Verbindlichkeit aus dem Diskurs: Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik - Orientierung in der ökologischen Dauerkrise 9783495860533, 9783495486412, 9783495481875


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Inhalt
Vorblick
Zur Neuausgabe
Erster Teil: Alte Meister – neue Einsichten
I Erstaunen und Erschrecken – Seinsschau oder Dialog als Anfang des Philosophierens? Sprachpragmatische Kritik der theoria-Tradition
I.1 Sokratisches Erstaunen: Vor der Entdeckung der Diskurspartnerschaft
I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens? Platon und &a2l;Fußnoten&a2r; zu Platon
I.2.1 Politisch ethischer Vorgriff: Platons latent totalitäre Kosmo-Theologik und Kosmo-Politik
I.2.2 Die pragmatischen Dimensionen des Etwas-Denkens – verdrängt durch Platons akommunikative Sprach- und Erkenntnisauffassung
I.2.3 Metaphysik des geistigen Sehens und Leerheit der Idee des Guten
I.2.4 Platonische Lektionen für uns: Vorschein der Transzendentalphilosophie versus totalitäre politische Bildung und kosmo-naturalistischer Fehlschluß
I.3 Aristoteles: Zwischen teleologischer Seinsmetaphysik, dialogischer Sokratik und konventioneller Ethik
I.3.1 Aristoteles’ teleologische theoria-Ontologie, deren Fortleben, Ablösung und Aufhebung
I.3.2 Aristoteles’ pragmatisch konventionelle Ethik
I.3.3 Erstaunliche Verbindlichkeit aus dem Diskurs: der unhintergehbare Satz vom Widerspruch
I.4 Aristoteles’ Schatten: Verbannung des kommunikativen Handelns aus der Philosophie – Türöffnung für den methodischen Solipsismus
I.5 Die unbefriedigte Kommunikation: Rhetorik im Schatten der Metaphysik
I.5.1 Isokrates und Cicero. Rhetorik als konsensbezogene Alternative zur theoria-Ontologie oder als relativistischer Diskursersatz mit naturalistischem Sicherheitstitel?
I.5.2 Rhetorik und Ideologie – Kulturrelativistische Anfälligkeit der Rhetorik von Cicero bis Rorty
I.6 Diskurs im dualistischen Rahmen einer christianisierten theoria. Von Augustinus und Thomas zementierte Erblasten
I.6.1 Wirkmächtiger Augustinus. Verfestigung der akommunikativen Erkenntnis- und instrumentellen Sprachauffassung
I.6.2 Thomas von Aquin. Der unbiblische Seins- bzw. Kontemplationsgott und das akommunikative Erkenntnisschema &a1l;diskursiver Verstand versus intuitive Vernunft&a1r;
I.6.3 Weder Nominalismus noch Logizismus. Wittgensteins Staunen und halbherzige Wende zur Sprachpragmatik
I.7 Diskurswillige Wanderschaft? Biblisches Dialog- und Moralerbe
II Kritik der Moderne: Vernunft in den Grenzen des Subjekt-Paradigmas
II.1 Hintergrund der Neuzeit. Vom kopernikanischen Choc zum selbstbewußten Subjekt und zur mathematisierten Technologie
II.2 Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Subjekt-Objekt-Dualismus und Verdrängung der Kommunikation durch einen Solipsismus der Methode
II.3 Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch Reflexion des Erkenntnissubjekts
II.4 Hobbes’ Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege: Zweckrationalistische Vertragstheorie in mechanistischem Rahmen
II.5 Kants Suche nach Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren Gesinnungsethik
II.5.1 Kopernikanische Wende der Ethik: Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit
II.5.2 Folgelasten der Zwei-Welten-Metaphysik: Solipsistische Gesinnungs- statt kommunikativer Handlungsethik
Zweiter Teil: Zukunftsverantwortung aus dem Diskurs
III Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik
III.1 »Wo bist du immer schon?« – Das Apriori des Begleitdiskurses
III.2 ›Dialog‹ und ›Diskurs‹. Beziehungs- und Geltungsaspekt des Diskurses versus empirische Mannigfaltigkeit der Diskurse
III.3 Sokratische Dialogreflexion. Vermittlung von Sollen und Wollen: Prinzipienbegründung und Willensmotivation aus dem Diskurs
III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Die praktischen Elemente der Vernunft
III.4.1 Sprachliche Verständigung – durch Aussage oder durch Kommunikation, primär semantisch oder dialogpragmatisch?
III.4.2 Selbsteinholung als Methode: Vorverständnis, Rekonstruktion, sinnkritische Reflexion
III.4.3 Dialektik der Existenz: Das Zugleich von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft oder Ich&gv;I versus Ich&gv;II
III.4.4 Sinnbedingungen des Diskurses: Geltungsansprüche und vorgängige Dialogversprechen der leibhaften Diskursteilnehmer
III.4.5 Die Unmöglichkeit einer Privatsprache oder die Unhintergehbarkeit der kommunikativen Vernunft
III.4.6 Kurzer Diskurs: &a1l;Kannst du die Diskurspartnerschaft mit dem, was du sagst und willst, vereinbaren?&a1r;
III.5 Autonomie und Verantwortung. Entwicklung und Aufstufung der praktischen Vernunft
III.5.1 Die &a2l;Achsenzeit&a2r;: Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von Institutionen
III.5.2 Entwicklungslogik der moralischen Urteilsbildung – Kohlberg redivivus
III.5.3 &a1l;Aufhebung&a1r; der Gesinnungsethik: Moralische Strategiebildung angesichts &a1l;schmutziger&a1r; Handlungsbedingungen und fragwürdiger Zumutbarkeit
III.5.4 Erfüllte Autonomie: &a1l;Meine&a1r; Verantwortung und Glaubwürdigkeit als Diskurspartner
III.6 Sokrates und ›wir‹: Diskursglaubwürdigkeit und Moral sind verwoben
III.6.1 Was der Logosgrundsatz bedeutet
III.6.2 Platonischer Sokrates versus Moral aus dem Dialog
III.6.2.1 Expertenmetaphysik der Wahrheit versus Pluralität und Verständigungsgegenseitigkeit im Diskurs
III.6.2.2 Vor der Gefahr des Rechtspositivismus oder: Naturalistisch fehlschlüssige Vertragstheorie versus biblisch motivierte Menschenwürde
III.6.2.3 Faktische Anerkennung versus Diskursglaubwürdigkeit
III.6.2.4 Moralische Strategien: Verantwortung für den Erfolg und die Zumutbarkeit des Moralischen
IV Zukunftsverantwortung und Menschenwürde
IV.1 Mitverantwortung für die Menschheitszukunft in der Gefahrenzivilisation
IV.2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf den technologischen Prometheismus und die Entethisierung der Wissenschaften
IV.2.1 Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden – eine paradoxe Wissenspflicht
IV.3 Spekulativ metaphysische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit und Verantwortung (Kants &a2l;Faktum der reinen Vernunft&a2r;) einholen?
IV.4 Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit?
IV.4.1 Hans Jonas’ orientierende Gedankenexperimente
IV.4.2 Pflicht zur Daseinsbewahrung der Menschheit. Als Diskurspartner hast du dich zur Vereinbarkeit deiner Thesen/Entscheidungen mit einem unbegrenzten argumentativen Konsensus verpflichtet
IV.5 Naturverantwortung als Diskursverantwortung
IV.5.1 Solidarität mit der belebten Natur: Öko-Holismus oder Diskursverantwortung?
IV.5.2 Diskursverantwortung als Naturverantwortung: Das zugleich öko-verantwortungsethische Prinzip des leibhaften Diskurspartners
IV.5.2.1 Wahrnehmung der &a1l;Naturinteressen&a1r;&ga;: Quasi-Verstehen und Diskursverantwortlichkeit
IV.6 Fürsorge oder Sich-Verantworten? Verantwortung in theoretisch intuitiver versus diskursiv kommunikativer Einstellung
IV.7 Ist Atomenergie verantwortbar?
IV.7.1 Diskursverantwortung versus &a2l;pragmatische&a2r; Atomenergiepolitik
IV.7.2 Metaphysisch versus diskurspragmatisch: zwei komplementäre Denkweisen – eine erschreckende Einsicht
IV.8 Die Grundnorm Menschenwürde – Verbindlichkeitserweis im Dialog mit einem Zweifler
IV.9 Was heißt und wo beginnt Menschenwürde?
IV.9.1 &a2l;Menschenwürde&a2r; – der Schirm potentiell vernunftfähiger und vernunftunfähiger Leibwesen
IV.9.2 Anspruch auf Achtung der Menschenwürde versus &a1l;verbrauchende Embryonenforschung&a1r; und PID
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Verbindlichkeit aus dem Diskurs: Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik - Orientierung in der ökologischen Dauerkrise
 9783495860533, 9783495486412, 9783495481875

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Dietrich Böhler

Verbindlichkeit aus dem Diskurs Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise

ALBER STUDIENAUSGABE https://doi.org/10.5771/9783495860533

.

B

Dietrich Böhler Verbindlichkeit aus dem Diskurs

ALBER STUDIENAUSGABE

A

https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Über dieses Buch: Der Berliner Transzendentalpragmatiker und Verantwortungsethiker Dietrich Böhler führt im Licht der Wende zur Sprache und zur kommunikativen Ethik zunächst durch die Problemgeschichte und gibt eine traditionskritische Einführung in die Philosophie. Der Leser wird in die Auseinandersetzung mit den Meistern der westlichen Denk- und Begriffstradition lebendig einbezogen. Hier und im systematischen zweiten Teil – dialogische Prinzipienbegründung – zeigt der Autor z. B., wie tief und fruchtbar die Idee des strikt argumentativen und partnerschaftlichen Diskurses – seit Sokrates – als Stachel im Fleisch der Gewohnheiten, der Konventionen und Institutionen, aber auch des Relativismus und Skeptizismus sitzt. Hat diese Idee neben ihrer emanzipatorisch kritischen Funktion auch die Begründungskraft eines tragenden Prinzips der Gültigkeit und der Moral? Besitzt sie auch Verbindlichkeit für die Lösung moralischer Konflikte und Orientierungskraft für das neuartige ethische Grundproblem der technologischen Zivilisation: Zukunftsverantwortung?

Der Autor: Dietrich Böhler, 1942 in Berlin geboren, 1970 in Kiel promoviert, habilitierte sich 1981 in Saarbrücken: »Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion«, Frankfurt am Main 1985. Seit 1975 ord. Professor in Berlin, zuerst PH, seit 1980 Freie Universität. Initiierte mit G. Kadelbach (Hessischer Rundfunk) das Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik und leitete es 1980/81 zusammen mit Karl-Otto Apel, Otfried Höffe und Manfred Riedel. Er ist verantwortlich für das »Hans Jonas-Zentrum e. V.« (www.hans-jonaszentrum.de) mit der interdisziplinären Theorie-Praxisgruppe »EWD – Ethik und Wirtschaft im Dialog«.

https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Dietrich Böhler

Verbindlichkeit aus dem Diskurs Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Studienausgabe 2014 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48641-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86053-3

https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Inhalt

Vorblick

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Neuausgabe

Erster Teil: Alte Meister – neue Einsichten I

Erstaunen und Erschrecken – Seinsschau oder Dialog als Anfang des Philosophierens? Sprachpragmatische Kritik der theoria-Tradition . . . . . . . I.1 I.2

Sokratisches Erstaunen: Vor der Entdeckung der Diskurspartnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens? Platon und »Fußnoten« zu Platon . . . . 2.1 Politisch ethischer Vorgriff: Platons latent totalitäre Kosmo-Theologik und Kosmo-Politik . 2.2 Die pragmatischen Dimensionen des EtwasDenkens – verdrängt durch Platons akommunikative Sprach- und Erkenntnisauffassung . . . . . . 2.3 Metaphysik des geistigen Sehens und Leerheit der Idee des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Platonische Lektionen für uns: Vorschein der Transzendentalphilosophie versus totalitäre politische Bildung und kosmo-naturalistischer Fehlschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22 26 28

39 53

58

5 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Inhalt

I.3

I.4

I.5

Aristoteles: Zwischen teleologischer Seinsmetaphysik, dialogischer Sokratik und konventioneller Ethik . . . 3.1 Aristoteles’ teleologische theoria-Ontologie, deren Fortleben, Ablösung und Aufhebung . . . . . . . 3.2 Aristoteles’ pragmatisch konventionelle Ethik . . 3.3 Erstaunliche Verbindlichkeit aus dem Diskurs: der unhintergehbare Satz vom Widerspruch . . . Aristoteles’ Schatten: Verbannung des kommunikativen Handelns aus der Philosophie – Türöffnung für den methodischen Solipsismus . . . . . . . . . . . . Die unbefriedigte Kommunikation: Rhetorik im Schatten der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Isokrates und Cicero. Rhetorik als konsensbezogene Alternative zur theoria-Ontologie oder als relativistischer Diskursersatz mit naturalistischem Sicherheitstitel? . . . . . . . . 5.2 Rhetorik und Ideologie – Kulturrelativistische Anfälligkeit der Rhetorik von Cicero bis Rorty . .

73 75 89 92

101 111

111 124

I.6

Diskurs im dualistischen Rahmen einer christianisierten theoria. Von Augustinus und Thomas zementierte Erblasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 6.1 Wirkmächtiger Augustinus. Verfestigung der akommunikativen Erkenntnis- und instrumentellen Sprachauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . 136 6.2 Thomas von Aquin. Der unbiblische Seins- bzw. Kontemplationsgott und das akommunikative Erkenntnisschema ›diskursiver Verstand versus intuitive Vernunft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 6.3 Weder Nominalismus noch Logizismus. Wittgensteins Staunen und seine halbherzige Wende zur Sprachpragmatik . . . . . . . . . . . . . . . 152

I.7

Diskurswillige Wanderschaft? Biblisches Dialog- und Moralerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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Inhalt

II

Kritik der Moderne: Vernunft in den Grenzen des Subjekt-Paradigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

II.1 Hintergrund der Neuzeit. Vom kopernikanischen Choc zum selbstbewußten Subjekt und zur mathematisierten Technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174

II.2 Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Subjekt-Objekt-Dualismus und Verdrängung der Kommunikation durch einen Solipsismus der Methode

178

II.3 Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch Reflexion des Erkenntnissubjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

II.4 Hobbes’ Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege: Zweckrationalistische Vertragstheorie in mechanistischem Rahmen . . . . . . . . . . . . . .

196

II.5 Kants Suche nach Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren Gesinnungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5.1 Kopernikanische Wende der Ethik: Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit . . . . . 216 5.2 Folgelasten der Zwei-Welten-Metaphysik: Solipsistische Gesinnungs- statt kommunikativer Handlungsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Zweiter Teil: Zukunftsverantwortung aus dem Diskurs III Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik III.1 »Wo bist du immer schon?« – Das Apriori des Begleitdiskurses

. . 235

. . . . . . . . . . . 235

III.2 ›Dialog‹ und ›Diskurs‹. Beziehungs- und Geltungsaspekt des Diskurses versus empirische Mannigfaltigkeit der Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . .

244

III.3 Sokratische Dialogreflexion. Vermittlung von Sollen und Wollen: Prinzipienbegründung und Willensmotivation aus dem Diskurs . . . . . . . . . . . . .

250 7

https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Inhalt

III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Die praktischen Elemente der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Sprachliche Verständigung – durch Aussage oder durch Kommunikation, primär semantisch oder dialogpragmatisch? . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Selbsteinholung als Methode: Vorverständnis, Rekonstruktion, sinnkritische Reflexion . . . . . 4.3 Dialektik der Existenz: Das Zugleich von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft oder Ich I versus Ich II . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Sinnbedingungen des Diskurses: Geltungsansprüche und implizite Dialogversprechen der leibhaften Diskursteilnehmer . . 4.5 Die Unmöglichkeit einer Privatsprache oder die Unhintergehbarkeit der kommunikativen Vernunft 4.6 Kurzer Reflexionsdiskurs: ›Kannst du die Diskurspartnerschaft mit dem, was du sagst und willst, vereinbaren?‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.5 Autonomie und Verantwortung. Entwicklung und Aufstufung der praktischen Vernunft . . . . . . . . . 5.1 Die »Achsenzeit«: Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Entwicklungslogik der moralischen Urteilsbildung – Kohlberg redivivus . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 ›Aufhebung‹ der Gesinnungsethik: Moralische Strategiebildung angesichts ›schmutziger‹ Handlungsbedingungen und fragwürdiger Zumutbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Erfüllte Autonomie: ›Meine‹ Verantwortung und Glaubwürdigkeit als Diskurspartner . . . . . . . III.6 Sokrates und ›wir‹ : Diskursglaubwürdigkeit und Moral sind verwoben . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Was der Logosgrundsatz bedeutet . . . . . . . . 6.2 Platonischer Sokrates versus Moral aus dem Dialog 6.2.1 Expertenmetaphysik der Wahrheit versus Pluralität und Verständigungsgegenseitigkeit im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

262

263 267

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287 300

316 324

325 336

350 364 373 378 387

388

Inhalt

6.2.2 Vor der Gefahr des Rechtspositivismus oder: Naturalistisch fehlschlüssige Vertragstheorie versus biblisch motivierte Menschenwürde . 391 6.2.3 Faktische Anerkennung versus Diskursglaubwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . 399 6.2.4 Moralische Strategien: Verantwortung für den Erfolg und die Zumutbarkeit des Moralischen 401

IV Zukunftsverantwortung und Menschenwürde . . . . . . . .

407

IV.1 Mitverantwortung für die Menschheitszukunft in der Gefahrenzivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . .

408

IV.2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf den technologischen Prometheismus und die Entethisierung der Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 2.1 Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden – eine paradoxe Wissenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 IV.3 Spekulativ metaphysische versus reflexiv dialogische Begründung des Prinzips Mitverantwortung. Läßt sich das Zugleich von Freiheit und Verantwortung (Kants »Faktum der reinen Vernunft«) einholen? . . . 428 IV.4 Absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit? . . . . 440 4.1 Hans Jonas’ orientierende Gedankenexperimente . 440 4.2 Pflicht zur Daseinsbewahrung der Menschheit. Als Diskurspartner hast du dich zur Vereinbarkeit deiner Thesen/Entscheidungen mit einem unbegrenzten argumentativen Konsensus verpflichtet 448 IV.5 Naturverantwortung als Diskursverantwortung . . . . 5.1 Solidarität mit der belebten Natur: Öko-Holismus oder Diskursverantwortung? . . . . . . . . . . . 5.2 Diskursverantwortung als Naturverantwortung: Die öko-verantwortungsethische Einsicht des leibhaften Diskurspartners . . . . . . . . . . 5.2.1 Wahrnehmung der ›Naturinteressen‹ : QuasiVerstehen und Diskursverantwortlichkeit . .

453 455

462 466

9 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Inhalt

IV.6 Fürsorge oder Sich-Verantworten? Verantwortung in theoretisch intuitiver versus diskursiv kommunikativer Einstellung . . . . . . . . IV.7 Ist Atomenergie verantwortbar? . . . . . . . . . . . 7.1 Diskursverantwortung versus »pragmatische« Atomenergiepolitik . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Metaphysisch versus diskurspragmatisch: zwei komplementäre Denkweisen – eine erschreckende Einsicht . . . . . . . . . . . IV.8 Die Grundnorm Menschenwürde – Verbindlichkeitserweis im Dialog mit einem Zweifler .

470 491 498

505 514

IV.9 Was heißt und wo beginnt Menschenwürde? . . . . . 529 9.1 »Menschenwürde« – der Schirm für zugleich potentiell vernunftfähige und vernunftunfähige Leibwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 9.2 Anspruch auf Achtung der Menschenwürde versus ›verbrauchende Embryonenforschung‹ und PID . 532 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

539

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erste Stimmen zum Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

592

10 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Vorblick

Es kommt wohl einer rhetorischen Frage gleich, ob die Menschheit angesichts der lebensbedrohenden Gefahren ihrer weltumspannenden technologischen Zivilisation einer verbindlichen Ethik bedarf, die zu einer solidarischen Zukunftsverantwortung verpflichtet. Gleichwohl hat der vernunftverdrossene Zeitgeist das Dogma einer, teils relativistischen, teils zweckrationalistischen Unverbindlichkeit festgeschrieben. Doch sehe ich es als vornehmste Aufgabe der Philosophie an, das argumentativ aufzuweisen, was die Menschheit verbinden sollte – und was sich eigentlich von allen, die nachzudenken willens sind, als verbindlich erkennen läßt. Die Frage der normativen Ethik ›Was sollen wir tun?‹ wird hier sokratisch reflexiv gestellt: ›Gibt es etwas, wozu wir alle, die wir denken können, wir als mögliche Diskursteilnehmer, einsehbar verpflichtet sind?‹ Die äußere Lage – die ökologische, soziale, fiskalische und monetäre Situation – macht diese Begründungsaufgabe nicht minder dringlich; zeigt sie doch das Ausmaß der neuartigen kollektiven Mitverantwortung, deren Wahrnehmung es als allgemeine Menschenpflicht zu erweisen gilt. Das, was wir seit Ende des 20. Jahrhunderts in und mit der technologischen Zivilisation, vorangepeitscht durch die unheilige Allianz von verantwortungsfreier Spekulation auf den Geldmärkten und ungebremster Verschuldungspolitik vieler Staaten, bewirken oder geschehen lassen, betrifft die ganze Erde und die Zukunft der Gattung. Es stellt die Gerechtigkeit zwischen den Generationen in Frage. Es beeinträchtigt die Zukunft der Menschenwürde und der Menschenrechte. Seit den Atomverbrechen von Hiroshima und Nagasaki, seit den durchaus selbstverschuldeten Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, seit der alltäglichen Vergiftung des Planeten durch das Weiter-so des quantitativen wirtschaftlichen »Wachstums«, seit der Möglichkeit und 11 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Vorblick

Wirklichkeit der Genmanipulation, seit der embryonalen Stammzellenforschung und der ärztlichen bzw. familienpolitischen Nutzung von Fortpflanzungstechnologien wie PID, seit den pränatalen Gentests z. B. auf das Down-Syndrom – seither steht die Ethik vor dem gewaltigen Orientierungsbereich »Zukunftsverantwortung«. Der Begriff umfaßt neben der Verantwortung für das Leben auf der Erde die Verantwortung für die Moral selbst, insonderheit für die Achtung der Menschenwürde. Dieser Begriff wirft manche Grundfragen auf: Wer ist das Subjekt, oder: wer sind die Subjekte dieser, doch augenscheinlich kollektiven, neuen Verantwortung? Wodurch erhält diese Geltung, und wie weit reicht sie? Ist sie nichts als eine Sache der Entscheidung, oder kommt ihr, unabhängig vom guten Willen der Subjekte, logische Verbindlichkeit zu – Verbindlichkeit aus unwiderleglichen Gründen? Gibt es ein Prinzip der Verantwortung im Sinne von Hans Jonas, und würde es zureichen? Ist Verantwortung auch das Prinzip des Philosophierens selbst? Das Desiderat eines Verbindlichkeitserweises, mit dem sich auch der skeptische Argumentationspartner überzeugen ließe, ist verwoben mit der Frage nach dem systematischen Anfang der Philosophie und mit der Frage nach ihrem Selbstverständnis – z. B. (methodisch) einsam wie der Grundzug der westlichen Denktradition oder aber (methodisch) kommunikativ? Liegt der Ursprung des Erkennens im sprachlosen Sehen oder etwa in der argumentativen Kommunikation? Die traditionellen »Paradigmen der Ersten Philosophie« (Karl-Otto Apel), die unser Denken bis eben, sei es affirmativ, sei es ex negativo, beherrscht haben, stehen zur Prüfung an. Traditionskritik und Begründungsreflexion fordern einander. Auch zur Einleitung in die Philosophie dürften Fragen wie diese gut geeignet sein. Philosophie ist ja keine Lerndisziplin, sondern zielt auf ein sich rechtfertigendes und sich einholendes Denken. So will dieses Buch eine Einleitung geben, die zugleich Begründung und Traditionskritik sein soll – und die beides zu sein vermag, sofern sie au fond sinnkritisch ist. Sinnkritisch als stete Prüfung, ob sich eine Annahme oder Forderung in dem gerade anhängigen argumentativen Diskurs als widerspruchsfreier Beitrag vertreten läßt, oder ob sich der Diskurspartner damit in Widerspruch zu den Geltungsansprüchen setzt, die mit seiner Diskurspartnerrolle verbunden sind. Eine solche sinnkritische Prüfung im Dialog gibt nicht allein Kritik sondern Begründung: Evidenz- und Verbindlichkeitstest auf postcartesischem und nachhusserlschem, eben 12 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Vorblick

dialogreflexivem Niveau. Sie macht die Nagelprobe darauf, ob sich eine normativ gehaltvolle Annahme, die als Sinnvoraussetzung eines Diskursbeitrags gelten soll, im Diskurs widerspruchsfrei bezweifeln läßt. Ist das nicht der Fall, so muß sie absolut gelten… Wer sich im Denken rechtfertigt, indem er sich auf sich selbst als Partner im Dialog der Argumente besinnt, der unterläuft die von der Tradition etablierte Scheidung von theoretischer und praktischer Philosophie. Zeigt er doch, daß eine »theoretische« Rede nicht minder moralgebunden ist als eine (vom Thema her) »praktische«. Denn worüber jemand auch rede, stets bringt er einen möglichen Diskursbeitrag vor, durch den er und für den er Wahrheit bzw. Richtigkeit beansprucht. Und für sich selbst nimmt er Glaubwürdigkeit in Anspruch. Erst wenn die Philosophie diese gemeinsame ›praktische‹ Basis aller möglichen Rede aufgewiesen hat, wird sie eine einheitliche, sich selbst rechtfertigende Disziplin sein. Erst dann kann eigentlich von Philosophie im Singular gesprochen werden. Und erst dann haben wir einen Rechtsgrund für die Rede von Vernunft als einer Kompetenz, nämlich als der Kompetenz des sinnvollen Miteinander-Argumentierens bzw. des Gründe-Gebens. Als λόγον διδόναι (logon didonai) steht diese Kompetenz am Anfang des Philosophierens: Als methodisches und reflektiertes Einlösen von Geltungsansprüchen versteht sich das Philosophieren seit Sokrates in Analogie zum Gerichtsverfahren, dem ἔλεγχος (élenchos). Daraus entwickelte sich in Europa, eng mit der Gerichtshofmetapher verbunden, die Idee der kritischen Vernunft, insbesondere in Kants erster Kritik. 1 Die Linie des Philosophierens als eines sich selbst einholenden Diskurses soll hier weitergeführt werden. Die dazu nötige Traditionskritik stößt zu Beginn der Philosophiegeschichte auf Platons und Aristoteles’ Seinslehre, sodann auf die christlichen Tochterphilosophien dieser griechischen theoria, besonders auf die von Augustinus und Thomas von Aquin. Aber auch die neuzeitlichen Wendungen des Philosophierens zu einem Denken, das sich auf das Subjekt stellt, insbesondere die bewußtseinsphilosophischen Klassiker Descartes und Kant geraten ins Visier einer sprachphilosophisch und diskursreflexiv orientierten Traditionskritik. In der Gegenwart bricht die Wende zur Sprache und Kommunikation nicht nur mit der Seinskontemplation sondern auch mit der Kontemplation des Subjekts durch das vermeintlich einsame Erkennt1

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (zit.: KrV), A XI f.; B 697, 767 f., 779 f.

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Vorblick

nissubjekt. Sie setzt vielmehr bei der Sprach- und Handlungsgemeinschaft an, wenngleich in sehr unterschiedlichen Varianten, noch dazu schwankend zwischen transzendentalem und empirischem Sprachbegriff, zwischen Universalismus und Relativismus. Die Leitidee dieses Buches besagt, daß nur ein reflexiv sinnkritischer Ansatz bei dem Sprachhandeln und dessen Dialogcharakter imstande ist, sowohl die Errungenschaften des spekulativen Seinsdenkens und des transzendentalen Subjektdenkens zu würdigen, als auch deren verschiedenartige Fehlschlüsse und oft implizite, aber zerstörerische Selbstwidersprüche aufzudecken. Allererst wenn wir nach den Sinnvoraussetzungen des Etwas-Denkens fragen und diese Fragestellung sokratisch dialogbezogen durchdeklinieren, kann gelingen, was im (welt-)öffentlichen Diskurs und in der innerphilosophischen Auseinandersetzung not tut: Alle, die sich aufs Argumentieren einlassen, sollten und können im Prinzip davon überzeugt werden, daß sie nur dann widerspruchsfrei denken und verantwortbar handeln, wenn sie das im Einklang mit dem argumentativen Dialog bleiben. Für das Philosophieren ergibt sich aus dieser Einsicht das sprachpragmatisch reflektierende Zusammenspiel von Traditionskritik und Begründung. Besagtes Zusammenspiel durchzieht dieses Buch. Auf der Traditionskritik liegt der Akzent im ersten und zweiten Kapitel. Hier wird zunächst die zweideutige Frage nach dem Anfang des Philosophierens gestellt – historisch: ›Wie und womit hat es angefangen?‹ und systematisch: ›Was ist das tragfähige Fundament für das Unternehmen Philosophie?‹ Entscheidend ist die systematische Frage, in deren Licht auch die historische gefragt wird. Die hier versuchte Antwort auf die systematische Frage schlägt sich weder ganz auf die eine noch die andere der (in der Überschrift des ersten Kapitels) zur Wahl gestellten Seiten. Denn der ontologischen Perspektive kommt ebensowohl ein gültiges Recht zu wie der dialogbezogenen Methodik, wenngleich die erste nur in Verbindung mit der zweiten sinnvoll ist. Die Ontologie fällt nämlich ins Sinnwidrige, wenn man sie, wie Platon und tendenziell auch Aristoteles, von dem Bezugsrahmen isoliert, in dem sich das Problem des »Seins« erst stellen kann. Das ist der Zusammenhang von Sprache, Diskurs und Leben. Nur in diesem Sinnrahmen können wir sowohl nach Gültigem suchen als auch nach dem fragen, was uns umgibt und wozu wir gehören – danach, was dieses umgreifende Sein bedeutet. Aus diesem Grunde halte ich es für angemessen und im Sinne eines Denkens, das sich rechtfertigen kann, geradezu für unabweisbar, in 14 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Vorblick

allen Streitfragen die Besinnung auf uns, die wir, fragend und antwortend, leibhaft tätig sind, ins Spiel zu bringen und ihr Gehör zu schenken. Etwa so: ›Was nehmen wir (immer schon und notwendigerweise) in Anspruch und was geschieht eigentlich, wenn wir nach etwas fragen und Antwort suchen?‹ Diese Frage ist der klassischen ontologischen Frage nach dem »Sein« geltungsmäßig vorgeordnet, weil nur sie es erlaubt, auch über die Seinsfrage Auskunft zu geben und sie rechtfertigungsfähig, als sinnvollen Diskursbeitrag, zu stellen. Unser Im-Diskurs-Sein liegt einer möglichen Erkenntnis dessen zugrunde, was wir mit dem Begriff ›Sein‹ umschreiben. Darum vertritt dieses Buch die These vom Primat und der Unhintergehbarkeit des Diskurses – insbesondere in den Abschnitten III.1 und III.4. Daher geht es auch in den Dialogen, die hier mit Skeptikern – letztlich mit dem Skeptiker in uns selbst – geführt werden, immer wieder zurück auf uns als Dialogpartner. Stets von neuem stellt es die sinnkritische Gretchenfrage: ›Bist du mit dieser Rede ein glaubwürdiger Diskurspartner?‹ Das ist die stete Wiederkehr in den Reflexionsserpentinen dieses Buches. Ein Diskurs ist dialogförmig, weil darin Auffassungen gegenüber Anderen (im Selbstgespräch gegen mich als meinen Anderen) geltend gemacht und an deren Argumenten geprüft werden. Deshalb muß er aber nicht als Dialog veranstaltet werden, sondern kann als Monolog, als schriftliche Darlegung usw. in Erscheinung treten. Insofern mögen Sie, geneigte Leserinnen und Leser, den Ausdruck »Dialog« im Titel des ersten Kapitels für überzogen halten (vgl. die Definition in Abschnitt III.2). Freilich spricht der Blick auf den historischen Beginn des Philosophierens in der Sokratischen Schule für diesen Titel, begegnen wir hier doch lauter Dialogen. Zudem macht das Wort »Dialog« die Erkenntnisquelle nicht nur dieses Buches sondern der Wende der Philosophie zur Sprache und Kommunikation sinnfällig, die hier auch ethisch durchbuchstabiert wird: in den Abschnitten I.3.3 und I.6.3, systematisch in Kapitel III und Kapitel IV, zumal in den Abschnitten 2, 4, 6 und 8. Schließlich ist es der Begriff des Dialogs, der uns darauf hinweist, daß wir von Gemeinschaft abhängig sind. Nun aber nicht bloß empirisch, weil andere Menschen zufällig anwesend sind, sondern im vorhinein und notwendigerweise – transzendentalpragmatisch. Denn bereits etwas als etwas verstehend bzw. erkennend und dafür unausdrücklich Geltung in Anspruch nehmend, sind wir nie allein sondern

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in Gemeinschaft, und zwar zunächst in einer realen Kommunikationsgemeinschaft, die aus Sprache(n) und Tradition(en) erwächst. Da ein Gespräch, auch Selbstgespräch, ohne vorausgesetzte Geltungsansprüche nicht möglich ist, verweist der Begriff des Dialogs auf den Begriff »Diskurs«; freilich nicht auf den Allerwelts- und SortenBegriff, demzufolge alle Zeichenzusammenhänge so genannt werden, sondern auf die Idee eines strikt argumentativen Dialogs. Diese regulative Idee ist zugleich Geltungsprinzip und Moralprinzip. Denn einargumentativer Diskurs setzt eine ideale Kommunikationsgemeinschaft voraus: sowohl als Geltungsinstanz – eine reine und unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft, in der alle sinnvollen Argumente zur Sache aufgesucht und geprüft würden –, wie auch als Verbindung von Partner, die einander als gleichermaßen Berechtigte und Mitverantwortliche achten würden. Um diese Idee dreht sich die Wende zur kommunikativen Vernunft und damit zur kommunikativen Ethik. Können wir sagen, wozu unsere Diskursvernunft uns verpflichtet, dann erschließt sich auch, was es heißt, Mitverantwortung für das Leben als Basis der Vernunft, wahrzunehmen, und warum wir das tun sollen – wir Teilhaber der globalisierten, technologischen Zivilisation und, derzeit immer noch, des globalen Finanzkapitalismus. Darum geht es in dem abschließenden Kapitel IV. Es schlägt den Bogen von der reflexiven Selbstaufklärung der Diskursvernunft zu moralischen Herausforderungen, die im 21. Jahrhundert auf den Nägeln brennen. Da ein Buch dieses Umfangs dem Leser wie dem Verleger genug zumutet, mußte auf einige Problemerörterungen verzichtet werden, so auch auf das Übergangskapitel zwischen dem traditionskritischen und dem systematischen Teil: »III. Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik? Jesuanisches Liebesethos und Max Webers ›unauflösbares‹ Dilemma«. Es mag anderswo seinen Ort finden. Der Werdeprozeß des Buches setzt spätestens 2001 mit der Vorbereitung des Jubiläumskolloquiums der Forschungsgruppe »EWD« ein, dessen Ergebnisse 2004 unter dem Titel »Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral« im LIT-Verlag veröffentlicht worden sind. Für diese und andere Lerngelegenheiten danke ich ebenso meinen Mitstreitern im Hans Jonas-Zentrum e. V. wie den diskutierenden Teilnehmern meiner letzten Vorlesungen und Seminare. Dank schulde ich auch Dr. Benjamin Böhler, der mir, als Holland in Not war, unter die Arme griff. Für seine geduldige, verständnisvolle Beratung danke ich dem Verleger Herrn Lukas Trabert und Frau Julia Pirschl in seinem Lekto16 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Zur Neuausgabe

rat; ihr auch für das Personenregister. Daß der mehrfach unterbrochene Arbeitsprozeß in ein Buch gemündet ist, verdanke ich der so kompetenten wie langmütigen Unterstützung durch meine letzte Mitarbeiterin, Frau Bernadette Herrmann M.A., die das Ganze in Form gebracht und das Sachregister erarbeitet hat. Mein Dank an sie ist in das Buch mit eingeschrieben.

Zur Neuausgabe In der Neuausgabe ist der Untertitel so vervollständigt worden, daß er nicht nur, wie anfänglich, den innerphilosophischen Bezugspunkt, sondern auch den materialen Bezug angibt. Der Untertitel lautet nunmehr: »Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise«. Im Text sind inzwischen Errata korrigiert, kleine Verbesserungen vorgenommen und Hinweise auf wichtige Literatur (z. B. S. 227, 230, 325 und 434) hinzugefügt worden. Vor allem habe ich dreierlei verbessert. Um Mißverständnisse des Ausdrucks »Dialog-« bzw. »Diskursversprechen« (siehe S. 292 ff.) zu vermeiden, ist jetzt zumeist von »impliziten Dialogversprechen (a priori)« die Rede. Daß das System dieser impliziten Versprechen ein offenes ist, hat sich mir bestätigt, als ich im Anschluß an das sechste Dialogversprechen a priori, nämlich sich um die Umsetzung der Diskursergebnisse zu bemühen, ein siebentes entdeckte. Es ist die verantwortungsethische Selbstverpflichtung des glaubwürdigen Diskurspartners, sich angesichts einer diskurs- und moralwidrigen Situation um eine – allerdings konsenswürdige – erfolgsfähige Strategie-Konterstrategie zu bemühen (S. 298, 3. Absatz und 299 unten). Schließlich ist eine Kurzdefinition von ›Begleitdiskurs‹ hinzugekommen: S. 283, Mitte. Für subtile Hilfe bei den Korrekturen habe ich wiederum Frau Julia Pirschl M.A. und Frau Bernadette Herrmann zu danken. Beim Schwimmen gegen den Strom haben mich viele Kolleginnen und Kollegen durch Zuschriften ermutigt, von denen fünf – dafür war gerade noch Platz – am Schluß des Buches zitiert sind. Dietrich Böhler, im Dezember 2013 17 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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Erster Teil: Alte Meister – neue Einsichten

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I

Erstaunen und Erschrecken – Seinsschau oder Dialog als Anfang des Philosophierens? Sprachpragmatische Kritik der theoria-Tradition

Was, sagt man, von alters, sei der Anfang der Liebe zur Weisheit oder des Philosophierens? – Das Erstaunen. Diese Antwort, auf die man in der Philosophiegeschichte immer wieder zurückgekommen ist, finden wir in Platons Dialog »Theaitetos«, 155 d. Sie ist eingebettet in das erste Paradigma der Philosophie, in den metaphysisch ontologischen Rahmen, in das spekulative Fragen nach dem, was eigentlich ist, nach dem »Sein«. An der genannten Stelle läßt Platon den Sokrates sagen, der Zustand des Erstaunens sei der »eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes […]; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben.« In der griechischen Mythologie wird erzählt, daß Thaumas, eine archaische Urgottheit, deren Name an »wunderbar« anklingt, mit Elektra die regenbogenfarbene Iris gezeugt hat. Und diese bringt auf einem Regenbogen den Menschen göttliche Kunde, so daß man in jeder Hinsicht über sie ins Staunen gerät: über ihre schimmernde Schönheit ebenso wie über ihre göttliche Botschaft. In Homers »Odyssee« wird sie durch den Götterboten Hermes verdrängt, von dem Platon hier aber schweigt. Das platonische Erstaunen ist die Reaktion auf die Perspektivendrehung, »periagogé«, Platons Umkehr der natürlichen Bewußtseinsrichtung – weg von der sinnlichen Wahrnehmung und hin zur »theoria«, einer geistigen Schau der Ideen als Strukturen des Seins und des Seins als dem Ganzen göttlicher Wohlordnung: »kosmos«. Diese Wendung ist der eigentliche methodologische Eröffnungszug des reifen, nachsokratischen Platon. Freilich finden wir, selbst wenn das Wort »Staunen« in diesen Zusammenhängen nicht fällt, zuvor bereits eine ganz andere Verwunderung, ausgelöst von Sokrates als kritischem Dialogpartner.

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Erstaunen und Erschrecken

I.1

Sokratisches Erstaunen: Vor der Entdeckung der Diskurspartnerschaft

Sokrates provoziert ein Erstaunen als verwunderte, befremdete Reaktion auf die insistierende Befragung im Prozeß eines kritischen Diskurses (élenchos). Dieser Prozeß mutet den Beteiligten nämlich zweierlei zu: zunächst die Ersetzung des natürlichen Durchsetzungstriebs bzw. Rechthabenwollens durch die Einsicht in die eigene Irrtumsfähigkeit, ja durch die Einsicht, daß Wissen und Wahrheit kein Besitz ist sondern eigentlich ein diskursiver Prozeß, an dessen Anfang die selbstkritische Unterscheidung von Zu-wissen-Meinen und Wissen, von Geltungsansprüchen und Einlösung der Geltungsansprüche steht. Daraus ergibt sich die zweite Diskurszumutung: die Bereitschaft, nach dem besten Logos zu suchen und einzig diesem Folge zu leisten. Sokrates erstaunt, befremdet, provoziert seine Gesprächspartner als unerbittlicher Anwalt des Diskurses, der dem Alltagsbewußtsein, auch und nicht zuletzt seinem eigenen, mit provokanter Ironie begegnet: ›Ohne die schmerzhafte Einsicht, daß ich als natürlicher Alltagsmensch (Ich I) zwar Meinungen aber nicht Wissen mitbringe, kann ich kein Diskurspartner (Ich II) werden.‹ Das ist die implizite diskursphilosophische Einsicht, welche den Sokratischen Dialogen zugrundeliegt. Sie sprengt geradezu den Denk- und Begriffsrahmen, den die klassische Philosophie der Antike, die Platonische, aber auch die Aristotelische, wirkungsträchtig errichtet hat, den Rahmen einer geistigen Schau (theoria) des Seins, des ›Wesens‹ der Dinge. Weist diese Einsicht doch voraus auf den Begriffs- und Denkrahmen, der in der gegenwärtigen Wende der Philosophie zur Sprache, durchaus kontrovers, entwickelt wird. Sie greift nämlich vor auf das dritte Paradigma der Philosophie, auf eine kommunikationsphilosophische Pragmatik mit emanzipatorischen Obertönen. Auch die Ironie des Sokrates kann zur Autonomie des Selbst-Denkens führen. Es ist ja, als packe er seine Gesprächspartner permanent so an: ›Kannst du deinen Wissensanspruch, den Anspruch auf Wahrheit deiner Meinung, begrifflich präzisieren und einlösen? Du kannst es nur dann, wenn du nach nichts anderem suchst als nach dem Logos, der sich dir im Dialog als der beste zeigt.‹ Sokrates provoziert in theoretischer und moralischer Hinsicht. Theoretisch bzw. erkenntnistheoretisch, indem er seine Gesprächspartner des Nichtwissens überführt und das eigene Nichtwissen einbekennt. Er erscheint ihnen wie ein Zitterrochen, der Anderen lähmen22 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

I.1 Sokratisches Erstaunen

de elektrische Schläge versetzt. 1 Will er sie doch aus dem bloßen EtwasMeinen und Nachreden von Sprichwörtern herausschlagen, auf daß sie zu denken sich bemühten. Offenbar verfährt der kritische und ironische Sokrates nach der Maxime: Ohne schmerzhafte Einsicht des Logos-Suchers (Ich II) in das Nichtwissen, das sich hinter dem natürlichen Durchsetzenwollen von Meinungen, Praktiken bzw. Normvorstellungen des natürlichen Ich I verbirgt, ist der Weg zur Erkenntnis des Wahren und Richtigen im vorhinein verstellt. Zwar steht die sokratische Negativität nicht nur am Anfang von Dialogen, sondern macht bei dem frühen Platon auch den Beschluß: Hier münden die Diskurse in eine Aporie, die Erkenntnis einer Ausweglosigkeit 2 oder in die Einsicht, daß das Gesagte nicht mit der Lebensweise des Sprechers übereinstimmt, daß Anspruch und Praxis auseinanderklaffen. 3 Eben das macht die moralische Befremdung, das ethische Ärgernis des sokratischen Diskurses aus. Aber zugrundeliegt eine positive Orientierung, insbesondere die moralische Forderung einer diskursbezogenen Einheit von Theorie und Praxis, von Reden und Tun. Denn als zuhöchst erstrebenswert zeichnet Sokrates die Verträglichkeit von Lebenspraxis und diskursiver Einsicht aus. Selbst Hegel, der die Sokratische Negativität emphatisch kritisiert, muß zugestehen, daß sich in der Gestalt des Sokrates das metakonventionelle Prinzip der Subjektivität mit dem des Logos verbindet 4 – genauer: mit dem Prinzip eines in gegenseitiger Achtung zu führenden argumentativen Dialogs. Der Sokratische Dialog birgt durchaus eine positive moralische Orientierung: die zwiefältige Tugend der dialogischen Suche nach dem besten Logos, die der Diskurspartner als Selbstzweck bzw. Wert an sich 1 Vgl. Platon, Menon, 80 a. Zur Ironie: G. Martin, Sokrates in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 127 ff. 2 Zur Aporie: Platon, Menon, 80 a – 86 c; Charmides, 169 c–d; Theaitetos, 149 e. Dazu B. Waldenfels, Das sokratische Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis, Meisenheim am Glan 1961. 3 Vgl. G. Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969 (zit.: Wahrheit (1969)), bes. S. 91 ff., vgl. S. 87–107. 4 »Dem zufälligen partikulären Innern hat Sokrates jenes allgemeine, wahrhafte Innere des Gedankens entgegengesetzt. Und dieses eigene Gewissen erweckte Sokrates, indem er nicht bloß aussprach: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern: Der Mensch als denkend ist das Maß aller Dinge.« So G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: ders., Werke in 20 Bänden, Red. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1971 (zit.: Werke (1970 f.)), Bd. 18, S. 472, vgl. 467, 471, 497 und 514 f.

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Erstaunen und Erschrecken

hochachtet, und des Strebens nach Übereinstimmung von Leben und Logos, woraus die wahre Glaubwürdigkeit erwächst. Jedenfalls in dem Maße, in welchem der Logos als Resultat eines argumentativen Dialogprozesses verstanden und also auf kommunikative Weise nach Erkenntnis gesucht wird, ergibt sich eine neue Tugend der Tugenden: Glaubwürdigkeit in Gestalt der Kohärenz von Lebenspraxis und Diskurs, Faktizität und Begründung, mithin von Meinungs- bzw. Interessensubjekt und Argumentationspartner. In diesem Sinne würdigt der Feldherr Laches den Sokrates als Menschen, der die Tugend verwirkliche, weil er in der Übereinstimmung von Rede und Taten lebe. 5 Seine Lebensführung sei harmonisch gestimmt: »zusammenklingend mit den Worten die Werke«. 6 Wie bringt er es zu diesem Einklang? Nicht anders, als daß er jeweils kritisch-dialogisch danach sucht, und zwar nach dem Vorbild eines Gerichtsprozesses, in dem ein Rechtsanspruch geprüft wird. Ein erster Schritt in Richtung Diskursethik! 7 Die bei Sokrates sonst im Hintergrund bleibende dialogethische Orientierung läßt sich gut am »Gorgias« explizieren. Dort führt Platon die sokratische Auseinandersetzung mit dem reaktionären Sophisten Platon, Laches, 188 c – 189 b. Ich folge hier der Auslegung Georg Pichts: Wahrheit (1969), S. 87–107, bes. S. 88 ff. 6 Platon, Laches, 188 d. 7 In diesem Sinne hatten Karl-Otto Apel und ich Sokrates 1980/81 in dem Einführungswerk »Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik« interpretiert. Natürlich aktualisiert eine solche Interpretation; sie ist nur möglich in dem Begriffsrahmen eines kommunikationsethischen Ansatzes und stellt eine »Applikation«, eine Aneignung des historischen Gegenstandes dar. Vgl. die späteren Buchveröffentlichungen jenes Funk- und Textprojekts: D. Böhler, »Ethische Vernunft und geschichtliche Praxis«, in: K.-O. Apel, D. Böhler u. a. (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik. Reader zum Funk-Kolleg, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980 (zit.: Funkkolleg Reader (1980)), bes. S. 123–126; K.-O. Apel, D. Böhler u. G. Kadelbach (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Frankfurt a. M. 1984 (zit.: Funkkolleg: Dialoge (1984)), Bd. 1, S. 85 f., 96–98, 102–106, 281–288. Und: K.-O. Apel, »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (I)«, in: ders., D. Böhler u. K. Rebel (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik. Studientexte, 3 Bde., Neuaufl. Weinheim/Basel 1984 (zit.: Funkkolleg Studientexte (1984)), Bd. 1, S. 86–89; Bd. 2, S. 317–319, 339 ff., 366–371. Eine verwandte Aneignung hat Vittorio Hösle auf dem Weg zu einer Erneuerung des objektiven Idealismus vorgenommen, als er im »Gorgias« und dem ersten Buch der »Politeia« den »ersten Versuch einer Sprachethik (besser: Dialogethik)« zu rekonstruieren versuchte. Vgl. ders., Wahrheit und Geschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 (zit.: Wahrh. u. Gesch. (1984)), S. 334 f. 5

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I.1 Sokratisches Erstaunen

Kallikles vor. 8 Dieser will die Gerechtigkeit aus der Natur ableiten, indem er sie auf das Recht des Stärkeren zurückführt und dabei die natürliche Ungleichheit zwischen den Kräftigen, Tüchtigeren und den Schwachen, Untüchtigeren als den richtigen Bezugspunkt in den Dialog einbringt. Kann er das zu Recht? 9 Könnten Sie, meine Leser, oder ich, wenn wir etwas in einem argumentativen Dialog klären wollen, z. B. was Gerechtigkeit und Rechttun bzw. Unrechttun bedeute, uns legitimerweise auf die Natur beziehen – indem wir etwa die natürliche (Über-) Macht des Stärkeren als Kriterium für Gerechtigkeit geltend machen? Was heißt es praktisch, wenn ›ich‹, ein Dialogteilnehmer, ›dir‹, meinem Dialogpartner, das natürliche Ungleichheitsverhältnis von Kraft und Schwäche mit der Folge einer Durchsetzung des Stärkeren als Kriterium für Gerechtigkeit und Rechttun ansinne? Ignoriere ›ich‹ dann nicht, was es moralisch bedeutet, daß ›ich‹ zu ›dir‹ in ein dialogisches Verhältnis getreten bin? – Solche Fragen nach der Basis und Praxis des Dialogs der Argumente, gewissermaßen »diskurspragmatische« Fragen, dürften der Antwort zugrundeliegen, die Sokrates hier versucht. So hat er schon kurz zuvor Kallikles entgegengehalten, daß dieser (wie Hösle analysiert) »eine gewisse Gleichheit der Gesprächspartner« 10 und die Selbigkeit ihres Bezugsrahmens notwendigerweise vorausgesetzt habe, nämlich den Dialog. Zur Führung eines Dialogs gehört einmal, daß man »frei heraus rede«, also wahrhaftig, wodurch man die Adressaten anerkennt und sie achtet, als sei man ihr Freund. 11 Überdies weiß ein Dialogteilnehmer – daran erinnert Sokrates sein Gegenüber –, daß man nach einem Konsens der Argumente strebt, weil die Übereinstimmung zwischen den Argumentationspartnern als hinlängliche Erprobung, mithin als Kriterium für Wahrheit bzw. für moralische Richtigkeit, gelten könne. 12 Zu den entgegengesetzten ethisch-politischen Konsequenzen, die seitens der beiden sophistischen Richtungen, dem oligarchisch reaktionären Flügel (Kallikles u. a.) und dem egalitär demokratischen Flügel (Antiphon u. a.), aus ihrem Ansatz bei dem »von Natur aus Richtigen« gezogen werden: K.-O. Apel, »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie (I)«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 74–78. Bemerkenswert auch Apels Vergleich von Kallikles’ Position mit Nietzsches »Genealogie der Moral«, a. a. O., S. 75. 9 Platon, Gorgias, 483 a – 484 c. 10 A. a. O., 481 c 5 – d 1. Dazu V. Hösle, Wahrh. u. Gesch. (1984), S. 348 f., Fn. 245. 11 Platon, Gorgias, 487 d 4–5 und e 5–6. 12 A. a. O., 487 e 1–3 und 6–7. 8

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Erstaunen und Erschrecken

Was Sokrates auf diese Weise, nämlich durch Reflexion auf einen argumentativen Dialog in dem gerade geführten Dialog, einem Gesprächspartner zu Bewußtsein bringt, sind tragende Voraussetzungen eines Dialogs. Im dritten Paradigma der Fundamentalphilosophie, die seit Aristoteles als »erste Philosophie« bezeichnet wird 13, nämlich der transzendental fragenden Kommunikationsphilosophie 14, werden sie als Sinnbedingungen des Diskurses und als Normen der Diskurspartnerrolle rekonstruiert. Es sind zunächst die »Geltungsansprüche« auf Wahrhaftigkeit bzw. Glaubwürdigkeit des eigenen Diskursverhaltens und auf (mögliche und erstrebte) Wahrheit bzw. Richtigkeit der eigenen Diskursbeiträge, insbesondere aber des gemeinsamen Diskursergebnisses. Diese sinnkonstitutiven Ansprüche der Rede lassen sich nicht einlösen, ohne daß man Verpflichtungen gegenüber den anderen Dialogteilnehmern und gegenüber dem gemeinsamen Handlungsrahmen, eben dem Dialog, anerkennt. So etwa die Sozialverpflichtung, dem Anderen »freund« zu sein und nicht etwa bloß Scherz mit ihm zu treiben; oder die Argumentations- und Sozialverpflichtung, solche Reden zu führen, die nicht etwa Willkürliches besagen: »bald so, bald so«, 15 sondern etwas geltend machen, das sich prüfen läßt und ein Kooperationsangebot einschließt, nämlich auf der gemeinsamen Suche nach »dem höchsten Ziel (τέλος, telos) der Wahrheit«. 16 Offenbar ist der zumal vom frühen Platon explizierte Sokrates im Begriff, die Rolle des Argumentationspartners als Urrolle des Denkenden zu entdecken und damit die Vernunft als Diskurs. Was das für die Begründung der Ethik bedeutet, wird uns in den Kapiteln III.4 und III.5 beschäftigen.

I.2

Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens? Platon und »Fußnoten« zu Platon

Sokrates’ Ansatz hat sich nicht nur bei seinen Zeitgenossen kaum durchgesetzt, auch sein bedeutendster, bis heute Philosophiegeschichte machender Schüler, Platon, hat ihn nicht als dialogethische OrientieAristoteles, Metaphysik, 1004 a 2 f., 1026 a 23 ff., 1061 b 17 ff. Dazu K.-O. Apel, Paradigmen der Ersten Philosophie. Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, Frankfurt a. M. 2011, Teil I und Teil II, bes. S. 281 ff. und 254 ff. 15 Platon, Gorgias, 481 d 5 – e 1. 16 A. a. O., 487 e 6–7. 13 14

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I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

rung aufgegriffen. Er hat ihn in Metaphysik, und zwar in eine Kosmobzw. Seinstheologie umgewandelt. In lockerer Anknüpfung an Heidegger läßt sich diese Metaphysik, die den Hintergrund der Hauptströmungen der abendländischen Ontologie abgibt, als »ontotheologisch« charakterisieren 17, und zwar in doppelter Hinsicht. Einmal unterstellen oder behaupten Platon und spätere Metaphysiker, daß alles, was vorhanden ist, einen göttlichen Ursprung und Sinn habe. Zudem setzt ihre Erkenntnisweise gewissermaßen einen Gottesstandpunkt voraus. Sie reden über die Welt des Lebens und der Dinge, als gehörten sie nicht eigentlich selber dazu, sondern als könnten sie von außerhalb, 18 von einem absoluten Erkenntnisstandpunkt aus wie ein »Gott der Philosophen« (Pascal) auf sie schauen 19, und zwar in der Distanz und unbeteiligten Ruhe einer reinen »Kontemplation«. So hat Cicero das griechische theorein wirkungskräftig übersetzt. 20 Mit dieser Annahme einer ewig in sich ruhenden Betrachtungsweise sprechen sie sich – drittens – das Vermögen zu, sub specie aeternitatis (Spinoza) auf die Welt zu blikken 21, indem sie nämlich die Ewigkeit und Notwendigkeit der geschauten Strukturen voraussetzen und sich auf diese konzentrieren, sie gewissermaßen aus der Vielfalt der Erscheinungen herausschauen. 22 Diese drei erkenntnislogischen und zugleich ontologischen Voraussetzungen gehen über Platon 23 auf die eleatischen, im süditalienischen Elea ansässigen, Seinstheologen Parmenides und Xenophanes zurück. Ein Vorspiel finden sie bei Homer und Hesiod. 24 Den Eleaten und Platon zufolge hat allein dasjenige eigentliches Sein, was wie das Göttliche M. Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957 (zit.: Identität (1957)), bes. S. 55 ff. 18 Vgl. z. B. Th. Nagel, Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt a. M. 1992, S. 153 und H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1982, S. 75. 19 Dazu G. Picht, »Der Gott der Philosophen«, in: ders., Wahrheit (1969), S. 229–251, vgl. a. a. O., S. 123 ff. 20 Vgl. L. Kerstiens, Art. »Kontemplation«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh), Bd. 4 (1976), S. 1024 f. 21 Vgl. Th. Rehbock, Art. »Sub specie aeternitatis«, in HWPh, Bd. 10 (1998), S. 493 ff. 22 Vgl. G. Picht, »Die Epiphanie der Ewigen Gegenwart«, in: ders., Wahrheit (1969), S. 36–86, vgl. a. a. O., S. 126 ff., 141 ff. 23 H. Arendt, Vom Leben des Geistes, München 1998 (zit.: Vom Leben des Geistes (1998)), S. 134–151. Vgl. F. M. Cornford, Plato’s Theory of Knowledge. The Theatatus and the Sophist of Plato, New York 1957, bes. S. 189. 24 Vgl. G. Picht, »Die Epiphanie der Ewigen Gegenwart«, in: ders., Wahrheit (1969), S. 38–50. 17

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Erstaunen und Erschrecken

beschaffen ist, nämlich allgemein und in sich ruhend, unveränderlich und ewig gegenwärtig, und was sich als solches nicht der sinnlichen Wahrnehmung oder dem Meinen und Hörensagen erschließt, sondern was sich dem göttlichen Vernunft-Auge, dem reinen nous, unmittelbar und rein zeigt. Das welthaft Seiende, das sich sinnlich wahrnehmen und als etwas meinen läßt, habe als solches, unabhängig vom göttlichen Sein, überhaupt keine Dauer, es fließe nur zwischen Entstehen und Vergehen. Abb. 1: Die altgriechischen ontotheologischen Unterscheidungen seit Homer und Hesiod Menschen

Gott bzw. Götter

Unterscheidungsebenen

zeitlich seiend eingespannt zwischen Vergangenheit und Zukunft

immer seiend wahres Sein in ewiger Gegenwart

ontotheologisch

Wissen bloß vom Hörensa-alles sehend, gen und durch sinnliche alles wissend Wahrnehmung (Scheinwissen)

epistemologisch (erkenntnistheoretisch)

Leib, Seele u. menschlicher nous

epistemologisch und psychologisch

reiner, absoluter nous

Ungeachtet mancher Wandlungen und subtiler Differenzierungen ist es dieser seinstheologische und erkenntnistheoretisch optisch intellektualistische Rahmen, in dem die abendländische Metaphysik denkt. Erst im subjektphilosophischen Paradigma, konsequent von Kant, wird dieser Rahmen zerstört, aber von Hegel in gewisser Weise erneuert. Doch zurück zu Platon.

I.2.1 Politisch ethischer Vorgriff: Platons latent totalitäre KosmoTheologik und Kosmo-Politik Mit Hilfe der literarischen Kunstform ›Dialog‹ verwandelt Platon das Sokratische Staunen, die Verwunderung darüber, daß wir als Teilneh28 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

mer am Dialog eigentlich gemeinsam nach dem besten Argument suchen, in ein metaphysisches Erstaunen über die ewigen göttlichen Strukturen des Kosmos und überhaupt des Seins: Dem Alltagsmenschen verborgen, könne sie der Philosoph nach dem Vorbild der göttlichen Wesensschau durch eine intellektuelle Anschauung letztlich einsam erkennen, um sie alsdann den Leuten autoritativ zu vermitteln, nämlich durch die quasidialogischen Methoden der Maieutik (Hebammenkunst) und Dialektik. Platon versetzt seine Leser in ein Staunen der Seinsbetrachtung. In den Dialogen seiner mittleren Periode gibt er diesem, auf das Sein und dessen Offenbarmachung konzentrierte, Erstaunen noch eine dialogmethodische Tönung. Die Leser und die Teilnehmer am Diskurs, den der Hebammenkünstler Sokrates führt, geraten in eine Erkenntnisverwunderung: Unversehens holt ihnen der Maieutiker und Dialektiker ein implizites Wissen aus der Seele, aus dem Geist herauf und transformiert es in begriffliches Wissen über das Sein, in ein Wissen der Ideen. Als Ideenlehrer schließlich, der die Dialektik gänzlich zum didaktischen und epistemischen Instrumentarium seiner theoria, der Seinsschau, gemacht hat, fasziniert Platon seine Leser seit zweieinhalb Jahrtausenden – wahrlich erstaunlich auch das –, indem er sie staunen macht: zunächst über die als »Kosmos« sichtbare, unantastbare und ewige Wohlordnung des Seins, sodann über das Wissen davon, das Ideenwissen der Vernunft. Es ist die religiöse und intellektuale Verehrung des Kosmos, längst von den ihm nahestehenden Pythagoreern etabliert, welche Platons Einschätzung des menschlichen Raubbaus an der Natur zugleich motiviert und auffängt. Denn der Kosmos ist die göttliche, ewige, unzerstörbare Grundwirklichkeit. Nicht allein politisch – davon wird bei der Frage nach der besten Polisverfassung ausführlich die Rede sein – sondern auch ökologisch sehnt sich Platon nach einer Annäherung an das Ideal der Kosmosharmonie. Schon Sophokles hatte im Chorlied der Antigone die Naturbemächtigung des Menschen halb bedauernd, halb staunend besungen, war aber kosmosgläubig überzeugt, daß die Erde, die göttliche, »nimmer vergeht und nimmer ermüdet«, wie immer der Mensch sie »ausschöpfe«. Platon spricht aber von einem Raubbau der Menschen an der Natur Attikas. Von dessen einst immenser Fruchtbarkeit sei infolge der Entwaldung, anschließender Erosion und späterer Verkarstung der Böden nichts als »der hagere Leib des Landes zurückgeblieben, die Kno29 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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chen des erkrankten Körpers«. 25 Doch knüpft er daran keine politische Gestaltungsperspektive an, etwa eine politische Ökologie zur Renaturierung des Landes, gar zur Vermeidung einer Krise. Von einer Verantwortung des Menschen für die Natur ist keine Rede. Offenbar zehrt Platon wie Sophokles von dem altgriechischen Urvertrauen auf den göttlichen Kosmos. So konstatiert Hans Jonas: »Die Unverletzlichkeit des Ganzen, dessen Tiefen von des Menschen Zudringlichkeit ungestört bleiben, das heißt die wesentliche Unwandelbarkeit der Natur als der kosmischen Ordnung, war in der Tat der Hintergrund zu allen Unternehmungen des sterblichen Menschen einschließlich seiner Eingriffe in jene Ordnung selbst.« 26 Nicht zufällig schlägt Platon in seinem Naturdialog »Timaios« den ganzen Spannungsbogen seines Kosmosdenkens: vom Erwachsen der Vernunft aus der andächtigen Kosmosschau bis zur Klage über Naturverwüstungen. Dominant bleibt allemal das ehrfürchtige Kosmosstaunen. Es schließt auch das Licht und das Ebenmaß der Vernunft ein. Die höchste Idee, die des Guten, Schönen und Einen, sei sowohl der Urgrund alles dessen, was ist, als auch der Lichtquell der Erkenntnis, mithin Seinsgrund und Erkenntnisgrund. Das darin gipfelnde Erstaunen über die vollkommene Ordnung des in ewig unwandelbarer Harmonie, als »Kosmos«, geordneten Seins komme herauf, wenn man den Blick auf das Firmament richte, dann vom Schauen zur Berechnung der Zeit und schließlich zur Philosophie gelange, zur Frage nach dem Ganzen des Seins. »Der Anblick von Tag und Nacht, vom Umlauf der Monate und Jahre, von Tag- und Nachtgleiche und den Sonnenwenden hat die Zahl ans Licht gebracht und uns die Erkenntnis der Zeit und die Suche nach der Natur des Alls gespendet. Hieraus haben wir die Herkunft der Philosophie gewonnen, und ein höheres Gut ist nie gekommen noch wird jemals kommen zum sterblichen Geschlecht als Gabe der Götter […]. Gott hat die Sehkraft für uns erfunden und uns damit begabt, damit wir die Umläufe des göttlichen Geistes [des nous] am Himmel erblicken und sie als Vorbild für die Umläufe unseres eigenen Denkens [dianoia] gePlaton, Timaios, 111 b. Vgl. zum ökologischen Raubbau im antiken Griechenland und dessen Spuren im öffentlichen Bewußtsein: K.-W. Weeber, Smog über Attika. Umweltverhalten im Altertum, Frankfurt a. M. 1990, bes. S. 17–130. 26 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979 (zit.: PV (1979)), S. 20. 25

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brauchen, welche jenen verwandt sind – den Unverwirrbaren die Verwirrten. Wenn wir sie aber gelernt und uns die der Natur entsprechende Richtigkeit ihrer Berechnungen angeeignet haben, dann sollen wir die ganz und gar unablenkbaren Umläufe des Gottes nachahmen und so die schweifenden Umläufe [des Denkens] in uns selbst ordnen. Von der Stimme und dem Gehör gilt wieder dasselbe, daß dieses Geschenk eben deshalb und zu demselben Zwecke uns von den Göttern verliehen sei; denn die Rede [logos] hat den selben Zweck und trägt das meiste zu dessen Erreichung bei. Soviel aber von der Musik der Stimme nützlich ist, so wurde es dem Gehör zum Zwecke der Harmonie geschenkt. Die Harmonie aber, welche verwandte Bewegungen hat wie die Umläufe der Seele in uns selbst, ist dem, der sich den Musen hingibt gemäß der Vernunft [nous], nicht zum Genuß einer irrationalen Lust, so wie man es heute meint, gegeben; vielmehr ist sie uns von den Musen als Beistand verliehen worden gegen die in uns aufgekommenen unharmonischen Umläufe der Seele, um sie zur Ordnung und mit sich selbst in Einklang [συμφωνία, symphonia] zu bringen« 27. Das menschliche Denken, sofern es auf den Kosmos schaue, und die menschliche Seele, sofern sie auf die Harmonie der kosmischen Sphärenmusik höre, würden in eine Mimesis dieser Wohlordnung hineingezogen und so aus der Unordnung der Leidenschaften herausgebracht. Das Denken bezieht Platon mimetisch auf den göttlichen nous als das Urbild allen Denkens. Eine ungeheuer folgenträchtige Bezugnahme: Bis zu Leibniz, Kant und Hegel, ja bis zu Husserl wird die reine Kontemplation des (ursprünglich göttlichen) nous als Archetyp der Vernunft gelten und ihr Gegenstand, das Sein, als Inbegriff der harmonischen Ordnung. Georg Picht, an dessen Übersetzung ich mich soeben angelehnt habe, gibt einen erhellenden Kommentar zu unserer Stelle: »Im Hintergrund steht die pythagoreische Lehre, daß die Bewegungen der Gestirne und die Bewegungen der Musik identisch sind, weil sie der gleichen Mathematik gehorchen. Wie Damon gelehrt hat, daß sich die Haltung des Menschen durch die Gewöhnung den geordneten BewegungsabläuPlaton, Timaios, 47 a 5 – 47 d 6. Neben dem VI. Buch der »Politeia« ist der kosmologische Dialog »Timaios« die wichtigste Quelle für diesen Ansatz einer intuitiven Kosmos-Vernunft. Der »Timaios«, den sich die römische Welt durch eine Teilübersetzung Ciceros, die christliche durch die kommentierte Edition des Neuplatonikers Chalcidius (um 400 n. Chr.) aneignete, konnte bis in die Neuzeit als Platons Hauptwerk gelten. Er hat noch Kant einen kosmotheologischen Hintergrund vermittelt.

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fen der Musik angleicht, so kann der Mensch auch durch die Betrachtung der Sterne die Bewegungen seiner Seele dem Kosmos angleichen und so seine ursprüngliche Verwandtschaft mit dem die Sterne bewegenden νοῦς entdecken. Dies ist der geschichtliche Boden von Kants berühmtem Wort aus dem Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft: ›Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.‹ Der Begriff ›Kosmos‹, der bei Platon den Gedanken trägt, bezeichnet die Ordnung in der Bewegung. Deshalb kann der gleiche Begriff auf die Bewegung der Sterne und Gezeiten und auf die Bewegung der Musik bezogen werden. Diese Bewegungslehre bildet […] jene Brücke zwischen Musik und Astronomie, die es Platon im ›Staat‹ erlaubt, die Lehre des Damon auf die Betrachtung des Kosmos zu übertragen.« 28 Im sechsten Buch des »Staats« (»Politeia«) spricht Platon die kosmosmimetische Funktion ausdrücklich der Philosophie zu. So führt er die philosophische Begründung des rechten Verhaltens auf die Schau der göttlich natürlichen Ordnung zurück. Er vertritt eine KosmoTheo-Logik, deren Gegenstand sich durch reines Vernehmen erschließen lasse, durch eine Vernunftschau. Ebenso unmittelbar sei die Anwendung dieser Kosmos-Vernunft. Versteht er sie doch als Mimesis: Angleichung der Seele an die, sie mit Staunen erfüllende, harmonische Bewegung des Kosmos oder »sich selbst bilden« – ἑαυτὸν πλάττειν. 29 Was hat es mit dem Begründungsansatz auf sich und was mit der Umsetzung, dem Mimesis- bzw. Bildungskonzept? Platon begründet das, was als gut und richtig gelten könne, indem er von einer Deutung der Himmelsordnung auf die Sollensordnung menschlichen Zusammenlebens schließt, von einer Kosmosharmonie auf die anzustrebende Verfassung der Seele und die des Stadtstaates. Die Warum-Frage, die Frage nach dem Rechtsgrund und Verbindlichkeitsgrund dieser Vorbildsetzung wird übersprungen oder autoritativ vorentschieden: Es sei eben die göttliche Vernunft, welche im Kosmos walte; wobei noch vorausgesetzt wird, daß dieses Walten zutreffend beschrieben ist. Grundsätzliche Einwände – für uns, die wir nach David Hume (1711–1776) und Kant (1724–1804), nach dem Geschichts28 29

G. Picht, Wahrheit (1969), S. 120. Platon, Politeia/Der Staat (zit.: Politeia), 500 d 6.

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bewußtsein des Historismus im 19. Jahrhundert und dem Kommunikationsbewußtsein des 20. Jahrhunderts angesiedelt sind, liegen sie freilich besonders nah – können dann gar nicht berücksichtigt werden. So würden wir fragen, inwiefern denn ein ewig gleicher Regelkreis des Kosmos als Vorbild der geschichtlichen Existenz und des menschlichen Handelns, das auf neuartige Situationen zu antworten hat und insofern je neu auf situationsbezogene Diskurse (über das konkrete Sollen) angewiesen ist, auch nur plausibel sein kann. Zumal doch in der Natur ein Sollen und eine Zwecksetzung überhaupt keinen Platz haben. Wie sollte sich also allein aus einer Beschreibung natürlicher Vorgänge die Begründung eines Sollens für das menschliche Handeln ergeben können? Derart fragend, nähern wir uns der von Hume und Christian August Crusius (1715–1775), am tiefgreifendsten aber von Kant erarbeiteten Einsicht in den geltungslogischen Gegensatz von Naturfakten und Vernunftnormen, von natürlichem Sein und einsehbarem Sollen. Doch aus einer Naturdeutung oder -beschreibung allein ergibt sich kein Grund für ein Sollen. 30 Wird das suggeriert oder behauptet, so liegt offenbar jener Begründungsfehler vor, den man seit G. E. Moore (1973–1958) als naturalistischen Fehlschluß bezeichnet. Diese Kritik ist eine typische Errungenschaft des zweiten Paradigmas der Philosophie, der sogenannten Subjekt- oder Bewußtseinsphilosophie, deren Gegenstand nicht mehr direkt ›das Sein‹ (wie etwa bei Platon, Aristoteles, in der Stoa und der Scholastik) sondern das erkennende Subjekt ist. Differenziert wird diese geltungslogische Kritik schließlich im dritten Paradigma, der Kommunikations- und Intersubjektivitätsphilosophie. Sie geht von der Sprache bzw. unserer vorgängigen Teilhabe an Sprach- und Handlungsgemeinschaft (Pragmatik) aus und fragt kritisch nach den internen Bedingungen der sinnvollen Rede

D. Hume, A Treatise of Human Nature, 1740; deutsch: Ein Traktat über die menschliche Natur; übers. von Th. Lipps, Hamburg 1973 (zit.: Traktat über die menschliche Natur (1973)); hier: Buch III, S. 211 ff., vgl. 204 ff. Dazu: L. W. Beck, »›Was – must be‹ and ›is – ought‹ in Hume«, in: Philosophical Studies 26 (1974) (zit.: »Hume« (1974)), S. 219 ff. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (zit.: GMS), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abteilung (Werke), Berlin 1902 ff. (zit.: Akad.-Ausg.), Bd. IV, S. 385–463, hier S. 412 f., 389 u. ö. Ders., KrV, B 575 f. 30

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bzw. Argumentation und des Diskurses. Ein naturalistischer Fehlschluß zeigt sich dann als sinnwidriges Argument. Mit seiner kosmologischen Spielart dieses Fehlschlusses hat Platon nicht allein viel spekulativen Konsens erzeugt und Metaphysikgeschichte gemacht. Damit hat er zugleich einen Schirm aufgespannt, hinter dem sich ein anderer, viel tiefgreifender Denkfehler verbirgt, nämlich die Erschleichung dessen, was eigentlich zu begründen wäre: petitio principii. Ist es doch die weithin einflußreiche Stoa, die Platons Ineinanderschieben von Kosmologie und Ethik/Politik, von Seinsdeutung und Sollensbegründung fortsetzen und – über Cicero – auch der Rhetorik eine naturalistische Hintergrundsmetaphysik vermitteln wird. So geht Cicero davon aus, daß die Menschen im Gemeinsinn, dem Sensus communis, eine zureichende Konsensbasis für die Wahrnehmung der elementaren Dinge wie auch für eine nützliche und zugleich sittliche Lebensführung besäßen: Der gemeine Menschenverstand erwachse aus der vom göttlichen Logos durchwalteten Natur, aber auch – das ist der neue sprachhumanistische, gegen Platons theoria gerichtete Zug – aus der sprachlichen Verfaßtheit der Vernunft. 31 Der untergründige Zirkelschluß durchzieht außerdem die Tradition des Naturrechts und die darin fortwirkende Aristotelische Teleologie – mithin die christianisierte Tochterphilosophie der klassischen Antike, die Scholastik, aber auch große Teile der Aufklärungsphilosophie. Man kann, mit Hans Welzel, geradezu von »der typisch naturrechtlichen petitio principii« sprechen, die er bei Thomas von Aquin ausmacht. Stellt Thomas doch »die schon vorher feststehende christliche Wertwelt als das Naturgemäße« heraus, um dann »aus diesem ›Natur‹-Begriff die christliche Wertwelt scheinbar« abzuleiten. 32 Sowohl an Platons Wirkungsgeschichte, an der Naturteleologie von Aristoteles und Thomas wie an der römischen Stoa, als auch an Platons eigener Seins- bzw. Kosmotheologie läßt sich erkennen, daß hinter dem naturalistischen Fehlschluß ein weitaus gravierenderer Beweisfehler stecken kann, eben die petitio principii: Erschleichung des erst zu erweisenden Grundsatzes, ein logischer Zirkel also. Bei Platon besteht er darin, daß etwas zuvor Gewünschtes und als gut Angesehenes (hier eine Dazu: D. Böhler u. B. Rähme, Art. »Konsens«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. Ueding (zit.: HWRh), Bd. 4, Tübingen 1998, bes. S. 1265 f. 32 H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962 (zit.: Naturrecht (1962)), S. 61. 31

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unveränderliche Harmonie-Ordnung) in die Natur hineingelegt wird, um dann als Erkenntnisgrund und Kriterium für das Gute, also für das, was getan werden soll, geltend gemacht zu werden. Ebenso wie Platons Fehlschlüsse sind die unmoralischen Folgelasten seines Bildungsbegriffs von der religiös getönten Feierlichkeit des Kosmos-Staunens, das den »Zauber Platons« (Popper) zu einem Gutteil ausmacht, zumeist verdeckt und nur selten bei Namen genannt worden. 33 Die Bildungsziele, welche die Kosmosmimesis mit sich bringt, sind »das der Natur nach (physei) Gerechte, Schöne, Besonnene und alles dergleichen«. 34 Die nach diesem »göttlichen Paradigma« zu bildende Polis und keine andere könne »glücklich« sein. 35 Nicht etwa die einsehbare Verbindlichkeit, die Anerkennungswürdigkeit von Normen nach Maßgabe des besten Logos, der im Diskurs zu suchen wäre, macht Platon zum Kriterium des Gerechten, Besonnenen usw., sondern das Glücklichsein nach Maßgabe eines Naturvorbilds, dem göttliche Autorität beigemessen wird. Aus diesem Grunde kommt eine offene Diskussion, ein freier Diskurs darüber, was die einzelnen als ihr persönliches Glück und was die Bürger als das Glück der Polis nicht bloß wünschen, sondern auch rechtfertigen können, gar nicht in Frage … Konsequenterweise bestimmt Platon die ethische und politische Orientierungsaufgabe des Philosophen nicht etwa im Sinne eines Sokratischen Dialogs oder gar nach Maßgabe einer Dialogethik, auf die einige Argumente im »Kriton«, »Gorgias« und im ersten Buch der »Politeia« vorzugreifen scheinen. Vielmehr entwickelt er ein auf Kommunikation gar nicht angewiesenes politisch ethisches Modell: »Bildung« als Gestaltung der Polis nach Maßgabe der Kosmosschau und Von dem feierlichen Gestus der etablierten Rezeption unbeeindruckt, haben zumal Karl R. Popper, Hannah Arendt, Hans P. Schmidt und Karl-Heinz Ilting den Zauber Platons gebrochen. Vorausgeschritten war ihnen z. T. jedoch schon der Neukantianer Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Straßburg 1891, 15. erw. Aufl. hg. von H. Heimsoeth, Tübingen 1957 (zit.: Lehrbuch (1957)), bes. S. 106–109. K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Platons, Bern 1957; engl. Orig. London 1945 (zit.: Offene Gesellschaft (1957)); H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002 (zit.: Vita activa (2002)), vor allem §§ 2, 3, 26– 28 und 31; H. [P.] Schmidt, Frieden, Stuttgart/Berlin 1969 (zit.: Frieden (1969)), S. 48– 53; ders., »Die Erfahrung des Bösen«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 3, S. 693 ff.; K.-H. Ilting, Grundfragen der praktischen Philosophie, hg. von P. Becchi u. H. Hoppe, Frankfurt a. M. 1994 (zit.: Grundfragen (1994)), S. 296–325. 34 Platon, Politeia, 501 b. 35 A. a. O., 420 b 7 f., 420 c 1 – 4, 421 b 6 – c 6 und 472 c 9. 33

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schließlich als Herrschaft der Philosophen über die Polis. Keine Spur von einer offenen Gesellschaft, in der kritische Dialoge gewünscht wären und Männer vom Schlage eines Sokrates Platz hätten. 36 Platons Konzept der politischen Bildung – noch unser heutiger Begriff geht darauf zurück – schließt direkt an die ethische Kosmosmimesis an. Die ethische und politische Orientierungsaufgabe des Philosophen bestimmt er als Bildung i. S. von Formung der Sitten und der Polis selbst. »Der Philosoph also, der mit dem Göttlichen und Wohlgeordneten umgeht, wird auch wohlgeordnet [κόσμιος] und göttlich, soweit es dem Menschen möglich ist. […] Ihm entsteht eine Notwendigkeit, Sorge zu tragen, wie er das, was er dort sieht, auch in die Sitten der Menschen, die persönlichen und die öffentlichen, ein-bilden könne, und nicht allein sich selbst zu bilden.« 37 Wenn sich erst der Philosoph derart selbst gebildet habe, werde er mit Notwendigkeit zum bildenden Künstler, zu einem Demiurgen, der die Polis samt den darin vorgefundenen Einstellungen und Gebräuchen wie eine Wachstafel »reinigt« 38, um ihr dann die göttliche Form aufprägen zu können. Zu reinigen wovon? Von allem bloß Menschlichen. 39 Weltenweit ist der Platonische Bildungsbegriff von dem humanistischen und deutsch klassischen Bildungsgedanken (Kants, Schillers und Humboldts) entfernt. Während im humanistischen, von der judäochristlichen Ethiktradition mitgeprägten Bildungsbegriff das Prinzip der Menschenwürde – der Mensch nach dem Bilde Gottes erschaffen – verankert ist, läßt sich diese Grundnorm in Platons Rahmen überhaupt nicht denken. Eine Idee des Menschen hat darin keinen Platz, weil für Platon die Ideen in den Bereich des Göttlichen gehören. Nur insofern der Mensch als vernunftfähiges Wesen geistige Schau betreibt, so daß seine Seele zum Raum der Ideen werden kann, kommt ihm Würde zu;

Vgl. D. Böhler, »Kosmos-Vernunft und Lebens-Klugheit«, in: Funkkolleg: Dialoge (1984), Bd. 1, bes. S. 315–320. 37 Platon, Politeia, 500 c 9 – d 1, vgl. 500 d 3 – d 6. κόσμιος ist, wie Georg Picht betont, »ein im Griechischen geläufiges Wort zur Bezeichnung der Menschen, die sich in Zucht zu halten wissen. Aber in unserem Zusammenhang gewinnt es, wie wir sehen, einen anderen Sinn. Es wird damit gespielt, daß κόσμιος auch heißen könnte: dem Kosmos ähnlich, ein Abbild des Kosmos. Dieser Gedanke wird dann im ›Timaios‹ ausgebaut. Hier ist der Ursprung des Gedankens vom Menschen als einem Mikrokosmos.« (G. Picht, Wahrheit (1969), S. 121.) 38 Platon, Politeia, 501 a – c 2. 39 A. a. O., 500 e – 501 c 2. 36

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aber dies ist keine Menschenwürde, sondern der Anteil des Menschen an der göttlichen Würde. Durch den Gedanken der Humanität sind der christliche Humanismus und der moderne Bildungsbegriff scharf von dem Kosmotheologen Platon geschieden. Denn »nie hat ein Grieche im Ernst von der Idee des Menschen gesprochen – nur spielend erwähnt Platon sie einmal, als er sie mit der Idee des Feuers und des Wassers verbindet –, und dann folgt die Idee des Haares, des Schmutzes und des Drecks« 40. Zudem ist an dieser einzigen Stelle nur von der körperlichen Gestalt des Menschen die Rede, keineswegs aber von der moralischen Identität der Person und der Würde dessen, was Menschenantlitz trägt. Eine solche »Idee«, welche die Achtung der Würde jedes Menschen zum Prinzip macht, ist Platon völlig fremd. Die von ihm angestrebte Erziehung der Polis-Bürger zum Guten und zur Tugend setzt sich über all das, was wir heute unter Humanität verstehen, rigoros hinweg, weil das Menschliche eben immer das Besondere, das Veränderliche, das Unstete, das Geschichtliche, also das bloß zeitlich Seiende und Endliche, sei, das gerade beherrscht und gebunden werden müsse, damit das Gute und Gerechte zur Herrschaft kommen könne. Eine Bildung und Politik, die das Gute zur Herrschaft bringen soll, müsse den Menschen »von Kindheit an gehörig beschneiden und das dem Werden und der Zeitlichkeit Verwandte an [ihm] ausschneiden«, weil dieses wie Blei das Gewicht der natürlichen Bedürfnisse verstärke und »das Gesicht der Seele nach unten«, zur Welt hin wende. Von der Welt aber müsse der Mensch befreit werden, um »sich dem Wahren zuzuwenden«. 41 Zum Zweck einer solchen Herausbildung aus der menschlichen Lebenswelt, in der es stets Veränderung, Konflikt und Unruhe gibt, in der die Gerechtigkeit und das Gute stets gefährdet sind, dürfen und sollen die die Herrscher im Platonischen Idealstaat zu Lüge, Täuschung und Betrug greifen. Sogar der staatliche Kindermord wird für nötig befunden, damit ausschließlich die Sprößlinge derjenigen Mitglieder der Herrscherklasse aufgezogen werden, die sich als die Tüchtigsten erwiesen haben. 42 Eingeschoben wird die rassehygienische

So Bruno Snell in bezug auf Platons »Parmenides«: B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 31955, S. 334. 41 Platon, Politeia, 519 a 9 – b 4. 42 A. a. O., 459 a – 460 c. 40

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Behauptung, das Geschlecht der Wächter, sprich der (nicht unterschiedenen) Militärs und Polizisten müsse »rein« sein. 43 Bei dieser Lektüre mag einem der Atem stocken. Einer solchen ›politischen Bildung‹ ist offenbar – kosmotheologisch – fast alles erlaubt. Sie kennt nicht das, in dem andersgearteten Geist der Bibel schon angelegte, Gebot der Menschenwürde bzw. der Achtung jedes Menschen als Ebenbild Gottes. Ebenso ist sie unberührt von dem normativen Begriff eines rein kommunikativen Handelns, der den zwischenmenschlichen Umgang jesuanisch bzw. mosaisch und prophetisch an das Gebot der Nächstenliebe bindet oder ihn diskursethisch an den Normen mißt, die ›wir‹ als Partner eines gewaltfreien, argumentativen Dialogs bereits in Anspruch genommen haben und auch anerkennen sollten, weil wir sie ohne Selbstwiderspruch nicht in Zweifel ziehen können. Oder man lese in Platons Alterswerk »Nomoi«, den »Gesetzen«, in welcher Weise das Gute und die Tugend gewährleistet, auf welche Weise die Polis dem Bilde des Guten nachgebildet werden soll. Fühlen wir uns nicht an George Orwells Roman »1984« erinnert, mit seinem totalen Überwachungsstaat und dem »Auge des großen Bruders«, wenn von Platon vorgeschlagen wird, daß die Jüngsten der Wächterklasse in der ganzen Stadt umherspähen und »den Älteren Meldung von allem, was in der Stadt vorgeht, machen« sollen? 44 Diese Älteren aber bilden die zugleich politische und moralische Elite, die unbemerkt in der Nacht oder in der Morgendämmerung zusammentreten und sicherstellen soll, daß die Gesetze in der Polis und die Gesetzmäßigkeit in der Seele herrschen. Die Politik wird auf die Herrschaftsaufgabe beschränkt, zu garantieren, daß den Gesetzen »unabänderliche Gewalt in naturgemäßer Weise verliehen« 45 wird. Diese Aufgabe sollen der Rat der zehn ältesten Gesetzeswächter und ihre ausgewählten Beigeordneten wahrnehmen, der durch absolute Kontrolle des bürgerlichen Lebens darüber wacht, daß die Gesetze, die die unzulänglichen Menschen gut machen, nämlich erziehen sollen, strikt eingehalten und nicht etwa verändert werden. Offenbar soll die Polis so genau, so schön, so störungsfrei und reibungslos funktionieren, wie die von der göttlichen Vernunft geordneten Planeten am Himmel kreisen. Nicht mehr Sokrates tritt als Dialogführer 43 44 45

A. a. O., 460 c 6, vgl. 459 e 1 f. Platon, Die Gesetze, 965 a. A. a. O., 960 d.

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auf, sondern ein alter Athener: Teils rechtfertigt er kosmosmythisch die alte Polisordnung, wie sie vor der Demokratisierung und der sophistischen Aufklärung bestand, teils führt ihn sein Hauptziel – Erziehung (paideia) durch eine rigoristische Gesetzgebung für das ganze Leben und sämtliche Lebensbereiche – zu neuen, freilich mehr oder weniger totalitären Sozialformen. Und als die ideale, wenngleich unerreichbare Staatsform gilt dem Alten ein Kommunismus, der nicht nur den Besitz sondern auch Frauen und Kinder umfassen würde … Selbst wenn man Platon die »Nomoi«, dieses erst nach seinem Tode herausgebrachte, offensichtlich nicht durchkomponierte Riesenwerk, abspräche, wie es z. B. Walter Bröcker getan hat, 46 so bliebe ihm doch ein totalitärer Grundzug – zumal in der »Politeia«. Denn Platon setzt an die Stelle des, auf freie Öffentlichkeit verweisenden, sokratischen Diskurses eine spekulative Kosmos-Vernunft. Diese konnte freilich, wie Hans P. Schmidt pointiert hat, »im Grunde genommen nichts Neues anfangen, sondern nur Ewiges einsehen. Die Zwangsvorstellung eines ein für allemal ›nous‹(vernunft-)programmierten Kosmos verhinderte die Einsicht in die geschichtliche Verantwortung für so etwas wie eine fortlaufende Programmgestaltung in allen Lebensbeziehungen und Weltbezügen. Die Annahme einer unwandelbaren Welt-Vernunft blockierte die Wahrnehmung der leibhaftig vernünftigen Verantwortung für den geschichtlichen Wandel der Welt. Der Kosmos-Mythos herrschte in geläuterter Gestalt.« 47 Hinzukommt, daß Platon diese Kosmos-Vernunft für einen exklusiven Kreis reserviert, in der »Politeia« für die Philosophenherrscherklasse, in den »Gesetzen« für den nächtlichen Kontrollrat. So schlägt für uns Platons anfängliches Staunen um in Erschrecken. I.2.2 Die pragmatischen Dimensionen des Etwas-Denkens – verdrängt durch Platons akommunikative Sprach- und Erkenntnisauffassung In Verbindung mit seiner Kosmotheologie, zumal mit deren erkenntnistheoretischer Voraussetzung, daß eigentliche Erkenntnis nach dem W. Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 21967 (zit.: Platos Gespräche (1967)), S. 10 und 20. 47 H. [P.] Schmidt, Frieden (1969), S. 51 f. 46

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Muster des Etwas-Sehens zu begreifen sei, steht Platons Auffassung von der Sprache. Und auch sie ist von enormer Wirkung. Bis heute sitzt sie uns im Rücken. Es kommt nicht allein einer Selbstkontrolle und gegebenenfalls Emanzipation gleich, wenn wir uns mit der Platonischen Sprachtheorie auseinandersetzen; vielmehr provoziert Platon geradewegs zur Aufdeckung der kommunikativen Dimensionen, in denen sich jeder bewegen muß, der überhaupt etwas denkt. Im sprachphilosophischen Dialog »Kratylos« nimmt Platon expressis verbis die Möglichkeit einer sprachfreien Erkenntnis an und stellt das methodologische Postulat auf, man solle die Dinge besser ohne Worte, nämlich durch verwandte Dinge oder durch sie selbst erkennen. 48 Was im kurze Zeit darauf entstandenen »Phaidon« schon als »abgedroschen« gilt, die Erkennbarkeit der Ideen ohne Worte 49, wird im »Kratylos« entwickelt. Hier sucht Platon nach einem »Paradigma« für die richtige Benennung und Bedeutungserfassung der Dinge. Diese Suche führt ihn stufenweise aus der Sprachphilosophie hinaus – und in die Ideenlehre als Ontologie hinein. Der Dialog weist einen eidetischen Weg zur »Idee« der Dinge, welcher vermittels sprachlicher Ausdrücke als den »Werkzeugen« der Benennung zu beschreiten sei. Dieser Weg führe von einem, in verschiedenen Sprachen durchaus unterschiedlichen, Wortausdruck, der aber ein und dieselbe »Idee des Wortes«, also den (idealen) Begriff wiedergeben müsse, auf das Wesen, die Urgestalt der Dinge selbst als dem »bestimmten Sinn« der Wortidee. Diese reine Dinggestalt sei die sprachunabhängige Idee. 50 Das ist die ideentheoretische Ausklammerung des sprachphilosophischen Bedeutungsproblems. Sie trennt die Konstitution der Wortbedeutungen von dem realen geschichtlichen Sprachgebrauch ab und deren Geltung von einem möglichen dialogischen Konsensus. Wie konnte es dazu kommen? Platon hat die Tendenz, Sprache als System von Worten, primär von Dingworten, zu betrachten; und er verbindet diese Sprachauffassung mit einer instrumentalistischen Perspektive. So erklärt er die Wortbildung mit Hilfe eines Werkzeugmodells: Wie ein Werkzeugmacher, etwa der Tischler, beim Verfertigen eines WeberPlaton, Kratylos, 438 e – 439 b. Ders., Phaidon, 100 b. 50 Ders., Kratylos, 389 a – 390 a; vgl. 422 d – 424 e, 428 c – 428 d/e und 438 a – 439 b. Dazu J. Derbolav, Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, bes. S. 58 f., 89 und 95 ff. 48 49

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I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

schiffchens auf das Musterbild seines Werkzeugs (εἴδος, eidos) blicke, so schaue der Wortbildner auf die ἰδέα (idea) und gebe sie wieder. 51 Doch wer sind die Wortbildner, wenn nicht die realen Sprecher als aktive Teilhaber einer Sprachgemeinschaft und sprachmodifizierende Fortsetzer ihrer Sinn- und Ausdrucksgeschichte? Platons Werkzeugmodell enthebt uns, die geschichtlichen Wortbildner, einer Verständigung über den Sinn eines fraglichen sprachlichen Ausdrucks und seiner Abgrenzung von anderen Ausdrücken. Seine instrumentalistische und verdinglichende Wortsemantik setzt zweierlei voraus: erstens, daß Wortbildung, also Sprachentwicklung, prinzipiell einsam und kommunikationsunabhängig möglich sei, und – zweitens – daß Sprachschöpfung (bzw. Weiterentwicklung der Sprache durch Wortbildung) nach dem akommunikativen Modell des Produzierens von Dingen (hier: eines Instruments) gedacht werden kann – also nur in der Subjekt-Objekt-Relation. Wenn man die urkommunikative Handlung der sprachlichen Sinnverständigung und des Etwas-Definierens als ein Herstellen begreift – so, als ginge es darum, daß einer, vielleicht einsam und für sich allein, ein Objekt produziere –, schneidet man sie aus der Welt der Kommunikation heraus. Es ist dieser technische Zusammenhang, in dem Platon das Wort ›Idee‹ als philosophischen Schlüsselbegriff verwendete. Hannah Arendt pointiert, daß er damit einen Begriff zum philosophischen Terminus erhob, der »offensichtlich auf Erfahrungen des Herstellens, der ποίησις, beruht«. 52 Ganz konsequent löst Platon im »Phaidon« und »Phaidros« auch den anamnetischen Weg des Ideenerwerbs von der kommunikativen Sprachpraxis ab. Denn er bestimmt ihn zum einen wahrnehmungspsychologisch – die Erinnerung werde unmittelbar von der Wahrnehmung eingeleitet 53 –, zum anderen entelechetisch ontologisch und erkenntnislogisch: Die Erscheinungsmannigfaltigkeiten selbst strebten nach den Ideen 54, auf deren Erkenntnis der Mensch wesengemäß aus sei und die er synagogisch erlangen könne. 55 Daß die Sprache die Sinnbasis auch

51 52 53 54 55

Platon, Kratylos, 389 b 8 – 390 a 7. H. Arendt, Vita activa (2002), S. 168, vgl. 286 ff. Platon, Phaidon, 75 a 5 und 75 e 3 ff. A. a. O., 74 d 6 – 75. Platon, Phaidros, 249 b 6 – 249 c 3 und 265 d 3 – 265 d 5.

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Erstaunen und Erschrecken

für Ideen ist und der argumentative Dialog die Geltungsbasis des Denkens, hat Platon, wirkmächtig bis heute, ignoriert. Einwenden mag man hier, diese Kritik stütze sich vorwiegend auf Platons optisch orientierten Rahmen, die theoria, vernachlässige aber die in diesem teils angesiedelten, teils ihm entgegengestellten dialogischen Aspekte, insbesondere die berühmte dialogbezogene Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Reden. Nun, zuallererst gilt natürlich, daß Verträglichkeit herrschen muß zwischen dem Rahmen und den Elementen eines Denkens. Keine zustimmungsfähige Philosophie ohne innere Kohärenz, die eine stimmige Selbstbegründung ermöglicht, eine Selbsteinholung der Einzelthesen bzw. der einzelnen Einsichten. Andernfalls würde der Philosoph entweder mit seiner Rahmentheorie oder mit einzelnen Gedanken aus dem argumentativen Dialog herausspringen – ins Abseits. Was aber die Platonische Verhältnisbestimmung von Denken und Reden anbelangt, so hat es damit die Bewandtnis eines »Zwar – aber«: Auf der einen Seite steht die Dominanz der kosmos- und ideenschauenden Vernunft, auf der anderen der sokratische Dialogbezug. Nur, was wird aus diesem in jenem emphatisch theoretischen Rahmen? Die entscheidenden Stellen pro Denken als Dialog finden wir im »Sophistes« und im »Theaitetos«, die beide um 365/366, vor bzw. nach Platons zweiter italienischer Reise, entstanden sein dürften. In dem späteren »Sophistes« setzt der Fremde aus Elea, vermutlich Parmenides, zunächst Denken und Reden gleich und präzisiert dann, daß es das innere Gespräch der Seele mit sich selbst sei, was man Denken (διάνοια) nenne. 56 Freilich setzt er ohne Umschweife, als ergebe sich das von selbst, eine Definition hinzu, welche sich am ehesten im Sinne eines kommunikationsunabhängigen Denkens verstehen läßt – als Erkenntnisweise, die sich der Sprache bloß als eines Mediums von Lauten und Wörtern bediene: »Der Ausfluß von jenem [dem Denken] aber vermittels des Lautes durch den Mund heißt Rede (λόγος).« 57 Ganz ähnlich, doch differenzierter definiert Sokrates das Denken, διανοεῖσθαι, in dem wohl nach 365 verfaßten »Theaitetos« als »eine Rede (λόγος), welche die Seele mit sich selbst über dasjenige durchführt, was sie erforschen will«, und zwar indem sie mit sich selbst rede (διαλέγεσθαι): sich selbst fragend und antwortend, bejahend und ver56 57

Ders., Sophistes, 263 c 3. A. a. O., 263 e 8 f.

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I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

neinend. 58 An dieser Definition scheint in der Tat nichts auszusetzen zu sein, kann das Denken doch zweifellos als Selbstgespräch eines Denkenden vonstatten gehen. Und führe nicht auch ich in diesem Augenblick, wo ich, der Verfasser, diese Erörterung niederschreibe, ein Selbstgespräch nach Platons Definition? Ja und nein. Natürlich bin ich in einem Selbstgespräch. Doch reicht Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch zu? ›Ich‹ frage doch nicht einfach mich selbst, antworte nicht bloß mir selbst. Außerdem treffe ich nicht allein Ja-und-Nein-Stellungnahmen. Freilich wird das Etwas-Denken noch heute häufig auf Ja-undNein-Stellungnahmen reduziert: So spricht Ernst Tugendhat davon, daß die »Grundmodi« des Sprachhandelns »wesensmäßig Ja/Nein-Stellungnahmen« seien. 59 Habermas und Knut Erik Tranøy lassen hingegen drei Grundmodi gelten. So konstatiert Habermas: »Die zulässigen Reaktionen [auf eine Äußerung mit Geltungsanspruch] sind Ja/ Nein-Stellungnahmen oder Enthaltungen.« 60 Auch Tranøys Pragmatik der Forschung hebt diese drei konstitutiven Akte hervor: »die Akte des Verwerfens, Annehmens und der Urteilsenthaltung bezüglich einer Aussage«. 61 Diese traditionelle Triade übersieht eine vierte Gruppe von zulässigen Reaktionen: die Rückfragen nach Sinn und Geltung des Gesagten. Harmlos stellt sich hier zunächst die semantische Frage nach der Bedeutung des Gemeinten. Kritisch legt sich die Frage nach der Validität der Begründung nahe. Radikal kritisch können Diskursteilnehmer schließlich die Prüfbarkeit und Zulässigkeit einer Meinungsäußerung als Diskursbeitrag in Frage stellen: Ist sie überhaupt ernsthaft diskutierbar? Die letztgenannte Frage ist eine diskurspragmatisch sinnkritische Reaktion. Sie drückt den Zweifel aus, ob das Gesagte als Einlösung eines Geltungsanspruchs und damit als Diskursbeitrag verständlich ist, so daß es von Anderen geprüft und diskutiert werden kann. Wer so fragt, fährt äußerst scharfes Geschütz auf. Er eröffnet eine sinnkritische Platon, Theaitetos, 189 e 4 und 189 e 6 – 190 a 2. E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976 (zit.: Vorlesungen (1976)), S. 518, vgl. 76 f., 242 f., passim. 60 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1981 (zit.: Theorie d. kommunik. Handelns (1981)), Bd. 1, S. 65. 61 K. E. Tranøy, »Pragmatik der Forschung«, in: D. Böhler, T. Nordenstam u. G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende. Sprachspielpragmatik oder Transzendentalpragmatik?, Frankfurt a. M. 1986 (zit.: Die pragmatische Wende (1986)), S. 36–54, hier: S. 40 f. 58 59

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Argumentation, die zu begründen hätte, daß die Rede pragmatisch nicht verstehbar ist. Was müßte eine solche Begründung leisten? Sie muß zeigen, daß die möglichen Adressaten sich zu dieser Rede nicht als Argumentationspartner verhalten können und daß, vice versa, der Sprecher diese seine Rede seinerseits nicht als Argumentationspartner entfalten und in einem Diskurs, worin nur prüfbare Diskursbeiträge statthaft sind, durchhalten kann, sondern durch seine Aussage in Widerspruch zu den Geltungsansprüchen und Anerkennungsverbindlichkeiten seiner Diskurspartnerrolle gerät. Aus der Adressatenperspektive wäre der pragmatische Sinnlosigkeitsverdacht also so zu erhärten, daß man dem Sprecher zeigt: Aus seiner Rede könne ein Adressat gar nicht entnehmen, als was das Gesagte eigentlich zu nehmen sei; als Diskurspartner werde man von dieser Rede düpiert statt ernstgenommen, weil sie einem die Möglichkeit verstelle, ihren argumentativen Gehalt zu erfassen, zu prüfen und begründet Stellung zu beziehen. Kurz: Das Gesagte sei kein Diskursbeitrag, denn der Sprecher springe damit aus dem Dialog der Argumente heraus – insofern disqualifiziere er sich und mißachte die Diskurspartnerrechte. Eine derartige Begründung zieht ihre sinnkritischen Argumente aus dem Diskurs, verstanden als Sinnzusammenhang von Geltungsansprüchen und Gründen zu deren Einlösung – mithin zugleich als Anerkennungszusammenhang von Partnern; denn allesamt haben sie die Diskursrolle eingenommen und dadurch die diskurstragenden Verbindlichkeiten auf sich genommen. Die Begründung des pragmatischen Sinnlosigkeitsverdachts ist eine praktische Begründung aus dem Dialog der Argumente. So begründbar, ist das Geltendmachen eines Sinnlosigkeitsverdachts völlig legitim, ja zur Rettung des Diskurses erforderlich. Es wäre geradezu riskant und gefährdete die Dialog- und Denkkultur, wenn man diese u. U. ganz legitime sinnkritische Reaktionsmöglichkeit überginge, weil man, wie etwa Habermas, nicht nachfragte, ob eine Urteilsenthaltung wirklich immer zulässig ist bzw. wann sie unzulässig wird. Ist letzteres nicht zumindest dann der Fall, wenn sich hinter der Enthaltung die Weigerung verbirgt, auf das Verhältnis von Geltungsanspruch und propositionalem Gehalt eines Diskursbeitrags zu reflektieren? Denn das käme der Verweigerung gleich, Rechenschaft darüber abzulegen, ob sich das inhaltlich Gesagte überhaupt mit der selbst beanspruchten Rolle eines Partners im argumentativen Dialog vereinbaren läßt. Dann läge eine Selbstimmunisierung gegen dialogische Sinnkritik vor: Der Diskursteilnehmer zeigte, daß er nicht bereit ist, 44 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

seine Verpflichtungen als Diskurspartner ins Auge zu fassen und sie zu befolgen. Sowohl Platons Bestimmung des Denkens als Selbstgespräch wie auch Tugendhats satzsemantische Verengung der Grundmodi des Sprachhandelns auf Ja- und Nein-Sätze und Tranøys bzw. Habermas’ Anerkennung von nur drei zulässigen Stellungnahmen verkürzen die zum Teil moralisch geladene, weil mit Diskurspartnerpflichten verwobene, kommunikative Geltungsdimension der Pragmatik, welche der sachbezogene Sprecher zwar im Rücken läßt, von denen der Sinn des Gesagten aber getragen wird. Im puren Sachbezug konzentriert sich ein Sprecher auf die satzsemantischen und pragmatisch semantischen Aspekte des Sprachgebrauchs; man verengt den Blickwinkel auf den (assertorischen) Satz als Ensemble propositionaler Ausdrücke, die, wie Wittgenstein festhält, »bipolar« sind. 62 Nur bei Ausblendung oder starker Verkürzung der Pragmatik kann man überhaupt annehmen, daß unser Sprachhandeln wesentlich aus Ja-und-Nein-Stellungnahmen bestehe. Fassen wir zusammen: Hinsichtlich des Sachbezugs der Rede ist der Blick auf das (Zu-sichselber-)Ja-oder-Nein-Sagen durch Berücksichtigung der schon erwähnten beiden anderen Redeweisen zu erweitern: Einmal können Sprecher im Dialog auch mit einer Urteilsenthaltung reagieren. Dann lassen sie die Wahrheit oder normative Richtigkeit einer Rede dahingestellt sein 63: als unentschieden oder moratorisch oder gar als unentscheidbar. Weitaus signifikanter für das Denken als argumentativen Dialog sind freilich die Verständigungs- und Begründungsfragen. Deren Spektrum reicht von der einfachen Erläuterungsbitte, wie das Gesagte zu verstehen sei, über die Forderung nach Angabe von Gründen für eine Behauptung bis zum sinnkritischen Zweifel an der Nachvollziehbarkeit der Rede als eines prüfbaren Diskursbeitrags. Es ist der letztgenannte, der pragmatisch kritische Fragetyp, der im Sokratischen Elenchos angelegt ist. Denn im Elenchos praktiziert man ein sinnkritisches Rück-

L. Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1960, S. 188. Vgl. K. E. Tranøy, in: D. Böhler, T. Nordenstam u. G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende (1986).

62 63

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fragen, das den Proponenten bei seiner Rolle als Diskurspartner packt und letztlich die Vereinbarkeit der vorgebrachten These mit dieser Rolle in Zweifel zieht. Da das Denken nicht als einsames Selbstgespräch vonstatten geht, sondern als trans- und intersubjektives Erheben von Geltungsansprüchen, einen geltungsbezogenen Diskurs eröffnend oder fortsetzend, eignet ihm die eigentümlich reflexive und horizontöffnende Möglichkeit, Sinnkritik zu üben. Davon hat schon Sokrates einen gewissen Gebrauch gemacht. Allgemein gilt: Wenn ein Elenchos zur Selbstaufhebung einer These führt, indem er zeigt, daß sich eine Position nicht als Diskursbeitrag verstehen und durchhalten läßt, dann handelt es sich um eine dialogpragmatische Sinnkritik. Diese radikal kritische Option steht jedem Diskurspartner offen. Da jeder, der über etwas nachdenkt, den dadurch angestrengten Erkenntnisprozeß nur durchführen kann, indem er sich an den Geltungsansprüchen messen läßt, die seinen Erkenntnisprozeß tragen, hat er auch – für die Anderen und für sich selbst – die Möglichkeit einer diskurspragmatischen Sinnkritik. Weil er mit Ansprüchen auf Geltung seiner Gedanken gegenüber Anderen und sich selbst hinsichtlich seiner Erörterung einer Sache bzw. Situation nachdenkt, provoziert er auch Fragen zweiter Ordnung: sinnkritische Fragen, die sich auf die Verstehbarkeit seiner Rede als einer dialogischen Handlung zur Einlösung der charakteristischen Geltungsansprüche beziehen. Zum Beispiel kann der Geltungsanspruch auf Verständlichkeit die Erläuterungsfrage auslösen, wie das Gesagte denn genau gemeint sei; und ›mein‹ Gegenüber kann ›mir‹ entgegnen: »Diese Aussage(n) habe ich nicht verstanden.« Die eigentlichen Gültigkeitsansprüche auf Wahrheit der Sacherörterung und Richtigkeit bzw. Legitimität der implizierten Normen können die sinnkritische Reaktion hervorrufen: »Diese deine Behauptung kann ich gar nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil ihr propositionaler Gehalt Geltungsansprüchen zuwiderläuft, die du als Diskurspartner ins Spiel gebracht hast. Ich kann sie nicht als Diskursbeitrag verstehen, weil sie nicht prüfbar, mithin im argumentativen Dialog sinnlos ist.« Solche typischen Diskursakte sind eben weder Ja-oder-Nein-Stellungnahmen noch Urteilsenthaltungen, sondern fragende Entgegnungen, die den Sprecher mit tragenden Ansprüchen seiner Rolle als eines Diskurspartners konfrontieren. Sie bringen keine Meinung des Opponenten über die Sache ins Spiel; vielmehr erinnern sie den Proponenten 46 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

an seine diskurskonstitutiven Verpflichtungen, die er dadurch eingegangen ist, daß er sein Gedachtes/Gesagtes geltend macht und damit die Rolle eines Partners im Diskurs übernommen hat. Fragen dieser Art setzen den sozialen und daher normativ geladenen Anerkennungsund Handlungszusammenhang gegenüber einem Sprecher und dessen These in sein Recht. Uno actu machen sie – legitimiert und mandatiert von dem normativen Basisgehalt der gemeinsamen Institution Diskurs – ihre Diskursrechte gegen den Sprecher geltend. Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele verdeckt diesen sozialen und normativen Handlungszusammenhang des Diskurses. Sie blendet aus, daß sowohl die Ja-und-Nein-Stellungnahmen als auch die ausgeklammerten sinnkritischen Entgegnungen immer zugleich logische und normativ soziale, nämlich dialogische Akte sind. Durch sie beziehe ›ich‹ mich sowohl auf mögliche konkrete Andere – jetzt z. B. der Autor dieses Buches auf Platon, Tugendhat und Habermas – als auch auf alle möglichen Anderen. Zu diesen zählen Sie, meine Leserin, mein Leser, ebenso wie jedes andere intelligente Kommunikationswesen, das meine Fragen, meine Thesen verstehen und beurteilen könnte. Inwiefern und warum? ›Ich‹ kann, wenn ›ich‹ etwas denke (oder ›du‹ etwas denkst), mich gar nicht anders verhalten als so, daß ›ich‹ (resp. ›du‹) sowohl die Verstehbarkeit als auch die mögliche Gültigkeit meines Versuchs im ganzen und seiner einzelnen Schritte beanspruche – gegenüber bestimmten realen Anderen, über deren Thesen ›ich‹ rede, aber auch allen möglichen Anderen gegenüber. Wenn wir uns auf einen sinnkritischen Dialog mit einem Skeptiker einlassen, der das Gegenteil zu behaupten versucht, erkennen wir leicht, daß eine Bestreitung (oder auch nur eine Bezweiflung) des sozialen Verhältnisses der Geltungsansprüche eine sinnlose Behauptung ist. Sinnlos, weil für Andere und für mich selbst nicht mehr verständlich als Rede, die man aufnehmen bzw. in ihrem Sinn nachvollziehen und hinsichtlich ihrer Wahrheits- oder Richtigkeitsfähigkeit beurteilen kann: Ohne Verstehbarkeitsanspruch bestünde keine Fragemöglichkeit, wie ein Gesagtes genau gemeint sei; und ohne Gültigkeitsanspruch hätten wir keinen Anhaltspunkt, von dem Sprecher Gründe (oder bessere Gründe) für seine These zu verlangen, und ebenso fehlte uns das Mandat, seine These zu kritisieren und ihn in eine kritische Prüfung zu ziehen. Kurzum, ohne Geltungsansprüche könnten wir keinen Diskurs mit einem Sprecher führen – und ebensowenig er mit sich selbst. 47 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Erstaunen und Erschrecken

Niemand wüßte, worüber er mit wem diskutieren könnte. Eine Diskussion könnte es nicht geben. Nun müssen wir uns noch zweierlei klarmachen: wer zu den realen Anderen gehört, auf die ›wir‹ uns als Diskursteilnehmer mit Geltungsansprüchen von vornherein beziehen; und warum ›wir‹ uns mit unseren Geltungsansprüchen – um Himmels willen? – auf alle möglichen Argumentationssubjekte und deren Argumente beziehen sollen. Zum ersten Punkt: Es leuchtet ein, daß der Sprecher seine Geltungsansprüche denen gegenüber erhebt, mit denen er sich auseinandersetzt, hier vor allem gegenüber Platon. Doch damit sei, so mag man annehmen, der Kreis der realen Kommunikationssubjekte, auf die sich ein Diskursteilnehmer beziehen muß, auch erschöpft. – Nein, weit gefehlt. Bedenke doch, daß du, indem du eine bestimmte Sprache sprichst, an der gesamten Gemeinschaft derer teilnimmst, die diese Sprache bis auf den heutigen Tag gesprochen haben und sie dadurch mitgebildet haben; du setzt diese Sprachkultur fort und sprichst auf ihren Wegen weiter. Also beziehst du dich implizit auf eine empirisch kaum begrenzbare reale Kommunikationsgemeinschaft, z. B. auf die Gemeinschaft aller, die bislang deutsch gesprochen haben. Dieser reale Traditions- und Gemeinschaftsbezug bildet die sinnvermittelnde geschichtlich pragmatische Dimension, die die Rede immer schon im Rücken hat: Etwas als etwas Bestimmtes meinend bzw. sagend, zehren wir von dem lebensweltlichen Hintergrund tradierten und mehr oder weniger institutionalisierten Sinns. 64 Als Mitglieder einer umgangs- und bildungssprachlichen, real geschichtlichen Kommunikationsgemeinschaft oder mehrerer Sprachgemeinschaften, schöpfen wir mit jedem Satz aus dem Sinnreservoir, das die Sprecher ganzer Generationenketten angesammelt haben. Mit ihnen sind wir unausdrücklich verbunden; sie begleiten uns als unsere impliziten Mitsprecher, wenn wir laut oder leise reden, in Gespräch oder Selbstgespräch, vom Assoziieren bis zum Argumentieren. So ergibt sich schon aus diesem Grund, nämlich aus der geschichtlichen Traditionsvermitteltheit unseres möglichen Redens und EtwasDenkens, auf die der rhetorische Humanismus und das hermeneutische Sprachdenken (etwa Humboldt, Gadamer, Apel) aufmerksam machen, 64 D. Böhler, Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie, Frankfurt a. M. 1985 (zit. Rek. Pragm. (1985)), S. 360 ff.

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I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

daß unser Etwas-Denken nicht einfach ein Selbstgespräch unserer Seele mit sich ist, sondern ein Selbstgespräch in hintergründiger Kommunikation mit Anderen, die aus unseren Traditionszusammenhängen gewissermaßen mitsprechen. Das heißt: Auch wenn unsere Gedanken gar nicht ausdrücklich auf Andere Bezug nehmen, sind sie (und durch sie wir selbst) im vorhinein auf reale Andere aus Geschichte und Gegenwart bezogen. Dieses kommunikative Vermitteltsein unserer Gedanken und unserer selbst läßt sich mit Apel als »das Apriori der realen Kommunikationsgemeinschaft« 65 einer intersubjektiven Sinnverständigung durch geschichtliche Sprachen begreifen und mit Hans-Georg Gadamer als »das Prinzip der Wirkungsgeschichte« 66. Aus diesem philosophisch- bzw. transzendental-hermeneutischen Grund, nämlich aus dem »apriorischen Perfekt« (Heidegger) der Sinnvermitteltheit möglicher Rede folgt bereits, daß ein Selbstgespräch bloß als defizienter Modus einer intersubjektiven Sinnverständigung begriffen werden kann – mithin nicht als Paradigma des Etwas-Denkens taugt. Dieses Paradigma ist vielmehr in dem argumentativen Dialog mit dessen geschichtlichem Kontext zu suchen, also im Blick auf die sprachliche Sinn- und Traditionsvermittlung. Darauf weist die nachfolgende Abbildung mit der unteren geschweiften Klammer hin; insgesamt veranschaulicht sie die Dimensionen der Zeichenverwendung (Semiose), indem sie die drei von Charles W. Morris unterschiedenen semiotischen Dimensionen, die semantische, die syntaktische und die umgreifende pragmatische, weiter differenziert. Für die Auseinandersetzung mit Platons Definition des Denkens als Selbstgespräch der Seele ist die, in der Abbildung getroffene, Unterscheidung der »geschichtlich-pragmatischen Sinndimension« von der »dialogisch-pragmatischen Geltungsdimension« von besonderer Bedeutung. Denn beide Begriffe verweisen auf einen in gewisser Weise eigenständigen Aspekt des Kontextes der möglichen Rede, der sich jedoch auf den anderen Aspekt intern bezieht. Inwiefern? Argumente, für die wir als Denkende bzw. als Diskursteilnehmer Geltung beanspruchen, blieben leer und semantisch unverständlich ohne den Kontext Vgl. K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt a. M. 1973 (zit.: Transf. d. Philos., II (1973)), S. 338 ff., 397–435, 178–219 und Transf. d. Philos., I (1973), S. 22–76. 66 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990 (= Gesammelte Werke, Bd. 1) (zit.: Wahrheit und Methode (1990)), S. 270–312, 346–422. 65

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Erstaunen und Erschrecken

Abb. 2: Die semiotischen Sinn-Dimensionen des Über-etwas-Redens bzw. Etwas-Denkens

referentiell-semantische Dimension: Situations- bzw. Sachbezug

pragmatisch-semantische Dimension: Wortgebrauch 8 > > > > > > > > > > > > > > > > > >
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8 > > > > > > > > > > > > > > > > > >
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Z

8 > > > > >
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Sit

8 > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Z

Erläuterungen: Sit Situation bzw. Sache Z Sprachzeichen Sprecher als über etwas (Sit) nachdenkendes (oder auch in Bezug darauf S1 handelndes) Subjekt S2; 3; … faktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft, auf die sich S1 bezieht kontrafaktische Argumentations- und Kommunikationsgemeinschaft als Sx!1 Beurteilungsinstanz für Geltungsansprüche von S1, und S2, S3, …

* Das Schema gibt der Einfachheit halber die syntaktische Dimension nur einmal wieder; diese wäre überall dort, wo »Z« (für Sprachzeichen) steht, mitzudenken. Denn ein sprachlicher Ausdruck (Zeichen) verweist immer auf einen sprachlich ausdrückbaren Kontext, aus dem er (es) nur in bezug auf andere verständlich ist.

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I.2 Seinsschau versus Dialog als Anfang des Philosophierens?

geltungslogisch-pragmatische oder dialogisch-pragmatische Dimension: Primat d. Geltungsansprüche u. Geltungsrechtfertigung – »Apriori d. idealen Kommunikationsgemeinschaft« 8 > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >
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S2; 3; … Z Z

Sx!1 Z

S1

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Wahrheit bzw. logische Geltung Semantik 8 > > > > > > > > > > > > > > > >
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Rede Poetik und Rhetorik

8 > > > > > > > > > >
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Dinge

tisches Selbstaufhebungsargument, doch bloß in theoretischer statt in kommunikativ dialogischer Form. So bei Augustinus, Descartes, Kant und Husserl. 214 Offenbar ist sowohl die drastische Verkürzung der kommunikativ pragmatischen Dimensionen der Rede als auch die Assimilation eines aktuell reflexiven Elenchos an die theoretische Einstellung in zwei Kernstücken der theoria-Tradition angelegt. Das eine Kernstück ist das instrumentalistisch bezeichnungstheoretische Verständnis von Sprache und Rede, in dem selbst die Antipoden Heraklit und Platon übereinkommen. Das andere ist die von Platon vorbereitete, vom Neuplatonismus etablierte Unterscheidung einer vermeintlich intuitiven Vernunfteinsicht (nous) von einer bloß diskursiven Verstandeserkenntnis (dianoia), welche nicht etwa als kommunikativer Diskurs, sondern als monologisches Schlußverfahren angesetzt wird. Auf diesem Boden konnten die wirkungsträchtigen Neuplatoniker Philon, Plotin, Syrian Zu Augustinus, Descartes und Kant: W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 283–313; zu Husserl: H. Gronke, Das Denken des Anderen. Führt die Selbstaufhebung von Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität zur transzendentalen Sprachpragmatik?, Würzburg 1999 (zit.: Das Denken des Anderen (1999)), Kap. 4–6 und 8; vgl. D. Böhler, »Transzendentalpragmatik und kritische Moral«, in: W. Kuhlmann u. D. Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion (1982), S. 92 f. Zu Descartes auch hier: Abschnitt II.3. 214

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I.4 Aristoteles’ Schatten

und Proklos jene Erkenntnisalternative entwickeln, welche die Scholastik durchherrschen und noch bei Kant im Hintergrund stehen wird: die Erkenntnisdichotomie intuitiv versus diskursiv. Die Neuplatoniker stellen das vermeintlich intuitive Erschauen des nous als das eigentliche, der Ewigkeit zugehörige Erkennen, dem alles gegenwärtig sei, gegen das endliche, diskursive Überlegen und Reden (διεξοδικός λόγος, diexodikos logos), die intellektuelle Anschauung des intelligiblen Seins in seiner Wesenheit gegen die syllogistischen Analysen und Demonstrationen der Akzidentien. Dem diskursiven Denken überlassen sie also das Unwesentliche. Die in der Platonischen und der Aristotelischen Version der theoria enthaltene, seither machtvoll tradierte Unterstellung einer methodisch einsamen, weil unabhängig von Sprache und Kommunikation möglichen Erkenntnis hat das abendländische, zumal das neuzeitliche Denken zutiefst geprägt – bis heute. Eigentlich sind vier Unterstellungen im Spiel. Sie haben den transzendentalen Anspruch, Bedingungen der Möglichkeit des Etwas-Verstehens und Etwas-Erkennens anzugeben: eine verstehenstheoretische, zwei geltungstheoretische und eine vergewisserungs- bzw. evidenztheoretische Unterstellung. Erstens wird angenommen, einer allein – solus ipse, daher »Solipsismus« – könne für sich ohne virtuelle Kommunikation (Sprachgebrauch und Traditionsvermittlung) und aktuelle Kommunikation (z. B. in Form von Lektüre oder Gespräch) Sinn bzw. Bedeutung haben. Zweitens und drittens wird vorausgesetzt, daß einer als prinzipiell Einsamer Gültigkeit, nämlich Wahrheit von Tatsachenbehauptungen und ebenso Richtigkeit/Legitimität von Normsätzen, gewinnen und daß er beide – viertens – auch als solche erkennen könne, also die Gewißheit der Wahrheit und Richtigkeit erlangen könne. Das ist die Quadrupelthese des sogenannten methodischen oder methodologischen Solipsismus, der zumeist aber eine transzendentale Position ist. Hier veranschaulichen und pointieren wir sie einstweilen, ohne sie zu widerlegen. Eine vorläufige Sinnkritik daran begegnet uns bei Wittgenstein (hier in Abschnitt I.6.3), einen dialogreflexiven Sinnlosigkeitserweis versuchen wir in Abschnitt III.4.5.

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Erstaunen und Erschrecken

Abb. 5: Die Quadriga des methodischen bzw. transzendentalen Solipsismus, d. h. der Thesen, daß Privatsprache (a), Privaterkenntnis (b1 und b2) und private Evidenz (c) möglich seien Fragestellung

These

Wie ist Sinn möglich? (a) Einer allein (und nur einmal) kann etwas als etwas von bestimmter Bedeutung verstehen, mithin charakterisieren einer Regel folgen.

Anwendungsbereich Sprachphilosophie und Hermeneutik

Wie ist Gültigkeit als (b1) Zudem kann einer strikt Erkenntnis- und allein, ohne jeden sprachlichWahrheit möglich? Wahrheitstheorie kommunikativen und argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft, erkennen und begründen, daß jene Charakterisierung zutrifft, also wahr ist. Wie ist Gültigkeit als (b2) Ebenso kann einer strikt Ethik / Praktische Richtigkeit und Ver- allein, ohne jeden sprachlichPhilosophie bindlichkeit möglich? kommunikativen und argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft, erkennen und begründen, daß die so charakterisierte Handlungsweise etc. richtig/legitim und verbindlich ist. Wie ist Gewißheit (Zweifelsfreiheit) möglich?

(c) Überdies kann einer Beweistheorie / Sinnallein, ohne jeden sprachlichkritik kommunikativen und zumal argumentativen Bezug auf andere / Kommunikationsgemeinschaft, Zweifel an der Wahrheit seiner These oder an der Verbindlichkeit einer Aufforderung bzw. Norm als gegenstandslos erkennen und erweisen.

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I.5 Die unbefriedigte Kommunikation: Rhetorik im Schatten der Metaphysik

I.5

Die unbefriedigte Kommunikation: Rhetorik im Schatten der Metaphysik

Gegen die Einengung der Sprachfunktionen auf den Bezeichnungsaspekt und gegen ein Verständnis der kommunikativen Dimension der diskursiven Rede als bloßes Medium der Informationsübermittlung haben die »philosophischen« Rhetoriker Athens und Roms Einspruch erhoben, besonders Isokrates und Cicero. Es ist, als mache die Kommunikation, nachdem sie von der theoria-Tradition zum bloßen Werkzeug des geistigen Sehens herabgewürdigt war, ihr Eigenrecht auf anderem Ufer geltend: auf seiten der Rhetorik. Unbefriedigt von der Philosophie, die sie instrumentalisiert, sucht die Kommunikation ihr Selbstbewußtsein, ihren Begriff in der Rhetorik.

I.5.1 Isokrates und Cicero. Rhetorik als konsensbezogene Alternative zur theoria-Ontologie oder als relativistischer Diskursersatz mit naturalistischem Sicherheitstitel? Der uralt gewordene Isokrates (436–338), Zeitgenosse von Sokrates (469–399), Platon (427–347) und Aristoteles (384–322), unterwies nicht allein Redner und Staatsmänner in der Kommunikationskunst der Rede, sondern verkörperte in Praxis und Theorie die Aristotelische Definition des Menschen als des redenden Lebewesens (zoon logon echon) wie kein anderer. Im Sinne dieser Bestimmung, die von ihm selbst stammen könnte, interpretierte er sowohl Kultur und Politik als auch das Verhältnis von Denken und sprachlichem Ausdruck. Aus diesem Grunde gewann er – erstens – ein sprach- und kommunikationsbezogenes Verständnis von Kultur und Politik als einer öffentlichen und offenen Sphäre – offen für alle, die sich dieselbe Sprache und deren Weltbezug aneignen. Im Unterschied zur großen Mehrheit seiner Zeitgenossen, die eben genannten Philosophen eingeschlossen, vertrat er eine Weltoffenheit und einen hellenischen Integrationismus. In seiner berühmten Rede an die Vollversammlung der Bürger Athens (Panegyris), die er als »Panegyrikos« vertreiben ließ, machte er den nicht mehrheitsfähigen, aber angesichts der Heranbildung einer hellenistischen Kultur, des Machtschwundes des athenischen Stadtstaates und der Großmacht Makedonien (erst unter Philipp, später unter Alexander) zeitgemäßen und weitsichtigen Vorschlag: Künftig sollten als 111 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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Hellenen nicht nur Geburtsgriechen gelten, sondern alle, die des Griechischen mächtig waren und sich durch Teilhabe an der griechischen Kultur auswiesen. Eine offene Kommunikationsgemeinschaft sollte an die Stelle einer Blutsgemeinschaft treten. 215 Innerphilosophisch nahm der gebildete Rhetor – zweitens – einen engen Vermittlungszusammenhang von Reden und Denken an und setzte damit einen internen Wahrheitsanspruch der Rede voraus, sei es in Form des Miteinanderredens, sei es in einem lautlosen Selbstgespräch. 216 Insofern scheint sich bei Isokrates anzubahnen, was ansonsten in der Rhetorik nicht Schule gemacht hat: die Klärung des Verhältnisses der argumentativen Rede, die Geltungsansprüche einzulösen versucht und daher auf Überzeugung abzielt, zur strategischen Rede, deren Erfolgsorientierung die Differenz zur Überredung bewußt einebnet und die bloß überreden will, um ein Interesse unabhängig von dessen Wahrheits- bzw. Verallgemeinerungsfähigkeit durchzusetzen. Seit Platons Sophistenschelte war und bleibt eine solche Klärung auf der Tagesordnung. Inwiefern sie schon bei Isokrates gediehen ist, steht schon angesichts der dürftigen Überlieferung dahin. 217 Jedenfalls suchte Isokrates offenbar einen Kompromiß zwischen der sophistischen Rhetorik und Platons Philosophie. 218 Denn er erklärte einerseits die Redekunst zur »Meisterin aller literarischen Produktion und Trägerin aller Bildung« 219 und die Humaniora zum Kern der Allgemeinbildung, andererseits bemühte er sich um »eine Übung der Seele und eine Vorbereitung auf die Philosophie«. 220 So konnte er die Diskursfunktion der gesprochenen Sprache entdecken und dadurch tief auf die europäische Streitkultur der Diskussion und Debatte einwirken. H. W. Eppelsheimer, Geschichte der europäischen Weltliteratur, Bd. 1: Von Homer bis Montaigne, Frankfurt a. M. 1970 (zit.: Gesch. d. europ. Weltlit. (1970)), S. 7 f. 216 Vgl. W. Kuhlmann, »Zum Spannungsfeld Überreden – Überzeugen«, in: ders., Sprachphilosophie, Hermeneutik, Ethik, Würzburg 1992 (zit.: Sprachphilosophie (1992)), S. 73–91; K.-O. Apel, Transf. d. Philos., I (1973), S. 64; ders., Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 1963 (zit. Idee (1963)); siehe auch D. Böhler u. G. Katsakoulis, Art. »Diskussion, A.«, in: HWRh, Bd. 2 (1994), S. 819–831. 217 Isokrates, Nikokles, Kap. 3. 218 Vgl. Platons Anerkennung des Isokrates als eines Mannes, in dessen Seele von Natur etwas Philosophisches sei: Phaidros 279 a–b. 219 H. W. Eppelsheimer, Gesch. d. europ. Weltlit. (1970), S. 71. 220 Isokrates, Antidosis 265 (Übers. von E. Glaser-Gerhard, in: W. Rüegg (Hg.), Antike Geisteswelt. Auswahl und Einführungen, München 21964 (zit.: Glaser-Gerhard), S. 424). 215

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Grundzüge seines Geistes gab Cicero dem rhetorischen Humanismus weiter. 221 Isokrates dringt allerdings nicht zur Idee der Sprache als der fundamentalen Institution und Metainstitution des Menschen vor 222, weil er dazu tendiert, nicht auch der Schriftsprache zuzubilligen, was er an der mündlichen Rede rühmt: »einander zu überzeugen und uns über alles auszusprechen«. Analog zu Aristoteles’ Bestimmung des Menschen als »zoon logon echon« hebt er zwar hervor, daß wir Menschen »mit Hilfe der Sprache Umstrittenes untersuchen und Unbekanntes erörtern« 223. Dabei ist er jedoch auf die unmittelbare Lebendigkeit der Rede (zur Konsenserzielung bei den Hörern) und die unmittelbare »Beratung« (zur »Übung der Seele«) fixiert. So verkürzt er die kritische Erörterungsfunktion der Sprache auf eine aktual-rhetorische Funktion. Das ist ein rhetoristisch-pädagogischer Fehlschluß, der die Schriftsprache zugunsten der mündlichen Rede abwertet: 224 Dahinter steht die Befürchtung, welche Platon im siebten Brief ausspricht: Das geschriebene Wort büße die dynamisch-pragmatische Lebendigkeit des Gesprächs ein. Hier legt sich die Frage nahe, ob eine solche Verabsolutierungstendenz der rednerischen und kommunikativen Unmittelbarkeit mit dem Anspruch vereinbar ist, einen wohlbegründeten Konsens aus Einsicht zu unterscheiden von einem unqualifizierten faktischen Konsens. Denn der kann sich leicht als Ergebnis einer angenehm lebendigen Rhetorik einstellen, seine Überzeugungskraft, genauer: seine Wahrheit bzw. Legitimität, müßte sich aber auch im Feuer einer schriftlichen Begründung und Prüfung erhärten lassen. Beläßt Isokrates es am Ende doch im Dunkel, wie Überzeugung von Überredung zu scheiden ist? Einerseits hat Isokrates über den römischen, italienischen und französischen Humanismus stilbildend gewirkt. So eröffnete er die Hochschätzung »der unmittelbar mit dem Menschen befaßten Literatur des Vgl. Cicero über Isokrates in: Orator, 40 ff., vgl. 37 f. passim. Vgl. K.-O. Apel, Idee (1963), bes. S. 115 f., 131–149, passim; ders., »Arnold Gehlens ›Philosophie der Institutionen‹ und die Metainstitution der Sprache«, in: Transf. d. Philos., I (1973), S. 197 ff.; ders., »Szientismus oder Transzendentalhermeneutik?«, in: Transf. d. Philos., II (1973), S. 178 ff.; D. Böhler, »Arnold Gehlen: Handlung und Institution«, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart II, Göttingen 31991 (zit.: Grundprobleme II (1991)), bes. S. 262 ff. 223 Isokrates, Antidosis 253 u. 256 (Glaser-Gerhard, S. 422 f.). 224 Vgl. E. Braun, »Zur Vorgeschichte der Transzendentalpragmatik. Isokrates, Cicero, Aristoteles«, in: A. Dorschel u. a. (Hg.), Transzendentalpragmatik (1993), S. 16. 221 222

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Briefs, (literarischen) Porträts, der Biographie, Geschichte usw., […] die eines fernen Tags im Essay als literarische Sonderform kristallisierte« 225. Andererseits ließ sein aktualistischer Rhetorismus bzw. Dialogismus für eine philosophische Rekonstruktion des Diskurses (als konsistenter Argumentations- und Reflexionsform) nur einen rationalistischen Rückzug offen: Die Bewertung der Schriftsprache als statisches Resultat eines denkenden Gesprächs mußte vom neuzeitlichen Begriff des »discours« affirmativ gewendet werden. So wird Descartes seinen »discours« als methodischen Traktat entwickeln, der nicht im Blick auf dialogische Kommunikation und nicht als Selbstreflexion eines Dialogpartners, sondern als Gedankenexperiment eines methodisch einsamen Vernunftsubjekts konzipiert ist. Isokrates’ Wirkungsgeschichte ist kaum zu überschätzen. Sie betrifft sowohl die pädagogische Motivation (etwa durch die Bildungsinstitutionen Gymnasium, grammar school und college) als auch die ethisch psychologische Motivation zur Beratung unserer selbst und die politische Motivation zur Überzeugung bzw. Überredung der anderen. Über Cicero konnte sein Bildungsideal einer Einheit von dicere und sapere, öffentlich rhetorischer Wirksamkeit und sittlicher Lebensklugheit, ebenso zum Kernbestand des rhetorischen Humanismus werden wie die idealistisch-mimetische Voraussetzung dieses Ideals. Wie Isokrates unterstellen Humanisten nämlich gerne, daß die gute Rede und das Reden über das überlieferte Gute nicht allein zu einer guten Gesinnung und Praxis des Redners, sondern auch seines Publikums führe. Zu schön, um wahr zu sein? Allzuleicht schlägt diese ethische Annahme des Sprachhumanismus in Ideologie um. Denn sie verbirgt zweierlei. Einmal macht sie blind dafür, daß das »gute Alte« illegitim sein bzw. mittlerweile geworden sein kann. Zudem berücksichtigt sie nicht, daß einerseits der moralische Wille zur praktischen Umsetzung des Guten auf seiten des Redners bzw. seines Publikums fehlen kann, und daß andererseits ein vorhandener guter Wille in der je gegebenen Situation auf Widerstände stoßen kann, die sich nicht mit guten Worten überwinden lassen, sondern harte Maßnahmen oder Taten verlangen, die der guten Gesinnung unmittelbar zuwider sind und einer verantwortungsethischen Orientierung bedürfen. Aus diesen Gründen bleibt das rhetorisch-humanistische Bildungsideal mit seiner Idee der rhetorischen Kommunikation zu ergänzen 225

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durch die Idee und das Verfahren argumentativer Prüfungs- und Rechtfertigungsdiskurse. So müßte – gleichsam zu Anfang – ein zweifelnder, kritisch prüfender Diskurs über die Legitimität der Üblichkeiten bzw. des vermeintlich »guten Alten« Platz greifen, während, gleichsam zum Schluß, ein verantwortungsethischer Folgendiskurs seinen Ort haben müßte. Dieser hätte zweierlei zu prüfen: zunächst, ob wirklich mit dem guten Willen bzw. der freien Entscheidung für eine Umsetzung des Guten gerechnet werden kann; und sodann, in welchem Maße bei der Handlungsorientierung die Widerstände der Endlichkeit, des strategischen Verhaltens von Personen und der systemischen Eigengesetzlichkeit von Institutionen zu berücksichtigen sind. Denn die faktischen Beeinträchtigungen einer gewaltfreien und gleichberechtigten, nur auf argumentative Geltung zielenden dialogischen Kommunikation müßten in Rechnung gestellt werden, ihre Folgen sind in Diskursen verantwortungsethisch zu überlegen und zu beurteilen. Das führt uns zu der doppelten Einsicht, daß das Konzept des argumentativen Diskurses eine kriteriologische Idee, aber nicht schon ein zulängliches praktisches Modell ist, und daß infolgedessen die Ebene der praktischen Diskurse konkretisiert werden muß durch eine verantwortungsethische Ebene, auf der die praktischen Diskursresultate, die konkreten Normenvorschläge, auf ihre real möglichen Folgen in der Praxis hin bedacht werden: ›Ist das normativ Richtige in dieser amoralischen Situation schon verantwortbar und zumutbar? Welche Strategien sind nötig und legitim, um eine Annäherung an das eigentlich Gesollte zu bewerkstelligen?‹ Schlagen wir noch das römische Kapitel auf und wenden uns dem in Theorie und Praxis bedeutendsten philosophischen und politisch juridischen Rhetoriker des Imperiums zu, eben Marcus Tullius Cicero (105–43 v. Chr.). Das Ethos der römischen Republik festhaltend und erneuernd, ist er der intellektuelle Gegner Caesars. In seiner, nach dessen Ermordung verfaßten, Ethik »De officiis« (»Über die Pflichten«) deckt er wohl erstmals die ›Dämonie der Macht‹ (in Friedrich Meinekkes Sinne) auf, jedenfalls deren subjektive Seite: 226 Das Streben nach Macht und Ruhm führe zum »Außerachtlassen der Gerechtigkeit«, bis »die Verwegenheit eines C. Caesar« erreicht ist, der »alle göttlichen und

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menschlichen Rechte pervertiert hat – wegen seiner fixen Idee vom Prinzipat.« 227 Cicero faszinierte – auch den Machthaber, seinen Gegner Caesar – als pragmatischer und stoisch skeptischer Erbe der griechischen Philosophie, die er dem römischen Geist vermittelte. Ehrgeizig und nicht ohne Intrigen, suchte der Intellektuelle den politischen Erfolg in erster Linie durch rhetorische Kommunikation. Sein Metier und Medium war die kunstvolle öffentliche Rede, die er, vor dem Hintergrund seiner ausgesuchten hellenistischen Bildung, meisterlich beherrschte. Von der Stoa geprägt, übernahm er deren Lehre, daß die menschliche Natur Ursprung und Maßstab der Sittlichkeit zugleich sei. Mit diesem Vorverständnis las er auch Platon und Aristoteles. In seiner bis zu Kant wirkungsreichen politischen Ethik bestimmte er demgemäß das Verhältnis von Sittlichkeit und Natur nach Art des naturalistischen Fehlschlusses. Karl-Heinz Ilting hat das unnachsichtig analysiert. Da Cicero »die Ungerechtigkeit einer Handlung immer wieder durch äußere Tatbestandsmerkmale oder schädliche Handlungsfolgen zu definieren sucht, statt auf die Normen hinzuweisen, nach denen eine Handlung bewertet werden muß, kann ihm eine befriedigende Beschreibung ungerechter Handlungen nicht gelingen.« 228 Seine Definitionen und Beurteilungen entsprechen dem stoischen Prinzip, »man müsse der Natur folgen und eben darin bestehe die Sittlichkeit«. Dieses Prinzip hat »die permanente Verwechslung von Naturordnung und normativer Ordnung zur Voraussetzung. Eine adäquate Analyse moralischer Fragen ist aber ohne sorgfältige Unterscheidung dessen, was in diesem stoischen Prinzip nicht auseinandergehalten wird, unmöglich. Moralische Normen verbieten auch solche Handlungen, die im übrigen ganz natürlich sind, und moralisch unerlaubte Handlungen sind oft etwas ganz Natürliches. Daher folgt auch nicht aus dem Satz ›Die Gemeinschaft mit anderen gehört zur Natur des Menschen‹ die These ›Die Gemeinschaft mit anderen ist für Menschen sittlich geboten‹. Der Fehler, aus [dem oberen Satz auf den unteren] schließen zu wollen, ist eine besonders krasse Form dessen, was wir seit G. E.

227 Cicero, De officiis, 1. Buch 26. Vgl. auch H. Gunermanns Nachwort zur Reclam-Ausgabe, Stuttgart 32003, S. 437–440. 228 K.-H. Ilting, »Antike und moderne Ethik. Zur Lektüre ciceronischer Texte im Lateinunterricht in der Sekundarstufe II«, in: Gymnasium, 24. Jg., Heft 2–3, 1977, S. 156.

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Moore 229 den ›naturalistischen Fehlschluß‹ zu nennen pflegen. Der stoische Grundsatz, man müsse der Natur folgen, beruht auf diesem Fehler.« 230 Bei Ciceros Konsensbegriff werden wir wieder darauf stoßen. Vordergründig orientiert sich der politische Kommunikator und Kommunikationstheoretiker am Ideal des Rhetors bzw. des »Orators« 231. Offenbar solle dieser, wie Cicero selbst, der nicht bei den Rhetoren »sondern in den Hallen der Akademie«, wo sich »die Fußspuren Platons eingedrückt haben«, zum Rhetor geworden 232, in Platons Sinne philosophisch gebildet sein. Denn einzig so könne er »Widersprüche sehen« und »Doppeldeutigkeiten unterscheiden«, um schließlich, durch Rückgang auf die Ideen, die »Gattung und Art einer Sache zu erkennen« und dann zu beurteilen, was wahr ist oder falsch. 233 Mit diesem normativen Konzept der Rede will Cicero ein kulturelles Hauptdefizit der res publica beheben. Als öffentliche Sache leide das Gemeinwesen nämlich an dem, von der Rhetorikabsenz der Philosophen verschuldeten, Entweder-Oder von Bildung und Beredsamkeit: Den Gebildeten fehle die öffentlich wirksame Eloquenz, den politischen Rednern hingegen die philosophische Bildung. 234 Ein Richtungsstoß für die Entwicklung des Diskursbegriffs ist es, daß der römische Rhetor die Verdrängung der Kommunikation durch die stumme theoria der athenischen Philosophen kritisiert. Er bringt wieder zu Bewußtsein, was Sokrates offenbar unterstellt hatte, daß die Rede eine Bedingung der Weisheit ist, weil diese sich nicht als stummes Vermögen denken lasse, sondern allein als eine kommunikative Kompetenz – angelegt auf Verständigung: »Mir wenigstens scheint es nicht möglich, daß eine schweigende Weisheit, ohne die Kraft der Rede, die Menschen plötzlich aus ihrer [scil. barbarischen] Gewohnheit bekehrt und zu den verschiedensten Lebenszwecken tauglich gemacht haben könnte.« 235 Hinzukommt eine geltungslogisch wichtige Einsicht in die formalen Bedingungen des Diskurses, die er implizit ins Spiel bringt, wenn er Vgl. G. E. Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903. K.-H. Ilting, »Antike und moderne Ethik. Zur Lektüre ciceronischer Texte im Lateinunterricht in der Sekundarstufe II«, in: Gymnasium, 24. Jg., Heft 2–3, 1977, S. 156. 231 Cicero, Orator 7–22 und 69–74. 232 A. a. O., 3. Buch, 12. 233 A. a. O., 10 und 16. 234 A. a. O., 12 f. Vgl. ders., De oratore, 1. Buch, 1, 59–61; auch Buch 1, 64–72. 235 Ders., De inventione, 1. Buch und 2. Buch, 3. 229 230

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sich in »De re publica« abwendet von Platons Muster des »alten sokratischen Widergesprächs« zwischen dem belehrenden Magister und dem belehrten Auditor. 236 Während er es in seinen tusculanischen Disputationen noch selbst inszeniert, ersetzt er es in der staatsphilosophischen Schrift durch ein Gespräch zwischen Gleichrangigen: Politikern, Militärs und Historikern des römischen Adels. An die Stelle des asymmetrischen Lehrgesprächs setzt er hier die symmetrische Kommunikation gleich kompetenter und gleichberechtigter Diskursteilnehmer, welche sich kooperativ um die Lösung politischer Probleme bemühen. Das große Vorbild von »De re publica« war Platons »Politeia«. Deren Ontotheologie schmilzt Cicero freilich in einen römisch pragmatischen Republikanismus mit stoischen Obertönen um, was eine Rezeption durch die lateinischen Kirchenväter Ambrosius und Augustinus nicht verhinderte. Für die politische Philosophie ist die Perspektivenverschiebung von der göttlichen Kosmos- und Gerechtigkeitsidee zur iustitia und dignitas in der res publica ausschlaggebend, für die Diskursidee die Inanspruchnahme eines dialogischen Verhältnisses zwischen den Teilnehmern des politischen Gesprächs. So weit, so gut, möchte man meinen. Aber Ciceros selbstbewußter Patriotismus geht so weit, daß er sich »nichts Vortrefflicheres« als die gemischte Verfassungsordnung Roms vorzustellen vermag. 237 Überdies lokalisiert er den Ursprung von »Gottesfurcht« und »Gerechtigkeit« in den aristokratischen Staatslenkern und Stadtvätern, die »das, was sich in Lebensordnungen gebildet, teils durch Sitten bestärkt, teils durch Gesetze unantastbar festgelegt haben« 238. Mit hohem Stolz stellt der Römer die verwirklichte beste Staatsform, die Roms, der bloß ausgedachten Platons gegenüber. 239 Er bedenkt nicht, daß er darüber die kritische Spannung zu einer metakonventionellen Legitimationsinstanz einbüßt. 240 Sieht er doch in der römischen res publica geradezu die poDers., Tusculanae Disputationes, 1. Buch, 8. Ders., De re publica, 1. Buch, 2. 238 A. a. O., 2. Buch, 23. 239 A. a. O., 2. Buch, 1. 240 In Ciceros (Selbst- bzw. Klassen-)Lob der Staatsväter, welches Anklänge einer Staatsvergottung enthält, erblickte Augustinus einen gottlosen Hochmut: superbia, letztlich ein Seinwollen wie Gott. Deren Ursprung sieht er in der natürlichen Selbstliebe, amor sui, aus der die irdischen Herrschaftsverbände erwüchsen, die Staaten. Der Selbstliebe stellt er die Gottesliebe gegenüber, welche die civitas dei trage: »Zwei Liebesweisen bringen die zwei Herrschaftsverbände hervor, die irdische die Selbstliebe bis hin zur Verach236 237

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litisch ethische und rechtsethische Vollkommenheit verkörpert. Die Hütung dieser vollkommenen Gerechtigkeits- und Friedensordnung spricht er offenbar der Aristokratie zu. Freilich gesteht er im Proömium des fünften Buchs der Staatsschrift wider Willen ein, daß die Aristokratie an dieser Aufgabe gescheitert ist: »Durch unsere Fehler […], nicht durch irgendein Unglück halten wir die Res publica zwar dem Worte nach fest, in Wahrheit haben wir sie aber längst verloren.« 241 Augustinus wird ihm nicht allein das vorhalten 242, sondern auch dessen Bild der (römischen) Republik als einer »bloß gemalten Pracht« 243 entzaubern. Sein grundsätzliches Argument ist, daß die römische res publica gar keine sei. Wenn Cicero – durch den Mund Scipios – den Staat als Volkssache, res populi, definiere, das Volk aber als jene Ansammlung verstehe, die sich in der Anerkennung des Rechts und der Gemeinsamkeit des Nutzens vereinigt habe, dann mache er damit nolens volens klar, daß Rom »schon damals völlig zugrunde gegangen und überhaupt kein Staat (res publica) mehr war« 244. Später pointiert er: »Was anders sind […] Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden?« 245 Auch ohne die, von Augustinus eingeforderte, prinzipiengeleitete Perspektive ist Cicero doch vorsichtig genug, die Bewahrung der res publica als permanente, freilich aristokratische, Aufgabe »der Besten« zu verstehen: Sie müßten die Richtung der Natur und damit der Weisheit »einhalten und nicht auf die Signale hören, die zum Rückzug blasen«. 246 Bleiben freilich die Fragen, ob diese ethische Aufgabenstellung legitimerweise an eine politische Klasse abgetreten werden kann – eine ethische Expertokratie – und wo in einem solchen Staat Platz für prinzipienbezogene kritische Diskurse sein soll. Blicken wir wieder auf den Rhetor Cicero, so gilt gewiß, daß wir ihm, gegenüber Platon und Aristoteles, die Rehabilitierung der pragmatischen Dimension des Denkens, des kommunikativen Charakters der Weisheit, verdanken. Allerdings vermittelt und differenziert er nicht tung Gottes, die himmlische aber die Gottesliebe bis hin zur Verachtung seiner selbst.« (Augustinus, De civitate dei, 14. Buch, 28.) 241 Cicero, De re publica, 5. Buch, 1. 242 Augustinus, De civitate dei, 2. Buch, 21. 243 Ebd. 244 A. a. O., 2. Buch, 21. 245 A. a. O., 4. Buch, 4. 246 Cicero, De re publica, 1. Buch, 3.

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eigentlich das, was Platon als Philosoph auseinandergerissen hatte: Erkennen und Verständlichmachen, Begründen und Bewegen. Denn er unterscheidet nicht zwischen der Idee einer rein argumentativen Kommunikation, in der es allein um Geltungsansprüche und ihre Einlösung durch gute Gründe geht, und einer strategisch rhetorischen Kommunikation, die klassenspezifische oder auf andere Weise partikulare Normen und Konventionen stabilisieren mag – sei es in naivem Kulturkonformismus, sei es machtstrategisch geplant. 247 Nicht Konsensstabilisierung, nicht faktisches Einverständnis, sondern Wahrheits- und Gerechtigkeitserkenntnis sind die (unstrategischen) Ziele der Weisheit und ihrer Kommunikationsform: des argumentativen Diskurses mit dem Grundsatz der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Es ist zu allen Zeiten gerühmt worden, daß Cicero in »De officiis« die praktische Vernunft unter dem Gesichtspunkt des pflichtgemäßen Handelns entfalte. 248 In der Tat stellt er das sittlich Ehrenhafte (honestum) über das Nützliche (utile), mißt dieses an jenem 249 und fordert sowohl Gerechtigkeit ein, welche darin bestehe, niemanden zu verletzen, als auch Taktgefühl, welches die Grenzen des Schicklichen beachte. 250 Könnte man also sagen, er führe einen philosophisch praktischen Diskurs? Schwerlich. Denn abgesehen davon, daß er den praktischen Diskurs selbstwidersprüchlich abbricht, weil er den Grund der Verbind247 Doch verwirft Cicero ausdrücklich eine rhetorische Bestechung von Richtern: De re publica, 5. Buch, 9. 248 Die äußerst reiche, bis zu Kant und J. F. Herbart ununterbrochene Wirkungsgeschichte des (im Unterschied etwa zu »De re publica«) gänzlich erhaltenen Werks hat der Statthalter von Oberitalien und Bischof von Mailand, der Hl. Ambrosius (340–397), mit seinem christlichen Pendant »De officiis libri tres« (nach 386) eröffnet. Es war das erste und äußerst wirkungsreiche Handbuch einer christlich-kirchlichen Ethik. Mit stoisch neuplatonischen Obertönen, gestützt auf eine nach dem Vorbild Philons und Origenes’ spiritualistisch allegorische Auslegung des Alten Testaments, ersetzt Ambrosius Ciceros antike Beispiele durch biblische Gestalten: David, Hiob, Abraham und Joseph hätten bereits die stoischen Wahrheiten verkörpert, hätten diese aber charakteristisch überboten, weil ihnen das ewige Leben als Ziel der wahren Sittlichkeit gegolten habe. In diesem Sinne interpretiert Ambrosius auch die erste Kardinaltugend, die Klugheit, als Streben nach der ewigen Wahrheit als jenseitigem Heilswissen und zeichnet sie als Hauptquelle der Pflicht aus, welchen Begriff er Cicero entlehnt hat. Von dem hebräischen Geist des Alten Testaments, dem wandernden Bundesvolk und dem dialogischen Gottesverhältnis, läßt seine neuplatonische Spiritualisierung nur Spuren übrig. Darin werden ihm die römische und dann die mittelalterliche Theologie von Augustinus bis Thomas folgen. 249 Cicero, De officiis, 1. Buch, 7 f., 15–17, passim, 3. Buch, 19–37, passim. 250 A. a. O., 1. Buch, 99.

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lichkeit diskursextern, in der »Übereinstimmung mit der Natur«, sucht 251, hat er die aristotelische Tendenz, den Diskurs auf eine Findekunst des innerkulturellen bon sens und der konventionsbezogenen Ausgewogenheit einzuschränken. So unterstellt er, ähnlich wie Aristoteles, den Sklavenstand als ein naturgegebenes Schicksal, ohne daß er darin eine Kollision mit dem Gerechtigkeitsgebot sähe. 252 Gerechtigkeit bemißt er also nicht am Diskursprinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Dazu paßt es, daß er in »De inventione« die Philosophie kulturrelativistisch in den Dienst der Rhetorik stellt. Denn wie anders ließe sich seine konventionalistische Klugheitsthese verstehen, daß der Redner – man könnte einwerfen: ausgerechnet – mit Hilfe der Philosophie erkennen könne, was sich schickt und als angemessen (decorum) gilt. 253 Eben danach habe er sich zu richten, weil seine Rede letztlich von der innerhalb einer Kulturgemeinschaft angemessenen Lebensweise überzeugen soll. Externe Kulturkritik und moralische Kritik aus der Perspektive Anderer und mit Bezug auf universalistische Prinzipien – nein, soviel Philosophie fügt sich nicht in den Horizont der Ciceronischen Rhetorik und Ethik. Über eine aristotelisch stoische Lebensklugheit und deren konventionalistische Polisethik geht der römische Politiker nicht hinaus, auch wenn an die Stelle der Polis ein Weltreich getreten war. Bekanntlich ist eine solche Einstellung auch heute, wenngleich ihrer Unhaltbarkeit überführt, keineswegs aus der Welt, sondern findet nach wie vor philosophische Verfechter; ein prominentes mitteleuropäisches Beispiel ist Hermann Lübbe. 254 Das, was Cicero entdeckt und was er gegen die klassische Philosophie Athens zur Geltung bringt, ist das Sinnapriori der realen Kommunikationsgemeinschaft, nicht hingegen dessen Verschränkung mit dem Geltungsapriori der rein argumentativen, insofern idealen Kommunikationsgemeinschaft. Er erkennt die (lateinische) Muttersprache als Bedingung einer orientierenden Welterschließung. Diese sieht er wiederum angewiesen auf diskursive Rhetorik: Welterkenntnis lasse sich nicht auf einsame theoria des Philosophen zurückführen. 255 So A. a. O., 1. Buch, 100. A. a. O., 1. Buch, 41. 253 Ders., De inventione 1. Buch und 2. Buch, 70. 254 Dazu die Auseinandersetzung in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 3, S. 845–855, vgl. 856–885. 255 Cicero, De oratore, 1. Buch, 54, 59. 251 252

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konnte er in Gegensatz zu Aristoteles, aber auch zur Dialektik des Platonischen Sokrates treten. Denn Sokrates habe »in seinen Unterredungen die Wissenschaft des philosophischen Erkennens von der des wirkungsvollen Ausdrucks, obwohl sie in der Sache doch zusammenhingen«, getrennt: »Daher stammt jene so unsinnige, nutzlose und tadelnswerte Trennung gleichsam zwischen Zunge [lingua] und Gehirn [cor], die dazu führte, daß uns die einen denken und die andern reden lehrten.« 256 Es ist Ciceros Blick auf die geschichtlich pragmatische, die lebensweltliche Dimension des Denkens, der ihn auf Distanz bringt zu den methodisch solipsistischen Voraussetzungen der platonischen theoriaund nous-Tradition, die zu einer instrumentalistischen bzw. konventionalistischen Sprachauffassung und einem vorkommunikativen Diskursbegriff führen. Allerdings bietet er keine durchdachte Kritik des platonischen Solipsismus, sondern nur eine inkonsequente Opposition; so inkonsequent, daß sein scheinbar normativ universalistisches Kriterium für Gültigkeit, der consensus omnium, nicht allein mit dem methodischen Solipsismus der theoria-Ontologie vereinbar ist, sondern wiederum einen naturalistischen Fehlschluß enthält. Inwiefern? Cicero gründet, halb platonisch, halb stoisch orientiert, das Bewußtsein der Tugenden, der sittlichen Grundbegriffe und auch der grundlegenden Wahrheiten der Wissenschaft auf ein angeborenes natürliches Wissen. Die stoische Lehre vom göttlichen Gesetz der Natur verleitet ihn zu der Annahme eines unvordenklichen, sittlich verbindlichen natürlichen Konsenses. Da er in die Natur aller Menschen eingeschrieben ist, bedarf dieser ›Konsens‹ vorgeblich weder einer Verständigung über seine Sinngehalte noch einer Prüfung an dem Diskursgrundsatz der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, sondern nur der rhetorischen Aktualisierung. Er fußt auf allgemeinen Vernunftwahrheiten, die jedem Menschen von Natur unmittelbar gewiß seien 257: »Omnium consensus naturae vox est.« 258 256 A. a. O., 3. Buch, 60–61; vgl. B. Vickers, »Rhetorik und Philosophie in der Renaissance«, in: H. Schanze u. J. Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989, S. 121–157, hier 129. 257 Vgl. K. Oehler, »Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und Patristik«, in: ders., Antike Philosophie und byzantinisches Mittelalter. Aufsätze zur Geschichte des griechischen Denkens, München 1969, bes. S. 244 f. (zit.: »Consensus« (1969)). 258 Cicero, Tusculanae disputationes, 1. Buch, 35.

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I.5 Die unbefriedigte Kommunikation: Rhetorik im Schatten der Metaphysik

Dieser Konsensgrundsatz ist, insofern er für Konsense Sollensgeltung oder Wahrheit für eine faktische Übereinstimmung der Meinungen bzw. Interessen beansprucht, schlicht ein naturalistischer Fehlschluß – freilich seinstheologisch verdeckt, weil seine Prämisse der Natur göttlichen Charakter und damit Wahrheit bzw. Sollgeltung im vorhinein zugesprochen hat. Cicero vertritt eine stoische Kosmopoliten-Metaphysik. Er nimmt eine göttliche Natur an, der der Mensch so zugehöre, daß ihm allenthalben die gleichen Vernunftbegriffe gegeben seien. Von daher erklärt er »das Zustandekommen eines Consensus, das ohne Verabredung geschieht, durch die allgemeinen, jedem Menschen von der Natur mitgegebenen und daher bei allen Menschen gleichen Vernunftbegriffe«. 259 Eine Consensus-Metaphysik macht die öffentlich diskursive Konsenserarbeitung (anhand des diskursethischen Maßstabs der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) überflüssig. An deren Stelle tritt unversehens eine rhetorische Aktualisierung des »decorum«, der Konventionen und Vorstellungen des Guten, die zufällig in einer jeweiligen Gesellschaft bzw. Kulturgemeinschaft herrschen. So wird der faktische Orientierungs- bzw. Normenrahmen einer besonderen Gesellschaft als allgemeiner naturgegebener Konsens zementiert und als gottgegebene »Stimme der Natur« heilig gesprochen, mithin einer philosophischen Kritik und einer argumentativen Prüfung entzogen. Der naturalistisch fehlschlüssige Konsensbegriff erübrigt einen öffentlichen Diskurs über das moralische Recht oder Unrecht der (in und für Rom) etablierten Konventionen – oder über die Zustimmungswürdigkeit ihrer Interpretation. Der gebildete Rhetor kann die Prüfung der Konventionen, gedeckt und legitimiert vom natürlichen Konsens, einsam vornehmen und dann rhetorisch popularisieren. Ethik und Politik verlieren ihren moralischen Kompaß, weil der Maßstab der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit unter die partikularen Wert- und Interessenperspektiven Roms gebeugt werden kann, ohne daß es auch nur bemerkt würde. Diese Moral-Rechtsbeugung geschähe ja unter dem sakrosankten Schutz des naturmetaphysischen bzw. naturtheologischen Konsensbegriffs. Unter dem Schirm eines teleologischen Naturrechts, das die Verbindlichkeit von Normen auf (vermeintlich) natürliche (in Wahrheit kulturrelative und interessenbezogene) Anlagen oder Zwecke zurück259

K. Oehler, »Consensus« (1969), S. 345.

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führt, können Willkür und Partikularismus Platz greifen. Naturmetaphysisch gedeckt, können sich Kulturrelativismus und Konformismus ebenso ausbreiten wie eine willkürliche Interpretation geltender Sitten und Gebräuche. Begräbt der stoische Rhetor den kritischen Diskurs in kulturrelativistische Watte? Offenbar wird Ciceros Entdeckung der geschichtlich pragmatischen Dimension des Diskurses diskreditiert durch seine Neutralisierung der diskursiven Geltungsdimension, ihres universalistischen Gehalts und ihrer kritischen Funktion. I.5.2 Rhetorik und Ideologie – Kulturrelativistische Anfälligkeit der Rhetorik von Cicero bis Rorty Die ideologische Funktion der stoischen Lehre eines »natürlichen« bzw. naturrechtlichen consensus omnium macht uns für ein Grunderfordernis der Rhetorik empfindlich: Sie ist angewiesen auf kommunikative praktische Vernunft als Prinzipienreflexion und als kritischer Situationsdiskurs. Rhetorik bedarf, um nicht in Ideologie bestehender Verhältnisse zu verfallen, sowohl einer Reflexion, die nach dem prinzipiell Konsenswürdigen fragt, wie auch situationsbezogener Diskurse, welche die jeweilige gesellschaftliche Situation öffentlich interpretieren und das situativ Konsenswürdige suchen. Ohne permanenten Rückbezug auf Prinzipienreflexion und auf kritisch situative Diskurse verfällt jede Rhetorik dem Relativismus und Opportunismus. Der Primat einer wohlverstandenen, zugleich prinzipienreflexiven und situativ kommunikativen, praktischen Vernunft gibt immer wieder rhetorik- und status quo-kritische Impulse 260, die sich an der regulativen Idee der Vernunft entzünden: der Idee eines anzustrebenden strikt argumentativen Konsenses. Die Idee eines solchen Konsensus hält dazu an, eine je erzielte tatsächliche Übereinstimmung bzw. die Mehrheitsmeinung eines jeweiligen Auditoriums oder die herrschende Meinung einer besonderen Rechts- und Volksgemeinschaft hinsichtlich ihrer Zustimmungswürdigkeit einzuklammern und kritisch zu prüfen. 261 Wird hingegen der Geltungsprimat des argumentativen Diskurses 260 Systematisch berücksichtigt wird der Diskursprimat bei J. Kopperschmidt, Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart/Bad Cannstatt 1989. 261 Dazu: D. Böhler u. B. Rähme, Art. »Konsens«, in: HWRh, Bd. 4 (1998), S. 1256– 1298, bes. S. 1271–74 und 1280–1286.

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nicht ausdrücklich festgehalten, sondern tendenziell vom Primat einer (de facto kulturgemeinschaftlich oder volksgemeinschaftlich orientierten) politischen Rhetorik verdrängt, dann öffnen sich dem Relativismus bzw. der Willkür, dem Mehrheitsegoismus eines Volkes und dem Autoritarismus eines Staates Tür und Tor. Wenn nämlich die universale regulative Geltungsidee der argumentativen Konsenswürdigkeit durch partikular-pragmatische Maßstäbe der Schicklichkeit oder Mehrheitsfähigkeit in einer gegebenen Gemeinschaft ersetzt wird, ist der unparteiliche Vernunftstandpunkt aufgegeben. Dann findet eine argumentative öffentliche Kritik in der gegebenen Kulturgemeinschaft und Staatsgemeinschaft keinen Angelpunkt mehr, ja sie wird kaum noch angehört. Auch bei dem Pragmatiker und Rhetoriker Cicero, der sich doch als Nichtaristoteliker verstand, zeigt sich die interne Verbindung von Kulturrelativismus und Ideologie, die sich an der Aristotelischen Pragmatie beobachten läßt. 262 Jeder kulturrelativistische Standpunkt ist ideologieanfällig. Wo immer praktisch – insbesondere ethisch, juristisch, politisch und rhetorisch – ohne den Geltungsvorbehalt des Diskursprinzips gedacht wird, orientiert man sich entweder bewußt oder de facto an dem, was »uns« als Mitglieder »unserer« faktischen Gesellschaft bzw. Gemeinschaft kulturell oder (scheinbar) natürlich verbindet. Der Kulturrelativismus unterscheidet nicht zwischen einem besonderen tatsächlichen Konsens, der ungeprüft besteht, und einem argumentativ erzielten, universale Geltung – insofern Idealität – beanspruchenden Konsens. Eine nicht am Diskursprinzip des strikt argumentativen, insofern idealen Konsenses orientierte Theorie von Moral, Politik oder Kommunikation tendiert dazu, den je faktischen, geschichtlich vorgeprägten und auf eine kontingente Gemeinschaft bzw. Mehrheit begrenzten Konsens zu vermengen mit dem argumentativen, universale Geltung beanspruchenden, also virtuell unbegrenzten Konsens. Es ist diese Vermengung, die eine Theorie zur Ideologie macht, so daß sie einen status quo auf illegitime Weise bestätigt und verfestigt. Gegenwärtig ist das Relativismus- und Ideologieproblem, zumal die Ideologieträchtigkeit des Kulturrelativismus, ein Signum des Zeitgeistes, der sich daher auch dort, wo er sich philosophisch oder »post«philosophisch gibt, um philosophische Reflexion wenig schert. Das Pro262 Vgl. D. Böhler, »Lebens-Klugheit – das aktualisierungswürdige Konzept einer pragmatischen Sittlichkeit?«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 2, 12.3.5, S. 392 ff.

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blem stellt sich nach der »pragmatischen Wende der Philosophie« 263 nicht allein im deutschen Neokonservatismus, der die jeweiligen kulturellen Selbstverständlichkeiten und »Üblichkeiten« mit Kriterien für das Richtige verwechselt, sondern überall dort, wo man – im Wittgensteinianismus, im Poststrukturalismus, in Rortys sogenanntem Neopragmatismus oder auch in einem postmarxistischen Populismus – den praktischen Sinn universalistischer, ethisch verbindlicher Vernunftprinzipien bestreitet, sei es daß man für den Primat des Differenten gegenüber dem Universalen, des Dissenses gegenüber dem Konsensus plädiert, sei es daß man den Primat des Common sense gegenüber der universalistischen Vernunft geltend macht oder den der Demokratie gegenüber der Philosophie. Man tut dann so, als könne und solle die Philosophie keine Prinzipienreflexion, keine Normenbegründungsreflexion und Begriffsklärung für die Demokratie, für den Common sense und für eine je besondere Kultur leisten. 264 Angesichts einer derartigen Sorglosigkeit und modischen Prinzipiengleichgültigkeit stellt sich die Frage: Wie konnte man die geistesgeschichtliche Lektion, die in der deutschen Zerstörung des ethischen und rechtlichen Universalismus enthalten ist, so leicht vergessen? Hatte man sie philosophisch nie begriffen? Es sollte nicht verdrängt sondern aufgearbeitet werden, daß die Welt in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts am relativistischen Verfall des Geistes und seiner politi-

Vgl. D. Böhler, T. Nordenstam u. G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende (1986). Vgl. D. Böhler, »Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit, ›weltbürgerliche‹ Gesellschaft oder ›unsere‹ Gesellschaft?«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 3, S. 851 ff.; ders., »Wohin führt die pragmatische Wende? Norwegische Diskussionsbeiträge in transzendentalpragmatischer Sicht«, in: ders., T. Nordenstam u. G. Skirbekk (Hg.), Die pragmatische Wende (1986), bes. S. 281–286 u. 294 ff.; ders., »Politik und Moral. Die Krisen-Schwelle zur weltbürgerlich republikanischen Moral: deutsche Katastrophe(n) und permanente politische Bildungsaufgabe«, in: K. Franke (Hg.), Demokratie lernen in Berlin, Opladen 1991, S. 16 ff.; R. Rorty, »The Priority of Democracy to Philosophy«, in: M. Peterson u. R. Vaughan (Hg.), The Virginia Statute of Religious Freedom, Cambridge 1987, dt. in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), S. 4–17; vgl. K.-O. Apel, »Der postkantische Universalismus in der Ethik im Lichte seiner aktuellen Mißverständnisse«, in: ders., Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988 (zit.: Diskurs (1988)), S. 154 ff.; J. Hellesnes, »Toleranz und Dissens. Diskurstheoretische Bemerkungen über Mill und Rorty«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), S. 245 ff., auch in: K.-O. Apel u. M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1992 (zit.: Zur Anwendung der Diskursethik (1992)), S. 187–200. 263 264

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schen Folgen in Deutschland schmerzlichst erfahren hat, wie Demokratie – ohne starke öffentliche Präsenz universalistischer Prinzipien – in die Terrorisierung von Minderheiten, die Auflösung von Menschenwürde und Menschenrecht, in eine volksgemeinschaftliche Instrumentalisierung des Rechts und schließlich in Gewalt- und Genozidherrschaft umschlagen kann. 265 Die Vernunftkritik an einer kulturrelativistischen Einstellung, wie sie von Cicero bis zu Rorty aus dem pragmatischen Geist der Rhetorik erwächst, weist auf eine philosophische Reflexion zurück, die die Prinzipien des Diskurses, also auch moralische Prinzipien, begründen kann. Das zu leisten, beansprucht die transzendentalpragmatische Dialogreflexion als Begründung der Diskursethik. Gegen ein solches intellektuelles Unternehmen, gegen solch einen vermeintlichen ›Kopfstand‹ richten sich freilich die Abstraktheitsvorwürfe des rhetorischen Humanismus, dem es nicht um den Erweis der Gültigkeit moralischer Prinzipien und moralischer Normen geht, sondern um eine wirksame Motivation, die die Menschen zum Handeln bewegt – allein um Beweggründe also, nicht auch um Geltungsgründe. Und als Ort ethischer Motivation wird die appellative Rede und indirekt die Redekunst angesehen. Die Anerkennung der Motivationsfunktion darf freilich nicht die Differenz zwischen den beiden Ebenen vermischen, die, jede für sich, unverzichtbar sind: die Ebene der Begründung und jene der Motivierung, die des philosophischen Gültigkeitserweises und jene des rhetorischen Appells. Da dieser leicht in eloquente Überredung hineingleitet, besteht die Gefahr einer weiteren Ebenenvermischung: der von argumentativer Überzeugung und bloßer Überredung. Auch die Unterscheidung dieser Ebenen, also der von Argumentation versus Strategie, Überzeugen versus Manipulieren, wird in der Wirkungsgeschichte Ciceros bis hin zu Rorty nicht selten überspielt.

265 Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins: Chance oder Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1988. Ferner K.-O. Apel, »Zurück zur Normalität? – Oder könnten wir aus der nationalen Katastrophe etwas Besonderes gelernt haben? Das Problem des (welt-)geschichtlichen Übergangs zur postkonventionellen Moral aus spezifisch deutscher Sicht«, in: ders., Diskurs (1988), S. 370 ff.

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I.6

Diskurs im dualistischen Rahmen einer christianisierten theoria. Von Augustinus und Thomas zementierte Erblasten

Vor dem Zusammenbruch des Imperium Romanum geht der nordafrikanische Rhetoriklehrer und spätere Kirchenvater, Kirchenpolitiker Aurelius Augustinus (354–430) durch den manichäisch neuplatonischen Zeitgeist (mit skeptizistischen Obertönen) hindurch und wirkt entscheidend an dessen Christianisierung mit, die sich jedoch auch als Neuplatonisierung des Christentums lesen läßt. Augustin vertritt ein entjudaisiertes Christentum. Es ist von dem hebräisch geschichtlichen Denken des Bundesvolkes, welches sich in realer Wechselseitigkeit und Auseinandersetzung mit seinem Offenbarungs-Gott versteht 266, und von dem biblischen Liebesbegriff, der die Achtung aller Menschen als Ebenbilder Gottes einschließt 267, kaum weniger weit entfernt als der Neuplatonismus. Selbst die von Hannah Arendt hervorgehobene christliche Errungenschaft seines Denkens, der Liebesbegriff 268, ist entleiblicht. Denn Augustinus zwingt das Liebesvermögen in einen Dualismus von Seele contra Körperlichkeit und ersehnt eine Welt, in der alle Menschen auf den Beischlaf verzichten. 269 Im Grunde eher platonisch und plotinisch denn paulinisch orientiert, deutet er die uneigennützige jesuanische und paulinische ἀγάπη (agape) um in eine neuplatonisch kontemplative caritas. Aus der Nächstenliebe der mosaischen Tradition wird unterderhand ein platonischplotinischer Eros: die Sehnsucht, jenes Eine zu schauen, das den Grund

266 Vgl. die Sinaiüberlieferung der Bundestheologie, den prophetischen Katechismus Micha 6, 8 und dessen Anverwandlung durch Jesus: Mt 23, 23 und Lk 11, 42; schließlich die moralische bzw. liebesethische Korrelation von Mensch und Gott in Lk 6, 36 und Mt 5, 48; aber auch die Gleichsetzung des Sinaigesetzes (Tora) und der prophetischen Ethik mit der »Goldenen Regel« in Mt 7, 12 und Lk 6, 31. 267 Vgl. 1. Mose 1, 26–28 und 9, 5 f. (ff.), dann z. B. die Jesus-Worte Mk 2, 28–31 / Mt 22,35–40 / Lk 10,25–37 sowie Mt 23, 23 / Lk 11, 42 und Mt 5, 43–48 / Lk 6, 27–36 sowie die vierte Bitte des Vaterunsers: Mt 6, 12 / Lk 11, 4. 268 H. Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation (Diss von 1928), Nachdruck: L. Lütkehaus (Hg.), Berlin/Wien 2003. Dies., Vita Activa (2002), S. 66 ff. Dies., Vom Leben des Geistes (1998), S. 329 f., 336 ff. 269 Dazu: K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980 (zit.: Augustin (1980)).

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des ewigen Seins ausmache, die göttliche Einheit des Seins. 270 Zwar setzt er wie Paulus im ersten Korintherbrief, Kapitel 13, die Liebe über die beiden anderen christlichen Tugenden, Glaube und Hoffnung, aber er versteht sie weniger aus der doppelten biblischen Gegenseitigkeitsperspektive Gott – Mensch und Mensch – Mensch 271, als aus der theoriaund nous-Perspektive eines christlichen Neuplatonikers. Eine gravierende Sinnverfehlung! Der Kirchenvater verliert nämlich den handfesten Sinn der hebräisch biblischen Liebe aus den Augen. Denn in der Tora und dementsprechend bei Jesus und Paulus geht es um die Liebe zu »deinem Nächsten«, sei es der Verwandte oder Landsmann, sei es der im Lande weilende Fremdling. Ist es in der Bibel doch um die Gegenseitigkeit realer Lebensansprüche zu tun und darum, daß sie als Rechtsansprüche anerkannt werden sollen. So jedenfalls wird Nächstenliebe von der priesterschriftlichen Quelle im 3. und im 4. Buch Mose verstanden. Die Norm, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, gebietet eine Gegenseitigkeit im Sinne der Goldenen Regel. Es ist eine Norm, die zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit tendiert: Sie erkennt allen Menschen einen nicht relativierbaren Rechtsanspruch zu, der auch Rechtsform, die Gestalt einer verbindlichen Satzung, erhalten soll. Die Begründung dieses Anspruchs auf Nächstenliebe als moralisches Recht (!) ist demgemäß theologisch absolut, lautet sie doch: »Ich bin Gott der Herr« (3. Mose 19, 18) und »vor dem Herrn« (4. Mose 15, 15). Das Gebot der Nächstenliebe entspringt dem hebräisch biblischen Bundesverhältnis: Aus diesem Gottesrecht, das in das real erfahrbare Bundesverhältnis zischen Israel und Gott, dem Gerechten, eingebettet ist, wird bei Augustin ein metaphysisches Verhältnis der Seinsschau. Dabei verkehrt sich die Denkrichtung. Der biblische Hebräer denkt von Gott und den Anderen aus, die von Gott in ihr moralisches Recht eingesetzt sind. So denkt auch Jesus von Nazareth; besonders pointiert in seiner Exemplifizierung des normativen Begriffs »der Nächste« durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25–37). 272 A. a. O., S. 133. Vgl. H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Darmstadt 1978 (zit.: Religion der Vernunft (1978)), S. 120–130 u. ö. D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg 2002, (zit.: Jesus (2002)), S. 70–78, 84 ff. Vgl. die biblischen Belege oben, Anm. 268. 272 Vgl. J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 1962, S. 200 ff., bes. 203. Vgl. D. Böhler, »Bildung zur dialogbezogenen Mit-Verantwortung. Zweckrationales und dia270 271

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Es ist die theologisch dialogische Orientierung an einem von Gott gestifteten, aber frei als gerecht eingesehenen moralischen Verhältnis, in welchem sich der Mensch, der das richtige Verhalten sucht, schon befindet. Der hebräisch biblische Mensch weiß sich als angerufen von Gott, dem Gerechten. Es ist schon gesagt, »was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Recht tun, Liebe üben und einsichtig mit bzw. vor deinem Gott wandeln« (Micha 6, 8). Ganz anders der augustinische Christ: Er denkt von sich aus auf Gott als den Seinsgrund hin, den er sich zu eigen machen und mit dem er in spekulativer Schau eines werden will. An die Stelle einer moralischen Reziprozität von Du und Ich tritt unversehens eine metaphysische Intentionalität des Subjekts. Von der hebräischen Bibel zum augustinischen Katholizismus – welch Paradigmenwechsel, so möchte man meinen. Aber nein, kein bewußt herbeigeführter Wechsel des Paradigmas ist es, vielmehr ein unerkannter, ungewollter Wechsel des Geistes, der sich gar nicht als ein solcher begreift, sondern als legitime Beerbung. Kann jedoch als Geisteserbe gelten, wer das geistige Erbe nicht aus sich heraus kennt und nicht einmal dessen Sprache versteht? Es geht Augustin um das Seelenheil der Christen. Dabei nimmt er einen heilsabsolutistischen Standpunkt ein: Die Heilssorge geht über alles und kennt keine moralischen Grenzen, sie achtet keinerlei moralischen Rechtsanspruch ihrer ›Gegenstände‹. Daher konnte er sie, wie wir sehen werden, auch inquisitorisch vertreten. Wenn Platon aus Sorge um die kosmosgemäße Gerechtigkeit, um die emporgebildete Wohlordnung der idealen Polis, die öffentliche Pluralität beseitigen wollte und für totalitäre Maßnahmen plädierte, so rechtfertigte der Kirchenpolitiker Augustin gegenüber Häretikern einen staatlichen Terror in Gewissensfragen. Im Hintergrund steht der faktische Paradigmenwechsel vom biblischen zum seinsteleologischen Denken. An die Stelle der biblischen Korrelation von Gott und Volk Gottes – »ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott« (3. Mose 19, 2; vgl. Matth. 5, 48) – setzt Augustinus eine christianisierte Seinsteleologie: Aristoteles mit heilsgeschichtlicher Perspektive. Diese Teleologie verlangt, Gott als den einzigen, daher vollkommen zu liebenden Selbstzweck anzusehen, die logethisches ›Lernen des Lernens‹«, in: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik, Würzburg 2001 (zit.: Prinzip Mitverantwortung (2001)), S. 173.

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Welt und alle Menschen aber als Mittel – im Dienst einer Seins-›Liebe‹ zu Gott. Dadurch werden die Menschheit, die Natur und die Kultur eines eigenständigen Wertes beraubt, sie gelten nurmehr als Mittel. Infolgedessen gibt es weder für Naturethik einen Boden, noch für eine Moral der Menschenwürde. Da Gott der einzige Selbstzweck ist und es einzig ihn zu lieben gilt, ist es recht, wenn mit den Menschen, der Welt und der Natur als mit bloßen Mitteln verfahren wird. Eine gültige moralische Grenze besteht m. E. nicht. Ein absolutes Prinzip wie ›Menschenwürde‹ kann in diesem Rahmen jedenfalls nicht gedacht werden. Dann aber tut sich der Abweg zu einem heilsgeschichtlichen Totalitarismus auf. In der Tat hat der Kirchenpolitiker Augustinus diesen Abweg beschritten: Als die moralisch rigorose, tendenziell sozialrevolutionäre nordafrikanische Mehrheitsgemeinde um den Bischof Donatus das Märtyrertum und das heiligmäßige Leben gegen die junge katholische Staatskirche und das christianisierte Kaisertum zu unumstößlichen Kriterien erhob und die Katholiken als frevelhafte Gemeinschaft angriff, verfuhr Augustinus zumindest zweideutig. Einerseits protestierte er gegen die Todesstrafe, die der römische Staat über die Donatisten verhängte und engagierte sich unermüdlich in Diskussionen und Verhandlungen mit ihnen. 273 Andererseits machte er den wahren Glauben abhängig von der disciplina catholica und ihren Institutionen 274; und er dachte nicht daran, die kaiserlichen Religionsgesetze oder auch nur die 405 von Kaiser Honorius befohlene zwangsweise Katholisierung der Donatisten zu kritisieren. Ketzer seien eben zu verfolgen. 275 Der gelernte Rhetor verstand es, die staatlichen Gewaltmaßnahmen in Religionsund Gewissensdingen mit dem christlichen Liebesgebot zusammenzuzwingen. Seine Argumentation setzte – offenbar bildet hier nicht ein argumentativer Diskurs mit Achtung der Meinungsfreiheit und Menschenwürde, sondern ein um das Seelenheil besorgter Großinquisitor die Leitidee – die kirchliche Heilsfürsorge tendenziell mit der christlichen Liebe (caritas) gleich. Das Interesse an einer, nicht durch unbedingte moralische Normen wie die der zu achtenden Menschenwürde und Gewissensfreiheit einge273 Vgl. H. Fr. von Campenhausen, Lateinische Kirchenväter, Stuttgart 1960 (zit.: Lateinische Kirchenväter (1960)), bes. S. 185–193. 274 K. Flasch, Augustin (1980), S. 160. 275 Vgl. H. Fr. von Campenhausen, Lateinische Kirchenväter (1960), S. 191–194.

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grenzten, kirchlichen Heilsfürsorge ließ Augustin voraussetzen, daß sich jede Liebe auf das schlechthin und wahre Gute richte, auf Gott. Nur wisse das die alltägliche Liebe nicht. Daraus leitete er eine Maxime ab, die die Autonomie des moralischen Urteils durch eine heilsgeschichtliche Fremdbestimmung ersetzt: »contra voluntatem tuam sed propter salutem tuam« (»gegen deinen Willen aber wegen deines Heils«) 276 – verhängnisvoll für die katholische Praxis, zerstörerisch für die Sinnbedingungen eines realen praktischen Diskurses. Im Sinne dieser Maxime konnten Lehre und Praxis der katholischen Kirche nicht nur autoritär werden, sondern auch totalitär. Schlägt hier doch eine undialogische »Liebes- und Gesinnungsethik um in die Rechtfertigung von Gewalt«, wie Kurt Flasch pointiert. 277 Wenn nämlich der Kirchenlehrer den Betroffenen nicht zutraut zu erkennen, worauf sich ihre Intention eigentlich richtet, wohl aber sich selbst ein solches Zielwissen zuschreibt und es in der Heilsinstitution Kirche verankert – was bleibt dann zu tun? Eines Diskurses mit den Menschen bedarf es dann nicht, sondern nur eines solchen über sie. Zudem kommt es dann auf die Etablierung einer Sanktionsmacht für den unterstellten Regelfall an. Augustins Regelannahme aber lautet: Die Menschen pflegen sich ihrem Willen entsprechend zu verhalten – und damit in Widerspruch zur Liebe zu Gott. In der seinsteleologischen theoria-Perspektive wird Gott nicht mehr als das gerechte und liebende Gegenüber im geschichtlichen Wandel angesprochen, sondern als einziger und daher vollkommen zu liebender Selbstzweck angesehen, die Welt und alle Menschen aber als Mittel – im Dienst dieser ›Liebe‹ zu Gott. Darunter versteht Augustin, im Gegensatz zum Agape-Begriff und im Einklang mit dem des ἔρος, ein Erstreben und Begehren: »appetere«. Kurt Flasch kommt daher zu folgendem Schluß: »Das Verbot, irgend etwas Vergängliches um seiner selbst willen zu lieben, gibt der Definition [von ›Liebe‹] ihre Spitze: Eigentlich verdient nur das Erstreben des höchsten Gutes den Namen ›Liebe‹. Lieben wir ein Geschöpf um seiner selbst willen, so ist dies verkehrte Liebe; Augustin nennt sie Begierde, cupiditas. Er hält sie für den Ursprung aller Laster.« 278 Und was das Gott-Mensch-Verhältnis dieses Augustinus, Epistulae CLXXIII 4, in: J. P. Migne, Patrologiae Cursus Completus, Series Latina, Bd. 33, Paris 1861/62, S. 803. Zur Sache die vorzügliche Analyse von Kurt Flasch, Augustin (1980), 164–172. 277 K. Flasch, Augustin (1980), S. 165. 278 K. Flasch, Augustin (1980), S. 136, vgl. 132–139. 276

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Liebesbegriffs anbelangt, so hat er offenbar eine »reale Wechselseitigkeit der Liebe zwischen Gott und Mensch […] nie ins Auge gefaßt.« 279 Nichts dokumentiert den immensen Abstand zum hebräisch biblischen und damit zum jesuanischen Bundesgedanken deutlicher als diese Realitätseinbuße. Denn ohne die als real angenommene Wechselseitigkeit der Liebe verliert das Bundesverhältnis zwischen Jahwe und Israel seine ethische Substanz. Des Hebräischen unkundig und des Griechischen kaum mächtig, stattdessen mit den Augen eines neuplatonischen Geistes versehen, setzt er die, durch Philo von Alexandria (erste Hälfte des 1. Jh. v. Chr.) eingeführte, allegorische Auslegung der hebräischen Bibel fort, deutet also zeitgeistwidrige, etwa zu handfest geschichtsbezogene oder wunderhafte Erzählungen, neuplatonisch spirituell um. So interpretiert er auch Paulus im Sinne eines Dualismus von Geist und Fleisch. Er radikalisiert die ambrosianische Synthese 280 von Neuplatonismus und Christentum durch eine Zwei-Welten-Theorie, durch Orientierung an einem asketisch mönchischen Ideal der Freunde Gottes und nicht zuletzt durch eine mythische Erklärung des Bösen bzw. der Schuld. Erklärt er doch das Böse als Folge einer »Erbsünde«, als eine Kausalität des Menschheitsschicksals: Es sei die zwangskausalistische Wirkung von Adams Sündenfall. Die These einer ›Erbsünde‹ unterstellt, daß die Menschheit sündigen müsse, weil sie aus Adams Samen hervorgegangen sei. Damit zerstört sie einen Kernbestand der biblischen Theologie und Ethik. Denn das schon hervorgehobene Bundesverhältnis von Jahwe und Israel bzw. Gott und Mensch ist als ein freies Verhältnis von wechselseitiger Anerkennung und Verantwortung zugleich konzipiert. Dieses Zugleich unterläuft Augustin mit seiner Lehre von der Erbsünde, peccatum originale. Schon für sich genommen, ist der Begriff einer Erbsünde sinnlos: eine contradictio in adjecto. Überdies läßt sich der Gedanke einer A. a. O., S. 138. Ambrosius, dem Augustinus in den »Bekenntnissen« – von ferne – ein Denkmal gesetzt hat, legte die Bibel im Sinne der neuplatonischen Spiritualität aus. Damit folgte er dem Vorbild des jüdisch-hellenistischen Theologen und Philosophen Philon von Alexandria (25 v. Chr. bis 40 n. Chr.) und des, Plotin nahestehenden, Kirchenvaters Origenes (185 in Alexandria bis 254 in Tyrus). Die hebräische Bibel, die er nur in der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, lesen konnte, eignete er sich dermaßen neuplatonisch an, daß er Platons Theologie auf das Alte Testament zurückführen konnte – so wie man es z. T. in der Ostkirche tat. 279 280

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Erbsünde ganz und gar nicht mit der hebräischen Bibel und dem Hauptstrom der rabbinischen Tradition, in der Jesus steht, vereinbaren, weil hier wie dort die Sünden – stets im Plural – als selbstverantwortete Beziehungshandlungen der Menschen gelten. 281 Zudem vergewaltigt diese Lehre m. E. auch die heilsgeschichtliche Gegenüberstellung von Adam und Christus, genauer: des Handlungstypos Adam und des Handlungstypos Christus, die Paulus in Kapitel 5 des Römerbriefs vornimmt und auf die Augustin sein Dogma stützt. 282 Nichtsdestotrotz ist sie katholischerseits (Synode von Orange 529) und erneut in den lutherischen Bekenntnisschriften dogmatisiert worden. Sie hat sich tief in das abendländische Freiheits- und Sündenverständnis eingesenkt. Der junge Hans Jonas hat die Erbsündenlehre als unhaltbaren Mythos kritisiert – und daran seine Idee bzw. Methode einer »Entmythologisierung« entwickelt. Für das neutestamentliche Seminar Rudolf Bultmanns entwarf er eine entmythologisierende Hermeneutik, die Mythen und Dogmen daraufhin prüft, ob sie sich als verzerrende Verbildlichungen des moralischen Selbstverhältnisses eines Menschen vor Gott gewissermaßen dechiffrieren lassen – oder inwieweit sie destruiert werden müßten, weil sie sinnlos sind. 283 In Augustins Dogma findet er eine massive naturalistische Verdinglichung. Inwiefern? Nun, Augustin zufolge mißbrauche Adam, »von Gott gut und mit freiem Willen geschaffen, […] diese seine Freiheit zur Sünde, der ersten und Ursünde, durch die er nicht nur sich selbst unwiederbringlich um den ursprünglichen Zustand der Reinheit und Unschuld bringt, sondern zugleich die ›Natur‹ seiner ganzen Nachkommenschaft gleichsam im Samen verdirbt; so daß sie, die so verderbte (natura non sana, corrupta) in alle Zukunft die zur ursprünglichen Ausstattung des Menschen gehörende Fähigkeit einbüßte, aus eigener Kraft gut zu sein und seine ›Gerechtig281 Vgl. D. Vetter, Art. »Sünde, Jüdisch«, in: Lexikon religiöser Grundbegriffe, hg. von A. Th. Khoury, Graz/Wien/Köln 1987, S. 1011 ff. 282 Besonders Römer 5, 12 (ff.). Dazu: B. Lohse, Epochen der Dogmengeschichte, Stuttgart 1963, bes. S. 117 f.; W. Geerlings, Christus Exemplum. Studien zur Christologie und Christusverkündigung Augustins, Mainz 1978, bes. S. 261. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund: J. Gross, Geschichte des Erbsündendogmas, Bd. 1 und 2, München/Basel 1960–1963. Kritisch: H. [P.] Schmidt, »Die Erfahrung des Bösen«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 3, S. 677–731, bes. S. 710 ff., vgl. 706 ff. 283 Dazu D. Böhler, »Verstehen und Verantworten. Hans Jonas’ Einsichten für die Gegenwart der Zukunft – Kontexte und Probleme«, in: H. Jonas, Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, hg. von D. Böhler, Münster 2005 (zit.: Fatalismus (2005)), bes. S. 20 ff.

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keit‹ selbst zu erwirken – d. h. aber: Gottes Gebote zu erfüllen, die unter der berechtigten Voraussetzung seiner gottverliehenen Freiheit und Verantwortlichkeit an den Menschen ergehen. Eben diese Freiheit ist schuldhaft eingebüßt, durch Sünde, obzwar fortbestehend im Sündigen selber Freiheit betätigt wird: Freiheit des Bösen.« 284 Augustins unbiblischer Erbsünde-Mythos saugt die Selbstverantwortlichkeit des Menschen auf. Die Gerechtigkeit Gottes, deren Erkennbarkeit und grundsätzliche Erfüllbarkeit die biblische Bundestheologie voraussetzte, wird in diesem Mythos schlicht unverständlich. An die Stelle einer Korrelation von Gott und Mensch 285 (Hermann Cohen), dieser Sinnvoraussetzung des biblischen Bundes, tritt folgerichtig die Prädestination. Deren negative Seite, die Nichterwählung, scheint sich dann so rechtfertigen zu lassen: Gottes Nichterwählung eines Menschen sei stets gerecht, weil ja alle Menschen der Erbsünde unterlägen; also fielen sie der strafenden Gerechtigkeit Gottes zu Recht anheim … Der sinnwidrige Erbsündebegriff und der sich anschließende logische Zirkel der Prädestinationslehre haben über den Nominalismus, über Luthers »völlige Entwertung des freien Willens im Heilsgeschehen« (Kähler) und vor allem über Calvins Prädestinationslehre stark auf die Moderne gewirkt. 286 Eine Irrationalisierung des moralischen Diskurses und eine Neutralisierung der Verantwortung für die »gefallene« geschichtliche Welt waren die ethischen Folgen. Außerdem setzte die calvinistische Prädestinationslehre die innerweltliche Askese eines frühkapitalistischen Berufs- und Profitethos frei. Diese strenge Effizienzgesinnung förderte die Bildung von Industrie- und Finanzkapital und deren immer schnellere Akkumulation, weil sie rastlos darauf aus war, die anvertrauten Pfunde zu mehren 287 und die Zeit auszukaufen: »time is money« (Benjamin Franklin). In diesen wirtschaftsethischen Folgeerscheinungen, zumal der innerweltlichen Askese im Beruf und der Motivation zur Zweckrationalität, hat Max Weber den Hauptschub 284 H. Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem. Eine philosophische Studie zum pelagianischen Streit, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage, Göttingen 1965, S. 84 f. 285 Dazu hier: Abschnitt I.7. 286 Dazu E. Kähler, Art. »Prädestination: III Dogmengeschichtlich«, in: RGG, Bd. 5, Tübingen 31961, S. 483–487. 287 Das bei Matthäus (18, 23 ff.) und Lukas (19, 12 ff.) überlieferte Gleichnis von den anvertrauten Pfunden bzw. Talenten wurde auf den innerweltlichen, und zwar den ökonomischen und finanziellen Erfolg bezogen.

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der westlichen Modernisierung gesehen, fast 288 den ›Geist des Kapitalismus‹ in nuce. 289

I.6.1 Wirkmächtiger Augustinus. Verfestigung der akommunikativen Erkenntnis- und instrumentellen Sprachauffassung Der Verlust des hebräisch biblischen Liebesbegriffs und Gottesbegriffs ist traditionsgeschichtlich denkbar stark motiviert. Es ist nicht allein die seinstheologische theoria-Perspektive, die Augustin vom Geist der Bibel abtrennt, sondern zumal der eingangs erwähnte neuplatonische und post-manichäische Dualismus, welcher im Geist des Abendlandes sehr wirkmächtig geworden ist. Und das, obgleich er nicht allein dem bundes- und schöpfungstheologischen Vermittlungsdenken der hebräischen Bibel kontradiktorisch entgegensteht, sondern auch mit dem Ciceronischen Vermittlungsdenken der Rhetorik, mit dem Augustin eigentlich vertraut war, unvereinbar ist. Cicero war davon durchdrungen, daß Kopf und Stimme, Geist und Laut in der Rede zusammenfließen. In der gesprochenen Sprache erkennt Cicero ein Immer-schonVermitteltsein von kollektivem Geist und Natur. Die zwischen Isokrates und Cicero wirksamen Vermittlungsintentionen der Rhetorik und rhetorischen Dialektik gibt Augustinus auch als Sprachtheoretiker preis. Denn er vertritt eine vergegenständlichende stoische Sprach- und Seinsauffassung. 290 So versteht er die Sprache als System von »Zeichen für ein sinnlich oder intellektuell sichtbares Ding« 291. Diese instrumentelle, gegenstandstheoretische und akommunikative Sprachauffassung herrschte fortan im europäischen Geist vor. Augustinus gibt den Hintergrund für die bis in die Gegenwart dominante Zwiespältigkeit des Diskursverständnisses ab: In einem (als Disputation oder als Abhandlung) gemäß der Dialektik durchgeführten Diskurs zeige sich zwar, was die Vernunft in der Seele ist und was sie jeweils wert ist (a); ihr Ursprung aber, an dem ihr Licht entzündet worden, sei göttlicher Natur und nicht diskursiv zugänglich, sondern allein »Fast«, weil als weiteres Kernstück die Berufsauffassung Luthers hinzukommt. M. Weber, »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« und »Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus«, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1920, S. 17–206 und 207–236. 290 Vorzüglich: K. Flasch, Augustin (1980). 291 A. a. O., S. 282 ff., 121 ff. 288 289

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durch intuitive Selbstreflexion. Diese Wendung zu einer vorsprachlich als Schau verstandenen Selbstreflexion ist methodisch eine Wendung der Seele nach innen, zu sich selbst, während sie in der Sache und seinsmäßig eine Hinwendung der Seele zu Gott darstellt (b). Zu (a): Augustinus gibt Ciceros Bestimmung der Dialektik als derjenigen Disziplin, die über wahr und falsch urteile, dem Mittelalter weiter 292 und sieht in Paulus das Vorbild für Diskurse, die im Dienste christlicher Mission und Apologie dialektisch zu führen seien. 293 Dieses Interesse verfolgend, versteht er die Dialektik als Kunst des Diskurses und erhebt sie zur disciplina disciplinarum, was Hrabanus Maurus, Albertus Magnus und dann noch Melanchthon Jahrhunderte später aufgreifen. 294 Wenn er die Dialektik als diskursive Disziplin würdigt, so tut er das gänzlich im Rahmen der antiken, akommunikativen Auffassung der Erkenntnis als eines geistigen Sehens und der Sprache als eines Bezeichnens von (zuvor geschauten, d. i. erkannten) Dingen durch Wörter. Und den Wörtern, die er nach dem Muster von Hauptwörtern versteht, spricht er lediglich die Funktion von Zeichen (oder Namen) zu. 295 Die Wirkungsmacht dieses Sprach- und Erkenntniskonzepts und seiner Ausklammerung der transzendentalpragmatischen und -hermeneutischen Rolle der sprachlichen Kommunikation sollte erst von Wilhelm von Humboldt und Ludwig Wittgenstein gebrochen werden. Im Einklang mit seinem leibfeindlichen, teils manichäistischen, teils neuplatonisch spiritualistischen, Hintergrund greift Augustin die antik abendländische Instrumentalisierungstendenz von Kommunikation und Sprache nicht allein auf, er vertieft und verschärft sie. Ihm gelten Sprache und Kommunikation bloß als sekundäre Mittel der Vernunft. Dieser aber sei das Muster des Sehens (statt das des Miteinandersprechens) eingeschrieben. Und diese schauende ratio habe die Sprache zum Zwecke der Kommunikation hervorgebracht, und zwar als ein System von Lauten zur Bezeichnung von Dingen, – und alsdann die Schrift. 296 Zu (b): Seine christianisierende Anverwandlung der neuplatonischen Tradition, zumal Plotins, läßt den hellenistisch philosophieren292 Augustinus, De ordine XIII, 38; vgl. L. Oeing-Hanhoff, Art. »Dialektik. III. Die Dialektik von Boethius bis Jungius«, in: HWPh, Bd. 2 (1972), S. 176 f. 293 H. Marti, Art. »Disputation«, in: HWRh., Bd. 2 (1994), S. 866–880, hier S. 873. 294 Vgl. a. a. O. und L. Oeing-Hanhoff, Art. »Dialektik«, in: HWPh, Bd. 2 (1972), S. 176. 295 D. Böhler, »Wittgenstein u. Augustinus« (1983), S. 343–370. 296 Augustinus, De ordine II, caput XII, 35 (p. 1012).

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den Kirchenlehrer zum Monologiker der gläubigen, die göttliche Wahrheit intuitiv suchenden Seele werden. Er nimmt an, daß die Seele intuitiv im strengen Sinne, kommunikationsunabhängig und aus sich heraus, die göttliche Wahrheit suche. Wie? Indem sie aus der Welt heraus und in ihr Innerstes hineingehe: Durch Selbstreflexion, durch Wendung nach innen könne die Seele zunächst die sinnlich wahrgenommenen Welteindrücke einklammern, gelange dann in den äußeren Innenraum des Gedächtnisses, der memoria, und erreiche schließlich ihr Innerstes, den Geist bzw. die mens, in die das Licht der göttlichen Wahrheit hineinleuchte. So wird die Selbstbegegnung zur Gottesbegegnung, die Selbstreflexion zum Empfang göttlicher Wahrheit. Es ist aufregend zu sehen, wie der christliche Neuplatoniker hier spätantik und quasimodern zugleich denkt, spekulativ metaphysisch und methodisch kritisch, nämlich die Geltung der Sinneswahrnehmung und der Sprache einklammernd, weil er nach Kriterien der Vergewisserung sucht. Diese Suche beansprucht Urteilsautonomie. Und es ist dieser Anspruch, der Augustinus als Philosoph zunächst zur Abwendung von der äußeren Welt durch ein strikt autonomes Verfahren bringt: durch eine gleichsam selbstische, welteinsame Methode. Aber den Erkenntnisgrund findet er als Theologe: in einer Erleuchtung durch Gott und der Begegnung mit Gott. Er entwickelt das Schema einer Selbstreflexion, die in Bezug zur Welt methodisch einsam verfährt, während sie als Selbstgespräch der Seele vor Gott und als Zwiesprache mit Gott einen metaphysisch dialogischen Rahmen hat. Dann und erst dann, wenn dieser Rahmen im Zuge eines geistigen Säkularisierungsprozesses vergleichgültigt wird, ersteht ein eigentlicher methodischer Solipsismus. Augustins Ansatz der Selbstreflexion trägt einerseits Züge eines autonom philosophischen Zweifelsdiskurses, andererseits will er neuplatonisch spiritualistisch einen Weg zu Gott und ineins damit zur intuitiven Gewißheit der Wahrheit weisen. Das neuplatonische Verständnis der Erkenntnis als theoria aufgreifend und die Platonische Psychologie fortschreibend, konzipiert Augustinus das Erkenntnisvermögen als ein inwendiges Sehvermögen, die Ratio als aspectus animae. 297 Dementsprechend versteht er den Gegenstandsbereich der Vernunft als Inbegriff einer inwendigen Schau. Die Ratio erschließe die 297 Vgl. ders., Soliloquia I, 6, 13; vgl. 6, 12 und De trinitate XII, 2, 2 sowie Contra Academicos II 13, 29.

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intelligiblen unkörperlichen Wahrheiten, welche weder durch körperliche Sinneseindrücke noch durch Sprache vermittelt seien. 298 Dieser Ansatz einer intuitiven Erkenntnis als Schau der Seele und als Konzentration der memoria führt ihn zu einer Evidenztheorie der Wahrheit, die ebenso sprach- und kommunikationsfrei wie auch von Sinneserfahrung unabhängig sein soll. Der Weg zur Gewißheit des Erkennenden führe allein über die Selbstschau des homo interior, der Seele als des inneren Menschen. Als neuplatonischer Skeptiker, der in der sinnlichen Wahrnehmung Sinnestäuschungen findet und in der menschlichen Kommunikation auf bloße Meinungen und Dogmen trifft, sucht er ein absolute Gewißheit ermöglichendes Fundament. In gewisser (freilich weniger dramatischer) Weise befindet er sich in einer ähnlichen Problemsituation wie dann, gut ein Jahrtausend später, René Descartes: Hier wie dort soll die Sicherheit vor Sinnestäuschungen und die Freiheit von Vorurteilen durch eine strikt innerliche Ratio und Evidenz garantiert werden, die in ihrem Innenraum von allen Irritationen der »Außenwelt« abgeschirmt und einsam der Wahrheitsbesinnung hingegeben ist. Existentiell, praktisch und theoretisch macht sich Augustinus auf die Suche nach dem »allein sicheren Ort für seine Seele« 299 und findet ihn schließlich im Geist (mens). Hier im Innersten der Seele leuchte das göttliche Licht der Wahrheit und spreche Gott selbst zum Menschen. Die Frühschrift »De vera religione«, die dem Suchenden den Weg in das Innerlichste eröffnen will, deutet voraus auf das, von Descartes bis Husserl für den philosophischen Diskurs ausgearbeitete, Programm einer stufenförmigen Geltungseinklammerung und Selbstreflexion: »Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. (Noli foras ire, in te redi, in interiore homine habitat veritas.) Und wenn du deine Natur noch wandelbar findest, so schreite über dich selbst hinaus! Doch bedenke, daß, wenn du über dich hinausschreitest, die vernünftige Seele (ratiocinantem animam) es ist, die über dich hinausschreitet. Dorthin also trachte, von wo der Lichtstrahl kommt, der deine Vernunft erleuchtet (unde ipsum lumen rationis accenditur). Denn wohin sonst gelangt, wer seine Vernunft recht gebraucht (omnis bonus ratiocinator), wenn nicht zur Wahrheit? […] Aber wenn du nicht einsiehst, was ich sage, und zwei298 299

Vgl. ders., Confessiones X, 11 und X, 9–12. A. a. O., X, 40.

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felst, ob es wahr sei, so sieh zu, ob du auch daran zweifelst, daß du es bezweifelst. […] So ergibt sich folgende Erkenntnisregel: Jeder, der einsieht, daß er zweifelt, sieht etwas Wahres ein und ist dessen, was er einsieht, auch gewiß. Also ist er eines Wahren gewiß. […] Da nun alles Wahre nur durch die [scil. göttliche] Wahrheit wahr ist, kann niemand an der Wahrheit zweifeln, der überhaupt zweifeln kann.« 300 Augustinus postuliert, auch im Kontext dieses Zitats, eine intuitive Selbstgewißheit der gläubigen Seele – garantiert durch göttliche Erleuchtung und Belehrung. Dabei bringt er jenen gleichsam halbierten methodischen Solipsismus ins Spiel. Denn die Gewißheit ist ja nicht in der Selbsterfahrung eines reinen solus ipse verankert, sondern in einer Art Kommunikation des Ich mit Gott, dem Schöpfer und der personifizierten reinen Innerlichkeit. 301 Diese Gott-Seele-Kommunikation folgt zwar dem Muster eines autoritativen Lehrgesprächs, wird aber nicht als sprachliche Kommunikation sondern als unmittelbare Seelenbelehrung und sprachunabhängige Erleuchtung dargestellt. In optischen Begriffen statt in lingualen konzipiert, stellt sie das Paradox einer sprach- und gehörlosen Kommunikation dar: Das ewige Licht der Wahrheit könne allein »aus dem Innersten heraus geschaut« werden. 302

I.6.2 Thomas von Aquin. Der unbiblische Seins- bzw. Kontemplationsgott und das akommunikative Erkenntnisschema ›diskursiver Verstand versus intuitive Vernunft‹ Die theoria-Tradition der Erkenntnisauffassung und das in ihr angelegte Verständnis der Sprache als (nachträglicher) Bezeichnungsfunktion des kommunikationsunabhängig Erkannten oder doch Erkennbaren 300 Ders., De vera religione, 39, 72, 73 (in der Übers. von W. Thimme, Augustinus, Theologische Frühschriften, Zürich 1962), S. 487–489); vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, hg. von E. Ströker, Hamburg 1977 (zit.: Cartesianische Meditationen (1977)), S. 161; vgl. Augustinus, De civitate dei, 11. Buch, 26 und auch Soliloquia 2, 1 (»cogitare te scis? Scio«); ferner: De libero arbitrio 2, 7. 301 Vgl. K. Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. 1, München 1959; F. Körner, »Augustinus: Das Grundproblem der menschlichen Existenz. Die Frage nach der Ratio im Dasein und Denken des Menschen«, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie des Altertums und des Mittelalters, Göttingen 1972, S. 151 ff.; kritisch dazu: K. Flasch, Augustin (1980). 302 Augustinus, Confessiones VI, 16, 26.

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durchherrscht die Scholastik. Deren »Vater«, der Benediktiner Anselm von Canterbury (geboren 1033 in Aosta, gestorben 1109 in Canterbury), gab den Grundton an. Mit Bezug auf die Paulinische Entgegensetzung der stückweisen, spiegel- und rätselähnlichen Welterkenntnis zu der himmlischen Schau »von Angesicht zu Angesicht« 303, erneuerte Anselm die neuplatonische Bedeutung von Intuition als unmittelbarer Erkenntnis Gottes. Diese stellte er der Erkenntnis endlicher Dinge gegenüber. 304 Auf dem Höhepunkt der Scholastik leuchtet Thomas (geboren 1225 auf Schloß Roccasecca bei Neapel, gestorben 1274 im Kloster Fossanuova bei Rom). Der große Aristoteliker mit neuplatonisch intellektualistischen und spiritualistischen Zügen sieht nicht allein die vermeintlich schauende Vernunft sondern auch den diskursiven Verstand als ein kommunikationsunabhängiges Vermögen an. Er steht in der Wirkungsgeschichte der letzten christlichen Römer, Augustinus und vor allem Boethius, des neuplatonisch inspirierten Aristoteleskommentators (480–540). Hatte dieser »intuitus« als Terminus technicus für die reine Anschauung von einfachen Begriffen eingeführt: »simplices intellectus sine alla compositione vel divisione animi puro capiuntur intuitu« 305, so versteht Thomas den Verstand, die Ratio, als das begrifflich schlußfolgernde Vermögen und stellt es der intuitiven, schauenden Vernunft gegenüber. Entweder erkenne der Mensch »discursive« oder »simplici intuitu« 306. Charakteristischerweise unterstellt er, diese beiden Erkenntnisweisen ließen sich ohne Kommunikation, also prinzipiell einsam, vollziehen. Mithin ist Thomas nicht allein der mittelalterliche locus classicus für den Gebrauch von »intuitiv« versus »discursiv«, er ist auch der christlich abendländische Klassiker des methodologischen Solipsismus. Der Unterscheidung »intuitiv« versus »discursiv« kann bei Thomas die Opposition von »intellectus« für ein geistig übersinnliches Erkenntnisvermögen versus »ratio« als schlußfolgernde und auf sinnliche

1. Kor. 13, 12. Anselm, Monologium LXVI; vgl. C. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, 4 Bde., München1855–1870, Bd. 3, S. 332 u. 746 Anm. 305 Boethius, In librum Aristotelis De Interpretatione libri II, 1, 1 ML 64, 300. 306 Thomas von Aquin, Summa Theologiae (zit.: Summa theol.), II–II, Quaestio 180, 6 ad 2, zit. nach: R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 1, Berlin 41927, S. 286, Art. »discursiv«. 303 304

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Wahrnehmung gestützte Erkenntnis entsprechen, muß es aber nicht. Zuweilen verwendet er »ratio« auch für das gesamte Erkenntnisvermögen oder gar gleichbedeutend mit »intellectus«. In diesem Falle übernimmt er Augustins Unterscheidung von höherer ratio (superior), die auf das Ewige geht, gegenüber niederer ratio (inferior). Auch dort, wo er »ratio« von »intellectus« deutlich absetzt, hat er noch nicht zwei verschiedene Erkenntnisvermögen im Sinn, sondern »verschiedene Tätigkeiten ein und desselben Vermögens«, wie Otto Muck betont. 307 Diese übergreifende Gemeinsamkeit der unterschiedenen Erkenntnisleistungen begünstigt das methodisch solipsistische Verständnis des Diskursiven und des Intuitiven. Schon fest etabliert, findet Thomas »discurrere« als Terminus für ein schlußfolgerndes Verfahren vor, das nicht auf einen homo loquens et communicans zurückgeführt wird, sondern den homo videns et intuitus begleite. Thomas hebt das Schließen und Abstrahieren als Charakteristikum der Ratio und der menschlichen Erkenntnis überhaupt hervor – im Unterschied zur reinen, intuitiven Erkenntnis Gottes bzw. anderer reiner, nicht leibgebundener Geister, der Engel. Denn ein Geist ohne Leib sei zur Erkenntnis nicht auf sinnliche Eindrücke angewiesen, müsse also aus diesem Erkenntnismaterial auch nicht die allgemeinen Wahrheiten – als Ontologe dürfte Thomas sagen: die allein geistig erfaßbaren Elemente des Seienden – allererst erschließen. Insgesamt, auch im Blick auf die neuzeitliche und moderne deutschsprachige Philosophie, legt es sich nahe, die Thomasische »ratio« im Gegensatz zu charakteristischen Stellen bei Augustinus mit »Verstand« wiederzugeben. 308 An zentraler Stelle, in der Schrift »De veritate«, definiert Thomas Ratio eindeutig als »schließendes Denken«, wie Edith Stein übersetzt: als »ein Fortschreiten (discursum quendam), wodurch die menschliche Seele von einem aus zur Erkenntnis von etwas anderem vordringt oder

307 O. Muck, Art. »Verstand«, in: H. Krings, H. M. Baumgartner u. Chr. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 6, München 1974, S. 1613–1626, hier 1616 f.; siehe auch: G. Cottier, »Intellectus und Ratio«, in: L. Scheffczyk, Rationalität. Ihre Entwicklung und ihre Grenzen, Freiburg 1989, S. 229–252. 308 Dagegen steht freilich die bis ins 18. Jh. herrschende Übersetzungstradition – »Verstand« für »intellectus« und »Vernunft« für »ratio« –, zu der Karl Albert und Paulus Engelhardt zurückgekehrt sind. K. Albert u. P. Engelhardt (Hg.), Thomas von Aquin, Summe gegen die Heiden, Darmstadt 1974, vgl. a. a. O., Erster Band, S. XVI f.

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gelangt. […] Schließendes Denken [ist] der Übergang von der Ursache zum Verursachten (ratiocinatio est cursus causae in causatum).« 309 Dieser begrifflich schlußfolgernden Verstandeserkenntnis stellt er die tiefergehende, fundamentale Vernunftschau gegenüber, die intuitiv erfassende cognitio intellectualis. Sie könne nicht bei einer Betrachtung der körperlichen Dinge stehenbleiben, vielmehr erschaue sie direkt die geistartige Wahrheit, veritas intelligibilis. 310 Den Vorzug der Unmittelbarkeit (und Absolutheit) schreibt er derselben ruhevollen Kontemplation zu, in der schon die Aristotelische Nous-Kosmos-Theologie das Wesen der göttlichen Vernunft erblickte. 311 Diese Vorstellung eines intuitiven Kontemplationsgottes, eines Gottes der theoria 312, kann Thomas auf den freilich ganz anderen Gott der Bibel beziehen – ohne Skrupel, weil in starker hellenistischer Tradition. Der hebräisch biblische Gott hingegen ist nicht selbstgenügsam kontemplativ, sondern dialogisch aktiv, weniger der Seinsgott als ein Lebens- und Geschichtsgott. Der Gott der Väter und Gott Israels existiert in der Begegnungsgeschichte mit Menschen und als Gefährte mit dem von ihm erwählten Volk Israel. Er schließt Bünde, den Noahbund mit der Menschheit, den Sinaibund mit Israel. In der Geschichte macht Gott schmerzliche, enttäuschende Erfahrungen mit dem Menschengeschlecht. Schon bald muß er dessen »Dichten und Trachten« als »böse von Jugend auf« erkennen. Nach seinem Versuch, die Menschheit aus moralischer Empörung zu vernichten, der Sintflut, gewährt er ihr dann doch und aus guten Gründen die Freiheit zu ›gut‹ und ›böse‹. Genaugenommen: Er muß den Menschen sittliche Freiheit gewähren, will er sich als Schöpfer freier Wesen nicht selbst widersprechen oder gar seine Schöpfung durch naturkatastrophale Strafmaßnahmen zerstören. Diese Einsicht erarbeitet sich der biblische Gott – mühselig und selbstkritisch 309 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate (zit.: De ver.), XV, I; in der Übers. von E. Stein, Des Hl. Thomas von Aquino Untersuchungen über die Wahrheit II, Louvain-Freiburg 1955, S. 42; siehe auch Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de anima 7 ob. 3 und ders., Expositio super librum Boethii De trinitate 6, 1; vgl. M.-D. Chenu OP, »Die Weisen des diskursiven Vorgehens«, in: ders., Das Werk des Thomas v. Aquin, übers. von O. M. Pesch OP, Graz 1960, S. 199 ff.; siehe auch Thomas von Aquin, Fünf Fragen über die intellektuelle Erkenntnis (Quaestio 84–88 des 1. Teils der Summa de theologia), übers. von E. Rolfes, Hamburg 21977 (zit.: Fünf Fragen (1977)). 310 Thomas von Aquin, Summa theol. II–II, Quaestio 180, 5. 311 Aristoteles, Metaphysik, 1074 b 15 – 1075 a 10. 312 Dazu G. Picht, Wahrheit (1969), S. 49 f., 123 ff., 205 f., 223 f. und 229–251.

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im geschichtlichen Erfahrungsprozeß und im Dialog mit den Menschen. Dieser Gott verändert sich und lernt. So zeigen es die Sündenfallgeschichte (Genesis 3, 1–24) und die Noahgeschichte (Gen 6, 5– 9, 17). So charakterisiert JHWH sich selbst als im Wandel seiend: »Ich werde sein, der ich sein werde« (Exodus 3, 14). Der biblische Gott der Urgeschichte und der Exodusüberlieferung macht also reflexiv Erfahrungen. Er lernt, und er korrigiert sich – hochdramatisch und folgenreich nach der Sintflut. So erzählt der jahwistische Überlieferungsstrang der Noahgeschichte, wie Gott sogar sein Wesen wandelt. Eine atemberaubende Konversion: Der allmächtige Eingriffsgott, welcher unmoralisches Verhalten der Menschen mit einer gigantischen Naturkatastrophe straft und dadurch die Menschheit bis auf eine einzige Familie vernichtet, der bis hierhin Allmächtige erkennt seinen Irrtum. Er erkennt, daß er durch seine Erschaffung der Menschen auch deren Freiheit hervorgebracht hat, die sittliche Freiheit zum Guten wie zum Bösen. Daher sagt er sich offenbar: ›Als Schöpfer kann ich nicht zugleich ein freies Geschlecht wollen und die Sicherheit, daß diese freien Wesen ihre Freiheit nicht zum Bösen gebrauchen. Weil ich Menschen will, muß ich als Folge ihrer Freiheit auch deren moralisches Risiko gewärtigen, das mögliche Böse. Denn es vermeiden zu wollen, hieße die Schöpfung zurücknehmen, jedenfalls die Menschen vernichten zu müssen. Entweder ich will meine Schöpfung, dann muß ich auf so etwas wie Allmacht, d. h. supranaturalistische Eingriffsmacht, verzichten; oder ich will als Allmächtiger agieren, dann aber muß ich die Bestandszusage der Schöpfung kündigen, muß also die Idee einer Schöpfung freier Wesen kassieren. Tertium non datur.‹ Offenbar ist es diese Selbstreflexion, die Gottes Bund mit der Menschheit, dem Noahbund, zugrundeliegt. Wie anders ließe es sich verstehen und als begründet nachvollziehen, was Gott dazu bewegt, mit der künftigen Menschheit den Noahbund zu schließen? Denn damit verpflichtet er sich, seine Allmacht hinzugeben und für alle Zukunft ein Bundespartner der Menschheit zu sein: ihre Existenzbedingungen garantierend und die Menschen nurmehr anzusprechen, statt ihnen mit Vernichtungsgewalt gegenüberzutreten. Als Noah Jahwe einen Altar errichtet und ihm darauf ein reines Opfer gebracht hatte, da sprach Jahwe »bei sich selbst: Ich will hinfort die Erde nicht mehr verfluchen um der Menschen willen. Denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; und ich will hinfort nicht mehr alles Lebendige schlagen, wie ich gethan habe. Fort144 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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an sollen, solange die Erde stehet, nicht aufhören Säen und Ernten, Frost und Hitze, Sommer und Winter und Tag und Nacht.« 313 Die theologische Kühnheit der jahwistischen Noahgeschichte besteht in der Einsicht, daß die Allmacht des Schöpfergottes eine unhaltbare, weil selbstwidersprüchliche Annahme ist. Das wollen die allermeisten Ausleger bis heute nicht wahrhaben. Eine Ausnahme ist Hans Jonas, ein Philosoph, kein Theologe. 314 Warum hätte Thomas diese explosive Wahrheit entdecken sollen? Wohlfeil gefragt. So wie er denkt, kann er nichts dergleichen entdecken. Ein Gott der reinen Aseität, der absolut autark durch sich selbst ist, kann nicht als Bundespartner gedacht werden, der sich in das Verhältnis zu Anderen begibt und sich selbst vertragliche Beschränkungen auferlegt. Noch läßt er sich als einer denken, der im Diskurs (mit sich und anderen) Erfahrungen macht und sich wandelt. So aber ist der biblische Gott: Als Bundesgott, der der Vertragspartner der Menschheit (im Noahbund) und des Volkes Israel (im Sinaibund, dessen Vertragsurkunde die Zehn Gebote und »das vornehmste Gebot« (Jesus), die Grundnorm der Nächstenliebe sind) geworden ist, existiert er auch im Rechtfertigungsdiskurs. Im Prozeß des Erfahrung-Machens und des argumentativen Diskurses zeigt sich seine Potenz, gerade in der Suche nach Einsicht, d. h. nach dem besten Argument, und damit in der Fähigkeit, zu lernen und eigene Entschlüsse zu korrigieren. 315 Hingegen spricht Thomas Gott jegliche »Potenz« und damit Veränderbarkeit ab. Orientiert an der ontologischen theoria-Theologie des Aristoteles, Kapitel 6 und 7 im XII. Buch der Metaphysik, welche die parmenideischen Prädikate des wahren Immerseienden, also des gött-

1. Mose 8, 21 f. In der Übersetzung von E. Kautzsch. Dafür spricht Jonas’ philosophische Sinnkritik des Allmachtsprädikats, seine Anknüpfung an die kabbalistische Lehre vom Machtrückzug Gottes durch »Zimzum« wie auch seine aphoristische Bezugnahme auf die Noahgeschichte. Vgl. H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985 (zit.: TME (1985)), S. 298. Vgl. ders., »Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung«, in: ders., Philosophische Untersuchungen (1992), bes. S. 245–247. Vgl. ders., Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a. M. 1987 (zit.: Gottesbegriff (1987)). 315 Vgl. J. M. Schmidt, »›Der Mensch – geworden wie Gott‹. Die biblische Urgeschichte (Gen 1–11) gelesen mit Hans Jonas«, in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg 2004 (zit.: Orientierung (2004)), S. 185–210, hier 194–198. 313 314

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lichen Seins 316, aufgreift und rechtfertigt, zitiert und interpretiert er Bibelstellen, die sich theoria- und ewigkeitsontologisch auslegen lassen. 317 Mit dem hebräisch biblischen Gott und dem von Jesus verkündeten Gott hat dieser metaphysische Gottesbegriff freilich kaum etwas gemein. Thomas verabsolutiert die weltüberhobene, der Erfahrung und des Diskurses unbedürftige, Aseitas. Als Metaphysiker konstruiert er – völlig unempfänglich für die entgegengesetzte Tendenz der biblischen Gottesverkündigung bzw. Selbstoffenbarung Gottes – sein Bild eines unendlich vollkommenen Gottes: »simul omnia sua cognita considerat«, der kontemplativ »sein Wesen betrachtet, zugleich alles schaut« 318. Hier wird ein diskursfreier, dialogüberhobener Substanzund Kontemplationsgott fixiert, dessen Beziehungen zu den Geschöpfen und zu seinen Wirkungen »nicht real in ihm bestehen«. Würde nämlich, erläutert Thomas ganz konsequent, »eine Beziehung als in Gott real bestehend ausgesagt, so würde folgen, daß zu Gott etwas als neue Bestimmung hinzukäme und daß er somit sich wandelte.« 319 Dieses Gottesbild ist dem unbewegten Beweger des Aristoteles nachgebildet: Als ontologischer Kontemplationsgott ruht dieser griechisch metaphysische Gott in sich – autark und schauend und ewig unwandelbar 320, jenseits von Diskurs, Lernen und Selbstveränderung. Es ist ein ungeheurer Vorgang, daß der parmenideisch-platonischaristotelische Begriff des ewig in sich ruhenden, autark kontemplativen Gottes dem Gott der hebräischen und dem der jesuanisch urchristlichen Überlieferung oktroyiert wird. Thomas hat einen anderen Gott als die hebräische Bibel und als der Jesus der synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus und Lukas). Wie gesagt, Thomas steht mit diesem Gottesbild in einer mächtigen Tradition, deren Sogkraft wir schon an Augustinus wahrgenommen haben. Es ist zunächst eine spätjüdisch hellenistische, dann eine patri316 Dazu G. Picht, »Die Epiphanie der ewigen Gegenwart: Wahrheit, Sein und Erscheinung bei Parmenides«, in: ders., Wahrheit (1969), S. 36–86. 317 Thomas von Aquin, Summae contra gentiles libri quattuor. Summe gegen die Heiden, hg. von K. Albert u. P. Engelhardt, Darmstadt 1974 ff., (zit.: Contra gentiles), I, XIV–XVI, bes. S. 60 f. und 64 f. 318 A. a. O., I, LV, S. 208 f.; vgl. I, XLIV f. Zu der in der Neuscholastik aktualisierten »Aseitas« vgl. den Artikel »Aseität« von D. Schlüter in: HWPh, Bd. 1 (1971), S. 537 f. 319 Thomas von Aquin, Contra gentiles, II, XII, S. 24–27. 320 A. a. O., I, XLIV f. und XIV f., bes. S. 174–179.

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stisch hellenistische Tradition. Philo von Alexandrien hatte sie bereits vor unserer Zeitrechnung eröffnet, in der frühen Kirche ist sie etwa von Origenes im Osten, von Ambrosius und Augustinus im Westen entschieden fortgesetzt und dogmatisch geformt worden. Thomas befindet sich auf dem langen Weg der metaphysischen Hellenisierung einer hebräischen sowie aramäischen, viel stärker geschichtlich-dialogisch als ontologisch-metaphysisch angelegten Überlieferung. Ein Weg, der schon im Neuen Testament, im Prolog des Johannes-Evangeliums durch den Mythos von Gott als präexistentem Logos irreversibel gebahnt war und dann in Rom von den lateinischen Kirchenvätern beschritten worden ist – zuletzt von Augustinus und Boethius. Doch ist es nicht der aristotelisierende Ontologe Thomas, der die bereits weit getriebene katholische Ontologisierung des biblischen Geschichts- und Dialog-Gottes gleichsam in Zement gießt? Es lohnt, das Augenmerk darauf zu richten. Denn durch Thomas’ Verschmelzung des Aristotelismus mit der katholisch-patristischen Lehrtradition wird nicht allein ein metaphysischer, mithin entjudaisierter und entdialogisierter Begriffsrahmen für den Diskurs über Gott und die Welt gleichsam vereidigt; darüber hinaus wird die Philosophie auf die Denkalternative diskursiv versus intuitiv festgelegt – und damit über viele Jahrhunderte auf die akommunikative Einstellung der Kontemplation als theoria. Bis zu Hegel wurde so die Vernunft an das Ideal des intuitiven Kontemplationsgottes gebunden, den sogenannten Gott der Philosophen. Protest gab es nur von Reformatoren und am entschiedensten von dem Jansenisten Pascal, der den dialogischen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wiederentdeckte und gleichsam existentialistisch aus der Theologie der Philosophen und ihrer teleologischen Ontologie heraussprengte. Nietzsche und Heidegger proklamierten, Georg Picht und Hans Jonas reflektierten schließlich den Tod dieses metaphysischen Gottes 321, der nie der Gott der Juden und des Juden Jesus war. Hätte er je der Gott der Christen werden dürfen, sofern für sie die Bibel und nicht bloß das eher spekulative Johannes-Evangelium gilt? 321 G. Picht, »Der Gott der Philosophen und die Wissenschaft der Neuzeit«, in: ders., Wahrheit (1969), S. 229–251. H. Jonas, »Gnosis, Existentialismus und Nihilismus«, in: ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit, Göttingen 1963, S. 5–25 und in: Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil, Göttingen 1993, S. 359–379.

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Thomas’ aristotelisierender Gottesbegriff wurde, hintergründig selbst bei Kant, zum Archetyp bzw. Urbild einer intuitiven und infalliblen Vernunfterkenntnis und zum Gegenbild der vermittelten diskursiven Erkenntnis: »Gott erkennt alles zugleich« 322, nicht aber »schlußfolgernd oder discursiv« (»divina consideratio non est ratiocinativa vel discursiva« 323), denn »sein Wissen ist sein Wesen« 324. So verhalte sich die Intelligenz Gottes und ebenso die der Engel »wie die unvergänglichen Dinge, die gleich im Anfang ihre ganze Vollkommenheit haben«. Daher besäßen Gott und die Engel »sogleich vollkommen die ganze Erkenntnis des Dinges« 325. Hingegen entspreche die schlußfolgernde Erkenntnis (cognitio ratiocinativa) der menschlichen »Unvollkommenheit einer geistigen Natur«, »denn was durch anderes erkannt wird, ist weniger erkannt als das, was durch sich erkannt wird« 326. Insofern der Mensch einen gewissen Anteil an der kontemplativen Vernunftkraft habe, komme er zwar gattungsmäßig mit den Engeln überein. 327 Doch sei die kontemplativ intuitive Erkenntnis bei diesen ähnlich wie bei Gott selbst ausgeprägt, weil Engel die Wahrheit wie Gott ganz und in einfachem Blick erfassen: unmittelbar erschauend. Hingegen müsse die menschliche Intelligenz die intelligible Wahrheit erst diskursiv, schlußfolgernd, von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen abziehen bzw. sie aus deren Wahrnehmung erschließen – »quia non intelligit veritatem intelligibilem discursive, sed simplici intuitu. Intellectus vero animae a sensibilibus rebus accipit intelligibilem veritatem; et cum quodam discursu rationis eam intelligit«. 328 Nur in dem Maße, wie sie den discursus rationis, diesen Verstandesdiskurs, überwinde, könne auch die menschliche Intelligenz Wahrheit intuitiv und damit sicher erfassen: »In dieser Tätigkeit der Seele Thomas von Aquin, Contra gentiles, I, 55, S. 207. A. a. O., I, 57, S. 213. 324 A. a. O., S. 215. 325 Thomas von Aquin, Summa theologiae I a, Quaestio 85, 5: »Intellectus autem angelicus et divinus se habet sicut res incorruptibiles, quae statim a principio habent suam totam perfectionem. Unde intellectus angelicus et divinus statim perfecte totam rei cognitionem habet.« (Auch in ders., Fünf Fragen (1977), S. 50 f.) 326 A. a. O. 327 A. a. O., II–II, Quaestio 180, art. 6 ad 2. 328 Übers.: »weil er [ein Engel] die geistige Wahrheit nicht schlußfolgernd, sondern in einfachem Blick erkennt. Das Erkenntnisvermögen der Seele hingegen nimmt von den sinnenfälligen Dingen die geistige Wahrheit an und versteht sie in einem gewissen Diskursus des Verstandes.« 322 323

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gibt es keinen Irrtum, da klar ist, daß kein Irrtum eintritt bezüglich des Verständnisses der ersten Erkenntnisgründe, die wir [nämlich] in einfachem Blick erkennen« – »sicut patet quod circa intellectum primorum principiorum non erratur, quae simplici intuitu cognoscimus« 329. Zwar gilt Thomas das diskursive Denken bzw. die begriffliche und schlußfolgernde Verstandestätigkeit als Bedingung dafür, von der Wahrheit einer Erkenntnis zu reden, weil der Mensch erst, wenn sein Verstand ein Urteil gefällt hat, die Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand prüfen könne. Aber Wahrheit selbst bestimmt er ausschließlich nach dem Muster des Hinblickens auf Dinge, indem er ein korrespondenztheoretisches Kriterium für Wahrheit angibt, nämlich die Übereinstimmung zwischen Intellekt und Sache: »Veri enim ratio consistit in adaequatione rei et intellectus.« 330 Thomas steht paradigmatisch für die Wirkungsgeschichte der Aristotelischen Logik. Es geht ihm um die Ableitung von Folgerungen aus intuitiven Grundeinsichten und um den Rückbezug der Urteile auf ihre ersten Geltungsgrundlagen, die der intellectus intuitiv erfasse, durch ein geistiges Sehen also. Darüber hinaus aktualisiert und vermittelt er einen bis heute – modern vom Kritischen Rationalismus Karl R. Poppers und vom Hauptstrom der analytischen Philosophie 331 – bewahrten Kern der alteuropäischen Erkenntnis- und Sprachauffassung: Das Wesen der Erkenntnis (gleichviel ob man ihr einen intuitiven oder diskursiven Vollzug zuschreibt) liege im semantischen Aspekt des Logos, nämlich in der »Aussage« über Sachverhalte und der schlußfolgernden Verknüpfung solcher Aussagen. Demgegenüber habe der kommunikative (bzw. virtuell kommunikative) Aspekt des Logos, die pragmatische Dimension der Verständigung mit Anderen über den Sinn von Aussagen und ihres Geltendmachens gegenüber Anderen (und mir selbst), keine erkenntnis- und wahrheitskonstitutive sondern nur instrumentelle Bedeutung. Eine solche instrumentalistische und empiristische Pragmatik setzt die Möglichkeit eines kommunikationsunabhängigen Besitzes bzw. Ge-

Ebd. Thomas von Aquin, De ver. I, III, 2. 331 Vgl. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 326 ff.; ders., »Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie« (1986), in: ders., Paradigmen der Ersten Philosophie. Zur reflexiven – transzendentalpragmatischen – Rekonstruktion der Philosophiegeschichte, Berlin 2011, S. 92–137. 329 330

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brauchs von Sinn und Bedeutung ebenso voraus wie die Möglichkeit einer konsensunabhängigen Wahrheit – und damit den methodischen Solipsismus. So könne man, wie Bocheński pointiert, durchaus »eine sozusagen individuelle Wissenschaft (denken), die von einem einzigen Menschen aufgebaut und nur von ihm gekannt wäre«. 332 Noch jüngste erkenntnistheoretisch orientierte Argumentationstheorien berufen sich einzig und allein auf eine »semantische Wahrheitstheorie«: Sie machen die Gültigkeit von Argumentation von »konsensunabhängigen sekundären Wahrheitskriterien« abhängig und sehen den »Sinn von Wahrheit […] nicht [in der] Übereinstimmung mit anderen Personen, sondern [in der] Orientierung in der Welt.« 333 Die Grundfrage, wie Orientierung in der Welt ohne Intersubjektivität denkbar sein soll, oder wie Intersubjektivität ohne Verständigung zwischen und ohne Übereinstimmung unter Menschen möglich sein soll, wird gar nicht erst gestellt. Diese Erblast der theoria-Tradition läßt sich so veranschaulichen: Abb. 6: Nonpragmatische Erkenntnis- und Sprachauffassung: Logos ohne Kommunikation

Popper:

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discursus schließender Verstand

8 > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >
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Erkenntnis

Voraussetzung: einer kann für sich alleine Sinn haben und Wahrheit finden (transzendentaler bzw. methodischer Solipsismus)

J. M. Bocheński, Die zeitgenössischen Denkmethoden, München 31965, S. 19. Chr. Lumer, Art. »Argumentation/Argumentationstheorie«, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 1, Hamburg 1990, S. 246 ff. 332 333

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Die Hintergrundphilosophie des traditionellen Schemas »diskursiv versus intuitiv«, die den Diskurs nicht auf eine Gemeinschaft von Argumentierenden bezieht, ihn also nicht kommunikativ versteht, sondern als bloßes Resultat des monologischen Schließens, hat die Denkgeschichte, insbesondere das Diskursverständnis, tief geprägt. Dieselbe Wirkungsmacht kommt der von Thomas fortgeschriebenen neuplatonischen Auffassung der Reflexion als einer kommunikationsunabhängigen Intuition bzw. Kontemplation zu. Von Descartes aufgegriffen, beherrschte sie die gesamte Bewußtseins- bzw. Subjektivitätsphilosophie bis hin zu Husserl. Negativ orientiert sie noch heute, selbst bei einem Diskurstheoretiker wie Habermas, die Kritik an Philosophie als transzendentaler Reflexion und deren Begründungsanspruch: Derlei sei Metaphysik und (also) obsolet, unvereinbar mit der Sprachpragmatik. In diesem Sinne kritisiert Habermas Apels Transzendentalpragmatik als intuitionistischen Letztbegründungsversuch, dem er die Fallibilität des diskursiven Denkens und der explizierenden Theorien gegenüberstellt. 334 Doch schließen wir die sprachpragmatische Traditionskritik ab. Selbst dort, wo sich das abendländische Denken aus der Kommunikation versteht, wie z. T. bei Sokrates, zumal bei Isokrates und Cicero, aber auch nach der Scholastik im italienischen und romanischen Sprachhumanismus, gelangt es nicht zur Reflexion auf die kommunikativen Grundbedingungen der Argumentation – als Erhebung und dialogischer Prüfung von Geltungsansprüchen. Offenbar war der Denkrahmen der theoria-Tradition, der dafür keinen Platz läßt, zu dominant. Weil Sprache nur zur nachträglichen Bezeichnung des vorsprachlich Erkannten nötig sei, galt Erkenntnis als im Grunde akommunikativ – sei es als einsamer Vorgang des »discursiven« Verstandes, sei es (auf der Linie Augustinus-Descartes-Idealismus-Husserl) als ebenso einsames und primär intuitives Reflexionsverfahren, dieses eigentliche Geschäft der Vernunft. Die Bezeichnungstheorie der Sprache erscheint dem gewissermaßen geradeausblickenden, unreflektiert von sich absehenden natür334 J. Habermas, »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983 (zit.: Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983)), S. 53 ff., bes. 106 ff.; D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 305 ff.; W. Kuhlmann, »Philosophie und rekonstruktive Wissenschaft. Bemerkungen zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns«, in: ders., Kant und die Transzendentalpragmatik, Würzburg 1992 (zit.: Kant (1992)), S. 188–201.

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lichen Bewußtsein so plausibel, daß man sie als instrumentalistische »Commonsense-Auffassung der Sprache« 335 charakterisieren kann. Es ist eine alltagsweltlich naheliegende, ja scheinbar natürliche Auffassung: Man nimmt das Selbstverständliche, die Sprache als gegebenes Medium, einfach hin, so als schaute man durch die Sprache wie durch Glas hindurch. Aus dieser Auffassung hat die via moderna, der konsequente Nominalismus, wie er von Ockham (1280–1348) vertreten wurde, nur eine radikale sprach- und zeichentheoretische Konsequenz gezogen: Er sieht die »oratio vocalis«, die stimmliche Rede, als Aktualisierung eines willkürlich gesetzten Zeichen- bzw. Namensystems an; und diesem schreibt er – gegenüber den vorsprachlichen »natürlichen Zeichenrelationen« der aus »intentiones animae«, den intuitiven Wahrnehmungen, gebildeten »oratio mentalis« (geistigen Rede) – eine durchaus untergeordnete Rolle zu. 336

I.6.3 Weder Nominalismus noch Logizismus. Wittgensteins Staunen und seine halbherzige Wende zur Sprachpragmatik Die Nominalisten überwinden die Bezeichnungstheorie der Sprache so wenig, daß der späte Wittgenstein einen Grundzug dieser Common sense-Auffassung geradezu als nominalistisch kritisieren konnte. Bereits in Augustins »Bild von der Sprache«, mit dessen Analyse seine »Philosophischen Untersuchungen« einsetzen, findet er »die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht. Von einem Unterschied der Wortarten spricht Augustinus nicht. Wer das Lernen der Sprache so beschreibt, denkt, so möchte ich glauben, zunächst an Hauptwörter, wie Tisch, Stuhl, Brot, und die Namen der Personen, erst in zweiter Linie an die Namen gewisser Tätigkeiten und Eigenschaften, und an die übrigen Wortarten als etwas, was sich finden wird.« 337 Alles andere als ein Philosophiehistoriker, übt Wittgenstein eine befreiende Traditionskritik, die weiter reicht, als er bedenkt. Trifft sie K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 334 ff. Vgl. ders., »Der philosophische Wahrheitsbegriff als Voraussetzung einer inhaltlich orientierten Sprachwissenschaft«, in: ders., Transf. d. Philos., I (1973), S. 106–137, bes. 112 ff. 337 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Oxford 1958 und Frankfurt a. M. 1967 (zit.: PU), § 1. 335 336

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doch nicht allein die klassische Sprachauffassung, sondern auch die zugrundeliegende Erkenntnis- und zumal Vernunftauffassung. Platonisch und erst recht neuplatonisch wurde – die geneigten Leser mögen die Zusammenfassung und Vertiefung nachsehen – die Vernunfterkenntnis analog zum Sehen als geistiges Schauen (miß-)verstanden. Wie das Sehen auf sinnlich Wahrnehmbares und Zeigbares, nämlich auf materielle Dinge geht, so soll sich das geistige Sehen auf Erinnerbares und verbal Bezeichenbares, nämlich auf ideale Wesenheiten richten, die ebenso selbständig existieren wie körperliche Dinge. Diese Analogie zwingt zu drei weitreichenden Annahmen: Erstens verlangt sie ein gegenstands- und bezeichnungstheoretisches Konzept der Wortbedeutungen, demzufolge sich die verba zu den res wie Zeigehandlungen zu körperlichen Dingen verhalten. Aufgrund dieser Annahme kann die ostensive Definition, die das Definiendum mit Hilfe einer Zeigehandlung oder deiktischer Partikel bestimmt, sowohl als Paradigma des Sprachgebrauchs und Spracherwerbs wie auch als Paradigma der Erkenntnis etabliert werden. Dieser Annahme zufolge besteht die Bedeutung eines Wortes letztlich in dem, was es benennt, und die Bedeutung eines Satzes in dem, was er beschreibt. Die Definition des nicht sinnlich Wahrnehmbaren besteht dann in der Zusammenstellung derjenigen verba resp. nomina, welche Wesenseigenschaften des zu definierenden Gegenstandes bezeichnen. Die Erkenntnis ist demzufolge eine Innenschau und eine erinnernde Synthesis der, in der Seele schon ungeordnet und zerstreut repräsentierten, Wesenseigenschaften der gesuchten res. Zweitens ist die ontologische, und zwar onto-semantische, Annahme vorausgesetzt, daß alles Erkennbare von der Art einer res ist, und daher nach dem Muster eines unabhängig existierenden Dinges gedacht werden kann. Daraus ergibt sich die naive erkenntnistheoretische These, daß auch die intelligiblen Wahrheiten realiter sind. Dagegen wird sich die kritische Philosophie Kants wenden. Sie hält aber ihrerseits das apragmatische Schema Innen-Außen, Vernunft-(an-sich-seiende) Wirklichkeit fest und verlegt die intelligiblen Wahrheiten lediglich in den Innenraum des menschlichen Verstandes- und Vernunftvermögens; sie gelten nicht länger als unwandelbare Strukturen der Wirklichkeit, die im göttlichen Geist enthalten sind, sondern als die Formen der menschlichen Anschauung, des menschlichen Verstandes und der menschlichen Vernunft selbst, denen in der an-sich-seienden Wirklichkeit nichts entspricht. Jenes apragmatische dualistische Schema kann 153 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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erst in Frage gestellt und dialektisch aufgehoben werden, wenn man einsieht, daß ihm eine onto-semantische Generalthese zugrundeliegt. Es ist die onto-semantische Annahme, daß jedem Wort und jeder sinnvollen, durch die Zusammensetzung von Wörtern gebildeten Aussage eine bestimmte Wirklichkeit entspricht, und zwar diejenige Wirklichkeit, deren Benennung durch ein Wort resp. deren Beschreibung durch einen Satz eben dasjenige ist, welches das Wort oder der Satz bedeutet. Diese onto-semantische Generalthese, deren Ursprünge sich auf Aristoteles und Theophrast, in gewisser Weise schon auf Platon zurückverfolgen lassen, hat die Philosophie zu der Tendenz verleitet, zu jedem Hauptwort oder Eigennamen und zu jeder sinnvollen Aussage eine korrespondierende Wirklichkeit zu suchen. Kant wird diese metaphysische Suche auf die Innerlichkeit beschränken und nicht mehr nach den Strukturen der Wirklichkeit selbst, sondern nach den subjektiven Strukturierungen der Wirklichkeit fragen. So leitet er die Philosophie auf die Suche nach derjenigen subjektiven Wirklichkeit, welche die objektive Wirklichkeit strukturiere. Die dritte im Augustinischen Ansatz gemachte Grundannahme ist bereits in jener onto-semantischen enthalten. Augustinus hat sie nicht entfaltet sondern läßt sie gänzlich implizit. Es ist die, in gewisser Hinsicht auf Aristoteles zurückverweisende und Thomas antizipierende, Unterstellung einer Korrespondenztheorie der Wahrheit, die dank Tarski und Popper noch die gegenwärtige Wissenschaftstheorie beherrscht. Sie bleibt bei Augustinus im Hintergrund seiner Evidenztheorie der Wahrheit. Gleichwohl ist sie unterstellt als Verhältnisbestimmung von Sprache und Wirklichkeit, der zufolge Sätze wahr oder falsch sind, je nachdem, ob sie mit den wirklich seienden res übereinstimmen oder nicht übereinstimmen. Vor allem die erste Annahme ist es, die mit Wittgenstein (weniger im philosophiehistorischen denn in sprachpragmatischem Sinn) als nominalistischer Fehlschluß zurückgewiesen werden muß. Denn »Nominalisten machen den Fehler, daß sie alle Wörter als Namen deuten, also ihre Verwendung nicht wirklich beschreiben, sondern sozusagen nur eine papierene Anweisung auf so eine Beschreibung geben.« 338 In diesem Sinne ist die der theoria-Tradition geschuldete nonpragmatische Sprach- und Erkenntnisauffassung allerdings nominalistisch. Sowohl

338

A. a. O., § 383.

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diesem tiefsitzenden Commonsense-Nominalismus als auch dem logisch positivistischen Ideal einer kristallreinen logischen Ordnung der Sprache setzt Wittgenstein eine sprachpragmatische Wendung entgegen. Er fordert, »daß wir unsere ganze Betrachtung der Sprache drehen«, und erläutert: »Man könnte sagen: Die Betrachtung muß gedreht werden, aber um unser eigenes Bedürfnis als Angelpunkt.« 339 Worin das Bedürfnis besteht, sagt er nicht. Doch aus dem Kontext darf man annehmen, er meint das Bedürfnis nach einer praxiseröffnenden Intersubjektivität – aufgrund interner Ordnung nachvollziehbar und nicht etwa mechanisch oder behavioristisch erklärbar, sondern reflexiv erschließbar. Metaphorisch und mit einer Spitze gegen den Logizismus einer Idealsprache mit idealer Ordnung gibt er (im voraufgegangenen Paragraphen) zunächst eine vorbereitende Losung aus: »Wir wollen gehen; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden!« 340 Staunend entdeckt er, daß die Sprache ein Sinnzusammenhang von miteinander verwobenen Worten und Handlungsweisen ist, der eine Ordnung in praxi darstellt – einem Spiel vergleichbar. So wie Spiele eine Ordnung haben und sich regelgemäß spielen lassen, wiewohl sie nicht »überall von Regeln begrenzt« sind, sondern eine Vielfalt von nicht voraussehbaren Spielzügen freigeben, sei auch die »Anwendung eines Wortes nicht überall von Regeln begrenzt«, aber intersubjektiv verständlich und erfolge in der Sprachgemeinschaft regelgemäß. Wittgenstein staunt: »Steckt uns da nicht die Analogie der Sprache mit dem Spiel ein Licht auf?« 341 Aus dieser Analogie bildet er seinen sprachphilosophischen Grundbegriff: »Sprachspiel« und erläutert: »Das Wort ›Sprachspiel‹ soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit oder einer Lebensform. Führe die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Augen: Befehlen, und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen – Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) – Berichten eines Hergangs – 339 340 341

A. a. O., § 108. A. a. O., § 107. A. a. O., § 83. Vgl. §§ 66 ff.

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Erstaunen und Erschrecken

Über den Hergang Vermutungen anstellen – Eine Hypothese aufstellen und prüfen – Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme – Eine Geschichte erfinden; und lesen – Theater spielen – Reigen singen – Rätsel raten – Einen Witz machen; erzählen – Ein angewandtes Rechenexempel lösen – Aus einer Sprache in die andere übersetzen – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten. – Es ist interessant, die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen, die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten, mit dem zu vergleichen, was Logiker über den Bau der Sprache gesagt haben. (Und auch der Verfasser der Logisch-Philosophischen Abhandlung).« 342 Selbstkritisch gegenüber dem kristallinen Vorurteil des Logikers und traditionskritisch distanziert von der gegenstandsbezogenen Bedeutungs- und Sprachtheorie, die er am Beispiel Augustins diskutiert, bringt Wittgenstein eine Erklärung der Bedeutung von Worten ins Spiel, die das onto-semantische Schema ›res – verbum‹, wonach der Gegenstand die Bedeutung ist, als viel »zu einfach« verwirft und im wesentlichen eine Gebrauchstheorie der Bedeutung geltend macht. Sie läuft auf die Klärung des Sprachgebrauchs durch den Sprachbenutzer als Repräsentant einer Sprachgemeinschaft hinaus: Wir Sprecher sollen uns die Sprachpraxis in Erinnerung rufen, an der wir regelmäßig teilnehmen, damit wir verstehen, was wir immer schon tun. Das wäre eine, recht elementare, hermeneutische Anamnese: 343 »Frage dich: Bei welcher Gelegenheit, zu welchem Zweck, sagen wir das! Welche Handlungsweisen begleiten dieses Wort? (Denk ans Grüßen!) In welchen Szenen werden sie gebraucht; und wozu?« 344 Die Be-

A. a. O., § 23. Georg Henrik von Wright mag das im Sinn gehabt haben, charakterisierte er die wittgensteinsche Philosophie doch als »analytisch orientierte hermeneutische Philosophie«, so daß er sie als eine Hermeneutik niederen Stockwerks ansehen konnte: Ders., Erklären und Verstehen, Frankfurt a. M. 1974, S. 38 f., 160 u. ö. 344 L. Wittgenstein, PU, § 489. 342 343

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deutungserklärung ist also nicht länger extern gegenstandsbezogen und im okularen Sinn theoretisch, sie besteht nicht länger in der Beschreibung eines schon vorsprachlich durch Schau erkannten Dinges bzw. Sachverhaltes, vielmehr ist sie nunmehr sprachpragmatisch und hermeneutisch: Man erklärt die Bedeutung eines Wortes, eines Satzes usw., indem man den Gebrauch des Wortes, des Satzes u. a. durch Beispiele sich und damit virtuell der Sprachgemeinschaft bewußt macht.« 345 Wittgenstein begründet diesen Ansatz nicht transzendental, sondern führt ihn als empirische Beschreibung ein. Und er nimmt die Position des Betrachters ein, eine theoretische Einstellung. Er dreht die Betrachtung, er ersetzt sie nicht. Aber wodurch sollte er die Betrachtung ersetzen, mögen Sie, geneigte Leserinnen und Leser, spontan fragen. – Nun, ich würde sagen durch die sich erinnernde, sich auf die eigene Sprachpraxis besinnende Teilnehmerperspektive. – Doch nimmt er die nicht ein, wenn er »die Arbeit des Philosophen [als] ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck« bestimmt, und wenn er, wie in dem zitierten § 23 der »Untersuchungen«, dazu auffordert, man solle sich Beispiele für »die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele vor Augen führen«? – Das trifft zu, jedenfalls auf den ersten Blick. Aber wie tief geht diese Besinnung? Ist sie radikal oder bloß die Heuristik im Dienst einer empirischen Pragmatik, welche »nur Beschreibung« der Sprachpraxis sein soll? 346 Vor allem aber: Was erkennt Wittgenstein durch sein Zusammentragen von Erinnerungen an die »Sprachspiele«? – Du hast ja gerade gewürdigt, daß er auf diese Weise (etwa in § 23, und ich füge § 27 hinzu) traditionskritisch erkennt: Der Sprachverwendung liegt nicht die Einfalt einer Wort-Ding-Beziehung, einer onto-semantischen Bezeichnungsrelation zugrunde, wie die von Augustin pointierte klassische Sprachauffassung meint. Vielmehr zeigt die Sprachpraxis eine Mannigfaltigkeit von Sprachhandlungsweisen. – Sicher, aber dieses Insistieren auf einer empirischen Vielfalt von sprachlichen Handlungsschemata 345 Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen (1976), bes. 11. und 12. »Vorlesung über die Erklärung der Charakterisierungsfunktion von Prädikaten«. Im Unterschied zu Tugendhats semantischer Perspektive ist aber Wittgensteins pragmatischer Ansatz beim Sprachspiel im Auge zu behalten: Wittgenstein gibt keine bloße Erklärung der Charakterisierungsfunktion von Prädikaten sondern eine solche des Sinns von Sprachspielen. Darin liegt auch die Fruchtbarkeit seiner Erklärungsregel beschlossen. Diese gilt nämlich für alle möglichen Sprachspiele einschließlich literarischer Gattungen, Textarten etc. 346 L. Wittgenstein, PU, § 109.

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entdeckt bloß die pragmatische Oberflächengrammatik, sie verkennt und verdeckt aber, daß die vielfältigen Sprachhandlungen auf eine einheitliche pragmatische Tiefenstruktur bezogen sind. – Worin sollte die in gewisser Weise einheitsstiftende pragmatische Tiefenstruktur bestehen? Und aus welchem Grunde sollte Wittgenstein sie verdecken? – Er setzt das Verhältnis des Philosophen zur Sprache, damit auch das Zusammentragen von Erinnerungen, lediglich als Beschreibung an; daher kommt er nicht von der theoretischen zu einer strikt reflexiven Einstellung. Nur in dieser legt sich die Frage nahe: ›Nehme ich als Sprecher inmitten der Vielfalt möglicher »Sprachspiele« einen allgemeinen Grundzug jeder Sprache immer schon in Anspruch? Und muß ich dabei eine allgemeine Sprachkompetenz ins Spiel bringen, gleich welche Art von Sprachhandlung ich vollziehe?‹ Das liefe auf eine transzendentale Sprachphilosophie hinaus. Derlei will Wittgenstein aber nicht. – Gewiß. Doch hat er – wir kommen gleich darauf zu sprechen – zumal mit seinem sogenannten Privatsprachenargument, das ein Prinzip der Intersubjektivität begründet, selbst transzendentale Gültigkeit beansprucht. Insofern erscheint es konsequent und angemessen, wenn man sein Postulat einer »Drehung der Betrachtung«, das auf Kants kopernikanische Wende anspielt, als Anspruch auf eine transzendentale Sprachreflexion interpretiert. – Nun hast du aber argumentiert, daß eine Drehung der Betrachtung unzureichend sei, weil dadurch wieder nur eine Art Betrachtung, mithin eine theoretische Einstellung ins Spiel käme, was ja auch bei Kant der Fall ist. – In der Tat. Als Aufhebung im Doppelsinne einer Überwindung und Beerbung der betrachtenden Einstellung bietet sich ein anderer Weg an, nämlich eine transzendentalpragmatische Reflexion, wie jeder sie anstellen kann: die Besinnung auf mich/uns als solche, die wir sprechen/handeln und damit etwas denken und verstehen bzw. erkennen. Eine solche Besinnung kann die (unverzichtbare) Erkenntnishaltung eines Betrachters, die theoretische Einstellung, vermitteln mit der aktuell reflexiven, sokratisch diskursiven Einstellung dessen, der sich z. B. fragen läßt, ob er im Diskurs mit anderen ernsthaft bezweifeln kann, daß er X in Anspruch nehmen und als gültig voraussetzen muß. So lautet eine (erste) Frage dieser direkten Reflexion: ›Kannst du – könnte man – als Argumentationspartner, der jetzt anderen Rede und Antwort stehen will/soll, den Zweifel daran durchhalten, daß eine notwendige interne Verknüpfung des Denkens/Erkennens mit dem Sprachhandeln besteht? So also, daß dein Etwas-Denken auf Sprache, 158 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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mithin auf Teilhabe an einer Kommunikationsgemeinschaft angewiesen ist und du eine nicht begrenzbare Anzahl anderer als prinzipiell gleichberechtigte Teilnehmer anerkennen mußt?‹ Wenn nämlich ein solches Verwobensein a priori nicht besteht, also nicht philosophisch aufgewiesen werden kann – und darauf kommt es an, weil dieses Verwobensein einer empirischen Beschreibung der mannigfaltigen Spracherscheinungen unzugänglich bleibt –, dann wäre die Mühe der Traditionskritik, auch wenn sie sprachpragmatisch zu einer Nominalismuskritik zugeschärft wird, von geringem Wert. Letztlich wäre sie vergebens, ja sie liefe dem eigenen Anspruch zuwider. Warum? Weil dann Sprache und Gemeinschaft wiederum nicht konstitutiv wären, keine Sinnbedingungen für das Etwas-Verstehen-, Denken und Erkennen-Können. Dann aber ließe sich das Verstehen, Denken und Erkennen wie in der Tradition als sprachunabhängig begreifen. Sprachliche Kommunikation erschiene wiederum als nicht erkenntnisnotwendig: ein bloß empirisches Mittel der schauenden Vernunft, welche dem Erschauten nachträglich Sprachzeichen zuordnete – Wörter den Dingen. Mithin wäre auch dem Erkenntnissolipsismus Tür und Tor geöffnet, da die Zugehörigkeit zum Gemeinschaftsmedium Sprache nicht als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens, Denkens und Erkennens gedacht werden könnte. Das aber nimmt Wittgenstein in Anspruch, wenn er ein allgemeines, antisolipsistisches und intersubjektivistisches Prinzip des Regelfolgens einführt. Unversehens nimmt er eine transzendentalpragmatische Sinnkritik in Anspruch, indem er die Annahme, einer könne allein und ein einziges Mal einer Regel folgen, als sinnlos verwirft. Denn einer Regel folgen können, setze a priori eine gemeinschaftliche Praxis voraus, eine Gepflogenheit: »Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein.« 347 Hier argumentiert der empirische Beschreiber des Sprachgebrauchs unversehens transzendental, redet er doch über das Sprechenkönnen einer Sprache. Er bezieht sich auf ein transzendental Allgemeines der Sprache und geht damit hinter die empirisch beschreibbare Sprachvielfalt zurück. Nachdem Peter Winch die Rezeption Wittgensteins, z. B. seines Begriffs der Regel und des damit verwobenen Begriffs der Gepflogenheit, vor dem Mißverständnis bewahrt hat, es könne sich bei einer gemeinschaftlichen Praxis um ein gewohnheitsmäßiges Verhalten ohne Re-

347

A. a. O., PU, § 199.

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flektiertheit der Akteure/Sprecher handeln 348, läßt sich Wittgensteins Argument als transzendental sinnkritische Prinzipienbegründung interpretieren: Sprachhandeln setzt Gemeinschaftsbezug und Reflektiertheit voraus, weil die entgegenstehenden Annahmen, einer allein und nur einmal könne einer Regel folgen und das Regelfolgen könne etwas bloß Mechanisches sein, beide keinen Sinne ergeben. Warum? Auf eine sokratisch transzendentalpragmatische Besinnung vorgreifend 349, läßt sich die Frage verkürzt so beantworten: Die beiden Annahmen bestreiten zwei miteinander verwobene Sinnvoraussetzungen des Etwas-Sagens, -Verstehens und -Denkens, ohne deren Inanspruchnahme auch deine Rede jetzt, mit der du diese Annahmen uns und allen möglichen Anderen gegenüber vertrittst, sinnlos wird und als Diskursbeitrag scheitert. – Inwiefern? – Insofern du mit der solipsistischen Annahme just die Unhintergehbarkeit jenes Gemeinschaftsbezugs bestreitest, den du mit den Ansprüchen auf intersubjektive Verstehbarkeit und Gültigkeit deines Beitrags in Anspruch genommen hast. Und insofern du mit der mechanistischen Annahme eben das bestreitest, was wir bzw. alle, die deine Rede ernstnehmen, dir a priori zutrauen; daß du nämlich mit Willen und Bewußtsein uns gegenüber vorbringst, was du sagst, und nicht etwa wie ein Papagei. Du selbst setzt auf deiner Seite eine Reflektiertheit voraus. – Wieso tue ich das? – Du nimmst, wie es jeder Sprecher notwendigerweise tut, z. B. das Handlungsbewußtsein des Fehlermachenkönnens in Anspruch, welches eine transzendentale Basis des Handelns ist. Fast in diesem Sinne hat Peter Winch die mechanistische Position, Regelfolgen könne ein bloß gewohnheitsmäßiges Verhalten (Oakeshott) sein, zurückgewiesen: Sprecher können ja Fehler machen. Das Sprachhandeln schließt ein Bewußtsein möglicher, zu vermeidender Fehler ein. Daher kann der Begriff sinnvollen Handelns nur in Verflochtenheit mit dem Begriff einer Maxime gedacht werden. 350 Denn Regeln sind Maximen, die wir uns als solche bewußt machen und wollen können. Sie sind keine verhaltensdeterminierenden Gesetze. Wittgensteins als »Privatsprachenargument« berühmt gewordene transzen348 P. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt a. M. 1966 (zit.: Idee (1966)) (engl. Original: The Idea of the Social Science, London 1965), I.8 und 9, vor allem II.4 und 5. 349 Vgl. hier: Abschnitt III.4.4. 350 P. Winch, Idee (1966), II.5, bes. S. 83.

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dentale Erklärung des Regelfolgens verweist also darauf, daß »einer Regel folgen« beides voraussetzt: Gemeinschaft und Reflektiertheit, wenngleich diese bei ihm ganz im Schatten bleibt und erst ans Licht gebracht werden muß. 351 So weit, so gut. Nur begründet Wittgenstein sein antisolipsistisches Diktum über das Regelfolgen nicht als transzendentale Bestimmung, sondern vertritt mit dem Pathos einer Ausschließlichkeit die deskriptive Haltung eines Sprachempirikers 352, der nur Beschreibungen, keine philosophischen Erklärungen der Sprachpraxis zuläßt. Infolgedessen bleibt sein Privatsprachenargument im Rahmen seines Denkens ortlos. Überdies führt seine, auf die Analogie der Spiele und den Zwitterbegriff »Sprachspiel« fixierte, empirische »Beschreibung« der sprachlichen Praxis bzw. Praxen, die als »Gepflogenheiten« eingebettet sind in »Lebensformen«, nicht zu der vollen reflexiven Sprachhandlungskompetenz, die jedem Sprecher abverlangt wird. Der Form nach ist jede sprachliche Äußerung selbstbezüglich. Denn der Sinn des Mitgeteilten, also des propositionalen bzw. ausgesagten Gehalts, erschließt sich nur aus einem zugehörigen performativen Sprechakt, wie »ich behaupte hiermit« oder »ich verspreche hiermit« oder »ich wünsche mir« oder »ich erwarte/befehle« etc. Von dem performativ festgelegten Verwendungssinn des inhaltlich Gesagten hängt es nämlich ab, daß und wie die Angesprochenen (passend) reagieren können. So können sie im ersten Fall Gründe verlangen oder zustimmen, im zweiten Fall dem Sprecher ihr Vertrauen entgegenbringen oder eine Gewähr für seine Wahrhaftigkeit verlangen usw. Vom Performativum hängt es insofern ab, ob es überhaupt zu einer Verständigung kommen und die Kommunikation gelingen kann. Gewiß, die vollständige Sprachreflexivität wird uns kaum oder noch nicht abverlangt von den alltäglichen oder eng institutionalisierten Handlungsschemata, die Wittgenstein »Sprachspiele« nennt. Denn diese entnimmt er einer »primitiven Sprache« 353, etwa der Kurzsprache auf dem Bau, wo ein Zuruf wie »Platte« vollständig ausreicht, damit der Angerufene dem Rufer eine Platte bringt und der reibungslose Fort-

Dazu D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 211–231. Vgl. F. Preußger, Wohin führt die Ethik nach Wittgenstein?, Magisterschrift, Philosophisches Institut der Freien Universität Berlin, 2010. 353 L. Wittgenstein, PU, § 7. 351 352

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gang des Sprachspiels »Ein Haus bauen« gewährleistet ist. 354 Wohl aber wird uns die volle Sprachreflexivität von jeder formal vollständigen, nämlich performativ-propositional gebildeten, sprachlichen Äußerung abverlangt, und erst recht von jedem in einem (längeren) Diskurs zu situierenden Beitrag. Muß man nämlich auf eigene frühere Äußerungen oder auf Äußerungen Dritter Bezug nehmen, kommt man gar nicht umhin, die Reflexivität direkt ins Spiel zu bringen, welche in der Form einer sprachlichen Äußerung angelegt ist. Dann muß ein Sprecher aktiv und ein Hörer nachvollziehend sein ›Ich tue etwas‹ vermitteln mit der Charakterisierung dieses ›Etwas‹. Zunächst, nämlich schon in jeder Äußerung, muß der Sprecher sein performatives »Ich« so mit dem jeweiligen Sinngehalt, dem propositional ausgedrückten »Es« verbinden, daß den anderen Diskursteilnehmern klar ist, ob er z. B. eine Behauptung vorbringen oder eine Frage stellen oder aber ein Versprechen abgeben will usw. Das erreicht der Sprecher schon, indem er der performativ-propositionalen »Doppelstruktur« (Habermas) 355 einer formal vollständigen Äußerung entspricht. Wie? Einfach indem er nicht nur etwas mitteilt, sondern sich zugleich auf seine Mitteilung bezieht, so daß der Angesprochene weiß, was für eine Art von Mitteilung ihn erwartet und wie er passend darauf antworten kann. Dieses dialogisch reflexive Verfahren gehört bereits der ganz normalen Kommunikation an, und die dabei investierte Sprachreflexivität ist fast unmerklich. Deutlich zur Erscheinung kommt sie erst, wenn ein Sprecher ausdrücklich auf andere Äußerungen Bezug nimmt, etwa im Zuge eines Gesprächs, einer längeren Rede oder eines Vortrags. Nun muß er nämlich mit einer doppelt strukturierten Äußerung zu einer anderen (doppelt strukturierten) Äußerung Stellung nehmen. Wohlgemerkt der Form nach, nicht in wörtlicher Ausführung, muß er etwa zu verstehen geben: Ich behaupte (als wahr), daß die von dir (als wahr) behauptete Aussage, sowohl die einzelnen Sprachhandlungen als auch »das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist«, ließen sie sich als »das ›Sprachspiel‹« begreifen 356, nicht zutrifft, A. a. O., §§ 19 f. J. Habermas, »Was heißt Universalpragmatik?«, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984 (zit.: Vorstudien (1984)), S. 353–440, bes. S. 404 ff. 356 L. Wittgenstein, PU, § 7. 354 355

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I.6 Diskurs im dualistischen Rahmen einer christianisierten theoria

also keine wahre Aussage ist. Der Form nach hat er dann nicht bloß der Doppelstruktur einer einfachen Äußerung sondern der »doppelten Doppelstruktur« (Øfsti) eines Diskursbeitrags entsprochen. Eben daran können wir das Wesensmerkmal der gesprochenen Sprache erkennen. Inwiefern das, mögen Sie einwenden; denn wir halten doch nicht immer Vorträge oder setzen uns mit Meinungen anderer auseinander, wenn wir eine Sprache sprechen. – Wohl wahr, doch der Witz besteht nicht darin, daß die doppelte Doppelstruktur wörtlich zur Erscheinung kommt; das wäre eine empirische Annahme. Es geht vielmehr um Reflexivität als Prinzip der Sprache (in ihrer formalen Vollständigkeit) und um die (formal) vollständige kommunikative Kompetenz eines Sprechers. Die transzendentale sprachpragmatische Reflexivitätsthese ist: Das Ganze einer Sprache und der mit ihr verwobenen Tätigkeiten läßt sich ohne diese reflexive Doppelstruktur ebenso wenig begreifen wie die vollständige Sprachhandlungskompetenz eines Sprechers. – Warum? – Einer, der überhaupt etwas sagt und tut, muß dieses Sagen/Tun sich zueignen, muß es distanzieren bzw. kontrollieren, muß sich verständlich darauf beziehen können, indem er mit einer formal vollständigen (daher verständlichen) Äußerung Stellung nimmt zu seiner Sprachhandlung (oder einer nonverbalen, aber in Sprache umsetzbaren Handlung), welche ihrerseits die Form der performativ-propositionalen Doppelstruktur besitzt. 357 Anders formuliert, gleichsam mit einem diskurspragmatisch transformierten Kant: »Ein Ich behaupte als wahre Aussage muß alle meine/unsere (Sprach-)Handlungen begleiten können.« Wenn es um einen anderen Sprachhandlungstyp geht (z. B. um ein Versprechen), dann differenziert sich die bezugnehmende Behauptung z. B. so: »Ich behaupte als wahr, daß meine Äußerung vorhin ein Versprechen darstellt, mit welchem ich mich verpflichte, H zu tun.« Entscheidend ist, daß die Möglichkeit eines Begleitdiskurses allen Sprachhandlungen – als unserer Handlung im Unterschied etwa zu einem Reflex – zugrundeliegt. Im Sinne dieser unhintergehbaren Möglichkeit ist der Begleitdiskurs ein Apriori. Keinesfalls ist er bloß eine Sprachhandlung bzw. ein Sprachspiel unter anderen – aber auch kein »transzendentales Sprachspiel«, wie Apel und z. T. Böhler in Auseinandersetzung mit Wittgenstein leichtsinnig gesagt haben und was 357

Dazu hier: Abschnitt III.1.

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Audun Øfsti zu Recht kritisiert hat. 358 Nein, der implizite Begleitdiskurs (in der sprachpragmatischen Form der doppelten Doppelstruktur) ist der Zugang zu allen möglichen Handlungsweisen. Der virtuelle Begleitdiskurs ist es, der die Handlungswelt eröffnet; und er erschließt sie in dem Maße, wie wir ihn wirklich durchführen. Die Reflexion auf dieses, später zu entfaltende 359, Diskursapriori ist kein Glasperlenspiel. Sie ist moralphilosophisch, geltungstheoretisch und sprachphilosophisch hochbedeutsam. Ersteres, weil sie es ist, die es überhaupt erlaubt, Akteuren Selbstverantwortung für ihre Handlungen zuzuschreiben: Nur weil Akteure Sprecher sind, die ihre Handlungen als die ihren charakterisieren und dadurch einholen können, sind sie auch dafür verantwortlich. Auch das fundamentalphilosophische oder geltungstheoretische Problem, ob so etwas wie Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit im strengen Sinne gedacht werden kann, oder ob wir einen Relativismus der mannigfaltigen Sprachhandlungen bzw. Sprachspiele, die in gleicher Geltung nebeneinanderstünden, annehmen müssen, – auch dieses Grundproblem wird durch den Aufweis des Diskursapriori gelöst. Dann gibt es nämlich keinen Relativismus der mannigfaltigen Sprachspiele, demzufolge man von einem zum anderen Sprachspiel springen müßte, so daß man bloß noch sagen könnte: So handeln wir (hier) eben, und damit basta! Das ist halt die (hier) gängige Gepflogenheit. »Dieses Sprachspiel wird gespielt.« 360 Mit dieser relativistischen Auskunft, die eigentlich jede Begründung des Geltungsbegriffs wie auch des Moralbegriffs erledigt, speist Wittgenstein den Fragenden in der Tat ab. Und er muß es tun, weil er weder einen Sprachbegriff entwickelt, der über das empirische Vielerlei der »Sprachspiele« – niemand bestreitet ein solches – hinauskommt und zum Ganzen der Sprache vordringt, noch eine genuin philosophische Einstellung erarbeitet, nämlich eine transzendental reflektierende, welche dem Sprecher/Denker das Allgemeine aufdeckt, das er bei allen Sprachhandlungen notwendig in Anspruch nimmt und ins Spiel bringt. Diese transzendentale Einheit in der empirischen Vielfalt von Sprachspielen, besser: Sprachhandlungstypen, ist die Zugangs-, Kontroll- und Inszenierungsmöglichkeit der Sprachhandlungen durch den Sprecher. Diese 358 A. Øfsti, »Das Sprachspielidiom und die Einheit der Vernunft. Bemerkungen zu K.O. Apels Wittgensteinkritik«, in: ders., Abwandlungen (1994). 359 Hier: Abschnitte III.1 und III.4; Definition: S. 283. 360 L. Wittgenstein, PU, § 654, vgl. § 217.

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Möglichkeit erwächst aus dem in der Sprache angelegten Begleitdiskurs über die Sprachhandlung. Fassen wir zusammen: Sowohl auf seiten des Sprechers als auch in der Sprache selbst findet sich der transzendentalpragmatische Einheitspunkt der Reflexivität. Auf seiten des Sprechers gehört sie zur vollständigen Sprachkompetenz, die eben darin besteht, nicht nur etwas zu sagen, sondern zugleich zu dem Gesagten Stellung beziehen und so in den Diskurs eintreten zu können. Und was die Sprache selbst anbelangt, so ergibt sich aus dem Apriori des (sowohl an die performativ-propositionale Struktur wie an die Personalpronomina gekoppelten) Begleitdiskurses das Abgrenzungskriterium für eine vollständige Sprache. Eine Sprache ist nämlich erst dann vollständig, und wir können etwas nur dann »eine Sprache« nennen, wenn in dieses Etwas ebenso die Reflexivität der doppelten Doppelstruktur eingebaut ist wie die Möglichkeit der sich abwandelnden Bezugnahme auf mich, dich und es – also des Einsatzes der Personalpronomina. Aus diesen Gründen ist gegenüber Wittgensteins relativistischem Sprachbegriff festzuhalten, daß das bloße Spielen eines Sprachspiels, also der Vollzug eines etablierten Handlungsschemas, noch keine Sprachhandlung macht. Zu einer Sprachhandlung gehört die Möglichkeit eines Zugleich von Handlung und Begleitdiskurs über die Handlung/Aktion, und zwar nach einem tief in der Sprache verankerten Schema wie ›Ich behaupte dir/euch gegenüber, daß deine/seine Behauptung, X sei p, (nicht) zutrifft, weil …‹. In diesem Sinne hat Audun Øfsti eine differenzierte Auseinandersetzung mit Wittgensteins Sprachspielanalyse, dieser halbierten Sprachpragmatik, vorgelegt, auf die eigens verwiesen sei. 361 Nun, da wir nicht nur die Traditionskritik des ersten Paradigmas in der Perspektive des dritten durchgeführt, sondern eine erste Kritik der analytisch sprachpragmatischen Version des dritten Paradigmas aus der Sicht seiner transzendentalpragmatischen Fassung gegeben haben 362, was nicht ohne Hinweis auf den transzendentalphilosophischen Höhepunkt des zweiten Paradigmas abging –, nun bietet sich ein Blick auf die drei Paradigmen an, um deren Charakteristika vor Augen zu führen: Es sind die drei bzw. vier signifikanten Wenden des Philosophierens, denen A. Øfsti, Abwandlungen (1994), bes. S. 66 ff., 178 ff., 261 ff., 269 ff. Eine weitere Kritik wird sich in dem Begründungskapitel III.4 ergeben – mit Blick auf die formale Semantik des Sprachanalytikers Tugendhat: III.4.1. 361 362

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Erstaunen und Erschrecken

jeweils ein besonderer Anlaß zum Staunen und eine eigentümliche Art des Erstaunens entspricht. Einen Überblick gibt die Tabelle auf der folgenden Seite. Abb. 7: Staunen seit Platon oder: Vier Wendungen des Philosophierens Wendung

Rahmen

II

Kants ›kopernikanische‹ Wende von der theoria/spekulativen Schau der Dinge an sich zur »transzendentalen« Rekonstruktion der Erfahrungs- bzw. Erkenntnisbedingungen des Ver-nunftsubjekts 363

8 > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >
> > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > :

I

363 364

Paradigmatische Einstellung

Staunen beim Betrachten des Seins als ewiger Wohlordnung des Kosmos

ontologisch-kosmotheologisch in theoretischer Einstellung

Staunen beim Be- bewußtseinstrachten des Ver- oder subjektnunftsubjekts als philosophisch Quelle objektiver Wendungen Erfahrung und der moralischer VerBetrachtung bindlichkeit

III a Analytisch-sprachpragmatische »Drehung der Betrachtung um unser eigenes Bedürfnis [nach Intersubjektivität] als Angelpunkt« (Wittgenstein), schließlich zur Rekonstruktion primitiver Sprachpraxis i. S. von Sprachspielen III b Reflexiv-sprachpragmatische bzw. diskursreflexive Wende: Von der Analyse und Rekonstruktion des »kommunikativen Handelns« (Habermas) zur Reflexion des Sprechenden auf mich/dich als denjenigen, der gerade etwas versteht bzw. tut und es (meist unausdrücklich) als etwas geltend macht. 364

Staunen

Wende von der Betrachtung und Rekonstruktion zur aktuellen Reflexion

Staunen beim »sprachspiel«Betrachten der analytisch und Verwobenheit von sinnkritisch Sprache und Praxis als Bedingung der Möglichkeit von Intersubjektivität Staunen bei der aktuellen Reflexion auf die Verbindlichkeiten ›meiner‹ AprioriRolle als Dialogpartner

kommunikationsphilosophisch: dialogreflexiv oder sokratisch sinnkritisch

Vgl. Abschnitt II.5 und 5.1. Vgl. Abschnitt III.2 und III.6.

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I.7 Diskurswillige Wanderschaft? Biblisches Dialog- und Moralerbe

I.7

Diskurswillige Wanderschaft? Biblisches Dialog- und Moralerbe

Es ist frappant, wird aber von den Philosophen so gut wie nicht bedacht, daß es zu dem Paradigma der Kommunikation bzw. des Dialogs, in welches die Entwicklung der Philosophie zu münden scheint, schon in der Achsenzeit zwei entscheidende Anstöße gegeben hat: nicht allein den Sokratischen, der aber von der griechischen theoria-Tradition und Kosmosmetaphysik abgefangen wurde, sondern den hebräisch biblischen des Sinaibundes zwischen Israel und einem Gott, mit dem das Volk Israel kommuniziert, so sehr, daß die biblische Religiosität geradezu auf der Kommunikation mit Gott als (verstehbarem) Bundespartner und als Inbegriff (einsehbarer) Gerechtigkeit beruht. Denn die hebräisch biblische Bundestheologie, insbesondere ihr Konzept des zwischen Gott und Israel auf dem Sinai geschlossenen Bundes (hebräisch b’rit), entwickelt eine moralische Vertrags- und Prinzipienorientierung, die das Urteilsniveau des Sozialvertrags überbietet. Denn hier macht sich eine ethisch universalistische Tendenz geltend, welche sich bereits der Idee der Menschenwürde annähert; und der Bezugsrahmen ist eine Kommunikation mit Gott, die schon eine gewisse Tendenz zum argumentativen Dialog aufweist. Beides finden wir sowohl in den biblischen Überlieferungen vom Sinaibund zwischen dem einen Gott und Israel (2. Mose 20, 1–21, 5. Mose 5, 6–21 und 3. Mose 19–26) als auch in den nicht primär auf Israel sondern direkt auf die Menschheit bezogenen Überlieferungen von Gottes Bund mit Noah (1. Mose 8, 20 – 9, 17) samt deren späterer rechtsethischer Entfaltung im Talmud. 365 Erstens wird der Verpflichtungsgehalt des Sinaibundes durch das Gebot der Nächstenliebe und Fremdlingsliebe ins Universale geweitet. 366 Nicht eine Nutzenerwartung bzw. eine utilitaristische Binnenmoral bestimmt in der Bundestheologie das, was gilt, sondern eine intrinsisch moralische Orientierung mit universalistischer Perspektive. Hermann Cohen hat das mit kantischem Blick überzeugend herausgearbeitet. 367 In der Tat ist die Verehrung eines einzigen Gottes, der als moralisches Gegenüber jedes Menschen gilt, entwicklungslogisch ge365 366 367

Dazu: H. Cohen, Religion der Vernunft (1978), Kap. VIII. So in dem priesterschriftlichen Buch Leviticus: 3. Buch Mose, 19, 18 und 19, 33. H. Cohen, Religion der Vernunft (1978), bes. S. 144–155.

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Erstaunen und Erschrecken

sehen, die motivationale Basis einer universalistischen Ethik: »Der Monotheismus begründet sich […] in der einheitlichen Auffassung des Unterschieds von gut und schlecht, und damit in der einheitlichen Stellung Gottes zum Menschen, wie des Menschen zu Gott. Die Korrelation zwischen Gott und Mensch präzisiert sich als die zwischen Religion und Sittlichkeit. Im Polytheismus fehlt jede Norm zur Korrektur der Religion durch die Sittlichkeit. Wenn Hippolytos keusch bleibt gegen die Phädra, so hat er den Gottesdienst gegen die Aphrodite verletzt. Jede Gottheit hat das Eigenrecht ihrer Sittlichkeit. Der Monotheismus schafft mit der einen Gottheit auch die eine Sittlichkeit. Der einzige Gott macht daher auch den Begriff des Menschen einheitlich, und jede Durchbrechung dieser Einheit des Menschen wird zu einer Verletzung der Sittlichkeit.« 368 Der jüdisch biblische Glaube an einen Gott allein konnte erstmals zur Anerkennung aller Menschen verpflichten 369, weil er sie allesamt – eine Revolution in der Religions-, Ethik- und Geistesgeschichte – unterschiedslos als Kinder Gottes, ja als Ebenbilder des Schöpfergottes würdigt. Die Korrelation zwischen Gott und Mensch wird in der hebräisch biblischen Überlieferung immer wieder aufgegriffen und in Form verschiedener ›Bundesverhältnisse‹ durchdekliniert: vom Schöpfungsbund über den Noahbund und Abraham-Bund zum Sinaibund, dessen Urkunde die Zehn Gebote sind, um die herum sich die Tora rankt, das mosaische Recht. Dieses ist zwar nur Israel gegeben, stellt ihm aber universalistische Forderungen wie die der Fremdlingsliebe (3. Mose 24, 22; 4. Mose 15 f., 5. Mose 1, 16 und 24, 17 bzw. 25, 35 ff.): Allen Menschen, auch den jeweiligen »Fremdlingen« bzw. Ausländern, soll dieselbe »Nächstenliebe« entgegengebracht werden. Zweitens: Es ist die einsehbare moralische Orientierung, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des Bundes mit dem einen Gott motiviert, gibt er doch gerechte, folglich jeden Gerechten und Weisen erfreuende, Weisungen. So lesen wir es in 1. Mose 1, 27 und 9, 5 f.; 5. Mose 10, 12–21 und 32, 1–4; Josua 24; Micha 6, 8; in Psalm 119 etc. Jedenfalls in den jüngeren, den nachexilischen Überlieferungen der Sinai-Bundestheologie, im Deuteronomium (5. Buch Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, wird das Moment der Einsicht und freien Anerkennung des Bundes durch Israel betont. Wiewohl die theonome Mo368 369

A. a. O., S. 151. A. a. O., S. 138 ff., 173 f., 276–284, 291–297, 468–474.

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I.7 Diskurswillige Wanderschaft? Biblisches Dialog- und Moralerbe

tivation, das Vertrauen auf und die Ergebenheit in die Gerechtigkeit und die gute Macht Gottes, weiterhin den Ton angibt 370, wird zugleich eine autonome Motivation freigesetzt. Das zeigt sich daran, daß der Bund mit Gott nicht länger als Unterwerfungsvertrag wie noch in 2. Mose 20, sondern als freie Übereinkunft verstanden wird und das Gottesverhältnis nunmehr als Dialog mit einem absolut verläßlichen, absolut gerechten Partner. Gottes Glaubwürdigkeit ist seine erkennbare Gerechtigkeit. Das Verhältnis zu ihm soll weder eines der Unterwürfigkeit noch eines der Tauschgegenseitigkeit i. S. eines »do ut des« sein. Das eine wie das andere spielt jedoch im Opferkultus und in der priesterlichen Sühnetheologie eine Rolle. Eben dagegen opponieren die Propheten energisch. So wird die aufrechnende Tauschgerechtigkeit in dem, vermutlich um 400 v. Chr. hinzugefügten, Textstück Micha 6, 1–8 geradezu ad absurdum geführt. 371 Ich gebe hier die, formgeschichtlich gegliederte, Übersetzung Helmut Utzschneiders wieder 372, deren fünftletztes Wort in Vers 8 (»achtsam«) ich freilich durch »einsichtig« ersetzt habe, da es sich im hebräischen Wortlaut vermutlich um einen Ausdruck der Weisheitssprache handelt. 373 Der dramatisch inszenierte Text – das von dem Opferkultus belastete Volk führt einen Rechtstreit mit Gott, der sich zunächst durch Erinnerung an seine geschichtlichen Heilstaten (6, 3–5) verteidigt und dann die Hauptsache seiner Botschaft, die Quintessenz der biblisch jüdischen Ethik, zu Bewußtsein bringt – lautet demgemäß so: 6, 1 Erster Auftritt: Der Prophet ruft zum Rechtsstreit Micha: (an die Leser bzw. das Publikum) 1 Hört doch, was YHWH sagt! (an YHWH) Auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, daß die Hügel deine Stimme hören! (an die Berge) Vgl. Matthäus 22, 36–40 bzw. Markus 12, 28–31. Analoge Stellen sind: 5. Mose 10, 12; 1. Samuel 15, 22; Hosea 12, 7 und 10, 12 sowie Amos 5, 24. 372 H. Utzschneider, Micha, Zürich 2005 (= Zürcher Bibelkommentare AT 24.1), S. 129 ff. 373 Vgl. H.-J. Stoebe, »Und demütig sein vor deinem Gott«, in: Wort und Dienst. Jahrbuch der Theologischen Schule Bethel, Jg. 6, 1959, S. 180 ff. 370 371

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Erstaunen und Erschrecken

2 Hört, ihr Berge, den Rechtstreit YHWHs, und [merkt auf] ihr Grundfesten der Erde! Ja, YHWH hat einen Rechtstreit mit seinem Volk, und mit Israel wird er sich auseinandersetzen! 6, 3–5 Zweiter Auftritt: Gottes Streit- und Rechtfertigungsrede YHWE: 3 Mein Volk, was habe ich dir angetan und womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir! 4 Ja, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt und aus dem Hause der Sklaverei habe ich dich erlöst; und ich habe dann Mose, Aaron und Mirjam vor dir her gesandt. 5 Mein Volk, erinnere dich doch: Was hat Balak, der König von Moab, beratschlagt und was hat ihm Bileam, der Sohn des Beor, geantwortet? [Erinnere dich] von Schittim bis Gilgal, damit Wissen sei um die Heilstaten YHWHs! 6, 6 f. Dritter Auftritt: Der Vorwurf des Volkes Ein Repräsentant des Volkes: 6 Womit soll ich YHWH entgegentreten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich ihm mit Brandopfern entgegentreten, mit einjährigen Kälbern? 7 Wird YHWH an Tausenden von Widdern Gefallen haben, an Zehntausenden Bächen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen geben für meine Verfehlung, die Frucht meines Leibes für mein Sündenleben? 6, 8 Vierter Auftritt: Bescheid für das Volk Micha: 8 Es ist dir verkündet, o Mensch, was gut ist und was YHWH von dir fordert: [nichts als] Recht üben, und Güte lieben und einsichtig wandeln mit deinem Gott.

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I.7 Diskurswillige Wanderschaft? Biblisches Dialog- und Moralerbe

In der letzten Strophe, bekannt als Fragment eines »prophetischen Katechismus«, der noch bei Jesus und bei Hillel, dem liberalen Schulhaupt des Liebespharisäismus, von dem auch Jesus beeinflußt ist, eine große Rolle spielt 374, wird den Gläubigen eine gewisse Urteilsautonomie zugemutet. Hier verlangt die prophetische Tradition den Israeliten nämlich so etwas wie ein autonomes Prinzipienurteil (zumal bei Unsicherheit und in Normenkonflikten) ab. 375 Diese Tendenz zu einer prinzipienethischen Urteilsautonomie tritt noch schärfer hervor, wenn Hillel und Jesus die Gesetzgebung der Tora und die Forderungen der Propheten zusammenfassen in der Goldenen Regel. 376 So überliefern Matthäus und Lukas dieses Jesuswort: »Alles nun, was ihr wollt, daß es euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn darin besteht das Gesetz und die Propheten« (Mt 7, 12). Dabei kritisiert zumal Lukas die Goldene Regel insofern, als er dem bloßen Prinzip der Gegenseitigkeit als Verhaltensschema, woran sich auch die Sünder orientieren (Lk 6,32), das Vorleistungsgebot der Feindesliebe gegenüberstellt (Lk 6,27–31; vgl. Mt 5,43–48). Dadurch wird die Goldene Regel »im Evangelium […] eine indirekte Mitteilung des Gebotes der Liebe.« 377 Unabhängig von dieser liebesethischen Wendung wurde die Goldene Regel als negative Formel im Judentum schon vor Jesus als die Summe des Gesetzes betrachtet, das Moses auf dem Sinai von Gott empfangen hatte. So wird Hillel – zwischen 30 v. Chr. und 15 n. Chr. hatte er das höchste geistliche und zugleich administrative Amt in Jerusalem inne – die Formel zugeschrieben: ›Was dir unlieb ist, tue dem Nächsten nicht; das ist das ganze Gesetz, das übrige ist nur Ausführung.‹ Daß die Goldene Regel, wie David Flusser herausarbeitet, als Zusammenfassung des mosaischen Gesetzes gelten konnte, »wird verständlich, wenn wir bedenken, daß man das Bibelwort ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ (3. Mose 19, 18) sowohl bei Jesus als auch sonst im Judentum für eine große Hauptregel im Gesetze gehalten hat. In einer alten aramäischen Übersetzung lautet das Bibelwort so: ›Liebe deinen Nächsten, denn was dir unlieb ist, tue ihm nicht!‹ In dieser paraphrasierenden Übersetzung ist die Wendung ›wie dich selbst‹ durch die negativ stiliMatthäus 23, 23 und Lukas 11, 42. Vgl. die Belege bei D. Flusser, Jesus (2002), S. 68 ff., bes. S. 73–78. 376 Lukas 6, 31; vgl. Römerbrief 13, 8–20. 377 H.-R. Reuter, »Liebet eure Feinde!« Zur Aufgabe einer politischen Ethik im Licht der Bergpredigt, in: ZEE 26 (1982), S. 159–187, hier 165. Vgl. W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, Gütersloh 2006, bes. S. 252–255. 374 375

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Erstaunen und Erschrecken

sierte ›Goldene Regel‹ ersetzt; man hat also die Worte ›liebe deinen Nächsten‹ als ein positives Gebot verstanden und die Worte ›wie dich selbst‹ als ein dazu gehörendes, negatives Gebot: du sollst deinen Nächsten nicht mit Haß behandeln, weil du auch nicht willst, daß er gegen dich selbst so handelt.« 378 Eine gewisse Tendenz zur Aufhebung der konkreten Gebots- bzw. Vorschriften-Ethik in eine ansatzweise autonome Prinzipienethik ist also vor Jesus, insbesondere im Liebespharisäismus der Schule Hillels, ebenso wie bei Jesus selbst mit Händen zu greifen. In logischer Zuspitzung würde eine solche Aufhebung bedeuten: Unabhängig davon, wie die Gebote zustande gekommen sein mögen resp. von welcher Autorität sie stammen mögen, sie sind einsehbar gerecht und kraft ihrer Einsehbarkeit verbindlich. Daher kann man sich kraft autonomer Erkenntnis ihrer Geltungsgründe, mithin wie ein freier Diskurspartner, mit den Geboten Gottes identifizieren, als habe man sie selbst gegeben. Somit besteht hier eine Annäherung an die Kantische Autonomie. Hermann Cohen hat sie zum Angelpunkt seiner Rekonstruktion einer »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« gemacht. 379 Die hebräisch biblische Annäherung an dialogische Autonomie wird von der christlichen Metaphysik freilich mehr oder weniger preisgegeben. Zeigt sich hier doch die starke Tendenz, das Gott-MenschVerhältnis weniger im Sinne einer Korrelation oder gar der Reziprozität eines Bundes zu bestimmen, als vielmehr gemäß einer einsinnigen Teleologie, welche den Menschen unabhängig von seinem Willen in den Heilsplan Gottes einfügt. Damit verbindet sich eine intellektualistische, neuplatonisch subjektbezogene Perspektive, die den Menschen in einen Dualismus von Seele contra Körper zwängt, dort seine gottoffene Innerlichkeit ansiedelt, hier aber seine sündenträchtige Äußerlichkeit. Dieser Dualismus ist hoch ambivalent. Einerseits setzt er eine, ganz und gar unbiblische, tragische Leibfeindschaft frei, andererseits ermöglicht er die Entdeckung der Innerlichkeit des Menschen und seines Subjektcharakters, mithin einer Sphäre, die vom Begriff der Autonomie vorausgesetzt ist, in der hebräisch biblischen Tradition aber kaum eine Rolle spielt. Wir haben das an Augustinus, dem Klassiker dieses Dualismus, erörtert. D. Flusser, Jesus (2002), S. 73. H. Cohen, Religion der Vernunft (1978), bes. S. 218 f., 377, 395, 401 f., vgl. S. 235 f., 276 f., 308. 378 379

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II Kritik der Moderne: Vernunft in den Grenzen des Subjekt-Paradigmas

Im ermländischen Dom zu Frauenberg, am Frischen Haff (Ostpreußen, heute Polen) gelegen, bekleidete Nikolaus Kopernikus von 1495 bis zu seinem Tode 1543 die wohlgesicherte, mit wenig Verwaltungspflichten verbundene Stellung eines der sechzehn Domherren. So konnte er viel Zeit für astronomische Beobachtungen, Berechnungen und Theoriebildung nutzen. Klugerweise erst im Jahr seines Todes, ließ er sein Werk »De Revolutionibus Orbium Coelestium« (Über die Kreisbewegungen der Himmelskörper) erscheinen, in dem er ein System von Sphären annahm, in deren Mittelpunkt nicht mehr die Erde, sondern die Sonne stand. Er behauptete, daß sich die Erde drehe, und zwar um die Sonne. Denn mit dieser Hypothese, so begründete er durch einen Schluß auf die beste Erklärung, ließen sich die astronomischen Beobachtungen der Bewegungen der Himmelskörper weitaus genauer erklären. Wiewohl er seine Annahme vorsichtig als »Hypothese« vortrug und nur methodologisch als Schluß auf die beste Erklärung rechtfertigte, verursachte sie schließlich, worauf sein Sinn gar nicht gerichtet war, einen Sturz des Weltbildes. Infolgedessen konnte man später den harmlosen Ausdruck »revolutio« (Umlauf, Umdrehung, Kreisbewegung) im Sinne von »Umsturz, Umbruch, Umwälzung« verstehen – eben als »Revolution« im modernen Sinne. 1 Auf Kopernikus bezieht sich die erkenntnisphilosophische Pointe des zweiten Paradigmas, die Umwendung der Betrachtung von der Schau auf das Sein zur transzendentalen Rückbesinnung auf die Bedingungen der Möglichkeit der (Erfahrungs-)Erkenntnis. Die berühmte Passage in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Ver-

Vgl. K.-G. Faber u. a. (Hg.), Funkkolleg Geschichte, SBB 8, Weinheim/Basel 1980, S. 24 ff. und R. Koselleck u. a., Art. »Revolution (Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg)«, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 653–788.

1

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Kritik der Moderne

nunft« beruft sich auf »den ersten Gedanken des Kopernikus […], der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ.« 2 Der kopernikanische Umsturz des Weltbildes dient als Legitimationshintergrund der Wende zur Subjektphilosophie, zu ihrer veränderten Methode der Denkungsart, »daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« 3. Kopernikus, verstanden als Umstürzer des geozentrischen Weltbildes, inspirierte überhaupt die Neuzeit und Moderne zu einer Subjektwendung, sowohl in methodologischer als in anthropologischer Hinsicht. Nicht länger durch den staunenden Hinblick auf den Kosmos, in dessen Mittelpunkt die Erde ruhe, nein, durch selbstbewußten Rückblick auf das erkennende und tätige Subjekt soll die Welterkenntnis und – nunmehr zugleich mit ihr – auch die Weltbemeisterung auf ein unerschütterliches Fundament gegründet werden.

II.1

Hintergrund der Neuzeit. Vom kopernikanischen Choc zum selbstbewußten Subjekt und zur mathematisierten Technologie

Das antik-christliche Weltbild hatte die Erde als Zentrum und den Menschen als Krone der Schöpfung gesehen; als stünde der Mensch wohlbehütet in der Mitte, mit beiden Beinen auf der Erde, und als sei diese das ruhende Zentrum eines Kosmos, wie ihn Platon im »Timaios« ausgemalt hatte – als die vollendete Harmonie eines in sich kreisenden Systems. Das Mittelalter hatte aus der antiken Astronomie die Ansicht übernommen, die Erde sei eine Kugel in der Mitte des Universums, um die die Wandelsterne kreisten. Den Abschluß des Universums bilde »die gewaltige Kristallschale des Himmelsgewölbes, die Fixsternkugel, die sich in majestätischer Ruhe um sich selber dreht. […] Die Schöpfungsgeschichte ergänzt dieses Bild durch die Vorstellung eines himmlischen Ozeans oberhalb des Himmelsgewölbes. […] Oberhalb des himm-

2 3

I. Kant, KrV, B XVI. A. a. O., B XVIII.

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II.1 Hintergrund der Neuzeit

lischen Ozeans wäre dann der dritte Himmel als der eigentliche Wohnort Gottes zu suchen.« 4 Das alte Weltbild hatte den Menschen, kosmotheologisch und schöpfungstheologisch behütet, in ein göttliches Sphärensystem und eine christlich verbrämte Ordnungswelt eingebettet. Und diese ordoWelt besaß das feste Ständegefüge von Bauern, Handwerkern, Rittern, Fürsten, Kaiser und darüber bzw. daneben der Papst. Nun aber »rollt der Mensch aus dem Zentrum ins X«, wie der selbsternannte Prophet des Nihilismus, Friedrich Nietzsche, dreieinhalb Jahrhunderte später diagnostizierte. 5 Daher mußte der neuzeitliche Mensch, Forscher und Techniker zugleich, eine neue Orientierung suchen. Das tat er auf zweierlei Weise: – indem er sich auf sich selbst als denkendes Ich stellte und sich seiner existierenden Subjektivität vergewisserte; so findet Descartes das »unerschütterliche Fundament« der Erkenntnis im zweifelnden Rückgang auf sich als kognitives Subjekt: »cogito ergo sum« – ich denke, also bin ich, oder: indem ich denke, existiere ich; – indem er die Natur, richtiger: die Naturwissenschaft und die damit intern verbundene Technologie, mathematisierte und mechanisierte, so daß er sich als Messender und Berechnender selbst als Bezugspunkt setzte und von diesem Pol aus den unendlichen Raum durch Experimente, durch methodischen Einsatz von Meßinstrumenten und Orientierungsinstrumenten (Kompaß, Fernrohr) erst theoretisch, dann auch technisch zu beherrschen begann. Durch diese Subjektorientierung und Weltbeherrschung erwies sich die moderne, von Kopernikus und Kepler angestoßene, von Galilei begründete Naturwissenschaft zumal dank ihrer Technik als ungeheuer »praktisch«. Hier ist auch der Ursprung der modernen umgangssprachlichen Kategorienverwechslung von »technisch« mit »praktisch«, von naturbeherrschend und prozeßobjektivierend bzw. Prozesse kontrollierend mit gemeinsam handelnd und sich kommunikativ zueinander verhaltend. Als Nutznießer und Bediener von Techniken nennen wir zahllose technische Apparaturen und deren Funktion »praktisch«: vom Bedienen des Lichtschalters über den allseits bequemen Bürosessel und das

G. Howe, Der Mensch und die Physik, Wuppertal 1955, S. 20. F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. XIII/1, Berlin 1974, S. 125.

4 5

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Kritik der Moderne

multifunktionale Mobiltelefon bis zur ausgeklügelten Computertechnik, insbesondere als Schlüssel zum World Wide Web. Aristoteles hatte hingegen praxis unterschieden von poiesis, welche von den Regeln einer Kunstlehre, einer techne, angeleitet wird. Der Arzt, der Architekt oder Bildhauer braucht das Regelwissen seiner Kunst, seiner Technik, um z. B. richtig mit Material umzugehen und ein bestimmtes Produkt herzustellen. Für die Praxis komme es aber auf Klugheit und Besonnenheit an, bedürfe sie doch der Achtsamkeit auf sich ändernde Situationen und schwankende Gegebenheiten von Lebenswelt und Staat. 6 In der Neuzeit jedoch wird das Technische absolut zum Vorbild der Praxis. René Descartes erblickt dann, wie seither zahlreiche Denker bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts, in der neuen mathematisierten Physik sogar die Verheißung einer »praktischen Philosophie«. Die Physik werde uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehren, »wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen können (maîtres et possesseurs de la nature).« 7 Descartes und der dreißig Jahre ältere englische Lordkanzler Francis Bacon (1561–1626) bestimmen die Hauptaufgabe der Wissenschaft als Naturbeherrschung durch Technik. Vor allem Bacon sieht die Naturwissenschaft als die Basis einer rationalen Gestaltung der Gesellschaft an – ja ihrer sozialtechnischen Beherrschung. Die Vernunft (ratio, raison, reason) soll in technischem Sinn »praktisch« werden: als Wissen zur Beherrschung der Natur, einschließlich der menschlichen Natur. Die Ratio gilt als Instrument der menschlichen Selbstbehauptung gegen die Natur und Herrschaft über die Natur. Zuerst Machiavelli, dann Bacon und schließlich dessen zeitweiliger Sekretär Thomas Hobbes denken auch die Praxis, das soziale und politische Handeln der Menschen untereinander, nach dem Modell der Technik: als durch Wenn-dann-Regeln beherrschbar. Die von AristoteAristoteles, N.E., VI 4 f. R. Descartes, Discours de la Méthode. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (zit.: Discours)), übersetzt u. hg. von L. Gäbe, Hamburg 1960, S. 101. 6 7

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II.1 Hintergrund der Neuzeit

les eingeführte, wenngleich schon von ihm nicht durchgehaltene, Unterscheidung von praktischem Handeln und technisch angeleiteter Herstellung wird zurückgenommen – total und ungleich folgenschwerer als bei Aristoteles. Denn die techne, von der er ausging, war die Kunst des Handwerkers, des Architekten, des Arztes usw. In der Neuzeit aber wird diese Kunst zur Technik des Ingenieurs, die alsbald in der neuen Produktionsstätte der Manufaktur (etwa 1500–1780), schließlich in der maschinellen Großindustrie (etwa seit 1780) zur entscheidenden Produktivkraft wurde. 8 Nunmehr, in der industriellen Moderne, herrscht die Technik bzw. Technologie als Anwendung der Physik und als Umsetzung ihres Erkenntnisinteresses an kontrollierter Verfügung über objektivierbare Prozesse, wobei diese Naturbeherrschung seit Galilei ganz und gar auf Mathematik und Mechanik beruhte. Das mechanistische Verständnis von Naturwissenschaft wurde seit Bacon peu à peu auf die Verfügbarmachung der sozialen Welt, der Gesellschaft und der Produktion übertragen. Letztere konnte seit der industriellen Revolution als Zentrum oder »Basis« (Marx) der sozialen Welt verstanden werden. Zum Herzstück der Produktion wurde im doppelten Sinne die Technologie: einmal als Anwendung der Naturwissenschaft, welche schon in deren experimentell prognostischer Perspektive vorgebildet ist, sodann als Sozialtechnologie, die die Mechanik auf menschliche Handlungsweisen zu übertragen versucht, zunächst auf die Tätigkeiten des modernen Fabrikarbeiters. Es entwickeln sich Kontrollpathos und Kontrollmechanismen eines Herrschaftswissens über den Menschen und die menschliche Gesellschaft. Die Neuzeit wird von einem ungeheuren Enthusiasmus der Herrschaft des Menschen eingeleitet und begleitet. Einerseits beruht er auf der Selbstvergewisserung durch die methodische Rationalität der neuen Wissenschaft, die die gesamte Natur objektiviert, indem sie diese berechnet und zu vermessen, erklären und zu beherrschen erlaubt. Andererseits stützt er sich auf eine zwiefach reflektierende Selbstvergewisserung des Menschen, nämlich auf zwei Gedankenexperimente, die den Autonomieanspruch der Ratio philosophisch methodisch zur Geltung bringen: – Es ist Descartes’ Selbstvergewisserung durch Besinnung auf ein »absolutes«, von aller Einbeziehung in eine sinnhafte Welt, von 8 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1867), 13. Kapitel (= MEW, Bd. 23), bes. S. 388 ff., 443 ff. und 511 ff.

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Kritik der Moderne



II.2

allem vorgegebenen Wissen, allen Lehr-Autoritäten und Traditionen abgelöstes, nur auf sich selbst reflektierendes Ich. Es ist andererseits die Hobbessche Sozialvergewisserung durch Rückgang auf ein isoliertes, von allen lebensweltlich sittlichen Normen und institutionellen Bindungen abgelöstes, nacktes Individuum als Inbegriff asozialer, aggressiver Selbstbehauptung, das nichts als die Ratio eines Vorteilskalküls mitbringe. Max Weber wird dies später »Zweckrationalität« nennen.

Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis: Subjekt-Objekt-Dualismus und Verdrängung der Kommunikation durch einen Solipsismus der Methode

Erschüttert von dem Kopernikanischen Choc und dem Zerfall der mittelalterlichen ordo-Welt, setzte in der Neuzeit ein philosophischer und wissenschaftlicher Orientierungsprozeß ein, welcher schließlich – so können wir heute im Rückblick interpretieren und bewerten – auch einen Paradigmenwechsel der Denk- und Erkenntnisauffassung zur Folge hatte. Schon in der analytischen und technischen Selbstüberholung des Humanismus, bei Machiavelli und Galilei, schließlich bei Montaigne, war das fundamentale Interesse an einer sicheren und autonomen Erkenntnis, an theologie- und autoritätsunabhängiger, vorurteils- wie irrtumsfreier Rationalität markant hervorgetreten. Im Zeitalter Bacons und Descartes’ nimmt es nicht allein eine szientifischemanzipatorische Form an (Physik als Grundlage der Praxis), vielmehr sucht sich dieses Interesse ein Fundament, welches zugleich die Autonomie des Erkennenden und die Vergewisserung der Wahrheit verbürgen soll. Wo ist dieses Fundament zu finden? Die subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophische Antwort lautet: nirgendwo anders als im Erkenntnissubjekt selber, im Bewußtsein des Erkennenden, das der Selbstprüfung und Selbstvergewisserung fähig ist, und zwar aus eigener Kraft, aus eigenem Recht und zweifelsfrei autonom. Diese Autonomie bedeutete zuallererst: emphatische Unabhängigkeit von der Tradition, deren griechisch ontologisches Paradigma in der Scholastik zur Lehrautorität erhoben worden war, indes der Humanismus die römische Rhetorik als Vorbild ehrte. Wie immer vorbereitet oder direkt bestärkt von den Autonomiemotivationen der Sokratesschule, von der Innenwendung des Augusti178 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

II.2 Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis

nus, von der emanzipatorisch anthropologischen Tendenz des Humanismus, auch von Galilei und Montaigne, kommt das Denken eigentlich erst in dem neuen Rahmen der Subjekt- bzw. Bewußtseinsphilosophie dazu, sich aus seiner eigenen Tätigkeit zu begründen, welches diese als Akt des (Selbst-) Bewußtseins bzw. der Subjektivität versteht. Begründung besteht dann nicht länger in der Suche nach einem bzw. nach dem Seinsgrund; nein, sie wird Selbstbegründung. Hatte sich die Philosophie seit den Athenern vorzugsweise über ihren Gegenstand, das Sein, oder ihren Gegenstandsbezug, die Ontologie, begründet, so will sie sich jetzt auf sich selbst stellen – meint, sich zur Gänze im Selbstbewußtsein, im Erkenntnissubjekt und Praxissubjekt zu finden. Darin liegt der Wechsel des Denkrahmens, des philosophischen Paradigmas. Von Descartes bis Kant läßt er sich, ein wenig überbelichtet, so pointieren: Wo Schau des Seins war, des göttlich harmonischen, soll nunmehr Reflexion des Subjekts sein, wo Ontologie bzw. Theo-Ontologie herrschte, soll Erkenntnistheorie walten – Subjektphilosophie statt Seinsphilosophie. Und wo traditionsgeleitete Metaphysik war, Kontemplation des Seins vom Standpunkt Gottes aus, soll jetzt ausweisbare, rationale Methode herrschen, vorurteilsfreie mathematische Erklärung der Naturphänomene mit Experiment und Prognose, daher mit Technologie. Diese Wendung setzt Kritik voraus, Kritik in zweierlei Gestalt: negativ als autonomieermöglichende Befreiung von Traditions- und Vorurteilsabhängigkeit, konstruktiv als Selbstvergewisserung der Erkenntnisgrundlagen bzw. Erkenntnisbedingungen. Das Zeitalter der Aufklärung zieht herauf. Nun ergreift das Interesse an autonomer und vergewisserbarer, mithin an ausweisbar sicherer Erkenntnis vollends von der Philosophie Besitz, und zwar in zwei komplementären Ausprägungen und Richtungen: einerseits im britischen Empirismus, andererseits im kontinentalen Rationalismus, der später in den Idealismus, den deutschen zumal, übergeht. Um die gesuchte Rationalität zu gewährleisten, sucht man den logischen Ort der gewissen, daher sicheren Erkenntnis. Evidenz wird ein Leitmotiv. Hier wie dort will man Vorurteils-, Autoritäts- und auch Irrtumsunabhängigkeit gewinnen, indem man ein Erkenntnisvermögen präpariert, das einer anderen Sphäre als derjenigen angehören soll, in der Autoritäten, Vorurteile und Irrtümer vorherrschen können. Dies aber sei die Sphäre der sprachlichen Traditionsvermittlung und Kommunikation. Sie wird daher unter Generalverdacht gestellt. Als eine notwendige Basis, nämlich Sinnbasis der 179 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Kritik der Moderne

Erkenntnis, als deren Bedingung der Möglichkeit, kommt sie erst gar nicht in Betracht … Wann ist ein Zugang zum Evidenten gewährleistet? Immer dann, wenn und nur dort, wo das Augenscheinliche garantiert unabhängig von Vorurteilen, ja von irrtumsfähigen, also bezweifelbaren Auffassungen ist: in der methodisch erzeugten und methodisch vergewisserbaren Erkenntnissphäre des autonomen Subjekts als solus ipse. Den Empirismus von Hobbes, Bacon, Locke und Hume führt die Evidenzsuche auf die sinnliche Erfahrung als vermeintlich sichere Basis der Erkenntnis. Nach Locke ist das Bewußtsein rein perzeptiv; sprachfreie impressions rufen auf der Netzhaut sprachfreie ideas hervor, wohingegen Descartes das fundamentum inconcussum letztlich in der Reflexion des zweifelnden Erkenntnissubjekts findet, in der methodischen Kontrolle des Bewußtseins durch methodischen Zweifel. Hier wie dort greift man zu der Idee eines, sich methodisch von dieser Welt (mit ihrer sprachlichen Traditions- und Vorurteilsvermittlung) isolierenden und dadurch Erkenntnisunmittelbarkeit gewinnenden, einsamen Bewußtseins (des Empirikers oder des Philosophen). Das Bewußtsein als solus ipse, jetzt im Unterschied zu Augustinus strikt autonom angesetzt und von der Kommunikation mit Gott mehr und mehr abgelöst, gilt als die autarke, weil kommunikationsunabhängige Erkenntnisinstanz: »Words in their primary or immediate significations stand for nothing but the ideas in the mind of him that uses them« 9 (Locke). Mit der Aufklärung bildet sich der subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophische Hintergrundkonsens heraus, daß der Erkenntnisdiskurs prinzipiell einsam sei. Er muß es angeblich sein, um die Autonomie, und, über diese, die Gewißheit der richtigen Erkenntnis sicherzustellen. Daher gehört die instrumentalistische Bezeichnungstheorie der Sprache zur bewußtseinsphilosophischen Morgengabe der Moderne: dem emanzipatorisch gesonnenen methodischen Solipsismus. 10 Für ihn ist Sprache nichts als ein nachträgliches Kommunikationsinstrument des Geistes. Es diene bloß zur Bezeichnung dessen, was sich unabhängig von Sprache erkennen lasse. Der von der Aufklärung für das Autonomieideal entrichtete Preis ist die Verdrängung von Sprache und Kommunikation als Sinnressource des Denkens und als Voraussetzung dafür, daß Erkenntnis überhaupt 9 10

J. Locke, Essay Concerning Human Understanding, Bd. 2, Buch III, 2.2., London 1690. Vgl. D. Böhler: Rek. Pragm. (1985), S. 69–76.

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II.2 Zwei Formen der Aufklärung – ein Preis

möglich ist. Den Fortschritt an Autonomie, den Gewinn an philosophischer Emanzipation, hat die Aufklärung mit dem Verlust des kommunikationsphilosophischen Potentials, das im rhetorischen Humanismus von Cicero über Petrarca bis zu Giambattista Vico entwickelt worden war 11, teuer bezahlen müssen: Sprache und Kommunikation fallen aus dem Subjektparadigma heraus. Von den Philosophen der Aufklärung und Voraufklärung, seien sie Rationalisten oder Empiristen bzw. Sensualisten/Materialisten, werden sie nicht als Konstituentien der Erkenntnis und als Rahmenbedingungen des Subjekts anerkannt. Zeigt sich hier eine entwicklungslogische Tendenz in der Entwicklung der Philosophie? Ich meine die Tendenz der produktiven Vereinseitigung dessen, was neu entdeckt wird. Hier ist es der neue Standpunkt des autonomen, auf sich selbst reflektierenden Subjekts, welches aber alles andere, Natur wie Gesellschaft, zum Objekt macht. Das, was im ersten Paradigma, der metaphysischen Ontologie, als das erkennbare Ganze galt, das Vernunft und Natur nicht nur umschließende sondern zur Einheit bringende ›Sein‹, wird nun auseinandergenommen. Das einstige Ganze zerfällt in einen Gegensatz: nicht nur in eine Gegenüberstellung, sondern in einen Dualismus von Subjekt und Objekt, Ich und Welt, Geist und Natur. Den Rahmen des Denkens gibt nunmehr das isolierte Subjekt-Objekt-Schema ab – isoliert von der allererst sinngebenden Intersubjektivitätsrelation. Insofern könnten wir das subjektphilosophische oder Subjekt-Paradigma auch »Subjekt-Objekt-Paradigma« nennen. Die Aufspaltung des ›Seins‹ in Subjekt und Objekt bedeutet für das Verhältnis der Wissenschaften zur Welt bzw. zur Natur: Sie kennen keine aus sich selbst und im Kontext des Seins verständlichen Phänomene mehr, sie erforschen, indem sie das, was sich ihnen zeigt, objektivieren, d. h. sie gehen mit Gesetzesannahmen in der einen Hand und mit Experimenten, die sie sich nach diesen erdacht haben, in der anderen, an die Natur heran. 12 »Unter Natur (im empirischen Verstande) verstehen wir« – so wird Kant den naturwissenschaftlichen Weltbezug der Moderne definieren – »den Zusammenhang der Erscheinungen, ihrem Dasein nach, nach notwendigen Regeln, d. i. nach Gesetzen.« 13 Natur hat für den neuzeitlichen, den kausaltheoretisch und experimen11 12 13

Vgl. K.-O. Apel, Idee (1963). So nachzulesen bei Immanuel Kant: KrV, B XIII. A. a. O., B 263.

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tell verfahrenden, Wissenschaftler keine Eigenqualität und keinen Sinn mehr: Natur ist ihm nurmehr »das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt« 14 bzw. vom Wissenschaftler bestimmbar ist. Weil seit Bacon und Hobbes eine einheitswissenschaftliche Perspektive dominiert, so daß die naturwissenschaftliche Methodik als Vorbild für Wissenschaft überhaupt gilt, wird die kausalerklärende Einstellung zur Natur auch auf die Handlungswelt, insonderheit die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse angewandt. Daß diese von Sprache, Kommunikation und damit verwobener Reflexivität durchzogen, ja getragen sind, so daß eine gänzliche Objektivierung (und Kausalerklärung) der menschlichen Handlungswelt gar nicht möglich ist, das bleibt unbedacht im Szientismus der Aufklärung ebensowohl als im Logischen Empirismus des 20. Jahrhunderts. 15 Für den Begriff der Sprache folgt aus der Verabsolutierung der Subjekt-Objekt-Relation eine Vereidigung auf die instrumentalistische Bezeichnungstheorie der Sprache: Sprache als Instrumentenkasten bzw. Zeichenarsenal der Ratio. Und die sprachliche Kommunikation wird, da man ja nie wisse, was da vermittelt wird, viel eher unter den Generalverdacht der Vermittlung von Vorurteilen gestellt, als daß man die neuartige Reflexionsfrage, Kants »transzendentale« Frage nach internen Bedingungen der Erkenntnis, auch auf Sprache und Kommunikation bezogen hätte. So geht mit der philosophischen Entdeckung des Erkenntnis- bzw. Diskurssubjekts (cogitatio bei Descartes) die Verdekkung seiner kommunikativen Praxis einher. Man vergißt dabei, daß auch ein im Augenblick völlig einsamer Denker – mag er Descartes heißen – immer schon kommunizieren mußte und daß er selbst in diesem einsamen Augenblick kommunizieren muß: Er hat gelesen, er schreibt, er macht Gedankenexperimente, deren Sinn er nur dank Teilhabe an einer Sprachgemeinschaft überhaupt verstehen kann, und er spricht mit Anderen. Auch wer die Einsamkeit zur methodischen Haltung stilisiert, ist nicht allein, sondern in Kommunikationsgemeinschaft. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (zit.: Prolegomena)), § 14, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 294. 15 Dazu: H. Skjervheim, Objectivism and the Study of Man, Oslo 1957; wieder in: ders., Selected Essays, Bergen (Department of Philosophy) 1996, S. 1–83. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), bes. S. 28 ff., 96 ff., 330 ff.; vgl. 220 ff. D. Böhler, Rek. Prag., bes. S. 67–81, 105–174; vgl. 309–384. 14

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II.3 Descartes

II.3

Descartes: Selbstvergewisserung durch wissenschaftliche Methode und durch Reflexion des Erkenntnissubjekts

René Descartes (1596–1650) oder, wie er sich schrieb, Renatus DesCartes, entstammt einer niederen Adelsfamilie. Seine Vorväter gehörten teils dem Arzt-, teils dem Juristenstand an: liberale, selbstbewußt humanistische Akademiker. Er selbst wurde standesgemäß humanistisch ausgebildet; Jesuitenschüler in der modernen Anstalt in La Flèche, lernte er, die Klassiker auswendig zu zitieren und ein ebenso elegantes Latein wie Französisch zu schreiben. Früh glänzte er als Mathematiker, zudem befleißigte er sich der Logik, Ethik, Physik und Metaphysik. Die progressiven jesuitischen Lehrer begeisterten ihn für die stürmisch fortschreitende Astronomie und die Entdeckungen des (noch nicht verurteilten) Galilei. 1618 von seinem Vater zur militärischen Ausbildung zu den calvinistischen Niederländern geschickt, die gegen die Spanier eine moderne bewegliche Strategie entwickelt hatten, fand er Gelegenheit, nicht länger bloß in Büchern, sondern in »dem großen Buche der Welt« zu studieren, was er gleich zu Anfang des »Discours« hervorheben wird. Bald lernte er den Physiker Isaac Beeckman kennen, der eine neue, strikt mathematisierte Naturwissenschaft konzipierte. Student im Buch der Welt, segelte Descartes 1619 nach Kopenhagen, besuchte vermutlich auch Danzig, Polen, Ungarn, Österreich, Böhmen und mit Sicherheit Frankfurt, wo er der Haupt- und Staatsaktion des Reiches, der Kaiserkrönung Ferdinands II., beiwohnte. Im Winter finden wir ihn in der Nähe Ulms, wo er Kontakt zu dem namhaften Mathematiker Johann Faulheber suchte, der der Geheimgesellschaft der Rosenkreuzer angehörte. Diese hatten sich damals der Maxime verschrieben: Entwicklung der Naturwissenschaft zum Besten der leidenden Menschheit. Im »Discours« bindet er jene Maxime an einen methodisch technologischen Herrschaftsanspruch über die Natur: Die Menschen sollten maîtres et possesseurs de la nature werden. Dieses erkenntnisleitende Interesse – Habermas und Apel werden es in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts als das für die empirisch-analytischen Naturwissenschaften konstitutive Interesse an der »technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse« 16 charakterisieren – schlägt sich in Descartes’ postgalileischem Methodenbegriff 16

J. Habermas, »Erkenntnis und Interesse«, in: ders., Technik und Wissenschaft als

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nieder. Schon im Titel seiner ersten Publikation »Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences« aus dem Jahre 1637 schwingt es mit. Diese »Bemerkungen über die Methode« vollziehen den Sprung in den subjektphilosophischen Rationalismus. Der Form nach handelt es sich dabei um einen, zum Gedankenexperiment stilisierten, Bericht des Erkenntnissubjekts, welches die Gewißheit der Wahrheitserkenntnis und zugleich damit die Existenzgewißheit seiner selbst in einem reflexiven Zweifelsdiskurs sucht. Ein solcher Diskurs stehe, worauf gleich die ersten Sätze hindeuten, jedem Menschen offen. Denn »die Kraft, richtig zu urteilen und das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden, was man eigentlich ›gesunden Menschenverstand‹ (le bon sens) oder ›Vernunft‹ (la raison) nennt«, sei eigentlich »die bestverteilte Sache der Welt«. 17 In dieser egalitär universalistischen Voraussetzung und dem darauf aufbauenden Zweifelsverfahren spricht sich die philosophisch diskursive Radikalität eines Denkens aus, das die Aufklärung eröffnet und ebenso die spekulative Ontologie und Dialektik der Scholastik wie die humanistische Rhetorik distanziert. Von der Tradition setzt sich Descartes mit dem ganzen Pathos des Neuerers ab, der tabula rasa machen will. Noch schärfer als Montaigne (1533–1592) distanziert er die syllogistische Dialektik und die Disputation der Scholastik. Denn beide übten zwar die Denkkraft der Knaben, trügen aber zu neuer, eigentlicher Erkenntnis nichts bei, fesselten die Vernunft vielmehr in spanische Stiefel. Sie täuschten eine Automatik des Erkenntniserwerbs vor. Doch wenn die Vernunft sich den Vorschriften der Dialektiker anvertraue, dann habe das zur Folge, daß sie »mit der evidenten und aufmerksamen Betrachtung der Schlußfolgerung aussetzt und sozusagen Feiertag macht« 18. So formuliert Descartes sarkastisch in der Manier einer (allerdings vorwittgensteinianischen) Sinnkritik. Zur Auffindung und Vergewisserung der Wahrheit untauglich, müsse die scholastische Dialektik aus der Philosophie in die Rhe›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1968, S. 157. Vgl. K.-O. Apel, »Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik«, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), hier S. 96–100. 17 R. Descartes, Discours, Première Partie, 1, Leiden 1637; vgl. Gesamtausgabe: C. Adam u. P. Tannery, Oeuvres de Descartes (zit.: AT), Bd. VI, Paris 1973, S. 2; zweisprachige Ausgabe, hg. von L. Gäbe, Hamburg 1960, S. 3. 18 R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii (zit.: Regulae), X, 4; zit. nach der Ausgabe Lat.-dt., übers. u. hg. von H. Springmeyer, L. Gäbe u. H. G. Zekl, Hamburg 1993, S. 67.

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torik verwiesen werden; dort könne sie immerhin eine didaktisch-persuasive Funktion haben – zur Vermittlung bereits gewonnener Einsichten. 19 Der polemische Ton entspricht dem Sendungsbewußtsein, mit dem er das Modell des autonomen Zweifelsdiskurses einführt. Dieses werde erstmals Gewähr bieten, strikt autoritäts- und vorurteilsfrei zu verfahren, nämlich »in allem meine Raison zu gebrauchen« 20. In der Tat macht Descartes den Begründungsanspruch stark und will ihn in strikter Autonomie, durch Reflexion des Philosophierenden als des methodisch Zweifelnden, einlösen. Genau das ist es, was ihn nicht nur von jeder didaktisch rhetorischen und topischen Nivellierung der Philosophie sondern auch von Montaignes stoischer Tendenz trennt, den philosophischen Diskurs in eine skeptische Lebenskunst zurückzunehmen. Das paradigmatisch Neue daran hat niemand entschiedener als Hegel herausgehoben: »De omnibus dubitandum est, war der erste Satz des Cartesius, – dies Versenken aller Voraussetzungen und Bestimmungen selbst. Es hat jedoch nicht den Sinn des Skeptizismus, der sich kein anderes Ziel setzt als das Zweifeln selbst, daß man stehenbleiben soll bei dieser Unentschiedenheit des Geistes, der darin seine Freiheit hat, sondern es hat vielmehr den Sinn, man müsse jedem Vorurteil entsagen – d. h. allen Voraussetzungen, die ebenso unmittelbar als wahr angenommen – und vom Denken anfangen, um erst vom Denken aus auf etwas Festes zu kommen, einen reinen Anfang zu gewinnen. Dies ist bei den Skeptikern nicht der Fall; da ist der Zweifel das Resultat.« 21 Descartes setzt den universalen Zweifel als methodisches Mittel der Vernunft ein. Die Skepsis wird nicht zur Lebensform verfestigt, sondern soll diskursiv vollzogen werden. Das Vernunftsubjekt vergewissert sich durch einen Zweifelsdiskurs, indem es Rechenschaft über Grund und Grenze seiner Geltungsansprüche ablegt. Fast als griffe er sowohl auf den sokratischen Elenchos zurück als auch auf eine transzendentale Geltungsreflexion à la Kant und Husserl 22 vor, ertastet Descartes das moderne Niveau einer subjektphilosophischen Autonomie und läßt insofern die Spekulation der Ontologie und der philosophiA. a. O., X, 5. R. Descartes, Discours, Seconde Partie, 13; AT: Bd. VI, S. 21. 21 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III, in: Werke (1970 f.), Bd. 20, S. 127. 22 Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen (1977). 19 20

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schen Theologie hinter sich, wiewohl er nach Vollzug der Zweifelsreflexion wieder in beide zurückfällt. Nach dem Zerfall des alten Weltbildes und zum Teil auch der alten Weltordnung scheint es überhaupt nichts Sicheres mehr zu geben – nichts, woran nicht gezweifelt werden könnte, so daß man als redlicher Philosoph wohl radikal skeptisch ansetzen sollte. Das tut Descartes ebenso im »Discours« wie in den bald darauf erscheinenden »Meditationes de prima philosophia«, die er freilich der Sorbonne, nämlich dem Dekan und den Doktoren, also Dozenten der »heiligen theologischen Fakultät zu Paris« als »stärkster Stütze der katholischen Kirche« widmet 23, und worin er das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele beweisen will. Ganz klar wird jetzt: Nicht um eine Revolution ist es ihm zu tun, vielmehr um Sicherung von Glaubensgrundlagen; und zwar von zwei ontotheologischen Grundsätzen, die aus der Verbindung der neuplatonisch hellenistischen Metaphysik – Unsterblichkeit der Seele – mit dem jüdisch christlichen Glauben – Gott ist einer und er existiert – entsprungen sind. So beginnt er die »Meditationen über die erste Philosophie«, sprich Metaphysik, mit dem Bekenntnis: »Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß es gerade die beiden Fragen über Gott und die Seele sind, die man eher mit den Mitteln der Philosophie als mit denen der Theologie zu beantworten habe. Denn mag es auch für uns Gläubige genügen, im Glauben überzeugt zu sein, daß die menschliche Seele nicht mit dem Körper untergeht und daß es einen Gott gibt, so kann man doch Ungläubige von keiner Religion, ja wohl nicht einmal von der Notwendigkeit moralischer Tugend überzeugen, wie es scheint, wenn man ihnen nicht zuvor jene beiden Sätze mit natürlichen Gründen beweist.« 24 Zweifellos tönt Descartes im »Discours« kühner als in den ausdrücklich apologetischen »Meditationes«, aber Methode und Duktus, Beweisgang und Beweisziel sind hier wie dort gleichartig. Auch 1641 fragt er radikal skeptisch: »Was habe ich vordem [früher »in meiner Jugend«] geglaubt zu sein? Doch wohl ein Mensch. Aber was ist das ›ein Mensch‹ ? Soll ich sagen: ein vernünftiges, lebendes Wesen? Keineswegs, denn dann müßte man ihn hernach fragen, was ein ›lebendes Wesen‹ und was ›vernünftig‹ ist, und so geriete man aus einer Frage in R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, hg. von L. Gäbe, Hamburg 1959 (zit.: Meditationes, hg. Gäbe), S. 3 und 13; AT: Bd. VII, S. 2 und 6. 24 A. a. O., hg. Gäbe, S. 3; AT: Bd. VII, S. 2 f. 23

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mehrere und noch schwierigere. Auch habe ich nicht so viel Zeit, daß ich sie mit derartigen Spitzfindigkeiten vergeuden möchte.« 25 Die selbstverständliche Basis des christlich-aristotelischen Geistes, daß der Mensch ein vernünftiges Lebewesen sei, wird zu einer Spitzfindigkeit herabgesetzt, der Zweifel also auch gegenüber der etablierten, von der Sorbonne gehüteten Tradition in Anschlag gebracht. Descartes will eben alles von sich »fernhalten, was auch nur den geringsten Zweifel zuläßt […] und ich will solange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses […] erkenne […]. Ich setze also voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist.« 26 Er dramatisiert den Zweifel dann nochmals, indem er annimmt, ein böser Geist versuche ihn absolut zu täuschen, so daß »alle Außendinge nichts als das täuschende Spiel von Träumen« seien. 27 Aber selbst dann gelte doch: »Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz ›Ich bin, ich existiere‹, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.« 28 Descartes zufolge kann also der radikale methodische Zweifel nur an einem Punkt zu Ende kommen, an dem Begleitbewußtsein des ›Ich denke‹, welches Kant als oberstes Prinzip des Verstandesgebrauchs, ja als »den höchsten Punkt« der ganzen Logik und der Transzendentalphilosophie auszeichnen wird. 29 So schließt er das Zweifelsexperiment im »Discours«: »Endlich erwog ich, daß uns genau die gleichen Vorstellungen, die wir im Wachen haben, auch im Schlafe kommen können, ohne daß in diesem Falle eine davon wahr wäre, und entschloß mich daher zu der Fiktion, daß nichts, was mir jemals in den Kopf gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder meiner Träume. Alsbald aber fiel mir auf, daß während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ›ich denke, also bin ich‹ so fest und sicher 25 26 27 28 29

A. a. O., hg. Gäbe, S. 45; AT: Bd. VII, S. 19. A. a. O., hg. Gäbe, S. 43; AT: Bd. VII, S. 17. A. a. O., hg. Gäbe, S. 39 f.; AT: Bd. VII, S. 15. A. a. O., hg. Gäbe, S. 43 f.; AT: Bd. VII, S. 18 f. I. Kant, KrV, B 134, Anm.

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ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suche, ansetzen könne.« 30 Der Neuansatz einer Cogitatio sollte paradigmatisch werden: Musterbeispiel für ein methodisch kritisches, allein das absolut Unbezweifelbare gelten lassendes Philosophieren, das die Metaphysik methodisch skeptisch fundieren soll. Nicht mit seinem konservativen Anspruch, die Metaphysik retten zu können, wohl aber mit seinem Neuansatz, der Reflexion auf das Erkenntnissubjekt, macht Descartes Geschichte: Dadurch bringt er die Philosophie – über Kant bis zu Edmund Husserl – auf die Bahn einer methodologisch akommunikativen Philosophie, welche das Erkenntnissubjekt weder als geschichtlichen Teilnehmer einer sprachlichen Kommunikationsgemeinschaft noch als (dia-)logischen Teilnehmer einer unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft berücksichtigt. Erkenntnis wird nicht in bezug auf den Plural von Diskursteilnehmern gedacht, die sich über ihre Diskursbeiträge Rechenschaft ablegen, sondern in dem geltungslogischen, vermeintlich Gültigkeit ermöglichenden Singular »meiner« intuitiven Einsicht, der Evidenz des einsam erkennenden Subjekts. Descartes unterstellt, daß Verständnis einsam möglich sei, daß einer unabhängig von jeglicher Kommunikationsgemeinschaft Sinn und Bedeutung haben, also über sich und die Welt nachdenken bzw. reden könne. Er unterstellt zudem, daß Erkenntnis prinzipiell einsam möglich sei, daß nämlich einer für sich allein Wahrheit finden und Erkenntnis der Wahrheit, Gewißheit, erwerben könne. Dazu paßt, daß er emphatisch die traditionell instrumentalistische Sprachauffassung vertritt, derzufolge Sprache bloß eine Apparatur von Wörtern sei. Und Wörter mißversteht er als bloße Mittel, »anderen unsere Gedanken bekanntzumachen« 31. Somit läßt er außer Betracht, daß wir uns, indem wir uns in einer Sprache bewegen, immer schon in einer Sinn- und Handlungsgemeinschaft, also virtuell im Dialog mit Anderen befinden, so daß wir mit ihnen sowohl das Verständnis einer Lebenswelt teilen, als auch ihnen gegenüber das Anerkennungsverhältnis möglicher Diskurspartner in Anspruch genommen haben. Denn R. Descartes, Discours, Quatrième Partie, 1; hg. Gäbe, S. 53; AT: Bd. VI, S. 32. A. a. O., Cinquième Partie, 10; vgl. AT: Bd. VI, S. 57; vgl. Cinquième Partie, 11 bzw. AT: Bd. VI, S. 58: »Reden« heiße »bezeugen, daß sie [die Menschen] denken, was sie sagen«. Vgl. J. Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt a. M. 1990, S. 20 f.

30 31

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etwas als etwas von bestimmter Bedeutung verstehen und zu verstehen geben, also reden, heißt nicht etwa, Wörter zur nachträglichen Bezeichnung des zuvor (sprachunabhängig) Gedachten zusammenzustellen; vielmehr heißt es, vor dem Sinnhintergrund eines gemeinsamen Weltverständnisses etwas (tatsächlich oder virtuell) mit Anderen zu tun, indem man ihnen und sich etwas darlegt, wofür man Ansprüche auf Geltung erhebt, die einen selbst zu bestimmten Verhaltensweisen verpflichten. Infolgedessen ist man selbst nicht in der Rolle eines einsam denkenden Ichs, sondern im Anerkennungs- und Verpflichtungszusammenhang eines kommunikativen Handelns. Das kommunikative Handeln zeigt sich direkt in dem primär pragmatischen oder performativen Teil einer kompletten Äußerung, wie z. B. »Ich frage dich«, »ich behaupte (dir gegenüber)«, »ich verspreche dir« u. a. m.; und es legt den Geltungssinn des anschließend Dargelegten fest, der primär semantischen Aussage oder Proposition, z. B. »ob es zutrifft, daß …«, »daß meine Meinung über diese Angelegenheit zutrifft«, »dich morgen abzuholen« … Kraft dieser performativ-propositionalen »Doppelstruktur« (Habermas) einer einfachen sprachlichen Äußerung verbinden sich Geltungsansprüche eines Subjekts nicht nur mit Sinnzusammenhängen einer Lebenswelt, sondern auch mit logischen Regeln sowie ethischen Normen – also mit vorgängigen Dialogversprechen. Davon wird vor allem in den Abschnitten III.1 und III.4 die Rede sein. Descartes verfällt einem sinnzerstörerischen Dualismus: Einmal überdreht er infolgedessen sein Zweifelsexperiment, so daß er auch die Sinnvoraussetzungen dieses Gedankenexperiments selber in Zweifel zieht und derart seinem eigenen Denken den (Seins- und Geltungs-) Boden entzieht, also dessen Fundament, die Zweifelsreflexion, zerstört. Hätte er hingegen sinnvoll gezweifelt, so wäre er zu einem haltbaren und viel reicheren Fundament gelangt, nämlich zu der, in der Tat unhintergehbaren, dialogischen Situation dessen, der argumentiert (z. B. etwas in Zweifel zieht), indem er in einer öffentlichen Sprache möglichen oder realen Anderen gegenüber Geltung für seine Argumente beansprucht. Die gesamte Ressource des Letztgültigen, also dessen, was durch keinen sinnvollen, noch diskutierbaren Zweifel zu erschüttern ist, hätte er dann erschließen können. Hätte … Doch daran hinderten ihn – erstens – seine solipsistische Methode, zudem sein spekulativ ontologischer Begriffsrahmen: sein subjektphilosophisch verengter Neuansatz in Verbindung mit der nicht 189 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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kritisch aufgearbeiteten, sondern stillschweigend fortgeschriebenen Tradition, also dem ersten Paradigma. Tradition, die nicht distanziert und aufgearbeitet wird, hält uns, wie radikal wir uns auch gebärden mögen, in ihrem Bann. So holt ihn, der doch »ernsthaft« den »allgemeinen Umsturz [s]einer Meinungen« herbeiführen will 32, die Tradition schon bei der Formulierung seiner Beweisziele ein. Als »res cogitans«, denkende Substanz bzw. denkendes Wesen, bestimmt er das, was es als absolut sicher zu erweisen gelte und was er auch als solches erwiesen habe. 33 Er bringt seine Zweifelsreflexion zu dem sicheren Resultat, »daß während ich […] zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei […]: ›ich denke, also bin ich‹« 34. Ergo: »Ich bin gewiß, daß ich ein denkendes Wesen bin« 35. Aber schon an diesem Punkt springt er aus der reflexiven Argumentation heraus und fährt in der theoretisch analytischen Einstellung fort. Und hier ist er dann der Tradition völlig schutzlos ausgeliefert: Ganz in ihren Begriffen spekuliert er nun über das Wesen des Subjekts, sein Verhältnis zu Gott, seinen angeblich inhärenten Begriff von Gott als absolut vollkommenem Wesen usw. Inhaltlich, begrifflich und (von da an) auch methodisch siegt das spekulative Seinsparadigma über das reflexiv eingeleitete Subjektparadigma: Ungeniert spekuliert Descartes. Aus dem Wesensmerkmal »denkend« des Ich, welches er als »reine Substanz« unterstellt hat, leitet er die Unsterblichkeit der Seele ab. Da zu dieser Substanz nicht das Körperliche, dessen Sein von der Art des Zerstörbaren sei, sondern exklusiv das Denkende gehöre, habe es eben eine rein »geistige Natur«, sei mithin unzerstörbar. Also habe der Mensch eine unsterbliche Seele. 36 In diesem Stile, sich von einem metaphysisch ontologischen Begriff zum nächsten hangelnd, ›beweist‹ er auch das Dasein Gottes usw. Immanuel Kant wird das Subjekt-Paradigma konsequent ausführen, indem er nach den, im Erkenntnissubjekt enthaltenen, Bedingungen möglicher Erkenntnis fragt. Im Sinne dieser kritisch transzendentalen Fragestellung weist er in seinem »Traktat von der Methode«, wie er die »Kritik der reinen Vernunft« in Anspielung auf den »Discours de R. Descartes, Meditationes, hg. Gäbe, S. 31; AT: Bd. VII, S. 17. A. a. O., hg. Gäbe, S. 14–17; AT: Bd. VII, S. 8. 34 R. Descartes, Discours, Quatrième Partie, hg. Gäbe, S. 52/53; AT: Bd. VI, S. 33. 35 R. Descartes, Meditationes, hg. Gäbe, S. 60/61, vgl. S. 42–51; AT: Bd. VII, S. 35, vgl. S. 25–28. 36 A. a. O., hg. Gäbe, S. 23–27; AT: Bd. VII, S. 13 f. 32 33

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la méthode« 37 nennt, Descartes’ Metaphysik (trotz des »skeptischen Idealismus« im anfänglichen Zweifelsverfahren) letztlich als »Dogmatismus« zurück. 38 – Derlei sei »Blendwerk von objektiven Behauptungen« aufgrund »dialektischen« oder »transzendentalen Scheins«, nämlich aufgrund der »natürlichen« Tendenz der Vernunft, ihre »subjektiven Grundsätze […] als objektive [zu] unterschieben.« 39 Das sei typisch für das »Kindesalter« der reinen Vernunft. 40 Dort wolle man unmittelbar, ohne vorherige Rechenschaftslegung über deren Vermögen und Grenzen, also ohne »Kritik«, die »Dinge aus bloßem reinem Verstande oder reiner Vernunft« erkennen; so aber bringe man »nichts als lauter Schein« zuwege, weil Wahrheit über die Dinge nur durch methodisch gemachte Erfahrung zu finden sei. 41 Doch zurück zu Descartes’ methodischem Zweifel, den Kant skeptisch idealistisch nennt. Als Ergebnis dieser Zweifelsreflexion sieht er ein reines Subjekt an. Diesem schreibt er sowohl Denkfähigkeit, Vernunft, als auch Existenz zu. Allein, im angeblich tragfähigen Zweifelsexperiment kommt ihm fast alles abhanden, was das Vermögen, etwas zu denken, und auch das Existierenkönnen ausmacht. Beides setzt nämlich ein Sein in natürlicher Umwelt und zugleich in einer sprachlich erschlossenen Sinnwelt voraus. Ein sinnvermittelndes »In-der-Weltsein« 42 ist mit der Denkfähigkeit von vornherein verwoben: Ohne Sinnwelt kein Denken, weil das ›Denksubjekt‹ gar keine Sinngehalte hätte, anhand derer es etwas von bestimmter Bedeutung denken und über die es (z. B. zweifelnd) nachdenken könnte. Das ist die zwischen Wilhelm von Humboldt, dem frühen Heidegger und der Lebensphänomenologie herausgearbeitete Einsicht in das »Apriori einer realen Kommunikationsgemeinschaft« (Apel) 43, einer lebensweltlichen Sinnvorgabe: Als leibhaften, sprechenden resp. sprachlich denkenden Wesen ist uns immer schon Welt in ihrer Bedeutsamkeit erschlossen; als solche sind wir von vornherein verstehend in einer Welt – nicht etwa bloß ihr gegenüber, als stünde Geist der Körperwelt gegenüber. Mit dieser Einsicht in die geschichtlich pragmatische Dimension 37 38 39 40 41 42 43

I. Kant, KrV, B XXII. A. a. O., B XXXV, vgl. XXX, 791, 796. A. a. O., B 86 und 352 ff. A. a. O., B 789. I. Kant, Prolegomena, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 145. M. Heidegger, SuZ, §§ 12–27. Dazu hier: Abschnitt III.4.3.

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des Etwas-Denkens 44 läßt sich im dritten Paradigma der (Fundamental-) Philosophie, sofern dort nach den Sinnvoraussetzungen des eigenen Denkens zurückgefragt wird, eine zweite kommunikative Evidenz verbinden, die sich aus der Kritik des Descartes ergibt. Ein reines Denksubjekt mit einer »intellection pure«, einem unleiblichen, reinen Denken, kann überhaupt nicht denkend agieren, weil etwas denken immer heißt, leise oder laut zu reden, d. h. sich in einer Sprache mit Geltungsansprüchen an Andere (oder an sich selbst als einen anderen) zu adressieren. Descartes’ subjektphilosophischer Paradigmenwechsel – gegenüber der spekulativen theoria-Ontologie und insbesondere gegenüber theologischen Ontologen wie Thomas – zeigt sich daran, daß nunmehr die subjektive Grundintuition ›Ich bin realiter‹ als Begleitwissen ›meines‹ Denkens/Zweifelns durch eine Methode wenn nicht erzeugt, so doch beglaubigt zu werden scheint: Sie soll methodisch aus dem Zweifelsdiskurs hervorgehen und sich in diesem Verfahren, für jeden Denkenden nachprüfbar, als transsubjektive Gewißheit bewähren – als Evidenz aller möglichen Subjekte. 45 Ist hier ein reflexiver Sinnkritiker am Werk? Verfolgt er das Beweisziel, die praktische Begleitintuition dessen, der etwas denkt, aufzudecken? Will er und kann er mit dem Versuch, als absolut einsames Subjekt an allem zu zweifeln, eine unbezweifelbare Einsicht zu gewinnen, erfolgreich sein? Descartes’ universalistisch egalitärer, reflexiv methodischer Ansatz einer Selbstbegründung der Vernunft ist jedoch intern inkonsequent. Überdies hat er eine falsche Grundvoraussetzung. Diese zeigt sich in der Radikalisierung der methodisch solipsistischen Tendenz seiner stillen Vorbilder: Platon, die pyrrhonischen Skeptiker und Augustinus. 46 Cartesius verschärft den Solipsismus und die instrumentalistische Sprachauffassung der alteuropäischen Denktradition. Inkonsequent ist sein reflexiver Ansatz in doppelter Hinsicht. Weder beschränkt er die Reichweite der Welterkenntnis, wie es Kant tun wird, transzendental-kritisch auf das mögliche apriorische Wissen, welches ein Erkenntnissubjekt von sich und von der Welt (als Sinnrahmen Siehe dazu die »semiotischen Sinn-Dimensionen des Über-etwas-Redens bzw. EtwasDenkens«, Abschnitt I.2.2, Abb. 2. 45 R. Descartes, Regulae, III; bes. III, 5; AT: X, 368. 46 Vgl. D. Böhler, »Wittgenstein u. Augustinus« (1983), S. 343–369; W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 288 ff. 44

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seines Denkenkönnens) müßte voraussetzen können, noch hält er die reflexive Argumentationsweise durch. Daher stößt er auch nicht zu einer sokratisch reflexiven Moralbegründung vor und gelangt nicht auf das strikt autonome, metakonventionelle Niveau einer praktischen Vernunft. Stattdessen zieht er sich auf den konformistischen, risikofreien Standpunkt einer provisorischen Moral (morale par provision) zurück, welche an den Gesetzen des eigenen Landes festhält, ohne sie einer Prüfung zu unterziehen. So regrediert der radikale AutonomieDenker auf die konventionalistische, insofern heteronome Urteilsstufe 4. Ausgezogen, den methodischen Zweifel durchzuführen und zu lehren, argumentiert Descartes, wie Wolfgang Kuhlmann zusammenfaßt, »nur an einem einzigen Punkt« reflexiv im Sinne eines sokratischen Elenchos: bei dem ›cogito sum, dubito ergo sum‹. »Sowie dies feststeht: ›sum, existo‹, sofort wechselt Descartes die Einstellung: die strikte Reflexion, die einzige Einstellung, in der der drohende Regreß gestoppt werden kann«, stattdessen analysiert er »in theoretischer Einstellung, was es ist, was er da gewonnen hat und gelangt so zu der überaus problematischen Bestimmung: ›sum res (!) cogitans‹« 47 – zweifelnd bin ich eine Substanz. Dieser dingontologische, besser: substanzontologische Rückfall zeigt nicht allein, daß er dem spekulativen Paradigma der theoria-Ontologie noch verhaftet ist, sondern auch, daß er den reflexiven Zweifelsdiskurs ontologisch und psychologisch überfrachtet. Er nimmt ihn gar nicht als das, was er einzig sein kann – als Sinn- und Geltungsvergewisserung von konstitutiven (transzendentalen) Bedingungen des Denkens als kommunikativen Argumentierens. Die scholastisch ontologische Überfrachtung läßt den anfänglichen Zweifelsexperimentator zurückgleiten in eine uneinholbare Metaphysik. Er will den Bestand einer individuellen Seele als eigentümlicher Substanz (res cogitans) erweisen, die von der Körperwelt (res extensa) unabhängig, ja ihr entgegengesetzt sei. Damit etabliert er den fatalen erkenntnistheoretischen und ontologischen Dualismus der Moderne bzw. ihres subjektphilosophischen Paradigmas: Subjekt – Objekt, Geist – Natur. Das Selbstverständnis und den Horizont des philosophischen Begründungsdiskurses hat er dadurch auf einen Rationalismus und Intellektualismus festgelegt, auf eine (angeblich mögliche) reine Ich- bzw. Subjektreflexion. Dieser Standpunkt kann zusammen mit der Sprach47

W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 297.

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Kritik der Moderne

lichkeit des »Ich denke« auch die Leiblichkeit des Subjekts und dessen Sorge um die natürlichen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen ignorieren. Dagegen werden im 19. Jahrhundert die nachhegelschen Vermittler von Theorie und Praxis aufbegehren, insonderheit Karl Marx. Im 20. Jahrhundert werden etwa die Leib- bzw. Organismusphänomenologen Maurice Merleau-Ponty und Hans Jonas Einspruch erheben. Sie ziehen gegen den Cartesianismus Husserls und, im Falle von Jonas, auch gegen den idealistischen Rest in Heideggers Phänomenologie des (naturlos gedachten) »Daseins« zu Felde. Denn die »natürliche Welt ist der Horizont aller Horizonte […], meinen Erfahrungen […] eine gegebene und nicht gewollte Einheit gewährleistend, deren Korrelat in mir selbst die gegebene, allgemeine und vorpersönliche Existenz meiner Sinnesfunktionen ist, in der wir die Wesensbestimmung des Leibes gefunden haben.« So ist es nach Merleau-Ponty der Leib, »der nicht nur Naturgegenständen, sondern auch Kulturgegenständen, wie etwa Worte es sind, ihren Sinn gibt.« 48 Hans Jonas rekonstruiert dann lebensphänomenologisch, daß es der Stoffwechsel ist, der dem Organismus eine Vermittlungsfunktion von Dasein und Umwelt vorgegeben habe. 49 Vom Stoffwechsel ausgehend, entfaltet er gegen Descartes und Husserl die Unreduzierbarkeit des »intensiv-extensiven« Lebens: Entweder ist der Leib »als Teil der gesamten erscheinenden Ausgedehntheit nur eine unter den äußeren ›Ideen‹ (cogitationes) des Bewußtseins – dann ist er aber als der Leib dieses Bewußtseins, als mein Leib, als mein ausgedehntes Ich und mein Anteil am Ausgedehnten, unverstanden; oder Leben und Innerlichkeit sind wirklich durch ihn erstreckt, er ist wirklich ›ich‹ – dann ist er, obwohl ausgedehnt, nicht eine Idee des Bewußtseins, sondern der äußere Umfang seiner eigenen inneren Räumlichkeit, die selber Raum in der Welt einnimmt – und stellt damit die idealistische Interpretation des Bewußtseins als Gegensatz gegen die ganze Welt der Ausgedehntheit grundsätzlich in Frage.« 50 Hingegen hatte Marx den objektiven Idealismus Hegels vom Kopf auf die Füße stellen wollen, indem er die weltgeschichtliche EntwickM. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 (zit.: Phänomenologie (1966)), S. 381 und 275 (Hervorhebung nicht im Original). 49 H. Jonas, Organismus und Freiheit (1973), S. 31 ff., 79 ff. und 116 ff. u. ö. 50 A. a. O., S. 32 f. 48

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II.3 Descartes

lung in einer »materiellen Basis« der menschlichen Welt lokalisierte, nämlich in der Sphäre der Produktion. Da er ausblendet, daß auch hier – wie in allen Bereichen menschlicher Tätigkeit – Kommunikation und Reflexivität eine tragende Rolle spielen, bezeichnet er die Produktion nicht allein als »materiell« und »gegenständlich«, sondern will sie und die Gesellschaftsgeschichte insgesamt nach dem Vorbild eines Naturwissenschaftlers objektivieren: Er will die gesellschaftliche Entwicklung aus dieser ihrer »Basis« heraus kausal erklären, nämlich »historischmaterialistisch«, und sie sogar nach ihren »ehernen Bewegungsgesetzen« vorhersagen. 51 Das scheitert total: Weil er die, stets ineinander verwobenen Dimensionen der Kommunikation und Reflexion in seinem Begriffsrahmen, dem »Historischen Materialismus«, nicht als elementare Voraussetzungen aller menschlichen Tätigkeiten und Institutionen bzw. Systeme berücksichtigen konnte, vermochte er weder die zeitgenössischen sozialethischen Reformbewegungen, welche den Kapitalismus sozial transformiert und dadurch bewahrt haben, irgend ernstzunehmen, noch konnte er Sinn und Zweck oder gar die Unabweisbarkeit ethischer Diskurse anerkennen. Derlei mußte er als bloße »Ideologie« abtun, als bloße Erscheinungen der Subjektseite, die von vornherein nicht entwicklungsrelevant sind. Der Historische Materialismus überwindet den Dualismus nicht etwa, sondern bezieht auf der anderen, der materiellen Seite des Subjekt-Objekt-Dualismus Position, und zwar auf methodisch objektivistische Weise. Dadurch gerät Marx in Widerspruch zu seinem emanzipatorischen Subjektanspruch. Als historischer Materialist kann Marx auch nicht denken, was er als humanistischer Sozialist bezweckt: Emanzipation der Subjekte und deren Kommunikation in einer »freien Assoziation« der Produzenten. 52 Unvermeidlich verfällt er pragmatischen bzw. performativen Widersprüchen. Der Historische Materialismus ist kein ernsthafter Partner im argumentativen Diskurs. Die Überwindung des neuzeitlichen Dualismus kann nur gelingen, wenn man weder an der Subjektseite noch an der Objektseite sondern konsequent bei dem Vermitteltsein beider ansetzt. Für das Denken des K. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft, Berlin 1859, zit. nach MEW, Bd. 13, S. 14 ff. (Vorwort), 229 ff. und 245 f. Vgl. ders., Das Kapital, Buch I, Hamburg 1867, Vorwort zur ersten Auflage. 52 D. Böhler, Metakritik der Marxschen Ideologiekritik. Prolegomenon zu einer reflektierten Ideologiekritik und ›Theorie-Praxis-Vermittlung‹, Frankfurt a. M. 1971 (zit.: Metakritik (1971)), bes. S. 204–224. 51

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Denkers, mithin für die philosophische Selbstvergewisserung – und darum geht es dem nach-cartesischen Subjektparadigma zu Recht – bedeutet das freilich die Wende zu einer Reflexion auf das, was ein leibhaftes Subjekt jeweils schon vorausgesetzt und anerkannt haben muß, um etwas als etwas verstehen und geltend machen zu können. Ausgangspunkt des Philosophierens wird dann der leibhafte Reflexionsund Kommunikationsteilnehmer: Als leibhafter Teilnehmer an einer (erkenntnisbezogenen, also argumentativen) Kommunikation frage ›ich‹ mich, welche Sinnbedingungen ich jetzt für meine (sei es zweifelnde, sei es positive) Behauptungen als Beiträge zu einem argumentativen Dialog mit Anderen in Anspruch nehmen muß – und darüber hinaus, welche Sinnbedingungen und auch Existenzbedingungen ›wir‹ für Diskurse in Anspruch nehmen müssen. Eine solche reflexiv sinnkritische Fragestellung wird erst nach Kant und nach Husserl möglich: durch eine sprachpragmatische und leibpragmatische Wende der Transzendentalphilosophie, die den methodisch solipsistischen Fehlschluß hinter sich läßt. 53 Merleau-Ponty und Jonas haben hierzu fruchtbare Richtungsstöße gegeben; Karl-Otto Apel hat mit seiner Dialektik der realen Kommunikationsgemeinschaft und der idealen Argumentationsgemeinschaft das begriffliche Plafond für eine solche Wende bereitgestellt, den Ansatz einer »Transzendentalpragmatik«. 54

II.4

Hobbes’ Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege: Zweckrationalistische Vertragstheorie in mechanistischem Rahmen

Descartes verzichtete darauf, einen ethischen Gebrauch von dem neuen Ansatz zu machen. Vielmehr greift er auf die aristotelische Klugheit zurück und beläßt es bei einer vorläufigen Moral (morale par provision). In einer Zeit der alles bedrohenden Glaubenskriege und des Verlustes universaler religiöser wie moralischer Überzeugungen empfiehlt er, sich die lebensnotwendige praktische Orientierung aus der H. Gronke, Das Denken des Anderen (1999). K.-O. Apel, Transf. d. Philos., I (1973), S. 24 ff. und Transf. d. Philos., II (1973), S. 358 ff. Dazu: D. Böhler, »Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik«, in: ders., M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt a. M. 2003 (zit.: Reflexion und Verantwortung (2003)), S. 15–43. Dazu hier: Abschnitt III.4.3. 53 54

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II.4 Hobbes’ Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege

überlieferten und etablierten Sittlichkeit des jeweiligen Landes zu holen 55: Er hält sich sicherheitshalber an die konventionellen Urteilsstufen 3 und 4, wie wir sie im Schema Lawrence Kohlbergs kennenlernen werden. 56 Wo Descartes aufhört, setzt Thomas Hobbes an. Er ist durchdrungen von der Gefahr des brutalsten zu befürchtenden Krieges – Hobbes’ Geburtsjahr 1588 war das Jahr des Angriffs der Spanischen Armada – und geprägt vom Grauen der Wolfsnatur, die sich ebenso im Religionskrieg wie in der Gesinnungsherrschaft über Ungläubige folternd Bahn bricht. Geleitet von diesem Erfahrungs- und Erwartungshorizont muß er das naturrechtliche Credo des Abendlandes verwerfen, welches auf den Aristoteliker Thomas von Aquin zurückgeht: homo est naturaliter socialis. Die in der abendländisch christlichen Tradition zutiefst verwurzelte aristotelische Grundannahme, »daß der Mensch von Natur ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei«, verwirft Hobbes. »Denn wenn die Menschen einander von Natur, d. h. bloß weil sie Menschen sind, liebten, wäre es unerklärlich, weshalb nicht jeder jeden in gleichem Maße liebte, da sie ja alle in gleichem Maße Menschen sind.« 57 Hobbes räumt den traditionellen, zugleich ontologischen und ethischen Naturbegriff zur Seite und wendet den wertneutralen Naturbegriff von Galileis Mechanik auf den Menschen an. Auch die Philosophie versteht er nach dem Vorbild der neuen Naturwissenschaft als »rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe aus den bekannten Wirkungen«. »Vernunft« definiert er als Berechnung, die auf die beiden Operationen »Addition« und »Subtraktion« zurückgeht: »Vernunft ist nichts anderes als Rechnen, d. h. Addieren und Subtrahieren«, wobei auch mit Begriffen gerechnet werde: »mit allgemeinen Namen, auf die man sich zum Kennzeichnen und Anzeigen unserer Gedanken [die also vorsprachlich und ohne Kommunikation möglich sein sollen!] geeinigt hat.« 58 Denken könne man jedoch als solus ipse, jeder einsam für sich. R. Descartes, Discours, Troisième Partie, 2; hg. Gäbe, S. 38 f.; AT: Bd. VI, S. 24. Siehe Abschnitt III.5.2., Abb. 11. 57 Th. Hobbes, De cive 1, 2; deutsch: Vom Menschen, vom Bürger, eingel. u. hg. von G. Gawlick, Hamburg 1959, S. 74 f. 58 Ders., De corpore I, 1,2; deutsch: Vom Körper, hg. von M. Frischeisen-Köhler, Hamburg 21967, S. 6 und: Ders., Leviathan I, 5; deutsch: Leviathan, hg. u. eingel. von I. Fetscher, Darmstadt/Neuwied 1966, S. 32. 55 56

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Die Natur und die Wirklichkeit insgesamt sind für Hobbes nichts als Körper und Bewegung, also die von vermeintlich innerem Sinn und innerer Zielbestimmung entleerte Natur im Sinne von Galileis Mechanik. 59 Auch deren Methode übernimmt er, nämlich den Zweischritt von »Resolution« als Zerlegung des zu Erklärenden in seine Grundelemente und dann »Komposition« als zusammensetzende Konstruktion der Elemente zum Ganzen. So will er den bürgerlichen Zustand, den Staat, als politischen Körper zunächst analysieren und dann neu zusammensetzen. Um jene Grundelemente im ersten – resolutiven – Schritt zu finden, unternimmt er das Gedankenexperiment eines »Zustandes der Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft«. Wie Galilei, der, als er die Gesetze vom freien Fall der Körper konstruierte, zunächst von dem Gedankenexperiment des luftleeren Raumes ausging, so geht Hobbes von der fiktiven Annahme eines politischrechtlich-sittlich leeren Raumes aus: vom Vakuum eines vorbürgerlichen Zustandes. Unter Voraussetzung des rein quantitativen Naturbegriffs der galileischen Physik nennt Hobbes jenes politische Vakuum »Naturzustand« – welch kopernikanische Wende der Philosophie! Dieses Gedankenexperiment soll den Blick für die unverfälschten Ursachen der Bewegungen der menschlichen Körper, also für die Ursachen der menschlichen Handlungen, freigeben. Auf diese Weise findet er zwei Hauptursachen der menschlichen Bewegung: das Begehren bzw. Erstreben von etwas und die Abneigung bzw. die Furcht. Diese beiden Bewegungs- und Handlungsursachen bilden nach Hobbes das menschliche Selbsterhaltungsinteresse. »Jeder verlangt das, was gut, und flieht das, was übel für ihn ist; vor allem flieht er das größte der natürlichen Übel, den Tod; und zwar infolge einer natürlichen Notwendigkeit, nicht geringer als die, durch welche ein Stein zur Erde fällt.« 60 Diese natürlichen Antriebe sind bloß natürlich und daher weder gut noch böse. Aber das Begehren führt zur Lebensbedrohung, weil oftmals viele Menschen »denselben Gegenstand begehren«, woraus sich Kampf und sogar Kampf auf Leben und Tod ergeben kann; und zwar prinzipiell ein Kampf aller gegen alle. Dabei ist selbst der stärkste Mensch leicht verletzlich, weil noch der Schwächste, durch List oder durch Verbindung mit anderen, auch den Stärksten Ders., De corpore I, 1,9; deutsch: hg. Frischeisen-Köhler, S. 13. Ders., De cive 1, 7; deutsch: hg. Gawlick, S. 81. Vgl. Leviathan I, 6; deutsch: hg. Fetscher, S. 39 f.

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– der bei den Tieren für Ordnung sorgen würde – überwältigen und töten kann. Im Grunde sind also die Menschen gleich stark und haben die gleiche Angst vorm Tode. Es besteht daher eine negative Gleichheit der Menschen in der Möglichkeit zu töten und in der Furcht, getötet zu werden. 61 Weil in einem bloßen Naturzustand, also in diesem fiktiven, nur angenommenen rechtlich-politischen Vakuum, mit der absoluten Willkürfreiheit der Individuen auch absolute Unsicherheit und Furcht herrschen würde, lassen sich nach Hobbes folgende »Gebote der rechten Vernunft« hinsichtlich der »möglichst langen Erhaltung des Lebens« ableiten: – daß man den Frieden suche, soweit er zu haben ist; – daß man die Willkürfreiheit als natürliches »Recht aller auf alles« einzuschränken willens sei; – daß man diesen Willen gegenseitig durch Verträge verbindlich mache; – daß man die eingegangenen Verträge halte. 62 Diese Gebote bezeichnet Hobbes auch als »von der Vernunft ermittelte, grundlegende Gesetze der Natur«. Denn sie werden durch das Gedankenexperiment eines bloßen »Naturzustands« (also durch die Hypothese eines politisch-rechtlich-sittlich leeren Raumes) methodisch erzeugt, so daß sie von jedem Denkenden ebenso gefolgert werden müßten und daher intersubjektiv gültig sind. – Das aber können sie nur sein, wenn die Voraussetzungen stimmen, von denen Hobbes ausgeht. Können, so müssen wir uns fragen, seine Annahmen über die natürlichen Eigenschaften bzw. Handlungsantriebe der Menschen – über die von Hobbes gemachten besonderen Erfahrungen hinaus – als verallgemeinerbar gelten oder nicht; sind seine solipsistischen und mechanistischen Annahmen tragfähig? Sind sie vereinbar mit jenen sozialen Voraussetzungen, die Hobbes ebenso gemacht hat wie wir alle, indem wir etwas als etwas denken und es Anderen gegenüber zur Geltung bringen? Hobbes’ Vernunftgebote sind, mit Kant geurteilt, nur »hypothetische Imperative«. Die Vernunft, die sie hervorbringt, entwickelt nicht selbst eine Motivation, die moralisch verpflichten könnte. Weder ist sie im Sinne Kants moralisch »gesetzgebend«, noch begründet sie im Sinne Ders., Leviathan I, 13; deutsch: hg. Fetscher, S. 94 ff. Vgl. ders., De cive 2, 2 bis 3, 1; deutsch: hg. Gawlick, S. 87–98. Vgl. Leviathan I, 14; deutsch: hg. Fetscher, S. 99 f.

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einer Diskursreflexion letzte Maßstäbe dafür, was es heißt, »vernünftig« und »praktisch vernünftig« zu sein. Vielmehr geht Hobbes von dem vermeintlich »natürlichen« Faktum des Selbsterhaltungsinteresses aus und verbindet es mit dem Kalkül der wertfreien Rationalität. Der Mensch, der als Lebewesen im Willen zum Leben seinen obersten Zweck schon mitbringt, muß lediglich die geeigneten Mittel zu dessen Realisierung suchen. Im Sinne eines Kalküls der »Zweckrationalität« (so Max Weber – eigentlich spräche man besser von »Mittelrationalität«) entwickelt Hobbes das Gedankenexperiment eines Staatsvertrags, den die Menschen aus natürlichem Selbsterhaltungsinteresse eingehen würden. Und zwar ist es nicht – darin liegt ein wesentlicher, heute gern eingeebneter, Unterschied zur Ethik Kants – der moralisch gesetzgebende Wille des Menschen als eines Vernunftwesens, sondern der empirische Lebenswille des Menschen, der als Basis des Sozialvertrags angesetzt wird und nach Hobbes zu einem friedlichen Zusammenleben führt. Es handelt sich also beim Willen zur Selbsterhaltung (als Grundlage eines vernünftig geordneten Zusammenlebens) nicht um eine moralische Basis, so daß wir als Argumentierende unwiderlegbare Gründe für das Eingehen und Einhalten eines Sozialvertrags (etwa eines Staatsvertrags) geltend machen könnten. Vielmehr handelt es sich um eine natürlich wirkende Ursächlichkeit im Sinne unausweichlicher Naturgesetzlichkeit, die von einer empirischen Wissenschaft der menschlichen Natur und ihrer Gesetze festgestellt werden soll. Aus der Sicht Immanuel Kants, der die Ethik strikt auf Vernunft gründet, ist eine solche ethische Basis bloß »heteronom«: Hobbes’ Vertragstheorie etabliert eine Fremdbestimmung des vernunftfähigen Willens. Das läuft nach Kant auf eine Entmündigung hinaus, auf eine Beschneidung des menschlichen Vermögens zur moralischen Selbstbestimmung (im Sinne einer freien, diskursiven Orientierung des Verhaltens an der verallgemeinerungsfähigen Gesetzgebung). Statt moralischer Autonomie aufgrund praktischer Vernunft herrscht Fremdbestimmung durch natürliche Ursachen wie »Affekte« und »Neigungen« und daraus abgeleitete Regeln. Die Begründung einer praktischen Vernunft, die von Kant teils beabsichtigt, teils schon entworfen wurde, läßt sich nicht mit einer zugleich naturalistischen und utilitaristischen Vertragstheorie harmonisieren. Genaugenommen ist sie weder mit einer naturalistischen noch mit einer utilitaristischen Politik oder Ethik vereinbar. Vielmehr gibt sie 200 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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gerade den Blick auf die Begründungsverlegenheiten von Hobbes frei. Dies sind zunächst zwei: – Hobbes ersetzt die klassisch naturrechtliche Form des naturalistischen Fehlschlusses durch eine naturwissenschaftlich orientierte Version – er leitet das bürgerliche Sollen nicht mehr aus dem Sein der göttlich geordneten Natur ab, sondern aus dem Sein einer empirischen Naturkausalität in Verbindung mit der (freilich durch natürliche Affekte angestoßenen) moral- und wertfreien Rationalität des Menschen als Kalkül-Vermögen. – Hobbes ist nicht in der Lage, die Frage zu beantworten, warum Menschen auch dann Verträge schließen oder einhalten sollten, wenn das nicht ihrem egoistischen Selbstinteresse dient und daher als zweckrational ›geboten‹ erscheint. Erläutern wir zunächst diesen zweiten Einwand. Um den Vertragsbruch zugunsten des eigenen Vorteils zu verhüten, stattet er die Staatsmacht, die aus dem Staatsvertrag hervorgeht, nicht nur mit allen Vollmachten eines absoluten Souveräns aus, sondern verleiht ihr absolute Autorität und installiert sie als irdischen Gott, als Leviathan. 63 Insofern haben wir hier eine ähnliche Paradoxie wie bei Platon: Einerseits überschreitet Hobbes das bei Descartes noch ungebrochene konventionelle Ethos, indem er die politische Ethik auf die Idee eines Vertrags gründet, den die Bürger selbst zustande bringen würden: Sie klammern die Geltung der bisherigen staatlichen Gesetze und Institutionen, insofern der politischen Konventionen, ein und überlegen im Sinne eines Nutzenkalküls, welche Staatsform ihnen einen bürgerlichen Friedenszustand garantiert, so daß sie ohne Furcht vor dem Nebenmenschen leben können. 64 Andererseits entzieht er eben diesen Bürgern die Möglichkeit eines kritischen Dialogs zur eventuellen Revision der staatlichen Normen. Das bedeutet: Er versucht die kritische Spannung zwischen dem etablierten Ethos und der Vernunftethik, zwischen der jeweiligen realen Staatsgemeinschaft und der idealen Argumentationsgemeinschaft aufzuheben. Wie bei Platon kommt auch dieser Rückfall in die bloß konventionelle Moral der allmächtigen Staatsinstitution, deren Gewalt ungeteilt Ders., Leviathan II, 17; deutsch: hg. Fetscher, S. 134. In seiner Entwicklungslogik der moralischen Urteilsbildung würdigte Lawrence Kohlberg ein solches Gedankenexperiment als »postkonventionelles« Urteilsniveau, als Prinzip des Sozialvertrags: Stufe 5 der sechs Urteilsstufen. Dazu hier: Abschnitt III.5.2.

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beim Souverän liegt 65, nicht ohne Anknüpfung an eine un-eschatologische Theologie aus. Knüpfte Platon an die zukunftslose, auf das ewige Kreisen der Gestirne als göttliche Erscheinungen bezogene Kosmotheologie an, so vertritt Hobbes eine, der eschatologischen Spannung zwischen irdischem Staat und Reich Gottes beraubte, Theologie der absoluten Willkürmacht Gottes. Wie die absolute Verbindlichkeit eines göttlichen Befehls auf der unwiderstehlichen Willkürmacht Gottes beruhe, so auch die Verbindlichkeit staatlicher Grundsätze auf der ungeteilten und unkritisierbaren Macht eines absolutistischen Souveräns. Allein der Souverän sei – auf Erden – der Herr über Leben und Tod, weshalb auch die Todesstrafe ein unverzichtbares Attribut der Staatsmacht darstelle. (Ein Gedanke, der auch in die französische Staatsverfassung eingegangen ist. Bis zu den Zeiten Präsident Mitterrands gab es in Frankreich die Todesstrafe, dieses Mittel der Abschreckung durch Furcht vor einem gewaltsamen Tode. In solcher Todesfurcht sah Hobbes die wirksamste Ursache für die Bewegung der menschlichen und politischen Körper.) Allein der über Leben und Tod gebietende Souverän könne auf Erden ein Friedensreich verbürgen. Diese staatliche Friedensordnung setzt Hobbes tendenziell sogar mit dem Reich Gottes auf Erden gleich. 66 Eben dadurch bringt er die normativ kritische Distanz zwischen positiver Rechtsordnung und idealer moralischer Ordnung, zwischen Legalität und Moralität, zum Verschwinden und nimmt der christlich-augustinischen Idee des Reichs Gottes ihre kritische Funktion. Hobbes verwirft das ihm gefährlich scheinende Erbe der Augustinischen Lehre von den zwei Reichen. In dieser Lehre hatte Augustinus in gewisser Weise die Reich-Gottes-Hoffnung aus dem revolutionären Geist des frühen Christentums und der jüdischen Apokalyptik gerettet, geschichtstheologisch entfaltet und dadurch dem Abendland einen utopieträchtigen Unruheherd und eine kritisch-moralische Gegeninstanz zur jeweiligen realen politisch-sittlichen Ordnung vermacht. 67 Über die Diesseitigkeit des autoritär absolutistischen Friedenssicherungsstaates hinaus will Hobbes nichts gelten lassen. Dies sei das Höchste, wonach der Bürger streben dürfte und von woher er diese gewaltige Hobbes verurteilt ausdrücklich jede Teilung der Staatsgewalt: Leviathan II, 17; deutsch: hg. Fetscher, S. 134 f. 66 Kritisch dazu: D. Braun, Der sterbliche Gott oder Leviathan gegen Behemoth, Zürich 1963. 67 Augustinus, De civtate Dei libri XXII, Stuttgart 1928/29; deutsch: Vom Gottesstaat, 2 Bde., übertragen von W. Thimme. München 1977. 65

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II.4 Hobbes’ Antwort auf die konfessionellen Bürgerkriege

Staatsmacht, diesen sterblichen Gott, wie er sagt, überhaupt kritisieren könnte. Weder kritische Dialoge über die Legitimität der Staatsordnung oder einzelner ihrer Teile, noch Fernziele und fernhinzielende Wunschvorstellungen politisch-sozialer Utopien, weder kritische Moralansprüche noch utopische Glücksperspektiven darf es in Hobbes’ Staat geben, weil sie den politischen Frieden bedrohen könnten. Die Hobbessche politische Liquidierung von Diskurs und Utopie wirkt deutlich nach bei Arnold Gehlen 68, Helmut Schelsky, Hermann Lübbe und anderen, die in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine politische »Tendenzwende« gegen den, von Willy Brandt und Gustav Heinemann formulierten 69, Anspruch der späten sechziger Jahre auf »mehr Demokratie« proklamiert hatten. 70 Die politische Aktualität von Hobbes geht aber noch tiefer. Denn er verkörpert gleichsam – und damit kommen wir zu unserem zweiten Einwand – das moralphilosophische Begründungsdefizit des im Westen vorherrschenden wertfreiliberalen Staatsverständnisses. Dieses bestreitet die Möglichkeit rationaler Begründung ethischer Normen, also die Möglichkeit ethischer Vernunft, und will es bei der faktischen Anerkennung einer Rechtsordnung durch die Bürger sowie bei einer »Legitimation durch Verfahren« bewenden lassen. 71 Wenn aber, so betont Apel, »eine Begründung intersubjektiver Gültigkeit ethischer Normen tatsächlich unmöglich ist, dann besteht keinerlei Verpflichtung dazu, freie Übereinkünfte einzugehen oder sie einzuhalten. Beides – und damit das gesamte Ethos liberaler Demokratie – reduziert sich dann auf zweckrationale Klugheitsveranstaltungen der Interessenten, wie sie prinzipiell auch in einer Gemeinschaft von Gangstern denkbar sind; und die Verbindlichkeit oder normative Geltung der Übereinkünfte und der auf sie gegründeten Gesetze läßt sich dann, strenggenommen, auf ihre faktische Effektivität angesichts einer Zu Gehlen vgl. die Beiträge von J. Habermas und D. Böhler in: K.-O. Apel u. a. (Hg.), Funkkolleg Reader (1980), Bd. 1, S. 32 ff. und 46 ff. 69 Vgl. W. Brandt, Über den Tag hinaus. Eine Zwischenbilanz, Hamburg 1974, S. 261– 273; G. Heinemann, Präsidiale Reden, Frankfurt a. M. 1975, S. 25–32, bes. S. 31 f. Vgl. Heinemanns Rede zum 25jährigen Bestand des Grundgesetzes, a. a. O., S. 177–189, bes. S. 180 f. 70 Vgl. H. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975 und ders., Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979. 71 Vgl. N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969. 68

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weiterbestehenden Interessenkonstellation zurückführen. Das heißt, jeder ist genau dann und [nur] insofern ›verpflichtet‹, Übereinkünfte einzugehen bzw. sie einzuhalten, wenn bzw. sofern er sich davon Vorteile verspricht bzw. wenn oder sofern er für den Fall eines anderen Verhaltens Nachteile befürchten muß.« 72 Hatte schon Machiavelli das Sozialverhalten der Menschen aus Trieben und Affekten wie aus Naturgesetzlichkeiten erklären wollen, so erklärt Hobbes auch den Schritt der Menschen zum Staatsvertrag – und noch die Einhaltung des Staatsvertrags sowie der bürgerlichen Ordnung – aus dem Interessenkalkül in Verbindung mit einer natürlichen Anlage des Menschen, dem Selbsterhaltungsinteresse, und mit einem natürlichen Affekt, der Furcht. 73 Es sind also Naturgegebenheiten, letztlich die Furcht vor einem gewaltsamen Tode im rechtlosen »Naturzustand« eines egoistischen Kampfes aller gegen alle, die Hobbes als Beweggrund für den Abschluß eines Staatsvertrags angibt. So geht er zwar nicht mehr von einer unmittelbar verstehbaren teleologischen Naturordnung aus, aber von einer theoretisch erklärbaren, empirischen Naturkausalität und verbindet diese mit dem Kalkül einer instrumentellen Ratio, einer, wie Horkheimer sie nannte, »instrumentellen Vernunft«. Wiewohl Hobbes – der als Bewunderer Galileis dessen Mechanik auf die Gesellschaft zu übertragen suchte – an der Ablösung des metaphysischen durch den wissenschaftlichen Naturbegriff vollen Anteil hat, überwindet er die klassisch-ethische Argumentationsweise nicht, die das moralische Sollen aus dem natürlichen Sein ableitet. 74 Das aber heißt, er beruft sich auf eine außerargumentative Instanz, also auf einen Standpunkt, den er als Diskurspartner, der nur prüfbare Argumente sucht und nur solche vorbringen darf, nicht einholen kann. Er verläßt damit den Diskurs der Argumentationspartner und springt aus der Autonomie des Argumentationspartners in eine Heteronomie, eine Perspektive der Fremdbestimmung. Erst ein Jahrhundert später zieht der schottische Philosoph David Hume aus dieser Ablösung des metaphysischen Naturbegriffs die moK.-O. Apel, »Die Konflikte unserer Zeit und das Erfordernis einer ethisch-philosophischen Grundorientierung«, in: ders., D. Böhler u. a. (Hg.), Funkkolleg Reader (1980), Bd. 1, S. 280 f. 73 Th. Hobbes, Leviathan I, 13; II, 17; deutsch: hg. Fetscher, S. 96 ff. und 131; De cive, Vorwort, 1, 13; 5, 12 und 6, 4; deutsch: hg. Gawlick, S. 68 ff., 84, 129 ff. und 133. 74 Vgl. C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, übers. von A. Wittekind, Frankfurt a. M. 1973, S. 87, 91 ff. 72

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II.5 Kants Suche nach Verbindlichkeit

ralphilosophische Konsequenz, daß aus dem Sein (der Natur) kein Sollen (des sozial Handelnden) abgeleitet werden kann, daß also Normen nicht aus Fakten begründet werden können. Genauer gesagt: Auch Hume legt diese Konsequenz nur nahe. 75 Aber sie ist gleichsam fällig: Der deutsche Philosoph Christian August Crusius, der selbst noch in der, durchaus aristotelisch geprägten, Tradition des Naturrechts der Aufklärung steht, aber schon Grundgedanken der Kantischen Ethik vorwegnimmt, setzt das Sein der quantitativen Natur, als Objekt der Physik, vom Sollen der moralischen Gesetzgebung als Thema der Ethik in aller Schärfe ab: »Die physikalische Wirklichkeit ist, nach welcher etwas ist, die moralische, nach welcher es sein soll.« 76

II.5

Kants Suche nach Verbindlichkeit in den Grenzen einer Zwei-Welten-Metaphysik und deren Gesinnungsethik

Immanuel Kant, 1724 in Königsberg geboren, dort ein neugieriger und allseitig informierter Zeitgenosse, ein gastfreundlicher Weltbürger und mit zunehmendem Alter ein Revolutionär der Philosophie, hart arbeitend und 1804 daselbst gestorben, wurde seinerzeit der philosophische »Alleszermalmer« genannt. In der Tat revolutioniert er die theoretische wie auch die praktische Philosophie, indem er beide auf kritische Vernunft zurückführt und nichts als diese gelten lassen will. Spät reifend, mit vielen Schriften aus seiner vorkritischen Arbeitsphase und spät zum Professor berufen, wird er sich immer klarer, auch immer entschiedener autonom und republikanisch – der größte Denker nach Platon und Aristoteles, der wahrhaftigste nach Sokrates! Bereits in der »Vorrede« seiner Grundlegung der Ethik bringt er wie selbstverständlich das Wahrhaftigkeitsgebot als Paradigma »sittlicher Gesetze« ins Spiel. 77 Den »Ersten Abschnitt« dieser Schrift, welcher die praktischen, sittlichen Grundlagen der »gemeinen Menschenvernunft« begrifflich rekonstruiert, eröffnet Kant, wie Jonas sagt, mit einem »Donnerwort« 78, welches

D. Hume, Traktat über die menschliche Natur (1973), Buch III (über Moral), Erster Teil, 1. Abschnitt, S. 211 f., vgl. 204 ff. Dazu L. W. Beck, »Hume« (1974), S. 219 ff. 76 C. A. Crusius, Anweisung vernünftig zu leben, Leipzig 1744, S. 204. 77 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 389, 2. Abs. 78 H. Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2003, S. 69; ders., Erkenntnis und Verantwortung, hg. von I. Hermann, Göttingen 1991, S. 28. 75

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das Attribut »gut« einzig für den guten Willen reklamiert 79, den er dann als den wahrhaften Willen bestimmt. Denn ein guter Wille müsse praktische Vernunft sein, nämlich das Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der »Neigung« oder dem Interesse »als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.« 80 Infolgedessen könne ein guter Wille z. B. kein lügenhaftes Versprechen wollen. Denn als Vernunftvermögen orientiere er sich von vornherein, ganz gleich, ob das jeweilige Willenssubjekt gebildet oder unwissend ist, an dem, was sich verallgemeinern läßt. Auch der unwissende und philosophisch nicht gebildete Wille, also jedermann, könne sich jederzeit das praktische Vernunftprinzip vor Augen stellen, indem er sich sage: »Ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.« 81 In diesem Sinne frage sich die gemeine Menschenvernunft: »Würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen tun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie es übereilter Weise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse.« 82 Eine umfassende Philosophie der Vernunft hat Kant nicht hinterlassen, doch sagt er in einem Aufsatz, mit dem er den Atheismusstreit um den verstorbenen Lessing schlichten wollte, worin er die Einheit der Vernunft erblickte: in jenem Selbstdenken, das sich stets um das Verallgemeinerbare bemüht. Warum? Weil Vernunft auf das begründete Allgemeine ziele. Dank dieser Tendenz enthalte schon die gemeine Menschenvernunft die Maxime der Aufklärung. Dementsprechend for79 80 81 82

I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 393. A. a. O., S. 412. A. a. O., S. 402. A. a. O., S. 403 f.

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muliert er in der abschließenden Fußnote seines Aufsatzes »Was heißt: sich im Denken orientieren?« von 1786: »Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben soviel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen; da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnisvermögens ist […] Sich seiner eigenen Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen?« 83 Wenngleich die Bestimmung der Vernunft durch eine Maxime der Aufklärung sich eher auf den praktischen als den theoretischen Vernunftgebrauch bezieht, so daß die Einheit der Vernunft unterbelichtet bleibt, verweist sie auf die gemeinsame Basis des Vernunftgebrauchs: auf das begriffene Allgemeine. Dieses aber bestehe in zwei verschiedenen Formen der Erkenntnis a priori. Am Schluß der »transzendentalen Elementarlehre« der »Kritik der reinen Vernunft« begnügt sich Kant mit folgender Bestimmung: Das begriffene Allgemeine trete in zwei Erkenntnisweisen und dementsprechend in zwei Formen des Vernunftbegriffs auseinander, in die theoretische und die praktische Vernunft. »Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntnis durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was dasein soll. Diesemnach ist der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige, durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle.« 84 Dort, wo er den kritischen Charakter der Vernunft herausarbeitet und ihn (in der das Hauptwerk beschließenden »transzendentalen Methodenlehre«) abhebt von der dogmatischen Methode, wie sie bisher geherrscht habe – offenbar im spekulativen Paradigma der Ontologie –, nimmt er auch eine interne Ethik und Politik der Vernunft an. Denn das Verfahren der Vernunft fordere von den Vernunftsubjekten ein sokraI. Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: ders., Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, hg. von H. D. Brandt, Hamburg 1999, S. 60 f. 84 Ders., KrV, A 633 / B 661. 83

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tisches Ethos, die Bereitschaft zu Kritik und Selbstkritik. Von dieser subjektiven Bedingung unterscheidet Kant eine politische und rechtliche Existenzbedingung der Vernunft: Keine Existenz der Vernunft ohne persönliche Freiheit und ohne freie Öffentlichkeit, also ohne den Rechtszustand und Friedenszustand einer Republik, in der Meinungsfreiheit und Publikationsfreiheit herrschen: »Die Vernunft muß sich in allen ihren Untersuchungen der Kritik unterwerfen, und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch tun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachteiligen Verdacht auf sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, daß [es] sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht sogar die Existenz der Vernunft, die kein diktatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger [sucht], deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten muß äußern können.« 85 Welchen Stellenwert und welchen Verpflichtungssinn hat diese Überlegung und hat ihr Resultat? Wenn wir diese Frage stellen, könnten wir zu zwei ganz unterschiedlichen Antworten kommen: je nachdem, ob wir die Geltung dieses Denkmediums und Vermögens der Vernunft gänzlich auf die beliebige subjektive Entscheidung zurückführen, sich seiner zu bedienen oder nicht zu bedienen (I), oder ob wir die Vernunft und den Gebrauch der Vernunft als eine logisch notwendige Voraussetzung dafür ansehen, überhaupt eine These oder einen Anspruch als Argumentationsbeitrag geltend machen zu können (II). Denn davon hängt es ab, wie wir das »Müssen« verstehen, nämlich im Sinn eines »hypothetischen« oder eines »kategorischen Imperativs«, wonach Kant den Gebrauch von »Müssen« unterscheidet. Handelt es sich hier um die Konsequenz einer beliebigen Entscheidung oder aber einer Entscheidung, für die allgemeingültige Gründe sprechen? (I) Im ersten Fall sähe man die Sache der Vernunft als ein rein empirisches und kontingentes Phänomen an: als etwas, das allein durch die Entscheidung eines Menschen in die Welt treten könne. N.N. würde nach Gutdünken Vernunft entweder erzeugen oder verhindern. Keineswegs wäre Vernunft etwas Ursprüngliches, von dem auch N.N. immer schon in gewisser Weise zehrte und das zu den 85

A. a. O., A 738 f. / B 766 f.

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Grundlagen seiner Existenz zählte. In diesem Falle – vorausgesetzt, er ist möglich – blieben wir als Subjekte, die den Anspruch auf Verständlichkeit und intersubjektive Geltungsfähigkeit (Wahrheit, Richtigkeit) haben, als Intersubjekte sozusagen, unberührt davon, ob wir uns für oder gegen die Anwendung von Vernunft entschieden. Dann hätte die Wahl selbst, die Entscheidung, überhaupt nichts mit Rationalität zu tun. Sie wäre eine bloße Wahl, eine beliebige und zufällige Entscheidung, die man so oder auch anders treffen mag: als würfele man. Der Entscheidungsakt wäre arational, ja willkürlich. – Nun weiß man aber, daß die Wahl Konsequenzen hat. Man weiß, daß »Vernunft« etwas bedeutet. So wie man sich auf die Grammatik von Sprachspielen versteht, so hat man auch ein Vorverständnis von vernünftigem Verhalten. Also weiß man, daß die Entscheidung zur Vernunft die Bemühung um ein konsistentes, kritisches bzw. selbstkritisches und auf argumentativen Konsens gerichtetes Verfahren bedeutet. (II) Im anderen Fall, wenn man annimmt, daß es allgemeingültige Gründe für die Wahl des Mediums Vernunft gibt, weil es zu den Grundlagen sowohl des eigenen Selbstverhältnisses als auch des Verhältnisses zu Anderen gehört, erscheint die erste Deutung ganz abwegig – als Selbstwiderspruch. Den Vertretern der dezisionistischen Deutung (I) würde man entgegenhalten: ›Ihr bringt euch in Widerspruch zu euch selbst als Wesen, die ein konsistentes und prüfbares, also vernünftiges Verhältnis zu Anderen wie auch zu sich selbst, ein Verhältnis der Vernunft also, einnehmen können und die ohne diese Vernunftfähigkeit gar nicht als Selbst noch als Intersubjekt existieren würden.‹ Wenn man die Deutung II vertritt, nimmt man eine zugleich erkenntnislogische und sozialontologische Position ein. Dann hält man es nämlich mit dem transzendentalpragmatischen Grundsatz: Die Bedingungen der Möglichkeit eines Sich-zur-Welt- und -zusich-selbst-Verhaltens (mithin des Verstehens, Erfahrens und Erkennens von etwas als etwas von bestimmter Bedeutung) sind zugleich Existenzbedingungen je ›meiner selbst‹ und ›meiner Mitwelt‹. 86 Vgl. die Begründung dieses transzendentalpragmatischen Grundsatzes mit Bezug auf Kant: D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), bes. S. 299 ff., 380 ff.

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Die Begründung dieses Grundsatzes und also der Deutung II ist reflexiv sinnkritischer Art: Durch Besinnung auf das, was wir voraussetzen, wenn wir überhaupt etwas als etwas tun, verstehen und geltend machen, läßt sich zur Evidenz erheben, daß wir mit der Deutung I unsere basalen Ansprüche, wir selbst zu sein (Identität) und uns mit Anderen verständigen zu können (Intersubjektivität), kassieren und unsere Vernunftpotentialität außer Kraft setzen würden. Denn an dieser Potentialität a priori hängt das, offenbar schon von Sokrates vorausgesetzte, Spannungsverhältnis von »Ich I« und »Ich II«. Als virtuellem Diskurspartner (»Ich II«) geht es uns ja darum, weder sich selbst zu belügen, noch auf Erkenntnis zu verzichten und blind, ohne Kontroll- und Kritikmöglichkeit, in der Welt herumzutappen. Und ohne das »Ich II« eines Partners in der Vernunftgemeinschaft sein zu wollen und zu sein, bräche vermutlich auch unser »Ich I« à la longue zusammen, weil wir nicht mehr zu uns selbst aufrichtig und wahrheitsfähig Stellung nehmen könnten. Im ersten Fall (I) interpretiert man Kant so, als ginge es bei dem eigenen Verhältnis zur Vernunft bloß um hypothetische Imperative, um Ratschläge der Klugheit, also zweckrationale Direktiven der Art: ›Wenn du (kontingenterweise, aus reiner Willkür) »Vernunft« als deinen Oberzweck gewählt hast, dann mußt du freilich (1) bereit sein zur Kritik, Selbstkritik und Konsenssuche, und (2) mußt dann auch für freiheitliche Rechtsverhältnisse Sorge tragen! Andernfalls wärest du dumm und im Lichte des Gegenstandes deiner Entscheidung formallogisch widersprüchlich, weil du A (mit deiner Entscheidung), zugleich aber NonA tätest (nämlich mit deiner Unterlassung).‹ – Das entspräche einer dezisionistischen und liberalistischen Anknüpfung an Kant, wie sie etwa vom Kritischen Rationalismus vertreten wird. Im anderen Fall (II) liest man Kant hier im Hinblick auf kategorische Imperative: ›Du sollst unbedingt deine Thesen und Handlungsorientierungen (1) der Kritik unterwerfen, und du sollst unbedingt (2) für freiheitliche Rechtsverhältnisse Sorge tragen!‹ Wer so interpretiert, der steht vor dem Begründungsdesiderat der Letztverbindlichkeit dieses Imperativs der freien kritisch öffentlichen Vernunft. Er müßte also, sei es aus Kants Texten, sei es aus eigener Kraft demonstrieren können: Die Wahl der kritischen Vernunft ist nicht irrational oder willkürlich, für sie sprechen vielmehr unwiderlegliche Gründe. D. h. sie ist eine argumentativ unhintergehbare Wahl, 210 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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weil einzig diese Entscheidung in einem argumentativen Dialog mit guten Gründen verteidigt werden kann, so daß alle Vernunftsubjekte sie als richtig und zustimmungswürdig auszeichnen, mithin ihre praktischen Implikationen auch als moralisch verbindliche Orientierungen anerkennen müßten. Kant löst das Begründungsproblem der Vernunft nicht. Eine transzendentale Deduktion der praktischen und in ihrem moralischen Verpflichtungssinn einsehbar verbindlichen Vernunft hält er jedenfalls seit 1787 für ebenso unmöglich wie unnötig: In der »Kritik der praktischen Vernunft« zieht er den Anspruch, das Moralprinzip und damit den kategorischen Imperativ als allgemeingültig erweisen zu können, endgültig zurück. In der Tat fügt sich ein solches Unternehmen nicht in jenen transzendentalphilosophischen Rahmen, den er in der »Kritik der reinen Vernunft« entwickelt hatte. Denn dieser schließt einen Dualismus von Subjekt und Objekt ein. Dementsprechend bestimmt Kant die Begründungsaufgabe der Transzendentalphilosophie lediglich als Deduktion der (a priori vom Erkenntnissubjekt mitgebrachten und an die Naturphänomene als Objekt herangetragenen) »Bedingungen der Möglichkeit« einer kausalgesetzlichen Erfahrung. Eine transzendentale Deduktion sieht er daher nur für die Erkenntnisbedingungen von »Natur überhaupt als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit« 87 als möglich an. Nun fällt aber die Vernunft des Subjekts selber nicht unter diejenigen Erkenntnisbedingungen, die Kant in seinem dualistischen Rahmen transzendental deduzieren kann, indem er sie als notwendige Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Erfahrungserkenntnis aufweist. Denn zur Vernunft des Subjekts gehört die Freiheit des Urteils. Und diese beansprucht Kant, wie wir gerade gesehen haben, nicht allein subjektiv sondern auch politisch und rechtlich in Form der Meinungs- und Publikationsfreiheit. Aber in seinem Erkenntnisbegriff, in seiner eigentlichen Transzendentalphilosophie, hat er für das Phänomen der Freiheit keinen Platz. Denn diese verengt er zu einer Rekonstruktion der internen Bedingungen »objektiver Erfahrung«; und darunter versteht er die Bedingungen der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Kausalerkenntnis. Die eigentliche Erfahrungserkenntnis hat es nach Kant ausschließlich mit den objektivierbaren Erscheinungen, d. h. mit der kausal erklär87

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baren Natur zu tun. So definiert er: »Natur ist das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.« 88 Nicht die Freiheit eines Erkenntnissubjekts, sei es die des empirisch-theoretische Wahrheit suchenden Naturwissenschaftlers, sei es die eines nach moralischer Richtigkeit fragenden Ethikers, noch die Freiheit eines lebensweltlichen Akteurs bzw. eines Vertreters einer Institution, dem ein »natürlicher gesunder Verstand beiwohnt« 89, kann sich irgendwie in der Welt der »Erscheinungen« zeigen, die der Naturwissenschaftstheoretiker Kant (mit seinem System der Kategorien bzw. »reinen Verstandesbegriffe«) erfaßt. So etwas wie Freiheit kann in seinem Subjekt-Objekt-Rahmen nicht erscheinen. Kant muß sie und desgleichen die daran hängende Urteilsautonomie als metaphysisches Bestandsstück der Subjektseite einfach setzen; er kann sie nicht als Phänomen rekonstruieren und begreifen. Ebensowenig läßt sich in dem Subjekt-Objekt-Rahmen Freiheit als Kategorie von Erfahrungswissenschaften der geschichtlichen Handlungswelt einführen, wenngleich es die Geschichtswissenschaft, die Politik, die Jurisprudenz wie auch die, erst nach Hegel aufkommende, Soziologie beispielsweise mit Freiheitskämpfen zu tun hat und mit Freiheitsansprüchen, die zum »Kampf um Anerkennung« zwischen Knecht und Herr führen. Kants Subjekt-Objekt-Dualismus ist für den Begriff und das Phänomen der Freiheit tödlich. Kant verwickelt sich in eine, mit den Denkmitteln seines Systems, nicht auflösbare Freiheitsaporie. Einmal versperrt der metaphysische Dualismus von Subjekt versus Objekt, Sphäre des Dings an sich mit freiem Vernunftreich der Zwecke versus Welt der kausal determinierten Naturerscheinungen, Kant die Möglichkeit, eine Transzendentalphilosophie der Handlungswelt mit Kommunikationsverhältnissen zwischen den ›Subjekten‹ zu entwickeln. Ohne einen solchen begrifflichen Rahmen lassen sich nämlich Handlungen überhaupt nicht denken. Der Handlungsbegriff löst sich logisch auf, wie ich früher gezeigt habe. 90 Zudem kann der dualistische Transzendentalphilosoph weder einholen, was er selbst tut, nämlich kommunikativ als Kosubjekt bzw. Argumentationspartner zu handeln; noch kann er begreifen, was er dabei selber aktuell in Anspruch nimmt und Ders., Prolegomena, § 14, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 294. Ders., GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 397. 90 Ausgeführt in: D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 256 ff. und 296–306, vgl. S. 23 f. und 55–64. 88 89

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was er auch für sein Thema, die Moralbegründung, logisch voraussetzt: die Möglichkeit einer Einsicht in das sittliche Sollen und damit eines Engagements aufgrund von Freiheit. Das aber ist die Möglichkeit praktischer Vernunft, die Kant aufweisen will. Von Rousseau zur Würdigung des gemeinen Mannes gebracht 91, setzt Kant seine »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« in der Sache egalitär und in der Methode rekonstruktiv an. Er behauptet, daß es faktisch eine allgemeine Tendenz zur praktischen Vernunft gibt: Den Common sense kann er als »die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis« würdigen, weil dessen intuitives Wissen das Verallgemeinerungsprinzip und die Anerkennung seiner Verbindlichkeit einschließe. Denn unabhängig von der Philosophie, ohne die mindeste Kenntnis von ihr, könne jedermann die »Achtung fürs Gesetz«, also für das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit, empfinden; ja er habe diese Achtung als »das formale Prinzip« seines Wollens. Die »gemeine Menschenvernunft« wisse, wie oben dargestellt, immer schon, daß sie ihren Willen mit einer allgemeinen Gesetzgebung vereinbaren können müsse. 92 Sicher ist es der Vorblick auf dieses Verallgemeinerungskriterium, der es Kant erlaubt, den »Ersten Abschnitt« der Grundlegungsschrift mit einer vernunft- und (im besten Sinne) gesinnungsethischen Ortsbestimmung des Guten zu eröffnen: »Es ist überall nichts in der Welt […], was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« 93 Ein guter Wille ist derjenige, welcher die eigene Handlungstendenz, der er gerne folgen möchte, stets dem Verallgemeinerbaren unterwirft. Wie? Eben indem er die jeweilige Eigenmaxime der Verallgemeinerbarkeitsprobe unterzieht und ausschließlich verallgemeinerbaren Maximen folgt. Doch es bleibt die Frage, warum wir eigentlich einen solchen guten Willen aufbringen sollten, warum es nicht auch einen (vernünftigen) Partikularwillen geben könne bzw. dürfe, nämlich den plausiblen Willen des nach seinem Nutzen strebenden Zweckrationalisten. Die Frage, warum der Vernünftige als solcher unbedingt sich nach dem Maßstab des Verallgemeinerbaren richten solle, warum einzig diese Orientie91 I. Kant, Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, Akad.-Ausg., Bd. XX, S. 44. Dazu: K. Vorländer, Kants Leben, neu hg. von R. Malter, Hamburg 1974, S. 68 f. 92 Vgl. I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 402. 93 A. a. O., S. 393.

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rung vernünftig begründbar sei und daher Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen dürfe, – diese Frage nach einem Verbindlichkeitserweis des kategorischen Imperativs beantwortet Kant auch nach eigenem Bekunden nicht. So räumt er zum Schluß der Grundlegungsschrift ein, die menschliche Vernunft könne »ein unbedingtes praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Notwendigkeit nicht begreiflich machen« 94. Doch könnten wir immerhin »seine Unbegreiflichkeit« begreifen; mehr sei billigerweise nicht zu verlangen. 95 In der »Kritik der praktischen Vernunft« schiebt er das Problem eines Verbindlichkeitserweises fast wie ein Scheinproblem beiseite: Wir haben »das Faktum der reinen praktischen Vernunft« oder das Phänomen des freien guten Willens; daher brauchen wir uns um dessen Legitimation, um einen Verbindlichkeitserweis, nicht zu sorgen. 96 Wirklich nicht? Hier könnten Sie, meine Leserinnen und Leser, zweierlei einwenden. Einmal, und das wäre eine radikale Kritik, können Sie den Verdacht einer Erschleichung des zu Erweisenden, also einer petitio principii, erheben: Die als allgemeinverbindlich zu erweisende Selbstverpflichtung werde schlicht als eine Tatsache (der Vernunft) behauptet. Für die entscheidende Verbindlichkeit – ›Du sollst moralisch sein!‹, ›Du sollst nur solche Maximen befolgen, die du als Mitglied des Reichs der Zwecke wollen kannst‹ u. ä. – werde also gar nicht ein zureichender Grund angegeben, wie es der Ansatz einer Vernunftethik doch verlange. Vielmehr lasse Kant die Frage, warum man sich eigentlich als Mitglied einer idealen moralischen Gemeinschaft verstehen und verhalten solle, unbeantwortet. Ja, er ersetze die Begründung dieses fundamentalen Sollens durch die Beschreibung eines bestimmten Seins. Und das wäre auch schon ein zweiter Einwand: Anstatt daß er seinen normativen Grundsatz, diese Zumutung der Moral, als allgemeingültig erwiese, beschreibe Kant bloß ein Faktum. Dieses zeichne er dann als die gesuchte Norm aus. Das komme freilich einem naturalistischen Fehlschluß gleich. Das wäre aber, wie oben bemerkt, eben jener Begründungsfehler, der auf dem Wege von der metaphysisch teleologischen Seins- und Naturanschauung des ersten Paradigmas hin zu einer Vernunftreflexion des Subjekts als Fehler erkannt worden ist und bei Kant I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 463, vgl. S. 461. A. a. O., S. 463. 96 Ders., Kritik der praktischen Vernunft (zit.: KpV) (1787), S. 55 f.; in: I. Kant, Werke, hg. von W. Weischedel, Wiesbaden 1956 (zit.: Weischedel-Ausg.), Bd. IV, S. 141 f. 94 95

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gar nicht auftreten dürfte. Daher hat eine solche metaethische Kritik – wir verdanken sie Karl Heinz Ilting – besonderes Gewicht. 97 Und sie läßt sich sogar als abschließendes Verdikt über die moralische Verbindlichkeit der Transzendentalphilosophie verstehen: An Kant zeige sich eben, daß eine transzendentalphilosophische Begründung der Ethik scheitern muß … Verhält es sich so? Jedenfalls vermag Kant die Möglichkeiten einer Transzendentalphilosophie nicht auszuschöpfen, weil er diese in einen dualistischen Rahmen zwängt. Da er die Sprache, die damit verwobenen Geltungsansprüche und deren Einlösungspraxis, die argumentative Kommunikation, als Bedingungen der Möglichkeit jeder Erkenntnis (einschließlich der naturwissenschaftlichen) nicht berücksichtigt, vertritt er einen vor-pragmatischen Ansatz. Er bietet keine Transzendentalphilosophie, die auch die Handlungs- und Kommunikationswelt, zu der das Erkenntnissubjekt des Philosophen gehört, auf Begriffe brächte. Wollen wir fair diskutieren und also prüfen, ob überhaupt eine Transzendentalphilosophie die gesuchte Begründungsmöglichkeit bietet, dann müßten wir im Blick auf Kants Lehre vom Faktum der Vernunft die Frage stellen: Könnte denn eine sprachpragmatische Transzendentalphilosophie, die nach den Sinnvoraussetzungen des Handelns, Verstehens und Sich-Entscheidens fragte, demonstrieren, daß in dem sprachlich kommunikativen Verhalten eine Inanspruchnahme von Freiheit verwoben ist mit der Anerkennung einer moralischen Gemeinschaft und ihres Sollens? Dann wäre das Konzept eines »Faktums« der praktischen Vernunft (mit diesem Ausdruck) zwar schief formuliert und überdies mit dem erkenntnismetaphysischen dualistischen Rahmen unangemessen eingeführt. Dennoch wiese es über sich selbst hinaus, nämlich zu einem weder naturalistisch fehlschlüssigen noch gar der petitio principii verhafteten, sondern reflexiv sinnkritischen Weg, das Zugleich von Freiheit und moralischer Verpflichtung aufzuweisen. Eben das werden wir in der Auseinandersetzung mit Hans Jonas’ ontologischem Begründungsversuch des Prinzips Verantwortung zu zeigen versuchen. 98 Vorerst halten wir fest, daß Kant es der Moderne leichtgemacht hat, K.-H. Ilting, »Der naturalistische Fehlschluß bei Kant«, in: M. Riedel (Hg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Freiburg 1972 (zit.: Rehabilitierung (1972)), Bd. 1, S. 113–132. 98 Hier: Abschnitt IV.3. 97

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einen Skeptizismus und Dezisionismus an den Tag zu legen und das Problem einer Letztbegründung des Moralprinzips als obsolet abzufertigen. Nach den Zeiten Fichtes, Hegels und Schellings konnte eine dezisionistisch-liberalistische Auffassung dominieren – und mit ihr die instrumentalistische Voraussetzung: Vernunft bzw. Rationalität sei eben nicht aus sich heraus praktisch verbindlich, sondern bloß eine Art Kalkül, ein Rechnen, eine Zweck- und formelle Rationalität. So hatten wir es schon von Hobbes gehört, der den Rationalitätsbegriff mit einer instrumentalistischen Auffassung von Sprache und Kommunikation verbindet. Vernunft wäre dann nichts als ein kognitives Instrumentarium, für alles und jedes einsetzbar. Das ist die Auffassung des modernen »Mainstreams«. Selbst ein so umsichtiger Sprachanalytiker wie Ernst Tugendhat hat sie, jedenfalls tendenziell, vertreten. 99

II.5.1 Kopernikanische Wende der Ethik: Verallgemeinerbarkeitstest als Weg zur Verbindlichkeit Kants Ethikbegründung ist, wie schon bemerkt, eine Hauptstation auf dem Wege der modernen Ersetzung des metaphysisch teleologischen Naturbegriffs durch einen quantitativen Naturbegriff, der Natur als meßbar und objektivierbar versteht. Metaethisch führt diese Ersetzung zur Lehre vom naturalistischen Fehlschluß, fundamentalphilosophisch gehört sie in den Ablösungsprozeß des ersten philosophischen Paradigmas, Erkenntnis als Betrachtung des Seins, durch das zweite, das subjekt- bzw. bewußtseinsphilosophische oder mentalistische Paradigma: Erkenntnis durch Betrachtung des Erkenntnissubjekts bzw. der Vernunft. Kant fragt nicht mehr unmittelbar nach dem, was ist, und er unterstellt nicht wie Platon, Aristoteles und Thomas, das eigentliche Sein konvergiere mit dem Guten. Vielmehr fragt er rückbezogen erkenntniskritisch nach dem, was die Vernunft erkennen kann, und subjektbezogen danach, was sie als gut bzw. als gesollt und richtig gelten lassen muß. Das ist die Wende von der spekulativen Betrachtung des Guten der Natur zu einer rational nachvollziehbaren Sollenserkenntnis, der Einsicht moralischen Verpflichtetseins. An Hume anknüpfend unterscheidet Kant das, was bloß ist, strikt E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993 (zit.: Vorlesungen über Ethik (1993)): »Das plausible Moralkonzept«, bes. S. 85 ff. und 88 ff.

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von dem, was würdig ist, getan zu werden und was man daher als Vernunftwesen tun soll. Diese Unterscheidung steht am Anfang seiner Lehre von der praktischen Vernunft. Und das zu Recht. Warum zu Recht? Aus drei Gründen: (1) Praktische Vernunft, die ihrem Begriff gerecht wird, muß den Rahmen für eine Handlungsorientierung abgeben, welche die möglichen Akteure autonom einsehen und demzufolge frei anerkennen können. So nämlich, daß die praktische Vernunft, aus der ein guter Wille die jeweilige moralische Maxime bzw. Richtschnur gewinnen kann, diese Urteilsautonomie (modern: die Diskursautonomie) zur ersten Voraussetzung hat: Sie beruht auf »der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt«. 100 In diesem Sinne bestimmt Kant auch den kategorischen Imperativ, der zugleich Geltungskriterium und Grundnorm des Moralischen ist, als »das Prinzip der Autonomie des Willens« 101. Das Prinzip bestehe nämlich darin, »keine Handlung nach einer anderen Maxime zu tun als so, daß es auch mit ihr bestehen könne, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, und also nur so, daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemeingesetzgebend betrachten könne.« 102 (2) Praktische Vernunft muß den Rahmen für begründete Verbindlichkeiten, also für autonom einsehbare Pflichten abgeben und daher den Begriff von Verbindlichkeit im Sinne uneingeschränkter Befolgungsgültigkeit zum metaethischen Bezugsbegriff machen. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel, nämlich von der bis dahin vorherrschenden aristotelischen Ethik der Natur des Menschen und des vermeintlich Natürlichen, Guten und des lebensweltlich für gut Gehaltenen hin zu einer strikt normativen Ethik als »einer reinen Moralphilosophie« 103 oder, was dasselbe ist, im Sinne einer Rekonstruktion der reinen praktischen Vernunft. Damit führt Kant gegen die bis dahin herrschende aristotelische Tradition – nach Aristoteles haben alle Handlungsweisen von Natur ein Gutes zum Ziel – einen neuen Moralbegriff ein, so daß als 100 101 102 103

I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 434. A. a. O., S. 433. A. a. O., S. 434. A. a. O., S. 381.

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moralisch nunmehr allein dasjenige gilt, was »als Grund einer Verbindlichkeit« anerkennungswürdig ist. Diese traditionsstürzende Moraldefinition kann er in der Vorrede der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« als so evident ansehen, daß er sie schlicht im Nebensatz einführt: »Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll […], absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse« 104. In dieser kleinen Bestimmung sagt er gleich das Entscheidende: Als moralisch kann nur das gelten, was den Grund einer Verbindlichkeit mit sich führt. Moralisch ist eine Pflicht, wenn wir einen zureichenden Grund für ihr striktes praktisches Geltensollen angeben können. Und ein solcher Grund gilt logisch uneingeschränkt: strikt universal, ausnahmslos. Eine Vorschrift bzw. ein Gesetz ist dann und nur dann moralisch zu nennen, wenn ihr bzw. sein Verpflichtungsgehalt begründet, und zwar universal einsehbar ist. Das ist die kopernikanische Wende der Ethik. Kant ersetzt das Paradigma der geistigen Schau (theoria) des Seins und dessen Kern, der göttlich wohlgeordneten Natur (Kosmos) mit ihrer inneren Zweckgerichtetheit (Teleologie), durch das Paradigma der Selbsterkenntnis der Vernunft. Kants Begründung soll, logisch gesehen, strikt allgemein, also in ihrer Gültigkeit unbeschränkt sein: Weder duldet sie Ausnahmen hinsichtlich des Adressatenkreises, noch kann sie von besonderen Fakten und Naturbeschaffenheiten abhängig gemacht werden. Sie soll für alle möglichen vernünftigen Wesen als vernunftfähige Wesen gleichermaßen gelten. So lautet die erwähnte Stelle im Zusammenhang: »Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten, und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse 105, sondern A. a. O., S. 389. Hier schließt Kant den naturalistischen Fehlschluß programmatisch aus. Dieses Programm bietet freilich, wie gesehen, nicht die Gewähr, daß nicht doch ein naturalistischer Fehlschluß unterläuft – jedenfalls im scharfen logischen Licht der modernen Metaethik betrachtet. 104 105

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a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet, […] zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann« 106. Mit Kant weiterdenkend läßt sich ein dritter Grund für den Wechsel vom Paradigma der Seinsbetrachtung zur Vernunft- und Verbindlichkeitsreflexion anführen: (3) Einerseits ist jede mögliche Deutung ›des Seins‹ überhaupt – und dies war das Geschäft der Philosophie seit alters – eine spekulative Metaphysik. Die aber läßt sich nicht rational prüfen. Andererseits haben Kausalerklärungen eines natürlichen Zusammenhangs, wie sie die experimentell theoretische Naturwissenschaft leistet, und Situationsinterpretationen der Welt des Menschen nur den Stellenwert einer falliblen Theorie bzw. einer Interpretation, die mehr oder weniger fehlgehen kann. Weder eine gesetzeshypothetische Kausalerklärung noch eine Sinn- und Situationsinterpretation können daher zur Einsicht in Verbindlichkeit führen, zu praktischer Vernunft. Da praktische Vernunft nichts anderes als der Weg zu einsehbarer Allgemeinverbindlichkeit ist, also zu etwas, das absolut soll gelten und orientieren können, revolutioniert Kant die Moralphilosophie. Er löst sie aus der antiken und scholastisch aristotelischen Metaphysik, zudem aus aller Kosmosspekulation, Naturtheorie und Theorie der Menschenwelt heraus. Er fragt nurmehr nach den Bestimmungsgründen unseres Willens, um zu klären, welche davon einsehbar verbindlich sind. 107 Kants Ethik zielt also, ebenso unaristotelisch wie antihobbesianisch, strikt auf das einsehbare sittlich Verbindliche, nicht etwa auf das Zweckdienliche. Argumentiert man nämlich, wie etwa Hobbes, pro Nützlichkeit, dann wäre es nur konsequent zu sagen: Wenn du unbeobachtet bist und durch Verletzung des Vertrags für dich/deine Partei größeren Nutzen ziehen kannst, wäre es irrational, wenn du den Vertrag dann gleichwohl befolgtest. Die Nutzen-Ratio, diese bloße Zweckrationalität, kennt keine sittliche Verbindlichkeit. Da es Kant aber gerade um diese zu tun ist, bestimmt er den Sinn von »moralisch« kriterial, nämlich als Inbegriff einer Handlungsregel, die »als Grund einer Verbindlichkeit« 106 107

I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 389. Ders., KrV, A 29.

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gelten kann. 108 Im Blick auf diese formale bzw. kriteriale Bestimmung des Moralischen sagt Kant, daß sein Ansatz dem Aufklärungszeitalter geradezu als »Paradoxon der Methode« 109 erscheinen müsse, orientierten sich seine Zeitgenossen doch an der materialen Naturethik des Guten des Aristoteles. Demgegenüber erklärt Kant in der »Kritik der Praktischen Vernunft«, »daß nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte) sondern nur […] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.« 110 Warum? Der kriteriologische Ansatz sei entscheidend, weil »nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bestimmung ihrer Maximen vorschreibt, […] a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein« könne. 111 Denn einzig ein formales Gesetz gebe einen allgemein einsehbaren »Probierstein des Guten oder Bösen« ab. Dieser Ansatz »erklärt auf einmal den veranlassenden Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Prinzips der Moral. Denn sie suchten einen Gegenstand des Willens auf, um ihn zur Materie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen, (welches alsdann nicht unmittelbar, sondern vermittelst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust gebrachten Gegenstandes, der Bestimmungsgrund des Willens sein sollte), anstatt daß sie zuerst nach einem Gesetze hätten forschen sollen, das a priori und unmittelbar den Willen, und diesem gemäß allererst den Gegenstand bestimmte. Nun mochten sie diesen Gegenstand der Lust, der den obersten Begriff des Guten abgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkommenheit, im moralischen Gefühle, oder im Willen Gottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Heteronomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Bedingungen zu einem moralischen Gesetze stoßen; weil sie ihren Gegenstand, als unmittelbaren Bestimmungsgrund des Willens, nur nach seinem unmittelbaren Verhalten zum Gefühl, welches allemal empirisch ist, gut oder böse nennen konnten. Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Ge108 109 110 111

Ders., GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 398. Ders., KpV, A 110. Ebd. Ebd.; vgl. auch A 112 ff.

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setzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein. Die Alten verrieten indessen diesen Fehler dadurch unverhohlen, daß sie ihre moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes setzten, welchen sie nachher zum Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten […]« 112 Im »Ersten Abschnitt« der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« rekonstruiert Kant »die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis«, d. h. den ethischen Gemeinsinn. Er führt ihn ohne Umschweife auf den guten Willen als das autonomiefähige Vermögen einer praktischen Vernunft zurück und findet darin das Gewissen, nämlich die moralische Tendenz zur Verallgemeinerbarkeit der jeweiligen Maxime, die ein Wille ergreift. 113 Dieser stehe aber die faktische Neigung zur je eigenen Glückseligkeit entgegen, bei der Aristoteles’ natürliche Teleologie ansetzt. Im Gegenzug zu Aristoteles stellt Kant nun die allgemeine Gewissenstendenz zum Verallgemeinerbarkeitskriterium kriteriologisch, also geltungsmäßig, über die faktischen – vielfach instrumentalisierbaren – Tugenden, von denen Aristoteles’ ›naturgemäße‹ und daher materiale und empiriebezogene Ethik ausgeht. Als normativer Ethiker, der nach einem strikt intersubjektiven bzw. »objektiven« Maßstab für Verbindlichkeit sucht, darf Kant nicht empirisch bzw. naturbezogen fragen, weil er dann lediglich »Umstände« bzw. Phänomene, die partikular, wandelbar und interpretationsfähig sind, zu Gesicht bekäme. Er hat auf der geltungslogischen Ebene der Vernunft nach dem zu fragen, was ein Handelnder und Ureilender a priori in Anspruch nehmen muß, wenn seine Handlungsweise als verbindlich gelten soll. Darum geht es Kant strikt um das, was ein Mensch, insofern er ein vernünftiges Wesen ist, als Handlungsregel selbst wollen kann, so daß er mit sich selbst (als fiktivem Gesetzgeber) in Übereinstimmung bleibt: »Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Deine Handlungen mußt du also zuerst nach ihrem subjektiven Grundsatze betrachten: ob aber dieser Grundsatz auch objektiv gültig sei, kannst du nur daran erkennen, daß, weil deine Vernunft ihn der Probe unterwirft, durch denselben dich zugleich 112 113

A. a. O., A 113. I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 404.

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als allgemein gesetzgebend zu denken, er sich zu einer solchen allgemeinen Gesetzgebung qualifiziere.« 114 Hier haben wir Kants Gedankenexperiment der praktischen Vernunft in reiner Form vor uns. Der kategorische Imperativ gibt die Regel zur Durchführung dieses Gedankenexperiments an. Es besteht in einer »Probe« bzw. einem kritischen Test des Willens. Der Maßstab, anhand dessen geprüft wird, ist die widerspruchsfreie Verallgemeinerbarkeit des von mir Gewollten. Die moralische Testfrage kann lauten: ›Taugt eine Maxime für die moralische Gesetzgebung in der idealen Gemeinschaft aller vernünftigen (logos-fähigen) Wesen, dem »Reich der Zwecke«?‹ Dieses Verfahren gilt Kant als in doppelter Hinsicht praktisch vernünftig: Erstens folgt es einer argumentativ unbestreitbaren, daher schlechthin intersubjektiven – bei Kant freilich »objektiven« – Regel zur Prüfung der Gesinnung, genauer: zur Prüfung »der Maximen«, d. h. der »subjektiven Prinzipien des Wollens« 115, die sich eine Person bewußt setzt oder die sie sich bewußt machen kann, wenn sie sie übernommen hat. Denn allein dann ist das Handeln »willentlich« und mithin moralisch zurechenbar. Zudem soll das Verfahren vernünftige Maximen zur Folge haben, nämlich Handlungsregeln die sich als allgemeine moralische Gesetze (»in der bestimmten Situation S soll jeder nach der Maxime M handeln«) rechtfertigen lassen. Vor wem? Ein wenig expliziert, lautet die Antwort: vor dem unbegrenzten Forum aller vernünftigen Wesen, worin auch ein jeder Mensch seine Stimme hat, insofern er sich selbst der praktischen Verallgemeinerungsregel unterwirft und nicht etwa sein bloßes Eigeninteresse durchzusetzen versucht. Dieses Forum praktischer Vernunft postuliert Kant als ein ideales »Reich der Zwecke« und der Autonomie. Die Autonomie können wir negativ als Unabhängigkeit der Vernunft und des Vernunftsubjektes von argumentationsfremden Instanzen, z. B. Macht, Eigeninteressen, Attraktivität etc. verstehen, positiv als Selbstbestimmung aus verallgemeinerbaren Gründen. Für die Ethikbegründung gewinnt Kant ein neues, eigentlich diskursbezogenes Reflexionsniveau, indem er »den Grund der Verbindlichkeit« sittlicher Gesetze weder in dem Faktum eines Naturzustandes oder einer Naturgeschichte der Menschengattung noch in dem Faktum 114 115

Ders., Die Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., Bd. VI, S. 225. Ders., GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 401, Fußnote; vgl. S. 421, Fußnote.

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einer sozialvertraglichen Übereinkunft von Bürgern sucht, sondern im Gedanken einer idealen Gemeinschaft der Vernunftwesen zur freien Setzung und vernünftigen Prüfung der Zwecke. Mit dieser Idee hat er ein altes theologisch ethisches Motiv moralphilosophisch beerbt, einen zentralen Gedanken der jüdischen und christlichen Eschatologie. Steht er hier doch in der Wirkungsgeschichte der eschatologischen, auf Augustinus’ Begriff der »civitas dei« zurückgehenden, Idee einer »Welt vernünftiger Wesen (mundus intelligibilis) als eines Reichs der Zwecke« 116. Jene ideale Vernunftgemeinschaft definiert Kant als »die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen« allein aufgrund solcher Gesetze 117, die würdig sind, als praktisch gut zu gelten, weil sie in eben dieser Gemeinschaft hinsichtlich universalisierbarer Gründe anerkannt würden. Die Konvergenz einer Willensmaxime mit der Gesetzgebung in der idealen Welt setzt er als Geltungskriterium für das »praktisch Gute« an: »Praktisch gut ist […], was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin […] aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den Willen bestimmt.« 118 Hier wird erstmals formuliert, was ein praktischer Diskurs, diese argumentative Suche nach dem praktisch Vernünftigen und daher Verbindlichen in der Gemeinschaft der Argumentierenden, als Geltungskriterium voraussetzt, was aber von der aristotelischen Tradition als natürliches Gesetz und naturgemäße Zielbestimmung des Menschen interpretiert worden war. Denkt Kant den normativen Gehalt der regulativen Idee einer universalen, reinen Argumentationsgemeinschaft? Nimmt er das Diskursprinzip und die regulative Geltungsidee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft in theologisch metaphysischen Begriffen vorweg?

II.5.2 Folgelasten der Zwei-Welten-Metaphysik: Solipsistische Gesinnungs- statt kommunikativer Handlungsethik Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist schwer zu finden. Einerseits bringt Kant dank jenes metaphysisch theologischen Rückgriffs den un116 117 118

A. a. O., S. 438. A. a. O., S. 433. A. a. O., S. 413.

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verzichtbaren idealen Bezugsrahmen einer normativen Ethik in die Philosophie: die unverrückbar kontrafaktische Beurteilungsinstanz aller faktischen Antriebe und Orientierungen in Gestalt einer reinen Vernunftgemeinschaft zur freien Zwecksetzung und Zweckprüfung. Doch kann er mit der dualistischen Hintergrundmetaphysik dieses Rückgriffs das verständlich machen und einholen, worauf es ihm letztlich ankommt? Die dualistische Metaphysik gehört zur Architektur schon seiner Erkenntnistheorie, baut die »Kritik der reinen Vernunft« doch auf einer Theorie zweier Welten auf: hier die Objektwelt, die unfreie, naturgesetzlich determinierte reale Welt der Erscheinungen samt den Bedürfnissen und Neigungen der Menschen, dort eine ideale Subjektwelt, das freie, moralisch autonome Reich der vernünftigen Wesen. Seit der ersten »Kritik« ringt Kant mit der Unmöglichkeit, in der Welt als Natur bzw. als Objekt der experimentellen Kausalerklärung einen Anhaltspunkt für Urteilsautonomie mit sittlicher Freiheit und für die intersubjektive Sphäre der autonomen Erkenntnis als Gemeinschaft der Erkenntnissubjekte zu finden. Angesichts des in der Vorrede zur zweiten Auflage mit höchster Bewunderung rekonstruierten Faktums, daß allein die postgalileische, also streng kausalerklärende Naturwissenschaft »den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe« 119, stellt sich ihm das Problem: Wie läßt sich das, was wir als Vernunftsubjekte notwendigerweise für uns in Anspruch nehmen, nämlich Urteilsautonomie und allgemeingültige Erkenntnis bzw. Vernunft, als Möglichkeit denken? Offenkundig nicht als etwas, das zu der realen Welt gehört, deren Erscheinungen sich naturwissenschaftlich kausal erklären lassen; sondern nur als etwas, das sich überhaupt nicht »erklären« läßt. Was dann? Aus dieser Erkenntnisaporie hilft sich Kant mit einer neuen Metaphysik, die er kritische nennt, weil sie zweierlei leisten soll: endgültige Diskreditierung der bis dato endlosen Spekulationen über »das Wesen«, »die Bestimmung« etc. der Welt und Ermöglichung einer autonomen allgemeingültigen Erkenntnisweise, einer kritischen Vernunft in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Wie läßt sich, das ist der springende Punkt, dieses zweite Ziel der »kritischen Metaphysik« erreichen? Durch eine philosophische Glaubensannahme, meint Kant und »postuliert« eine andere Welt, eine Welt der freien Subjekte und der intelligiblen Wesenheiten. Postulierend stellt er der Welt des gesetzmäßigen Zusammenhangs der Erscheinungen, der kausal erklärbaren Welt der 119

I. Kant, KrV, B VII.

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objektivierenden wissenschaftlichen Erfahrung, eine metaphysisch angenommene, allein von Gott als intuitiv alles erschauendem intellectus archetypus erkannte, Welt der (für uns) unerkennbaren freien Wesenheiten gegenüber, der »Dinge an sich«. Da nun seine Ethik etwas behandelt, das es in der realen Welt der Erscheinungen (bei Kant) nicht geben kann, nämlich Handeln aus Freiheit, muß sie diese Metaphysik voraussetzen. Insofern trägt sie, so könnten wir heute kritisch sagen, ihren Titel, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, mit hintergründigem Recht. Doch ist Kant, das mögen Sie, geneigte Leserinnen und Leser, jetzt fragen, – ist Kant mit dieser Metaphysik aus dem Schneider? Kann er seine Ziele mit ihrer Hilfe erreichen? Es sind zumindest vier mehr oder weniger implizite, aber unabdingbare Ziele bzw. einzuholende Voraussetzungen. Erstens will er eine Gemeinschaft »verschiedener [mithin unterschiedliche Intentionen haben könnender] vernünftiger Wesen« denken, die ein Interesse an Gemeinschaftsbildung, an Gerechtigkeit etc. haben 120, weil sie Interessenkonflikte kennen und eine moralische, also friedliche und argumentative, kurz: eine vernünftige Konfliktlösung suchen. 121 Zweitens muß Kant die Beziehung einer solchen moralischen Gemeinschaft als regulativer Geltungs- und Kritikinstanz auf die reale Sozialwelt der vor- oder auch nonmoralischen »Gefühle, Antriebe und Neigungen«, der »Marktpreise« usw. denken. 122 Diese Beziehung erhält aber nur dann den Sinn einer kritischen Orientierung für Menschen, welche in einer zugleich nonmoralischen Welt moralisch handeln wollen, wenn sie den Blick auf verantwortungsethische Strategien eröffnet; genauer gesagt: wenn sie Kriterien für die Entwicklung und Prüfung moralstrategischer Konfliktlösungen an die Hand gibt. Das jedoch ist nicht der Fall, weil Kant keine Vermittlung jener beiden Welten, des metaphysischen »Reichs der Zwecke« und der realen Bedürfnis- sowie Marktwelt nicht denkt und in dem dualistischen Schema auch nicht denken kann. Das dritte unabdingbare Ziel wäre die Einholung einer begrifflichen Voraussetzung, nämlich des Gemeinschaftsbegriffs. Ihn setzt Kant vor120 Dazu W. Kuhlmann, »Solipsismus in Kants praktischer Philosophie und die Diskursethik«, in: ders., Kant (1992), S. 100–130, bes. 107 ff., 116 ff. 121 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 433. 122 A. a. O., S. 434 f.

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aus, wenn er seinen Adressaten sowohl zutraut, daß sie nach Maximen handeln, also gemeinschaftsbezogen einer Regel folgen können, als auch, daß sie sich bei deren Prüfung auf eine rein moralische und vernünftige Gemeinschaft beziehen, die er ein »Reich der Zwecke« nennt. Wie aber sollen die Glieder dieses freien Reiches eine Gemeinschaft bilden können, wenn sie nicht schon begriffen werden als Angehörige einer realen Sprachgemeinschaft, welche durch sprachliche Äußerungen Geltungsansprüche für ihre eigenen Maximen vorbringen? So nämlich, daß in ihren selbstgewählten Äußerungen kommunikative Freiheit erscheint. Mit der Idee eines Reiches als »systematischer Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen« nimmt Kant zweierlei in Anspruch, was er nicht einlösen kann: Es ist dies einmal das Apriori einer realen Kommunikationsgemeinschaft; schließlich müssen die Mitglieder eines solchen Reiches sich miteinander in einer gemeinsamen Sprache verständigen können, wenn sie Maximen daraufhin prüfen sollen, ob sie als moralisches Gesetz taugen, wobei sie etwa zwischen Marktpreisen und Affektionspreisen unterscheiden müssen. 123 Die vorausgesetzte Mitgliedschaft in einer Sprach- und Handlungsgemeinschaft ignoriert Kant, indem er die Idee jenes Reiches unmittelbar auf gemeinschaftliche Gesetze bezieht, statt vermittelt über Kommunikation. Menschen fallen nicht unmittelbar in ein Reich der Vernunft, was Kant freilich unterstellt, wenn er von »dem Begriff eines jeden vernünftigen Wesens« ohne Umschweife behauptet, er »führt auf einen ihm anhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reichs der Zwecke.« Und, wenn er in dessen Definition einfach hineinlegt, was erst diskursiv zu erarbeiten ist: »gemeinschaftliche Gesetze«. Denn er fährt an der zitierten Stelle einfach fort: »Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.« 124 In ihrer Praxis müßte Freiheit zur Erscheinung kommen, damit es sich, wie Kant will, überhaupt um ein »Verhältnis vernünftiger Wesen zueinander« handeln kann. 125 Kant denkt also die Glieder des »Reichs der Zwecke« nicht als verbunden durch lebensweltlich kommunikative Erfahrung, er unterstellt sie vielmehr als autarke, einsame Vernunftsubjekte. Sein dualistisches System – hier Dinge der Natur, die nach allgemeinen Gesetzen wirken, 123 124 125

A. a. O., S. 434 f. A. a. O., S. 433. A. a. O., S. 434.

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da vernünftige Subjekte, die »nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien« handeln können 126 – hat für die sprachliche Verständigung und den kommunikativen Diskurs interessierter Menschen, leibhafter Wesen, keinen logischen Ort. Infolgedessen löst sich der Handlungsbegriff bei Kant auf. 127 Keine Kleinigkeit, wenn es um praktische Vernunft und Ethik geht. Darüber sehen Kantianer jedoch hinweg, können daher munter Abhandlungen über Kants Handlungsbegriff, ja Bücher über »Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants« 128 schreiben. Eine weitere einzuholende Voraussetzung ist – viertens – der Ansatz bei der Lebenswelt, genauer: bei dem lebensweltlichen Moralbewußtsein, der den Aufbau der Grundlegungsschrift trägt. Denn dort, wir sagten es schon, geht er sogleich von dem »gemeinen Menschenverstande«, dem Sensus communis bzw. Common sense aus. Jeder Mensch könne kraft seines Überlegens in der Lebenswelt, d. h. ohne der »Wissenschaft und Philosophie« zu bedürfen 129, den Verallgemeinerungsstandpunkt der Moral einnehmen und geltend machen. Und man kann hinzufügen – wir werden das durch Erinnerung an den näherungsweisen Universalismus im Geist der »Achsenzeit« tun 130 –, daß sich eine Tendenz zum ethischen Universalismus geschichtlich im Geist der Hochreligionen verkörpert hat, zumal im biblischen Israel, in Form des Dekalogs, des Bundesgedankens und der Ethik der Propheten, sowie interkulturell in Form der »Goldenen Regel«. Doch deren zwar kriterienlose, aber mehr oder weniger universalistische Tendenz würdigt Kant nicht. 131 Er widmet der Goldenen Regel nur eine vernichtende Fußnote: In aller Schärfe hebt Kant das in der Tat gravierende Defizit dieser Alltagsweisheit hervor. Bietet sie doch kein Kriterium für das, was ›ich‹ legitimerweise wollen kann und daher wollen sollte; sie gibt keinen Grund der Pflichten an, weil sie lediglich gebietet »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« A. a. O., S. 412. Dazu D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 256 ff. und 296–306, vgl. S. 23 f. und 55–64. 128 So der Titel eines Werks von Friedrich Kaulbach, erschienen 1978 in Berlin. 129 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 404. 130 Siehe unten, Abschnitt III.5.1. 131 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 430, Fußnote. Vgl. die kritischen Analysen der »Goldenen Regel« als Vorstufe universalistischer Moral von Reiner Wimmer, Universalisierung in der Ethik, Frankfurt a. M. 1980, S. 254 ff. und Heinz Roetz, »Überlegungen zur Goldenen Regel. Das Beispiel China«, in: J. O. Beckers, F. Preußger u. Th. Rusche (Hg.), Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik, Würzburg 2013 (zit.: Dialog (2013)), S. 221–239. 126 127

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Seinen lebensweltlichen Ansatzpunkt behandelt Kant nicht allein historisch und phänomenologisch stiefmütterlich, er denkt ihn auch nicht in Begriffen kommunikativen Handelns, welche die Lebenswelt allererst zu dem machen, was sie ist: ein Sinn- und Handlungszusammenhang. 132 Ohne das lebensweltliche Fundament des sprachlichen Sich-Verständigenkönnens hinge der elementare Geltungsanspruch einer Ethik, nämlich auf Intersubjektivität, in der Luft. Der Bau einer Moralphilosophie stürzte in sich zusammen. Kants Verfehlung der Intersubjektivität ruft auch die vielbesprochene Beschränkung seiner Ethik auf eine Gesinnungsethik hervor. Insofern Kants revolutionärer Ansatz einer Vernunftethik nicht ohne den Geltungsrahmen einer idealen Vernunftgemeinschaft auskommt, weist er zwar auf das dritte Paradigma, die Kommunikations- und Diskursphilosophie, voraus. Da er jedoch in einem dualistischen Denkrahmen entwickelt wird, der ein einsames Vernunftsubjekt unterstellt, lässt sich jener Gemeinschaftsbezug nicht einholen. Daraus ergibt sich als paradigmatypisches Defizit, daß Kant letztlich eine Gesinnungsethik vertritt, indem er die moralische Urteilsbildung des einzelnen beschränkt auf dessen Willensorientierung: ›Wie kriege ich einen guten Willen? Wie kann ich ermessen, ob mein jeweiliger Wille gut ist?‹ Weil er den moralischen »Wert«, das praktisch uneingeschränkt Gute in dem »guten Willen« einer Person lokalisiert 133, bestimmt Kant die praktische Vernunft nicht als gemeinschaftsbezogene dialogische Metapraxis, die sich in Diskursen vollzieht und deshalb eine ideale Beurteilungsgemeinschaft (»Reich der Zwecke«) vorwegnimmt, sondern als das einsame Vermögen des autonomen, vernünftigen Willens, nach der »Vorstellung« universalisierbarer Gesetze zu handeln. 134 Ganz in den Geleisen der traditionellen Sprach- und Erkenntnisauffassung, unterstellt er dabei, daß es zu einer Vorstellung keinerlei Kommunikation – auch die Sinnvermittlung durch eine Sprache und ihre Traditionen ist eine Form von Kommunikation – bedürfe. Dieser Ansatz, den Arnold Gehlen polemisch als die Fiktion kritisiert hat, man könne »die Normen des Verhaltens aus der eigenen Brust

132 Vgl. die begriffliche Rekonstruktion von J. Habermas, Theorie d. kommunik. Handelns (1981). 133 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 393 f. 134 A. a. O., S. 412.

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ziehen«, geht von Annahmen aus, die es erlauben, ihn als transzendental solipsistisch zu charakterisieren. Unterstellt Kant doch, einer allein könne eine Handlungssituation – unabhängig von jeglicher Kommunikation, allein anhand des kategorischen Imperativs – moralisch richtig beurteilen. Ja, er könne eine »praktisch gute« Maxime für das Handeln durch einsame Anwendung des kategorischen Imperativs auf die Situation ableiten. So blendet Kants Ansatz die dialogischen Bezüge der ethischen Urteilsbildung aus. Weder führt er – i. S. einer Explikation des Aristoteles – für den Normalfall einer Anwendung gegebener Normen das pragmatisch dialogische Klugheitskriterium der Situationsgerechtigkeit bzw. »Billigkeit« ein; das ist das Problem eines Richters: eine allgemeine Regel auf eine konkrete Situation anzuwenden, einen hermeneutischen Zirkel zu durchlaufen, um sowohl der Norm als auch der Situation angemessen zu urteilen. Noch entwickelt Kant ein dialogisches Rechtfertigungsprinzip für die kritischen Fälle einer Abwägung zwischen widerstreitenden moralischen Normen oder einer Ausschließung von Betroffenen aus dem realen Diskurs. Ein solches Prinzip bildete das Entscheidungskriterium sowohl für eine vernünftige Lösung von Normenkonflikten mit den Beteiligten und Betroffenen als auch für die Erarbeitung einer legitimen verantwortungsethischen Strategie gegen nonmoralische Akteure bzw. Mächte, die zur Zeit nicht am Diskurs teilnehmen dürfen. Ein solcher (zeitweiliger) Ausschluß ist nämlich dann moralisch geboten, wenn die Beteiligung bestimmter Akteure oder Mächte unverantwortlich gegenüber Dritten wäre, weil sie deren Diskursrechte oder sogar ihre Lebensrechte bedrohen, also moralisch gefährlich sind. Ein solcher Grundsatz – es wäre der eine Grundsatz praktischer Vernunft oder das Diskursprinzip – würde etwa lauten: Nur die Handlungsweise kann als moralisch gelten, die sich auch hinsichtlich ihrer Folgelasten bzw. ihres (zeitweiligen) adialogischen Strategiecharakters in einer idealen Argumentationsgemeinschaft so verteidigen ließe, daß sie intersubjektive Anerkennung aus guten Gründen fände. Ein in dieser Art formuliertes Prinzip berücksichtigt die dunkle Seite der Lebenswelt, aus der die harten moralischen Konflikte erwachsen. Das Böse läßt sich nicht ausklammern. Auch, ja gerade ein guter Wille ist damit konfrontiert. Daran, wie er die Konfrontation mit dem Bösen – oder auch mit der diskurszerstörerischen Gefährdung des Lebens Dritter, der Rechte Dritter und letztlich ihrer Würde – durchdenkt, angeht 229 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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und besteht, daran zeigt sich, ob ein Wille moralisch gut ist: verantwortungsfähig im Diskurs der Argumente. 135 Das so angelegte Diskursprinzip ist weit davon entfernt, für alle Konflikte einen vorbehaltlosen offenen Dialog als Mittel der Konfliktlösung zu empfehlen. Vielmehr verlangt es eine Tauglichkeitsprüfung aller vorgeschlagenen Mittel. Daher ist es von vornherein vereinbar mit der Einsicht, daß man in der realen Sozialwelt nicht vorbehaltlos verständigungsorientiert und unmittelbar wahrhaftig agieren darf, sondern daß man auch verdeckt strategisch handeln soll. In großem Maßstab gilt das, wie Max Weber in bezug auf Machiavelli hervorgehoben hat 136, für das politische Handeln – und zwar sowohl unter den »üblichen« Bedingungen der Parteienkämpfe im Rechtsstaat und der internationalen Interessenkämpfe zwischen Staaten im Frieden als auch unter den extremen Ausnahmebedingungen eines Unrechtsstaates. Besagte Einsicht hat manche Christen im »Dritten Reich« motiviert, Eide zu brechen, zu lügen, ja zu morden, nämlich den Mord an Hitler vorzubereiten bzw. zu versuchen. Man denke an Dietrich Bonhoeffer und Claus Schenk Graf von Stauffenberg. 137 Aber Kant hätte ihnen keine Orientierungshilfe geboten. Treibt Kant sie doch auf die Spitze, indem er den kategorischen Imperativ nicht strikt als Vernunftgrundsatz anwendet, d. h. als Metanorm und Geltungskriterium zur Prüfung aller konkreten Normen und Maximen, sondern ihn vermengt mit der konkreten Norm der Wahrhaftigkeit. Das (ohnehin überzogene und im Dekalog gar nicht zu findende) Gebot ›Du sollst nicht lügen‹, das ihm aus seiner pietistischen Erziehung überkommen ist, unterschiebt er dem kategorischen Imperativ. Davon gleich. Während Max Weber die Idee einer Verantwortungsethik auf das Modell des einsam entscheidenden Staatsmanns bezieht, also methodologisch solipsistisch argumentiert, hebt die diskurspragmatische Ethikbegründung Kants Idee des Reichs der Zwecke kommunikationsbezogen auf. Sie zeigt, daß auch ein moralstrategisches Handeln – geltungsmäßig – keineswegs methodisch einsam sondern durchaus dia135 Dazu, und zwar im Hinblick auf den bösen Willen als »Gedankenlosigkeit« (H. Arendt) im Sinne von Diskursverweigerung vgl. die Analyse Bernadette Herrmanns: »Das Problem des Bösen und der Begleitdiskurs«, in: J. O. Beckers, F. Preußger u. Th. Rusche (Hg.), Dialog (2013), S. 99–106. 136 M. Weber, »Politik als Beruf«,. in: ders., Gesammelte politische Schriften. Mit einem Geleitwort von Th. Heuß, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 31971, S. 558. 137 Vgl. D. Bonhoeffer, Ethik, hg. von E. Bethge, München 1961, S. 190 f.

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II.5 Kants Suche nach Verbindlichkeit

logisch strukturiert ist. Denn es läßt sich im Rahmen einer reinen Argumentationsgemeinschaft gegenüber allen Einwänden kommunikativ-diskursiv prüfen und ggf. rechtfertigen. Dann nämlich, wenn es einer moralischen Strategie folgt, die freilich nicht unmittelbar auf Übereinkunft mit allen Beteiligten und Betroffenen gründet, sondern diese unter Umständen ausschließt und vielleicht auch »um des Nächsten willen Schuld übernimmt« (Bonhoeffer). Die Nächsten waren hier alle, die noch Hitlers Opfer hätten werden können. Ein Hauptgrund für das Verantwortungsdefizit in Kants Ethik scheint mir zu sein, daß er die Frage, was wir tun sollen, auf die neuplatonisch-christliche Frage zurückführt, wie die Herrschaft der Vernunft über die sinnlichen Begierden und Neigungen im Menschen praktisch werden kann. Kant versteht den Menschen gemäß seiner Zwei-WeltenMetaphysik als Doppelnatur: Äußerlich ist er ein sinnliches Wesen, »knechtischen« Neigungen und dem Naturmechanismus unterworfen; innerlich kann er ein vernünftiges Wesen sein, das unabhängig von Neigungen nur der Vernunft folgt. Aufgrund dieser Voraussetzungen kann er das monologische Problem der Beherrschung des unteren Seelenvermögens durch das obere in der Seele des einzelnen bzw. in seinem Willen zu seinem Ausgangspunkt machen. Ein solches Ausgangsproblem führt nicht zu einer Ethik des Handelns, sondern zu einer personalen Moral der guten Gesinnung – durch Beherrschung der Sinnlichkeit und des Egoismus des »mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen affizierten Wesens« Mensch. 138 Es geht in Kants Diskurs anhand des kategorischen Imperativs wesentlich um die Moralität der Person – also darum, wie das Individuum einen guten Willen bekommt: eine sittliche Gesinnung mit der Bereitschaft, sich anzustrengen und handelnd »alle Mittel aufzubieten«. Keineswegs will Kant eine bloße, also faule Gesinnung. Doch hat sein Ansatz keinen Raum für eine diskursbezogene Ethik der Verantwortung für die reale Welt, in der es moralisch auch darauf ankommt, z. B. Dritte vor unmoralischen Strategien Anderer zu schützen. Dazu ist die Bildung und kritische Prüfung moralischer (Konter-)Strategien erforderlich. Dieses Erfordernis schließt Kant jedoch aus dem moralischen Gesichtskreis aus, weil er eine Erfolgsbedingung und ein elementares Mittel solcher Konterstrategien strikt verbietet, nämlich das Lügen bzw. das vortäuschende Versprechen. So brandmarkt er in der Tugendlehre 138

I. Kant, KpV, A 32.

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Kritik der Moderne

seiner »Metaphysik der Sitten« die Lüge pauschal als »Wegwerfung und gleichsam Vernichtung der Menschenwürde« 139. Selbst wenn »Gutmütigkeit« dahinter stehe, sei »die Lüge (in der ethischen Bedeutung des Worts) […] durch die bloße Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person, und eine Nichtswürdigkeit, die den Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen muß« 140. Und in der Auseinandersetzung mit dem Hugenotten Benjamin Constant, der ihm das Dilemma vorgelegt hatte, ob man aus Menschenliebe, und zwar um das Leben eines verfolgten Menschen zu retten, lügen solle, reagiert er (ebenfalls 1797) genauso rigoristisch. Statt die beiden hier einander entgegenstehenden Maximen ›Lüge nie‹ versus ›Lüge dann, wenn die Lüge (nach besten Wissen) ein geeignetes Mittel zur Rettung eines Menschenlebens ist‹ anhand des kategorischen Imperativs auf ihre mögliche Verbindlichkeit hin zu prüfen, macht er diesen überhaupt nicht im Diskurs als Kriterium geltend. Anstelle dieses allgemeinen Moralkriteriums bringt er ein besonderes inhaltliches Gebot als »unbedingte Pflicht« ins Spiel: das Gebot der Wahrhaftigkeit. 141 Und er verleiht ihm den höchsten kriterialen und normativen Rang »eines heiligen, unbedingt gebietenden, durch keine Konvenienzen einzuschränkenden Vernunftgebotes«, nämlich »in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein« 142. Doch dieser höchste Rang kann aufgrund seines Anspruchs, eine Vernunftethik als kritische Instanz der (einsehbaren) Verbindlichkeit zu begründen und daher als Moralkriterium die Verallgemeinerbarkeit aus guten Gründen und vor dem Forum einer reinen Vernunftgemeinschaft einzusetzen, allein diesem Kriterium zukommen, also dem kategorischen Imperativ. Dessen Anwendung umgeht Kant hier aber mit rechtstheoretischen und empirischen Spitzfindigkeiten, so als handele es sich nicht um ein moralisches Dilemma, sondern allein um eine Frage des Rechts und der (in der Tat ungarantierbaren) Erfolgsfähigkeit einer Lüge als Rettungsmittel. 143

Ders., Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre (1797), A 84; Weischedel-Ausg., Bd. IV, S. 562. 140 A. a. O., A 85; Weischedel-Ausg., Bd. IV, S. 563. 141 I. Kant, Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen, A 311; WeischedelAusg., Bd. IV, S. 641. 142 A. a. O., A 307; Weischedel-Ausg., Bd. IV, S. 639. 143 Vgl. meine kritische Analyse in: Rek. Pragm. (1985), S. 348–354. 139

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Zweiter Teil: Zukunftsverantwortung aus dem Diskurs

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III Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

III.1 »Wo bist du immer schon?« – Das Apriori des Begleitdiskurses »Wo bist du?« So läßt in der hebräischen Bibel der jahwistische Erzähler Gott, den Schöpfer, Adam, den Menschen anrufen (1. Mose 3, 9), als dieser sich dem Dialog mit ihm entzogen und sich schließlich vor ihm verborgen hatte – wissend, daß er Gottes Verbot mißachtet hatte. Mit jener Frage ruft der Schöpfergott den Menschen, der sich aus dem Dialog mit ihm herausgestohlen hat, enttäuscht an und in die ihm zugedachte Rolle als Partner eines ursprünglichen Dialogs zurück und fordert ihn insofern zur Selbsteinholung heraus. Nach 1918 wurde diese Frage eher am Rande der Philosophie, aber in emphatischer Kritik des methodischen und z. T. ontologischen Solipsismus, den ihre neuzeitlichen Hauptströmungen von Descartes über Kant und Fichte bis Husserl verkörpert hatten, zum Losungswort Franz Rosenzweigs und Martin Bubers. In der geradezu »vesuvischen« Krisis nach dem brutal und hochtechnisch geführten europäischen Bruderkrieg von 1914–1918 1 suchten die beiden biblisch jüdisch inspirierten Denker – Rosenzweig war zudem durch den Neukantianismus Hermann Cohens hindurchgegangen und mit Heideggers Faktizitätsanalyse des menschlichen Daseins vertraut – vor allem zweierlei: einen Ansatz diesseits der transzendentalen Subjektivitätsphilosophie, diesseits ihrer »Lehre von der Konstitution der Welt aus der Subjektivität« 2, und einen »Mythos des Ich und Du, des Berufenen und des Berufenden, des EndVgl. Martin Bubers Nachwort: »Zur Geschichte des dialogischen Prinzips«, in: ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1973 (zit.: Das dialogische Prinzip (1973)), S. 301 ff., bes. S. 304–310. 2 M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965 (zit.: Der Andere (1965)), S. 246. 1

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

lichen, der ins Unendliche eingeht, und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf« 3. Nicht in dem vorgenannten Sinne, weder existentiell noch religiös, sei die Frage hier gestellt. Vielmehr soll sie transzendentalpragmatisch, von einer ersten Person zu der angeredeten zweiten Person gefragt, das in den Lebensaktivitäten meist unbemerkte, zwiefältige elementare Verhältnis erschließen, welches wir Menschen von vornherein in der Welt und zu uns selbst unterhalten. Gefragt sei, wo wir uns (logisch unvermeidlicherweise) immer schon befinden: wir Menschen, jeder ein »Du« und ein »Ich«, das sich sprechend bzw. handelnd zu »etwas«, dem Thema seiner möglichen Rede, verhält. Wo sind wir? Offenbar befinden wir uns einerseits immer schon in Situationen, die wir, sofern wir noch oder schon oder schon wieder bei Bewußtsein sind, als etwas Bestimmbares oder Bestimmtes verstehen, indem wir uns zu ihnen verhalten. Andererseits aber sind wir zugleich in einem gewissen Selbstverhältnis, insofern wir zu unseren Verhaltensweisen, unseren Handlungen Stellung nehmen können. Beides zusammen genommen bildet unser ursprüngliches In-der-Welt-Sein. Dieses hat immer zwei einander wechselseitig bedingende Elemente, ein primär semantisches und ein vorzüglich pragmatisches: Die bedeutungstragende Beziehung auf die jeweilige Situation unseres Etwas-Erlebens bzw. Etwas-Tuns und, dieser schon zugehörig, unsere ebenso sprachlich verstehende wie beurteilende bzw. bewertende Stellungnahme – so unausdrücklich, ja unvermerkt diese auch sein mag. Ohne Situationsbezug wäre unser Dasein bedeutungsleer; ohne möglichen Rückbezug, ohne begleitenkönnende Stellungnahme, bliebe es orientierungsblind. Die hier gestellte Wo-bist-du-Frage ist mithin sprach- und erkenntnisanthropologischer Art. Der Versuch, sie zu beantworten, führt zunächst in eine »rekonstruktive Pragmatik«. 4 Deren Auskunft ist zweistufig und lautet grob: Du bist immer schon in verstandenen Situationen bzw. im Handeln als einem Antworten auf verstandene Situationen, also in einem quasidialogischen Bezug auf Situationen (a). Dieses Quasi-Dialogische manifestiert sich darin, daß du in einem Begleitdiskurs zu deiner Handlung mit Geltungsansprüchen Stellung nehmen kannst (b). Insofern besagt M. Buber, Das dialogische Prinzip (1973), S. 307 (Selbstzitat aus Buber, Die Legende des Baalschem, 1907). 4 D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), V. Kapitel. 3

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III.1 »Wo bist du immer schon?«

die ganze Antwort: Du bist immer schon sowohl in verstandenen Situationen und tendenziellen Handlungen als auch in einem impliziten doch explizierbaren Begleitdiskurs. Vergleichen wir diesen Ansatz einer philosophischen Pragmatik mit dem Rückgriff der »Dialogiker« auf das biblische Angeredetwerden Adams durch seinen Schöpfer, so zeigen sich Analogie und Differenz. Denn eine philosophisch sprachpragmatische Rekonstruktion von Sinnvoraussetzungen des In-der-Welt-Seins fragt weder existentiell nach der Mensch-Gott-Beziehung, noch untersucht sie die Ich-Du-Beziehung als Begegnung. 5 Wohl aber macht auch sie das Zugleich von Welterfahrung und Gespräch samt Selbstgespräch, insofern die Gleichursprünglichkeit von »Teilnahme am Sein« und »Du-Sagen des Ich«, zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Und beide Ansätze suchen letztlich nach Verbindlichkeit, ohne daß die transzendental fragende Pragmatik freilich eine Glaubensentscheidung voraussetzte oder geltend machte: die Entscheidung, sich als von Gott angerufen zu verstehen. Allerdings kann die Suche nach allgemein einsehbarer und daher allgemeingültiger Verbindlichkeit bei einer Rekonstruktion von normativ gehaltvollen Sinnbedingungen des Dialogs, auch und gerade des argumentativen Dialogs, nicht stehenbleiben. Warum nicht? Ein Skeptiker kann die Rekonstruktion mit gewissem Recht als eine Art Theorie einstufen und daraus kritisch folgern, daß sie es nur zu fehlbaren Ergebnissen bringen kann, mithin nicht zur Allgemeingültigkeit. In dieser skeptischen Unentschiedenheit kann uns glücklicherweise die sokratische Fragestellung zu Hilfe kommen. Inwiefern? Die Wo-bist-du-Frage wird – in geltungslogischer Hinsicht – an den skeptischen Gesprächspartner gerichtet. Sie besagt dann so viel wie: ›Wo finden wir dich? Was tust du gerade, und was nimmst du dabei (auch) uns gegenüber bereits in Anspruch?‹ Zu klären ist, ob sich die Skepsis, die ein Dialogpartner gegen eine diskurspragmatisch rekonstruierte Dialognorm geltend macht, vereinbaren läßt mit den normativen Gehalten seiner Diskurspartnerrolle. Sofern die philosophische Pragmatik auf Verbindlichkeit abzielt, muß sie ihre theoretische Erkenntniseinstellung zugunsten einer aktuell reflexiven Einstellung verlassen. Denn nicht durch eine theorieförmige Explikation läßt sich Einsicht in Verbindlichkeit gewinnen, sondern allein durch die, im Streitgespräch mit dem Skeptiker zu vollziehende, Besinnung auf das 5

Dazu: M. Theunissen, Der Andere (1965).

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Wechselverhältnis von Situation und Begleitdiskurs, insbesondere aber auf die Sinnbedingungen des Diskurses selbst. Einzig hier lassen sich unwiderlegbare Argumente finden. Es ist gut möglich, daß sich hier Widerspruch regt und das in der Kapitelüberschrift angefragte »Du« kritisch zu Wort kommen will. Dann, geneigte Leserin, geneigter Leser, würden Sie hier – als Opponentin bzw. Opponent »O« – vielleicht folgenden Einwand machen und dadurch diesen Dialog mit mir, dem Proponenten »P« eröffnen: O: In der Lebenswelt befinde ich mich keineswegs von vornherein in einem Diskurs, sondern in mancherlei Tätigkeiten. Und darunter sind auch solche, die sich ohne Kommunikation und stumm vollziehen lassen. Zum Beispiel: Wenn ich angle oder wenn ich rechne, dann pflege ich zu schweigen und keinen Diskurs zu führen. P: Stimmt das? Wohl nur auf den ersten Blick. Denn auch wenn du stumm bleibst aber etwas Bedeutsames tust, setzt du Sprachzeichen und Begriffe einer Sprache beim Tun als Sinnhintergrund deiner Handlungsweise voraus, und du gebrauchst sie, wenn du mit dir über das Angeln oder Rechnen zu Rate gehst. Jedenfalls triffst du mit diesen Beispielen nicht ins Schwarze. Es sind keine wirklichen Gegenbeispiele zu meiner These, daß du auch in der Lebenswelt implizit schon im Diskurs bist. O: Nanu, das sollte mich wundern! P: Bedenke doch: Auch wenn du angelst, mußt du dich fragen und die Frage beantworten können, ob du es jeweils richtig oder erfolgversprechend anstellst, so wie du es gerade (an dieser Stelle, zu dieser Zeit, mit diesem Gerät usw.) machst. Also mußt du mit dir in eine Überlegung, einen Diskurs über dein jeweiliges Angelverhalten treten können. Und du mußt diesen deinen Begleitdiskurs mit guten Gründen bestreiten können, d. h. mit solchen, denen auch die anderen kompetenten Angler beistimmen würden. O: Das hört sich plausibel an. Aber was, bitte, ist mit dem Rechnen? P: Für das Rechnen gilt das gleiche. Auch hier mußt du dich fragen können, ob du es richtig machst, und mußt diese Frage beantworten können; und zwar so, daß die Rechenmeister dir beipflichten können. Auch wenn du, ohne dabei ein Wort zu verlieren, nur demonstrierst und vormachst, daß du es richtig machst bzw. bestimmte Rechenregeln befolgst, führst du einen Diskurs, und du löst durch dein ›Es-Vormachen‹ oder ›Die-Probe-Machen‹ den Geltungsanspruch deiner Rechenpraxis ein. 238 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.1 »Wo bist du immer schon?«

O: Das würde aber doch bedeuten, daß man nicht immer schon ›im Diskurs ist‹, sondern in einer bestimmten (auch Regeln folgenden) Tätigkeit bzw. Praxis, und daß man zu dieser auch einen Diskurs führen können muß. Also wäre man zuallererst in der Praxis. Müßte demnach nicht die Praxis der Ausgangspunkt einer Grundlegung der Philosophie sein anstelle des Diskurses? P: In gewisser Hinsicht ist der Ausgangspunkt, den ich vorschlage, auch die Praxis, nämlich die Praxis mit Hinsicht auf den Diskurs, oder andersherum: der Diskurs als Begleitphänomen der Praxis – als Phänomen, ohne das eine Praxis gar nicht möglich wäre. Keine Praxis ohne aktualisierbaren Begleitdiskurs! O: So geht es nicht. Du springst einfach auf deine These, deine Diskursthese. Du unterlegst sie, statt sie zu erweisen. P: Langsam. Mit deiner Rechenpraxis verbindest du doch Geltungsansprüche. Zumindest die Ansprüche, daß das, was du tust und so, wie du es tust, verständlich ist, so daß du und andere es verstehen können. Oder? O: Geschenkt. P: Weiterhin setzt du den Anspruch der Richtigkeit voraus. Schließlich willst du nicht irgendwie rechnen, sondern richtig. O: Klar. P: Und das meinst du ernst? Du legst es wahrhaftig auf das richtige Rechnen an? O: Wie kannst du nur so fragen? Das versteht sich ja von selbst. P: Schön. Dann hast du erkannt, daß du mit einer Praxis, in diesem Fall dem Rechnen, jedenfalls drei Geltungsansprüche voraussetzt, den der Verständlichkeit bzw. Verstehbarkeit, den der Richtigkeit und den der Wahrhaftigkeit oder Ernsthaftigkeit. O: Meinetwegen. Aber was hat das mit Diskurs zu tun? Damit führe ich doch keinen Diskurs. Ich rechne halt. P: Du hast aber gesagt, du meintest es ernst mit dem Rechnen. Kommt es dir dann nicht darauf an, wirklich richtig zu rechnen? O: O, du Penibler, selbstverständlich. Worauf sollte es mir sonst ankommen? P: Umso besser. Wenn du es wirklich ernst meinst und nicht so larifari, dann mußt du, um deiner Glaubwürdigkeit willen, diese Geltungsansprüche auch einlösen können. Du mußt deine Praxis kontrollieren, mußt sie prüfen und demonstrieren können, daß du nachvollziehbar (verständlich) und richtig rechnest. Dieses Kon239 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

O: P:

O: P: O: P: O: P:

O: P:

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O: P:

trollieren, Prüfen und Demonstrieren gehört wesentlich zum Diskurs. Wenn ich das tue, meinst du, führte ich einen Diskurs? Ja. Und der Witz, gewissermaßen die transzendentale Pointe ist es, daß du keine Praxis ernsthaft und glaubwürdig vollziehen kannst, ohne daß du bereit bist, gegebenenfalls einen Diskurs zu führen. Man muß seine Praxis überprüfen können. Gewiß. Andernfalls könnte oder wollte man die a priori mit der Praxis verbundenen Geltungsansprüche nicht einlösen. Dann aber stünde man schlecht da? Sehr schlecht, nämlich als unfähig und als unredlich bzw. unglaubwürdig. Demnach wäre die Diskursbereitschaft die moralische Voraussetzung einer Praxis, die richtig sein können soll? So ist es. Und zu dieser, wohlgemerkt internen, moralischen Bedingung einer (möglicherweise richtigen) Praxis kommt noch eine erkenntnismäßige, epistemische hinzu. Wieso? Der Diskurs ist die Bedingung der Möglichkeit einer richtigen Praxis. Denn eine Praxis mußt du dir erschließen und aneignen können; zudem mußt du deine Handlungen, dein Verhalten kontrollieren und prüfen können usw. Soweit einverstanden. Aber ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern ruhe mich vielleicht aus, betrachte etwas, meditiere vielleicht; oder ich bin in einer Stimmung, mich überkommt eine Leidenschaft, oder mir passiert wer weiß was … Dann gibt es doch keinen Diskurs. Zunächst noch einmal zurück zu den Handlungen. Wenn du eine Praxis vollziehst und wenn es ›klappt‹, dann benötigst du keinen Diskurs. Aber du hast ihn als Möglichkeit stets in petto; er ist die geltungsrelevante Hintergrundserfüllung deiner Praxis. Analog verhält es sich mit allen anderen Verhaltensweisen – und auch Widerfahrnisse sind Phänomene des Verhaltens, solange du sie erleben bzw. später darüber reden und dich somit in ein Verhältnis dazu setzen kannst. Was soll das heißen: sich in ein Verhältnis zu etwas setzen? Genaugenommen, nämlich der sprachlogischen Form nach, heißt das: Man bezieht sich auf etwas vermittels der performativ-propositionalen Doppelstruktur, wie sie einer kompletten sprachlichen

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III.1 »Wo bist du immer schon?«

O: P:

O: P: O: P:

O:

Äußerung zugrundeliegt. Diese Form wird von jeder sprachlichen Äußerung ins Spiel gebracht, so daß sie auch dann von Hörern und Sprechern mitverstanden und im vorhinein erwartet ist, wenn sie gar nicht, jedenfalls nicht zur Gänze, in Worte gefaßt wird. Worin besteht dieses Mysterium? Du wirst erkennen: Es ist alles andere als geheimnisvoll. Durch einen pragmatischen Redeteil, eine direkte Handlung, den performativen Akt, sprichst du in der ersten Person das Gegenüber an und tust damit wirklich etwas, indem du euch beide, dich selbst und den Anderen, in eine Kommunikationssituation hineinführst. Das tust du durch Ausdrücke, die eine kommunikative Handlungsweise zugleich darstellen, diese in Ich-Form ausführen und an den Anderen adressieren, so daß »Ich« und »Du« zueinanderkommen. Etwa folgendermaßen: »Ich frage dich«, »ich behaupte (dir gegenüber)«, »ich verspreche dir«, »ich gestehe dir« usw. Aber so redet man doch kaum. In der Tat. Das ist auch meist überflüssig. Warum? Sprecher und Hörer haben ja bereits aus der Situation und durch den, von dem performativen Ich-Du-Akt in seinem Verwendungssinn festgelegten, Aussagegehalt erschlossen, worum es gehen wird. Sagst du etwa: »Kannst du mir erklären, weshalb der Begleitdiskurs ein Apriori ist?«, so ist dem Angesprochenen klar, daß du ihm eine Frage gestellt hast und er darauf antworten soll. Sagst du hingegen etwa: »Die Diskurspragmatik ist geeignet, die allgemeine Verbindlichkeit grundlegender kommunikativer Verhaltensweisen zu begründen«, dann wißt ihr beide, daß es um eine Behauptung geht, worauf das Gegenüber im Hinblick auf Gründe reagieren muß, wenn er das Gespräch nicht verweigert. Er kann dann nämlich entweder einen Beweis deiner These verlangen, also die Einlösung des Wahrheitsanspruchs, der hinter deiner Behauptung steht; das tut er sowohl, wenn er mehr oder weniger zweifelt, als auch, wenn er deine These gleich angreift. Oder aber er stimmt dir gleich zu. Dann unterstellt er, daß es gute, und zwar hinreichende Gründe für die Wahrheit deiner These gibt. Interessant. Dann hätten wir übrigens einen weiteren Geltungsanspruch aufgetan. Den Anspruch auf Wahrheit einer behaupteten Aussage, scheint mir.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

P: Genau. Aussagen über Sachverhalte, behauptete Thesen, werden von dem Anspruch auf Wahrheit getragen. Du erhebst diesen Anspruch, indem du eine Behauptung vorbringst. Indem du nämlich, sei es ausdrücklich, sei es unausdrücklich, dem Anderen zu verstehen gibst, »ich behaupte hiermit«, kommunizierst du ihm »ich beanspruche dir (und allen) gegenüber Wahrheit für die Aussage, daß die Diskurspragmatik … usw.« O: Klar ist, daß der performative Akt eine reine Handlung zwischen Ich und Du bzw. Dritten ist, welche der Sprecher selbst und unvertretbar als er selbst vollzieht. Hingegen ist der ausgesagte Gehalt, die Proposition, formal ganz unpersönlich. Da wird etwas ausgesagt, dargelegt, oder eben auch erfragt, versprochen, gestanden, auch erbeten etc. Nun hattest du aber behauptet, daß auch dieser unpersönliche ER/ SIE/ES-Teil einer sprachlichen Äußerung erforderlich sei, damit wir uns »in ein Verhältnis setzen können« zu dem, was wir tun, und zu dem, was mit uns vorgeht. Geht dann aber nicht gerade der Subjektbezug, das Sich-zu-sich-in-ein-Verhältnis-Setzen, verloren? P: Nur scheinbar. Nur insofern, als im propositionalen Gehalt das »Ich« keine (direkte) Stelle hat; es tritt nicht auf. Doch es steht ja hinter dem (in unpersönlicher Form) Ausgesagten. Und es zieht gerade aus dieser unpersönlichen Form einen Identifikationsvorteil. O: Wie das? P: Die unpersönlich geformte Aussage, die von der Form ›es verhält sich so, weil …‹ ist, legt eben das distanzierend und gleichsam objektivierend dar, was das Subjekt so sehr interessiert, daß es ihm Priorität verleiht und es, Anderen gegenüber, geltend macht. Das syntaktische Vehikel dieser Objektivierung ist – davon war schon die Rede 6 – die »Abwandlung« der Ersten- in die Dritte-PersonPerspektive. Es erscheint paradox: Erst vermittels einer propositionalen Distanzierung kann ein »Ich« das vor sich bringen, worum es ihm geht. Nur so kann sich ein Sprecher das zueignen, was er Anderen gegenüber zur Geltung bringen will. Und einzig auf diese distanzierende, traditionell gesprochen ›objektivierende‹ Weise kann er auch die Anderen mit auf den gemeinsamen Weg der Untersuchung nehmen. Nur so kommen sie mit in den Diskurs hinein. 6

Siehe oben, Abschnitt I.6.3.

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III.1 »Wo bist du immer schon?«

O: Du meinst, daß wir den Anderen nur durch diese unpersönliche EsPerspektive die Chance geben, unseren Sprechakt, hier unsere Behauptung, nachzuvollziehen, unsere Rede zu prüfen usw.? P: Ja. Die unpersönliche Redeform des propositionalen Teils einer kompletten Behauptung, also einer Aussage, und generell des propositionalen Gehalts jeder Sprachhandlung (von der Frage zur Bitte, zum Befehl etc. pp.) ist der Stützpfeiler der Intersubjektivität, auf die alle Kommunikation zielt. Und die dadurch ermöglichte Intersubjektivität ist es auch, die es ›mir‹ erlaubt, mich in ein tragfähiges Verhältnis zu mir selbst zu bringen. So nämlich, daß ›ich‹ ohne Subjektivismus, ohne Idiosynkrasie bzw. private Willkür, nämlich nachvollziehbar, also verständlich, auch noch morgen bzw. in andersgearteter Situation in eine kognitive Beziehung zu ›mir‹ treten kann. Allein dank der Dritten-Person-Perspektive kann ich als Diskursteilnehmer, als Vernunftsubjekt zu mir sagen: »Ich denke X« bzw. »ich vertrete die Auffassung X« und »X ist es, wofür ich Wahrheit beanspruche oder auch Richtigkeit«. Mithin hängt auch ›meine‹ Glaubwürdigkeit bzw. Wahrhaftigkeit als Diskursteilnehmer an der Abwandlung ›meiner‹ eigensten Intention in die unpersönliche Aussagenperspektive. O: Kommen wir so auch zurück auf meine Diskursskepsis? Ich meine den Einwand, daß man sich ja nicht immer in einer Praxis befindet, auf die sich ein Begleitdiskurs bezieht. Denn ich kann mich z. B. ausruhen, kann meditieren, kann still etwas betrachten, kann in einer Stimmung sein. Es kann mich auch eine Leidenschaft überkommen oder mir etwas zustoßen. Vielleicht gibt es dann, so meinte ich anfangs, gar keinen Diskurs. P: Doch. Du bist mit diesen Charakterisierungen (»es gibt das ›ich ruhe mich aus‹, ›ich bin in einer Stimmung‹ etc.) und mit deinen Ich-Unterstellungen dieser als verständlich und vor allem als wahr (»Ich behaupte als wahr, daß …«) schon im Begleitdiskurs über deine Verhaltensweisen. So hast du, deinen Einwand vorbringend, verschiedene Befindlichkeiten als etwas Bestimmtes charakterisiert, also eine kurze Aussage darüber gemacht, und du hast für diese Charakterisierung Wahrheit in Anspruch genommen, als habest du sie in einem performativen Akt behauptet. O: Wie das? P: Einfach dadurch, daß du gesagt hast ›ich bin ja nicht immer in einer Praxis, sondern kann z. B. in einer Stimmung sein, oder mir passiert 243 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

O: P:

O:

P:

etwas‹. Damit hast du einen Wahrheitsanspruch für Propositionen erhoben, deren Wahrheitsgehalt in Diskursen geprüft werden kann; und zwar in Diskursen, die von der Perspektive des Betroffenen ausgehen. Auch ein Widerfahrnis erfährt man nur insofern, als man sich, Stellung nehmend, dazu verhalten kann. So ist es andererseits, wie gezeigt, auch mit der Praxis: Handeln, etwas als etwas Bestimmtes tun, können wir nur so, daß wir uns, Stellung nehmend, dazu verhalten. Und das stellungnehmende Sich-zu-sichVerhalten ist ein Stück Begleitdiskurs. Ist das der Grund für deine These, wir seien immer schon zugleich im Diskurs? Ja, da kein Erlebnis und keine Handlung ohne eine mögliche Stellungnahme denkbar sind, trifft es zu, daß wir immer schon tendenziell im Diskurs sind, so daß wir auch betreffbar und befragbar sind als Diskursteilnehmer. Dann wäre der Diskurs oder doch der mögliche Diskurs das ständige implizite Begleitphänomen unseres Lebens, der Ort des Verstehens, des Sich-Verstehens und des Etwas-Verantwortens bzw. Rechtfertigens? In der Tat: Der mögliche und in allen unseren Aktivitäten sowie Erlebnissen bereits implizierte Diskurs ist ein Apriori; er ist das nicht wegzudenkende Begleitphänomen menschlichen Lebens. Dank dieses Apriori können wir prinzipiell, d. h. wenn die Umstände es erlauben und wir es wollen, auch zurückgehen von der Aktion zum Diskurs, vom Handeln zum Überlegen. Analog können wir uns ein Widerfahrnis oder eine Stimmung nur dadurch als unser eigenes Erlebnis erschließen, indem wir es mit Wahrheitsanspruch charakterisieren, es also in den Diskurs ziehen.

III.2 ›Dialog‹ und ›Diskurs‹. Beziehungs- und Geltungsaspekt des Diskurses versus empirische Mannigfaltigkeit der Diskurse Die soeben als Dialog vorgeführte reflexive Argumentation hat uns zwei dialogische Grundlagen der Ethik erschlossen, die auf eine dritte verweisen: die andemonstrierbare Verbindlichkeit. Es sind dies drei (argumentativ) unhintergehbare Einsichten:

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III.2 ›Dialog‹ und ›Diskurs‹

(a) Zu allem, was du tust und was du erlebst, bist du schon im Begriff Stellung zu nehmen. (b) Indem du etwas als etwas Bestimmtes tust oder erlebst, hast du auch die Möglichkeit, einen Diskurs über die Bedeutung und Begründung deiner Handlungsweise und deiner Erlebnisinterpretation zu führen. Das »Ich führe einen Diskurs« muß alle deine Handlungen und Erlebnisse begleiten können. Du sollst einen solchen Begleitdiskurs so führen, daß für dein Urteil, das ein Ergebnis dieses Diskurses ist, die besten Argumente sprechen. So nämlich, daß dein Urteil bzw. deine Handlungsmaxime die Zustimmung all derer verdient, die nichts als sinnvolle Argumente gelten lassen und ernsthaft nach dem besten Arument suchen. Dein Urteil bzw. deine Maxime soll der Zustimmung einer unbegrenzten idealen Argumentationsgemeinschaft würdig sein. (c) Daß du dich so verhalten sollst, ist eine nicht sinnvoll bezweifelbare Pflicht, ja die Pflicht der Pflichten. Es ist die Diskurs- bzw. Vernunftpflicht. Aus diesem Sollen leiten sich auch die moralischen Pflichten ab. Denn in ihm ist das Prinzip der Moral enthalten und ineins damit das der Zukunftsverantwortung. Warum? Es handelt sich um das Prinzip des Sich-im-Dialog-Verantwortens gegenüber allen möglichen sinnvollen Argumenten zur Sache, mithin auch jener, die von künftigen Argumentationspartnern geltend gemacht werden können. Die beiden ersten Elemente dieser dreigestuften Einsicht bilden schlechthin den Anfang, das unumstößliche Fundament des Philosophierens. Dieser systematische Anfang der Philosophie bezeichnet den Ort, an dem wir alle, die etwas als etwas Bestimmtes tun und erleben, der Möglichkeit nach immer schon sind. Dieser permanente Möglichkeitsort ist der Diskurs. Gleichviel, ob wir einen Diskurs, eine stellungnehmende begründende Erörterung in realer Anwesenheit Anderer mit den Anderen führen (als Dialog) oder ob wir alleine (in einem Monolog) über etwas nachdenken, stets befinden wir uns in einem dialogförmigen Verhältnis. Dieses hat einen sozialen Beziehungsaspekt und einen Geltungsaspekt, der seinerseits logisch und sozial ist. Diskurs und Dialog: Wenn wir etwas sagen oder es schriftlich niederlegen, eröffnen wir damit eine (mögliche) Beziehung zu allen, die uns hören oder lesen (können). Daraus ergibt sich das soziale Verhältnis der Rede. Indem wir etwas sagen, nehmen wir für das Gesagte in 245 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Anspruch, es sei verständlich und, so weit wir wissen, wahr bzw. richtig. Daraus erwächst das Geltungsverhältnis der Rede und damit der Diskurs. Auch wenn wir einen solchen Anspruch nicht direkt gegenüber jemandem erheben, so bezieht er sich doch, logisch betrachtet, auf mögliche Andere, die ihn verstehen und prüfen könnten und die ihm ggf. zustimmen würden: Der logische Bezugspunkt für die Geltungsansprüche unserer ausgesprochenen oder unausgesprochenen Gedanken ist die nicht begrenzbare Gemeinschaft all derer, die ihren Sinn verstehen und ihren Wahrheitsgehalt sowie ihre praktische Richtigkeit prüfen bzw. erkennen könnten. »Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem andren, oder mit sich, wie mit einem andren«, sagt Wilhelm von Humboldt und deckt die duale Struktur, die Dialogförmigkeit des Sprechens und zugleich damit die des Denkens auf. 7 Denn dieses ist ein leises Sprechen. In diesem Sinne fährt er fort: »Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiderung bedingt.« 8 Wer immer etwas denkt, der »spricht« zumindest leise, und wer spricht, ist dadurch in ein dialogförmiges Sozialverhältnis eingetreten; insofern ist er im »Dialog«. So nennen wir im allgemeinen (und in diesem Buch) einen sozialen Sinn- und Anerkennungszusammenhang, der auf einer – stets möglichen und von den Beteiligten immer schon vorausgesetzten – Wechselseitigkeit von Anrede und Erwiderung, Anspruch und Erwartung beruht. Hingegen soll dann von argumentativem Dialog, von Argumentation oder von Diskurs, in dem allein Gründe zählen, die Rede sein, wenn der Geltungsaspekt im Vordergrund steht. Das ist immer dann der Fall, wenn der besondere Geltungssinn eines Gesagten berücksichtigt wird; etwa, indem jemand einen Zweifel vorbringt oder einen Einwand bzw. ein Gegenbeispiel. Dann sind Gründe oder ergänzende bzw. bessere Gründe gefragt: Der Sprecher/die Sprecherin soll den anderen Rede und Antwort stehen; ein Dialog der Argumente ist eröffnet – ein »Dis-

W. von Humboldt, »Über den Dualis« (1827), in: Werke in fünf Bänden, hg. von A. Flitner u. K. Giel, Darmstadt 1963, Bd. 3, S. 137 f. (zit.: Werke (1963)) und in: W. v. Humboldt, Schriften zur Sprache, hg. von M. Böhler, Stuttgart 1973 (zit.: Schriften (1973)), S. 24. 8 W. von Humboldt, Werke (1963), Bd. III, S. 138 und Schriften (1973), S. 24 f. 7

246 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.2 ›Dialog‹ und ›Diskurs‹

kurs« im terminologischen Sinne der Diskurspragmatik und Diskursethik. Ich schlage vor, dann von »Dialog« zu sprechen, wenn es primär um das soziale Verhältnis zwischen Sprechern geht, um ihre gemeinsame Hintergrundpraxis, die sie wie eine Institution mit Rollen und Normen verbindet. Demgegenüber bietet sich der Ausdruck »Diskurs« an, wenn die kognitive Form und logische Ebene der Geltungsrechtfertigung im Vordergrund steht. Ich verwende »Diskurs« insofern synonym zu »Argumentation«. Ein Diskurs i. S. von Argumentation kann, grob unterschieden, auf zwei Ebenen stattfinden: auf der stets fehlbaren Ebene einer Situationserschließung oder auf der möglicherweise allgemeingültigen Ebene eines Prinzipienaufweises. Im ersten Fall geht es um die Wahrheitsprüfung der situationsbezogenen Erkenntnisbemühungen oder Normenrechtfertigungen als Situationserklärungen oder als moralischer Antworten auf Situationen. Dann handelt es sich um konkrete (theoretische oder praktische) Diskurse. Im anderen Fall geht es um die Aufdeckung und Einholung tragender Denk- und Redevoraussetzungen. Dann ist ein Grundlagendiskurs in Gang, der logische und moralische Prinzipien sucht. Vielleicht kann folgendes Schema zur Veranschaulichung dienen (s. S. 248). Spätestens an diesem Punkt unserer Erörterung mag die eine oder der andere unter Ihnen, verehrte Leser, den vielfältigen Gebrauch des Wortes »Diskurs« in Erinnerung rufen oder diesen sogar geltend machen gegen dessen Zurückführung auf Argumentation und Diskurs. Das ist ein interessanter empirischer Hinweis. Tatsächlich hat das Wort »Diskurs«, jedenfalls im öffentlichen Sprachgebrauch seit den siebziger, achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, teil an einer »neuen Unübersichtlichkeit« 9. Bald alles und jedes, das irgendwie einen Sinnzusammenhang darstellt, kann heute »Diskurs« genannt werden. Historisch geht die Wortbedeutung auf ›discurrere‹ (»hierhin und dorthin laufen«) zurück. In der Philosophie hat sich daraus ›discursiv‹ als Charakteristik des schlußfolgernden, analysierenden Denkens bzw. Verstandes entwickelt, wohingegen sich in der Bildungssprache ›discorso‹ bzw. ›discours‹ und ›Diskurs‹ als Bezeichnung für einen essayistischen Vortrag oder einfach für Rede und Gespräch einbürgerte. An diese bildungs9

J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Abb. 8:

Dialog als Interaktionsform bzw. als reziproker sozialer Sinn- und Anerkennungszusammenhang: Sprecher

Hörer

»Ich« als etwas Behauptender und Versprechender, zugleich als wirklicher und möglicher Hörer, der sowohl seine Rede kontrolliert als auch eine Erwiderung erwartet.

»Du« als etwas vom Sprecher Erwartender, zugleich als möglicher Sprecher, der etwas behaupten und versprechen kann.

Diskurs als Argumentation bzw. als reziprok strukturierter logischer Sinn- und Begründungszusammenhang: Argumentation(en) als Prüfung der Wahrheit, sei es eines konkreten (theoretischen oder praktischen) Diskussionsbeitrags, sei es einer Grundlagenreflexion, die ein Prinzip geltend macht.

sprachliche, etwa bei Goethe, Lichtenberg und Eichendorff anzutreffende, Verwendungsweise schließt sich der gegenwärtig dominante Wortgebrauch an: ›Diskurs‹ wird ein semiotischer Universalausdruck für allerlei Sinnzusammenhänge, Diskussionen bzw. Debatten, Textsorten und Zeichenkontexte. Terminologisch begegnet das Wort in der empirisch gerichteten Semiotik von Charles Morris 10, der linguistischen Diskurspragmatik 11 und in postmodernen Diskursanalysen – psychoanalytisch bei Jacques Lacan, historisch genealogisch und machtkritisch bei Michel Foucault, Ch. Morris, Signs, Language, and Behavior, New York 1946; deutsch: Zeichen, Sprache und Verhalten, Frankfurt a. M. 1981. 11 Vgl. D. Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt a. M. 1976, dort bes.: »Entwicklungen der Diskursanalyse«, S. 293 ff.; ders., »Sprechakttheorie und Diskursanalyse«, in: K.-O. Apel (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M. 1976 (zit.: Sprachpragmatik (1976)), S. 463–488; T. A. van Dijk (Hg.), Handbook of Discourse Analysis, 4 Bde., London 1985. 10

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III.2 ›Dialog‹ und ›Diskurs‹

sprachkritisch bzw. semiotisch dekonstruktivistisch bei Jean-François Lyotard, Jacques Derrida und Paul de Man. Dieser philosophisch neutrale, nicht normative Gebrauch setzt ein gleichrangiges Nebeneinander zahlloser Diskurse voraus. Im Gegensatz dazu steht der einerseits von Jürgen Habermas 12 in Vorbereitung einer sprachpragmatischen »Theorie des kommunikativen Handelns« 13, andererseits von Karl-Otto Apel und anderen im Zuge einer kommunikationsreflexiven Transformation der Transzendentalphilosophie vertretene Diskursbegriff 14: argumentativer Diskurs als faktischer Platzhalter oder als legitimer Erbe des kantischen Begriffs einer Vernunft, die aus sich selbst heraus praktisch ist und ihren kritischen Sinn von Sokrates bzw. von dem Bild des Gerichtshofs bezieht. ›Diskurs‹ steht hier für die dialogförmige Prüfung der in der lebensweltlichen Rede und Interaktion immer schon enthaltenen bzw. vorausgesetzten, aber nicht explizierten noch gar problematisierten Geltungsansprüche auf Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit, Aussagenwahrheit und normative Richtigkeit. 15 Bei dem pluralistischen Gebrauch des Wortes »Diskurs« einerseits und dem philosophischen Diskursbegriff andererseits handelt es sich nicht etwa um zwei nebeneinanderherlaufende, gleicherweise gültige Sprachspiele. Nein, der philosophische Begriff, wie ihn die Transzendentalpragmatik vertritt, erhebt den Anspruch, die allgemeine Rechtfertigungsinstanz zu sein, welche implizit von jedermann vorausgesetzt wird, gleich welches Selbstverständnis er habe, gleich ob er sich als Diskurspluralist oder als Diskurstranszendentalist verstehe. Es geht darum, diese Voraussetzung als Sinnbedingung des Etwas-Denkens zu erweisen. Das ist die sinnkritische Zielsetzung der Diskurspragmatik – eine transzendentale Zielsetzung … Sie steht auch der Hauptströmung der pragmatischen bzw. pragmatisch-hermeneutischen Wende entgegen. Gestützt auf Wittgenstein und Heidegger, sieht der Mainstream, vom J. Habermas u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971 (zit.: Theorie der Gesellschaft (1971)). 13 J. Habermas, Theorie d. kommunik. Handelns (1981). Ders., Vorstudien (1984). 14 K.-O. Apel, D. Böhler u. a. (Hg.), Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: 1980/1981 als Studienbegleithefte und 1984 als Studientexte, 3 Bde., Weinheim/Basel; dort S. 13– 137, 313–433, 545–634 und 845–888. 15 Vgl. J. Habermas, »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie des kommunikativen Kompetenz«, in: ders. u. N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft (1971), S. 101–141; ders., »Was heißt Universalpragmatik?«, in: ders., Vorstudien (1984), S. 353–440. 12

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

moderaten Habermas über die (sprach-)analytischen Philosophen bis zum radikalen Rorty, die Sache der Philosophie nurmehr in der Beschreibung und Rekonstruktion von Formen der Rede und der Handlung sowie in der Interpretation ihrer geschichtlichen Kontexte. Tendenziell degeneriert die Philosophie zur Kulturwissenschaft. Gegen die Verabschiedung der Philosophie als Reflexion machen die Transzendentalpragmatiker und Diskurspragmatiker, fast vereinzelte Schwimmer gegen den Strom, nicht nur politisch folgendes geltend: ›Ihr landet in einem Kulturrelativismus, der gerade das nicht ermöglicht, was durchaus denkmöglich und in der globalisierten Gefahrenzivilisation orientierungsnötig ist: universal verbindliche Verantwortungskriterien und -pflichten!‹ Sinnkritisch läßt sich gegenüber den Kulturrelativisten, die sich selbst gern als Kontextualisten verstehen, geltend machen: ›Ihr vergebt nicht allein die größte Chance der pragmatischen Wende, die kritische Reflexion, diese Haupterrungenschaft der Subjektphilosophie, sprachpragmatisch neu zu begründen, nämlich als Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens und des Argumentierens. Nein, zugleich damit vergeßt ihr euch selbst als Denkende. Denn als Denkende erhebt ihr ja für eure relativistische Position selber Ansprüche auf universale Geltungsfähigkeit. Also seid ihr hinsichtlich eurer Position keine Partner, die sich im Diskurs der Argumente verantworten könnten. Vielmehr stehlt ihr euch aus dem Diskurs der Argumente und der Selbsteinholung heraus.‹ 16

III.3 Sokratische Dialogreflexion. Vermittlung von Sollen und Wollen: Prinzipienbegründung und Willensmotivation aus dem Diskurs Die Begründung der Diskursethik hat, jedenfalls in der Berliner Diskurspragmatik, eine Wende zur Dialogreflexion vollzogen. 17 Ihr Denk-

D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 368 f., 386 ff.; vgl. S. 36 f. und 355. Vgl. D. Böhler, »Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik versus kulturalistische (Unternehmens-)Strategik. Besteht eine Pflicht zur universalen Dialogverantwortung?«, in: H. Steinmann u. A. G. Scherer (Hg.), Zwischen Universalismus und Relativismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 126–178 (zit.: »Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik« (1998)). Dazu H. Gronke, »Die Praxis der Reflexion«, in: H. Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren (2002), S. 21–44, bes. S. 38 ff.

16 17

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III.3 Sokratische Dialogreflexion

weg – wir haben ihn bislang schon beschritten und machen uns jetzt seine Stationen nochmals bewußt – sieht folgendermaßen aus: Zuallererst wird die Verwobenheit von Erlebnis bzw. Handlung und Diskurs dargetan, indem dieser als unhintergehbares Begleitphänomen menschlicher Regungen a priori aufgewiesen wird, eben als Begleitdiskurs. Dieser Begriff und die ihm zugrundeliegende Einsicht in die Unhintergehbarkeit dieses Phänomens ergeben sich, wenn man – das ist das zweite – die sowohl alltäglich als auch wissenschaftlich dominante Einstellung einer sachkonzentrierten Aufmerksamkeit auf etwas als etwas ergänzt durch die reflexive Einstellung des Sich-Befragens: Man besinnt sich auf jene internen Voraussetzungen des Etwasals-etwas-Erlebens bzw. des Etwas-als-etwas-Tuns (in bezug auf eine Situation und mit Blick auf einen Zweck), dank derer sich eine Handlungsweise allererst in Form einer logisch vollständigen Äußerung, in der performativer Akt und propositionaler Gehalt verbunden sind, verständlich machen läßt. Diese Voraussetzungen für die Verstehbarkeit einer Handlungsweise nennen wir »Sinnbedingungen«. Sie tragen sowohl eine Handlung (als Sinnzusammenhang, auf den wir uns beziehen, den wir charakterisieren und diskutieren können) wie auch eine mögliche Stellungnahme zu der Handlung, also den Sinnzusammenhang zweiter Ordnung, den wir »Begleitdiskurs« genannt haben. Die Reflexion auf die Sinnbedingungen von Handlung und Begleitdiskurs ist freilich keine strikte Besinnung, sondern ein Zwitter: teils reflexiv, teils auch betrachtend. In betrachtend analytischer Haltung – terminologisch spricht man von »theoretischer Einstellung« – versucht der so Fragende die notwendigen Sinnvoraussetzungen eines (Begleit-) Diskurses aufzudecken und zu erläutern. Diese rekonstruktive Leistung ist aber wie alle theoretischen Leistungen mehr oder weniger perspektivisch interpretierend; und das macht ihre Ergebnisse mehr oder weniger fehlbar. Daher unterscheidet die Diskurspragmatik – drittens – streng zwischen der lediglich explizierenden Rekonstruktion, die früher von den Transzendentalpragmatikern mit der »strikten Reflexion« (Kuhlmann) mehr oder weniger zusammengeworfen wurde 18, und dieser Reflexion selbst, welche nun sokratisch verstanden und als die entscheidende Begründungsleistung angesehen wird: als Verbindlichkeitserweis oder,

18

So auch von D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 367.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

traditioneller und mißverständlich, als Letztbegründung im Sinne Apels. Diese Reflexion wird nun folgendermaßen bestimmt: (a) als sokratisch sinnkritische Konfrontation der Geltungsposition eines Diskursteilnehmers mit seinem Zweifel daran, daß das rekonstruierte X wirklich eine Sinnbedingung des Diskurses und daher allgemeinverbindlich ist, (b) als der ausschließlich beweisfähige, einzig und allein gültigkeitsverbürgende Begründungszug: Gültigkeits- und Verbindlichkeitserweis durch Reflexion in dem gerade stattfindenden Dialog auf normativ gehaltvolle Präsuppositionen des Diskurses, (c) als Besinnung von Diskursteilnehmern darauf, was sie tun müssen, um ein glaubwürdiger Diskurspartner zu sein bzw. zu werden; was es nämlich heißt, den diskurstragenden Verpflichtungen der Rolle eines Partners in einem Dialog der Argumente gerecht zu werden. Erst wenn diese Begründungsschritte getan, wenn die zugehörigen Begriffe gewonnen und dialogreflexiv gesichert worden sind, kommt – als vierte Einsicht – die »zweigestufte Systemidee« ins Spiel, welche die Transzendentalpragmatiker von Anbeginn vertreten haben: 19 »Reflexive Letztbegründung« des Moralprinzips 20 versus praktische Diskurse. Allerdings führt die Diskurspragmatik das Prinzip ›D‹ zugleich als Handlungsprinzip ein, und zwar als regulatives Handlungsprinzip 21, welches den Adressaten ein dialoggeleitetes Engagement abverlangt, zuallererst eine Bemühungszusage 22: ›Bemüht euch jeweils um eine Argumentation und eine HandVgl. meine Ableitung und Konkretion des Diskurs-Moralprinzips ›D‹ in: »Idee und Verbindlichkeit der Zukunftsverantwortung: Hans Jonas und die Dialogethik – Perspektiven gegen den Zeitgeist«, in: Th. Bausch, D. Böhler u. a. (Hg.), Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft, EWD-Bd. 3, Münster 2000, S. 34–69 (zit.: »Idee und Verbindlichkeit« (2000)), bes. S. 50 ff. 20 W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985). 21 Die Statusbestimmung des diskursethischen Moralprinzips ›D‹ als eines regulativen Handlungsprinzips schlichtet m. E. auch den Streit, der zwischen Apel und den St. Galler Diskurs-Wirtschaftsethikern, zumal Peter Ulrich, über die handlungsorientierende Rede von ›D‹ oder dessen »Anwendung« im Sinne eines verantwortungsethischen Ergänzungsprinzips und nicht zu einer abschließenden Klärung gebracht worden ist. 22 Der dialogreflexive Neuansatz und dessen kritische Integration des transzendentalpragmatischen Systementwurfs findet sich wohl erstmals in meinem skeptikerkritischen Essay: »Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik« (1998). Erhellend und kontexterschließend dazu: H. Gronke, »Die Praxis der Reflexion«, in: H. Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren (2002), S. 21–44, bes. S. 36. 19

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III.3 Sokratische Dialogreflexion

lungsweise, die die begründete Zustimmung aller als Diskurspartner verdienen‹ (›D‹). 23 Das tragende diskursethische Prinzip hat gewissermaßen einen Doppelcharakter. Denn es ist einerseits das letzte Geltungskriterium für Diskursbeiträge, andererseits das oberste regulative Handlungsprinzip, nämlich die verbindliche, aber jeweils situativ näher zu bestimmende, vor allem verantwortungsethisch zu konkretisierende Zielorientierung des Wollens und Sich-Verhaltens. So begründet und so verstanden, bildet ›D‹ den zugleich geltungslogischen und moralischen Rahmen für situationsbezogene »praktische Diskurse«, in denen die rationale, allerdings fallible Begründung konkreter Normen für die jeweilige Situation zu leisten ist. 24 ›Beschränkt sich die praktische Bedeutung dieses Begründungsgangs‹, so mögen Sie, geneigte Leser, hier einwerfen, ›auf ein Beweisverfahren für Normen bzw. für den normativen Gehalt der Handlungsziele? Wo blieben dann wir in der Lebenswelt und Alltagspraxis, die wir eine Motivation suchen oder doch deren Klärung und Präzisierung? Bringen wir doch aus unserer Lebenswelt und Sozialisation ethische Intuitionen mit, spüren aber, es sei klärungsbedürftig, wonach wir letztlich streben, was wir eigentlich wollen und was jeweils das Gute sei, also das, was der Mühe des Strebens und Handelns wert ist. Sind wir mit der Suche nach Motivierung bei der Diskursethik als normativer Ethik an der falschen Adresse? Müßten wir uns an die Ethiker des guten Lebens resp. an Wertethiker wenden, also nicht an die kantische sondern an die aristotelische Tradition?‹ Führen wir uns zunächst die beiden komplementären Ethikformen 25 mit ihren verschiedenartigen Bezügen vor Augen, um klare Unterscheidungen zu gewinnen. Dazu folgendes Schema: Die Motivationsfrage ist die starke Seite der Wertethik bzw. Ethik des Guten und der Aristoteles-Tradition, nicht die der Normenbegründung und der normativen oder deontologischen Ethik seit Kant. So ist es auch ein streckenweise aristotelischer Wertethiker gewesen, der aber zugleich quasi kantisch nach dem moralisch Gesollten fragt, welcher »Als Diskurspartner« bedeutet, daß den Sinnbedingungen eines Diskursbeitrags entsprochen wird, wie sie in Abschnitt III.4.4 ausgeführt sind. 24 Gleichsam die Gründungsurkunde jenes Ansatzes ist das Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik von 1980/81. 25 Vgl. W. Kuhlmann, »Warum Normenethik?«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 2, S. 495–522. 23

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aristotelisch im weiten Sinn

teleologisch, glücksethisch, wertethisch

deontologisch, normativ ethisch, kantisch bis moralisch, diskursphilosophisch d. h. einsehbar verbindlich

Tradition

Ethiktyp

Kompetenz

Praktische Klugheit mit Zweckrationalität

Kommunikative praktische Vernunft letztlich aufgrund von Dialogreflexion und argumentativen Dialogen/Diskursen

Fragen

Was wollen wir eigentlich? Was ist der Mühe wert und wertvoll? Was ist das Gute bzw. das gute Leben?

Was sollen wir tun bzw. was kann als richtig bzw. legitim gelten? Wozu sind wir als Vernunftsubjekte/ Diskurspartner verpflichtet?

Abb. 9: Die beiden Ethiktypen und ihre Bezüge

Indirekte Motivation: »Wo bist du?« »Bist du jetzt ein glaubwürdiger Diskurspartner?«

(! kategorischer Imperativ)

Einsicht in Prinzip der Moral und Begründung moralischer Normen

(! hypothetische Imperative)

Stimulierung der Motivation als Bereitschaft zu Tugenden und Werten durch Ratschläge für gutes Leben

Ziel

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

254

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III.3 Sokratische Dialogreflexion

mich von der Bedeutung der Motivationsfrage überzeugt hat: Hans Jonas. Ebenso aufmerksam für die Lebens- und Wertbedrohungen unserer technisch wissenschaftlichen Zivilisation wie für deren Relativierung des Moralprinzips, hat er sorgsam den phänomenologischen Blick auf die ethischen Intuitionen, auch auf die naturethischen Intuitionen aus Lebenswelt und Religion gerichtet. Beeindruckt davon, entwarf ich in der Laudatio zu seiner Ehrenpromotion der Freien Universität Berlin 1992 eine Arbeitsteilung, gewissermaßen ein komplementäres Kooperationsverhältnis von ontologisch begründeter Ethik des Guten bzw. Wertvollen und dialogisch begründeter Ethik des Sollens. 26 Denn als intuitionsbezogene »Heuristik ist eine ontologische Wertlehre gut für das diskursive Zusammenspiel mit einer Sollensethik geeignet: Die ontologische Wertheuristik würde für Verantwortung empfänglich machen; die normative Ethik würde Maßstäbe dafür aufstellen, zu welcher Verantwortung wir verpflichtet sind, und Dialogverfahren entwickeln, um diese Maßstäbe anwendbar zu machen. Beide Seiten wären aber nicht unabhängig voneinander anzusetzen, um erst nachträglich in ein Kooperationsverhältnis zu treten; vielmehr müßten sie von vornherein im Verhältnis wechselseitiger Ergänzung und Erläuterung stehen. Dabei käme der ontologischen Wertheuristik das inhaltliche und das Motivationsprius zu, während die Prinzipienreflexion und die Normenbegründungsdiskurse den logischen Primat beanspruchen könnten.« 27 Während Jonas sittliche Intuitionen der Fürsorge geltend macht, die sich in der Lebenswelt als familiäre und staatliche Institutionen verkörpert haben – so die elterliche Fürsorge und die staatsmännische Verantwortung –, deckt die sokratische Diskursethik moralkonstitutive Intuitionen und Wollensrichtungen auf, die an dem Dialog und der Diskurspartnerrolle haften. Auf reflexive Weise, indem sie uns mit unserer Diskurspartnerrolle konfrontiert, motiviert auch die Diskurspragmatik. Sie motiviert zu bewußter Identität, insofern Menschen zugleich Akteure und Denkende sind. Insbesondere motiviert sie zu konsequenter Identität im Denken bzw. im Diskurs, insofern wir hier zugleich eine besondere Meinung vorbringen und die allgemeine Rolle eines DisD. Böhler, »Hans Jonas – Stationen eines Denkens«, in: ders. u. R. Neuberth (Hg.), Herausforderung Zukunftsverantwortung. Hans Jonas zu Ehren,. EWD-Bd. 1, Münster 1992, S. 27–36, hier: S. 33. 27 A. a. O., S. 33. 26

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

kurspartners in Anspruch nehmen. Das diskurspragmatische Kriterium – in den Abschnitten III.4.3 bis III.4.5 kommen wir darauf zurück – ist die Diskursglaubwürdigkeit bzw. die Selbsteinholung des Akteurs als eines Argumentationspartners. Es geht um die, im argumentativen Diskurs zu bestätigende, Kohärenz von Handlungsweise und Diskurspartnerrolle. ›Ich‹ als Handelnder, der ein besonderes Interesse verfolgt (Ich I) und ›ich‹ als Diskurspartner (Ich II) sollen kohärent sein, und zwar in dem Sinne, daß ›meine‹ Handlungsweise argumentativ zustimmungswürdig ist. Die Seinsgrundlage für diesen normativen Maßstab ist die, wiederum zweifach verortete, Doppelrolle der Menschen als Agierender und als Bedenkender bzw. Sich-besinnen-Könnender: In dem umgreifenden Sinnrahmen der sozialen Welt erscheinen wir sowohl als Handelnde und Machende wie auch als Bedenkende und uns Besinnende. Und in dem spezifischen Rahmen eines Diskurses, einer nachdenkenden Erörterung, treten wir ebenfalls als Agierende und als Reflektierende auf. Hier handeln wir kommunikativ sprachbezogen, indem wir etwas Gedachtes Anderen zu verstehen geben und es ihnen gegenüber geltend machen, z. B. eine Frage oder eine Behauptung. Dabei beziehen wir uns auf die Erwartungen von Diskurspartnern und können uns darauf besinnen, was es heißt, diesen mit unseren Beiträgen zu entsprechen. Im Diskurs agieren wir ausdrücklich und reflektieren jedenfalls implizit – ausdrücklich zumeist nur in Zweifelsfällen, bei Mißverständnissen bzw. Konflikten. Diese zwiefache Doppelfunktion des Menschen ist der anthropologische Ausgangspunkt der rekonstruktiven Pragmatik oder Transzendentalpragmatik im weiten Sinne. 28 Hier nun, wo es um Grundlagen der Ethik geht, kommt zumal der Diskurs, das Begleitphänomen des Handelns, in den Blick. Das ist die Perspektive der Diskurspragmatik als Transzendentalpragmatik im engen Sinne. 29 Diese Perspektive verhilft nicht allein zur Begründung moralischer Normen, sie trägt auch zur Motivation bei. Sie motiviert durch Reflexion auf uns, die wir als Diskursteilnehmer wissen können, daß wir zweierlei Modalitäten verbinden: ein aktives Wollen und ein erwartetes Sollen. Unser Wollen leitet das Diskurshandeln. Das dialogische Sollen, verkörpert in den Er-

28 29

D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), bes. S. 19 f., 241 f., 355 ff.; vgl. Kap. III–V. A. a. O., bes. S. 20, 23 f., 241 f., 309 ff. und Kap. VI.

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III.3 Sokratische Dialogreflexion

wartungserwartungen eines Diskurspartners, bringt uns zur Diskursreflexion. In einem Diskurs wollen und sollen wir zugleich. Den lebensweltlich ethischen Sinnhintergrund des Wollens kann die wertethische Phänomenologie erschließen, wie sie Hans Jonas vertritt. Jonas rekonstruiert lebensweltliche ethische Intuitionen so sorgsam, wie es allein die phänomenologische Methode vermag. 30 Dabei ist auch sein Bezugspunkt ein Kohärenzkriterium für Identität – nun aber nicht für die Identität des Diskurspartners, sondern für die des Alltagsmenschen, der ein gutes Leben will. So bringt er seinen Kohärenzmaßstab als Wertethiker ins Spiel. Diesem Maßstab zufolge gehört der Einklang von Person und Handlungsweise mit lebensweltlichen Verantwortungsgefühlen und paradigmatischen Verantwortungsinstitutionen (wie der Elternschaft oder des Staatsmanns) zu einem wertvollen Leben. Daher zielt Jonas’ »wertethischer Diskurs auf die Explikation dessen, was wir […] eigentlich wollen und wozu wir als ›eigentliche Menschen‹ motiviert sein würden.« 31 Allein, was ist das? Lassen sich gültige Kriterien dafür erweisen? Damit stehen wir wieder vor einer normativen Frage – eigentlich vor der radikalen Frage des Sollens: Was sollen wir vernünftigerweise wollen? Hier liegt die Gegenfrage nahe, ob diese strikt normative Perspektive, welche nach Prinzipienbegründung verlangt, die sanfte Motivationskraft der Kohärenz unterminiert? Das wäre nicht der Fall, wenn es einen Ort gäbe, an dem das wohlverstandene Wollen und das letztbegründbare Sollen zusammenfallen, wo also Motivation und Legitimation übereinkommen. Indem die Diskurspragmatik den Prinzipienbegründungsanspruch durch aktuelle Dialogreflexion einlöst 32, führt sie auf diesen Ort: den Diskurs der sinnvollen Argumente als Dialog gleichberechtigter Partner. Auf diese Weise motiviert sie die Akteure zu ihrer Identität als agierender und dialogisch reflektierender Subjekte. Denn sie bringt uns zu Bewußtsein, daß alle Menschen in ihren konkreten BegleitdisH. Jonas, Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993 (zit.: Philosophie (1993)), S. 12. 31 H. Gronke, »Epoché der Utopie. Verteidigung des ›Prinzips Verantwortung‹ gegen seine liberalen Kritiker, seine konservativen Bewunderer und Hans Jonas selbst«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 407–427, hier: S. 417. 32 D. Böhler, »Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik«, in: ders., M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung (2003), S. 15– 43. 30

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

kursen zwar etwas je Besonderes wollen, zugleich aber wissen resp. wissen können, daß sie etwas Dialogallgemeines sollen. Aus dieser Aufklärung unserer selbst, unserer Doppelrolle als je besonderer Akteure bzw. Interessenten und als möglicher Teilnehmer am argumentativen Diskurs, ergibt sich eine indirekte Motivation: Von der Diskurspragmatik werde ›ich‹ nicht direkt als Mensch mit meinen besonderen Wünschen, Interessen und sonstigen Wertdispositionen angesprochen, d. h. als Mensch in einer jeweiligen Situation, sondern als Mensch, der sich über seine Lage Rechenschaft ablegen, also einen Begleitdiskurs führen kann, d. h. als möglicher Diskurspartner. Auf der Seite des Wollens bringen wir im Begleitdiskurs dadurch, daß wir etwas Besonderes, z. B. eine Meinung oder ein Interesse, geltend machen, ein Stück Freiheit ins Spiel und erkennen dabei zugleich, auf der Sollensseite, Verantwortungspflichten an. 33 Wir wollen eine Auffassung geltend machen, wollen ein Problem lösen, wollen andere überzeugen etc. Das aber sollen wir verständlich und wahrheitsfähig – diskutierbar – tun; dabei sollen wir die Anderen als gleichberechtigte Partner achten, sollen ernsthaft und diskursverantwortlich mit ihnen kooperieren. Und von diesen drei Dingen wissen wir: von unserem je besonderen Wollen, unserem dialogpartnerschaftlichen Sollen und davon, daß beides zugleich besteht. Mithin entspringt die Freiheit des Diskursteilnehmers nicht etwa allein aus dem Eigenwillen, ist nicht etwa bloß Willkürfreiheit, sondern vielmehr hängt sie von dem Wissen über diese kommunikative Interaktion und deren interne Bedingungen ab. Es handelt sich um kommunikative Freiheit. Diese basiert auf einer reziprok-kommunikativen Erfahrung, auf die ›meine‹ jeweiligen Anderen sich ›mir‹ gegenüber berufen können. Daher ist sie moralisch von Belang und kein bloßes kontingentes Faktum. 34 Inwieweit man diese Pflichten konterkarieren kann, wird in den Erörterungen des offenen und verdeckten strategischen Handelns diskutiert, etwa von J. P. Brune, »Konsensorientierte Sprechhandlungen. Vorüberlegungen zur formal- und transzendentalpragmatischen Begründung von Rechtsnormen«, in: M. Niquet, F. J. Herrero u. M. Hanke (Hg.), Diskursethik. Grundlegungen und Anwendungen, Würzburg 2001 (zit.: Diskursethik (2001)), S. 95–118, hier S. 100–116 und M. H. Werner, »Ist das Böse selbst-verständlich? Zur Diskussion über ›einfache Imperative‹ – ein Versuch, mit Apel gegen Apel zu denken«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung (2003)), S. 83–96. 34 Dazu die Analyse in Böhler, Rek.Pragm. (1985), S. 296 ff., S. 374. – Zum ›Faktum der Vernunft‹ ohne naturalistischen Fehlschluß vgl. D. Böhler, »Zukunftsverantwortung, 33

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III.3 Sokratische Dialogreflexion

Wenn das zutrifft, besteht das philosophische wie überhaupt das legitimatorische A und O in dem reflexiv sokratischen Rückgang auf den Begleitdiskurs. Sind in ihm doch die Verbindlichkeiten eines Diskurspartners zu greifen. Daher ist er der Angelpunkt des Rechtfertigens und des Sich-Verantwortens. Wenn wir jemanden auf seine Verbindlichkeiten als Diskurspartner verweisen, treten wir nicht mit einer Aufforderung von außen an ihn heran; vielmehr bringen wir ihm seine Selbstaufforderung als Diskursteilnehmer zu Bewußtsein: ›Hic Rhodus, hic salta!‹ oder: ›Sei hier und jetzt ein glaubwürdiger Diskurspartner, gleich in welchem Typ eines argumentativen Diskurses du dich befindest!‹ Die Reichweite dieser Aufforderung ist schlechterdings universal: Kein Denkender kann sich ihr mit guten Gründen entziehen. Denn jeder kann wissen, daß er zu allem, was er tun und erleben mag, Stellung nehmen kann und daß er, zumindest virtuell, auch schon dazu Stellung nimmt; und zwar mit den Geltungsansprüchen der Wahrhaftigkeit und Verständlichkeit, der Wahrheit und der normativen Richtigkeit. Das Geltung beanspruchende Stellungnehmen zu einem jeweiligen Tun und Erleben, das sich von diesem nicht wegdenken läßt, ist schon Diskurs, wie wir sagten. Auch diejenigen, die bis über den Kopf in ihrer Praxis stecken, sind zugleich implizit in einem Begleitdiskurs. Die Rolle des Diskurspartners begleitet alle anderen Lebensrollen und Berufsrollen … Die sokratisch reflexive Aufforderung besagt, daß sie dieses Zugleich-Sein ausdrücklich und konsequent praktizieren sollen – als glaubwürdige Diskurspartner. Die Pointe ist: Der Rückgang auf den unhintergehbaren Begleitdiskurs führt auf unsere Verbindlichkeiten als Diskurspartner. Der Begleitdiskurs ist der Angelpunkt des Sich-Verantwortens. Freilich könnten Sie, meine Leser, hier einwenden: ›Aber bleibt es nicht offen, wie der Begleitdiskurs geführt wird? Öffnet sich hier nicht eine ganze Skala von Verhaltensweisen und Rationalitätstypen? Und zwar von einem losgelassenen zweckrational strategischen Erfolgskalkül, dem alle Mittel recht sind – man denke an Terroristen oder an Moralprinzip und kommunikative Diskurse. Die Berliner Auseinandersetzung mit Hans Jonas«, in: Th. Bausch, D. Böhler, Th. Rusche (Hg.), Wirtschaft und Ethik. Strategien contra Moral?, EWD-Bd. 12, Münster 2004 (zit.: Wirtschaft und Ethik (2004)), S. 215– 288, bes. S. 233 ff.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Spekulantengesindel in Großbanken –, bis hin zur strikt argumentativen, reziprok dialogischen Wahrheits- und Richtigkeitssuche?‹ Ja und nein: Sicher kann jeder versuchen, seinen Begleitdiskurs undialogisch und unmoralisch zu führen. So ist der Mensch. Und vielleicht hat er damit empirisch auch Erfolg, vor allem dann, wenn er durch die Systemgrenzen wirkungsmächtiger Institutionen, etwa einer Großbank im globalen Finanzsystem, abgeschirmt ist von öffentlicher Kritik. Was aber auf der Ebene empirischer Erfolgsmöglichkeiten zutreffen mag, das gilt nicht zugleich auf der Ebene von Sinn und Geltung. Erstens läßt sich nämlich der Begleitdiskurs nicht prinzipiell ausschalten, weil jeder auf ihn angewiesen ist. Zweitens setzt der Begleitdiskurs a priori moralisch gehaltvolle Geltungsansprüche voraus. Das heißt: Diejenigen, die ihr Verhalten ausschließlich strategisch und zweckrational orientieren wollten, könnten einen Begleitdiskurs überhaupt nicht glaubwürdig führen, weil sie die vorausgesetzten universalen Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit, der Wahrheit und der Richtigkeit bzw. Gerechtigkeit nicht einzulösen vermögen. Eben daran scheitern sie dialogisch; diese Geltungsunfähigkeit können die anderen ihnen jederzeit vorhalten. Denn der Begleitdiskurs ist unhintergehbar, und die Gültigkeit seiner normativen Voraussetzungen läßt sich nicht relativieren. Lassen Sie uns die These von der Unhintergehbarkeit des Begleitdiskurses und seiner moralisch geladenen Sinnbedingungen prüfen, indem wir uns zwei verschiedenartige Fälle strategisch zweckrationaler Orientierung vornehmen: einerseits einen Risikospieler oder »nur« einen risikofreudigen Banker, der als solcher an das Finanzmarktsystem und dessen Regeln glaubt, andererseits einen absoluten Welt- und Regelverächter, der sich einem totalen Strategismus verschrieben hat und die ganze Welt zu manipulieren versucht. Der letztgenannte Typus wäre der Repräsentant des diabolischen Bösen. Als absoluter Strategist versucht dieser alles und jedes ausschließlich als Gegenstand seines Erfolgskalküls zu behandeln, erkennt keine dialogischen Verhältnisse und deren Normen an, so daß er sich entweder auf einen Begleitdiskurs über sein Verhalten gar nicht erst einläßt, oder aber – noch raffinierter – einen solchen bloß vortäuscht und instrumentalisieren will. Doch damit muß er scheitern. Zunächst scheitert er im Verhältnis zu sich selbst. Denn in seinem Selbstverhältnis kann er beispielsweise den moralisch gehaltvollen Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit nicht entbehren: Ein Nihilist, auch der radikale Verbrecher, der im Bösen erfolgreich sein will, kann sich selbst 260 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.3 Sokratische Dialogreflexion

nicht permanent belügen. Und in der Beziehung zur Welt ist er zumindest auf den Wahrheitsanspruch (zur Einschätzung der Weltverhältnisse) angewiesen … Der relative Strategist, ein Hasardeur auf fremde Rechnung wie ein Banker, der mit hohem Geldwert Spekulationsgeschäfte auf dem USamerikanischen Immobilienmarkt betreibt, erhebt den Geltungsanspruch der Wahrheit in der sozialen Welt, zumal gegenüber seinen Klienten. So beansprucht er, es sei wahr, daß die von ihm eingegangenen Risiken weder gefährlich für seine Kunden, für seine Bank noch gar für Dritte und die Volkswirtschaft seines Landes oder Europas seien. Wenn er jedoch über keine Risikokontrolle verfügt, kann er diesen Wahrheitsanspruch überhaupt nicht einlösen. Nun kann er aber wissen, daß ihm eine solche Kontrolle fehlt. Wer einen uneinlösbaren Wahrheitsanspruch erhebt, der irrt nicht etwa, sondern betrügt: Er zerstört seine Glaubwürdigkeit, zunächst seine Glaubwürdigkeit im Begleitdiskurs über seine Geschäfte. Hinzukommt: Der Banker weiß von vornherein, daß von ihm generell das Geschäftsgebaren eines ordentlichen, verläßlichen Haushaltens (mit Einlagen der Bankkunden) erwartet wird. Sein Anspruch auf Glaubwürdigkeit steht und fällt damit, daß er seinem Haushalterdienst durch ein vorsichtiges und kontrollierbares Gewinnstreben gerecht wird, statt in Roulettespiel zu verfallen und als Hasardeur zu spekulieren. Wenn der Banker wissen kann, daß er keine Kontrolle über seine Risiken besitzt, dann ist es unwahrhaftig, so zu tun, als tätige er ein normales Anlagegeschäft und nehme keine gefährlichen Risiken in Kauf. Dann spielt er anderen und sich selbst nur etwas vor, agiert nicht als Haushalter sondern als Hochstapler und Vabanque-Spieler. Im Begleitdiskurs fällt er hoffnungslos durch. Da er weder seinem Anspruch auf Glaubwürdigkeit bzw. Wahrhaftigkeit (bei Wahrnehmung seiner Berufsrolle) gerecht wird, noch den Wahrheitsanspruch seiner Risikoübernahme einlösen kann, ist er kein glaubwürdiger Diskurspartner. Er hat sich disqualifiziert. Das können wir alle durchschauen, auch ohne Philosophie studiert zu haben. Weshalb? Weil wir alle schon ein implizites Wissen von den Geltungsansprüchen mitbringen, welche den argumentativen Diskurs tragen – den Diskurs, der alle menschlichen Handlungen virtuell begleitet. Auf der Basis dieses moralisch gehaltvollen Vorwissens vom Diskurs, mithin auch von den internen Rechtfertigungsbedingungen des menschlichen Tuns und Lassens, können wir ebensowohl be261 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

gründete Urteile fällen, auch moralische Urteile, wie intersubjektiv geltungsfähige Handlungsorientierungen gewinnen. Will sagen: Wir können uns auf den Weg der praktischen Vernunft machen, den genau zu vermessen Aufgabe der Philosophie ist.

III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Die praktischen Elemente der Vernunft Besagte Aufgabe nimmt die Diskurspragmatik in Angriff, indem sie nach dem leibhaften Diskurspartner fragt, und das heißt: nach seinem Diskursverhältnis zu realen und virtuellen Anderen. Es ist eine aufstörende Frage. Sie reißt sowohl aus der alltäglichen und praktischen Konzentration auf das Naheliegende, auch Bedrängende, das gerade zu tun ist und jeden mit Beschlag belegt, als auch aus der theoretischen Einstellung sachkonzentrierter Wissenschaft bzw. logischer Analyse. Die Frage mutet uns eine radikale Wende zu. Jetzt geht es nicht mehr um eine Drehung der Betrachtung, wie sie erst Platon (von der Wahrnehmung zur theoria), dann Kant (von der theoria zur transzendentalen Bedingungsanalyse der Erkenntnis) und Wittgenstein (von der idealen Sprachlogik zur Beschreibung der realen Sprachspiele) vorgenommen hatten. Vielmehr geht es – wie vorgreifend schon angedeutet 35 – um eine dialektische Aufhebung der Betrachtung: Die (in Form einer Rekonstruktion vorgenommene) Betrachtung wird mit einer aktuellen Reflexion vermittelt; und diese ist der entscheidende Begründungszug, nämlich auch die Prüfungsinstanz der Rekonstruktion. Im Zentrum der Philosophie steht jetzt eine sprachbezogene, sinnkritische Reflexion auf ›dich‹ und ›mich‹, die wir jetzt gerade etwas als etwas verstehen, denken und Anderen gegenüber geltend machen. Deshalb kann das Philosophieren, wie oben geschehen, mit der Frage »Wo bist du?« eröffnet werden 36 – in säkularer Analogie zur biblischen Schöpfungserzählung und zu dem biblisch motivierten Dialogismus Bubers und Rosenzweigs. Die Analogie zum Dialogismus besteht, wie wir gesehen haben, darin, daß die Menschen hier wie dort als schon Erwartete verstanden werden. Die Differenz in der Analogie ist der Bezug des Erwartetseins. Nicht mehr Gott wird als der Erwartende gesetzt, sondern die ideale 35 36

Insbesondere Abschnitt I.6.3. Siehe oben, Abschnitt III.1.

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

Argumentationsgemeinschaft, welche in der realen Kommunikationsgemeinschaft bereits vorausgesetzt ist. Gewiß: Zunächst sind wir faktisch erwartet von Mitmenschen in den Sinnzusammenhängen und Institutionen jener realen Kommunikationsgemeinschaft, in der wir ihnen mit unseren Interessen und Gefühlen, Aufgaben und Absichten begegnen. Doch zugleich sind wir von vornherein erwartet als solche, die bereit sind, Rede und Antwort zu stehen, indem wir gute Gründe für unser Tun vorbringen. Da wir nämlich nicht bloß Beliebiges sagen und tun, sondern damit Ansprüche auf Geltung verbinden, sind wir selbst es, die eine idealisierende Regelerwartung auf uns ziehen. Infolgedessen erwarten die Anderen von uns, daß wir uns in der zweiten grammatischen Person (»du«) ansprechen lassen und dann bereit sind, in der ersten und dritten grammatischen Person (»ich tue« und »es ist«), uns den Anderen mit guten Gründen zu erklären, und zwar als wahrhaftige Dialogpartner mit einem verständlichen Diskursbeitrag. III.4.1 Sprachliche Verständigung – durch Aussage oder durch Kommunikation, primär semantisch oder dialogpragmatisch? Nur was heißt hier verständlich? Nicht bloß der Bedeutungsaspekt, das Ausgesagte, muß verständlich sein; eine solche semantische Verständlichkeit ist noch beim Unsinn (tendenziell) gegeben. Nein, der Dialog und die Dialogpartner erwarten dialogbezogene Verständlichkeit von ›mir‹ : Meine Rede muß dialogisch und argumentativ verständlich sein, muß ein Kooperationsangebot für die Anderen darstellen, worauf sie hier und jetzt mit Argumenten eingehen können und wodurch sie sich anerkannt finden als Dialogpartner. Meine Rede ist erst dann in vollem Sinne verständlich, diskurspragmatisch verständlich, wenn die Anderen sie im Blick auf die mögliche Wahrheit ihres Sachgehalts und die moralische Richtigkeit ihres normativen Hintergrunds prüfen bzw. aus guten Gründen akzeptieren können. So wie wir unsere faktischen Handlungen erst hinreichend verstehen, wenn wir sie als Antworten auf Situationen interpretieren – weshalb die Humanwissenschaften als Handlungswissenschaften eine quasi-dialogische Einstellung einnehmen und durchhalten müßten 37 –, so verstehen wir unsere Stellungnahmen und Ideen, auch unsere Expres37

D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), Kap. III und IV.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

sionen und Beschreibungen erst dann richtig, wenn wir sie als QuasiAntworten begreifen. Entsprechen sie doch bestimmten Erwartungserwartungen, die wir mit den Geltungsansprüchen eines Diskursbeitrages selbst ausgelöst haben und die wir gemäß der Standarderwartungen an einen Diskurspartner einlösen sollen, nämlich daß er sich (in der Sache) um Wahrheit und (in der Praxis) um Richtigkeit bemühe. Darin liegt die Doppelmöglichkeit der Vernunft zugleich als theoretische, die Wissenschaft und Erkenntnis überhaupt freigibt, und als praktische, welche die Einsicht in die moralischen Verbindlichkeiten des Vernunftgebrauchs selbst erlaubt. Kants ursprüngliche Absichten, die Einheit der Vernunft und den Primat der praktischen Vernunft zu denken, will die Diskurspragmatik endlich einlösen, indem sie auf drei Ebenen zeigt: Theoretisches und Moralisches sind in jedem argumentativen Diskurs schon verwoben. Warum? Unabhängig von dem Gegenstand einer Argumentation ist Vernunft immer schon ein kommunikatives und daher moralgeladenes Verhältnis zu Anderen. Denn noch der, vom Thema her, praxisfernste und moralfreieste Denkakt ist die Sprechhandlung eines »Ich« gegenüber Anderen (»Du«, »Ihr«), die der Sprecher mittels unpersönlicher performativ-propositionaler Rede in der Dritten-Person-Perspektive (»er«, »sie«, »es«) als seine Handlungsweise charakterisieren und sich auf diese Weise aneignen kann. Beispielsweise so: »Ich weiß und kann dir gegenüber geltend machen, daß mein vorgebrachter Gedanke (Es) von der Art A war und dem Zweck Z (etwa der Lösung des Problems P) dienen soll.« Hier manifestiert sich der kommunikative Hintergrund des Etwas-als-etwas-Denkens und -Verstehens: Die Beziehung auf eine Sache ist eingebettet in eine moralisch geladene Kommunikation mit Anderen. Der implizit kommunikative Diskurs, das »Ich mache dir/ euch gegenüber etwas geltend und erkenne dich/euch damit als mögliche Argumentationspartner an«, muß alle meine Verstehens- und Denkaktivitäten begleiten können. Ergo haben wir uns mit jedem Denkakt als Sprachhandlung a priori in den moralgeladenen Erwartungsund Anerkennungszusammenhang eines Dialogs hineingestellt. In der postwittgensteinschen sprachanalytischen Diskussion wird eine sprach- und diskurspragmatische Rekonstruktion der Moral in der Vernunft verworfen. Und das umso radikaler, je ›unpragmatischer‹ die Sprachanalyse angesetzt wird, wie man bei Ernst Tugendhat sehen kann. Verortet er doch die menschliche Logosauszeichnung (gegenüber den Tieren) wiederum aristotelisch in der Fähigkeit, Aussagen zu ma264 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

chen bzw. Sätze zu bilden. Getreu dem vorpragmatischen, von Aristoteles bis zu Karl Bühler, Karl Popper und zum Heidegger von »Sein und Zeit« dominanten, sprachphilosophischen Paradigma der Referenzsemantik, will Tugendhat das Verstehen auf eine Verständigung zurückführen, die bloß semantisch und bezeichnend funktioniere. Menschliches Verstehen und Sich-Verständigen beruhe allein auf der Basis prädikativ-propositionaler Sätze unter Hinzuziehung »singulärer Termini«. Dazu zählt er drei verschiedene Typen: Eigennamen, Kennzeichnungen und »sogenannte deiktische oder kontextabhängige Ausdrükke«, nämlich »Pronomina wie ›dies‹«, »›er‹, ›hier‹, ›es‹ usw.«. 38 Die Trias der Personalpronomina »ich«, »du«, »er-sie-es« – diese Trias steht hinter jeder Äußerung, welche »ich« gegenüber »dir (euch)« in bezug auf »etwas« bzw. »ihn« oder »sie« geltend machen kann – berücksichtigt Tugendhat nicht in ihren kommunikativen Funktionen, untersucht sie nicht als Träger von Sprachhandlungen. Infolgedessen kommt er erneut dem »Semantizismus« nahe, worin Apel die Crux des traditionellen »Commonsense-Begriffs der Sprache« erkannt hat. 39 Es ist aber gerade dieses, von der sprachanalytischen Denkweise ausgeblendete, kommunikative Beziehungsgeflecht, von dem jede sprachliche Äußerung in ihrem performativen wie auch in ihrem propositionalen Teil getragen ist. Ein Sprecher kann es durch Verwendung der Personalpronomina darstellen und sich bewußtmachen. Den ersten Schritt zur Darstellung des kommunikativen Hintergrunds einer Rede und einer intentionalen Handlung bilden einfache Ich-Behauptungen wie »ich weiß«, »ich will«, »ich tue«, »ich habe«, »ich verspreche« usw. Denn über das dadurch Behauptete muß ein Sprecher nicht allein, was Tugendhat semantisch in Sinne einer »veritativen Symmetrie« deutet 40, in der Dritten-Person-Perspektive eine Aussage machen können (»es verhält sich mit mir so, daß …«); nein, er muß wiederum diese Aussage zugleich in der Perspektive der zweiten Person vertreten, sich aneignen und rechtfertigen können: »Ich versichere dir, daß ich gewußt, gewollt etc. habe, daß …« E. Tugendhat u. U. Wolf, Propädeutik (1983), S. 147. K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 334 ff. 40 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M. 1979, S. 88 f., 141. Sprachpragmatische Kritik dazu: A. Øfsti, »Methodischer Solipsismus, Metasprachen (-problem) und Deixis«, in: W. Kellerwessel u. Th. Peuker (Hg.), Wittgensteins Spätphilosophie, Würzburg 1999, S. 23–72, bes. 55–56. 38 39

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Es gibt in der menschlichen Sprache kein bloßes Ich-Er-System, sondern immer schon ein System des Ich-Du-Er, genauer ein Geflecht von Du, Ich und Er. Wer (als Ich) etwas sagt oder tut, der setzt mit der Ich-Perspektive auch die einbeziehende Du-Perspektive und die distanzierend beschreibende Er-Sie-Es-Perspektive sogleich voraus. Wenn einer eine Äußerung tut oder auch eine nonverbale (aber verständliche, also sprachlich erschließbare) Handlung vollbringt, dann werden Sinn und Bedeutung dieses Tuns nicht nur getragen von der semantischen Perspektive eines Satzes über etwas, sondern zugleich von den primär performativen Ich- und Du-Perspektiven. Personalpronomina lassen sich nicht wie deiktische Ausdrücke bloß deskriptiv verwenden. Ihr Gebrauch ist nur möglich kraft der »selbstreflexiven Inbezugsetzung der ›objektiven‹ (wahrheitsfunktionalen) Darstellungsfunktion der Propositionen mit dem ›subjektiven‹ Interaktions-Ausdruck und dem Intersubjektivität stiftenden ›Anspruch‹ der Kommunikations-Funktion« 41. Verantwortung für meine Rede oder Handlung kann ›ich‹ nur übernehmen, indem ich mich zugleich performativ engagiere, d. h. (in der ersten Person) Anderen gegenüber (zweite Person) Geltung beanspruche und meine Rede/Handlung (in der dritten Person) propositional distanziere, also etwas darüber aussage. 42 Da ein reiner Sprachanalytiker bzw. Satztheoretiker absieht von der Einbettung der menschlichen Rede in kommunikative Erfahrung als ein Verstehen/Reden, das die Anderen (Du-Perspektive) durch das eigene Etwas-Geltendmachen (Ich-Perspektive) immer schon performativ einbezieht, hat er keinen Sinn dafür, daß das eigene Sagen und Tun immer schon moralisch auf die Erwartungen der Anderen stößt. Er hat keinen Sinn dafür, daß das Wollen dessen, der etwas zur Geltung bringt und dadurch Vernunft beansprucht, von vornherein auf ein Sollen bezogen ist. Tugendhat kann daher dem Mainstream folgen, der die Idee einer praktischen, genauer: moralisch verpflichtenden, Vernunft verwirft. So vertritt er ein sogenanntes »plausibles Moralkonzept«. Er reduziert Vernunft auf Zweckrationalität und ersetzt die normativ ethische Frage Kants nach einem einsehbaren Sollen durch die Motivationstheorie K.-O. Apel, »Zwei paradigmatische Antworten auf die Frage nach der Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache«, in: H. Lützeler (Hg.), Kulturwissenschaften, Bonn 1980, S. 13–68, hier S. 57. 42 Vgl. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 60 ff., 296–309, vgl. 335–342, 363 ff. und A. Øfsti, Abwandlungen (1994), S. 112–128, 166–181, 261 ff. 41

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

eines wohlverstandenen Wollens. Das hat eine fatale, wenngleich dem relativistisch weichen Zeitgeist angenehme Folge: Die Universalität dessen, was in einer (kontrafaktischen) Argumentationsgemeinschaft als richtig gälte, wird verdrängt durch die Partikularität dessen, was eine (faktische) »Gemeinschaft« für gut hält. Damit ist jedoch dem Relativismus, ja der Willkür, ein Einfallstor geöffnet. 43

III.4.2 Selbsteinholung als Methode: Vorverständnis, Rekonstruktion, sinnkritische Reflexion Die Diskurspragmatik ist eine kommunikationsbezogene Rahmenphilosophie, und ihr moralphilosophischer Teil, die Diskursethik, begründet eine »Rahmenethik« (Werner). 44 Als Begründungsdenken spielt sie auf drei Ebenen, von denen zwei, die untere und mittlere, auch von zahlreichen anderen Wissenschaften und philosophischen Ansätzen bespielt werden. Interdisziplinär kooperativ ist sie allein deshalb, weil sie – das betrifft die erste Ebene – bei der Lebenswelt und dem Vorverständnis der Menschen ansetzt, ihrem sprachbezogenen Handlungswissen. Geht sie doch von den lebensweltlichen Phänomenen, Handlungsweisen und Institutionen bzw. Sprachspielen aus. Dazu gehört fürs erste auch der Dialog, wiewohl er zugleich Metainstitution ist. Vom Dialog bringen alle Menschen ein Vorverständnis in Form eines intuitiven, aber sprachlich figurierten Begleitwissens schon mit. Sachlich ergeben sich auf dieser Ebene des lebensweltlichen Vorverständnisses Kooperationen und Überlappungen mit phänomenologischen, medien- und kulturphänomenologischen Ansätzen, mit der Sprachanalyse, mit Sprachhandlungstheorien und der Rhetorik, mit der verstehenden Soziologie und allemal der Hermeneutik. Die Artikulation und methodische Elaboration des lebensweltlichen Vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (1993), 5. und 2. Vorlesung. In diesem Sinne auch: U. Wolf, »Das moralische Sollen. Über den Verpflichtungscharakter moralischer Normen«, in: E. Buddeberg u. A. Vesper (Hg.), Moral und Sanktion. Eine Kontroverse über die Autorität moralischer Normen, Frankfurt a. M. 2013. 44 Den moralphilosophischen Teil der Diskurspragmatik, die Diskursethik, hat Micha Werner zu Recht als »Rahmenethik« charakterisiert: Ders., Art. »Diskursethik«, in: M. Düwell, Chr. Hübenthal u. M. H. Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 22006, S. 145. 43

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Vorverständnisses läßt sich annäherungsweise mit Wittgenstein als »Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck« charakterisieren. 45 In der augenblicklichen Philosophie haben deskriptive lebensweltliche Ansätze und Forschungen Hochkonjunktur. 46 Freilich gießt die Diskurspragmatik geltungskritisches Wasser in den frohgemuten Wein der neuen und alten Phänomenologen, Gefühls- und Sprachanalytiker, verstehenden Soziologen und historischen Anthropologen etc. Aktiviert sie doch das fallibilistische Wissenschaftsverständnis der Moderne, indem sie geltend macht, daß nicht allein die unmittelbare Artikulation sondern auch die wissenschaftlich disziplinierte Elaboration lebensweltlichen Handlungswissens und Gefühlsverständnisses von der Art eines fehlbaren Verstehens ist. Die jeweiligen Phänomene lassen sich nämlich nur vor einem jeweiligen geschichtlichen Sinnhintergrund, der nicht universal, sondern partikular ist, als etwas Bestimmtes erschließen. Mithin kommt a priori ein perspektivisches und typisierendes Auslegen, Auswählen und Bewerten ins Spiel, woraus sich Fehlerquellen ergeben. Die bestehenden »Situationsdifferenzen« und »Lebensweltdifferenzen« zwischen Versteher und Verstehensgegenstand, zwischen Interpret und Interpretandum wollen allererst wahrgenommen und dann methodisch, das aber heißt: selbstkritisch, überwunden werden. Methodologisch stellen sich hier besondere kognitiv hermeneutische Explikationsaufgaben und auch praktisch kritische Beurteilungsaufgaben. 47 Auch Wittgensteins Methodenmaxime »Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck« räumt stillschweigend ein, daß hier Fehlbarkeit von vornherein mitgesetzt ist. Die Fehlbarkeit betrifft das vorwissenschaftliche Etwas-Wahrnehmen und -Verstehen ebenso wie die wissenschaftliche Beschreibung bzw. Interpretation. Denn auch der Kulturwissenschaftler (im weitesten Sinne) und der Philosoph, selbst der Logiker, könnte ohne sein eigenes, selektives und bewertendes Vorverständnis überhaupt keinen Zugang »Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck.« L. Wittgenstein, PU, § 127. Vgl. § 132: »Wir wollen in unserem Wissen vom Gebrauch der Sprache eine Ordnung herstellen: eine Ordnung zu einem bestimmten Zweck; eine von vielen Ordnungen; nicht die Ordnung.« 46 Vgl. beispielsweise Chr. Demmerling u. H. Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007. Auch: G. Gebauer, Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009. 47 Dazu: D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), Kap. III, bes. III 4 bis 6. 45

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

zu seinem Gegenstand finden. Infolgedessen ist er unvermeidlicherweise im ›Zirkel‹ bzw. in der Ellipse des Verstehens als eines Deutens und Bewertens. Diese transzendentalhermeneutische Einsicht geht zurück auf »Sein und Zeit«. Dort wendet Heidegger die Unvermeidlichkeit des »›Zirkels‹ im Verstehen« zu Recht gegen den vorschnellen Verdacht eines Zirkels im Beweis. 48 Die Diskurspragmatik nimmt diese Einsicht so ernst, daß sie über die erste Ebene – ›Artikuliere und expliziere sorgsam das lebensweltliche Vorwissen und Handlungswissen deiner selbst und deiner Gegenstände‹ – zwei methodisch anspruchsvollere Ebenen der Sinnerschließung legt. Ebenen, die eine intersubjektiv gültige Rechtfertigung und kritische Validierung des lebensweltlichen Vorwissens bzw. seiner philosophischen oder kulturwissenschaftlichen Explikation ermöglichen. Zunächst bietet die Diskurspragmatik eine Erschließung der Sinnvoraussetzungen lebensweltlicher Phänomene an. Das ist die zweite Ebene, die sprachpragmatische Rekonstruktion anhand der transzendentalen Frage: ›Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit, die Sinnbedingungen des In-der-Welt-Seins, zumal des Etwas-als-etwas-Erlebens, des Etwas-als-etwas-Tuns und -Geltendmachens?‹ Es geht um eine Universalgrammatik des Verstehens, Tuns und Redens. Lehrreich ist hier ein Blick auf die phänomenologische Ontologie. Heidegger hatte Recht mit der prima vista anstößigen These, es sei sinnlos, den Zirkel im Verstehen vermeiden zu wollen; vielmehr gehe es darum, »in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen« 49, weil dieser ›Zirkel‹ »der Ausdruck der existentialen Vor-struktur des Daseins selbst« 50 sei. Freilich ließ er die Kriterienfrage, wie man denn auf die rechte Weise in diesen unvermeidlichen Zirkel hineinkomme, offen. Er mußte sie offenlassen, weil er das Verstehen und das verstehende Inder-Welt-Sein nochmals in theoretischer Einstellung thematisiert. Wiederum gegenstandskonzentriert und selbstvergessen denkend, vergißt er sich als daseienden Denker, der für seine Lehre von der Geschichtlichkeit, Zukunftsbezogenheit und Endlichkeit des Daseins selbst universale Ansprüche auf Geltung erhebt. Denn diese Lehre, die ja nicht ihrerseits bloß geschichtlich, endlich usw. sondern wahr (und in ihrem normativen Gehalt richtig) sein soll, bringt er vor der denkenden 48 49 50

M. Heidegger, SuZ (1963), S. 152 f. A. a. O., S. 153. Ebd.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Öffentlichkeit zur Geltung. Damit vertritt er sie als einen zu prüfenden Diskursbeitrag gegenüber Argumentationspartnern. Überdies vergißt Heidegger, daß auch seine ›Gegenstände‹, die sich in der Welt verstehenden Menschen – er zwängt sie unter das Kollektivsubjekt »das Dasein« –, ihrerseits mit Anspruch auf Gültigkeit argumentieren können, z. B. indem sie Heidegger lesen und diskutieren. Generell sind die lebensweltlichen Phänomene entweder direkt von der Form einer Handlung samt Begleitdiskurs, nämlich in den meisten Fällen von Daseinsvollzügen, oder doch indirekt, wenn es geronnene Handlungsweisen wie Gebrauchsgegenstände, Werkzeuge, Fahrzeuge, Rechner und andere Apparate sind. Diesen liegen ja Handlungen mit Begleitdiskurs ebenso zugrunde, wie sie auf eine Nutzung angelegt sind, die wiederum die Form einer Handlung mit implizitem Begleitdiskurs hat. Die Menschen haben, trotz ihrer möglichen Selbstentfremdung in der Welt der Apparate und ihrer Selbstvergegenständlichung in der wissenschaftlichen Zivilisation, immer die Möglichkeit der Selbsteinholung. Nur wenn wir das mitbedenken, kommen wir auf die rechte Weise in den Zirkel des Verstehens hinein. Räumt schon »Sein und Zeit« kaum Platz ein für die Selbsteinholung des Menschen, der Geltungsansprüche erhebt, so gilt das absolut für Heideggers spekulatives Andenken an das Sein nach der »Kehre«: Die vom späten Heidegger kultivierte Vernunftfeindschaft streicht den Subjektbegriff und die Subjekt-Objekt-Differenz ersatzlos, statt deren erkenntniskritisches Potential sprachpragmatisch und hermeneutisch zu retten, indem die betrachtende und analytische SubjektObjekt-Relation durch das Komplement der verstehenden und kommunikativen Subjekt-Subjekt-Relation ergänzt wird. Denn obzwar vorsprachpragmatisch und unhermeneutisch, enthält das Subjekt-ObjektSchema doch die kritische Einsicht, daß wir als Erkenntnissubjekte in einem »Abstand zu den Dingen« sind, »den wir durch Hinausreichen unseres Geistes überbrücken müssen«, wie Hans Jonas in traditioneller Anschaulichkeit gegen Heidegger formulierte. Doch davon später. 51 Auf der Ebene einer rekonstruktiven Pragmatik deckt die Diskurspragmatik die internen Bedingungen auf, die das Verstehen und Agieren beider ›Seiten‹, hier des Philosophen und seiner Gegenstände, allererst ermöglichen. Sie entwirft ein System solcher Sinnbedingungen, um es dann, auf einer dritten Ebene, der Kritik auszusetzen. Zunächst 51

Siehe unten, Abschnitt IV.5.2, vgl. IV.5.1.

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

ist hier die immanente Kritik nach Konsistenz- und weiteren logischen Kriterien am Zuge, sodann aber die Geltungskritik des Fallibilismus. Zu dieser sind die Transzendentalpragmatiker von Charles Sanders Peirce angeregt worden. 52 In Auseinandersetzung mit der Schule Poppers haben sie dann einen differenzierten Fallibilismus ausgearbeitet 53: Alle Theorien, überhaupt sämtliche konkreten Diskurse, welche Situationen interpretieren oder Ereignisse kausal erklären, sind fehlbar. 54 Aber Einsichten wie dieses Fallibilitätsprinzip selbst, Einsichten, auf denen die Bildung von Theorien und das Führen eines Diskurses bereits beruhen, sind infallibel, schlechthin gültig oder auch, sofern sie moralische Bedeutung haben, prinzipiell verbindlich. Das ist eine typische reflexive und sinnkritische Begründungseinsicht der dritten diskurspragmatischen Ebene. Sie ist die eigentliche Ebene der Begründung. Hier tritt der Fallibilist als Skeptiker auf und bezweifelt die Gültigkeit und Verbindlichkeit der rekonstruierten Sinnvoraussetzungen. Im Diskurs mit ihm wird dann geprüft, ob sich sein Zweifel im argumentativen Dialog aufrechterhalten läßt, ob also der Zweifel als Diskursbeitrag sinnvoll ist. Warum dieser negative Ansatz? Weil dasjenige, woran sich nicht mit einem sinnvollen Diskursbeitrag zweifeln läßt, unbezweifelbar ist, absolut gültig und prinzipiell verbindlich. Was genau wird reflexiv sinnkritisch geprüft? Das, was sich rational prüfen läßt: die Wahrheit und/oder moralische Verbindlichkeit jeweils eines einzelnen Rekonstrukts, eines einzelnen Kandidaten für eine konVgl. Ch. S. Peirce, Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus, hg. von K.-O. Apel, Frankfurt a. M. 1967 (zit.: Schriften I (1967)), Einführung, S. 75 ff. Ebenso in: K.-O. Apel., Der Denkweg von Charles S. Peirce, Frankfurt a. M. 1975 (zit.: Denkweg (1975)). Ders., Auseinandersetzungen (1998), bes. S. 85–89. 53 K.-O. Apel, Auseinandersetzungen (1998), S. 33–80 und 81–194. W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 60–71, 240–246, 256–260. Siehe auch die Kontroverse zwischen Wolfgang Kuhlmann und Herbert Keuth: H. Keuth, »Fallibilismus versus transzendentalpragmatische Letztbegründung«, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie (ZAW), Bd. XIV, Heft 2, Wiesbaden 1983, S. 320–337 und W. Kuhlmann, »Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus. Eine Replik«, in: ZAW, Bd. XVI, Heft 2, Wiesbaden 1985, S. 357–374. 54 Vgl. D. Böhler, »Sich-Verantworten in der globalisierten high-tech-Zivilisation«, in: E. Czerwińska-Schupp (Hg.), Values and Norms in the Age of Globalization, Dia-Logos, Bd. 9, Frankfurt a. M. u. a. 2007, bes. S. 42–44, 53 ff. Ders. u. H. Gronke, »Hic Rhodus, hic salta: Sich-Verantworten im Diskurs. Grundriß der Diskursethik«, in: M. Borelli u. M. Kettner (Hg.), Filosofia trascendentalpragmatica. Transzendentalpragmatische Philosophie, Cosenza 2007 (zit.: Filosofia (2007)), bes. S. 547 ff., 553 ff., 563 f. u. 571 ff. 52

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

stitutive Argumentations- und Dialogbedingung. Zu prüfen ist also, ob ein X, wie vom Rekonstrukteur behauptet, wirklich eine Sinnbedingung von Begleitdiskursen und expliziten argumentativen Dialogen ist. Allein punktuell, Stück für Stück, läßt sich eine sprachpragmatische Rekonstruktion verifizieren. Versteift sich der Zweifler jedoch auf eine pauschale Kritik und zieht die Gültigkeit der Rekonstruktion insgesamt in Zweifel, so läßt sich seine Zweifelsthese gar nicht prüfen. Sie zählt nicht. Wer einen pauschalen Geltungsverdacht vorbringt, entzieht sich einem rationalen Diskurs. Er ist zu keiner konkreten, Schritt für Schritt vorgehenden Prüfung bereit, und er erkennt den Gegner nicht als möglichen Argumentationspartner an. Überzieht er ihn doch gleich mit dem Verdacht, etwas von vorne bis hinten Geltungsunfähiges geltend zu machen, mithin als bloßer Spekulierer aufzutreten. Im Klima eines solchen Generalverdachtes läßt sich nicht diskutieren. Der Skeptiker muß, wenn er etwas Sinnvolles vorbringen und mit seiner Zweifelsthese ernstgenommen werden will, den pauschalen Verdacht fahren lassen und in den Diskurs eintreten, indem er etwas als etwas Bestimmtes, hier einen Zweifel an der Gültigkeit von X behauptet. Von Aristoteles bis zu Popper einerseits und Kuhlmann andererseits besteht darüber eigentlich Konsens, ein diskursmethodologischer Konsens. 55 Wie setzt die Zweifelsprüfung an? Sie verläßt die bloß theoretische und analytische Einstellung, in der wir von uns, den Erkenntnissubjekten, absehen und uns in methodischer Striktheit ganz auf den jeweiligen Gegenstand konzentrieren, auf die vermeintliche Sache. Vermeintlich, weil es hier überhaupt nicht um eine von uns Erkenntnissubjekten abtrennbare ›Sache‹ geht, sondern um unser Verhältnis zu X. Die leitende Fragestellung müßte daher lauten: ›Ergibt es Sinn, wenn wir, die wir jetzt etwas erkennen und also darüber miteinander argumentieren wollen, behaupten und geltend machen, X könne ungültig und nicht verbindlich sein?‹ Das Kriterium der Zweifelsprüfung ist letztlich die Selbsteinholung. Daher löst sie die Selbst- und Dialogvergessenheit Allgemein und auf das Im-Dialog-Stehen eines Skeptikers bezogen: Aristoteles, Metaphysik, III. Buch, 1006. Vgl. dazu: E. Tugendhat in: ders. u. U. Wolf, Propädeutik (1983), S. 50–65. Auch W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 267–278. Analog und in Form eines strikt reflexiven Arguments: W. Kuhlmann, »Systemaspekte der Transzendentalpragmatik«, in: ders., Sprachphilosophie (1992), S. 270–286. Speziell als Plädoyer für eine »Stückwerk-Technologie« in Soziologie und Geschichtsbetrachtung bzw. Zukunftsforschung: K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, S. 47 ff. Ders., Offene Gesellschaft (1957), Bd. 1, 9. Kapitel, bes. S. 213–220.

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

der in der Wissenschaft und nicht allein in der analytischen Philosophie, sondern im Alltagsgeschäft der Philosophie überhaupt vorherrschenden analytischen bzw. theoretischen Einstellung auf: Wir nehmen stattdessen eine aktuell dialogreflexive Einstellung ein. Methodisch denken wir nach über die von uns (vermeintlich) abtrennbare Sache oder das Phänomen P und zugleich über uns selbst als Teilnehmer eines argumentativen Dialogs über die Sache X oder das Phänomen P. Im Blick auf dieses »dialektische Zugleich« 56 wird der Skeptiker, der ja Sinn und Geltung für seinen Zweifel beansprucht, ins Gespräch gezogen. Sein Zweifel wird reflexiv sinnkritisch geprüft. Sokratisch direkt fragen wir den Skeptiker: ›Kannst du als Argumentationspartner, der du bezweifelst, daß X eine Sinnbedingung des Etwas-als-etwas-Verstehens und -Geltendmachens sei, also die These geltend machst, daß X vielleicht keine solche ist, diese Zweifelsthese uns Argumentationspartnern gegenüber im argumentativen Dialog durchhalten? Oder zerstörst du durch diesen Zweifel ein Stück des Fundaments, auf dem du als Argumentationspartner jetzt mit deinem Argument selber stehst?‹ Anders herum: ›Läßt sich dieser dein Diskursbeitrag, die Bezweiflung von X als Sinnbedingung, vereinbaren mit der von dir eingenommenen Rolle eines glaubwürdigen Diskurspartners? Können wir, deine Argumentationspartner, die nur sinnvolle Diskursbeiträge gelten lassen, diesen deinen Zweifel als einen Diskursbeitrag aufnehmen? Können wir à la longue mit dir kooperieren, wenn wir uns nicht darauf verlassen können, daß X auch für dich gilt?‹ Solche reflexiv sokratischen, aus der Perspektive der gemeinsamen Metainstitution Diskurs und der Anderen als Diskurspartner gestellten Fragen verlangen die sinnkritische Selbsteinholung des Zweiflers: Er muß sich Rechenschaft darüber geben können, ob er die mit seinem Zweifelsargument in Anspruch genommene Apriori-Rolle des Diskurspartners einholen kann, wenn er die logische Gültigkeit und moralische Verbindlichkeit der rekonstruierten Sinnbedingung X in Zweifel zieht. Das letztliche Sinnkriterium der Diskurspragmatik ist die Selbsteinholung des realen Diskurspartners, sei er ein Theoretiker, sei er ein Dazu das bedeutende Werk Richard Kroners, welches die Grundgedanken des Deutschen Idealismus auf die Idee des »dialektischen Zugleich« von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein zurückführt – und nurmehr einer sprach- bzw. diskurspragmatischen Durchdringung samt Fortschreibung in die Philosophie (nach) der pragmatischen Wende bedarf: R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Erster Band, Tübingen 1921. Zweiter Band, Tübingen 1924.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

lebensweltlicher Akteur. Derart konzentriert die Diskurspragmatik die transzendentale Sprachpragmatik auf die Begründungsreflexion. Der Rückgang auf dich, der du jetzt etwas denkst und geltend machst, so daß du jetzt die Urrolle eines Diskurspartners einnimmst, wird das A und O: ›Was nimmst du, was nehme ich a priori als gültig oder als verbindlich in Anspruch, der du jetzt etwas denkst und damit, sei es leise, sei es laut, etwas sagst, oder ich, wenn ich etwas denke?‹ Dieser sinnkritische Rückgang ist der entscheidende Begründungszug. Mit ihm kommt der diskurspragmatische Begründungsweg der Ethik zum Abschluß, der von der Frage geleitet ist, wie man die Sinnbedingungen des Etwas-Denkens bzw. des Argumentierens erkennt. Dieser Erkenntnisweg hat, wir fassen zusammen, die drei Stationen Vorverständnis, Rekonstruktion, aktuelle Reflexion:

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b1) sich den Anderen mit prüfbaren Diskursbeiträgen > < als autonomer Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, > > : also sich um widerspruchsfreie und sachlich wahrheits8 fähige Dialogbeiträge zu bemühen, > b2) die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen > > > > Anspruchssubjekte, mithin das Universum der sinnvol> > > > len Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren Le> > > > bensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, > > > > (selbst- und ergebniskritisch) zu berücksichtigen, also > > > > > auch nach möglichen besseren Argumenten zu suchen, > > > > > b3) allen Anderen gleiche Rechte als möglicher Dialog> > > partner zuzuerkennen und ihre Würde zu achten: Dis> > > > kursgerechtigkeit (mit Fairneß) und Menschenwürde, > > > > b4) mitverantwortlich zu sein für den Diskurs (als > > > > > Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in Zukunft, > > > > also auch für die (in konkreten, falliblen Diskursen zu > > > > ermittelnden) menschen-rechtlichen, ökologischen, so> < zialen und kulturellen Realisierungsbedingungen öf> > fentlicher Diskurse, > > > 5) die Fallibilität von Situationsanalysen und situa> > > > tionsbezogenen Diskursen zu berücksichtigen, also de> > > > ren Ergebnisse revisionsfähig zu halten und keine irre> > > > > versiblen Handlungsweisen zu empfehlen, deren Folgen > > > > mit (b1) bis (b4) unverträglich sein können, > > > > 6) auch in diesem Sinne (b5) mitverantwortlich zu sein > > > > für die tendenzielle Umsetzung der Diskursergebnisse in > > > > die alltagsweltlichen und gesellschaftlichen Praxisfelder, > > > > 7) sich angesichts einer moralwidrigen, allemal aber > > > > > einer lebensgefährlichen Situation zu bemühen um die > > > > Entwicklung, konsenswürdige Prüfung und Durchset> > > > > : zung einer erfolgsfähigen moralischen Konter- bzw. Notwehrstrategie.

konstitutive Bedingung für Kommunikation überhaupt teils konstitutive Bedingung, teils regulative Idee mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen

diskursbezogene regulative Ideen mit konstitutiver Funktion für Dialoge und Kooperationen

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> > > (R) mit Widerspruchsfreiheit des propositionalen Ge> > > > > halts (P) als Teil von R und von R als Diskursbeitrag > > > < (Voraussetzung für Andere, mit dem Sprecher (S) über R kommunizieren zu können), > > > a2) Anspruch auf Wahrhaftigkeit der Sprecherintention > > > > samt Glaubwürdigkeit der Diskursbereitschaft (Voraus> > > > > : setzung für Andere, mit S über R kommunizieren zu 8 wollen, sich auf R einlassen zu können), a3) Anspruch auf Wahrheit bzw. Wahrheitsfähigkeit > > > > > meiner Proposition, so daß sie im Diskurs ernsthaft (s. o.: > < a2) vorgebracht und intersubjektiv geprüft werden kann, > a4) Anspruch auf Legitimität von Normen und Hand> > > > > : lungsweisen (auch ›meiner‹ in der Diskussion), woraufhin sie im Diskurs geprüft werden können;

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Selbstverantwortung

Vier Geltungsansprüche (a): > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > :

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Sinngeltung

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

In diesem Sinne werden in der folgenden Abb. 10 Bedingungen eines sinnvollen Diskursbeitrags zusammengefaßt: unerläßliche Normen der Diskurspartnerrolle und moralische Gehalte der kommunikativen Vernunft.

III.4.5 Die Unmöglichkeit einer Privatsprache oder die Unhintergehbarkeit der kommunikativen Vernunft Die bis hierher entfaltete Idee einer kommunikativen, einer kommunikativ konstituierten Vernunft, die auf ein zwiefältiges Apriori der Kommunikationsgemeinschaft zurückverweist, ist keineswegs Konsens. Der hartnäckigste Widerstand, der ihr entgegensteht, kommt aus der Wirkungsgeschichte des vierfachen methodologischen, eigentlich transzendentalen Solipsismus. 91 Von dessen Widerlegung, genauer vom Sinnlosigkeitserweis dieser Position, also letztlich der Annahme, eine »Privatsprache« sei möglich und erkenntnisrelevant, hängt viel ab. 92 Was der Begriff Privatsprache bedeuten kann, das sagt zu Beginn des folgenden Streitgesprächs der Vertreter dieser Idee, hier »Privatus« genannt. Ihm kontert eine Kritikerin, die das doppelte Kommunikationsapriori geltend macht. Sie heiße »Socia«. Privatus: Ich behaupte, daß so etwas wie eine Privatsprache in mindestens zwei ganz unterschiedlichen Formen möglich ist: in einer fast alltäglichen, wohlbekannten Form und in einer jedenfalls gedankenexperimentellen Form. Zunächst zur ersten Form. Siehe oben Abschnitt I.4 mit Abb. 5. Als partes pro toto im Sinne der Aktualität des transzendentalen Solipsismus vgl. die Auseinandersetzung über den Ausgangspunkt der praktischen Philosophie zwischen Manfred Riedel und Otfried Höffe einerseits, KarlOtto Apel und Dietrich Böhler andererseits in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 269–277. Auch V. Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik, München 1990 (zit.: Die Krise der Gegenwart (1990)). 92 Der klassische Kritiker des transzendentalen Solipsismus, Wittgenstein, kann, wie erinnert sei, den Sinnlosigkeitserweis, den er anstrebt, aus zwei Gründen nicht leisten. Einmal arbeitet er mit einem verkürzten Sprachbegriff, der von bloßen Sprachspielen statt von einer kompletten, wechselseitige Reflexivität ermöglichenden Sprache ausgeht. Zudem läßt er keine transzendentale Sprachreflexion sondern nur eine empirische Sprachbeschreibung gelten, so daß ihm der Nachweis einer konstitutiven Abhängigkeit des Gesagten vom Gemeinschaftsbezug ohne Selbstwiderspruch gar nicht möglich ist. 91

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

Es handelt sich um den Typ, den wir als Geheimsprache kennen, wie sie Kinder beim Spiel oder der Verfasser eines Tagebuchs zum Schutz oder auch eine Gang zur Tarnung erfinden. Ebenso läßt sich eine Kalkülsprache oder technische Spezialsprache denken. Socia: Aber das sind doch keine Privatsprachen sondern abgeleitete Kunstsprachen. Denn in solchen Fällen besteht eine Abhängigkeit sowohl von einer gegebenen Umgangssprache als auch von der zumal in ihrem argumentativen Gebrauch wirksamen Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Der Sinnzusammenhang einer faktisch gesprochenen Sprache dient nämlich als unentbehrliche Folie, als Sinnhorizont einer jeden Kunstsprache. Zudem erfüllen sowohl die faktische Umgangssprache wie auch die Idee einer reinen Argumentationsgemeinschaft (als Gültigkeitsinstanz) die Funktion einer Metasprache, in der sich die Kunstsprachler untereinander z. B. über Aufbau und Gebrauch ihrer Kunstsprache müssen verständigen können. Privatus: Nun, da magst du recht haben. Aber entscheidend ist hier doch, daß solche Kunstsprachen auch einen strikt privaten Charakter haben können. So kann ich ganz alleine eine Kunstsprache für mein Tagebuch erfinden, die überhaupt keinen Mitteilungscharakter hat, sondern ausschließlich der Selbstverständigung dient. Socia: Ja, sie dient der Selbstverständigung und hat insoweit keine direkte Mitteilungsfunktion. Sehr wohl aber hat sie einen Mitteilungscharakter. Denn der Form nach ist sie ein System der Kommunikation: Du kommunizierst in ihr mit dir selbst als mit einem Anderen, dem du etwas verständlich machst. Und dazu bist du angewiesen auf den reflexiven Gebrauch der Personalpronomina, indem du notwendigerweise die erste Person ebenso wie die zweite und dritte ins Spiel bringst, indem du die vier Geltungsansprüche erhebst usw. Auch deine nicht soziale, nach außen abgeschlossene Kunstsprache im Tagebuch, durch die du Anderen nichts mitteilen willst, hat allererst den formalen Charakter einer Mitteilung. Außerdem hat sie – für dich selbst – auch eine direkte Mitteilungsfunktion. Privatus: Nun gut. Aber das ist auch nicht meine eigentliche Privatsprachenthese. Als Gedankenexperiment nehme ich vielmehr eine 301 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Sprache an, bei deren Entwicklung und Gebrauch keine Rücksicht auf andere Vernunftwesen genommen zu werden braucht: Weder spielen Andere als frühere Sprecher dieser Sprache und Vertreter einer gemeinsamen Kommunikationsgemeinschaft eine konstitutive Rolle, noch müssen sie von vornherein als mögliche Zustimmer oder Kritiker des in dieser Sprache Gesagten berücksichtigt werden, mithin als Vertreter einer Argumentationsgemeinschaft, an welche die Geltungsansprüche des Gesagten performativ adressiert wären. Vielmehr kann die von mir gedachte Sprache ohne interne, von vornherein in der Sprache angelegte, Beziehung auf Andere als System funktionieren, das sowohl Sinn und Bedeutung festlegt als auch die Erkenntnis des Wahren und praktisch Richtigen ermöglicht. Socia: Und auch Gewißheit deiner Erkenntnisse? Privatus: Auch Gewißheit. Socia: Ich schlage dir eine aktuelle Dialogreflexion vor. Laß dich fragen, ob du diese These mit der von dir jetzt in Anspruch genommenen Rolle eines glaubwürdigen Diskurspartners vereinbaren kannst. Privatus: Du bezweifelst also, daß ich mich selbst als Diskurspartner einholen kann, wenn ich diese Privatsprachenthese vertrete? Socia: In der Tat. Ich behaupte sogar, daß der Versuch einer solchen Selbsteinholung die Unvereinbarkeit der Privatsprachenthese mit den von uns eingeführten vorgängigen Geltungsansprüchen und Dialogversprechen erweist. Unvereinbar ist sie zunächst mit den Ansprüchen der Verständlichkeit (a1), der Wahrhaftigkeit (a2) und den impliziten Dialogversprechen, alle möglichen Vernunftwesen als gleichberechtigte Dialogpartner anzuerkennen (b3) sowie die nicht begrenzbare Gemeinschaft aller möglichen Anspruchssubjekte bzw. Argumentationspartner als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz zu beachten (b2). Nicht minder unvereinbar ist deine These mit dem vorgängigen Versprechen, sich mit der eigenen These den anderen Diskursteilnehmern als Diskurspartner zur Verfügung zu stellen, indem man ihnen prüfbare Diskursbeiträge vorlegt (b1). Und da deine These damit unvereinbar ist, ist sie auch unvereinbar mit deinen Geltungsansprüchen auf Wahrheitsfähigkeit (a3) und auf Legitimität bzw. Diskursgerechtig302 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

keit (a4). Ist das aber der Fall, dann widerspricht deine These auch dem impliziten Dialogversprechen, mitverantwortlich für den Diskurs und dessen Bedingungen zu sein (b4), und ebenso deinem Versprechen, du wollest für die Umsetzung der Diskursergebnisse mitverantwortlich sein (b6). Privatus: Deine Ankündigungen machen mich gespannt. Aber du galoppierst mir viel zu schnell und in eine Richtung, in die ich dir mit meiner These überhaupt nicht zu folgen brauche. Denn zumindest die Gültigkeit deiner sogenannten Dialogversprechen a priori wird ja von dieser These bestritten. Wenn du also gleich mit einer solchen von der Sprache intendierten, normativen Beziehung auf Andere losschießt, kommt das einer petitio principii gleich. Socia: Damit magst du recht haben. Aber in einem mußt du mir doch gleich zustimmen: Du setzt voraus, daß deine These verstehbar ist; verständlich für dich und verstehbar für alle, die diese Sprache erlernen könnten? Privatus: Sicher. Socia: Also verstehbar für prinzipiell alle, die überhaupt etwas als etwas Bestimmtes aufnehmen und gegebenenfalls diskutieren können? Privatus: Keine Frage. Socia: Mithin hast du durch den Akt deiner Behauptung für deine Privatsprachenthese –nennen wir sie jetzt kurz »P« – Verständlichkeit als intersubjektive Teilbarkeit beansprucht, und zwar in gleicher Weise für dich wie für alle möglichen Dialogpartner. Aber mit deiner behaupteten Aussage, eben der Proposition P, negierst du diesen Anspruch auf intersubjektive bzw. öffentliche Teilbarkeit, indem du eine exklusive, auf mögliche andere Kommunikationsteilnehmer keinerlei Rücksicht nehmende, Entwicklung und Verwendbarkeit einer Privatsprache in Anschlag bringst. So aber kannst du deine Behauptung P nicht verständlich machen, weil jede Sprache ein Kommunikationsangebot im großen ist. Sie lebt von der möglichen Reziprozität der Rede und Gegenrede, von Frage und Antwort. Und ihre Geltungsfähigkeit beruht darauf, daß jedes mögliche Vernunftwesen in dieser Sprache reden und gegenreden, fragen und antworten könnte. Privatus: Du spielst auf Wilhelm von Humboldt an? 303 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Socia:

Ja, auf seine Einsicht, daß es »zwischen Denkkraft und Denkkraft […] keine andere Vermittlerin als die Sprache« gibt, welcher stets die mögliche Wechselrede zugrundeliege. Denn »die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiderung bedingt«, so daß der Mensch »sogar in Gedanken nur mit einem Andren oder mit sich wie mit einem Andren« spricht. 93 Privatus: Ich will aber nicht ein Humboldtsches Credo nachsprechen. Auch lasse ich mich nicht auf die Serie deiner angeblich vorgängigen Geltungsansprüche und impliziten Dialogversprechen einschwören. Du mußt dem Skeptiker schon mehr zu bieten haben. Socia: Das habe ich. In der Tat können wir die Geltung aller möglichen Sprachrekonstruktionen und Kommunikationsrekonstruktionen einklammern, indem wir uns einzig auf das besinnen, was wir beide jetzt miteinander tun und voraussetzen, indem wir einen Dialog führen. Privatus: Einverstanden. Socia: Versuchst du jetzt, mir als deinem anwesenden Diskurspartner, implizit auch allen möglichen anderen Diskurspartnern, deine These P verständlich zu machen und sie als wahrheitsfähigen Diskursbeitrag mir/uns gegenüber geltend zu machen? Privatus: Das will ich allerdings. Socia: Gut. Dann setzt du voraus, daß sowohl deine These P als auch die von P angenommene Privatsprache zwei Eigenschaften hat: Beide müssen verständlich sein, so daß sie von einer unbegrenzten Öffentlichkeit hinsichtlich ihres Sinns und ihrer Bedeutung aufgenommen und geteilt werden können. Eben das besagt unser Geltungsanspruch a1). Privatus: Kein Problem. Socia: Ebenso muß deine These P wie auch alles, was in der von P angenommenen Privatsprache gesagt werden kann, bezogen werden können auf eine mögliche Gegenrede anderer Sprachteilnehmer, die du, so wie jetzt mich, mit P ansprichst, und auch jener Anderen, die du in deine Privatsprache einführen und dann durch sie ansprechen könntest. Eine solche GegenW. von Humboldt, »Über den Dualis« (1827), in: ders., Werke (1963), Bd. 3, S. 139, 138 und 137 f.

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

rede kann zustimmend oder ablehnend wie auch fragend sein, wobei die Fragen wiederum Erläuterungsfragen oder kritische Fragen nach der Verständlichkeit oder Wahrheitsfähigkeit des Gesagten sein können. Privatus: Aber das ist doch geschenkt. Socia: Mach es dir nicht zu leicht. Wenn du dem nämlich zustimmst, hast du zweierlei anerkannt, was du nicht einlösen kannst, wenn du gegenüber Diskurspartnern, jetzt mir gegenüber, die Möglichkeit einer Privatsprache behauptest. Privatus: Und was wäre das? Socia: Einmal hast du durch deine Zustimmung anerkannt, daß sowohl deine These P als auch die von ihr angenommene Privatsprache auf universale Verständlichkeit angelegt sei, also auf Erschließbarkeit und Teilbarkeit seitens einer unbegrenzten Öffentlichkeit – und das nicht allein hinsichtlich ihres semantischen Gehalts, sondern hinsichtlich der dafür vorgebrachten Geltungsansprüche. Will sagen: Nicht allein die Bedeutung des Gesagten muß nachvollziehbar sein, sondern die Anderen müssen das Gesagte als Anrede ansehen, sie müssen es als Diskursbeitrag und Kommunikationsangebot bzw. als Kooperationsangebot annehmen können. Das ist das pragmatische Verstehen einer Rede als Beitrag in einem argumentativen Dialog. Dieses pragmatische Verstehen schließt einmal ein, daß die Anderen dich als Diskurspartner hinsichtlich deiner These P ernstnehmen können, zum anderen, daß du sie als mögliche Kritiker und Prüfer ernstnimmst. Privatus: Aber das ist doch auch geschenkt. Selbstverständlich nehme ich sie ernst. Ich diskutiere doch mit ihnen. Socia: An deiner guten Absicht zweifelt niemand. Deinen Wahrhaftigkeitsanspruch will hier keiner in Frage stellen, schon gar nicht ich. Das ist aber gar nicht der Punkt. Auf dem Spiel steht vielmehr, ob deine These sich wirklich als Diskursbeitrag eignet: Ist sie so beschaffen, daß wir Anderen darauf mit sachdienlichen Argumenten eingehen können? Allein wenn uns deine These dazu in die Lage versetzt, allein dann nimmst du uns als Argumentationspartner ernst. Privatus: Willst du sagen, die Anderen erwarten, daß ich aufgrund meiner Rolle als Diskurspartner einen Anspruch auf Ernsthaftig-

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

keit bzw. Wahrhaftigkeit schon vorausgesetzt habe, nämlich als Erwartungserwartung? Socia: Ja, nur dann bist du als Diskurspartner glaubwürdig. Alle möglichen Diskurspartner erwarten von dir zu Recht, daß du sie – mit deiner These – in ihrer Argumentationsrolle ernstnimmst. Durch deine These sollst du sie anerkennen als mögliche Prüfer dieser These. Eben diese dialogische Erwartungserwartung müßtest du mit der Annahme einer Privatsprache erfüllen können. Privatus: Und nun behauptest du, die Erfüllung dieses Anspruchs sei in einer Privatsprache, die ich annehme, gar nicht möglich? Socia: Ich behaupte zweierlei: Zunächst, daß du diese Erwartung mit der jetzt vorgetragenen These P nicht erfüllen kannst. Zweitens aber auch, daß diese Erwartung in einer Privatsprache gar keinen Platz haben kann. Privatus: Und welche deiner beiden Behauptungen wollen wir zunächst untersuchen? Socia: Eigentlich die erste. Privatus: Nein, wir sollten mit der zweiten beginnen, denn es geht mir doch um die Sache einer möglichen Privatsprache. Socia: Aber du bist es, der diese ›Sache‹ jetzt als These behauptet – mit den Ansprüchen, sie sei eine sinnvolle These, die jede und jeder als Diskursangebot verstehen, also ernstnehmen und auch auf ihre Wahrheitsfähigkeit hin (und das wäre der dritte Geltungsanspruch a3) prüfen können muß, so daß eine ernsthafte Diskussion möglich ist. Privatus: Aber das ist doch trivial. Schließlich wird die Privatsprachenthese ernsthaft in der Literatur diskutiert, denk nur an Wittgenstein, Kripke, Kuhlmann und Hösle. Socia: Gewiß. Nun gehört zu einer offenen Prüfung mit weitem Horizont, die alle relevanten Gesichtspunkte zu berücksichtigen versucht, auch die diskurspragmatisch sinnkritische Prüfung, ob ein Gesagtes überhaupt ein ernsthaftes Diskussionsangebot darstellt und ob es eine wahrheitsfähige These vertritt. Eine solche Prüfung verlangt zunächst die Geltungseinklammerung des Sachgehalts der These. Privatus: Was verstehst du hier unter Geltungseinklammerung? Socia: In unserem Fall bedeutet sie, daß man es dahingestellt sein läßt, ob eine Privatsprache funktionieren kann oder nicht, ob 306 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

sie ontologisch möglich ist oder nicht. Wir klammern also das ein, worum es im Aussagegehalt der These geht, und auch den Wahrheitswert der These. Stattdessen konzentrieren wir uns auf ihre Diskutierbarkeit und fragen: Können wir deine These, daß eine Privatsprache möglich sei, überhaupt ernsthaft diskutieren? Privatus: Nun, da es mir um die Wahrheit geht und ich natürlich mit dir die Wahrheitsfähigkeit meiner These klären will, kann es mir nur recht sein, wenn die Diskutierbarkeit meiner These sichergestellt ist. Ich lasse dich also gewähren und schaue zu. Socia: Nein, du darfst nicht zuschauen. Du mußt mitmachen. Nicht die Rolle eines Betrachters von außen ist gefragt, sondern die Rolle eines aktiven Teilnehmers. Ob deine These diskutierbar ist, können wir nur klären, wenn beide Seiten bereit sind, jetzt, in dem gerade geführten Diskurs, das strittige Votum daraufhin zu prüfen, ob es die Sinnbedingungen eines Diskursbeitrags erfüllen kann. Privatus: Du überziehst mich also mit Karl-Otto Apels gegenüber Hans Albert vorgebrachter These, Letztbegründung sei möglich durch »Reflexion auf den Diskurs im Diskurs« 94. Aber auf eine Letztbegründungsmetaphysik lasse ich mich nicht ein. Das könnte auf eine petitio principii hinauslaufen. Socia: Die von dir zitierte Formel Apels trifft durchaus das, was wir beide jetzt tun und worauf du dich gerade explizit eingelassen hast, nämlich die sinnkritische Prüfung deines Diskursbeitrags. Doch trägst du zu ihr dann nichts bei, schleichst dich vielmehr aus ihr heraus, wenn du irgendwelche Zitate bringst und einer Position zuordnest, welche du mit dem pejorativen Etikett »Letztbegründungmetaphysik« versiehst. Damit förderst du unseren Dialog nicht, sondern störst ihn und behinderst die argumentative Klärung. Privatus: Ich will kein Spielverderber sein. Also zurück zur sinnkritischen Prüfung. Doch verstehe ich nicht, wie wir sie durchführen sollen, wenn du den Sachgehalt der These außen vorlassen willst. Worüber wollen wir uns dann streiten? Socia: Du hast recht, wir sollten präzisieren, was es heißt, die WahrVgl. K.-O. Apel, »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung« (1987), neu bearbeitet in: ders., Auseinandersetzungen (1998), S. 179.

94

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heit des Sachgehalts der These einzuklammern. Das heißt ja nicht, daß wir deine These vergessen wollten, wohl aber, daß wir ihren Sachgehalt nicht isolieren von deiner Praxis, sie als Diskursbeitrag zu behaupten und anzubieten. Vielmehr geht es um die Verbindung der als möglich behaupteten Sache mit deiner Diskurspraxis. Genauer gesagt, wollen wir prüfen, ob du eine solche These vorbringen und ob du mit dieser These als glaubwürdiger Diskurspartner, der eben ein verständliches, ernsthaftes Angebot machen will, überhaupt gelten kannst. Das ist der Witz bei einer sokratisch sinnkritischen Prüfung durch Reflexion im Dialog auf Sinnbedingungen des argumentativen Diskurses, anders gesagt: auf die internen Bedingungen deiner Diskurspartnerschaft. 95 Privatus: Dabei mache ich mit. Laß mich meine These mit einem Einwand Vittorio Hösles gegen Kuhlmanns Privatsprachenargument verstärken. Kuhlmann will mit dem Argument zeigen, daß die »Kommunikationsgemeinschaft […] notwendige Bedingung dafür ist, daß ein x eine sprachliche Äußerung ist« 96. Hösle bringt dagegen vor, es sei doch »denkbar, daß ein einsam aufgewachsenes Individuum für sich selbst eine Sprache entwickelt, die Regeln folgt, und daß diese Sprache zwar von anderen Menschen entschlüsselt werden kann, daß aber trotzdem eine Rücksicht auf andere Vernunftwesen bei der Ausbildung der Sprache jenes Privatus nicht stattgefunden hat. […] Die intersubjektive Verständlichkeit könnte ja nur Konsequenz eines regelbefolgenden Verhaltens sein, eine Konsequenz, die nicht als solche intendiert ist. Dagegen argumentiert Kuhlmann, daß dann die entsprechende verstehbare Äußerung keine sprachliche Äußerung sei; das sei sie nur, wenn das sie äußernde Subjekt sie von vornherein so gemeint habe, daß sie von Zustimmung oder Widerspruch anderer betroffen werden könne« 97. Das aber sei nicht überzeugend, sondern eigentlich eine petitio principii, weil man Sprache eben so definieren könne, daß sie immer schon auf mögliche Kommunikation angelegt ist. Trivialerweise kann es aber, wie Hösle 95 96 97

Vgl. D. Böhler, »Glaubwürdigkeit« (2004), S. 105 ff. W. Kuhlmann, Refl. Letztbegründung (1985), S. 168. V. Hösle, Die Krise der Gegenwart (1990), S. 191.

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mit Recht sagt, eine Sprache, »zu deren Wesen die Intention von Kommunikation gehört, […] offensichtlich nur geben, wenn Kommunikation intendiert ist. Die philosophisch interessante Frage ist aber doch: Kann es ein regelgeleitetes Sprechen geben, das von der intersubjektiven Dimension völlig abstrahiert, freilich der Analyse anderer Subjekte zugänglich ist, ohne daß diese doch irgendwie intendiert ist?« 98 Socia: Lassen wir es zunächst dahingestellt, ob sich eine Sprache denken läßt, von der man – im Gegenzug zu Wilhelm von Humboldt – behaupten kann, sie ermögliche regelgeleitetes Sprechen und sei anderen Subjekten zugänglich, obwohl diese Zugänglichkeit nicht intendiert sei. Laß diese Theorie zunächst einmal Theorie sein. Geh vielmehr auf dich im Diskurs zurück und frage dich selbst, was du durch deine Diskurspartnerrolle von vornherein intendiert hast. Welche charakteristische(n) Intention(en) teilst du, indem du die Rolle eines Argumentationspartners wahrnimmst? Privatus: Diese Frage schmeckt mir nicht. Socia: Gut. Laß uns einfach einen negativen Test im Dialog machen und uns fragen: Ermöglichen wir anderen Diskursteilnehmern den Zugang zu unserer Rede, wenn wir diejenigen Zugänge, die wir beide – du und ich – Anderen bereits eröffnet und auch als unsere eigenen Kommunikationsvoraussetzungen ins Spiel gebracht bzw. anerkannt haben, durch unsere Theorie in Abrede oder doch in Frage stellen? Und sei es mit Hösle? Privatus: Welche Zugänge meinst du? Socia: Eben die Zugänge, die du Anderen eröffnet hast, indem du den Geltungsanspruch der Verständlichkeit deiner Rede (a1) und den Anspruch der Wahrhaftigkeit deiner Intention samt Glaubwürdigkeit deiner Interaktionsbereitschaft (a2) als Sinnvoraussetzungen deiner Rede eingebracht und mir gegenüber auch ausdrücklich anerkannt hast. Privatus: Worin aber soll die sinnkritische Prüfung genau bestehen? Socia: Darin, daß wir uns fragen, ob wir die Rede eines Diskurspartners eigentlich verstehen können, ob wir uns auf seine Rede als Diskursangebot einlassen können, ihn also als unseren 98

Ebd.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Partner im Diskurs wollen und anerkennen können, wenn er folgendes tut: Einerseits beansprucht er, wir könnten seine Rede als Dialogbeitrag verstehen und als Angebot zum argumentativen Dialog aufnehmen. Andererseits behauptet er, seine Rede könne Teil einer Sprache sein, welche ohne Kommunikationsangebot an Andere auskomme, so daß sie von Zustimmung oder Widerspruch Anderer unabhängig sei – wie es Hösle gegen Kuhlmann verficht. Verwirrt er uns (und alle anderen, die sich als Diskurspartner angesprochen fühlen mögen) damit nicht völlig? Oder treibt er ein Spiel mit uns – z. B. absurdes Theater statt gemeinsamer Wahrheitssuche? Denn wie sollen wir seine Rede jetzt verstehen: im Sinne des Verständlichkeitsanspruchs und Wahrhaftigkeitsanspruchs eines Diskurspartners – oder im Sinne seiner Privatsprachentheorie als privatsprachliche Artikulation, die eine Zugänglichkeit für Andere, eine intersubjektive Dimension nicht als solche intendiert? Wenn du eine solche Rede vorbringst, läßt du völlig im Dunkeln, was du wirklich meinst und als was deine Rede zu verstehen ist. Wer nämlich so redet, macht weder sich selbst noch den Anderen klar, was er im Schilde führt und worauf sich die Anderen einstellen sollen. Will er in der Tat als Diskurspartner auftreten, der ein zugängliches Kommunikationsangebot macht? Oder präsentiert er ein Beispiel für die hermetische Äußerung eines Privatsprachentheoretikers? Siehst du nicht ein, daß du den Verständlichkeitsanspruch, den ein Diskurspartner für seine These erhebt, nicht einlösen kannst, wenn deine These die Möglichkeit einer Privatsprache vertritt? Eine solche Rede ist doch sinnlos; in einem argumentativen Dialog ist sie sinnlos. Auf der Bühne mag sie originell, vielleicht erhellend sein – und didaktisch kann sie als Lehrstück für einen pragmatischen bzw. performativen Widerspruch herhalten. Privatus: Warum soll ich mich mit dieser von ernsthaften Philosophen diskutierten und sogar vertretenen These in einen performativen Selbstwiderspruch verwickeln müssen? Socia: Du tust es unvermeidlicherweise, und zwar aus zwei Gründen. Erstens negierst du mit dieser These, was du performativ 310 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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in Anspruch genommen hast. Denn durch dein kommunikatives Handeln im Diskurs, die Übernahme der Diskurspartnerrolle, hast du sprachliche Kommunikation, ja dialogische Kooperation mit Anderen intendiert. Du hast ihnen signalisiert: ›Ich verspreche euch hiermit, einen Diskursbeitrag vorzubringen, dessen Geltungssinn darin liegt, daß ihr ihm mit Argumenten zustimmen oder ihn begründet ablehnen könnt. Ihr versteht mich richtig, wenn ihr mich als euren Argumentationspartner nehmt, der euch durch seine These als reine Kritiker/Zustimmer anerkennt.‹ Privatus: Hm, das ist in der Tat heikel. Das sollte ich überschlafen und weiter darüber nachdenken. Socia: Nun, dann schlaf gut und wach klar auf. Privatus: Keine Polemik bitte. Jetzt will ich erst noch mehr hören; zunächst den angekündigten zweiten Grund für die behauptete diskurspragmatische Selbstwidersprüchlichkeit meiner Privatsprachenannahme! Socia: Ganz einfach: Indem du die Möglichkeit einer Privatsprache, die als solche nicht auf Kommunikation angelegt ist, behauptest, nimmst du ja an, daß deren Sprecher, etwa du selbst, ohne Anerkennung Anderer als möglicher Prüfer und Partner auskommen, mithin solitär Regeln folgen und zur Wahrheit gelangen können. Sozial bzw. praktisch gibst du den Anderen damit zu verstehen: ›Es besteht keine Verpflichtung, Andere als Kommunikationspartner anzuerkennen. Wenn ich das gleichwohl jetzt und euch gegenüber tue, dann weil ich das schön finde und weil es mir gut tut, wenn ich mich als Mitglied der moralischen Gemeinschaft verstehe. Das ist doch ein plausibler Grund, nicht? 99 Klar ist freilich auch, daß Dritte nicht grundsätzlich auf meine Anerkennungsbereitschaft bauen können. Und ihr, genaugenommen, auch nicht immer. Denn ich könnte ja meine Meinung ändern, weil ich eben keine allgemeine Verpflichtung zu einer solchen Anerkennung sehe.‹ Folgt das nicht aus deiner Privatsprachenthese?

Vgl. Tugendhats »plausibles Moralkonzept«, in: ders., Vorlesungen über Ethik (1993), S. 79–97, bes. S. 88–90.

99

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Privatus: Ja, so etwa könnte ich sprechen. Und wäre damit in bester Gesellschaft – so in der von Ernst Tugendhat. Socia: Beste Gesellschaft ist freilich kein Wahrheitskriterium. – Zurück zu deinem Argument: Performativ hast du die Anerkennung Anderer als Diskurspartner versprochen, hast dich dazu verpflichtet, propositional aber, mit deiner These, bestreitest du sie als Verpflichtung und stellst sie ganz in dein Belieben. Auf diese Beliebigkeit kann niemand bauen. Also müssen vorsichtige Andere vermuten, du seist nur zum Schein anerkennungsbereit, kurz: Sie können in dir keinen glaubwürdigen Diskurspartner erkennen, viel eher werden sie vor deinen Versprechungen auf der Hut sein. Privatus: Das wäre fatal. Ich werde darüber nachdenken. Du aber, du hattest zuvor noch ein anderes Argument angedeutet, mit dem du ebenfalls den Wahrhaftigkeitsanspruch stark machen wolltest. Socia: Der Wahrhaftigkeitsanspruch ist verwoben mit dem Geltungsanspruch auf mögliche Wahrheit deiner These. Denn wenn du als Diskurspartner ernstgenommen werden willst, so daß man deine Bereitschaft anerkennt, Anderen wirklich ein Diskursangebot zu machen und mit ihnen bei der Lösung eines Problems zusammenzuarbeiten, dann hast du zugleich einen Anspruch auf die mögliche Wahrheit deiner Proposition ins Spiel gebracht: Deine These soll – du machst sie ja Anderen gegenüber geltend – etwas sein, das im Blick auf mögliche Wahrheit intersubjektiv geprüft werden kann. Es soll einen Erkenntniswert haben, wenn wir uns darauf einlassen, diese These zu prüfen. Privatus: Hoppla! Nicht alle Propositionen haben doch einen Wahrheitsanspruch. Wenn ich beispielsweise einen Witz mache oder eine Geschichte erzähle, einen Roman schreibe oder ein Theaterstück, so habe ich zweifellos einen Wahrhaftigkeitsanspruch, ich stehe nämlich dahinter: Ich bin es, der jetzt einen Witz machen oder eine Geschichte erzählen oder einen Roman schreiben will etc. Aber ich behaupte doch nicht, daß der Witz wahr sei, die Erzählung eine wahre Begebenheit berichte oder daß der Roman (gänzlich) auf Tatsachen beruhe. Es gibt eben Propositionen ohne Wahrheitsansprüche. Socia: Das ist ein semantizistischer Irrtum. Du verwechselst die 312 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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möglichen Geltungsansprüche des Gegenstands bzw. des Themas deiner Rede, z. B. eines Witzes, einer Geschichte, eines Romans etc. mit deinen eigenen Geltungsansprüchen. Denn du kannst dich selbst nur identifizieren und ernstnehmen, weil du zu deinem Witz, zu deiner Geschichte, zu deinem Roman etc. Stellung nehmen kannst, indem du dir und Anderen eine Versicherung abgibst, die einen Begleitdiskurs zu deinem Witz, deiner Geschichte usw. bildet. Du mußt dir und Anderen nämlich sagen können: ›Das, was ich jetzt tue, besteht wirklich, also wahrheitsgemäß darin, daß ich einen Witz mache, daß ich eine Geschichte erzähle usw.‹ Privatus: Das würde darauf hinauslaufen, daß ich zu allen möglichen sprachlichen Äußerungen noch einmal müßte Stellung nehmen können, indem ich eine Behauptung mit Wahrheitsanspruch dazu vorbringe: ›Ich behaupte, es ist wahr: Bei meiner Äußerung x handelt es sich um einen Witz.‹ etc. Socia: So ist es. Zu jeder möglichen sprachlichen Äußerung, die schon in sich die Doppelstruktur von performativem Akt und propositionalem Gehalt besitzt 100, mußt du wiederum mit einer doppelstrukturierten kompletten sprachlichen Äußerung Stellung nehmen können. 101 Das ist die schon erörterte doppelte Doppelstruktur einer formal vollständigen sprachlichen Äußerung oder Redehandlung. Privatus: Und diese doppelte Doppelstruktur wäre die notwendige Bedingung einer vollständigen menschlichen Sprache? Als vollständige menschliche Sprache könnte nur ein solches x gelten, das uns erlaubt, nicht allein etwas regelgeleitet zu tun, sondern auch in einem Begleitdiskurs dazu Stellung zu nehmen? Socia: Ja. Als eine vollständige Sprache kann nur das gelten, was uns in die Lage versetzt, nicht nur bestimmte Verrichtungen regelgemäß durchzuführen, sondern zu diesen Stellung zu nehmen, sie zu orientieren und insofern uns selbst als Akteure einzuholen, als Handlungssubjekte. Privatus: Damit wären wir nun doch bei einer Sprachtheorie angekommen. 100 J. Habermas, »Was heißt Universalpragmatik?«, in: ders., Vorstudien (1984), S. 353 ff., bes. 404 ff. 101 A. Øfsti, Abwandlungen (1994), S. 66 ff., 71 ff., 178 ff., 261 ff. und 269 ff.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Socia:

In gewisser Weise. Du hast uns zu einer Rekonstruktion von Sinnbedingungen der Rede gebracht. Und so muß es sein, wenn die Reflexion auf das, was wir sprachlich tun und dabei in Anspruch nehmen müssen, keine bloße Selbstbetrachtung, keine subjektive Selbstreflexion sein, sondern den Stellenwert einer transzendentalen Reflexion gewinnen soll, welche sich der Bedingungen der Möglichkeit bzw. der Sinnbedingungen des Redens vergewissert. Denn damit erschließt sie auch Bedingungen der Möglichkeit der Sprache als Wirklichkeit menschlichen Daseins. Privatus: Damit würdest du Hösle recht geben, wenn er fordert, daß eine Transzendentalphilosophie zugleich Ontologie sein müsse. Socia: Gewiß. Jede gelungene Transzendentalphilosophie ist zugleich Ontologie. Nur meint Hösle, daß die sprachpragmatische, also kommunikationsbezogene Transzendentalphilosophie keine Ontologie erbringen könne, welche bewiese, daß »jedes (endliche) Vernunftwesen notwendig sozial sei« 102. Die reflexive Pointe der Diskurspragmatik als kommunikationsbezogener Transzendentalphilosophie besteht nun darin, dasjenige, was im logischen Sinne notwendig, nämlich argumentativ unhintergehbar ist, durch Reflexion in dem je geführten Dialog auf (mögliche, zunächst aus unserem Vorverständnis als Kommunikationsteilnehmer heraus rekonstruierte) Sinnbedingungen zu erweisen. Der Ansatzpunkt für einen Gültigkeitserweis in der Diskurspragmatik ist daher immer das Performative, genauer: die jeweilige Dialoghandlung des Gegners, seine aktuelle Performanz – freilich in ihrer Verwobenheit mit dem vorgebrachten propositionalen Gehalt, also dem inhaltlich Gesagten. Privatus: Zweifellos eine interessante Theoriebildung. Nur sehe ich überhaupt nicht ein, warum ich nicht mit Wahrhaftigkeitsanspruch und auch mit Wahrheitsanspruch meine Privatsprachentheorie sollte vertreten können. Willst du etwa Hösle und anderen, die, sei es aus Überzeugung, sei es hypothetisch, für die Möglichkeit einer Privatsprache argumentieren, unterstellen, sie seien unwahrhaftig? Oder willst du behaupten, sie suchten eigentlich doch nicht die Wahrheit? 102

V. Hösle, Die Krise der Gegenwart (1990), S. 192.

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

Socia:

Jetzt psychologisierst du. Du unterstellst, die Diskurspragmatik sei eine philosophisch unterfütterte Psychologie und verträte eben empirische Annahmen über die Motive von Menschen – hier von Philosophen, die die Annahme einer möglichen Privatsprache stark machen. Davon kann aber keine Rede sein. Das wäre eine abstruse Verwechslung von transzendental fragender Philosophie mit empirischer Motivforschung. Vielmehr kann es nur deshalb Erkenntniswert haben, mit den Verfechtern einer Privatsprache zu diskutieren, weil man ihnen die Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit und Wahrheit zubilligt und weil man sie als gleichberechtigte Diskurspartner anerkennt. Oder würdest du mit jemandem diskutieren, von dem du (mit guten Gründen) den Eindruck hättest, er meine nicht ernst, was er sagt, und er leiste keinen Beitrag zur Erkenntnis der Wahrheit? Privatus: Wohl kaum. Auf einen Diskurs mit jemandem, dem ich weder zutraue, er sei wahrhaftig noch er sei um die wahrheitsgemäße Lösung eines Problems bemüht, werde ich mich nicht einlassen. Das ist witzlos. Socia: Gut. Dann haben wir nur noch diese Frage zu beantworten: Kannst du oder kann ich einerseits einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit und einen Anspruch auf Wahrheit erheben, andererseits aber die These vertreten, eine Privatsprache, also eine Sprache, welche die mögliche Erwiderung anderer Subjekte auf das Gesagte nicht intendiert, sei möglich? Das würde doch heißen: Du könntest zugleich ein glaubwürdiger Diskurspartner sein, so daß dich die anderen Diskursteilnehmer als ihren Argumentationspartner verstehen und anerkennen, und dennoch eine Sprache haben wollen, die nicht die Erwiderung Anderer intendiert. Beim Zeus, wie soll das zusammengehen? Privatus: Warum denn nicht? Socia: Du nimmst doch in Anspruch, von anderen im Diskurs verstanden und anerkannt zu werden. Ist das so? Privatus: Gewiß. Hinter diesen Anspruch kann ich nicht (mehr) zurück. Socia: Gut. Auf der anderen Seite aber willst du sehr wohl dahinter zurück, indem du nämlich die Privatsprachenthese vertrittst. Denn damit behauptest du, du seist gar nicht auf Kommunika315 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

tion mit Anderen angewiesen, also auf Verständigung, d. h. auf ein Verstehen und Denken mit beabsichtigter Erwiderung. Also widersprichst du deinem eigenen kommunikativen Anspruch. Privatus: Du meinst, ich verführe selbstwidersprüchlich – etwa nach dem Motto: ›Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß‹ ? Socia: So ist es. Wenn du die selbstvergessene theoretische Einstellung verläßt und dich vielmehr darauf besinnst, was du in deiner Rechtfertigung der Privatsprachenthese –also jetzt im Dialog mit mir – bereits als gültig und verbindlich in Anspruch genommen hast, und zwar notwendigerweise, dann erkennst du, daß die Privatsprachenthese scheitert. Du selbst kannst sie nicht als Diskursbeitrag verstehen. Und im Diskurs kannst du sie nicht durchhalten. Denn die anderen Diskursteilnehmer können diese These gar nicht als einen ernstgemeinten Diskursbeitrag verstehen. Sie ist ein sinnloses Argument. III.4.6 Kurzer Reflexionsdiskurs: ›Kannst du die Diskurspartnerschaft mit dem, was du sagst und willst, vereinbaren?‹ Wenn die Unhintergehbarkeit des sprachlichen Kommunikationsapriori demonstriert, mithin der transzendentale Solipsismus als sinnlose Position erwiesen ist, liegt die kommunikative Vernunft offen vor uns. Ihr moralischer Gehalt und Orientierungssinn differenziert sich in den Geltungsansprüchen und Dialogversprechen a priori. Bündeln läßt er sich in einem obersten regulativen Prinzip, das die Richtschnur des Sich-im-Diskurs-Verantwortens abgibt und infolgedessen auch das Prinzip der Moral umfaßt: gleichermaßen Kriterium für das moralisch Richtige und Grundnorm, die auf das einsichtig moralisch Gebotene verpflichtet. Diskursethisch läßt sich das Moralprinzip auf unterschiedliche Weise formulieren, nämlich im Blick auf die je besondere Problemsituation. Purismus wäre hier fehl am Platze. Stets aber muß die Formulierung dreierlei leisten: Geltungslogisch muß sie die regulative Idee des Diskursuniversums als idealer Kommunikationsgemeinschaft oder die Idee des umfassenden argumentativen Konsenses zum Geltungsmaßstab erheben, dialogisch muß sie die Erwartungserwartungen der Argumentationspartner als solcher zum Angelpunkt machen, prak316 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

tisch muß sie Gesinnung bzw. guten Willen des Diskurspartners und Verantwortung in der Welt zusammendenken, also eine Diskursverantwortungsmaxime darstellen. Daher kann die gesuchte Formel des Moralprinzips ›D‹ wie folgt lauten: ›Argumentiere und handle so, daß alle einschließlich der Betroffenen als Argumentationspartner (die nichts als das beste Argument suchen) deinem Argument und deiner Handlungsweise auch bei Kenntnis ihrer Auswirkungen beipflichten würden!‹ Erst wenn die Diskurspragmatik zu diesem Punkt gelangt ist, können wir eigentlich von »Diskursethik« sprechen, wohl wissend, daß es sich dabei um eine dialogbezogene Verantwortungsethik handelt. Deren Imperativ schließt den Verantwortungsimperativ von Hans Jonas nicht nur ein, sondern vervollständigt ihn durch das bei Jonas fehlende Verbindlichkeitskriterium, den von Kant geforderten Rechtsgrund der Verbindlichkeit. Dieses besteht in der Vereinbarkeit der Handlungsweise sowohl mit den Geltungsansprüchen und impliziten Dialogversprechen als auch mit dem regulativen Geltungsprinzip des strikt argumentativen Konsensus, der in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft erzielt würde. Nach dieser Vereinbarkeit ist in praktischen Diskursen zu fragen. Freilich meldet sich, ehe wir noch diese Frage stellen, der Skeptiker zu Wort. Gefährlich ist sein Zweifel, wenn er gewissermaßen immanent argumentiert, indem er sich auf die nicht auszuschließende Fallibilität der diskurspragmatischen Rekonstruktion beruft. Dann muß er sich aber, wie wir in Abschnitt III.4.2 sagten, rationalerweise darauf einlassen, jeweils einen einzelnen Kandidaten für eine normative Sinnbedingung zu bezweifeln. Hätte er mit diesem konkreten Zweifel Erfolg, könnte er seine Zweifelsthese mithin als sinnvollen Diskursbeitrag durchhalten, so brächte er damit wohl das ganze System ins Wanken. Denn die Geltungsansprüche sind untereinander verwoben; auch die vorgängigen Dialogversprechen bilden ein Ganzes. Und die rekonstruktiven Forschungsbemühungen selbst müssen sich an der »Zielvorstellung eines kompletten Systems der rekonstruierten Resultate orientieren«, wie Alberto Damiani demonstriert hat. 103 Einen immanenten Zweifelsversuch unternimmt Jürgen Habermas, wenn er bestreitet, daß die Mitverantwortung des Diskursteilnehmers A. Damiani, Handlungswissen. Eine transzendentale Erkundung nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg/München 2009, S. 157, vgl. 145–159.

103

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

für die Realisierungsbedingungen öffentlicher Diskurse (unser Dialogversprechen b5) und für die Berücksichtigung bzw. Praktizierung ihrer Ergebnisse (Dialogversprechen b6) aus der »Selbstbesinnung auf die in Argumentationen immer schon vorausgesetzten Normen« ableitbar sei. 104 Doch wie steht es mit diesem Zweifel, wenn er einem reflexiv sokratischen Dialog unterzogen wird? Der sokratische Diskurspragmatiker wird den Zweifler an diesen Rekonstruktionsresultaten nämlich fragen: ›Wie können wir und andere mögliche Diskursteilnehmer dich als unseren Diskurspartner ernstnehmen, also deinen Glaubwürdigkeitsanspruch als eingelöst betrachten, wenn du z. B. die rationale Erweisbarkeit, mithin die Gültigkeit der Verpflichtung in Zweifel ziehst, einen praktischen Diskurs auch umzusetzen? Wenn du diese Verpflichtung meinst nicht anerkennen zu müssen, wissen wir gar nicht, woran wir mit dir sind. Du schleichst dich aus der Diskurspartnerschaft, entziehst dich der Rolle des Diskurspartners, der in der realen Welt mit Anderen, jetzt mit uns, Diskurse führt, damit sie umgesetzt werden können. Andernfalls ein Diskurs witzlos und der Diskursbegriff leer, weil welt- und praxislos wäre. Hinzukommt, daß du als Diskursteilnehmer in der realen Welt von vornherein weißt, daß Diskurse von (z. B. rechtlichen, ökologischen und sozialen) Realisierungsbedingungen abhängen. Also kannst du nicht zugleich Diskurse wollen und die Mitverantwortung für ihre Realisierungsbedingungen einklammern usw.‹ 105 Zumeist argumentiert der Skeptiker von außen gegen die Begründung der Diskursethik, indem er in der üblichen theoretischen Einstellung die Allgemeingültigkeit des Moralprinzips ›D‹ bezweifelt. Der sokratische Diskurspragmatiker sieht sich hier wieder herausgefordert, reflexiv sinnkritisch zu argumentieren, also auf der dritten Ebene seiner Begründung von Diskurspflichten, um dem Zweifler die Sinnlosigkeit seines Zweifels anzudemonstrieren. Dabei wird er sich auf theoretische Argumente, über die man trefflich und sehr, sehr langatmig ohne Einigungschance streiten kann, nicht weiter einlassen, sondern den Ge104 J. Habermas, »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung (2003), S. 62 f., vgl. 64. 105 Vgl. D. Böhler u. H. Gronke, »Hic Rhodus, hic salta«, in: Filosofia (2007), hier S. 558–561, auch 546–551, 582 ff.

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

sprächspartner jetzt als seinen Partner im Dialog der Argumente stellen. So geht er (P) den Dissens praktisch an, indem er die Zweifelsthese des Gegners (O) mit der von ihm in Anspruch genommenen Diskurspartnerrolle konfrontiert. 106 Dann kommt es zu folgender Kohärenzprüfung des Zweifels: O: Ich behaupte, daß das Moralprinzip (vielleicht) nicht verbindlich, sondern bezweifelbar ist. P: Indem du uns/allen Argumentationspartnern gegenüber etwas – hier deinen Zweifel an der Allgemeingültigkeit und das heißt Verbindlichkeit des Moralprinzips – als Argument geltend machst, also die Diskurspartnerrolle übernimmst, hast du bereits implizit, nämlich performativ, alle möglichen Argumentationssubjekte anerkannt und als Mitverantwortliche (zumindest) für diesen Diskurs in Anspruch genommen. Also ist deine Handlung als Diskurspartner unvereinbar mit deiner Aussage, daß das Moralprinzip vielleicht nicht verbindlich/bezweifelbar sei. Was man aber als Diskurspartner nicht sinnvoll bezweifeln kann, das ist allgemeingültig und in seinem normativen Gehalt verbindlich. Folglich ist das Moralprinzip allgemeinverbindlich. Ein Beispiel für den skeptischen Angriff von außen gibt Holm Tetens. In großzügiger Zusammenschau belegt er die unterschiedlichen Ansätze von Habermas (formale Pragmatik im Rahmen einer Theorie des kommunikativen Handelns), Apel (Transzendentalpragmatik) und Böhler (sokratisch reflexive Diskurspragmatik) mit dem tödlichen Vorwurf der petitio principii. 107 Allerdings unterscheidet er den ›Zirkel im Beweis‹ nicht von dem erlaubten, ja unvermeidlichen ›Zirkel im Verstehen‹, welcher ja auch ihn selbst einschließt – ihn, der hier die Diskursethik verstehen will und dazu sein Vorverständnis benötigt, insofern also schon verstanden haben muß, was er richtig verstehen will. Doch 106 Vgl. den in einem Diskussionskontext veranstalteten reflexiv sokratischen Dialog: D. Böhler, »Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik« (1998), hier S. 143–163. 107 H. Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, München 22006, S. 164–168.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

läßt sich der Diskurspragmatiker auch darüber auf keinen Streit ein, sondern wirft den Zweifler auf sich selbst zurück: ›Was bedeutet dein Argument, das diskursethische Moralprinzip beruhe auf einem Zirkelschluß, praktisch? Wenn du aus deinem Einwand folgerst, daß du und wir alle u. U. nicht verpflichtet seien, Normen zu suchen, die sich auch in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft – ›D‹ bezieht sich auf ein regulatives Prinzip! – nicht mit Gründen widerlegen lassen, und nur solche Normen als allgemeinverbindlich anzuerkennen, frage ich dich: Wie sollen wir, deine Argumentationspartner, dich dann als Argumentationspartner ernstnehmen? Kannst du, der du auf die Nichtverbindlichkeit der Diskursverpflichtungen schließt, ein glaubwürdiger Partner im Diskurs sein? Wir, deine Gegenüber im Diskurs, müssen doch annehmen, daß du auch solche Normen gelten zu lassen und zu befolgen bereit bist, deren Legitimitätsanspruch sich widerlegen läßt, im Extremfall also auch unmoralische Normen. Diese Bereitschaft zur Irrationalität und Dialoggleichgültigkeit müßtest du konsequenterweise ja auch auf uns beziehen. Also bist du mit diesem Votum aus dem argumentativen Dialog, der ja von vornherein ein moralisch verbindliches Anerkennungsverhältnis bildet, ausgetreten und verhältst dich insofern nicht als Diskurspartner. Infolgedessen können wir dich, solange du diesen Standpunkt vertrittst, nicht als unseren Dialogpartner anerkennen. Mehr noch, wir täten gut daran, verhielten uns verantwortungsethisch richtig, wenn wir Schutz vor Folgen suchten, die deine Willkürbereitschaft – nennen wir die ethische Implikation deines Arguments einmal so – für uns und alle anderen haben kann.‹ Die Vereinbarkeit des Gesagten mit der Partnerschaft im argumentativen Dialog, mithin die mögliche Selbsteinholung des Sprechers hinsichtlich seines Gesagten, ist der reflexiv sokratische Maßstab dafür, ob ein Zweifel bzw. eine These sinnvoll ist – ein sinnvoller Diskursbeitrag oder ein gescheiterter. Die in aktuell reflexiver Einstellung vorgenommene Prüfung, ob sich das, was einer sagt und will, mit der Diskurspartnerschaft vereinbaren läßt, diese sokratische Kohärenzprüfung erlaubt unter Umständen so etwas wie ›kurze Diskurse‹ 108, genauer gesagt: sokratische Meta108 Den Ausdruck »kurze Diskurse« verdanke ich Wolfgang Kuhlmann: Diskursethik, o. J., unveröffentlichtes Manuskript. Dazu H.-C. Kupfer, »Diskursethik und Anthropo-

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

diskurse zur Geltungsprüfung tatsächlich durchgeführter praktischer Situationsdiskurse oder auch schon zur Geltungsprüfung konkurrierender Interessen, für die allgemeine Geltungsfähigkeit beansprucht wird. Die Vorzüge eines solchen Verfahrens liegen auf der Hand. Es ist erheblich kürzer, als es die komplexe und organisationsaufwendige Veranstaltung eines situationsbezogenen Diskurses sein kann; zudem ist es immer dann allgemeingültig und allgemein einleuchtend, wenn es sachgemäß ist, das strittige Problem ohne Verzerrung zu einer reflexiven Frage zuzuspitzen. Wann aber ist eine solche Zuspitzung, die ja nach Vereinfachung aussieht, legitim und sachgemäß? Sie ist es immer dann, wenn die – meist langwierig und oft nicht (end)gültig, weil nur fallibel – durchzuführende Analyse der besonderen Situationsbedingungen für den Hauptentscheid zurückgestellt werden kann oder wenn die Situation nicht komplex, sondern überschaubar ist. Ohne Schaden für die Solidität und Geltungsfähigkeit des Diskurses kann die Situationsinterpretation dann hinter die moralische Grundsatzerwägung – legitim oder illegitim, verantwortbar oder nicht – zurücktreten, wenn sich die Allgemeinheit eines der diskutierten Interessen eindeutig feststellen läßt. Doch wie soll das bewerkstelligt werden, fragt sogleich der Skeptiker. Hierfür schlägt die Diskurspragmatik das kurze Verfahren einer sokratischen Kohärenzprüfung vor: In aktuell reflexiver Einstellung wird die zu bewertende These, mit der jemand ein Interesse geltend macht, konfrontiert mit der Diskurspartnerrolle, die er dabei in Anspruch nehmen muß. Denn sie unterliegt keinem Verdacht der Partikularität, sondern repräsentiert das Allgemeingültige. Daher ist diese reflexive Konfrontation der sichere Weg, bei einem Konflikt zwischen verschiedenen Interessen, die sich den Rang streitig machen, den Vorrang eines Interesses zu ermitteln: ›Frage ›dich‹ hinsichtlich deiner Diskurspartnerrolle, welches der geltend gemachten Interessen mit der Rolle eines Diskurspartners vereinbar ist.‹ Anders gesagt: ›Erprobe im Diskurs, was mit deiner Diskurspartnerrolle passiert, wenn du für dein zentrismus. Zur Frage der Angemessenheit der Diskursethik im Umgang mit der Natur«, in: W. Kellerwessel u. a. (Hg.), Diskurs und Reflexion, Würzburg 2005, S. 122–163, hier: S. 158 ff. Vgl. auch Kuhlmanns gleichsam monologische Anwendung des diskursethischen Moralprinzips auf eine Handlungssituation: ders., »Diskursethik – Akt- oder Normenethik?«, in: H. Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren (2002), S. 329–342. Insbesondere: ders., Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 2009 (zit.: Unhintergehbarkeit (2009)), S. 9–96.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Interesse I den Vorrang behauptest. Bei solch einer Vereinbarkeitsprüfung des Interesses mit der Diskurspartnerschaft erkennst du, ob dein Interesse vorzugswürdig und (im Blick auf die gegebene Situation) universalisierbar ist, also Zustimmung auch und gerade in einer idealen Argumentationsgemeinschaft verdient.‹ Gefragt wird nach der diskurspragmatischen Kohärenz. Der so eröffnete Prüfungsdiskurs erster Ordnung ist selbst ein Dialog und kann als realer Dialog durchgeführt werden. Ja, er sollte so vollzogen werden: als gemeinsame Reflexion im Dialog – zuerst auf die normativen Sinnbedingungen des Argumentierens, sodann auf deren Relevanz für die Gewichtung eines Interesses. Dieser zweite Schritt transferiert das Verbindlichkeitsgewicht der Diskurspräsuppositionen auf die Bewertung der situationsbezogenen Interessen. Allerdings kann hier unter Umständen eine Fallibilität ins Spiel kommen, der die direkte sinnkritisch sokratische Vergewisserung von Diskurspräsuppositionen als Sinnbedingungen des Argumentierens, wie wir sie oben in Kapitel III.4.4 als transzendentalpragmatische Analyse durchgeführt haben, gänzlich enthoben ist. Es kann nämlich sein, daß die Ermittlung des Sinns eines Interesses abhängt von der zutreffenden Deutung jener Situation, auf die die Beteiligten mit diesem Interesse geantwortet haben. In die Situationsinterpretation eines konkreten Diskurses ist Fehlbarkeit sowohl hermeneutisch als auch evaluativ eingebaut: Die deutende Beschreibung der Situation ist ebenso eine Fehlerquelle wie die damit verbundene Bewertung der Lage als Herausforderung zu einer bestimmten Verhaltensweise. Interpretation und Bewertung geben Gelegenheit zu partikulären bzw. subjektiven Verzerrungen. Methodische Vorsicht ist also geboten, wenn man den praktikablen Weg wählt, den immer schon situationsinterpretativen praktischen Diskurs abzukürzen durch die hier vorgeschlagene Kohärenzprüfung von Interesse und Diskurspräsupposition. Doch hat eine solche Kohärenzprüfung als Diskurs in nuce gegenüber Gedankenexperimenten zwei Vorteile: Sie arbeitet mit unhintergehbaren Kriterien, was ein hohes Maß an Intersubjektivität in den Überlegungsgang einbringt und den Willkürspielraum, der Gedankenexperimenten eigen ist, sogleich ausschließt. Überdies ist sie von vornherein dialogbezogen angesetzt, so daß sie als sokratische Methode rückverweist auf einen realen situationsbezogenen Diskurs. Im Zwei-

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III.4 Verbindlichkeit aus dem Diskurs

felsfall wird der sokratische Kohärenzprüfer dann auch auf die Veranstaltung eines solchen zurückgehen. Der Zweifelsfall besteht jedoch immer dann nicht, wenn das geltend gemachte Interesse bzw. das von ihm getragene technologische Projekt oder politische Vorhaben Lebensgefährdungen oder Gefährdungen der kommunikativen Freiheit zur Folge haben kann. Eben das ist der Punkt bei dem Interesse an Kernenergie. Bedeutet Atomenergie doch eine irreversible Strahlung, weshalb sie unvereinbar mit dem fünften Dialogversprechen ist (b5). Zudem bedroht sie Lebensrechte wie auch Freiheitsrechte zahlloser Menschen. Deshalb gilt: Wer ein Interesse an Atomenergie geltend macht, bricht das dritte und vierte der impliziten Dialogversprechen (b3, b4). Ein anderes Beispiel sind Interessen, deren Folgen, nämlich ihre technologische Nutzung, eine mögliche Verletzung der Menschenwürde einschließt, wie das die Fortpflanzungstechnologien (PID) und gentechnologische Manipulationen an embryonalen Stammzellen bzw. die »verbrauchende« Forschung an diesen tun. Inwiefern, werden Sie fragen. Nun: Auch die Befürworter von PID und embryonaler Stammzellforschung können nicht ausschließen, daß menschliche embryonale Stammzellen als Menschlein mit dem vorlaufenden Anspruch auf menschliche Würde zu betrachten, mithin zu achten sind. Da sie das nicht ausschließen können, vertreten die Befürworter von PID eine unmoralische Praxis. Denn sie mißachten das dritte und fünfte vorgängige Dialogversprechen, die Achtung des Lebensrechts potentieller Diskurspartner (b3) und die Verpflichtung auf die Revidierbarkeit von Handlungsweisen, sofern deren Folgen unverträglich mit anderen Dialogversprechen sein können (b5). 109 Wenn zugleich mit der Berücksichtigung von Bedürfnissen und Interessen auch die moralische Handlungsfähigkeit des Menschen, seine Moralfähigkeit jetzt und in der Beziehung auf künftige Generationen, zu einem Verantwortungsgegenstand wird, dann ergeben sich als unbedingte Gebote, daß es weder legitim ist, die Existenz der Menschheit und damit die Seinsbedingung von Moral aufs Spiel zu setzen, noch 109 Eingehend dazu: D. Böhler, »Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Zweiter Teil«, in: ders. u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 369–401, bes. S. 382–391. Ders., »Embryonen ohne Menschenwürde? Diskursverantwortung bei Dissens und Nichtwissen«, in: H. Jonas, Fatalismus (2005), S. 191–204; komprimiert in dem Nachwort zu: H. Jonas, Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, hier: S. 252–259.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

moralische Gerechtigkeit und Menschenwürde, mithin die oben eingeführten Sinnbedingungen des Diskurses, welche zugleich die Elemente der Moral sind. Technologien, die solche Wirkungen auslösen können, sind moralisch illegitim. Sie dürfen aus diesem Grunde strenggenommen überhaupt nicht eingesetzt werden. Allenfalls ließen sich solche Technologien bzw. Maßnahmen in Extremlagen, wenn es um Sein oder Nichtsein der Gattung gehen sollte, verantwortungsethisch bedingt rechtfertigen – als letzte Notstrategien zur Menschheitsrettung. Dann jedoch nur bei Revisionsmöglichkeit und mit größter Vorsicht. Doch ist z. B. Atomenergie eine irreversible Gefährdung des Lebens. Sowohl das Gefährdungspotential der Menschheitsexistenz als auch dasjenige einer (etwa biotechnologischen) Unterminierung der Menschenwürde kann es erforderlich machen, daß auf eine Technologie ganz verzichtet wird, selbst wenn diese den Lebensinteressen und Gerechtigkeitsvorstellungen einzelner Menschen, einzelner Bevölkerungsgruppen oder einzelner Nationen dienlich zu sein scheint. Soviel hier in Abbreviatur; nur um die moralische Legitimations- und Delegitimationskraft kurzer sokratischer Diskurse vor Augen zu führen. Am Schluß des Buches wird davon nochmals die Rede sein.

III.5 Autonomie und Verantwortung. Entwicklung und Aufstufung der praktischen Vernunft Bislang haben wir die eigentlich praktischen, die normativ ethischen Elemente der Vernunft durch sokratische Besinnung auf ›uns‹, die wir etwas geltend machen, zu Bewußtsein gebracht, haben also strikt systematisch argumentiert. Nun soll diese Begründungsperspektive durch zwei sich gegenseitig erhellende Entwicklungsperspektiven ergänzt werden, durch eine geistesgeschichtliche oder phylogenetische und durch eine ontogenetische, und zwar urteilslogische. Zeigt die erste, daß die weltreligiösen Aufbrüche und die griechische Poliskultur einen Emanzipationsweg aus den totalen Institutionen einer archaischen Mythenwelt beschritten und der Menschheit eröffnet haben, so lenkt die entwicklungslogische den Blick darauf, wie in jeder Generation von neuem die einstmals errungene Autonomie zur Vernunftautonomie hochgestuft werden oder aber unmoralisch verfallen kann. Welche Revolutionierung der Denkweise und der Lebenswelt jene hochkulturellen

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III.5 Autonomie und Verantwortung

Aufbrüche mit sich brachten, hat vor allem Karl Jaspers auf den Begriff gebracht, als er die Idee einer »Achsenzeit« ausarbeitete.

III.5.1 Die »Achsenzeit«: Diskurs als Befreiung aus dem tragischen Neben- und Gegeneinander von Institutionen In seinem geschichtsphilosophischen Versuch »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte« hat Karl Jaspers (1883–1969) gezeigt, daß sich gleichsam eine Achse über die Weltgeschichte legen läßt, welche die hochkulturellen Aufbrüche aus den archaisch mythischen Lebenswelten umfaßt. Es sind Aufbrüche in Asien und im östlichen Mittelmeerraum, und zwar entlang der Zeitachse von 800 bis 200 vor Christus. In diesem Zeitraum entwickelten die Hochreligionen und Hochkulturen in China 110, in Indien – dort nicht der Hinduismus, sondern der Buddhismus – und in Israel – hier zumal die Propheten – und schließlich in Athen die Philosophen ein mehr oder weniger kritisches, ein reflektierendes Bewußtsein: Man fragt jetzt ebenso nach dem Sein im Ganzen und der Stellung des Menschen darin wie nach dem eigentlich Guten, zudem im biblischen Israel auch deontisch nach dem einsehbaren Sollen, dem moralisch Richtigen, nämlich nach dem, was vor Gott als gerecht gelten kann. Im Konflikt mit den mythischen, äußerst rigiden Weltanschauungen und inhumanen Institutionen spielt sich ein geistiger Entwicklungsprozeß ab, von dem Jaspers sagt, er sei der »tiefste Einschnitt der Geschichte« 111: »In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie […], – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, – im Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias [scil. – nicht zu vergessen die kühnen sozial- und kulturkritischen Propheten Amos, Hosea und Micha –] H. Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Eine Rekonstruktion unter dem Aspekt des Durchbruchs zu postkonventionellem Denken, Frankfurt a. M. 1992, bes. Kap. 3. 111 K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949 und Frankfurt a. M. 1955. 110

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

und Jeremias bis zu Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. […] Das Neue dieses Zeitalters ist in allen drei Welten, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. […] Er stellt radikale Fragen. Er drängt vor dem Abgrund [scil. der chthonischen und archaischen Mächte, vor denen man nur Angst haben kann, und die man durch magische Kräfte mehr oder weniger zu bannen versucht] auf Befreiung und Erlösung. […] Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der religiösen Transzendenz. Das geschah in Reflexion. Bewußtheit machte noch einmal das Bewußtsein bewußt, das Denken richtete sich auf das Denken.« 112 In der Folge konnte es, welteinmalig in der pluralistisch bewegten Stadtkultur Athens – und dort wunderbarerweise innerhalb von knapp sieben Generationen zwischen 600 und 320, zwischen Anaximander und Aristoteles – zur Philosophie kommen: Liebe zur Weisheit als Denken des Denkens, als Diskurs über das Denken und als begrifflicher Begleitdiskurs des Handelns. Wenngleich die Philosophie eine griechische Sondererscheinung war, so zeigt sich doch auch in Asien und Israel eine gewisse Hinwendung zum Logos als Gegeninstanz zum uneinholbaren, dunklen und unheimlichen Mythos. Denn die entstehenden Hochreligionen interpretierten das Göttliche logosnah, mithin dem Geist nachvollziehbar. Das Göttliche wurde nicht mehr als eine Unzahl unheimlicher Dämonen und natürlicher Wesenheiten gedacht, sondern als das Eine oder der Eine. Es entbrannte ein Kampf um die Transzendenz des Einen Gottes gegen die Dämonen »und der Kampf gegen die unwahren Göttergestalten aus ethischer Empörung gegen sie. Die Gottheit wurde gesteigert durch Ethisierung der Religion.« 113 Der ethische Aufbruch der »Achsenzeit« sprengt die fraglose Orientierungs- und Geltungsmacht der archaischen Institutionen. Er erobert kulturellen Freiraum für die bahnbrechende Tendenz des sich kultivierenden Menschen: Selbstverständigung durch Reflexion und Begründung. Vor dem Hintergrund der Achsenzeit zeichnen sich Strukturmerkmale des Gattungswesens Mensch als eines Lebewesens ab, das offenbar von Natur zur Kultur genötigt ist. Hinsichtlich seiner dürftigen Organausstattung und seiner Instinktreduktion geradezu ein 112 113

A. a. O., S. 14 f. A. a. O., S. 15.

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III.5 Autonomie und Verantwortung

Mängelwesen, führt er eine riskierte, von Antriebsüberschuß und von Einbildungskraft fast überflutete Existenz. Um sich im Dasein zu halten, ist der Mensch auf verläßliche Verhaltensregulationen angewiesen, auf Institutionen, die die fehlenden Instinkte ersetzen. Aber er muß und will auch soziale und personale Identität gewinnen; und dazu bedarf er einer metainstitutionellen Selbstverständigung: Diskurs als Reflexion im sinnhaften Medium der Sprache. Lassen Sie uns das durch einen Blick zunächst auf Herders Pioniertat der philosophischen Anthropologie, dann auf deren institutionalistische Ausbildung durch Arnold Gehlen, schließlich auf Karl-Otto Apels sprach- und diskursbezogene Auseinandersetzung mit Gehlen vor Augen führen. Mit seiner Schrift über den Ursprung der Sprache 114 wurde Johann Gottfried Herder (1744–1803) 1772 Preisträger der Berliner Akademie der Wissenschaften. Er beantwortete die auf französisch gestellte Frage, ob die Menschen, bloß auf ihre Naturfähigkeiten gestützt, sich wohl selbst Sprache erfinden können, mit der Theorie vom Menschen als einem Mängelwesen. Im Unterschied zu den Tieren, die von der Natur (z. B. mit Klauen, Zähnen und Fell) reich ausgestattet und durch ihre Instinktsteuerung stabil in einen überschaubaren »Wirkungskreis« eingepaßt seien, stelle der Mensch ein riskiertes, dynamisches Wesen mit lauter »Lücken und Mängeln« dar 115: Der Mensch lebt nicht in einer »einförmige[n] und enge[n] Sphäre, wo nur eine Arbeit auf ihn wartet: eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn.« 116 Demgegenüber habe »[j]edes Tier […] seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört […], in dem es lebenslang bleibt und stirbt; nun ist es aber sonderbar, daß je schärfer die Sinne der Tiere und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk. […] Die Spinne webt mit der Kunst der Minerve; aber alle ihre Kunst ist auch in diesen engen Spinnraum verwebt; das ist ihre Welt! Wie wundersam ist das Insekt und wie enge der Kreis seiner Wirkung!« 117 Der Mensch hingegen – »[nackt] und bloß, schwach und bedürftig, schüchtern und unbewaffnet« – stehe dazu in dem größten 114 J. G. Herder, »Abhandlung über den Ursprung der Sprache« (1772); zit. nach: J. G. Herders sprachphilosophische Schriften, hg. u. eingeleitet von E. Heintel, Hamburg 1960, S. 3–87. 115 A. a. O., S. 17 u. 19. 116 A. a. O., S. 17. 117 A. a. O., S. 15 f.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Mißverhältnis, weil er »offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt« sei 118 und Vorstellungskräfte habe, die ihn in offene Welten hineinstellen, weil seine Vorstellungs- und Seelenkräfte sich über die ganze Welt verbreiteten. 119 Je kleiner nun, folgert Herder, »die Sphäre der Tiere ist: desto weniger haben sie Sprache nötig. Je schärfer ihre Sinne, je mehr ihre Vorstellungen auf Eins gerichtet, je ziehender ihre Triebe sind: desto zusammengezogener ist das Einverständnis ihrer etwaigen Schälle, Zeichen, Äußerungen. Es ist lebendiger Mechanismus, herrschender Instinkt, der da spricht und vernimmt. Wie wenig darf er sprechen, daß er vernommen werde!« 120 Hingegen müsse der Mensch das ihm eigentümliche Mißverhältnis von dynamisch offener Wirksphäre und natürlicher Mängelausstattung kompensieren: durch Sprache und Vernunftkräfte. In dem Mißverhältnis von Mängelausstattung und Weltoffenheit erkennt Herder »den notwendigen genetischen Grund zur Entstehung einer Sprache« 121 und ebenso das Angewiesensein auf Vernunft bzw. Reflexion in Form – hier schließt er an Aristoteles an – einer »Besonnenheit«, welche seine Kräfte mäßige und leite 122: »Der Mensch in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden. […] Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache. Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!« 123 Während nach Herder der Mensch seinen Mängelcharakter und die Herausforderung seiner Weltoffenheit durch die Entwicklung von Reflexion als Besonnenheit und ineins damit durch die Erfindung von Sprache bewältigt, deutet der konservative Anthropologe Arnold Gehlen (1904–1976) die menschliche Kompensationsleistung primär als Entwicklung von Institutionen. Diese schneidet er jedoch von Reflexion ab, indem er sie allein im Sinne eines Instinktersatzes bestimmt, als »Zucht-« und »Führungssysteme«. Die schärfer als von Herder herausgestellte »Riskiertheit« der menschlichen Lebensform ergebe sich eben118 119 120 121 122 123

A. a. O., S. 18. A. a. O., S. 17. Ebd. A. a. O., S. 19. A. a. O., S. 22 f. A. a. O., S. 23 f. (Absätze vom Verf. entfernt).

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III.5 Autonomie und Verantwortung

so aus dem Instinktverlust wie aus dem »Antriebsüberschuß« des Menschen. Dieser Ansatz führt Gehlen – in Anlehnung an den Lebensfunktionalismus Nietzsches und Paretos wie auch an die Zucht- und Führungsideologie der Nazis – zu »einer letzten Definition des Menschen«. Er bestimmt den Menschen nämlich als »Zuchtwesen« und gibt dazu folgende Erklärung: »Diese Bezeichnung umfaßt alles, was man unter Moral verstehen kann, im anthropologischen Aspekt: die Zuchtbedürftigkeit, den Formierungszwang, unter dem ein ›nicht festgestelltes Tier‹ steht«. 124 In der Konsequenz dieses Zuchtgedankens entfaltet Gehlen eine institutionalistische Lehre vom Menschen: Wie das Verhalten der Tiere durch die Instinkte reguliert werde, so müsse das Verhalten des instinktarmen Menschen durch Institutionen formiert werden. Denn »angesichts der Weltoffenheit und Instinktentbindung des Menschen ist es durch nichts gewährleistet, daß ein gemeinsames Handeln überhaupt zustande kommt oder daß es, einmal vorhanden, nicht morgen wieder zerfällt. Gerade in diese Lücke tritt ja die Institution, sie steht an der Stelle des fehlenden automatischen Zusammenhangs zwischen Menschen, und gerade sie verselbständigt sich zur Sollgeltung« 125. Gehlen bleibt freilich nicht bei der plausiblen These stehen, »daß der Mensch aufgrund seiner Instinktreduktion und mangelhaften Organausstattung […] zur Institutionalisierung seines Handelns konstitutionell, also von Natur, gezwungen ist. Er unterstellt, auch das Wie des Handelns und seiner Institutionalisierung sei ›aus der Natur des Menschen‹ ableitbar: daß sich nämlich die Institutionen ›verselbständigen zu einer Macht, die ihre eigenen Gesetze wiederum bis in ihr [scil. der Menschen] Herz hinein geltend macht‹ und daß die Menschen sich von diesen ›historisch gewachsenen Wirklichkeiten konsumieren lassen‹ müssen«. 126 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 41944, S. 60. In der 6. Aufl. von 1958, in der auch die Rede von den Führungssystemen äußerst zurückgenommen ist, spricht Gehlen nunmehr von »einer Definition des Menschen als Zuchtwesen«: a. a. O., S. 64. Zu dem zeitgeschichtlichen Hintergrund, zum Begriffsrahmen und zu den philosophischen Voraussetzungen der Gehlenschen Anthropologie im Kontext des Historismusproblems und des Nietzsche-Pareto-Pragmatismus: D. Böhler, »A. Gehlen: Handlung und Institution«, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme II (1991), S. 231–284. 125 A. Gehlen, Unmensch und Spätkultur, Bonn 21964, S. 157. 126 So D. Böhler, »A. Gehlen: Handlung und Institution«, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme II (1991), S. 276 mit Hinweis auf A. Gehlen, Unmensch und Spätkultur, S. 8. 124

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Vor dem Hintergrund seiner frühen Auseinandersetzung mit Gehlen 127 hat Karl-Otto Apel im »Funkkolleg Praktische Philosophie/ Ethik« 128 den Aufbruch der Achsenzeit anthropologisch und ethisch erläutert. Dem rigiden Institutionenbegriff Gehlens stellt er die diskurseröffnende Tendenz der Achsenzeit gegenüber. Lassen Sie uns seine erhellende, für mehrere Sprecher eingerichtete, Radiosendung ein Stück weit verfolgen: »Prof. Apel: Ich sagte ja vorhin schon, daß mir Gehlens Thesen in vieler Hinsicht durchaus plausibel scheinen. Ihren Wahrheitskern sehe ich darin, daß Institutionen in der Tat eine notwendige Vermittlungs-Bedingung der instinkt-kompensativen Motivation und Regulation menschlichen Verhaltens darstellen. Als problematisch erschien mir allerdings das Verhältnis von Institutionen und Vernunft, wie Gehlen es sieht, und im Zusammenhang damit die These, daß faktisch wirksame Institutionen in ihrem mehr oder weniger zufälligen Nebeneinander, ja gerade als irrationale Gegeninstanzen zur kritischen Vernunft, die zureichende Bedingung menschlicher Moral bilden können. Problematisch ist insofern auch die Vermutung einer vollständigen Analogie zwischen der Funktion menschlicher Institutionen und der automatischen AuslöseFunktion der Instinkt- und Dressur-Mechanismen bei Tieren. Wir machen uns dies am besten durch einige Beispiele klar. 2. Sprecher: Im tierischen Bereich kommt es oft vor, daß eine bestimmte, auf Instinkt oder Dressur beruhende stereotype Verhaltensform sehr abrupt von einer anderen, oft entgegengesetzten Verhaltensweise abgelöst wird, wenn das auslösende Signal durch ein anderes ersetzt wird, das einem anderen Funktionskreis des Instinktverhaltens angehört. So etwa kann es nach K[onrad] Lorenz vorkommen, daß ein Buntbarsch-Männchen ganz plötzlich das Verhalten des Rivalenkampfes durch das der Balz- bzw. Paarungszeremonien ersetzt, wenn es im letzten Moment 127 K.-O. Apel, »Arnold Gehlens Theorie der Institutionen und die Metainstitution der Sprache«, in: ders., Transf. d. Philos., I (1973), S. 197 bis 222. 128 Ders., »Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft. Die konventionelle Moral der Institutionen und die Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins«, in: Funkkolleg: Dialoge (1984), Bd. 1, S. 70–89. Ich danke Herrn Prof. Apel für die Erlaubnis des Abdrucks mehrerer Seiten aus dieser Funkkollegstunde.

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III.5 Autonomie und Verantwortung

vor dem Rammstoß in dem zunächst vermuteten Rivalen ein Weibchen erkennt. Der Fisch wechselt bei diesem Umspringen des Verhaltens sogar seine Farbe – so, als ob ein Schlachtschiff seine Flaggen wechselt. Ein genau analoges Phänomen läßt sich beim Haushund beobachten: Hier kann es vorkommen, daß der eifrige Wachhund seinen nach Hause kommenden Herrn zunächst mit einem fremden Eindringling verwechselt und wütend ankläfft; plötzlich aber erkennt der Hund sein Mißverständnis, und sein Verhalten ändert sich nun abrupt im Sinne einer besonders demütigen und gewissermaßen schuldbewußten Begrüßungszeremonie. 1. Sprecher: Um mit diesem Beispiel etwas anfangen zu können, müßten wir es auf menschliches Verhalten übertragen. Das scheint mir aber nicht einfach zu sein. Wenn ich die Analogie richtig verstehe, müßte man also davon ausgehen können, daß Menschen immer dann ihr Verhalten abrupt wechseln, wenn sie jeweils anderen institutionellen Ansprüchen unterworfen sind. Gibt es denn so etwas tatsächlich? Prof. Apel: Gehlen bezieht seine Vergleiche ja vor allem auf archaische Kulturen. Und für diese läßt sich Ihre Frage durchaus mit ›Ja‹ beantworten – und zwar aufgrund zahlreicher Überlieferungszeugnisse. So berichtet z. B. Halldor Laxness in seinem Buch ›Islandglocke‹ über eine Saga, deren Inhalt der folgende ist: Eine junge Frau verbringt eine Nacht mit ihrem Geliebten in ihrem Haus. Am nächsten Morgen nehmen die beiden Liebenden zärtlichen Abschied voneinander, und der junge Mann reitet davon. Nach Ablauf einer bestimmten Frist jedoch sendet die junge Frau ihre bewaffneten Knechte hinter dem Geliebten her mit dem Auftrag, ihn zu töten. Der Grund für diese Verhaltensänderung der jungen Frau lag nicht in irgendeiner Änderung ihrer affektiven, also instinktresidualen Einstellung gegenüber dem Geliebten, sondern darin, daß zwischen ihrer Familie und der Familie des Mannes ein noch unabgegoltenes Verhältnis der Blutrache bestand. Nach Inanspruchnahme durch das persönliche Liebesverhältnis mußte sie in unvermitteltem Wechsel des Verhaltens der Familien- bzw. Sippen-Pflicht der Blutrache gehorchen. Zahlreiche, im Prinzip ähnliche Fälle einer von Institutionen quasiautomatisch ausgelösten Verhaltensänderung sind uns aus allen archa331 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

ischen Kulturen überliefert. So etwa aus dem nomadischen Bereich die typische Erklärung des Beduinenscheichs gegenüber seinem Sippenfeind ›Im Zelt bist du mein Gast, hernach sieh dich vor, daß du meinen Leuten entgehst‹. Hier ist es ganz deutlich der Konflikt zwischen der göttlichen Autorität des Gastrechts und der ebenso unerbittlichen Blutrachepflicht, der sogar die ausdrückliche Ankündigung einer rational unvermittelten Verhaltensänderung bestimmt. 2. Sprecher: Aber nicht nur im (vorstaatlichen) Bereich archaischer Blutverwandtschaftsordnung ist der rational unvermittelte Verhaltenswechsel aufgrund des Wechsels der normativen Verbindlichkeit von Institutionen vorstellbar. Fast noch mehr ist damit ein großes Thema der Göttersagen bezeichnet, die uns vom Kampf verschiedener Kulte um die Inpflichtnahme des menschlichen Verhaltens in den frühen Hochkulturen berichten. Dabei geht es oft darum, daß die Ansprüche älterer Götter oder Göttergeschlechter von späteren Autoritäten bestritten werden – so etwa in der griechischen Sage die Ansprüche der Erinnyen als der alten Rachegöttinnen, von dem Anspruch der Göttin Athene, die den Aeropag als staatliche Institution des Strafrechts repräsentiert. Charakteristisch für den griechischen Mythos ist aber auch die Bestreitung der quasi-rationalen Ansprüche Athenes und Apollons durch die rauschhaft-ekstatischen Kulte des Dionysos. Prof. Apel: In einem gewissen Sinne läßt sich verallgemeinernd sagen: alle Berichte über die verschiedenen Charaktere der Götter, über die Kämpfe der Götter und Göttinnen gegeneinander und über die Aufeinanderfolge verschiedener Göttergeschlechter repräsentieren nichts anderes als den Kampf der verschiedenen Institutionen der frühen Hochkulturen um die verbindliche Inpflichtnahme des menschlichen Verhaltens in den verschiedenen Lebensbereichen – und nicht zuletzt auch im Bereich von Tod, Bestattung und Verkehr mit den Toten. Und das große Thema der griechischen Tragödie ist im wesentlichen der Austrag dieser Götter- und Institutionenkämpfe in einer mehr und mehr vom Menschen bestimmten Beurteilung – so etwa der Konflikt zwischen Königsrecht bzw. Staatsräson und vorstaatlicher Pietät des Totenkults in der ›Antigone‹ des Sophokles. Das Tragische erscheint hier als Konflikt zwischen göttlichem Recht und anderem göttlichen Recht, den der Mensch – so 332 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.5 Autonomie und Verantwortung

wenigstens im Anfang bei Aischylos – als Verhängnis des Schicksals zu ertragen hat. Schließlich ist auch noch zu bedenken, daß das rational unvermittelte Nebeneinander und oft Gegeneinander institutionell normierter Verhaltensweisen auch in der aufgeklärten Kultur der Gegenwart durchaus nicht seine Funktion verloren hat. Vielmehr ist es überall da zu beobachten, wo Menschen ihr Verhalten nicht aufgrund gefühlsmäßiger Neigungen oder rationaler Überlegungen, sondern einfach aufgrund ihrer sozialen Rolle motivieren und regulieren – so etwa aufgrund der Rollenverteilung in der Familie, oder im öffentlichen Lebensbereich vor allem aufgrund von Status und Berufsrolle. Und auch hier kann es durchaus noch immer zu rational kaum bewältigbaren Konflikten zwischen den moralischen Ansprüchen der verschiedenen Rollen kommen, Konflikten also, die tragisch genannt werden können. 2. Sprecher: So etwa wird aus dem Ersten Weltkrieg der Fall eines deutschen Jagdfliegers berichtet, der – nach einer gewissen Zeit des gegenseitigen Ausweichens – einen Luftkampf mit seinem britischen Vetter nicht mehr vermeiden kann. Er bringt die Maschine des Vetters zum Absturz und schreibt anschließend seiner britischen Tante einen Beileidsbrief – so wie es sich nach dem bürgerlichen Anstandskodex zwischen Verwandten gehört. Prof. Apel: Ähnliche Fälle eines rational unvermittelten, aber von außen durch konventionelle Rollenpflichten erzwungenen oder jedenfalls entscheidend motivierten Nebeneinanders von sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen lassen sich keineswegs nur im militärischen Bereich vorstellen. […] [U]nsere Beispiele [sollen vor allem dies deutlich machen:] die institutionell bedingten Rollen- und Statuspflichten können […] miteinander in Konflikt geraten. So die Berufspflichten mit Familienpflichten oder schließlich auch mit den weniger genau institutionalisierten Pflichten mitmenschlicher Verantwortung – etwa in der Politik. Das moralische Gewissen des modernen Menschen ist eben nicht identisch mit der jeweils institutionell bedingten Rollen- oder Statusehre; es kann angesichts einander widersprechender Rollenansprüche in tragische Konfliktsituationen geraten; und es kann eben dadurch zur kritischen Reflexion der miteinander nicht vermittelten moralischen Autoritätsgrundlagen der verschiedenen Institutionen motiviert werden. 333 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Die Beispiele, die wir zur Illustration der Gehlenschen Philosophie der Instinktersatzmoral der Institutionen herangezogen haben, legen, soweit ich es sehe, Schlußfolgerungen in verschiedener Richtung nahe: Einerseits läßt sich ein begrenztes Recht der Gehlenschen Analogie-These kaum bestreiten: Der Mensch kann im Alltag nicht unmittelbar seine subjektive Vernunft als normative Kompensation der Instinktreduktion zur Geltung bringen; er bedarf einer Vermittlungsinstanz. Die Institutionen müssen ihn davon entlasten, alles und jedes immer wieder entscheiden zu müssen, und sie müssen zugleich das Verhalten anderer Menschen einigermaßen erwartbar machen: dadurch, daß es – wie das eigene – konventionellen Mustern gehorcht. Andererseits wird jedoch durch die Berichte über die Konflikte der verschiedenen Institutions- bzw. Rollenmoralen, die uns durch die Sagenliteratur und die griechische Tragödie überliefert sind, folgendes bezeugt: die Menschen haben offenbar das rational unvermittelte Nebeneinander und Gegeneinander der institutionsbedingten Verhaltensnormen von vornherein anders erfahren als die Tiere das Umspringen der Verhaltensauslösung von einem Funktionskreis in den anderen. Insofern hat die von Gehlen postulierte Analogie zwischen der InstinktRegulation des tierischen Verhaltens und der normativen Funktion der Institutionen offenbar schon in archaischen Zeiten nicht wirklich funktioniert. Die Menschen haben offenbar den Konflikt der normativen Ansprüche der verschiedenen Institutionen – und der verschiedenen Götter – als Problem erfahren und als Verhängnis erlitten. 3. Sprecher: Tatsächlich hat diese leidensvolle Erfahrung in einer weltgeschichtlichen Periode, die Karl Jaspers die ›Achsenzeit‹ nennt, in allen Hochkulturen, von China und Indien über den Vorderen Orient und Ägypten bis Griechenland, zu einer Art Aufstand des religiös-ethischen und philosophischen Denkens gegen die fraglose Autorität der Institutionen geführt: Im indischen Buddhismus führte dieser Aufstand zu dem Versuch, die brahmanische Kastenordnung der Gesellschaft und die sie begründende Religion des Kreislaufs der Wiederverkörperungen durch Selbsterlösung im Sinne des Nirwana zu überwinden. In Griechenland begann die Infragestellung aller institutionellen Normen durch die radikale philosophische Frage, ob die Geltung dieser Normen von Natur aus (physei) oder bloß kraft menschlicher Setzung (thései bzw. nómo) bestehe. Im Monotheismus der israelitischen Bibel-Religion wurde die 334 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.5 Autonomie und Verantwortung

als unmittelbar göttlich gedachte Ordnung der archaischen Institutionen durch die ›außerweltliche‹ Autorität eines Gottes überwunden, der die Idee göttlicher Institution abschwächt und den Menschen zum Herrn einer profanen Welt einsetzt. In der abendländischen Tradition verband sich die im Christentum radikalisierte monotheistische Transzendierung aller innerweltlichen Autoritäten mit der rationalen Infragestellung dieser Autoritäten durch das philosophische Denken; und nach der Bewährung der wissenschaftlichen Rationalität im Zuge wachsender Naturerkenntnis begann die neuzeitliche Aufklärung, die soziale Welt der Institutionen grundsätzlich zum Gegenstand der Kritik und der revolutionären Veränderungen zu machen. Vernunftprinzipien (nach Kant: vorgestellte Gesetze) sollten jetzt unmittelbar normativ die Moral und die positiven Institutionen des Rechtsstaats und schließlich des Sozialstaats bestimmen.« 129 Zusammenfassend können wir festhalten: In Kulturen, deren alltagsweltlich institutionalisierter Sinn noch keine ›achsenzeitlichen‹ Übergänge zu einer ›postkonventionellen‹ (besser: metakonventionellen) Geltungsrechtfertigung freigibt, verstricken sich Akteure in unauflösliche, weil an widerstreitende Götter bzw. Schicksalsmächte gebundene, Dilemmata als Alternativen ohne Diskurs: in Tragödien. Hier stehen Menschen rettungslos zwischen konträren Normen, weil ihnen noch nicht die befreiende, übergeordnete Instanz einer Geltungsrechtfertigung durch Verallgemeinerbarkeit der Gründe offensteht. Für unsere Frage, warum der Mensch den argumentativen Diskurs benötigt, ergibt sich daraus diese anthropologische Antwort: Offenbar sind Menschen auf eine Selbstverständigung durch Reflexion, Kritik und Begründung angewiesen, um nicht zu Opfern des tragischen Gegeneinanders/Nebeneinanders von Institutionen zu werden. Allein im Diskurs können die Konflikte der widerstreitenden institutionalisierten Normen und individuellen Ansprüche so gelöst werden, daß Frieden gestiftet, erneuert, gelebt und daß die Identität der Personen nicht verletzt wird. Denn das Ergebnis eines Diskurses, einer Suche nach dem besten Argument, kann jeder mit seiner Identität vereinbaren, wenn er sein Vernunftvermögen kultiviert, wenn er sein zweites ›Ich‹ zur Spra-

129

A. a. O., S. 74–80.

335 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

che bringt: das des Diskurspartners, der auf der Basis guter, d. h. zustimmungswürdiger, Gründe mit sich selbst, mit seinem Tun, in Einklang sein will. Eben dafür steht, wie wir in Abschnitt III.6 sehen werden, der Typos Sokrates. III.5.2 Entwicklungslogik der moralischen Urteilsbildung – Kohlberg redivivus Mit Sokrates kommt eine langwierige Entmythisierung der Vernunft in Gang. Wird sie doch zunehmend abgelöst von den uneinholbaren Glaubensannahmen, die der theoria-Tradition vorausgehen. Vernunft tritt nicht mehr exklusiv als nous (νοῦς) auf, als methodisch einsames Vermögen, den göttlichen Kosmos und das Ansichsein der Dinge zu erschauen. Vielmehr beginnt sie sich als das zu zeigen, was sie ist: als dialogförmige Praxis, Geltungsansprüche zu erheben und diese an dem ihr eigenen kommunikativ ethischen Maßstab zu prüfen: dem der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Inwiefern? Nun, wie schon gesagt, bildet die dialogische Praxis ein normativ verpflichtendes und kriterial bestimmtes Anerkennungsverhältnis: Als Diskursverhältnis von Gleichberechtigten, die gehalten sind, den sinnvollen Argumenten zur Sache nachzugehen und das beste Argument zu suchen, ist die Vernunft moralisch geladen. Es gibt keine Vernunft, sei sie theoretisch, funktionalistisch oder ästhetisch gerichtet, die nicht in sich praktisch wäre, weil sie stets ein dialogisches Verhältnis ist. Daher führt – das hat sich in den Abschnitten III.4.3 und III.4.4. gezeigt – die Rekonstruktion der konstitutiven Bedingungen des Argumentierens mit innerer Notwendigkeit zu einer normativen Diskursethik, die das Vernunftprinzip als Moralprinzip erkennt: ›Suche einzig nach solchen Urteilen und Handlungsweisen, die selbst in einer idealen Argumentationsgemeinschaft, worin alle Stimmen zur Beurteilung der realen Situation gleichermaßen gehört worden wären, begründete Zustimmung fänden.‹ In diesem zugleich kriteriologischen und deontologischen Diskursprinzip, besteht auch die eigentliche, weil allererst konsequente Schlußpointe einer »Entwicklungslogik des moralischen Urteils« oder sagen wir: der praktischen Alltagsdiskurse. Eine solche Entwicklungslogik verdanken wir dem kognitivistischen Psychologen Lawrence Kohlberg, der sie auf den Schultern Jean Piagets und mit Blick auf George Herbert 336 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.5 Autonomie und Verantwortung

Mead sowie John Dewey erarbeitet hat. 130 Kohlberg hat seine Probanden, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, zu praktischen Diskursen provoziert, indem er ihnen sittliche Dilemmata, d. h. Normenkonflikte, vorgelegt und eine begründete Lösung verlangt hat. Den Rahmen dieser Dilemmata bilden vor allem zwei »entwicklungsphilosophische« Annahmen. Von G. H. Mead entlehnt Kohlberg die sozialisationstheoretische Annahme, daß die Menschen lernen, sich zur Welt in der Weise eines role taking zu verhalten und daß sie über diese symbolisch vermittelte Gegenseitigkeit auch ein Selbstverhältnis aufbauen: »Wir besitzen ein Selbst gerade insoweit, als wir die Einstellungen der anderen zu uns einnehmen können.« 131 Diese Reziprozität gilt auch als Strukturbedingung der Beurteilung praktischer Fragen und Konflikte. Darüber hinaus enthält sie – und das ist die zweite, nunmehr normativ moralische Annahme dieser Entwicklungslogik – den Kern des oben genannten Beurteilungskriteriums: die Orientierung an allgemeiner Gegenseitigkeit als (Vor-)Verständnis von Gerechtigkeit. Dieses Vorverständnis entwickele sich von kruden unmittelbaren und egoistischen Formen bis zu abstrakt reflektierten und ethisch universalistischen Formen. Kohlbergs entwicklungslogische Pointe ist die stufenförmige Ausdifferenzierung und Vervollkommnung des Maßstabs der Reziprozität hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Methodologisch stützt sich diese Entwicklungslogik auf ein philosophisch-empirisches Wechselverhältnis: ein Verhältnis gegenseitiger Bestimmung und Erläuterung von philosophischem Moralbegriff und empirischen Untersuchungen. Insofern kann hier von einem hermeneutischen Zirkel gesprochen werden, dem viel eher das Verfahren der Abduktion im Peirceschen Sinne als das einer Induktion ent-

130 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, Frankfurt a. M. 1974 (zit.: Zur kognitiven Entwicklung (1974)). Dazu: D. Garz, Lawrence Kohlberg zur Einführung, Hamburg 1996 (zit.: Kohlberg (1996)). K.-O. Apel, »Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1 (Erstausgabe als »Studienbegleitbrief 1« im Jahre 1980), S. 59–65, vgl. auch S. 66–153. 131 G. H. Mead, »Die Genesis des sozialen Selbst und die soziale Kontrolle«, in: ders., Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie, hg. von H. Kellner, Frankfurt a. M. 1969, S. 95, vgl. 84 ff. Vgl. ders., Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1968 (zit.: Geist, Identität (1968)), Kap. 9–11 und 19–25.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

spricht. 132 Infolgedessen konnte Kohlberg das Verhältnis von idealtypischer Rekonstruktion und empirischer Bestätigung als komplementäre Forschungsweise beschreiben, die zu einer wechselseitigen Korrektur führt: »Die Wissenschaft kann überprüfen, ob die Moral, so wie sie von einem Philosophen konzipiert wurde, phänomenologisch mit den psychologischen Fakten übereinstimmt. Die Wissenschaft kann jedoch nicht so weit gehen, diese Konzeption der Moral im Hinblick darauf zu rechtfertigen, was Moral sein sollte.« 133 Diesen »hermeneutischen Rekonstruktionismus« hat Habermas als »Arbeitsteilung zwischen der rationalen Rekonstruktion moralischer Intuitionen (Philosophie) und der empirischen Analyse von Moralentwicklung (Psychologie)« gewürdigt. 134 Moralphilosophisch ist Kohlbergs Entwicklungslogik so angelegt, daß sie sich als zwanglose Verbindung der drei Hauptfragen nach der Moral bzw. nach der moralischen Diskurskompetenz interpretieren läßt. Es sind dies die genetische Entwicklungsfrage ›Wie wird man moralisch?‹, die Erläuterungs- und Definitionsfrage ›Was heißt moralisch bzw. moralisch zu sein?‹ und die Begründungsfrage, die den Rechtsoder Geltungsgrund für die moralische Sollensforderung erheischt: ›Warum soll man moralisch sein bzw. sein wollen?‹ Kohlberg teilt mit der Diskursphilosophie die letztlich auf Sokrates zurückgehende Einsicht, daß praktische Urteile mit Stellungnahmen zu sich selbst verwoben sind. Genau besagt diese Einsicht: Derjenige, der ein moralisches Urteil fällt, nimmt implizit noch einmal zu diesem Urteil Stellung, indem er sowohl ein Verständnis dessen, was es heißt, moralisch zu sein, ins Spiel bringt als auch schon ein Verständnis des Rechtsgrundes für das Moralisch-sein-Sollen. So nämlich, daß sich die implizite Stellungnahme zu dem moralischen Urteil in folgender Form explizieren läßt: ›H tun ist moralisch, weil H den Kriterien für ›moraDie strukturelle Verwandtschaft des ›Zirkels (im vorgreifenden) Verstehen‹ und des abduktiven Schlusses bzw. der »Hypothesis« bei Peirce hat Apel in seiner Peirce-Ausgabe hervorgehoben. Ders. (Hg.), Peirce, Schriften I (1967), S. 81 ff., vgl. 139 ff. und: Peirce, Schriften II. Vom Pragmatismus zum Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1970 (zit.: Schriften II (1970)), S. 153 ff. und Vorlesung 7: Pragmatismus und Abduktion, S. 365 ff. 133 L. Kohlberg, »From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development«, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S. 151–235 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 38). 134 J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 42. Dazu: D. Garz, Kohlberg (1996), S. 37–42 und 49 ff. 132

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III.5 Autonomie und Verantwortung

lisch‹ entspricht und weil wir implizit den Geltungsanspruch der Richtigkeit haben – nämlich den Anspruch, gemäß der (von uns vorausgesetzten und für uns einsehbaren) verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit handeln zu wollen.‹ Zunächst aber fällt ins Auge, daß sich die sokratische Was-ist-Frage nicht von der Entwicklungsfrage »Wie wird man etwas?« abtrennen läßt. Eine Entwicklungsgeschichte und gar eine Entwicklungslogik liefe leer, wenn sie nicht begleitet und gestützt würde von der sachlichen Bestimmung und Erläuterung dessen, was sich da entwickelt. Im Blick darauf greift Kohlberg auf Chomskys Unterscheidung von Kompetenz und Performanz und auf dessen Idee der linguistischen Kompetenz zurück. »Wir behaupten, daß die empirische Untersuchung der moralischen Entwicklung sich nicht stark von der empirischen Untersuchung der grammatischen Entwicklung unterscheidet; diese geht aus einer linguistischen Theorie grammatischer Kompetenz hervor, führt dann aber zurück und revidiert die formale linguistische Theorie. Dies ist eine neue Formulierung der Ansicht Sokrates’, daß man sinnvollerweise keine psychologische Antwort auf die Frage ›Wie wird Tugend erworben?‹ vor einer philosophischen Antwort auf die Frage ›Was ist Tugend?‹ geben kann.« 135 Logisch geht die Erläuterungsfrage, was denn moralisch sei bzw. heiße, der Entwicklungsfrage, wie man zur Moralität gelange, in der Tat voraus. Schärfer formuliert: Die Aufstufung der Antwort auf die Was-ist-Frage gehört wesentlich zur Entwicklungslogik, während die aufgestufte Beantwortung der Wie-Frage eher die Genese betrifft. Daher ist es die Was-Frage, worauf die Probanden bei der Klärung eines moralischen Dilemmas jeweils antworten, und sei es nur implizit. Letztlich stellt Kohlbergs Entwicklungslogik eine empirisch gestützte Aufstufung von Antworten auf die Frage dar, was es heiße, moralisch zu sein. Für uns, die wir nach einer differenzierten Beurteilung moralischer Orientierungen suchen, steht die schon angesprochene Beziehung der Was-Frage zur Warum-Frage im Mittelpunkt. Hier ist es von Bedeutung, daß Kohlberg, angelehnt an Sokrates und Kant, die Verwobenheit beider Fragen erkennt: Die ›Was ist moralisch?‹-Frage verlangt, wie wir 135 Vgl. das Manuskript Kohlbergs: »General Preface«, in: ders., Essays on Moral Development. Vol. 1: The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1981 (zit. bei D. Garz, Kohlberg (1996), S. 44).

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

hervorgehoben haben, von vornherein eine Antwort auf das Warum. Es war Kant, der den Begriff ›moralisch‹ streng normativ und autonom definiert hat. Denn er erkannte ausschließlich eine solche Verhaltensweise oder subjektive Richtschnur bzw. »Maxime« als moralisch an, die den universal einsehbaren »Grund einer Verbindlichkeit« bei sich führt. 136 Wann liegt ein solcher Grund vor? Dann und nur dann, wenn die vom Akteur gewollte Verhaltensweise, seine Maxime, vor dem idealen Forum der Vernunftsubjekte, dem »Reich der Zwecke«, als allgemein zu befolgendes Gesetz gelten kann. 137 Analog begreift Kohlberg den Höhepunkt und das Ziel der moralischen Entwicklung als autonome Einsicht in die Verpflichtung zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Er könnte diesen höchsten Punkt zu Recht auch als Selbsteinholung solcher Akteure verstehen, die nicht in Widerspruch zu, sondern im Einklang mit ihrem Anspruch auf Willensautonomie agieren. Anders gesagt: als Selbsteinholung von Akteuren, die ohne Widerspruch zu ihrer Maxime Stellung nehmen können – als glaubwürdige Diskurspartner oder Vernunftsubjekte. Philosophischer Rekonstrukteur, der sich an Sokrates, Kant und Rawls orientiert, sieht Kohlberg nur eine solche Begründung als eigentlich moralisches Urteil an. Denn erst auf dem Prinzipienniveau der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit kann das universalistische Kriterium für moralisches Verhalten klar in Erscheinung treten; erst hier läßt sich eine Verpflichtung als moralische Verbindlichkeit begreifen. Selbst wenn das Urteilsniveau der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, woran m. E. kein Zweifel besteht, von den meisten Menschen offenbar nicht erreicht, sondern von den tatsächlichen Begründungen ihrer moralischen Urteile meist verfehlt wird, ist es gültig. Denn es enthält das letztliche Moralkriterium. Daher bestehen der ethische Urteilsgewinn und das kritische Orientierungspotential von Kohlbergs Ansatz darin, daß sich das Stufenschema von oben nach unten lesen bzw. anwenden läßt. Diese Entwicklungslogik beantwortet die allfällige, nämlich in fast allen faktischen Urteilen (zur Lösung eines Normenkonflikts) mehr oder weniger virulente Frage: ›Inwiefern bleibt das lebensweltliche Urteil U1 hinter dem Geltungsanspruch eines Diskurspartners auf moralische Richtigkeit zurück?‹ Kohlbergs Schema ist unentbehrlich zur Kritik des faktischen 136 137

I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 389. Vgl. a. a. O., S. 433 und 438 f.

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III.5 Autonomie und Verantwortung

Ethos, der tatsächlichen Moral(en) und Handlungsorientierungen. Es bezieht die Idee der Moral – und nur sie wird dem Begriff des Moralischen gerecht – in entwicklungslogischer Differenzierung auf jene Diskurse, die typischerweise in der Alltagswelt geführt werden, zumal unter Heranwachsenden. Daraus erwächst seine, wie mir scheint immense, Orientierungskraft für praktische Diskurse und darüber hinaus für die moralische Erziehung und politisch ethische Bildung. Ein allerdings gravierender Dissens zwischen Kohlbergs Ansatz und einer philosophischen Ethik des dritten, also kommunikationsbezogenen Paradigmas der Philosophie ergibt sich aus einem undialogischen Verständnis der höchsten Urteilsstufe (6) und damit des Kriteriums für ›eigentlich moralisch‹. Verstand Kohlberg es doch – jedenfalls zunächst, ehe er auf Habermasens Kritik eingegangen war – im Sinne der methodisch akommunikativ denkenden Traditionslinie: als Gedankenexperiment und somit als methodisch einsame Erkenntnis eines Vernunftsubjekts, das aus kommunikativen Bezügen herausgelöst wäre. Das müssen wir noch diskutieren. Den Begründungen, die Kohlbergs Probanden für die von ihnen je bevorzugte Handlungsweise zur Lösung eines Normenkonflikts – etwa in dem »Heinz-Dilemma« – angeben, entsprechen charakteristische Gegenseitigkeits- und Gerechtigkeitsorientierungen aus der (modernen) Lebenswelt. Diese ließen sich nach »regelmäßigen Alterstrends der Entwicklung« differenzieren und beruhten auf einer ebenfalls gestuften »kognitiven Basis«. 138 In den gegebenen Urteilsbegründungen stufe sich nämlich auch das kognitive Niveau der Gegenseitigkeit sukzessive auf: von der gleichsam asozialen, vorkonventionellen instrumentellen Gegenseitigkeit (Stufe 2), deren Ausschließlichkeit typisch für das Kleinkind ist, über die konkret konventionelle Gegenseitigkeit der Tugenderwartungen einer Primärgruppe und ihrer Autoritäten als Vorbilder (Stufe 3), die sich im Kindergarten- und Grundschulalter zu bilden pflegt, zur abstrakt konventionellen Gegenseitigkeit der Normenerwartungen einer Sozialordnung, die um ihrer selbst anerkannt wird (»law and order« – Stufe 4). Hier und sonst besteht die stufenweise Sukzession darin, daß jede weitere Form der Gegenseitigkeit »differenzierter und verallgemeinerter als die vorausgehende ist«. 139 Der Aufriß dieser Sukzession läßt sich, wenn wir verschiedene Veröffentlichungen Kohl138 139

L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 59 f. A. a. O., S. 100 f.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

bergs zusammenführen, in ein differenziertes Stufenschema der moralischen Urteilsentwicklung fassen (S. 299). Die von Kohlberg rekonstruierte Sukzession ist eine logische Abfolge, kein empirisch soziales Kontinuum, das vor Rückfällen und Abbrüchen gefeit wäre. Sie hat kritische Schwellen zu überwinden, so daß (nach Kohlberg) zumindest zwei charakteristische Reifungskrisen zur sozialen und moralischen Urteils- bzw. Diskursentwicklung gehören. Das Kleinkind hat (von Stufe 2 zu 3) die Emanzipation vom Elternhaus und den Sprung in die Sozialität mit Gleichaltrigen durchzumachen. Erfordert ist jetzt zunächst die Anerkennung gemeinschaftsbezogener Tugenden und die einvernehmliche Erfüllung von Erwartungen anderer (Autoritätspersonen, Gleichaltrige): Stufe 3. Für die Heranwachsenden ist hingegen eine Krise infolge allseitiger Relativierung typisch; ein Anspruch auf Urteilsautonomie und das Bedürfnis nach (mehr oder weniger) allgemeinen Werten bzw. Normen treten in den Vordergrund. Sie können aber nicht ohne weiteres erfüllt werden, sondern changieren im Zwielicht relativistischer Stimmungen. Im günstigen Falle, bei glücklichem Ausgang dieses Lernprozesses, eröffnet die »Adoleszenzkrise« das Diskursniveau einer nunmehr prinzipienbezogenen Urteilsbildung. Bereits die erste Reifungskrise führt zu einer im engeren Sinn moralischen Einsicht. Es ist »die Erkenntnis (Stufe 3), daß familiäre und andere positive Sozialbeziehungen Systeme der Reziprozität sind, die auf Dankbarkeit und auf der reziproken Einhaltung der Erwartungen zweier Sozialpartner beruhen. Auf Stufe 4 entwickelt sich dies zu einem Verständnis der Sozialordnung, bei dem die Erwartungen durch Arbeit und Konformität erfüllt werden und bei dem Versprechen und Vertrag eingehalten werden müssen.« Wenngleich sich »die logische Ordnung« der Stufen unter dem Gesichtspunkt der Differenzierung von »Reziprozität und Gleichheit«, zumal nach »Kategorien der Gerechtigkeit« weiter fortsetzt 140, gilt die nun folgende Fortschrittsmöglichkeit als dramatisch kritisch und außerordentlich regressionsträchtig. Denn jetzt tut sich die Kluft auf zwischen einer lebensweltlichen Konsensorientierung an etablierten Konventionen, welche durch einfache Rollenübernahme erfolgt, und der Distanzierung bzw. Infragestellung zum Zweck der Geltungsprüfung

140

L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 101.

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Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit

1. Reifungskrise mit Regressionsrisiko

(Übergangsstufe 4 ½)

2. Reifungskrise mit Risiko von Regressionen

Frei nach: Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 60 f; ders., »Moralische Entwicklung« (1968), in: ders., Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a. M. 1996, S. 7–40, hier S. 16; ders., »From Is to Ought: How to commit the naturalistic fallacy and get away with it in the study of moral development«, in: Th. Mischel (Hg.), Cognitive Development and Epistemology, New York 1971, S. 151–235. Vgl. L. Kohlberg, D. R. Boyd u. Ch. Levine, »Die Wiederkehr der sechsten Stufe: Gerechtigkeit, Wohlwollen und der Standpunkt der Moral«, in: W. Edelstein u. G. Nunner-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, Frankfurt a. M. 1986, S. 205–240, hier S. 223 f. Vgl. L. Kohlberg, Essays on Moral Development. Vol. 1: The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1981, S. 411.

III Postkonventionelle Ebene der Übereinstimmung des ›Ich‹ mit faktisch 5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des selbst akzeptierten moralioder potentiell (! Gedankenexperiment, Nutzens einer Gesellschaft (Gemeinwohl) schen Prinzipien Empathie) gemeinsamen Werten und An6 Orientierung am Gewissen, an gegenseitigem Respekt/ sprüchen, Grund-Rechten und Pflichten Vertrauen und an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit: idealer Rollentausch durch einsames Gedankenexperiment (z. B. kategorischer Imperativ)

II Konventionelle Ebene/Moral der Rollenkonformität

2 Naiv egoistische Orientierung an instrumenteller Gegenseitigkeit (do ut des)

1 Orientierung an Lustgewinn oder an Bestrafung und Gehorsam

Entwicklungsstufen

Übernahme guter und richtiger Rollen, 3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tugenden Einhalten der konventionellen Ordnungen meiner Gruppe. Konformität und Erwartungen anderer 4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Recht und sozialer Ordnung um ihrer selbst willen. Rücksicht.

Quasi physische Geschehnisse/Handlungen und Bedürfnisse

I

Prämoralische und präkonventionelle Ebene

Basis der moralischen Wertung

Ebene

Abb. 11: Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg

mögliche Regressionstendenzen

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

der eingelebten Sitten und Normen in Form diskursiver Erwägungen, und zwar im Blick (oder im Vorgriff) auf Prinzipien. Der jetzt durchzumachende Lernprozeß ist derart heikel, daß Kohlberg, sein Mitarbeiter Elliot Turiel und Karl-Otto Apel diese Adoleszenzkrise sogar als eine eigene Krisenstufe 4 ½ charakterisieren können: Anarchistische Obertöne, eine grenzenlose Relativierungstendenz und ein regressives »›Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten‹«, das Rückfälle auf egoistische Orientierung (Stufe 1) und den Strategismus des »wie du mir, so ich dir« (Stufe 2) befördert, durchherrschen eine zwielichtige Stimmung, in der alles möglich ist, weil alles als erlaubt gilt. 141 Erst wenn, und in dem Maße wie es gelingt, diese anarchistisch relativistische, im günstigen Falle negativ aufklärerische Krise durch Reflexion auf Prinzipien und durch deren Aneignung zu überwinden, so daß sowohl die Tugendkonventionen (Stufe 3), die politisch etablierten Normen- und Verfahrenskonventionen (Stufe 4) als auch die vorkonventionellen Lust- und Selbstbehauptungsorientierungen auf ihre Legitimität und Verantwortbarkeit hin geprüft werden können, erst dann kann die eigentlich moralische Orientierung greifen: so daß die Urteilenden nicht allein die Erläuterungsfrage, was moralisch heiße, sondern auch die Begründungsfrage, warum man moralisch sein solle, mehr oder weniger beantworten können. Die Prinzipienorientierung charakterisiert Kohlberg als »postkonventionelle« bzw. nachkonventionelle Ebene. Das halte ich freilich für unangemessen. Suggeriert diese Bezeichnung doch, die hier entwickelte Prinzipien- und Diskursorientierung bzw. Gewissensorientierung könne jemals die bestimmten Inhalte ersetzen, die uns immer schon aus unseren Ego-Interessen (Stufen 1 und 2) und aus den sittlichen sowie politischen Konventionen (Stufe 3 und 4) gegeben sind. Aber das wäre eine lebensfremde, idealisch naive Vorstellung, die nicht allein der Wirksamkeit bzw. Orientierungsfunktion des Moralprinzips in der gemischten Alltagswirklichkeit widerspricht, sondern auch von Kohlbergs 141 Vgl. ders., Essays on Moral Development. Vol. 1: The Philosophy of Moral Development, San Francisco 1981, S. 440 ff.; E. Turiel, »Adolescent conflict in the development of moral principles«, in: Robert L. Solso (Hg.), Contemporary issues in cognitive psychology: The Loyala symposium, Washington D.C. 1973, S. 231–249; ders., »Conflict and transition in adolescent moral development«, in: Child Development, 45. Jg., 1974, S. 14–29; dt. in: R. Döbert, J. Habermas u. G. Nunner-Winkler (Hg.), Entwicklung des Ichs, Köln 1977, S. 253–269. Dazu in einer vor allem phylogenetischen und zeitgeschichtlichen Perspektive: K.-O. Apel, Diskurs (1988), bes. S. 387 ff., 410 und 430 f.

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III.5 Autonomie und Verantwortung

Untersuchungen widerlegt wird. Darum kann es also nicht gehen. Vielmehr ist eine prinzipienbezogene moralische Orientierung allein als Auseinandersetzung mit den sozialen bzw. konventionellen und mit den vorkonventionellen bzw. egozentrierten Orientierungen zu denken. Auch besteht ja die kriteriale Funktion eines Prinzips gerade in der Klärung der Frage, welche Relevanz autonom Urteilende dem einen oder dem anderen Interesse, der einen oder der anderen sittlichen Konvention begründeterweise und verallgemeinerbarerweise zusprechen sollten. Aus diesem Grunde ist es angemessen, immer dort von »metakonventionell« zu reden, wo Kohlberg unvorsichtig von »postkonventionell« spricht. Was nun die Sukzession auf der metakonventionellen Ebene anlangt, so möchte ich mit Kohlberg sagen, daß auf Stufe 5 »das Verständnis der Sozialordnung zu einer Auffassung vom flexiblen Sozialvertrag oder -abkommen zwischen freien und gleichen Individuen« gelangt und ebenfalls »eine Form der Reziprozität (und Gleichheit)« darstellt. Auf Stufe 6 werden schließlich »moralische Prinzipien als universelle Prinzipien der reziproken Rollenübernahme formuliert, z. B. die Goldene Regel oder der kategorische Imperativ: ›Handle so, wie du handeln würdest, nachdem du erwogen hast, wie jedermann handeln würde [mit Apel besser: ›sollte‹], wenn er in der Situation wäre.‹ Mit anderen Worten, auf konventionellem Niveau wird angenommen, daß die Sozialordnung die Strukturen der Reziprozität beinhaltet, welche ›Gerechtigkeit‹ definieren, während auf prinzipiellem Niveau die Sozialordnung aus den Prinzipien der Gerechtigkeit abgeleitet wird, der sie dient. Die Prinzipien der Gerechtigkeit oder die moralischen Prinzipien sind selbst wesentlich Prinzipien der Rollenübernahme, d. h. sie schreiben vor, ›so zu handeln, daß man die Standpunkte aller an der moralischen Konfliktsituation Beteiligten in Rechnung stellt‹ (Mead, 1934). 142 Auf prinzipieller Ebene besteht also eher eine Verpflichtung gegenüber den […] Prinzipien der Gerechtigkeit als gegenüber der Sozialordnung selbst. Diese Prinzipien sind Prinzipien der verallgemeinerten Reziprozität oder Rollenübernahme.« 143 Erst auf dieser Ebene kommt es zur Frage nach dem Rechtsgrund, dem Geltungsgrund der empirischen ethischen Orientierungen, ins142 Vgl. G. H. Mead, Mind, Self and Society, Chicago 1934 (deutsch: Geist, Identität (1968)). 143 L. Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung (1974), S. 101 f.

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besondere der sozialen Konventionen auf Stufe 3 und Rechtsnormen auf Stufe 4. Erst hier wird die faktische Geltung einer Konvention oder Rechtsnorm bzw. einer rechtlichen Verfahrensweise einklammernd unterschieden von deren Geltungswürdigkeit aus guten Gründen, genauer: aus Gründen, die all jene, welche allein nach Maßgabe der verallgemeinerbaren Reziprozität urteilen würden, einsehen müßten. Auf Stufe 6 wird gegenüber der sozialen Faktizität, insofern kontrafaktisch, die Frage nach der Moral als Prinzipienfrage gestellt. Das ist ein enormer Abstraktionssprung und eine gewaltige moralische Leistung. Tritt hier doch der strikt normative und autonome Sinn der einsehbaren Verbindlichkeit, den ja allererst Kant dem Begriff »moralisch« bzw. »Moral« gegeben hat 144, in Erscheinung. Und Kant hat sich damit sowohl gegen den Hauptstrom der philosophischen Ethik gestellt, gegen die konventionsbezogene und naturbezogene Ethiktradition des ›Pragmatikers‹ Aristoteles, als auch gegen die zweckrationalistische Vertragstheorie und Ethik à la Thomas Hobbes. Welche Radikalität des Perspektivenwechsels und Herausforderung des Niveausprungs, die von dem eigentlich moralischen Urteil vorausgesetzt und verlangt wird: ›Suche Verhaltensweisen, die der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit entsprechen und in diesem Prinzipiensinne gerecht sind!‹ Sah sich Kant, indem er das Kontrafaktische des eigentlich moralischen Urteils genau bedachte, zu einer kopernikanischen Wende in der praktischen Philosophie genötigt, gegen die herrschenden Commonsense-Auffassungen von Moral, so hat auch Kohlberg das ganze Ausmaß der Urteilsumstellung zum moralischen Prinzipienurteil erkannt. In seiner Entwicklungslogik trägt er dem Sprung zum kontrafaktischen Urteilen dadurch Rechnung, daß er vor das moralische Prinzipienniveau eine Krisenstufe 4 ½ setzt. Als Empiriker hat er nie Zweifel daran gelassen, daß nur eine geringe Anzahl seiner Probanden im Erwachsenenalter das Commonsense-Niveau der konventionsgeleiteten Urteile signifikant überschreiten konnten, und zwar im Sinne der Stufe 5, nicht aber der Stufe 6. Damit hat er, wie Detlef Garz festhält, eingeräumt, »daß die Entwicklungspsychologie keine Hinweise für die 144 Vgl. auch die Einführung des autonomen, auf die Selbstgesetzgebung eines Vernunftwesens abhebenden, Pflichtbegriffs, der den des vernunftregierten, »an sich selbst guten Willens« enthält: I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 397–403 und deren Resultat: »Die objektive Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht« (a. a. O., S. 439).

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Möglichkeit des Erreichens von Stufe 6, jedoch für ein Urteilen auf Stufe 5 bereitstellen konnte. In der Folge hielt Lawrence Kohlberg zwar an Stufe 6 im Sinne eines anzustrebenden Ideals, das sich auch philosophisch begründen und verteidigen läßt, fest, als konkretes Ziel der Erziehung hätte dies jedoch eine Überforderung von Lehrern und Schülern bedeutet und wurde daher aufgegeben.« 145 Soweit, so wahr und moralisch richtig. Ein strikt moralisches Urteil orientiert sich am universalistischen Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, daher hat es einen kontrafaktischen Charakter – und entspricht einem Ideal bzw. einer, mit Kant zu sprechen, regulativen Idee der Vernunft. Steht es doch in ständiger Kritik zu den partikularen Orientierungen, die wir aus unserer Alltagswelt kennen – seien es die egoistisch vorkonventionellen bzw. asozialen Perspektiven, seien es die bloß konventionellen Orientierungsstufen. Aus »krummem Holz«, sagte Kant, sei der Mensch gemacht. 146 Die Maßstäbe der Moralität hätten demgegenüber einen idealen Status, den von Ideen »der reinen Vernunft« bzw. »eines möglichen reinen Willens«. Also dürften sie keineswegs, wie das z. B. die aristotelische Ethiktradition, deren Vorherrschaft sich bis zum jungen Kant geltend machte, getan hat, »in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist«, gesucht werden. 147 In Sachen der Kontrafaktizität des Moralprinzips, mithin auch der Idee einer kritischen Ziel- und Maßstabsstufe der Entwicklungslogik des moralischen Urteils besteht so gut wie kein Dissens zwischen einer normativen philosophischen Ethik und Kohlberg. Wohl aber kommen wir zu erheblichen Einwänden, wenn wir fragen, ob seine Entwicklungslogik konsequent zu Ende gebracht ist – gerade auf der Prinzipienebene III mit den Stufen 5 und 6. Dort soll ja der Begriff der Moral, soll die Idee des Moralischen zu sich kommen; sie soll durch Einsicht in Prinzipien mit universalen Kriterien für das, was als moralisch gelten kann, eingeholt werden. Voraussetzung dafür ist die Vollendung der Gegenseitigkeitsperspektive, ihre Ausdifferenzierung im Sinne einer konsequent verallgemeinerten Reziprozität und Rollenübernahme aller möglichen moralischen Anspruchssubjekte. D. Garz, Kohlberg (1996), S. 122 f. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Sechster Satz (Erläuterung desselben); Weischedel-Ausg., Bd. VI, S. 40 f. 147 Ders., GMS, Akad.-Ausgabe, Bd. IV, S. 389 und 390. 145 146

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Wenn man Kohlbergs Programm einer Sukzession der Ausdifferenzierung und Verallgemeinerung der Gegenseitigkeit strikt durchgeht, also immanent kritisch prüft, dann sind m. E. drei Änderungen überfällig. Zunächst ist die Orientierung am Sozialvertrag (5) aufzustufen, indem man das metakonventionelle biblische Verständnis der mosaischen Sitten- und Rechtsordnung in seiner Bedeutung für die moralische Urteilsbildung würdigt. Denn die hebräisch biblische Bundestheologie, insbesondere ihr Konzept des zwischen Gott und Israel auf dem Sinai geschlossenen moralischen Bundes (hebräisch b’rit), entwickelt eine moralische Vertrags- und Prinzipienorientierung, die das von Kohlberg als Stufe 5 rekonstruierte Urteilsniveau deutlich überbietet. Und das sowohl in der biblischen Überlieferung vom Noahbund und deren rechtsethischer Entfaltung im Talmud als auch in den biblischen Überlieferungen vom Sinaibund zwischen Gott und Israel, dessen Verpflichtungsgehalt durch das Gebot der Nächstenliebe und Fremdlingsliebe ins Universale geweitet wird. Hier ist ein höheres moralisches Urteilniveau gegeben, als es von einem binnenmoralischen und primär nutzenorientierten Sozialvertrag, abgeschlossen zwischen Interessensubjekten, erreicht werden dürfte. Sowohl Gegenstand des Bundes als auch Vertragsurkunde ist das »Bundesbuch« mit den Zehn Geboten. Nicht mehr die Nutzenerwartung einer Gruppe, also eine utilitaristische Binnenmoral, bestimmt hier das, was gilt, sondern eine intrinsisch moralische Orientierung, und zwar in dem universalistischen Bezugsrahmen der Menschheit – jedenfalls in der Entwicklungstendenz. Hermann Cohen hat sie entschlossen herausgearbeitet. 148 Die moralintrinsische Perspektive zeigt sich als Orientierung an dem, was gerecht und gut ist: an der Achtung des menschlichen Lebens, der Nächstenliebe und dem Vertrauen auf den einen Gott, dessen Gerechtigkeit man anhand seiner Gebote einsehen und auf dessen Treue man sich verlassen kann. Eben jene innermoralische Orientierung ist es, die zum Abschluß bzw. zum Einhalten des Bundes mit dem Gott motiviert, der gerechte Weisungen gibt: 1. Mose 1, 27 und 9, 5 f.; 5. Mose 10, 12–21 und 32, 1– 4; Josua 24; Micha 6, 8; Psalm 119 etc. Wir haben bemerkt, daß jedenfalls in den jüngeren, den nachexilischen Überlieferungen der SinaiBundestheologie, so im Deuteronomium (5. Buch Mose), im Buche Josua und in Psalm 119, das Moment der Einsicht und freien Anerken148

H. Cohen, Religion der Vernunft (1978), Kap. VIII, bes. S. 144–155.

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nung des Bundes durch Israel betont wird. Die anfängliche Fremdbestimmung durch den machtvollen Gott, der Israel das Gesetz nach Art eines Unterwerfungsvertrages einfach ›gibt‹ – diese heteronome Normengenese tritt zurück. Und erlauben Sie mir auch diese Erinnerung: In der späteren Bundes- und Tora-Theologie scheint die Geltungsfrage der Entstehungsfrage übergeordnet zu werden. In logischer Zuspitzung würde daraus folgen: Unabhängig davon, wie das Gesetz zustande gekommen ist, es ist einsehbar gerecht. Daher kann man sich allein aufgrund der eigenen Erkenntnis, mithin als freier Diskurspartner, mit dem Gesetz Gottes identifizieren – so als habe man es selbst gegeben. Also ganz im Sinne der Kantischen Autonomie, die Hermann Cohen denn auch zum Angelpunkt seiner ethischen Rekonstruktion »der Quellen des Judentums« macht. 149 Was Kohlbergs Stufe der moralischen Prinzipienorientierung, Stufe 6, anbelangt, so ist sie veränderungsbedürftig. Es gilt, sie derart zu reformulieren, daß sie wirklich dem Anspruch gerecht wird, es handele sich hier um die Rekonstruktion der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Dann muß sie so begründet und formuliert sein, daß sie wirklich den rein kommunikativen Charakter einer strikten, verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit hat. Das bedeutet aber: Die moralische Prinzipienstufe ist auf eine kommunikative Prüfung angewiesen, so daß hier ein akommunikatives Prüfungsverfahren, etwa ein Gedankenexperiment oder ein Einfühlen in den Anderen und dessen Situationswahrnehmung, lediglich als Notbehelf in Frage kommt. Ein solches methodisch einsames Verfahren ließe sich nur unter kommunikativ eingeschränkten Umständen in Kauf nehmen; und sein Ergebnis stünde unter starkem Fallibilitätsvorbehalt, weil ›mein‹ Analogieschluß bzw. jede Einfühlung von ›mir‹ auf den Anderen schließt und dabei unvermeidlich ›meine‹ besonderen Gefühle, Erfahrungen und Vermutungen auf seine individuellen Gefühle, Wertorientierungen und Interessen überträgt. Jedenfalls deute ›ich‹ dann die Perspektive(n) des Anderen, indem ich sie auf meinen Erfahrungs-, Erlebens- und Wissenshorizont projiziere. Eine solche Projektion ist höchst fehlerträchtig. Zumindest hat sie bei weitem nicht die Authentizität und Wahrheitsfähigkeit, die eine Anhörung des Anderen und ein Verfahren der Verständigung zwischen ihm und ›mir‹ böte. Infolgedessen bleibt das Ergebnis eines akom149

A. a. O., bes. S. 218 f., 377, 395, 401 f. Vgl. S. 235 f., 276 f., 308.

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munikativen Verfahrens riskant hypothetisch – kritikbedürftig im Blick auf eine Verständigung mit den Betroffenen über ihre eigene Situationseinschätzung und ihr Selbstverständnis. III.5.3 ›Aufhebung‹ der Gesinnungsethik: Moralische Strategiebildung angesichts ›schmutziger‹ Handlungsbedingungen und fragwürdiger Zumutbarkeit Gemessen an der Handlungswirklichkeit, kann eine Orientierung an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in hohem Maße idealisierend sein. Und sie ist es jedenfalls dann, wenn sie unmittelbar verstanden wird: so, daß ›ich‹, ein strikt moralischer Akteur, von den anderen Akteuren unterstelle, sie würden ebenfalls nur eine Handlungsweise praktizieren, die der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit gerecht würde oder doch gerecht werden soll. Denn damit setze ›ich‹ voraus, daß alle Beteiligten wahrhaftig, argumentationseinsichtig und in der Praxis guten Willens sind, also auch bereit, die zustimmungswürdigen, diskursiv universalisierbaren Normen ausnahmslos zu befolgen. Just diese Idealisierung müssen Verantwortungsträger aber nach Maßgabe ihrer jeweiligen realen Handlungssituation geschichtsbezogen und folgensensibel, kurz: realistisch verantwortungsethisch einklammern – nicht um sie vergessen zu dürfen, sondern um sie differenzieren zu können: Die idealisierende Orientierung am argumentativen Konsens und an der allgemeinen Befolgung der Diskursnorm ist in folgenverantwortbare, konkrete Handlungsorientierungen umzuarbeiten. Dabei sollen die situationsbedingten Moralrestriktionen berücksichtigt und konterstrategisch aufgefangen werden. »Blauäugigkeit« ist oft unverantwortlich. In der sozialen Wirklichkeit ist »gutgemeint« nur zu oft das Gegenteil von »gutgetan«, erst recht von »verantwortlich«. Diese erfolgsverantwortliche Lektion gehört vor allem dann unabdingbar zur moralischen Urteilsbildung, wenn es um Verantwortung für anvertraute Schwächere geht, und wenn die Verantwortungsträger nicht voraussetzen können, daß sie es tatsächlich einzig mit moralischen Handlungspartnern und moralgemäßen Handlungsbedingungen zu tun haben (werden). Eben diese Voraussetzung kann in der sozialen Wirklichkeit unzutreffend sein. Ist das der Fall, dann wäre es gegenüber Schutzbefohlenen, Klienten, aber auch gegenüber Kooperationspartnern, die sich auf ›mich‹ verlassen, unverantwortlich, wenn 350 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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›ich‹ mich gleichsam blauäugig verhielte. Wie? Indem ich meinem Gegenüber stets guten Willen bzw. moralische Untadeligkeit oder auch nur strikte Rechtlichkeit unterstellte. Das Gleiche kann auch für mein Verhalten in bzw. gegenüber Institutionen, Machtzusammenhängen und sozialen Systemen gelten. Vorsicht, ja strategisches Kalkül, mag hier im Interesse ›meiner Leute‹ durchaus angebracht sein. Soll ›ich‹ als Verantwortungsträger oder Mitverantwortlicher doch dafür geradestehen können, daß sie nicht Schaden nehmen und ›ich‹ ihre (vorausgesetzt: legitimen) Interessen mit Erfolg wahrnehmen kann. Wer verantwortlich handeln und den Seinen keine Schadensfolgen aufhalsen will, der muß sich aus moralischen Gründen mit moralischer Skepsis wappnen. So muß er darauf gefaßt sein, daß ein Gegenüber massiv Eigeninteressen durchsetzen will und daher weder zur strikten Befolgung von Rechtsnormen (vom Straßenverkehr bis zu Handelsgeschäften) bereit ist, noch gar zu einer argumentativ dialogischen Bemühung um das moralisch Richtige. Auch sind in vielen Feldern der Gesellschaft – von den politischen Arenen über die Märkte bis zum Finanzmarkt und zur Börse – die Handlungsbedingungen weniger dialogisch als vielmehr strategisch bzw. strategisch agonal vorstrukturiert: Es geht nicht (oder nicht vordringlich) um Konsens aus guten Gründen, sondern zumal um Vorteile im Kampf der Macht- und Interessenkonkurrenz. Infolgedessen sollten Verantwortungsträger ein gewisses moralisches Mißtrauen ins Spiel bringen, indem sie ihr moralisches Vertrauen auf den guten Willen der Gegenseite bzw. auf garantiert moralanaloge Handlungsbedingungen und Institutionen einklammern, statt sich naiv darauf zu verlassen. Sie sollen bereit sein, Konterstrategien zu entwickeln, um der moralisch legitimen Sache zum Erfolg zu verhelfen. Die realistische, ja moralskeptische Distanznahme nach außen und die Bereitschaft, moralisch legitime Konterstrategien zu suchen und einzusetzen, gehören zur Fürsorglichkeit, die ein Verantwortlicher nach innen wahrzunehmen hat. Denken wir z. B. an Unternehmer oder Manager, die für den Unternehmenserfolg einzustehen haben, sich aber allenthalben mit der Zahlung von Schmiergeldern, mit Korruption und dergleichen Moralwidrigkeiten konfrontiert sehen, die in den meisten Ländern auch Rechtswidrigkeiten sind. Sie stehen vor dem verantwortungsethischen Problem, ob bzw. unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmaß sie sich jetzt in der unmittelbaren Situation, die für sie eine Notlage – im Wettbewerb um einen wichtigen, auch arbeitsplatzsichernden Auf351 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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trag – darstellen kann, an einer solchen schlechten Praxis beteiligen dürfen. Falls ja, müßten sie dieses Vorgehen rechtfertigen können als eine Notstrategie, die sie ad hoc, zur Bewältigung dieser unmoralischen Situation ergreifen. Ließe sich eine solche Situationsstrategie als Notmaßnahme rechtfertigen? Wohl einzig dann, wenn sie (erstens) wirklich eine Not abwehrt, also einer Notwehr entspricht, und wenn sie (zweitens) verbunden wird mit einem energischen, erfolgsfähigen, längerfristigen Engagement zur Veränderung der schlechten Handlungsbedingungen – etwa der Situation »keinen Auftrag ohne Bestechung etc.«. Die Unternehmer müßten sich also fragen, ob und auf welche Weise sie dieser moralwidrigen Praxis entgegenarbeiten können, ohne dadurch ihren (vorausgesetzt: legitime Güter anbietenden) Unternehmen und Mitarbeitern gefährlichen Schaden zuzufügen. Darf sich ein Verantwortungsträger unter dem Zwang dieser Situation und der Notwendigkeit, den für sein Unternehmen lebenswichtigen Auftrag A zu erhalten, ausnahmsweise auf eine Zahlung von Schmiergeldern etc. einlassen? Sollte er das sogar tun, sofern er sich von vornherein für das Ziel engagiert, daß in seinem Auftragsland L mittelfristig die Schmiergeld- und Korruptionspraxis als Wirtschaftskriminalität geächtet wird? Das liefe darauf hinaus, die Notmaßnahme einer Konterstrategie – gleichsam durch einmaliges Heulen mit den Wölfen – zu kompensieren, nämlich durch das Engagement für eine moraladäquate Veränderung der rechtlichen und wirtschaftspolitischen Verhältnisse, die allerdings mittelfristig greifen müßte. 150 In der Situation weitaus dramatischer, in der moralischen Beurteilung aber übersichtlicher sind Dilemmasituationen, in denen die mögliche Lebensrettung gegen die unmittelbare Wahrhaftigkeit steht, das Gebot der Hilfeleistung gegen das Gebot »du sollst nicht falsch Zeugnis aussagen wider deinen Nächsten«. Denn hier ist die Lebensrettung eindeutig der Wahrhaftigkeit vorzuordnen, sofern durch eine unwahrhaftige Auskunft ein bedrohtes Leben gerettet werden kann. Man denke an einen Mörder, der einen Hausbesitzer oder einen Wohnungsbesitzer 150 Zu dem Problem: D. Böhler, »Idee und Verbindlichkeit« (2000), bes. S. 59 ff. und 63 ff. Vgl. die empirisch orientierte Einzelanalyse und Problemübersicht von Britta Richarz, Wirtschaftskriminalität als Diskussionsgegenstand in der aktuellen deutschsprachigen Wirtschafts- und Unternehmensethik, Magisterschrift, Philosophisches Institut der Freien Universität Berlin, 2006.

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fragt, ob sich der von ihm gesuchte X in seiner Wohnung versteckt habe. Auch wenn es kein Mörder, sondern z. B. ein Gestapo-Beamter zur Zeit des »Dritten Reiches« oder ein Jakobiner zur Zeit des revolutionären Terreurs ist, welcher diese Frage stellt, so ist die schützende Lüge, mit der der Hausbesitzer antwortet, sofern sie denn wirklich eine Schutzfunktion erfüllen kann, eine legitime moralische Konterstrategie. Sie ist moralisch legitim, weil keine begründete Zustimmung des Gesuchten zu seiner Ermordung möglich und in einer reinen Argumentationsgemeinschaft erwartbar ist. Bei Kant ist uns dieses Dilemma bereits begegnet. 151 Bis hierher haben wir das Rechtfertigungsproblem moralischer Strategien allerdings einfacher dargestellt, als es wirklich ist, weil wir allein das Verhältnis eines Verantwortlichen nach außen, nicht aber das Verhältnis zu seinen Schutzbefohlenen berücksichtigt haben. Es dabei bewenden zu lassen, hieße die verantwortungsethische Urteilsbildung zu verkürzen. Denn das moralstrategische Außenverhältnis des Verantwortlichen wirft einen Schatten auch auf sein Binnenverhältnis: Er muß nämlich prüfen, inwieweit er es den Seinen oder z. B. den Angehörigen seines Unternehmens zumuten sollte und kann, in die Strategiebildung einbezogen und mit deren Einzelheiten belastet zu werden. Das hier zuständige regulative Prinzip heißt: so viel gemeinsame Beratung und Abstimmung wie möglich, so viel Schonung der eigenen Leute und so viel Zurückhaltung von Informationen wie nötig. Doch kann diese Orientierung in Grenzsituationen auch ein gänzliches Verschweigen erfordern. Sofern eine offenherzige Erörterung der eigenen Verhaltensweise den anderen Betroffenen nicht zumutbar erscheint oder diese sogar schädigen bzw. gefährden dürfte, insoweit sollte sie unterbleiben. Dann gilt es zu schweigen. Es bleibt dann nur der Diskurs im engsten Kreis oder im Extremfall nur ›mein‹ Gewissensdiskurs … Die Abwägung der Zumutbarkeit kann, jedenfalls in Situationen, wo existentielle Ansprüche auf dem Spiel stehen oder es direkt um Leben oder Tod geht, auch zum Täuschen, ja selbst zum Belügen guter Freunde und Verwandter führen. Im Widerstand gegen das totalitäre und terroristische Naziregime hat Dietrich Bonhoeffer solches Täuschen, wiewohl er sehr darunter litt, praktiziert und reflektiert. Offenbar hatte er wie viele Christen – unter ihnen Immanuel Kant – das achte 151

Siehe oben, Abschnitt II.5.2.

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Gebot, das nach 5. Mose 5, 20 und 2. Mose 20, 16 in Luthers Übersetzung lautet: »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten«, radikalisiert und generalisiert, nämlich auf alle Lebenssituationen angewandt. Ursprünglich galt es nicht etwa für die ganze Lebensführung, sondern für das Verhalten eines Zeugen vor Gericht. So ist sein Wortlaut genau auch folgendermaßen zu übersetzen: »Du sollst nicht gegen deinen Nächsten aussagen als Falschzeuge« (M. Köckert). Die hier gebrauchte Wendung »aussagen gegen« ist eindeutig »ein fester Begriff für das Auftreten des Zeugen« in einer Rechtssache. 152 Er stammt aus dem Prozeßrecht und hatte seinen ursprünglichen Sitz im Leben in dem Gerichtsverfahren des alten Israel, das unter dem Tor stattfand. 153 Freilich konnte dieses Gerichtsgebot nach Luthers ausweitender Erklärung im Katechismus und, wie ich vermute, überhaupt in der Wirkungsgeschichte von Jesu Radikalisierung der Tora im Sinne der Bergpredigt, als generelles Verbot zu lügen aufgefaßt werden. Ein allgemeines Lügenverbot kennt die Bibel, die biblische Jesus-Überlieferung eingeschlossen, jedoch nicht. Die Verpflichtung zu allgemeiner und permanenter Wahrhaftigkeit ist eine späte christlich gesinnungsethische Zuspitzung und Generalisierung des ursprünglichen Gerichtsgebotes. Offenbar bildet sie den motivationalen Hintergrund, vor dem der Häftling Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1943, nach zehn Jahren Nazisystem und Widerstand gegen dasselbe, die Frage stellte: »Sind wir noch brauchbar? Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?« 154 Ein anderes Beispiel gibt der Schauspieler Michael Degen Er war im März 1943 als Junge mit seiner jüdischen Mutter vor der SS geflüchtet, war mit ihr von Berliner Wohnung zu Wohnung untergetaucht, und hatte dann eine Weile bei der exilrussischen Pianistin Ludmilla DimitVgl. M. Köckert, Die Zehn Gebote, München 2007, S. 81. Vgl. Art. »Tor«, in: Reclams Bibellexikon, hg. von K. Koch u. a., Stuttgart 72004, S. 547. 154 D. Bonhoeffer, D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, München 1962 (zit.: Widerstand (1962)), S. 31. 152 153

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rieff, die auch für Parteigrößen private Klavierkonzerte gab, Unterschlupf gefunden. Die herbe, fast egomane Frau in den besten Jahren, Witwe eines deutschen Juden, schwärmte gegenüber dem Knaben von beschnittenen Männern, holte ihn nachts zu sich ins Bett und mißbrauchte ihn sexuell. Das verschwieg der Junge seiner Mutter im Zimmer nebenan. Michael Degen erinnert sich: »Wenn ich nicht verheimlicht hätte, wie Ludmilla mich bedrängte, wäre meine Mutter sofort ausgezogen. Wir hätten auf der Straße gestanden und das – wäre wahrscheinlich der Tod gewesen. Da hatte ich zum ersten Mal eine große Verantwortung.« 155 Stellen wir hier die moralische Verantwortungs- und Zumutbarkeitsfrage: Fragen wir uns, worin genau die moralische Strategie des Jungen bestand. Wie verhält er sich? Worauf leistet er Verzicht? Analog zu dem Verhalten des Theologen im Widerstand, der den Talar ausgezogen hatte und in den Geheimdienst, die Abwehr des »Dritten Reiches«, eingetreten war, suspendierte auch der Knabe Michael Degen seinen Anspruch auf direkte Wahrhaftigkeit. Seiner Mutter verschwieg er, was die russische Pianistin, die ihnen auf dem Höhepunkt der Judenvernichtung im halb zerbombten und beängstigend kontrollierten Berlin ein rettendes Versteck bot und dadurch ihr Leben bewahrte, ihm selbst antat. Während sonst Mutter und Kind alles miteinander teilen, distanziert das Kind jetzt die Vertrauensgemeinschaft, in der es sich aufgehoben fühlt und noch Geborgenheit findet – inmitten des Mordterrors, vor dem es sich zu retten gilt. Das Kind durchbricht die zwischen ihm und seiner Mutter selbstverständliche Erwartungserwartung der gegenseitigen Wahrhaftigkeit. Eine große seelische Leistung, durch die es plötzlich moralisch erwachsen wird, ja die Rolle des Verantwortungsträgers übernimmt, welcher die Folgen seines Handelns bedenkt, das unverantwortbare totale Risiko wahrnimmt – und daher der Mutter das in seinen Augen Unzumutbare nicht zumutet. Indem der Junge seine unmittelbare Wahrhaftigkeit suspendiert, gibt er aber nicht die Wahrhaftigkeit des Argumentationspartners preis. Vielmehr erweist er sich gerade dadurch als einer, der die Dilemmasituation und deren Lebensgefahr sich klarmacht, der also ernsthaft über155 M. Hanfeld, »Ein Gespräch mit dem Schauspieler Michael Degen. Das jüdische Totengebet hat mir das Leben gerettet«, in: FAZ, 31. Oktober 2006, S. 46. Vgl. M. Degen, Nicht alle waren Mörder. Eine Kindheit in Berlin, Berlin 2009, S. 45 ff.

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legt und deshalb als glaubwürdiger Partner in einer möglichen freien und offenen Argumentationsgemeinschaft Anerkennung und vermutlich auch Zustimmung für seine Handlungsweise fände: dafür, daß er der Mutter verschweigt, was vorgeht. Denn nur dadurch kann er dem Verantwortungsprinzip gerecht werden, welches gebietet, ihrer beider Leben vor der Vernichtung, vermutlich vor Auschwitz, zu bewahren. Das Interview mit Michael Degen zeigt, daß er bereits als Kind das Argument der Folgenverantwortung und das der Zumutbarkeitsabwägung mit intuitiver Klarheit befolgt hat. In dem Begleitdiskurs, den er mit sich selbst führt, einem Gewissensgespräch, suchte er sorgsam nach der verantwortlichen Handlungsweise. So spielte er schon als Junge die Rolle eines Diskurspartners, der in einer äußersten Gefahrensituation keine reale Diskursgemeinschaft in Anspruch zu nehmen wagt. Können wir dann sagen, der Junge habe seinem Wahrhaftigkeitsanspruch zuwidergehandelt? Doch wohl nicht. Denn wie ein Diskurspartner, der nach dem besten Argument sucht, hat er seinen Wahrhaftigkeitsanspruch gegenüber der Geltungsinstanz einer virtuellen, idealen Argumentationsgemeinschaft keineswegs zurückgenommen, hat ihn vielmehr eingelöst. Eben dadurch, daß er den Wahrhaftigkeitsanspruch in der direkten Interaktion zurücknimmt, um Verantwortung zu übernehmen, indem er die Mutter vor einem lebensgefährlichen Dilemma und sie beide vor dem drohenden fürchterlichen Tode bewahrt, – eben dadurch bewährt er sich in dieser Situation als glaubwürdiger Diskurspartner. Ein zweites kommt hinzu. Der Junge suspendiert nicht allein den unmittelbaren Wahrhaftigkeitsanspruch, er verzichtet auch auf die unmittelbare Wahrnehmung seines Autonomieanspruchs, nämlich gegenüber Ludmilla. Läßt er sich doch von ihr mißbrauchen, zum Instrument ihrer sexuellen Wünsche machen. Er beharrt nicht auf seiner Selbstbestimmung ihr gegenüber, er duldet, daß sie seine Integrität verletzt, daß sie ihn zum Mittel ihrer egoistischen Zwecke macht und erniedrigt. Er verzichtet darauf, seinen Anspruch auf Menschenwürde durchzusetzen. Er fordert nicht ein, was Kant in seinem Imperativ der Menschenwürde als unbezweifelbares moralisches Recht anerkannt hat – den Anspruch, von Anderen nie nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck gebraucht zu werden. 156 156 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 429. Es ist diese Würde aufgrund moralischer Autonomie, welche in unserem Beispiel der

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Auf andere Weise aber, auf der Ebene des argumentativen Diskurses, den er als Gewissensgespräch mit sich selber führt, verwirklicht er den Anspruch auf Autonomie desto glänzender; erweist er sich doch als urteilsautonom. Gerade dadurch, daß er sich nicht in die Arme seiner Mutter wirft und ausspricht, was ihm von Ludmilla zugefügt wird, verhält er sich wie ein autonomer Argumentationsteilnehmer, für den gute Gründe zählen: Gründe, die in einem Diskurs der sinnvollen Argumente Anerkennung fänden. An diesem Beispiel gewinnen wir zwei Einsichten von grundsätzlicher Bedeutung: einmal die metaethische Unterscheidung der unmittelbaren Handlungen von dem argumentativen Diskurs über diese bzw. über die Situation, sodann die moralphilosophische Einsicht, daß es verantwortungsethisch geboten sein kann, legitime Ansprüche, deren Erfüllung einem (als moralische Rechte) zustehen, in moralrestriktiven Situationen zurückzunehmen, also selbst ethisch zurückzustecken und sich konterstrategisch zu verhalten. Warum das? Weil ein unmittelbares ethisches Verhalten für Betroffene unzumutbar wäre und unverantwortliche Folgen nach sich zöge. Diese Einsichten lassen sich in folgendem Schema festhalten: Abb. 12: Diskurslegitimer Umgang mit dem Geltungsanspruch ›Wahrhaftigkeit‹ und der Anerkennungserwartung ›Geachtetwerden der Menschenwürde/Autonomie‹ (MW/A) ›meine‹ Wahrhaftigkeit

Anerkennung ›meiner‹ MW/A

Ebene

Rolle

Praxis in Lebenswelt und Gesellschaft

(faktische) im Umgang mit faktischen Lebensrolle Adressaten als (möglichen) Diskurs- und Moralgefährdern einklammerbar und suspendierbar

im Umgang mit einer Person bzw. Institution, die die Anerkennung ›meiner‹ MW/A verweigert, einklammerbar und suspendierbar

(Begleit-) Diskurs (bzw. Gewissen)

(auch kontrafaktische) Diskurspartnerrolle (DP)

in der Beziehung zu faktischen Adressaten als ernsthaften DP und zur idealen Argumentationsgemeinschaft unbedingt zu gewährleisten

in der Beziehung zu faktischen Adressaten als ernsthaften DP und zur idealen Argumentationsgemeinschaft (religiös: zu Gott) unbedingt einzulösen

heranwachsende Michael Degen unter Beweis gestellt hat, indem er auf moralstrategische Weise Verantwortung wahrgenommen und es ertragen hat, von Ludmilla Dimitrieff de facto manipuliert und entwürdigt zu werden.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Gehen wir nun wieder zu unserem Beispiel zurück. Es zeigt uns, daß der verantwortungsethische Realitätsvorbehalt – der realistisch-moralische Vorbehalt, nach außen (gegenüber Dritten und gesellschaftlichen Mächten) nötigenfalls strategisch zu handeln – unangenehm nach innen, mithin auch auf uns selbst, zurückschlägt. Sieht man nämlich von dem zweiten moralstrategischen Gesichtspunkt in dem Beispiel Michael Degens ab, also von dem Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen Autonomie, und konzentriert man sich auf die Suspendierung der unmittelbaren Wahrhaftigkeit, dann erkennt man: Die ursprünglich nach außen gerichtete strategische Vorbehaltlichkeit und konterstrategische Verhaltensbereitschaft muß, zumindest angesichts von Lebensgefahr, auch nach innen gewendet werden. Denn zumal Wahrhaftigkeit, also die unmittelbare Aufrichtigkeit und Offenheit je ›meiner‹ Kommunikation mit ›meiner‹ Umgebung, kann in gefahrvollen Situationen u. U. selbst für den vertrautesten Kreis der Betroffenen unzumutbar sein. Das ist ganz sicher und zumindest dann der Fall, wenn sie unverantwortliche Risiken erzeugt: Risiken, die einzugehen illegitim wäre, weil sie »das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen«, wie Hans Jonas formuliert 157, aufs Spiel setzen würden. Denn das Leben trägt und ermöglicht alles, was moralisch zu berücksichtigen ist: Ohne das Leben gibt es keinerlei Wert und Norm, keine Achtung der Menschenwürde, keine mögliche Moralität etc. Daher gilt, daß ›meine‹ Wahrhaftigkeit nach innen zumindest dann, wenn sie das Leben Anderer oder mein eigenes Leben gefährden dürfte, zurückgenommen werden soll. Das ist ein kategorisches moralisches Sollen. Kurzum: Die Rücksicht auf die Zumutbarkeit der Wahrheit nach innen, also auf die Zumutbarkeit ›meiner‹ Aufrichtigkeit und Offenheit in der Kommunikation über die Handlungslage und ›meine‹ Handlungsweise mit den ›Meinen‹, ist die Kehrseite der Konterstrategie nach außen und ebenfalls ein unabdingbares Moment der Verantwortungsethik. Rücksicht auf die Zumutbarkeit mitsamt moralstrategischer Zurücknahme der Wahrhaftigkeit ist zumindest dann verantwortungsnotwendig und daher moralisch geboten, wenn das Gesamtinteresse der betroffenen Anderen bedroht ist, ihr Leben. Die moralstrategische Fragestellung führt also nicht etwa zu einem andersartigen Prinzip, das neben das Moralprinzip mit seinem Kriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit träte. Nein, sie ergibt 157

H. Jonas, PV (1979), S. 79.

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III.5 Autonomie und Verantwortung

sich aus dessen Anwendung auf das Dilemma einer verantwortlichen Person, die in moralwidrigen Situationen moralisch richtig handeln will und soll. Will sie unter solchen (moralfeindlichen) Bedingungen noch moralisch legitim agieren, so muß sie Handlungsweisen suchen, die im Lichte der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, also nach Maßgabe des dialogbezogenen Moralprinzips ›D‹, als folgenverantwortlich und zumutbar gelten können. Bei dieser Suche leitet sie die geltungsmäßig dialog- und prinzipienbezogene, praktisch aber situations- und handlungsbezogene und faktisch situationsbezogene moralische Verantwortungsfrage ›D-V‹, welche der letzten Dilemmastufe (7) entspricht: ›Welche strategischen Gegenmittel nach außen und z. B. welche Wahrhaftigkeitszurückhaltungen oder Lügen nach innen sind unter den je gegebenen moralrestriktiven Handlungsbedingungen für Verantwortungsträger als Diskurspartner zustimmungswürdig und daher mit dem Moralprinzip vereinbar, d. h. moralisch verantwortbar? Und zwar auch dann, wenn sie persönlichen moralischen Intuitionen oder religiösen Geboten zuwiderlaufen sollten?‹ Die herausgestellte Leitfrage nimmt die Verantwortungsperson in eine besondere Pflicht: die Pflicht für den (möglichen) Erfolg des Moralischen in nicht moralgemäßen Verhältnissen. Insofern läßt sie sich als erfolgsmoralische oder moralstrategische Frage bezeichnen. Sie erweitert die moralintrinsische Perspektive, welche wir zuallererst einnehmen, wenn wir nach dem Standpunkt der Moral suchen, um zwei Aspekte: zunächst um die realistische Einschätzung der Handlungsbedingungen und der moralischen Folgelasten eines unmittelbar moralischen Verhaltens i. S. eines dialogisch offenen Miteinanders, sodann um die praktische Bemühung um einen Erfolg des Moralischen unter kontra-moralischen Bedingungen. Beides zusammen bedeutet eine Präzisierung des Moralstandpunkts, und zwar die Konkretion der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit – von der Idee zur Realisierbarkeit. Erst in dieser Konkretion kommt die Aufstufung der Gegenseitigkeitsperspektive zu ihrer Vollendung, nämlich von der Stufe 6, die unseren/ meinen guten Willen bzw. die moralische Gesinnung repräsentiert, zu der realitätsbezogenen Verantwortlichkeitsstufe (7). Eine konsequente Aufstufung der Gegenseitigkeit ist also durchaus mit der, politisch von Max Weber und zukunftsethisch von Hans Jonas, diskursethisch von Karl-Otto Apel und feministisch von Carol Gilligan geltend gemachten, Perspektive der Fürsorge und Verantwortung vereinbar. Wohlverstanden, kann diese Perspektive ja nichts anderes ver359 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

langen als die Bereitschaft zu Konterstrategien und die Prüfung solcher nach Maßgabe der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit (Stufe 6). Die Handlungsbedingungen, die zu ihrer Entwicklung herausfordern, sind nicht bloß asymmetrisch, sondern moralrestriktiv. Hier liegt das Problem des, am schärfsten von Max Weber und Karl-Otto Apel eingeforderten, Übergangs von der »Gesinnungsethik« zu einer »Verantwortungsethik«, von einer gleichsam privaten Moralität zu einer sozialen und politischen Folgenmoral, allgemein: von der Selbstsorge um den eigenen reinen Willen und die (auch nach außen erscheinende) seelisch-moralische Integrität hin zu der Sozialsorge und Zukunftssorge um die berechtigten Bedürfnisse und Geltungsansprüche Anderer, welche auf dem Spiele stehen. Dieser Überstieg zur Verantwortungsethik läßt sich in folgenden Stichworten zusammenfassen: Verantwortungsethik als Bildung moralischer Strategien durch Beziehung des Moralprinzips ›D‹ auf nonmoralanaloge oder gar moralwidrige Situationen Dieses Beziehen bzw. Anwenden auf Dilemmasituationen der »schmutzigen Hände« 158 führt (1) zur Differenzierung und Konkretion des Prinzips ›D‹ zu ! ›D-V‹ bzw. einer eigenständigen, nämlich erfolgsmoralischen Stufe 7 und (2) zu einer jeweiligen moralischen Strategiebildung gemäß ›D-V‹ : situative Suspension bei diskursidealer Aufrechterhaltung von Wahrhaftigkeit und Autonomie. Der Maßstab ist, daß ›ich‹ als Diskurspartner in einer freien Argumentationsgemeinschaft für ›meine‹ Verhaltensweise einstehen und für meine Bemühung mit Recht Anerkennung erwarten kann. Dieser Übergang schließt Belastungen der moralischen Person ein; ja er kann eine moralische Identitätskrise zur Folge haben, wofür es bewegende Zeugnisse gibt – nicht zuletzt bei Repräsentanten des religiösen Ethos oder eines Standesethos (Pfarrer, Ärzte, Soldaten). Es fragt sich jedoch, ob es sich bei solchen unleugbaren Krisen des moralischen Selbstverständnisses eigentlich um eine Krise auf der metakonventionellen moralischen Prinzipienstufe (6) handelt. Oder begegnen wir hier gesinnungsethischen Überhöhungen tradierter moralischer Intuitionen 158

In Anspielung auf Jean-Paul Sartres Drama »Les Mains sales« aus dem Jahre 1948.

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III.5 Autonomie und Verantwortung

bzw. Ideale, die sich in einem argumentativen, anhand des Moralkriteriums der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit (6) geführten Diskurs nicht verteidigen lassen, so daß sie auch die verantwortungsethische Prüfung einer moralstrategischen Konkretion (7) nicht bestehen können? Entwicklungslogisch wäre jeweils zu prüfen, ob es sich um Verabsolutierungen tradierter, institutionalisierter und eingelebter Orientierungen unterhalb der diskursfähigen Prinzipienstufe 6 handelt. Das können ebenso Familien- und Gruppentugenden wie Pietät und Ehre (Stufe 3) oder Orientierungen an Recht und Ordnung (Stufe 4) bzw. am Sozialvertrag (Stufe 5) sein wie auch eine religiöse Bindung an göttliche Gebote. Die moralischen Identitätskrisen der Gesinnungsethiker bezeugen, wie mir scheint, die inneren Schwierigkeiten, gegenüber den Stufen 3, 4 und 5 die Autonomie eines konsequent prinzipienethischen Urteils zu gewinnen und zu behaupten. Denn diese erfordert eine prinzipiengeleitete Distanzierung nicht allein der ethischen Konventionen (Stufen 3 und 4), sondern auch der durch einen Sozialvertrag oder durch einen Glaubensbund mit Gott anerkannten Grundnormen (gemäß Stufe 5 bzw. 5 ½). Die moralische Urteilsautonomie, die man als möglicher Diskurspartner ja von vornherein in Anspruch genommen hat, ist anstrengend. Sie schließt eine zweifache Bereitschaft zum kritischen Diskurs ein: die Bereitschaft zur Geltungseinklammerung aller konkreten normativen Gehalte und die Bereitschaft zu deren Verantwortbarkeitsprüfung angesichts der gegebenen Situation. Um moralische Autonomie zu praktizieren, bedarf es dialektischer Einsicht und psychologischer Selbstdistanz samt Konfliktbereitschaft. Zunächst ist die dialektische Einsicht erfordert, daß ›wir‹ einerseits Urteilende sind, die als Diskurspartner das ideale Geltungsverhältnis universaler Reziprozität zu allen möglichen Argumentationspartnern und ihren sinnvollen Diskursbeiträgen anerkannt haben, andererseits aber Akteure bzw. Rollenträger, die als Verantwortliche den Moralrestriktionen asymmetrischer Handlungsbedingungen und nonmoralanaloger Verhaltensweisen ausgesetzt sind bzw. sein können. Die Dialektik dieser beiden ursprünglichen Positionen bildet den Bezugsrahmen der Verantwortungsethik. Denken und praktizieren läßt sich moralische Verantwortung einzig dann, wenn beide Positionen gleichermaßen berücksichtigt werden. Diskursidealität ohne Folgenverantwortungsrealismus wäre schwärmerisch und verlöre den konkreten Gegenstand des Diskurses aus den Augen. Folgenverantwortungsrealis361 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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mus ohne Diskursidealität wäre zynisch, wüßte nicht, was es eigentlich zu verantworten gelte und vor welcher Instanz. Zur Umsetzung jener Dialektik bedarf es sowohl Selbstdistanz als auch Institutionendistanz. Man muß Abstand von eingelebten ethischen Orientierungen und Selbstverständnissen gewinnen. Denn wer moralisch verantwortlich sein will, der benötigt Raum und Kraft für eine moralstrategische Risiko- und Konfliktbereitschaft. Deren normativer Sinn besagt: ›Suche und praktiziere Konterstrategien – auch auf die (wohl selten auszuschließende) Gefahr hin, daß du etwas bewirkst, was man im nachhinein, in einem besser informierten Diskurs über die Verantwortbarkeit des Getanen bzw. in Gang Gesetzten, nicht gutheißen und als zustimmungswürdig ansehen würde.‹ Ohne die Risikobereitschaft, praktisch zu irren, Gewissensbisse zu erleiden oder im Urteil Anderer schlecht dazustehen, gibt es keine couragierte, moralstrategische Tat – keine »freie, verantwortliche Tat auch gegen Beruf und Auftrag«, wie Dietrich Bonhoeffer formulierte. 159 Summa summarum können wir das verantwortungsethische bzw. erfolgsmoralische Problem so pointieren: Während auf der Stufe 6 die Diskursfrage einfach lautet, ob eine bestimmte Handlungsweise oder Norm im Prinzip moralisch richtig ist, ob sie überhaupt der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit entspricht, so daß sie unter Diskurspartnern argumentative Zustimmung finden würde und daher anzustreben ist, stellt sich auf Stufe 7 das situationsbezogene Realisierungs- und Durchsetzungsproblem dessen, was als eigentlich moralisch richtig erkannt worden ist. Das Moralkriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit als argumentativer Zustimmungswürdigkeit bleibt ungeschmälert in Kraft. Und das ist von entscheidender Bedeutung. Warum? Ohne Bindung der moralstrategischen Diskurse an das Moralkriterium liefen sie Gefahr, der Willkürregel »Der moralische Zweck heiligt nonmoralische Mittel« anheimzufallen. Dann lösten sich die verantwortungsethischen Beratungen und Überlegungen in ein strategisches Erfolgskalkül auf: Die Mittel und Wege würden bloß noch an den zweckrationalen Kriterien von Effizienz und Erfolg gemessen. Das liefe auf die unmoralische Selbstermächtigungsformel hinaus, die da lautet: »Uns ist alles erlaubt.« An dem Maßstab der moralischen Urteilsbildung ist nicht zu rüt159

D. Bonhoeffer, Widerstand (1962), S. 14.

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teln: Die eine moralische Prinzipienorientierung hat Bestand. Aber die Handlungssituationen, um deren Beurteilung oder praktische Bewältigung es zu tun ist, können von aller Moralität entfernt sein. Denen, die moralisch guten Willens sind, kann mancherlei Amoralität entgegenstehen. Daher richtet sich der Blick der Teilnehmer an einem verantwortungsethischen Diskurs in realistischer Nüchternheit auf jene ›schmutzigen‹ Handlungsbedingungen, unter denen der Verantwortliche nicht auf die Moralbereitschaft des Gegenübers und nicht auf eine Moralgemäßheit der Verhältnisse rechnen kann noch darf. Das ist das von Karl-Otto Apel so genannte B-Problem der Ethik; es verlangt die Bildung und Prüfung »moralischer Strategien« 160, gibt als deren Bewertungsmaßstab aber das regulative Diskurskriterium der argumentativen Zustimmungswürdigkeit an: ›Fragt euch, frage dich, ob eure/deine ins Auge gefaßte Strategie die begründete Zustimmung aller, zumal der Betroffenen, erhalten würde, wenn sie diese Situation (im Lichte der euch/dir zugänglichen Informationen) als strikte Argumentationspartner beurteilten!‹ Durch die Koppelung der realistischen und moralstrategischen Situationseinschätzung an das diskursethische Moralkriterium transformiert sich die Prinzipienethik von einer Gesinnungs- in eine Verantwortungsethik. Dieser Überstieg von einem idealisch unmittelbaren Verständnis und Anwendungswillen des Moralprinzips hin zu einer moralstrategischen Konkretion des Moralprinzips, und zwar anhand der Fragen nach Folgenverantwortbarkeit und Zumutbarkeit, stellt ein neues Urteilsniveau dar 161: Nunmehr sucht der Urteilende nach einer Handlungsweise, die den Erfolg des Moralischen unter nicht-moralischen Bedingungen möglichst gewährleistet. Für die Problematik schlage ich eine eigene Stufe vor: die moralstrategische bzw. erfolgsmoralische Stufe 7. 160 K.-O. Apel, »Ist die philosophische Letztbegründung moralischer Normen auf die reale Praxis anwendbar?«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 3, bes. S. 624–634; ders., Diskurs (1988), S. 256 ff., 265 ff. und 299 f.; ders., The Response of Discourse Ethics to the Moral Challenge of the Human Situation as Such and Especially Today, Leuven 2001 (zit.: The Response (2001)), S. 77 ff. 161 Es ist das Niveau eines »postkonventionellen Verantwortungsuniversalismus«; EvaMaria Schwickert rekonstruiert es, und zwar in Auseinandersetzung mit Carol Gilligans Care-Ethik, mit Hilfe der Annahme zweier neuer Urteilsstufen: Stufe 7 i. S. von Habermas’ kommunikativer Bedürfnismittlung und Stufe 8 i. S. von Apels »verantwortungsethischem Universalismus«. Vgl. E.-M. Schwickert, Feminismus und Gerechtigkeit. Über eine Ethik von Verantwortung und Diskurs, Berlin 2000, bes. S. 143–187.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

III.5.4 Erfüllte Autonomie: ›Meine‹ Verantwortung und Glaubwürdigkeit als Diskurspartner Wenn wir zurücktreten von der bis hierher diskutierten Problematik einer Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der praktischen Diskurskompetenz, mag die Frage aufkommen, ob oder inwiefern derlei auch für den Entwicklungsweg der philosophischen Paradigmen von Bedeutung sei. Die Antwort ergibt sich daraus, daß erst das dritte, das kommunikationsphilosophische Paradigma imstande ist, Kohlbergs Idee zu würdigen und fruchtbar zu kritisieren. Mehr noch, die soeben vorgetragene (und erst noch abzuschließende) Auseinandersetzung ist selbst ein signifikantes Ergebnis des dritten philosophischen Paradigmas, der Kommunikationsphilosophie – und ihrer internen Entwicklung von Habermas’ Rekonstruktion des Idealtyps ›kommunikatives Handeln‹ zu einer sokratischen Reflexion auf ›uns‹ als Partner in Diskursen, hier: in praktischen Diskursen. Beides wird deutlich, wenn wir auf die Anfänge der Kommunikationsphilosophie und deren erste Auseinandersetzung mit Kohlberg in den späten siebziger und ersten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zurückblicken. Jürgen Habermas hat auch dank seiner intensiven, kundigen Auseinandersetzung mit Lawrence Kohlberg Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Er ist es, der 1976 den Anstoß zu einer konsequent kommunikationsbezogenen Reformulierung von Kohlbergs höchster Stufe gegeben hat. Sein Argument war: Von einer verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit könne strenggenommen erst dann die Rede sein, wenn die Bedürfnisse der Betroffenen »nicht mehr nur innerhalb eines durch kulturelle Überlieferung naturwüchsig fixierten Interpretationsrahmens nach einem monologisch angewendeten Prinzip der Verallgemeinerung überprüft« und also »die Bedürfnisinterpretationen nicht länger als gegeben angenommen, sondern in die diskursive Willensbildung einbezogen werden« 162. Im Anschluß daran kritisierte Apel 1980, daß Kohlberg, wenn er die Stufe 6 durch Kants kategorischen Imperativ erläutert, auf das einsame Gedankenexperiment eines Einzelnen zurückgehe: »Der Einzelne überlegt sich, ob seine subjektiven Grundsätze des Handelns universalisierbar sind […], aber er berät sich nicht mit ande162 J. Habermas, »Moralentwicklung und Ich-Identität«, in: ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1976 (zit.: Zur Rekonstruktion (1976)), S. 88 und 87.

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ren darüber«. So schließe Kohlbergs Definition der Stufe 6 noch nicht die (entscheidende) »Forderung einer zwischen allen Betroffenen zu vollziehenden Verständigung« über den Sinn ihrer Bedürfnisse und Interessen ein. 163 Allerdings haben Habermas und anfänglich auch Apel aus dieser berechtigten Kritik einen falschen entwicklungslogischen Schluß gezogen. Nahmen sie doch Kohlbergs Stufe 6 als solche einer formalistischen Pflicht- und monologischen Gewissensethik hin und fügten dieser dann – im Sinne einer »universalen Sprachethik« – noch eine siebente Stufe der »universalistischen Bedürfnisinterpretationen« als höchste Stufe hinzu. 164 Aber es ergibt keinen Sinn, einfach weiterzuzählen und fortzustufen, wenn Kohlbergs Bestimmung der Urteilsstufe 6 das entwicklungslogische Telos der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit offensichtlich unterbietet, das Moralprinzip also fehlerhaft ansetzt. Außerdem ist auch der Geltungsanspruch eines Gewissensurteils ein Anspruch auf Zustimmungswürdigkeit, der die mögliche Kommunikation mit Anderen einschließt, wenngleich diese sich in der Lage, die der Urteilende vorfindet, vielleicht nicht realisieren läßt. Daher sieht sich der Urteilende/Handelnde zu einer kommunikationsentlasteten, mehr oder weniger einsamen Urteilsbildung genötigt. Sein Geltungsanspruch ist es aber, »nach bestem Wissen und Gewissen« zu urteilen. Darin ist die Verpflichtung enthalten, sich um das beste Wissen zu bemühen. 165 Und das beste soziale Situations- bzw. Bedürfniswissen gewinnt man durch Kommunikation mit den Betroffenen, das zweitbeste durch Methoden der Interpretations- und Verständigungswissenschaft, der Hermeneutik, welche das nicht mögliche Gespräch über den Sinn 163 K.-O. Apel, »Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1 (Erstausgabe als »Studienbegleitbrief 1« im Jahre 1980), S. 62. 164 J. Habermas, »Moralentwicklung und Ich-Identität«, in: ders., Zur Rekonstruktion (1976), S. 83 und 84 f.; vgl. K.-O. Apel, »Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußtseins«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 62 f. 165 Hegels Kritik der romantischen Irrationalisierung des Gewissensbegriffs und G. H. Meads Beziehung des Gewissensurteils auf die ideale Kommunikationsgemeinschaft, das universe of discourse, weisen darauf hin und sind daher für eine Klärung des Gewissensbegriffs unverzichtbar: D. Böhler, »Philosophischer Diskurs im Spannungsfeld von Theorie und Praxis«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 2, bes. S. 347–350; ders., Rek. Pragm. (1985), S. 339 ff.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

dessen, was abwesende oder verstorbene Autoren gesagt bzw. gewollt haben, durch sorgsame Verfahren der Sinnerschließung zu kompensieren sucht. Das hermeneutische Regulativ bleibt die Idee der Verständigung mit den betroffenen Anderen: die regulative Idee der »Verständigungsgegenseitigkeit« 166. Kurzum: Wenn die Entwicklungslogik auf verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zielt, dann muß deren eigentliche Prinzipienstufe, die Stufe 6, selber kommunikationsbezogen formuliert werden. Eine Korrektur durch nachträgliche Ergänzung des Fehlenden, nämlich der Kommunikation, durch Hinzufügung einer eigenen Stufe 7, wäre Flickschusterei. Erforderlich ist also eine verständigungsbezogene Neuformulierung der Kohlbergschen Stufe 6. Diese muß zwei verschiedenartige Gesichtspunkte berücksichtigen, die Habermas im Begriff des praktischen Diskurses zusammenwirft. Das ist zuallererst die Gegenseitigkeit der Verständigung über den Sinn anstelle eines auf willkürgefährdete Analogieschlüsse angewiesenen monologischen Verstehens. Sodann geht es um die Gegenseitigkeit der Geltung von Gründen, worauf die diskursive Prüfung zielt. Im ersten Schritt steht eine kommunikative Sinnermittlung als Verständigung zwischen den Urteilenden und den möglichen Betroffenen über ihre Interessen und ihre Situation an: ›Was ist der Sinn der Handlungsweise und der dahinterstehenden Bedürfnisse, Interessen bzw. Werte von N.N.? Was wollen die Betroffenen, und wie verstehen sie ihre Situation?‹ Erst dann, wenn wir durch direkte Kommunikation oder hermeneutische Verfahren dieses Situationswissen erworben haben, sind wir legitimiert, den moralischen oder praktischen Diskurs im engen Sinne zu führen. Strenggenommen ist der praktische Diskurs also erst der zweite Schritt. Er dreht sich um die normativ moralische Frage: ›Was sollen wir (im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit) tun, wenn die Situation der Betroffenen mitsamt ihren Interessen und Werten so und so beschaffen ist?‹ Nach Maßgabe des Diskursprinzips soll nun – wieder möglichst kommunikativ – geklärt werden, was es in der besonderen Situation heißt, im Sinne der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu handeln. Es geht dann um die Bestimmung der Geltungsgegenseitigkeit der Gründe für/gegen eine Handlungsweise. Demnach ergibt sich für die kommunikationsbezogene Reformu166 Vgl. meine Einführung dieses Terminus’ in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 276, vgl. 274 ff. und in Bd. 3, S. 858 f.

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lierung der Urteilsstufe 6 die Fragestellung: ›Wie sollen wir uns gegenüber den Interessen der Betroffenen eigentlich bzw. idealiter verhalten?‹ Die Antwort läuft, formal gesprochen, auf die Aufforderung hinaus: ›Berücksichtigt die beiden Ebenen eines praktischen Diskurses: (1) Verständigung (möglichst mit den Betroffenen) über den Sinn ihrer Interessen und über ihre Situation: Ebene der Verständigungsgegenseitigkeit, (2) Diskurs (möglichst mit den Betroffenen): Wozu sind wir – eigentlich/idealiter – verpflichtet, wenn die Situation samt den Interessen der Betroffenen so und so beschaffen ist? (Ebene der Geltungsgegenseitigkeit)‹. Aus diesen Überlegungen ergibt sich folgende kritische Rekonstruktion von Kohlbergs Entwicklungslogik des moralischen Urteils bzw. der lebensweltlichen praktischen Diskurskompetenz als Aufstufung des Gegenseitigkeitsniveaus. In der anschließenden Tabelle wird diese Aufstufung vor allem von der dritten, entwicklungslgisch tragenden Säule (»Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau«) dargestellt. Die hier vorgeschlagene Entwicklungslogik reformuliert Kohlbergs Schema letztlich in diskursverantwortungsethischer Sicht. Gegenüber dem Vorbild hat diese Reformulierung vier Vorteile. Sie vermeidet den Kategorienfehler des »Postkonventionalismus«, zudem kann sie das genuin moralische Niveau der hebräisch biblischen Überlieferung würdigen (Stufe 5 ½). Drittens bestimmt sie das moralische Prinzipienniveau der Stufe 6 strikt als verallgemeinerbare Gegenseitigkeit, so daß auch das Beurteilungsverfahren nicht monologisch, sondern partizipatorisch angelegt ist: Sinnverständigung und Diskurs treten an die Stelle eines bloßen Verallgemeinerbarkeitstests, den einer allein als Gedankenexperiment durchführen kann. (Zu diesem Selbstwiderspruch läßt sich Kohlberg durch seine Anlehnung an Kant und Rawls verleiten.) Nachdem derart Kommunikation in die Vernunft eingebracht und dadurch die methodisch solipsistische Perspektive der Tradition überwunden worden ist, wird – viertens – durch Einführung einer verantwortungsethischen Urteilsstufe 7 auch die Tendenz zu einer gesinnungsethisch idealistischen Anwendung des moralischen Prinzipienurteils aufgehoben. Diese Errungenschaft besteht in einem »Überlegungsgleichgewicht« von Kommunikation, prinzipiengeleitetem Idealdiskurs und real folgenbezogenem Verantwortungsdiskurs: Die realistische Zukunftsverantwortung konkretisiert, der konterstrategische Erfolgsgesichts-

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Reifungskrise: zur Anerkennung Anderer und sozialer Rollen

Normensystem ! Institutionenloyalität

Rollen ! gruppenbezogene Anerkennung und Fürsorge

Reifungskrise (4 ½): zur Autonomie durch Prinzipienorientierung samt Folgen- und Strategieverantwortung

Ordnungs- und Rechtsbewußtsein: Gegenseitigkeit des generalisierten (normativen) Anderen

3 Orientierung an Vorbildern und konkreten Tu- Soziale Identität und Anerkennung genden in den Rollen ›unserer‹ Gruppe gemäß Bezugsgruppe: Gegenseitigkeit von Erwartungen in ›unserer‹ Gruppe

4 Orientierung an der Aufrechterhaltung von Bezug auf funktionale Autorität und RechtsRecht und sozialer Ordnung um ihrer selbst normen bzw. -verfahren willen

II Konventionell: Bezug auf persönliche Autorität und konkrete Werte/Normen

Je meine/deine Handlungsweise

2 Physisch pragmatische Ich-Orientierung mit egoistischer Tauschperspektive

Strategismus

Instrumentell relativistische Gegenseitigkeit des Vorteils (do ut des)

1 Orientierung durch Ego-Intuitionen/LustgeReziprozität von Gehorsam – Beloh- Je deine Handlung, winn und durch egozentrische Machtkonformi- nung bzw. Freiheit von Strafe (gut ist, je mein Bedürfnis tät was mir nützt)

Bezugspunkt

I Prämoralisch: Egoismus

Urteils- und Gegenseitigkeitsniveau

Stufe der Orientierung

Diskursebene

Abb. 13: Entwicklungslogik hin zur verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit des moralischen Urteils: Lawrence Kohlberg und die Diskursverantwortungsethik (nach Böhler)

III Metakonventionell/ prinzipienbezogen: Gedankenexperimente oder Diskurse über die Einsehbarkeit (für mich) und Zustimmungswürdigkeit (für alle) von Werten/Normen/ Handlungsweisen

Politische Autonomie gegenüber der Verbindlichkeit von Konvention und Gesetz: Vertragspartnerschaft Theonomie mit partieller Autonomie gegenüber Eigeninteressen und Verpflichtungen von 3 bis 5: Korrelation mit Gott, dem Gerechten Kommunikative Diskurseinstellung mit Autonomie gegenüber 3 bis 5 ½, verallgemeinerbare Verständigungsund Geltungsgegenseitigkeit unter (möglichen) Diskurspartnern

Diskursautonomie gegenüber moralischen Gesinnungsmaximen (6): argumentative Zustimmungswürdigkeit im Blick auf nonreziproke Handlungsbedingungen

5 Legalistische Orientierung am Sozialvertrag i. S. des Nutzens ›unserer‹ Gesellschaft (Gemeinwohl)

5 ½ Orientierung an Kult- und Sittenvertrag (»Bund«) mit Gott dem Gerechten und Liebenden (z. B. 2. Mose 20; 3. Mose 19, 18; 5. Mose 5 u. 6; Propheten, z. B. Micha 6, 8; Hillel und Jesus)

6 Orientierung am universalen Moralprinzip: ›Wozu sind wir unbedingt verpflichtet? Was sollen wir eigentlich tun?‹ ! Dialog-Moralprinzip ›D‹ : ›Ist die Maxime M aufgrund von Verständigungsgegenseitigkeit und in rein argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?‹

7 Ausgang von (6) mit Blick auf faktische Moralrestriktionen: ›Können wir als Diskurspartner die Erfolgsstrategie X zur Durchsetzung der Maxime M moralisch noch verantworten?‹ ›Ist die Strategie X in rein argumentativen Diskursen zustimmungswürdig?‹

Diskursverantwortungsprinzip ›D-V‹ ! erfolgsbezogene Moral- und Zukunftssorge gemäß ›D‹

Moralprinzip ›D‹ ! Menschenwürde und Diskursgerechtigkeit: Alle moralischen Ansprüche gleichermaßen berücksichtigen!

Als gerecht einsehbare Gebote Gottes und Nächstenliebe bzw. Goldene Regel

Verfassungs- bzw. Sozialvertragsgrundsätze

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punkt ernüchtert die Orientierung an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Was bedeutet dieser kommunikationsbezogen revidierte entwicklungslogische Ansatz für die Wie-, die Was- und die Warum-Frage der Moral? Wie wir moralisch werden bzw. es werden können, zeigt Kohlbergs Sukzession der Urteilsentwicklung: Das Moralischwerden ist ein Bildungsprozeß der sich aufstufenden Gegenseitigkeitsorientierung im eigenen Überlegen. Im Laufe der Sozialisation, der Selbstwerdung und Persönlichkeitsentwicklung differenziert sich die faktische Orientierung bei Normenkonflikten derart, daß die Urteilenden die Frage, was ›moralisch‹ heiße, im Sinne einer stufenweise allgemeineren bzw. umfassenderen Gegenseitigkeit (jedenfalls implizit) beantworten. Die entwicklungslogische Antwort auf die Entstehungs- bzw. WieFrage der Moral lautet: Man wird moralisch, indem man zunächst – auf der vorkonventionellen und dann der konventionellen Ebene – die Frage, was moralisch zu sein heiße, in Form einer zunehmend umfassenden und abstrakten Gegenseitigkeit zu beantworten lernt. Dann erfolgt der Einschnitt der Krisenstufe 4 ½, der mögliche, nicht etwa garantierte, Sprung auf die metakonventionelle Urteilsebene. Hier wird nach Grundsätzen dafür gesucht, warum eine Gegenseitigkeitsorientierung als moralisch gelten soll. Die Was-Frage verwebt sich mit der WarumFrage. Ja, sie wird nun im Lichte der Begründungs- bzw. Warum-Frage gestellt. Die Antworten stufen sich jetzt so auf, daß progressiv allgemeine und abstrakte Grundsätze ins Spiel kommen; und zwar folgendermaßen: Stufe 5 Einhalten der Grundsätze eines Sozial- und Verfassungsvertrags in bezug auf die Angehörigen ›unseres‹ politischen Verbandes, im besten Fall auch mit Menschenrechten für NichtStaatsbürger als Gästen auf dem Staatsgebiet, Stufe 5 ½ Einhalten der Grundsätze einer als göttlich geachteten Gerechtigkeits- und Liebesethik mit Pflichten gegenüber allen Menschen, Stufe 6 Sich-Einlassen auf kommunikative Diskurse und SichOrientieren am Prinzip der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit, Stufe 7 Sich-Distanzieren von einem gesinnungsethischen, harmonistischen und konkretistischen Verständnis des strikt dialogbezogenen Moralprinzips, als wäre es eine direkte Handlungsorientierung; stattdessen Sich-Einlassen auf mo370 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.5 Autonomie und Verantwortung

ralstrategische Situations- und Folgendiskurse, deren Ergebnisse aber dem Dialogkriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit genügen sollen. Zusammengenommen, eröffnen die Stufen 6 und 7 zudem die Chance einer erfüllten Autonomie. Denn sie ermöglichen es den Urteilenden, sich als Diskurspartner einzuholen, indem sie ihren Anspruch auf Urteilsautonomie, auf autonome Diskurspartnerschaft, einlösen – durch Beantwortung der prägnanten Frage »Warum moralisch sein?«. Es ist dies eine doppelte Frage, nämlich die wertethische Frage der Selbstmotivation »Warum will ich eigentlich moralisch sein?« und die normativ ethische Frage der Verbindlichkeitserkenntnis »Warum soll ich (begründeterweise) moralisch sein?«. Auf der sechsten Stufe und mit erfolgs- sowie zukunftsbezogener Differenzierung auf Stufe 7 erschließen sich den Fragenden, wenn sie sich auf ihre Ansprüche als Diskurspartner besinnen, nämlich folgende Antworten: ›Ich, der ich glaubwürdig und also mit prüfbarem Anspruch auf mögliche Wahrheit einen Diskurs führe, will mich um Verständigungsgegenseitigkeit und um Geltungsgegenseitigkeit bemühen, weil ich erkenne bzw. erkannt habe, daß andersartige Orientierungen mit meinem Anspruch, ein autonomer Diskurspartner zu sein, in Widerspruch geraten müssen, also meine Diskursglaubwürdigkeit und damit auch meine moralische Identität zerstören würden.‹ Wenn aber skeptisch nachgefragt wird, aus welchem Grunde man diese moralische Wertorientierung wählen und warum man diese Selbstmotivation wollen solle, so ergibt sich – ebenfalls durch Besinnung auf die eigene Diskurspartnerrolle – die Antwort: ›Weil du andernfalls deinen Anspruch, auch und gerade bei der Beurteilung deiner eigenen Auffassungen und Handlungsweisen ein glaubwürdiger Diskurspartner zu sein, preisgeben müßtest. Denn du würdest dir selbst praktisch unverständlich und verlörest gegenüber Anderen deine Glaubwürdigkeit, deinen moralischen Kredit, den du als Diskurspartner in Anspruch genommen hast, wenn du in Zweifel zögest, daß du die Bemühung um Sinnverständigung und um das beste Argument als deine Pflicht erkennen kannst und daher in der Pflicht stehst, deine Urteilsbildung und dein Verhalten an der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit zu orientieren. Also kannst du einsehen, daß du eben das tun sollst. Ist aber die Handlungssituation so beschaffen, daß du als Akteur moralwidrige Bedingungen vorfindest oder solche Handlungsnebenfol371 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

gen nicht ausschließen kannst, die das Leben Dritter gefährden bzw. deren Menschenwürde in Frage stellen, dann stehst du, Diskurspartner, vor dem verantwortungsethischen Dilemma der Stufe 7: Du benötigst jetzt eine moralische Strategie, für die du in realer Kommunikation mit allen Beteiligten und Betroffenen (jedenfalls zur Zeit) keinen Konsens finden kannst. Freilich ist ein strategisches Handeln deiner dialogischen Moralgesinnung zuwider, weil du die Autonomie Anderer strikt achtest und niemanden hintergehen willst. Nun frage dich als Diskurspartner, der das beste Argument sucht, mithin letztlich die Geltungsgegenseitigkeit in einer idealen Argumentationsgemeinschaft der wohlinformierten und moralischen Diskurspartner, ob du es sowohl wollen kannst als auch es verantworten, d. h. rechtfertigen und daher sollen kannst, die Entscheidung für eine jetzt nicht konsensfähige Strategie zu umgehen. Bald wirst du einsehen: Als Diskurspartner kannst du diesen moralisch einfachen Weg nicht ernsthaft wollen. Er ist nämlich unvereinbar mit deiner moralischen Prinzipienorientierung, weil diese die Übereinstimmung deiner Handlungsweise bzw. deines Urteils mit der Geltungsgegenseitigkeit verlangt und damit deren Akzeptanz in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Das, was in letzter Instanz zählt, das letztlich ausschlaggebende Kriterium, ist nicht die faktische Zustimmung seitens deiner real gegebenen Kommunikationsgemeinschaft, sondern die Zustimmungswürdigkeit einer idealen, unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft. Freilich verlangt diese strikte Orientierung am Dialog-Moralprinzip die Zivilcourage, sich von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu distanzieren, und ebenso die Gesinnungscourage, im Gegenzug zur unmittelbaren Moralität sich auf eine moralische Strategiebildung einzulassen und das reale Gegenüber zu hintergehen. Der bequeme Weg wäre das Paradox eines ethischen Egoismus: Du würdest im Sinne der Stufe 4 (Legalität) und der Stufe 1 (bloße Egoität) dein gesinnungsethisches Moral- und Selbstverständnis (inkonsequente Stufe 6) behaupten, darüber aber deine moralische Anerkennung der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit in rein argumentativen Diskursen (konsequente Stufe 6) fahren lassen.‹ Generell gilt: ›Alles das, was du als Diskurspartner nicht wollen kannst, weil es deiner moralischen Identität als eines Diskurspartners widerspricht, das darfst du auch nicht vorschlagen, wollen oder tun.‹ Fassen wir zusammen: 372 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.6 Sokrates und ›wir‹

Alles, was mit der Glaubwürdigkeit des Diskurspartners unverträglich ist, darf ein Diskurspartner nicht wollen. Also soll er verantwortungsethische Diskurse führen und soll eine moralische Strategie suchen. Welcher Art muß diese sein? In Frage kommt allein eine solche Strategie, von der er – gemeinsam mit ernsthaften Diskurspartnern, denen er vertrauen kann – nach bestem Wissen und Gewissen anzunehmen berechtigt ist, daß sie in einer idealen Argumentationsgemeinschaft Zustimmung finden würde.

III.6 Sokrates und ›wir‹ : Diskursglaubwürdigkeit und Moral sind verwoben In Platons »Kriton« gibt Sokrates, von seinen Schülern und Freunden zur Flucht aus der Todeszelle gedrängt, eine Antwort, die nicht allein sein Selbstverständnis auf eine eingängige Formel gebracht, sondern ihn auch als glaubwürdigen Mann des kritischen Diskurses in die Moral- und Geistesgeschichte gestellt hat. Diese Maxime mag man den Logosgrundsatz nennen, formuliert sie doch ein Kriterium sowohl für den Diskurs, das λογίζεσθαι (logízesthai), als auch für den lebenspraktischen Umgang mit Überlegungen bzw. Diskursen. Sokrates antwortet den Freunden nämlich: »Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich es so gehalten, daß ich nichts anderem in mir gehorche als dem lógos, der sich mir beim Logizesthai (dem Sich-Unterreden und Miteinander-Argumentieren) als der beste gezeigt hat.« 167 Mit dieser Maxime hat Sokrates der Philosophie den Weg der Vernunft gewiesen, kritisch und moralisch ineins zu denken – dann auch entsprechend zu agieren. Überdies eröffnet die rückbezügliche Formulierung, dieses »ich habe es so gehalten«, vor allem aber ihre Einbettung in einen reflexiven Diskurs mit Selbstbesinnung auf tragende Kriterien des Argumentierens, den Weg einer Selbstbegründung der Vernunft. Mir scheint, Sokrates deutet bereits hin auf die Begründung der Vernunft durch reflexive Selbstaufklärung des argumentativen Dialogs. Die philosophiebegründende Entdeckung eines Nichtphilosophen vor 2400 Jahren? Wird hier schon der reflexive Weg des Begründens und Sich-Orientierens im Denken des Denkens eingeschlagen, der argumentativ unhintergehbar ist? Ein weder logisch noch wissenschaftlich 167

Platon, Kriton, 46 b.

373 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

ausgebildeter Mensch, Steinmetz von Beruf, scheint das Rahmenkriterium der Gültigkeit zu entdecken: die Vereinbarkeit einer Annahme oder Forderung mit dem besten Argument und der Rolle eines autonomen Argumentationsteilnehmers. Offenbar gibt Sokrates zudem einen Fingerzeig auf die Methode, mittels derer sich ein solches Kriterium erkennen läßt: die Selbstbesinnung des Argumentationsteilnehmers auf das Miteinander-Argumentieren. Insofern eröffnet er der Philosophie die Möglichkeit ihrer Selbsteinholung, will sagen: der Aufdeckung und Aneignung der Sinnvoraussetzungen des Denkens als Miteinander-Argumentieren. Hat die Philosophie diese Möglichkeit ergriffen? Jedenfalls wird sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts Hegel spekulativ darum bemühen. Edmund Husserl entwickelt im frühen 20. Jahrhundert die transzendentalphänomenologische Methode einer bewußtseinsphilosophischen Selbsteinholung als Selbstverantwortung der Philosophie und erhebt damit – Hans Jonas würdigt diesen Schritt als »elementaren Impuls jüdisch-christlicher Herkunft«, der in »die klassische Reihe« der Philosophie einbreche – das Prinzip der Rechtfertigung zur höchsten Idee der Philosophie. 168 Im Zuge seiner sprachpragmatischen Transformation der Bewußtseinsphilosophie bringt Karl-Otto Apel am Ende des 20. Jahrhunderts das transzendentalpragmatische Programm einer kommunikationsreflexiven Umstellung des Denkens ins Gespräch, welche die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft gewährleisten soll. 169 So erscheint eine Sokratik ohne eudämonistische Momente am Horizont, eine Sokratik der Rechtfertigung im Diskurs durch Selbstreflexion auf mich als Diskurspartner. Auch den Philosophen fällt es schwer, sehr schwer, das Denken umzustellen: von der natürlichen Einstellung des Gegenstandsbezugs, die sich in der Theoriebildung und in der logischen Analyse fortschreibt, 168 H. Jonas, »Husserl und Heidegger« (1963), in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 17–34, hier S. 22 f. Vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, hg. von P. Janssen, Husserliana Bd. XVII, Den Haag 1974, S. 9. Ders., Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. von W. Biemel, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1976, S. 102 f., 527 f., vgl. XXI; vor allem: ders., Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlaß 1934–1937, hg. von R. N. Smid, Husserliana Bd. XXIX, Den Haag 1992, S. 115, 116 und 165. 169 Dazu D. Böhler, »Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik. Karl-Otto Apels Athene im Rücken«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung (2003), S. 15–43.

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III.6 Sokrates und ›wir‹

hin zu der reflexiven Einstellung der Selbstbesinnung des Denkenden jeweils auf die internen Voraussetzungen seines eigenen Etwas-Denkens. Sokrates sagt den Logossatz in politisch ethischem Zusammenhang. Ethiker im öffentlichen Raum der Polis, knüpft er kritisch an das sittliche Bewußtsein des Mannes auf der Straße an, um ihn zur Einsicht in das Allgemeine zu provozieren. Die entscheidende Aktualisierung und methodische Ausarbeitung dieser praktischen Diskursanleitung findet erst 2100 Jahre später – bei Kant, im Gedankengang seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« von 1785, zumal in dem »Ersten Abschnitt« und dessen Anbindung an den »Zweiten Abschnitt«. Der erste, mit dem Titel »Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen«, entfaltet die Einsicht, dem allgemeinen sittlichen Bewußtsein sei die Tendenz zu einem logisch universalen Kriterium der praktischen Vernunft eingeschrieben. Stelle es sich doch die Frage: »Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde?« 170 Diese Tendenz, die eigene Willensrichtung der Prüfung ihrer Verallgemeinerbarkeit zu unterwerfen, trage das lebensweltliche sittliche Bewußtsein, die »gemeine Menschenvernunft«, ohne alle logische Ausbildung und philosophische Kenntnis immer schon in sich. Ja, sie wirke als Gewissen. Deshalb genüge es eigentlich, »wenn man die gemeine Menschenvernunft, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam macht.« 171 Kritisch fügt Kant jedoch hinzu, daß dieser sittliche Common sense einer logisch philosophischen Aufklärung bedürfe. Naturbelassen, verstricke sich die gemeine Menschenvernunft allzuleicht in Mißverständnisse und Unklarheiten, sogar in Selbstwidersprüche. Zugrundeliegt offenbar die menschliche Zwiespältigkeit, einerseits vernünftig sein und das Allgemeine suchen zu können oder auch zu wollen, andererseits jedoch das jeweilige Eigeninteresse zu verfolgen, dieses rechtfertigen und möglichst durchbringen zu wollen. Schließlich will das liebe Ego glückselig werden. Daher unterliege es leicht der Selbstverführung, sich »gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so hochachtungswürdig vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen« zu orientieren. Daraus entspringe »ein Hang, wider jene strengen Gesetze zu ver170 171

I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 403. Vgl. oben, Abschnitt II.5.1. A. a. O., S. 404.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

nünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge, in Zweifel zu ziehen und sie, wo möglich, unseren Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen«. Kant, der hier in der Dialektik vor allem das Sophistische sieht, nennt das »eine natürliche Dialektik«. 172 Zwar herrscht, wie wir bemerken werden, auch bei Sokrates ein gewisses moralisch philosophisches Dämmerlicht. Doch versucht er in kritischen Dialogen, der Logostendenz zum Allgemeinen zu folgen. Was tut er dabei? Er ergreift sein lebensweltliches Vorverständnis vom argumentativen Dialog, insbesondere von den tragenden Verpflichtungen der Dialogteilnehmer. Ein solches Vorverständnis bringt er, wie jeder Mensch, in gewisser Weise schon mit; und davon wird er in gewisser Weise bereits geleitet, wenn er sich auf die Suche nach der Wahrheit begibt. Allerdings hat ein Vorverständnis seine Undeutlichkeiten. Deshalb machte Kant im »Zweiten Abschnitt« seiner Grundlegung der Ethik einen systematischen »Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten«, also zur Philosophie der praktischen Vernunft. Dieser Übergang ist eine logische Rekonstruktion jenes Vorverständnisses, das die »gemeine sittliche Vernunfterkenntnis«, also das vorphilosophische Bewußtsein von dem Richtigen und Gerechten, im vorhinein mitbringt. Nun könnten Sie, meine Leser und Diskurspartnerinnen, mit Recht die Frage stellen: ›Wenn nur eine logisch saubere Rekonstruktion dessen erforderlich ist, was wir alle als lebensweltliches Vorverständnis von dem Wahren und Richtigen schon haben, warum herrscht dann in der Philosophie nicht pure Einigkeit – vielleicht bereits seit Sokrates, spätestens aber seit Kant – sowohl über die Kriterien des Wahren und des Richtigen als auch über deren geltungsmäßigen Status, daß sie nämlich allgemeingültig und allgemeinverbindlich seien?‹ Ja, warum herrscht nicht Sonnenklarheit darüber? Nun, einerseits hat die Philosophie in Antike, Mittelalter und Neuzeit den sokratischen Weg einer Selbstbesinnung auf den argumentativen Dialog nicht wirklich verfolgt – auch die Metaphysikkritik Kants nicht. Weder das metaphysisch ontologische Paradigma der Schau des Seins, noch das transzendentalphilosophische Paradigma einer Analyse des Vernunftsubjekts und seiner Erkenntnisvermögen eröffnete den Raum für eine Rückbesinnung des Denkenden auf die Sprache und 172

A. a. O., S. 405.

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III.6 Sokrates und ›wir‹

Sprachgemeinschaft als Sinnbasis sowie auf den argumentativen Dialog als Geltungsrahmen des Etwas-Denkens und Etwas-Erkennens. In der Wirkungsgeschichte des ontologischen Paradigmas, welches (trotz der Augustinischen, später der nominalistischen Subjekt-Tendenzen) bis zu Descartes die Philosophie durchherrscht hat, betrieben die Philosophen zumeist Metaphysik: Seinsmetaphysik als Spekulation über Gott und die Welt bzw. über das angenommene Ganze des Seins sowie Erkenntnismetaphysik unter der platonischen Frage, wie das eigentlich wahre Seiende hinter dem sinnlich wahrnehmbaren Seienden richtig zu erkennen sei usw. Was aber das dritte Paradigma anbelangt, die sprach- und kommunikationsbewußte Philosophie, so bemerkt der vorsichtige Skeptiker in uns, daß auch eine präzise logische Rekonstruktion des argumentativen Dialogs, zumal der ihn tragenden moralischen Verpflichtungen, nur eine theoretische und interpretative Leistung ist. Eine solche kommt aber nicht ohne Vorannahmen und Perspektiven aus, welche z. B. Überhellungen und Abschattungen mit sich bringen, weshalb sie stets fehlerhaft sein kann. Auch eine Rekonstruktion des argumentativen Dialogs ist daher, wie des öfteren bemerkt 173, fallibel. Ist es dann aber nicht zweifelhaft, ob die angenommenen Verbindlichkeiten eines Diskurspartners letzthin gültig und verbindlich sind? Als skeptische Zeitgenossen mögen auch Sie, verehrte Leserinnen und Leser, die Position einnehmen, daß allem nach ein allgemeingültiger Erweis von Verbindlichkeiten überhaupt nicht möglich sei: Sollten wir nicht, etwa nach dem Vorbild von Jürgen Habermas, auf den Anspruch eines Verbindlichkeitserweises verzichten und das Projekt einer sogenannten Letztbegründung ad acta legen oder es direkt als »fundamentalistische« Illusion brandmarken? 174 Ja, wenn man, wie auch Habermas, nichts anderes ins Feld führen kann als das nur in theoretischer Einstellung mögliche, daher fehlbare Verfahren einer Rekonstruktion. Als Königsweg der Philosophie wird hier jedoch die reflexiv sokratische Begründung vorgeführt. Lassen Sie uns diesen Weg im Auge behalten, statt vorschnell zu resignieren und das Problem des Siehe oben, Abschnitte III.1, III.4.2. und III.4.4. J. Habermas, »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung (2003), S. 44–64. Auch in: J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, S. 84–105. 173 174

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Verbindlichkeitserweises durch die heute übliche Vorentscheidung zu verstellen.

III.6.1 Was der Logosgrundsatz bedeutet Präzisieren wir zunächst die Logosmaxime aus dem »Kriton« mit Hilfe der oben (in den Abschnitten I.1 und III.4.3) eingeführten Differenzierung von Ich I und Ich II: »Denn nicht erst jetzt, sondern immer schon habe ich (I) es so gehalten, daß ich (II) nichts anderem in mir (I) gehorche als dem lógos (Rede, Argument), der sich mir (II) in der Argumentation als der beste gezeigt hat.« Präzise verständlich ist diese Aussage nämlich erst, wenn man weiß, was das »Ich« des Sprechers jeweils bedeutet. Die erste Person kommt offenbar in zwei verschiedenen Hinsichten ins Spiel: einerseits als das biographisch lebensweltliche Ich (I) des Menschen mit Namen Sokrates, der sein individuelles Leben im Athen des späten 5. Jahrhunderts v. Chr. lebt, bestimmte Interessen resp. Werte vertritt, seine eigenen Meinungen hat usw., andererseits aber als das stellungnehmende, argumentationsbezogene Ich (II) desselben Sokrates, der sich ausdrücklich auf das Argumentieren im Dialog eingelassen hat, mithin strikt nach dem besten Argument und nichts anderem sucht. Geltungslogisch und diskurspragmatisch betrachtet, nimmt die Selbstaussage des Sokrates zwei Rollen in Anspruch, zwischen denen sich das Spannungsverhältnis des sokratischen Elenchos als eines kritischen Prüfungsdialogs aufbaut. So sehr, daß sich dieser vor allem als Konfrontation der einen mit der anderen Rolle abspielt: eben der faktischen Lebens- und Handlungsrolle dessen, der etwas meint, behauptet und will (Ich I), mit der kontrafaktischen Diskursrolle dessen, der allein sinnvolle Argumente, einsichtige Gründe, gelten lassen will (Ich II). Das Bild, das uns Platon von Sokrates vermittelt, lebt von der Harmonie jener beiden Rollen. Im Dialog »Gorgias« spielt Sokrates auf deren praktische Einheit in seiner Person an: Ihm sei alles daran gelegen, beide Rollen in seiner Person zur Harmonie zu bringen. Doch sein Gesprächspartner, der Selbstbehaupter Kallikles, empfindet just das als unnatürlich, als philosophische Verrücktheit. Sokrates sagt dort: »Es wäre besser für mich, daß meine Lyra oder ein Chor, den ich leitete, ganz falsch klänge, und daß noch so viele Menschen mit mir uneins wären, als daß ich, der ich Einer bin, nicht im Einklang mit mir selbst 378 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.6 Sokrates und ›wir‹

sein und mir [scil., der ich der Philosophie obliege,] widersprechen sollte.« 175 Es kommt hinzu, daß Sokrates diese Harmonie der Rollen auch im Verhältnis des argumentativen Diskurses zur Lebenspraxis unbedingt gewahrt sehen will, als Einheit von Argumentieren und Handeln. Zu Recht? Machen wir die Probe: Können wir jemanden als glaubwürdigen Diskursteilnehmer (N.N. II) erachten und achten, der sich im Leben (N.N. I) nicht bemüht, dem Diskursergebnis, das er als den besten Logos erkennt (N.N. II), praktisch gerecht zu werden und es in die Tat umzusetzen (N.N. I)? Die Glaubwürdigkeit eines Diskursteilnehmers steht und fällt damit, daß er beide Rollen, die Lebens- und Meinungsrolle (Ich I) und die kritische Diskurspartnerrolle (Ich II) in Einklang bringt, indem er in der Praxis (Ich I) sich an das zu halten bemüht, was er im Diskurs (Ich II) als richtig erkennt. 176 Diese zweite Voraussetzung bzw. implizite Einsicht des Sokrates mag man die sokratische Theorie-Praxis-Vermittlung nennen, postuliert sie doch eine Kohärenz von ›Theorie‹ und Praxis, besser: von Diskurs und praktischem Handeln. Da Sokrates das Streben nach Übereinstimmung von Diskurs und Lebenspraxis geradezu verkörpert, konnte er durch die Jahrtausende als moralisches Vorbild anerkannt werden. Was ist es, das ihn mit Recht zu einem »maßgebenden Menschen« (Karl Jaspers) gemacht hat 177, wenn nicht dieses Streben in Permanenz? Nun ist diese Bemühung nicht allein als existentielle Haltung bedeutsam und nur existenzphilosophisch zu würdigen, wie es Jaspers und Hannah Arendt tun. 178 Vielmehr haben wir allen Grund, ihr eine erkenntnis- und geltungsermöglichende Bedeutung zuzuerkennen: Sowohl für die Bestimmung des Vernunft- und Diskursbegriffs als auch für die Begründung einer normativen Ethik – und beides will die Diskurspragmatik leisten – kommt alles, aber auch Platon, Gorgias, 482 b/c. Dazu meine, an Hannah Arendts Sokratesinterpretation angelehnte, diskurspragmatische Rollenanalyse: D. Böhler, »Warum moralisch sein? Die Verbindlichkeit der dialogbezogenen Selbst- und Mit-Verantwortung«, in: K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung (2001), bes. S. 42–51. 177 K. Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. 1, München/Zürich 1988, S. 105–127. 178 Vgl. Arendts Würdigung der Sokratischen Existenzweise als einer, für die »denken und völlig lebendig sein […] dasselbe« ist und die auf der subjektiven Entscheidung für das kritische Denken beruhe, auf der Liebe zur Weisheit: Dies., Vom Leben des Geistes (1998), S. 178, 181, 190. 175 176

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

alles darauf an, die ursprünglich sokratische Idee der stets anzustrebenden Einheit von Diskurs und Lebenspraxis einzuholen, sie durchzuhalten und fruchtbar zu machen. Andernfalls entleert sich der Diskursbegriff, verliert seinen Verpflichtungsgehalt und damit seine ethische Orientierungskraft. Die Diskursethik löst sich dann in eine »Diskurstheorie« (Habermas) auf, die zu keiner Verbindlichkeit mehr fähig ist, so daß das Diskursprinzip ›D‹ nurmehr den bescheidenen Stellenwert eines diskursinternen Geltungskriteriums für Diskursbeiträge und für die Normenvorschläge von Diskursteilnehmern haben kann. Das ist die Habermassche Konsequenz. 179 Man muß sie ziehen, wenn man nicht sokratisch auf sich selbst als Diskurspartner reflektiert, sondern allein in einer theoretischen bzw. analytischen Einstellung über Diskurse nachdenkt und sich damit bescheidet, den Diskurs als einen Gegenstand zu analysieren – und darüber sich selbst in seinem Dialogverhältnis zu Anderen methodisch vergißt. Ethische Substanz und orientierungskräftige Verbindlichkeit gewinnt der Diskursbegriff durch eine Erschließung des sokratischen Erbes, wenn man zunächst die Diskursvoraussetzungen rekonstruiert, um dann strikt dialogreflexiv zu fragen: Was würde mit der eigenen Diskurspartnerrolle – mit ›meiner‹ Glaubwürdigkeit als Partner im argumentativen Dialog – passieren, wenn ›ich‹ die Gültigkeit und Verbindlichkeit einer solchen Voraussetzung in Zweifel ziehe? Der Begriff der Diskursglaubwürdigkeit und die Frage, was es bedeutet, Glaubwürdigkeit im Argumentieren – und auch das Analysieren ist ein Argumentieren – zu gewinnen und zu bewahren, ist der (zugleich geltungslogische und moralische) Angelpunkt der Diskurspragmatik. 180 So können wir die Selbstbegründung der Philosophie nennen, weil Philosophie in erster Linie ein Diskurs ist, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Das Philosophieren spielt sich zuallererst als Argumentieren und als Rechenschaftslegung über eine jeweils geleistete Argumentation ab und schließlich als Besinnung auf die unverzichtbaren Grundlagen bzw. notwendigen Bedingungen des Argumentierens überhaupt. Dieser faktisch oder natürlicherweise zuletzt getane Diskursschritt hat den ersten Rang. Allein eine solche Reflexion kann die Voraussetzungen, von denen alles Philosophieren getragen wird, die logischen Regeln des Argu179 180

J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 103 ff. D. Böhler, »Glaubwürdigkeit« (2004).

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III.6 Sokrates und ›wir‹

mentierens und dessen dialogethische Normen, als allgemeingültig und allgemeinverbindlich erweisen. Vor einem Gültigkeitserweis kommt freilich die Auffindung und logische Zuordnung der Kandidaten solcher Regeln und Normen, die normative Rekonstruktion des Argumentierens, und zwar Schritt für Schritt, Sinnbedingung für Sinnbedingung. Wir erinnern uns 181: Die Diskurspragmatik ist eine zweistufig verfahrende Selbstbegründung der Philosophie: eine ihre tragenden Bedingungen aufdeckende Rekonstruktion und eine kritische, durch den Zweifel an den eigenen Rekonstruktionsannahmen hindurchgehende Selbsteinholung in Form einer Selbstverantwortung. Sie versucht erst, die eigenen Sinn- und Geltungsvoraussetzungen durch deren, allerdings fehlbare, Rekonstruktion einzuholen. Sodann verantwortet sie diesen Einholungsversuch in Form eines reflexiven Dialogs mit dem Skeptiker, der an der Gültigkeit eines jeweiligen Rekonstrukts zweifelt: Im Dialog der Argumente wird erprobt, ob der Zweifel daran sich halten läßt oder aber, hält man ihn aufrecht, den Diskurs zerstört und die Glaubwürdigkeit des Zweiflers als unseres Argumentationspartners zunichte macht. Im Lichte der Diskurspragmatik ergibt sich für unsere Textinterpretation zunächst eine Rekonstruktionsfrage: Welche normativ gehaltvollen Diskursvoraussetzungen sind es, die Platon in der berühmten Selbstaussage des Sokrates als unbedingt gültig und moralisch verbindlich beansprucht? Interpretieren wir diese Aussage im stärksten Sinne, den sie haben kann: Nehmen wir sie so, als fehle ihr nichts und als sei sie unmißverständlich – im Sinne von Hans-Georg Gadamers »Vorgriff der Vollkommenheit«. 182 Was tun wir, wenn wir dermaßen zuvorkommend mit einem Geschriebenen oder auch einem Gesagten umgehen? Wir befolgen dann keine Höflichkeitskonvention, sondern ziehen die interpretationsmethodische Konsequenz aus einer formalen, und zwar normativ geladenen, »Voraussetzung, die alles Verstehen leitet. Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt.« Den Blick auf die Auslegung geschichtlich überlieferter Texte richtend, erläutert Gadamer: »So machen wir denn diese Voraussetzung der Vollkommenheit immer, wenn wir einen Text lesen, und erst wenn diese Voraussetzung sich als unzureichend erweist, d. h. der Text nicht 181 182

Siehe oben, Abschnitt III.4.2. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1990), S. 299.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

verständlich wird, zweifeln wir an der Überlieferung und suchen zu erraten, wie sie zu heilen ist.« 183 Eines textkritischen Erratens der richtigen Manuskriptgestalt, also der philologischen Kunst der Konjektur, bedarf es nicht, wenn wir den Sokratischen Logossatz als Maxime für Diskursteilnehmer würdigen wollen. Denn zweifellos ist der Text in der Überlieferungsgeschichte nicht verderbt worden. Wollen wir aber den Satz als vollkommene Einheit von Sinn verstehen, d. h. hier als Richtschnur für ein Diskursverhalten, das der Diskurspartnerrolle gerecht wird, ist es nötig, daß wir über zwei geltungslogische Fehler in Platons Text hinwegsehen. Erstens scheint Sokrates hier nämlich seine persönliche Einschätzung, seine subjektive Evidenz, zum Maßstab für »den besten Logos« zu machen. Bestimmt er diesen doch schlicht als denjenigen Logos, »der sich mir [sic!] bei der Untersuchung als der beste zeigt«. Damit setzt er sich – schutzlos – der Gefahr aus, hinter die Gültigkeitsansprüche der Wahrheit und Richtigkeit zurückzufallen, weil diese auf strikte Intersubjektivität statt auf Subjektivität zielen. Das Miteinander-Argumentieren, das Logizesthai, steht und fällt mit dem Bemühen, diese diskursiven Geltungsansprüche durch den besten Logos einzulösen, also das Subjektive zu transzendieren. Es dann doch zum Kriterium zu erheben, ist in der Sache widersprüchlich und im Diskursverhältnis zu Anderen unverständlich. Das ist ein pragmatischer bzw. performativer Widerspruch – mit der Rolle des Argumentationspartners nicht vereinbar. Sicher: Jeder Diskursteilnehmer muß das Diskursergebnis als das beste Argument einsehen können; das ist eine notwendige Geltungsbedingung, aber es ist keine hinreichende. Denn nicht die Tatsache, daß N. N. einen Gedanken für das beste Argument hält, erhebt diesen zu einer wahren These oder einer richtigen Handlungsorientierung. Vielmehr muß sich der betreffende Gedanke im Vergleich mit abweichenden Wahrheits- und Richtigkeitskandidaten als der am besten begründete, die widerstreitenden Auffassungen kritisch integrierende und aufhebende Gedanke erweisen, so daß er im Diskurs zustimmungswürdig ist. Sokrates’ subjektivistische Tendenz führt – zweitens – zu einem epistemischen Defizit. Sie läßt keinen Raum für eine grundlegende Differenz, die für alle Erkenntnis bedeutsam ist. Sokrates’ Maxime unterscheidet nämlich nicht zwischen dem besten Logos, der strikt intersub183

Ebd.

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III.6 Sokrates und ›wir‹

jektiv gültig wäre, weshalb er angestrebt werden soll, und demjenigen Logos, der das faktische Ergebnis einer zufälligen Diskursveranstaltung ist und von einem oder allen Diskutanten zwar akzeptiert wird, aber durchaus fehlerhaft sein kann. Denn jede endliche Diskursveranstaltung – sei es eine Diskussion, sei es ein Forschungsprojekt, sei es die Abfassung eines philosophischen Werkes – kann von allerlei Zufälligkeiten und Dürftigkeiten, etwa von verkürzten Fragestellungen oder von partikularen Interessen, von Vorurteilen oder Stimmungen, natürlich auch von Zeitknappheit beeinträchtigt werden. Daher sollten wir genau unterscheiden zwischen einer faktischen Zustimmung und dem wahren, konsenswürdigen Ergebnis eines möglichen rein argumentativen Dialogs unter kompetenten Argumentationspartnern, in welchem alle relevanten Argumente zur Situation hinlänglich berücksichtigt worden wären. Das, was dem Platonischen Sokrates fehlt, ist einmal das Bewußtsein von der Fehlbarkeit konkreter, situationsbezogener und interpretationsabhängiger Erkenntnis (gleichviel ob praktischer oder theoretischer Natur); zum anderen fehlt dessen positiver Bezugsbegriff: die regulative Geltungsidee eines rein argumentativen Diskurses, wie er in einer idealen Argumentationsgemeinschaft geführt würde. Wie kommen wir zu dieser Kritik und zu diesen geltungslogischen Begriffen? Allein dadurch, daß wir ausdrücklich die Rolle eines Argumentationspartners einnehmen, der sich auf deren logische und ethische Voraussetzungen besinnt. Wir fragen nach den Sinn- und Geltungsbedingungen der Diskurspartnerrolle. Problem- und begriffsgeschichtlich gesehen, setzen wir damit die Begriffs- und Problemerörterung seit Platons Ideenlehre fort: Nachplatonisch unterscheiden wir zwischen zufälligen empirischen Gegebenheiten (Erscheinungen) und logisch notwendigen Kriterien bzw. Normen (Ideen). Nachkantisch erkennen wir, daß Ideen nicht das Wesen der Wirklichkeit sind – unter Umständen aber Maßstäbe und Zielbestimmungen, die für unsere Erkenntnis unverzichtbar, höchst fruchtbar und kritisch vorausweisend sind, wenn sie, mit Kant gesprochen, eine »regulative« Funktion erfüllen. Diese bestehe in einer solchen Regulierung des Erkenntnisprozesses, welche der Erkenntnis »die größte Einheit neben der größten Ausbreitung« verschafft. 184 Sie idealisieren, insofern sie von den faktischen

184

Vgl. I. Kant, KrV, A 644, vgl. 642 ff., 508 ff., 516 f. und 664 ff.

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Einschränkungen eines konkreten Erkenntnisunternehmens bzw. eines konkreten, situationsbezogenen Diskurses absehen. Jeder konkrete Diskurs kann aus zwei Gründen kritikbedürftig sein. Einmal handelt es sich dabei um eine endliche Veranstaltung, abhängig von allerlei Zufälligkeiten und Einschränkungen in der Zeit. Zudem ist ein situationsbezogener Diskurs angewiesen auf die Interpretation der jeweils thematischen Handlungs- bzw. Problemsituation oder des Forschungsfeldes. Eine Interpretation kommt aber, wie gesagt, nicht ohne Standpunkt und Vorverständnis aus, weshalb sie fehlbar bleibt. Indem Ideen von derlei Erkenntnisrealia abstrahieren und so etwas wie eine reine vollkommene Erkenntnis annehmen, klammern sie die Fehlerquellen ein: ebensowohl die äußeren Restriktionen, die jeder Bemühung und Institution in der geschichtlichen Zeit anhaften, wie auch die internen Probleme bzw. Defizite der Gegenstandserschließung. Mit leichtem Gepäck, ja beflügelt von der Vorstellung einer vollkommenen Erkenntnis, transzendieren Ideen die faktischen Erkenntnisunternehmen in Richtung auf strikte intersubjektive Gültigkeit, auf Wahrheit und Legitimität bzw. Richtigkeit. Sie können als Richtungsanzeiger für die reine Erkenntnisabsicht fungieren. Als regulative Ideen manifestieren sie die Ansprüche auf Geltung, dank derer menschliche Äußerungen verstanden und geprüft, d. h. hinsichtlich ihrer Bedeutung nachvollzogen und im Blick auf ihre Erkenntnisrelevanz oder praktische Legitimität diskutiert resp. anerkannt werden können. Kurz und gut: Lassen Sie uns einen idealen Rollentausch mit Sokrates vornehmen 185, indem wir ihm die Rolle eines konsequent verfahrenden (pragmatisch und semantisch konsistenten) Argumentationspartners zuschreiben – wie sie einem ›vervollkommneten‹ Logosgrundsatz entspräche. Die Position, die wir dann zu vertreten haben, ist die eines Sokrates, der sich nicht allein auf eine faktische Diskursveranstaltung (mit all ihren Einschränkungen und Fehlerquellen) und auf seine eigene Auffassung als deren Teilnehmer beriefe, sondern zugleich die Idee eines rein argumentativen Diskurses zur Geltung brächte. Wie? Nun, indem er sich in seiner faktischen Diskursveranstaltung kritisch 185 Vgl. G. H. Mead, Geist, Identität (1968), S. 305 f. und 358 f. Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hg. von H. Joas, Frankfurt a. M. 1987, S. 408 ff.; K.-O. Apel, »Geschichtliche Phasen der Herausforderung der praktischen Vernunft und Entwicklungsstufen des moralischen Bewußteins«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 61–63; Th. Bausch, Ungleichheit und Gerechtigkeit, Berlin 1993, S. 186 ff. und 204 f., vgl. 61 f.

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auf den kontrafaktischen Diskurs einer idealen Argumentationsgemeinschaft bezieht, also mit Vorbehalt gegenüber dieser Veranstaltung als einem zureichenden Urteilsrahmen und mit Vorbehalt gegen sein eigenes Urteil als der zureichenden Beurteilungsinstanz. Fassen wir zusammen: Vor allem bei konkreten, auf eine (Situations-)Interpretation angewiesenen, Diskursen und Urteilen ist zu unterscheiden zwischen (a) dem denkbaren besten Logos, der strikt intersubjektiv gültig, also konsenswürdig und daher anzustreben ist, und (b) dem faktisch anerkannten Logos bzw. faktischen Konsens, der sowohl von den Zufälligkeiten einer eingeschränkten Erkenntnisbemühung und Diskursveranstaltung abhängt als auch auf eine fehlbare Interpretation der thematisierten Situation bzw. des thematisierten Forschungsfeldes angewiesen ist, mithin kritik- und revisionsbedürftig sein kann. Bezugsbegriff von (a) ist die nachkantische regulative Geltungsidee des Konsensus einer idealen (strikten und unbegrenzten) Argumentationsgemeinschaft. Mit diesem Bezugsbegriff würde Sokrates einen Logossatz ohne die monierten geltungslogischen Defizite vertreten – etwa die Maxime: ›Ich (I) will es immer so halten, daß ich (II) letztlich nichts anderes gelten lasse als jenes Argument, das sich mir (II) und den Anderen in einem faktischen Diskurs als das beste zeigt und das auch in einer idealen Argumentationsgemeinschaft (in der alle relevanten Informationen und sachdienlichen Argumente im Blick auf alle Beteiligten/Betroffenen berücksichtigt würden) Zustimmung fände.‹ Hätte Sokrates den Logossatz in diesem Sinne vervollkommnet, dann enthielte er schon auf den ersten Blick zwei Kriterien für die Verbindlichkeit einer Aufforderung: Die für das Sich-Verständigen und für das Etwas-Geltendmachen konstitutiven Bedingungen verpflichten ›mich‹ dazu, im Dialog der Argumente so mitzuarbeiten, daß ›ich‹ – erstens – keine andere Autorität als die des besten Arguments anerkenne und daß ›ich‹ mich – zweitens – bemühe, den Horizont unserer faktischen Gemeinschaft kritisch zu entgrenzen, indem ›ich‹ zusammen mit den Diskurspartnern möglichst alle Argumente zur Sache und alle involvierten Ansprüche Betroffener gleichermaßen aufsuche und prüfe. Wer beides tut, der orientiert sich an der regulativen Geltungsidee einer strikten und unbegrenzten Diskursgemeinschaft. Da der wohlverstandene sokratische Diskurs auf regulativen Geltungsideen beruht, die konstitutiv für die Rolle des Diskurspartners 385 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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sind, haben sie für alle Teilnehmer Verbindlichkeit. Ihr normativer Gehalt ist der von vorgängigen Diskursverpflichtungen 186 – von Verpflichtungen, die nicht irgendwie von den Diskursteilnehmern gesetzt werden, so daß man darauf auch verzichten könnte, sondern die geltungslogisch notwendig, mithin argumentativ unhintergehbar sind. Genauer gesagt: Kein sinnvoller Diskursbeitrag kann sie außer Kraft setzen, weil die Prüfbarkeit eines Diskursbeitrags, also seine rationale Diskutierbarkeit, voraussetzt, daß der Diskursteilnehmer nur solche Behauptungen macht oder Zweifel vorbringt, die den Verpflichtungen der Diskurspartnerrolle entsprechen. Zunächst einmal stellt sich die Frage, wie sich unsere Explikation der Sokratischen Maxime, also der Logosgrundsatz im diskurspragmatischen Vorgriff der Vollkommenheit, zu den Argumenten verhält, die der Platonische Sokrates im Fortgang des »Kriton« tatsächlich vorbringt. Begeben wir uns als Diskurspartner, die allein nach dem besten Argument suchen, in einen praktischen Diskurs mit Sokrates, seinen Freunden und den Gesetzen Athens! Wohl wissend, daß wir als solche auch jene Ansprüche zu berücksichtigen haben, die aus der Sicht der abwesenden Betroffenen, zumal der Frau und der Kinder von Sokrates, geltend gemacht werden können. (I) Der erste Grund, den Sokrates vorbringt, bezieht sich noch nicht konkret auf die Handlungssituation, sondern ist eine allgemeine Maxime oder Grundnorm, die den moralischen Gehalt des Logosgrundsatzes dadurch weiterführt, daß der Grundsatz auf eine Situation angewandt wird, in der jemandem – hier Sokrates – offensichtlich Unrecht geschieht. Der beste Logos könne dann doch nicht in der Maxime bestehen, man solle auf das zugefügte Unrecht seinerseits mit einem Unrecht reagieren. Denn Unrecht zu tun, sei schlimmer als das Erleiden eines Unrechts, wie es im »Gorgias« heißen wird. Das erinnert an den 1. Korintherbrief des Paulus und sogar (fast) an Jesu radikales Liebesgebot in der »Bergpredigt« 187: Kriton, 49 a 3 – 49 e. (II) Konkret – gewissermaßen als ersten Beitrag zu einem praktischen Diskurs über die Frage ›Was soll man in der Situation S1 richtigerweise tun?‹ – plädiert Sokrates dafür, alle Rechtsnormen, die er als Siehe oben, Abschnitt III.4.4. Vgl. Platon, Gorgias, 473 a 5, 474 b – 476 a; 1. Korinther 6,7 und Matthäus 5,38 ff bzw. Lukas 6,27 ff.

186 187

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(III)

(IV)

(V)

(VI)

Polisbürger gleichsam durch den Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch befehlen mögen. Er pflichtet den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten, »daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer wir befehlen«: Kriton, 51 e 4 f. Sokrates stellt seine Vaterlandsliebe als Grund heraus An ihr habe er sich ebenso wie an »unseren Gesetzen« stets orientiert: Kriton, 51 2 – c 5. Sokrates gibt sich und den Freunden zu bedenken, daß er sie durch eine Flucht in die Notlage bringen kann, ihrerseits aus der Heimat fliehen zu müssen: Kriton, 53 a 8 – b 3. Sokrates wirft in die Waagschale, daß er in den für ein Asyl in Frage kommenden Poleis Theben oder Megara (vermutlich) kein gutes Leben zu erwarten hätte, weil man ihn auch dort dann als Rechtsverächter diskreditieren könnte oder würde: Kriton, 53 b 3 – c 8. Sokrates sorgt sich um seine Kinder: Seine Flucht (mit Kindern) würde sie in der Fremde zu Fremdlingen machen, wohingegen sich in Athen (nach seiner Hinrichtung) die Freunde um sie kümmern würden. So dürften sie in Athen besser aufwachsen und besser ausgebildet werden als in der Fremde: Kriton, 54 b 2 – 4.

III.6.2 Platonischer Sokrates versus Moral aus dem Dialog Lassen Sie uns die in Platons »Kriton« von Sokrates vorgebrachten Argumente nun allesamt, unter Einschluß der bisher ausgesparten verfahrenstheoretischen Erwägungen, Schritt für Schritt prüfen. Bedenken wir schließlich auch die Möglichkeiten einer verantwortungsethischen Strategiebildung. (I) Die allgemeine moralische Maxime, auf gar keine Weise vorsätzlich Unrecht zu tun, auch wenn einem selbst Unrecht geschehen ist 188, soll offenbar den zuvor formulierten Anspruch einlösen, den besten Logos über das Gut-Leben (εὖ ζῆν, eu zen) darzulegen, daß dieses nämlich »mit dem Ehrenhaft-und-Gerecht-Leben« identisch sei (48 b 6–8). Zuvor hatte Sokrates eine metaethische Überlegung eingeschoben, die auf den ersten Blick unproblematisch ausschauen mag: Unterschei188

Platon, Kriton, 49 a 3 f., b 4 ff. und 10 f.

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det sie doch »gute Meinungen« von »schlechten« und plädiert dafür, allein die ersten zu ehren, weil es die der Vernünftigen seien (47 a). Das nimmt sich wie die Unterscheidung der (erweisbaren) Wahrheit von (unbegründeten) landläufigen Meinungen aus, einem »Man«, in dem bloß nachredenden, heteronomen Sinne, wie er aus Heideggers »Sein und Zeit« bekannt ist. 189 Eine solche Unterscheidung läßt sich ohne weiteres einholen: Als Argumentierende sind wir von vornherein in eine gewisse Differenz zu Meinungssubjekten, uns und anderen, getreten, indem wir Gültigkeit beanspruchen – also Argumente suchen, welche die Argumentationswilligen und Einsichtigen überzeugen würden. Es scheint, als brächte Sokrates eben das ins Spiel, was die Diskurspragmatik als transzendentale Differenzen der möglichen Geltung versteht: die Differenz zwischen faktischen Vertretern einer Meinung (Ich I) und strikten Argumentationspartnern (Ich II) wie auch die damit verwobene Differenz zwischen einer realen Meinungs- bzw. Kommunikationsgemeinschaft und einer reinen oder idealen Argumentationsgemeinschaft. III.6.2.1 Expertenmetaphysik der Wahrheit versus Pluralität und Verständigungsgegenseitigkeit im Diskurs Doch lesen wir genau, dann kommen wir nicht um die Nachfrage herum: Denkt Sokrates das, was er hier in Anspruch nimmt? Denkt er es strikt dialog- und argumentationsgemäß? Oder geht er vielleicht, was die Philosophen und viele andere bis heute gerne tun, auf ein Expertenmodell zurück? Das wäre problematisch, ja unhaltbar. Warum? Ein Expertenmodell der Wahrheitssuche übergeht den dialogischen Aspekt einer Kommunikation unter gleichberechtigten Argumentationsteilnehmern. Noch elementarer: Es verletzt eine Sinnbedingung der Rede von Argumentation und Argumentationsgemeinschaft. Diese setzt nämlich immer schon (und unvermeidlicherweise) den Plural unterschiedlicher Argumente voraus, wie er sich aus der Pluralität der leibhaften, sich in verschiedenartigen geschichtlich gesellschaftlichen Zusammenhängen situierenden, Sprach- und Handlungssubjekte zwangsläufig ergibt. Die menschliche Pluralität, von Hannah Arendt als condition humaine gewürdigt, bedeutet das Ineinander von formaler Gleichheit 189

M. Heidegger, SuZ, § 27.

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und materialer Verschiedenheit. 190 Jene erwächst aus dem Doppelfaktum, daß alle Menschen Ansprüche und die Möglichkeit zu deren sprachlicher Artikulation haben. Die Verschiedenartigkeit entspringt daraus, daß jeder Mensch seine vorgefundenen Bedingungen auf je eigene Weise sprachlich verstehen kann, so daß er sich individuell in die Welt einschalten kann, indem er seine Situation sprechend wie handelnd gestaltet. Erst im Zuge solcher deutenden und handelnden ›Antworten‹ auf vorgegebene, interpretierte Bedingungen bilden sich einzigartige Situationen und deren Verknüpfungen zu (Lebens-)Geschichten. 191 Je nach Situationserfahrung und Interesse erheben Menschen die gleichen Ansprüche auf Anerkennung und Geltung hinsichtlich verschiedener Situationen, in denen sie ihre Interessen bzw. Wertvorstellungen bilden. Pluralität ist daher – so können wir Hannah Arendt abwandeln – jene charakteristisch menschliche Vielheit, welche die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder gleichartig und doch einzigartig ist. Das menschliche Lebens- und Entwicklungsphänomen der pluralen Situationserfahrung, welche zu jener Pluralität führt, hat sein logisches Pendant auf der Ebene des Über-etwas-Argumentierens. In einem argumentativen Diskurs werden für unterschiedliche Argumente, welche besondere Meinungen oder Interessen und Wertvorstellungen begründen, dieselben Ansprüche auf Geltung erhoben (Ernsthaftigkeit/Wahrhaftigkeit, Verständlichkeit, Wahrheit, normative Richtigkeit). Andernfalls käme es zu keinerlei Diskurs. Man hätte keinen Anlaß zur Verständigung, weil es Differenzen nicht gäbe. Eine Verständigung wäre aber auch gar nicht möglich, weil man keinerlei Geltungsmaßstäbe hätte, auf die man zurückgehen und woran man (auch kritisch) anknüpfen könnte: vor allem die Ansprüche auf Verständlichkeit der Rede, auf Wahrheit der (Tatsachen-)Behauptungen und auf Richtigkeit der Normen bzw. Handlungsweisen. Daß die Suche nach Wahrheit und Richtigkeit einzig unter den geschichtlich sozialen Voraussetzungen der Pluralität und den logisch sozialen Voraussetzungen der Argumentation, im universalistischen Diskurs, möglich ist, verkennt Platon überaus folgenreich. Was er damit nämlich verkennt, ist das Wesen des Diskurses, den er dadurch zu

190 191

H. Arendt, Vita activa (2002), S. 17 f., 213 f., 278 ff., 299 f. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 250–268, vgl. 217 ff.

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seinem Angelpunkt gemacht hat, daß er Sokrates als Repräsentanten des Dialegesthai (διαλέγεσθαι) und der kritischen Prüfung, des Elenchos, herausstellt. Diese Verkennung führt ihn schon in dem doch so dialogisch sokratisch angelegten »Kriton« zum Expertenmodell der Wahrheitssuche: Platons Protagonist Sokrates bedient sich der Suggestion eines metaphysischen Singulars, als könne die Wahrheit selber sprechen, und als spräche sie so, wie der Experte spricht. Ganz unschuldig und Plausibilität heischend kommt die metaphysische Suggestion der einsamen Wahrheit daher. Sokrates führt die Instanz des Sachverständigen bzw. des Einsichtigen nämlich an den Beispielen des Arztes und des Turnmeisters ein. Daran schließt er die Analogie an, der Leib verhalte sich zur Seele, wie sich die Gesundheit, die man beim Arzt oder Turnmeister zwecks guten Lebens pflegen oder wiederherstellen lasse, zu der Gerechtigkeit verhalte. Ebenso entsprächen Krankheit und Ungerechtigkeit einander (47 b – 48 a 1). Walter Bröcker kommentiert das bündig: Wenn diese Analogie angenommen wird, was Kriton, ohne auch nur nachzufragen, tut, dann »ist die Frage beantwortet: Warum soll ich das Gerechte tun und das Ungerechte meiden? Weil ich andernfalls mich selbst, nämlich meine Seele beschädigen würde. Und da sie edler ist als der Leib, ist der seelische Schaden auch schlimmer. Da sich kein Mensch vorsätzlich Schaden zufügen wird, kommt es nur darauf an, ihn zu der Einsicht zu bringen, was gerecht ist und was ungerecht, und daß er mit dem einen sich selbst nützt und mit dem anderen sich selbst schadet. Wenn er das wirklich eingesehen hat, wird er gar nicht anders können als gerecht handeln. Aus der vorausgesetzten Analogie: Leib verhält sich zu Gesundheit wie Seele zu Gerechtigkeit, folgen logisch die berühmten Sätze […], daß Tugend Wissen ist und daß niemand freiwillig das Schlechte tut.« 192 Dieser intellektualistische, theoria-metaphysische Fehlschluß dient hier dazu, die von Sokrates geltend gemachte moralische Maxime ins Sakrosankte zu erheben, mithin einen Diskurs darüber, ob ihr unbedingte, alle Situationen einschließende Gültigkeit zukomme oder nicht, als gegenstandslos erscheinen zu lassen. Die berühmte Maxime lautet: ›Unrechthandeln ist auf keine Weise weder gut noch schön bzw. ehrenhaft, so daß auch der, dem Unrecht geschehen ist, nicht wieder Unrecht tun darf‹ (49 a 5 – b 6). Mit dieser Maxime führt Sokrates den Logosgrundsatz weiter. 192

W. Bröcker, Platos Gespräche (1967), S. 32.

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Unklar ist jedoch, welchen Geltungssinn jene Maxime beanspruchen kann: Ist sie als eine unbedingte Norm gemeint, die unter allen Umständen gilt, also auch dann, wenn man – in einer Notlage – aus berechtigter Fürsorge gegen andere, etwa Frau und Kinder, eine (im Grundsatz auch von einem selbst) anerkannte Rechtsnorm verletzen würde? Oder soll sie ein Prinzip sein, welches die Berücksichtigung von besonderen Notsituationen und moralischen Ansprüchen Dritter erlaubt, insofern begründungspflichtige Ausnahmen noch zuläßt und daher einem verantwortungsethischen Diskurs über mögliche moralische Strategien noch Raum gibt? Ein verantwortungsethisches Problem, das durch eine moralische Strategie- bzw. Konterstrategiebildung (im Sinne unserer Urteilsstufe 7) zu lösen wäre, kann Sokrates überhaupt nicht stellen und angehen. Warum nicht? III.6.2.2 Vor der Gefahr des Rechtspositivismus oder: Naturalistisch fehlschlüssige Vertragstheorie versus biblisch motivierte Menschenwürde (II) Sokrates legt sich darauf fest, alle Rechtsnormen, die er als Polisbürger gleichsam durch den Sozialvertrag anerkannt hat (Urteilsstufe 5), uneingeschränkt einzuhalten, was immer sie auch befehlen mögen. 193 Er pflichtet nämlich den Gesetzen der Polis bei, als diese ihm vorhalten, »daß er durch die Tat uns gegenüber sein Einverständnis erklärt hat, zu tun, was immer [sic!] wir befehlen.« 194 Fragen wir uns als Diskurspartner, was es bedeutet, wenn wir diese Konsequenz aus einem Sozialvertrag ziehen. Entsprechen wir damit dem metakonventionellen, prinzipienbezogenen Urteilsniveau eines vertragstheoretischen Gedankenexperiments? Oder plädieren wir für einen bedingungslosen Rechtsgehorsam im Sinne von »law and order« auf der konventionellen Urteilsstufe 4? Dann geben wir das metakonventionelle Urteilsniveau preis. Denn dieses schließt die prinzipienbezogene Prüfung der (von einem selbst) anerkannten Konventionen und der Implikationen bzw. Folgen freiwilliger Übereinkünfte ein. Das 193 Platon, Kriton, 51 e 4 f. Diese Festlegung wird übrigens nicht dem Wortlaut gerecht, mit dem Sokrates den Vertragsgedanken bzw. die Anerkennung der Gesetze eingeführt hat: 50 a 1 ist von den Gerechtsamen (δίκαια, dikaia) die Rede, die von den Gesetzen versprochen worden seien. 194 Schleiermacher übersetzt: »daß er uns [den Gesetzen] durch die Tat angelobt habe«.

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aber bedeutet: Auch die Verbindlichkeit eines einmal gegebenen Einverständnisses können, ja sollen wir als Diskurspartner einklammern – geltungsmäßig zugunsten der Suche nach dem besten Logos und moralisch im Lichte des Prinzips der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit. Denn auch ein guten Glaubens geschlossener Vertrag und desgleichen ein anerkannter Verfassungsvertrag kann moralisch bedenkliche und sogar illegitime Verbindlichkeiten zur Folge haben. Insofern bedarf er gegebenenfalls einer Nachprüfung im argumentativen Diskurs und möglicherweise einer Revision. (III) Wie halten wir es mit dem Doppelargument der Vaterlandsliebe und Gesetzesachtung? Entspricht es dem Logosgrundsatz, wenn man seine faktische Vaterlandsliebe, die wir z. B. als Athener oder Deutsche (Ich I) haben mögen, über alles stellt, so daß sich aus der Verbindung von meinem Vaterland (Urteilsstufe 3) und unseren Gesetzen (Stufe 4) de facto eine unwiderrufliche Instanz ergibt? 195 Als Diskurspartner (Ich II) hat Sokrates die Suche nach dem besten Argument und damit die unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft, welche dieses anerkennen und alle Ansprüche berücksichtigen würde, als letzte Instanz für die Gültigkeit dessen vorausgesetzt, was faktisch verbindlich ist, z. B. ein ›bei uns‹ geltendes Gesetz und Verfahren. Auch wenn wir das Argument mit den biblischen Traditionen und dem normativen Gehalt des Gottesbundes vergleichen, fällt das Urteil für dieses Argument ungünstig aus. Werden dort doch tendenziell die Nächstenliebe und die Achtung vor dem Leben des Menschen als dem Ebenbild Gottes zu übergeordneten Kriterien dafür erhoben, inwieweit man dem Vaterland und seinen Gesetzen Gehorsam schulde. Oder sollte unsere Kritik überzogen sein? Lawrence Kohlbergs Würdigung des »Kriton« fällt weitaus günstiger aus: »Hier steht der Gesellschaftsvertrag der Stufe 5 im Mittelpunkt« 196, resümiert er. Das fordert nochmals zur Diskussion heraus. Betrachten wir allerdings Kohlbergs Zitatauswahl aus dem »Kriton« – als Urteilsgrundlage gibt er Stücke aus 50 a bis 52 e an –, dann fällt auf, daß er die rechtspositivistische Absolutheitsformel, »zu tun, was immer wir [die Gesetze] befehlen«, ausläßt. Eben dieser, von Kohlberg unberücksichtigt gelassene, Platon, Kriton, 51 a 2 – c 5. L. Kohlberg, »Education for Justice. A modern statement of the Platonic view«, in: N. F. Sizer u. T. R. Sizer (Hg.), Moral education. Five lectures, Cambridge 1970, S. 57– 83. Dazu D. Garz, Kohlberg (1996), S. 119 f., vgl. 116 ff. und 60 f. 195 196

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totale Gesetzesgehorsam ist unvereinbar mit dem Gedankenexperiment eines Gesellschaftsvertrags; denn das Gedankenexperiment klammert die Geltung der faktisch gegebenen Gesetze und Verfahren ein, um deren Legitimität zu prüfen. Sokrates hingegen schließt von dem Faktum seiner bisherigen rechtsgehorsamen Bürgerexistenz in Athen auf die Sollgeltung bzw. Legitimität der athenischen Gesetze und Verfahren. Was bedeutet es, wenn ein Diskurspartner so verfährt? Er vermeidet eine Legitimationsprüfung; mehr noch, er ersetzt sie durch einen faktizistischen bzw. naturalistischen Fehlschluß. Er nimmt seine Diskurspartnerrolle eigentlich nicht wahr. Denn die verpflichtet ihn zur autonomen Prüfung der Gründe, welche für eine (wie immer bekräftigte) Anerkennung von Gesetzen sprechen. Das bloße Faktum ihrer Anerkenntnis sagt nichts darüber aus, wie gut oder schwach die Gründe für deren Anerkennung sind. – Das ist es, was wir als Diskurspartner wissen und anerkannt haben. Sokrates jedoch macht hier eine ›normative Kraft des Faktischen‹ geltend, gewissermaßen eine Art Gewohnheitsrecht der Institutionen gegen die Rechtsperson. Das entspricht einem Rechtspositivismus, womöglich bestärkt durch einen Institutionalismus, der die angestammten Rechtsinstitutionen ins Sakrosankte erhebt und über eine uneingeschränkte, kritik- und revisionsfreie Sanktionsgewalt verfügt – sofern die Rechtsperson sich ihrem Geltungs- und Sanktionsbereich nicht entzogen hat. (Charakteristisch für ihre ungebrochene Hoheitsgewalt: Die Gesetze rechnen dem Sokrates diese Unterlassung als Akzeptanz zu – als hinlänglichen Geltungsgrund. Eine institutionalistische Diskursignoranz: Arroganz der Macht. Leider läßt der uns von Platon präsentierte Sokrates das gelten …) Dem steht der kritische, rechtsprüfende und rechtskonstitutive Impetus der Idee des Sozialvertrags diametral entgegen. Dessen Orientierungsfunktion kann Kohlberg zwar als »legalistische Orientierung« beschreiben; sie hat hier aber – dadurch unterscheidet sich die Urteilsstufe 5 von der Law-and-Order-Stufe 4 – ein gelungenes Legitimationsexperiment zur geltungsstiftenden Voraussetzung oder sogar einen von allen Beteiligten argumentativ geführten praktischen Willensbildungsdiskurs. Andernfalls könnte Kohlberg den Sozialvertragsgedanken nicht zu Recht als »postkonventionelles« (logisch: metakonventionelles, prinzipien- und gültigkeitsbezogenes) Urteilsniveau auszeichnen. Schon gar nicht könnte er annehmen, daß bereits auf dieser Urteilsstufe individuelle Rechte als vorpositive, rechtstragende 393 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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Menschenrechte gefordert werden können. Doch eben davon ging er aus – so sehr, daß er die US-amerikanische »Declaration of Independence« als »Dokument der Stufe 5« würdigte. 197 Ist das angemessen? Problemgeschichtlich gesehen war Kohlberg dazu in gewisser Weise berechtigt. Der Sozialvertragsgedanke ist nämlich ein integraler Bestandteil des »Naturrechts« bzw. Vernunftrechts, welches den partikularen Nutzenstandpunkt eines Kollektivs, der Nation als Bürgerschaft, rechtsethisch überschreitet. Wie? So, daß es einen universalen moralischen Rechtsstandpunkt einführt: den Status von »frei geborenen« Menschen, welche kraft der (vorausgesetzten) Gottesebenbildlichkeit mit dem Anspruch auf »unveräußerliche Rechte« ausgestattet sind. Nicht der kollektivistisch gedachte Gemeinnutz, die personal zu verstehende Menschenwürde ist der naturrechtliche, problemgeschichtlich: rechtstheologische, Eckstein des US-amerikanischen Sozialvertragsgedankens. Diese universalistische Idee weist über die Binnenmoral eines Sozialvertrags eindeutig hinaus, von Stufe 5 zu Stufe 6. Historisch scheint sie aus Samuel Pufendorfs »De jure naturae et gentium« Eingang in die US-amerikanische Unabhängigkeitsbewegung gefunden zu haben. Kants »Grundlegung« hat dann diese ursprünglich theologische Idee (im Sinne eines Gottesbundes der Stufe 5 ½) auf die logisch universale Ebene der praktischen Vernunft gehoben. Es ist vor allem der normative Gehalt des Noahbundes – im Unterschied zum Sinaibund bezieht dieser sich nicht allein auf Israel, sondern auf die Menschheit –, der sich tief in die religiös sittliche Motivation der politisch ethischen Moderne eingesenkt hat. Setzt er doch die Gottesebenbildlichkeit des Menschen voraus, so daß er das Verbot, Menschenblut zu vergießen, zentral stellt und von der normativen Gleichheit aller Menschen ausgeht. Auf diese Weise kommt der Gedanke der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ins Spiel und wird theologisch als höchstes göttliches Gebot für das Zusammenleben der Menschen ausgezeichnet: 1. Mose 9, 6. Damit ist die Idee der Menschenwürde präfiguriert. 198

197 L. Kohlberg, »The quest for justice in 200 years of American history and in contemporary American education«, in: Contemporary Education, 48. Jg. (1976), S. 5–16, hier S. 11. 198 Freilich wird hier der normative Sinn der Gottesebenbildlichkeit nicht strikt durchgehalten, sondern durch einen praktischen Widerspruch konterkariert: Das einerseits absolut gesetzte Tötungsverbot wird andererseits durch die Androhung der Todesstrafe

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Dieser universalistische normative Gehalt des Noahbundes gehört auch zum schöpfungstheologischen Hintergrund der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung der dreizehn vereinigten Staaten von Amerika 1776. In ihrer Präambel wird feierlich versichert, daß die Menschen allesamt »gleich erschaffen« und »von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt« worden seien. Über dem politischen Einfluß, den John Lockes Eigentumsbegriff (Naturrecht auf Eigentum an Leib, Leben und erworbenen Sachen) auf die Erklärung gehabt hat, sollte nicht vergessen werden, daß deren menschenrechtlicher Impetus über Väter der amerikanischen Demokratie wie James Otis und Pfarrer John Wise zurückgeht auf Samuel Pufendorfs Verbindung von Freiheitsrecht und Menschenwürde. 199 Ohne die Tradition vom Noahbund, der alle Menschen als Noachiden zu achten gebietet, wäre diese Verbindung geistesgeschichtlich nicht möglich gewesen. »Der Noachide ist der Vorläufer des Naturrechts für den Staat und auch für die Gewissensfreiheit«, pointiert Hermann Cohen. Er belegt die Rezeption der biblischen und talmudischen Rechtsethik des Noahbundes durch die protestantische Frühaufklärung (John Selden, Andreas Georg Waehner, Hugo Grotius, Johann David Michaelis). 200 Zudem ist die reformierte Föderaltheologie seit Zwingli auch politisch- bzw. rechtsethisch von Belang. Nach diesem Blick auf die – durchaus unsaubere und klärungsbedürftige – Verbindung von politischem Partikularinteresse mit rechtsethischem Universalismus im Sozialvertragsgedanken können wir zum Hauptargument des Kriton-Dialogs zurückkehren, zu dem Vorwurf des Vertragsbruchs, den die ›Gesetze‹ Sokrates machen. Das darin kulminierende Sozialvertragskonzept Platons, so wie es im »Kriton« vorgebracht wird, stellt einen rechtstheoretischen naturalistischen Fehlschluß dar. Hier regrediert Platons Sokrates, er fällt von dem Prinzurückgenommen: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.« 199 Dazu: V. L. Parrington, Main Currents in American Thought, Bd. 1, New York 1927, S. 118 ff. Hans Welzel hat gezeigt, daß die von Samuel Pufendorf zum »naturrechtlichen Zentralbegriff« erhobene dignitas humana durch den »Vater der amerikanischen Demokratie«, Pfarrer John Wise – »I shall principally take Baron Pufendorf for my chief guide« – dem Geist der US-amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung eingepflanzt worden ist: H. Welzel, Naturrecht (1962), S. 140 ff. 200 H. Cohen, Religion der Vernunft (1978), Kap. VIII, bes. S. 140–148; Zitat: S. 143.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

zipienstandpunkt des Vernunftrechts auf den konventionalistischen Standpunkt eines Institutionalismus zurück. Wir erinnern uns: Beim naturalistischer Fehlschluß in differenziertem Sinne handelt es sich um den Schluß von einer bloßen (sei es natürlichen, sei es sozialen – institutionellen oder handlungsmäßigen) Tatsache und deren Beschreibung, insofern von einem »Sein«, genauer: einem zufälligen Faktum, auf eine moralisch gültige, verbindliche Pflicht, ein legitimes »Sollen«. Ein Beispiel ist der Schluß, den Platon (im »Kriton«) den Gesetzen in den Mund legt, wenn er sie dem Sinne nach sagen läßt: ›Sokrates, du hast den Sozialvertrag durch dein faktisches Verhalten geschlossen und damit dessen Ergebnisse als verbindliche Gesetze anerkannt; also ist es deine moralische Pflicht, uns und unseren normativen Implikationen in allem zu folgen.‹ 201 Der hier von Platon vorgebrachte Schluß beruht auf zwei folgenschweren Prämissen: 1. Eine Fallibilität situationsbezogener Diskurse ist nicht zu berücksichtigen. Diese Unterstellung ist abwegig. Denn die selbstkritische Anerkennung der Fehlbarkeit und Korrekturbedürftigkeit aller konkreten, auf Situationseinschätzungen beruhenden und daher endlichen, irrtumsfähigen Diskurse, ist ein unausweichliches Diskurserfordernis. Keine Diskursrationalität ohne Berücksichtigung der Fallibilität aller konkreten Diskurse! Aus dieser erkenntnistheoretischen Einsicht fließt die moralphilosophische, daß über der Pflicht »pacta sunt servanda« noch die moralische Pflicht besteht, eine Revidierbarkeit offen zu halten, und ebenso das moralische Recht, diese, wenn gute Gründe vorliegen, einzufordern. Die Anerkenntnis des Revidierbarkeitsprinzips ist, wie oben gezeigt, ein vorgängiges Dialogversprechen des Diskurspartners. 202 Die zweite Prämisse von Platons Verbindlichkeitsargument der Gesetze ist: 2. Das bloße Faktum einer Anerkennung verschafft deren Gegenstand Befolgungsgültigkeit i. S. von Verbindlichkeit. Das bedeutet freilich, daß nach der Anerkennungswürdigkeit des faktisch Anerkannten nicht eigens gefragt werden muß. Dieser kritische Geltungsbegriff und -maßstab entfiele mithin. Platons Sokrates 201 202

Vgl. Platon, Kriton, 52 e. Siehe oben, Abschnitt III.4.4, insbes. Abb. 10.

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III.6 Sokrates und ›wir‹

suggeriert, wenngleich in kritischer Absicht, die Spruchweisheit »Mitgegangen, mitgefangen, (zu Recht?!) mitgehangen«. Diese faktizistische Voraussetzung verstößt gegen normative Sinnvoraussetzungen einer Argumentation, insbesondere gegen zwei Geltungsansprüche und implizite Dialogversprechen. Es sind dies der Geltungsanspruch der Richtigkeit, also der Legitimität aus Gründen, sowie der Anspruch auf mögliche Wahrheit. Zudem sind es die vorgängigen Dialogversprechen, das Universum der sinnvollen Argumente bzw. der sinnvoll argumentierbaren Lebensansprüche als letzte Sinn- und Gültigkeitsinstanz, (selbst- und ergebniskritisch) in Anschlag zu bringen und selber mitverantwortlich zu sein für den Diskurs als Möglichkeit der Verantwortung, jetzt und in Zukunft. 203 Hier liegt also ein gravierender naturalistischer Fehlschluß vor. Freilich hat er sich als ungeheuer wirkungsträchtig erwiesen: Er durchherrscht die neuzeitliche Vertragstheorie. Überdies prägt er das Selbstverständnis des politischen Liberalismus, insoweit er annimmt, daß es für die Verbindlichkeit des demokratischen Rechtsstaats keine andere Grundlage als das Faktum seiner Anerkennung durch die Bürger gebe. Daher lohnt es, auf diese Argumentation Platons zurückzukommen, vor allem auf die beiden soeben rekonstruierten Prämissen. In diesem Rahmen schlägt nämlich eine liberale Vertragsidee um in einen autoritären Law-and-Order-Standpunkt. Entwicklungslogisch gesprochen, nimmt Platon zwar, indem er das Gedankenexperiment eines Sozial- oder Verfassungsvertrags anstellt, das Argumentationsniveau der Stufe 5 in Anspruch, redet dann jedoch einem rigiden Institutionalismus (Stufe 4) das Wort. Hobbes ante portas? (IV) Von anderer moralischer Qualität ist hingegen Sokrates’ Erwägung, seine Flucht könne die Freunde in die Notlage bringen, ihrerseits aus Athen fliehen zu müssen. 204 Nun nehmen die Freunde dieses Risiko – vielleicht im Sinne einer verantwortungsethischen Abwägung (Stufe 7) – zwar auf sich, so daß die verallgemeinerbare Gegenseitigkeit hier erreichbar wäre. Dennoch stellte sich für Sokrates und stellt sich für uns an seiner Stelle – ebenfalls auf Stufe 7 – die Frage, ob man den Freunden diese Gefahr zumuten dürfe. Dieses Zumutbarkeitsproblem dürfte sich wohl allein in einem realen argumentativen Diskurs mit den Betroffe203 204

Siehe ebd. Platon, Kriton, 53 a 8 – b 3.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

nen klären lassen. Doch wird der moralisch Empfindsame seine Freunde kaum dem Offenbarungseid eines solchen aussetzen mögen. Wie leicht könnte dieser existentiell peinliche Diskurs in eine Nötigung umschlagen! Da überlegt man lieber allein für seine Freunde und bestreitet die Zumutbarkeit, verhält sich also fürsorglich. Insofern verbinden sich hier gesinnungsethische Motive mit einem verantwortungsethischen Gesichtspunkt, dem der Zumutbarkeit, der freilich undialogisch entwickelt und paternalistisch durchgesetzt wird – sehr irrtumsanfällig. Andererseits läßt sich diskursverantwortungsethisch argumentieren: – Das menschliche Leben, je das eigene und das aller anderen möglichen Subjekte bzw. Diskursteilnehmer, ist die elementare Diskursbedingung: die Existenzbedingung von Diskursen. Ein jeder hat sie mit jedem Gedanken, den er denkt, bereits in Anspruch genommen, weshalb man sie nicht sinnvoll bezweifeln kann. Daher gilt es, diese Existenzbedingung zuallererst zu gewährleisten. – Infolgedessen sind die Freunde im Recht; und es ist ihnen als Diskurspartnern nicht zuzumuten, gegen die elementar humane Maxime zu verstoßen. Diese lautet nämlich, man solle sich zuerst darum bemühen, ein gefährdetes Menschenleben, ein mögliches Diskurssubjekt, zu retten. Aber Sokrates mutet seinen Freunden zu, gegen diese Pflicht, die sie als Diskurspartner haben und auch wahrnehmen wollen, zu verstoßen. 205 Nun könnte Sokrates dem wiederum entgegenhalten: Mit diesem meinem Argument und meiner Ablehnung ihres gutgemeinten Vorschlags nehme ich meine Freunde zwar nicht als Freunde II, als Diskurspartner ernst, wohl aber als Freunde I, als reale Polisbürger, die in Athen weiter als Bürger sollen leben können. Darin sehe ich jetzt meine vordringliche Verantwortung: im Sinne einer lebensweltlichen Zumutbarkeit hier und jetzt, nicht aber in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft oder einem moralischen Ideenhimmel. Einen solchen Seitenhieb auf die transzendental ansetzende Diskurspragmatik und auf Platon dürfte ein Aristoteliker austeilen. 206 Damit geriete er aber in Selbstwiderspruch, widerspräche er doch seinen Dieses Argument verdanke ich Christoph Witt. Vgl. Aristoteles’ Kritik an Platons Ideenlehre und deren höchstem Orientierungspunkt sowie normativem Kriterium, der Idee des Guten, in: N.E., I, 4–6, bes. 1096 b 31–35. 205 206

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III.6 Sokrates und ›wir‹

eigenen Geltungsansprüchen, nämlich den Wahrheits- und Richtigkeitsansprüchen darauf, das hinsichtlich der realen Handlungswelt Vorgeschlagene vor dem idealen Diskursuniversum rechtfertigen zu können. So müßte er sich auch über die Grundeinsicht hinwegsetzen, welche Sokrates mit dem Logossatz – zumindest implizit – geltend gemacht hat. Das ist eben die von uns herausgearbeitete Einsicht in das Verwobensein von Mensch I (faktische Lebensrolle etc.) mit Mensch II (Diskursteilnehmer, der sich denkend auf sein Leben bezieht). In der Tat war Aristoteles eher ein Commonsense-Ethiker, welcher das Legitimationsproblem (in radikaler Idealismuskritik) ausblendet oder ihm doch seinen metakonventionellen Bezug nimmt, seinen prinzipienethischen Sinn. So sehr, daß er auch keinen logischen Ort, keine Anschlußstelle für eine mögliche Idee der Menschenwürde hat bzw. für den unbedingten Schutz des Menschenlebens mit einer unnachläßlichen Pflicht, menschliches Leben zu retten. III.6.2.3 Faktische Anerkennung versus Diskursglaubwürdigkeit (V) Ambivalent ist das Argument, Sokrates hätte in Theben oder Megara (vielleicht) kein gutes Leben, das die Flucht lohnen würde, zu erwarten. Warum? Zwei Gründe werden angegeben. Einer im »Kriton«Dialog, der andere schon in der Verteidigungsrede vor Gericht, der »Apologie«. Im »Kriton« weist Sokrates darauf hin, daß man ihn auch außerhalb Athens als Rechtsverächter ansehen könnte. 207 Doch kommt dieser Grund über die vorkonventionelle Egoperspektive des je eigenen Glücks (Stufe 1) und die konventionelle Perspektive der faktischen Anerkennung durch ›meine‹ partikulare Bezugsgruppe (Stufe 3) eigentlich hinaus? Sokrates verwickelt sich mit diesem Argument in zwei Widersprüche. Der erste ist geltungslogisch desaströs. Wenn die faktische soziale Anerkennung, der unangetastet gute Ruf in der neuen Lebenswelt, zum Maßstab für das moralisch Richtige erhoben wird, widerspricht das dem Logosgrundsatz eindeutig. Denn das läuft auf einen naturalistischen Fehlschluß hinaus, weil das argumentative Geltungskriterium nun durch ein sozial faktisches ersetzt wird. Während der kriteriale Sinn des Logossatzes in der Anerkennungswürdigkeit einer Handlungsorientierung als dem besten Logos besteht, d. h. als derjenigen Handlungs207

Platon, Kriton, 53 b 3 – c 8.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

weise, für die das stärkste Argument spricht, wird nunmehr eine faktische soziale Anerkennung, die ja oft bloß zufällig und unter Umständen sehr kritikbedürftig ist, zum Maßstab erhoben. Das aber bedeutet eine Rücknahme eben jener moralisch kritischen Orientierung, welche Sokrates seinen Freunden selbst entgegengehalten hat, als er ihnen (in Form des Logossatzes) zu verstehen gab: ›In meinen Augen ist eine Handlungsweise nicht schon deshalb befolgenswert, weil sie mir von meinen, zweifellos wohlmeinenden, Freunden nahegelegt wird, sondern weil sie auch für mich als Diskurspartner, der nach dem besten Logos sucht, anerkennungswürdig ist.‹ Mit der Berufung auf das beste Argument hat Sokrates die faktische Kommunikationsgemeinschaft (seiner Freunde) unter die kontrafaktische Gemeinschaft des Universums der sinnvollen Argumente gestellt, die reale Gemeinschaft unter die ideale Argumentationsgemeinschaft. Hinzukommt ein schlichter semantischer Widerspruch. Denn hatte Sokrates nicht zuvor die faktischen Bezugsgruppen geltungslogisch ausdrücklich distanziert? Kraft seines akommunikativen, substantialistischen Wahrheitskriteriums, welches den Einsichtigen resp. den Sachverständigen zum Maßstab erhebt, hat er sie als wahrheitsirrelevant eingestuft, ja polemisch als »die Vielen« herabgesetzt. Nun aber beruft er sich darauf, als handele es sich um eine Gültigkeitsinstanz im Sinne des besten Logos. Das Argument gewinnt auch dadurch nicht an Überzeugungskraft noch an Gültigkeit, daß es abschließend mit dem Hinweis auf den Glaubwürdigkeitsverlust des athenischen Gerechtigkeitslobredners Sokrates verknüpft wird, der sich selbst der Herrschaft der Gesetze entzogen hätte 208 – und daher wohl allenfalls in die Gegend Kritons, nach Thessalien, gehen könne, weil »dort ja Unordnung und Ungebundenheit am größten« seien. 209 Auf der reinen Geltungs- und Prinzipienebene wäre das Glaubwürdigkeitsargument allein dann durchschlagend, wenn es nicht bloß auf die faktische Anerkennung des geflüchteten Sokrates (I) in der realen Gesellschaft von Megara und Theben Bezug nähme (Stufe 3), sondern auf die Anerkennungswürdigkeit des Diskurspartners Sokrates (II) zielte, der sich letztlich vor dem Forum einer idealen Diskursgemeinschaft weiß, also vor dem Forum derer, die sich um nichts anderes als um das beste Argument bemühen. Davon könnte 208 209

A. a. O., 53 c 5 ff. A. a. O., 53 d 1 ff.

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III.6 Sokrates und ›wir‹

jedoch nur die Rede sein, wenn für Sokrates’ Entscheidung gültige Argumente sprächen: verallgemeinerbare Gründe im Sinne der Urteilsstufen 6 und 7. Dann wäre er hinsichtlich seines Entschlusses ein glaubwürdiger Diskurspartner, der in der Tat den besten Logos sucht. Diese Suche setzt die Anerkennung des Diskursuniversums voraus, mithin die Distanzierung einer partikularen Bezugsgruppe und aller partikularen Orientierungen. III.6.2.4 Moralische Strategien: Verantwortung für den Erfolg und die Zumutbarkeit des Moralischen Versuchen wir abschließend, Sokrates nochmals zu verteidigen! Läßt sich seine Entscheidung nicht doch mit Hilfe einer umfassenden diskursverantwortungsethischen Argumentation rechtfertigen? Erproben wir also an seiner Statt eine moralische Strategiebildung. Die ließe sich an eine in der »Apologie« vorgebrachte Begründung anschließen: »Das größte Gut für den Menschen ist, täglich sich über die Tugend zu unterreden« 210, »zu philosophieren […] und sich selbst sowie andere zu prüfen« 211, um so Rechenschaft über die Lebensführung zu geben. 212 Wenn aber, so könnten wir sagen, selbst die Bürger der Kulturstadt Athen nicht imstande gewesen sind, Sokrates’ philosophisch kritische Dialogpraxis zu ertragen, so dürften andere sie ebensowenig akzeptieren. Infolgedessen stünde der alte Sokrates in der Tat vor der Zumutung, »immer unhergetrieben, eine Stadt mit der anderen vertauschen« zu müssen. 213 Eine solche Existenz wäre dem Philosophen und alten Mann kaum zumutbar. Gewiß. So argumentierend, berücksichtigten wir ihn freilich – wie er es auch selbst tut – ausschließlich in seiner Rolle als Philosoph, nicht zugleich als Vater und als Ehemann, den wir, nach dem besten Logos suchend, als mitverantwortlich für die Ansprüche seiner Familie ansehen müssen. Im Athen des 5. vorchristlichen Jahrhunderts hing die Akzeptanz der Sokratischen Kritik, realistisch betrachtet, von der durchschnittlichen ethischen Orientierung der Polisbürger ab. Und das war wohl 210 211 212 213

Platon, Apologie, 38 a 2. A. a. O., 28 e. A. a. O., 39 c 7. A. a. O., 37 c 7 – d 6.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

eine ebenso schlichte wie eifersüchtige und kleinliche Fixierung auf Vorbilder (Stufe 3), also hier auf den Athener Sokrates, und auf die ›bei uns in Athen‹ etablierten Gesetze (Stufe 4). Freilich halten die athenischen Gesetze keiner diskursiven Prüfung stand, weil sie den strengen Geltungsanspruch der Richtigkeit bzw. Legitimität i. S. von Gerechtigkeit nicht erfüllen. So könnten wir mit gutem Grund einwenden, daß sie unbedingt einer strukturellen Verbesserung bedürften: einer Verbesserung sowohl durch moralisch gehaltvolle Rechtsprinzipien wie Menschenwürde und Menschenrechte wie Recht auf Leben, freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit, als auch durch formale prozedurale Rechtsprinzipien wie das der Revisionsfähigkeit. Die athenische Justiz war ja alles andere als eine gerechtigkeitsförderliche reflexive Institution, die die Revisionsfähigkeit mitinstitutionalisiert hätte. So mußte sich Sokrates, und zwar ohne eine Revisionsmöglichkeit zu haben, vor der Massenversammlung von etwa 500 ausgelosten »Richtern«, den Heliasten, verantworten – wahrlich grotesk und für jede demagogische Einflußnahme anfällig. Wenn man dem Geltungsanspruch der Richtigkeit Genüge tun wollte, dann bedürfte es also eines unabhängigen Rechtswesens, der prozeduralen Revidierbarkeit erstinstanzlicher Urteile, wie überhaupt eines Instanzenzugs. Das sind allerdings Aspekte einer Fernzielorientierung, die auf Realisierungsbedingungen einer Urteilsbildung im Sinne der Stufen 5 (Argumente im Sinne eines Gesellschaftsvertrags) und 6 (universale moralische Prinzipien) zielen. Die Bemühung um solche Bedingungen würde eine moralische Langzeitstrategie zur Verbesserung der athenischen Rechtsverhältnisse einschließen (Stufe 7). 214 Was die Vorbildorientierung anbelangt, so setzte diese im alten Athen vermutlich voraus, daß Sokrates sich nach athenischem Recht und Gesetz verhält und auch die Hinrichtung auf sich nimmt, nachdem er die Möglichkeit der Verbannung bereits verworfen hatte. 215 Infolgedessen kann eine realistische verantwortungsethische Argumentation die Anerkennung von Sokrates durch die Athener als Voraussetzung werten für eine moralische Langzeitstrategie, die lauten würde: ›Aufhebung der stark gerechtigkeitsdefizitären Gesetze Athens in eine men-

214 Ich nehme hier und im folgenden ein Argument von Frau Bernadette Herrmann M.A. dankbar auf. 215 Platon, Apologie, 37 c 4 – 38 a 8.

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III.6 Sokrates und ›wir‹

schenrechtsfundierte und rechtsstaatlich revisionsfähige Rechtsordnung‹. Demzufolge könnte es das Lebensopfer des alten Mannes Sokrates moralisch lohnen, sofern sowohl Sokrates (öffentlich und in einem Vermächtnis an die Mitbürger) als auch späterhin seine Freunde die Ziele einer solchen Verbesserung der Rechtsordnung und des Polisgeistes nicht allein plausibel gemacht hätten, sondern diese auch strategisch klug verfolgt haben würden. Vielleicht kann sich eine solche moralische Strategie auf Sokrates’ Schlußwort vor Gericht stützen. In der »Apologie« sagt er ja: »Ich behaupte also, ihr Männer, die ihr mich hinrichtet, es wird sogleich nach meinem Tode eine weit schwerere Strafe über euch kommen als die, mit welcher ihr mich getötet habt. Denn jetzt habt ihr dies getan in der Meinung, nun entledigt zu sein von der Rechenschaft über euer Leben. Es wird aber ganz entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Mehr werden sein, die euch zur Untersuchung ziehen, welche ich nur bisher zurückgehalten, ihr aber gar nicht bemerkt habt. Und um desto beschwerlicher werden sie euch werden, je jünger sie sind.« 216 Sokrates war demnach überzeugt, daß sein Geist über den Tod hinaus wirke und daß seine Freunde in seinem Geist fortwirken werden. Demzufolge käme sein Selbstopfer einer moralischen Situationsstrategie gleich, die sich erfolgsfähig und moralisch verträglich würde einbetten lassen in eine moralische Langzeitstrategie zur Verbesserung der Rechts- und Kommunikationsverhältnisse Athens à la longue. So könnten wir auf Stufe 7 und im Sinne der moralstrategischen Ebene B der Diskurs- und Verantwortungsethik argumentieren. Allerdings nur dann, wenn auch die Verantwortlichkeiten des Sokrates für Frau und Kinder angemessen berücksichtigt worden wären – oder zumindest der ernsthafte Versuch gemacht worden wäre, sie zu berücksichtigen. Wir müßten an Sokrates’ Stelle nämlich fragen – und Sokrates, insofern er nach dem besten Logos sucht, hätte sich, seine Freunde und seine Frau, gegebenenfalls auch ein älteres Kind im Diskurs fragen sollen: ›Können meine Frau und meine Kinder dem Verzicht auf meine Lebensrettung zugunsten einer (den Athenern leicht fallenden) Vorbildorientierung an dem gesetztestreuen Polisbürger Sokrates mit guten Gründen zustimmen?‹ Und: ›Kann ich meiner Frau und meinen Kindern die Selbstopferung des Ehemannes und Vaters zumuten?‹ Die 216

A. a. O., 39 c 3 – d 2.

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Diskurspragmatik. Dialogbezogene Grundlagen der Ethik

Fürsorgepflicht des Sokrates gegenüber seiner Familie (Stufe 3) kehrt auf der verantwortungsethischen Prinzipienstufe 7 als Frage der moralischen Zumutbarkeit wieder und fordert hier eine Antwort, ist also alles andere als leicht zu nehmen. Unverzichtbar wäre jedenfalls der Versuch, seine leidtragende Frau und über sie die Familie zu überzeugen. (Nehmen wir das andersgelagerte moderne Beispiel der Männer des 20. Juli 1944. Hier war immerhin die Möglichkeit des Selbstopfers von vornherein im Spiel. Die einbezogenen Frauen, etwa Nina Gräfin von Stauffenberg, Freya Gräfin von Moltke, Marion Gräfin Yorck von Wartenburg hatten nicht allein zugestimmt, sondern das hochgefährliche Engagement mitgetragen.) Als nüchterne Leser von Platons Texten, der »Apologie«, des »Kriton« oder auch des »Phaidon«, kommen wir um die Feststellung nicht herum, daß es kaum genug Anhaltspunkte für eine politisch ethische Moralstrategie gibt, wie wir sie eben skizziert haben. Als eine – stark explikative – Interpretation zumal des »Kriton« wäre unsere verantwortungsethische und damit auch zumutbarkeitsethische Skizze viel zu schwach belegt. Das ist zumal dann festzuhalten, wenn wir Sokrates’ Aussagen und Nichtaussagen über seine Familienverantwortung ins Auge fassen: Von seiner Frau, der Verantwortung ihr gegenüber, und von seiner Familie – Frau, Kinder und Vater zusammen als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft – redet Sokrates überhaupt nicht. Die hier zu berücksichtigenden Ansprüche, Tugenden und Gerechtigkeitserfordernisse werden von seiner Orientierung am Vaterland und dessen Gesetz aufgesogen. Zu einer Abwägung ›Familie versus Vaterland‹, die nach Maßgabe der Stufen 6 und 7 vorzunehmen wäre, kommt es nicht. Wohl durchaus antik-athenisch. Wir aber, sofern wir im idealen Rollentausch mit Sokrates urteilen und das moralisch Richtige suchen, können uns mit einer historischen Relativierung nicht beruhigen. Grundsätzlich spüren wir die verbleibenden Spannungen zwischen einer jeweiligen verantwortungsethischen Strategiebildung mit einer Situations- bzw. Ad-hoc-Strategie samt Langzeitstrategie – bereits hier besteht eine Spannung – und den moralischen Legitimationskriterien der Konsenswürdigkeit samt Zumutbarkeit für die Beteiligten und Betroffenen. Wir merken dabei, daß der verantwortungsethische Diskurs alles andere als ein Kalkül ist, das ohne Rest aufgeht. Er fordert äußerst sorgsame, letztlich auch schuldbereite Teilnahme. Reinen Gewissens kommt man kaum aus ihm heraus, weil es eine Gewißheit der Urteilsrichtigkeit angesichts widerstrei404 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

III.6 Sokrates und ›wir‹

tender Ansprüche und schwer durchschaubarer Situationsbedingungen nicht gibt und weil die Folgewirkungen noch schwerer antizipierbar sind. Eben das gilt auch für unseren Beurteilungsversuch von Sokrates’ Entscheidung. Klar ist jedoch: Es kommt darauf an, die richtigen Fragen zu stellen, in kommunikativer Achtsamkeit auf die Ansprüche der Betroffenen zu hören und das ebenso prinzipiengemäße wie situationssensible Problembewußtsein eines Verantwortungsethikers zu erarbeiten, wozu überdies die Bereitschaft gehört, dann Schuld zu übernehmen, wenn es einen anderen Ausweg nicht gibt. Schwer genug. Doch noch einmal zurück zum »Kriton«. Zwar spricht Sokrates nicht von seiner Frau, wohl aber von seinen Kindern. Warum will er sie nicht auf eine Flucht mitnehmen, und sei es nach Thessalien, die unordentliche Gegend Kritons? Die Antwort: um sie nicht zu Fremdlingen zu machen, und weil die Freunde in Athen (nach seiner Hinrichtung) sich ihrer annehmen werden, so daß sie, in Athen, besser aufgezogen und ausgebildet werden dürften … 217 So weit, so gut. Ob die Kinder und die Ehefrau jedoch eigene, andere Ansprüche haben und daher die Flucht vorziehen würden, fragt er nicht. Über eine Verständigungsgegenseitigkeit ist der tendenziell methodisch solipsistisch argumentierende, jedenfalls monologisierende Sokrates, den uns der spätere Kosmostheoretiker Platon hier präsentiert, gänzlich erhaben. Er weiß im vorhinein, welches die Bedürfnisse, Interessen und Werte der Betroffenen sind. Darüber bedarf es keiner Verständigung mit ihnen. Eine Kommunikation hat allein zwischen Sokrates und den »Gesetzen« statt. Denen gibt er denn auch das letzte Wort, damit sie (leider) versichern können, was dem Logosgrundsatz zuwiderläuft und die Inhumanität von Platons »Politeia« und »Nomoi« einläutet: »Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch irgend etwas anderes höher als das [ergänze: faktisch geltende, aber vielleicht ungerechte oder auch nur falsch angewandte] Recht.« 218 Der Law-and-Order-Standpunkt siegt über die Argumentationsgemeinschaft, der Realathener Sokrates I überwältigt insofern den Diskurspartner Sokrates II. Kein guter Ausgang, keine Perspektive einer Diskursverantwortung (Stufe 7), sondern ein Rückfall auf die Stufe 4, eine konventionalistische Regression.

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A. a. O., 54 a – b 1. A. a. O., 54 b 2–4.

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IV Zukunftsverantwortung und Menschenwürde

Wir alle können wissen, daß eine rechtfertigungsfähige Auflösung der verantwortungsethischen Spannungen heute weitaus mühsamer und irrtumsanfälliger als zu Sokrates’ Lebzeiten ist. Heute? Im Zeitalter von Atom- und Gentechnologie, von technologisch industrialisierter Konsum- und Energieverschwendungsgesellschaft sehen wir erstmals die Existenz unserer Gattung bedroht, haben diese Bedrohung selbst kollektiv herbeigeführt, haben die Gattungszukunft plötzlich selbst in Händen. Erstmals stellt sich das Problem der Zukunftsverantwortung, vor dessen Ausmaß wir zu Recht erschrecken. Dramatisch zugespitzt wird es durch seine Einbettung in finanzkapitalistische und haushaltspolitische Verwerfungen, die die öffentliche Aufmerksamkeit derart auf sich ziehen, daß sie die gattungsethischen Herausforderungen fast verdecken. Katastrophal ist der globalisierte Finanzkapitalismus, dessen ungezügelte Gigantomanie längst über die Volkswirtschaften, ja über die reale Wirtschaft insgesamt triumphiert. Hinzukommt, daß in diesem Sog viele Staaten, darunter große Mächte wie die USA, Japan und führende Nationen der Eurozone sowie Großbritannien eine enorme Verschuldungspolitik auf dem Rücken künftiger Generationen betreiben. All das, der sogenannte hochtechnologische Fortschritt, das sogenannte wirtschaftliche Wachstum, der permanent angeheizte Konsumismus, der sich selbst beschleunigende, gänzlich maßstablose Finanzkapitalismus, die explodierende Staatsverschuldung –, geht zu Lasten sowohl der Natur als auch der nachfolgenden Generationen. Und das, wiewohl verheerende Folgen wie ökologische Katastrophen, Hungerkatastrophen etc. seit geraumer Zeit spürbar, analysiert und beklagt sind. Ein Fanal war 1972 die drastische Warnung des Club of Rome vor den ökologischen Langzeitgefahren des quantitativen ökonomischen Wachstums und den kumulativen Folgeschäden der (damals noch teils kapitalistischen, teils staatssozialistischen) technologischen Zivilisation. 407 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Zukunftsverantwortung und Menschenwürde

Die Philosophie fand sich auf die neuen Verantwortungsprobleme schlecht vorbereitet. An der New School for Social Research in New York und an der Universität des Saarlandes, ab 1972 dann an der Universität Frankfurt, waren jedoch zwei, durchaus komplementäre, Denker bereits dabei, eine Ethik der solidarischen Menschheits- und Zukunftsverantwortung zu entwerfen: Hans Jonas (1903–1993), zwar metaphysischer Postaristoteliker, aber mit biblisch jüdischer, z. T. auch kantischer Moralmotivation, und der zwanzig Jahre jüngere Karl-Otto Apel, ein sprachpragmatischer Postkantianer mit transzendentaler Begründungsperspektive. Vor dem Hintergrund einer, von Jonas und Apel inspirierten, Skizze der hochtechnologischen Problemsituation stellen sich vor allem diese Fragen: 1. Was bedeutet moralische Verantwortung in der technologischen Gefahrenzivilisation? Und läßt sie sich gegebenenfalls als verbindlich erweisen? 2. Besteht eine absolute Pflicht zum Dasein der Menschheit? Oder wäre ein konsensueller Suizid der Menschheit moralisch legitim? 3. Was heißt Naturverantwortung? Sind wir, und inwiefern, dazu verpflichtet? 4. Ist Atomenergie verantwortbar? 5. Ist das Urrecht der Menschenwürde, das Recht auf Rechte, verbindlich? Und wie weit reicht es? Vom Embryo bis zum »hirntot« Sterbenden?

IV.1 Mitverantwortung für die Menschheitszukunft in der Gefahrenzivilisation Die Beobachtung, daß »die ganz unbeabsichtigten, aber unausweichlichen Nebenwirkungen« der technologischen industriellen Zivilisation, etwa »die Verschmutzung der Atmosphäre, der Gewässer, des Bodens, die Ausraubung der Biosphäre, der ganzen Lebenswelt durch Überbeanspruchung, durch Ausrottung von Arten« 1 unermeßlich sind, So Jonas in dem Gespräch »Erkenntnis und Verantwortung«, in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 450 f.: »Diese Zeitbombe tickt, während wir einfach so leben, wie wir es tun als Mitglieder der westlichen technischen Zivilisation, und woran jeder von uns mitwirkt.«

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IV.1 Mitverantwortung für die Menschheitszukunft in der Gefahrenzivilisation

führte Jonas zu der Erkenntnis, daß die Wirkungsmacht des Menschen »nach Maßstäben unserer irdischen Umwelt […] enorm gestiegen und […] ein Zustand erreicht worden [ist], in dem beinahe alles möglich scheint« 2. Daraus erwachse die Einsicht, daß proportional zu dieser Wirkungsmacht auch die Verantwortung des Menschen zunehme, ja eine andere werde. Gemeint ist eine kollektive Verantwortung, und zwar für das künftige Lebenkönnen der Menschen auf Erden, aber auch und zugleich für die Menschenwürde. Aus dieser Einsicht entstand Jonas’ »Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation«, das 1979 erschienene Werk »Das Prinzip Verantwortung«. 3 Es will die herkömmliche, auf den Nahbereich menschlichen Handelns zugeschnittene, Ethik durch eine Moral der Zukunftsverantwortung ergänzen, die sich in einem neuen kategorischen Imperativ bündeln läßt. Im Kontrast zu Jonas wendet sich Apel dem Problem der Zukunftsethik indirekt, aber insofern radikal zu, als er die Verpflichtung zur Zukunftsverantwortung erweisen will – unmetaphysisch, streng rational und intersubjektiv gültig. Diese sei nämlich ein integrales Bestandsstück der normativen Präsuppositionen des Diskurses bzw. des Argumentierens überhaupt. Denn die Zukunftsverantwortung betreffe auch die Existenzbedingung des Erkennens und Prüfens universaler Geltungsansprüche. Inwiefern? Die Permanenz der Menschengattung ist die Bedingung für das Streben nach einem rein argumentativen Konsens, also nach einer zureichenden Einlösung jener logisch universalen Geltungsansprüche, die man für Diskursbeiträge erhebt. 4 Für die Situationsanalyse der technologischen Zivilisation sollten wir uns Rechenschaft darüber geben, daß charakteristische Begriffe, mit denen Öffentlichkeit, Wissenschaft und Philosophie auf die planetare Selbstgefährdung der Menschheit reagieren, beschönigend und verfälschend sind. So suggeriert die deutsche Diskussion oftmals, daß wir in einer bloßen »ökologischen Krise« und eben in einer »Risiko«Gesellschaft leben. Jedoch kann die hochtechnologische Zivilisation mehr zerstören, als sich im einzelnen prognostizieren und gegenüber künftigen Generationen verantworten läßt. In diesem Betracht ist sie

A. a. O., S. 452 f. H. Jonas, PV (1979). 4 Vgl. K.-O. Apel, »Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 369–404. 2 3

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eher eine Gefahrenzivilisation und Zukunftsgefährdungsgesellschaft. 5 Scheint es doch ihr Gesetz zu sein, daß sie permanent kumulative Langzeitwirkungen hervorbringt, welche die Fortdauer »echten menschlichen Lebens auf Erden« und damit die Anerkennung des Prinzips Menschenwürde in Frage stellen. Denn sie bringt nicht allein kumulative Langzeitwirkungen hervor, die zusammen mit ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen auch Freiheits- und Verantwortungsbedingungen künftiger Generationen fortwährend verschlechtern oder gar zerstören; darüber hinaus trägt der medizintechnische Fortschritt und dessen Vermarktung zur Aushöhlung der moralischen Prinzipienorientierung bei. Geht er doch vielfach mit Versprechen einher, die individuellen Interessen und Heilungswünschen entgegenkommen, sich jedoch über gegenläufige moralische Prinzipien hinwegsetzen, ja diese als fortschrittsfeindlich, illiberal oder gar inhuman erscheinen lassen. Darauf kommen wir zurück. Was die Analysebegriffe angeht, so ist etwa der Begriff ›ökologische Krise‹ unangemessen, ja irreführend: Wie lebensbedrohlich eine Krise auch sein mag, sie findet in naher Zukunft ihr unglückliches oder glückliches Ende; nicht so hingegen die ökologische Selbstgefährdung der Menschheit. Daher wurde dieser heute fast allgegenwärtige Begriff in dem von der Forschungsgruppe »Ethik und Wirtschaft im Dialog – EWD« erarbeiteten Buch »Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft« einer entsprechenden Sinnkritik unterzogen. 6 Schon 1973 und 1978 hatte Hans Jonas seine Leser für »das metaphysische Ausmaß« und für die Permanenz der technologisch kapitalistischen Gefahrensituation sensibilisiert: Sie werde der Menschheit nunmehr wie ein Schatten anhaften – wie der »Schatten drohender Kalamität«. 7 In den Vgl. D. Böhler, »Idee und Verbindlichkeit« (2000), S. 34–69, bes. S. 58 f., vgl. 35 ff. A. a. O., bes. S. 58 f., 37 ff., 168 f., 199 f. 7 H. Jonas, PV (1979), bes. 1. und 2. Kap.; ders., »Technik, Freiheit und Pflicht«, in: ders., WPE (1987), S. 45 f.: »Über eines müssen wir uns […] im klaren sein: eine Patentlösung für unser Problem, ein Allheilmittel für unsere Krankheit gibt es nicht. Dafür ist das technologische System viel zu komplex, und von einem Aussteigen daraus kann nicht die Rede sein. Selbst mit der einen großen ›Umkehr‹ und Reform unserer Sitten würde das Grundproblem nicht verschwinden. Denn das technologische Abenteuer selber muß weitergehen; schon die rettenden Berichtigungen erfordern immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums, das seine eigenen neuen Risiken erzeugt. So ist die Aufgabe der Abwendung permanent, und ihre Erfüllung muß immer Stückwerk bleiben und oft nur Flickwerk. Das bedeutet, daß wir wohl in alle Zukunft im Schatten drohender Kalamität leben müssen. Sich des Schattens bewußt sein aber, wie 5 6

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IV.1 Mitverantwortung für die Menschheitszukunft in der Gefahrenzivilisation

politisch ethischen Überlegungen und Diskussionen müssen wir davon ausgehen, daß wir weder in einer »ökologischen Krise« leben, die wie jede Krise zeitlich begrenzt wäre, noch in einer bloßen »Risikogesellschaft« 8, sondern in einer kapitalistisch- und technologisch-dynamischen Gefahrenzivilisation. Deren weitreichende Zerstörungen und Zerstörungspotentiale lassen sich nicht, wie das von dem Begriff ›Krise‹ nahegelegt wird 9, von vornherein auf den zeitlichen Nahbereich einschränken. Weshalb? Zum einen deshalb nicht, weil wir »mit der technischen Ausbeutung der Natur fortfahren müssen« 10 und – zweitens – weil uns das dabei erworbene hochtechnologische Know-how, etwa das der Kernspaltung, in aller Zukunft begleiten dürfte. Jedenfalls ist nicht allein unsere hochentwickelte Zivilisation, sondern die dank ihrer Segnungen bevölkerungsexplodierte Menschheit auf permanente Anwendung von Hochtechnologien mit erheblichem Potential für Umweltschädigungen geradezu angewiesen. Drittens erfordert gerade die Behebung ökologischer Schäden »immer neuen Einsatz des technischen und wissenschaftlichen Ingeniums«, welcher »seine eigenen neuen Risiken erzeugt«. 11 Schließlich ist die Marktwirtschaft primär an kurzfristigem Gewinn statt an Umweltverantwortung und Zukunftsverantwortung orientiert, so daß weder die Umwelt einen Marktpreis hat noch deren Schädigung einfach auf den Warenpreis aufgeschlagen werden kann. Immerhin läßt sich die permanente Umweltschädigung teilweise marktwirtschaftlich kompensieren, etwa durch einen rechtsstaatlich geregelten, aber global kontrollbedürftigen Handel mit Emissionsrechten. In Anbetracht der zivilisatorischen Permanenz der Naturzerstörung, welche auch die Verantwortungsmöglichkeiten der künftigen Generationen fortlaufend beschneidet, ist es eine falsche Beschwichtigung, wenn man einfach von einer »ökologischen Krise« spricht oder analog wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dieses Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unseren Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft.« 8 U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. 9 »Krise« (von κρίσις – Entscheidung, Scheidung, Zwiespalt) bezieht sich auf einen entscheidenden Wendepunkt, insbesondere auf die (über Leben und Tod entscheidende) kurzfristige Zuspitzung eines Krankheitsverlaufs. 10 H. Jonas, »Technik, Freiheit und Pflicht«, in: ders., WPE (1987), S. 33. 11 A. a. O., S. 46.

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von einer »Verantwortungskrise«. Vielmehr besteht die politisch moralische Herausforderung darin, daß die Bürger, die Zivilgesellschaften, die Staaten, die supranationalen Zusammenschlüsse und die Vereinten Nationen sich auf die welthistorisch neuartige und stets zu erneuernde Zukunftsverantwortung und auf entsprechende globale Verantwortungsinstitutionen einlassen – so permanent wie kreativ. Infolge der (hoch-)technologischen Lebensbedingungen einerseits, infolge von Kernspaltung und Gentechnologie sowie Reproduktionstechniken andererseits hat der Ethik eine neue Stunde geschlagen: Alle Menschen geht nun die Verantwortung dafür an, daß künftig menschenwürdiges Dasein möglich ist. Aber kann hier strenggenommen von Verantwortlichkeit die Rede sein, wo es sich vorwiegend um ein kollektives Phänomen handelt? Die Diskursverantwortungsethiker schlagen die Präzisierung »Mitverantwortlichkeit« vor. Sie begründen diese Begriffsveränderung negativ und positiv: negativ damit, daß eine direkte, kausale Verantwortungszuschreibung für die einzelnen oft weder angemessen noch im Einzelfalle durchführbar sei. Die positiven Gründe sind: Erstens zehren heute alle denk- und handlungsfähigen Lebewesen von der technischen Zivilisation, sie ist ihre Lebensbasis geworden; sie profitieren davon und wirken in irgendeiner Weise – oft vielfach – praktisch mit. Allein deshalb haben sie auch Anteil an der technisch zivilisatorischen Gefahrenverursachung. Daher kann i. S. einer Kausalhandlungsverantwortung von Mitverantwortung gesprochen werden. Zweitens kommt in der modernen Kommunikationswelt allen diskursfähigen Menschen – unabhängig von ihren jeweiligen Berufen und institutionalisierten Verantwortlichkeiten – eine Mitverantwortung als möglicher Diskursteilnehmer für die Bewußtmachung und mögliche Bewältigung der Zukunftsprobleme zu, und zwar unabweisbar. Warum so absolut? Nun, wer überhaupt von moralischen Problemen wissen kann und irgendwie zu ihrer Verringerung beitragen kann, der weiß damit als Diskurspartner, daß er eine Mitverantwortung für die Entwicklung des öffentlichen Problembewußtseins ebensowenig zurückweisen kann wie für die mögliche Verringerung und letztlich die Bewältigung der Probleme. 12 Diese neuartige kognitive und moralische Situation läßt sich folgendermaßen zusammenfassen und pointieren:

12

Vgl. K.-O. Apel u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung (2001).

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IV.2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik

»Mitverantwortung« statt »Verantwortung« für den globalen sozio-ökologischen und moralischen Gefahrenzustand 13: 1. Vielfach können schon für lokale ökologische Katastrophen, erst recht für die Globalgefährdung(en), nicht einzelne i. S. einer direkten Verursachung verantwortlich gemacht werden. 2. Hingegen kann in zweifacher Hinsicht von Mitverantwortlichkeit gesprochen werden. Einmal besteht eine gewisse faktische kausale kollektive Mitverantwortung (in mehr oder minder relevantem Ausmaß) für alle denk- und handlungsfähigen Lebewesen, die von der technologischen Zivilisation als ihrer kollektiven Lebensbasis zehren. Überdies gibt es für alle Zivilisationsbeteiligten eine diskursive individuelle Mitverantwortung als mögliche Diskursteilnehmer, weil sie ihr eigenes Verhalten – erstens – im Begleitdiskurs kritisch orientieren und – zweitens – an der öffentlichen Meinungsbildung und moralischen Orientierung sich beteiligen können.

IV.2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik – prinzipienethische Antworten auf den technologischen Prometheismus und die Entethisierung der Wissenschaften Jonas und die Diskursethiker sehen die Philosophie vor der Aufgabe, diese – verglichen mit aller traditionellen Ethik – neuartige und irgendwie ungeheure Mitverantwortung zu denken, also das neue Problem aus dem ihm anhaftenden Ungefähr zu befreien, indem wir es begreifen. Zunächst ist nämlich die Philosophie zu der Begründungsaufgabe herausgefordert, die Verbindlichkeit dieser noch nie dagewesenen kollektiven Verantwortung zu erweisen. Zum anderen steht sie vor zweierlei Anwendungsaufgaben. Zunächst geht es darum, die Konkretion des Moralprinzips zu moralischen Situationsmaximen bzw. Normen, die geltungswürdig sind und daher gelten sollten, neu zu denken. Ebenso kommt es darauf an, erfolgsfähige Strategien bzw. Konterstrategien für deren Durchsetzung in einer Gesellschaft, etwa gegen amoralische Interessen, gegen eigensinnige Funktionssysteme oder auch gegen widerständige Traditionen und Orientierungssysteme, zu entwickeln. Diese Strategien sind alsdann auf ihre Moralverträglichkeit hin zu prüfen. 13

Vgl. die Beiträge von K.-O. Apel und D. Böhler, in: a. a. O.

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Kant hatte jene Konkretionsaufgabe nochmals vorkommunikativ, in Beschränkung auf eine vom einsamen Subjekt zu leistende, gedankenexperimentelle Anwendung des kategorischen Imperativs zu lösen versucht. Wie schon festgestellt, hat Max Weber, ohne jedoch an Kants methodologischem, nämlich transzendentalen Solipsismus Anstoß zu nehmen, dessen idealisierende, gleichsam innermoralische Orientierung als unzureichend kritisiert: als Leistung einer Gesinnungsethik, die blind sei für die unverantwortlichen Folgen, die ein unmittelbar moralgetreues Verhalten inmitten der »ethischen Irrationalität der Welt« haben könne. 14 In der Tat sieht sich der realistische Ethiker wie der ernsthaft Verantwortliche Gesinnungskonflikten ausgesetzt, weil die reale Welt Dilemmata bereithält, die in der Perspektive einer reinen Gesinnung unlösbar erscheinen. Karl-Otto Apel hat Webers Anstoß als ein eigenständiges, nämlich konkret geschichtsbezogenes Begründungsproblem ›B‹ der Ethik pointiert. 15 Meines Erachtens geht es um zwei Arten von geschichts- und situationsbezogenen Realisierungsfragen: einmal um die moralstrategische Durchsetzungsfrage, welche Widerständigkeiten gegen eine moralische (das Moralprinzip konkretisierende) Situationsnorm durch welche Strategien überwunden werden dürfen bzw. sollten, und andererseits um die moralkonservative Frage, welche ethischen Traditionen und Institutionen dem Moralprinzip entsprechen, so daß sie bewahrt bzw. entwickelt werden sollten. Die idealisierend prinzipienbezogene, intrinsisch moralische Konkretionsaufgabe besteht darin, vom abstrakt Prinzipiellen zu situationsbezogenen Maximen zu gelangen, welche den Stellenwert regulativer Sollensperspektiven in einer gegebenen Situation haben. Dabei geht es zuallererst um einen begrifflichen und methodischen Rahmen für die moralische Herausforderung angesichts der neuartigen Globalsituation, Siehe oben, Abschnitt II.5.2. Als Vorspiel: K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 426 ff. Ders., Diskurs (1988), S. 127–130, 138–141, 258 ff., 297 ff. Ders., Auseinandersetzungen (1998), S. 275 ff., 736 f. u. ö. Zur Diskussion vgl. D. Böhler, »Idee und Verbindlichkeit« (2000), bes. S. 63 ff., 199 ff. und K.-O. Apel, »Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft«, in: ders. u. H. Burckhart (Hg.), Prinzip Mitverantwortung (2001), bes. S. 74 ff. Andererseits M. H. Werner, Diskursethik als Maximenethik. Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung, Würzburg 2003, bes. S. 199 ff., 237 ff.

14 15

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nämlich um die Leitlinien einer neuen Zukunftsverantwortlichkeit. Dieser Orientierungsrahmen wäre alsdann interdisziplinär auszufüllen. Auf dieser Legitimationsebene – nennen wir sie mit Apel die Begründungsebene »A« der Diskursethik – können wir die reflexive Letztbegründung des Moralprinzips als ersten Begründungszug (A 1) von einem zweiten Zug (A 2), nämlich der diskursvermittelten Anwendung des Moralprinzips zur Normenrechtfertigung, unterscheiden. 16 Wenn Habermas von ›praktischen Diskursen‹ sprach, hatte er, bei kritischem bzw. realistischem Lichte besehen, an nichts anderes gedacht. Hat er dabei doch kontrafaktisch unterstellt, alle würden sich als Teilnehmer eines moralischen Diskurses verhalten, strebten mithin einen argumentativen Konsens an und seien mit dem guten Willen ausgestattet, die diskursiv gerechtfertigten Situationsnormen stets zu beachten. Daher konnte er durchgängig auf »allgemeine [sic!] Normenbefolgung« 17 und auf reine Verständigungsorientierung abstellen, ohne daß er diese normativen Gehalte des Diskursgrundsatzes ›D‹ für die reale Handlungsorientierung verantwortungsethisch, also moralstrategisch, differenziert hätte. Hingegen hat Apel eine solche situationsrealistische Differenzierung mit seinem, unglücklich so genannten, »Ergänzungsprinzip« der moralischen Grundnorm von vornherein ins Auge gefaßt, nämlich im Sinne eines moralstrategischen »Teils B der Diskursethik«. 18 Ist das angemessen und vor allem kompatibel mit dem Moralprinzip in Form des Diskursgrundsatzes ›D‹ ? Ja – freilich abgesehen von den verdinglichenden Bezeichnungen wie »Teil« und »Ergänzung«, welche der intrinsischen Zusammengehörigkeit des Moralprinzips mit seiner situativen Konkretion zuwiderlaufen. Als universalistisches Moralprinzip verlangt ›D‹, daß man auch diejenigen Situationen berücksichtigt und jene Sachzwänge prüft, die einer ausnahmslosen, allgemeinen Befolgung moralischer Normen entgegenstehen, genauer gesagt: welche deren Vgl. D. Böhler, »Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung«, in: K.-O. Apel u. M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik (1992), S. 201–231; ders., »Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil«, in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 135 ff. 17 J. Habermas, Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 53–126, bes. S. 103. 18 K.-O. Apel, Diskurs (1988), S. 256 ff., 270 ff. u. ö.; ders., Auseinandersetzungen (1998), Sachregister: »Diskursethik – Begründungsteil A und B«; ders., »Diskursethik und die systemischen Sachzwänge der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft«, in: M. Niquet, F. J. Herrero u. M. Hanke (Hg.), Diskursethik (2001), S. 181–204. 16

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ständige, unmittelbare und undifferenzierte Befolgung ins schier Unverantwortliche treiben können. So nämlich, daß aus dem Gutgemeint ein Schlechtgetan werden dürfte, aus der moralischen Gesinnung eine moralisch nicht zu rechtfertigende Folgelast für Dritte. Als Handlungsorientierung ist das diskursethische Moralprinzip auf situationsbezogene Differenzierung angelegt. Da es zur Bemühung um die argumentative Konsensfähigkeit der jeweiligen Handlungsweise verpflichtet, verlangt es die Berücksichtigung aller (legitimen) Ansprüche der möglichen Betroffenen, also das Sich-im-Diskurs-verantworten-Können – im Hinblick auf die Folgen und Nebenfolgen in dieser Situation. Daher bedarf es keines »Ergänzungsprinzips« und die Diskursethik keines anderen »Teils«. 19 Vielmehr zielt ›D‹ selbst auf eine situative, ggf. moralstrategische Konkretion, welche die Risiken der Handlungssituation berücksichtigt. Im Sinne einer Verantwortung für den Erfolg des Moralischen, d. h. für die praktische Bewährung des Moralprinzips in der Handlungswelt, kommt es auf die konterstrategische Durchsetzung seiner moralischen Gehalte an – gegen die Widerstände einer teilweise amoralischen Systemwelt und »ethisch irrationalen« Handlungswelt. 20 Schon in der realen Lebenswelt müssen wir, wie mehrfach dargelegt, damit rechnen, daß moralische und auch rechtliche Normen nicht allgemein befolgt, sondern z. B. egoistisch unterlaufen oder auch aus besonderen Verantwortungs- bzw. Fürsorgegründen (z. B. angesichts einer Notlage) dispensiert bzw. uminterpretiert werden. In den gesellschaftlichen Systemen kommt hinzu, daß beiderlei Normen neutralisiert oder gar konterkariert werden können durch die Eigensinnigkeit, den Selbstbehauptungscharakter und die ›Sachzwang-Macht‹ der gesellschaftlichen Systeme (wie Wirtschaft, Politik, aber auch Recht). Zudem kanalisieren und modifizieren Institutionen die normativen Gehalte ohnehin durch ihre Routinen und Mechanismen. Daraus ergeben sich zumindest zwei moralphilosophische Realisierungsaufgaben, die bei Jonas zwar anklingen, aber von ihm weder einVgl. die diesbezügliche Kritik an Apel: D. Böhler, »Diskursethik und Menschenwürdegrundsatz zwischen Idealisierung und Erfolgsverantwortung«, in: K.-O. Apel u. M. Kettner (Hg.), Zur Anwendung der Diskursethik (1992), S. 201–231. 20 Zum architektonischen Übergang vom idealisierten praktischen Diskurs zur erfolgsverantwortungsethischen Fragestellung: H. Gronke, »Apel versus Habermas: Zur Architektonik des Diskursethik«, in: A. Dorschel u. a. (Hg.), Transzendentalpragmatik (1993), S. 273 ff., bes. S. 232 ff. 19

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geführt und differenziert noch aus dem Moralprinzip abgeleitet werden. Es ist dies einmal die Prüfung, welche ethischen Institutionen und Traditionen dem Moralprinzip gerecht werden, so daß sie bewahrt und entfaltet werden sollten. Das wäre ein Diskursschritt B 1. Außerdem stellt sich die heikle Aufgabe, in theoretischen Diskursen, und durchaus in zweckrational strategischer Einstellung – die Tradition spricht hier verunklarend von »Klugheit« –, Durchsetzungsstrategien zu suchen, die zunächst einmal erfolgsfähig sein müssen. Das wäre eine zweckrational strategische Diskursstufe B 2. Dann steht die moralische Legitimationsaufgabe an, in praktischen Diskursen zu prüfen, welche der entwickelten Strategien, die wir als erfolgsfähig einschätzen, derart mit dem Moralprinzip vereinbar sind, daß sie als (für die Beteiligten) zumutbar gelten können und gegenüber den Betroffenen verantwortbar sind. Das wäre die eigentlich moralstrategische Diskursstufe B 3, also die spezifisch verantwortungsethische Erörterung. Erforderlich ist dazu ein Moralprinzip mit Kriterien für die rationale Abwägung jener Folgelasten, welche eine moralische Konterstrategie sowohl für die schutzwürdigen Moral-, Freiheits- und Kulturgüter einer Gesellschaft nach sich ziehen kann als auch für die durchaus verschiedenartigen »Betroffenheitslagen«, die »komplexen Entwicklungspfade« der Gesellschaften. 21 Das führt Micha H. Werner gegen Jonas’ »Prinzip Verantwortung« ins Feld, welches er als bloße Vermeidungsethik liest. In der Tat wäre eine bloß vermeidungsethische Fassung des Moralprinzips – ›Vermeide die Vernichtung der Menschheit!‹ – unzureichend. Es bedarf mehr als eines reinen Bewahrungsprinzips und mehr als einer Ergänzungsethik. Doch bietet Jonas dazu nicht Ansätze? Sein phänomenologischer Umgang mit ethischen Intuitionen ist auch für die Herausarbeitung der normativen Gehalte des Moralprinzips fruchtbar – jedenfalls, wie bemerkt, als motivationale Heuristik. Allerdings betrifft Jonas’ Beitrag eher die Konkretionsaufgabe, sprich die Ebene A 2 in transzendentalpragmatischer Architektonik, als die Entwicklung und Prüfung moralischer Strategien, also die realistische Verantwortungsebene B. 21 M. H. Werner, »Erfaßt das ›Prinzip Verantwortung‹ die Probleme moderner Technologie?«, in: W. E. Müller (Hg.), Hans Jonas. Von der Gnosisforschung zur Verantwortungsethik, Stuttgart 2003 (zit.: Hans Jonas (2003)), S. 227–243, hier S. 233 f. Ders., »Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung«, in: M. Düwell u. K. Steigleder (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2003, S. 41–56, hier S. 43 f.

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Das, worauf Jonas mit seinem »Prinzip Verantwortung« reagiert, ist neben der Erosion der Idee der Menschenwürde bzw. der Gottesebenbildlichkeit des Menschen zumal die äußere Herausforderung der praktischen Vernunft durch die, von der technologisch kapitalistischen Zivilisation verursachten, Gefährdungen der Menschheit in der Natur. Die transzendentalpragmatischen bzw. dialogpragmatischen Diskursethiker teilen seine Gefahrenanalyse im wesentlichen, wenngleich sie das Erfordernis einer – möglichst durch öffentliche Verständigung mit den Beteiligten und je unterschiedlich Betroffenen zu ermittelnden und daher wahrheitsfähigen – Interpretation der Bedürfnisse und Betroffenheitslagen betonen, während Jonas allgemein von der neuen Bedrohung der Menschheit ausgeht und diese generelle Bedrohungslage eher in theoretischer Einstellung analysiert. Außerdem heben sie hervor, daß mit den äußeren Herausforderungen der praktischen Vernunft eine innere verbunden sei, welche auch zur Relativierung der Menschenwürde führt: eine »Selbstparalyse der Vernunft« (Apel) infolge der vorherrschenden Gleichsetzung von Vernunft mit theoretisch analytischer und zweckrational kalkulierender Rationalität. Daraus ergeben sich bei Jonas und den Transzendentalpragmatikern unterschiedliche Ansätze. Jonas’ Analyse der äußeren Herausforderung der praktischen Vernunft führt ihn zunächst zu drei Erweiterungen des Problemhorizonts der Ethik, die sich mit den Begriffen der drei Auswirkungsdimensionen menschlichen Verhaltens in der technologischen Zivilisation präzisieren lassen, die Karl-Otto Apel 1973 eingeführt hatte. 22 Die Dimension der ethischen Probleme sei in der Tradition räumlich und zeitlich eingeschränkt gewesen, auf das Verhalten zwischen Personen, also auf eine soziale Mikrodimension, und dann, politisch ethisch, auf das Verhältnis zwischen Staaten und Völkern in der politischen Mesodimension. Nun führe aber, so Jonas, die technische Praxis neuartige Faktoren in die »moralische Gleichung« ein, insbesondere die hochtechnologische »Unumkehrbarkeit, im Verein mit ihrer zusammengefaßten Größenordnung«. 23 Daraus, daß die Wirkungen des hochtechnologisch vermittelten Kollektiv- und Systemverhaltens zunehmend weder räumlich noch zeitlich eingrenzbar sind, ergibt sich die 22 K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 359–361. Ders., »Die Situation des Menschen als Herausforderung an die praktische Vernunft«, in: Funkkolleg: Dialoge (1984), Bd. 1, hier S. 49 ff. 23 H. Jonas, PV (1979), S. 27.

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qualitativ neue, zumal ökologische Makrodimension. Die drei Dimensionen lassen sich mit Rückgriff auf das »Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik« (Erstausgabe 1980/81) erläutern.

IV.2.1 Mikro-, Meso-, Makro- und Tiefendimension des zu Verantwortenden – eine paradoxe Wissenspflicht Ethische Probleme treten gegenwärtig in drei verschiedenen Auswirkungsbereichen menschlicher Handlungen auf: in einem Nah- oder Mikrobereich der unmittelbaren Interaktion zwischen Menschen im sog. Privatleben, in einem Mittel- oder Mesobereich der Interaktion politischer Handlungssubjekte, welche Gruppen- oder Nationalinteressen vertreten, und schließlich in einem Groß- oder Makrobereich solidarischer Verantwortung der Menschheit für das Lebensinteresse der menschlichen Gattung, bezogen auf die Gegenwart und auf die kommenden Generationen. Darüber hinaus zeigt sich weltgeschichtlich erstmals, daß ethisch bedeutsame Entscheidungs- und Regelungsprobleme des Mikro- und Mesobereichs heutzutage die Tendenz haben, zu solchen des Makrobereichs zu werden: Z. B. wird das scheinbar private Intimsphärenproblem der Geburtenregelung zu einer Streitfrage internationaler Konferenzen über die Gefahren einer Überbevölkerung der Erde. Und die klassischen Probleme der politischen Staatsräson – so etwa die der Diplomatie und ihrer militärischen Fortsetzung – nehmen im Atomzeitalter auf den Abrüstungskonferenzen der Weltmächte eine neue Dimension an, die schon deshalb nicht nur machtstrategisch, sondern auch moralisch relevant ist, weil das Überleben der Menschheit davon abhängen kann. In den dreißig Jahren, die seit jener Analyse vergangen sind, haben sich die Probleme zum Teil erheblich zugespitzt. So hat sich das Atomproblem von der Mesoebene her dramatisiert. Man denke an die Konflikte der nördlichen Atommächte mit Iran und mit Nordkorea, zuvor mit dem Irak Saddam Husseins. Außerdem geht die atomare Rüstung der Großmächte weiter, wenngleich die USA und Rußland im April 2010 in dem neuen Strategic Arms Reduction Treaty eine Verkleinerung ihrer Bestände an strategischen Atomsprengköpfen und Trägersystemen vereinbart haben. Doch der zugrundeliegende Atomwaffensperrvertrag bezieht nicht die Atommächte Indien, Israel, Nordkorea 419 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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und Pakistan ein, wohingegen der Iran dem Vorgängervertrag noch unter Schah Reza Pahlewi beigetreten war. Vielleicht noch dramatischer ist das Makroproblem der Atomenergie zur Stromerzeugung. Hier bestehen die, nach allem, was wir wissen, nie verantwortlich lösbaren Probleme sowohl der Endlagerung des hoch radioaktiven Abfalls als auch eines sicheren Betriebs der Atomkraftwerke. Selbst in einem hochtechnologisch perfekt ausgerüsteten Land bringt ein Kernkraftwerk die tödliche Gefahr der Kernschmelze mit sich. Seit 2011 hat sie einen japanischen Namen: Fukushima. Zudem leidet die Zukunftsverantwortung unter einem globalen Turbo-Finanzkapitalismus: Unkontrollierte finanzkapitalistische Investment-, Bank- und Börsenspekulationen, welche in Sekundenschnelle Milliardenbeträge virtuellen Geldes um den Globus jagen, gefährden die Bedingungen für nachhaltige Entwicklung, für Zukunftsbzw. Umweltinvestitionen. Hinzukommt eine gigantische Schuldenpolitik nicht allein Deutschlands, sondern führender Weltmächte wie der USA und der Europäischen Union. So ist der deutsches Bundeshaushalt mit mehr als zwei Billionen Euro Schulden belastet. Diese Unsummen gehen zu Lasten der Nachkommen. In Europa kommen die kaum vorstellbaren Belastungen riskanter »Rettungsschirme« für das z. T. verantwortungslose Bankensystem bzw. für den Euro hinzu. Sie legen das sowohl umweltpolitisch als auch sozialpolitisch – Jugendarbeitslosigkeit! – so dringlich benötigte Kapital fest, und zwar im Sinne der umweltzerstörerischen »Wachstums«-Perspektive. All das verschlechtert die Realisierungsbedingungen der Zukunftsverantwortung dramatisch. Woher sollen die Staaten die notwendigen Mittel nehmen – für die Stillung des Welthungers und -durstes, – für die Tilgung der Klimaschäden, für die Einrichtung einer klimafreundlichen Energieversorgung, – für eine nachhaltige Umweltpolitik samt Finanzierung einer Rettung der Regenwälder, – für die Konversion der militärischen und zivilen Atomindustrie usw.? Auch und gerade finanzökonomisch verschärfen sich die ökologischen und ökologisch-ökonomischen Makroprobleme der menschlichen Verantwortung. Ohnehin haben sie sich durch die Reduzierung der Ozonschicht und den verharmlosend sogenannten Klimawandel, aber auch durch Welthunger, Wasserprobleme und -mangel, Feinstaub in den letzten dreißig Jahren erheblich zugespitzt. 420 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

IV.2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik

Schließlich ist ein vierter Verantwortungsbereich zu berücksichtigen, den Hans Jonas seit den siebziger Jahren aufgedeckt hat. Es ist gewissermaßen die Tiefendimension der Zukunftsverantwortung für Gehalt und Verbindlichkeit der Moral und letztlich des Moralprinzips. Sie ergibt sich aus der faktischen Tendenz zur Unterordnung sowohl des moralischen Orientierungsbegriffs ›Menschenwürde‹ als auch naturethischer Intuitionen wie ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ unter persönliche Interessen des Mikrobereichs oder partikulare Interessen des Mesobereichs. Im Mikrobereich werden vom medizintechnischen Fortschritt Heilungswünsche lebensbedrohender Krankheiten wie Morbus Parkinson, Multiple Sklerose und Diabetes mellitus angesprochen oder auch der Wunsch kinderloser Ehepaare nach eigenen Kindern (In-vitro-Fertilisation). Die angebotenen Techniken können mit der moralischen Prinzipienorientierung, vor allem dem Menschenwürdegrundsatz, kollidieren. Eine solche Kollisionsmöglichkeit besteht im Falle der »verbrauchenden« Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen und im Falle der Reproduktionstechnik »PID«. Im Falle der Stammzellforschung ergibt sich eine derartige Kollision auch im Mesobereich, der Medizinindustrie. Ein deutsches Beispiel ist Oliver Brüstle als Forscher an Humanstammzellen, der zugleich Unternehmer in dieser Sache ist. Was Jonas in seiner Analyse der ökologischen Makroprobleme zudem hervorhebt, ist die kumulative Dynamik der Auswirkungen technologischer Projekte und technologisch vermittelter Alltagshandlungen: »Gewisse Wirkungen addieren sich, so daß die Lage für späteres Handeln und Sein nicht mehr dieselbe ist wie für den anfänglich Handelnden, sondern zunehmend davon verschieden und immer mehr ein Ergebnis dessen, was schon getan ward.« Hingegen habe »alle herkömmliche Ethik […] nur mit nicht-kumulativem Verhalten« gerechnet. 24 Naiv erscheint Jonas auch der Erkenntnisbezug des traditionellen ethischen Urteils. Mit Recht, denn sowohl die zumal aristotelisch-thomasische Ethik des guten Lebens, gewissermaßen eine Wert- oder Glücksethik, als auch die von Kant inspirierte normative Ethik des Sollens und der moralischen Pflicht gingen wie selbstverständlich von der Voraussetzung aus: Da die sittlichen Probleme aus dem ›mir‹ jeweils vertrauten »Nahkreis des Handelns« entspringen, kann ›ich‹ alleine, und zwar aufgrund des alltagsweltlichen Erfahrungswissens und 24

Ebd.

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Zukunftsverantwortung und Menschenwürde

Common sense auch erkennen, was moralisch richtig bzw. praktisch gut ist. 25 Demgegenüber pointiert Jonas, daß die kumulative technologische Veränderung der Welt »lauter präzedenzlose Situationen« schaffe, für die »die Lehren der Erfahrung ohnmächtig« seien, woraus er die Konsequenz zieht: »Unter solchen Umständen wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht […], und das Wissen muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns größengleich sein.« 26 In der Tat sehen wir uns dem neuen moralischen Erfordernis gegenüber, uns jeweils das bestmögliche Folgenwissen zu beschaffen. Diese Einsicht war es, die einen grundlegenden Aspekt der Diskursethik hervorgebracht hat: das Postulat, heute und künftig müsse die Ethik mit empirisch-theoretischen Diskursen über die jeweilige Situation verbunden werden. Denn wie anders sollte das zur moralischen Urteilsbildung erforderliche fernhinreichende, beispielsweise ökologische, Situations- sowie Folgenwissen gewonnen und dann verantwortlich eingesetzt werden? Allein, die konkreten praktischen situationsbezogenen Diskurse über die Frage, was wir in einer bestimmten Situation tun sollen, sind grundsätzlich fallibel. Hängen sie doch ab von der empirisch-theoretischen Wissensbildung, welche irrtumsfähig ist, weil sie von Theorien getragen wird. Dann aber gilt es, die damit gegebene Fehlbarkeit auch praktisch ernstzunehmen. Wie? Indem man, soweit möglich, die Revisionsfähigkeit der praktischen Urteile gewährleistet und für eine Kompensationsfähigkeit der situationsbezogenen Maßnahmen Sorge trägt. Eine ähnliche Überlegung findet sich bei Jonas. Dabei gelangt er zu einer ernüchternden Statusüberlegung jener Einsicht, deren wissenschaftstheoretischer Gehalt nicht allein mit der Diskursphilosophie, sondern auch mit einer Grenzerkenntnis Karl R. Poppers übereinkommt 27: Das Folgenwissen in nicht-geschlossenen Systemen, also etwa für die geschichtliche Welt und die Biosphäre der Erde, kann nicht das der (exakten) bedingten Prognose sein. Folglich bleibt es stets unzulänglich. Die Pflicht zur Wissensbeschaffung läßt sich empirischtheoretisch nur unzureichend einlösen, weil das empirische WissenkönA. a. O., S. 23 ff. A. a. O., S. 28. 27 Vgl. K. R. Popper, »Naturgesetz und theoretische Systeme«, in: H. Albert (Hg.), Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1964, S. 87–102. 25 26

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nen in der Makrodimension auf prinzipielle Grenzen stößt. Erkennt man aber als Diskurspartner, der nach dem moralisch Richtigen sucht, diese Grenze des empirisch-theoretischen Wissens, so ist man schon im Begriff, sie moralisch-praktisch zu überschreiten. Hier eröffnet sich eine theoretisch-praktische Dialektik der Grenze. Die Einsicht in das empirisch-theoretische Nichtwissen indiziert nämlich eine moralischpraktische Orientierung – die einer Vorsichtspflicht. Genau diesen dialektischen Reflexionsweg geht Jonas, indem er pointiert, daß sich aus der Nichtprognostizierbarkeit der ökosozialen Technologiefolgen ein paradoxes Ausgangsproblem der Verantwortungsethik als normativer Wissensethik ergibt: »Daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Unwissenheit wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit ein Teil der Ethik« 28. Wenn wir diese Überlegungen im Vorfeld einer Zukunftsethik zuschärfen und dabei auf spätere Begründungsargumente vorgreifen, erkennen wir eine dialektische (Selbst-) Verpflichtung im Vorfeld der Zukunftsverantwortung. Sie basiert auf der Vernunftrolle des glaubwürdigen Diskurspartners und führt zu einer forschungspolitischen Vorsichts- und einer umweltpolitischen Nachhaltigkeitspflicht, was sich als Schluß aufgrund zweier Prämissen (A und B) darstellen läßt.

A

28

A: Bemühung um Vernetzungs- und Global-Erkenntnis als Pflicht – B: Fallibilitätsbewußtsein und globales Vorsichts- sowie Rücksichtsverhalten als Pflicht Einerseits ergibt sich daraus, daß wir als Diskurspartner (argumentativ unhintergehbar) mit Anspruch auf Wahrheitsfähigkeit Handlungsweisen beurteilen und entsprechend handeln wollen, sowie daraus, daß die Wirkungen unseres Verhaltens uns nicht mehr durch Sehen und Hören oder aufgrund des überlieferten Common sense zugänglich sind, die Verpflichtung, sich eigens um eine Erkenntnis unserer Handlungsnebenfolgen zu bemühen. (Als Imperativ formuliert: ›Beteiligt euch an den empirisch-theoretischen Diskursen! Beschafft euch so viel Folgenwissen wie möglich!‹) H. Jonas, PV (1979), S. 28.

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Zukunftsverantwortung und Menschenwürde

B

Andererseits reicht das Folgenwissen in der offenen geschichtlichen Welt und in der selbstlebendigen Bio- und Ökosphäre nie zu. Zudem bleibt es sehr fehleranfällig; geschweige, daß sich aus ihm exakte bedingte Prognosen ableiten ließen, die wir in verläßliche Wenn-dann-Handlungsregeln gießen könnten. Ergo: ›Laßt euch nur auf solche Maßnahmen, Techniken etc. ein, deren Folgen sich kompensieren lassen. So nämlich, daß sie mit der Rücksicht gegenüber den möglichen Betroffenen – auch und gerade den zukünftigen Betroffenen – vereinbar sind, was insbesondere die ökologische Nachhaltigkeit einschließt.‹ Grund der Verbindlichkeit: Mit eurer Vernunftrolle als glaubwürdiger Diskurspartner habt ihr den Geltungsanspruch der argumentativen Konsensfähigkeit erhoben, der die Berücksichtigung der guten Gründe seitens möglicher Betroffener einschließt. Das, was die Transzendentalpragmatiker darüber hinaus vorbringen, ist eine diskurs- und wissenschaftspragmatische Einsicht von dialogethischer Tragweite: Bereits das Kernstück der naturwissenschaftlich technologischen Rationalität, das empirisch-theoretische Wissen, läßt sich, weil es wahrheitsfähiges Wissen sein will, das als solches von Anderen anerkannt sein will, allein in der dialogischen und daher moralisch geladenen Form eines Diskurses unter gleichberechtigten Argumentationspartnern geltend machen. Daher setzt auch der Naturwissenschaftler beispielsweise voraus, daß er andere Wissenschaftler – logisch gesehen aber alle möglichen kompetenten Diskursteilnehmer – als gleichberechtigte Diskurspartner achten soll und eigentlich auch will. Denn er ist es, der ihnen gegenüber Ansprüche auf Geltung seiner Thesen, Theorien und Experimentresultate erhebt. Schon die Aufdeckung dieser unausweichlichen Anerkennung der anderen Diskursteilnehmer als solcher zeigt, daß die Herausarbeitung der dialogischen Form des Wissens moralisch von Belang ist. 29 Hier kommt die Diskursethik, als genitivus subiectivus verstanden, ins Spiel: Als Ethik der Geltungsdiskurse ist sie eine normative Ethik K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 324 ff., 395 ff. D. Böhler, »In dubio contra projectum«, in: ders. (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), bes. S. 255 ff., 268 ff. Ders., »Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik« (1998), bes. S. 143–163.

29

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für das Verhalten von Diskursteilnehmern. Die Grundfrage lautet hier: ›Wozu sind wir als Diskurspartner eigentlich verpflichtet?‹ Und die erste Antwort ist: ›Wenn wir auf uns als Subjekte von Wahrheitsansprüchen reflektieren, erkennen wir, daß wir solche Ansprüche allein dann glaubwürdig und ohne Selbstwiderspruch erheben können, wenn wir die (möglichen) anderen Teilnehmer als Gleichberechtigte achten und uns um eine argumentative Konsensbildung bemühen.‹ Aus der diskurspragmatischen Dimension der wissenschaftlichen Forschung – das Forschen ist eben auch ein Geltendmachen von Hypothesen und Theorien bzw. ein Kritisieren solcher, mithin ein argumentativer Diskurs – läßt sich eine implizite Wissenschaftsethik als Ethik der Diskurspartner erschließen. Den Anstoß zu dieser diskursethischen Einsicht gab Charles Sanders Peirce 30, an den Apel mit der Idee des Kommunikationsapriori 31 und Böhler mit dem Programm einer »rekonstruktiven Pragmatik« 32 angeknüpft haben, und zwar so, daß Karl Poppers Postulat der offenen Gesellschaft von dem schwachen Status einer plausiblen Entscheidung abgelöst und als logisch notwendige Idee begründet werden konnte. Das Ethos des selbstkritischen Forschers in einer offenen Gemeinschaft läßt sich nämlich als angemessene Entsprechung zur intersubjektiv dialogischen Form des Beanspruchens und Geltendmachens einer Erkenntnis aufweisen. Denn das Erheben von Geltungsansprüchen schließt Moralität ein – zunächst in Form der Anerkennung substantieller moralischer Verpflichtungen gegenüber allen möglichen Diskurspartnern. Und ein solcher Aufweis impliziert die Einsicht, daß jenes Ethos nicht eine bloße Entscheidungsangelegenheit des Wissenschaftlers ist, sondern die Konsequenz aus seinen Geltungsansprüchen a priori. Popper erliegt also einem dezisionistischen bzw. existentialistischen Selbstmißverständnis. Wenn in den Sinnvoraussetzungen der wissenschaftlichen Rationalität und generell in denen des Argumentierens moralische Verbindlichkeiten aufweisbar sind, dann ist Vernunft eine dialogische Praxis des Dazu: K.-O. Apel, »Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik«, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), S. 157–177, bes. S. 173 ff. Ders., The Response (2001), S. 58 f. Ders., Denkweg (1975). 31 K.-O. Apel, »Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion«, in: ders., Transf. d. Philos., II (1973), S. 311 ff., bes. 327 ff. Ders., »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, in: a. a. O., S. 358 ff. 32 D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), Kap. II und VI. 30

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Argumentierens – mithin kein bloßes Vermögen des Analysierens und Rechnens, als das sie seit Hobbes vom Mainstream angesehen wird, sondern auch moralisch orientierend und verpflichtend. Dann ergibt sich eine moralisch bedeutsame Selbsterkenntnis der Vernunft, welche die moderne Infragestellung der praktischen Vernunft als gegenstandslos erweist – als Selbstverfehlung der unhintergehbaren Begleitpraxis des Geltung-Beanspruchens und Etwas-Geltendmachens. Dieser transzendentaldialogische Vernunftbegriff steht gegen den Zeitstrom. Er antwortet auf eine prekäre Verbindung der verwissenschaftlichten Zivilisation mit der säkularisierten liberalen Gesellschaft. Diese Verbindung läßt sich mit Apel als das westliche »Komplementaritätssystem« rekonstruieren: »Die Komplementarität zwischen wertfreiem Objektivismus der Wissenschaft einerseits, existentiellem Subjektivismus der religiösen Glaubensakte und ethischen Entscheidungen andererseits erweist sich als der moderne philosophisch-ideologische Ausdruck der liberalen Trennung zwischen öffentlichem und privatem Lebensbereich, der sich im Zusammenhang mit der Trennung von Staat und Kirche herausgebildet hat.« 33 Es fügte sich paßgenau in die zunehmend verwissenschaftlichte Zivilisation, daß zumal seit Max Weber und Karl R. Popper die Tendenz besteht, einerseits die wissenschaftlich-theoretische Ratio und das Kalkül der Zweckrationalität als die Vernunft schlechthin zu monopolisieren, andererseits Wert- und Normfragen zu einem ›act of faith‹ (Popper), einem existentiellen und irrationalen Entscheidungsakt, zu subjektivieren. Diese auch von Jonas berührte Komplementarität 34 führt dazu, daß die Idee einer praktischen Vernunft als illusorisch angesehen wird. Es erscheint nunmehr als sinnlos, moralische Ansprüche auf der Ebene des Erweisbaren prüfen und rein argumentativ darüber befinden zu wollen. Eine Frage wie die nach dem »Vorrang eines Ziels gegenüber anderen unter dem Aspekt der Vernunft zu diskutieren«, gilt als unmöglich. 35 Vernunft schrumpft, so Horckheimer, zur »instrumentellen Vernunft«: auf formale Logik plus theoretisch-empirische

33 K.-O. Apel, Transf. d. Philos., II (1973), S. 370, vgl. 361–378. Weiterentwickelt in: ders., »Die Selbstinfragestellung der praktischen Vernunft in der Gegenwart«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 1, S. 130–137. Vgl. ders., Diskurs (1988), S. 26–36, 58 ff. 34 H. Jonas, PV (1979), S. 57. 35 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, hg. von A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1967, S. 17.

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IV.2 Hans Jonas, Karl-Otto Apel und die Berliner Diskursethik

Rationalität samt Zweck-Mittel-Kalkül. Die zugrundeliegende Komplementarität läßt sich so pointieren: 36 Auf der anderen Seite … steht eine Verdrängung aller moralischen Wert- und Normgesichtspunkte in den Bereich des rational nicht Erschließbaren bzw. des Irrationalen und Subjektiven, welche Entwicklung sich gesellschaftspolitisch in der Privatisierung der moralischen Urteilsbildung und der Trennung von Kirche und Staat durch den Liberalismus und philosophisch in den Strömungen des Existentialismus und Dezisionismus als Zurückführung aller Normen und Werte auf bloße Entscheidungen niedergeschlagen hat.

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Fürsorge 8 > > > > > > > >
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Abb. 15:

praktische Asymmetrie

Zukunftsverantwortung und Menschenwürde

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IV.7 Ist Atomenergie verantwortbar?

Gegenüber, während sich der Geltungsaspekt aus der, damit von vornherein verbundenen, dialogischen und schon deshalb moralisch geladenen Rechtfertigungssituation ergibt. Erst beide Aspekte, miteinander und ineinander, machen den vollen Sinn von ›Verantwortung‹ aus. Zur Verantwortung gehört von vornherein das Sich-Verantworten, die Rechtfertigung des Warum und des Wie. Der bzw. die Fürsorgende muß sich mit Argumenten konkret verantworten können gegenüber den Ansprüchen seines/ihres Fürsorgegegenstands. Das gilt auch dann, wenn dieser selbst faktisch keine Ansprüche erheben, wohl aber ein »moralisches Mandat« beanspruchen kann. 163 – Wie weit dieses moralische Mandat trägt, ob es z. B. auch den Menschenwürdeanspruch bzw. den (vollen) Menschenwürdeschutz kleinster Menschlein einschließt, jedenfalls auch den von Embryonen, ist aber in der Öffentlichkeit umstritten und bedarf dringend der Klärung. In Abschnitt IV.9.2 kommen wir darauf zurück. Zunächst stellen wir uns jedoch dem ersten verantwortungsethischen Großproblem, das aus der Hochtechnologie, nämlich der erst militärischen, dann energietechnischen Anwendung der Atomspaltung, erwachsen ist. Es hat das Mensch-Natur-Verhältnis dramatisch verändert.

IV.7 Ist Atomenergie verantwortbar? Die Menge der Naturgüter, über die die Menschheit (noch) verfügen kann, ist begrenzt; und angesichts der gewaltigen, stets noch wachsenden Erdbevölkerung handelt es sich um eine ausgesprochene Knappheit. Zudem sind mittlerweile die natürlichen Lebensgrundlagen vielfach nicht nur gefährdet, sondern in ganzen Regionen bereits so dezimiert, daß Durst und Hunger das Leben in einen permanenten Krisenkampf verwandelt haben oder ein Überleben aus eigener Kraft unmöglich machen. Ein prekäres Drittes kommt aus der Natur immer hinzu. Schließlich birgt die Erde in sich selbst nicht wenige Gefahrenquellen wie zum Beispiel Erdbeben, Wirbelstürme, Vulkanausbrüche, Sturmfluten. Dieser dreifachen Mißlichkeit entsprechen haushälteri163 J. P. Brune, »Menschenwürde und Potentialität: Eine diskursethische Skizze«, in: H. Burckhart u. H. Gronke (Hg.), Philosophieren (2002), S. 425–446, hier S. 443. Ders., Moral und Recht. Zur Diskurstheorie des Rechts und der Demokratie von Jürgen Habermas, Freiburg/München 2010 (zit.: Moral und Recht (2010)), bes. S. 458 ff.

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sche Forderungen und ökologische Gerechtigkeitsmaximen: schonender Umgang mit den Naturressourcen, »Gerechtigkeit im Zugang zu ihnen und hinsichtlich ihrer Verteilung« 164 und etwa das Verbot, zusätzliche Gefahrenquellen in das System Erde einzubauen und sie den Nachkommen »als unveränderbares Faktum aufzuzwingen«. 165 Die haushälterische Maxime der Nachhaltigkeit zeigt sich hier als Anwendung des Prinzips Zukunftsverantwortung. Bereits die genannten Naturgesichtspunkte sind gesellschaftliche Aufgaben. Doch verbindet sich damit eine genuin politische Aufgabenstellung, und zwar der politischen Gerechtigkeit. Denn ebenso die Zeitgenossen wie die Nachfahren haben den in einem argumentativen Diskurs zwar prüfbaren und in seinen Folgen zu verantwortenden, aber im Grundsatz unbestreitbaren Daseinsanspruch, ihr Leben (in verantwortbarem Rahmen) nach ihren individuell und kulturell verschiedenartigen Vorstellungen frei zu gestalten – so, wie auch wir es wollen. Anderen, z. B. den Nachfahren, diesen Grundanspruch streitig zu machen, wäre ungerecht und, im Diskurs, selbstwidersprüchlich. Die Anerkennung dieses Grundanspruchs schließt die Gerechtigkeitspflicht ein, ausschließlich so in die Umwelt einzugreifen, daß die damit einhergehenden Veränderungen der Ökosphäre nicht zu langfristigen, ja vermutlich irreversiblen Einschränkungen der natürlichen Lebensbedingungen und der politischen Freiheit führen. Das leuchtet ein, mögen Sie, verehrte Leser, die der Argumentation bis hierher gefolgt sind, mir zugestehen. Freilich begegnen wir auf der Suche nach Wahrheit und Richtigkeit stets dem Skeptiker, auch dem Skeptiker in uns. Er tut uns, wenn wichtige neue Probleme anstehen, nicht den Gefallen, vorhergegangene Grundsatzargumentationen ohne weiteres darauf anzuwenden, sondern beginnt von neuem. Für die neue Problemsituation, in der man ihm mit neuen oder neu erscheinenden Pflichten kommt, fragt er wiederum nach tragenden Begründungen, letztlich nach einem Verbindlichkeitserweis. Ohne diesen kann er nämlich nur faktisch zu etwas verpflichtet sein, und zwar zu dem, wozu er sich vertraglich gebunden hat. Hier aber geht es um einsehbare mora164 So G. Altner, »Nachhaltigkeit – über die ›fast‹ ausweglosen Schwierigkeiten des gesellschaftlichen Diskurses, in der Festschrift zu meiner Emeritierung: J. O. Beckers, F. Preußger u. Th. Rusche (Hg.), Dialog – Reflexion – Verantwortung. Zur Diskussion der Diskurspragmatik, Würzburg 2013 (zit.: Dialog (2013)), S. 297–314. 165 So R. Spaemann, Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter, Stuttgart 2011 (zit.: Nach uns die Kernschmelze (2011)), S. 73.

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IV.7 Ist Atomenergie verantwortbar?

lische Verpflichtungen, die einen einzelnen nicht als besondere Person sondern in seinen Rollen als Mitglied der Menschengattung und als möglichen Diskursteilnehmer – im atomaren Zeitalter – betreffen. Um solche Verpflichtungen zu erweisen, wähle ich ein vierschrittiges Diskursverfahren. Erstens bringe ich, nachdem wir es kriteriologisch zugespitzt haben, Jonas’ Gedankenexperiment der Wette als Konkretion des argumentativen Konsensprinzips ›D‹ ins Spiel, indem ich zweierlei Fragen stelle: einmal die prinzipielle Seminarfrage (A), ob eine Option für Atomenergie überhaupt diskurskompatibel ist, nämlich vereinbar mit der Vernunftrolle des glaubwürdigen Diskurspartners. Zum anderen drängt sich die verantwortungsethische Zeitfrage (B) auf, ob entweder eine fortgesetzte Nutzung der Atomenergie oder aber ein (zunächst nur nationaler bzw. weltregionaler) Verzicht darauf verantwortbar ist; nämlich zur Zeit globaler Klimaveränderung und einer zugleich zivilen wie militärischen Atomtechnologie, die sich über die Welt ausdehnt. Vor diesem Hintergrund vergewissere ich mich zweitens, ob der Rückgriff auf Jonas in Sachen Atomenergie berechtigt ist, wo er hier selbst doch nicht prinzipienbezogen argumentiert sondern eine »pragmatische« Einschätzung abgibt. In Abschnitt IV.7.2 erweitere ich – drittens – den Diskussionshorizont durch eine Auseinandersetzung mit Robert Spaemanns Beurteilung der Atomenergie, deren metaphysische Denkweise komplementär zur dialogpragmatischen ist: Lassen sich solche wertontologischen Argumente – verwandt sowohl mit Jonas als auch mit dem katholischen Naturrecht – rational und diskursverbindlich machen, so daß ihnen auch der Skeptiker zustimmen muß? Zu guter Letzt kläre ich, viertens, den logischen Stellenwert der sokratisch dialogreflexiven Argumentation, die ich hier auf das Problem der Atomenergie anwende: Sie läuft auf eine eigenständige Diskursform hinaus, auf einen kurzen praktischen Reflexionsdiskurs, geführt in reflexiv sinnkritischer Manier. 166 Dank dieses reflexiv dialogischen Ansatzes läßt sich widerlegen, was der Diskursethik des öfteren – und durchaus peinlich – vorgehalten wird, daß sie nämlich formalistisch bzw. inhaltsarm sei, weil sie nicht weiter als zum Verbindlichkeitserweis des Moralprinzips gelange und die moralischen Konflikte den konkreten situativen Diskursen überlasse. Die aber sind, wie die Diskursethi166

Vgl. oben, Abschnitt III.4.6.

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ker selbst betonen, fehlbar, weil von zahlreichen empirischen Bedingungen und theoretischen Annahmen bzw. Situationseinschätzungen abhängig. Sie können so oder anders ausgehen und schaffen keine Verbindlichkeit. Werden am Ende die Ratsuchenden von der Diskursethik mehr oder weniger im Stich gelassen? Dann sähe sich, wer verbindlich moralische Orientierung sucht, letztlich doch auf das moderne Komplementaritätssystem zurückgeworfen: entweder moralische Orientierung, aber Verzicht auf Rationalität, oder Rationalität, aber Verzicht auf moralische Orientierung. Wenn die Diskursethik, wie es bei Apel allerdings den Anschein hat, nichts als die Letztbegründung des Moralprinzips einerseits und die falliblen situativen Diskurse andererseits zu bieten hätte, dann wäre dieser Einwand in der Tat nicht unberechtigt. Anders sieht es jedoch aus, wenn die Diskursethik sowohl aktuell reflexiv begründet als auch aktuell reflexiv auf Konfliktsituationen bezogen wird: in Form kurzer reflexiver Diskurse, die prüfen, ob die vorgeschlagene oder praktizierte Handlungsweise vereinbar ist mit der Diskurspartnerrolle. Es geht um die Legitimitätsprüfung einer Handlungsweise durch Konfrontation mit der Vernunftrolle des Diskurspartners. Während die jeweilige Handlungsweise mit besonderen Interessen verbunden ist und besondere (empirische) Interessen Betroffener beeinträchtigen kann, ist die Urrolle des Diskurspartners mit den allgemeinen Interessen des Gattungserhalts und der Menschenwürde unbestreitbar verwoben. Beweis: Ein Diskurspartner, der die Verbindlichkeit dieser Interessen in Zweifel zöge, machte sich unglaubwürdig; er spränge aus dem Diskurs hinaus. Steht nun die Handlungsweise ›Energieversorgung durch Atomkraft‹ zur Prüfung an, so bricht der Konflikt zwischen partikularen Gegenwartsinteressen und menschheitlichen Zukunftsinteressen auf. Läßt er sich auf dem Wege des kurzen Reflexionsdiskurses lösen? So weit der Vorblick auf die Argumentation dieses Kapitels. Nun zum ersten Diskursschritt. Der Kernbestand des Diskursprinzips ›D‹ muß, wie des öfteren gezeigt 167, von jedem, der wirklich etwas erkennen will, als gültig in Anspruch genommen werden. Im Blick auf diesen Kern, die regulative Idee des anzustrebenden argumentativen Konsenses, läßt sich ›D‹ kurz etwa so formulieren: ›Handle so, daß alle, insbesondere die möglichen 167

Hier z. B. Abschnitt III.4.3 f. Vgl. W. Kuhlmann, Unhintergehbarkeit (2009).

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Betroffenen, deiner Handlungsweise als Argumentations- bzw. Diskurspartner beipflichten könnten.‹ Nun gehört die regulative Konsensidee nicht allein zum Kernbestand des Dialog-Moralprinzips, sondern bildet – wir haben es gesehen – eigentlich auch die kriteriologische Basis des Verantwortungsprinzips von Hans Jonas. So geht sein Denkexperiment der Wette von der geltungslogischen Notwendigkeit der »Einbeziehung der Anderen« aus und kommt zu dem Schluß: Da wir das begründete »Einverständnis« derer, denen wir dramatische Einschränkungen ihrer natürlichen und soziokulturellen Lebensbedingungen aufladen, nicht annehmen können, sind wir (als Diskurspartner) in Fragen der Umwelt und weiteren Lebensbedingungen zu Schonung und Rücksicht verpflichtet. Denn weil Diskursteilnehmer leiblich existieren, sind sie auf eine zuträgliche Umwelt angewiesen. Diese ist eine Existenzbedingung der Diskurse. Außerdem bedarf es zur Teilnahme an Diskursen der politischen Freiheit, der Kommunikationsfreiheit insgesamt. Von ihr hängt es z. B. ab, ob wir kritische Fragen wie die nach der Verantwortbarkeit von Atomenergie und der Verantwortbarkeit des Wie, Wann und Wieweit ihrer Abschaffung angesichts weltweiter Nutzung diskutieren können, ja, ob wir überhaupt die dazu erforderlichen Informationen (z. B. über Gefahrenpotentiale von Atomkraftwerken und Endlagerstätten) beschaffen können. Keine Zukunftsverantwortung ohne (möglichst) uneingeschränkte kommunikative Freiheit. Restriktionen von natürlichen Lebensbedingungen und rechtlich politischen Kommunikationsbedingungen können zugleich Restriktionen der Existenz- und Realisierungsbedingungen von Diskursen sein, damit auch von Verantwortung als Rechtfertigung. Wenn das der Fall ist, dann erübrigt sich jede Diskussion – es sei denn, es ginge um die Alternative Sein oder Nichtsein. Eine Diskussion über ein etwaiges moralisches Recht der Zeitgenossen, den Nachgeborenen äußere Diskursrestriktionen aufzuhalsen, wäre überflüssig wie ein Kropf. Solche Beschränkungen sind schlichtweg unmoralisch. Denn wir würden unsere Glaubwürdigkeit als Diskurspartner unterminieren, wenn wir einerseits unsere Vorhaben im Diskursuniversum geltend machen, andererseits aber Vorhaben verfechten oder politische Rahmen rechtfertigen würden, die der Realisierbarkeit freier universaler Diskurse zuwiderliefen. Lassen Sie uns vor dem Hintergrund dieser diskursverantwortungsethischen Überlegungen die Frage erörtern, ob wir Atomenergie 495 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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in einem argumentativen Diskurs verantworten können. Zu prüfen ist, ob die Option für Kernenergie mit unserer Rolle als Diskurspartner verträglich ist. Fragen wir zunächst grundsätzlich: Können ›wir‹ als glaubwürdige Diskurspartner jene Einschränkungen der Lebensbedingungen rechtfertigen, die eine Entwicklung und Nutzung von Atomenergie in Form von Atomkraftwerken nach sich zieht? Oder nehmen wir damit Belastungen und Gefährdungen in Kauf, die wir als Diskurspartner nicht vertreten können? Eine folgenbezogene Situationsanalyse wird hier vor allem dreierlei zu berücksichtigen haben. Erstens ist und bleibt die politisch so beliebte Trennung einer zivilen Nutzung der Atomspaltung von einer militärischen Anwendung in der Praxis dubios. Wer den Reaktor besitzt, hat es nicht weit zur Bombe. Und der Nichtweiterverbreitungsvertrag verpflichtet zwar einerseits zum Verzicht auf die Bombe, andererseits aber dazu, den »weitestmöglichen Austausch von Ausrüstung, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie zu erleichtern«. Darauf insistiert auch der Unterzeichnerstaat Iran, womit er ebenso die Ohnmacht der internationalen Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) wie die bedrohliche Zwittrigkeit des Nonproliferation-Abkommens und den zivil-militärischen Januskopf der Atomenergie 168 vor Augen führt. Zweitens kommt jegliche Entfesselung, nicht erst der Großeinsatz künstlicher Radioaktivität sondern schon ein Atomkraftwerk, dem Einbau einer akuten Lebensgefahr in den Planeten gleich. Diese Lebensgefährdung kann »durch keinerlei spätere Entscheidung ungeschehen gemacht werden« 169. Drittens macht der Einsatz von Atomenergie über einen Zeitraum von 25.000 Jahren, den die Halbwertzeit von Plutonium 239 umfaßt, strenggenommen aber von 250.000 Jahren – das wären 7381 Generationen –, hochtechnische, hochspezialisiert administrative und massiv polizeiliche Sicherungsmaßnahmen erforderlich, damit aber auch erhebliche, zumindest regionale Freiheitsbeschränkungen auf Dauer. Längst 168 Vgl. R. Harms, »Kernkraft ist kein Klimaschutz«, in: DIE ZEIT, 19. 06. 2006, Ausgabe 43. 169 R. Spaemann, »Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik«, in: Scheidewege. Vierteljahresschrift für skeptisches Denken, 9. Jg., 1979, Heft 4, S. 476– 497; nachgedruckt in: K.-O. Apel u. a. (Hg.), Funkkolleg Reader (1980), Bd. 1, S. 229 ff., hier: S. 246.

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ist bekannt, daß es sich dabei um die Überwachung von »Gefährdungsanlagen eines unschätzbaren Ausmaßes« (Denninger) handelt. 170 Doch kommen wir den Befürwortern der Atomenergie einmal so weit entgegen, wie sie es zumeist selbst nicht verlangen. Stellen wir das Gedankenexperiment eines idealen Reaktorbetriebs an: Zunächst ›vergessen‹ wir die Reaktorunfälle von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima sowie die zahlreichen Beinahe-Katastrophenfälle etwa in den USA, Frankreich und Ungarn. 171 Überdies nehmen wir kontrafaktisch an, überall würde ausschließlich die sicherste Reaktortechnik, die möglich ist, eingesetzt; und schließlich gehen wir noch davon aus, daß sich kein betriebsbedingter Reaktorunfall jemals (wieder) ereignen werde. Das utopisch technikfreundliche Szenario! Selbst dann aber blieben alle möglichen externen Störfaktoren, vom Terrorangriff über Kriegseinwirkungen oder Flugzeugabstürze bis zum Erdbeben u. ä., ebenso zu berücksichtigen wie menschliches Versagen im Umgang mit der hochkomplexen Reaktortechnologie. Für die Vermeidung bzw. erfolgreiche Bemeisterung solcher Störfälle kann freilich weder eine Menschengruppe noch eine Institution die Folgenverantwortung übernehmen – allein deshalb nicht, weil beide in hohem Maße endlich sind, wohingegen sich die Überwachungs- und Verantwortungszeit nach menschlichem Ermessen fast unendlich ausnimmt. Während die überschaubare, relativ dokumentierte Geschichte, allerdings nur für das chinesische Reich, einen Zeitraum von etwa 3.500 Jahren umfaßt, beträgt die Verantwortungsstrecke, die der Menschheit durch die Errichtung eines einzigen Kernkraftwerks auferlegt ist, zumindest soviel, wie die Halbwertszeit des Plutoniums 239, eben 25.000 Jahre. Ist das Energiepolitik? Ist das Größenwahn? Wo keine Verantwortbarkeit, da auch keine Politik, keine öffentliche Beratung und Handlungskontrolle. Viertens sind über diesen Zeitraum hinweg keine soliden Prognosen über die Ruhelage oder erdtektonischen Verschiebungen oder gar Erdbeben der für die strahlenden Materialien einzurichtenden Endlagerstätten möglich. Die Erde insgesamt ›arbeitet‹ und bewegt sich. 170 E. Denninger, »Von der bürgerlichen Eigentumsgesellschaft zum demokratischen Sozialstaat«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 2, S. 814–844, hier S. 842. Dazu schon: R. Jungk, Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, Reinbek, 2 1981 (zit.: Der Atomstaat (1981)). 171 R. Harms, »Kernkraft ist kein Klimaschutz«, in: DIE ZEIT, 19. 06. 2006, Ausgabe 43.

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Im gnädigsten Glücksfall, wenn also in dieser unermeßlichen Zeit wirklich keine große Menge an Radioaktivität ausgetreten sein sollte, würde alles einem hochtechnologischen Ritt über den Bodensee 172 gleichgekommen sein, wie etwa nach 25.000 Jahren ein (gänzlich unromantischer) Balladendichter ungläubig feststellen könnte. Das Hoffen auf ein Wunder zur Rettung aus selbstverschuldeter Gefahr ist freilich das genaue Gegenteil von Verantwortung. 173

IV.7.1 Diskursverantwortung versus »pragmatische« Atomenergiepolitik Aus Jonas’ Gedankenexperiment der Wette 174 folgt für die Frage der Verantwortbarkeit von Atomenergie ein glattes Nein. Das gilt unabhängig davon, ob Hans Jonas diesen argumentativen Test selbst auf die Kernenergie angewandt hat. Das ist übrigens nicht der Fall. Er hat hierzu eine Meinung vertreten, ohne diese an seinen selbst ausgearbeiteten oder doch verwendeten Kriterien zu prüfen – weder an dem der Nichtprognostizierbarkeit und dem Gebot, diesen Wissensmangel zunächst durch eine Heuristik der moralischen Furcht einzugrenzen, noch an dem Kriterium, allein solche Handlungsweisen und Techniken gelten zu lassen, für die das Einverständnis der möglichen Betroffenen angenommen werden muß, und zwar der Betroffenen als glaubwürdiger Diskurspartner, wie der Diskurspragmatiker sagen würde. Zwar ist das nicht Jonas’ Sprache. Doch macht er implizit von der Unterscheidung »faktischer Konsens versus idealer Konsens« 175 und der zugrundeliegenden »Ich I versus Ich II« Gebrauch, indem er das Gedankenexperiment der Wette letztlich nicht an den Interessen oder Wünschen empirischer Menschen und Zukunftsbewohner orientiert, sondern an der Verantwortungspflicht im Sinne seines Imperativs. Bringt er doch die Betroffenen – insofern eines Sinnes mit Apel – nicht primär als empirische Vertreter willkürlicher Interessen ins Spiel, sondern als Repräsen-

Nach der Ballade von Gustav Schwab »Der Reiter und der Bodensee«. D. Böhler, Rek. Pragm. (1985), S. 320 f. 174 H. Jonas, PV (1979), S. 76 ff. 175 Dazu hier Abschnitt IV.4.2, mit Bezug auf K.-O. Apel, »Die ökologische Krise als Herausforderung für die Diskursethik«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 369–404, hier S. 388 f., vgl. 402 f. 172 173

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tanten einer »Menschheit der Zukunft«, die sich »der Idee der Menschheit« und damit der Verantwortungspflicht unterstellt weiß. 176 Darauf aufbauend, läßt sich unser Problem mit Jonas gegen Jonas lösen: mit dem Denker, der Diskursverbindlichkeiten erkennt, gegen das Meinungssubjekt, dessen Meinung diese unterläuft. Wie man an Kant sehen kann, zumal an seiner Behandlung des Wahrhaftigkeitsdilemmas im Streit mit Benjamin Constant, können auch Philosophen durchaus neben sich stehen und ihr eigenes Prinzipienniveau unterbieten, indem sie eine Ansicht vertreten, ihre Meinung oder persönliche Einschätzung, darüber jedoch ihre Prinzipienerkenntnis vergessen – und eigentlich auch ihre Rolle als Diskurspartner. Im Falle Kants verwundert das freilich besonders, da hier ein ausgearbeiteter Aufsatz vorliegt 177, während Jonas sich spontan in Gesprächen geäußert hat. So sagte Hans Jonas im Fernsehgespräch mit Ingo Hermann über die Atomenergie: »Ich glaube, es ist nicht eine Frage, an der sich die Geister scheiden sollten. Vielmehr muß man abwarten, welche Art von Sicherung gegen die schädlichen und gefährlichen Folgen der Verwendung von Kernenergie entwickelt werden können, was nur möglich ist, wenn vorsichtig mit der Kernenergie gearbeitet wird. Vorsichtig heißt, nicht nur unter allen Vorsichtsmaßregeln, die man bis jetzt zur Verfügung hat, sondern auch in kleinem Maßstab, noch nicht als unentbehrlicher Bestandteil unserer Energieversorgung. Aber immerhin doch genügend, um Erfahrung zu sammeln und um zu einem wirklich informierten und kundigen Urteil darüber zu kommen, ob man die Sache weitermachen darf oder nicht. Und da scheint sich alles zuzuspitzen auf die Frage der Lagerung des Atommülls, das heißt der radioaktiven Abfallprodukte, die verschiedene Lebenszeiten haben. Also, meine Einstellung zu dieser Frage ist völlig pragmatisch: Gelingt es der Technik, eine wirklich sichere Deponierung der Abfallprodukte zu schaffen, dann glaube ich, daß man mit der Kernenergie weiter wird wirtschaften müssen und auch wirtschaften soll. Gelingt das nicht, dann allerdings muß man die Hände davon lassen. Aber um das heraus-

H. Jonas, PV (1979), S. 80, 88–91. I. Kant, Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen; Weischedel-Ausg., Bd. IV, S. 637–643. 176 177

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zufinden, muß es in einem vorsichtigen Maßstab zunächst einmal weitergehen.« 178 Jonas’ »völlig pragmatische« Beurteilung ist der Verzicht auf die Anwendung seines Denkexperiments der Wette. Sie ignoriert nämlich zweierlei: Erstens ist hier eine Erprobungsphase eigentlich nicht gegeben, da die Erprobung bereits der Ernstfall, genauer: ein viele Jahrtausende nachwirkender Gefährdungsfall ist. Und eben das stellt die moralische und politische Verantwortung total in Frage; ja, es kann sie unmöglich machen. Es stellt sie zumindest in Frage, weil der Entschluß für Atomenergie, also zugunsten einer für Menschenleben und Umwelt bedrohlichen, zudem freiheitsbeschneidenden Technologie, keine Revision erlaubt. Denn er hat radioaktive Strahlungsfolgen (und andere, damit verbundene Nebenfolgen), welche über Jahrtausende hinaus nicht rückgängig gemacht werden können. Radioaktivität ist nicht rückrufbar. Ein Irrtum darf hier nicht sein. Der elementare Handlungs- und Lernprozeß des Menschen, trial and error, ist außer Kraft gesetzt. Zweitens: Eine Technik, die nicht irren darf, ist von vornherein nichts für Menschen, für irrenkönnende und irrende Wesen. Sie setzt Unfehlbarkeit voraus. Wir sind nicht unfehlbar. Mit der Entscheidung für Atomenergie haben wir jedoch unterstellt, wir seien so gut wie unfehlbar. Das ist die schlechte Metaphysik des technischen Fortschrittsglaubens, eine größenwahnsinnige Utopie. Jonas kann sie schneidend kritisieren: als verantwortungszerstörende, in die hochtechnologischen Unternehmungen eingebaute Tendenz zum Utopismus. 179 Der tenden178 H. Jonas, Erkenntnis und Verantwortung, hg. von I. Hermann, Göttingen 1991, S. 136 f. und wiederveröff. in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 465. Zwar unter Hervorhebung der »völlig ungelösten« Entsorgungsfrage und mit der Distanzierung der Kernenergie als »einer höchst riskanten Form der Energieerzeugung, zu der man eigentlich nicht raten kann«, bezieht Jonas 1990 noch einmal zu unserem Problem Stellung. So aber, daß er »unschlüssig« die Frage offen läßt, ob »nicht zur Vermeidung gewisser katastrophaler Folgeserien der Kohleverbrennung und der Ölverbrennung die Kernenergie vorzuziehen« sei. Es läuft für ihn auf einen »trade off« hinaus, nämlich »zwischen zwei unerwünschten und eigentlich nicht verantwortbaren Dingen abzuwägen«. Vgl. »Vom Profit zur Ethik und zurück. Hans Jonas im Gespräch mit Walther Ch. Zimmerli und Mitarbeitern der Siemens AG«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 232. 179 Vgl. Jonas’ Votum in Toronto vom November 1972 in: H. Arendt, Ich will verstehen, München 1996, S. 87. Ferner: H. Jonas, PV (1979), S. 54 u. ö., vgl. auch: ders., Erkenntnis und Verantwortung, hg. von I. Hermann, Göttingen 1991, S. 134 f. und wiederveröff. in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 464.

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zielle Utopismus der Hochtechnologien in der fortschrittsgläubigen und konkurrenzgetriebenen technologischen Zivilisation mit kapitalistischen Rahmenbedingungen verleugnet jenes »Wissen um das Nichtwissen«, das Jonas sokratisch einfordert. 180 Hängt die Ernsthaftigkeit und die Rationalität sowohl einer komplexen Situationseinschätzung als auch einer lebens- und moralriskanten Entscheidung doch davon ab, daß die Fallibilität der Situationsinterpretation berücksichtigt wird – und daß eine Revidierbarkeit der getroffenen Maßnahme in gewisser Weise gegeben ist. Die sokratische Dialogreflexion erweist die Diskursverbindlichkeit der Postulate, man solle jenes Wissen um das Nichtwissen in seinen Entscheidungen berücksichtigen und man solle lebensgefährliche oder moralgefährdende Maßnahmen unbedingt unterlassen, wenn sie folgenirreversibel sind. Diskursverbindlich sind diese Postulate, weil die Glaubwürdigkeit eines Argumentationspartners, der die Verbindlichkeit eines der beiden bezweifelte, zusammenbrechen müßte. Außerdem gehören beide Postulate unteilbar zusammen, weil sich nicht die Verbindlichkeit des einen akzeptieren, die des anderen hingegen in Frage stellen ließe. Daher bilden beide ein vorgängiges implizites Dialogversprechen. 181 In der Diskussion von Jonas’ Votum zur Atomenergie ist drittens zu bedenken, daß im Blick auf das Prinzip Verantwortung von ›Erprobung‹ nicht die Rede sein kann, weil während der Laufzeit eines Reaktors stets ein Risiko gegeben ist, welches tendenziell die Menschheitszukunft betrifft. Im Unterschied zu der Lebensgefährdung durch einen konventionell geführten Krieg, die Jonas als einen u. U. verantwortungsethisch akzeptablen Grenzfall betrachtet, bedeutet ein Atomkraftwerk eine dreifach generationenübergreifende Lebensgefährdung: durch erbliche genetische Schädigung, durch Verseuchung ganzer Regionen und durch die »Entsorgungs«-Gefahren. Darüber hinaus ist auch der Erprobungsfall ein Gefährdungsfall für die Voraussetzung von Verantwortung, die kommunikative Freiheit. Denn jeder Reaktorbetrieb geht mit einer Beschneidung politischer Freiheit einher, weil für die Umgebung eines AKWs schärfste Sicherheits- und ÜberwachungsVgl. Jonas’ Votum in Toronto in: H. Arendt, Ich will verstehen, München 1996, S. 86 und H. Jonas, PV (1979), S. 28. 181 Im System der normativen Sinnbedingungen ist es das fünfte Dialogversprechen a priori. Siehe oben, Abschnitt III.4.4. 180

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maßnahmen getroffen werden müssen. Spätestens dann, wenn die Erprobung ins Stadium einer weitreichenden Energieversorgung übergeht, können die Sicherheits- und Repressionsapparaturen – das Beispiel der Atomstromversorgung in der République Française, Heimat der politischen Freiheit, demonstriert das drastisch – bis hin zu dem von Robert Jungk 182 befürchteten Atomstaat führen, dessen Propaganda- und Repressionssystem einen freien energiepolitischen Diskurs unmöglich macht. Viertens übersieht Jonas in dem zitierten Votum, daß seiner Vorsichtsbedingung, es solle allein »in kleinem Maßstab« bzw. »in einem vorsichtigen Maßstab« mit der Kernenergie weitergehen, derzeit jegliche Garantie fehlt. Welche integre und unabhängige Macht sollte für die ganze Welt glaubwürdig die Garantie übernehmen, daß diese Bedingung eingehalten wird? Etwa die IAEA in Wien? Der gutgemeinte Vorschlag vergißt entgegenstehende Realitäten wie die eigensüchtigen Interessenkonkurrenzen der Energiekonzerne, der Nationen und der militärisch industriellen Komplexe. Noch dazu übersieht er, daß solche Interessenfaktoren und Mächte ohne Zügelung, etwa durch eine mächtige, vom Prinzip Verantwortung geleitete Weltregierung, am Werke sind. Jonas denkt hier offenbar nicht im Sinne einer realistisch nüchternen Erfolgsverantwortungsethik, die gemäß Max Webers Idee einer politischen Ethik und Apels Postulat eines »Teils B der Ethik« die Frage stellt: ›Lassen sich die möglichen Nebenfolgen der Handlungsweise H unter den von den Diskurspartnern ins Kalkül zu stellenden, wenngleich nicht prognostizierbaren Störfaktoren und möglichen Gefahren noch moralisch verantworten?‹ Nochmals sei erinnert an Gefährdungen durch menschliches Fehlverhalten (vom Versehen bis zur Amoralität), durch Flugzeugabstürze oder durch Terroranschläge, schließlich durch Erdbeben und relevante Veränderungen der Erdschichten. In der Sache ist Jonas’ Beurteilung also abwegig, weil sie mit zwei sinnlosen Unterstellungen arbeitet: Einmal unterstellt sie so etwas wie eine Quasi-Laborsituation, die es bei Kernkraftwerken nicht gibt. Zum andern unterstellt sie eine so integre wie einsichtige Macht über die Welt, welche (im ›Freiluftlabor‹ der Welt!) die vorsichtige Durchführung einer Erprobungsphase garantieren könnte und würde.

182

R. Jungk, Der Atomstaat (1981).

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Was die Argumentationsweise anbelangt, so bringt Jonas hier eine bloße Klugheitserwägung vor, die weder die Moralkriterien seines Verantwortungsprinzips befolgt, noch den erfolgsverantwortungsethischen Kriterien für Notwendigkeitsstrategien gerecht wird. Geht man jedoch auf sein Denkexperiment der Wette zurück und macht man die Idee der (auf Zukunftsverantwortung, d. h. auf Gattungserhalt und Menschenwürde verpflichteten) Menschheit zum Kriterium des Erlaubten, so daß jede Gefährdung der gegenwärtigen samt der künftigen Menschheit und ihrer Repräsentationsfähigkeit des Diskursuniversums verboten ist, dann handelt es sich um ein Gedankenexperiment der praktischen Vernunft im kantischen Sinne. Dann führt es auch zu moralischer Verbindlichkeit, wenn es auf alle A- und die B-Fragen angewandt wird, ob sich Atomenergie überhaupt rechtfertigen lasse, und ob sie sich zu dieser Zeit verantworten lasse, in der die globale Klimaveränderung die Menschen- und Tierwelt bedroht, so daß es auf eine klimaneutrale Energieerzeugung ankommt, und in der die Atomspaltung ohnehin weltweit zu zivilen wie auch zu militärischen Zwecken genutzt wird. Für die Diskursfähigkeit von Jonas’ politisch pragmatischem Vorschlag folgt daraus ›das Aus‹. Denn die Inkaufnahme der Irreversibilität einer fehlbaren Entscheidung dieser Dimension widerspricht sowohl seinem sokratischen Postulat, »die Anerkennung der Unwissenheit« solle im technologischen Zeitalter als »Kehrseite der Pflicht des Wissens und damit [als] ein Teil der Ethik« die Entscheidungsfindung orientieren 183, wie auch dem diskurspragmatisch aufgedeckten und dialogreflexiv erweisbaren fünften Dialogversprechen a priori. Eine Einklammerung von Jonas’ sokratischem Postulat – und die Erprobungsphase wäre eine solche Einklammerung – brächte jedes Sich-Verantworten zum Scheitern. Es sei denn, daß auf der verantwortungsrealistischen Ebene B eine menschheitliche Notwendigkeit für den Einsatz von Atomenergie erwiesen werden könnte. Einzig dann, wenn dieser Einsatz zur Erhaltung menschlichen Lebens auf Erden unabweislich notwendig wäre, ließe er sich als moralisch bedenkliche Grenzentscheidung für eine »Brückentechnologie« noch verantworten. Gilt das aber für die Atomenergie, oder ist sie lediglich extrem gut vermarktet? Und wird sie der Politik vielleicht von stärksten Industrieinteressen aufgedrängt? Oder stellt sie sich aufgrund der unwiderstehlichen Macht 183

H. Jonas, PV (1979), S. 28.

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aus Industrie, Politik und Militär schlicht als unumkehrbare Notwendigkeit dar? Energische Verfechter des Ausbaus bzw. Neubaus von Atomkraftwerken behaupten, daß aus Gründen des Bevölkerungswachstums und des notwendigen Klimaschutzes ein verantwortungsethischer Grenzfall vorliege: Kernkraft sei eine situationsbezogene Verantwortungsstrategie und zumindest als »Brückentechnologie«, so Angela Merkel bis zu ihrem Ausstiegsbeschluß im März 2011, eine unhintergehbare Notwendigkeit. In diesem Sinne läßt sich z. B. das Votum zuspitzen, das der Vorstand des Strom- und Gasunternehmens EnBW, Utz Claassen, just vor der Wahl des Deutschen Bundestags im September 2005 abgegeben hat. Angesichts des gebotenen Klimaschutzes, so las man, führe an der Atomkraft kein Weg vorbei: »Derzeit sei der Pro-Kopf-Energieverbrauch in den 15 alten EU-Staaten sechsmal höher als in China. Sollte die asiatische Weltmacht ohne Kernkraft das hiesige Niveau erreichen wollen, wären 2000 neue Kraftwerke mit je 500 Megawatt Leistung nötig […]. Selbst bei idealem Energiemix fielen dann 3500 Millionen Tonnen Kohlendioxid zusätzlich an. Nicht berücksichtigt seien dabei die weitere Bevölkerungsentwicklung und andere Länder.« 184 In einem wirklich argumentativen verantwortungsethischen Diskurs müßte diese Position freilich dem Zukunftskriterium für Erfolgsverantwortlichkeit genügen, welches vor die Grundsatzfrage stellt: ›Bildet die vorgeschlagene Handlungsweise bzw. Maxime eine kohärente, erfolgsfähige Teilstrategie zu einer langfristigen Moralstrategie, die – ihrerseits erfolgsfähig – auf die Herstellung moralanaloger Handlungsbedingungen und auf die Stärkung der moralischen Motivation zielt?‹ Diese verantwortungsethische Gretchenfrage würde von Kennern der Materie vermutlich zugunsten dieser Einzelfragen ›heruntergebrochen‹, d. h. konkretisiert: (1) Trifft die Situationsdeutung mit ihrer Hochrechnung der Energiebedarfssteigerung zu? Oder enthält sie nicht-verantwortungsfähige Status-quo-Annahmen – Annahmen, die z. B. auf nachhaltige Energieeinsparungen ebenso verzichtet haben wie auf eine großangelegte Förderung der Forschung und Entwicklung von Solarkraftwerken? (2) Kann Atomenergie mittelfristig überhaupt energie- und klimapolitisch eine große Rolle spielen, wo deren Anteil an der Endenergie 184

So referierte die Berliner Zeitung »Der Tagesspiegel« vom 8. September 2005, S. 17.

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weltweit nur 2 % beträgt 185 und die Uranvorräte in wenigen Jahrzehnten erschöpft sein dürften? (3) Welche Kapazitäten von Solarkraftwerken gehören zu einem »idealen Energiemix«? In welchem Ausmaß kann die globale Energieerzeugung durch Solarenergie, Solarkraftwerke eingeschlossen, gesteigert werden? (4) Ist der europäische ›Normalverbrauch‹ ein legitimer, weil unabweislich notwendiger Maßstab? Oder läßt sich der europäische Pro-Kopf-Energieverbrauch durch Energiesparmaßnahmen und durch eine stärker dezentralisierte Energieversorgung, bei der Strom und Wärme in Kraft-Wärme-Kopplung produziert werden, signifikant senken? Man denke auch an die schwedischen Standards beim Hausbau, an die Wiederverwendung energieintensiv produzierter Stoffe u. a. m. (5) In welchem Maße läßt sich die Energieeinsparung durch Effizienzsteigerung beim Verbrauch von Energie und Wasser sowie durch Recycling maximieren? (6) Wie lassen sich die ökologischen Folgelasten von Produktion und Transport durch Institutionalisierung von Ökobilanzen sowohl kontrollieren als auch reduzieren? (7) Welche Effekte würde die Globalisierung der unter (5) und (6) aufgeführten Maßnahmen zuzüglich europäischer Investitionen in Solarkraftwerke für den Klimaschutz haben? Die hier liegenden Möglichkeiten zu erforschen und zu ergreifen, ist eine unabweisliche Pflicht; wer heute eine verantwortungsethische Teilstrategie der Energiepolitik entwirft oder bloß postuliert, ohne solche Möglichkeiten genau zu berücksichtigen, kann nicht als glaubwürdiger Diskurspartner in der energie- und klimapolitischen Diskussion angesehen werden.

IV.7.2 Metaphysisch versus diskurspragmatisch: zwei komplementäre Denkweisen – eine erschreckende Einsicht Während die meisten Diskursphilosophen die Beurteilung der Atomenergie nur als falliblen Situationsdiskurs ansehen und sich daher eines 185 Vgl. R. Harms, »Kernkraft ist kein Klimaschutz«, in: DIE ZEIT, 19. 06. 2006, Ausgabe 43.

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definitiven moralischen Urteils enthalten 186, hat der in der Tradition des katholischen Naturrechts denkende Metaphysiker und Ethiker Robert Spaemann bereits 1979 und 1981 ein moralphilosophisches Verdikt über die »Gewinnung von Energie durch Kernspaltung« gesprochen. 187 Ist Spaemanns metaphysisch gegründete Argumentation diskursreflexiv einholbar, so daß ihren Ergebnissen auch der Skeptiker beipflichten muß? Wenn ja, dann wäre auch Karl-Otto Apels Selbstbescheidung der Diskursphilosophie auf den Gültigkeitserweis des Diskursprinzips ›D‹ und seine verantwortungsethische Differenzierung (im Hegelschen Sinne) aufgehoben … Lassen Sie uns zunächst untersuchen, wie sich die Ergebnisse von Spaemanns Überlegungen zu jenen moralischen Verpflichtungen verhalten, die wir nicht sinnvoll bezweifeln können, wenn wir eine These oder einen Zweifel der reflexiv dialogischen Prüfung unterziehen. Die Einleuchtungskraft einer solchen sinnkritischen Prüfung ist dann besonders augenfällig, wenn die zu prüfenden Thesen ein Paradigma und einen Begriffsrahmen ins Spiel bringen, die disparat zu dem sokratisch kommunikativen Diskursansatz stehen, und man dem Autor gleichwohl sagen kann: ›Auch wenn du deine Thesen bzw. Argumente in einem ganz anderen Denkrahmen, als es der sokratisch diskurspragmatische ist, entwickelt hast und wenn du eine ganz andere Denkeinstellung vertrittst, sei es eine metaphysisch theoretische, sei es eine analytisch theoretische – deine Thesen zehren gleichwohl von jenen 186 Anders D. Böhler, »Kritische Moral oder pragmatische Sittlichkeit, ›weltbürgerliche‹ Gesellschaft oder ›unsere‹ Gesellschaft«?, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 3, hier S. 857, 879–881. Ders., »Moral und Politik«, in: Th. Meyer u. a. (Hg.), Lexikon des Sozialismus, Köln 1986, S. 442 ff., hier S. 444 ff. 187 R. Spaemann, »Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik«, in: Scheidewege. Vierteljahresschrift für skeptisches Denken, 9. Jg., 1979, Heft 4, S. 476– 497. Wiederum in: ders., Nach uns die Kernschmelze (2011), S. 13–48. Ders. u. R. Löw, Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005. R. Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, München 2007. Ders., »Laudatio«, in: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1987 – Hans Jonas, Frankfurt a. M. 1987, S. 19–32. – In dieser Laudatio polemisiert Spaemann, ohne dessen Namen zu nennen, auch gegen die damals von Habermas vertretene »Ethik, die um den Begriff des Diskurses und des Interessenausgleichs [sic!] zwischen rational argumentierenden Partnern kreist« und Konsens als Wahrheitsbeweis annehme. Hingegen bezieht er sich nicht auf die transzendentalpragmatisch begründete Diskursethik, die nicht auf Interessenausgleich und faktischen Konsens sondern auf die Anwendung des Moralprinzips zielt und den rein argumentativen Konsens zum Kriterium macht.

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Evidenzen, die wir als Partner eines argumentativen Dialoges mitbringen und derer wir uns als Diskursevidenzen vergewissern können.‹ Läßt sich das im Blick auf Spaemanns Argumente bestätigen? Spaemann sucht nach sittlichen Maßstäben, die vor jedem faktisch geführten Diskurs liegen (1). Danach fragt auch die sokratische Diskurspragmatik: Sie sucht nach Verbindlichkeiten a priori, die also unabhängig davon gültig sind, was wir jeweils faktisch tun, ob wir z. B. gerade schlafen oder aber diskutieren. Denn das sind kontingente Fakten und als solche belanglos für die Verbindlichkeitsfrage. Da Spaemann ähnlich wie die metaphysische Tradition in theoretischer Einstellung denkt, reflektiert er nicht darauf, daß er selbst, indem er mit Geltungsanspruch denkt, bereits einen argumentativen Diskurs führt (2). Das aber macht der Dialogsokratiker bewußt: ›Bedenke, daß du deine Thesen, gleichviel dank welcher Methode du sie gewonnen hast und in welchem Begriffsrahmen du sie vorbringst, Anderen gegenüber und vor dem Diskursuniversum geltend machst; so daß du selbst den unbegrenzten argumentativen Diskurs als Geltungsgrundlage in Anspruch genommen hast.‹ Was die Ergebnisse von Spaemanns Suche (1) anbelangt, kann ihm die Diskursphilosophie, dank ihrer Wende zu einer sokratischen Dialogreflexion, weit entgegenkommen. Denn die Suche nach Prinzipien, die (in der metaphysisch ontologischen Sprache) »ursprünglicher« als jede Diskussionsveranstaltung sind, ist auch ihre Sache, wenngleich sie die Prinzipiensuche sprachpragmatisch, also unmetaphysisch angeht. In ihrem anfänglichen Begründungsschritt, der Rekonstruktion von internen Voraussetzungen des Diskurses, deckt sie normativ gehaltvolle Präsuppositionen des Argumentierens auf. Dann steht ein Vergleich an: Kommen die sittlichen Maßstäbe, die N.N. eruiert – hier diejenigen Spaemanns – mit dem normativen Gehalt der rekonstruierten Diskurspräsuppositionen überein? Ist eine Übereinstimmung gegeben, vergewissert sich die Diskurspragmatik selbstkritisch: In einem zweiten Begründungsschritt gibt sie dem Prinzipienskeptiker das Wort. Jetzt stellt sie in dialogreflexiver Einstellung die Frage, ob es möglich ist, den erzielten Prinzipienkonsens durch einen jetzt und hier prüfbaren Diskursbeitrag in Zweifel zu ziehen. Erst wenn das nicht möglich ist, weil der Zweifel einen argumentativen Dialog sprengen und sich dadurch als sinnlos herausstellen würde, erst dann kann jener Maßstab des Sittlichen a priori als prinzipielle moralische Verpflichtung gelten. Warum? Weil der Grund seiner Ver507 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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bindlichkeit erkannt worden ist: seine argumentative Unhintergehbarkeit als Sinnbedingung eines strikt mit Argumenten zu führenden Diskurses. Insofern erweist sich eben das, was Spaemann bestreitet, daß nämlich »das argumentative Einholen von Maßstäben des Sittlichen […] deren Geltungsgrund« ist. 188 Das mußte Spaemann infolge seiner diskursvergessenen theoretischen Denkeinstellung (2) übersehen. Nun ergibt sich tatsächlich ein Konsens in der Sache daraus, daß Spaemanns Überlegungen wichtigen Sachkriterien und Verantwortungspflichten entsprechen, die wir als Diskurspartner bei der Diskussion der Atomenergie berücksichtigen müssen, weil sie sich im sokratischen Dialog einholen lassen. Wie schon gesagt, betont er die »Wertminderung der Welt […] durch den nicht mehr rückgängig zu machenden Einbau von Gefahrenquellen, die über jene hinausgehen, die der Erde ohnehin innewohnen […]. Die sittliche Verantwortbarkeit der Nutzung von Kernenergie hängt in erster Linie davon ab, ob dieses Problem lösbar ist. Die Frage ist zur Zeit nicht beantwortet, und es ist noch nicht ausgemacht, ob sie überhaupt positiv beantwortbar ist. Aber sogar im Falle der positiven Beantwortung haben wir nicht das Recht, das Leben künftiger Generationen an Bedingungen zu knüpfen, ohne daß wir sicher sagen können, ob diese über unseren Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse und unsere staatlichen Kontrollmittel verfügen.« 189 Einerseits sind die Bürger zahlreicher Nationen als Mitspieler des Atomzeitalters ursächlich mitverantwortlich. Sie sind Miturheber radioaktiver Gefahren, also faktisch bzw. empirisch mitverantwortlich im kausalen und retrospektiven Sinne einer »Kausalhandlungsverantwortung«, wie sie Hans Lenk und Matthias Maring definiert haben. 190 ZuR. Spaemann, »Fortsetzung der Diskussion zu Einheit 15«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 3, S. 970–972, hier S. 971. 189 Ders., »Die technologische und ökologische Krisenerfahrung als Herausforderung an die praktische Vernunft«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 2, S. 470–492, hier S. 486 und 487 f. (Hervorhebungen im Text von mir, D. B.). 190 H. Lenk u. M. Maring: »Verantwortung – normatives Interpretationskonstrukt und empirische Beschreibung«, in: L. Eckensberger u. U. Gähde (Hg.), Ethische Norm und empirische Hypothese, Frankfurt a. M. 1993, S. 222–243. Auch: H. Lenk, »Über Verantwortungsbegriffe und das Verantwortungsproblem in der Technik«, in: ders. u. G. Ropohl, Technik und Ethik, Stuttgart 1993, S. 112 ff. Für die Unterscheidung von ›retrospektiver und prospektiver‹ Verantwortung: M. J. Zimmerman, »Responsibility«, in: L. C. Becker u. C. B. Becker (Hg.), Encyclopedia of Ethics, Vol. 2, New York/London 1992, S. 1089–1095. Analog unterscheidet Otfried Höffe ›Aufgabenverantwortung‹ von ›Legitimations- bzw. Rechtfertigungsverantwor188

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dem stellt sich durch Einbau radioaktiver Gefahrenquellen das Risikoproblem der Zukunftsverantwortung im Sinne einer prospektiven und normativen Verantwortung, die wir als Diskurspartner gegenüber möglichen Betroffenen, einschließlich der späteren Generationen, haben. 191 Was heißt das? Schmerzlicherweise bedeutet es, daß wir – in der Doppelrolle der kausalen Miturheber und der Diskurspartner – für die gesamte ungeheuerliche Zeitspanne des Atomzeitalters unter Anklage stehen. Wie können wir uns als Argumentationspartner vor der Instanz des Diskursuniversums gegenüber den Rechtsansprüchen nachgeborener Generationen verantworten? Wird doch mit dem Bau von Atomkraftwerken wider besseres wissenslogisches Wissen (Nichtprognostizierbarkeit der Weltgeschichte wie auch der Sicherheit sowohl von Atomreaktoren als auch von atomaren Endlagern im Verlauf der Erdgeschichte) einfach unterstellt, die Nachgeborenen würden mit diesen Lebensgefährdungen schon zu Rande kommen. Wie kann man sich im argumentativen Diskurs zu verantworten vorgeben, wo doch zumindest zweierlei evident und durch Three Miles Island, Tschernobyl und Fukushima fatal spürbar geworden ist: Die Reaktortechnik läßt sich gegen gefährlichste »Zufälle« nicht absichern, ja sie ist von Menschen so wenig beherrschbar, daß der Betrieb eines einzigen Atomkraftwerks die permanenten Risiken einschließt, sowohl ganze Regionen unseres Planeten in Todeszonen zu verwandeln als auch über Winde und Meeresströmungen schwere Krankheit oder schleichenden Tod in weit entfernte Lebenswelten zu tragen. Auch wenn diese Gefahren zum »Restrisiko« herabgeredet werden, so gilt, was moralisch aus Jonas’ Diskursexperiment von der Wette im (technologischen) Handeln und aus der Diskursverantwortungsethik folgt: Es ist verwerflich, ein Risiko einzugehen, welches nicht allein »das Ganze der Interessen der [direkt] betroffenen Anderen« (etwa der Bewohner einer AKW-Region) umfaßt 192, sondern zudem unsere Glaubwürdigkeit als Diskurspartner unterminiert, weil es auch die Menschtung‹ : O. Höffe, »Schulden die Menschen einander Verantwortung?« in: E.-J. Lampe (Hg.), Verantwortlichkeit und Recht, Opladen 1989, S. 12–35. 191 Dazu M. H. Werner, »Dimensionen der Verantwortung«, in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 303–338, bes. S. 304–307 und 324 ff. 192 In diesem Sinne pointiert Spaemann: »Wenn ein Mensch in einer existenzbedrohenden Not das Leben seines Kindes verwettet, handelt er auch unverantwortlich, selbst wenn die Gewinnchancen bei dieser Wette für ihn 99:1 stehen. Niemand kann ja wissen,

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heitszukunft und damit die »Möglichkeit der Verantwortung« einschließt. Ferner dürfte es evident sein, daß eine (wie es in der verräterisch euphemistischen, aber von Politik, Verwaltung und in der Öffentlichkeit fraglos verwendeten Sprache der Atomingenieure heißt) »Entsorgung« der hochradioaktiven Abfälle zumindest 25.000 Jahre gut funktionieren müßte – ohne gefährliche Zufälle, ohne Erdbeben, ohne terroristische Eingriffe, natürlich ohne einen Zerstörungswahn à la Hitler usw. Da niemand, auch keine Nation und keine Institution, einen solchen Zeitraum überschauen, geschweige denn ihn vorplanen und dafür Sorge tragen kann, kommt die Rede von Verantwortung hier einem frevelhaften Selbstbetrug gleich. Springen wir nicht, indem wir von einer Entsorgung hochradioaktiven Abfalls sprechen, aus dem Diskurs heraus? Wenn wir sorgsam und ernsthaft über Atomenergie und Verantwortung reden, müssen wir eingestehen: Dadurch daß sich die Menschheit auf Atomenergie eingelassen hat, steht sie schon mitten im Unverantwortbaren. Dann aber befinden sich alle denkenden, alle diskursfähigen Menschen in der Paradoxie, sowohl den Diskurs hintergangen und das Sich-Verantworten preisgegeben zu haben, andererseits im Diskurs bleiben zu sollen und, bona fide, auch zu wollen. Das ist die erschreckende Einsicht, zu der sowohl die metaphysische als auch die dialogpragmatische Denkweise führt: Als Angehörige des atomaren Zeitalters existieren wir in der Unverantwortlichkeit. Wir stehen heute unter der Hypothek, den Diskurs über die Zerstörung der Diskursverantwortung im atomaren Zeitalter führen zu müssen, – eine Zerstörung, welche mit der »großen Kollision von Mensch und Natur« (Günter Altner) einhergeht. 193 Einzig dann, wenn wir diese Hypothek auf uns nehmen, bewahren wir jenen Rest an Diskursglaubwürdigkeit, der nach dem atomaren Sprung aus der Diskursverantwortung noch möglich ist. Darauf kommt es umso mehr an, als wir nur kraft des Diskurses den menschlichen Grundanspruch auf kommunikative Freiheit geltend machen können, dessen Realisierung von der Atomenergie und ihren – Jahrtausende währenden – Zwängen stranguliert wird. Denn es stellt sich die zuerst von Robert Jungk aufgeworfene, von Spaemann weiter ob das Unwahrscheinliche gerade morgen geschieht.« R. Spaemann, Nach uns die Kernschmelze (2011), S. 8. 193 G. Altner, Kollision (1987); ders., Naturvergessenheit (1991).

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verfolgte Frage 194, ob wir »uns jener Einschränkung von Bürgerfreiheiten zu unterwerfen wünschen, die erforderlich wird, je größer der mögliche Wirkungskreis terroristischer Bedrohung wird. Der Hinweis auf wirtschaftliche Notwendigkeiten kann nicht ausreichen, um solche Gefährdungen zu rechtfertigen, solange es bei diesen Notwendigkeiten nicht ums nackte Überleben, sondern um die Aufrechterhaltung eines bestimmten Lebensstandards oder einer bestimmten Wirtschaftsform geht. Die Ethik erfordert es, den Rang allgemeiner Interessen, nicht aber den der betroffenen Personen in Betracht zu ziehen. Wir sind nicht wichtiger als die später Lebenden, und diese sind nicht wichtiger als wir. Entscheidend ist, welche Interessen der Späteren mit welchen Interessen der Jetzigen verglichen werden. Und hier hat das Interesse an der Erhaltung der ungeschmälerten Naturvoraussetzungen menschlicher Freiheit den Vorrang vor allen anderen Interessen.« 195 Hier bringt der Aristoteliker Spaemann eine Kriterienüberlegung auf der Ebene des Moralprinzips ins Spiel. Sie läßt sich noch besser begründen, ja ihr Ergebnis läßt sich als verbindlich erweisen, wenn man den Sachstreit (über die Gefahren oder Vorteile von Atomenergie) dahingestellt sein läßt: Klammern wir also diese Problemsituation zunächst ein und fragen wir allein, welche Güter und Maßstäbe ›wir‹ als Diskursteilnehmer eigentlich voraussetzen. Dazu gehört das Gut der kommunikativen Freiheit (im Unterschied zu egoistischer Willkür). Und gehört nicht auch das Kriterium der verallgemeinerbaren Gegenseitigkeit von Interessen dazu? Um uns dessen zu vergewissern, können wir in aktueller Dialogreflexion prüfen, ob sich eine Bezweiflung der einen oder der anderen These – ›Freiheit ist ein unverzichtbares Diskurs- und Moralgut‹ oder ›Allein solche Interessen können in praktischen Diskursen als befolgungswürdig gelten, denen verallgemeinerbare Gegenseitigkeit zukommt‹ – im Diskurs durchhalten läßt: Ist die Bezweiflung vereinbar mit der Glaubwürdigkeit eines Diskurspartners? Für die Freiheitsbehauptung ergäbe sich dann sicher dieses Resultat: Freiheit (im Unterschied zu Willkür) ist ein ursprüngliches und unhintergehbares Diskurs- und Moralgut, weil – erstens – dessen Berechtigung und dessen Wirklichkeit von jedem Diskursteilnehmer R. Jungk, Der Atomstaat (1981). R. Spaemann, »Die technologische und ökologische Krisenerfahrung als Herausforderung an die praktische Vernunft«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 2, S. 488. (Hervorhebungen von mir, D. B.) 194 195

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schon durch seine sprachliche Äußerung in Anspruch genommen wird. Daraus folgt nun – das ist ein zweiter Grund –, daß kein Diskursteilnehmer einem anderen dieses Gut schmälern kann, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verspielen und dem Diskurs den Boden zu entziehen. Es sei denn, es bestünde eine unabweisbare Notwendigkeit wie in der Alternative Sein oder Nichtsein. Reflexiv sokratisch läßt sich auch Spaemanns Unterscheidung von allgemeinen und partikularen Interessen, von ihm einfach gesetzt, als unhintergehbar begründen. Wenn ›wir‹ uns nämlich jeweils darauf besinnen, daß wir als Diskurspartner auftreten, so erkennen ›wir‹ : Glaubwürdig kann ›ich‹ ausschließlich solche Interessen rechtfertigen, deren allgemeine Geltungsfähigkeit und deren Befolgungswürdigkeit sich erweisen läßt. Partikulare Interessen reichen nicht. Da sie bloß den Nutzen einer eingeschränkten Gruppe oder einer Person verfolgen, sind sie unvereinbar mit den universalen Geltungsansprüchen, die von ›mir‹ durch jeden Diskursbeitrag schon erhoben werden, weil sie an der Rolle des Diskurspartners haften. Daher gilt: Indem ›ich‹ ein Interesse ohne Gewalt, allein kraft vorgebrachter Gründe vertrete, mache ich es bereits geltend, behaupte also dessen allgemeinen Rang, mithin seine Verallgemeinerungsfähigkeit und allgemeine Anerkennungswürdigkeit. Um solche Allgemeinheitsbehauptungen zu prüfen, führt man einen praktischen Diskurs. Nun muß ein praktischer Diskurs aber in der Zeit veranstaltet werden und kann viel Zeit verbrauchen. Das wenden Diskurskritiker gerne ein. Doch sind wir immer auf die u. U. langwierigen Diskurse angewiesen, wenn wir uns der intersubjektiven Gültigkeit vergewissern wollen? Glücklicherweise läßt sich diese peinliche Frage, wie wir in Abschnitt III.4.6 begründet haben, negativ beantworten: Immer dann, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß das davon getragene Vorhaben lebens- oder freiheitsgefährdende Folgen haben kann, bedarf es keines langen Situationsdiskurses. Dann nämlich ist man bereits inmitten der kurzen, reflexiv sokratisch durchzuführenden, Vereinbarkeitsprüfung des vertretenen besonderen Interesses bzw. Projekts und der in Anspruch genommenen allgemeinen Diskurspartnerrolle. Eben diese Kohärenzprüfung ist es, die unter den schon erörterten Bedingungen als kurzer Geltungsdiskurs greift: ein Geltungsdiskurs, der zugleich die ultimative Prüfung der Verantwortbarkeit eines Vorhabens leisten kann. An dem brennenden Menschheitsproblem der Atomenergie haben wir bemerkt, daß wir in der Beurteilung darauf angewiesen sind, uns 512 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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Rechenschaft darüber zu geben, welche allgemeinen moralischen Verpflichtungen wir als absolute Bemühungspflichten im Rücken haben, wenn wir nur irgend etwas, z. B. ein Interesse oder ein Projekt, geltend machen und damit die logisch universale und moralisch letztverbindliche Rolle des Diskurspartners einnehmen. Was haben wir derart im Rücken? Interne Sinnbedingungen und externe Realisierungsbedingungen argumentativer Diskurse, sagt uns die sokratische Dialogreflexion. Und was kann das konkret bedeuten? Darüber klärt uns die diskursreflexive Kohärenzprüfung auf. Sie führt uns etwa vor Augen, daß bestimmte gesellschaftliche und kulturelle Lebensansprüche wie der Anspruch auf freie Öffentlichkeit politischer Entscheidungsprozesse sowie auf allgemeine bürgerliche Partizipationsmöglichkeit an diesen zu den Realisierungsbedingungen von Diskursen gehören und daher unumstößlichen Verpflichtungscharakter haben. Wenn neben der Berücksichtigung von Bedürfnissen und Interessen auch die moralischen Handlungsmöglichkeiten des Menschen zu einem Verantwortungsgegenstand werden, dann ergeben sich als unbedingte Gebote, daß wir weder die Existenz der Menschheit und damit die Seinsbedingung des Moralischen aufs Spiel setzen dürfen, noch moralische Gerechtigkeit und Menschenwürde und damit die Sinnbedingungen des Moralischen. Technologien, die solche Wirkungen auslösen können, dürfen aus diesem Grunde strenggenommen überhaupt nicht eingesetzt werden, allenfalls als letzte Notstrategien zur Menschheitsrettung. Dann jedoch nur mit größter Vorsicht und bei Revisionsmöglichkeit. Atomenergie ist freilich nicht reversibel. Sowohl das Gefährdungspotential einer Totalvernichtung der Menschheit als auch dasjenige einer (z. B. biotechnologischen) Unterminierung der Menschenwürde kann es erforderlich machen, daß auf den Einsatz einer Technologie ganz verzichtet wird, und zwar selbst dann, wenn dieser den Lebensinteressen und Gerechtigkeitsvorstellungen einzelner Menschen, einzelner Bevölkerungsgruppen oder einzelner Nationen dienlich sein dürfte. Schließlich verpflichtet die ebensowohl von Jonas wie von der Diskursethik geltend gemachte Forderung, stets die Möglichkeit der Verantwortung zu gewährleisten und die Moralansprüche der Nachgeborenen zu respektieren, zu einem sensiblen Engagement für die Realisierungsbedingungen unserer Zukunftsverantwortlichkeit. So geht es nicht zuletzt darum, jene personalen und institutionellen Bedingungen – von der Bildung über das materielle Auskommen und die ökologische 513 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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Sicherung der Lebenswelt bis zur Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte – zu bewahren und zu verbessern, die es den Zukünftigen erlauben, ihrerseits verantwortlich zu handeln. In diesem umfassenden Sinne zeigt sich Jonas’ ontologischer Grundsatz als diskursverbindlicher politisch ethischer Grundsatz: »Die Möglichkeit, daß es Verantwortung gebe, ist die allem vorausliegende Verantwortung.« 196

IV.8 Die Grundnorm Menschenwürde – Verbindlichkeitserweis im Dialog mit einem Zweifler Doch langsam! Gleich hier kann ein skeptischer Diskurspartner einwenden, daß es fast auf eine Erschleichung hinausliefe, wenn man wie aus der Pistole geschossen den Anwendungsbereich der Menschenwürdenorm abstecken wolle, ohne zuvor demonstriert zu haben, daß dem Gebot ›Achte die Würde jedes menschlichen Wesens!‹ überhaupt Verbindlichkeit zukomme, was ja weder in der großen Philosophie – man denke nur an Platon und Aristoteles – noch in den verschiedenen Kulturen allenthalben der Fall ist. Zuerst einmal wäre also zu erweisen, daß diese Norm als moralische Grundnorm zu gelten verdient. Diesem Einwand sollten wir umso mehr Folge leisten, als die Achtung der Menschenwürde einen Kerngehalt des Moralprinzips und Diskursprinzips bildet. Daher hängt alles von einem Verbindlichkeitserweis der Menschenwürdenorm ab. Gelänge dieser nicht, dann schiene das Moralprinzip leer und formal zu sein. Die Menschenwürdenorm ist der Grundsatz, daß dem menschlichen Leben eine nicht anzutastende Würde zukomme, die in zwei moralischen Urrechten, dem Recht auf (mögliche) Selbstbestimmung und dem auf Unverletzlichkeit des eigenen Lebens Ausdruck findet. Die (mögliche) Selbstbestimmung und die im weitesten Sinne leibliche Integrität eines Menschenwesens soll, und zwar unabhängig von Entwicklungsstadium und konkreten Fähigkeiten, weder seitens eines Staates oder anderer Institutionen noch – das ist der Sinn der sogenannten Drittwirkung eines Grundrechts – von anderen Menschen angetastet werden. 197 Das ist ein hoher Anspruch, eine moralische Verfassungsund Rechtsidee, die als solche nicht nur die politische und z. B. die me196 197

H. Jonas, PV (1979), S. 186. Dazu J. P. Brune, Moral und Recht (2010), Teil B: Menschenwürde und Potentialität.

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IV.8 Die Grundnorm Menschenwürde

dizinische Wirklichkeit wie auch den sozialambitionierten deutschen Strafvollzug fordernd überstrahlt, sondern auch die Verfassungs- und Rechtsnormen selbst. Angesichts der postmodernen Relativierung und liberalistischen sowie existentialistischen Subjektivierung ethischer Normen ist es dringlich, die einsehbare Verbindlichkeit des Menschenwürdegebots zu erweisen. Zwar ›haben‹ die Abendländer diese Grundnorm schon aus uralter Glaubenstradition. Es fragt sich aber, ob man das, was glaubenstraditionell oder verfassungspatriotisch motivieren mag, auch argumentativ einholen kann. Entstanden ist der Menschenwürdegrundsatz aus der biblischen Überzeugung, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe (1. Mose 1, 26 f.). Daraus läßt sich das sechste bzw. nach katholischer und lutherischer Zählung das fünfte der Zehn Gebote ableiten: »Du sollst nicht morden« (2. Mose 20, 13 und 5. Mose 5, 17; präzisiert im Noahbund: 1. Mose 9, 6). Noch jener säkulare Geist, der sich heute in Menschenrechtsdeklarationen und etwa in dem deutschen Grundgesetz objektiviert hat, steht in der Wirkungsgeschichte dieses Bekenntnisses zu Gott, dem Schöpfer, und seiner moralischen Ordnung. So haben sich die Mütter und Väter des »Grundgesetzes« bei der Formulierung des Ersten Artikels teils direkt von deren theologischem Hintergrund leiten lassen, teils von Kants säkularer ›Übersetzung‹ der Lehre von der Gottesebenbildlichkeit. Hatte Kant doch versucht, deren normativ ethischen Gehalt als »objektives Prinzip des Willens« einzuholen, so daß er »zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen« könne. 198 In dieser Absicht stellte er die Menschenwürdebzw. Selbstzweckformel als »praktische« Formel des kategorischen Imperativs auf. Sie formuliert die unbedingte Verpflichtung, ein menschliches Wesen niemals ausschließlich als Mittel sondern stets zugleich als Zweck zu brauchen, damit die vernunftfähige, mithin moralfähige Natur in jeder Person geachtet werde: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« 199 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 429. Es handelt sich bei diesem Versuch allerdings eher um eine Setzung als um eine argumentative Einholung, weil sich diese materiale und soziale Norm in Kants Denkrahmen nicht begründen läßt, weil dieser ein asoziales, nämlich im Singular gedachtes Vernunftsubjekt voraussetzt. 199 Ebd. Im Anschluß daran arbeitet Kant die »Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich sich selbst gibt«, als Kriterium dafür 198

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Zukunftsverantwortung und Menschenwürde

Im deutschen Rechtsraum gilt die Menschenwürdenorm kraft der förmlichen, verfassunggebenden Entscheidung des seinerzeitigen Parlamentarischen Rates. Daß eine faktische Entscheidung auch der einzige Geltungsgrund sei, nimmt die große politisch ethische Koalition des modernen Pluralismus an. Sie verbindet die Popperianer mit den Existentialisten und den liberalen Theologen. Der Standpunkt, daß sich moralische Normen nicht argumentativ begründen lassen, ihre Geltung also nicht aus allgemein einsehbaren Gründen ziehen können, sondern bloß aus der Tatsache, daß sich eine Gemeinschaft für sie entschieden hat, ist ja der eine Pol des westlichen Komplementaritätssystems. Den anderen Pol bildet die »wertfreie«, nicht moralisch orientierungsfähige, formale Rationalität der Wissenschaft und der ökonomischen Mittelsuche. Tertium non datur? Jedenfalls können die allermeisten Vertreter der Menschenwürdenorm für deren Geltung nicht mehr als eine Glaubensentscheidung – logisch also eine Arationalität – ins Feld führen. Es herrscht eine Dürftigkeit des Denkens vor. Sie bedeutet einen Skandal von universell politischer und rechtsethischer Tragweite: Einerseits gründen die Menschenrechte einschließlich der Kinderrechte und die Menschenrechtsdeklarationen, auf der Verbindlichkeit der ›Menschenwürde‹ und setzen deren universale Einsehbarkeit voraus. Andererseits nimmt der Zeitgeist unter Einschluß der allermeisten Wissenschaftstheoretiker und Philosophen entweder direkt an, daß sich deren Verbindlichkeit strenggenommen nicht einsehen, d. h. erweisen lasse, oder man stellt diese Letztbegründbarkeit zumindest in Frage … Das wäre ein Skandal der Vernunft, wenn auch die Diskursethik, genauer gesagt deren Begründungsreflexion, nicht zu einem Verbindlichkeitserweis des Menschenwürdegebots in der Lage wäre. Diesen Eindruck muß man allerdings haben, wenn man sich allein an Jürgen Habermas orientiert: sei es an seinen anfänglichen Arbeiten zur »Diskursethik« 200, worin er diesen Titel noch anspruchsvoll verwendete, sei heraus, daß dem Menschen ein absoluter bzw. »innerer« Wert zukomme, und nicht etwa bloß ein von außen zugemessener, relativer Wert, nämlich entweder ein Marktpreis oder ein Affektionspreis (a. a. O., S. 434 f.) Kant kommt zu dem Schluß, daß moralische Autonomie, also die Selbstbestimmung eines Willens hinsichtlich seiner moralischen Urteilsbildung bzw. Gesetzgebung »der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur« sei (a. a. O., S. 436). 200 J. Habermas, »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: ders., Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 53–126. Ders., »Was macht eine Le-

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IV.8 Die Grundnorm Menschenwürde

es an seiner späteren Rückzugsposition einer »Diskurstheorie« 201. Schon die Lektüre seiner frühen diskursethischen Schriften kann freilich – Matthias Lutz-Bachmann, Habermas’ Nachfolger in Frankfurt am Main, ist ein unverdächtiger Zeuge – zu folgendem Schluß führen: Habermas’ Version der Diskursethik ist nur eine Verfahrensethik zur rationalen Diskussion konfligierender Interessen. Ihr normatives Kriterium besteht bloß in dem Verfahrensprinzip einer »interessegeleiteten Zustimmung« (Lutz-Bachmann). 202 Ohne hier die Auseinandersetzung zwischen Habermas’ formalpragmatischer Diskursethik und der, von Apel eingeführten, transzendentalpragmatischen Begründung eines verbindlichen Moralprinzips samt seiner ethischen Gehalte eigens zu führen 203, sollte immerhin der Hauptaspekt geklärt werden. Prüfen wir in einem Diskurs, ob eine bloße Verfahrensförmlichkeit das letzte Wort der Diskursethik sein muß, oder ob die Diskursreflexion ein materialethisches Fundament erschließen kann. O: Ich behaupte erstens, daß die Diskursethik, weil sie zur Begründung moralischer Normen und Werturteile nichts als den Rückgang auf den Diskurs zu bieten hat, keine prinzipielle moralische Orientierung ermöglicht, wie sie der Grundsatz, die Würde jedes Menschen sei unbedingt zu achten, enthält. Der Ansatz bei dem Diskurs kann – zweitens – bloß zu einem Konsensbildungsverfahren gelangen, dem das Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung zugrundeliegt. Das ermöglicht selbstredend keine unbedingte Verpflichtung und Verbindlichkeit. bensform ›rational‹ ?«, in: ders., Erläuterungen (1991), S. 31–48. Vgl. auch a. a. O., S. 119–226. 201 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. kritisch dazu: J. P. Brune, Moral und Recht (2010). 202 M. Lutz-Bachmann, »Praktischer Diskurs und sittliche Vernunft«, in: B. Irrgang u. M. Lutz-Bachmann (Hg.), Begründung von Ethik. Beiträge zur philosophischen Ethikdiskussion heute, Würzburg 1990, S. 109. 203 Dazu K.-O. Apel, »Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 40, 1986, S. 3–31. Ders., »Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung in Habermas’ Faktizität und Geltung. Dritter, transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken«, in: ders., Auseinandersetzungen (1998), S. 727–839. J. Habermas, »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung«, in: D. Böhler, M. Kettner u. G. Skirbekk (Hg.), Reflexion und Verantwortung (2003), S. 44–64.

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Zukunftsverantwortung und Menschenwürde

P: Wenn du dich auf eine strikte, dialogpragmatische Begründungsreflexion einläßt, kommst du zu einem anderen Ergebnis als Habermas. Er setzt bereits die Situation des praktischen Diskurses voraus, auf die aber ein Skeptiker sich nicht einlassen muß, weil er deren Zumutung mit der Frage kontern kann ›Warum soll es vernünftig sein, sich als praktischer Diskursteilnehmer (statt z. B. rein zweckrational bzw. strategisch als homo oeconomicus) zu verhalten?‹ Ich werde dir im Dialog durch Reflexion auf den Diskurs zeigen, daß deine Ausgangsthese (1) nicht zutrifft und daß deine Kriterienannahme (2) nicht folgt. O: Wie das? P: Mache dir einfach klar, was du als gültig und für dich als meinen Partner im Diskurs, jetzt zunächst in dieser realen Kommunikationsgemeinschaft, voraussetzen und als verbindlich anerkennen mußt. O: Und was, bitteschön, wäre das? P: Damit deine Rede von mir (und anderen) als Argument mit kritisierbarem Geltungsanspruch aufgenommen und diskutiert werden kann, mußt du voraussetzen, daß sie als argumentativer Beitrag im Dialog mit Anderen verständlich ist: Das ist eine kognitive Sinnbedingung des Argumentierens. Damit du von mir (und ggf. anderen) als Argumentationspartner in einem Diskurs über Wahrheit und Richtigkeit ernstgenommen werden kannst, mußt du den Anspruch auf Wahrhaftigkeit, d. h. die eigene Bereitschaft, mit den Anderen dialogpartnerschaftlich zusammenzuarbeiten, mitbringen und als verbindlich anerkennen. Das ist deine praktische Glaubwürdigkeitsbedingung. O: Und was bedeutet das? P: Indem du Anderen gegenüber etwas geltend machst, also die Diskurspartnerrolle übernimmst, beanspruchst du, diese Rolle wahrhaftig und nicht zum Schein zu übernehmen, so daß die anderen Diskursteilnehmer sich auf dich verlassen können. Sie müssen ja darauf bauen können, daß du mit ihnen im Diskurs ernsthaft zusammenarbeiten willst, um jeweils die Wahrheit einer Annahme und/oder die Richtigkeit einer Handlungsaufforderung herauszubekommen. O: Dann wäre der Wahrhaftigkeitsanspruch eines Diskursteilnehmers zugleich seine Selbstverpflichtung zur Partnerschaftlichkeit im Diskurs? 518 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

IV.8 Die Grundnorm Menschenwürde

P: Ebendas ist er. Eine weitere Verbindlichkeit kommt hinzu: Damit wir schließlich deine (wie auch meine) Beiträge hinsichtlich ihrer Ansprüche, allein kraft Begründbarkeit und freier Einsehbarkeit zu gelten, hier in einem Diskurs prüfen und ggf. verbessern können, müssen wir danach streben, alle sinnvollen Argumente in unseren Dialog einzubringen. Das ist die Gültigkeitsbedingung eines Diskursbeitrags. Denn das wirst du doch zugeben: Wir können wissen, daß der argumentative Dialog eine verbindliche Geltungsinstanz ist, die als Diskursuniversum etwas Ideales an sich hat, da sie alle performativ und propositional widerspruchsfreien Argumente und auch deren mögliche Vertreter, und zwar als Gleichberechtigte, einschließt. O: Das ist geschenkt. Aber daraus folgt doch nicht, daß die Diskursethik die Verbindlichkeit der Menschenwürde (1) und damit auch – im Unterschied zur interessierten Zustimmung – ein absolutes Kriterium für Gültigkeit (2) begründen kann. P: Nicht eigentlich die Diskursethik, wohl aber die argumentative Dialogreflexion, auf die sie sich gründet und deren Resultate sie als moralische Normen auf moralische Konflikte anwendet. O: Und wie soll die Begründung vor sich gehen? P: In zwei Schritten. Im ersten Schritt rekonstruiert man, an sein intuitives und wissenschaftsvermitteltes Vorverständnis von Dialog anknüpfend, notwendige interne Bedingungen, die bei der Durchführung eines Dialogs, in dem allein nach Wahrheit und Richtigkeit gesucht wird, erfüllt werden müssen. Man deckt also Sinnbedingungen eines argumentativen Diskurses auf. Dann setzt der zweite Schritt ein: die reflexive Prüfung, ob die aufgesuchten Sinnbedingungen sich wirklich als solche erweisen lassen. Zu diesem Zweck bezweifelt man den Status einer dieser rekonstruierten Bedingungen: Ist die vermeintliche Sinnbedingung in der Tat eine solche? Ist sie wirklich schlechthin konstitutiv für das Argumentieren, mithin allgemeingültig und allgemeinverbindlich? O: Ein solcher Zweifel ist allerdings angebracht. Denn dein Ausgang von einem »Vorverständnis« und dein »Rekonstruieren« bzw. »Aufdecken« von Sinnbedingungen hängt ab vom Horizont und Standpunkt desjenigen, der die Rekonstruktion durchführt. Daher kann das Verfahren durchaus fehlerhaft sein. P: Mit solchen Fehlerquellen muß man in der Tat rechnen. Aus diesem Grunde zeichnet die Diskurspragmatik die Prüfung des Zwei519 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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fels als den entscheidenden Begründungsschritt aus: In einer reflexiven sokratischen Prüfung wird geklärt, ob sich der skeptische Einwand überhaupt als sinnvolle Argumentation in einem Dialog vertreten läßt. Für eine solche Prüfung ist vor allem zweierlei erforderlich 204: Erstens dürfen die Diskursteilnehmer nicht nur ihre Aussagen, sondern müssen ihre ganze performativ-propositionale Rede betrachten, indem sie diese (hinsichtlich ihrer Geltungsansprüche) als Beitrag zu einem jetzt stattfindenden Dialog in Augenschein nehmen. Zweitens ist zu klären, ob sich der Dialogbeitrag des Zweiflers von den anderen Diskurspartnern als argumentativer Dialogbeitrag verstehen und prüfen läßt oder aber nicht. Aber was soll das Kriterium für Unverständlichkeit im Diskurs sein? Wann tritt der dialogische Unverständlichkeitsfall ein? Er tritt genau dann ein, wenn jemand eine skeptische Behauptung vorbringt, die etwas bezweifelt, was sie selbst als gültig in Anspruch nehmen muß, damit sie jetzt als Diskursbeitrag für Andere verständlich und prüfbar sei. Läßt du dich auf eine solche dialogpraktische Prüfung ein? Probieren wir einmal, was dabei herauskommt. Gut. Das Verfahren ist der dialogische Test, ob ein Gültigkeits- und Verbindlichkeitserweis des Menschenwürdegrundsatzes, genauer: seines normativen Gehalts, überhaupt möglich ist. Woran würden wir erkennen, ob so ein Test möglich ist, ja, ob er gelungen ist? Daran, daß es Sinnbedingungen des Diskurses gibt, die mit dem Menschenwürdegrundsatz normativ deckungsgleich sind, und daran, daß diese sich – jetzt von dir – nicht durch einen sinnvollen, weil prüfbaren, Diskursbeitrag in Zweifel ziehen lassen. Und woran soll ich bemessen, ob der Zweifel ein sinnvoller Diskursbeitrag ist oder nicht? Du ermißt es daran, ob der Zweifel pragmatisch widerspruchsfrei ist. Das diskurspragmatische Sinnkriterium steckt in der Refle-

Das Verhältnis von ›Vorverständnis‹, ›Rekonstruktion‹ und ›Dialogreflexion‹ wird näher bestimmt in: D. Böhler, »Dialogbezogene (Unternehmens-)Ethik« (1998), S. 143 ff.

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xionsfrage: ›Ist ein Zweifel vereinbar mit den Sinnbedingungen unserer Rolle als Partner im argumentativen Dialog?‹ 205 Sokratisch elenktisch gesagt: Wenn sich die Unvereinbarkeit des Zweifels mit Rollenvoraussetzungen des Diskurspartners herausstellt, dann ist der Zweifel als sinnlos erwiesen. Positiv gewendet heißt das: Wenn eine Skeptikerwiderlegung durch Reflexion auf Sinn- und Geltungsbedingungen des Diskurses in dem gerade geführten Dialog gelingt, dann ist das Bezweifelte als letztgültig bzw. als uneingeschränkt verbindlich erwiesen. Einverstanden. Prüfen wir zunächst meine These (2), die Kriterienannahme. Ich präzisiere sie jetzt, indem ich behaupte: Es ist zweifelhaft und muß dahingestellt bleiben, ob man durch argumentationsreflexiven Rückgang auf den Diskurs zu einer verbindlichen Orientierung gelangt oder allenfalls zum Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung (3). Laß uns untersuchen, ob dies ein sinnvoller argumentativer Dialogbeitrag ist. Schließlich bringst du diese These in einem Diskurs (nämlich gerade jetzt im Dialog mit mir) und mit Anspruch auf Geltungsfähigkeit vor. Im zweiten Teil deiner These sprichst du von dem Kriterium einer interessegeleiteten Zustimmung, auf welches allein die Diskursreflexion führen könne. Ich konzentriere mich zunächst auf diesen Punkt: Bist du der Ansicht, daß in einem Diskurs nicht nur Argumente, sondern auch schon Interessen als Gültigkeitsinstanzen zählen? Laß mich diese Ansicht einmal vertreten. Gut. Dann müssen wir prüfen, ob sie sich in einem Diskurs vertreten läßt. Um den Beweisgang abzukürzen, stelle ich dir eine Frage, die auf die vorhin getroffene Unterscheidung von Sinnbedingungen der Rede und Glaubwürdigkeitsbedingungen der Partnerintention zurückgreift. Nur zu! Ist es eine sinnvolle Rede und bist du für mich (bzw. deine Partner im Dialog – wer immer sie sein mögen) ein glaubwürdiger, ernstzunehmender Diskurspartner, wenn du behauptest: ›Nicht nur Argumente gelten im Diskurs, sondern auch Interessen. Daher kann eine Zustimmung, die aus Interessen erfolgt, ein Kriterium für Gültigkeit sein‹ ? Siehe oben, Abschnitt III.4.4.

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Kannst du als wahrhaftiger Diskurspartner, der nach Wahrheit und Richtigkeit sucht und der als solcher von mir (bzw. deinen Partnern) ernstgenommen sein will, diese ›Interessen-Kriterien-These‹ als These mit kritisierbarem Geltungsanspruch verstehen und in einem argumentativen Dialog vertreten? Das ist in der Tat heikel. Es ist vielmehr unmöglich. Bedenke doch: Wenn du und wann immer du wirklich nach Wahrheit bzw. Richtigkeit suchst, kannst du im Diskurs Interessen nicht einfach gelten lassen, weil sie halt vorliegen, sondern lediglich als Kandidaten für gute Gründe, als Ansprüche auf Geltung. Diese Ansprüche müßten jedoch erst eingelöst werden, nämlich durch triftige, allgemeine Zustimmung verdienende Argumente, welche bestimmte Interessen hinreichend begründen können. Andernfalls wärest du nicht, wie du vorgibst, ein nach Gültigkeit suchender Diskurspartner, sondern ein raffinierter Interessendurchsetzer, der sich einer Diskursveranstaltung bloß als Mittel bedient und in gewisser Weise die Würde seiner Partner verletzt, weil er sie nur scheinbar als Partner eines Dialogs der Argumente ernstnimmt und … Du spielst auf die Menschenwürde an? Ja. Denn die nimmst du jetzt im Dialog mir gegenüber für dich in Anspruch, und ebenso nehme ich sie für mich in Anspruch. Und inwiefern verletze ich sie? Wenn du letztlich nicht nach dem besten Argument suchst, nach Gründen, die gelten können, dann nimmst du mich nicht als Argumentationspartner ernst, sondern machst mich wie auch den Diskurs zum Mittel deines strategischen Kalküls. Du achtest mich nicht in meiner Würde als Diskurspartner, als gleichberechtigtes Vernunftsubjekt. Vielmehr erniedrigst du mich. Denn du machst mich zum Mittel deiner eigenen partikularen Zwecke. So, so. Starker Tobak! Erkennst du an, daß die Suche nach Gültigkeit, also nach Wahrheit von Sachverhaltsbehauptungen und Richtigkeit von Normbehauptungen bzw. von Normen und Handlungsweisen, an die Achtung der Würde all jener als Argumentationspartner gebunden ist, die an der Gültigkeitssuche teilnehmen? Das folgt offensichtlich. Aber diese Achtung bezieht sich ausschließlich auf die Diskursteilnehmer, nicht auf die da draußen und nicht auf ›meine‹ Praxis außerhalb von Diskursen. Die Dis-

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kursverpflichtungen gelten nur für Diskurse; ihre normative Geltung überträgt sich nicht nach ›draußen‹ auf die diskursexterne Praxis in Lebenswelt und Gesellschaft. Diesen Vorbehalt haben zuerst Karl-Heinz Ilting und dann Habermas geltend gemacht. 206 Ist er nicht durchschlagend? Das bleibt zu prüfen. Laß uns zuvor nur festhalten, was wir geklärt haben und worin wir mittlerweile übereinkommen. Gut, mein Herr Pedant. Wir müssen einräumen, daß sich sowohl ein theoretischer Diskurs (über die Wahrheit von Sachverhaltsaussagen, etwa von Situationsbeschreibungen) als auch ein praktischer Diskurs (über die Richtigkeit eines normativen Urteils, die Legitimität einer Norm und die Berechtigung zu einer bestimmten Handlung) nur dann führen läßt, und daß ein Diskursergebnis nur dann gültig sein kann, wenn die Teilnehmer allein sinnvolle, performativ widerspruchsfreie Argumente zulassen und einander als gleichberechtigte, fair zu behandelnde Partner achten, so daß sie dem Verfahren und dem Ergebnis würden zustimmen können. Kannst du dem beipflichten? Insoweit bin ich einverstanden. Denn wahr oder richtig kann schlechterdings nur etwas sein, das alle, die sich sachkundig machen und ausschließlich widerspruchsfreie Diskursbeiträge gelten lassen, gleichberechtigt prüfen können und dem sie frei, aus Einsicht, zustimmen können. Eben; genau darauf kommt es an. In diesem Sinne können wir jetzt das Kriterium der Zustimmung näher bestimmen und deine Vermutung prüfen, die Diskursethik könne bloß eine interessegeleitete Zustimmung ins Auge fassen. Ja. Mehr kann sie nicht bieten. Geht sie doch von realen Diskursen aus. Und in wirklichen Diskursen sind die Leute natürlich oft genug von ihren Interessen geleitet, selbst wenn sie sich größte Mühe geben, einen guten, argumentativen Diskurs zu führen. Nun frage ich dich, der du in diesem realen Diskurs als Diskurspart-

206 Vgl. K.-H. Ilting, »Der Geltungsgrund moralischer Normen«, in: W. Kuhlmann u. D. Böhler (Hg.), Kommunikation und Reflexion (1982), S. 612–648; wiederum in: K.-H. Ilting, Grundfragen (1994), S. 138–175. J. Habermas, »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: ders., Moralbewußts. u. kommunik. Handeln (1983), S. 53–126.

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ner ausschließlich widerspruchsfreie Argumentationshandlungen gelten läßt und nach dem besten, dem wahren theoretischen bzw. dem richtigen praktischen Argument suchst: Kannst du als Diskurspartner in deiner Suche zufriedengestellt sein, wenn dir gesagt wird: ›Deine Wahrheits- und Richtigkeitssuche ist am Ziel, wenn deine Gesprächspartner dir zustimmen, auch wenn sie nur von ihren zufälligen Interessen dazu motiviert werden?‹ Das wohl nicht. Aber so kann es doch immer sein. Wir sind eben keine Engel. In der Tat nicht. Aber eben weil es so sein kann und unsere faktischen Diskussionen vielleicht nur selten frei sind von Verzerrungen durch Interessen, benötigen wir die Unterscheidung: faktische Diskursveranstaltung – strikt argumentativer Diskurs. Es geht ja um die Idee des Diskurses, mithin um ein Geltungskriterium, auf das wir uns einlassen können, ohne mit der von uns beanspruchten Rolle des Argumentationspartners in Widerspruch zu geraten. Also ohne sein Diskursgesicht zu verlieren? Ja. Denn wenn du so etwas wie »interessegeleitete Übereinstimmung« zum Geltungskriterium erhebst, müßtest du dann nicht immer argwöhnen, von Interessenten – vielleicht liebedienerisch oder einen Vorteil erwartend – fehlgeleitet zu werden, oder auch dich selbst zu betrügen, weil du, genaugenommen, gar nicht nach Gültigkeit strebtest sondern bloß nach Übereinstimmung in einem Kreis, der von (verwandten) Interessen beherrscht wird? So scheint es zu sein. Jedenfalls würde Sokrates sagen, man könne dann nicht im Einklang, in »Homologie«, mit sich als Logossucher und Diskurspartner sein. Und Sokrates könnte das mit allem Recht sagen. Denn du nähmest dann einen Widerspruch in Kauf zwischen dem Anspruch auf argumentative Gültigkeit, den du mit deiner Behauptung oder einer Argumentationshandlung ins Spiel gebracht hast, und einem Geltungskriterium, das dich mit Interessen abspeist. Damit hast du wohl recht. Und damit ist deine Annahme widerlegt, daß sich in einem Rückgang auf den argumentativen Diskurs keine verbindliche Orientierung gewinnen lasse. Vielmehr gibt es für materiale Normen wie das Menschenwürdegebot strikte Verbindlichkeit, nämlich aus allgemein einsichtigen Gründen. Und was für Gründe sollen das sein?

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P: Eben diejenigen Gründe, die wir alle haben, wenn wir uns besinnen auf die vorgängige (primordiale) Rolle eines Dialogpartners, die wir mit jeder ernsthaften Behauptung und mit jeder ernstgemeinten Frage bereits übernommen haben. O: Du meinst also, eine rationale Letztbegründung moralischer Grundnormen sei in der Tat möglich? P: Du hast sie vor dir: Durch die Übernahme einer Erkenntnisrolle, einer Diskurspartnerrolle hast du unausdrücklich alle anderen Erkenntnissubjekte anerkannt, bist gewissermaßen in die unbegrenzte Gemeinschaft der Diskursteilnehmer oder Erkenntniswilligen (im strengen Sinne) eingetreten. Und damit hast du zugleich die Verbindlichkeit des argumentativen Dialogprinzips als das Prinzip der Moral anerkannt. O: Wie lautet es? P: Hinsichtlich seines normativen Gehalts etwa so: ›Bemühe dich um die Argumentation und um diejenige Handlungsweise, die die begründete Zustimmung aller als Diskurspartner verdient.‹ O: Aber das ist formal und schließt nicht die Pflicht zur Achtung der Würde jedes menschlichen Wesens ein. P: Genau diese Pflicht schließt das letztbegründbare Diskursprinzip ein. O: Weshalb und inwiefern? P: Weil das Diskursprinzip unwiderleglich verlangt, sich um die gleichberechtigte Berücksichtigung aller sinnvollen Argumente zu bemühen, die von irgend jemandem für irgend etwas (auch advokatorisch für einen noch nicht oder nicht mehr diskursfähigen Menschen) vorgebracht werden könnten, schließt es zuallererst die Verpflichtung ein, das Leben und darüber hinaus die kommunikative Freiheit, mithin die Denk- und Dialogchancen all derer zu achten und zu schützen, die Ansprüche haben könnten. Und besteht nicht eben darin der materiale Gehalt des Menschenwürdegrundsatzes, der das Urrecht bzw. das ursprüngliche moralische Recht (jedenfalls) aller möglichen Mitglieder der Menschengattung zum Ausdruck bringt? O: So ist es wohl. Doch wie steht es mit meinem vorhin, in Analogie zu Ilting und Habermas, gebrachten Einwand, daß sich ein Begründungsversuch der Menschenwürdenorm aus dem Diskurs auch bloß auf die Teilnehmer an einem Diskurs erstrecken könne und daß die so begründete moralische Norm strenggenommen nur so525 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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lange greift, wie der Diskurs dauert? In diesem Sinne bezweifle ich, daß ein Diskurspartner dazu verpflichtet ist, auch außerhalb von Diskursen die Würde aller Menschen zu achten. Meinst du das ernst? Ja. Indem ich das sage, halte ich meinen Anspruch hoch, dir ein glaubwürdiger Diskurspartner zu sein. Eben das kannst du nicht, wenn du diese These behauptest. Das verstehe ich nicht. Ich werde doch noch zweifeln dürfen. Gewiß. Doch es gibt sinnvolle und sinnlose Zweifel. Und der deine ist zwar in gewisser Weise nützlich, weil wir an ihm etwas lernen können; aber als Diskursbeitrag zwischen Dialogpartnern ist er sinnlos, weil er sich nicht mit dem Anspruch vereinbaren läßt, ihr Vertreter sei ein wahrhaftiger, ein glaubwürdiger Diskurspartner, und er achte (als ein solcher) unbedingt die Würde seiner Gesprächspartner. Wieso? Ich kann doch – praktisch – dir ein glaubwürdiger Diskurspartner sein und – theoretisch – Zweifelsexperimente anstellen. Warum soll eine radikale theoretische Perspektive nicht mit ernsthafter Praxis vereinbar sein? Betreibst du nicht eine unerlaubte Vermengung von Theorie und Praxis? Springst du nicht aus dem Diskurs in die Welt der Praxis? Nein; ich demonstriere, daß eine dialogbezogene, rechtfertigungsfähige Vermittlung von Theorie und Praxis besteht. Dieser weichst du aus. Versetze dich in die Situation, in die mich dein Zweifel bringt, und überlege: Am Sonntag, nämlich im Diskurs, verspräche dir jemand, die Menschenwürde der anderen Sonntägler, der Diskursteilnehmer, zu achten, doch im Alltag sähe er sich nicht auf das Menschenwürdegebot verpflichtet. Könntest du diesen als glaubwürdigen Partner im Diskurs anerkennen? Wohl eher nicht. Mit Sicherheit nicht. Bedenke nur zweierlei: einmal die Verwobenheit von Diskursen mit der Alltagswelt. Diskurse finden nicht auf einem anderen Stern statt; vielmehr müssen sie in der realen Welt geplant, organisiert und durchgeführt werde. Und am Ende sollen ihre Ergebnisse in dieser Welt realisiert werden. Überall da ist die Glaubwürdigkeit und die Menschenwürde der Diskurspartner als Menschen in der Praxis gefragt. So ist es wohl. Bedenke zum anderen, daß sich die Grenze zwischen den Teilneh-

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mern und den Nicht-Teilnehmern an einem Diskurs der Argumente nicht empirisch festlegen läßt: Eine solche Grenze wäre immer zufällig und willkürlich. Denn sie läßt sich nur von außen bzw. durch zufällige Umstände festsetzen. Sie bleibt dem argumentativen Diskurs äußerlich. So könntest du Teilnehmer, aber auch Außenstehender sein, Beteiligter, Zaungast oder Betroffener. Doch diese empirische Zufälligkeit tut nichts zur Sache. Was ist denn hier die »Sache«? Die Sache des Diskurses ist die dialogförmige Argumentation und die Suche nach möglicher Wahrheit oder Richtigkeit, also nach den universal geltungsfähigen Argumenten. Solche Argumente müßten alle berechtigten Ansprüche und die Gründe, die für diese sprechen können, berücksichtigen. Folglich müssen die jeweiligen Diskursteilnehmer auch die Würde aller achten, die zwar an diesem faktischen Diskurs nicht teilnehmen, die aber Diskursteilnehmer sein könnten, werden könnten oder gewesen sein könnten. Das wären freilich alle Menschen. Ja, zumindest alle Menschen. Denn von den Menschenwesen wissen wir, daß ihnen die Möglichkeit, Diskursteilnehmer zu werden, von Natur mitgegeben ist. Das ist aber ein bloßes Faktum. Also schließt du von einer bloßen Tatsache auf eine Norm, von einem natürlichen Sein auf ein moralisches Sollen. Langsam! Ein solcher naturalistischer Fehlschluß läge nur dann vor, wenn man allein aus Fakten eine Norm ableiten würde – genauer gesagt, aus zufälligen Tatsachen, welche nicht zugleich Voraussetzungen dafür sind, daß sich ein allgemeinverbindliches moralisches Prinzip überhaupt befolgen läßt. Aber du setzt hier doch ein bloßes Faktum voraus: die Tatsache, daß ein Wesen die Potentialität besitzt, Ansprüche haben oder anmelden zu können. Sieh genauer zu! Diese Tatsache ist nicht eine Zufälligkeit, welche deiner und meiner Fähigkeit, zu denken, zu urteilen und moralisch zu handeln äußerlich wäre. Sie ist vielmehr deren interne Voraussetzung. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Normen bilden zu können, moralische Erwägungen anzustellen usw. Die in der Menschengattung biologisch angelegte Potentialität, Ansprüche zu haben und diese zu äußern – und auch der Taubstumme kann das auf seine Weise –, ist eine Existenzbedingung der Moral, 527 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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jeder möglichen Norm, jeder Rechtfertigung usw. Die Anlage zur Diskursfähigkeit ist kein kontingentes Faktum, sie gehört selbst zur Möglichkeit der Moral – ontologisch und logisch. Du meinst, sie gehöre ontologisch dazu, weil sie die Existenzbedingung von Moral, von Normen und einer Normendiskussion ist? Ja. Zudem ist der Begriff der Diskursfähigkeit logisch verwoben mit den Begriffen ›Moral‹, ›Norm‹ etc. Wie das? Überlege doch: Würde deine Rede von Moral und Normen irgendeinen Sinn ergeben, wenn du dabei nicht voraussetzen könntest und bereits vorausgesetzt hättest, daß die Adressaten der Moral oder einer Norm – auch du selbst, der du davon redest – die Anlage zur Diskursfähigkeit mitbrächten? Ein nachwittgensteinsches Gedankenexperiment. Was wäre, wenn wir diese Existenzbedingung nicht als Sinnvoraussetzung unserer möglichen Rede von Normen, Moral usw. ins Spiel gebracht hätten? Dann liefe diese Rede leer. Sie bliebe unverständlich? Als Diskursbeitrag unverständlich. Eben deshalb gehört die Annahme dieser Fähigkeit selbst zum Begriff von Moral, Norm etc. Doch damit nicht genug. Denn die biologisch vorgegebene Diskursfähigkeit ist weder die einzige noch die ausschlaggebende Voraussetzung. Und das dürfte sie auf keinen Fall sein. Denn was wir brauchen, ist der Grund für eine Verbindlichkeit, wie Kant sagt. Woher willst du den nehmen? Die allgemein einsehbaren, daher allgemeinverbindlichen Gründe für eine unbedingte Verpflichtung kommen aus dem praktischen Vorwissen, das wir als Diskurspartner mitbringen. Und dessen mögliche Wahrheit können wir durch Reflexion auf interne Voraussetzungen des Diskurses, auf dessen normative Sinnbedingungen, prüfen und validieren. Und eine dieser Sinnbedingungen, dieser Diskursnormen, ist die Verpflichtung, die Würde aller möglichen Diskursteilnehmer zu achten, also zumindest die Würde aller menschlichen Wesen. Und weil das eine Diskursnorm ist, meinst du, sei es zugleich eine Norm, die für die Praxis verpflichtend ist. Das gehöre zu unserem Verpflichtungswissen als Diskursteilnehmer?

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IV.9 Was heißt und wo beginnt Menschenwürde?

P: So ist es. Diskurspartner jedoch, die den Verpflichtungsgehalt dieses Wissens bezweifeln, bringen einen sinnlosen Diskursbeitrag vor, weil sie sich dadurch zu dem grundlegenden Glaubwürdigkeitsanspruch in Widerspruch setzen, den sie durch Übernahme der Diskurspartnerrolle erhoben haben. Sie unterminieren durch diesen Zweifel ihre eigene Glaubwürdigkeit als Diskurspartner. Eine (mögliche) Verpflichtung aber, die du als glaubwürdiger Diskurspartner nicht bezweifeln kannst, gilt unbezweifelbar. O: Das ist einsichtig. So läßt sich der Menschenwürdegrundsatz als verbindlich erweisen, läßt sich letztbegründen durch Reflexion auf den argumentativen Diskurs im Dialog mit dem Zweifler.

IV.9 Was heißt und wo beginnt Menschenwürde? Wenn einmal erwiesen ist, daß dem Menschenwürdegrundsatz absolute Verbindlichkeit zukommt, bleibt zweierlei zu klären: Wie weit reicht diese Verbindlichkeit – welche Wesen werden von ihrem Geltungsschirm geschützt? Sodann: Worauf bezieht sich die vom Menschenwürdegrundsatz eingeforderte Achtung? Elementar gefragt: Was bedeutet der Menschenwürdebegriff genau? Ohne Blick auf die zweite Frage läßt sich die erste kaum beantworten. Unter Berücksichtigung der seit den 1980er Jahren anhängigen Debatte kann sie so differenziert werden: Wann setzt der Menschenwürdeanspruch in der menschlichen Entwicklung ein – bei Befruchtung der weiblichen Eizelle, erst später, erst mit der Geburt oder … ? Bis wohin reicht er in der letzten Lebensphase – bis das Herz zu schlagen aufgehört hat, oder nur bis zum Erliegen der Hirnfunktionen? Darauf beziehen sich die sogenannten Kontinuitätsargumente. Sie stellen die Entwicklung und den Prozeß des menschlichen Lebens als Kontinuum dar, in das man nur willkürlich Zäsuren setzen könne. 207 Zu den Kontinuitätsargumenten treten – argumentativ stärker, weil grundlegender – die Potentialitätsargumente. Grundlegend sind sie, Ein pars pro toto: Johannes Rau, Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß, Frankfurt a. M. 2001. Allgemein verfassungsrechtlich und rechtsethisch: Hans-Jochen Vogel, »Verfassungsrechtliche Aspekte des Präimplantationsdiagnostik (PID)«, in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 319–331.

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weil sich der Begriff ›Menschenwürde‹ ohne sie gar nicht einführen bzw. verteidigen läßt. Warum nicht? Weil wir nicht moralische Anspruchssubjekte in Permanenz sind, sondern vielfach nur solche der Möglichkeit nach. Sowohl zu Beginn des menschlichen Lebens als auch an dessen Ende kann niemand von uns den moralischen Rechtsanspruch auf Menschenwürde selbst erheben, gar ein Grundrecht auf Achtung seiner Menschenwürde geltend machen. Gleichwohl nehmen wir den Geltungsschirm der Menschenwürde in Anspruch und befinden uns, moralisch gesehen, auch darunter. IV.9.1 »Menschenwürde« – der Schirm für zugleich potentiell vernunftfähige und vernunftunfähige Leibwesen Empirisch sind wir noch im besten Reifestadium, beispielsweise im Schlaf, bei schwerer Krankheit und in der Narkose anspruchsohnmächtig, weil diskursunfähig. Diskursunfähigkeit durchzieht unser Leben. Sie ist die andere Seite der potentiellen Vernunft- oder Diskursfähigkeit des menschlichen Lebens: Weil menschliche Wesen einzig und allein als Leibwesen, als endliche, bedürftige Großorganismen ein Dasein haben, können sie nur in »bedürftiger Freiheit« (Jonas) 208 existieren, sind deshalb nicht eigentlich ›Vernunftwesen‹, wie uns die Tradition versichert, sondern bedürftige Wesen, die selbst im kräftigsten Entwicklungsstadium Vernunftfähigkeit niemals in Permanenz besitzen. Leibwesen sind ebenso vernunft- bzw. diskursfähig, wie sie vernunft- und diskursohnmächtig sind. Da die Diskurspragmatik bei der Dialektik von realer Kommunikation und idealer Argumentation ansetzt bzw. bei dem Wechselverhältnis von Leibapriori und Reflexionsapriori, erscheint es ihr als idealistische Illusion, die postulierte Achtung der Menschenwürde direkt auf uns als ›Vernunftwesen‹ und als ›Personen‹ zu beziehen. Weiß sie doch, daß wir bloß potentielle Diskursteilnehmer und daß wir auch nur potentiell Personen sind. Sie fragt dich und mich reflexiv sokratisch: ›Kannst du, jetzt im Diskurs, glaubwürdig bezweifeln, daß du zwar oftmals (z. B. gleich heute nacht) diskursiv ohnmächtig und diskursun-

208 H. Jonas, Organismus und Freiheit (1973), S. 130–134; in der KGA: Bd. I/1, S. 159– 164.

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fähig bist, also bar der Vernunft; daß du aber dessenungeachtet das moralische Recht hast, den Schutz der Menschenwürde zu erhalten? Kannst du also ernsthaft bezweifeln, daß sich die jetzt auch von dir beanspruchte Menschenwürde nur auf ein diskursives Potential beziehen kann, welches ebenso »ein komplementäres negatives Potential zu diskursiver Indisposition« 209 einschließt, so daß du deine Vernunftanlage auf pathologische Weise verlieren kannst oder sie bereits als Embryo nicht hättest zur Entfaltung bringen können? Das kannst du nicht. Also solltest du, glaubwürdiger Diskurspartner, auch die Menschenwürde jener achten, die das Vernunftpotential entweder in ihrer vorpersonalen, etwa pränatalen, oder in ihrer nachpersonalen, vielleicht extrem senilen, Lebensphase eingebüßt haben.‹ Die vom Menschenwürdegrundsatz als verbindlich postulierte Achtung von Leben und Kommunikationsfreiheit kann sinnvollerweise nur unsere Würde als potentiell vernünftige und moralfähige Wesen bzw. als potentielle Personen meinen. Diese von Jens Peter Brune gezogene Konsequenz beantwortet die zweite oben gestellte Frage. Zugleich eröffnet sie ein neuartiges, reflexiv leibpragmatisches, Potentialitätsargument, das zur Einbeziehung menschlicher Embryonen in den Kreis der moralisch Anspruchsberechtigten, denen man Achtung ihrer Würde schuldet, verpflichtet. 210 Gleichviel ob die Idee der Menschenwürde metaphysisch von der vernunftbegabten Natur des Menschen her gedacht wird, wie es die katholische Naturrechtslehre höchst einflußreich tut 211, oder ob sie postmetaphysisch in der Nachfolge Kants als grundlegender Anspruch (leiblicher) Vernunftsubjekte begründet wird 212, Sinn und Geltung haben kann sie nur in bezug auf eine natürliche Potentialität leiblicher Wesen. Da wir Menschen eben so beschaffene Wesen sind, müssen wir ›menschliches Leben‹ als Potentialitäts- oder gar Risikobegriff verJ. P. Brune, Moral und Recht (2010), S. 559. A. a. O., S. 530. 211 Vgl. die Rede Papst Benedikts XVI. im Deutschen Bundestag am 22. September 2011: http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede. html. 212 J. P. Brune, Moral und Recht (2010). Nicht begründet, sondern nurmehr in Form einer ›Erinnerung‹ eingeführt: J. Habermas, »Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8/2010, S. 43–53. 209 210

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stehen, verweist er doch auf die permanenten Risiken des Todes und der Vernunftindisposition bis zum Verlust der Vernunft. Doch die Vernunftohnmachten oder Vernunftverluste berauben uns nicht der moralischen Rechte der Menschenwürde. Es gehört zu dem Begriff des möglichen Diskursteilnehmers und daher zum Begriff des Menschen als leibabhängigen Wesens mit Vernunftpotential, daß wir ein moralisches Mandat auf Achtung unserer Würde haben und nötig haben. Im Diskurs, also vernünftigerweise, können wir weder die Unhintergehbarkeit des Anspruchs auf Menschenwürde glaubwürdig bezweifeln noch unser lebensbegleitendes Potential zur Vernunftlosigkeit. Also können wir ebensowenig unsere faktische Angewiesenheit auf anwaltschaftliche Vertretung des menschlichen Achtungs- und Lebensanspruchs wie das moralische Recht auf dieses Würdemandat in Zweifel ziehen. Beides ist diskursevident. Ergo ist der Anspruch von Menschen als möglicher Vernunftteilhaber bzw. Diskursteilnehmer auf ein moralisches Mandat zum Schutz der Menschenwürde in den diskursunfähigen Lebensphasen unhintergehbar.

IV.9.2 Anspruch auf Achtung der Menschenwürde versus ›verbrauchende Embryonenforschung‹ und PID Blicken wir zunächst auf Hans Jonas’ Diskursexperiment von der Wette im Handeln zurück. Es will ja zur Verantwortung für die Bewahrung menschlichen Lebens verpflichten. Hilft es bei der Frage weiter, ob menschlichen Embryonen Menschenwürde zukomme? Es liegt nahe, Jonas’ Gedankenexperiment auf die Problematik der Präimplantationsdiagnostik (PID) und ›verbrauchender Forschung‹ an embryonalen menschlichen Stammzellen anzuwenden. Ein solcher Anwendungsversuch zeigt zunächst: Wenn gilt, daß eine Technologie bzw. Forschungstätigkeit das Ganze der möglichen künftigen Interessen der von ihr betroffenen Embryonen aufs Spiel setzt, ohne daß sie zur Rettung der Menschheit beiträgt, dann ist sie moralisch nicht zu rechtfertigen. So weit so gut. Allerdings wird ein umsichtiger Kritiker sich gleich zu Wort melden. Drängt sich hier doch der Einwand auf, daß eine umstandslose Anwendung des Gedankenexperiments zum Zweck der Überprüfung von PID und ›verbrauchender Embryonenforschung‹ das eigentliche 532 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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Problem überspringe. 213 Denn in der gegenwärtigen ethischen Diskussion ist es gerade umstritten, ob Jonas’ Kriterium der Berücksichtigung und Hütung des Ganzen der betroffenen Interessen auch auf die künftigen Interessen von Embryonen, einschließlich der Embryonen »in vitro« unbedingt anzuwenden sei. Der Streit geht ja darum, ob Embryonen ein moralischer Status mit Anspruch auf Menschenwürde etc. zukomme. Und dieser Streit ist umso tiefer, als im öffentlichen Diskurs über die Frage nach dem Anfang menschlichen Lebens Dissens besteht. Wenn aus guten Gründen über den Gegenstandsbereich der Verantwortung Uneinigkeit herrscht, dann hilft Jonas’ Verantwortungsbegriff, der sich ganz auf den Gegenstand der Verantwortung konzentriert und sich mit der schwachen Argumentationskraft eines metaphysischen Glaubens auf einen motivationsfähigen Wert des Seins verläßt, nicht weiter. Eine metaphysische Theorie, die dem Leben, zuhöchst dem menschlichen Leben, Seinswürde und Schutzanspruch zuschreibt, also an eine »Ehrfurcht vor dem Leben« (Albert Schweitzer) appelliert, begründet hier letztlich nichts. Sie artikuliert nur den eigenen Wert- und Normenstandpunkt, eine schon mitgebrachte Motivation. Auch eine Differenzierung der Motivation durch Entfaltung von ethischen Intuitionen führt kaum weiter, da der Skeptiker deren universale Verbindlichkeit (für diesen Fall) in Zweifel ziehen dürfte. Was wir an diesem Dissenspunkt benötigen, ist ein Verbindlichkeitserweis, der den Andersmeinenden und den argumentationsbereiten Skeptiker einbezieht und die Gegenargumente entkräftet. Für die Begründungsarbeit würde das zweierlei bedeuten: Erforderlich ist – erstens – ein nichtmetaphysischer und nicht-intuitionistischer Weg. Schließlich kann jede metaphysische oder intuitionistische Theorie vom Skeptiker mit Recht als fallibel gekennzeichnet werden; und dieser schwache Status macht sie unfähig zur Allgemeinverbindlichkeit, die hier vonnöten ist. Das hat auch Hans Jonas eingeräumt, als er feststellte, seine ontologische Begründung des Prinzips Verantwortung stelle bloß »eine Option […] zur Wahl«. 214 Zudem darf – das ist das zweite logische Erfordernis – der Argumentationsweg nicht deduktiv sein. Denn alle Ableitungen einer moraSo Jens Peter Brune in einem Colloquium des Hans Jonas-Zentrums. H. Jonas, »Zur ontologischen Grundlegung einer Zukunftsethik«, in: ders., Philosophische Untersuchungen (1992), S. 140. Vgl. Jonas’ selbstkritische Äußerung in: D. Böhler (Hg.), Ethik für die Zukunft (1994), S. 39. 213 214

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lischen, also verbindlichen, Sollensvorschrift verlieren sich in der Ausweglosigkeit eines Begründungstrilemmas, wie Hans Albert nachdrücklich in Erinnerung gebracht hat. 215 Was bleibt, ist eine sinnkritisch sokratische Besinnung darauf, daß auch der Skeptiker mit seinem EtwasBezweifeln jeweils schon in einem argumentativen Dialog mit Anderen ist und daß er in diesem Dialog die eigene Zweifelsthese müßte verantworten können. Hier kommt wieder der in der Umgangssprache verwurzelte Tätigkeitsbegriff der Verantwortung ins Spiel, der bei Jonas kaum Erwähnung findet, obwohl er sich implizit darauf stützt: Verantwortung als ein Sich-für-die-eigene-These-bzw.-Zweifelsbehauptung-Verantworten. Dieser responsorische Verantwortungsbegriff steht bei Sokrates im Hintergrund, er findet sich mehr oder weniger bei Wilhelm von Humboldt und dem frühen Karl Löwith. Jonas zehrt zwar an wichtigen Stellen von ihm 216, kann ihn jedoch nicht einholen, weil er einen primär gegenstandsorientierten phänomenologischen Ansatz verfolgt. Demgegenüber stellt die Diskurspragmatik, wie gezeigt, das sechsstellige Verhältnis des Sich-Verantwortens in den Vordergrund: Reflexiv weist sie das normative Fundament auf, worauf sich Opponent und Proponent, die als Diskurspartner ernstgenommen sein wollen, gemeinsam gründen, so daß sie trotz des Sachstreits einen unwiderleglichen Konsens finden können. Ein solcher dialogreflexiver Rückgang ist auf zwei verschiedenen Wegen möglich – primär auf den Sachdiskurs bezogen oder primär auf das Diskursverfahren bezogen. Einmal würde die Dialogreflexion in dem konkreten Sachstreit ansetzen; hier also in dem praktischen Diskurs über den moralischen Status von Embryonen. Das setzt freilich voraus, daß beide Seiten auch einen gemeinsamen Anhaltspunkt in der Streitsache haben. Ein wesentliches Stück Sachkonsens wäre hier die Vorannahme, daß Embryonen möglicherweise Menschenwürde zukomme. Doch schon das kann strittig sein. Deshalb ziehe ich einen anderen Weg vor

215 Vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 11–15; W. Kuhlmann, »Ist eine philosophische Letztbegründung moralischer Normen möglich?«, in: Funkkolleg Studientexte (1984), Bd. 2, S. 572–605. 216 Z. B. H. Jonas, TME (1985), S. 200. Ferner: Ders., Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1981, Einleitung, S. 13–18. Dazu D. Böhler, »Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung«, in: D. Böhler u. J. P. Brune (Hg.), Orientierung (2004), S. 97–160.

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und stelle die geltungslogische und insofern formale Frage: Gibt es Erkenntnisverpflichtungen, durch die Diskursgegner als irrtumsfähige Diskurspartner eng genug verbunden sind, daß sie, bei allem Dissens in der Sache, einen unausgesprochenen aber unwiderleglichen Konsens im Verfahren haben, der indirekt auch die Streitsache zu klären vermag? Der formale Ansatz hat den vermeintlichen Nachteil, daß er die Sache dahingestellt sein läßt, indem er den Sachstreit einklammert und sokratisch vom ›Standpunkt des Nichtwissens‹ ausgeht. Doch darin steckt sein Vorteil. Bezieht er doch von vornherein alle (argumentationsbereiten) Parteien so ein, daß eine logisch universale Reflexion im Diskurs auf den irrtumsfähigen Diskurs stattfindet. Überdies kommt man auf diese Weise dem Opponenten, der jedenfalls den Menschenwürdeschutz für Embryonen verneint, so weit entgegen, wie er es als Argumentationspartner nur wünschen mag. Denn man hintergeht den faktischen Dissens nicht als möglichen Irrtum in der Sache, sondern stuft ihn geltungslogisch hoch ein, würdigt ihn als Ausdruck echten Nichtwissens, das zu achten sei. Während Jens Peter Brune den materialen ersten Weg – vielleicht doch den Königsweg – gebahnt und sorgsam beschritten hat, gehe ich skeptikerfreundlich einen Schritt zurück. Dieser reflexiv sokratische Diskurs erinnert an das, was ›du‹ und ›ich‹ berücksichtigen müssen, damit ›wir‹ uns als endliche Menschen für eine Handlungsweise, ein Projekt im Dialog der Argumente verantworten können. Das ist schlicht zweierlei: Wir sind irrtumsfähige Diskursteilnehmer. Zudem sind wir als Diskurspartner unbezweifelbar dazu verpflichtet, die Möglichkeit des Sich-Verantwortens zu gewährleisten, mithin alles zu lassen, was dessen Geltungsinstanz, die Idee des Diskursuniversums und die Idee der Menschenwürde als ihr moralisches Element, mißachten könnte. Denn das wäre der Bruch unserer impliziten Diskursversprechen a priori. An diesem entscheidenden Punkt begegnen Jonas’ Begründung des Verantwortungsprinzips und die reflexive Diskurspragmatik einander. Beide wollen nämlich mit der »Anerkennung der Unwissenheit« im Diskurs ernstmachen. Wie kann das geschehen? Indem man diese Anerkennung konsequent auf die offene Frage nach dem moralischen Status von Embryonen bezieht. So nämlich, daß die Antwort moralisch vereinbar ist mit der Fallibilität von Situationseinschätzungen und situationsbezogenen Diskursen. Dann ergibt sich: Wer etwas behauptet und sich damit Anderen gegenüber rechtfertigen will, sieht sich un535 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

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bezweifelbar dazu verpflichtet, die Möglichkeit der Rechtfertigung zu bewahren, also die Möglichkeit einer Diskursverantwortung vor dem Handeln. Demzufolge ist der Behauptende letztlich dazu verpflichtet, die zugleich normative und ontologische Idee des Menschen, welche nicht allein die Bewahrung der Gattungsexistenz sondern auch die Hütung von Menschenwürde und Moralfähigkeit einschließt, in seinen Entscheidungen zur Geltung zu bringen. Was bedeutet das für das Verfahren im Diskurs? Solange Diskursteilnehmer nicht mit Sicherheit ausschließen können, daß gravierende moralische Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind – etwa aus der Perspektive von Embryonen, deren moralischer Status jetzt noch strittig sein mag –, gilt für sie die Vorsichtsregel des »Vorrangs der schlechten vor der guten Prognose« i. S. von Jonas’ »Heuristik der Furcht«. 217 Geltungslogisch stärker bedeutet das: Auch wenn es keine faktische Übereinstimmung in Sachen Menschenwürde für Embryonen gibt, stehen ›wir‹, die zugleich (mögliche) Akteure und (mögliche) Diskurspartner sind, unter der Diskursverpflichtung, den Rechtfertigungsdialog und das Irrenkönnen in concreto ernst zu nehmen, statt einfach in eine folgenirreversible Handlungsweise überzugehen, die nicht irren dürfte, weil ihr Fehlschlag absolut unverantwortbar, also moralisch verwerflich wäre. Mithin gilt: Im Zweifel für die Verantwortung, d. h. für das Sich-im-Dialog-Verantworten-Können. Ergo: Im Zweifel für das Leben und die Menschenwürde – auch von Embryonen. Diese Pflicht zur Vorsicht beim Sich-im-Dialog-Verantworten und vor dem Machen erstreckt sich auch auf den, faktisch noch umstrittenen, moralischen Status menschlicher Embryonen. Daher ergibt sich dieser Verbindlichkeitserweis, der an Jonas’ Gedankenexperiment über die Wette im technologischen Handeln anschließt: – (Moralisch:) Eine Technologie, deren Einsatz mit den Risiken verbunden ist, das Ganze der möglichen Interessen moralisch anspruchsberechtigter Wesen aufs Spiel zu setzen, ohne dadurch zur Rettung der Menschheit beizutragen, oder die Geltungsinstanz des Sich-Verantwortens (Idee des Diskursuniversums und Idee des Menschen und damit der Menschenwürde) zu hintergehen, ist moralisch nicht zu rechtfertigen.

217

Vgl. H. Jonas, PV (1979), S. 63 f., 70 ff., vgl. 66 ff.

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(Realistisch:) PID und ›verbrauchende Embryonenforschung‹ setzen das Leben von Menschen-Embryonen aufs Spiel, ohne zur Rettung der Menschheit beizutragen. – (Skeptisch:) Zwar akzeptieren gemeinhin sowohl die Befürworter als auch (naturgemäß) die Gegner von PID und ›verbrauchender Embryonenforschung‹ das Prinzip der zu achtenden Menschenwürde. Ob jedoch Embryonen moralisch anspruchsberechtigte Wesen sind und daher den (vollen) Menschenwürdeschutz beanspruchen können, ist noch nicht eindeutig geklärt und faktisch umstritten (faktischer Dissens, faktisches Unwissen im öffentlichen Diskurs). – (Kohärenzanalytisch:) Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß PID und ›verbrauchende Embryonenforschung‹ mit der Idee des Menschen bzw. der Menschenwürde unvereinbar sind. – (Dialogreflexiv:) Solange nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß gravierende moralische Einwände gegen eine Handlungsweise möglich sind, vor allem, daß eine Handlungsweise gegen das Prinzip der zu achtenden Menschenwürde verstößt, bleibt die Diskurspflicht in Kraft, die Instanz des argumentativen Dialogs und die Irrtumsfähigkeit in konkreten Fragen ernst zu nehmen, statt eine folgenirreversible, nicht irrendürfende Handlungsweise zu wählen. Folglich gilt: Im Zweifel für das Leben und für die Menschenwürde, also für die Nichtverfügbarkeit von Embryonen, d. h. für ihren Menschenwürdeschutz. Indem ›wir‹ – mit dieser Argumentation – die Streitsache selbst offen lassen, uns aber auf unsere Rollenpflichten im Diskurs besinnen, erkennen wir als Diskurspartner das, was ›wir‹ absolut nicht dürfen – absolut nicht, solange ein Sachstreit besteht, in dem die Möglichkeit des Sich-Verantwortens auf dem Spiele steht bzw. stehen kann. 218 Die Achtung der Menschenwürde ist ein unbedingtes Prinzip. Es gebietet, menschliches Leben als »Zweck an sich selbst« (Kant) zu achten, mithin jegliche Instrumentalisierung dessen zu unterlassen. 219 Eine solche hat man freilich schon begonnen, wenn man hier bloß, wie es zeitgeist- und 218 Dieses In-dubio-Argument ist auch enthalten im Nachwort zu H. Jonas, Leben, Wissenschaft, Verantwortung. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, S. 254 ff. Ferner in: H. Jonas, Fatalismus (2005), S. 199 ff. 219 I. Kant, GMS, Akad.-Ausg., Bd. IV, S. 428 f.

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politiküblich geworden ist, im landläufigen Sinne ›pragmatisch‹ verfährt. Dann argumentiert man nicht prinzipienbezogen. Man vermengt die Besinnung auf Verantwortungskriterien von Argumentationspartnern mit einer Abwägung von Nutzen und Nachteil hinsichtlich besonderer Interessen, oder man wählt ganz offen ein Nutzenkalkül, das die Vernunft zur Zweckrationalität verkürzt, so daß Moralkriterien wie das der Menschenwürde in der Vernunft keinen Platz finden. Gegen diese Entsubstantialisierung der Vernunft steht sowohl die transzendentalpragmatische bzw. sokratisch dialogpragmatische Begründung der Diskursethik als auch Hans Jonas’ metaphysische bzw. ontologische Grundlegung einer Zukunftsethik.

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Personenregister

Adam, Charles 184 Aischylos 333 Albert, Hans 94 f., 307, 422, 534 Albert, Karl 142, 146 Albertus Magnus 73, 92, 137 Alexander III. von Makedonien (der Große) 111 Altner, Günter 88, 456, 458, 460 f., 466, 468 f., 492, 510 Ambrosius von Mailand 118, 120, 133, 147 Amos (Prophet) 169, 325 Anaximander 326 Anders, Günther 441 Anselm von Canterbury 141 Antiphon 25 Apel, Dorothea 296 Apel, Karl-Otto 12, 24 ff., 48 f., 61, 62 f., 70, 72, 81 f., 86 f., 88, 99, 101, 105 f., 107, 112 f., 126 f., 129, 149, 151, 152, 163, 164, 181 f., 183, 184, 191, 196, 203, 204, 248, 249, 252, 258, 265, 266, 271, 275, 277, 278 f., 281 f., 284, 286 ff., 290, 291, 300, 307, 319, 327, 330–333, 337 f., 344 f., 359 f., 363 ff., 374, 379, 384, 408 f., 412, 413 ff., 416, 418, 424, 425 f., 430, 437 f., 447 f., 449 f., 451, 455, 461, 463, 467, 474 f., 477, 494, 496, 498, 502, 506, 517 Archimedes 325 Arendt, Hannah 27, 35, 41, 67 f., 128, 230, 379, 388 f., 442, 443, 444, 500 f. Aristoteles 13 f., 26, 33 f., 73–77, 80, 82–85, 87, 89 f., 92 f., 95–98, 100–

107, 111, 113, 116, 119, 121 f., 130, 141, 143, 145 f., 154, 176 f., 205, 216 f., 220 f., 229, 253, 265, 272, 326, 328, 346, 398, 399, 441, 514 Ast, Friedrich 77 Augustinus von Hippo 13, 63, 86, 103, 108, 118 f., 120, 128, 130 f., 132 f., 136–142, 146 f., 151 f., 154, 172, 180, 192, 202, 223 Bacon, Francis 176 ff., 180, 182 Bassenge, Friedrich 96 Baumgartner, Hans Michael 75, 142 Bausch, Thomas 252, 259, 296, 384, 468, 474, 479 Becchi, Paolo 35 Beck, Lewis White 33, 205 Beck, Ulrich 411 Becker, Charlotte B. 508 Becker, Lawrence C. 508 Beckers, Jens Ole 230, 292 Beeckman, Isaac 183 Benedikt XVI. (Papst) 531 Berlich, Alfred 100, 101 Bertalanffy, Ludwig von 88 Bethge, Eberhard 230, 354 Biemel, Walter 374 Bloch, Ernst 203, 440 Bocheñski, Joseph Maria 150 Boethius 137, 141, 147 Böhler, Benjamin 17 Böhler, Michael 246 Bonhoeffer, Dietrich 230 f., 353 f., 362 Borelli, Michele 271, 275, 278, 296, 474

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Personenregister Boyd, Dwight R. 343 Brandt, Horst D. 207 Brandt, Willy 203 Braun, Dietrich 202 Braun, Edmund 105, 113 Bröcker, Walter 39, 390 Brunner, Otto 69 Brüstle, Oliver 421 Buber, Martin 235, 236, 262 Buddeberg, Eva 267 Bühler, Karl 265 Bultmann, Rudolf 134, 430 Burckhart, Holger 99, 129, 250, 252, 321, 379, 412, 414, 430, 438, 474, 491 Busse, Adolf 105 Caesar, Gaius Iulius 115 f. Calvin, Johannes 135 Campenhausen, Hans Erich Freiherr von 131 Capra, Fritjof 461 Carnap, Rudolf 277 Carson, Rachel 458 Chalcidius 31 Chenu, Marie-Dominique OP 143 Chomsky, Avram Noam 339 Cicero, Marcus Tullius 27, 31, 34, 105, 111, 113–125, 127, 136 f., 151, 181 Claassen, Utz 504 Cohen, Hermann 129, 135, 167, 172, 235, 348 f., 395 Colli, Giorgio 175 Constant, Benjamin 232, 499 Conze, Werner 69 Cornford, Francis Macdonald 27 Cottier, Georges 142 Crombie, Alistair Cameron 86 Crusius, Christian August 33, 205 Czerwiñska-Schupp, Ewa 271 Damiani, Alberto 292, 317 Damon 31 f. Dante Alighieri 112 Danto, Arthur Coleman 80 Degen, Michael 354 ff., 357, 358

Demmerling, Christoph 268 Demokrit 84 Denninger, Erhard 497 Derbolav, Josef 40 Derrida, Jacques 249 Descartes, René 13, 78, 86, 89, 92, 108, 114, 139, 151, 175–180, 182–194, 196 f., 201, 235, 281, 377, 456 f., 459 f., 470, 477 Dewey, John 337 Dilthey, Wilhelm 78, 281 Dimitrieff, Ludmilla 357 Dirlmeier, Franz 61 Döbert, Rainer 344 Donatus von Karthago 131 Dorschel, Andreas 105, 113, 416 Düwell, Marcus 267, 417, 430 Eckensberger, Lutz H. 508 Edelstein, Wolfgang 343 Eichendorff, Joseph von 248 Eisler, Rudolf 141 Elia (Prophet) 325 Engelhardt, Paul 142, 146 Eppelsheimer, Hanns Wilhelm 112, 114 Erbguth, Wilfried 479 Erdmann, Benno 86 Eschbach, Achim 63 Essler, Wilhelm Karl 287 Faber, Karl-Georg 173 Faulheber, Johann 183 Fetscher, Iring 197 ff., 201 f., 204 Feuerbach, Ludwig 284 Fichte, Johann Gottlieb 216, 235 Flasch, Kurt 128, 131, 132, 136, 140 Flitner, Andreas 246 Flusser, David 129, 171 Foucault, Michel 248, 277 f. Fouillée, Alfred 455 Franke, Kurt 126 Franklin, Benjamin 135 Frede, Dorothea 54, 55, 64 Fries, Friedrich Jakob 94 f. Frischeisen-Köhler, Max 197 f.

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Personenregister Gäbe, Lüder 176, 184, 186 ff., 190, 197 Gadamer, Hans-Georg 48 f., 52, 90, 281, 381, 431, 432 ff., 436 Gähde, Ulrich 508 Galilei, Galileo 85 f., 175, 177 ff., 183, 197 f., 204 Garz, Detlef 337 ff., 346, 347, 392 Gawlick, Günter 197 ff., 204 Gebauer, Gunter 268 Gebhardt, Eike 472 Geerlings, Wilhelm 134 Gehlen, Arnold 113, 203, 228, 327– 331, 334 Geldsetzer, Lutz 77 Gethmann, Carl Friedrich 289 Giel, Klaus 246 Gilligan, Carol 359 Glaser-Gerhard, Ernst 112 f. Glock, Hans-Johann 281 Goethe, Johann Wolfgang von 248 Grabs, Rudolf 464 Gronke, Horst 87, 89, 99, 108, 196, 250, 252, 257, 271, 278, 284, 286, 296, 318, 321, 416, 468, 474, 477, 491 Gross, Julius 134 Grotius, Hugo 395 Gunermann, Heinz 116 Guyau, Jean Marie 455 Habermas, Jürgen 43 ff., 47, 151, 162, 166, 183, 189, 203, 228, 247, 249 f., 277, 278, 288, 289 f., 313, 317, 318, 319, 338, 341, 344, 364 ff., 377, 380, 415, 416, 427, 438 f., 447, 451, 477, 478, 491, 506, 516 ff., 523, 525, 531 Hampshire, Stuart 463 Hanfeld, Michael 355 Hanke, Michael 258, 415 Harms, Rebecca 496 f., 505 Hartmann, Dirk 289 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 28, 31, 75, 77, 78, 83, 147, 185, 194, 212, 216, 273, 365, 374, 506 Hegemonius 464 Heidegger, Martin 27, 49, 55, 79–81,

147, 191, 194, 235, 249, 265, 269 f., 278, 280 f., 284, 286, 374, 388, 428 f., 454 f., 456, 459 f., 462 Heimsoeth, Heinz 35 Heinemann, Gustav 203 Heintel, Erich 327 Hellesnes, Jon 126, 275, 278, 476 Heraklit 54, 64, 108, 325 Herbart, Johann Friedrich 120 Herder, Johann Gottfried von 327 f. Hermann, Ingo 205, 499, 500 Herrero, Francisco Javier 258, 415 Herrmann, Bernadette 17, 230, 402, 434 Hesiod 27 f., 74 Hillel 171 f., 369 Hinske, Norbert 86 Hirschberger, Johannes 84 Hitler, Adolf 230 f., 510 Hobbes, Thomas 78, 176, 178, 180, 182, 197–204, 216, 219, 346, 397, 426, 459, 465 Hofer, Walther 115 Höffe, Otfried 300, 476, 508 f. Hoffmeister, Johannes 77 Homer 21, 27 f., 74, 112, 325 Honneth, Axel 277, 278 Honorius (röm. Kaiser) 131 Hoppe, Hansgeorg 35 Horkheimer, Max 204, 426 Hosea (Prophet) 169, 325 Hösle, Vittorio 24, 25, 62, 300, 306, 308 ff., 314, 430, 449, 455, 466 Howe, Günter 175 Hrabanus Maurus 137 Huber, Wolfgang 171 Hübenthal, Christoph 267 Humboldt, Wilhelm von 36, 48, 137, 188, 191, 246, 280 ff., 284, 303 f., 309, 534 Hume, David 32 f., 69, 180, 204 f., 216 Hussein, Saddam 419 Husserl, Edmund 13, 31, 108, 139, 140, 151, 185, 188, 194, 196, 235, 278, 281 f., 290, 374, 454, 456 f., 477, 487

563 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Personenregister Ilting, Karl-Heinz 35, 64, 65, 66, 69 f., 75, 116, 117, 215, 433, 437, 523, 525 Irrgang, Bernhard 517 Isokrates 105, 111–114, 136, 151 Jacobson, Eric 455, 466 Jaeger, Friedrich 278 Janich, Peter 289 Janssen, Paul 374 Jaspers, Karl 140, 324 f., 334, 379 Jeremia (Prophet) 325 Jeremias, Joachim 129 Jesaja (Prophet) 458 Jesus von Nazareth 128, 129, 134, 145 ff., 171 f., 354, 369 Joas, Hans 384 Jonas, Hans 12, 16, 30, 79, 86–89, 134, 135, 145, 147, 194, 196, 205, 215, 252, 255, 257, 259, 270, 279, 280, 284, 291, 293, 317, 323, 358 f., 374, 408 ff., 411, 413, 416 ff., 421 ff., 426, 428–434, 436–450, 452–456, 459, 462 f., 464, 466, 467, 468–474, 477, 479, 481, 483, 486 f., 489, 493, 495, 498–503, 506, 509, 513 f., 530, 532– 536, 537, 538 Jungius, Joachim 137 Jungk, Robert 497, 502, 510, 511 Kadelbach, Gerd 24 Kähler, Ernst 135 Kallikles 25, 378 Kambartel, Friedrich 95, 289 Kant, Immanuel 13, 28, 31 ff., 36, 61 f., 66 f., 73, 78, 81, 85 f., 108 f., 116, 120, 148, 151, 153 f., 158, 163, 166, 172, 174, 179, 181 f., 185, 187 f., 190 ff., 196, 199 f., 205–208, 209, 210–232, 235, 253, 262, 264, 266, 273, 277, 279, 281 f., 284, 298, 317, 335, 339 f., 346 f., 349, 353, 356, 364, 367, 375 f., 383, 394, 414, 421, 425, 428, 432 f., 436, 443, 447, 454, 457, 461, 476, 478, 499, 515, 516, 528, 531, 537 Kato, Yasushi 282 Katsakoulis, Gregori 112

Kaulbach, Friedrich 227 Kautzsch, Emil 145 Kellerwessel, Wulf 265, 320 Kellner, Hansfried 337 Kepler, Johannes 175 Kerstiens, Ludwig 27 Kettner, Matthias 126, 196, 257 f., 271, 275, 278, 286, 296, 318, 374, 377, 415 f., 474 f., 517 Keuth, Herbert 271 Khoury, Adel Theodor 134 Kierkegaard, S|oren 291 Koch, Klaus 354 Köckert, Matthias 354 Koelbl, Herlinde 428 Kohlberg, Lawrence 82, 197, 201, 276, 336–349, 364–368, 370, 392 ff., 478 Konfuzius 325 Kopernikus, Nikolaus 173 ff. Kopperschmidt, Josef 122, 124 Körner, Franz 140 Koselleck, Reinhart 69, 173 Krings, Hermann 75, 142 Kripke, Saul Aaron 281, 306 Kriton 35, 54, 373, 378, 386 f., 390, 391, 392, 395 f., 397, 399 f., 404 f. Kroner, Richard 273 Kuhlmann, Wolfgang 80, 92, 93, 98, 99, 101, 108, 112, 151, 192, 193, 225, 251, 252 f., 271, 272, 277, 281, 290, 306, 308, 310, 320, 447, 476, 494, 523, 534 Kupfer, Hans-Christoph 320 Lacan, Jacques-Marie Emile 248 Laches 24, 54 Lampe, Ernst-Joachim 509 Landweer, Hilge 268 Laotse 325 Laxness, Halldor 331 Leibniz, Gottfried Wilhelm 31, 88 f., 284 Lenin, Wladimir Iljitsch 484 Lenk, Hans 508 Lessing, Gotthold Ephraim 206 Levine, Charles 343

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Personenregister Lichtenberg, Georg Christoph 248 Lipps, Theodor 33 Locke, John 180, 395 Lohse, Bernhard 134 Lorenz, Konrad 330 Löw, Reinhard 88, 506 Lübbe, Hermann 121, 203 Luhmann, Niklas 203, 249 Lumer, Christoph 150 Luther, Martin 135, 136, 354 Lütkehaus, Ludger 128 Lutz-Bachmann, Matthias 517 Lützeler, Heinrich 266 Lyotard, Jean-François 249 Machiavelli, Niccolò 176, 178, 204, 230 Macpherson, Crawford Brough 204 Malter, Rudolf 213 Man, Paul de 249 Maring, Matthias 508 Marti, Hanspeter 137 Martin, Gottfried 23, 54, 55 Marx, Karl 78, 80, 177, 194 f., 277, 284, 478 Mead, George Herbert 82, 279, 337, 345, 365, 384 Meinecke, Friedrich 115 Melanchthon, Philipp 137 Merkel, Angela 504 Merleau-Ponty, Maurice 194, 196, 284, 477 Meyer-Abich, Klaus Michael 458, 463, 469 Micha (Prophet) 128, 130, 168–170, 325, 348, 369 Michaelis, Johann David 395 Michel, Karl Markus 23 Migne, Jacques Paul 132 Mischel, Theodore 338, 343 Mittelstraß, Jürgen 86, 94, 95 Mitterrand, François 202 Moldenhauer, Eva 23 Moltke, Freya Gräfin von 404 Montaigne, Michel de 112, 178 f., 184 f. Montinari, Mazzino 175 Moore, George Edward 33, 117

Morris, Charles William 49, 248 Muck, Otto 142 Müller, Wolfgang Erich 417, 431 Nagel, Thomas 27, 278 Natorp, Paul 62 Neuberth, Rudi 255 Newton, Isaac 86 Nicolin, Friedhelm 77 Nietzsche, Friedrich 25, 147, 175, 277 f., 329, 428 Niquet, Marcel 258, 415 Noller, Gerhard 429 Nordenstam, Tore 43, 45, 126, 476 Nunner-Winkler, Getrud 343 f. Oakeshott, Michael Joseph 160 Ockham, William von 152 Oehler, Klaus 122 f. Oeing-Hanhoff, Ludger 59, 137 Øfsti, Audun 106, 163 ff., 265 f., 277, 290, 296, 313, 449 Origenes 120, 133, 147 Orwell, George 38 Otis, James 395 Pareto, Vilfredo 329 Parmenides 27, 37, 42, 55, 63, 74, 146, 325 Parrington, Vernon Louis 395 Pascal, Blaise 27, 147 Patzig, Günther 83, 84 Paulus von Tarsus 129, 133 f., 137, 291, 386 Peirce, Charles Sanders 271, 279, 337, 338, 425, 461 Pesch, Otto Hermann OP 143 Peterson, Merrill Daniel 126 Petrarca, Francesco 181 Peuker, Thomas 265 Pirschl, Julia 17 Philipp II. von Makedonien 111 Philon von Alexandria 108, 120, 133 Piaget, Jean 276, 336 Picht, Georg 23 f., 27, 31, 32, 36, 63, 143, 146, 147, 460

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Personenregister Platon 13 f., 21–24, 25, 26–43, 45, 47 ff., 52–69, 71–76, 77, 84, 87, 90 f., 96, 102 f., 108 f., 111 ff., 116–119, 122, 130, 133, 138, 153 f., 166, 174, 192, 201 f., 205, 216, 262, 281, 373, 378, 379, 381 ff., 386 f., 389 f., 391 f., 393, 395–398, 399, 401 f., 404 f., 460, 478, 481, 514 Plotin 108, 133, 137 Podlech, Adalbert 284 Popper, Karl Raimund 35, 67, 70, 149 f., 154, 265, 271 f., 422, 425 f., 444, 451, 472, 516 Prantl, Carl von 141 Preußger, Florian 161, 230 Proklos 109 Pufendorf, Samuel 394 f. Puntel, Lorenz Bruno 451 Putnam, Hilary 27 Rähme, Boris 34, 124, 289, 474 Rapp, Friedrich 85 f. Rau, Johannes 529 Rawls, John 340, 367, 478 Rebel, Karlheinz 24 Rehbock, Theda 27 Renthe-Fink, Leonhard von 78 Reuter, Hans-Richard 171 Reyhani, Nebil 282 Reza Pahlewi, Mohammed (Schah) 420 Richarz, Britta 352 Ricken, Friedo S.J. 463 Riedel, Manfred 215, 300, 433, 476 Roetz, Heiner 227, 325 Rolfes, Eugen 143 Ropohl, Günter 508 Rorty, Richard 126 f., 250 Rosenzweig, Franz 235, 262 Rousseau, Jean-Jacques 213 Rüegg, Walter 112 Rusche, Thomas 230, 259, 296, 474 f. Russell, Bertrand 287 Sandbothe, Mike 286 Sandkühler, Hans Jörg 150

Sartre, Jean-Paul 79–82, 360 Schanze, Helmut 122 Scheffczyk, Leo 142 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 77, 216 Schelsky, Helmut 203 Scherer, Andreas Georg 250, 289 Schiller, Friedrich 36 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 391 Schlüter, Dietrich 146 Schmidt, Alfred 426 Schmidt, Hans P. 35, 39, 65, 67, 134 Schmidt, Johann Michael 145 Schönrich, Gerhard 282 Schopenhauer, Arthur 463 Schwab, Gustav 498 Schweitzer, Albert 87, 290, 454, 455– 460, 463 f., 466, 468, 470, 533 Schwickert, Eva-Maria 363 Scipio 119 Searle, John Rogers 286 Selden, John 395 Siddharta Gautama, Buddha 325 Simmias 60 Simon, Josef 81, 287 Sizer, Nancy Faust 392 Sizer, Theodore Ryland 392 Skirbekk, Gunnar 43, 45, 126, 196, 257 f., 286 f., 296, 318, 374, 377, 444, 474, 476, 517 Skjervheim, Hans 182, 277 Smid, Reinhold N. 374 Snell, Bruno 37 Sokrates 13, 21–26, 29, 36, 38, 42, 46, 54 f., 63, 73, 95, 96, 111, 117, 122, 151, 178, 205, 210, 249, 336, 338 ff., 373–376, 378 f., 381–388, 390–393, 395–405, 407, 524, 534 Solso, Robert Laird 344 Sophokles 29 f., 332 Spaemann, Robert 88, 492, 493, 496, 506 ff., 509, 510 ff. Speck, Josef 113, 140, 329 Spinoza, Baruch de 27

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Personenregister Springmeyer, Heinrich 184 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 230 Stauffenberg, Nina Gräfin von 404 Steigleder, Klaus 417, 430 Stein, Edith 142, 143 Steinmann, Horst 250, 289 Stern, Wilhelm 454 f. Stoebe, Hans-Joachim 169 Straub, Jürgen 278 Ströker, Elisabeth 140 Syrian 108 Tannery, Paul 184 Tarski, Alfred 154, 287 Tetens, Holm 319 Theophrast 105 ff., 154 Theunissen, Michael 235, 237 Thimme, Wilhelm 140, 202 Thomas von Aquin 13, 34, 73, 92, 141 ff., 146, 148 f., 197 Thukydides 325 Trabant, Jürgen 63, 188 Trabert, Lukas 17 Tranøy, Knut Erik 43, 45 Tugendhat, Ernst 43, 45, 47, 63, 92, 93, 103, 157, 165, 216, 264 ff., 267, 272, 311 Turiel, Elliot 344 Ueding, Gert 34 Ulrich, Peter 252 Utzschneider, Helmut 169

Waehner, Andreas Georg 395 Waldenfels, Bernhard 23 Weber, Max 16, 80, 135, 136, 178, 200, 230, 359 f., 414, 426 f., 447, 502 Weeber, Karl-Wilhelm 30 Weizsäcker, Carl Friedrich von 460 Wellmer, Albrecht 277, 278, 286, 296 Welzel, Hans 34, 395 Werner, Micha Holm 258, 267, 278, 414, 417, 430, 431, 441, 474, 477, 487, 509 Whitehead, Alfred North 72 Wiegand-Hoffmeister, Bodo 479 Wieland, Wolfgang 57, 74, 76 Wiese, Christian 455, 464, 466 Wild, Christoph 75, 142 Wils, Jean-Pierre 441 Wimmer, Reiner 227 Winch, Peter 159 f. Winckelmann, Johannes 230 Windelband, Wilhelm 35, 62 Wise, John 395 Witt, Christoph 398 Wittekind, Arno 204 Wittgenstein, Ludwig 45, 63, 80, 103, 109, 126, 137, 152, 154–161, 162 f., 164 f., 166, 192, 249, 262, 265, 268, 280 f., 284, 286, 287, 289, 300, 306 Wolf, Ursula 93, 265, 267, 272 Wright, Georg Henrik von 156 Wunderlich, Dieter 248 Wyller, Egil Anders 71 Xenophanes 27, 74

Van Dijk, Teun Adrianus 248 Vaughan, Robert C. 126 Vesper, Achim 267 Vetter, Dieter 134 Vickers, Brian 122 Vico, Giambattista 112, 181 Vogel, Hans-Jochen 529 Vorländer, Karl 213

Yorck von Wartenburg, Marion Gräfin 404 Zarathustra 325 Zekl, Hans Günter 184 Zimmerli, Walther Christoph 500 Zimmerman, Michael J. 508 Zwingli, Huldrych 395

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Sachregister

Abendland/Westen s. a. Europa 12, 27 f., 58, 72, 109, 134, 136 f., 141, 147, 151, 197, 202 f., 335, 408, 426, 434, 438, 453, 460, 462, 474, 477, 515 f. Abwandlung (der Ersten- in die DrittePerson-Perspektive) 165, 242 f., 264–266, 290 f. Achsenzeit (Jaspers) 167, 227, 324– 326, 330, 334 f. advokatorisch/anwaltschaftlich 466, 470, 483, 525, 532 Äußerung 43, 161–163, 189, 226, 242, 265 f., 288, 308, 310, 313, 328, 384, 512 –, formal vollständige Ä. 106, 162 f., 189, 240 f., 251, 313 Affekte/Neigungen 198, 200 f., 204, 206, 221, 224–226, 231, 331, 333, 375 f., 516 Allmacht (Gottes) 144 f., 429 f. Amerika 261, 394 f. –, Unabhängigkeitserklärung 394 f. Analogieschluß 349, 366 Anamnesis (Wiedererinnerung bei Platon) 41, 58–60, 62 f. Anerkennungswürdigkeit 35, 69 f., 218, 229, 357, 396, 399 f., 432, 512 Anthropologie 174, 179, 236, 256, 268, 275, 327–330, 335, 440, 442, 448, 486 Anthropozentrik, Anthropozentrismus 457–460 Antike 22, 30, 34, 77, 120, 137 f., 174, 219, 376, 404

–, antik abendländische theoria-Tradition s. a. Theoria 102, 108, 111, 122, 137, 140, 150 f., 154, 167, 336, 477 f., 487 Aporie 23, 74, 94, 212, 224, 534 Apriori/a priori 59, 61, 80, 82, 159 f., 166, 174, 192, 207, 210 f., 219–221, 240, 251, 260, 264, 268, 273 f., 279, 281 f., 286, 290, 292–294, 297 f., 300, 303, 316, 425, 432 f., 436, 438, 451, 453, 464, 469 f., 481, 501, 503, 507, 530, 535 –, Apriorisches Perfekt 49, 436 f. –, Geltungsapriori (der idealen Argumentationsgemeinschaft) 51, 121 –, Leibapriori s. Leib –, Sinnapriori (der realen Kommunikationsgemeinschaft) 49, 51, 81, 121, 191, 226 Arbeitslosigkeit (der Jugend) 420 Argumentieren 13 f., 48, 151, 193, 200, 22, 250, 274, 282, 298, 322, 336, 373 f., 378–382, 388 f., 409, 425 f., 470, 507, 518 f. –, Ideale Argumentationsgemeinschaft s. Kommunikationsgemeinschaft –, (rein) argumentativer Dialog/Diskurs 12, 14, 16, 23, 25 f., 38, 42, 44– 46, 49, 54, 70 f., 98, 115, 120, 124, 131, 145, 167, 195 f., 211, 230, 237, 246, 249 f., 254, 256, 258 f., 261, 264, 271–274, 290, 292–295, 298, 305, 308, 310, 335, 357, 369, 372 f., 376–

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Sachregister 379, 380, 383 f., 385, 389, 392, 397, 425, 434, 437, 453, 475, 481, 484 f., 492, 496, 507, 509, 513, 518–524, 527, 529, 535–537 Aristokratie 65, 118 f. Aseitas 146 Askese 133, 135 Astronomie 32, 173–176, 183 Atheismus (methodischer) 428, 447 Athen 39, 65, 73, 111, 117, 121, 179, 325 f., 378, 386 f., 392 f., 397–405 Atom 11, 84 –, Atombombe 11, 411 f., 419 –, Atomenergie/Kernkraft 11, 323 f., 407 f., 411 f., 420, 491–513 Aufhebung/Aufhebungsperspektive 46, 54, 75, 83, 89, 101, 108, 154, 158, 171 f., 262, 282, 284, 350, 367, 382 f., 402, 436, 438, 456, 506 Aufklärung 16, 34, 39, 67, 92, 178– 184, 205–207, 220, 258, 290, 335, 373, 375, 395 Auschwitz 356, 429 Autonomie 22, 138, 169, 171 f., 178– 181, 185, 193, 200, 204 f., 217, 221 f., 224, 228, 297, 299, 324, 340, 346, 349, 356, 357 f., 360 f., 364, 368 f., 371 f., 374, 393, 432, 516 –, Autonomieanspruch 177, 356 f. –, Dialogische A. 172, 217, 297, 299, 369, 371 –, Urteilsautonomie 132, 138, 171, 212, 217, 224, 342, 345, 357, 361, 371 Autoritäten 178 f., 332, 335, 341 Banker 260 f., 420 Bedeutungstheorie 156 Bedürfnis 37, 65, 155, 166, 224 f., 231, 323, 327, 342 f., 360, 364–366, 368, 375, 405, 418, 479, 518 Begehren 132, 198 Begleitdiskurs s. a. Diskursglaubwürdigkeit 163–165, 236–239, 243, 245, 251, 258–261, 270, 272, 277, 279 f., 282 f., 313, 326, 356, 413

–, Apriori des B. 163–165, 235–241, 243 f., 251, 259 f., 279 Behaviourismus 155 Bemühung, Bemühungszusage, Bemühungspflicht 23, 113, 206, 209, 247, 252 f., 264, 285, 287, 294, 297– 299, 315, 351, 359 f., 365, 371, 379, 382, 384 f., 398, 400, 402, 416, 423, 425, 451, 462, 467, 471, 477–481, 489, 513, 525 Betroffene/Beteiligte 22, 68, 132, 229– 231, 244, 246, 316, 322, 345, 350, 353, 357 f., 363–367, 372, 385 f., 393, 404 f., 413, 416–418, 424, 431, 442, 444 f., 450, 472, 476–480, 482, 485, 494 f., 498, 509, 511, 527, 532 f. Bevölkerungswachstum 411, 419, 491, 504 Bewahrungsprinzip, Bewahrung 88, 119, 287, 291, 355 f., 414, 417, 430, 440 f., 445, 448 f., 452, 459, 470 f., 473 f., 483, 485, 514, 532, 536 Bewußtsein 21 f., 32 f., 56, 68, 78, 86 f., 89 f., 122, 152, 160, 178–180, 187, 194, 227, 236, 273, 281, 284, 325 f., 368, 375 f., 383, 423, 429, 432, 457 Bewußtseinsphilosophie s. a. Subjektphilosophie, Paradigma: Zweites 13, 33, 53, 62, 92, 151, 166, 178–180, 216, 374 Bezeichnungstheorie s. a. Sprachauffassung 103, 108, 151–153, 180, 182 Bibel 38, 128–130, 133–136, 140, 143– 147, 167–172, 227, 262, 334, 348, 354, 391 f., 395, 440, 447, 515 –, Altes Testament/Hebräische Bibel s. a. Tora 120, 129 f., 133–136, 143– 146, 167–172, 235, 237, 325, 348, 354, 367, 369, 394, 408, 430, 515 –, Neues Testament 134, 147, 171, 354 Bildung 32, 35–39, 58, 112, 114, 116 f., 247 f., 341, 370, 375, 483, 513 Biologie 87–89, 278, 279, 291, 293, 428, 442, 458, 461, 527 f. Biosphäre 408, 422, 424, 454, 462, 492

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Sachregister Böses 133, 135, 143 f., 198, 220, 229 f., 325, 354, 441, 457, 459 –, böser Geist (Descartes) 187 –, diabolisch B. 260 Bund s. a. Gott, biblisch 129, 133, 135, 143–145, 167–169, 172, 227, 348 f., 361, 369, 392, 394 –, Bundestheologie 128, 135 f., 167 f., 348 f., 395 –, Bundesvolk 120, 128, 130 –, Noahbund 143–145, 168, 348, 394 f., 515 –, Sinaibund 143, 145, 167 f., 348, 394 Bundesrepublik Deutschland 127, 420, 472, 478 Cartesianismus 12, 82, 194–196, 282, 456, 458, 460 f. Christentum, christlich 13, 31, 34, 37, 73, 78, 120, 128–134, 137 f., 141, 146 f., 172, 175, 186 f., 197, 202, 223 230 f., 335, 353 f. Club of Rome 407 Cogitatio/ego cogito (Descartes) 86, 175, 182, 188, 193 f. Common sense/Sensus communis/Gemeinsinn/Gemeiner Menschenverstand (Kant) 34, 55, 126, 213, 221, 227, 278, 296, 346, 375, 399, 422 f. –, Commonsense-Auffassung der Sprache s. a. Sprachauffassung, Nominalismus 152, 155, 265 Conditio humana/condition humaine 67, 80, 388 Dasein (Heidegger) 78 f., 81, 194, 235 f., 269 f., 280 Deduktion 61, 93 f., 431 f., 533 –, formallogische D. (apodeixis) 93 f., 96, 99, 101 –, transzendentale D. 211 Demokratie 25, 39, 65, 68, 126 f., 203, 395, 397, 471, 473–476, 485 –, Dispens der D. 471–476

Determinismus 160, 212, 224, 277 f. Dezisionismus 70, 81, 209 f., 216, 425, 427, 437, 474 Dialektik 29, 54–56, 58, 63, 75, 89, 100 f., 122, 136 f., 154, 184, 191, 262, 273, 282, 285, 293, 361 f., 376, 423, 438 –, D. von realer Kommunikationsgemeinschaft und idealer Argumentationsgemeinschaft 196, 275, 278, 282, 530 Dialogpragmatik s. a. Sinnkritik, Diskurspragmatik 46, 99, 263, 289, 418, 436 f., 439, 488, 493, 510, 518, 538 Dialogreflexion s. Diskursreflexion Dialogverpflichtungen/Dialogversprechen 189, 287 f., 291–294, 297–299, 302–304, 316 f., 320, 323, 386, 396 f., 484, 501, 503, 535 f. Dilemma 232, 335, 352 f., 355 f., 471, 482 f., 499 –, Moralisches D. 80, 232, 337, 339, 341, 352 –, Verantwortungsdilemma 359 f., 372, 414, 471 Dimensionen des zu Verantwortenden 418 f., 442 f. –, Makrodimension 419, 423 –, Mesodimension 418 f. –, Mikrodimension 418 f. –, Tiefendimension 419, 421, 442 Diskurs –, Diskursbegriff 71, 117, 122, 136, 151, 249, 318, 379 f., 470 –, Kurzer D. 316, 320 f. –, Philosophischer D. 53, 64, 72, 139, 185, 249, 438 –, Praktischer D. 66, 115, 120, 132, 223, 247, 252 f., 289, 317 f., 322, 337, 341, 364, 366 f., 386, 415–417, 438, 440, 443, 447, 475, 476, 482, 511 f., 518, 523, 534 –, Situationsbezogener D. s. a. Situationsinterpretation 33, 124, 247, 253, 297, 299, 321 f., 350, 366 f., 371,

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Sachregister 383 f., 386, 396, 414–416, 422, 476– 481, 505, 512, 535 –, Theoretischer D. 417, 422 f., 479, 523 Diskursethik s. Ethik Diskursglaubwürdigkeit/Glaubwürdigkeit eines Akteurs als Diskurspartner 15, 26, 101, 243, 252, 254, 256, 259–261, 273–275, 288, 291, 294– 297, 302, 305, 312, 315, 320, 340, 356, 364, 371, 373, 379–381, 399– 401, 423–425, 435, 437–439, 450, 452 f., 464 f., 467–470, 489, 493–496, 498, 501, 505, 509–512, 521, 526, 529–532 Diskurs-Moralprinzip ›D‹ 252 f., 316– 320, 336, 358–360, 369 f., 372, 380, 415–417, 439, 447 f., 465, 471, 471, 479–481, 485, 493–495, 506, 514, 525 –, Konkretion des D. 252, 360 f., 363, 413–417, 471, 479, 493 Diskurspartner, Diskurspartnerschaft 12, 15, 22 f., 44–46, 70, 80, 99–101, 172, 188, 204, 210, 252–259, 261 f., 264, 273–277, 286–289, 291, 296– 299, 302, 304 f., 308–312, 315 f., 318–321, 323, 336, 340, 349, 356 f., 359–362, 364, 369, 371–374, 376 f., 380, 385 f., 391–393, 396, 398, 400 f., 405, 412, 423–425, 434, 436–439, 448, 450–453, 457, 459, 462–465, 467–470, 475, 477, 481 f., 489, 493– 496, 498 f., 502, 505, 508 f., 511–514, 520–522, 524–526, 528 f., 531, 534– 537 –, Diskurspartnerrolle s. a. Sinnbedingungen 12, 26, 44–46, 95, 100, 237, 255 f., 259, 273 f., 279, 287, 291, 293 f., 296, 298 f., 302, 305, 309 f., 318 f., 321, 356 f., 371, 379 f., 382 f., 386, 393, 450–453, 461, 494–496, 499, 512 f., 518, 521, 525, 529 Diskurspragmatik s. a. Diskursreflexion 13, 25, 43, 46, 93, 95, 97 f., 100,

230, 235, 237, 241 f., 247–252, 255– 258, 262–264, 267–275, 278–280, 282, 291 f., 294, 296, 298, 306, 311, 314, 317–322, 378–381, 386, 388, 398, 425, 431, 434 f., 438, 444, 475, 477, 498, 503, 505–507, 519 f., 530, 534 f. Diskursreflexion 12, 96, 99–102, 107, 109, 127, 166, 200, 250, 252, 254, 257, 273 f., 278, 302, 380, 434, 436, 439, 449, 472, 479, 484, 493, 501, 503, 506 f., 511, 513, 517, 519, 521, 534, 537 Diskurstheorie 126, 151, 380, 439, 449 f., 517 Diskursuniversum s. a. Kommunikationsgemeinschaft, ideale 53, 82 f., 282, 286, 289, 316, 365, 399, 401, 443, 446, 451 f., 461, 465 f., 495, 503, 507, 509, 519, 535 f. Diskurs-Verantwortungsprinzip ›D-V‹, Verantwortungsprinzip 356, 359 f., 369, 431, 446, 473, 482–486, 495, 503, 535 Diskursverweigerung 230, 482 Dogma, Dogmatismus 11, 61, 78, 134, 147, 191, 207, 428, 455, 458, 478 Donatisten 131 Doppelstruktur (Habermas) s. a. Äußerung 162 f., 189, 240, 282, 313 –, Doppelte D. (Øfsti) 163–165, 313 »Drittes Reich« s. Nationalsozialismus Dualismus 57, 59, 86, 92, 128, 133, 136, 153, 172, 178, 181, 189, 193, 195, 211 f., 215, 224–226, 228, 246, 456–460, 470 Ebene B der Diskursethik s. a. moralstrategisch, Erfolg des Moralischen 403, 417, 448, 471, 473, 479, 482– 486, 503 Egoismus 125, 201, 204, 231, 293, 337, 343 f., 347, 356, 368, 372, 416, 459, 511 Ehrfurcht vor dem Leben (Schweitzer) 421, 457–459, 463 f., 466, 470, 533

572 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Sachregister Eigeninteresse 65 f., 198, 200 f., 204, 222, 282 f., 293, 344, 351, 369, 375 Einsames Subjekt 12 f., 29, 41, 46, 52 f., 63, 72, 79–82, 102 f., 105, 109, 114, 121, 123, 138 f., 141, 150 f., 180, 182, 188 f., 192, 197, 226, 228 f., 230 f., 280–282, 284, 336, 341, 343, 349, 364 f., 390, 414 Eleaten 27 f., 42 Elenchos, Elenktik 13, 16, 22, 45 f., 63, 93, 96, 99–101, 108, 185, 193, 378, 390, 521 Eltern 257, 342, 448, 487 f. Emanzipation 22, 40, 178–181, 195, 324, 342 Embryo 12, 408, 467, 491, 531–537 –, embryonale Stammzellen 11 f., 323, 421, 447, 532 Empathie 343, 349, 467 f. Empirie, empirisch 14 f., 48, 78, 82, 106 f., 157, 159, 161, 163 f., 180 f., 183, 200 f., 204, 208, 212, 220 f., 232, 244, 247 f., 260, 267, 282, 285 f., 300, 314 f., 337–339, 342, 345 f., 352, 383, 422–424, 426, 433, 457, 469, 472, 494, 498, 508, 527, 530 Empirismus 149, 179–182, 450 Energie, Energiepolitik s. a. Atomenergie 407, 420, 497, 502–505 Engel 142, 148 Entmythologisierung 134 Entwicklungslogik 83, 167, 181, 276, 324, 361, 364–370, 397 –, E. des moralischen Urteils (L. Kohlberg) 82 f., 201, 276, 336–347, 364– 370 Entwicklungsstufe (L. Kohlberg) 82, 201, 276, 337, 340–349, 359–372, 387, 391–394, 397, 399–405, 478 Erbsünde 133–135, 464 Erfahrung 41, 58, 61, 69, 78, 89, 102, 140, 143–146, 166, 173, 191, 194, 197, 199, 211 f., 219, 225, 237, 280, 283 f., 294, 334, 349, 354, 389, 421 f., 433, 441, 499

–, Kommunikative E. s. Kommunikation Erfolg 77 f., 89, 91, 112, 116, 135, 259 f., 285, 351 f., 427 –, E. des Moralischen, Erfolgsverantwortung s. a. moralstrategisch, Verantwortungsethik 231 f., 350–352, 359 f., 362 f., 367–371, 401, 403, 416 f., 438, 447 f., 471–473, 479–482, 485 f., 502–504 Erkenntnis 15, 23 f., 27, 29 f., 35, 39– 42, 46, 52–54, 56–64, 71–74, 85 f., 91–95, 104 f., 108–110, 120 f., 136– 143, 148–151, 153 f., 158 f., 166, 172–175, 178–184, 188, 196 f., 207, 209–213, 215 f., 221, 224, 228, 236 f., 247, 262, 264, 270, 274, 280, 284, 296, 300, 302, 315, 349, 371, 375– 377, 379, 382–385, 421–423, 425, 432, 436, 455–457, 451 f., 468, 477, 479, 499, 508, 525, 535 –, Erkenntnisinteresse 177–179, 183 –, Erkenntnisrelation 63, 456, 460 –, Erkenntnissubjekt 61, 178–180, 182–184, 188, 190, 192, 211 f., 215 f., 224, 270, 272, 284 f., 341, 457, 461 f., 525 Erkenntnistheorie 22, 28, 39, 64, 92, 110, 150, 153, 179, 193, 224, 275 f., 396, 455 Erstaunen 21 f., 28–30, 32, 35, 39, 92 f., 152, 155, 166, 174, 463 Erwartungen 167, 197, 246, 256, 263 f., 266, 296, 306, 341–343, 348, 357, 368, 435, 488 –, Erwartungserwartungen 106, 256 f., 264, 305 f., 316, 355 Ethik –, Bewahrungsethik s. Bewahrungsprinzip –, Bioethik s. a. Kontinuitätsargument, Potentialitätsargument 442, 465 f. –, Diskursethik, Dialogethik/dialogische E., kommunikative E. s. a. Kommunikation 16, 24, 26, 35, 38, 123, 127, 247, 250, 252, 253, 255 f., 267,

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Sachregister 294, 316–320, 336, 359, 363, 380 f., 387, 413, 415 f., 418, 422, 424 f., 438– 440, 442, 447–450, 453, 472 f., 575– 483, 485 f., 493 f., 506, 513, 516 f., 519, 523, 538 –, Ergänzungsethik/Ergänzungsprinzip (Apel) 252, 415–417 –, Gesinnungsethik 132, 205, 213, 222 f., 228, 230 f., 350, 354, 359–361, 363, 367, 369 f., 372, 398 –, Judäo-christliche Ethiktradition 36, 134, 169, 374, 430, 442 –, Metaethik 61, 70, 215–127, 218, 357, 387 –, Naturethik 131, 220, 255, 346, 421, 456, 465, 468 f. –, Normative/deontologische E. 11, 217, 221, 224, 253–255, 266, 298, 324, 336, 371, 379, 421, 424, 446, 454, 515 –, Politische E. 28, 64, 116, 201, 360, 375, 394 f., 404, 411 f., 418, 471, 502, 514, 516 –, Prinzip der E. s. Moralprinzip –, Prinzipienethik 171, 361, 363, 399, 413, 439 f., 480 –, Rechtsethik 119, 167, 348, 394 f., 474 f., 516, 529 –, Verantwortungsethik s. a. Verantwortung, Ebene B der Diskursethik 114 f., 225, 229–231, 252, 253, 295, 317, 320, 324, 350 f., 353, 357 f., 360– 363, 367 f., 372 f., 387, 391, 397 f., 401–405, 407, 412, 415–417, 423, 431, 438, 447 f., 462–465, 469, 472– 474, 480–482, 486, 491, 493, 495, 501–506, 509 –, Verfahrensethik 517 –, Vermeidungsethik 417, 441 –, Wertethik/E. des guten Lebens s. a. Glück 80, 220, 253–255, 257, 371, 421, 442, 472, 478, 489 –, Wirtschaftsethik 135, 252 –, Wissenschaftsethik 292, 425 –, Zukunftsethik s. a. Zukunftsverantwortung 359, 409, 423, 538

Ethos 115, 135, 201, 203, 208, 341, 360, 425 Eudaimonismus s. a. Glück 70, 374 Europa s. a. Abendland 13, 52 f., 112, 121, 136, 149, 192, 235, 261, 420, 457, 505 Evidenz 12, 110, 139, 179 f., 184, 188, 192, 210, 218, 382, 509 f. –, Dialogevidenz 192, 210, 437, 507, 532 –, Evidenztheorie (der Wahrheit) 109 f., 139, 154 Evolution 428 f., 455, 468 Ewigkeit 27–30, 33, 39, 53, 55 f., 58, 63 f., 67, 74–77, 89, 91, 103, 109, 120, 128, 140, 142, 146, 166, 202 Existentialismus 79–82, 147, 269, 425, 427 f., 515 f. Existenzialien (Heidegger) 80 Existenzialontologie 280 Experiment 86, 156, 175, 177, 179, 181, 219, 224, 424, 427, 445, 460 Expertokratie 119, 288, 390, 476, 478, 481 Fallibilismus 268, 271, 450 Fallibilität/Irrtumsfähigkeit 22, 151, 180, 219, 253, 271, 274, 291, 294, 296 f., 299, 317, 321 f., 349, 377, 396, 398, 402, 422 f., 446, 449, 468, 484, 494, 501, 505, 533, 535, 537 Fatalismus 277 Fehlschluß 14, 34 f., 196 –, naturalistischer F./Sein-Sollen-F. 33 f., 58, 62, 64, 69 f. 96, 116 f., 122 f., 201, 214–216, 218, 391, 393, 395– 397, 399, 433 f., 437, 459, 467, 472, 527 –, nominalistischer F. 154 –, ontologischer/optisch-theoretischer F. 64, 390 –, rhetoristisch-pädagogischer F. 113 –, Zirkelschluß s. Petitio principii Feindesliebe (nach Jesus) 171 Fließgleichgewicht 88 Folgen 88, 115 f., 135, 298 f., 320,

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Sachregister 323, 391, 407, 414, 423 f., 441–443, 447 f., 463, 465 f., 492, 499–502, 512, 536 f. –, Folgendiskurs 115, 367, 371, 496 –, Folgenverantwortung 350 f., 355– 357, 359–363, 367 f., 416, 445, 463, 471–473, 497 –, Folgenwissen 422–424 Forschung s. a. Embryo 74, 175, 181, 268, 272, 296–298, 315, 317, 338, 383–385, 423, 425, 442, 484, 504 f. Fortschritt 407, 410, 421, 440, 442, 444 f., 500 f. Freiheit 68, 78, 80, 134 f., 139, 143 f., 185, 208, 210–213, 215, 224–226, 258, 293, 294, 297, 323, 395, 402, 410, 411, 417, 428 f., 431 f., 434–437, 468, 475, 492, 495 f., 500–502, 510– 512, 530 –, Kommunikativef. 226, 258, 323, 434–436, 475, 495, 501, 510 f., 525, 531 –, Willkürfreiheit s. Willkür Frieden 119, 199, 201–203, 208, 230, 335, 445, 458 Fürsorge s. a. Verantwortung 255, 359, 368, 391, 404, 416, 448, 487–491 Fukushima 11, 420, 497, 509 Furcht s. a. Heuristik derfurcht 197– 199, 201 f., 204, 291, 441 f., 498 Gebot 38, 116, 121, 129, 131, 135, 167, 171 f., 199, 205, 218, 229 f., 232, 316, 323, 348, 352, 354, 357, 359, 361, 369, 375, 386, 394, 437, 498, 513– 516, 524, 526 –, Zehn Gebote/Dekalog 145, 168, 171, 227, 230, 348, 515 Gedankenexperiment 82, 114, 177, 182, 184, 189, 198–201, 222, 300 f., 322, 341, 343, 349, 364, 367, 369, 391, 393, 397, 414, 438, 440 f., 447, 449, 453, 459, 476–478, 497, 503, 528 –, G. der Wette (Jonas) 442–447, 493, 495, 498, 500, 503, 509, 532, 536

Gefahrenzivilisation 250, 408, 410 f., 473 Gegenseitigkeit/Reziprozität s. a. Verständigungsgegenseitigkeit, Geltungsgegenseitigkeit 82 f., 106, 129 f., 172, 248, 258, 260, 303, 337, 341 f., 345, 347 f., 359, 361, 366–370, 372 –, instrumentelle G. 169, 341, 343, 368 –, verallgemeinerbare G. 82, 120–123, 129, 276, 336 f., 339–341, 343, 345– 350, 358–362, 364–372, 392, 397, 511 Geltung 12, 15, 40, 42–45, 49, 52–54, 67, 81 f., 95, 101, 105–109, 115, 123– 125, 138, 149, 164, 185, 193, 203, 208 f., 217, 223, 225, 228, 230, 244– 247, 252 f., 262, 268, 271–273, 275, 286, 303, 316 f., 321, 326, 329, 334 f., 342, 346, 349, 377–386, 388 f., 393, 396, 413, 436, 446, 451, 462, 472, 474 f., 480 f., 491, 512, 516, 521–524, 527, 529–531 –, Geltungsansprüche s. a. Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Verständlichkeit 12 f., 16, 22, 26, 43 f., 46–53, 81, 97–100, 103, 112, 120, 151, 160, 185, 189, 192, 215, 226, 228, 236, 238–241, 246, 249 f., 259– 261, 263 f., 266, 269 f., 276, 279 f., 282 f., 285–291, 294–299, 301 f., 304–306, 308, 312, 315–317, 336, 339 f., 357, 360, 365, 382, 384, 389, 397, 399, 402, 409, 424–426, 434, 450 f., 453, 457, 461, 484, 488–490, 507, 512, 518, 520, 522 –, Geltungseinklammerung 139, 201, 306, 361, 393, 475 –, Geltungsgegenseitigkeit 68, 366 f., 369, 371 f., 476 f., 479 –, Geltungsgrund s. Rechtsgrund –, Geltungsinstanz 53, 63, 83, 297, 299, 301 f., 356, 392, 397, 400, 443, 452, 461, 466, 519, 521, 535 f. –, Geltungslogik 33, 51, 72, 82, 117, 188, 221, 237, 253, 287, 316, 378,

575 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Sachregister 380, 382 f., 385 f., 399 f., 436, 448, 455, 458, 463, 465, 476, 495, 535 f., –, Geltungssinn 52, 64, 107, 189, 246, 311, 391 Gemeinschaftsbezug (der Sprache) 48, 52, 82, 160, 226, 228, 280, 282, 285, 300, 342, 385 Generationen 11, 48, 324, 326, 496, 501 –, nachfolgende/künftige G. 323, 407, 409–411, 419, 442, 472, 501, 508 f. Genmanipulation 11 Geometrie 55, 61, 71 Gerechtigkeit 11, 25, 35, 37, 57–59, 61, 64–68, 115 f., 118–121, 129 f., 132, 134 f., 167–169, 172, 225, 260, 288, 295, 297, 299, 302, 323–325, 337, 341 f., 345 f., 348 f., 369 f., 376, 387, 390, 391, 400, 402, 404 f., 431, 440, 476 f., 492, 513 Gerichtshof (Metapher) 13, 24, 243 Geschichte, geschichtlich 32–34, 37, 39–41, 48–51, 53, 64, 66 f., 74, 76– 79, 81, 90 f., 103, 114, 120, 122, 124– 128, 132 f., 135 f., 141, 143 f., 147, 149, 151, 168 f., 188, 191, 194 f., 202, 212, 222 f., 227, 250, 268 f., 276 f., 279 f., 282 f., 324 f., 329, 334, 339, 344, 350, 373, 381–384, 388 f., 394 f., 414, 419, 422, 424, 429, 441, 447 f., 474, 478, 497, 509 –, Erfolgsgeschichte s. a. Teleologie 78 f. Gesetz 38 f., 65, 81, 118, 122, 128, 131, 160, 171, 193, 195, 199–201, 203, 205 f., 213 f., 217–223, 226–228, 329, 335, 340, 346, 349, 369, 375, 386 f., 391–393, 395 f., 400, 402–405, 473 –, Grundgesetz 203, 432, 515 –, Moralisches G. 32, 205, 219–222, 226 –, Sittengesetz 218, 432 f., 437 Gesinnung (gute) 114, 222, 231, 316, 359, 369, 372, 414, 416 »Gestell« (Heidegger) 460 Gewissen 23, 82, 130 f., 221, 333,

343 f., 353, 356 f., 362, 365, 373, 375, 404, 443, 464 –, Gewissensfreiheit 131, 395 Gewißheit 109 f., 138–140, 180, 184, 188, 192, 302, 404 Glaubwürdigkeit 24, 70, 169, 239 f., 260 f., 309, 400, 429, 502, 518, 521 –, G. als Diskurspartner s. Diskursglaubwürdigkeit –, Glaubwürdigkeitsanspruch 13, 261, 297–299, 318, 529 Glück 35, 66, 68, 76, 91, 102, 203, 220 f., 254, 375, 399, 421 Götter 21, 28, 30 f., 326, 332, 334 f. Göttliches, göttlich 21, 27–32, 34–37, 55–57, 63 f., 66–68, 75, 78, 83, 91, 115 f., 118, 122 f., 128, 136, 153, 175, 179, 201 f., 218, 326, 332, 335 f., 361, 370, 429 –, göttliche Vernunft s. Vernunft –, göttliche Wahrheit s. Wahrheit Goldene Regel 128, 129, 171 f., 227, 345, 369 Gott s. a. Göttliches 21, 27 f., 30 ff., 63, 65, 78 f., 81, 85, 91, 102, 118, 119 f., 123, 128, 136–148, 175, 180, 186, 190, 201–203, 220, 225, 262, 325 f., 335, 428–430, 433, 446 f. –, augustinisch als Selbstzweck 130– 135 –, biblisch als Gegenüber im Bundesverhältnis 129 f., 132 f., 143–146, 167–172, 237, 348 f., 357, 361, 369, 392, 394 –, Demiurg (Platon) 36, 75 –, unbewegter Beweger (Aristoteles) 75 f., 83, 146 –, Schöpfergott 140, 145, 235, 428– 430, 515 Gottesebenbildlichkeit s. a. Menschenwürde 36–38, 128, 168, 392, 394 f., 418, 430, 440, 442, 515 Gottesstandpunkt 27, 68, 75, 103, 179 Grammatik 158, 209, 263, 269, 274, 290, 339

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Sachregister Griechenland 13, 21, 27 f., 30, 36, 37, 55, 59, 64, 74, 101 f., 111 f., 116, 146, 167, 178, 324–326, 332, 334 Grundnorm s. a. Moralprinzip 36, 80, 145, 217, 316, 361, 386, 415, 439, 475, 514 f., 525 Gültigkeit 71, 93, 95, 99, 101, 107, 109 f., 122, 127, 150, 158, 164, 188, 203, 217 f., 237, 252, 260, 271–274, 289, 292, 303, 314, 318 f., 374, 376, 380 f., 384, 388, 390, 393, 396, 400, 436, 438, 440, 449, 476–478, 506, 512, 519–522, 524 –, Gültigkeitsanspruch s. Geltungsansprüche –, Gültigkeitsinstanz s. Geltungsinstanz Handlung 26, 47, 57, 66, 75, 81 f., 85, 87, 91 f., 110, 115 f., 134, 153, 155 f., 160 f., 163–165, 177, 182, 198 f., 206, 210, 212 f., 215, 217, 219, 221–223, 227–230, 236–238, 240–242, 244 f., 250–253, 256 f., 261–267, 270, 277, 279–284, 286, 288, 292, 294–297, 299, 313, 317, 320, 323, 336, 341, 343, 356–359, 362 f., 366, 368–372, 378, 382, 384, 386, 388 f., 399 f., 412 f., 415 f., 419, 421, 423 f., 429 f., 439–444, 447–449, 452, 454, 465 f., 476 f., 479, 481, 485–489, 494 f., 497 f., 500, 502, 504, 508, 513, 518, 522 f., 525, 535–537 –, Handlungsgemeinschaft 14, 33, 81, 188, 226, 281–283 –, Handlungswissen s. a. Vorwissen 267–269, 274 Harmonie 24, 29–32, 35, 65, 69, 174, 179, 370, 378 f. Heil 120, 130–132, 135, 169 f., 172, 455 –, Heilsgeschichte 130–132, 134 –, Seelenheil 130 f. Hellenismus 53, 111 f., 116, 133, 137, 143, 146 f., 186 Herakliteer 67, 93

Hermeneutik s. a. Zirkel 48, 77, 88, 90, 110, 134, 156 f., 249, 267–270, 277, 281, 322, 338, 365 f., 476–479 –, Transzendentalhermeneutik 49, 137, 269, 280 Heteronomie (i. S. Kants) 52, 193, 200, 204, 220, 349, 388 Heuristik/Findekunst 121, 157, 255, 274, 441 f. –, H. derfurcht (Jonas) 440–442, 498, 536 Historismus 33, 290, 329 Höhlengleichnis (Platon) 56 Holismus s. Öko-Holismus Humanismus 36 f., 82, 113, 178 f., 183 f., 195, 446, 460 –, Sprachhumanismus 34, 48, 113 f., 127, 151, 181, 184, 281 Ich I (empirisch) vs. (Diskurspartner-) Ich II i. S. der Diskurspragmatik 22 f., 210, 256, 278–282, 286, 289 f., 293 f., 378 f., 388, 392, 457, 465, 489, 498 Idealismus 24, 62, 75, 90, 114, 151, 179, 191, 194, 273, 281, 367, 399, 530 Idee 21, 29, 36 f., 40–42, 52–64, 69, 71 f., 75–78, 87. 90, 117 f., 152, 166 f., 194, 217, 226, 383 f., 398 f., 418, 446 f., 471 f., 484 f., 499, 503, 514 f., 536 f. –, I. des Guten/I. der Ideen (Platon) 30, 53, 56–58, 69 f., 75, 91, 398 –, Ideenlehre (Platon) 29, 40, 55, 62, 65, 67, 69 f., 102, 383, 398, 460 –, regulative I./regulatives Prinzip (seit Kant) 16, 53, 61 f., 71, 124 f., 223, 225, 252 f., 285–287, 296, 298 f., 316 f., 320, 347, 353, 363, 366, 383– 385, 446, 450, 452, 494 f. Identität 37, 73, 78, 89, 93, 210, 255, 257, 278, 327, 335, 360 f., 369, 371 f. Ideologie, ideologisch 114, 124 f., 195, 329, 426

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Sachregister –, Ideologiekritik 277, 478 Imperativ 210, 317, 356, 423, 438 f., 452, 469, 483, 498 –, erster I. (Jonas) 449, 452 f., –, hypothetischer I. 66, 199, 210, 254, 446 –, kategorischer I. 66, 81, 208, 210 f., 214, 217, 221 f., 229–232, 254, 343, 345, 364, 409, 414, 430, 432, 438, 447, 515 In-der-Welt-Sein 79, 81, 236 f., 269, 429 Industrie, industriell 88, 135, 177, 407 f., 420 f., 442, 502–504 Inklusion (moralische) 447, 470 Instinkt 326–331, 334 Institution 48, 51, 114 f., 131 f., 161, 178, 195, 201, 212, 247, 255, 257, 260, 263, 267, 276, 280, 324–335, 351, 357, 361 f., 368, 384, 393, 396 f., 402, 412, 414, 416 f., 448, 473 f., 478 f., 482, 484–486, 497, 505, 510, 513 f. –, Institutionalismus 329 f., 393, 396 f. –, Sprache als Metainstitution 47, 113, 267, 273, 327 Intentionalität 85, 87, 130, 265, 281, 284 Interessen 24, 62, 68, 87, 112, 123, 203 f., 206, 225, 230, 256, 258, 263, 277, 281–284, 321–324, 345, 348 f., 358, 365–367, 378, 383, 389, 395, 405, 410, 413, 419, 421, 443–445, 454, 466, 469–471, 476–480, 482, 494, 498, 502 f., 506, 509, 511–513, 517, 521–524, 532 f., 536, 538 –, Interessenkalkül s. a. Rationalität: Zweckrationalität 204, 351 –, Nahinteressen 293, 473, 494 Intersubjektivität 33, 46, 49, 59, 63, 71, 81–83, 105, 150, 155, 158–160, 166, 191, 199, 203, 209 f., 221 f., 224, 228 f., 243, 262, 266, 269, 295, 299, 303, 308, 310, 312, 322, 382–385, 409, 425, 439, 451, 454, 468, 512 Intuition 31, 72, 188, 192, 213, 255,

267, 356, 368, 434, 440 f., 443, 447 f., 456, 458, 468–470, 487, 519 –, ethische I. 253, 255, 257, 338, 359 f., 417, 421, 438, 440–443, 447 f., 468 f., 484 f., 533 –, Intuitionismus 151, 456 f., 472, 487, 533 –, intuitive Vernunfteinsicht vs. diskursive Verstandeserkenntnis 57, 71 f., 108 f., 136–143, 147–152, 225 –, Naturintuitionen 255, 421, 468 f. Ironie (Sokrates) 22 f., 67 Irrationalität/Arationalität 31, 80–82, 135, 209 f., 219, 320, 330, 365, 414, 416, 426 f., 516 Israel 129, 133, 143, 145, 167 f., 170 f., 227, 325 f., 334, 348 f., 354, 394, 419, 447 Ja-und-Nein-Stellungnahmen 43, 45– 47 Judentum, jüdisch 73, 133, 134, 146 f., 168 f., 171 f., 186, 202, 223, 235, 349, 354 f., 374, 408, 429 f. Kapitalismus 136, 195, 407, 410 f., 418, 458, 478, 501 –, Finanzkapitalismus 16, 407, 420 –, Frühkapitalismus 135 f. Kategorie 58, 212, 342 –, Kategorienfehler 76, 175, 367, 458 Kausalerklärung 85–87, 182, 204, 211, 219, 224, 276 Kirche 118, 128–133, 147, 426 f., 464 –, Katholische K. 132, 186 –, Kirchenpolitik 128, 130 f. Klima 407, 420, 493, 503–505 Klugheit 65 f., 114, 120, 121, 176, 196, 203, 210, 229, 403, 417, 503 –, praktische K. (phronesis, prudentia) 76, 90 f., 254 Körper s. a. res extensa, Leib 30, 37, 59, 65, 128, 139, 143, 153, 172, 176, 186, 190 f., 193, 198, 202, 334, 447

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Sachregister Kohärenz 24, 42, 256 f., 274, 322, 379, 451 f., 482, 504, 537 –, Kohärenzprüfung 319–322, 512 f. Kollektiv 136, 270, 394, 407, 418, 431, 449, 454 –, Kollektiver Selbstmord 408, 445, 450, 453 –, Kollektivverantwortung s. a. Mitverantwortung 11 f., 409, 412 f. Kommunikationsgemeinschaft 105, 110, 112, 159, 182, 188, 282, 292, 300 f., 308, 400, 449, 477 –, Reale K. (Sinnapriori) 16, 48–51, 53, 70, 81, 121, 188, 191, 196, 226, 263, 278 f., 281 f., 285, 372, 388, 400, 476, 518 –, Ideale K. (Geltungsapriori)/Argumentationsgemeinschaft s. a. Diskursuniversum 16, 50 f., 63, 70–72, 82, 121, 188, 196, 201, 223, 229, 231, 245, 262 f., 267, 275, 278 f., 282, 285– 287, 301, 316 f., 320, 322, 336, 353, 356, 360, 365, 372, 383, 385, 388, 392, 398, 400, 437, 443, 450–453, 461, 465, 483 Kommunikationsphilosophie s. a. Paradigma 22, 26, 166, 181, 364 Kommunikative Erfahrung 226, 258, 266 Komplementarität 90, 179, 253, 255, 270, 338, 408, 431 f., 434, 438, 443, 493, 505, 531 –, Komplementaritätssystem (Apel) 426 f., 434, 438, 453, 494, 516 Konflikt, Konfliktlösung 37, 171, 225, 229 f., 256, 276, 321, 325, 332–335, 337, 340 f., 345, 354, 361 f., 370, 414, 419, 464, 470, 493 f., 519 Konformismus 120, 124, 193 Konformität 342 f., 368 Konsens 34, 40, 111, 113, 117, 120, 126, 150, 180, 210, 272, 300, 342, 372, 408, 416, 449–453, 506, 507 f., 517, 534 f. –, argumentativer K. 25, 72, 124 f., 209, 285 f., 316 f., 350 f., 409, 415,

424 f., 446, 448–452, 481, 485, 493– 495, 498, 506 –, Consensus omnium (Cicero) 122– 124 –, faktischer K. 113, 125, 286, 385, 446, 449 f., 453, 472, 498, 506 –, Konsenswürdigkeit 69, 81–83, 123– 125, 211, 245, 253, 256, 285, 295, 322, 336, 350, 359, 362 f., 365, 369, 372 f., 382 f., 385, 404, 451, 465, 472, 483 f., 486, 525 –, natürlicher K. s. a. Naturalistischer Fehlschluß 122 f. Konsistenz 98, 114, 209, 271, 289, 292, 384, 437 Konsum 407, 442 Kontemplation s. a. Theoria 13, 27, 31, 102, 128, 140, 143, 146–148, 151, 179, 481, 487 Kontextualismus s. a. Relativismus 250, 286 Kontinuitätsargument 529 f. Kontrafaktizität 50, 224, 267, 346 f., 357, 378, 385, 400, 415, 476, 497 Konventionalismus/Konventionen 70, 73, 89, 104 f., 120–123, 201, 286, 333 f., 341–347, 361, 368–370, 381, 391, 396, 399, 405 –, konventionalistische Urteile (Stufen 3 und 4 nach Kohlberg) 193, 197, 341, 391 –, metakonventionell 23, 118, 193, 335, 345, 348, 360, 369 f., 391, 393, 399 –, postkonventionell 335, 344 f., 367, 393 Kooperation 26, 52, 118, 255, 258, 263, 267, 273, 288, 291, 294–296, 299, 305, 310, 312, 350, 448, 518 Korrespondenztheorie (der Wahrheit) 107, 149, 154 Kosmos/Universum 21, 29–39, 42, 53, 55, 58 f., 61, 63–69, 71, 73, 75 f., 118, 130, 166 f., 174, 218 f., 336, 405, 428, 461

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Sachregister Kosmotheologie s. a. Ontotheologie 27–29, 31, 32, 34, 37–39, 55, 59 f., 66, 143, 166, 175, 202 Kultur 44, 48, 51, 65, 73, 111 f., 117, 120 f., 123–127, 131, 194, 227, 275, 289, 297, 299, 333, 364, 410, 417, 429, 485, 492, 495, 513 f. –, archaische K. 331 f., 335 –, Hochkulturen 65, 324–326, 332– 335, 401 –, Kulturwissenschaft 250, 267–269, 275 f. Kulturalismus, Kulturrelativismus s. a. Relativismus 121, 123–125, 127, 250, 278, 289 f. Kumulative Wirkungen 407, 410, 422, 442 Law and order (Stufe 4 nach Kohlberg) 193, 341–344, 346, 361, 372, 391–393, 397, 402, 405 Lebendiges, Lebewesen s. a. Organismus 76 f., 79, 84, 87, 111, 144, 187, 200, 283 f., 293, 326, 328, 412 f., 424, 446, 454 f., 459, 461, 463, 464, 466 f., 487 Lebenswelt 37, 48, 51, 66, 77, 81, 122, 176, 178, 188 f., 191, 212, 217, 226– 229, 238, 249, 253, 255, 257, 267– 270, 274, 279 f., 283 f., 293–296, 324 f., 340–342, 357, 367, 375 f., 378, 398 f., 408, 416, 438, 442, 447 f., 509, 514, 523 Legalität (vs. Moralität) 202, 343, 369, 372, 393 Legitimität 25, 44, 46 f., 54, 99, 109 f., 113–115, 118 f., 125, 174, 203, 214, 227, 229, 254, 257, 259, 295–297, 299, 302, 320 f., 323 f., 344, 351–353, 357–359, 384, 392 f., 396 f., 399, 402, 404, 408, 415–417, 440, 445, 453, 472, 476, 479–481, 486, 494, 505, 508, 523 Leib 28, 59 f., 142, 170, 194, 196, 282, 390, 395, 467, 477, 530 f.

–, Leibapriori 281, 284, 470, 477, 530– 532 –, Leibfeindlichkeit 137, 172 –, Leiblichkeit/Leibhaftigkeit 15, 39, 55 f., 58, 87, 128, 191 f., 194, 196, 227, 262, 279–281, 284, 287, 292, 297, 388, 429, 437, 462, 464 f., 467– 470, 495, 514, 531 Letztbegründung s. a. Verbindlichkeitserweis 94, 99 f., 151, 216, 252, 257, 307, 377, 415, 474, 479, 494, 516, 525, 529 Liberalismus 67, 70, 210, 216, 397, 427, 515 Liebe 21, 118 f., 128–133, 136, 167 f., 170, 232, 326, 331, 348, 369 f., 379, 386 f., 392, 459 –, L. als agape s. a. Nächstenliebe 128, 131 f. –, L. als eros 128 –, Liebespharisäismus 171 f. Linguistic turn s. a. (drittes) Paradigma, pragmatische Wende 104 Liniengleichnis (Platon) 71 Logik 72, 74, 83, 95, 98, 100 f., 103, 149, 156, 183, 187, 262, 268, 276, 283, 426, 447 –, Aussagenlogik 100 f. Logizismus 152, 155 Logos 22–24, 31, 34 f., 52, 54 f., 58, 61, 64, 71 f., 97, 107, 109, 147, 149 f., 222, 264, 326, 373, 375 f., 378 f., 382– 387, 390, 392, 399–401, 403, 405, 524 Lüge 37, 187, 206, 210, 230, 232, 260 f., 295, 353 f., 359 –, Lügenverbot 218, 230, 232, 354 Macht 25, 53, 111 f., 115 f., 120, 132, 169, 201–203, 222, 229, 248, 277, 326, 329, 335, 349, 351, 358, 362, 368, 393, 407, 409, 416, 419 f., 423, 429, 454, 488 f., 502–504 Mängelwesen 326–329 Maieutik 29, 58, 63, 72 Manichäismus 128, 136 f., 464

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Sachregister Markt 11, 225, 260 f., 351, 410 f., 503 –, Marktpreis 225 f., 411, 516 Materialismus 62, 87, 181, 325, 460 –, Historischer M. 78, 195, 278, 478 Mathematik 31, 61, 86, 174–177, 179, 183 Maxime 23, 67, 132, 160, 183, 206 f., 213 f., 217, 220–223, 226, 229 f., 232, 245, 268, 316, 340, 369, 373, 375, 378, 382, 385–387, 390 f., 398, 413 f., 440, 449, 459, 465, 473, 476–478, 480 f., 492, 504 Mechanik 78, 84, 87, 155, 160, 175, 177, 196–199, 204 Medizin 91 f., 410, 421 Mehrheit, Mehrheitsentscheid 111, 124 f., 131, 427, 472–474 Meinung 22–24, 43, 46, 123 f., 163, 189 f., 255, 258, 280, 311, 378 f., 388 f., 402 f., 413, 439, 472, 474, 498 f. –, M. vs. Wissen s. a. Nichtwissen 22, 64, 139 –, Meinungsfreiheit s. a.freiheit, kommunikative 131, 208 Menschengattung/Menschheit 11, 81, 131, 133, 143–145, 167, 183, 222, 283, 290, 323 f., 326, 328, 348, 394, 407–411, 417–419, 431, 433, 438, 440 f., 445–449, 451–454, 463, 470 f., 491, 493 f., 497, 499, 501, 503, 510, 512 f., 515, 525, 527, 532, 536 f. –, Gattungserhalt 407–409, 417, 430, 438, 440, 445 f., 449, 451–453, 470 f., 494, 503, 513, 532, 536 Menschenrecht(e) s. a. Recht(e) 11, 127, 370, 394 f., 402, 439, 474, 515 f. Menschenwürde 11 f., 36–38, 127, 131, 167, 232, 297, 299, 323 f., 356–358, 369, 372, 391, 394 f., 399, 402, 407– 410, 418, 421, 430, 438, 440, 446 f., 467, 470–472, 474, 485, 491, 494, 503, 513–516, 519 f., 522, 524–526, 529–538 –, menschenwürdiges Leben 412, 439, 469 f., 483

Metaphysik 21, 27–29, 34, 52–54, 59, 61, 64, 66, 72–79, 84, 87, 89, 92 f. 95, 111, 123, 129 f., 138, 146 f., 151, 154, 167, 172, 179, 181, 183, 186, 188, 190 f., 193, 204 f., 212, 214–216, 219, 223–225, 231, 280, 286, 291 f., 376 f., 388, 390, 408–410, 428, 430 f., 434, 436 f., 439, 440, 447, 454, 456, 468, 493, 500, 505–507, 510, 531, 533, 538 Metasprache 287, 301 Methexis 57 Mimesis 31 f., 35 f., 114 Mitverantwortung s. Verantwortung Monade (Leibniz) 88 f. Monismus 429, 456 Monotheismus 167 f., 334 f., 348 Moralisches Mandat 466 f., 491, 532 Moralphilosophie s. a. Ethik 15, 58, 164, 203, 217, 219, 223, 228, 267, 338, 357, 396, 416, 441, 473, 506 Moralprinzip s. a. Diskurs-Moralprinzip ›D‹ 211, 216, 220, 245, 252, 254 f., 316, 344, 347, 358, 363, 365, 421, 432, 437, 455, 473, 511, 517 Moralrestriktionen, nonmoralanaloge Handlungsbedingungen 115, 350– 352, 357–361, 363, 369, 371, 471, 481, 486, 504 moralstrategisch/moralische Strategie, Konterstrategie s. a. Erfolg: Erfolgsverantwortung 225, 229–232, 295, 350–363, 367–373, 387, 391, 401– 404, 413–417, 438, 447 f., 471–474, 480–486, 503–505 Motivation 114, 127, 135, 168 f., 178, 199, 230, 250, 253–258, 266, 281, 284, 330, 348, 354, 371, 391, 394, 417, 429, 438, 447, 458, 484 f., 515, 524, 533 –, moralische M. 348, 408, 504 –, pädagogische M. 114 Münchhausen-Trilemma 94 f., 534 Mystik 61, 287, 456 f.

581 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Sachregister Mythos 21, 39, 59 f., 62 f., 72, 76, 133– 135, 147, 235, 324–326, 332, 336, 464 –, hypothetischer M. (Jonas) 428 Nachhaltigkeit 420, 423 f., 492, 504 Nächstenliebe s. a. Liebe 38, 128–131, 145, 167 f., 171, 348, 369 f., 392 Nationalsozialismus, Nazi-Regime 67, 230, 329, 353–355 Natur 25, 29–35, 38, 57, 65 f., 68 f., 73 f., 76–78, 80, 84–89, 116 f., 119, 121–123, 131, 134, 136, 139, 143 f., 175–177, 179, 181–183, 190, 193 f., 197–201, 204 f., 211 f., 214, 216–219, 222–224, 227, 231, 275 f., 283, 326– 329, 334 f., 407, 418, 440, 447, 449, 454–456, 458, 460 f., 465–470, 474, 491 f., 510 f., 515, 516, 531 –, Buch der N. (Metapher) 85 –, Naturbeherrschung 29, 175–177, 411, 427, 461 –, Naturethik s. Ethik –, Naturmetaphysik/Naturtheologie 34, 66, 78, 85, 89, 123 f., 221 –, Naturphilosophie 88 Naturalismus 34, 62, 111, 134, 144, 200, 278, 429 Naturalistischer Fehlschluß s. Fehlschluß Naturgesetz 85, 181 f., 198–200, 204, 211 f., 223 f. Naturlehre/Naturrecht 34, 123 f., 197, 201, 205, 394 f., 478 –, Katholische N. 80, 493, 506, 531 Naturwissenschaft s. a. Wissenschaft 85–88, 175–177, 181–183, 195, 197, 201, 211 f., 215, 219, 224, 424, 460 –, experimentelle N. s. a. Physik 179 Naturzustand (i. S. von Hobbes) 198 f., 204, 222, 459 Neokonservativismus 126, 328 Neukantianismus 35, 62, 235, 290 Neuplatonismus 31, 108 f., 120, 128 f., 133, 136–139, 141, 151, 153, 172, 186, 231

Neuzeit 13, 31, 62, 64, 73, 77, 85 f., 92, 105, 109, 114, 142, 174–178, 181, 195, 235, 335, 376, 397, 460 Nichtwissen/Unwissenheit 22 f., 423, 470, 501, 503, 535, 537 Nihilismus 79, 175, 325 Nominalismus 103, 135, 152, 154 f., 159, 377 Notwehr 352, 444, 480, 482, 485 f. Nous s. a. Vernunft 28, 30 f., 39, 55, 57, 63, 71, 108 f., 122, 129, 143, 336 Objektivismus 87 f., 277 f., 426, 429, 451, 477 –, Methodologischer O. 87 f., 195, 277 Öffentlichkeit, Öffentlichkeitsprinzip 39, 68, 208, 270, 304 f., 409, 431, 474–477, 480–483, 486, 491, 510, 513 Öko-Holismus 455 f., 459, 461 f., 464, 470 Ökologie 11, 29 f., 87 f., 279 f., 297, 299, 318, 407, 413, 419–422, 424, 442, 453, 455 f., 458, 461, 465, 471, 492, 505, 513 f. –, Ökologische Krise s. a. Gefahrenzivilisation 407, 409–411, 413, 449, 473 Ökosphäre s. Biosphäre Offene Gesellschaft s. a. Pluralität 36, 67, 425 Ontologie s. a. Paradigma: Erstes 14 f., 21, 27, 40 f., 53, 55 f., 61, 64, 73–77, 84, 88 f., 91–93, 95, 98, 100, 103, 142, 145–147, 153, 166, 178 f., 181, 184 f., 189 f., 192 f., 197, 207, 209, 215, 235, 255, 269, 275, 279, 280, 291 f., 306, 314, 376 f., 429–433, 435 f., 446, 454–457, 471 f., 485, 493, 507, 514, 528, 533, 536, 538 –, theoria-Ontologie s. a. Theoria 64, 73, 75, 93, 103, 111, 122, 146, 192 f. Ontotheologie s. a. Kosmotheologie 27 f., 44, 64, 74, 76, 84, 103, 118, 123, 136, 186, 429

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Sachregister Opfer/Opferkultus 169 Organismus s. a. Lebendiges 84, 87– 89, 194, 279, 293, 428, 468, 530 Pädagogik 113 f. Paradigma 12, 49, 53 f., 67, 71, 81, 149, 153, 166, 185, 188, 205, 228, 257, 364, 449, 506 –, Erstes P. (Ontologie) 21, 53 f., 103, 165 f., 178, 181, 190, 193, 207, 214, 216, 218 f., 376 f., 454 –, Drittes P. (Kommunikations- bzw. Diskursphilosophie) 22, 26, 33, 53, 92, 98, 100, 165–167, 192, 228, 265, 341, 364, 377, 454 –, P. i. s. von Muster (Platon) 35, 40, 52, 55, 64 –, Paradigmenwechsel 87, 92, 130, 178 f., 192, 217, 219 –, Zweites P. (Subjektphilosophie) 28, 33, 53, 77, 92, 105, 165 f., 173, 181, 190, 193, 196, 216, 218 f., 376 Partikularismus, Partikularität 23, 120, 123–125, 213, 221, 267 f., 279, 282 f., 289 f., 294, 321 f., 347, 383, 394 f., 399, 401, 421, 494, 512 f. Periagogé 21, 56, 166 Peripatos 105 f. Permanenz (menschlichen Lebens) s. a. Menschengattung, erster Imperativ (Jonas) 409, 430, 432, 438, 448, 452, 469 f., 483 Personalpronomen 165, 265 f., 301 Petitio principii 34, 94, 135, 214 f., 269, 303, 307 f., 319 f., 433 f., 437, 459, 465 Phänomenologie 89, 194, 228, 255, 257, 267–269, 338, 374, 417, 428, 438, 440, 456, 477 f., 487, 534 –, Leib-/Lebensphänomenologie 191, 194 Philosophie –, Erste P./Fundamentalphilosophie 12, 26, 73, 93, 102 f., 164, 186, 216

–, Philosophiegeschichte 13, 21, 26, 72, 106 f. –, Praktische P. 13, 110, 176, 205, 300, 346 –, Theoretische P. 13, 107 Philosophenherrschaft (Platon) 36, 39, 65–69, 478 Phylogenese 324, 344 Physik 74, 77, 84, 86, 93, 176–178, 183, 198, 205, 460 Pluralität s. a. offene Gesellschaft 67 f., 130, 188, 388 f. Poiesis (Herstellung) 41, 53, 76, 87, 89–91, 155, 176 f. Polis 29, 32, 35–39, 57 f., 64–66, 68, 70, 83, 91, 111, 121, 130, 324, 375, 387, 391, 398, 401, 403 Politik, politisch 11 f., 25, 28–30, 34– 38, 58, 64, 67–69, 89, 111, 114–119, 123, 125 f., 176, 182, 198–203, 207 f., 211 f., 230, 250, 291, 295, 323, 333, 341, 344, 351 f., 359 f., 395, 397, 407, 416, 418–420, 423, 427, 458, 471, 475 f., 478, 484, 486, 492, 495–498, 500–505, 510, 513 f. –, Politiker s. a. Staatsmann 118, 121, 128, 130 f. Positivismus 155, 278 Postmoderne 248, 290, 515 Potentialität 77, 210, 323, 343, 467 f., 470, 473, 475, 527, 530–532 –, Potentialitätsargument 529–532 Prädestination 135 Präimplantationsdiagnostik (PID) 12, 323, 421, 532, 537 Pragmatik 13, 22, 33, 43, 45, 88, 104, 106–108, 125, 149, 157, 237, 277, 319, 346, 435 –, Pragmatische Wende 13, 15, 22, 126, 196, 250, 273 –, Rekonstruktive P. 236, 256, 270, 425, 435 –, Universalpragmatik 289 Pragmatismus 329 –, Neopragmatismus 126, 286

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Sachregister Primat 15, 51, 53, 68, 106, 124–126, 255, 264, 451, 470, 474, 484 Privatsprache/Privatsprachenargument (Wittgenstein) 110, 158–161, 281, 300–316 Prognose 177, 179, 443, 497 –, Exakte bedingte P. 422, 424 –, Nichtprognostizierbarkeit 409, 423, 443 f., 497 f., 502, 509 –, Unheilsprognose (vor Heilsprognose) 445, 536 Prometheismus 413 ff., 442 Propheten (bibl.) 38, 128, 130, 168– 171, 227, 325, 348, 369, 458 Proposition 162 f., 165, 189, 240, 242, 244, 264–266, 282, 295, 299, 303, 311–313, 519 f. –, propositionaler Gehalt 44–46, 106 f., 161 f., 242 f., 251, 265, 288, 295, 299, 313 f. Psychologie 28, 41, 106 f., 114, 138, 193, 314, 336, 338 f., 346, 361 Pythagoreer 29–31, 61 Radioaktivität s. a. Atom 420, 496, 498–500, 508–510 Rassenhygiene 37 Ratio 137–143, 148 f., 176–178, 182, 204, 219, 426 Rationalität 64, 69, 80, 176–179, 200 f., 203, 209, 216, 219, 253, 259, 271 f., 275, 280, 317 f., 332–335, 338, 386, 396, 409, 417 f., 424–427, 431, 493 f., 501, 506, 516 f., 525 –, Strategische R. 259, 417, 427, 518, 522 –, Zweckrationalität 11, 135, 178, 196, 200 f., 203, 210, 213, 219, 254, 259 f., 266, 346, 362, 417 f., 426 f., 459, 485 f., 518, 538 Rationalismus 114, 179, 181, 184, 193, 281 –, Kritischer Rationalismus 94, 149, 210 Realisierungsbedingungen/Existenzbedingungen (von Diskursen) 196,

208 f., 292, 297, 299, 317 f., 398, 402, 409, 420, 453, 470, 475, 484, 495, 513, 527 f. Rechnen 175, 197, 216, 238 f., 426 Recht s. a. Naturlehre/Naturrecht –, Gottesrecht 129 –, Moralisches R. 123, 129 f., 230, 356 f., 394, 396, 495, 525, 530–532 –, R. des Stärkeren 25 –, Rechtsanspruch 24, 129 f., 230, 442, 509, 530 –, Rechtsgrund s. a. Verbindlichkeit 13, 32, 72, 127, 172, 317, 338, 345, 393, 431, 463, 468, 472, 508, 516 –, Rechtspositivismus 391–393 –, Rechtsstaat s. Staat –, Urrecht 408, 514, 525 –, Verfassungsrecht 474, 529 Rechtfertigung 12 f., 15, 51 f., 66, 115, 145, 170, 222, 229–231, 244, 247, 249, 259, 261, 265, 269, 316, 324, 335, 352 f., 372, 374 f., 399, 401, 407, 415 f., 446, 456 f., 463, 465, 472, 476, 486–491, 495 f., 503, 508 f., 512, 526, 528, 535 f. Reflexion s. a. Diskursreflexion –, R. im Dialog 287, 308, 322 –, Reflexionsvergessenheit 103, 461 f. –, reflexive/aktuell dialogreflexive Einstellung s. theoretische Einstellung –, reflexiver Rückgang 99, 259, 274, 431–433, 437 f., 474 f., 517, 521, 524, 534 Regelfolgen (Wittgenstein) 59, 110, 159–161 Regelkreis 33, 64 f. Regreß 94, 95, 193, 287 Regression 193, 342–344, 395, 405 regulative Idee s. Idee Reich der Zwecke (Kant) 212, 222, 226, 228, 340, 461 Reich Gottes 202 Reifungskrise (Kohlberg) 342 f., 368 Rekonstruktion 72, 92, 97, 114, 166, 172, 217, 250, 264, 304, 338, 349, 364, 367, 376 f., 458 f.

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Sachregister –, R. vs. Reflexion 166, 251, 262, 267, 272, 274, 290, 381, 434, 519 f. –, R. von Sinnbedingungen des Diskurses 211, 237, 251, 269, 287 f., 292, 313, 317 f., 336, 377 f., 434 f., 507 Relativismus 11, 14, 93, 111, 124–127, 164 f., 250, 267, 277, 289, 342, 344, 368, 472, 474 Religion, Religiosität 29, 35, 131, 167 f., 172, 186, 196 f., 227, 236, 255, 324–326, 334, 357, 394 f., 402, 426, 429 Res cogitans 86, 92, 190, 193, 470 Res extensa 86, 92, 193, 470 Revisionsfähigkeit/Revidierbarkeit 201, 296 f., 299, 323 f., 385, 392 f., 396, 402 f., 422, 450, 453, 484, 500 f., 513 Revolution, revolutio 86, 131, 168, 173, 186, 202, 205, 324, 335, 484 –, Amerikanische R. 474 –, Französische R. 353, 474, 484 –, Industrielle R. 177 Rhetorik/Redekunst 34, 48, 53, 106– 108, 111–117, 119–125, 127 f., 131, 136, 178, 181, 184 f., 267, 281 Richtigkeit 31, 45–47, 52, 109 f., 246, 260, 264, 382, 404, 481, 492, 518 f., 522–524, 527 –, Geltungsanspruch auf R. 16, 26, 46, 99, 209, 239, 243, 249, 259 f., 283, 285, 295 f., 298 f., 339 f., 382, 384, 389, 397, 399, 402 –, Moralische R. s. a. Legitimität 25, 212, 229, 263, 276 f., 285, 296, 298, 316, 325, 340, 351, 359, 362, 399, 422 f., 439 Rigorismus 37, 39, 232, 464, 473 –, moralischer R. 131, 232 Risiko 44, 77, 79, 87, 89, 144, 193, 260 f., 326–328, 343, 355, 362, 397, 409, 411, 420, 440, 442–444, 481, 484, 500, 501, 509, 531 Role taking 82, 337, 342 f., 345, 347

Rolle (beruflich, sozial etc.) 247, 259, 261, 279, 333 f., 342 f., 355, 357, 361, 368, 378, 399, 401, 493 –, R. vs. Diskurspartnerrolle s. a. Diskurspartnerrolle 256, 258 f., 279– 281, 357, 378 f., 399, 493 f., 509 –, Urrolle s. a. Diskurspartnerrolle 26, 80, 274, 280, 464 f., 494 Rom 31, 34, 111, 113, 115–121, 123, 128, 131, 141, 147, 178, 281 Schmerz/Leiden 56, 183, 334, 386, 457, 467 f., 470 Schöpfung 76, 143–146, 168, 174, 235, 237, 262, 291, 395, 428–430, 458, 515 –, Schöpfungstheologie 136, 175, 395, 430 –, Zerstörung der S. s. a. Gefahrenzivilisation 143 Scholastik 33 f., 55, 73, 85, 88, 92, 105, 109, 141, 146, 151, 178, 184, 193, 219 Schrift, Schriftsprache 15, 113 f., 137, 245 Schuld 11, 117, 133–135, 231, 331, 404 f., 464, 498 Seele 28 f., 31 f., 36–38, 55, 58–60, 66, 69, 72, 84, 104, 112 f., 128, 136–140, 142, 148, 153, 172, 186, 193, 231, 328, 360, 390, 464 –, Präexistenz der S. (Platon) 59 f., 72 –, Selbstgespräch der S. s. a. Selbstgespräch 42, 47, 49, 63, 72, 138, 140 –, Unsterblichkeit der S. 186, 190 Sehen/Schau s. a. Theoria 21 f., 26–32, 35 f., 41 f., 52–58, 60, 63 f., 66, 67–69, 71 f., 75, 102 f., 109, 111, 128–130, 137–141, 143, 146, 148–150, 153, 157, 159, 166, 173, 179, 218, 225, 336, 376, 430 Seinslehre s. Ontologie Seinstheologie s. Ontotheologie Selbstaufhebung, Selbstwiderspruch s. a. Widerspruch 14, 38, 46, 97, 101, 108, 120, 145, 209 f., 276 f., 290, 300,

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Sachregister 310 f., 315, 367, 375, 398, 425, 435, 438, 492 Selbstbehauptung 176, 178, 279, 281, 283 f., 293 f., 344, 378, 416, 459, 465 Selbsteinholung 12 f., 42, 100, 164, 204, 212, 224, 235, 250, 256, 267, 270, 272 f., 275–280, 287, 290–292, 294, 302, 320, 340, 374, 381, 456, 508, 515 Selbsterhaltung 87, 89, 198, 200, 204, 283, 454, 459, 467 Selbstgespräch 15 f., 63, 138, 237, 285, 443, 445 –, Denken als S. 42 f., 45–49, 72, 112, 282, 434 Selbstvergewisserung 177–179, 183, 196 Selbstverhältnis 82, 134, 209, 236, 243, 260, 280, 284, 337, 435 Semantik 41, 43, 45, 49–52, 63, 93, 98 f., 103, 104 f., 107 f., 149 f., 153 f., 156 f., 165, 189, 236, 263, 265 f., 287, 295, 305, 312, 384, 400, 488 –, Semainein 96, 102 –, Referenzsemantik 50, 52, 104 f., 265 Semiotik 49–52, 59, 248 f. Sinnbedingungen/Sinnvoraussetzungen des Diskurses 13 f., 26, 96 f., 99– 101, 132, 159 f., 189, 192, 215, 237 f., 249, 251 f., 253, 260, 269–275, 282, 286–288, 290, 292–294, 298 f., 307– 309, 313 f., 317, 322 f., 374, 381, 388, 397, 409, 425, 434, 437, 501, 507 f., 513, 518–521, 528 Sinneserfahrung, Sinneswahrnehmung 21, 28, 56–60, 71, 138 f., 141 f., 166, 180 Sinnhorizont 279, 282, 284 f., 301 Sinnkritik 12, 14 f., 43–47, 93, 97–100, 102, 103, 107, 109 f., 145, 159 f., 166, 184, 192, 196, 210, 215, 249 f., 252, 262, 267, 271, 273–275, 277, 287, 298, 306–309, 318, 322, 410, 431, 436, 438, 477, 493, 506, 534

Sinnlosigkeit, Sinnwidrigkeit 14, 34, 44, 46 f., 95, 97, 99, 101, 109, 133– 135, 159 f., 269, 275, 277, 286, 289, 300, 310, 316, 318, 426, 434, 436, 439, 469, 502, 507, 521, 526, 529 Sinnverständigung, Sinnverstehen 41, 49, 68, 85, 104, 246, 366 f., 371, 382, 466, 476, 479 Sittlichkeit 34, 90, 114, 116, 120, 122, 143 f., 168, 178, 197–199, 202, 205, 213, 219, 221 f., 224, 231, 255, 337, 344 f., 375 f., 394, 421, 442, 457, 464, 466, 507 f. Situationsinterpretation 124, 219, 229, 271, 297, 299, 321 f., 363, 383–385, 396, 409, 458 f., 479, 484, 494, 496, 501, 504, 523, 535 Skeptizismus, Skeptiker 93, 95 f., 102, 116, 128, 139, 185 f., 188, 191 f., 216, 277, 351, 465 –, Dialog mit einem Skeptiker 12, 15, 47, 93, 237, 271–274, 287, 292, 304, 317–321, 371, 377, 381, 431, 436, 438, 440, 446, 448, 450 f., 467, 470, 474, 480 f., 492 f., 506 f., 514, 518– 521, 533–535, 537 Sklaventum 68, 121, 170 Solarenergie 504 f. Soldaten (Standesethos) 360 Solidarität 11, 408, 419, 454 f., 461 Solipsismus s. a. Einsames Subjekt 109, 159–161, 199, 223, 235, 281, 451 –, Methodischer/transzendentaler S. 53, 59, 101 f., 104 f., 109 f., 122, 138, 140–142, 150, 178, 180, 189, 192, 196, 229 f., 235, 300, 316, 367, 405, 414, 476 f. Sonnengleichnis (Platon) 57 Sophistik, Sophisten 24 f., 39, 112, 325, 376 Sorge s. a.fürsorge 79, 194, 293, 360, 369, 487 Souverän 201 f. Sozialdarwinismus 459

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Sachregister Sprachanalyse/Sprachphilosophie 40, 63, 74, 92, 98, 107, 110, 155, 158, 164, 165, 216, 264–268, 281, 477 Sprachauffassung (klassische, akommunikative, bezeichnungstheoretische, instrumentalistische S.) s. a. Nominalismus 40, 102–105, 108, 122, 136, 149–153, 157, 180, 182, 188, 192 Sprache –, Kunstsprache 301 –, Sprachgemeinschaft s. a. (reale) Kommunikationsgemeinschaft 41, 48, 63, 71, 104, 155–157, 182, 226, 377 –, Sprachhandlung s. a. Sprechakt 41, 46, 92 f., 98 f., 101, 104, 106, 157 f., 161–165, 243, 258, 264 f., 283, 288, 295, 299, 313 f., 319, 451, 524 –, Sprachkompetenz/Diskurskompetenz 13, 72, 91, 117 f., 158, 161, 163, 165, 338 f., 364, 367, 383, 424, 485 –, Sprachkultur 48 –, Sprachreflexivität 161 f. Sprachpragmatik s. a. Transzendentalpragmatik, Traditionskritik 13, 152– 166, 274, 277 Sprachspiel (Wittgenstein) 155–158, 161–166, 209, 249, 262, 267, 281, 300 –, Transzendentales S. 163 f. Sprechakt s. a. Sprachhandlung 52, 106, 161, 243 Staat 11, 32, 37–39, 65–69, 78, 111, 118 f., 125, 130 f., 176, 183, 198, 201– 203, 230, 255, 332, 335, 370, 395, 407, 412, 418–420, 426 f., 472–475, 496, 502, 504, 508, 514 –, Rechtsstaat 230, 335, 397, 403, 411, 474 f. –, Staatsmann s. a. Politiker 111, 118, 230, 255, 257, 445 –, Staatsvertrag s. a. Vertrag 200 f., 204

Stammzellenforschung s. Embryo Status quo 124 f., 504 Staunen s. Erstaunen Stellungnahme s. a. Begleitdiskurs, Jaund-Nein-Stellungnahme 45, 162 f., 210, 236, 244 f., 251, 259, 263, 279 f., 283, 312 f., 338, 340, 378, 489 Sterblichkeit 30, 79, 87, 203, 281 Stoa, stoisch 33 f., 55, 116–118, 120, 121–124, 136, 185 Stoffwechsel 87, 194, 293, 468 Strategien s. a. (strategische) Rationalität, moralstrategisch 91 f., 112, 115, 120, 127, 183, 229–232, 258, 260, 282 f., 295, 324, 351, 417, 419, 459, 465, 480, 513 –, Strategist 260 f., 344, 368, 465 Subjekt-Objekt-Relation 41, 86, 104, 178, 181 f., 195, 211 f., 270, 455–460, 462, 466 Subjektivismus 243, 382, 426, 472 –, Wertsubjektivismus 427 Subjektphilosophie s. a. Bewußtseinsphilosophie, Paradigma: Zweites 28, 78 f., 104, 166, 174, 179, 181, 184 f., 189, 192 f., 250, 454 Substanz 73, 76 f., 83 f., 86, 89, 92 f., 146, 190, 193, 400, 464, 470 Sühnetheologie 169 Sünde s. a. Erbsünde 134 f., 170, 172, 464 –, Sündenfallgeschichte s. a. Erbsünde 133, 144 Syllogismus 97, 100, 109, 184 Symbiose 456, 461 Synatktik 49 f., 107, 242, 287, 488 Szientismus 178, 182, 478 Talmud 167, 348, 395 Techne 56, 91 f., 176 f. Technik, technisch 41, 53, 58, 87, 89– 92, 100, 175–178, 183, 235, 300, 410 f., 418, 421, 423 f., 427, 443, 460, 491, 496–500, 509

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Sachregister Technologie 12, 85, 88, 147 f., 177, 179, 183, 272, 291, 322–324, 407 f., 410–413, 418, 420–424, 440–447, 461, 491, 493, 496–498, 500, 503 f., 509, 513, 532, 536 –, Technologische Zivilisation s. a. Gefahrenzivilisation 11, 16, 255, 407– 413, 418, 427, 438, 440 f., 443, 446, 454, 458, 501 Teleologie 34, 69, 73, 75–83, 85, 88 f., 92, 123, 130, 132, 147, 172, 204, 214, 216, 218, 221, 254, 428–430, 447, 453–455 –, Telos/Endzweck 26, 75 f., 79, 82 f., 91, 365, 440, 456 Theologie s. a. Schöpfungstheologie 73, 84 f., 92, 120, 129, 133, 138, 145, 147, 169, 178, 186, 192, 202, 223, 291, 349, 355, 394 f., 428 f., 455, 458, 515 f. Theoria s. a. Antike, Ontologie 13, 21 f., 29, 34, 42, 52 f., 63, 66, 67 f., 71–73, 75 f., 90 f., 98, 102, 105, 109, 117, 121, 128 f., 132, 136, 138, 143, 145, 147, 166, 218, 262, 390, 477 f., 487 Theoretische vs. sokratisch reflexive Denkeinstellung 53, 93, 95, 100– 103, 108, 147, 157 f., 166, 190, 193, 237, 251, 262, 269, 272 f., 290, 293, 316, 318, 320 f., 374 f., 377, 380, 418, 450, 470, 481, 487, 506–508 Tier 74, 88, 199, 264, 291, 327–330, 334, 447, 454, 464, 466–468, 470, 503 Tod 198 f., 202, 204, 332, 355 f., 403, 428, 509, 532 –, Sein zum Tode (Heidegger) 79 –, Todesstrafe 131, 202, 394 f. Tora s. a. Bibel 128, 129, 168, 171, 349, 354 Totalitarismus 39, 58, 64, 67, 130–132, 353 Tradition 12 f., 16, 34, 43, 48–53, 109, 136, 146 f., 159, 178–180, 184, 187, 190, 192, 197, 205, 218, 228, 254,

276, 279, 283, 298, 335, 341, 367, 413, 417 f., 448, 473, 482, 484 f., 515, 530 Traditionskritik s. a. Sprachpragmatik 12–14, 151 f., 156 f., 159, 165, 276, 478 Transzendentalphilosophie 58, 61, 63, 187, 196, 211 f., 215, 249, 282, 314, 376 Transzendentalpragmatik s. a. Diskurspragmatik 15, 72, 88, 92, 106, 107, 127, 137, 151, 158–160, 165, 196, 209, 236, 249–252, 256, 271, 275, 319, 322, 374, 417 f., 424, 437 f., 450, 473, 476, 477, 479, 506, 517, 538 Tschernobyl 11, 497, 509 Tugend 23 f., 37 f., 54, 57 f., 61, 65, 91, 120, 122, 129, 186, 221, 232, 254, 339, 341–344, 361, 368, 390, 401, 404, 433 Tyrannis 67 f., 473 Überreden (vs. Überzeugen) 107, 112– 114, 127 Umsetzung der Diskursergebnisse 292, 297–299, 302, 482 Umwelt 87–89, 191, 194, 279, 284, 409, 411, 420, 492, 495, 500 –, Umweltpolitik 30, 420, 423, 474, 478 –, Umweltschäden 30, 411, 420, 458, 492, 500 Unhintergehbarkeit 15, 92, 95, 97, 99 f., 160, 165, 189, 210, 244 f., 251, 259 f., 294, 298–300, 314, 316, 322, 373, 386, 423, 426, 434, 437 f., 465, 480, 504, 508, 511 f., 532 Universalismus 14, 121 f., 124, 126 f., 167 f., 184, 192, 227, 283, 289 f., 337, 340, 347 f., 365, 389, 394 f., 415, 478 Universalität 55, 71, 81 f., 86, 125 f., 167, 184, 196, 218, 223, 228, 248, 250, 259 f., 267–269, 280, 282 f., 285, 288 f., 292, 294, 304, 340, 345, 347 f.,

588 https://doi.org/10.5771/9783495860533 .

Sachregister 350, 361, 364 f., 369, 375, 394, 402, 409, 443, 446 f., 451 f., 461, 465, 479, 481, 486 f., 495, 512 f., 527, 533 Universum s. Kosmos Ursache, causa (Aristoteles) 84 f. Utilitarismus 167, 200, 348 Utopie 67 f., 202 f., 411, 440 f., 441, 497, 500 f. Verallgemeinerbarkeit, Verallgemeinerungsprinzip s. a. Universalismus, Gegenseitigkeit 83, 112, 199 f., 206, 213, 216, 221 f., 227, 232, 335, 345, 364, 367, 375, 401, 512 Verantwortung –, Erfolgsverantwortung 350, 401, 416, 438, 447 f., 471–473, 479, 481, 502–504 –, Folgenverantwortung s.folgen –, Lebensverantwortung 12, 16, 458, 465 –, Mitverantwortung s. a. Kollektivverantwortung 16, 80, 291 f., 297–299, 302, 317–319, 351, 397, 401, 408, 412 f., 428, 439 f., 452, 488, 508 –, Naturverantwortung 30, 408, 453, 462, 465 f., 469 f. –, Selbstverantwortung 134 f., 164, 278, 299, 374, 381, 456, 462 –, Sich im Diskurs verantworten s. a. Diskursglaubwürdigkeit, Rechtfertigung –, V. als Fürsorge 469 f., 487–491 –, V. für die Moral 12 –, Verantwortungsethik s. Ethik –, Verantwortungsfähigkeit 230, 431, 433, 435, 469, 471 –, Zukunftsverantwortung, Zukunftsverantwortungsprinzip 11 f., 245, 291, 299, 367, 397, 407–412, 415, 420 f., 423, 429 f., 445 f., 449, 469, 471, 483–486, 492, 495, 503, 509, 513 Verbindlichkeit 12, 35, 44, 66, 69 f., 92, 95 f., 99, 110, 123, 164, 166, 202 f.,

205, 210, 213–219, 221 f., 232, 237, 241, 244, 259, 262, 264, 271, 273 f., 282, 317, 319 f., 322, 332, 340, 346, 369, 371, 377, 380, 385 f., 392, 396 f., 413, 421, 424 f., 436–438, 440, 449, 453 f., 470–472, 475, 477, 494, 499, 501, 503, 507, 514–517, 519, 524 f., 529, 533 –, Grund der V. 32, 218 f., 222, 317, 340, 424, 448, 463, 528 –, Verbindlichkeitserweis s. a. Letztbegründung 95, 99, 214, 251 f., 274, 377 f., 431, 440, 446, 492 f., 514–516, 520, 533, 536 Vernunft s. a. nous –, Einheit der V. 206 f., 246 –, Faktum der V. (Kant) 215, 258, 432, 436 –, göttliche V. 28, 31 f., 34, 38, 63, 66, 71, 103, 143 –, instrumentelle V. (Horkheimer) 204, 427 –, praktische bzw. kommunikative V. 16, 120, 124, 193, 200, 206 f., 213– 215, 217, 219–223, 227 f., 254, 262, 264, 276 f., 324, 375 f., 394, 418, 426, 432, 436, 438, 440, 503 –, Vernunftgebrauch s. a. Diskurs 207 f., 264 –, Vernunftindisposition 530–532 Versprechen s. a. Dialogverpflichtungen/Dialogversprechen 106, 162 f., 206, 232, 248, 291–294, 302, 342, 410 Verständigungsgegenseitigkeit 82, 366 f., 369, 371, 388, 405, 438, 467, 476 f. Verständlichkeit/Verstehbarkeit 44, 46 f., 85, 99, 160, 167, 204, 251, 263, 303–305, 308, 435 f. –, Geltungsanspruch auf V. 46 f., 98 f., 209, 239, 249, 259, 283, 285, 295, 299, 302 f., 309 f., 389 Verstehen von etwas als etwas 15, 48, 110, 189, 196, 199, 209 f., 244 f., 251,

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Sachregister 262, 264, 269, 272–275, 280 f., 284 f., 294, 298, 303 –, Quasi-V. 466–468 Vertrag 70, 145, 167, 169, 199–201, 219, 342, 348 f., 369 f., 391–397, 419 f., 459, 492, 496 –, Sozialvertrag s. a. Staatsvertrag 167, 200 f., 223, 343, 345, 348, 361, 369 f., 387, 391–397, 402 –, Vertragstheorie 78, 196, 200, 346, 391, 397 Volksgemeinschaft s. a. Nationalsozialismus 124 f., 127 Vorgriff der Vollkommenheit (Gadamer) 381, 386 Vorsichtspflicht 322, 324, 351, 423, 474, 482, 485, 513, 536 Vorurteil 139, 156, 178–180, 182, 185, 383 Vorverständnis 109, 267 f., 274, 314, 319, 337, 376, 384, 480, 519, 520 Vorwissen s. a. Anamnesis 58–60, 261, 269, 274, 528 Wachstum 11, 407, 420, 442 Wächter (Platon) 38, 68 Wahrhaftigkeit 25, 161, 205, 230, 232, 239, 243, 263, 288, 305, 314 f., 350, 352, 354–360, 433, 499, 522, 526 –, Geltungsanspruch auf W. s. a. Glaubwürdigkeit 26, 239, 249, 259– 261, 283, 285, 295, 297–299, 302, 305, 309 f., 312, 314 f., 356 f., 389, 518 Wahrheit 22, 25 f., 45–47, 52 f., 56 f., 63, 74, 91, 97 f., 103, 105, 107–110, 112 f., 120, 122 f., 138–140, 142 f., 145, 148–150, 153 f., 178, 184, 187 f., 191, 207, 210, 212, 246–249, 258– 261, 263 f., 266, 271, 274, 276 f., 289 f., 296, 304, 306 f., 310–315, 349, 354, 358, 376, 382, 284, 388–390, 400, 418, 424, 430 f., 450 f., 456, 476 f., 481 f., 489, 492, 506, 518 f., 522–524, 527 f.

–, Geltungsanspruch auf W. 16, 22, 26, 46, 98 f., 112, 209, 241–244, 259– 261, 283, 285, 295–299, 302, 306, 312–315, 371, 382, 389, 397, 399, 423–425 –, göttliche W. 138–140 Weisheit 21, 117, 119 f., 227, 326, 376, 379 Weltbild 173–175, 186, 325 Weltoffenheit 111, 328 f. Werkzeugmodell (Platon) s. a. Poiesis 40 f., 72, 111 Wesen 22, 29, 36, 40 f., 55, 57, 60, 67, 73, 76 f., 79, 83–86, 93, 102, 109, 143 f., 146, 148–150, 153, 190 f., 194, 224 f., 326, 383 Widerfahrnis 240, 243 f. Widerspruch 74, 78, 117, 132, 210, 222, 297, 299, 308, 310, 340, 371, 382, 394, 399 f., 451, 477, 481, 519 –, pragmatischer W./performativer W. 12–14, 44, 98, 100, 195, 274– 277, 290, 295, 310 f., 382, 434–436, 438, 453, 461, 471, 489, 520, 523 f., 529 –, Satz vom W. 92 f., 95–100, 102 f. Wille 81, 132, 134 f., 160, 172, 199 f., 206, 213, 219–223, 228–231, 250, 258, 294, 340, 347, 360, 363 f., 375, 393, 427, 432, 437, 515, 516 –, Guter W. s. a. Gesinnung: gute 12, 114 f., 206, 213 f., 217, 221, 228–231, 294, 316, 346, 350 f., 359, 363, 415, 446 –, W. zum Leben 200, 457, 459, 461, 464–466 –, W. zur Macht 277 Willkür 26, 52, 94, 124 f. 199, 202, 209 f., 243, 258, 267, 320, 322, 362, 366, 454, 498, 511 Wirtschaft/Ökonomie 11, 62, 89, 135, 261, 352, 407, 411, 416, 420, 427, 479, 486, 499, 511, 516 –, Wirtschaftsethik s. Ethik Wissenschaft s. a. Naturwissenschaft 54, 61, 71, 73, 86, 90 f., 93–95, 103,

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Sachregister 122, 150, 176–178, 181–183, 200, 204, 212, 224 f., 227, 251, 255, 262, 264, 267 f., 270, 273, 275–278, 335, 338, 364 f., 373, 409–411, 413, 424– 428, 438, 461, 496, 508, 516, 519 –, Geisteswissenschaft 278 –, Geschichtswissenschaft 212, 272, 276 –, Handlungswissenschaft 263 –, Humanwissenschaft 263, 276 –, Kulturwissenschaft s. Kultur –, Umweltwissenschaft 87 –, Wissenschaftsethik s. Ethik Wissenschaftstheorie 88, 94 f., 154, 212, 275, 278, 422, 516 Zeit/Zeitlichkeit 28, 30, 37, 56, 64, 76 f., 79, 89, 135, 211, 293, 383 f., 411, 418, 426, 428, 452, 512 Zeitgeist 11, 125, 128, 133, 267, 516, 537 Zirkel 269 f. –, hermeneutischer Z. bzw. hermeneutische Ellipse/Z. im Verstehen 229, 269 f., 319, 337, 338 –, logischer Z./Z. im Beweis s. Petitio principii Zoon logon echon (Aristoteles) 83, 111, 113 Zoon politikon (Aristoteles) 292 Zukunft 11, 28, 79, 134, 144, 202, 269, 277, 291, 299, 360, 369, 371, 397,

410–412, 420, 444–446, 454, 486, 494, 498 f., 501, 504, 509 f., 514 Zukunftsverantwortung s. Verantwortung Zumutbarkeit 115, 350, 353, 355–359, 363, 397 f., 401, 403 f., 417, 485 Zustimmung 42, 81–83, 245, 253, 305, 308, 310, 322, 336, 353, 356, 372 f., 383, 385, 445, 475, 483 f., 517, 519, 521–523, 525 –, Zustimmungswürdigkeit s. Konsenswürdigkeit Zweckrationalität s. Rationalität Zweifel 43, 45 f., 110, 115, 180, 185, 187, 189, 241, 246, 256, 291, 293, 317 f., 322, 340, 356, 376, 382, 526 –, Methodischer Z. (Descartes) s. a. Cogitatio 175, 180, 184–193 –, Zweifelsreflexion, Zweifelsdiskurs, Zweifelsprüfung s. a. Dialog mit einem Skeptiker 13, 38, 43, 45 f., 95, 97–101, 110, 138–140, 158, 184– 186, 189–193, 196, 245, 252, 271– 274, 286 f., 297 f., 302, 317–320, 371, 377, 380 f., 386, 398, 431, 434– 440, 451–453, 465, 471, 475, 489, 494, 501, 506 f., 519–521, 526, 529– 537 Zwei-Welten-Theorie 57, 133, 205, 223–225, 231 Zynismus 277, 354, 362

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Erste Stimmen zum Buch Prof. Dr. Vittorio Hösle (Notre Dame, USA): »Meinen Glückwunsch zu dieser Summa eines Gelehrtenlebens, die mich sehr beeindruckt hat: umfassende philosophiehistorische Perspektiven, ausgezeichnete Kurzdialoge, wie man sie sonst von den Diskursethikern kaum kennt, schließlich tiefschürfende Ausführungen zu konkreten Fragen wie der Atomenergie und den Rechten Ungeborener. Man merkt immer wieder, wie die Begegnung mit Jonas den transzendentalpragmatischen Hintergrund modifiziert und erweitert hat. Fortschritt besteht in Synthesen, und Böhlers Verbindung von Apel und Jonas ist wahrlich ein geistiger Fortschritt!« Bischof em. Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Huber (Berlin): »Mit dem weit gespannten Bogen seines Buches hat Professor Böhler der ›Berliner Diskursethik‹ eine umfassende Gestalt gegeben. Der Rückgriff auf die griechische Philosophie, die klare Verknüpfung mit Hans Jonas, der deutliche Bezug auf die biblischen Wurzeln des Menschenwürde-Konzepts: All das überzeugt mich sehr und lädt zum vertieften Studium ein. Dieses große und eindrucksvolle Buch wird mich über lange Zeit begleiten.« Prof. em. Dr. Gunnar Skirbekk (Bergen, Norwegen): »Ein Denker in dürftiger Zeit – so tritt Dietrich Böhler hervor, mit seinem letzten Opus über Begründungsreflexion aus dem Diskurs und Zukunftsverantwortung angesichts ökologischer Herausforderung. Ein riesiges Werk über dringende Fragen, philosophisch tiefgehend und allgemein zugänglich.« Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff (Freiburg): »Zu diesem großen Werk gratuliere ich Professor Böhler herzlich. Ein solches Buch, das grundsätzliche Reflexionen über Begründung und Geltung moralischer Prinzipien und Normen mit konkreten Fragen verbindet, ist in der biopolitischen Debatte selten. Mit besonderer Freude habe ich die den platonischen Dialogen nachgebildeten Ausführungen am Ende des Buches und die vorsichtige Argumentation gelesen, warum auch Embryonen Menschenwürde und Lebensrecht zukommt.« Prof. Dr. Tetsuhiko Shinagawa (Osaka, Japan): »Dietrich Böhler gewährt uns einen neuen Ausblick auf das Menschheitsproblem der Zukunftsverantwortung vom Gipfel, den er über den langen Steig seiner Erforschung von Diskursethik und Jonas bestiegen hat. Nicht nur die Natur, die sich um uns erstreckt, sondern auch unsere Natur, kann technisch manipuliert werden. Daher behandelt Professor Böhler am Schluß den Begriff Menschenwürde. Auch als einer der Japaner, die ›Fukushima‹ erlebt haben, werde ich viele Einsichten aus diesem Buch lernen.«

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