Die ser Blick auf Krankheit entspricht dem von V. von Weizsäcker ent wickelten Konzept der »sozialen Krankheit«: Diese sei nämlich ein »Defekt im Zusammenleben, die organwidrige Nichteingliederung des Einzelnen in die Gesamtheit - letzthin die Widersprüchlichkeit von Einzelleben und Gesamtleben.«21 Die Konfliktsituation, die nicht per se negativ zu bewerten sei, entstehe dadurch, daß durch Krankheit - so Parsons - die üblicher weise vorhandene Fähigkeit zur Ausübung einer sozialen Rolle zerstört werde.22 Da viele Krankheiten dazu beitragen, daß der Be troffene an der Realisation wichtiger menschlicher Ziele gehindert
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Vgl. T. Parsons (1964), 262, 274. Ders. (1978), 593. Vgl. T. Parsons (1978), 592-594; vgl. hierzu auch A. Mitscherlich (1967), 150-166. V. von Weizsäcker (1987), 323; vgl. auch ders. (1986), 31-95. Vgl. T. Parsons (1964), 274-276.
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wird, werden diese in nahezu allen bekannten Kontexten und Kultu ren als Krankheiten angesehen.23 Die prima facie negative Bewer tung von Krankheiten kann jedoch durch die Realisation anderer Güter, die der Betroffene bislang weniger oder nicht im Blick gehabt hat, ausgewogen werden. Die Akzeptanz einer Situation als Kranker schafft auf diese Weise ein neues Rollenverständnis (»sick roles«, »therapy roles«) und eine neue Bewertung von Zielsetzungen und zu erstrebenden Gütern.24 Im Mittelpunkt stehen die Erwartungen, die der Träger einer Rolle hegt und diejenigen, die die Gesellschaft an den Träger richtet. Auch das ärztliche Urteil reflektiert soziale Kon sense hinsichtlich des Rollenverhaltens. Die Behandlungsbereit schaft25 der Ärzte ist in der Regel auf diese Konsense beschränkt, zumal dies sonst zu Konflikten mit der Solidargemeinschaft der Ver sicherten führen würde.26
b. Arztrolle und Krankenrolle Unter sozialwissenschaftlicher Perspektive ist hinsichtlich des sozia len Rollenverhaltens eine Betrachtung der besonderen Rolle des Kranken und der des Therapeuten in der Gesellschaft hilfreich. Unter »Rolle« versteht Parsons das organisierte System der Partizipation eines Individuums an einem sozialen System unter spezieller Bezug nahme auf die Organisationsform des Systems als Kollektiv.27 Mit der Rolle selbst sind dann differenzierte Aufgaben und Verpflichtun gen verbunden.28 Ausgangspunkt ist die Annahme, daß eine aktuell oder potentiell bedrohliche Krankheit als ein explizites Problem einer mehr oder weniger rationalen Handlung bestimmter gefährdeter Teile einer Bevölkerung aufgefaßt wird. Den Betroffenen wird grundsätzlich bei dieser Betrachtung eine positive Bewertung der Gesundheit und eine negative Bewertung von Krankheit unterstellt. 23 Vgl. Kap. B I 4; vgl. hierzu A. Kleinman (1980). 24 Vgl. hierzu H. T. Engelhardt (21982), 74-75. 25 A. Mitscherlich (1967), 146-147. 26 So hat die American Psychiatric Association entschieden, Homosexualität von der Liste der Krankheiten zu streichen; vgl. I. Kennedy (1981); vgl. hierzu auch Kap. B II 3. 27 »a role is the organized system of participation of an individual in a social system, with special reference to the organization of that social system as a collectivity.«, T. Par sons (1964), 261; »The social role is a framework of expected social relationships normatively defined, conformity with which is not part of the technical discipline of medicine or other health services.« T. Parsons (1978), 595. 28 Vgl. T. Parsons (1964), 261.
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1. Der Kranke als soziales Wesen
Parsons ist einer der ersten Sozialwissenschaftler gewesen, die auch die Arzt-Patient-Dyade als eine Rollen-Beziehung mit einem Set von reziproken Rechten, Pflichten und Verbindlichkeiten charak terisiert haben. Er beginnt die Beschreibung mit der fundamentalen sozialen Ausgangssituation, in der Patienten und Ärzte sich selbst finden. Der Patient ist in der Regel schuldlos an seiner Situation, er ist hilflos und technisch inkompetent. Die existentielle Stellung des Arztes ist von der Unsicherheit bedrängt, wissen zu müssen, was dem Patienten wirklich fehlt, und wie er am besten zu behandeln ist. Da bei wird der Arzt oft die Machtlosigkeit empfinden, daß viele kranke Menschen nicht behandelt werden können und er ist mit einem un gewöhnlichen Zugang zum Körper des Patienten und zu intimen De tails von dessen Leben konfrontiert. Beide Rollen - die des Arztes und die des Kranken - sind gekennzeichnet durch vier ineinander verschachtelte Eigenschaften mit imperativartigen Strukturen. Die Rolle des Arztes ist (i) charakterisiert durch die Beherr schung eines bestimmten Basiswissens; einige Ärzte mögen zwar intelligenter als andere sein, aber sie haben nach einem ähnlichen Curriculum studiert und einen vergleichbaren Abschluß gemacht (universal achievement). (ii) Ihre Aufgaben und Kompetenzen sind auf den Bereich von Gesundheit und Krankheit beschränkt (functional specifity). Auch wenn Ratschläge, die die Gesundheit betreffen, auf Ratschläge zum Lebensstil ausgedehnt werden, so gibt es hier doch Grenzen. (iii) Ärzte sollen bei ihren Entscheidungen eine emo tionale Neutralität bewahren (affective neutrality), d. h. sie sind durch eine gewisse Distanz geprägt, die sie zum Krankheitsgesche hen haben.29 (iv) Schließlich sind Ärzte gegen Kommerz und Eigen interesse zu einem Altruismus aufgefordert, der geleitet ist von dem Gedanken, die Gesundheit des Patienten wiederherzustellen (collective neutrality). Das zentrale Element der Rolle des Arztes sei - so Parsons -, daß das Handeln des Therapeuten gegenüber dessen
29 Dies ist von R. C. Fox als »detached concern« bezeichnet worden; vgl. R. C. Fox/H. I. Lief (1963), 12: »Empathy essentially involves an emotional understanding of the pa tient, >feeling intoc and being on the same >affective wave lengthc as the patient; at the same time, it connotes an awareness of enough separateness from the patient so that expert medical skills can be rationally applied to the patient's problems. The emphatic physician is sufficiently detached or objective in his attitude towards the patient to exercise sound medical judgement and keep his equanimity, yet he also has enough concern for the patient to give him sensitive, understanding care. This set of attitudes has been termed by one of us (R. C. F.) >detached concernc«.
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Eigeninteressen institutionalisiert und professionell am Wohlerge hen des Patienten orientiert ist. Komplementär hierzu kann die Rolle des Kranken (sick role) betrachtet werden.30 Das einzige aktive Moment der Krankenrolle ist das Ersuchen um Hilfe. Die Krankenrolle setzt sich - wie die Arztrolle - im we sentlichen aus vier Aspekten zusammen: (i) Der Kranke ist davon befreit, seinen Krankheitszustand rechtfertigen zu müssen (deliberate motivation). (ii) Er ist davon entlastet, seinen alltäglichen sozialen Verpflichtungen nachzukommen, die aufgrund des Krankheits zustands nicht ausgeführt werden können (abstentions from perfor mance expectations). (iii) Der Kranke ist aber auch gewissermaßen verpflichtet, wieder gesund werden zu wollen (commitment to recover) und (iv) daher fachkundige Hilfe aufzusuchen und mit den the rapeutisch Handelnden kooperativ zusammenzuarbeiten (commitment to cooperate).31 Dieses Rollenverhalten unterliegt einer sozialen Steuerung im wohlgemeinten soziologischen Sinne: Erstens muß das Handeln des sen, der die Steuerung übernommen hat - nämlich der Arzt -, ge stattet sein, zweitens muß der Handelnde den Kranken darin un terstützen, ab einem gewissen Zeitpunkt die Steuerung selbst zu übernehmen;32 drittens gehört hierzu eine gewisse Distanz vor einer zu intensiven Besitznahme dessen, der hier gesteuert werden soll, und schließlich viertens, darf das Entgelt nicht manipuliert werden.33 Versteht man auf diesem Hintergrund den Kranken als einen Hilfs bedürftigen und führt ihn zusammen mit den therapeutisch Han delnden in einer Gesellschaft, dann kann die Rolle des Kranken nur in Abhängigkeit zu den Nicht-Kranken gesehen werden,34 d. h. es
30 Vgl. T. Parsons (1978), 594-595; vgl. hierzu auch H. E. Sigerist (I960) und D. Mechanic (1981). 31 Vgl. T. Parsons (1964), 274-275. 32 Wichtig hierfür - so Parsons - sei das Vermögen des Individuums, bestimmte Zu stände zu steuern, denn man kann nicht bei einer bakteriellen Infektion einfach »ent scheiden«, nicht krank zu sein. Wenn man wirklich krank ist und nicht simuliert, dann kann man sich nicht einfach zusammenreißen und wieder gesund werden. Dennoch ist man in der Regel in der Lage, die Steuerung über bestimmte Begleitumstände zu über nehmen: man kann sich über das Maß an willentlichem Handeln hinaus durch einen außenstehenden therapeutisch Handelnden helfen lassen, sich durch Selbstpflege ver sorgen oder aber der Natur ihren Gang lassen. 33 Vgl. T. Parsons (1978), 595-597. 34 Vgl. ders. (1964), 276-277.
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entsteht eine Verpflichtung seitens der gesunden Mitglieder einer Gesellschaft.35 Die Kritiker an Parsons' soziologischer Bewertung der Kranken rolle sehen, daß die Krankenrolle auch schnell mißbraucht werden kann. Die Rollenbeziehung lasse sich nämlich auch umkehren: man spielt die Rolle des Kranken - der Simulant ist schließlich jemand, der genau von diesem Rollenverständnis profitieren will - oder ein Gericht, ein politisches System stempelt jemanden aus »sozialen« Gründen als krank ab, je nach gesellschaftlichem »Bedürfnis«. »Bei unerwünschtem Verhalten gibt man die Zuständigkeit dem Medizi ner ab, der das Verhalten damit als krankhaft >legitimiertethisch< vertretbar, einen Schizophrenen lebenslang in ein Zuchthaus zu sperren, nicht aber, ihn gegen seinen Willen zu behandeln und mit hoher Wahrscheinlichkeit einer Genesung oder doch einer Remission entgegenzuführen. Wie erfolgreich das Szaszsche Denken sich in den Vereinigten Staaten durchgesetzt hat, mag sich u. a. darin zeigen, daß die in den letzten Jahren dort hingerichte ten Rechtsbrecher zum beträchtlichen Teil aufs schwerste psychisch gestört oder geistig behindert gewesen sind.«54 Als mit einem Etikett versehen, als krank gestempelt kann sich der Kranke als aus der Gesellschaft ausgestoßen empfinden. Dieser gesellschaftliche Druck kann bis hin zu Änderungen im Identitäts empfinden des oder der Betroffenen führen, da die Identitätsentwick lung wesentlich über den Prozeß der Sozialisation verläuft. Aus einem bislang integrierten Mitglied der Gesellschaft wird auf diese Weise ein Ausgestoßener.55 Der Effekt dieser Form der Stigmatisie rung ist abhängig von der gesellschaftlichen Beurteilung eines Krankheitszustands. Lösen Infektionskrankheiten, Krebs und Dia 52 T. Szasz (1972), 294. 53 R. J. Corner (1995), 6. 54 A. Finzen (1991), 210; T. Szasz (1972), 294-295: »In die Strafrechtspraxis eingedrun gene psychiatrische Vorstellungen - zum Beispiel Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit oder verminderte Zurechnungsfähigkeit und entsprechendes Urteil, Gutachten über das seelisch-geistige Unvermögen des Beklagten, einen Prozeß durchzustehen, usw. - kor rumpieren das Recht und machen die Bürger, derentwegen sie vorgeblich herangezogen werden, zu Opfern. [...] Es gibt keine medizinische, moralische oder juristische Recht fertigung für unerbetene psychiatrische Eingriffe wie >DiagnoseHospitalisierung< oder >BehandlungThat 57 Vgl. C. L. Bosk (1995), 1096. 58 Vgl. D. Seedhouse (1993), 291-292. 59 Vgl. S. A. Cartwright (1851), 318-325.
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all men by nature free and equak, and only intended to apply to white men, is often quoted in support of the false dogma that all mankind possess the same mental, physiological and anatomical or ganization, and that the liherty, free institutions, and whatever else would he a hlessing to one portion, would, under the same external circumstances, he to all, without regard to any original or internal differences, inherent in the organization.« Mit einer ähnlichen Inten tion nahm B. Rush 1792 die Pigmentkrankheit Vitiligo oder Scheck haut (Leukopathia aquisita) zum Anlaß für seine Behauptung, dies wäre eine spontane natürliche Heilung von einer Krankheit an der alle Farhigen zu leiden hätten; er nannte diese Krankheit »Negritude«, eine angehlich sanfte Form von angehorener Lepra, als deren einziges Symptom die dunkle Hautfarhe ausgemacht werden konnte!60 R. Duhos heschreiht wiederum eine ähnliche Pigmentkrankheit hei einem südamerikanischen Eingehorenenstamm, die rosafarhene Flecken auf der Haut verursacht. Die Stammesmitglieder hetrachten es als ungesund, diese Pigmentierung nicht zu hahen. Dies hat sogar soweit geführt, daß Mitglieder ohne diese Infektion von der Heirat ausgeschlossen worden sind.61 Dies sind nur einige Beispiele in denen an gesellschaftlichen Vorurteilen hzw. sozialem Klassenhewußtsein orientierte oder rassistisch motivierte Einstellungen mit scheinhar neutralen wissenschaftlichen Beohachtungen und Argumenten verhunden werden. Auf diese Weise soll mit Hilfe eines an gesellschaft liche Außenurteile gehundenen Krankheitshegriffs die Ausgrenzung einer Minderheit mit »wissenschaftlichen« Argumenten und mögli cherweise »gesundheitlichen« Zwecken gedeckt werden. Im Fall von »drapetomania« und »dysaesthesia aethiopis« werden menschliche Verhaltensweisen - die in der entsprechenden Situation keineswegs ungewöhnlich sind - als krankhaft eingestuft, weil man sie aufgrund eines hestimmten persönlichen oder sozialen Interesses mißhilligt. Im anderen Fall wird eine Krankheit (Vitiligo) zum Anlaß genom men, eine intraspezifische Variahilität zur Krankheit zu erklären, weil sie ein »Normalmerkmal« derjenigen Bevölkerungsgruppe ist, die aus Sicht der Urteilenden als minderwertig einzustufen ist. Damit glauht man, einen »medizinischen« Grund angehen zu können, der das Prädikat »krank« für die gesamte Gruppe per se rechtfertigt und der eine Begründung für die vorher zugeschriehene Minderwertig 60 Vgl. L. Reznek (1987), 17-18. 61 Vgl. R. Duhos (1965), 54.
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2. Krankheit als soziale Konstruktion
keit liefert. Diesen Fällen ist gemeinsam, daß auf diese Weise ein Krankheitsbegriff generiert wird, der zwar u. U. auf natürliche Zu stände rekurrieren kann, der aber keine Selbstinterpretation des Betroffenen zuläßt, sondern ein rein gesellschaftliches Konstrukt darstellt mit der bewußten oder unbewußten Intention der Stigmati sierung und Diskriminierung. Während Diskriminierung in der Regel als Mißachtung und Stigmatisierung Einzelner oder kleiner Gruppen verstanden werden kann, ist Eugenik die gesellschaftliche Institutionalisierung von Dis kriminierung und Stigmatisierung, die mit der utopischen Ziel vorstellung verbunden ist, die angeborenen Eigenschaften einer menschlichen Population verbessern zu können. Für die Einordnung einer Handlungsweise als eugenisches Handeln ist maßgebend, daß nicht - wie im Falle einer ärztlichen Therapie - unmittelbar das Indi viduum Ziel oder Gegenstand einer entsprechenden Maßnahme ist, sondern ein Kollektiv, d. h. der Genpool der Art oder einer Popula tion. Eine eugenische Intention ist insbesondere in all jenen Fällen anzunehmen, in denen autonome Entscheidungen von Einzelnen durch sozialen Druck oder durch staatlichen Zwang aufgehoben wer den.62 Dies kann durchaus ausgelöst werden durch vordergründig hochrangige Zielsetzungen wie z. B. durch die Hoffnung auf eine bes sere Lebensqualität einer gesellschaftlichen Gruppe oder durch ein ökonomisches Nutzenkalkül im Gesundheitswesen. Der Begriff der »Eugenik« wurde vom britischen Naturforscher F. Galton geprägt als Bezeichnung für die »Wissenschaft von der Ver besserung des Erbguts«.63 Unter Anwendung genetischer Erkennt nisse soll der Fortbestand günstiger Erbanlagen gesichert und ge fördert werden (positive Eugenik), die Ausbreitung von nachteiligen Genen soll hingegen eingeschränkt oder verhindert werden (negative oder präventive Eugenik). Dabei geht es nicht nur um genetisch be dingte Krankheiten, sondern auch um sogenannte »Normalmerkma le« wie Intelligenz, Größe, kosmetische Merkmale, aber auch um so ziale Phänomene, die mit genetischen Dispositionen in Verbindung gebracht wurden und werden wie z. B. Agressivität oder Kriminalität. Hatte Galton selbst Maßnahmen wie Heiratslenkung oder Förderung der Fruchtbarkeit im Sinn, so stellen Pränataldiagnostik, Präimplan
62 Vgl. Bundesminister für Forschung und Technologie (1991), 118. 63 Vgl. F. Galton (1883); vgl. hierzu auch G. E. Allen (1975); G. Altner et al. (1986); P. Weingart et al. (1988).
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tationsdiagnostik sowie Gentechnik in Verbindung mit den verschie denen Methoden der künstlichen Befruchtung ganz neue Mittel zur Verfügung. Das Spektrum der eugenischen Maßnahmen64 reicht von dem Verzicht auf Nachkommenschaft, über die genetische Familien beratung zur Vermeidung genetisch geschädigten Nachwuchses und die Mutagenitätsprophylaxe, über den Eingriff in die Keimbahn zur Therapie genetisch bedingter Krankheiten oder zur Verbesserung ge netisch bedingter Eigenschaften, die Verwerfung genetisch geschä digter Embryonen, die Abtreibung genetisch geschädigter Föten bis zur Zwangssterilisation Erbkranker, zur selektiven Menschenzucht und zum Genozid aus rassistischen Motiven. Die Kenntnisse über unsere genetische Natur, die durch die internationale Humangenom forschung (Human Genome Organisation (HUGO), Deutsches Hu mangenomprojekt (DHGP) u.a.) erheblich erweitert werden, lassen unerwünschte Zustände mit Hilfe der aufgeführten Methoden als technisch vermeidbar und damit schließlich als sozial unerwünscht erscheinen. Die Gefahr einer schleichenden Eugenik liegt gerade dar in, daß das, was »technisch möglich« ist, »sozial erwartbar«65 wird. Zwar verhindern ohne Zweifel genetische Beratung und pränatale genetische Diagnostik - so zeigt die Praxis vieler Gynäkologen und Humangenetiker66 - zahlreiche Schwangerschaftsabbrüche aus Unsi cherheit, weil sie nachweist, daß der Embryo die befürchtete Krank heitsanlage nicht trägt. Doch es bleiben diejenigen Fälle, in denen sich die Befürchtung bestätigt und die Diagnose den Schwanger schaftsabbruch zum Automatismus werden lassen kann. Damit droht - ohne eine explizit angeordnete Eugenik, die Selektion und Züch tung propagiert - die Möglichkeit einer »präventiven Eugenik des Mitleids«67 und einer dementsprechenden Selektion. Zumindest aber ist ein sozialer Druck zu befürchten, der auf diejenigen Eltern aus 64 Die aufgeführte Liste der Handlungsweisen mit möglichen eugenischen Tendenzen zeigt, daß seit alters her hierfür verschiedene Instrumente zur Verfügung stehen. Eugenische Absichten sind lediglich mit der grundsätzlichen Vermutung der Erblichkeit be stimmter körperlicher oder geistiger Eigenschaften verbunden, sie verlangen keine tie fere Einsicht in die Gesetze der Vererbung. Gleichwohl verbindet sich gerade in der Öffentlichkeit der wissenschaftliche Fortschritt in der Genetik und der Humangenetik mit der Sorge vor verstärkten eugenischen Ambitionen, seien diese nun explizit oder auch bloß unterschwellig vorhanden. 65 Bundesminister für Forschung und Technologie (1991), 67. 66 Vgl. W. Holzgreve (1994), 25-31; K. Zerres/R. Rüdel (1993), 181. 67 H. Jonas (21987b), 175; Vgl. G. Wolff (1991) und (1993); T. Duster (1990); G. Flatz (1976).
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geübt wird, die sich zur Annahme des betroffenen Kindes entschlie ßen, und der langfristig die Gefahr einer Diskriminierung und Stig matisierung der betroffenen Eltern und Kinder nach sich zu ziehen droht. Daneben gibt es legislative Strategien, die eugenisch motiviert sein können. In den USA führte dies 1905 zu den »Gesetzen zur Ver hinderung von Schwachsinn und Kriminalität«, die Maßnahmen zur Zwangssterilisation vorsahen, und schließlich 1924 zu einer Einwan derungsgesetzgebung, die versuchte, mit Hilfe rassistischer Argu mente die Einwanderung von Süd- und Osteuropäern zu verhindern. Ebenfalls rassistisch geprägt und mit einem noch heute spürbaren Einfluß auf die medizinethische Diskussion war das 1933 von den Nationalsozialisten in Deutschland verabschiedete »Gesetz zur Ver hütung erbkranken Nachwuchses«. Es erlaubte zunächst die Sterili sation von psychisch kranken Menschen, weitete sich aber rasch auf sogenanntes »minderwertiges Menschenmaterial« aus, worunter u. a. Behinderte, Nichtseßhafte und Juden verstanden wurden, deren Tötung als »Vernichtung lebensunwerten Lebens« galt. Ziel war die Befreiung der »arischen Rasse« von »Untermenschen« und die »Züchtung reinrassiger Arier«. Nicht die eugenischen Tendenzen in der nationalsozialistischen Gesinnung machen diese so einzigartig, sondern die konsequente legislative und exekutive Umsetzung, die in menschenverachtenden Humanexperimenten und Massenver nichtungen gipfelte.68 Gegenwärtig stoßen daher staatliche Maßnah men wie in Zypern zur Verhinderung von ß-Thalassämie,69 die Pro gramme zur Förderung der Fruchtbarkeit bei Akademikerinnen und zur Sterilisation von armen und ungebildeten Frauen in Singapur70 sowie das chinesische »Gesetz über die Gesundheitsfürsorge für Mütter und Kinder« (1995)71 verschiedentlich auf internationale Kritik. Viele Genetiker und Humangenetiker begegnen heutigen eugenischen Befürchtungen mit dem Hinweis, daß Erwartungen an eine langfristige Verbesserung des Genpools wissenschaftlich nicht be gründet seien, da auftretende Neumutationen ohnehin nicht zu ver 68 Zur Ideologie: K. Binding/A. Hoche (1920); vgl. hierzu J. Bleker/N. Jachertz (21993); K. Dörner (31993); R. J. Lifton (1986); A. Mitscherlich/F. Mielke (1960); E. Klee (1983). 69 Vgl. Council of Europe (1994), 21-64. 70 Vgl. C. K. Chan (1985); J. J. Palen (1986). 71 Zum Hintergrund vgl. O. Döring (1997).
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hindern seien und genetische Krankheitsdispositionen im heterozy goten Zustand angesichts ihrer großen Zahl zwangsläufig erhalten hleihen würden.72 Gleichwohl werden in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion eugenische Zielsetzungen als realisierbare Optionen dargestellt.73 So führte die Verbindung von technomorphen Handlungsoptionen und Nützlichkeitskalkülen ungeachtet der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Mißbrauch der Medi zin dazu, 1962 auf dem Ciba-Symposium »Man and his Future« of fen über Menschenzüchtung mit Hilfe moderner Genetik zu diskutieren.74 Die Ethik wird bemüht sein, zwischen realen Möglichkeiten und solchen Gedankenexperimenten, die auch zukünftig nach heutiger wissenschaftlicher Einschätzung Utopien bleiben werden, zu diffe renzieren. Letztlich obliegt ihr aber nicht die Einschätzung der wis senschaftlichen Begründetheit eugenischer Konzepte, sondern die Beurteilung der Zielsetzungen und der hierfür vorgeschlagenen oder eingesetzten Mittel vorzunehmen.75 In dieser Beurteilung spielt die Interpretation des Krankheitsbegriffs eine gewichtige Rolle. Je stär ker der Krankheitsbegriff vom subjektiven Leiden des Betroffenen und seiner Krankheitsbewältigung abgelöst wird und das Individual urteil einem Außenurteil weicht,76 desto eher gelten Krankheit oder auch Behinderung als das objektiv »Vermeidbare« und deshalb zu »Verhindernde«. Versteht man den Krankheitsbegriff primär als konventionelles Gebilde oder gesellschaftliches Konstrukt, dann kommt er eugenischen Maßnahmen entgegen, die gesellschaftlich erwünscht sind, denn dann ist es die Gesellschaft, die erstens darüber entscheidet, wem das Prädikat »krank« zugeschrieben werden kann sowie zweitens, welche Krankheit individuell nicht zu bewältigen ist und daher die Lebensqualität derart herabsetzt, daß dieses Leben als nicht mehr lebenswert erscheint. Das Individualurteil sowie die da mit verbundene Krankheitsbewältigung werden durch ein Außen urteil ersetzt. Dabei ist es gerade der Kranke als schwächstes Glied in der Gesellschaft, der auf gebührenden Schutz seitens der Gesell-
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Vgl. P. Propping (1992); H. Baitsch (1970). Vgl. hierzu H. J. Muller (21988); J. Harris (1993); J. Glover (1984). Vgl. R. Jungk/H. J. Mundt (21988); hier besonders J. B. S. Haldane (21988), 367-391. Vgl. hierzu ausführlicher M. Fuchs/D. Lanzerath (1998). Vgl. Kap. B III.
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3. Kranke und fürsorgliche Gesellschaft
Schaft - die eine Gemeinschaft von potentiell Kranken ist - ange wiesen ist.
3. Kranke und fürsorgliche Gesellschaft In jeder Gesellschaft spiegelt die Klassifikation von Krankheiten und der Umgang mit Kranken auch soziale Struktur wider.77 Eine Reihe von Autoren gehen - wie beschrieben (vgl. Etiketten-Theorie) - in der Bedeutung dieser sozialen Dimension für das Verständnis von Krankheit so weit, daß sie die Auffassung vertreten, alle Krankheiten seien ausschließlich gesellschaftlich geschaffene Realitäten.78 Diese Überinterpretation der sozialen Momente des Krankheitsbegriffs führt jedoch zu einer ähnlichen Einseitigkeit im Krankheitsverständ nis wie die rein naturwissenschaftliche Betrachtung des Krankheits begriffs. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive79 wären Krank heiten dann ausschließlich soziokulturell bedingte Konventionen. Da Kranke aber ohne Zweifel in sozialen Verhältnissen leben, stellt sich die Frage, welchen Einfluß diese dann - über die beschriebenen Rollenverständnisses hinaus - auf ihr Kranksein ausüben.
a. Die Selbstauslegung des Kranken in der Gesellschaft Die Selbstauslegung jedes Einzelnen vollzieht sich nicht solipsistisch, sondern in einer Gesellschaft, in der das Subjekt mit einer Lebens welt konfrontiert wird, in die es sich hinein entwirft und in der es eine Lebensform wählt. In diesem Prozeß begegnet das Ich dem An deren, deren unverwechselbare Individualität Ausgangspunkt der menschlichen Existenz ist,80 denn das eigene Selbst erschließt sich nur über das Selbst des Anderen; das Ich wird zum Ich nur über das Du.81 Die Konstitution des Ichbewußtseins ist mit der des Fremdbe wußtseins, der Du-Erfahrung unmittelbar verbunden. Das »Ich« sa gen ist überhaupt nur sinnvoll in Relation zu einem »Du« oder »Er«. Diese Spannung zwischen der Ichhaftigkeit einerseits und dem ur 77 I. Illich (1976), 174-175; vgl auch D. Lenzen (1991). 78 Vgl. hierzu D. Lenzen (1991); J. Lachmund/G. Stolberg (1992). 79 Vgl. dazu auch P. Sedgwick (1973); vgl. zum Konstruktivismus: S. J. Schmidt (1987); zur Kritik: J. R. Searle (1997). 80 Vgl. J.-F. Malherbe (1990), 23. 81 Vgl. z.B. M. Buber (111983).
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B. II. Krankheit und Gesellschaft
sprünglichen sozialen Eingebundensein andererseits zeigt sich im kollektiven Zusammenleben, denn die unbedingte Würde der Einzel person und der Anspruch des Gemeinwohls, dem sich der Einzelne unterzuordnen hat, sind als Pole nie auflösbar. Daher sind Faktizitä ten der sozialen Wirklichkeit - so u. a. die Auffassungen und »Mei nungen« der Anderen auch in der Vermittlung über eine feste Tradi tion -, die außerhalb des Ichs in der Lebenswelt anzutreffen sind, nicht einfach externe Faktoren mit einer beliebigen Distanz zum be treffenden Ich, sondern sind mitverantwortlich für die Realisation und Konkretisierung der Selbstauslegung. Faßt man den Krankheitsbegriff nun als Element der Selbstaus legung auf, so gehen in ihn wesentlich gesellschaftliche Vorstellun gen mit ein, da der Prozeß der Selbstauslegung in einen sozialen Kontext eingebunden ist. Auf diese Weise können gerade kontingen te und fremdbestimmte gesellschaftliche und kulturelle Faktoren entscheidend dafür sein, »welche Symptome der Patient auswählt, um sie seiner Familie oder seinem Arzt zu unterbreiten und welche Symptome er vielleicht auswählt, um sie zu bagatellisieren oder zu verheimlichen. Sie können auch dafür entscheidend sein, wann, wie und wo ein Patient Hilfe in Anspruch nimmt. In manchem sozialen Milieu und verschiedenen kulturellen Kreisen wird der erwartete Zustand rasche Inanspruchnahme medizinischer Hilfe bewirken; in anderen nur letzte Zuflucht sein. Die verschiedenen Techniken, de ren sich jemand zur Selbsthilfe bedient, oder um die Hilfe anderer zu erlangen, bilden für jeden einzelnen eine andere Stufe des gesamten Verhaltensprozesses >Krank-Seindiseasec, >illnessc, >sickness< siehe auch A. Kleinman (1988).
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B. III. Krankheit und Subjekt
zu ...«? Eine Differenzierung täuscht zunächst zwei voneinander un abhängige Entitäten vor, welche ontischen Annahmen ihnen auch immer zugrunde liegen mögen. »Daß in dem Worte Krankheit sich Wertbegriffe und Seinshegriffe immer miteinander verschlingen,« so vermerkt Jaspers zu Recht - »führt zu Täuschungen, die fast un vermeidlich scheinen: Mit krank wird zunächst bezeichnet, daß etwas einen Unwert darstellt; dann taucht sofort das Bewußtsein auf, Krankheit sei ein Sein, und das Urteil wird als empirisch-diagnosti sches genommen. Zumal hei medizinischen Laien besteht dann die grobe Vorstellung, man sei entweder krank oder nicht krank [...], und mit dem Urteil >krankkeinen patholo gischen Befundes fehlt ihnen nichts< etwas einwendet (wie es manche Patienten tun), kann so etwas bloß als Beweis aufgefaßt werden, daß ihm wirklich nichts fehlt, anstatt vielleicht dafür, daß der Patient irgend eine Störung hatte, die durch die Beruhigungsfloskel des Arztes gemildert wurde. Ein anderer Aspekt einer solchen Haltung ist der, daß dann, wenn irgendeine Art somatischer oder physiologischer Anomalie erwiesen ist, die Verbesserung dieser Anomalie gleichgesetzt wird mit Hei lung, ungeachtet der subjektiven Erfahrung des Patienten.«19 Seit den Anfängen der Medizin - so Engel weiter - wird damit gerungen, 16 17 18 19
200
Vgl. M. N. Magin (1981), 28. Vgl. G. L. Engel (1960), 321-322. Vgl. V. E. von Gebsattel (1953), 237; s. auch Kap. B II1. G. L. Engel (1960), 323.
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1. Krankheitserfahrung und Selbstauslegung
daß Krankheit ein Naturphänomen ist. Die wissenschaftliche Einstel lung verlange, daß eine klare Unterscheidung getroffen werde zwi schen dem Studium und dem Verständnis der Krankheit als Natur phänomen und der Klassifizierung der Krankheit im Sinne der Funktion und Rolle des Arztes im Kontext der Gesellschaft. Für ein wissenschaftliches Krankheitskonzept sei aber nur ersteres bedeut sam. Letzteres variiere je nach Zeit und Umstand. Sogar der Patient selbst sei nicht immer fähig, eine derartige Unterscheidung zu tref fen, und er breite eine Vielfalt von Symptomen und Problemen vor seinem Arzt aus, von dem er Hilfe erwarte.20 H. Schaefer führt - obwohl er die Überlegenheit der Sinnes organe gegenüber der naturwissenschaftlichen Erhebung von Daten betont - gegen den Primat des Subjekts bei der Krankheitsbestim mung an, daß die Befindlichkeit als allgemeines Kriterium der Krankheit versage, da zahlreiche »bedrohliche Krankheiten« wie bei spielsweise Krebs zunächst zu keinen Befindlichkeitsstörungen füh ren. Ein Tumor könne existieren, ohne eine Befindlichkeitsstörung oder Leistungsminderung hervorzurufen, er könne sogar spontan >heilenmental< retardation.«; vgl. hierzu B. Webb-Mitchell (1995), 608. 67 Vgl. zur Diskussion um die Kriterien beim Krankheitsbegriff in Psychiatrie und Psy chotherapie W. Vollmoeller (1998). 68 Vgl. R. J. Corner (1995), 1-30.
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B. III. Krankheit und Subjekt
deviant oder abweichend sind - das heißt anders, extrem, ungewöhn lich, vielleicht sogar bizarr - oder solche, die die jeweilige Person belasten oder ihr unangenehm sind - sie also unter Leidensdruck setzen - oder Verhaltensmuster, die sie beeinträchtigen oder so störend oder dysfunktional werden, daß die betroffene Person alltäg liche Handlungen nicht mehr konstruktiv verrichten kann oder sich und andere möglicherweise sogar gefährdet.«69 Die Erkrankung ist »wie jede andere auch ein Ausfall und je nach dem Grade des Ausfalls verschieden, bis zu dem Punkte, daß jede Krankheitseinsicht unmög lich ist.«70 Ist eine Einsicht in das für einen selbst Zuträgliche und Abträg liche nicht mehr vorhanden, so wird die Folge ein Gleichgewichtsver lust des ganzen Menschen sein. »In der geistigen Erkrankung« - so Gadamer - »wird die doppelte Richtung des Heimischwerdens, die das menschliche Leben ausmacht, in der Welt und in sich selbst, nicht mehr bewältigt. In ihr fallen nicht so sehr bestimmte Fähigkeiten aus, als daß eine uns allen beständig aufgegebene Aufgabe mißlingt, das Gleichgewicht zwischen unserer animalitas und dem, worin wir un sere humane Bestimmung erblicken, zu halten. Unsere Verfassung verfällt bei der geistigen Erkrankung nicht einfach ins Animalisch Vegetative, sondern selbst die Deformation des Gleichgewichts ist noch eine geistige. [...] Auch der völlige Verlust an Distanz zu sich selber, der manchen Demenzformen eigen ist, muß, meine ich, noch immer als ein menschlicher Gleichgewichtsverlust gedacht werden.«71 Mit diesem Gleichgewichtsverlust kann das übliche Wert muster des Patienten verursacht durch psychische Erkrankungen ver zerrt werden und zwar so weitgehend, daß während der Krankheit jene Werte gefährdet sind, denen sich der Patient als gesunder Mensch gegenüber hätte verpflichtet gefühlt. Viele therapeutische Ansätze versuchen daher, dem Patienten Hilfestellung anzubieten, indem sie dem Kranken die eigene lebensgeschichtliche Situation be wußt machen und ihn auf diese Weise mit dem eigenen Leben unter den Bedingungen der Krankheit konfrontieren .72 Der Verlust an Rea litätsbezug bei Psychosen, wie beispielsweise schizophrenen Zustän den, macht eine schwierige Vermittlung in Anamnese und Therapie
69 70 71 72
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Ebd.,3. H.-G. Gadamer (1993), 80. Ebd., 83. Vgl. G. Benedetti (1976), 9.
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1. Krankheitserfahrung und Selbstauslegung
notwendig. Da über das rein Empirische, das naturwissenschaftlich Faßbare kein Zugang zum Kranken, der an einer Psychose leidet, möglich ist, sondern nur über die Vermittlung zwischen unserer Rea lität und der des Kranken, d. h. unter Bewußtmachen des je eigenen Subjektseins, wird auch die Psychiatrie keinen Krankheitsbegriff ohne Rückbezug auf das Subjekt bilden können. »Die Wirklichkeit der Psychogenese entfaltet sich in einem anderen Erkenntnisraum als in demjenigen der objektiven Wirklichkeit, welche die Naturwissen schaft untersucht.«73 Sie muß sich grundsätzlich in jenem dyadischen Raum entfalten, der Arzt und Patient umspannt und der alles medizi nische Handeln betrifft.74 Die hermeneutische Rekonstruktion des seelischen Befindens aus denjenigen Beobachtungen, die dem Arzt zugänglich sind, schließt notwendig das kranke Subjekt mit ein. Nur über den Patienten selbst kann festgestellt werden, wie die Erkran kung seine innere Welt und »seine Objektbeziehungen affiziert, und über welche Möglichkeiten er verfügt, sich mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen und sie zu integrieren«75. Wenn das selbständige »Über-sich-selbst-verfügen-Können«76 beeinträchtigt ist und uns die Fähigkeit verloren geht, zu uns selbst - und damit zu unserem Kranksein - Stellung zu nehmen, dann sind wir mehr denn je auf ein zielorientiertes ärztliches Handeln angewie sen, das auch eine Form des Paternalismus einschließt, die nicht Be vormundung und Entmündigung heißt, sondern treuhänderisches Verwalten unserer Autonomie. Die Einschränkung der Handlungs und Lebensfähigkeit und die damit verbundene Hilfebedürftigkeit haben als zentrale Elemente somatische Krankheiten mit psychi schen Krankheiten gemein. Sie unterscheiden sich aber häufig in der mangelnden Selbsteinsicht und damit Krankheitseinsicht, die mit der psychischen Krankheit verbunden ist. Dies macht paternalistische Entscheidungen und Handlungen - in Stellvertretung - notwendig. »Für mich« - so A. Finzen - »gibt es nur einen Grund für die vorund fürsorgliche Unterbringung eines psychisch Kranken in eine psychiatrische Einrichtung gegen dessen erklärten Willen: den Ver lust der Selbstbestimmung! Das aber setzt die Überzeugung voraus, daß es psychische Krankheiten mit objektivierbaren Auswirkungen
73 74 75 76
Ebd., 99. Vgl. ebd. H. Weiß (1997), 78. Vgl. hierzu W. Vollmoeller (1998), 18.
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auf die persönliche Autonomie gibt.«77 In Entgegnung zu Szasz Vor wurf der sozialen »Etikettierung« von »Geisteskranken«78 schreibt der britische Sozialpsychiater T. Birley: »Wenn ich so krank bin, daß ich nicht für mich entscheiden kann, habe ich ein Recht darauf, gegen meinen Willen psychiatrisch behandelt zu werden«79, denn das Recht auf Behandlung hat auch derjenige, der seine Behandlungsbedürftig keit nicht äußern kann.80 Da die Grenzen der Selbstwahrnehmung, die jeder Kranke erfährt, bei psychisch Kranken in vielen Fällen deut lich verschoben sind, ist hier eine Fremdwahrnehmung unausweich lich, wenn diesen Kranken geholfen werden soll. Freilich wird damit ein Dilemma beschrieben: »Auf der einen Seite begrüßen wir den wachsenden Respekt vor den Freiheitsrechten psychisch Kranker, auf der anderen Seite hat letztlich der psychisch kranke Patient auch ein Recht gegen seinen Willen behandelt zu werden.«81 Dennoch bleibt die Gefahr, daß dann, wenn Patienten ohne deren Zustimmung behandelt werden, »die Gemeinschaft ihre Schutzmaßnahmen zu gunsten der Freiheit aufs Spiel setzt, indem sie es versäumt, jene Verfahrensweisen einzuhalten (z.B. >free and informed consentexzentrisch< gegenüherstehende Ich muß der Mensch - insbesondere im Zustand des Krankseins - in seinem Han deln den Ausgleich von Körpersein und Körperhaben selbst voll ziehen.
c. Kranksein im Modus von Verkörperung und Entkörperung Krankheit offenbart dem Menschen vielleicht mehr als alle anderen Befindlichkeiten die Gleichzeitigkeit von Identität und Nicht-Identi tät mit seinem Körper und Leib: Werde ich krank, so wird mir mein Körper fremd; er ist es, der mich krank macht, gleichzeitig bin ich es, der krank ist und der sich nicht vom kranken Körper distanzieren kann. Der Mensch ist sein Körper nur im Modus der Verkörperung, d. h. als Person in Form von Sprache, Religion, Lachen, Weinen u. a.115 116 Das Leibliche ist nichts Fertiges, es entsteht ständig neu, in dem es sich verwirklicht,116 d. h. verkörpert. »Wenn wir das Verhält nis des Menschen zu seinem Leib und seine Verkörperung im sprach lichen, kulturellen und sozialen Handeln nur begreifen können, wenn wir ihn als Person interpretieren, nämlich als ein Ich, das eine unlösliche Einheit mit Selbst und Leib bildet, zugleich aber zu beiden in einem Verhältnis steht, dann wird erklärlich, warum das Wissen des Menschen um seine Grundvollzüge stets - ausgesprochen oder unausgesprochen - vom Wissen um die Gegenmöglichkeit begleitet ist.«117 Der Mensch weiß um sich selbst und um sein Umfeld. »Er begreift das ihn umgebende Medium als >Weltvor< dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen.«120 Zur Struktur der menschlichen Existenz, zum Seinkönnen des Menschen gehört also nicht nur die Verkörperung, sondern auch ihr Gegenteil, die »Entkörperung«.121 Die Problematik der Kontingenzerfahrung erhält ihre schärfste Zuspitzung durch das Phänomen des Todes. Während das Tier seinen Tod allenfalls erahnt, ist der Mensch das Wesen, das vom Beginn seines bewußten Lebens an um seinen Tod weiß. Aus Erfahrung ken nen wir nur den Tod der anderen, nicht den eigenen. Daher können wir die Frage, was der Tod denn ist, nicht endgültig und umfassend beantworten. »Wir können uns nur fragen - und dies müssen wir tun, wenn wir ein reflektiertes Verhältnis zum Tod gewinnen wollen -, in welcher Weise wir überhaupt um den Tod wissen und welche Bedeutung ihm gemäß diesem Wissen zukommt.«122 Für den Men schen sind Leben und Tod doppeldeutige Phänomene. Versteht man Leben als rein biologisches Geschehen, dann sind Geburt und Tod nichts anderes als der Beginn und das Ende eines biologischen Pro zesses. Betrachtet man hingegen Leben als das Leben, das der Mensch führt, dann ist der Tod mehr als das Zuendesein eines biologischen Prozesses. Nicht der eingetretene Tod ist die für den Menschen ent scheidende Realität, sondern der bevorstehende, also das Sterben und nicht das Totsein. Ist nun Leben für den Menschen in spezifischer Weise Verkörperung in allen seinen Dimensionen - im Leib, in der Kommunikation mit anderen, im kulturellen Daseinsentwurf, in der gewonnenen personalen Identität und im funktionalen gesellschaft lichen Rollenspiel -, dann ist der Tod die Auflösung dieser Verkör perung, Gegenbewegung zur Individuation, Trennung von den an
119 120 121 122
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Vgl. M. Heidegger (“1986) §39. Ebd. §50,251. Vgl. H. Plessner (1983), 209. L. Honnefelder (1994), 127.
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2. Leibsein und Körperhaben
deren, Zerfall des Sinns, Ermächtigung des Subjekts, kurz: Entkörperung. Menschlich leben wir dann, wenn wir uns ständig von der Welt und uns selbst abscheiden. Der Tod - so M. Theunissen - ist nämlich »im Leben gegenwärtig, aber darin nicht auflösbar; er ist für uns ein genuin menschlicher und doch auch Los alles Lebendigen; ich erfahre in meinem eigenen den der anderen mit und in dem der anderen meinen eigenen; ich kann etwas von ihm handelnd übernehmen, aber er bleibt nichtsdestoweniger etwas, das mir geschieht, ein Natur ereignis, das meine Zugehörigkeit zur Natur bekräftigt«.123 Unser Wissen um den Tod, d. h. um unsere Zeitlichkeit, führt daher dazu, daß wir auf unseren Tod hinleben, wir »leben als die, die ihr Leben führen, von unserem Tod her.«124 Die Krankheitserfahrungen im Ver lauf des menschlichen Lebens können offenbar als Indizien für das Bewußtwerden unserer Endlichkeit gewertet werden. Diese anthropologischen Annahmen sind konstitutiv für den praktischen Krankheitsbegriff. Sie machen deutlich, daß im ärzt lichen Handeln trotz der methodisch wichtigen Beschränkung auf bestimmte medizinisch wahrnehmbare Phänomene dieser Bereich nicht als ontologisch abgetrennt und für sich bestehend betrachtet werden kann. Die Doppelaspektivität der »exzentrischen Positionalität« erlaubt es dem Menschen, seinen Organismus im Rahmen von Diagnose und Therapie zu vergegenständlichen, verlangt ihm aber gleichzeitig ab, die Integrität des Organismus aufgrund seiner Ein heit mit der Person in besonderer Weise zu respektieren. Dabei wird jenes oben beschriebene Verhältnis deutlich, das zur conditio humana gehört: die Verschränkung von Vorgegebenheit und Aufgegeben heit.125 Jeder Zustand unseres Organismus ist uns auf der einen Seite vorgegeben, zugleich aber ist er Resultat und Aufgabe unserer Inter pretation.126 Erst die Art und Weise, in der wir einen vorgegebenen Zustand interpretieren und als praktische Aufgabe akzeptieren, wird er als Zustand der Gesundheit oder der Krankheit erfahren. Daß in den Krankheitsbegriff ein Bündel von naturwissenschaftlichen, psy chischen, sozialen und kulturellen Komponenten eingeht, und daß der Krankheitsbegriff der Begriff einer praktischen Zuschreibung ist,
123 124 125 126
M. Theunissen (1991), 199. Ebd. (1991), 208; vgl. hierzu M. Heidegger (161986) §53, 267. Vgl. H. Plessner (1981) sowie (1982). Vgl. Kap. BI 4.
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B. III. Krankheit und Subjekt
die in der durch Handeln charakterisierte Arzt-Patient-Relation er folgt, entspricht eben diesem Verhältnis, das der Mensch als organi sches Lebewesen zu sich selbst in seiner Natürlichkeit hat. Er ist sich selbst vorgegeben und aufgegeben, und als was er sich versteht, das ist stets in wesentlichen Teilen Resultat seiner Selbstauslegung, die freilich stets sozial und kulturell vermittelt ist. Das Empfinden von Krankheit und der Umgang mit ihr ist eine Form der Leib- und Körpererfahrung, die dem Menschen dazu verhilft, ein Verhältnis zum eigenen Körper zu gewinnen. Der Vollzug der endgültigen Entkörperung im Tod wird durch die Erfahrung von Krankheit einleitend vorweggenommen, so daß sich der Mensch durch sie seiner kontingenten Existenzweise leibhaftig wird. Die Me dizin »hält dem modernen Menschen das hartnäckige und beruhi gende Gesicht seiner Endlichkeit vor; in ihr wird der Tod ständig beschworen: erlitten und zugleich gebannt; wenn sie dem Menschen ohne Unterlaß das Ende ankündigt, das er in sich trägt, so spricht sie ihm auch von jener technischen Welt, welche die bewaffnete, posi tive und volle Form seiner Endlichkeit ist.«127 Krankheit wird oft wahrgenommen als die Zerrissenheit des Körpers, dessen selbstver ständliches Funktionieren der gesunde Mensch im Allgemeinen un terstellt. Denn gewöhnlich - so M. Merleau-Pontys phänomenologi sche Analyse - arbeitet der Körper als ein nahtloses Ganzes.128 Dabei wird Krankheit aber nicht einfach als eine physische Funktionsstö rung des biologischen Körpers verstanden, sondern als die gleichzei tige Störung des Körpers, des Ichs und der Welt als das In-der-WeltSein.129 In Antwort auf meine Wahrnehmungen bewege ich mich durch und handle ich innerhalb der Welt, die mich umgibt. Meine inneren Organe versorgen mich mit der hierfür notwendigen Ener gie. Unter Krankheit entzweit sich mein Körper in sehr problemati sche Teile und Funktionen. Ist meine organische Harmonie zerstört, dann ist auch meine Integration in die Welt gestört. Diese Disharmo nie entzweit auch das Verhältnis von mir und meinem Körper. Er ist nicht einfach etwas, was ich habe, sondern auch ein Teil dessen, was 127 M. Foucault (1973), 208; Foucault bewertet das medizinische Denken daher als sehr einflußreich für die europäische Kultur und ihren humanen Charakter. In der abend ländischen Kultur wird - so seine Einschätzung, im Anschluß an seine Untersuchung zur »Archäologie des ärztlichen Blicks« - der philosophische Status des Menschen we sentlich vom medizinischen Denken bestimmt« (ebd., 209). 128 Vgl. Kap. B III 2. 129 Vgl. S. K. Toombs (1992), 81.
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ich hin. Werde ich krank, dann wird mir mein Körper fremd.130 Er ist es, der mir Schmerzen verursacht, der meine Bewegung einschränkt, der mich ans Bett fesselt, der mich schlecht aussehen läßt. Er ist das mir gegenüherstehende, mich peinigende andere. Als eine unhegrenzte, zweideutige Mitte zwischen meinem körperlichen Ich und meiner Welt erscheint mir im Aufkommen des Krankheitsgefühls mein Leih.131 Diese Erfahrung heeinflußt auch unser autonomes Be wußtsein, das wir von uns selhst hahen. Die kranke Person kann we der recht verstehen noch steuern, was mit und in ihrem Körper ge schieht, ohwohl ihr Lehen davon ahhängen kann. Die Beziehung zum eigenen Körper muß oft vermittelt üher andere Menschen - so dem Arzt - wiederhergestellt werden. Aus seiner Hilflosigkeit heraus »ühergiht« häufig der Kranke dem Arzt seinen Körper zur Behand lung,132 denn so »hellsichtig der Kranke sein mag, so hetrachtet er doch sein Ühel nie aus dem Blickpunkt des Arztes; er gewinnt nie mals jenen spekulativen Ahstand, aus dem er die Krankheit als einen ohjektiven, in ihm, ohne sein Zutun ahlaufenden Prozeß zu erfassen vermöchte«133. Mit dem Gang zum Arzt giht der Kranke auch ein Stück Verantwortung ah, als eine Kompensation des Kontrollverlustes. Die Ohjektivierung des Körpers ist ein Verlust an Verkörpe rung - und somit auch ein Weltverlust. Dies erhöht die Verantwor tung des Arztes und setzt ein Vertrauensverhältnis voraus. Ein Teil des ärztlichen Handelns und des Heilungsprozesses hesteht darin, den Patienten zu unterstützen, seine Autonomie zurückzugewinnen angesichts der Zerrissenheit von Selhst und Körper. Dies erfordert, dem Verhältnis von Selhst und Körper Rechnung zu tragen.134 Ausgehend von dieser anthropologisch zu verstehenden Ver schränkung von Ich und Körper kann dann P. Tillich Gesundheit als »das Gleichgewicht zwischen Selhst-Identität und Selhst-Veränderung« interpretieren: Er versteht Krankheit auf der psychischen
130 Vgl. hierzu D. Leder (1990a); ders. (1984). 131 Vgl. H. Plügge (1967), 119. 132 Vgl. D. Leder (1984), 36; zumArzt als »Vermittler« vgl. auch G. Canguilhem (1989), 92: »Wie immer kompliziert und künstlich diese sowohl technische wie wissenschaftli che, ökonomische und soziale Vermittlungstätigkeit der heutigen Medizin sein mag, wie lang auch immer die Suspendierung des Dialogs zwischen Arzt und Patient dauern mag, der entschlossene Wille zur Effektivität, der der ärztlichen Praxis ihr Recht verleiht, gründet in jenem Modus des Lehens, welchen die menschliche Individualität darstellt.« 133 M. Foucault (1968), 75. 134 Vgl. S. K. Toomhs (1992), 85.
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B. III. Krankheit und Subjekt
Seite als das Scheitern der Seihstintegration und auf körperlicher Ebene als den Zerfall der Zentriertheit des Organismus, indem sich die einzelnen Prozesse innerhalb des Organismus verselbständigen. Der Mensch erfährt diese Vorgänge als Entfremdungsvorgänge. Er unterscheidet zwischen Krankheiten, die für den Menschen noch ge lingendes Lehen möglich machen, Sinn erfahren lassen, und jenen, hei denen dies nicht mehr möglich ist. Dies hängt von der Schwere der Krankheit, von der Lehenseinstellung des Betroffenen und der Hilfe anderer ah.135 Versteht man das Wesen der Krankheit in dieser reflexiven Selhstentfremdung und gleichzeitigen Selhstfindung des Menschen, dann kann V. von Weizsäcker die Einheit aller Krankheit als eine »Ahweichung von der Lehensordnung«136 hegreifen. Denn mit der Krankheit steht auf einmal der Körper dem Selhst entgegen.137 Der Identifikationsprozeß mit der Krankheit, der es zuläßt, Krankheit sowohl als etwas von mir verschiedenes zu hetrachten, das mich von außen hedroht, als auch als einen Teil von mir selhst, mit dem ich identisch hin, verdeutlichen wie kaum eine andere Alltags erfahrung die heschriehene Doppelaspektivität (Plessner) oder Amhiguität (Merleau-Ponty) meines Leihverhältnisses. Die durch Krankheit hervorgerufene Erfahrung der Zerrissenheit von Geist und Leih, die einen Verlust an Möglichkeiten der Lebensführung zur Folge hahen kann, hringen Gesundheits- und Krankheitshegriff mit dem Begriff der »Lebensqualität« zusammen.
3. Krankheit und Lebensqualität In Ahlehnung eines rein quantitativ-ökonomischen Denkens heschreiht Lebensqualität in der modernen Wohlstandsgesellschaft die Suche nach persönlichen und gesellschaftlichen Ziel- und Wertvorstellungen,138 die in einen individuellen Lebensentwurf eingehunden sind und den sozialen Vergleich mit den wichtigsten Bezugsgruppen suchen. Lehensqualität ist hegriffsgeschichtlich ahgeleitet vom Aus druck »quality of life« und hat heute den primär ökonomisch gepräg ten Terminus der »Wohlfahrt« ahgelöst. In der Prägung »quality of
135 136 137 138
226
Vgl. P. Tillich (1961); ders. (1958), 46-70. V. von Weizsäcker (1951), 330; vgl. auch H. Plügge (1967), 124. Vgl. E. D. Pellegrino (1982), 158. Vgl. M. Honecker, (1989), 875-877.
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3. Krankheit und Lebensqualität
living« taucht »Lebensqualität« erstmals 1784 auf.139 140 Der Ausdruck beginnt seine Konjunktur in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts zunächst in den USA. Denn durch die politische und gesellschaftliche Bedeutung von Lebensqualität kommt besonders durch die ökologi sche und damit auch gesundheitliche Krisenerfahrung der späten 60er und 70er Jahre zustande, wie dies in den Vorbereitungen zum Bericht des Club ofRome zur Lage der Menschheit von 1972 mit dem Titel Grenzen des Wachstums140 thematisiert worden ist. Die Einführung des Kriteriums der Lebensqualität in die Medi zin141 ist eng verbunden mit dem Strukturwandel, den die Medizin142 in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. Im medizinischen Ge schehen wird der Einzelfall anonymisiert und entpersonalisiert, er wird nach Teilaspekten differenziert, arbeitsteilig untersucht und be handelt. Medizinische Methoden und Techniken sind nach naturwis senschaftlichem Vorbild erheblich ausgebaut worden. Dies verbindet sich schließlich angesichts begrenzter Ressourcen mit der ökono mischen Zweckrationalität in modernen Arztpraxen und Kliniken und führt zu dem brisanten und die heutige Diskussion um die Fi nanzierung des Gesundheitswesens dominierenden Problem der Res sourcenallokation. Dieser »Wandel im Krankheitspanorama«143 hat dazu geführt, den Verlust des Subjektbezugs in der Medizin durch die Berücksich tigung der individuellen Lebensqualität kompensieren zu wollen. Realisiert wird dies besonders dann, wenn bei intensivtherapeuti schen Methoden, in der Onkologie sowie in anderen Bereichen die regulativen Begriffe »Gesundheit« und »Krankheit« durch den der »Lebensqualität« als Entscheidungshilfe für die Wahl der Behand lungsstrategie ergänzt werden. Schließlich haben die immer begrenzteren Ressourcen im Gesundheitswesen bei immer teurer wer denden Techniken zu Verteilungsproblemen geführt, die mit Hilfe einer operationalisierbaren Lebensqualität entschieden werden sol len. In all diesen Handlungskontexten hat sich der Ausdruck Lebens qualität im medizinischen Sprachgebrauch seit Mitte der 70er Jahre 139 Vgl. H. Holzhey (1980). 140 Vgl. D. L. Meadows (1971). 141 Vgl. J. J. Walter/T. A. Shannon (1990); L. Fallowfield (1990); P. Schölmerich/ G. Thews (1990); H. Tüchler/D. Lutz (1991); L Nordenfelt (1993c); ders. (1994a); ders. (1994b). 142 Vgl. W. Wieland (1986). 143 P. Schölmerich (1990), 10.
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B. III. Krankheit und Subjekt
eingebürgert. Auf diesem Hintergrund kommt dem Begriff der Le bensqualität als regulativer Begriff über den Krankheitsbegriff hin aus in der medizinischen Ethik - besonders im englischen Sprachraum (»quality of life«) - eine zentrale Bedeutung zu.
a. Lebensqualität und Patientenzentrierung Wenn nicht mehr vorrangig Lebenserwartung und Abwesenheit von Krankheit als Indikatoren der Mortalität und Morbidität zur Beur teilung des Gesundheitszustands herangezogen werden, sondern auch die vom Patienten selbst beurteilte Befindlichkeit und Verhal tensmöglichkeit im täglichen Leben, dann kann die Einführung des Begriffs der »Lebensqualität« in die Medizin als Paradigmenwechsel bewertet werden. Eine Grundlage hierfür liegt zum einen in der zu nehmenden Skepsis an der Aussagekraft klassischer Bewertungskri terien von Behandlungsergebnissen sowie in der Erkenntnis, daß die persönliche Sicht des Patienten in der Therapiebewertung bislang zu kurz gekommen ist. Darüber hinaus ergibt sich die Frage, inwieweit die bislang gebräuchlichen medizinischen Evaluationskriterien für die Therapiebewertung ausreichend sind. Im Blick auf diese Fra gestellung kann unter gesundheitsbezogener Lebensqualität ein psy chologisches Konstrukt verstanden werden, »das die körperlichen, psychischen, mentalen, sozialen und funktionalen Aspekte des Be findens und der Funktionsfähigkeit der Patienten aus ihrer Sicht beschreibt«144. Angestrebt wird damit eine Optimierung der Behand lungsmethoden unter Einbeziehung zahlreicher von Patientenseite bewerteter Faktoren. Man erhofft auf diese Weise eine Überwindung der dominanten Fremdbestimmung für den Patienten zugunsten einer möglichst meßbaren Selbstbewertung und Selbstbestim mung.145 Mit der Einführung der »Lebensqualität« als leitenden Parame ter in der ärztlichen Praxis sollte dasjenige Moment kompensiert werden, was dem Krankheitsbegriff durch dessen Reduktion auf sei ne naturwissenschaftliche Funktionalität verloren gegangen war: das subjektive Befinden des Patienten, die eigene Bewertung seines Zu stands. Die zunehmende Verwendung des Begriffs »Lebensqualität« kann letztlich als Eingeständnis dafür aufgefaßt werden, daß der na 144 M. Bullinger (1994), 18. 145 Vgl. P. Schölmerich (1990), 10-11.
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3. Krankheit und Lebensqualität
turwissenschaftlich geprägte Krankheitsbegriff vom kranken Men schen und seinem Selhstempfinden wegführt, denn mit der Frage nach der Lebensqualität sollten die Patienten im Behandlungsalltag als autonome Subjekte wieder zur Geltung kommen. Durch diesen Subjektbezug des Begriffs »Lebensqualität« hoffte man darüber hin aus, nachhaltig die Einteilung in »lebenswertes« und »lebensunwer tes Leben« in ethischer wie rechtlicher Hinsicht zu überwinden.146
b. Die individuelle Therapiebewertung Die unbestreitbaren Erfolge der modernen Medizin, die in vielfacher Hinsicht zur Steigerung der Lebensqualität beigetragen haben, wer den dadurch getrübt, daß die weiterentwickelten diagnostischen und therapeutischen Verfahren zwar eine erhebliche Effektivität errei chen, aber zugleich anfällig sind für eine höhere Aggressivität und damit Veranlassung zu einer stärkeren Bewertung von Nutzen und Risiko, von Erfolgsaussicht und Belastung geben.147 Denn intensiv medizinische Belastungen und Torturen, das qualvolle Hinauszögern des Todes statt wohltuender Lebenserhaltung sowie das durch ver feinerte Diagnosetechniken provozierte Anwachsen von nur virtuell existierenden Krankheiten148 haben medizinische Eingriffe auch zur Verschlechterung der Lebensqualität beigetragen. So werfen Inten sivmedizin, Organtransplantation, humangenetische Anwendungen und andere neue Möglichkeiten der modernen Medizin nicht nur die Frage nach dem »Überleben«, sondern darüber hinaus die Frage nach dem »Wie« des Überlebens auf, d. h. die Frage nach einer dem eige nen Lebensentwurf entsprechenden Daseinsausfüllung. Hier gliedert sich die Frage nach der »Lebensqualität« in das anthropologisch-ethi sche Konzept des Lebensentwurfs und des Lebensvollzugs ein. Das Ziel des Menschen, ein gelungenes Leben zu führen, wird im Han deln sichtbar, das sich artikuliert in frei gewählten, auf dieses Endziel bezogenen Teilzielen. Aus diesen läßt sich herauslesen, zu welchen Werten sich der Einzelne bekennt und nach welchen Gütern er strebt. Ein solches Urteil über die Lebensqualität, das eingebettet ist in den individuellen Lebensentwurf, kann bei Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den schwierigen Entscheidungen über Behand
146 Vgl. P. Schölmerich/G. Thews (1990), 7. 147 Vgl. P. Schölmerich (1990), 10. 148 Vgl. Kap. III. 1. A.
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B. III. Krankheit und Subjekt
lungsart, -Begrenzung, -abbruch oder -verzieht dienlich für die Ent scheidungsfindung sein.149 So wird über die die individuelle Lebens qualität in der Medizin betreffenden Diskurse auch die Frage nach der Sinngebung von Leid neu gestellt.150 Daher ist in vielen Zusammenhängen der erweiterten Hand lungsmöglichkeiten der Medizin Lebensqualität zu einem zentralen und wichtigen handlungsleitenden Begriff geworden. Besonders in der Onkologie - wo bei tumorreduktiven Therapiestrategien zu nächst nahezu ausschließlich lebenserhaltende und -verlängernde Maßnahmen, d. h. quantitative Bewertungen des Lebens, im Vorder grund standen - war die Einführung der Lebensqualitätsbeurteilung ein wichtiger Schritt für die therapeutische Entscheidungsfindung, um auch die Therapienebenwirkungen einer intensiven Bewertung zu unterziehen. So verstanden kann Lebensqualität als die »best mögliche Lebensentfaltung eines Menschen in seinen ihm durch die Tumorerkrankung, Therapie oder deren Folgezuständen auferlegten Begrenztheiten«151 betrachtet werden. Oft liegt für den Tumorpa tienten die Fülle des Lebens nicht in Monaten und Jahren, sondern »in intensiv erlebten Sekunden und Minuten«152. Auch in der moder nen Intensivmedizin stößt die Lebenserhaltungspflicht des Arztes oft an ihre Grenze. Es stellt sich die Frage, ob es unter allen Bedingungen gilt, das menschliche Leben mit allen verfügbaren Mitteln zu verlän gern oder ob eine Therapiebegrenzung in Erwägung gezogen werden darf. Auch hier kann das auf die Lebensqualität bezogene Individual urteil helfen, die Strapazen einer Intensivtherapie - mit zweifelhaf tem Ausgang - gegen eine verkürzte, aber weniger leidvolle Lebens spanne abzuwägen.153
c. Operationalisierbarkeit und Allokation Ein Urteil über die Lebensqualität eines Patienten ist wesentlich ein individuelles Urteil, denn es enthält aktuelle Äußerungen über das eigene Befinden, das nur vom Betroffenen selbst erlebt werden kann
149 150 151 152 153 H.
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Vgl. D. Lanzerath (1997); D. Lanzerath/L. Honnefelder/U. Feeser (1998). Vgl. H. Viefhues (1990), 21-22. V. Diehl et al. (1990), 162. Ebd. Vgl. hierzu ausführlicher H. P. Schuster (1990); P. Schölmerich/G. Thews (1990); Tüchler/ D. Lutz (1991); J. J. Walter/T. A. Shannon (1990); A. Hopkins (1992).
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und über das nur er selbst in der Lage ist zu berichten.154 Dies bedeu tet aber keineswegs, daß diese Urteile nicht intersubjektiv mitteilbar wären. Eine andere Frage ist jedoch, inwieweit sich Urteile über die individuelle Lebensqualität mit Hilfe von verschiedenen Meßinstru menten zur Fremdbeurteilung und Einarbeitung in klinische Rating skalen als generalisierbar, standardisierbar oder gar quantifizierbar und damit für das Gesundheitswesen operationalisierbar erweisen.155 Auf dem neuen Gebiet der »Lebensqualitätsforschung« soll mit standardisierten Verfahren, primär in Form von Fragebögen oder In terviews, die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Patienten er mittelt und berechnet werden. Diese Verfahren enthalten primär vier Komponenten: die physische Verfassung, das psychische Befinden, die sozialen Beziehungen sowie die Leistungsfähigkeit im Alltags leben.156 So werden in der Lebensqualitätsforschung qualitative Mo mente quantifiziert und damit operationalisiert: Sickness Impact Profile (SIP), Nottingham Health Profile (NHP), Quality of Life In dex (Qol), Index of health-related quality of life (IHQL) sind nur einige der verschiedenen Meßinstrumente, die in den letzten Jahren hierfür - besonders in Großbritannien und den USA - entwickelt worden sind und die sich erheblich in ihrer Methode und Reichweite voneinander unterscheiden. Die verschiedenen Verfahren können in krankheitsübergreifende (generic instruments) und krankheitsspezi fische (disease-specific instruments) eingeteilt werden und sind z.T. auch miteinander kombinierbar. In Grenzen sind trotz der Standardi sierung patientenbezogene und krankheitsbezogene Modifikationen möglich.157 Aus diesen Verfahren hat sich aber eine besonders in Großbri tannien angewandte neue Methode entwickelt, um die Lebensquali tätsdiskussion mit der Allokationsproblematik im Gesundheitswesen zu verbinden. Damit wird allerdings der Begriff der »Lebensquali tät«, der ursprünglich als Gegenbegriff zum quantitativ-ökono mischen Denken eingeführt worden ist, über die Gesundheits ökonomie sekundär wieder zur Ökonomie zurückgeführt. Wie die derzeitige Debatte über das Gesundheitswesen und die damit ver
154 Vgl. M. Bullinger (1994), 20. 155 Vgl. A. Hopkins (1992). 156 Vgl. M. Bullinger/E. Pöppel (1988), 679; M. Bullinger (1991a), 94. 157 Vgl. hierzu M. Bullinger (1994); dies. (1991b); M. Bullinger et al (1993); H.-H. Ra spe (1990); R. Rosser et al. (1992); G. H. Guyatt (1987).
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bundene Kostenanalyse innerhalb der europäischen und nordame rikanischen Ländern unmißverständlich zeigen, wird man immer mehr gezwungen sein, Urteile über gesundheitsbezogene Lebens qualität auch unter Kostengesichtspunkten zu fällen. Denn kein Land ist in der Lage, jedem seiner Mitbürger gleichermaßen jede erdenk liche medizinische Versorgung zuteil werden zu lassen, vielmehr ist hier eine Prioritätensetzung notwendig. Dort wo es nicht um das reine Überleben, sondern um die Qualität des Überlebens geht, gilt es festzustellen, was zur medizinischen Grundversorgung bei Beach tung der Lebensqualität gehört und was nicht. Bei der Erhebung von lebensqualitätsbezogenen Werten wird es unter Berücksichtigung des Fairnessprinzips jedoch erhebliche Konflikte zwischen individu ellem und gesellschaftlichem Nutzen geben. Um hier einheitliche Voraussetzungen zu schaffen, werden un ter dem Stichwort »QALYs« (quality-adjusted-life-years) mittels Fragebögen und komplexen medizinsoziologischen wie -ökono mischen Berechnungen einheitliche Parameter gesucht, die eine Ba sis für individual- und sozialverträgliche Entscheidungen liefern sol len. Die Formel QALY beschreibt, wie sich mit einer fixen Summe bei unterschiedlicher Allokation verschiedene quantitative Resultate bei der Lebenserwartungsstatistik ergeben, bereinigt durch das Krite rium der Lebensqualität.158 Es ist der Versuch, die Wirkung eines medizinischen Eingriffs sowohl auf die Qualität als auch auf die ver bleibende Dauer des Lebens mittels QALYs zu berechnen. Diese Me thode schätzt die Lebensqualität entsprechend der Umstände vor und nach dem Eingriff sowie bezüglich der erwarteten Dauerhaftigkeit der erhofften Veränderung ab. Die Kosten des Eingriffs können dann hinsichtlich des Kosten-Nutzen-Verhältnisses mit anderen medizi nischen Eingriffen verglichen werden, um zu identifizieren, welcher der Eingriffe der sinnvollere ist. Gefragt wird damit, mit welcher
158 Vgl. A. Williams/P. Kind (1992); L. Fallowfield (1990). »An individual maywell prefer a shorter but healthier life to a longer one with diminished health. Thus, the traditional approach to determining life expectancy has to be modified by adjusting the number of years by a factor based on their quality. If we were to assign an arbitrary value, of one to an extra year of healthy/good quality life-expectancy, then an extra year of unhealthy/poor quality life-expectancy must be worth less than one. In order to determine how much less than one an unhealthy year of life-expectancy is worth, it is necessary to produce a second fixed point in the valuation scale and that being dead is worth zero, bearing in mind that quality of some living state may be perceived worse than being dead.« (A. Edgar et al. (1998), 37).
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Qualität ein durch einen medizinischen Eingriff mehr oder weniger »teures« Lehen ausgestattet sein muß, um im Rahmen des entspre chenden Gesundheitssystems als finanzierungswürdig angesehen zu werden. Es ist die Komhination der ermittelten Daten üher die Le bensqualität mit den korrespondierenden Daten üher die Lebens erwartung, die einen einfachen Index gesundheitlichen Nutzens ergiht und sich in QALYs als eine Komhination von Daten üher die Qualität und die Quantität von Lehen ausdrückt. Mit Hilfe dieser Formeln ist die Ahsicht verhunden, hei unangenehmen gesellschaft lichen und gesundheitspolitischen Entscheidungen nicht nur tech nisch, sondern auch qualitativ argumentieren zu können. Die vor rangige Intention ist es, ein Instrumentarium zu entwickeln, das als Informationsquelle für eine Prioritätensetzung im Gesundheits wesen genutzt werden kann.159 Doch hat die Erfahrung mit dem Ore gon Health Plan (1989)160 gezeigt, wie eingeschränkt die Möglichkei ten einer QALY-orientierten Prioritätensetzung sind und zu welchen der menschlichen Lehensführung widersprechenden Konsequenzen dies führen kann. Der Ansatz hleiht medizinisch wie ethisch darin unzulänglich, daß er in einer pluralistischen Gesellschaft »ohrigkeitlich Qualitäts kriterien von Lehen für die Allokation knapper Ressourcen«161 ein setzt. Die Diskrepanz zwischen den individuellen Vorstellungen üher Lehensqualität und Lehensqualitäten sowie den standardisierten Erhehungsverfahren kann jedoch nur ausgeglichen werden, wenn im Einzelfall die Entscheidung auf der Grundlage einer Anamnese heruht, die den individuellen Lehensentwurf162 ermittelt, und die Be wertung von Richtlinien und Gesetzen im Gesundheitswesen unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit den jeweiligen Einzelfällen im gesellschaftlichen Diskurs erfolgt.
159 Vgl. A. Williams/P. Kind (1992), 23; vgl. zur neueren Diskussion um QALY: A. Ed gar et al. (1998). 160 Im US-Bundesstaat Oregon hat man den Versuch unternommen, die hegrenzten medizinischen Ressourcen durch klare Qualitätskriterien zu rationieren. Dies hatte zur Folge, daß es hei strenger Anwendung der Prinzipien immer wieder zu intuitiv unge rechten Entscheidungen für einzelne Patienten gekommen ist; vgl. hierzu P. J. Boyle/ D. Callahan (1995), 17-22; R. Klein et al. (1996), 109-119. 161 H. M. Sass (1990), 235. 162 Vgl. L. Honnefelder (1996), 1-5.
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d. Lebensqualität in der medizinischen Ethik So wertvoll die Einführung des Begriffs der »Lebensqualität« in be stimmten Handlungsfeldern der Medizin ist, sosehr muß sich die Verwendung des Begriffs einer ethischen Reflexion unterziehen. Zu klären ist, in welchem Verhältnis Lebensqualität einerseits und das Leben als indisponibler Wert andererseits zueinander stehen und welche Gewichtung hier einem Urteil von außen gegenüber dem Ei genurteil und dessen Bezug zum gelingenden Leben zukommt. Schließlich ist zu bedenken, inwieweit ein Streben nach Lebensqua lität - als einem neuen handlungsleitenden Kriterium der Medizin langfristig das ärztliche Handeln in Richtung Enhancement er weitern wird. Das Konzept der Lebensqualität wird dem der »Heiligkeit des Lebens« (sanctity of life), der »Ehrfurcht vor dem Leben« oder der »Unantastbarkeit des Lebens« als Alternativkonzept gegenüber ge stellt, indem nicht mehr - wie in der jüdisch-christlichen Tradition dem Leben an sich ein intrinsischer Wert zukommt, sondern nur das Leben mit bestimmten akzessorischen Qualitäten als wertvoll be trachtet wird. Die Proponenten für die generelle Einführung der Le bensqualität als Entscheidungskriterium in der Medizin unterstellen dabei häufig, daß mit der Heiligkeit des Lebens ein intrinsischer Wert des körperlichen oder physischen Lebens gemeint sei, während eine Ethik der Lebensqualität die Qualität oder die Qualitäten mensch lichen Lebens in den Mittelpunkt rücke. Damit wird aber das Konzept der Heiligkeit des Lebens auf seine vitalistische Interpretation hin reduziert und nicht im Sinne des Schutzes physischen menschlichen Lebens als eine indisponible Bedingung für die individuelle Realisa tion von Lebensentwürfen und als naturale Basis gelingenden Lebens begriffen.163 Viele an Interessen und Präferenzen gebundene utilitaristische Modelle medizinischer Ethik nehmen die Lebensqualität als zentrales Element auf. Dabei wird unterschieden zwischen einerseits dem fun damentalen Menschsein unbedingt zukommenden Qualitäten wie Selbstbewußtsein, Rationalität, Kommunikationsfähigkeit und So zialität, die als Indikatoren für Menschsein164 überhaupt gelten und163 164
163 Vgl. hierzu J. Fletcher (1972); W. T. Reich (1978a); K. A. Lebacqz (1990); R. A. McCormick (1990); G. Patzig (1992); D. W. Brock (1993). 164 Vgl. J. Fletcher (1972).
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eng an das Personverständnis in der Tradition von J. Locke angelehnt sind sowie andererseits sekundären akzessorischen, untergeordneten Qualitäten wie Neugierde oder bestimmte Talente. Nur dann, wenn diese Qualitäten in aktualisierter Form vorhanden seien, könne auch das Leben selbst als qualitativ wertvoll betrachtet werden. Damit hängt in utilitaristischer Perspektive die Wertung menschlichen Le bens grundsätzlich davon ab, ob erwartet werden kann, daß die fun damentale Qualität des Lebens zu höheren Qualitäten führt wie einem »Sich-Wohlfühlen« oder »Glücklichsein«. Fehlen diese Quali täten, dann kann aus dieser Perspektive auch eine aktive Beendigung dieses Lebens erwogen werden, weil aus dieser Perspektive die Nicht Existenz einem Leben mit geringer Lebensqualität vorgezogen wird. Dieses Argument wird oft in Zusammenhang mit selektiver Abtrei bung im Rahmen der Pränataldiagnostik und bei schwerstbehinderten Neugeborenen verwendet.165 Gegen das Konzept der Lebensqualität spricht jedoch, daß auf diese Weise mit Hilfe standardisierter, empirisch erhebbarer Parame ter die Qualität des Lebens quantifiziert wird und sich damit immer mehr vom individuellen Patienten entfernt, womit der ursprünglich intendierte Subjektbezug sekundär wieder verloren geht. Im Kontext einer pluralistischen und säkularen Gesellschaft gestaltet es sich dann als äußerst schwierig, geeignete Parameter zu gewinnen, die den Begriff der gesundheitsbezogenen Lebensqualität charakterisie ren und mit Inhalt füllen. Nicht nur die Parameter selbst, sondern auch die Frage nach Selbst- oder Fremdbewertung stehen zur Diskus sion. »In der Einzelsituation werden dabei weder Patient noch Arzt Profile oder Indices von entsprechenden Parametern für ihre Ent scheidung über diagnostische oder therapeutische Prozeduren be nötigen, sondern hier eine integrale Bewertung auf Grund von Erfahrung, Wissen des Arztes, Persönlichkeitsstruktur und Zukunftsorientiertheit des Patienten zugrunde legen.«166 Statt dessen wird vorgeschlagen, analog zum »Blutbild« durch eine »Wertan amnese«, d.h. narrativ, ein »Wertbild« des Patienten zu erheben.167 Philosophisch bedeutet dies, daß ärztliches Handeln unter Einbezie
165 Vgl. H. Kuhse/P. Singer (1985); K. A. Lebacqz (1990). 166 P. Schölmerich (1990), 11. 167 Vgl. H. M. Sass (1990), 237-238.
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hung der Lebensqualität nur im Rückbezug auf den individuellen Lebensentwurf legitimiert sein kann.168 Die in die Entscheidung über Lebensqualität eingehenden Urtei le sind ganz unterschiedlicher Art und können medizinisch, juri stisch, ökonomisch, sozial, ethisch oder religiös motiviert sein, so daß vielfach statt von »Lebensqualität« von »Lebensqualitäten« ge sprochen wird. Entsprechend gestaltet sich die Art und Zahl der an der Urteilsbildung beteiligten Personen: Patient, Arzt, nahestehende Personen, Öffentlichkeit. Dies ist wiederum Grundlage einer Meta diskussion über das Entscheidungsrecht, d. h. über Autonomie und Paternalismus sowie über individuellen und kollektiven Nutzen. Der Begriff der Lebensqualität spielt in der medizinischen Ethik - so kann festgehalten werden - dann eine bedeutende Rolle, wenn Krankheit nicht mehr geheilt werden kann, wenn sie nicht mehr ein transienter Zustand ist, sondern chronisch wird oder wenn es alter native Behandlungsmethoden gibt mit unterschiedlichen negativen Begleiterscheinungen und Nebenfolgen. Die Lebensqualitätsfor schung wendet sich aber dann mehr und mehr von ihren Ursprüngen der Patientenzentrierung ab, wenn sie Verfahren einführt, um Le bensqualität zu standardisieren und nicht auf den individuellen Le bensentwurf rückbezieht. Mit der »Vermessung« des Patienten über Lebensqualitätsdaten wird dieser noch mehr verfügbar, sein indivi duelles Urteil wird schließlich durch eine Fremdbeurteilung im Sinne des »best interest« ersetzt. Die Lebensqualität eines Schwerkranken oder eines Schwerbehinderten - und hierin besteht ein großes medi zinisches und medizinethisches Dilemma - entzieht sich aber einem Fremdurteil von außen. Ein Urteil über die Lebensqualität und ihr Bezug zum gelingenden Leben kommt nur dem Betroffenen selbst zu. Jedes Urteil eines Dritten, das gleichsam >von außen< einen be stimmten Zustand des Lebens als >nicht mehr lebenswert< betrachtet, wäre ein Urteil über die Qualität dieses Lebens und seine Beziehung zum gelingenden Leben, das nur dem Betroffenen selbst zusteht.169 Einer Verfügbarkeit des Patienten wird »einzig dann vorgebeugt, wenn der Arzt alle Daten und Befunde zwar beachtet, aber nur auf nimmt als zu bedenkende in die eigene, aufgrund des eigenen Ein drucks erarbeitete, Einschätzung des Gesundheits- oder Krankheits zustandes dieses bestimmten individuellen Patienten samt dessen 168 Vgl. L. Honnefelder (1996). 169 Vgl. ebd.; D. W. Brock (1993).
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immer nur einschätzbarer psychischer Stabilität«.170 Die Folge einer Standardisierung der Lebensqualität könnte auf Dauer sein, daß mehrheitlich abgelehnte Therapien mit problematischen Nebenfol gen auch für den Einzelfall nicht mehr zur Verfügung stünden. Im Extremfall könnte aus einer standardisierten Entscheidung zur The rapiebegrenzung, die den frühzeitigen Tod in Kauf nimmt, aus dem individuellen Recht auf den natürlichen Tod171 eine Pflicht zum Ster ben werden. Nicht das individuelle Lebensqualitätsurteil des Patien ten ist in diesen Fällen problematisch, sondern seine Standardisie rung und Quantifizierung, die letztlich auf eine Fremdbeurteilung hinausläuft. Durch diese Auffassung von Lebensqualität steht das Leben selbst - als indisponibler Wert - zur Disposition. Damit wird dann sekundär die Lebenswertdiskussion wieder in die Lebensquali tätsdiskussion eingeführt, denn Leben ohne oder mit geringer Qua lität wäre dann nicht mehr lebenswert und würde finanzielle Auf wendungen nicht mehr rechtfertigen.172 Leben ist für den Menschen ein Gut, dem als notwendige Bedin gung der Möglichkeit der ranghöheren Güter ein fundamentaler Wert zukommt; welche Qualität einem bestimmten Lebenszustand im Blick auf die ranghöheren Güter zukommt, kann nur vom Betrof fenen selbst entschieden werden. Dies schließt die Legitimität ein, eine Intervention nicht zu wollen, die nach eigenem Urteil nurmehr geeignet ist, einen nicht mehr als sinnvoll, sondern als quälend und leidvoll erfahrenen Zustand fortzusetzen. Eine Entscheidung, die nicht vom mutmaßlichen Urteil des Betroffenen ausgeht und auf grund von außen herangetragener Kriterien wertet, wäre ein Verstoß gegen die Selbstbestimmung des Betroffenen.173 Der Begriff »Lebensqualität« wird zunehmend als ein selbstän diges Kriterium für die Zielsetzungen ärztlichen Handelns aufgefaßt, das sich loslöst von traditionellen ärztlichen Zielsetzungen (Heilung, Palliation und Krankheitsprävention). Die Machbarkeit technisch ge prägter Medizin, die einerseits von Patientenseite gewünscht und andererseits ärztlicher Seite angeboten wird, lebt von der Utopie des leidensfreien Menschen und der leidensfreien Gesellschaft. So ver standen dient Medizin dann generell der Steigerung der Lebensqua
170 171 172 173
T. Koch (1992), 12 (Hervorhebungen im Original). Vgl. A. Auer (1977). H. Kuhse/P. Singer (1985). Vgl. L. Honnefelder (1996).
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lität und wird auch für die Lösung anderer wie sozialer oder ästheti scher Probleme herangezogen. Über das Kriterium der Lebensqualität entwickelt sich Medizin zu einem Mittel für eugenische Melioration und Enhancement. Beispiele finden sich in Bereichen der Sportmedi zin (Doping), in Teilen der plastischen Chirurgie und innerhalb jener Handlungsoptionen, die künftig verstärkt durch die ärztliche Anwen dung der Humangenetik angeboten werden (genetic enhancement engineering).174 Lebensqualität wird dann identifiziert mit »uneinge schränktem Wohlbefinden und Lebensgenuß« oder »gelingendem Leben«. Diese Auffassungen stehen der Gesundheitsbeschreibung der WHO sehr nahe. Will man aber das ärztliche Handlungsfeld wei terhin auf seine traditionelle Zielsetzung der Prävention, Heilung und Palliation einschränken, um das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu stabilisieren, so kann Lebensqualität nicht das neue normative Kriterium ärztlichen Handelns sein, sondern nur als ein begleitendes normatives Element den Schlüsselbegriffen »Krank heit« und »Gesundheit« zugeordnet werden.
4. Krankheit und Behinderung Hält man daran fest, daß sich der Krankheitsbegriff in erster Linie über die Selbstauslegung des kranken Menschen erschließt, so wird diese Perspektive durch den Behinderungsbegriff noch verstärkt. Denn auch hier zeigt sich die praktische Bedeutung eines an die Selbstauslegung der Betroffenen gebundenen Begriffs. Während in Form einer naturwissenschaftlich-medizinischen Beschreibung na türlicher Zustände der Begriff der Behinderung oftmals unter den der Krankheit subsumiert wird, sind Krankheit und Behinderung aus Sicht der betroffenen Subjekte keineswegs gleichzusetzen. Be hinderung175 meint eine dauerhafte, allenfalls symptomatisch thera pierbare Beeinträchtigung des physischen oder psychischen Zu stands, die angeboren oder erworben sein kann. Sie beeinflußt die Ausübung und/oder die Wahrnehmung der dem Lebensalter ent sprechenden sozialen Rolle im Kontext der Lebensführung. Auch der Behinderungsbegriff impliziert eine Reihe naturwissenschaftlich 174 Vgl. hierzu Kap. A111 3 sowie Kap. C. 175 Zur Gesamtproblematik siehe besonders S. Kleinert et al. (1997); T Neuer-Miebach/ R. Tarneden (1994); W. Thimm et al. (1989).
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erhebbarer Parameter, doch ist es erst die Erfahrung des oder der Betroffenen, die einen bestimmten Zustand zu einer schweren oder minder schweren Behinderung werden läßt. a. Behinderung und Selbstauslegung Behinderung wird - jedenfalls bislang - als naturgegebenes, die Exi stenz des betreffenden Menschen schicksalhaft begleitendes Leiden erfahren.176 Während Krankheit einen transienten Zustand um schreibt, der nicht zuletzt durch das Eingreifen des Menschen um kehrbar oder veränderbar ist, gilt dies im Fall der Behinderung nicht. »Sie ist vielleicht in ihren Auswirkungen abzumildern, eine Rückführung in den ursprünglichen Zustand der Gesundheit kann jedoch nicht erreicht werden.«177 Die Grenzen zwischen Behinderung und chronischen Krankheiten sind fließend. Entscheidend sind in beiden Fällen Selbstauslegung und Bewältigung. Krankheit be schränkt unsere Fähigkeiten auf unsere Umwelt zu reagieren und zu antworten. Die auf die Zukunft hin projizierte Erwartung wird von Krankheit geprägt; Lebensentwürfe und -pläne scheinen für den Kranken unterbrochen, gefährdet oder zerstört, d. h. er fühlt sich sei ner Möglichkeiten beraubt. Dies unterscheidet den Kranken vom Be hinderten: Betrachtet der kranke Mensch seine Zukunft in unter schiedlichen Graden als verkürzt und dürftig, erscheint die Zukunft für den behinderten Menschen, dann, wenn er seine begrenzten Möglichkeitsbedingungen akzeptiert hat, in anderer Form als gefe stigt und offen konstituiert.178 Erst wenn man in der Funktions ausübung ein Hindernis oder eine Beeinträchtigung erfährt, ver gleicht man den Ist-Zustand mit einem Soll-Zustand. Bleibt dem Kranken - auch dem chronisch Kranken - ein Damals, indem er in einen Selbstvergleich tritt - denn krank ist man nicht allein in bezug auf andere, sondern auch im Verhältnis zu sich selbst - so ist dieser Selbstvergleich bei jemandem, der mit einer Behinderung geboren179 worden ist, nicht möglich.180 176 Ausgenommen hiervon sind Behinderungen die sich erst später im Leben mani festieren wie beispielsweise durch Unfälle verursachte Behinderungen. 177 P. Radtke (1997), 64. 178 Vgl. M. C. Rawlinson (1982), 75. 179 Eine durch Unfall oder sich später manifestierende genetische Disposition erworbene Behinderung läßt freilich auch den Selbstvergleich des »Vorher« und »Nachher« zu. 180 Vgl. hierzu G. Canguilhem (1974), 86-92.
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Einen Zustand an sich seihst als eine Behinderung aufzufassen und dies nicht als eine Krankheit, sondern, wie es die Lebenshilfe für geistig Behinderte einmal formuliert hat, als »hesondere Form der Gesundheit«181 zu empfinden, macht das Moment der Selhstauslegung noch einmal deutlich. Denn ohwohl es einen natürlichen Zu stand giht, der von Ärzten als pathologisch und normahweichend in terpretiert und von der Gesellschaft als krankhaft eingestuft wird, ist die Sicht des oder der Betroffenen eine andere. Diese orientiert sich nicht an dem darunterliegenden hiologischen Zustand182 und den da mit verhundenen Häufigkeiten in der Bevölkerung, sondern viel mehr an der eigenen Kontingenzerfahrung und der Selhstauslegung der vorgegehenen und gleichzeitig aufgegehenen Natur in ihrer psycho-physischen Konstitution. Im Vordergrund stehen hei Urteilen üher hehinderte Menschen oft die Negativ-Eigenschaften, die gegen den »Normalzustand« ahgehohen werden, ohne daß die Entfaltungsmöglichkeiten wahr genommen würden. Behinderte werden als nicht-leistungsfähige und als nicht-vollwertige Gesellschaftsmitglieder hetrachtet.183 Eine der häufigsten Stereotype ist die Auffassung, daß Behinderte immer die Empfänger von Hilfe sind. Statt dessen sind sie dies nur manch mal und zu anderen Zeiten sind sie auch die Hilfesteller und oft genug auch gleichwertig mitarheitende Gruppenmitglieder.184 Die Parsonssche Krankheitsrolle gleichzusetzen mit der Rolle des Behin derten schlägt auch fehl, weil Parsons diese als einen grundsätzlich transienten Zustand auffaßt. Die Behinderung ist aher in der Regel nicht zeitlich hegrenzt. Würde man die soziale Beschreihung der Krankenrolle auf Behinderung ühertragen, führt dies langfristig zu einer Bevormundung und Isolation, denn das »sick role« Modell185 heinhaltet eine starke Passivität des Kranken, die nahezu darin auf geht, den Anweisungen des Arztes Folge zu leisten. Im deutschen Sozialrecht wird Behinderung aufgefaßt als medi zinisch hedeutsame Ahweichung vom körperlichen, geistigen oder seelischen Normalzustand, die den davon Betroffenen nicht nur ge ringfügig in seiner Daseinsentfaltung heeinträchtigt.186 Im Schwer181 182 183 184 185 186
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Vgl. Vorstand der Bundesvereinigung Lehenshilfe für geistig Behinderte e. V. (1990). Vgl. M. Fine/A. Asch (1988), 8. Vgl. J. Neumann (21997h), 33-35. Vgl. M. Fine/A. Asch (1988), 10-15. Vgl. Kap. B II 1h. Vgl. B. Baron von Maydell (1998).
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hehindertengesetz ist zu finden, daß Behinderung die »Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung [ist], die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht«.187 Nicht schon aus einer Funktionsbeeinträchti gung allein, sondern erst durch die Erschwernis gesellschaftlicher Partizipation wird die Behinderung zur Behinderung.188 Dieses Ele ment findet man auch in der Beschreibung der WHO von 1980: Be hinderung setzt eine durch einen Gesundheitsschaden (impairment) verursachte funktionelle Einschränkung (disability) voraus, die wie derum die Fähigkeit, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, nicht nur vorübergehend beeinträchtigt (handicap).189 An Schädi gung und Funktionsbeeinträchtigung, die seitens der Gesellschaft als Abweichung von einer gesundheitlichen Normvorstellung inter pretiert werden, sind stets soziale Stigmatisierungs- und Aus grenzungsprozesse gekoppelt, die als »Sekundärbehinderung« den Betroffenen die volle Teilhabe am Gemeinschaftsleben erheblich er schweren.190 Menschen werden zwar möglicherweise mit einer schicksalhaften Beeinträchtigung geboren, aber - so der Sozialpäd agoge und Theologe E. Klee - »zum Gehindertem werden sie erst später gemacht. [...] Zum Behinderten wird man erzogen.«191 Da die modernen Gesellschaften Gesundheit als ein hohes Gut internalisiert haben, fällt es chronisch Kranken und Behinderten besonders schwer, nicht vom normalen Sozialleben ausgeschlossen zu sein. Gerade die Menschen, die keine oder wenig Erfahrung mit behinderten Men schen haben, reagieren - weil dies nicht in ihre üblichen Wertvorstel lungen paßt - verunsichert oder negativ auf sie. Auch werden die Fähigkeiten von behinderten Menschen falsch eingeschätzt. Gerade dann, wenn sich die Behinderung auf einen Bereich beschränkt, wird dem Betroffenen häufig genug in anderen Bereichen mangelnde Be fähigung unterstellt.192
187 188 189 190 191 192
Vgl. H. Cramer (“1992). Vgl. J. Walter (1989), 213. Vgl. B. Baron von Maydell (1998). Vgl. J. Walter (1989), 213-214. E. Klee (1980), 9-65. Vgl. B. A. Wright (21983); dies. (1988), 3-21.
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b. Die soziale Ausgrenzung von behinderten Menschen Der Ansatz des amerikanischen »disahility rights movement« will die Vorstellung modifiziert wissen, daß hehinderte Menschen ver stehen müßten, daß sie es sind, die von der statistischen Mehrheit ahweichen und sie es auch sind, die so gut wie möglich in einer Welt »funktionieren« müssen, die ein Niveau physischer Fähigkeiten un terstellt, das hehinderte Menschen nicht hesitzen.193 Aus dem Min derheitenstatus von Behinderten in der Gesellschaft erwächst das Prohlem, daß die Mehrheit oft der Überzeugung sei, die sozialen und ökonomischen Bedingungen seien »natürlich« und »neutral«. In Wirklichkeit handele es sich um ein Konstrukt, das auch den Bedürfnissen von Minderheiten Rechnung tragen müßte. Dieser Analyse trägt schließlich auf legislativer Ehene die Americans with Disability Act von 1990 Rechnung: »individuals with disahilities are a discrete and insular minority who have heen faced with restrictions and limitations, suhjected to a history of purposeful unequal treat ment, and relegated to a position of political powerlessness in our society, hased on characteristics that are heyond the control of such individuals and resulting from stereotypic assumptions not truly indicative of the individual ahility of such individuals to participate in, and contrihute to, society.«194 Es ist dies ein Versuch, hehinderte Menschen stärker in die Gesellschaft zu integrieren, damit ihnen Möglichkeiten eröffnet werden, die ihrem je eigenen Lehensentwurf entsprechen. Im Ausgrenzungsprozeß ist die Unterscheidung zwischen kör perlicher, geistiger und seelischer Behinderung als attrihuierte Eti kette eher von nachrangiger Bedeutung.195 Die Erfahrung für den Betroffenen, hehindert zu sein, erschließt sich primär durch die Ab weisung, Distanzierung, Mißachtung und soziale Ausgliederung, d. h. in der Erfahrung, daß eigene Entfaltung und Eingliederung in die Gesellschaft behindert werden. Da Selhstauslegung und die damit verhundene Identitätsschaffung jedes einzelnen - wie gesehen - we sentlich üher den Prozeß der Sozialisation in Ahhängigkeit von den Werten und Normen einer Gesellschaft verlaufen, wird es hehinder-
193 Vgl. M. Fine/A. Asch (1988). 194 Americans with Disabilities Act (1990), 42 U.S.C. 12101-12213 (Supp. II 1990), P.L. 101-336, Section 2. 195 Vgl. J. Walter (1989), 213-214.
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ten Menschen, die eben diesen Normvorstellungen nicht entsprechen können, besonders schwer gemacht, ihre Identität zu finden.196 Daher urteilt O. Speck: »Für einen Behinderten ist deshalb nicht seine phy sische Funktionseinschränkung existentiell entscheidend, sondern die dadurch erlittene Verkürzung seiner sozialen Kontakte, seine Dis kriminierung, seine in Frage gestellte Identität. [...] Der einzelne erlebt Behinderung auch als behindert werden durch andere«.197 In der Relation zu »den Anderen«, die das »Anderssein« erst konstitu iert, beginnt der Stigmatisierungsprozeß. Dabei wird der Terminus Stigma in bezug auf eine Eigenschaft gebraucht, »die zutiefst dis kreditierend ist, aber es sollte gesehen werden, daß es einer Begriffs sprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf. Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, wäh rend sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend.«198 Entschei dend ist, daß Behinderungen von sozial festgelegten Werten und Normen abhängig sind. Insofern wirkt sich die Wahrnehmung eines »Defektes« auf das Hineinwachsen in die Gesellschaft aus und hat eine ausschlaggebende Bedeutung für das Erlernen eines für die ge sellschaftliche Existenz erforderlichen Rollenrepertoires.199 »Der De fekt als mögliche Ursache für Diskontinuität in den Bereichen der primären und sekundären Sozialisation, der defekt als Ursache für Störungen im Rollenverhalten und als Hindernis für die Teilhabe an alters-, geschlechts- und statusspezifischen Sozialbeziehungen, wird gewissermaßen zum Fokus der Behinderung. Der behinderte Mensch wird in >seine< Behinderung >hinein< sozialisiert.«200 Auch die Ursache einer Behinderung ist für die Einschätzung von außen von Bedeutung. Die Behinderung nach einem Unfall oder nach Einsatz des Lebens wird anders beurteilt, als die schicksalhaft angeborenen. »Mit Ausnahme der >KriegskrüppelInvalidenhäuser< baute, und mit der weiteren Ausnahme der kausal begreiflichen Unfallopfer, wurden von Anfang an die Körperbehin derten wie auch die >Idioten< in ihrer Gesamtheit den Siechen zuge
196 197 198 199 200
Vgl. hierzu B. Senckel (1994), M. Fardeau (1991), 93-95 . O. Speck (71988), 622. E. Goffman (1967), 11. Vgl. J. Neumann (21997b), 33. Ebd.
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ordnet, d. h. der Randgruppe menschlichen Elends. Es hoten sich im Prinzip nur zwei Lösungsmodelle an: die vollständige und möglichst frühe Beseitigung oder die Aussonderung als >Mißmensch< aus der Gemeinschaft der Wohlgestalteten.«201 Die angehorene Fehlhildung hat den Charakter des »Unheimlichen, Bedrohlichen und zugleich Fremden«.202 Stigmatisierte Menschen werden - in Unkenntnis von anderen häufig als »nicht wirklich menschlich«203 hetrachtet und hehandelt. Statt auch das »Seltene« und »Anderssein« als Aspekt einer »normalen Variahilität«204 anzusehen, wird das »Häufige« nor mativ genommen. Diese normative Kraft kann dann zu dem führen, was A. Silvers als »tyranny of the normal« hezeichnet.205
c. Ausgrenzung und pränatale Diagnostik Besonders schwierig wird das Prohlem von Ausgrenzung und Stig matisierung schwer hehinderter Menschen, wenn pränatale Diagno stik und Schwangerschaftsahhruch aneinander gekoppelt werden. Nicht nur die damit verhundenen sozialen und eugenischen Prohleme206 sind von ethischer Relevanz, sondern auch die Verdrängung der Selhstauslegung hinsichtlich Krankheit und Behinderung durch eine Fremdheurteilung von außen. Das Kriterium der Krankheit spielt hier eine wichtige Rolle, und zwar in dem negativen Sinn, daß die Disposition zu einer schweren Krankheit als solche den Ahhruch nicht zu rechtfertigen vermag. Geht man nämlich, wie dies auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) getan hat, von der - hekanntlich nicht unhestrittenen - Annahme aus, daß der Emhryo unter den Schutz der Menschenwürde fällt,207 wäre es ein Verstoß gegen diese Würde, das Lehen des Emhryos deshalh zu heenden, weil er Träger der Disposition zu einer schweren Krankheit ist. Dies hieße parado xerweise - um eine viel zitierte Formulierung zu gehrauchen -, »den
201 E. Seidler (1997), 9; zu den historisch Aspekten vgl. K. D. Thomann (1992); W. Mo linski (1992). 202 E. Seidler (1997), 9. 203 E. Goffman (1967). 204 Vgl. S. Stengel-Rutkowski (1992), 263-264. 205 Vgl. A. Silvers (1994) und (1998); vgl. hierzu auch O. Tolmein (1989); G. Devereux (1974). 206 Vgl. Kap. B II 2h. 207 Vgl. zum Status des Emhryos: H. M. Baumgartner et al. (1997), 161-242.
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Kranken zu töten, um die Krankheit zu vermeiden«.208 Deshalb läßt das deutsche Recht als Rechtfertigungsgrund für einen unter solchen Umständen vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch nur die Un zumutbarkeit für die Mutter gelten, nicht die Unzumutbarkeit für das Kind.209 Ließe man die Unzumutbarkeit für das Kind hingegen als rechtfertigenden Grund zu (vgl. »wrongful life«), dann müßte man einräumen, damit ein Urteil über die Selbstinterpretation eines an deren Menschen fällen zu wollen. Die »embryopathische Indikation« in der alten Fassung des §218 StGB war also eher eine psychische »mütterliche Indikation«,210 die aber im Kontext der gesellschaft lichen Rahmenbedingungen durchaus zu einer sozialen Indikation werden konnte.211 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht sowie die alte und die neue Fassung des § 218 von der »Unzumutbarkeit«, d. h. von der »Belastung« für die Mutter ausgehen, sind dennoch jene eugenischen Überlegungen in der Gesellschaft festzustellen, die über die äußeren und inneren Belastungen der Schwangeren unterschwel lig mitlaufen. »Zwar verzichtet der Staat auf eigene eugenische Maß nahmen, insbesondere auf jeglichen Zwang,« - so der Strafrechtler G. Jakobs - »aber dem gesellschaftlich gestützten Wunsch, von der äußeren und inneren Last geschädigter Kinder befreit zu sein, gibt er nach.«212 In der Neufassung des §218 vom 25. August 1995 ließ man aus diesem Grund die bisherige embryopathische Indikation in einer sehr allgemein gefaßten »medizinischen Indikation« aufgehen und erklär te den Schwangerschaftsabbruch dann für nicht rechtswidrig, wenn er »nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist«.213 D. h. der Arzt muß feststellen, ob eine »Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren« besteht und ob die »Gefahr 208 T. M. Schroeder-Kurth (1988a); dies. (1988b). 209 Urteil vom 28.5.1993 (BverfGE 88, 203 (Leitsatz 7) - Neue Juristische Wochen schrift (= NJW) (1993), 1751)); s. auch BverfGE 39, 49 ff.; vgl. auch W. Graf Vitzthum (1986), 819; A. Laufs (1990), 235. 210 Vgl. H.-L. Günther/R. Keller (1987); M. Fuchs (1997), 247-249. 211 Vgl. hierzu G. Jakobs (1996), 111. 212 Vgl. G. Jakobs (1996), 117; Jakobs bezieht sich hier zwar auf einen älteren Entwurf der als Belastung für die Mutter explizit von der Annahme der Schädigung des Kinds »infolge einer Erbanlage« oder auf »schädliche Einflüsse vor der Geburt« mit Folge einer »nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustands« ausgeht. Aber diese Annahme ist implizit auch in der verabschiedeten Fassung enthalten. 213 Vgl. §218 StGB.
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nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann«214 als durch einen Schwangerschaftsabbruch. Mit dieser For mulierung soll - so die Verfechter der Neufassung - »insbesondere dem Mißverständnis entgegengewirkt werden, behindertes Leben genieße weniger Lebensschutz als nichtbehindertes«.215 Welche Bedeutung die Bindung an den Begriff der Krankheit und an das damit verbundene Arzt-Patient-Verhältnis für die Lösung der ethischen Probleme besitzt, wird angesichts der Möglichkeit im Rahmen der pränatalen genetischen Diagnostik deutlich. Denn wenn man den Gebrauch der Diagnostik an gesundheitliche Zwecke und an die Arzt-Patient-Beziehung sowie an die Indikation einer Risiko schwangerschaft, d. h. an den Begriff schwerer Krankheit bindet, sind wichtige Grenzen gezogen. Der Verzicht auf die Bindung an die ärzt lichen Zielsetzungen gäbe eine Nutzung der Diagnostik zu beliebigen Zwecken - auch denen von Arbeitsmarkt und Versicherungswesen frei. Die Preisgabe des Arztvorbehaltes machte eine Kommerzialisie rung der Diagnostik möglich, die die Last der Entscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen ohne Beratung dem Einzelnen überläßt. Würde die Bindung an die Indikation schwerer Krankheit aufgege ben, wäre die Möglichkeit eröffnet, die Diagnose nicht im Hinblick auf zu therapierende Krankheiten zu erstellen, sondern im Hinblick auf die Melioration, d. h. die Verbesserung (enhancement) beliebiger menschlicher Eigenschaften. Darüber hinaus läge der Einstieg in die Eugenik nahe. Mit der genetischen Beratung durch den Arzt soll die Diagnose im Rahmen der Humangenetik eng an das Arzt-Patient Verhältnis gebunden werden, welches dann, wenn sich das ärztliche Handeln weiterhin an klar definierten Zielsetzungen orientiert, den diagnostischen Handlungsmöglichkeiten grundsätzliche Grenzen zieht, die mit einem als praktisch verstandenen Krankheitsbegriff verbunden sind.216 214 »Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwan gerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig; wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwan geren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Ge sundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.« StGB §218a Absatz 3 (2). 215 Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Hu mangenetik e.V. (1995). 216 Vgl. zum praktischen Krankheitsbegriff und pränataler Diagnostik ausführlich: D. Lanzerath/L. Honnefelder (1998).
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d. Behinderung und »wrongful Ufe« Formen von rechtlich zulässigen Fremdurteilen über die Lebensqua lität schwerbehinderter Kinder finden sich aber durchaus in der na tionalen wie ausländischen Rechtsprechung, wenn beispielsweise amerikanische Gerichte verschiedentlich in Entscheidungen von 1967 bis etwa 1977217 vom Begriff des »wrongful life« gebraucht ge macht haben, um mit monogenen Krankheiten geborene Kinder im Hinblick auf Haftungsansprüche als Resultate von - wie sie meinten - ärztlichen Kunstfehlern zu beschreiben. Ein solches Urteil kann aber immer nur ein Urteil des Betroffenen und niemals ein Fremd urteil von außen sein - und sei es aus Mitleid. Die Irritation geht von der Gleichsetzung von Gesundheit mit Lebensqualität bzw. der Krankheit mit »wrongful life« aus. Versteht man nämlich Lebens qualität nicht als subjektive Dimension des Patienten, die dem Arzt wie etwa in der Onkologie eine bessere Anpassung der Therapie an die Bedürfnisse des Patienten erlaubt (ein durchaus sinnvoller Ge brauch von »Lebensqualität« im Kontext von Medizin und ärzt lichem Handeln), sondern faßt man sie als einen an operationalisierbaren Kriterien orientierten allgemeinen Bewertungsindex auf, dann ist der an der »genetischen Norm« orientierte Gesundheitsbegriff in Gefahr, zum Selektionskriterium zu werden.218 Nimmt man den Ausdruck des »wrongful life« wörtlich, dann unterstellt er eine Vor stellung von »Richtigkeit«, die es schon naturwissenschaftlich so nicht geben kann. »The essence of wrongful life and wrongful birth claims is that the physician or genetic counselor wrongfully deprived the parents of the opportunity to make an informed decision about whether to conceive or abort the child.«219 Erkannten bis 1980 die verschiedenen Gerichte nur einen Schadensersatzanspruch für die Eltern an, findet man danach Gerichtsurteile, die diesen auch dem Kind selbst zuerkennen. Andere Gerichte haben wiederum argumen tiert, daß es dem Gericht nicht zustehe, die Frage zu beantworten, ob die Nichtexistenz dem Leben mit schwerer Behinderung vorzuziehen sei, diese gehöre vielmehr in den Bereich von Theologie und Philo217 Vgl. W. T Reich (1978a), 835-836; das erste einschlägige Urteil dieser Art stammt von 1967 vom Supreme Cort of New Jersey, Gleitman v. Cosgrove, 227 A. 2 d 689, 22 A.L.R. 3 d 1411; vgl. zur amerikanischen Diskussion: K. Hackett (1987); A. Capron (1980). 218 Vgl. Kap. B I 3f. und B III 3. 219 K. Hackett (1987), 251.
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Sophie.220 Inzwischen verbieten verschiedene Gesetze der amerikani schen Bundesstaaten juristische Forderungen nach wrongful life und wrongful birth.221 Auch in der deutschen Rechtsprechung kann der Arzt zur Lei stung von Schadenersatz, der den gesamten Unterhalt des Kindes einschließt, herangezogen werden. Dazu muß gezeigt werden, daß eine vollständige Aufklärung in der genetischen Familienberatung seitens des Arztes nicht erfolgt ist und dieser Mangel als ursächlich für die Konzeption und Geburt eines behinderten Kindes identifiziert werden kann;222 der behinderte Mensch wird somit zum »Schadens fall«. Zwar hat E. Deutsch in diesem Zusammenhang betont, daß mit dem »Schadensfall Kind« nicht unmittelbar ein negatives Prädikat oder ein soziales Stigma verbunden sein müsse; vielmehr habe der Bundesgerichtshof (BGH) mit Recht geurteilt, daß ein Schadens ersatzanspruch für den Unterhalt des Kindes dienlich sein könne, da die damit verbundene finanzielle Entlastung die Integration der Fa milie entlaste, womit die Würde des Kindes schadensrechtlich ge schützt werde. Doch bleibt die Frage, ob die ohne Zweifel wichtige finanzielle Absicherung des Kindes nicht anders als durch Bindung an die - in diesem Zusammenhang ethisch äußerst bedenklichen Begriffe »Schadensfall« und »Fehlverhalten« des Arztes erreicht wer den kann.223 Diese Frage kann keineswegs nur als ein rechtssystema tisches Problem aufgefaßt werden.224 Die Ambivalenz dieser Rechtsprechung wird besonders deut lich durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.1997225. Während der Erste Senat des Bundesverfassungs gerichts jene Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs bestätigt hat, daß bei fehlgeschlagener Sterilisation und fehlerhafter genetischer Bera tung eine Arzthaftpflicht bestehe, hat der Zweite Senat dem ent gegengesetzt, daß eine rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als »Schadensquelle« nicht mit Art. 1 I des Grundgesetzes vereinbar sei, so daß es sich verbiete, die Unterhaltspflicht für ein
220 Vgl. hierzu E. Picker (1995), 130-131. 221 K. Hackett (1987), 263-267. 222 Vgl. A. Laufs (1998). 223 Vgl. zur Gesamtproblematik: J. Finch (1982), K. Hackett (1987), E. Deutsch (1994), 776ff., E. Picker (1995). 224 Vgl. H. Lange (1991), 19; A. Laufs (1998), 797. 225 Vgl. Urteil vom 12.11.1997 (BVerfGE 96, 375ff = NJW (1998), 519.
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Kind als Schaden zu begreifen.226 Der BGH hat seine Rechtsprechung verteidigt mit der Argumentation, daß der Schaden nicht in dem Kind bestehe, sondern in dem Unterhaltsaufwand, der durch die planwidrige Geburt des Kindes ausgelöst worden sei.227 Dennoch bleibt es dabei, daß die Existenz des unerwünschten Kindes Grund für die Ersatzpflicht ist. Dies hat zur Folge, daß das verständig gewor dene, nicht kooptierte Kind mit dem Wissen leben muß, »über viele Jahre den eigenen Eltern kein eigenes Unterhaltsaufkommen wert zu sein, sich von den Leistungen eines Fremden zu ernähren. Fällt dieses Stigma nicht stärker ins Gewicht als das verständliche Bedürfnis nach einer umfassenden zivilrechtlichen Sanktion für den Arztfehler? [...] Die Ablehnung des Kindes bedeutet [...] finanziellen Vorteil, seine wünschenswerte volle Annahme entgegen dem Plan wirtschaftlichen Verlust - ein durchaus unbehaglicher Wertungswiderspruch.«228 Das Kind selbst wiederum hat laut BGH keine Ersatzansprüche, denn je der Mensch habe »grundsätzlich sein Leben so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet ist« und »keinen Anspruch auf Verhütung oder Vernichtung durch andere«.229 Wird das Leben des Kindes ihm selbst gegenüber als indisponibel gewertet, bildet es bei der Prüfung der Haftungsansprüche der Eltern eine wirtschaftlich disponible Größe.230 Der Arzt setzt sich bei dieser Rechtspraxis einem hohen Haftungsrisiko aus und wird gezwungen, eine möglichst umfassende Diagnose und Beratung vorzunehmen. Letztlich besteht gesellschaft lich die Gefahr, daß aus der Pränataldiagnostik eine Menschenaus wahl resultiert, »die dem Individuum die bedingungslose Annahme der Gesellschaft verweigert. Die tiefe gesellschaftliche und juristische Kontroverse um den Schwangerschaftsabbruch steckt auch in dem Streit um die Familienplanungsschäden und erklärt dessen Heftigkeit.«231 Das Kind wird nicht mehr als Subjekt gewertet, sondern als verfügbares Objekt, dessen Behinderung durch Nichtexistenz grund
226 Urteil vom 28.5.1993 (BVerfGE 88, 203ff. (Leitsatz 14) = NJW (1993), 1751). 227 BGHZ 124, 128ff = NJW (1994), 788ff. 228 A. Laufs (1998), 797. 229 BGHZ 86, 240ff = NJW (1983), 1374; Demgegenüber gewährten einzelne ame rikanische Gerichtsurteile auch dem Kind Anspruch auf Schadensersatz, z.B. Supreme Court of California, Turpin v. Sortini, 643 P. 2 d 954 (1982), 966. 230 Vgl. E. Picker (1995), 19. 231 A. Laufs (1998), 797.
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sätzlich »vermeidbar« ist und dann der Gesellschaft keine unnötigen Kosten verursachen würde.232
e. Behinderung und gelingendes Leben Im Kontext utilitaristisch geprägter Modelle der Medizinethik wird häufig die entscheidende Frage nach der subjektiven sowie gesell schaftlichen Bewältigung von Behinderung von der Frage verdrängt, unter welchen Bedingungen es moralisch wie rechtlich gerechtfertigt sein könne, einen behinderten Menschen sterben zu lassen oder ihn gar zu töten - obwohl medizinische Interventionen sein Leben retten könnten. Durch den Primat des Autonomie-Kriteriums in vielen An sätzen medizinischer Ethik, die sich von paternalistischen Modellen absetzen wollen, wird diese Diskussion verstärkt. Legt man hingegen den Gedanken der Menschenwürde zugrunde und sieht Autonomie im Zusammenhang mit ihr, so wird deutlich, daß eine am Menschen rechtsgedanken orientierte Gesellschaft ihre Aufgabe gerade darin sehen muß, auch denjenigen Menschen Möglichkeiten für ein gelin gendes Leben zu schaffen und zu erhalten, die in ihren natürlichen Fähigkeiten gegenüber der Mehrheit der Gesellschaft eingeschränkt sind. Je stärker behinderte Menschen ihre Ansprüche im Selbsthilfe gedanken in organisierter Weise geltend machen, desto eher werden sie von der Gesellschaft akzeptiert.233 Dies hat bestimmte Konsequenzen: Auch wenn ein Leben mit Behinderung mit Leid verbunden sein kann - dies trifft aber grund sätzlich für jedes menschliche Leben zu - so ist dies noch kein Grund, Lebensqualität oder gar Lebenswert abzusprechen. Die gängige Ste reotype, behinderte Menschen seien »potentiell Unglückliche«, hängt mit der Vorstellung zusammen, daß man ein gelingendes Le ben nur unter uneingeschränkten naturalen Bedingungen für möglich hält und übersieht, daß dieses Gelingen erst aus dem Ver hältnis erwächst, das der Mensch nicht nur zu seinen Entfaltungs potentialen, sondern auch zu deren Grenzen einzunehmen vermag. Umgekehrt sind solche Grenzen durch Behinderung kein Anlaß dafür, Behindertsein als besondere Qualität hochzustilisieren, und diese Seinsform als das bessere Menschsein aufzufassen.234 Worum
232 Vgl. hierzu ausführlich: H. Lange (1991); E. Picker (1995); A. Laufs (1998). 233 Vgl. K. Dörner (1997), 19. 234 Vgl. hierzu P. Radtke (1997), 69.
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es vielmehr gehen muß, ist, Behinderung »als einen natürlichen Be standteil des Menschseins zu akzeptieren«.235 Je mehr freilich eine Gesellschaft auf die Vorstellung von einem leidensfreien Lehens glück fixiert ist, um so stärker stellen sich Bedingungen ein, die hehinderten Menschen die Erfüllung ihrer sozialen Rollen sowie die Verwirklichung ihrer Lehensziele und -entwürfe zusätzlich erschwe ren. Menschen können auch unter den Bedingungen von Behin derung im Kontext einer integrierenden Gesellschaft ein erfülltes Leben führen - wenn auch mit hesonderem Unterstützungshedarf. Aher ehenso - wie jeder andere - kann auch der hehinderte Mensch an seinem Lehen scheitern. Dieser Blick auf den Begriff der »Behinderung« macht auch für den Krankheitshegriff noch einmal deutlich, daß ihm die suhjektive und soziale Dimension erst seine wesentlichen Konturen verleihen, die nicht in den naturwissenschaftlich greifbaren Parametern auf gehen und die ihn vom Behinderungshegriff ahhehen. Hält man sich nämlich an die Boorsesche Krankheitsinterpretation, dann sind es gerade die Ahweichung vom Bauplan (species design) und die daraus resultierenden Anpassungsschwierigkeiten an die Umwelthedingungen, die Behinderungen unter den Krankheitshegriff fallen lassen würden. Dahei hleiht aher ungeachtet, daß die Gesellschaft Be dingungen schaffen kann, die in der Lage sind, diese Prohleme teil weise oder ganz zu kompensieren. Auch hier zeigt sich die man gelnde Berücksichtigung der dem Menschen aufgegebenen Natur hei Boorse. Es wird hier ein deutlicher Unterschied zum Tier sichthar,236 wo nur die pathologische Ehene parallelisiert werden kann, nicht die Ehene der Evaluation. Das verkrüppelte und damit stark »hehinderte« Tier ist nicht mehr »fit« genug für die Ansprüche, die seine Umwelt an es stellt; es ist im Üherlehenskampf zum Tode ver urteilt.
235 Ehd.; vgl. hierzu auch J. Bone (1988); S. Burgalassi (1981). 236 Dagegen versucht Nordenfelt seine »vital goals theory of health« mit Tieren zu parallelisieren, denn auch sie könnten - in dem Grad wie sie je nach Höhe ihrer Entwick lung Intentionen hahen (vgl. Utilitarismus) - ihre »vital goals« realisieren, wenn auch der Zahl nach weniger; vgl. L. Nordenfelt (1987), 139-143.
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C. Praktischer Krankheitsbegriff und ärztliches Handeln
Die Rekonstruktion der Konstitutionsverhältnisse des Krankheits hegriffs auf dem Hintergrund einer als praktisch verstandenen Me dizin ist eine notwendige Voraussetzung dafür, die ethische Funktion dieses Begriffs im Rahmen von Medizin und ärztlichem Handeln zu untersuchen. Angesichts des Strukturwandels der Medizin, der his hin zur reinen Dienstleistung reicht und eine Ersetzung der Vertrau lichkeit durch pure Vertraglichkeit zur Folge hat, ist damit vorrangig zu prüfen, wie leistungsfähig sich hinsichtlich der medizinischen Ethik der Krankheitshegriff im Handlungsfeld innerhalb der Dyade von Arzt und Patient sowie im gesellschaftlichen Diskurs erweist.
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I.
Der praktische Charakter des Krankheitsbegriffs
Für die ärztliche Orientierung an den Zielen Diagnose, Therapie, Prävention und Palliation stellte der Krankheitshegriff in der langen Geschichte des ärztlichen Handelns hislang die entscheidende Klam mer dar. Deren Bedeutung hat sich jedoch - wie gezeigt - hesonders durch den Einfluß der seit der Neuzeit so erfolgreichen, von ihrem methodischen Ansatz her aher notwendigerweise reduktionistisch verfahrenden Naturwissenschaften auf die Medizin gewandelt. Denn unter naturwissenschaftlicher Betrachtung wird der Krankheits hegriff vielfach ausschließlich als eine theoretisch und »naturwissenschaftlich-ohjektiv« zu hetrachtende Größe verstanden, deren suhjektorientierter und praktischer Charakter verlorengegangen ist. Der in dieser Untersuchung erfolgte Blick auf die Konstitutionsver hältnisse des Krankheitshegriffs hat hingegen deutlich gemacht, wel che verschiedenen Elemente in den Krankheitshegriff eingehen und wie sie im einzelnen zu seinem praktischen Charakter beitragen. Es konnte gezeigt werden, daß »Kranksein« keineswegs mit dem iden tisch ist, was eine naturwissenschaftlich verfahrende Medizin »pa thologisch« nennt, sondern Kranksein wird üher das menschliche Suhjekt vermittelt als eine »Weise des Mensch-Seins«1 aufgefaßt. Der Kranke selhst ist am Pathologischen unmittelhar nur nachrangig oder gar nicht interessiert. Vielmehr ist Krankheit eine Größe, die für Patient, Arzt und Gesellschaft in unterschiedlicher Weise erleht und heurteilt wird. »Was krank im allgemeinen sei« - so Jaspers -, »das hängt weniger vom Urteil der Ärzte als vom Urteil der Patienten ah und von den herrschenden Auffassungen der jeweiligen Kultur kreise.«2 Krankheit ist ein körperlicher oder seelischer Zustand von vari ierender Relevanz, aus der der Wunsch nach Heilung entsteht. Wel 1 V. E. von Gehsattel (1953), 235, 237. 2 K. Jaspers (51965), 652.
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C. I. Der praktische Charakter des Krankheitsbegriffs
che Momente im einzelnen in den Krankheitshegriff einfließen, hängt in hohem Maße von der Position des Betrachters ah, sei es als Pathologe, Kliniker, Patient, Krankenversicherung oder Gesellschaft - eine Heterogenität, die K. E. Rothschuh treffend heschriehen hat: »Die Krankheit ist für den Kranken der Anlaß seiner suhjektiven Hilfshedürftigkeit. Die Krankheit ist für den Arzt eine hesondere Störung der Ordnung der physischen oder psychischen oder psycho physischen Lehensvorgänge. Die Krankheit ist für die Gesellschaft Anlaß öffentlicher, gesundheitspolitischer Maßnahmen. Der Kranke ist für den Arzt Ohjekt und Anlaß ärztlicher Hilfe. Der Kranke ist für die Gesellschaft Ohjekt und Anlaß sozialer Hilfe.«3 Eine univoke Ver wendungsweise des Krankheitshegriffs scheint offensichtlich nicht möglich zu sein.4 Hegemoniale Interpretationen von Krankheit hin gegen führen zu erhehlichen praktischen Prohlemen und machen den Arzt hei einer mechanistisch-naturalistischen Krankheitsinterpreta tion zum reparierenden »Mechaniker«5 und hei einem emphatischen Krankheitsverständnis, angelehnt an die Gesundheitsheschreihung der WHO, zu einer Art »Sozialpolizisten« - oder aher jeden Beruf zu einem »Heilheruf«.
1. Der Kranke als Behandlungsbedürftiger Hat es der Arzt nicht in erster Linie mit Krankheiten, sondern mit kranken Menschen zu tun, die an einer Krankheit leiden, dann ent steht zwischen Arzt und Patient ein Kommunikations- und Hand lungszusammenhang, der die praktische und normative Dimension des Krankheitshegriffs herausstellt. Der Arzt begegnet - wie K. E. Rothschuh es ausgedrückt hat - dem Menschen, »der wegen des Ver lustes des ahgestimmten Zusammenwirkens der physischen oder psychischen oder psycho-physischen Funktionsglieder des Organis mus suhjektiv (oder - und), klinisch (oder - und) sozial hilfshedürftig ist«,6 d.h. dem Kranken. Die Dimension der Hilfs- und damit Be3 K. E. Rothschuh (1972), 416; hereits in der Spätscholastik werden in den Krankheits hegriff die suhjektive Hilfshedürftigkeit des Patienten (aegritudo), die zu diagnostizie rende Störung (pathos), das Ohjekt der ärztlichen Hilfe (insanitas) und die soziale Hilfs hedürftigkeit (infirmitas) aufgenommen (vgl. H. Schipperges (31993); ders. (1990)). 4 Vgl. hierzu K. Sadegh-zadeh (1977). 5 Vgl. M. D. Bayles (1978). 6 K. E. Rothschuh (1972), 417; vgl. H. Plügge (1967), 123.
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1. Der Kranke als Behandlungsbedürftiger handlungsbedürftigkeit ist keineswegs nur eine Modifikation natur wissenschaftlich-empirischer Krankheitshestimmung, sondern gera de sie steht für den Kranken im Mittelpunkt, sie ist der Grund dafür, daß er den Arzt aufsucht: Der Kranke will, daß ihm geholfen wird. Unahhängig davon, wie die einer Krankheit zugrundeliegenden Verletzungen oder Dysfunktionen heschaffen sein mögen, was im mer ihre Ursachen sind, stets wird sich das Interesse des Kranken genauso wie das des Arztes in der menschlichen Lehenswelt auf die Frage konzentrieren, wie auf die Krankheit und auf ihren Verlauf Einfluß genommen werden kann, wie sie sich verhüten, heilen oder lindern läßt. »Der Krankheit und ihrer Stellung im humanen Zusam menlehen der Menschen« - so folgert Wieland - »wird man schwer lich gerecht werden können, wenn man die Behandlungsfähigkeit ehenso wie die Behandlungshedürftigkeit nicht schon in der Bestim mung ihres Begriffs herücksichtigt. [...] Einem ärztlich orientierten, die humane Dimension integrierenden Krankheitshegriff wird aus diesen Gründen stets der Status eines Handlungsbegriffs zukom men.«7 Es ist die Situation des Kranken, aus der die Pflichten des Arztes erwachsen. Nur in hezug auf den hetroffenen Menschen ist Krankheit im ärztlichen Sinne zu verstehen mit dem Ziel einer Ohjektivierung seines individuellen Zustands sowie seiner therapeuti schen Behandlung mit dem Ziel der Heilung oder Linderung.8 Der Mensch wird zum homo patiens, der mit dem Krankheitshegriff im mer auch die Hoffnung auf Heilung verhindet. »The most certain source of a humanistic ethics is the unique impact of illness (that is the impact of heing ill on the humanity of the person) hecause it is a source which gives meaning to the whole of the physician's activities.«9 Der gesunde Mensch ist in seiner Welt Zuhause; er ist verhunden mit den ihm vertrauten Menschen und grundsätzlich in der Lage, seinen Körper und seine Handlungen selhst zu steuern, ohne daß ihm dies jederzeit notwendig hewußt wäre. Hingegen henötigt der kranke Mensch Hilfe, die ihn zurückhringt in Welt und Gesellschaft. Derje nige, der leidet, weiß jedoch in der Regel nicht, wie genau die Hilfe, der er hedarf, auszusehen hat. Dem Kranken selhst fehlt es an Kön-
7 W. Wieland (1995), 72. 8 Vgl. E. Müller (1969), 89-91; vgl. auch ders. (1965); H. Fahrega (1972), 511. 9 E. D. Pellegrino (1979), 123 (Hervorhehung im Original); vgl. hierzu auch ders. (1982).
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C. I. Der praktische Charakter des Krankheitsbegriffs
nen und Wissen, sich zu heilen. Er ist auf professionelle Hilfe ange wiesen. Diese wird noch akuter, wenn er nicht mehr um Hilfe schrei en kann wie im Koma, unter Schock oder in traumatischen oder ver gleichbaren Zuständen. Trotz unseres heutigen Wissens und der Vielzahl von Möglichkeiten, die der modernen Medizin zur Verfü gung stehen, sind viele Patienten unzufrieden mit den Ärzten. Eine Erklärung für diese Unzufriedenheit - so E. J. Cassell - liege wohl darin, daß die medizinischen Wissenschaften dazu neigen würden, »Krankheiten« primär im naturwissenschaftlichen Sinne zu erfassen, aber es ihnen nicht gelinge, den kranken Menschen zurück in die Gesellschaft zu führen:10 »The answers [of medical science] are for disease, and disease is but one part of illness.«11 Gerade die Erfolge der naturwissenschaftlich orientierten Medizin lassen manchen Arzt seine Rolle nur noch als Behandelnder einer Krankheit verstehen und seine Rolle als Heilender eines Kranken vergessen.12 Hierdurch entsteht ein Graben zwischen Behandelndem und Behandlungs bedürftigem.
2. Evaluation des Patienten und ärztliche Praxis Im Umgang mit seiner Natur ist es dem Menschen eigen, sich nicht mit dem Verlauf eines Krankheitsprozesses abzufinden, sondern in diesen Prozeß gezielt eingreifen zu wollen, wenn es nicht oder nicht mehr möglich ist, diesen zu verhindern. Den planmäßigen, auf Ein griffe zielenden und von Normen regulierten Umgang mit der Krankheit schätzt W. Wieland als eine »der bedeutendsten Errungen schaften einer jeden Zivilisation«13 ein. Nur unter ihren Bedingun gen gebe es für den Menschen ein Leben auch im Hinblick auf Krank heit und sogar in und mit der Krankheit.14 In dieses Feld tritt die Gestalt des Arztes als ein Akteur, der als Fachmann dem Kranken in seiner Natürlichkeit und Personalität gegenübertritt. Die Begegnung zwischen Arzt und Krankem ist das Fundament des ärztlichen Han delns und jener Kontext, in dem sich ein praktischer Krankheits
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Vgl. E. J. Cassell (1976), 36-37. Ebd., 37. Vgl. ebd., 28. Vgl. W. Wieland (1995), 71. Vgl. ebd.
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2. Evaluation des Patienten und ärztliche Praxis
begriff entwickeln kann. Ein am individuellen Patienten orientierter Krankheitsbegriff macht erforderlich, daß der Arzt die persönliche Verantwortung für den Kranken übernimmt und in ein personales Verhältnis tritt, in dem der Arzt die Gegenstandsebene des zu unter suchenden Körpers übersteigt und den ganzen Menschen in den Blick nimmt. Krankheit ist im Ausgang der persönlichen Krise - so J.-F. Mal herbe - »ein Phänomen, das nur im Zusammenhang der besonderen, auch als geschichtlich zu bestimmenden Beziehung zwischen dem Behandelten und dem Behandelnden erhellt werden kann«.15 Der Kontext dieser »Praxis« (gr. npä^tc; = Handeln) macht den Krank heitsbegriff zu einem praktischen Begriff. Ein solcher ist er genau dann, wenn er aus eben dieser Relation von Patient und Arzt gewon nen ist, und zwar als ein Begriff, an dem sich sowohl das Handeln des Arztes wie das des Patienten orientiert. Fragt man von der Arzt-Patient-Relation und dem Handlungskontext der Beteiligten aus nach dem, was sie unter Krankheit verstehen, dann bezeichnet »Krank heit« einen Zustand, den der betreffende Patient als Störung seines Wohlbefindens empfindet, und zwar als eine solche, die ihn ver anlaßt, beim Arzt um Hilfe und Heilung oder zumindest um Schmerzlinderung nachzusuchen.16 Der Krankheitsbegriff bestimmt also sowohl die Bewertung des subjektiven Zustandes durch den Pa tienten wie durch den Arzt: er steuert die Erwartungen des Patienten, reguliert das ärztliche Handeln und formuliert somit die normative Vorstellung, die die Anerkennung der Hilfsbedürftigkeit des Patien ten und die vom Patienten ausgehende Aufforderung zum ärztlichen Handeln bestimmen. Es kann kaum daran gezweifelt werden, daß in die Bestimmun gen eines Zustands als Krankheit viele auf die Funktionalität des Or ganismus bezogene, empirisch erhebbare, deskriptiv konstatierbare Parameter eingehend7 Doch darf Krankheit selbst nicht als empiri scher oder gar naturwissenschaftlicher Befund mißverstanden wer den. In den Prozeß, subjektive Hilfsbedürftigkeit als Krankheit zu bestimmen, gehen mannigfache individuelle, soziale und kulturelle Faktoren ein. Zu solchen Faktoren gehört u. a. auch die Auseinander setzungen darüber, welche Zustände von den Krankenversicherun15 J.-F. Malherbe (1990), 90. 16 Vgl. hierzu auch K. E. Rothschuh (1972); E. Seidler (1996); ders. (1977). 17 Vgl. hierzu Kap. B I 2 c.
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gen als Krankheiten anerkannt werden. Aber auch diese Verwen dungsweise des Krankheitshegriffs stützt sich auf eine bestimmte Perspektive, die sich an sozialer Gerechtigkeit und Finanzierbarkeit orientiert, die aber selbst wiederum ein grundsätzliches Verständnis von Krankheit im Blick auf den betroffenen Kranken bereits voraus setzt.18 Offenbar gibt die auf den genannten Faktoren gründende Interpretabilität dem Krankheitsbegriff seine spezifische Unschärfe, aber auch seine praktische Leistungsfähigkeit. Damit wird Krankheit zu einem Interpretandum mit einem Bündel von Prämissen, von de nen nur ein Teil naturwissenschaftlich erhebbar ist und ein anderer Teil in der praktischen Beziehung von Arzt und Patient unter den Bedingungen des betreffenden soziokulturellen Umfeldes sich ent wickelt.19 Diesem praktischen Verständnis von Krankheit kommt auch die Untersuchung The Nature of Disease von L. Reznek nahe. Er kommt zu folgender Definition: »A ist in einer pathologischen Verfassung C dann und nur dann, wenn C eine abnorme körperliche oder mentale Verfassung ist, die ein medizinisches Eingreifen erfordert und die einem durchschnittlichen Mitglied der Art A unter Standardbedin gungen schadet«.20 Dieser Krankheitsbegriff ist ebenfalls funktionalistisch und eng an einer Durchschnittsnorm formuliert, doch er im pliziert im Unterschied zur Definition von Boorse zusätzlich die Momente des soziokulturellen Umfelds sowie der Arzt-Patient-Relation und ihrer Interaktion. Krankheit kann dann als eine normative Größe in bezug auf die Hilfsbedürftigkeit des Patienten verstanden werden, die spezielle Formen von Hilfsbemühungen in Gang setzt und legitimiert.21 Krankheitsbegriff und Medizin sind im Hand lungszusammenhang des ärztlichen Tuns aufeinander verwiesen. Denn Medizin und ärztliches Handeln beschäftigen sich mit der Sor ge (care) und der Behandlung (cure) von Kranken und sind in dieser 18 Die Entscheidung einer Krankenversicherung, die Finanzierung einer Behandlung zu übernehmen, kann aber nicht mit der Identifikation einer Krankheit gleich gesetzt wer den. 19 Vgl. L. Honnefelder (1992d), 112-113. Die Entscheidung der American Medical As sociation, Alkoholismus als eine ernst zu nehmende Erkrankung anzusehen, hat dazu geführt, daß die Betroffenen nicht mehr ins Gefängnis, sondern zum Arzt geführt wer den; an die Stelle von Strafe rückte damit medizinische Hilfe. 20 Es muß hier angemerkt werden, daß der Begriff »pathologische Verfassung« den Krankheitsbegriff mit einschließt. L. Reznek (1987), 163-164 (Übersetzung vom Ver fasser). 21 Vgl. hierzu auch H. H. Figge (1991), 113-114.
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Weise gesellschaftlich institutionalisiert.22 Mit dem praktischen Krankheitshegriff sind daher die Rechte und Pflichten von Arzt und Patient verhunden. Denn Krankheiten hezeichnen Zustände, auf grund derer wir einen Arzt aufsuchen, und nicht etwa einen Rechts anwalt, Architekten oder einen Exorzisten.23 Einen Zustand als Krankheit zu hewerten heißt, daß eine Person in diesem Zustand in den Bedingungen, ein gelingendes Lehen zu führen, in unterschiedlicher Intensität eingeschränkt ist. Damit können diese Zustände vom Betreffenden in unterschiedlichen soziokulturellen Zusammenhängen durchaus unterschiedlich hewertet werden. Dies führt aher noch keineswegs zu einem Relativismus, der uns verhieten würde z. B. jene Länder zu verurteilen, die politi sche Dissidenten als psychisch Kranke24 hewerten und hehandeln. Denn hier wird das individuelle dem kollektiven Urteil geopfert. Wir können Krankheitszustände nicht einfach in der Natur entdekken, sondern sind aufgefordert eine Grenze zwischen dem natürlich individuell Normalen und den Krankheitszuständen zu ziehen. Dahei kann unsere Krankheitsklassifikation durchaus richtig oder falsch sein. Denn die Nosologie spiegelt einige Unterscheidungen wieder, die aher der Praxis der Medizin entsprechen. Wenn eine solche No sologie vorliegt, dann kann auch gezeigt werden, oh der individuelle Krankheitszustand unter einen entsprechenden Begriff fällt oder nicht. Damit wird in diesem Sinne eine Krankheitsidentität »ent deckt« und nicht einfach »erfunden« - freilich nur im Rahmen der heschriehenen semantischen Voraussetzungen.25 Die mit dem Krankheitshegriff verhundene Normativität hesteht offenhar darin, daß dann, und nur dann, wenn ein Krankheits zustand als ein solcher hewertet wird, gleichzeitig entschieden ist, eine medizinische Behandlung einleiten zu wollen; freilich stößt man hier an Grenzen des Wissens und der praktischen Umsetzung.26 So versteht auch H. T. Engelhardt den Krankheitshegriff als einen pragmatischen Begriff mit hewertenden und erklärenden Momenten,
22 »... medicine is primarily an art and dependently, a science: it is primarily an institutionalized service concerned with the care and cure of the ill and the control of disease ...«; J. Margolis (1976), 564; vgl. auch D. Calllahan (1990). 23 Vgl. H. T. Engelhardt (1982), 142. 24 Vgl. zur Behandlung von politischen Dissidenten in der Sowjetunion als psychisch Kranke S. Bloch (1981); vgl. hierzu auch H. Dilling (21997), 188. 25 Vgl. Kap. B 11. 26 Vgl. L. Reznek (1987), 208-213.
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um ein bestimmtes Phänomen zu analysieren mit dem Zweck der Diagnose, Prognose und Therapie. Dabei gebe es viele Krankheiten, aber nur eine Gesundheit. Die Gesundheit erscheint als ein regulati ves Ideal, das den Arzt auf den an einer Krankheit leidenden Patien ten als Person richtet, und es ist der Grund für alle in diesem Kontext notwendigen Überlegungen und Handlungen.27 Versteht man den Krankheitsbegriff als einen solchen Handlungsbegriff, der ein Sollen ausdrückt, dann kann er nicht aus der Natur einfach abgelesen wer den; denn aus dem Sein kann kein Sollen abgeleitet werden, auch dann nicht, wenn man es noch so gründlich analysiert.28 Dies bedeu tet jedoch nicht, daß ein Rekurs auf die Natur im Blick auf den Krankheitsbegriff nicht möglich wäre. Im Gegenteil ist dieser Rekurs - wie gezeigt29 - unverzichtbar. Doch erfolgt dieser Naturbezug nicht in gleicher Weise wie innerhalb der Naturwissenschaften. Vielmehr verhält sich der Mensch zu seiner Natur wertend. Indem im Arzt Patient-Verhältnis mit dem praktischen Krankheitsbegriff in Form von Formulierungen wie »Zuträglichkeiten« und »Abträglichkeiten« Natürlichkeitsannahmen rekonstruiert werden, entfaltet sich der normative Charakter dieses Krankheitsbegriffs für das ärztliche Han deln. Unter den Bedingungen unserer Lebenswirklichkeit betrachten wir eine Krankheit niemals nur als ein Phänomen des natürlichen Lebens. Vielmehr begreifen wir die Krankheit immer als einen Zu stand, der nicht sein soll, mithin als einen Zustand, der ein gezieltes Eingreifen nicht lediglich ermöglicht oder erlaubt, sondern geradezu erfordert. Wo immer man von Krankheit spricht, erhebt man zumin dest implizit den Anspruch, ein derartiges ärztliches Eingreifen auch legitimieren zu können, und umgekehrt, wenn ein Handeln nicht mit dem Krankheitsbegriff verbunden ist, dieses abzulehnen. Damit er gibt sich ein rechtfertigendes Moment sowohl für bestimmte Formen von Handlungen wie auch von Unterlassungen. »Nur ein ärztlich orientierter, normativ-praktischer Krankheitsbegriff« - so Wieland - »kann den Valenzen gerecht werden, die der Krankheit in einer Zivilisation zuwachsen, die für den Umgang mit ihr Institutionen unterhält und Ressourcen bereitstellt. Ein ausschließlich an der Natürlichkeit der einschlägigen Lebensprozesse orientierter Krank
27 Vgl. H. T. Engelhardt (1975), 42-43. 28 Vgl. Kap. BI 3. 29 Vgl. Kap. BI.
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heitsbegriff ließe sich dagegen ohne Mühe auch mit einer Einstellung vereinbaren, aufgrund derer ein Kranker sich selbst in derselben Weise überlassen wird, wie in der außermenschlichen Natur kranke Lebewesen ihrem Schicksal überlassen bleiben.«30 Diese Handlungsorientiertheit des Krankheitsbegriffs fügt sich in den Charakter ein, den Medizin als praktischer Wissenschaft hat, wenn in ihr nicht theoretisch manifestierte Sätze oder Satzsysteme im Mittelpunkt stehen, sondern eine zu einem Urteil gewordene Erkenntnis, die in eine am individuellen Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt vor genommene zielorientierte Handlung umgesetzt wird.31
3. Kommunikation mit zwei Sprachen In der Arzt-Patient-Beziehung ist es nicht der Arzt,32 der in erster Linie urteilt, ob jemand krank ist oder nicht. Vielmehr steht zunächst das Urteil des Patienten, der den Arzt um Hilfe aufsucht, im Mittel punkt. Die Wahrnehmung der Krankheit durch den Kranken ver bleibt nicht auf der sensorischen Ebene, sondern sie wird reflektiert. Der als »Krankheit« bezeichnete Zustand wird bewertet, in dem der Kranke ihm Bedeutung verleiht und ihn in den eigenen Lebensent wurf einordnet.33 Diese individuelle Evaluation ist aber auf der ersten Ebene der Reflexion begrenzt, weil dem Kranken in der Regel jenes entscheidende Vorwissen fehlt, das in eine Bewertung mit eingehen sollte, nämlich das medizinische Fachwissen. Schon hier ist der Kran ke oftmals auf ärztliche Hilfe angewiesen, wenn er seinen Zustand besser verstehen will. Auf dem Hintergrund eines Gesprächs in Form einer Anamnese, in der der Kranke zum Patienten wird, wird der Arzt als Fachmann bemüht sein, eine erklärende Deskription des Zu stands geben zu können, in dem sich sein Gegenüber befindet. In einer gemeinsamen Leistung von Arzt und Patient kann dann eine erneute Evaluation der Krankheit erfolgen, die dann eine Basis für präventive, therapeutische oder palliative Handlungen liefert.34 Der Arzt hilft das Urteil des Patienten, seine Selbsteinschätzung zu ob
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W. Wieland (1995), 73. Vgl. Kap. AI. Vgl. hingegen I. Kennedy (1988), 21-22. Vgl. Kap. B III. Vgl. R. H. Adler/W. Hemmeler (1986).
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jektivieren,35 indem das Krankheitserleben in Beziehung gesetzt wird zu pathologischen Befunden, Lahorwerten usf. Hieraus entstehen subsidiäre Prozesse zum persönlichen Krankheitserlehen. Die Re duktion der Person und seine Transformation in einen Set von dia gnostischen Fähigkeiten kann durchaus als ein notwendiger und wünschenswerter Prozeß angesehen werden, der jenes genaue Den ken und jene strenge Untersuchung ermöglicht, die eine medizi nische Beurteilung konstituieren.36 Das subjektive Empfinden wird durch die Erhebung empirischer Daten im Arzt-Patient-Verhältnis auf einer weiteren Stufe evaluiert. Damit wird der Krankheitshegriff für zukünftige ärztliche Handlungen in eine operable Größe trans formiert. Häufig geschieht aber in der Praxis das Gegenteil: die sub jektive Erfahrung ist nur noch der Anlaß für ein Urteil; als »Tatsa che« - und in diesem Sinne als Krankheit - wird nur noch der pathologische oder pathoanatomische Befund anerkannt, doch ist der Befund, der pathologische Zustand oder die biologische Funk tionsstörung gerade nicht identisch mit der Krankheit.37 Bereits in hippokratischer Zeit zeigt sich ein erhebliches Kom munikationsdefizit zwischen Arzt und Patient, weil sich die »hippo kratischen Ärzte« von der populären Medizin der Zeit distanzieren wollten und der Erfolg ihrer Methode in der objektiven Beobachtung und Beschreibung lag, die aber nicht immer vom Patienten verstan den werden konnte.38 Diese kommunikativen Schwierigkeiten zwi schen Arzt und Patient lassen sich in unterschiedlichen Variationen durch alle Epochen der Medizingeschichte verfolgen.39 Sie sind zurückzuführen auf eine Inkommensurabilität zwischen der lebens weltlichen Sprache des Patienten und der medizinischen Fachsprache des Arztes, die zunächst nur in diesem Subsystem verstanden werden kann. Aber je länger der Kommunikationsprozeß zwischen Arzt und Patient dauert, desto mehr wird auch der Patient bereit sein, seine Krankheit mit Hilfe medizinischer Terminologie zu deuten. Die not wendige, an den Stand der medizinischen Wissenschaften gebunde ne, Interpretation des pathologischen Befundes seitens des Arztes muß in die lebensweltliche Interpretation der vom Patienten emp
35 36 37 38 39
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Vgl. L. S. King (1954), 110. Vgl. H. Fabrega (1972), 510. Vgl. S. K. Toombs (1992), 39-42. Vgl. E. J. Cassell (1976), 29. Vgl. E. Lang/K. Arnold (1996).
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fundenen Störung überführt werden, um die Krankheit des Patienten als seine Krankheit zu verstehen. Das Gespräch im Behandlungszim mer - so Gadamer - trägt die Humanisierung der Beziehung zwi schen zwei »fundamental Ungleichen«40. Der Patient ist auf eine fachmännische Interpretation der empirisch erhebbaren Befunde an gewiesen. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient muß dem Patienten ermöglichen, seinen Krankheitszustand besser zu verste hen. Der Patient verlangt damit aber in erster Linie nicht nach einer wissenschaftlichen Erklärung physischer Symptome, sondern er möchte seine persönliche Situation verstehen, die sein Kranksein ausmacht. Der Kommunikationsprozeß drückt die Bedeutung der Krankheit im Kontext der spezifischen biographischen Situation des Patienten aus.41 In diesem Sinne begreift A. Mitscherlich Krankheit auch als »Mitteilung«42. Da der Patient in diesen Situationen mit einem Subsystem kon frontiert wird, an dessen Sprache und Regeln er nicht gewöhnt ist, kann dies zu erheblichen Mißverständnissen und Konflikten führen. Der Patient erwartet, seine Magenschmerzen behandelt zu bekom men, erhält aber Auskünfte über pH-Werte, Ulcus und Helicobacter pylori. Der konsensfähige Wunsch auf Zustimmung nach Aufklä rung (informed consent) bleibt aber solange ein Lippenbekenntnis, bis die Sprachen der betroffenen Subsysteme gegenseitig verstanden werden. Im Arzt-Patient-Verhältnis ist es die Verfallenheit in die Alltagsroutine, die zwar in einer arbeitsteilig organisierten Medizin unvermeidbar ist, aber dazu führt, den individuellen Patienten - wie E. May sich auf dem Hintergrund existenzphilosophischen Denkens ausdrückt - nicht mehr in seiner Eigentlichkeit wahrzunehmen, da er in der Betriebsamkeit des Alltäglichen untergeht.43 Der Arzt ist der Versuchung erlegen, »Autorität spielen zu wollen, nicht nur wegen seiner echten Überlegenheit an wissenschaftlicher Erkenntnis und ärztlicher Erfahrung, sondern gerade auch von dem Verlangen des Patienten gedrängt. Psychiater und Psychoanalytiker kennen die Versuchung, dem Patienten nicht wirkliche Selbstbefreiung durch Einsicht zu vermitteln, sondern ihm die eigene Einsicht, die ver meintlich eigene Einsicht, zu suggerieren. Sie repräsentieren damit
40 41 42 43
H.-G. Gadamer (1993), 144. Vgl. S. K. Toombs (1992), 110-111. Vgl. A. Mitscherlich (1966), 127. Vgl. E. May (1956), 106-107.
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nur einen Sonderfall innerhalb der allgemeinen Situation des Men schen, der versucht ist, die Autorität, die er hat, zu mißbrauchen.«44 Daher müsse - so Gadamer - ärztliche Autorität durch die kritische Freiheit des Patienten ausgeglichen werden.45 Im Kontext moderner naturwissenschaftlich orientierter Medi zin, die oftmals dazu neigt, einen pathologischen Zustand mit Krank heit gleichzusetzen, kommt es vor, daß der Arzt dem hilfesuchenden Kranken, bei dem sich kein pathologischer Befund feststellen läßt, mitteilt, er habe nicht »wirklich« eine Krankheit, es sei nur eine Ein bildung. Da die Bewertung des eigenen Zustands seitens des Patien ten dem empirischen Befund widerspricht, impliziert dies für den Arzt, Leiden und Sorge des Patienten seien nicht legitim, er sei ein Simulant.46 Mit der Simulation wird aber eine bestimmte Intention des Patienten unterstellt, nämlich bewußt die mit dem Krankheits begriff verbundene Sorge seitens des Arztes oder die entlastende Funktion der Krankenrolle in einem sozialen Kontext für andere Zwecke ausnutzen zu wollen. Freilich kann der »Patient« bewußt täuschen, aber die Spannungen zwischen medizinischem Befund und persönlichem Erleben, zwischen der ärztlichen Sprache und der des Patienten sind keineswegs ein hinreichendes Indiz dafür, daß eine Simulation seitens des Patienten vorliegt. Vielmehr kann die Erklä rung für eine vermeintliche Simulation in diesen fundamentalen sprachlichen Mißverständnissen zu suchen sein. Für eine funktionierende Kommunikation zwischen Arzt und Patient sind nach E. May die Tugenden des Patienten ebenso ein zufordern wie die des Arztes. Denn ohne den Willen zur Genesung nützen die Anstrengungen des Arztes wenig.47 So wird auch der praktische Krankheitsbegriff in dieser Kommunikation zwischen Arzt und Patient entwickelt. Der Patient ist selbst wesentlich an der Diagnose beteiligt. »Trotz aller Objektivierungsversuche ist Diagno se weitgehend auch das Resultat von Kommunikationsprozessen; und zwar auf den Ebenen verbalen Austauschs, nonverbalen Ver haltens und schließlich auch tatsächlicher Symptome.«48 Auch die Krankheitsbestimmung und die Therapie sind Ergebnis einer Inter
44 45 46 47 48
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H.-G. Gadamer (1993), 157. Vgl. ebd., 157-158. Vgl. S. K. Toombs (1992), 45-46. Vgl. E. May (1956), 1112; s. auch Kap. B II1. H. H. Figge (1991), 117.
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4. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient
aktion zwischen Patient und Arzt. Insofern der Patient ein entspre chendes Maß an Selhsthestimmtheit aufweist - dies kann hei Kran ken stark eingeschränkt sein - gehört es wesentlich zu diesem Kom munikationsprozeß, »daß sich Therapeut und Patient darüher einig sind, daß (eine hestimmte) Krankheit vorliegt und daß die dazu pas sende Therapie erfolgversprechend ist.«49 Im Dialog zeigen sich ge genseitige Verantwortlichkeit und Solidarität.50 Das Handeln mit dem Anderen und an dem Anderen heginnt dann nicht erst mit dem physischen Akt, sondern hereits mit der Sprache in einer »face-toface« relationship51. Dazu gehört nicht nur der vertrauliche Umgang mit allen erhohenen Daten und die Schweigepflicht des Arztes, son dern ein grundsätzliches Vertrauen, das aher nur dann vorausgesetzt werden kann, wenn ärztliches Handeln sich an wohldefinierten Zie len orientiert.
4. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient Der Bundesgerichtshof stellte 1958 fest, »daß das Verhältnis zwi schen Arzt und Patient ein starkes Vertrauen voraussetzt, daß es in starkem Maße in der menschlichen Beziehung wurzelt, in die der Arzt zu dem Kranken tritt, und daß es daher weit mehr als eine juri stische Vertragsheziehung ist«52. Dieses Vertrauensverhältnis ver steht V. E. von Gehsattel als eine dreistufige Relation: Der Arzt tritt dem Patienten gegenüher auf einer Stufe der Unmittelharkeit als »Mitmensch«, der auf einen Hilferuf reagiert, auf einer Entfrem dungsstufe als »technischer Vollstrecker«, der eine wissenschaftlich und technisch geschulte Hilfsaktion durchführt, und auf einer per sonalen Stufe als »personaler Partner«, der mit dem Patienten in eine partnerschaftliche Kommunikation tritt. Innerhalh der letzten Stufe steigt die mitmenschliche Verhundenheit von Helfer und Hilfshedürftigem, die jedoch oftmals durch die Technizismen der Hilfs aktion verdeckt ist, zu einem »Partnerverhältnis« von Personen auf.53 49 Ehd., 118. 50 Vgl. hierzu auch J.-F Malherhe (1990), 39. 51 Vgl. S. K. Toomhs (1992), 110-118. 52 Zitiert nach A. Laufs (1995), 15. 53 Mit der Analyse sieht von Gehsattel in diesen Stufen ein dialektisches Verhältnis: Unmittelharkeitsstufe als Thesis, die Entfremdungsstufe als Antithesis, die durch die personale Stufe als Synthesis »aufgehohen« werden. Auf allen Stufen ist eine Form des
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C. I. Der praktische Charakter des Krankheitsbegriffs
Das Antworten auf die Hilfsbedürftigkeit des Kranken setzt aber den Arzt als Fachmann mit spezifischem Wissen54 voraus, denn die Hilfe muß eine sachkundige Hilfe sein. Wie einem Ertrinkenden nur von einem geübten Rettungsschwimmer geholfen werden kann - so das Bild von Gebsattels -, so kann dem Kranken nur durch den Arzt geholfen werden. Denn ohne die Fachkunde können auch noch so gute Vorsätze nicht fruchten.55 Die Ethik der Handlung und die Kenntnis der Sache bilden im ärztlichen Urteilen und Handeln eine Einheit. Das Bekenntnis zur Zielsetzung des Handelns, indem die Sachkenntnis Verwendung findet, kann dann nur in Form eines ärzt lichen Ethos unterstellt werden. Dort, wo das Leiden als pathologi sches Phänomen in den Vordergrund rückt, »tritt die Individualität des Leidens und des Leidenden in den Hintergrund. Gerade dieser Fall unterliegt der Gefahr der Entartung, wo in der Leidenschaft des Könnens und dem gesteigerten Interesse an den Belangen der medi zinischen Wissenschaft, ja womöglich aus persönlichen Vorteils erwägungen, die Kriterien und das Gefühl für die Tunlichkeit des medizinischen Handelns verblassen.«56 Als Vertrauter und Berater kann jedoch der Arzt in Kenntnis der Werte, die der Patient schätzt, diesem verhelfen, mit der Krankheit umzugehen oder den Heilungs prozeß zu erleichtern. Auch im terminalen Stadium des Krankseins kann der Arzt bemüht sein, die Integrität der Person ihres Lebens entwurfs entsprechend zu schützen. Damit ist der Arzt weit mehr als technischer Vollstrecker naturwissenschaftlicher Kenntnisse. Der Kranke muß darauf vertrauen können, daß für den Arzt im Zentrum dieses Kommunikations- und Handlungsfelds die Ausein andersetzung mit dem kranken Menschen und seinem subjektiven Krankheitserleben steht und nicht ausschließlich die wissenschaft liche Auseinandersetzung mit einer Krankheit. Klassifizierungen57 verhüllen das Wesentliche der Krankheit, das Krankheitserleben des Patienten. Sie rücken die Krankheit, statt den Kranken in den Mittel punkt des Arzt-Patient-Verhältnisses. Dem aber muß der Arzt als Behandelnder widerstehen können: »The practitioner who resists the temptation to rely on reductionist >medicalese< or on metaphors Scheiterns möglich: auf der ersten Täuschung, auf der zweiten Irrtum und auf der drit ten Schuld. Vgl. V. E. von Gebsattel (1953), 246-255. 54 Vgl. Kap. AII. 55 Vgl. V. E. von Gebsattel (1953), 248. 56 M. N. Magin (1981), 30. 57 Vgl. Kap. BI 1.
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4. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient
foreign to the needs of the patient can support the ill person's own healing narrative. [...] The Suggestion that illness can be a grace is not a license to grow callous to the suffering it involves. [...] But the patient and practitioner alike can remain open to the healing gifts that illness itself may bring.«58 Der Arzt muß zuhören können und den Patienten in verständlichen Worten über seinen Zustand auf klären und ihn ermutigen, eine aktive Rolle in der Entscheidungs findung und der Behandlung spielen. Auf diese Weise gelangt der Patient zu einem gewissen Maß an Wissen und Kontrolle über sei nen, ihm aber entfremdeten Körper. In diesem kommunikativen Handlungsprozeß formuliert der Krankheitsbegriff als praktischer Begriff zugleich einen Anspruch wie eine Grenze, wodurch kein vollständiges, aber ein konstitutives Element der Legitimation wie der Grenzziehung ärztlichen Handelns gegeben ist. Als solcher wirkt er stabilisierend für das Vertrauensver hältnis, das in einer Arzt-Patient-Beziehung vorausgesetzt werden muß. Wenn auch von einigen Autoren die Meinung vertreten wird, Gesundheit sei der relevante praktische Begriff,59 so scheint doch der Krankheitsbegriff gegenüber dem Gesundheitsbegriff einen prakti schen Primat zu haben, weil er sich einfacher operationalisieren läßt, denn die Hilfsbedürftigkeit des Kranken ist konkreter als das virtu elle Ideal des Gesunden, das zudem mißbrauchsanfälliger ist. Wir bemerken die Gesundheit erst dann, wenn wir erkrankt sind; bis da hin bleibt sie uns verborgen60. Sie zeigt sich nicht als solches bei der Untersuchung, sondern sie ist »etwas, das gerade dadurch ist, daß es sich entzieht.«61 Wir sind uns ihrer nicht ständig bewußt, und sie begleitet uns nicht besorgt wie Krankheit. Erst durch die Krankheit erkennen wir die Gesundheit als Gesundheit.62 Aber auch die Unter scheidung zwischen Krankheit und Gesundheit ist keine theoretisch deskriptive, sondern eine praktisch normative, »zu der keiner einge laden ist, außer dem, der selber in der Lage des Sich-krank-Fühlens ist oder der mit der Besorgung seines Lebens nicht mehr fertig wer den kann und deswegen schließlich zum Arzt geht.«63
58 59 60 61 62 63
D. Leder (1995), 1111. Vgl. z.B. L. R. Kass (1975); P. Aggleton, (1986); L. Nordenfelt (1987). Vgl. H.-G. Gadamer (1993), 138. Ebd., 126. Vgl. C. F. von Weizsäcker (1971), 322. H.-G. Gadamer (1993), 200.
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II. Die ethische Funktion des Krankheitsbegriffs
Eingriffe in die personale Integrität von Leib und Leben verletzen die fundamentalen Persönlichkeitsrechte eines jeden und werden welt weit strafrechtlich verfolgt. Medizin und ärztliches Handeln nehmen ständig derartige Eingriffe vor. Diese sind nur deshalb ethisch wie rechtlich legitimiert, weil es sich um Eingriffe handelt, die sich an allgemein akzeptierten Zielen des ärztlichen Handelns orientieren und denen der Betroffene nach Aufklärung über die näheren Um stände des Eingriffs zugestimmt hat (informed consent). Galt die Orientierung am Krankheitsbegriff - umschrieben durch die Tätig keiten Diagnose, Therapie, Prävention und Palliation - lange Zeit für die Medizin als unwidersprochen, ist sie nun durch den skizzierten Strukturwandel innerhalb der Medizin und die Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten nicht mehr selbstverständlich. Neue nor mative Begriffe, die ärztliches Handeln regulieren könnten, werden diskutiert. Eine Orientierung an einer Normalität ohne Bezug zum Krankheitsbegriff ist aber kaum möglich, denn Variabilität und Poly morphie sind genotypisch wie phänotypisch das »Normale«. Norma lität läßt sich - auch im Blick auf Konstitutionstypen - nur über den negativen Krankheitsbegriff als eine »individuelle Normalität« auf fassen, die auch den Menschen mit einer oder drei Nieren gesund sein läßt und einen Eingriff aufgrund einer Normabweichung nicht aus sich heraus rechtfertigt. Wird hingegen Lebensqualität zum al leinigen Kriterium für das ärztliche Handeln, dann öffnet sich die Medizin für beliebige Verbesserungen der menschlichen Natur. Langfristig könnte beispielsweise mit gentechnischen Interventio nen nicht nur die Heilung genetisch verursachter Krankheiten beab sichtigt, d. h. therapeutische Ziele, sondern auch andere Zwecke1 ver
1 Boorse unterscheidet zwischen dem Kernbereich medizinischer Praxis (therapeutic) und den Rändern derselben (nontherapeutic). Die nicht-therapeutische Medizin hält er nicht für notwendigerweise illegitim, aber durchaus für kontroverser als den Kern bereich medizinischer Praxis; vgl. C. Boorse (1997), 13.
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1. Ärztliche Indikation und Patientenwille
folgt werden. Bei der Anwendung der Gentechnik am Menschen werden die Veränderung der Körpergröße, die Steigerung von In telligenz2 oder anderer sogenannter »Normaleigenschaften« oder »Normalzustände« ohne Bezug zu Krankheit oder Gesundheit als mögliche Handlungsoptionen diskutiert.3 Soll sich ärztliches Han deln jedoch auch weiterhin an deutlichen Zielvorgahen orientieren, dann kommt dem Krankheitshegriff eine unverzichthare Rolle als Regulativ zu.
1. Ärztliche Indikation und Patientenwille Ein praktischer Krankheitshegriff als rechtfertigende Größe im ärzt lichen Handeln verhindet zwei zentrale Prinzipien medizinischer Ethik: die Orientierung am Patientenwillen und die Befolgung defi nierter Zielsetzungen ärztlichen Handelns. Jedes dieser heiden Prin zipien ist notwendig, keines von heiden aher für sich hinreichend. Erst wenn zum Willen des Patienten eine von den umrissenen Ziel setzungen des ärztlichen Handelns geforderte Indikation tritt, kann der Eingriff in die physische Integrität einer anderen Person legiti miert werden. Ohne Zweifel und unverzichthar gehört zur Zielset zung ärztlichen Handelns der Bezug auf die zu diagnostizierende, zu therapierende oder vorzuheugende Krankheit. Aus der Analyse der Konstitutionsverhältnisse des Krankheitshegriffs werden heide we sentlichen Momente deutlich: Der subjektiv-evaluative Charakter des Krankheitshegriffs unterstreicht die zentrale Stellung des Patien ten; der Arzt tritt als derjenige Akteur hinzu, der durch seine medizi nischen Kenntnisse üher die menschliche Natur als Fachmann den Krankheitshegriff objektiviert und in Kommunikation und Handeln medizinisches Wissen zum erkrankten Suhjekt und dessen Evalua tion zurückführt. Versteht man das ärztliche Wissen als ein genuin heilkundliches und nicht als naturwissenschaftliches Wissen und liegt in der Heil kunde das Ziel nicht im Erkennen, sondern im gekonnten Handeln,4 dann ergiht sich aus der fachmännischen Sachkompetenz und den
2 Vgl. Y.-P. Tang et al. (1999); T. V. P. Bliss (1999); s. hierzu Kap. AIII 3. 3 Vgl. R. L. Sinsheimer (1987); L. Walters/J. G. Palmer (1997), 99-142; hingegen H. Staudinger (1984). 4 Vgl. Kap. B I.
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C. II. Die ethische Funktion des Krankheitsbegriffs
berufsethischen Maßgaben die Indikation ärztlichen Handelns, d. h. der begründete Entschluß darauf, ob eine bestimmte Handlungsnot wendigkeit diagnostischer oder therapeutischer Art zu einem be stimmten Zeitpunkt bezogen auf einen bestimmten Patienten be steht.5 Die Indikation kann aber nur dann legitimierendes Regulativ ärztlichen Handelns sein, wenn das ärztliche Handeln ein an klaren Zielen orientiertes Handeln bleibt, nämlich an Heilung und Präven tion von Krankheit sowie an Linderung. Daß ein ärztlicher Eingriff eine Indikation erfordert, heißt, der »berufliche Heilauftrag muß die vorgesehenen Maßnahmen umfassen und gebieten.«6 Diese Zielge richtetheit ärztlichen Handelns spiegelt sich in den ärztlichen Gelöbnissen wider. Im Hippokratischen Eid heißt es: »Ärztliche Ver ordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechtlicher Weise anzuwenden«7. Im Genfer Ärztegelöbnis befindet sich der Satz: »Die Gesundheit meines Pa tienten wird meine erste Sorge sein«8. In der Verpflichtungsformel gemäß der Berufsordnung für die deutschen Ärzte ist zu finden: »Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. [...] §1 (1) Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes. [.] (2) Aufgabe des Arztes ist es, das Leben zu erhalten, die Gesund heit zu schützen und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern«9. Diese teleologische oder finale Handlungsstruktur läßt nur ein Han deln zu, das ärztlich indiziert ist, und schließt die Verfolgung von Zielen außerhalb dieses Handlungsfeldes aus. Die Indikation wird damit zu einem praktischen Regulativ, das sich am Krankheitsbegriff orientiert. Im Kontext der ärztlichen Anwendung der Humangenetik muß dieser Indikationsbegriff seine Leistungsfähigkeit erneut zeigen. Mit der weltweiten Humangenomforschung ist die Zielsetzung verbun den, das menschliche Genom zu sequenzieren und einzelne Gene zu identifizieren, die einen bestimmten Phänotyp festlegen. Da zu er warten ist, daß eine weiter zunehmende Zahl von Krankheiten auf
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Vgl. F. Anschütz (1984). A. Laufs (1995), 16. Corpus hippocraticum, lusiurandum, Oeuvre I. Abgedruckt in: H. M. Sass (1989), 355. Abgedruckt in: P. Schiwy (1995).
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ihre genetischen Ursachen hin diagnostiziert werden können, werden die Ergebnisse dieser Forschung die Möglichkeiten für die pränatale Diagnostik, prädiktive genetische Tests, aber auch für mögliche the rapeutische Maßnahmen langfristig erheblich erweitern. Damit wird für die moderne Medizin ein großes innovatives Potential eröffnet im Bereich der Krankheitsvorsorge und -früherkennung, aber auch in bezug auf therapeutische oder präventive Maßnahmen.10 11 Ferner können kausale Mechanismen genetisch bedingter Krankheiten durch entsprechende Forschung aufgeklärt und damit neue Hand lungsmöglichkeiten im Blick auf Entstehung und Verlauf solcher Erkrankungen erschlossen werden. Mit den neuen Diagnosemöglich keiten entstehen aber auch Gefahren und Möglichkeiten des Miß brauchs, denn nicht nur das Wissen um Krankheitsdispositionen steigt, sondern auch das Wissen um die genetischen Determinanten von sogenannten »Normaleigenschaften« oder »Normalzuständen«. Bleibt nun das ärztliche Handeln auf Ziele wie Heilung und Lin derung gerichtet, kann es nur dann medizinisch indiziert sein, wenn es in Diagnose und in Therapie an den praktischen Krankheitsbegriff gebunden bleibt. Unter diesen Voraussetzungen verbieten sich für den Arzt Untersuchungen von genetischen Dispositionen, die nicht unter den Krankheitsbegriff fallen, genauso wie nichttherapeutische Interventionen, die der Verbesserung statt der Heilung dienen. Auch dann, wenn der »Patient« diese Maßnahmen wünscht, sind sie ärzt licherseits nicht indiziert. Steht die Indikation in der ärztlichen Berufsordnung auch vor dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten und darf der Arzt keinen Eingriff vornehmen, der zwar dem Willen des Patienten oder Klien ten, nicht aber der Berufsregel entspricht,11 dann können ärztliche Indikation und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konkurrieren und konfligieren. Zwar kann es im Interesse einer Per son sein, über ihre möglicherweise genetisch bedingten Talente (z. B. Musikalität, Sportlichkeit) mehr zu wissen, ob aber die Erhebung dieses Wissen auch dann ärztlich indiziert ist, wenn es sich bei den Merkmalen nicht um Krankheiten handelt, bleibt fraglich. Würde
10 Durch Berücksichtigung bestimmter Verhaltensregeln, z.B. diätischer Art bei Phe nylketonurie, oder durch präventive operative Maßnahmen, z.B. die Entfernung der Schilddrüse bei MEN2, kann der Ausbruch der Krankheit mit einer großen Wahrschein lichkeit vermieden werden. 11 Vgl. A. Laufs (1990), 231-237.
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ein solcher Test durchgeführt, dann wohl nicht mit Blick auf Heilung, Linderung oder Prävention. Die vom Europarat in Auftrag gegebene »Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights on Biomedicine« trägt dem Rech nung und bindet im Artikel 12 Prädiktive genetische Tests12 im Blick auf genetische Krankheiten sowohl in der individuellen Analyse als auch im Bereich der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Feld ausdrücklich an »health purposes«, um sie anderen Bereichen, wie dem Versicherungswesen und dem Arbeitsmarkt, zu entziehen.13 Ist dieser Begriff zwar deutlich weiter als der hier vorgeschlagene prak tische Krankheitsbegriff, so zeigt sich dennoch auch in dieser Formu lierung die Bindung ärztlichen Handelns an bestimmte Zielsetzun gen, die sich über die Indikation operationalisieren lassen. Hält man an Indikation und am Vorbehalt des Arztes, eine Heil behandlung durchzuführen fest und gehört auch die Diagnose mit in dieses ärztliche Handlungsfeld, dann verbieten sich zum Schutz des Patienten auch genetische Test-Kits,14 die jedermann zur Eigendia gnose ohne ärztliche Beratung zur Verfügung stehen. Denn die ärzt liche Beratung ist nicht nur »Beiwerk« der Medizin, sondern zentra ler Bestandteil des Arzt-Patient-Verhältnisses. Die Kenntnisse des Arztes tragen dazu bei, die Selbstzuschreibung des Krankseins sei tens des Patienten zu objektivieren; denn wenn ein Patient sagt, er sei krank, »dann beginnt der Arzt auf einer Anzahl von Gebieten nach Abweichungen und Normen zu suchen. Festgestellt, rechtferti gen sie dem Arzt die Bezeichnung als krank und sie gestatten, diese Beurteilung auch gegenüber anderen sozialen Instanzen (Kranken kasse, Arbeitgeber, Gericht usw.) zu vertreten.«15 Ist eine Indikation zum ärztlichen Handeln gegeben, dann be steht die Pflicht des Arztes, den Patienten ausführlich aufzuklären, denn ohne eine Einwilligung des Patienten kann eine ärztliche Maß-
12 »Tests which are predictive of genetic disease or which serve either to identify the subjects as a carrier of a gene responsible for a disease or to detect a genetic predisposition or susceptibility to a disease may be performed only for health purposes or for scientific research linked to health purposes, and subject to appropriate genetic counselling.« Council of Europe (1996), Art. 12. 13 Vgl. Council of Europe (1997), Explanatory Report zu Art. 12. 14 Vgl. Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (1994), 29. 15 H. H. Figge (1991), 117.
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nähme nicht durchgeführt werden. Je weniger indiziert ein medizi nischer Eingriff ist, um so ausführlicher muß der Patient aufgeklärt werden. Diese Bindung an Krankheitshegriff und Indikation ist aber nicht unumstritten. Die mit den neuen Handlungsmöglichkeiten der modernen Medizin verbundenen Risiken und Gefahren - so wird diskutiert16 - seien nämlich auch dann berechenbar, wenn man alle Handlungsoptionen grundsätzlich zulassen würde, aber jedem Ein zelnen aufgrund seines Rechts auf Selbstbestimmung die Entschei dung, ob er einen entsprechenden Eingriff will oder nicht, selbst überließe. Die an die Autonomie des Patienten gebundene Zustim mung nach Aufklärung (informed consent) wäre dann unabhängig von grundsätzlichen Zielvorgaben das einzige Regulativ ärztlichen Handelns. Betrachtet man Freiwilligkeit und Selbstbestimmung als isolierte Kriterien für die Legitimation einer ärztlichen Handlung, dann stellt der Arzt naturwissenschaftlich erhobenes und gesichertes Wissen in Form technischen Handelns zur Verfügung und jedem Klienten muß es freigestellt sein, welche Behandlung er wünscht. Mit dieser Forderung wird die gesamte Last der Verantwortung auf den Einzelnen übertragen. Der Vorschlag erfordert, daß jeder Klient, der sich einem medizinischen Eingriff unterzieht, alle Details kennt und die Folgen des Eingriffs antizipieren kann. Doch dies ist schon bei kleineren Interventionen kaum möglich, denn nahezu kein Patient kennt beispielsweise die genaue biochemische Wirkung eines Präparats, das er gegen einen grippalen Infekt vom Arzt verschrieben bekommen hat. Erst recht weiß der medizinische Laie nicht genau, was er z. B. vor einer Operation unterschreibt, selbst dann nicht, wenn er vorher über die Risiken aufgeklärt worden ist. Nimmt man die Diskussion über die Möglichkeiten von Enhancement ernst, dann kommt hinzu, daß bei vielen der anvisierten Eingriffe eine Zustim mung nicht möglich sein würde, weil sie eine Keimbahnintervention17 voraussetzen und derjenige, den dieser Eingriff betrifft, ent weder noch nicht existiert oder noch nicht zustimmen kann. Bei Handlungen, die so tief in die Integrität von Leib und Leben eingreifen, können diese Verfahren aber nur dann verantwortbar 16 So auch in einem Beitrag von D. Birnbacher auf der Konferenz »Prädiktive genetische Tests: >Health purposesc und Indikationsstellung als Kriterien« am 26./27. September in Bonn; vgl. D. Lanzerath (1998b), 198-199; vgl. hierzu auch D. Birnbacher (1997); K. Bayertz (1997). 17 Keimbahninterventionen sind nur an Keimzellen - also vor der Befruchtung - oder an frühen embryonalen Stadien möglich.
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praktiziert werden, wenn die Zielsetzungen ärztlichen Handelns grundsätzlich nicht zur Disposition stehen. Der Patient muß dem Arzt ein fundamentales Vertrauen entgegenhringen können. Dieses geht davon aus, daß der Arzt nichts anderes als solche Maßnahmen zulassen würde, die der Heilung der Krankheit dienen. Zum Arzt kommt schließlich in der Regel nicht die unabhängige autonome Per son, sondern ein von Schmerzen gepeinigter in Not geratener Mensch. An den Arzt ist der Imperativ gerichtet, dem Patienten mit seinem privilegierten Wissen zu helfen. Nur wenn dem Arzt diese Struktur bewußt ist, kann es wirklich einen »informed consent« ge ben;18 19 denn die Bedürftigkeit stellt sich auch immer als eine Wehr losigkeit dar, die die Selbstbestimmung eingrenzt. Insofern wird unabhängig vom Fachwissen - ärztliches Handeln nie ohne paternalistische Züge auskommen. Ein wohlverstandener Paternalismus ist daher nicht ein Herrschaftssystem, sondern ein Fürsorgesystem, das eine treuhänderische Verwaltung der Autonomie des zum Patienten gewordenen Kranken intendiert. Dies ist aber nur dann möglich, wenn das Bekenntnis zu klaren Handlungszielen vorausgesetzt wer den kann und sich so eindeutig darstellt, daß mit diesem Bekenntnis das Vertrauen zwischen Arzt und Patient stabilisiert19 wird. Besteht nun in einer Gesellschaft aber doch mehrheitlich der Wunsch, daß in erster Linie für den Arzt dasjenige handlungsrele vant wird, was der »Patient« aufgrund seines Rechts auf informatio nelle Selbstbestimmung will und vom Arzt erwartet, dann löst sich die finale Struktur ärztlichen Handelns auf. Sicherlich ist vorstellbar, daß »ärztliche Dienstleistungen« zukünftig über individuelle Ver tragsverhältnisse geregelt werden. Die damit vorgeschlagene »Medi zin« würde aber eine völlig andere sein als die, die wir kennen. Die Medizin wird zur Dienstleistung, der Patient zum Kunden. Die ur sprüngliche Vertraulichkeit wird durch eine Vertraglichkeit ersetzt. Will man das Vertrauen in Arzt und Medizin stabilisieren, in dem jeder Patient damit rechnen kann, daß ein Arzt die ihm zur Verfügung stehenden ambivalenten und zieloffenen Mittel aus schließlich für die seiner Profession entsprechenden Zielsetzungen verwendet, dann kommt man nicht umhin, an bestimmten Orientie rungsgrößen für das ärztliche Handeln festzuhalten. Nur auf diesem Hintergrund wird eine arbeitsteilige Medizin ohne Vertrauensver 18 Vgl. D. Leder (1995), 1111-1112. 19 Vgl. A. Eser (1995), 151-153; ders. (1983).
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lust bestehen können. Der hier vorgeschlagene Krankheitshegriff könnte - so lautete die These - eine solche Größe sein, die ärztliches Handeln spezifiziert, legitimiert und limitiert. Krankheit kann aber dann weder ein rein theoretisch-naturwissenschaftlicher Begriff, noch eine ausschließlich von der Gesellschaft bestimmte Größe sein. Vielmehr wird verständlich, warum er sich als ein Interpretandum mit einem Bündel von Prämissen darstellt, von denen nur ein Teil naturwissenschaftlich erhehhar ist und ein anderer Teil in der prakti schen Beziehung von Arzt und Patient unter den Bedingungen des betreffenden soziokulturellen Umfeldes sich entwickeln muß. Der Krankheitshegriff kann als praktischer - nicht als theoretischer - Be griff eine Orientierung sein für die Haltungen von Patienten und Ärzten, aber auch für gesellschaftliche Entscheidungen hinsichtlich der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Medizin. Gegen über anderen Begriffen - die auch normativen Charakter haben können, aber extensional sehr offen sind - hat der praktische Krank heitsbegriff den Vorteil, Medizin und ärztliches Handeln eng zu fas sen und berechenbar zu gestalten, als eine Voraussetzung für ein Arzt-Patient-Verhältnis, das auf einem grundsätzlichen Vertrauen bezogen auf die Handlungsziele und der hierfür notwendigen Mittel basiert, die ohne eine klare Zielorientierung hinsichtlich ihrer An wendungsmöglichkeiten ambivalent sind. Als praktischer Begriff kann der Krankheitsbegriff eine Grenze ziehen zwischen ärztlichem Handeln und jenen Handlungsoptionen, die biomedizinisches Wis sen für andere als an die ärztliche Teleologie gebundene Zwecke miß brauchen könnten.
2. »Krankheit« als Grenzbegriff Geht man davon aus, daß der Krankheitsbegriff einen Tätigkeits bereich bezeichnet und begrenzt, der sich von anderen Bereichen ab hebt, dann fällt beispielsweise das Lösen sozialer Probleme, die mit für Krankheiten verantwortlich sein können, nicht in den Aufgaben bereich des Arztes, wie dies die Gesundheitsbeschreibung der WHO suggeriert. Der Krankheitsbegriff limitiert einerseits ausschließlich paternalistische und andererseits uneingeschränkt autonomistische Tendenzen in Medizin und ärztlichem Handeln. Wird nämlich an der Orientierung am Krankheitsbegriff festgehalten, dann darf der Arzt nicht eine Behandlung an einem Menschen - und damit einen
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Eingriff in dessen Integrität von Leib und Person - durchführen, die nicht an den Krankheitshegriff gebunden oder durch ihn legitimiert wäre und er muß nicht mehr handeln, wenn Heilung oder Palliation nicht mehr möglich sind. Der autonome Patient hat indes keinen Anspruch darauf, über dieses Handlungsfeld hinaus Forderungen an den Arzt zu stellen, die dieser als Service anhieten könnte. Insofern der Krankheitshegriff vom leidenden Subjekt her zu betrachten ist, kommt es umgekehrt dem behandelnden Arzt nicht zu, in einer miß verstandenen Form von Paternalismus ohne Einbeziehung des Pa tienten zu entscheiden, was zu tun ist. Wäre der Krankheitsbegriff ein rein naturwissenschaftlicher und objektiver Begriff, dann könnte Medizin auch rein »paternalistisch« verlaufen, da dann immer feststünde, was medizinisch zu tun ist.20 Näher betrachtet sind es also die Tätigkeitsfelder im Rahmen von Diagnose, Therapie, Prävention und Palliation, die ein am Krankheitsbegriff gebundenes Handeln umschreiben. Der praktische Krankheitsbegriff und die mit ihm verbundene ärztliche Indikation können aber nur dann ein Regulativ bleiben, wenn die grundsätzliche Finalität ärztlichen Handelns nicht zur Disposition steht. Verfolgt man aber die wissenschaftliche wie öffentliche Diskussion hierüber, müssen doch ernsthafte Zweifel angemeldet werden.21 Freilich gibt es zwischen der Erhaltung der Gesundheit und Heilung von Krank heit einerseits sowie der Verbesserung der menschlichen Natur (Enhancement) andererseits fließende Übergänge. Auch wird der Begriff »Enhancement« nicht einheitlich verwendet. Er kann gegen über dem medizinisch Erreichbaren das Unerreichbare meinen, das künstlich Hergestellte gegenüber dem natürlich Vorhandenen oder aber die Steigerung der physischen oder psychischen Normalfunk tionen. Schließlich wird häufig die Verkehrung medizinischer Ziel setzungen in Form einer Medikalisierung der sozialen Problem stellungen, die damit die eigentlichen sozialen Fragen verdrängt, als »Enhancement« bezeichnet.22 Gemeinsam ist diesen Verwendungs weisen das Verlassen der traditionellen Zielsetzungen medizinischen und ärztlichen Handelns, die sich am Krankheitsbegriff orientieren. Vielfach sind mit der Zielsetzung »Enhancement« durchaus gut ge meinte Zielvorstellungen verbunden, wie die Auflösung von sozialen
20 Vgl. H. T. Engelhardt/K. Wildes (1995), 1104. 21 Vgl. Kap. AIII. 22 Vgl. zu den verschiedenen Verwendungsweisen E. T. Juengst (1998), 37-43.
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Ungleichheiten durch die Schaffung gleicher und fairer humaner An fangsbedingungen (z.B. hinsichtlich der Intelligenz). Doch bleibt völlig offen, an welchen »Fähigkeiten«, »Talenten« und »Normali täten«23 sich eine solche Verbesserung orientieren könnte. Immer dann, wenn sich die Gestaltung der eigenen Natur mit Hilfe ärztlicher Praxis von der ausgemachten Zielsetzung löst und ausschließlich in den Händen des Betroffenen und seinen Vorstellun gen liegt, besteht die grundsätzliche Gefahr einer Manipulation, be sonders dann, wenn die Eingriffstiefe in die menschliche Natur zunimmt. Informiert man sich per Test über seine genetischen Anla gen, wird man Wege der »Verbesserung« dieser Anlagen suchen können. So verschaffen derartige Tests erst die Informationen, die Voraussetzungen für Verbesserungen sind. Darüber hinaus können aus einer Selbstverbesserung auch die Mittel zur Fremdverbesserung entstehen und die Schwellen dazu gesenkt werden.24 Ist das Natur hafte das grundsätzlich von uns Unverantwortete, so tragen wir für alles Hergestellte eine Verantwortung. Je größer nun die Eingriffstie fe in die Natur wird, desto mehr muß derjenige, der eine ehemals natürliche Grenze überschreiten will, gute Gründe dafür liefern, war um er dies tut; gibt es diese Gründe nicht, dann gilt es die natürliche Grenze durch eine gesetzte Grenze zu ersetzen, wenn unser Handeln - und hier besonders das ärztliche - noch verantwortbar sein soll. Wollen wir uns zukünftig nicht primär als manipuliert und her gestellt - statt zufällig entstanden - verstehen, so ist eine solche Grenze zwischen Therapie, die sich am Krankheitsbegriff orientiert, und zieloffenem Enhancement für das ärztliche Handeln zu ziehen.25 Dieser Vorschlag zur Grenzziehung ist in das »Menschenrechts übereinkommen zur Biomedizin« des Europarates eingegangen, das im Artikel 13 Eingriffe in das menschliche Genom nur zu prä ventiven, diagnostischen oder therapeutischen Zwecken gestattet.26 Gleichwohl ist diese Regulation der Kritik von verschiedenen Seiten
23 Vgl. D. W. Brock (1998), 67. 24 Entnommen aus einem Beitrag von L. Siep auf der Konferenz »Prädiktive genetische Tests: >Health purposesc und Indikationsstellung als Kriterien« am 26./27. September in Bonn; vgl. D. Lanzerath (1998b), 197. 25 Vgl. hierzu auch L. Siep (1998) sowie (1999). 26 »An intervention seeking to modify the human genome may only be undertaken for preventive, diagnostic or therapeutic purposes and only if its aim is not to introduce any modification in the genome of any descendants« (vgl. Council of Europe (1996), Art. 13).
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ausgesetzt. Kritiker der Gentherapie argumentieren, daß die Unter scheidung nicht hinlänglich eindeutig sei, um die Gefahr eines Dammhruchs zu verhindern.27 Andere sehen in ihr hingegen einen unzulässigen Ausschluß von nicht-therapeutischen Handlungsoptio nen.28 Will man an einem Ausschluß einer nicht medizinisch indi zierten Nutzung der gentechnischen Intervention heim Menschen festhalten, so wird man eine klare Ahgrenzung zwischen Prävention und Enhancement vornehmen müssen. Unahhängig von den Schwie rigkeiten, die Grenzlinie exakt zu fixieren, liegt der Argumentation für die Erlauhtheit einer gentechnischen Krankheitshehandlung und das Verhot der Genverhesserung die Einsicht zugrunde, daß nicht allein die Wahl der Mittel, sondern auch die Wahl der Ziele einer ethischen Beurteilung unterliegt. Die Bekämpfung von Krankheiten ist ein zweifellos hoch zu hewertendes Ziel. In der Ahwägung zwi schen Risiken und erwartetem Nutzen kommt ihm ein höheres Ge wicht zu als der gewünschten Korrektur eines hestimmten anderen Zustands. Das Ziel therapeutischen Handelns kann auch kaum der perfekte Gesundheitszustand sein, denn der hleiht ein utopischer. Der sprunghafte Anstieg von Wissen und Können innerhalh der Me dizin hietet für diese Formen von Enhancement immer mehr Möglichkeiten. Die Grenzziehung und die Konsensfindung hleihen schwierig. In »an industrialized society with highly specialized in stitutions, physicians will consider prevention of illness, hut not enhancement of health or improvement of the human organism through psychological or hiological methods, to he one of their tasks. To he specific, genetic counseling is a medical task; genetic enginee ring is not.«29 Trotz seiner Unschärfen an den Rändern, kann der Krankheitshegriff hier eine grundsätzliche Orientierung gehen. Die se erlauht es dem Arzt, dasselhe Medikament hei der einen Person als life-style-Präparat ahzulehnen, weil keine Indikation vorliegt, und es hei einer anderen als Heilmittel zu verahreichen, um Krankheit zu heilen und Leid zu lindern; »the same technology applied to different persons with different capahilities will in fact have similar hut significantly different effects, and we must learn to understand as fully as possihle the differences hetween persons and hetween the ways in
27 Vgl. W. Gardner (1995). 28 Vgl. R. L. Sinsheimer (1987); L. Walters/J. G. Palmer (1997). 29 F. C. Redlich (1976), 271.
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which the same technology might affect them«30. Fällt die Entschei dung über eine Indikation auch nicht immer leicht, so macht sie aber die unverzichtbare Bindung an das kranke Individuum und seine persönlichen Dispositionen deutlich. Moderne Medizin hat in wachsendem Maß nicht nur die Auf gabe, Krankheiten zu heilen und Beschwerden zu lindern, sondern auch die Gesundheit zu erhalten und d. h. Krankheiten zu verhin dern. Damit gehören mit Blick auf mögliche Krankheiten auch im mer mehr Präventivmaßnahmen zum ärztlichen Handeln, die sich mittelbar am Krankheitsbegriff orientieren. Freilich gibt es hier verschiedene Stufen des präventiven Handelns im Blick auf Krank heiten. Hygienische Maßnahmen zur Verhinderung von Infektions krankheiten, Impfung als Schutzmaßnahme gegen Virusinfektionen, die vorsorgliche Entfernung eines Tumors und die präventive Ent nahme eines aufgrund einer genetischen Disposition gefährdeten, aber zum Zeitpunkt des Eingriffs gesunden Gewebes sind ganz un terschiedliche Formen präventiver ärztlicher Maßnahmen. Hier wird offensichtlich, daß in die Entscheidung mit eingehen muß, wie sicher eine Prognose ist, wie gut der Patient in der Lage ist, sich prospektiv mit einer ihn möglicherweise betreffenden Krankheit auseinander zusetzen, und wie schwer ein entsprechender präventiver Eingriff ist. Während sich eine Polio-Schluckimpfung gegen Kinderlähmung ver gleichsweise harmlos darstellt, ist die Entfernung der Brust bei einer gesunden jungen Frau ein - sowohl unter physischen als auch unter psychischen Aspekten betrachtet - schwerer Eingriff. Ein solcher Eingriff wird aber dann diskutiert, wenn sich bei einem prädiktiven genetischen Test herausstellt, daß die untersuchte Frau Trägerin des BRCAl-Gens ist, das eine genetische Disposition für eine unheilbare Form des Mammakarzinoms darstellt. Jedoch ist die Prognose hin sichtlich der Manifestation der Krankheit nicht völlig sicher (ca. 80 90 % Eintrittswahrscheinlichkeit) und die Maßnahme stellt keine Garantie dafür dar, daß die Krankheit nicht doch ausbricht.31 Ange sichts der Schwere des Eingriffs, der verbleibenden Unsicherheit und der zeitlichen Entfernung zur Krankheit selbst und ihrer möglichen Verarbeitung, ist es fraglich, ob eine solche Maßnahme ärztlicher seits legitimiert sein kann.32
30 R. Cole-Turner (1998), 160. 31 Vgl. hierzu K. Grade et al. (1997). 32 Vgl. D. Lanzerath (1998b); vgl. hierzu auch P. Propping (1993).
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Ohne Zweifel werden Prävention und Rehabilitation neben ku rativen Therapien immer wichtiger in der Medizin. Aber auch sie können nur mit Blick auf Krankheit legitim sein. Der Handlungs druck, »etwas tun zu müssen«, führt jedoch oft zur Hilflosigkeit des Arztes, der in unsinnigen Maßnahmen und Behandlungen enden kann, wenn sich der Arzt seiner Grenzen nicht bewußt wird. Diese Grenzen gelten auch am Lebensende, wo Krankheiten nicht mehr geheilt werden können und der Arzt dem Sterbenden seinem »natür lichen Tod«33 überlassen kann. Gleichwohl kann ein am Krankheits begriff orientiertes Handeln das Töten eines Patienten nicht mit einbeziehen, wenn sich diese grundsätzliche Zielorientierung nicht auflösen soll. Versteht man nun das ärztliche Handeln als ein am kranken Menschen orientiertes Handeln und die Medizin als eine an diese Dyade von Arzt und Patient gebundene praktische Wissenschaft,34 die auf Diagnose, Therapie, Palliation und Prävention zielt, dann muß die Frage nach der Normierung dieses Handelns unter den ver änderten Rahmenbedingungen neu gestellt werden. Der Krankheits begriff kann, wenn er praktisch verstanden wird, eine solche norma tive Größe sein, wenn die Evaluation des erkrankten Subjekts sich im Arzt-Patient-Verhältnis manifestiert. Damit wird derjenige Bereich des menschlichen Daseins, für den sich der Arzt in seinem Handeln mitverantwortlich zeigt, deutlich umrissen. Im Mittelpunkt des Han delns stehen dann nicht die biologische Dysfunktion oder ein soziales Konstrukt, sondern der sich selbst entwerfende kranke Mensch. Frei lich fließen in den Krankheitsbegriff jene Parameter mit ein, die in verschiedenen Krankheitsverständnissen einseitig oder überpropor tional interpretiert werden - wie biomedizinisch-naturwissenschaft liches Wissen, soziale Strukturen, kulturelle Werte und subjektive Befindlichkeiten. Aber auch sie können und müssen in praktischer Hinsicht betrachtet werden. Daraus ergeben sich dann weitreichende Konsequenzen für Diagnose und Therapie, für die Einstellungen und das Verhalten der Ärzte, für die Weise wie Patienten mit Krankheit umgehen sowie für soziale Strukturen und Haltungen.
33 Vgl. A. Auer (1977); A. Eser (1995); H. Jonas (1978). 34 Vgl. Kap. BI.
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Schlußbemerkung
Wie andere Wissenschaften auch stellen sich Medizin und die hiomedizinischen Disziplinen weder als ein moralisch indifferentes Suhsystem dar, noch kann man seitens der heteiligten Wissenschaft ler eine anwachsende Gewissenlosigkeit vermuten. Doch die durch die Wissenschaften geförderten Veränderungen und Modernisierungsschühe weisen auf den Handlungscharakter der Wissenschaften hin, und Handlungen sind immer moralischen Urteilen unterworfen. In diesem Punkt sind die modernen Wissenschaften - so O. Höffe »weder wesentlich unmoralischer noch moralisch neutral geworden, wohl aher moraloffener, sogar moralanfälliger. In erster Linie zuge nommen hahen nicht die Verfehlungen, sondern die Möglichkeiten sich zu verfehlen; signifikant gewachsen ist statt der Gewissenlosig keit weit mehr die moralische Fehlharkeit; mit einem Wort: die Mo ral als Preis der Moderne.«1 Nicht das individuelle Verhältnis zwi schen Arzt und Patient kann Gegenstand eines öffentlichen ethischen Diskurses sein, wohl aher dessen Rahmenhedingungen, d.h. die ge nerellen Zielsetzungen ärztlichen Handelns, die für ein funktionie rendes Gesundheitssystem von großer Bedeutung sind. Denn nicht alles, was der modernen Medizin möglich ist, kann nur aufgrund dieser hestehenden Möglichkeiten auch erlaubt sein. Will man das Vertrauen zwischen Arzt und Patient stahilisieren und die Garanten stellung des Arztes erhalten, können die grundsätzlichen Zielsetzun gen nicht einem heliehigen gesellschaftlichen Disput ausgesetzt werden. Freilich kann sich eine Gesellschaft entschließen, sich von Traditionen zu lösen, sie muß sich aher darüher im klaren sein, was sie sich selhst und jedem einzelnen ihrer Mitglieder zumutet und welche Alternativen zur Medizin verfüghar sind. Heute ist die traditionelle Struktur ärztlichen Handelns mehr und mehr in Frage gestellt. Die Zielsetzung der Medizin ist nicht 1 O. Höffe (1993), 12; vgl. hierzu auch D. Lanzerath (1994), 6-8.
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Schlußbemerkung
mehr klar, der Naturhezug orientiert sich am durch die Neuzeit ge prägten reduktionistischen Naturhegriff der modernen Naturwissen schaften und die Ansprüche der Gesellschaft an die Medizin sind nicht mehr einheitlich zu nennen. Dennoch scheint es auch heute noch sinnvoll - trotz naturwissenschaftlicher Methoden in der hiomedizinischen Forschung -, die Medizin als eine praktische, an einer deutlichen Zielvorgahe orientierte Wissenschaft zu verstehen, wenn sie nicht ein reiner Dienstleistungsheruf werden soll, der sich üher individuelle Vertragsverhältnisse regelt. Bleiht die immanent prakti sche Dimension der Medizin erhalten, dann ist auch die Mittelwahl nicht heliehig, sondern an die Regeln der ärztlichen Kunst gehunden. Der Arzt ist dann der ^pövtpoc;, der die Urteilskraft hesitzt,2 die ziel offenen Mittel zielorientiert einzusetzen. Da sich die Eingriffstiefe der Mittel durch die Erweiterungen der medizinischen Handlungs möglichkeiten sehr verändert hahen, kann der hier vorgeschlagene Krankheitshegriff heute mehr denn je eine Orientierung liefern, wenn sich Medizin nicht als angewandte Naturwissenschaft oder »Anthropotechnik«,3 sondern als eine an deutlichen Zielen orientie rende praktische Wissenschaft versteht. Es ist freilich zu differenzieren zwischen grundsätzlichen und glohal anerkannten Zielsetzungen einerseits sowie deren Interpreta tion und Umsetzung in Ahhängigkeit von regionalen Gesundheits systemen, ökonomischen Möglichkeiten und ethischen sowie religiö sen Wertschätzungen andererseits. Will man sich wissenschaftlich wie praktisch austauschen, so sind Standards auch in der Zielsetzung notwendig, wenn dieser Austausch fruchthar sein soll (z.B. in der internationalen hiomedizinischen Forschung oder hei Gesundheits maßnahmen der WHO). Die Standards gehen dahei weit üher die Einhaltung der weltweit anerkannten und kodifizierten Menschen rechte hinaus. Nur so kann Medizin auch einem gesellschaftlichen Druck und einer Manipulation standhalten. Die Einhaltung der Ziel setzung erlauht auch dem Patienten, hesser heurteilen zu können, was er an medizinischer Versorgung und Hilfe zu erwarten hat, und dem Arzt hilft es, seine Rolle, seine Erwartungen und seine Ver pflichtungen zu verstehen. »Medicine needs to have its own internal compass and ahiding values, which will he stronger if resting upon its
2 Vgl. Kap. All und AII 3. 3 Vgl. F. Böckle (1995), 242-256.
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Schlußbemerkung
traditional and largely universal goals.«4 Je mehr sich Medizin aus schließlich als gesellschaftliches Instrument versteht desto eher ist sie einem Mißbrauch ausgesetzt.5 Da die Akteure - Ärzte gleicher maßen wie Patienten - Mitglieder der Gesellschaft sind, kommt dem gesellschaftlichen Diskurs über die Medizin und ihre Ziele eine große Bedeutung zu. Durch den Umgang mit kranken Menschen hat es die Medizin mit Körper und Psyche zu tun. Diese sind natürliche Voraussetzun gen als die Bedingung der Möglichkeit für ein gelingendes Leben des Einzelnen. Diese Voraussetzungen können durch Krankheit beein trächtigt und als solche zum Gegenstand ärztlichen Handelns wer den. Da Gesundheit ein Gut aber nicht das Gute ist, befaßt sich der Arzt nicht mit dem Gelingen selbst, denn dafür trägt jeder eigenstän dig die Verantwortung. Die Medizin brächte sich selbst in Gefahr, wenn sie sich bloß als ein Instrument zur Maximierung individuellen Nutzens und individueller Wünsche verstünde, und sie würde die Gesellschaft in Versuchung führen, von medizinischem Wissen und Können zu anderen als zu gesundheitlichen Zwecken Gebrauch zu machen. Über die Ausnahmen und die Unschärfen an den Rändern ist gesprochen worden, aber diese sind weit davon entfernt, das »Ge samtunternehmen« Medizin als Mittel für private oder politische Zielsetzungen zu mißbrauchen. Weder der individuelle Lebens entwurf noch das völlige soziale Wohlbefinden (wellness) können Gegenstand ärztlichen Handelns sein. Die Erinnerung an den eugenischen Mißbrauch der Medizin in Diensten einer verdrehten Gesell schaftsvorstellung zeugt von einem erheblichen Orientierungsver lust in der Medizin. Eine Gesellschaft, die die Medizin dazu nutzt, ihre »unbrauchbaren« Mitglieder auszusondern, parteipolitischen Zwecken zu dienen oder Handlangerin politischer Institutionen zu 4 D. Callahan et al. (1996), S 7; Im vom Hastings Center initiierten Projekt »The Goals of Medicine« wurden vier Kernziele der modernen Medizin als »regulative Ideen« iden tifiziert: »The Prevention of Disease and Injury and the Promotion and Maintenance of Health«, »The Relief ofPain and Suffering Caused by Maladies«, »The Care and Cure of Those with a Malady and the Care of Those Who Cannot be Cured«, »The Avoidance of premature Death and the Pursuit of Peaceful Death«. (vgl. ebd.); diese Zielsetzungen beschränken das Handeln innerhalb der Medizin deutlich und haben eine hohe Affinität zur vom Verfasser vorgeschlagenen Orientierung an einem praktischen Krankheits begriff, gehen aber in einigen Punkten über diese hinaus. Vgl. zur Diskussion der Pro jektergebnisse M. J. Hanson/D. Callahan (1999). 5 Vgl. T. Parsons (1964), 265-273 (vgl. WHO-Definition der Gesundheit, National sozialismus, Dissidenten in der Sowjetunion etc.).
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werden, würde rasch ihr eigenes Zentrum und ihre eigene Integrität verlieren.6 Löst sich eine ethische Beurteilung der neuen medizinischen Handlungsmöglichkeiten und Zielsetzung von der Teleologie des ärztlichen Handelns, dann ist sie keine integrierte medizinische Ethik mehr, sondern eher eine besondere Form der Technikfolgenahschät zung im Blick auf eine zur »Anthropotechnik« gewordenen Medizin. Bleihen hingegen praktisches Wissen und Urteilskraft für das genuin ärztliche Handeln unenthehrlich und hält man an der Teleologie ärzt lichen Handelns fest, dann kann der Blick auf den Krankheitshegriff helfen, hinsichtlich der Ziele ärztlichen Handelns Orientierung zu gehen, wozu ein Blick auf dessen Konstitutionsverhältnisse notwen dig war. Ein so entwickelter Krankheitshegriff orientiert sich daran, Kranksein als eine Weise des Mensch-seins so zu fassen, daß die kommunikative Komponente des seine Befindlichkeit mitteilenden Menschen wesentlich zur Konstitution von Krankheit gehört. Dahei erweist sich der Arzt als jene Instanz, die dem um Selhstauslegung hemühten Kranken nicht nur im engeren Sinne therapeutische, son dern auch - gegen technizistische Verkürzungen - hermeneutische Hilfestellung giht. Der praktische Krankheitshegriff kann dazu heitragen, daß Medizin weiterhin herechenhar hleiht, das Vertrauen zwischen Arzt und Patient stahilisiert wird und die innovativen Möglichkeiten moderner hiomedizinischer Forschung im Rahmen von Diagnose und Therapie zu nutzen, ohne daß die mit ihnen verhundenen Risiken eskalieren.
6 Vgl. D. Callahan et al. (1996), S16.
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