Von der "Volkskrankheit" zur "Krankheit des Teufels": Volksmedizin in Peru 9783968690070


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Von der "Volkskrankheit" zur "Krankheit des Teufels": Volksmedizin in Peru
 9783968690070

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Enrique Blanco Cruz

Von der „Volkskrankheit" zur „Krankheit des Teufels" Volksmedizin in Peru

Vervuert

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bianco Cruz, Enrique: Von der Volkskrankheit zur »Krankheit des Teufels" Volksmedizin in Peru / Enrique Bianco Cruz. Frankfurt (Main): Vervuert, 1985. ISBN 3-921600-36-7

ISBN 3-921600-36-7 ©Enrique Blanco Cruz und Verlag Klaus Dieter Vervuert, Frankfurt, 1985 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany

Inhalt

Vorwort von Gunter Hofer

Seite 7

1.

EINLEITUNG

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2. 2.1. 2.2

PERU Geographische und ökonomische Strukturen Soziale Faktoren und Gesundheitswesen

17 17 24

3. 3.1. 3.1.1. 3.1.1.1. 3.1.1.2. 3.2.

SOZIALE STRUKTUREN UND VOLKSMEDIZIN . . 36 Volkskrankheit 53 susto und cLtfio als Modelle von Volkskrankheiten 57 Der susto 57 Der daho 52 Curanderismus 67

4.

CURANDERISMUS BEI INDIANER-GRUPPEN DES URWALDS 4.1. Der Urwaldindianer - seine Lebensbedingungen und seine Krankheiten 4.2. Psychodysleptika im Curanderismus 4.2.1. Pharmako-psychiatrische Aspekte des ayabuascas 4.2.2. Die Anwendung der Psychodysleptika in der Therapie . . 4.2.2.1. Eine ayabuasca-Sitzung 4.2.2.2. Eine foe-Sitzung 4.2.3. Der magische Aspekt der Therapie mit Psychodelika . . . 4.2.4. Die Bedeutung der Gruppe in der psychodelischen Therapie

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5.

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ÜBER DEN GEBRAUCH VON COCA

73 73 87 89 92 92 96 99

5

6. 6.1. 6.2. 6.3.

CURANDERISMUS IN DEN ANDENGEBIETEN . . . . 109 Lebensbedingungen und Krankheitsauffassung der AndenIndianer 109 Die Gestalt des Heilers 111 Die Krankheiten der Andenregion 116

7.

CURANDERISMUS IN STÄDTEN DES KÜSTENGEBIETES

8.

CURANDERISMUS IN LIMA

9. 9.1. 9.2.

CURANDERO UND ARZT Aspekte einer Kooperation Gesundheitsdienst als nationales Problem Perus

135 135 142

10.

GLOSSAR

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11.

LITERATURVERZEICHNIS

158

6

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Gunter Hofer

Vorwort Zwar ist der Mensch an jene Kultur, in der er lebt, gebunden, doch sind die Menschen nicht auf eine Kultur festgelegt. Es gibt aber nicht unendlich viel Kulturen, da Kultur, indem sie menschliches Leben zu sichern hat, als System zweckgebunden funktionieren muß. Es hat nun den Anschein, als ob eine Vielfalt der Kulturen heute durch die Expansion der westlichen (standardeuropäischen) Kultur sich einschränkt, vielleicht sogar aus der Welt gänzlich zu verschwinden droht. Doch zeigt sich, daß bei einer fast schon weltweiten Ausdehnung dieses Kulturtyps, dieser sich regional zu modifizieren beginnt, was besagt, daß Menschen eine Kultur niemals einfach als Schablone übernehmen. Denn nur das, was ein Mensch selbst gestaltet hat, hat für ihn in seinem Leben Geltung. Wenn Kultur auch vielgestaltig bleibt, relativieren sich diese kulturellen Möglichkeiten, da der Mensch Kultur erst einmal in der Weise akzeptiert, in der sie ihm als Tradition zukommt. In jeder Kultur liegt aber als Möglichkeit die Aufhebung ihrer Begrenzung, wenn neue Gegebenheiten eine Anpassung der Lebenswelt notwendig fordern. Veränderungen erfolgen immer dann, wenn gewohnte Kulturmuster ungewohnte Situationen bewältigen sollen, aber auch wenn fremde Kulturmuster zur Konkurrenz werden. In jeder Kultur steckt so eine Isolierung und eine Offenheit zugleich. Dieser Prozeß wird in der Studie von Enrique Blanco Cruz für den Teilbereich der Medizin in den Regionen Perus in der Konstanz und in dem Wechsel der Hilfen für menschliches Kranksein verdeutlicht. Im Zusammenspiel ethnischer, historischer und ökonomischer Faktoren läßt sich erkennen, wie Medizin ein eklektisches Gebilde aus Überliefertem, Modifiziertem und Neuem ist, das stets aber seine Effektivität beweisen muß. Ethno-Medizin hat nun die Absicht, Einsicht in die Kulturabhängigkeit von Krankheitsauffassung, Krankheitsbeschreibung sowie Therapiekonzept zu gewinnen, wobei es nicht nur in einem Vergleich um die Differenz der Einstellung zu Krankheit geht, sondern auch Antwort auf die Frage nach allgemeinen Faktoren, die jedes Heil7

system zu berücksichtigen hat, gesucht wird. Da keine Kultur die Versehrbarkeit des Menschen ausklammern kann, bietet sie ihren Mitgliedern auch immer die Möglichkeit der Hilfe in der Lage des Krankwerdens an. Doch bleibt dieses Angebot stets Teil des Gesamtentwurfs der geltenden Kultur, ist also keinesfalls eine von diesem unabhängige Wirklichkeit. Immer nimmt „Medizin" die „Logik" der Kultur einer Gesellschaft auf. Man muß die „Spielregeln" einer Kultur kennen, um ihre Gesundheitshilfe und ihren Krankheitsbegriff zu durchschauen. Wenn auch Medizin in die Sicherungsweise des Gesamtsystems einer Kultur eingebunden bleibt, sind doch in diesem Teilbereich Änderungen möglich, die hinwiederum zu einer Beeinflussung des Gesamts der Kultur führen. In Peru, so kann Enrique Blanco Gruz zeigen, findet sich nicht nur ein Gegensatz zwischen „traditioneller Medizin" und „moderner Medizin", sondern finden sich zumindest seit der Gonquista Heilpraktiken, die sich der indianische Bauer in einem Zugleich von traditioneller Eigenständigkeit sowie nominellem Ghristsein schuf. Er gewann in der Ansicht des Wirkens von Geistwesen zusammen mit Christus und den Heiligen eine Heilpraxis, die für ihn funktioniert. Christus, die Heiligen und die Geister zusammen garantieren ihm erst die notwendige Sicherheit. Was für den Außenstehenden als Klitterung erscheint, ist für den Heiler und seinen Patienten ein in sich bündiges Gebilde, das auf komplizierten Denkvorgängen basiert. Wie in jedem Angebot von Medizin nimmt der Kranke gewohnte, d. h. tradierte Beschreibungskriterien des Krankseins auf, und indem er sich über diesen Code verständlich machen kann, ist er auch einer Hilfe sicher. Für die traditionelle Medizin sind die erfahrenen und erfahrbaren Krankheitszeichen in gleicher Weise objektiv wie dieses eine standardeuropäische Medizin für ihre Symptomkunde beansprucht. Für die Heilkunde gilt wie für alle kulturellen Institutionen, daß diese „keine zufällige Sammlung der verschiedenen physisch möglichen und funktionell wirksamen Methoden des Glaubens und Handelns" (KLUCKHOHN) 1 darstellt, sondern daß sie bestimmte Weisen des Denkens und Handelns vereinigt, die eine Gruppe von Menschen gefunden hat, um 1) K L U C K H O H N , C.: Spiegel der Menschheit. Pan. Zürich 1951.

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das Grundproblem des Krankwerdens im Leben für sich zu lösen. Wenn sich bei einem Vergleich von Medizinsystemen erweist, daß solche Zeichen zur Feststellung recht unterschiedlicher Krankheiten führen, besagt dieses nichts gegen die Effizienz des geltenden Objektivierungssystems. Unabhängig von dem, was eine Kultur als Symptomkunde für Krankheiten anerkennt, steckt in jedem Medizinsystem die Möglichkeit der Fehldiagnose, die aber immer nur an der Logik des geltenden diagnostischen Systems zu messen ist. Medizin als Ethno-Science ist der Versuch, die Kategorien einer Ethnie für die jeweilige Interpretation der Krankheit zu entdecken. Die Historia morbi lehrt, daß immer „Krankheitserscheinungen" miteinander in Zusammenhang gebracht werden, um eine bestimmte Kausalität herstellen zu können. Krankheitserscheinungen können aber nun von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet werden und ergeben dabei durchaus differente Figuren, wobei diese jedoch für sich durchaus möglich bleiben. Möglich heißt, daß ein erfahrener Heiler mit den Krankheitserscheinungen sicher umgehen kann. Während für den Kulturfremden die Erklärungsweise dieses Heilers unannehmbar ist, bedeutet sie dem Einheimischen eine klare Ordnung und damit ein sicheres Fundament der Praxis. Solche Krankheitsfiguren sind für die andinen Ethnien susto und daño. Wie Enrique Blanco Cruz beschreiben kann, handelt es sich hierbei um durch die Indianerbevölkerung erkennbare Krankheitserscheinungen. Dem Fremden, etwa dem naturwissenschaftlich ausgebildeten Arzt, aber bleibt der Zugang zu diesem Kranksein verwehrt. Dieser Arzt ist blind gegenüber der dem curandero deutlichen Krankheitsfigur. Dieses Phänomen bringt uns eine Einsicht in das Moment der Begriffsbildung aller Medizin, daß Einheitsbildungen in der medizinischen Praxis in einem weiten Spielraum möglich und stets vom jeweiligen „Denkkollektiv" (L. FLECK) 2 abhängig sind. Abänderungen und Neugestaltungen der Krankheitssystematik entstehen dann, wenn diese für das Kollektiv durch eine Veränderung der Lebenslage notwendig wird. Ein vom Denkkollektiv unabhängiges Erkennen gibt es jedoch nicht. 2) FLECK, L.: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1980.

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Die Situation in den Barriadas macht erkennbar, wie in Grenzsituationen tradierte Medizin notwendig ist, aber sich ein starres Medizinmuster verbietet. Nur jene Medizin, die die regionale Lebenssituation mit einbezieht, ist eigentliche Volksmedizin. Diese Medizin stellt sich immer den vielfältigen Anforderungen menschlicher Lebenslagen, ist bereit, das Therapiemuster zu modifizieren und therapeutische Grenzen einzusehen. Darin liegt ein besonderer Wert der Studie Enrique Blanco Cruz', daß sie die ökonomische Bedingtheit medizinischer Versorgung nachweist und eine Volksmedizin als soziale Notwendigkeit versteht. Daß bei den weltweiten Wanderbewegungen vom Inneren der Kontinente und Länder an die Küsten und in die Städte die traditionelle Medizin vor die Tür der westlichen Medizin geriet, zeigt, daß diese Weise der Heilkunde niemals überflüssig wird, da sie vertraute Hilfe in menschlicher Notlage bedeutet. Während der westlich geschulte Arzt das „rationale" System der Naturwissenschaft als alleiniges Maß für sein Handeln gelten läßt, zeigt der traditionelle Heiler wie sich nur bei einer steten Berücksichtigung des Wechselspiels zwischen der persönlichen Situation des Leidenden und seinem sozialen Umfeld ein brauchbares Medizinkonzept bildet. Durch die Beschäftigung mit dem Heilsystem fremder Ethnien gewinnt man nicht zuletzt einen Zugang zu jenem allen Menschen gemeinsamen Lebensfundament, das H. T R I M B O R N 3 mit der „Grenze zwischen dem, was nicht menschenmöglich ist, und dem Möglichen" umreißt. Durch das Studium der Kultur fremder Gesellschaften bereitet sich die Einsicht vor, „uns von der unseren zu lösen, nicht, weil diese als einzige absolut schlecht wäre, sondern weil sie die einzige ist, zu der wir Distanz gewinnen müssen" (LEVI-STRAUSS) 4 . Nur durch eine solche Distanz entstehen jene Perspektive und Objektivität, die notwendig sind, um uns selbst in unserem Denken und Handeln besser verstehen zu können.

3) T R I M B O R N , H.: Von den Aufgaben und Verfahren der Völkerkunde. In: L. ADAM u. H. T R I M B O R N , Lehrbuch der Völkerkunde. 3. Aufl., Enke, Stuttgart 1958. 4) LÉVI-STRAUSS, C.: Traurige Tropen. Kiepenheuer u. Witsch, Köln-Berlin 1960.

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1. Einleitung Nach einem Studium der Medizin ist man leicht geneigt, die Medizin fast ausschließlich unter biologischen Gesichtspunkten zu sehen. Nun haben sich in den letzten Jahrzehnten besonders die jungen Mediziner zunehmend für gesundheitspolitische Fragen interessiert, woraufhin die Medizin nicht mehr allein als eine Naturwissenschaft aufgefaßt wurde, sondern als eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand, d. h. den Menschen, nicht nur als biotisches Wesen, sondern mehr noch als soziales Wesen, als Person in einer Gesellschaft mit bestimmten kulturellen Gegebenheiten zu betrachten hat. Eine Soziologie der Medizin und des Gesundheitswesens als Ganzes gewann an Interesse. Vergleiche der Medizinkonzepte in anderen Kulturen hielt man für besonders geeignet, um Probleme in dem eigenen kulturellen Bereich besser kennenzulernen bzw. zu bewältigen. R O H D E wies bei seiner Analyse der Sozialmedizin darauf hin, daß Studien über die Institutionen der Medizin in den sogenannten Primitivkulturen wichtige Beiträge zur Analyse der Verhältnisse in der modernen Medizin leisten können. Ein Angebot aus der Gesamthochschule Kassel, eine Filmgruppe nach Peru zu begleiten, die dort Dokumentarfilme über „Entwicklungshilfe" fertigen wollte, wurde als eine Möglichkeit angesehen, sich an Ort und Stelle, d. h. in Gebieten anderer Lebensformen und anderer Kulturen, über andere Einstellungen zur Krankheit zu informieren und andere Konzepte des Heilens kennenzulernen. Die Gruppe traf unter Leitung des inzwischen verstorbenen Soziologen Professor Dr. Hartfiel aus Kassel am 21. Juli 1975 in Lima ein und blieb bis Ende Oktober 1975 in Peru. Es bot sich die Gelegenheit, die Elendsviertel, die sich um die großen Städte lagern, die barriadas, heute auch pueblos jóvenes genannt, kennenzulernen, in denen sich Indianer, meist aus den Andengebieten stammend, unter unwürdigen Lebensbedingungen ansiedeln, in denen Hunger und Elend herrschen. Hier treffen sich unterschiedliche Formen des Heilens, sei es als Praxis des Medizinmannes (curandero), sei es als Ordination des akademisch gebildeten Arztes, der meist in freiwilliger Ar11

beit versucht, Hilfe zu leisten. An diesen Orten wurde klar, warum sich die „primitive" Heilkunde in den Augen der „modernen" Mediziner als konservativ erweist und warum Widerstand gegen eine unbekannte Medizin geleistet wird. SCHOENE macht darauf aufmerksam, daß die „moderne" Medizin selbst eine Institution ist, die sich an die Stelle einer bereits vorhandenen Institution drängt: an die einer traditionellen Heilkunde. Selbst wenn die „moderne" Medizin sich darauf beschränken wollte, den einzelnen Kranken zu heilen, ohne seine Kultur beeinflussen zu wollen, würde sie allein durch die Tatsache zum kulturändernden Faktor werden, daß sie eine überlieferte Institution überflüssig machen will. Wenn die Vertreter der „primitiven" Heilkunde in missionsärztlichen Berichten als reaktionäre Verfechter von „primitiven" Uberzeugungen und Praktiken dargestellt werden, wird verkannt, daß die „primitive" Heilkunde jenes Optimum ist, das eine Kultur vor der Begegnung, mit der „modernen" Medizin zur Krankenbehandlung konzipiert hatte. Auch wurde deutlich, daß ökonomische Faktoren eine sehr große Rolle im Kampf um die Lebenserhaltung spielen. Nicht weit von diesen barriadas entfernt stehen moderne, riesige Krankenhäuser, die schon durch ihre Bezeichnung, z. B. „für Angestellte", darauf hinweisen, daß es sich hier um Institutionen handelt, die nicht für die Mehrheit der Armen, der Indianer und der Arbeiter gedacht sind. Eine Reise in den Norden durch die Andenkette nach Ancash bot die Möglichkeit, ein Gebiet kennenzulernen, das von der Erdbebenkatastrophe 1970 heimgesucht worden ist. Dort wurde durch Hilfsprogramme eine Form der medizinischen Versorgung aufgebaut, die vielleicht richtungsweisend Möglichkeiten anbot, eine Zusammenarbeit der „primitiven" Heilkunde mit einer Medizin „in unserem" Sinne zu erreichen. In den neuen medizinischen Zentren von Huaraz hat man versucht, Rücksicht auf die oft ambivalente Haltung der ländlichen Bevölkerung zu nehmen, denn diese zeigt sich mißtrauisch dem Arzt gegenüber, sie vergleicht oft das Verhalten des Arztes mit dem ihres curanderos. Man stellte fest, daß die Technik des Arztes durch seine Frage nach Beschwerden, Manipulationen am Patienten, Analysen usw., kompliziert 12

erscheint, während die Diagnostik des curanderos einfacher wirkt (BLAS GUTIERREZ). Diese Faktoren wurden berücksichtigt, indem Arzte sich bereit zeigten, Kräuter und Salben, die sonst nur vom curandero verwendet werden, in ihr therapeutisches Inventar aufzunehmen. Auch in diesem Gebiet hatte man die Möglichkeit, durch die Kontakte mit der Indiobevölkerung, über Krankheiten zu erfahren, die nicht in unserem medizinischen Sinne nach Symptomen oder klinischen Gesichtspunkten klassifiziert werden, sondern nach Naturkräften bzw. übernatürlichen Faktoren, durch Einwirkung von Geistern, durch Verärgerung der Berge, des Windes usw. Auch hier konnte man zwei Arten von Medizinmännern unterscheiden: einerseits den brujo, andererseits den curandero. Der brujo handelt, indem er sich eine Macht zuschreibt, die ihm von einem böswilligen Geist übertragen wurde, der curandero handelt aufgrund der gesammelten Erfahrungen und im Einklang mit der Ansicht, die der Indio im Hinblick auf das Entstehen von Krankheiten hat. Der curandero spielt die Rolle des Experten (SAL Y ROSAS, 1966). Auf dem Wege nach Huaraz, ca. 350 km von Lima entfernt und etwa 2 km östlich der Panamerikana-Landstraße, in der Nähe der Stadt Casma, stehen die Ruinen des Tempels von Cerro Sechin, die am Anfang dieses Jahrhunderts entdeckt wurden, und wo man bei Ausgrabungsarbeiten eine Vielzahl von Steinen fand, auf denen anatomische Motive eingraviert worden sind. Wahrscheinlich handelt es sich um Abbildungen von kriegerischen Situationen bzw. menschliche Figuren nach Kämpfen. Dafür sprechen die häufig blutend abgebildeten Organe. Es ist ebenfalls vermutet worden, daß es sich bei der Ruine um eine anatomische Schule gehandelt hätte. Diese Ruinen deuten auf jeden Fall darauf hin, daß die Einwohner Perus vor 1500 Jahren, als vermutlich dieser Tempel gebaut wurde, über detaillierte anatomische Kenntnisse verfügten (GROLLIG). Es ist durchaus denkbar, daß nicht überall in Peru die menschliche Anatomie bekannt war, denn FRISANCHO (1963) berichtet in seinen Ausführungen über den peruanischen Altiplano, daß dem Indio die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers unbekannt gewesen seien.

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Bei einer Reise nach Cuzco, dem Zentrum des ehemaligen Inkareiches, konnten wir Lebensformen einer Bevölkerung kennenlernen, die als Vermengung von Lebensmustern der Inkakultur und der imperiokolonialistischen Zeit der spanischen Eroberer anzusehen sind. Offensichtlich kam es hier immer wieder darauf an, sich an eine bedröhliche Natur anzupassen. Eine weitere Fahrt durch die Anden in den Urwald des Rio Ucayali ermöglichte es, eine tropische Zone kennenzulernen, wo Volksgruppen noch relativ isoliert leben. Fast ausschließlich wird hier eine sogenannte primitive Heilkunde praktiziert, wobei Psychodysleptika, die in Pflanzen dieses Gebietes enthalten sind, eine große Rolle bei der Diagnostik und der Therapie spielen. Doch werden auch die Einflüsse der Mission sichtbar, die in der wohlmeinenden Absicht, ihre Moral als die allgemein geltende Moral durchzusetzen, nicht selten gesundheitliche Schäden verursacht. Ein Beispiel dafür ist der Zwang, Indianer des tropischen Urwaldgebietes wie Europäer zu kleiden, bei Temperaturen und in einer Luftfeuchtigkeit, in der eine solche Kleidungsweise zwangsläufig zu Erkrankungen der Atemwege führen muß. Wie die Indianer es bislang gehalten haben, d. h. tagsüber ohne Bekleidung und während der Nacht mit Fellen oder Rindenstoffen bedeckt, wäre die beste Form, Gesundheitsgefahren zu verhindern. Dieses Beispiel zeigt wiederum, wie uneinsichtig Vertreter einer „Kultur" sich gegenüber Menschen der sogenannten Primitivkulturen zeigen können, wie gering ihre Wahrnehmungsfähigkeit und ihr Respekt vor Lebensformen ist, die für diese Menschen von großer Bedeutung sind, da sie in ihrem Existenzkampf gegen die Gefahren der Natur entwickelt wurden. Der Aufenthalt in Lima bot die Möglichkeit, die Realität einer Gesellschaft mit tiefen Klassengegensätzen kennenzulernen. Einerseits wird der Wille zu einer Demokratisierung sowohl von den unteren Schichten als auch von einigen Vertretern der Mittel- und Oberschicht ausgesprochen, andererseits leistet man großen Widerstand dagegen, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Dazu sei im Gesundheitsbereich der Erlaß bzw. das Gesetz der Regierung erwähnt, das besagt, daß alle Berufe des Gesundheitsdienstes, wie Krankenschwestern, Krankenpfleger und Arzte, nach Abschluß ihres Staatsexamens ein praktisches Jahr in den 14

Anden bzw. Urwaldregionen absolvieren müssen, bevor sie die berufliche Anerkennung erhalten. Es wäre auch unter Berücksichtigung der ökonomischen Probleme, unter denen das Land steht, sicherlich denkbar, daß durch diese Maßnahmen eine Annäherung der „primitiven" Heilkunde zur „modernen" Medizin und umgekehrt zustandekäme. Wie Professor Espejo im Interview sagte: „Es geht nicht darum, daß wir eine sophistizierte Medizin praktizieren, die nur für eine privilegierte Minderheit der Gesellschaft gedacht wurde, sondern es geht darum, den demokratischen und wohlmeinenden Studenten Kenntnisse zu vermitteln, die an Mehrheiten in unserem Lande orientiert sind und die wiederum den Annäherungsprozeß der verschiedenen Völkergruppen, die in unserem Land leben, schneller vollziehen lassen." In dieser Arbeit, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, soll nun versucht werden, die unterschiedlichen Heilpraktiken und Formen der Gesundheitsdienste, die sich in Peru aus eigener Erfahrung und aus dem Literaturstudium feststellen ließen, zu beschreiben. Dabei bleibt zu hoffen, daß eine solche Beschreibung einen Beitrag zu einem Konzept leistet, das für eine praktische medizinische Hilfe für alle Menschen und Gebiete Perus entwickelt wird oder entwickelt werden sollte.

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Quelle: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, aus Länderbereicht Peru 1984

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2. Peru 2.1. Geographische und ökonomische Strukturen Peru ist ein weiträumiges Land mit einer Fläche von 1 285 216 qkm, in dem ca. 19 Millionen Menschen leben. Die Verteilung der Bevölkerung auf die einzelnen Landesteile ist sehr unterschiedlich. Mitte 1981 lebten in der Küstenregion 50% der Gesamtbevölkerung, in der Gebirgsregion 39,4% und in der Urwaldregion 10,6%. Die Hauptstadt Lima hatte ca. 4,75 Millionen Einwohner. Die peruanische Bevölkerung setzt sich aus Indianern (quechua und aymara in den Gebirgsregionen, pano, tupi und anderen im Urwaldgebiet), Mestizen (Mischlingen aus Weißen und Indianern), Europäern (meist altspanischen Ursprungs) und Negern und Ostasiaten (Chinesen und Japanern) zusammen. Der größte Teil der indianischen Bevölkerung bewohnt das Hochland der Anden (Sierra). Hauptgruppen der Indianer sind die Quechua und die um den Titicacasee lebenden Aymara. Im östlichen Tiefland leben Waldindianer teilweise noch nomadisch. Sie haben kaum Verbindung mit der übrigen Bevölkerung. Mestizen stellen etwa ein Drittel der Bevölkerung. Der Anteil der europäischen Bevölkerung liegt bei 10 bis 12%, während Neger und Ostasiaten zusammen weniger als 5% erreichen. Die Mestizen leben vorwiegend im Küstenstreifen, der sich von Ecuador im Norden bis Chile im Süden erstreckt. In der Urwaldzone, die die größte Fläche des Landes ausmacht, leben nur 10% der Bevölkerung. Die größten Städte des Landes sind außer Lima-Callao, Trujillo, Chiclayo und Chimbote an der Küste, Cuzco und Arequipa in den Anden und Iquitos im Urwaldgebiet. Daß sich die Bevölkerung in den größeren Städten konzentriert, erlebt man, wenn man durch das Land reist. Besonders deutlich wird das entlang der Panamericana-Landstraße, wo man oft 50 und mehr Kilometer fahren kann, ohne ein Dorf oder ein Städtchen zu sehen. Geographisch lassen sich in Peru drei Hauptzonen unterscheiden: Ein schmaler, wenige Meter über dem Meeresspiegel liegender Streifen entlang der Küste, der nur an den Mündungen der Bergflüsse landwirtschaftlich genutzt wird, dann eine etwa 100 km breite Gebirgskette, die 17

sich vom Norden bis Süden des Landes erstreckt und Höhai bis 6768 m (Huascaran) erreicht. Zum Osten hin fällt dieses Gebirge weniger steil ab als gegen Westen und geht in das tropische Urwaldgebie des Amazonasbeckens über. Diese geographischen Eigenschaften breiten dem Ausbau eines für die Wirtschaft des Landes notwendigen Verkehrsnetzes besondere Schwierigkeiten. Von den etwa 65 000 km Straßen sind nur ca. 7500 asphaltiert, ca. 13 000 sind Schotterstraßen, m«hr a l s l 4 000 nicht befestigt. Das Eisenbahnnetz hat insgesamt nur 30CD km ¡Länge. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß die Schienenbreite unterschiedlich ist. Die Streckenführung der Bahn hat an einigen Sellen Höhen von fast 5000 m zu überwinden. Der höchste Eisenbahnpinkt der Welt liegt mit 4818 m bei Ticlio, zwischen Lima und der Bergtauindustriestadt La Oroya. Der Luftverkehr ist allerdings gut ausgebaut. Fast alle Puikte des Landes werden schnell mit modernen Flugzeugen erreicht. Der weitere Ausbau des Flugverkehrs gehört zu den bedeutendsten Vorhaben im Verkehrssektor. Der internationale Flughafen von Lima (Jtrge Chavez) wird von zahlreichen internationalen Fluggesellschaften angeflogen. Ein weiterer internationaler Flughafen besteht bei Iquitos.Die 1973 gegründete staatliche Fluggesellschaft „Aeroperu" bedient sovohl inländische als auch ausländische Strecken und fliegt dort vor allen Flughäfen in lateinamerikanischen Ländern und in den Vereinigtet Staaten an. Der internationale Flughafen von Lima soll durch den Bai eines weiteren, ebenfalls bei Lima gelegenen, entlastet werden. Der Ackerbau in Peru war und ist die Grundlage der Ökonomie des Landes, denn obwohl die Zahl der Abwanderer vom Landin die Städte sehr hohe Werte erreicht und ständig zunimmt, sind nocl ca. 40% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Vor der sogenamten Revolution von 1968 war Großgrundbesitz für die peruanische Laidwirtschaft charakteristisch. Dieser war Relikt einer 400jährigen lolonialherrschaft, die die spanischen Herren aus Kastilien den mittel-und südamerikanischen Ländern auferlegt hatten. Der „Latifundismis" war nicht nur den Spaniern eigen, er wurde von anderen Kolonialisen aus europäischen Ländern, hauptsächlich aus Frankreich, England,Deutschland und Portugal, fortgesetzt. Die landwirtschaftliche Flächebeträgt etwa

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ein Viertel der Landesfläche, aber nur 2,3% sind Ackerland (einschließlich Dauerkulturen); davon liegt gegenwärtig mehr als ein Fünftel brach. Zur Verbesserung der Agrarstruktur wurde 1964 eine Bodenreform eingeleitet, die erst nach 1968, durch die Machtübernahme von General Velasco Alvarado, ernsthaft fortgesetzt wurde. Ungenützte Ländereien und Betriebe, die eine bestimmte Größe überschritten, konnten, nach einem ergänzenden Gesetz vom Juni 1969, gegen Entschädigung enteignet und aufgeteilt werden. Die erste Phase der Reform wurde im wesentlichen 1976 mit der Enteignung des Großgrundbesitzes (mehr als 50 ha) und der Ubergabe des Landes an Genossenschaften und Kleinbauern abgeschlossen. Die Enteignungen umfaßten mit knapp 40% der landwirtschaftlichen Fläche fast alle Güter mit dieser Betriebsgröße, einschließlich der agroindustriellen Zuckerkomplexe an der Nordküste des Landes. Ziel der zweiten Phase der Bodenreform ist vor allem die Zusammenlegung unrentabler Klein- und Kleinstbetriebe, da das übereignete Land in vielen Fällen für den Lebensunterhalt einer Familie nicht ausreicht. In bäuerlichen Kleinbetrieben werden vor allem Mais, Hochlandkartoffeln, Weizen, Gerste, Jucca sowie Schafwolle und -fleisch meist für den Eigenbedarf erzeugt. Die von Mittel- und Großbetrieben überwiegend in Monokultur erzeugten Agrarprodukte wie Baumwolle, Zucker, Kaffee, Mais, Gerste, Küstenkartoffeln, Fleisch und Milch werden exportiert oder dienen dem städtischen Konsum. Um die Nahrungsmitteleinfuhren einzuschränken, wären erhebliche Produktionssteigerungen erforderlich. In den letzten Jahren haben die Importe von Nahrungsmitteln bei rasch wachsender Bevölkerung stark zugenommen. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe (ohne Einzelbetriebe) belief sich 1977 auf 1730, darunter waren 629 Produktionsgenossenschaften und 361 indianische Landgemeinden (Comunidades Indígenas). Diese verfügten zusammen über 71,4% der gesamten Betriebsfläche. Zwischen 1977 und 1980 wurden die Betriebsflächen um 550,9 ha oder 6,7% vergrößert. Uber landwirtschaftliche Maschinen verfügen im wesentlichen nur Groß- und Mittelbetriebe.

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Hauptanbaugebiet, vor allem für Exportgüter, ist die Küstenzone, in der auf Bewässerungsland neben hochwertiger Baumwolle vor allem Zuckerrohr, Reis, Mais, Gemüse, Tabak und Wein angebaut werden. Der Anbau erfolgt meist in Groß- und Mittelbetrieben (z. T . Plantagengesellschaften). Die Landwirtschaft des Hochlandes zeigt trotz geringer Produktivität einen hohen Selbstversorgungsgrad. Im Norden werden unterhalb der Getreideanbauzone auf Bewässerungsflächen Baumwolle, Tabak und Zuckerrohr kultiviert. Der Ostabfall der Anden (Montaña) bietet günstige Bedingungen für den Anbau von Kaffee, Kakao und Tee. Im tropischen Amazonastiefland (Selva) werden Hülensfrüchte, Reis und Bananen erzeugt. Naturkautschuk wird als Produkt der Sammelwirtschaft im Urwald gewonnen. Der Feldbau der indianischen Andenbewohner, zumeist in Dorf- und Stammesverbänden („Comunidades Indígenas"), läßt bei ungünstigen Boden- und Klimaverhältnissen und primitiver Bodenbearbeitung nur Subsistenzwirtschaft zu; die Nutzfläche ist stark parzelliert. Niedrige Erträge zwingen zu Nebenerwerb in Großwirtschaften und in anderen Wirtschaftsbereichen. Im dichtbesiedelten Teil der Anden (zentrale Sierra) werden vor allem Mais, Weizen, Gerste, Kartoffeln sowie andere heimische Getreide und Knollengewächse angebaut. Die Erntemengen pflanzlicher Erzeugnisse unterliegen infolge wechselnder Witterungseinflüsse teilweise erheblichen Schwankungen. 1983 hat die im Abstand von mehreren Jahren wiederkehrende warme Meeresströmung („El Niño") im Stillen Ozean den Witterungsablauf schlagartig verändert, so daß im Süden des Landes eine außergewöhnliche Dürreperiode und im Norden katastrophale Überschwemmungen eintraten. Die landwirtschaftliche Produktion hatte eine Einbuße von etwa 12% erlitten. Im ersten Halbjahr war eine drastische Abnahme insbesondere der Weizen-, der Zucker- und der Kartoffelernte zu verzeichnen. Etwa 60% der Gesamtfläche des Landes sind bewaldet (größtenteils im Amazonastiefland und am Ostabhang der Anden). Die Wälder und forstwirtschaftlich nutzbaren Flächen sind überwiegend Staatseigentum. Der private Besitz wird auf 5 Millionen ha geschätzt. Ungenügende Verkehrserschließung des Waldlandes wird für die Tatsache verantwortlich gemacht, daß Holz und Holzprodukte in so erheblichem 20

Umfang eingeführt werden müssen, daß ihr Wert etwa das Siebenfache der entsprechenden Ausfuhren beträgt. Da Edelholz in großen Mengen vorhanden ist, ist jedoch denkbar, daß Spekulationen und Profitstreben auch eine wichtige Rolle bei dieser widersprüchlichen oder unverständlichen Lage spielen. Auf jeden Fall besteht die Gefahr, daß die Pflege, die für den Fortbestand des Waldes notwendig ist, nicht konsequent betrieben wird. Restbestände der Gebirgswälder und des tropischen Trockenwaldes (Zeder, Mahagoni, Eiche) werden forstwirtschaftlich genutzt. Daneben werden Naturkautschuk, Rohchinin und verschiedene Sammelprodukte für die pharmazeutische Industrie gewonnen. Die Viehhaltung ist überall im Lande verbreitet, doch werden für den Marktbedarf überwiegend Uberschüsse in der Küstenzone (Versorgung der Bevölkerungsagglomeration von Lima-Callao) erzeugt. Angesichts des starken Bevölkerungswachstums sind steigende Einfuhren von Fleisch- und Molkereiprodukten notwendig. In der Gebirgsregion ist die Viehhaltung (Schafe, Alpacas, Lamas) wenig ertragreich. Der Viehbestand ist nicht so groß, wie etwa nach den Lamabildern anzunehmen wäre. Lamas, Alpacas und Vicunas sind wegen der Qualität ihrer Wolle bekannt, sie sind aber nicht sehr zahlreich, und sie befinden sich hauptsächlich in den mittelhohen Anden. Schaf- und Alpacawolle sowie Rinderhäute werden exportiert. Die Produktion tierischer Erzeugnisse konnte in den vergangenen Jahren gesteigert werden. So erhöhte sich die Erzeugung von Rind- und Kalbfleisch zwischen 1979 und 1983 von 87 000 t auf 102 000 t ( + 17,2%) und die von Schweinefleisch von 70 000 t auf 74 000 t ( + 5,7%). Die verstärkte Geflügelhaltung schlug sich in einer wesentlich erhöhten Produktion von Geflügelfleisch ( + 75,4%) und Hühnereiern ( + 23,0%) nieder. In Peru spielt ebenso die Fischwirtschaft eine sehr wichtige Rolle für die Ökonomie des Landes. Sie war Jahrzehnte lang - und ist es zum Teil heute noch - wertvolle Beute des inländischen und ausländischen Kapitals, das sich lediglich um eine Profitmaximierung bemühte, ohne auf die Nahrungs- und Finanzproblematik des Landes Rücksicht zu nehmen. Peru nimmt die erste Stelle unter den fischfangtreibenden Ländern der Erde ein. Die Küste vor Peru gehört zu den fischreichsten Gebieten der Weltmeere. Noch 1970 hatte das Land mit einem Gesamtfang 21

von rund zwölf Millionen Tonnen zu mehr als 20 Prozent an den Gesamtanlandungen der Welt an Seefischen beigetragen. Der peruanische Fang bestand jedoch fast ausschließlich aus einer einzigen Fischart, nämlich einer Sardelle, die im Oberflächenwasser lebt. Die riesigen Anlandungen wurden, mit wenigen Ausnahmen, ausschließlich zu Fischmehl verarbeitet, trotz Eiweißmangels in der Ernährung der Bevölkerung dieses Landes. Die übrigen Fischarten, Konsumfische im engeren Sinne, wurden nur in sehr geringer Menge gefangen. Die peruanischen Fangschiffe sind in ihrer technischen Ausstattung speziell an den Fang der Sardellen angepaßt. Die Fangreise dauert nur einen Tag, da die Fahrzeuge über keine Kühleinrichtungen verfügen und die Ladekapazität oft in wenigen Stunden ausgeschöpft ist. Die Fänge stammen daher alle aus dem Küstennahbereich, maximal 20 Seemeilen von der Küste entfernt. Die ökologischen Gesichtspunkte wurden lange Zeit außer Acht gelassen. Die Uberfischung ist so massiv geworden, daß Anfang der siebziger Jahre, teilweise auch durch das Ausbleiben der Anchovisschwärme bedingt, die Produktion nahezu auf die Hälfte reduziert werden mußte. 1972 brach der Sardellenbestand zusammen. Innerhalb weniger Jahre ging der Fang auf weniger als 100 000 Tonnen pro Jahr zurück und mußte vorübergehend ganz eingestellt werden. Der Bestandszusammenbruch war in erster Linie die Folge tiefgreifender hydrografischer Veränderungen im Meeresgebiet vor der peruanischen Küste. In dieser für die peruanische Fischerei katastrophalen Situation entstand ein Plan zur wirtschaftlichen Erschließung der noch ungenutzten Bestände an Konsumfisch. Um die Durchführung struktureller Hilfsmaßnahmen zu beschleunigen, ist 1973 die Produktion von Fischmehl und -öl vom Staat übernommen worden. Die Fischereischutzzone wurde beeits 1969 auf 200 Seemeilen ausgedehnt. Die Regierung hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um den inländischen Fischverbrauch für die Ernährung zu steigern. Die Fangmenge der Fischerei betrug 1982 rund 3,44 Millionen Tonnen, davon waren 3,40 Millionen Tonnen Seefische, die zu etwa der Hälfte aus Anchovis bestanden. Die Krise, in der sich die peruanische Fischerei seit Jahren infolge des Uberfischens der Bestände befindet, wurde 1983 durch das Auftreten der warmen Meeresströmung („El 22

Niño") - wobei die kalten Wasser des Humboldtstromes nicht mehr bis auf die Höhe von Nordperu vordringen - weiter verschärft. Die Fische sind der peruanischen Küste ferngeblieben. Das Ausmaß der Schäden der Katastrophe kann noch nicht abgesehen werden. Die Bodenschätze Perus standen und stehen ebenfalls im Zentrum ausländischer Ausbeutung. Zumeist Kupfer, Eisen, Zinn, aber auch Kohle findet man in Peru in erheblicher Menge. Der Bergbau (einschließlich Mineralölwirtschaft) erreichte 1982 einen Anteil von 9,2% an der Entstehung des Bruttoinlandproduktes zu Marktpreisen, obwohl er nur etwa 2% der Erwerbstätigen beschäftigt. Zur Expansion dieses Sektors trugen bisher vor allem die Steigerung der Kupferförderung (Anlagen Cerro Verde I und El Aguila) sowie die Eisenerz- und Erdölgewinnung bei. Die Ausfuhr von Erzen und Metallen erbringt etwa die Hälfte der Exporterlöse Haupterzeugnisse sind Kupfer, Zink und Silber. Der künftige Abbau von Uranerz soll Peru zum größten lateinamerikanischen Produzenten von Uran machen. Die Lagerstätte der Uranvorkommen von Morococha im Departamento Juni wird auf 380 Millionen Tonnen geschätzt. Mit der Gewinnung von Kupfererz in Cuajone (Südperu) wurde 1976 begonnen. Cuajone ist das bisher größte Kupfererzlager in Peru mit geschätzten Vorkommen von 468 Millionen Tonnen Erz. Der Kupferkomplex Cerro Verde, der Förder- und Verarbeitungsanlagen umfaßt, wurde 1977 in Betrieb genommen. Für die Erschließung des Kupfervorkommens Tintaya wurde 1981 die staatliche Gesellschaft „Ematinsa" gegründet. Geplant ist eine jährliche Produktion von 50 000 Tonnen Feinkupfer. Die Eisenerzreserven werden auf 100 Millionen Tonnen (Fe-Gehalt 60%) geschätzt. Andere Metalle, wie Gold, Wismut, Molybdän, Antimon, Quecksilber und Wolfram, werden nur in kleinen Mengen gewonnen. Das Exportmonopol für Mineralien wurde 1970 der staatlichen Gesellschaft „Mineroperú" übertragen, das 1974 an die staatliche Vertriebsgesellschaft „Minpeco" überging. Mit der Enteignung der ausländischen „Cerro de Pasco Corporation" ging die Kontrolle über den Erzabbau (Kupfer, Blei, Zink) und die größte kombinierte Gießerei-Anlage der Erde für Nicht-Eisenmetalle in staatliche Hände über (heute „Centromin"). 1975 wurde die „Marcona Mining Corporation" nationalisiert (heute „Hierroperu"). 23

Die staatliche Erdölgesellschaft „Petróleos del PerúVPetroperú verfügt nach der 1968 erfolgten Verstaatlichung der Förderanlagen einer amerikanischen Gesellschaft fast über die gesamten Förderungskapazitäten. Eine Reihe von Versuchsbohrungen wurde bisher im Amazonasgebiet und auf dem Festlandsockel an der Nordwestküste vorgenommen. Dabei wurden im nördlichen Tiefland beträchtliche Lagerstätten entdeckt. Die Erdölfernleitung, die den am Rio Marañón gelegenen Ort San José de Saramuro im Departamento Loreto mit dem Hafen Bayóvar verbindet, wo das Rohöl verarbeitet oder verschifft wird, ist seit 1977 in Betrieb. Damit wurde die Energieversorgung des Landes wesentlich verbessert und der Aufbau eines neuen Petrochemie-Komplexes ermöglicht. Die Erdölförderung stagniert in den letzten Jahren bei etwa 9,6 Millionen Tonnen. Die Hauptstandorte der Industrie sind Lima-Callao, Chimbóte und Chiclayo. Trujillo wurde zu einem bedeutenden Industriezentrum ausgebaut (Fahrzeug-, Maschinen- und Gerätebau). Die handwerkliche Verarbeitung von Wolle, Baumwolle, Häuten und Fellen hat für die Versorgung der Bevölkerung im Landesinneren große Bedeutung. Das Textilgewerbe, in dem die relativ meisten Betriebe bestehen, verarbeitet Wolle, Baumwolle, Jute und synthetische Fasern. In der Nahrungsmittelherstellung ist u. a. die Erzeugung von Zucker, Fisch- und Pflanzenölen sowie Fleisch- und Fischkonserven wichtig. Die chemische Industrie ist in den letzten Jahren stark ausgebaut worden (Herstellung von Düngemitteln, Kunstfasern, pharmazeutischen Produkten, Farben u. a.). Das Eisen- und Stahlwerk der staatlichen Gesellschaft „Empresa Siderúrgica del PerúVSiderperú in Chimbóte ist das größte seiner Art in Peru. (Daten aus: STATISTISCHES B U N D E S A M T WIESBADEN. Statistik des Auslandes. Länderbericht P E R U 1984, Stuttgart und Mainz, 1984.)

2.2 Soziale Faktoren und Gesundheitswesen Peru als Beispiel eines lateinamerikanischen Landes zeigt die Schwierigkeiten, eine medizinische Versorgung seiner Einwohner abzusichern, 24

wenn eine diagnostische und therapeutische Praxis allein die neuesten Methoden und Erkenntnisse einer modernen Medizinwissenschaft gelten läßt und traditionell bewährte Heilpraktiken nicht unterstützt oder sie sogar verfolgt. Daß unter den beschriebenen geographischen und ökonomischen Bedingungen eine optimale Gesundheitsversorgung der Bevölkerung problematisch ist, mag einleuchten. Trotzdem wäre es sicher denkbar, daß man alle Möglichkeiten nutzen würde, die sich im Rahmen einer Kooperation und Zusammenarbeit zwischen Tradition und Gegenwart anbieten. Die medizinische Versorgung in Peru erfolgt für die dominierende Klasse oder sogenannte Oberschicht (wenn man unsere soziologischen Klassifizierungskritierien benutzen will) streng nach den Methoden und Maßnahmen einer „modernen" Medizin in unserem Sinne. Um sich ein Bild über die medizinische Versorgung der übrigen Bevölkerung machen zu können, ist es notwendig, den Standort der Gruppen oder Personen innerhalb der peruanischen Sozialordnung zu bestimmen, die nicht nach den traditionellen soziologischen Gesichtspunkten erfolgen kann, da die Bedingungen in Peru eine Vielzahl von Variablen zeigen, die das Bild der sozialen Klassen verzerren würden, wenn man sie nicht in genügendem Maße berücksichtigt. DELGADO wies darauf hin, daß die üblichen Indikatoren zur Determinierung der Gesellschaftsschichten, wie Eigentum, Einkommensniveau, Bildungsniveau und Beschäftigungsverhältnis sowie das marxistische Kriterium, nämlich der Grad der Beteiligung am Produktionsprozeß, nicht ausreichen, eine Klassifizierung der sozialen Klassen in Peru zu bestimmen. Andere Daten, wie zum Beispiel das Verhältnis zwischen Küste und Binnenland (Anden und Urwaldgebiet), die Relation Stadteinwohner - Landeinwohner, die verschiedenen ethnischen Gruppen wie Indianer, Neger, Mestizen, Weiße, müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Aufgrund dieser zahlreichen Faktoren spricht DELGADO ungern von Gesellschaftsschichtungen, er benutzt lieber den Begriff Zusammensetzung der Bevölkerung. Er schlägt eine Klassifizierung in 4 Gruppen vor: 1. Eine soziale Welt totaler „Marginalisierung" (Urwaldtribus ohne festen Standort), 2. Dominierte Sektoren, wie die Land- und Indianerbevölkerung, 3. Zwi25

schensektor, bestehend hauptsächlich aus abhängigen Gruppen der Städte und Mestizen, und 4. Die herrschende Klasse, die vor allem in den großen Städten wohnt und weißer Rasse ist. Bei den Reisen durch das Land wird einem klar, daß die Küstenstädte und -dörfer Vorteile gegenüber dem Binnenland aufweisen, ebenso ist das Lebensniveau der Städter deutlich höher als das der Landbevölkerung. Lediglich ein Teil der arbeitenden Bevölkerung wird von der modernen Medizin in unserem Sinne versorgt, und zwar diejenigen, die einen sicheren Arbeitsplatz haben. Der Rest der Einwohner der großen Städte, diejenigen, die in den Elendsvierteln, den sogenannten barriadas wohnen, werden zum Teil durch freiwilligen Dienst von Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern versorgt. Diese Gruppen arbeiten kostenlos oder für ein geringes Honorar, das sie vom Patienten oder von Hilfsinstitutionen wie Wohlfahrtsverbänden oder kirchlichen Vereinen erhalten. Die barriadas, die sowohl innerhalb der Städte als auch an der Peripherie entstehen, sind ein Produkt der beschleunigten Verstädterung, die sich in Peru vollzieht. In Lima zum Beispiel hat sich die Einwohnerzahl zwischen 1940 und 1961 verdreifacht, sie macht heute fast ein Drittel der gesamten Einwohnerzahl Perus aus (Lima 4,75 Mill. und Callao 450 Tsd.), und wächst, trotz der Gegenmaßnahmen der Regierung, ununterbrochen weiter. Die barriadas sind Ausdruck der Veränderung, die sich innerhalb der peruanischen Gesellschaft vollzieht. Dieser Prozeß ist irreversibel und spielt mit Sicherheit eine bedeutende Rolle in dem Resozialisierungsprozeß der peruanischen Einwohner, d. h. derjenigen, die eine Entwicklung im ländlichen Bereich durchgemacht haben und jetzt als Stadtbewohner anderen Lebensbedingungen unterliegen. Die barriadas sind ein Faktor, der nicht ignoriert werden darf. Sie müssen bei der sozialen Planung, bei den Verbesserungen von Infrastrukturen voll berücksichtigt werden. In den barriadas wurden aus eigener Kraft durch ihre Einwohner ca. 1 Million Wohnungen gebaut, wobei der Staat kaum ökonomische Hilfe geleistet hat. Aufgrund dessen müssen die

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barriadas in der gesamten Wirtschaft des Landes als ein positives Faktum angesehen werden. Als ein Produkt der „beschleunigten" Verstädterung müssen auch die tugurios angesehen werden. Diese sind Gruppen von Hütten, meist unter 30 qm Fläche, die in den schmalen Wegen zwischen den Häusern, senkrecht zu den Straßen liegen (callejones), oder hinter den Häusern, meist ohne direkten Zugang zur Straße (corralones), und auf den Terrassen oder Dächern der größeren Gebäude (tugurios de azotea), meist aus Adobe (s. Glossar) gebaut werden. Die Lebensbedingungen in diesen Wohnungsgruppen sind schlimmer als in den barriadas, die staatliche Hilfe existiert für diese Gruppen nicht. Die medizinische Versorgung wird in den barriadas zum größten Teil von den Volksmedizinern, den sogenannten curanderos, sichergestellt. Hier erlebt man, wie Medizin sowohl im modernen als auch im traditionellen Sinne in den Gesellschaftsgruppen verankert ist. Bei den Einwohnern, die aus dem Gebirge bzw. Urwald gekommen sind und längere Zeit in den barriadas wohnen, besteht zunehmend die Tendenz, sich in den Krankenhäusern bzw. vorhandenen Ambulatorien behandeln zu lassen, wenigstens für den Krankheitsbereich, der von den Medizinmännern nicht erfaßt wird, die sogenannten „Krankheiten des Gottes", das sind die „natürlichen" Krankheiten. (Diese Krankheiten werden der „modernen" Medizin überlassen, die für deren Ursache eine „natürliche" Erklärung hat.) Hier spielen ökonomische Bedingungen eine große Rolle, denn diese Einwohner verfügen über keine Krankenversicherung und müssen selber die teurere medizinische Versorgung bezahlen. Dadurch wird vielen Soziologen bereits klar, daß die Klassen bzw. Schichtungen der Gesellschaft hier nach anderen Kriterien zu beurteilen und nicht in die Trilogie Ober-, Mittel- und Unterschicht einzuordnen sind. Nicht jeder kann sich eine ärztliche Behandlung „leisten". Die Funktion der Medizin als bindendes Glied zwischen den Individuen einer Gruppe oder der Gruppe überhaupt wird in den barriadas deutlich, auch ihre Effizienz als angstbewältigende Institution. Hier spielt eine Rolle, wie Medizin, die an überlieferten Methoden festhält, ihre gesellschaftliche Rolle erfüllt, Menschen in der materiellen und psychischen N o t zu helfen. Man kann Bereiche in diesen Elendsvierteln erleben, in 27

und den curanderos bereits selbstverständlich geworden ist, wo der Arzt sich wohl seines Wissens bedient, aber auch bereit ist, volksmedizinische Methoden zu akzeptieren, so wie der curandero seine Praxis fortsetzt und dabei auch die von den Ärzten erfahrenen Kenntnisse zugunsten seiner Patienten anwendet. Man kann aber das Gegenteil ebenso erleben, da eine „moderne" Medizin sich anmaßt, Universalität für sich zu beanspruchen, und jede andere Heilweise, auch die traditionell bewährte, ablehnt, was zur Folge hat, daß manche Arzte mit Hilfe der geltenden Gesetze eine Verfolgungsjagd auf die curanderos betreiben, ohne Rücksicht darauf, daß die Mehrheit derjenigen, für die sie ihre Medizin anwenden wollen, allein Vertrauen in die traditionelle Medizin hat. DROBEC ist in seiner Arbeit zur Geschichte der Medizin der Meinung, daß Arzte unter den Feldforschern besonders prädestiniert wären, sich gerade der Rationalmedizin der Naturvölker zuzuwenden; „daß das aber meist nicht geschehen ist, sondern auch von ihnen hauptsächlich magische Praktiken aufgezeichnet wurden, beruht wohl auf der Mißachtung der Heilpraktiken der Primitiven im europäischen medizinischen Denken". Die curanderos in den barriadas, aber auch in anderen Gebieten Perus, sind sich ihrer Fähigkeit bewußt und unterscheiden ganz klar zwischen Krankheiten, die von ihnen geheilt werden können, und Krankheiten, die wir in unserer Medizin als psychosomatisch bezeichnen würden. Sie wissen aber auch, daß schwere Infektionskrankheiten sowie komplizierte chirurgische Probleme von ihnen nicht bewältigt werden können, und sind sofort bereit, wo es möglich ist, den Beistand der Arzte aufzusuchen und zu befürworten. Erfreulich ist, wenn es im umgekehrten Sinne erfolgt, d. h., daß der Arzt, wenn er seine Grenzen erkennt und die Krankheiten nicht bewältigen kann, die Hilfe des curanderos in Anspruch nimmt. „Nachdem die Therapia magna sterilisans und die Zellurlarpathologie nicht alle in sie gesetzten Hoffnungen befriedigen konnte, ist man über eine stärkere Berücksichtigung der Bedeutung des Nervensystems und der vegetativen Zentren dazu zurückgekehrt, der Psyche im Krankheitsgeschehen und in der Therapie eine größere Geltung beizumessen. Die psychosomatische Medizin, die Ganzheitsmedizin, sucht wieder 28

den Anschluß an die individuelle Persönlichkeit und deren Behandlung." (DROBEC) Die meisten Arzte lehnen heute die therapeutischen Maßnahmen der Medizinmänner ab, weil dabei Zauber und Magie im Mittelpunkt der Handlungen stehen. Jedoch . . . „Heute beginnt man, die Medizin der Naturvölker und die sich daraus ergebenden Probleme aus einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen und einer historischen Kulturauffassung heraus zu beurteilen. Kultur gilt mehr als Zivilisation, der Homo sapiens mehr als der Homo faber. Der Mensch ragt in seiner Geistigkeit weit über die Triebhaftigkeit des Tieres hinaus. Die Kluft zwischen Naturvölkern und uns ist keineswegs so groß, als man einst angenommen hatte. Vieles, was als Zauberei oder Kuriosum angesehen wurde, erweist sich bei eingehender vorurteilsloser Forschung als durchaus vernünftige Einrichtung." (DROBEC) Das Vertrauen, das die Bewohner der Elendsviertel in die traditionelle Medizin haben, ist dadurch zu erklären, daß sie zum größten Teil aus den Anden oder den Urwaldregionen stammen, also aus Landesgebieten, die keine andere Hilfe bei Krankheit und anderer Lebensnot kennen, als die der Volksmedizin. In den Andenweilern besteht insofern eine andere Situation, als der curandero voll in die Gruppe integriert ist, im Kollektiv hilft er und nimmt dabei die Unterstützung der Gruppe in Anspruch. Sein Handeln zielt in seltenen Fällen nach persönlichen ökonomischen Vorteilen. In den kleinen Städten der Anden und des Urwaldes sind die Bedingungen für die meist aus den großen Städten stammenden Arzte wenig attraktiv, denn diese sind an ein Leben mit anderen Erfahrungen und Bedingungen gewöhnt, und sie wirken in diesen Gegenden wie Fremde. Eine Integration in das Kollektiv ist kaum möglich oder kommt selten zustande. Aus diesen Gründen findet man nur in einigen Städten der Andentäler Ärzte, die, auch wenn sie nicht unbedingt mit den curanderos kooperieren, wohl aber deren Fähigkeiten und Wirkungen zu schätzen wissen und respektieren. In einigen, leider seltenen Fällen, kommt es bei Ärzten, die aus diesen Andengegenden stammen, zu einer intensiven Zusammenarbeit mit den Volksmedizinern. 29

Einige Ärzte, die in den Urwaldmissionen praktizieren, sind von kirchlichen Verbänden eingestellt und finanziert. Kirchliche Institutionen, zum Teil aus dem Ausland, leisten in gewissem Sinne eine Vermittlungshilfe, sowohl in materieller Hinsicht, indem sie kleine Ambulatorien einrichten oder Medikamente spenden, wobei aber selten eine Kooperation der Arzte mit den curanderos erlebt wird, als auch in einigen schwierigen Fällen, wenn zum Beispiel der Arzt oder der curandero nicht an Ort und Stelle zum Erfolg kommen, bieten sie Hilfe beim Transport der Kranken in geeignete Krankenhäuser. Dieses geschieht allerdings nur, wo die Indianer durch den neuen „Sozialisationsprozeß" einerseits die kulturellen Verhaltensweisen der Missionare übernommen haben und wo sie andererseits durch das Erleben von Erfolgen der Arzte bei Krankheiten mehr Vertrauen in die „moderne" Medizin gewonnen haben. Dies erlebt man in den Urwaldgebieten, wo die Menschen sehr isoliert in ihren Gemeinschaften wohnen. Die medizinische Versorgung unterliegt hier fast ausschließlich den curanderos, die hier einen kaum zu ersetzenden Dienst im traditionellen Sinne gewährleisten. Bei Berücksichtigung der ökonomischen Situation und der Lebensbedingungen der verschiedenen Völkergruppen und aufgrund des bisher Gesagten wird es dem sozial denkenden Menschen offensichtlich, daß in der Gesundheitsversorgung Perus noch eine enorme Arbeit zu leisten ist. Die „peruanische Revolution" (1968-1975) hat für Teile der Bevölkerung eine erhebliche Besserung ihrer existentiellen Lage bedeutet, auch wenn diesbezüglich die Meinungen der sogenannten Experten auseinanderklaffen. Bei der Entwicklung, die man in dieser revolutionären Zeit beobachten konnte, wäre es durchaus denkbar, daß die Krankenversorgung sowohl bei der Stadt- als auch bei der Landbevölkerung, die parallel zu einer Verbesserung der infrastrukturellen Maßnahmen erfolgen muß, sich positiv entwickelt hätte. Allerdings benötigt man dazu demokratische Strukturen im Verwaltungsapparat, die eine gerechte Planung zugunsten der gesamten Bevölkerung ermöglichen. Der begonnene Prozeß wurde 1975 unterbrochen, die existentielle Lage breiter Bevölkerungsschichten stagnierte, zum Teil verschlechterte sie sich in den letzten Jahren erheblich. Es ist gegenwärtig wenig wahrscheinlich, daß 30

der bestehende Verwaltungsapparat, der aus einer Zeit kolonialer Herrschaft herrührt, zu einer Anstrengung hinsichtlich der Besserung der Situation der Kranken, der Notleidenden, der Armen bereit ist. Zur Lage in Peru schreibt G A L E A N O : „In den letzten Tagen des Jahres 1977 starb Juan Velasco Alvarado auf einem Operationstisch. Sein Sarg wurde auf den Schultern seiner Anhänger inmitten einer Menschenmenge zum Friedhof getragen, wie sie die Straßen Limas noch nie gesehen hatten. General Velasco Alvarado, geboren in einem bescheidenen Haus im trockenen Norden Perus, hatte einen Prozeß sozialer und wirtschaftlicher Reformen begonnen, der als der umfangreichste und tiefgreifendste Versuch einer Veränderung in der gegenwärtigen Geschichte seines Landes angesehen werden kann. Seit ihrer Machtübernahme im Jahr 1968 hatte die peruanische Militärregierung eine wirkliche und umfassende Agrarreform begonnen und den Weg geöffnet für eine Zurückeroberung der vom ausländischen Kapital an sich gerissenen natürlichen Ressourcen des Landes. Aber als Velasco Alvarado starb, war schon lange vorher dieTotenmesse für seine Revolution gefeiert worden. Dem Revolutionsprozeß war nur ein kurzes Leben beschieden: er wurde abgewürgt durch den Druck der Geldgeber und Finanziers, aber auch durch die Fragwürdigkeit, die jedem paternalistischen Versuch innewohnt, der ohne eine organisierte Volksbasis unternommen wird."

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Menschliche Figur am Tempel Cerro Sechin (ca. 300 - 500 n. Chr.), die den Ausdruck von Schmerz eines verletzten Kriegers darstellt. (Zeichnung: „miquique")

Diese Figur am Tempel Cerro Sechin zeigt plastisch den Ausdruck von Schmerz. Die Tränen stürzen diesem Menschen aus den Augen. (Zeichnung: „miquique")

Darstellung des „Magen-Darm-Traktes" am Tempel Cerro Sechin. Ein Hinweis auf die Anatomie-Kenntnisse der frühen Peruaner. (Zeichnung: „miquique")

Menschliche Figur am Tempel Cerro Sechin, die vermutlich den Ausdruck von Schmerz eines verletzten Kriegers darstellt. (Zeichnung: „miquique")

3. Soziale Strukturen und Volksmedizin Die emotionalen, psychologischen und anthropologischen Aspekte der Krankheit werden mitunter als Phantasien derjenigen betrachtet, die sich für diese Aspekte bzw. für die Beschäftigung mit diesen Aspekten einsetzen. In unserem Kulturbereich wird bei der Ausbildung der Arzte der emotionale Bereich des Kranken eher außer Acht gelassen. In Peru erfolgt das Medizinstudium unter Bedingungen, die den westeuropäischen bzw. nordamerikanischen ähnlich sind. Die Versorgung der Patienten in Peru und Ländern, die unter gleichen oder ähnlichen Voraussetzungen leben, wird mit Sicherheit nicht gewährleistet werden können, solange die medizinische Ausbildung die spezifischen Lebensbedingungen und die kulturellen Aspekte der Anden- und Urwaldbewohner nicht berücksichtigt, da diese eine wesentliche Rolle bei der Entstehung, dem Verlauf und der Heilung der Krankheit spielen. Die Volksmedizin in Peru wird von Traditionen geprägt, die bereits vor dem Inkareich Gültigkeit hatten, deren Beschreibung sich jedoch leider auf Fragmente reduziert, die im Laufe der Jahre von den Archäologen aufgefunden wurden. Uber die Volksmedizin im Inkareich existieren zahlreiche Informationen, die einerseits über die hohe Entwicklung dieser Medizin Aufschluß geben, andererseits den Beweis liefern, daß die heutige Volksmedizin Perus trotz aller Einflüsse der westlichen „modernen" Medizin fast unverändert geblieben ist. VALDIVIA PONCE (1964) weist darauf hin, daß die Geschichte der Medizin als Ausdruck der peruanischen Kultur sich im Zusammenhang mit den Etappen zeigt, die die kulturellen Momente des Kampfes des Menschen gegen die Krankheit und gegen den Tod darstellen. In Bezug auf spanische Geschichtsschreiber, die das Bild der damaligen Medizin Perus verzerrt wiedergeben, berichtet er, daß diese von ihren starken subjektiven Reaktionen und von den Interessen, Motivationen und eigenen Projektionen ihrer Kulturbegriffe geprägt waren und folglich zum Ethnozentrismus neigten. In diesem Zusammenhang sei auf SHEIKH-DILTHEY hingewiesen, die im Ethnozentrismus die schlimmsten Hindernisse für die vergleichende Forschung sieht, ebenso wie im Denken einer Dichotomie von 36

Körper und Seele, das sich in der mit Absolutheitsanspruch operierenden sogenannten objektiven Wissenschaft breitgemacht hat. In der Inkagesellschaft stellte der Inka, absoluter und despotischer Herrscher, die höchste politisch-rechtliche Autorität dar. Er wurde für den Sohn Gottes (der Sonne = inti) gehalten. Seine autokratische Regierung war im wesentlichen militärischen und imperialistischen Typs. Die soziale Organisation der inkaischen Gesellschaft war kollektivistisch, wobei die Grundeinheit dieser Organisation der ayllu war, den ökonomische, verwandtschaftliche, territoriale und religiöse Bindungen kennzeichneten. Die Eigentümlichkeit des Inkareiches war ausreichender Grund für Wissenschaftler aller Bereiche und Schattierungen sowie für Chronisten und Literaten, sich mit ihm zu beschäftigen. Dementsprechend entstand eine Vielfalt von Meinungen und Aussagen, die hier Berücksichtigung finden müssen. BAUDIN zitiert Autoren, die das Inkareich als sozialistisch bezeichnen, weil in Peru der Boden Allgemeineigentum war, und andere, die der Auffassung sind, daß die peruanischen Herrscher sich darauf beschränkten, diese Agrargemeinschaften so zu belassen, wie sie waren, weil sie sich am Beginn jeder Zivilisation überall befanden und die Zellen der primitiven Gesellschaften bildeten. Er selbst sagt, daß das Wort Sozialismus zum Irrtum verleiten kann und daß man es oft mißbraucht. Weiterhin führt er aus, daß das inkaische Peru auf keinen Fall ein sozialistischer Staat in reiner Form ist. Es erinnert jedoch an andere Staaten der Antike wie den ägyptischen. In Wirklichkeit existiere kein reiner Sozialismus, genauso wenig wie ein perfekter Individualismus. In Peru habe es gleichzeitig Agrarkollektivismus und Staatssozialismus gegeben, das eine aus der Zeit vor den Inka stammend, das andere durch diese Eroberer etabliert. Tatsächlich stimmen viele Wissenschaftler und Berichterstatter darin überein, daß es vor der Inka-Zeit Dorfgemeinschaften gab, die ihr Leben in ihrem Inneren nach Prinzipien gestalteten, die wir heute als demokratisch bezeichnen würden. ALDEN MASON schreibt, daß die Inka-Namen, die das Verwandtschaftsverhältnis bezeichneten, darauf hindeuten, daß sie kein Sippen-

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system mit Fremdheirat außerhalb des Stammes kannten und die Abstammung nur in direkter weiblicher Linie anerkannt wurde. In den Zeiten der Inka ebenso wie im heutigen Peru bildete der ayllu die soziale Grundeinheit des Volkes. Diese Gruppe bestand aus einer vergrößerten oder ausgedehnteren Familie, einem Unterstamm. Alle Mitglieder eines ayllu betrachteten sich als miteinander verwandt - und waren es normalerweise wohl auch. Darüber hinaus bildete der ayllu auch eine soziale Gemeinschaft und besaß ein bestimmtes Landgebiet. Der ayllu weist also viele Merkmale des klassischen „Clan" auf, und bis vor kurzem haben es die meisten Darstellungen über die gesellschaftliche Organisation der Inka fraglos hingenommen, daß der ayllu tatsächlich ein Clan sei mit allen Charakteristiken eines solchen, einschließlich Totemismus, Nachfolge in der weiblichen Linie und Exogamie. Wo sich die heutigen Quechua- und Aymara-Clans von dieser Grundstruktur unterscheiden, hat man angenommen, daß sie sich seit den Tagen der spanischen Eroberung verändert haben. Ein sorgfältiges Studium der frühen Chroniken ergibt jedoch, daß die Inka-ayllu keinerlei Totem kannten, daß die Nachfolge in der männlichen Linie erfolgte und die Heirat innerhalb der Gruppe (Endogamie) das Übliche war. Sofern man sich diese wichtigen Unterschiede vor Augen hält, könnte man den ayllu als Clan bezeichnen. Dieser bildete zweifellos die grundlegende gesellschaftliche und politische Gruppe in Peru, und das schon sehr früh, denn er geht weit vor das Inkareich zurück. Bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Formen der Produktion und der natürlichen Grundlagen hob EICH die Bedeutung des ayllu hervor: „Eingebettet und in permanenter Auseinandersetzung mit der extremen Vielfalt der naturbedingten Produktivkräfte, im Rahmen einer jeweils spezifischen regionalen Begrenztheit stehend, nahm die konkrete Aneignung der Natur durch die Produzenten verschiedenste Formen an. Als Allgemeinplatz verteilte sich die einer bestimmten sozialen Gruppierung zur Verfügung stehende Arbeitskraft, je nach den Notwendigkeiten ihrer Reproduktion, auf Ackerbau, Viehzucht, Fischerei, Jagen, Sammeln und Handwerk. Als übergreifende Organisationsform der ge-

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sellschaftlichen Produktion, die über das der einfachen Kooperation schon weit hinausgeht, finden wir das Ayllu." Kritisch weist EICH darauf hin, daß die sehr unterschiedlichen Erklärungen zum Begriff ayllu in der Literatur und die simultane Anwendung des Begriffs außerhalb reiner Organisationsformen die These, in ihm eine endogame Gruppierung von niedrigem ökonomischen Niveau, mit demokratischen Organisationen und basierend auf einer unilinearen Blutsverwandtschaft zu sehen, als zweifelhaft erscheinen lassen, zumal die verschiedenen durch die Inka subsumierten Völker unterschiedliche Entwicklungsgrade vorweisen. Der Begriff des ayllu müsse fließender gedacht werden, als es die Enge blutsverwandtschaftlichen Bezugs erlaubt. Er ist mehr als Gruppe zu denken, deren Einheit verwandtschaftlicher Natur ist. Je nach Größe der ethnischen Gruppierungen und deren Organisationen reicht die soziale Beziehung sicher über die direkte Verwandtschaft hinaus, behält sie jedoch als Grundlage bei. Es trifft ein Begriffsverständnis von sozialer Verwandschaft zu, die das eng genetische Prinzip erweitert, mit ihm übereinstimmen kann oder auch nicht, eine Solidareinheit mit generalisierter Gegenseitigkeit und Anspruch auf Produktionsmittel. EICH behauptet, anders als andere Autoren, daß der ayllu auf keinen territorialen Raum bezogen ist. Die Dispersion ist vor dem Hintergrund einer sehr unterschiedlichen geographischen Ausdehnung und Verteilung der Mitglieder durch das Prinzip der Kontrolle mehrerer Produktionszonen wichtig. Schon hier soll die extrem hohe Festigkeit und Bindung dieses Produktionsverhältnisses unterstrichen werden, das verschiedenste politische und soziale Transformationen des andinen Raumes, bis in die spanische Kolonisierung hinein, und zum Teil bis heute, überdauern konnte. Nach MÜLLER-DANGO steht dahin, inwieweit es sich bei der Personengruppe, welche einem ayllu-Verband angehört, um Blutsverwandte handelt. Sie betrachtet sich jedenfalls als untereinander verwandt. Es ist sicher, daß eine Art geistiger, mystischer Verwandtschaft angenommen wurde: alle ayllu-Mitglieder führten ihre Abstammung auf gemeinsame Ahnen, acbacbila, zurück und glaubten, daß sie sich nach ihremTode mit ihnen vereinigen würden. Sie zitiert Cristobal de Molina, der 39

alte Mythen und Überlieferungen aufgezeichnet hat und von Urvätern der ^//«-Gemeinschaften berichtet, die sich nach ihrem Tod in Tiere oder bestimmte große Steine, die an ihren Geburtsorten zu finden seien, verwandelt haben sollen. Die Bedeutung, welche die ayllu als geistigkultische Einheiten haben, ist ebenso groß wie die wirtschaftliche Bindung dieser Gruppen. An der Spitze des ayllu stand im wirtschaftlichen, sozialen, politischen, rechtlichen und kultischen Bereich der Häuptling oder curaca. BRAM berichtet, daß die Eingeborenen einem sinchi oder curaca Loyalität schuldeten, den sie in den meisten Fällen persönlich kannten und der in seiner Gruppe nicht fremd war. Wenn seine Siedlung in Gefahr geriet und verteidigt werden mußte, war ihm die Ursache des Streits klar. Er kämpfte in einer ihm vertrauten Umgebung und für seine eigene Sache. Die gesellschaftlichen Beziehungen innerhalb eines ayllu waren die einer klassenlosen Gesellschaft mit kollektivem Bodenbesitz. Der curaca und seine Familie bildeten den einzigen Adel, während die Masse der Bevölkerung gleichgestellt war. Die Möglichkeiten eines wirtschaftlichen oder sozialen Aufstiegs bestanden praktisch nicht, was einen beachtlichen Grad an Stabilität in den persönlichen Beziehungen der Mitglieder garantierte. Wirtschaftlich war eine Dorfgemeinschaft autark und sie stand in der Verpflichtung, einen bescheidenen Tauschhandel mit den Nachbarsiedlungen zu treiben. Der curaca war von der Feldarbeit befreit, aber es dürfte für eine mittelgroße Gemeinschaft verhältnismäßig leicht gewesen sein, ihn und seine Familie zu unterhalten. Diese Realität des vorinkaischen Peru scheint einigen Chronisten entgangen zu sein; so berichtet CIEZA DE LEON nach Befragung von Bevölkerungsmitgliedern, „man gab mir zur Antwort, daß die Menschen ohne Ordnung gelebt hätten, daß viele von ihnen nackt gegangen seien wie die Wilden. Sie hätten auch keine Häuser und Wohnungen gehabt, nur Höhlen, von denen noch viele in den Bergen zu sehen sind. Sie aßen, was sie auf deh Feldern finden konnten." SARMIENTO DE GAMBOA macht auch in diesem Sinne Kommentare: „.. . obwohl bereits vor den Inka das Land bevölkert und voller Einwohner war, gab es kein geordnetes Gemeinwesen und auch keine Herrscher, die im gemeinsamen Einvernehmen gewählt worden wä40

ren . . . Früher lebten diese unkultivierten und ungebundenen Völker in allgemeiner Freiheit. Jeder war eigener Herr seines Hauses und seines Ackers". Und GARCILASO DE LA VEGA berichtet, daß diese Völker Perus vor der Eroberung durch die Inka in Erdhöhlen, Felsspalten und hohlen Bäumen als Wilde hausten, die gleich Bestien ihren Feinden das Blut aussogen. Sie würden sogar ihre eigenen Eltern und Kinder verspeisen. Aber nicht alle Chronisten teilten diese Auffassung; so berichtet der Dominikaner BARTOLOME DE LAS CASAS: „Während jener Zeit (gemeint ist die Zeit vor den Inka) regierten sich diese Völker durch Könige oder Oberherren, die zu ihnen in einem Verhältnis wie ältere Verwandte und Familienväter standen und von denen man annahm, daß sie alle von jenen herkamen. Ihre Gerichtsbarkeit und ihre Macht erstreckte sich nicht über die Grenzen ihrer Dorfschaften hinaus, von denen einige groß, andere klein waren. Es wurde ihnen hohe Achtung und Gehorsam erwiesen, und sie liebten und behandelten ihre Untergebenen wie Kinder. Sie achteten darauf, daß der eine dem anderen nicht Schimpf und Unrecht zufügte, und bestraften Diebstahl, Nötigung der Weiber und Ehebruch". Auch C U N O W weist auf die Verschiedenheit der Kulturhöhe der einzelnen Stämme hin, denn neben manchen Stämmen, die bereits ihre Felder künstlich bewässerten und in guten, aus adobe oder behauenen Steinen gebauten Häusern lebten, haben die Inka in den rauheren Gebirgsgegenden auf den östlichen Abhängen der Anden noch einzelne Völkerschaften gefunden, die kaum über den primitivan Anbau von Kartoffeln und etwas Quinoa hinausgekommen waren. In solche zurückgebliebenen Gegenden Einrichtungen der höher entwickelten westlichen Stämme verpflanzt und dadurch den Kulturstand gehoben zu haben, dieses Verdienst kann und soll den Inka nicht bestritten werden, aber die Kulturbringer des alten Peru waren die Inka nicht. C U N O W wehrt sich auch gegen die Aussage, die peruanischen Stämme hätten sich vor der Herrschaft der Inka in einem Zustand wüster Unordnung befunden. Größere feste Stammesorganisationen unter mächtigen Oberhäuptlingen waren allerdings nur in einigen wenigen Landesteilen vorhanden, aber eine Gliederung in Genossenschaften und 41

Territorialverbände mit Vorstehern und Kriegshäuptlingen bestand überall. C U N O W hebt den Beitrag zur Erkenntnis der vorgeschichtlichen Gesellschaftsformen hervor, den die alte Verfassung der peruanischen Stämme liefert. Erst durch sie seien die späteren sozialen Institutionen des Inkareiches verständlich geworden. Diese Fakten bezüglich des Lebens im alten Peru sind bis zum jetzigen Jahrhundert wenig berücksichtigt worden. Selbst LEWIS H. MORGAN, der die Organisation der menschlichen Gesellschaft von den Ureinwohnern bis zur Zivilisation erforschte, schenkt den Gentilgesellschaften des vorinkaischen Peru wenig Beachtung. Bei seiner Beschreibung des sozialen Systems der Azteken erwähnt er lediglich, daß „die Indianer-Dörfer der Gemarkungen Mexikos, Zentroamerikas und Perus Musterbeispiel für den Status der archaischen Gesellschaft sind, die in der vorzivilisatorischen Zeit auf der Erde existierten". Die bisherige Beschreibung soll zum Ausdruck bringen, daß die Inka nicht die Träger einer höheren Kultur waren, sondern eine Volksgruppe, die wohl die Errungenschaften anderer Kulturen für die eigene Entwicklung gebrauchte, auch wenn sie mit ihrem Beitrag zum Fortschritt vieler peruanischer Völkergemeinschaften geführt haben. MARTENS, der Ende des vorigen Jahrhunderts ca. 10 Jahre in Peru lebte, setzte sich mit diesem Problem auseinander: „Aus den Quellen ergibt sich zunächst mit vollkommener Deutlichkeit, daß die Entwicklung des Inkareiches nicht so zu denken ist, daß die Inkas als die alleinigen Inhaber und Träger einer höheren Kultur fortdauernd nur unzivilisierte Stämme dem wachsenden Reiche angegliedert haben, und überall wo das geschah, wäre die Unkultur erst durch höher organisierte Verhältnisse ersetzt worden, sondern daß gleichzeitig mit dem Reiche von Cuzco andere weiter fortgeschrittene Gemeinwesen auf demselben Gebiete bestanden haben. Diese staatlichen Gebilde waren aber an materieller Kraft den Inkas nicht gewachsen; sie wurden daher von der wachsenden Macht derselben verschlungen und gingen in den Bestand des Reiches Tahuantinsuyu über. Diese Bildungen sind Quito, im nördlichen Hochlande, Chimu und das priesterliche Gebiet von Pachacamac an der Küste und Tiahuanacu am Titicacasee". 42

MARTENS berichtet, daß die letzte große Eroberung der Inkas das Reich von Quito war. Als die Inkas dort ankamen, fanden sie einen Dialekt der eigenen Sprache, quechua, vor und ebenso eine Kultur, die mit der eigenen verwandt war. Die Chibchas, das nördlichste der höher entwickelten Völker Südamerikas, haben niemals zum Inkareich gehört; anders verhält es sich mit dem Staat Chimu. Chimu, das zweite selbständige Zentrum südamerikanischer Kultur, das gleichzeitig mit dem Inkareich bestand, lag unmittelbar an der Küste, was einzigartig innerhalb des südamerikanischen Kulturkreises war. Das politische Zentrum des Chimustaates lag in der Gegend des heutigen Trujillo, wo in den fruchtbaren Tälern und Mündungsgebieten der Flüsse eine große Menschengruppe existieren und eine erhebliche Kulturentwicklung stattfinden konnte. Durch die Bewässerungsanlagen konnten die Anbauflächen erheblich vergrößert werden. Nach MARTENS erzählt die Uberlieferung der Chimu, daß ihre Vorfahren auf Flößen vom Norden her gekommen sind. Ihre Sprache unterscheidet sich völlig von den im Hochland gesprochenen Idiomen und war bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Aussterben begriffen. Sie bevölkerten fünf nahe zusammenliegende Täler im Norden des jetzigen Peru, und die Herrscher von Chanchan (Hauptstadt des Chimureiches) erlangten allmählich die Oberherrschaft über diese. Nach und nach unterwarfen sie - wahrscheinlich auf dem Seewege - alle Küstentäler, im Norden bis nach Tumbes, im Süden bis nach Chancay. Die Inka trafen also auf eine Nation, die einen hohen Zivilisationsgrad besaß, wie auch die Versetzung der Edelmetallarbeiter von Chimu nach Cuzco beweist. Die Reste von Hafenanlagen und das teilweise gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch funktionierende Bewässerungssystem in der ganzen Gegend bezeugen die hohe materielle Blüte der Chimukultur und des Chimureiches. Es ist anzunehmen, daß die ganze Hochlandkultur mit hoher Wahrscheinlichkeit ursprünglich von den Küstentälern ausgegangen ist. Die Kultur des Inkastaates wurde auch von einem Zentrum beeinflußt, das in engem Zusammenhang mit dem Chimureich stand, nämlich der Priesterstaat von Pachacamac. Zwischen den Inka und den Herrschern von Pachacamac wurde ein Religionsvertrag geschlossen, nach 43

dem der Sonnenkult und die Verehrung des Weltschöpfers Pachacamac gegenseitig anerkannt wurden. MARTENS schreibt, daß „Pachacamac im ganzen Küstenlande in so großem Ansehen stand, daß sein ganzer Kult ungeschmälert in die Inkakultur mit überging". Dies wurde auch als Beweis dafür genommen, daß die Inkazivilisation eine fortschreitende Zusammenfassung aller früheren auf diesem Territorium vorhandenen Kulturelemente darstellt und keine mehr oder weniger unvermittelte Neuschöpfung ist. Am wichtigsten und entscheidendsten für den Nachweis, daß die Inka weder die einzigen noch die ersten Kulturträger auf südamerikanischem Territorium gewesen sind, ist für MARTENS Tiahuanacu am südlichen Ende des Titicacasees, im alten Lande der Aymaras. Er zitiert Middendorf, der den Namen als Abkürzung aus Tia huanacu haque erklärt, was „aus der Ferne herbeigezogene Menschen" bedeutet. Die ungünstigen klimatischen und geographischen Voraussetzungen dieses Gebietes, die kaum den Anbau von Nahrungsmitteln erlauben, legen den Schluß nahe, daß eine spontane Kulturbildung an Ort und Stelle nicht möglich sein konnte. MARTENS nimmt deshalb an, daß die Erbauer von Tiahuanacu ihre Kultur anderswo als auf der rauhen Puna erworben haben müssen. Diese Anschauung wird auch durch den Namen dieser Kulturstätte bestätigt. Es ist jedoch nicht klar, welche Gründe die Anlegung der großen Bauten am Südende des Titicacasees veranlaßt haben. Chronisten und Forscher stimmen darin überein, daß Tiahuanacu älter als das Inkareich ist, einige davon gehen über diese Feststellung hinaus und behaupten, daß „in dieser Gegend am Titicacasee der Ausgangspunkt der Inka zu suchen ist" (MARTENS). Man vermutet, daß die Aymaras das älteste Kulturvolk des Hochlandes sind. Die Aymaras sollen auch die Erbauer von Tiahuanacu gewesen sein und die Inka wahrscheinlich ein Stamm dieses Volkes, der dieses Gebiet verließ und in Cuzco das Zentrum der Inkakultur gründete. Als die Inka nach Cuzco kamen, fanden sie bereits Stämme vor, die sich dort angesiedelt hatten. Es handelte sich um kleine Dorfgemeinschaften, die keine organisierte staatliche Macht bildeten. Es war für die Inka nicht schwer, sich in der Nähe von Cuzco anzusiedeln, dort Land zu be44

setzen und als eine Dorfgemeinschaft unter vielen zu bestehen. KATZ berichtet, daß der Ubergang der Inka von einem kleinen Stamm unter vielen zu Eroberern und Beherrschern eines Weltreichs in knapp 30 Jahren erfolgte. In immer schnellerem Tempo unterwarfen sie dabei einen Teil des Andengebietes nach dem anderen. Als Ausgangspunkt der Eroberung, als Durchbruch zur Weltmacht sehen die meisten Historiker die Mitte des 15. Jahrhunderts an, und zwar das Jahr 1438. In diesem Jahr entschlossen sich die Chancas, eine nördlich des Tals von Cuzco wohnende Stammesföderation, die Inka zu unterwerfen. Sie stießen dabei bis zu den Toren der Stadt Cuzco vor. Eine Reihe von Chroniken, in denen nach der spanischen Eroberung die mündlich festgehaltenen Traditionen der Inka aufgezeichnet wurden, erzählt, daß der damalige Inka Viracocha und sein von ihm bestimmter Nachfolger Urco von Panik ergriffen bereit waren, die Inkastadt den Chancas zu überlassen, und die Stadt verließen, um in einer weitab von Cuzco gelegenen Festung Zuflucht zu finden. Verzweifelt wandte sich nun der Inkaadel an einen anderen Sohn Viracochas, Inka Yupanqui, und bat ihn, „die Führung des Krieges für das Wohl aller zu übernehmen". Es gelang Inka Yupanqui, die Chancas von Cuzco zurückzudrängen, und ihnen schließlich eine entscheidende Niederlage zu bereiten. Die Chroniken erzählen, daß dieser Sieg seinen Vater Viracocha wenig begeisterte; denn er sah dadurch seine eigene Position als Inka und die seines Lieblingssohnes Urco als Nachfolger erschüttert. Deshalb versuchte Urco mit seines Vaters Einverständnis, Inka Yupanqui zu töten. Das gelang nicht, und Urco fiel selbst bei dem mißglückten Attentat. Inka Yupanqui zwang nun in einer dramatischen Zeremonie seinen Vater, vor versammeltem Volk seine Inkawürde an ihn abzutreten, und ließ sich zum Inka unter dem Namen Pachacutec, „Der Veränderer", ernennen. Unter Pachacutecs Führung begann ein gewaltiger Siegesfeldzug der Inka. Zunächst wurden die Klein- und Kleinststaaten um das Tal von Cuzco unterworfen. Danach marschierten die Inkaarmeen in das südliche Hochland um den Titicacasee. Sie verbündeten sich mit Chucuito gegen seinen Widersacher, den Hochlandstaat von Hatun Colla. Da-

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nach unterwarfen sie ihre alten Verbündeten, denen die kleineren Staaten des Hochlands folgten". Nach PRESCOTT war der erste Schritt, den die Regierung nach der Unterwerfung eines Landes tat, dort die Anbetung der Sonne einzuführen. Tempel wurden gebaut und einer zahlreichen Priesterschaft übergeben, welche dem besiegten Volk die Geheimnisse ihres eigenen Glaubens enthüllte und es durch die Entfaltung seiner glänzenden und prunkvollen Zeremonien blendete. Dennoch wurde die Religion des Besiegten nicht geächtet. Die Sonne mußte vor allem angebetet werden, aber die Götzenbilder ihrer eigenen Gottheiten wurden nach Cuzco gebracht und in einem der Tempel aufgestellt, um ihren Rang unter den geringeren Gottheiten des peruanischen Pantheons einzunehmen. Um die Festigung ihrer neuen Eroberungen zu sichern, befahlen die Inka eine Volkszählung und eine genaue Untersuchung über Erzeugnisse, Beschaffenheit und Ertragsfähigkeit des neuen Territoriums. Danach wurden die Ländereien nach dem gleichen Prinzip wie im Inkareich aufgeteilt. Im ganzen Gebiet des Inkareiches war der Boden in drei Teile geteilt. Ein Teil gehörte der Sonne, ein anderer dem Inka, der dritte dem Volk. Obwohl oft behauptet wird, daß die Teile gleich waren, sollen sie verschiedene Größen aufgewiesen haben. „Die für die Sonne bestimmten Ländereien lieferten ihren Ertrag zur Unterhaltung der Tempel und zur Bestreitung der Kosten für die Zeremonien des peruanischen Gottesdienstes und die zahlreiche Priesterschaft. Die für den Inka vorbehaltenen Ländereien dienten zum Unterhalt des königlichen Hofstaats sowie der zahlreichen Mitglieder seiner Familie und Verwandten, halfen auch den verschiedenen Bedürfnissen der Regierung ab. Der Rest der Ländereien war je nach Kopfstärke unter das Volk verteilt". (PRESCOTT). Nach der Eroberung eines neuen Gebietes versuchten die Inka, bei der Aufteilung des Bodens keine wesentlichen Veränderungen zu treffen, die Güter wurden so weit es ging bei ihren Besitzern gelassen, die curacas behielten Macht und Ansehen, und wenn einer von ihnen abgesetzt werden mußte, wurde er durch seinen rechtmäßigen Erben ersetzt. Um die Macht und Herrschaft im neuen Gebiet zu sichern, ließen 46

die Inka jedoch die curaca und ihre Familien für einige Zeit nach Cuzco, dem Zentrum des Reiches, kommen. Sie lernten dort die Sprache der Hauptstadt sowie Gebräuche des Hofes und allgemeine politische Richtlinien der Regierung. Danach wurden sie wieder zurückgesandt, um über ihr Volk zu herrschen. Für die eigene Treue zum Inkareich mußten sie als Bürgschaft ihre ältesten Söhne in der Hauptstadt zurücklassen. Das große Imperium „Tahuantinsuyu", (der Name bedeutet auf quechua ,aus vier Provinzen bestehend') war ein durchorganisiertes Land. Aus rechtlicher Sicht stand das Staatsrecht über dem individuellen, und die Arbeit wurde als ein universales Gesetz postuliert. Die Arbeit betraf alle Einwohner je nach Möglichkeiten und Fähigkeiten und schloß auch Alte und Kinder ein. Das Privateigentum existierte nicht. Die Gesetze drangen sehr häufig in die private Sphäre vor, um das Leben des Individuums zu regeln. Sie überschritten den streng juristischen Bereich, denn sie galten als göttlichen Ursprungs, und über sie durfte nicht diskutiert werden. Uber die Anwendung der Todesstrafe gibt es keine einstimmigen Aussagen, doch sie wurde vermutlich bei Delikten gegen die religiösen Gesetze, bei Sexualdelikten gegen die „Jungfrauen der Sonne", bei Verrat und Diebstahl verhängt. PRESCOTT schreibt dazu: „Die Gesetze gingen vom Herrscher aus, der eine göttliche Sendung ausübte und überhaupt göttlicher Natur war. Die Verletzung der Gesetze war nicht nur eine Beleidigung der Majestät des Thrones, sondern eine Gotteslästerung. Das leichteste Vergehen verdiente, so betrachtet, schon den Tod, und das schwerste konnte keine größere Strafe nach sich ziehen. Bei der Vollziehung ihrer Strafen zeigten sie jedoch keine unnötige Grausamkeit, und die Leiden des Opfers wurden nicht durch die bei wilden Völkern so häufigen ausgesuchten Qualen verlängert". Obwohl die Arbeitspflicht alle betraf, gab es Arbeiten, die von den Inka, Priestern und curaca nicht durchgeführt wurden. So schreibt PRESCOTT, daß alle Ländereien allein vom Volk bestellt wurden. Zunächst wurde für den Anteil der Sonne gesorgt, dann kümmerte man sich um die Acker der Greise, der Kranken, der Witwen, der Waisen und der im Felde befindlichen Krieger. Erst dann durfte das Volk seinen eigenen 47

Boden bearbeiten, jedoch unter der Verpflichtung, daß jeder seinem Nachbarn zu helfen habe, wenn irgendein Umstand es erforderte. Zuletzt wurde der Acker des Inka bestellt, und zwar mit großer Feierlichkeit gemeinschaftlich von der ganzen Bevölkerung. Die Viehherden waren ausschließlich Eigentum der „Sonne" und der Inka, das Volk versorgte sie, hatte aber auch eigenen Nutzen aus der Lama- und Alpakahaltung. „Zur festgesetzten Zeit wurden sie alle geschoren und die Wolle in die öffentlichen Vorratshäuser abgeliefert. Hierauf bekam jede Familie so viel, wie zu ihrem Bedarf erforderlich war, für die Weiterverarbeitung durch die weiblichen Mitglieder der Haushaltung, die im Spinnen und Weben wohl bewandert waren. Wenn diese Arbeit vollbracht und die Familie mit einer groben, aber warmen Bekleidung versorgt war, die zu dem kalten Klima des Gebirges paßte, mußte das Volk für den Inka arbeiten". (PRESCOTT). Beschäftigung gab es im Inkareich für alle, vom fünfjährigen Kind bis zum alten Menschen. Niemandem außer den Schwachen und Kranken wurde Untätigkeit erlaubt. Faulheit war ein Verbrechen und wurde streng bestraft, wer jedoch fleißig war, wurde öffentlich gelobt und durch Belohnungen stimuliert. Obwohl es im Inkastaat weder Privateigentum noch Geld gab, ist offensichtlich, daß einige Schichten oder Gruppen der Gesellschaft eine privilegierte Stellung hatten; doch das Prinzip der Gegenseitigkeit wurde bei den unteren Schichten eingehalten und trotz des sozialen Gefälles zwischen dem Inka und dem Volk wurde sorgfältig darauf geachtet, daß ein gewisses „Wohlstandsgleichgewicht" bestehen blieb. PRESCOTT berichtet, daß ein Teil der landwirtschaftlichen und kunsthandwerklichen Erzeugnisse zur Bestreitung der unmittelbaren Bedürfnisse des Inka und seines Hofes nach Cuzco gebracht wurde. Aber der bei weitem größere Teil wurde in den Vorratshäusern der jeweiligen Region gespeichert. Die geräumigen steinernen Gebäude gehörten teils der Sonne, teils dem Inka, doch scheint der größere Teil der Vorräte für den Herrscher bestimmt gewesen zu sein. Eine weise Anordnung setzte fest, daß alles, was an den Einkünften des Inka fehlte, aus den Kornspeichern der Sonne ersetzt wurde. Aber ein solcher Fall kann selten eingetreten sein, 48

und die Vorsicht der Regierung sorgte gewöhnlich für einen großen Uberschuß, der in eine dritte Klasse von Vorratskammern gebracht wurde; ihr Zweck war, das Volk in Notzeiten zu versorgen und zuweilen einzelnen, die durch Krankheit oder Unglück in Armut geraten waren, Hilfe zu gewähren, was die Behauptung einer spanischen Urkunde rechtfertigt, daß ein großer Teil der Einkünfte des Inka auf dem einen oder anderen Weg wieder in die Hände des Volkes zurückfloß. Die Pflichten, die das peruanische Volk zu tragen hatte, waren mit Sicherheit eine große Last, denn es hatte für den eigenen Unterhalt und für den der „höheren" Gesellschaftsgruppen zu sorgen. Die Mitglieder des königlichen Hauses, der Adel, die Beamten und die Priester waren frei von Besteuerung. Dies war auch in den damaligen europäischen Staaten nicht anders und gilt im wesentlichen auch noch für die heutige Zeit. Zwar war ein sozialer Aufstieg für die Mitglieder des Volkes ebenso unmöglich wie der Erwerb von Reichtümern, doch kann man mit Sicherheit sagen, daß auch keiner der Verarmung verfallen konnte. Die Dorfgemeinschaften, die bereits vor der Inkaherrschaft im alten Peru bestanden, konnten während der Inkazeit und nach der spanischen Eroberung ihre sozialen Strukturen bis auf wenige Veränderungen bis ins 20. Jahrhundert beibehalten. VALIENTE schreibt dazu: „Der peruanische indigenismo erkannte nicht nur den vorspanischen Ursprung der comunidades, sondern betrachtete diese mit ihrem Kollektivismus geradezu als letzten überlebenden Rest der inkaischen Gesellschaft, deren Grundlagen ayni (gegenseitiger Austausch von Arbeit oder Gütern) und minka (Inka: Arbeit für den curaca) es gegenüber dem vordringenden Privateigentum an Grund und Boden und den Pressionen der haciendas (Latifundien) zu bewahren galt. Der politische Einfluß des Indigenismus führte in Peru zu einer speziellen Gesetzgebung, deren Hauptziele die rechtliche Anerkennung ihres Status und die Sicherung des gemeindlichen Bodeneigentums war, das bis zum heutigen Tag zwar innerhalb der comunidad privatisiert, nicht aber an Außenstehende verkauft werden darf. Die Uberführung der gemeindlichen Ländereien in Privateigentum begann in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Im Laufe des 20. Jahrhunderts beschleunigte sich diese Entwicklung immer mehr. Sie 49

hatte - gefördert durch das erwähnte Gesetz - die Entstehung einer sozialen Differenzierung innerhalb der comunidad zur Folge. Damit veränderten sich die vorher auf Gegenseitigkeit gegründeten Produktionsbeziehungen. Die ersten Ländereien, die in Individualeigentum übergingen, waren solche, auf denen für den Markt produziert wurde".' Nach VALIENTE sind die heute am weitesten verbreiteten Formen von Produktionsbeziehungen in den Dorfgemeinschaften: a) Die gegenseitige Hilfeleistung, für die außer ayni auch zahlreiche Regionalbezeichnungen existieren. b) Die Lohnarbeit, minga, jornal, tarea etc. genannt, kommt auf, wenn ein Bauer über viel Land verfügt, das er nicht selber bearbeiten kann. c) Der Tausch von Arbeit gegen Nießbrauchrecht. Diese Art der Beziehung ist eine der häufigsten in Dorfgemeinschaften mit Privatisierung und Konzentration von Grund und Boden. Die Landbesitzer bedienen sich der Arbeitskraft landloser Bauern. Als Gegenleistung für die geleistete Arbeit gibt man das Recht zum Nießbrauch eines Landstücks und einen gewissen Anteil an der Ernte. Diese Produktionsbeziehung trägt unterschiedliche Bezeichnungen, wie z.B. arrendamiento, pongueaje, al partir. d) Traditionell arbeiten bei Gemeinschaftsaufgaben (Instandhaltung der Wege und Bewässerungskanäle, Bau öffentlicher Einrichtungen etc.) sämtliche Mitglieder einer comunidad zusammen, doch haben die Dorfgemeinschaften zunehmend Schwierigkeiten, ihre Mitglieder zur gemeinsamen Arbeit anzuhalten. Trotz der Beeinflussung durch die katholische Kirche, die über die spanische Eroberung vermittelt wurde, konnten die Peruaner Elemente ihrer Religion bis heute erhalten. Nach ALDEN MASON war die Religion in den Zeiten des Inkareiches vom Staat eingesetzt und wurde von ihm erhalten; dies scheint übrigens unter den Eingeborenen Amerikas das einzige Beispiel einer Staatskirche zu sein. Im wesentlichen handelte es sich zweifellos um die jahrhundertealten religiösen Vorstellungen des Quechuagebietes um Cuzco. Es gab einen Hauptgott und andere mehr oder weniger wichtige Götter und Göttinen; daneben beseelte Dämonen oder Gegenstände von nur örtlicher Bedeutung (huacas) sowie körperlose und entkörperte Geister. Im späteren Inkareich entwickelte sich 50

die Religion zu einer Organisation, in der komplizierte Riten und Zeremonien eine Rolle spielten. Hauptsächlich befaßten sie sich mit der Vermehrung oder Aufrechterhaltung der Nahrungsbeschaffung und der Sorge um die Kranken. Die Kommunikation der Menschen mit dem Gott erfolgte nicht auf direkte Weise, sondern mittels des Dolmetschers oder Priesters, eines Mannes mit bestimmten geistigen Eigenschaften, die ihm erlaubten, in dem Ritus die Wünsche der Gemeinschaft dem Gott zu übersetzen und zu vermitteln. Der Priester oder Zauberer war ein Mensch mit starker Persönlichkeit, der in seiner Gemeinschaft durch seine Kenntnisse und psychische Kraft hervorragte. Die Beichte, sonst ein rein religiöser Akt, wurde auch in der Medizin als Behandlungs- und Prognosemethode angewandt. Der Totenkult war sehr ausgeprägt. Der Tod bedeutete für den Menschen das unangenehme und beängstigende Ziel des Lebens, das Ende aller vitalen Funktionen und der Existenzbedingungen. Der Kampf des Menschen war daraufhin orientiert, sich vor dem Tode zu retten. Der Tod ist die ewige Angst, gegen die der Mensch sich wehren muß, indem er gegen Krankheiten und Gefahren kämpft und indem er Phantasien schafft, die ihn den Tod als einen Ubergang zu einem anderen Leben begreifen lassen. Die Angst vor dem Schmerz und vor dem Tode sind die Grundlage für das Entstehen der Medizin. Aber nicht nur das, denn in einer Kultur, wo der Mensch unter so harten Bedingungen lebt, muß er in der Krankheit eine Instanz der Ruhe, der Erholung, ja der Zuflucht suchen, die allerdings nur vorübergehend sein darf, um die Integration in die Gruppe bald wieder zu erreichen. Die Inkamedizin ist eine Volksmedizin, d.h. sie entsteht in der Struktur und im kulturellen Milieu der Inkagesellschaft, ihre Grundlagen sind der Empirismus und die Magie. Der Empirismus entsteht als Ergebnis der Erfahrung des Menschen mit dem Trauma und mit dem Schmerz; die Magie entsteht als psychische Abwehr gegen die Unfähigkeit und Unmöglichkeit, die Naturkräfte und den Kosmos, die den Menschen bedrohen, unter Kontrolle zu bringen. Die Konzeption der Medizin des peruanischen Volkes ist eng an dessen kulturelle Struktur und dessen soziale Normen gebunden. Die Medizin sowie andere kulturelle Manifestationen sind das Ergebnis der Auflehnung eines Volkes ge51

gen die Kräfte und die Gefahren der Natur. (VALDIVIA PONCE, 1975). Die Medizin in einer Kultur ist ein Mechanismus sozialer Abwehr, der den Menschen von den Umweltgefahren befreit und das Gleichgewicht in seiner Gruppe wieder herstellt. Der peruanische Mensch, sowohl in der Inkazeit als auch heute, meint sich unterlegen gegenüber der Welt und nimmt eine passive, abhängige Haltung voller Resignation und Ohnmacht gegenüber der Natur ein. Er lebte und lebt in konstanter Angst vor den bösartigen Einflüssen, er ist geneigt, Opfer gegenüber Objekten zu bringen, die bei ihm eine gewisse Furcht entstehen lassen. Der Animismus prägt heute noch den peruanischen Menschen, die Tiere, Berge, Flüsse, Quellen, Seen, Schluchten haben Leben und Geist, der Indio kommuniziert mit ihnen in dieser passiven Form, er berichtet in seinen Erzählungen, daß die Berge sprechen, die Felsen weinen und singen. Die Flüsse und Schluchten haben ein Geschlecht, oft werden menschliche Wesen, die Opfer des Hasses und der Liebe oder der Strafe sind, in Pflanzen, in Tiere, Seen, Flüsse oder Felsen verwandelt. Einige Gruppen der Urwaldindianer reden mit den Pflanzen, als ob sie auch Menschen wären. Sie vermuten, daß die Geister ihrer Vorfahren in diesen Pflanzen wohnen. Diese kulturellen Gegebenheiten muß man berücksichtigen, wenn man die heutige Situation Perus im Hinblick auf die medizinische Versorgung in den Gebieten, die trotz der europäischen Einflüsse noch ihre Kultur behalten konnten, analysieren will und wenn Maßnahmen getroffen werden sollen, um die gesamte medizinische Versorgung der peruanischen Bevölkerung zu verbessern. Wie bereits erwähnt wurde, ist die medizinische Ausbildung in Peru wie in den meisten westlichen Ländern durch den Mangel gekennzeichnet, daß soziale, psychosomatische und anthropologische Aspekte als wesentliche Faktoren bei Entstehung und Verlauf vieler Krankheiten nicht in Betracht gezogen werden. Daß die medizinische Ausbildung dadurch unvollständig bleibt, ist wohl offensichtlich. Die curanderos erfüllen eine sehr wichtige soziale Aufgabe: ihre patienten- und gruppennahe „Tätigkeit" ist ein wichtiges Element, das im sozialen Leben Perus weiter eine große Rolle spielen muß. Nicht nur, weil sie die Vertreter einer tradierten Medizin sind, ist das Wirken der curanderos auch heute 52

noch gerechtfertigt, sondern weil sie eine wichtige Aufgabe in der peruanischen Gesellschaft erfüllen, denn sie sind oft emotionale und psychische Retter für viele Anden- und Urwaldbewohner sowie für diejenigen, die aus diesen Gegenden gekommen sind und sich am Rande der Großstädte angesiedelt haben. Dadurch, daß die Arzte im allgemeinen die kulturellen Aspekte, die sich als krankmachend auswirken können, nicht genau kennen, werden sie kaum in der Lage sein, die curanderos zu ersetzen.

3.1. Volkskrankheit In seiner Geschichte der peruanischen Medizin, und zwar in Bezug auf die Heilkunde der Indianer, berichtet LASTRES, daß es keinen bestimmten Begriff für Krankheit gibt. Für das magische Denken des Indios gibt es nur „eine Art zu erkranken". Es handelt sich um isolierte Symptome wie Schmerz, Schüttelfrost, Fieber, Schwellung oder Blutung. Es gibt keine strikten Krankheiten, sondern „spezifische Weisen zu erkranken" (TEMKIN). Anderer Meinung ist VALDIVIA PONCE (1964), der behauptet, daß der Indio, auch wenn er keinen Begriff für Krankheit im Sinne der heutigen Wissenschaft kennt, wohl eine bestimmte Meinung über Krankheit hat, denn die verschiedenartige Symptomatologie und im speziellen der Schmerz versetzen ihn in Angst, da sie sein Dasein, sein Leben und seine Existenz aushöhlen. Die Krankheit ist für den Indio das Ergebnis der Aktion äußerer und fremder Kräfte, die durch die Einwirkung der Götter, Dämonen und Geister oder durch die bösartige Aktion anderer Menschen, die über übernatürliche Mächte verfügen, in das Individuum eindringen. Die Krankheiten sind Wesen, die den Menschen als Strafe heimsuchen. Diese Strafe ist die Folge eines Vergehens gegen Normen und Gesetze, die vom Gott diktiert werden. Auch der „böse Gott" oder supay kann auf den Menschen und die Gesellschaft Einfluß nehmen, um sie zu Opfern von Krankheiten, Epidemien und anderen Übeln zu machen. In der Volksmedizin Perus kennt man Krankheiten wie den susto, den daho, das „Übel des Herzens" (sonko-nanay), das „Übel des Blicks" (mal 53

de ojeo), die Krankheiten der Luft, wie sullu-huaira, hasnu-huaira, chichu-huaira und aya-huaira, sowie die Krankheiten des Wassers und andere, wie der chucaque, die colerina, die irijua, die yahua, die kaika und noch weitere, die weniger häufig auftreten. Man unterscheidet die Krankheiten des Gottes, deren Entstehen einer natürlichen „Ursache" zugeschrieben wird, und deren Behandlung man den „modernen" Medizinern überläßt, und die Krankheiten, die nach VALDIZAN durch den Teufel, nach CHIAPPE COSTA (1972) durch den Schaden (daño) eines Feindes, verursacht werden. Die Behandlung dieser Krankheiten wird als eine Aufgabe des Volksmediziners (curandero) angesehen. Der susto ist die häufigste und typische Erklärung für Kranksein in der Andenregion, seltener im Amazonasgebiet, während der daño, zwar überall diagnostiziert wird, jedoch mehr für die Küstengebiete, insbesondere am Rand der großen Städte charakteristisch ist. Das Entstehen des susto wird dadurch erklärt, daß die Erde - die Mutter Erde (pachamama), wie sie genannt wird - dem Körper die Seele raubt. Der alleingebliebene Körper kann sich nicht ernähren und wird krank. Daño soll durch den malignen Einfluß eines Mitmenschen oder eines Feindes verursacht werden. Der Curanderismus ist eine „Institution", die vor allem die Linderung oder die Heilung der Krankheit oder des Unglücks erstrebt, die entweder durch Einflüsse der Natur oder durch die Übeltat eines feindlich gesonnenen Menschen verursacht wurden. Der Curanderismus entspringt dem Wunsch des Menschen, sich gegen Erscheinungen wehren zu können, die er sich nicht erklären kann. Dies ist aber nicht die einzige Aufgabe, denn bei näherer Betrachtung der Problematik findet man, daß der Curanderismus nicht nur die Linderung oder Heilung der Krankheit als Ziel hat, sondern auch eine zentrale Rolle im sozialen Leben spielt. Wenn man von den beiden Krankheiten ausgeht, von denen die eine durch die Natur (susto), die andere durch den Menschen (daño) verursacht werden soll, lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in beiden Konzeptionen erkennen. Beim susto steht die Beziehung Mensch-Natur im Vordergrund. In den Andenregionen ist die Natur für den Menschen die Quelle aller Eventualitäten, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Denn der Mensch findet in ihr die öko54

nomischen Ressourcen für sein Überleben. Der Mensch ist von der Natur abhängig, und gerade deshalb wird der Erfolg oder Mißerfolg des persönlichen und sozialen Lebens von dem bestimmt, was ihm die Natur gibt oder nimmt. Dieser Sachverhalt erklärt die therapeutischen Rituale des sustöy die darauf gerichtet sind, das wiederzuerlangen, was die Natur dem Menschen genommen hat. FRISANCHO (1973) berichtet, daß der Indio die Erde verehrt, die er pachamama nennt, und diese Verehrung gilt auch seinem Heim, d.h. seiner Hütte, seinem Hof, seinen Wiesen, seinem Brunnen, der benachbarten Schlucht oder dem nächstgelegenen Fluß, usw. Der Indio ist überzeugt, daß das Haus, der Fluß, der Berg, der Baum usw. eine Seele haben, sie haben gleich dem Menschen Hunger und Durst, sie können gut- oder bösartig sein. Deshalb muß man ihnen in periodischen Abständen Gechenke wie Getränke, Nahrung, Süßigkeiten usw. machen, was durch bestimmte Feierlichkeiten geschieht, die sogenannten „Zahlungen an den Ort" (pagar al lugar). Wenn man diese Pflichten nicht erfüllt hat, bzw. wenn man diese Feierlichkeiten vergessen hat, bemächtigt sich der Geist der Hütte, des Berges oder der Felder eines Mitglieds dieser Familie, dringt in es ein und bewirkt in ihm Schmerzen und Übelkeit. Die Indianer sagen dann, daß dieser Mensch von der Erde befallen (jallp'a japisk'a) oder von der Erde um- oder verschlungen (orak'e mankantiwa) ist. Diese Abhängigkeit führt aber zu einer solidarischen Haltung des Individuums und seiner Gruppe gegen eine so übermächtige Bedrohung des Lebens. Die Gemeinschaft ist die Struktur der Abwehr, die geschaffen wurde, um das Leben aller zu garantieren. Die Gruppe ist die gemeinsame Quelle der Produktion und Ökonomie, so daß Gefühle der Frustration, der Konkurrenz und der Aggressivität innerhalb der Gruppe selten sind. Beim daho wird die Erkrankung bzw. das Unwohlsein durch die Übeltat eines mitmenschlichen Feindes verursacht, der auf „magische" Weise den Schaden hervorruft. Die Behandlung sucht die Quelle des Übels und besteht im Auffinden des Verantwortlichen und im Entfernen der krankmachenden Substanz, die in den Körper gebracht wurde. Die Hauptursache des daho wird mit „Neid" in Verbindung gebracht, d.h. mit der Meinung, der betroffene Mensch sei das Opfer von jemand, 55

der etwas gegen ihn hat, vielleicht wegen seines Prestiges, wegen seines Erfolges bei der Arbeit oder in der Liebe, wegen seines persönlichen Glücks, wegen einer guten Stellung oder wegen der Beliebtheit bei seinen Freunden usw. Der Bewohner des Küstengebietes hat gegenüber den Menschen, die in den Andendörfern wohnen, gewisse soziale und ökonomische Vorteile, so daß er die Abhängigkeit von der Natur, die in der sierra (sierra heißt das Andengebiet in der Umgangssprache) deutlich vorherrscht, überwunden hat. Dies bedeutet aber nicht, daß er sich damit von Angst gänzlich befreien konnte, denn im Küstengebiet entstehen andere Probleme, zum Beispiel die Konkurrenz bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, die Frustrationsgefühle, die Repression und die soziale Aggressivität dieser Gebiete. Der Arbeitslohn ist die Hauptquelle des Lebens. Es hat aber nicht jeder der Küstenbewohner das „Glück", über einen regelmäßigen Lohn zu verfügen, selbst wenn dieser gering ist und nur die minimalsten Existenzanforderungen zu befriedigen vermag. Der Kampf um den Lohn bzw. der Kampf, ihn zu behalten, führt zur ständigen Konkurrenz mit den anderen, denn nur mit dem Lohn bekommt man Wohnung, Nahrung, Schulerziehung für die Kinder und ärztliche Versorgung. Der Verlust der Arbeit ist somit eine dauernde Drohung sowie Quelle von Sorge und Angst. Die rigiden sozialen Strukturen, die in diesen Gruppen bestehen, bedingen andererseits eine soziale Unbeweglichkeit. Diese ruft Gefühle der Frustration und Aggression hervor, die nicht offen abreagiert werden können und deshalb eine Verschiebung innerhalb der Gruppe erfahren. Beiden Krankheitsformen sind die Verbindungen mit grundlegenden, wenngleich regional differenten, sozio-ökonomischen Bedingungen gemeinsam. So läßt sich „Volkskrankheit" wie folgt definieren: Sie ist als Ausdruck einer Notsituation, einer Krise, einer Störung des Gleichgewichts einer Gruppe zu begreifen, wobei diese besondere Lage sich in einem oder mehreren Gruppenmitgliedern manifestiert. Als Ursache wird dabei sowohl eine Störung im Verhältnis des Menschen zur Um- und Mitwelt als auch eine Störung im Verhältnis des Menschen zu Menschen angenommen.

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3.1.1. Susto und daño als Modelle von Volkskrankheiten з.1.1.1. Der susto Der susto, die heftige psychische Alteration, die von einem Schreckerlebnis provoziert wurde, wird in der peruanischen Volksmedizin für eine wirkliche Krankheit gehalten. VALDIZAN, der sich als einer der ersten mit dieser Krankheit beschäftigt hat, berichtet, daß diese auf einem festen Glauben der Indianer beruht. Mit dem susto wird in Peru eine Symptomatologie mit einem Mythos in Zusammenhang gebracht. Nach diesem Mythos wurde beim susto die Seele (jani) von der Erde geraubt, doch kann mit magischen Zeremonien der Körper mit dem Geist wieder integriert werden. Der susto ist eine Erkrankung, die eher einen chronischen Verlauf nimmt und hauptsächlich Kinder und Jugendliche befällt. Für VALDIZAN ist der wirkliche Grund die offensichtliche Wirkung eines psychischen Traumas auf den ganzen Organismus im allgemeinen und auf das Nervensystem im speziellen. Die Krankheit susto hat verschiedene Namen in den verschiedenen Regionen-Perus, so heißt sie auch manchay, mantzage, patza, pacha cbari, manchariscca usw. Die Krankheit soll durch Angst verursacht werden. (SAL Y ROSAS, 1970, и.a.) PFEIFFER berichtet, daß man susto auch häufig unter Lateinamerikanern europäischer Abkunft (Kreolen) bis in die Südstaaten der USA findet, und zitiert RUBEL, der susto besonders in Situationen auftreten sah, wo der Betroffene die Erwartungen, welche die Gesellschaft in ihn setzte, nicht erfüllen konnte. Man unterscheidet körperliche und psychische Symptome. Die psychischen Symptome sind (gemäß unserer klinischen Beurteilungs- bzw. Beschreibungsweise) eine ängstliche Schreckhaftigkeit, eine allgemeine Phobie, besonders bei den jüngeren Patienten, und eine Depressivität, die bei den älteren beobachtet wird. Der Kranke schreckt intensiv beim geringsten Reiz, er hat Angst vor allem, sogar vor Haustieren, er zeigt Krisen von Pavor nocturnus und wird während des Schlafens mehrmals wach, man sagt auch, „daß die Erde den Kranken abwirft". Die somatischen Symptome sind allgemeine Schwäche, Appetitlosigkeit, gestörte 57

Temperaturempfindungen, besonders als Kälteempfindlichkeit. Im weiteren Verlauf der Erkrankung treten Diarrhoe und Fieber auf und ein Zustand der Unterernährung, der als michko bezeichnet wird, wobei eine Facies anaemica verbunden mit traurigem Blick und Grübeln charakteristisch ist. Diese Symptome sind zwar der einfachen Beobachtung zugänglich, doch wird zur Diagnose eine komplizierte Methode angewandt, die als Reinigung durch das Meerschweinchen flimpia delcuy) bezeichnet wird. Diese diagnostische Methode ist in der Andengegend gebräuchlich, in Lima wird auch die Reinigung durch das Ei (soba del huevo) in der Diagnostik benutzt. Bei der limpia del cuy reibt der curandero den nackten Körper des Patienten, am Kopf beginnend bis zu den Füßen, sowohl auf der Vorder- als auch der Rückseite, mit dem lebenden Meerschweinchen. Dabei entsprechen die Körperteile des Tieres den Körperteilen des Patienten, d.h., Kopf wird mit Kopf berührt, Brust mit Brust usw. Der Vorgang beginnt damit, daß der curandero das Tier mit der einen Hand an Kopf und Vorderfüßen und mit der anderen Hand an den Hinterfüßen faßt und ein Kreuz mit dem Tier in der Luft schlägt, wobei er ruft: „Im Namen des Herrn". Beim Berühren der Stirn des Patienten sagt der curandero in quechua: „Gott, helfe, das Übel zu beseitigen". Die Prozedur wird beendet, indem der Heiler das Vaterunser und das Credo betet und den Kranken bittet, dem Tier in das geöffnete Maul zu hauchen. Anschließend seziert der curandero das lebende Tier in Anwesenheit des Patienten. Er öffnet den Thorax und das Abdomen des Tieres. Das dabei fließende Blut wird in einem Behälter mit Wasser aufgefangen. Der Zustand der Gedärme und des Blutes im Wasser gibt die diagnostischen Hinweise. Außer der Diagnose susto, die der curandero aufgrund der Sektion stellt, kann er auch andere Störungen beim Patienten entdecken. Das Meerschweinchen (cuy) muß das gleiche Geschlecht wie der Patient aufweisen, außerdem soll sein Lebensalter dem des Patienten entsprechen (da ein Indio in Peru im Durchschnitt ca. 50 jähre lebt, würde zum Beispiel einem 25jährigen Patienten ein 2jähriges Meerschweinchen entsprechen, wenn man davon ausgeht, daß ein Meerschweinchen im Durchschnitt ca. 4 Jahre lebt). Nach dem Abreiben des Patienten darf dieser nicht dem Wind ausgesetzt werden, man reibt sei58

nen Hals mit einer Flüssigkeit ein, um ihn vor Windzug zu schützen. Diagnose und Therapie sind in diesem Vorgang untrennbar miteinander verbunden. Die Krankheit, die das Meerschweinchen aus dem Körper des Patienten bei Berühren herausholt, kann den curandero anstecken. Dabei empfindet dieser Atembeschwerden, Erschöpfung und allgemeines Unwohlsein, was er dem Patienten mitteilt, indem er ihm sagt, daß die Krankheit des Patienten, d.h. seine Krankheit, „sehr stark" ist. SAL Y ROSAS (1970), der aus Ancash stammt und sich deshalb im peruanischen Andengebiet gut auskannte, beschäftigte sich ausführlich mit dieser Krankheit. Er fand bei 176 Patienten, die von den curanderos als i«ifo-Kranke diagnostiziert worden waren (die Untersuchung fand im Departement Ancash statt), in ca. zwei Dritteln der Fälle chronisch-organische Krankheiten (Dysenterie, Malaria, Tuberkulose und andere), daneben konnte er häufig Unterernährung feststellen. Insgesamt fand er 64 Fälle von typischem susto, d.h. Fälle, bei denen ein Schreckenserlebnis vorausgegangen war, und 24 von atypischem, d.h., diese zeigten die typische Symptomatologie, aber keinen Zusammenhang mit einem Angsterlebnis, das als Ursache angesehen werden könnte. Eine andere Form der Diagnostik bzw. Therapie des susto ist, wie bereits erwähnt wurde, „das Abreiben mit dem Ei". Diese soba del huevo besteht im Abreiben des Körpers des Patienten mit einem oder zwei Hühnereiern. Diese Methode dient zwei Zwecken: a) der Heilung, denn die Krankheit wird dadurch aus dem Körper des Patienten herausgeholt, und b) der Diagnostik, denn die Krankheit hat sich in dem Ei gefestigt, und nachdem man es in einen Wasserbehälter entleert hat, werden die Besonderheiten seines Inhalts analysiert, die dann Aufschluß über die Krankheit geben. Der curandero sagt dabei dem Patienten: „Schauen Sie mal dort" und zeigt auf das Eigelb. „Sehen Sie nicht dort etwas wie eine abgerundete Spitze, das Ei hat ein Gewächs extrahiert". Anschließend rührt der curandero mit seinem Messer den Inhalt des Behälters um, wiederholt dabei mehrmals den Namen des Patienten und „schneidet" dann dreimal kreuzförmig die Flüssigkeit für ihn. Die Mischung, die sich im Behälter befindet, wird in der Nacht an einer Straßenkreu59

zung nach hinten gegossen, und derjenige, der ausgießt, darf nicht nach hinten schauen, denn sonst wird der Geist der Krankheit ihn befallen. Dieses Verfahren wird dreimal wiederholt. Der curandero sagt: „Es müssen sechs Eier sein, um zu wissen, was Sie haben und um die Eier zu .heilen', d.h. die Krankheit aus dem Ei zu .extrahieren'. Das Ei muß vom selben Tag sein, und die Abreibung muß man im allgemeinen dienstags oder freitags durchführen. Nach der Abreibung darf der Patient nicht baden und nicht dem Windzug ausgesetzt werden, denn es kann „umschlagen", d.h. es kann ein Rückfall eintreten. Im allgemeinen beginnt man die Abreibung, ebenso wie bei der limpia del cuy, indem man in der Luft mit dem Ei ein Kreuz schreibt und dabei „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes" spricht. Es beginnt dann die Abreibung von Teilen oder des ganzen Körpers des Patienten. Während dieser Handlung werden sieben Credi gebetet. Die Auseinandersetzung mit susto ist im wesentlichen magisch. Man unterscheidet zwei Teile, einen Hauptteil, kayaqui, (Appell), der ursächlich ist, und einen zusätzlichen oder komplementären Behandlungsteil. Der kayaqui wird in Ancash auch jani genannt und besteht in der Anrufung des von der Erde geraubten Geistes, wodurch er wieder in den Körper des Kranken zurückkehrt. Der jani wird um Mitternacht dienstags oder freitags vorgenommen und hat als Vorspiel die shokma, das ist das Abreiben und Einschmieren des Patienten mit einer Mischung aus Blättern, Blütenblättern und Mehl; danach geht der curandero - schon spät in der Nacht - zu dem für die Anrufung gewählten Ort, der oft ein Hügel eines nahegelegenen Gebirges ist. Nach einer energischen emotionalen Vorbereitung des Kranken sagt der curandero: Jetzt gehe ich zu dem Berg, Deine Seele (jani) zu holen. Wenn sie wieder zu Deinem Körper zurückkehrt, wirst Du gesunden und wirst wie früher sein. Du sollst still warten, ohne Dich zu bewegen, morgen wirst Du gesund sein". Auf der Strecke wirft der curandero die ganze Zeit über eine Mischung aus Mehl und Blumen auf den Weg, um diesen zu kennzeichnen, da er nachher von der Seele (jani) benutzt wird, wenn sie zum Kranken zurückkommt. Nach der Begrüßung des Hügels, meist mit einem christlichen Satz, sagt der curandero: „Ich komme hierher, ich wünsche, daß Du mir den jani von XY (Name des Kranken) gibst". Er offeriert 60

dem Hügel Alkohol, Tabak und Reste des coqueo (Reste nach dem Kauen der Coca). Dann steht der curandero auf und bittet die Seele zurückzukommen, indem er sie laut mit dem Namen des Kranken ruft und Zeichen mit den Händen macht. Dabei hält er in einer Hand ein Kleidungsstück des Kranken (zum Beispiel ein Hemd, eine Unterhose oder ähnliches) und wiederholt fünfmal die magische Formel: „XY (Name des Kranken) komm zurück, komm zurück, kommt mit, komm in Dein Haus zurück, komm mit, ich bin hier, komm her zurück, her zurück". Anschließend schweigt der Heiler und beginnt die Rückkehr entlang der weißen Linie des shokma, ohne den Kopf zurückzuwenden. Er führt den jani, der sich hinter ihm durch ein eigenartiges Geräusch bemerkbar macht, ein Geräusch, das sich so anhört, als trete man auf trockenes Holz. So kommt er an den Ort, wo sich der Patient in tiefem Schlaf befindet, die Türen sind geöffnet und der Raum ist dunkel und still. Der curandero gibt dem Kranken den Geist zurück, indem er das Kleidungsstück des Kranken über die Wolldecken legt. In dem Moment, da der jani das Zimmer betritt und wieder in den Körper zurückkehrt, glaubt man, ein Geräusch zu hören, als werde ein Baumast über den Boden geschleppt. Der Heiler, immer noch schweigsam, geht aus dem Zimmer und „meditiert" in einem Nebenzimmer oder nahegelegenen Flur, um den Erfolg seiner Behandlung zu sichern. Der therapeutische Erfolg des curandero bei der Behandlung des susto ist besonders hervorzuheben, gerade deshalb, weil die konventionelle Medizin bei der Behandlung dieser Krankheit scheitert. Dieses Scheitern der „wissenschaftlichen" Medizin ist unter anderem auf das Mißtrauen der Indios gegenüber den sogenannten mistis, unter denen die Arzte klassifiziert sind, zurückzuführen, weil diese, weit entfernt von der psychischen und sozialen Welt der Andenbewohner, kaum Verständnis für die Ätiopathogenese gewinnen, bei der die magische Uberzeugung eine wesentliche Rolle spielt. Zur Erklärung der Ursache des susto wird in fast allen peruanischen Volksgruppen die Fabel von der „Trennung des Geistes vom Körper" erzählt. Im Augenblick des Schocks (Schrecks) verläßt der Geist den Körper, trotzdem lebt der Mensch weiter, wenn auch geschwächt und krank. Es ist sehr schwer zu erklären, welcher Teil der Krankheit dem 61

Tatbestand des Schocks und welcher der Abwesenheit der Seele zugeschrieben wird. Als Agens dieser Entfremdung wird die Erde angesehen, die durch den „Unfall" gekränkt zu sein scheint und als Ausdruck dieser Kränkung die Seele für eine unbestimmte Zeit entführt. In jeder Region gibt es Orte, die den susto provozieren, zum Beispiel alte indianische Grabstätten (huacas). Nach E N C I N A S sind die huacas einerseits Orte des Orakels, andererseits Orte kollektiver Verehrung, da die huaca die Tradition des ayllu bedeutete sowie O r t der Präsenz der Vorfahren aller Familien und sozialer Gruppen war. Die huaca war die soziale Bindung zwischen den Mitgliedern des ayllu. Jeder ayllu hatte seine eigene huaca, aus der alle Mitglieder zu stammen glaubten. Wo es eine huaca gab, gab es einen ayllu. Bestimmte unbewohnte Flecken, Schluchten und auch Bäume, die sehr alt sind, können Menschen susto zufügen. Manchmal wird an diesen Orten die Seele entführt, ohne daß das Individuum den Eindruck des susto - des Schrecks - gewinnt. Bei allen Beschreibungen des „Raubes der Seele" erleidet der Mensch diesen Schaden aufgrund einer übernatürlichen Handlung, die von Gottheiten der verschiedenen Theorien oder von Priestern, Hexen und sogar Feinden personifiziert wird. Die Auswirkungen der Entführung der Seele sind immer negativ: Unzufriedenheit, Unglück, Krankheit usw., wobei diese Auswirkungen in jeder Volksgruppe verschieden sind. Mit den Augen der wissenschaftlichen Kritik kann man diese symbolische Darstellung einer der großen Ursachen menschlichen Leidens kaum beurteilen. Der Raub der Seele erscheint uns wie eine Struktur, die einem gewissen Grad der Entwicklung des menschlichen Denkens entspricht, die aber in jeder kulturellen Gruppe verschieden verarbeitet wird, je nach der der Gruppe eigenen Realität. Viele, die diesen Glauben besitzen, zeigen sich in der Regel unfähig, seine Bedeutung zu erklären. Abschließend ist aus dem Beschriebenen zu entnehmen, daß der susto nicht ein einfacher Aberglaube ist, sondern eine Krankheit, an der Männer und Frauen leiden, die an den Mythos der Entführung der Seele und ihre Konsequenzen glauben. Der Mythos und das therapeutische Zeremoniell spiegeln die tiefe historische Verwurzelung des traditionellen Heilens wider. Bei der Untersuchung des susto geht es auch um Fakten, 62

die das medizinische Feld überschreiten und in den Bereich der Anthropologie und der Geschichte fallen. Trotz vieler Irrtümer, die bei der Verständigung über susto zu verzeichnen sind, zeigt sich dieser doch deutlich als eine soziale Schöpfung. In der Beschreibung des Mythos und des Zeremoniells der therapeutischen Maßnahmen entdeckt sich nicht nur ein Netz von Magie und Glaube, von Beschwörungen und Ritus, sondern auch von Ausdrucksformen menschlichen Denkens aus den verschiedenen Kulturen, die im Laufe der Zeit auf das soziale Leben des Landes gewirkt haben. Manche Riten verraten eine alte animistische Inspiration. Der Mensch vergeistigte alle wahrnehmbaren oder vermuteten Dinge und konkretisierte gleichzeitig seine eigenen Anschauungen, indem er die Krankheit als Spirituelles und Materielles konzipierte, das in den Körper eintreten kann oder von einem Körper zu einem anderen wandert. Später entstand der Mythos von der Seele, die sich vom Körper entfernt, und als logische Konsequenz daraus wurde die Zurückrufung der abwesenden Seele Teil der Behandlung. Als die Entwicklung der Landwirtschaft den Kult der Erde und der Sonne vorrangig machte, wurde die Erdgottheit wichtiger Faktor für die Entführung der Seele. Zuletzt setzte sich die Überlegung durch, daß der susto durch Schreck entstand, womit der Krankheit ein faßbarer Grund gegeben war.

3.1.1.2. Der daño Der daño ist in der Volksmedizin Perus eine Krankheit, die in den drei großen Regionen des Landes vorkommt und deren Symptome chronischen Charakter haben. Eine Fülle unheilvoller Ereignisse bringt das Individuum, das die Krankheit als Schicksal erlebt, zu einem Prestigeverlust, zum Mißerfolg (VALDIVIA PONCE, 1964). Der daño wird auf Rache- oder Neidmotive zurückgeführt. CHIAPPE COSTA (1972), der den daño in einer Küstenregion im Norden des Landes untersucht hat, weist darauf hin, daß die Auffassungen über die Entstehung der Krankheiten und ihre Einwirkung auf das Kollektiv sehr eng mit den soziokulturellen Charakteristika der Gemeinschaften verbunden sind. 63

Die soziale Unbeweglichkeit, die Perspektivelosigkeit und