Krank geschrieben: Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin [1. Aufl.] 9783839417607

Die Literatur schreibt mit am kulturellen Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Dieser Band untersucht das Verhältni

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German Pages 430 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
THEORETISCHE UND METHODOLOGISCHE REFERENZDISKURSE
Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin
KONSTRUKTION WEIBLICHER UND MÄNNLICHER IDENTITÄTEN
»Ganz ungewöhnlich eindrucksfähig« Krankheit in literarischen Weiblichkeitsentwürfen des 18. und 19. Jahrhunderts
Männliche und weibliche Lesesucht Systemspezifisch differenzierte Anschlusskommunikation an den bürgerlichen Roman des 18. Jahrhunderts
»Die jungen Herren weiß und roth« J. M. R. Lenz’ Drama »Der Hofmeister« im Kontext medizinischer, juristischer und moraltheologischer Diskurse des 18. Jahrhunderts
Emanzipation und Augenlicht Sehvermögen als Motiv weiblicher Entwicklung in Elsa Bernsteins Schauspiel »Dämmerung« (1893)
Die Lust am Scheitern Ärztinnen in populärer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
Erzählsysteme der Pathologisierung Kranke Protagonistinnen in Romanen von Gabriele Reuter und Elfriede Jelinek
EINSCHLÜSSE UND AUSSCHLÜSSE
Der Kredit von Freuds Krankheitsmetaphern Zum Grenzverkehr des Wissens zwischen Wahn und Theorie
Psychiatrie als gebauter Diskurs
Pathogene Irritation als Motor der Kunst Jürg Federspiels »Die Ballade von der Typhoid Mary«
ESKALATION UND KONSOLIDIERUNG
Rhetorik der Seuche Wie und wozu man über Seuchen spricht
»Es war, als hätte das Virus mich geschwängert.« Geschlecht als Erzählparadigma in Darstellungen von Aids
Krankheit, Sexualität und Tod Zur Darstellung des Identitätsfindungsprozesses in Patrick Kokontis’ Erzählung »Entgleisungen«
Ja-Sagen zum Nein-Tun Die Krankheitsperspektive einer Randfigur in Hugo Loetschers Erzählung »Die Einwilligung«
POPULARISIERUNG UND BREITENWIRKSAMKEIT
Mad Scientists im Dienst eines uralten Menschheitstraums? TV-Dokumentationen über Forschungen zur Lebensverlängerung
Zeitbombe im Unterleib Eine Boulevardzeitung popularisiert (sexual)medizinisches Wissen
Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten Die Darstellung von Ad(h)s in der Kinder- und Jugendliteratur
Autorinnen und Autoren
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Krank geschrieben: Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin [1. Aufl.]
 9783839417607

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Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben

Lettre

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.)

Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin

Die Drucklegung dieses Bandes wurde ermöglicht durch Beiträge der Mittelbauvereinigung der Universität Bern, der UniBe Forschungsstiftung, des Zürcher Universitätsvereins, der Agentur martin smartwrite sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Franticek Klossner »Me veras si me piensas«, Performance und öffentliche Tätowierung anlässlich der Einweihung der permanenten Installation »Appunti Spezzat« (Unterbrochene Notizen) am Schweizerischen Institut in Rom 1998. Foto: Gian Paolo Minelli Satz: Mark Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-1760-3 PDF-ISBN 978-3-8394-1760-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

T HEORETISCHE UND METHODOLOGISCHE R EFERENZDISKURSE Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin Rudolf Käser | 15

K ONSTRUK TION WEIBLICHER UND MÄNNLICHER I DENTITÄTEN »Ganz ungewöhnlich eindrucksfähig« Krankheit in literarischen Weiblichkeitsentwürfen des 18. und 19. Jahrhunderts Susanne Balmer | 45

Männliche und weibliche Lesesucht Systemspezifisch differenzierte Anschlusskommunikation an den bürgerlichen Roman des 18. Jahrhunderts Rahel Leibacher | 63

»Die jungen Herren weiß und roth« J. M. R. Lenz’ Drama »Der Hofmeister« im Kontext medizinischer, juristischer und moraltheologischer Diskurse des 18. Jahrhunderts Rudolf Käser | 87

Emanzipation und Augenlicht Sehvermögen als Motiv weiblicher Entwicklung in Elsa Bernsteins Schauspiel »Dämmerung« (1893) Gaby Pailer | 117

Die Lust am Scheitern Ärztinnen in populärer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts Gabriela Schenk | 143

Erzählsysteme der Pathologisierung Kranke Protagonistinnen in Romanen von Gabriele Reuter und Elfriede Jelinek Virginia Pinto | 163

E INSCHLÜSSE UND A USSCHLÜSSE Der Kredit von Freuds Krankheitsmetaphern Zum Grenzverkehr des Wissens zwischen Wahn und Theorie Martin Stingelin | 181

Psychiatrie als gebauter Diskurs Architektur der Klinik in Texten von Alfred Döblin, Friedrich Glauser, Heinar Kipphardt und Rainald Goetz Lotti Wüest | 201

Pathogene Irritation als Motor der Kunst Jürg Federspiels »Die Ballade von der Typhoid Mary« Dave Schläpfer | 223

E SKAL ATION UND K ONSOLIDIERUNG Rhetorik der Seuche Wie und wozu man über Seuchen spricht Marco Pulver | 259

»Es war, als hätte das Virus mich geschwängert.« Geschlecht als Erzählparadigma in Darstellungen von Aids Beate Schappach | 293

Krankheit, Sexualität und Tod Zur Darstellung des Identitätsfindungsprozesses in Patrick Kokontis’ Erzählung »Entgleisungen« Ruth von Rotz | 313

Ja-Sagen zum Nein-Tun Die Krankheitsperspektive einer Randfigur in Hugo Loetschers Erzählung »Die Einwilligung« Vera Landis | 337

P OPUL ARISIERUNG UND B REITENWIRKSAMKEIT Mad Scientists im Dienst eines uralten Menschheitstraums? TV-Dokumentationen über Forschungen zur Lebensverlängerung Ingrid Tomkowiak | 355

Zeitbombe im Unterleib Eine Boulevardzeitung popularisiert (sexual)medizinisches Wissen Annika Wellmann | 381

Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten Die Darstellung von Ad(h)s in der Kinder- und Jugendliteratur Sarah Lüssi | 397

Autorinnen und Autoren | 423

Vorwort

Wenn ›krank geschrieben‹ wird – in allen vielfältigen Bedeutungen, die dieser schillernde Ausdruck annehmen kann –, geschieht dies nie einem wertneutralen Raum. ›Krank schreiben‹ ist ein kommunikativer Akt, der auf Wirkung zielt. Auch die mediale und die literarische Aneignung medizinischen Wissens folgen stets bestimmten Wirkungsstrategien. Diese zu beschreiben ist das zentrale Anliegen der Beiträge in diesem Sammelband. Die Gegenstände der hier versammelten Untersuchungen gehören meist den westeuropäischen, schwerpunktmässig den deutschsprachigen Kulturen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts an. Die Beiträge werden im Hinblick auf bestimmte Wirkungspotentiale gruppiert, die sich den einzelnen medialen Produkten durch wirkungsästhetische Analyse hypothetisch zuschreiben lassen. Die Einleitung des Bandes skizziert eine Landkarte theoretischer und methodologischer Ansätze, die bei der Erforschung des Interdiskurses von Literatur und Medizin eine Rolle als Referenzdiskurse gespielt haben. Die Einleitung bietet somit einen möglichen Bezugshorizont für alle in diesem Band versammelten Arbeiten an. Kapitel 1 enthält Analysen literarischer Texte, die sich mit der sozialen Konstruktion der Gender-Differenz auseinandersetzen. Die exemplarischen Studien, die grundsätzlich nach der Chronologie ihrer Gegenstände angeordnet sind, ermöglichen Einblick in historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten, welche die kulturelle Konstruktion der Geschlechterdifferenz vom 18. bis zum 20. Jahrhundert auszeichnen. Mit dieser Anordnung ist keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit verbunden, weder im Hinblick auf die Gegenstände noch auf die Beschreibung der Wirkungsstrategien. Es sind exemplarische Einzelanalysen von Texten, die in einem gemeinsamen Problemfeld angesiedelt sind und unter verschiedenen Perspektiven das Verhältnis von Literatur, Medizin und Geschlechterkonstruktion aufzeigen. Kapitel 2 zur Konstruktion des Einschlusses und des Ausschlusses versammelt Fallstudien zu Instanzen eines Diskurses der Macht. Analysiert werden Gesten des Zugriffs institutionalisierter Diskurse auf Personen, die aufgrund

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der Zuschreibung pathologischer Zustände identifiziert und gesellschaftlicher Verfügungsmacht zur Disposition gestellt werden. Kapitel 3 widmet sich der Diskursivierung pathogener Krisen, die nicht einzelne Personen, sondern ganze Gesellschaften irritieren und systemische Reaktionen provozieren. In der Geschichte des Abendlandes sind Epidemien immer wieder auf ähnliche Weise in diskursiven Prozessen verarbeitet worden. Die hier versammelten Beiträge analysieren anhand von Aids einerseits die mächtigen langfristigen Diskursmuster, welche das Reden über Seuchen auch heute noch steuern. Andererseits wird aufgezeigt, wie die Selbstfindung einzelner Betroffener in einem derart vorstrukturierten gesellschaftlichen Diskursraum Gestalt finden kann. Kapitel 4 schließlich gilt medialen Genres der Diskursivierung von Krankheit, die explizit der breitenwirksamen Popularisierung von Wissen dienen: TV-Dokumentationen, Berater-Kolumnen in Boulevardzeitungen und die Thematisierung des Syndroms A(d)hs in der Jugendliteratur werden untersucht. Die breitenwirksame Verhandlung des Umgangs mit irritierenden Phänomenen des Pathologischen stellt einen so komplexen wie wirkungsmächtigen Aspekt gesellschaftlicher Kommunikation dar, welcher die Aufmerksamkeit kulturwissenschaftlicher und medienkritischer Analyse verdient. Der vorliegende Band geht zurück auf die Tagung »Krank geschrieben. Rhetoriken im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin«, die am 13. und 14. November 2009 als Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften (SGKW) am Collegium Helveticum der Universität und ETH Zürich durchgeführt wurde. Als Veranstalter wirkte der Arbeitskreis Literature – Medicine – Gender, der seit 2002 jungen Vertreterinnen und Vertretern der Literaturwissenschaften, der Theater- und Filmwissenschaft, der Europäischen Ethnologie, der Medizingeschichte und der Gender Forschung einen Rahmen für interdisziplinären Austausch und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsgespräche bietet. Die Tagung und der Band präsentieren Forschungsprojekte, die in diesem Arbeitskreis entstanden und von ihm über längere Zeit begleitet wurden. Diese Beiträge werden ergänzt durch Arbeiten international bekannter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Wesentliches zur Erforschung des Interdiskurses von Literatur, Medien und Medizin geleistet haben. Tagung und Band wären nicht zustande gekommen ohne die tatkräftige und finanzielle Unterstützung durch zahlreiche Personen und Institutionen. Zu danken ist dem Schweizerischen Nationalfonds, der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, der Mittelbauvereinigung der Universität Bern, der UniBe Forschungsstiftung, dem Zürcher Universitätsverein sowie der Firma martin smartwrite für finanzielle Beiträge zur Durchführung

Vor wor t

der Tagung und zur Drucklegung des Bandes. Dem Collegium Helveticum der Universität und ETH Zürich danken wir für die Bereitschaft, uns die inspirierenden Räume der Semper-Sternwarte für die Tagung zu öffnen. Für die Unterstützung bei der Drucklegung des Bandes danken wir herzlich Kati Brunne sowie dem transcript Verlag. Und last but not least gilt der Dank allen Referentinnen und Referenten, Autorinnen und Autoren, welche die Tagung und den Band durch ihre Präsenz und ihrer Beiträge haben Wirklichkeit werden lassen. R. K./B. S.

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Theoretische und methodologische Referenzdiskurse

Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin Rudolf Käser

L ITER ATURWISSENSCHAF T ALS K ULTURWISSENSCHAF T Wenn Literaturwissenschaft den »cultural turn« vollzieht, sieht sie ihre Gegenstände nicht mehr als autonome, von ihren Alltagskontexten isolierte und entrückte Gebilde, sondern als Spuren zeichenhaften Handelns, welche in die vernetzten Prozesse der kulturellen Semiose einbezogen sind.1 Kulturwissenschaftliche Lektüre fragt nach der spezifischen Funktion literarischer Kommunikation als Zeichenhandlung im Kontext kultureller Praktiken.2 Im Rahmen dieser allgemeinen kulturwissenschaftlichen Fragestellung findet im Untersuchungsfeld Interdiskurs von Literatur und Medizin eine Eingrenzung des thematischen Fokus statt. Die Leitfrage lautet: Wie und mit welcher Wirkung stellt Literatur die kulturspezifisch geprägte Erfahrung von Krankheit und Tod dar? Welche Funktion hat Literatur, verstanden als Spur gesellschaftlicher Kommunikation, bei der Etablierung und Transformation von Wertgefügen, die den gesellschaftlichen Umgang mit dem Pathologischen steuern? Methodisch kann Kulturwissenschaft damit anknüpfen an Friedrich Nietzsche, der in seiner »Götzendämmerung« die Autonomieästhetik grundsätzlich an1 | Zur Genealogie und Kritik der Autonomieästhetik vgl. Bourdieu, Pierre: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. Zur Einführung in kulturwissenschaftliche Methodenansätze vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. H. 2006. 2 | Zum Funktionsbegriff in den Literatur- und Kulturwissenschaften vgl. Sommer, Roy: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: Berchem, Theodor u.a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Bd. 41, Berlin 2000, S. 319-341.

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gegriffen hat mit der Frage: »Was thut alle Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen stärkt oder schwächt sie gewisse Werthschätzungen.«3 Die Art und Weise, wie Menschen in der westlich geprägten Kultur mit Krankheit und Tod konfrontiert werden, hat sich durch die Ausdifferenzierung der modernen Medizin und ihrer Institutionen nachhaltig verändert. Wer sich im Feld Literatur und Medizin kulturwissenschaftlich fragend bewegt, wird sich also mit der kulturellen Bedeutung der Medizin intensiv auseinandersetzen müssen. Wenn ›krank geschrieben‹ wird – in allen vielfältigen Bedeutungen, die dieser schillernde Ausdruck annehmen kann – geschieht dies immer im tripolaren Spannungsfeld der ausdifferenzierten Kommunikationssysteme »Kunst«, »Medizin« und »Selbstverständigung psychischer Systeme«.4 Jede Form des Krank-Schreibens ist als kommunikativer Akt ein Appell, der auf Wirkung zielt. Rhetorik ist die Kunst, mittels Rede und Schrift Wirkungen zu erzielen. Wer textanalytisch nach Rhetoriken fragt, versucht die persuasiven Wirkungsstrategien von Sprach- und Schriftprozessen zu erfassen und sieht darin einen Weg, zu methodisch kontrollierten Aussagen über die gesellschaftliche Funktion von Literatur zu gelangen. Ausgehend von dieser Fragestellung stellt sich der folgende Aufsatz die Aufgabe, theoretische und methodologische Referenzliteratur, die für die Arbeit im interdiskursiven Forschungsfeld von Literatur und Medizin in den letzten Jahren wichtig wurde, kritisch vorzustellen und dadurch eine mit Absicht stark vereinfachende Landkarte von Theorien und Methoden zu skizzieren, die es erlauben könnten, sich in dem internationalen Forschungsfeld zu orientieren.5 In dieser Absicht werden im Folgenden sieben perspektivische Sichten auf ein ebenso aktuelles wie komplexes Diskursgeschehen vorgeschlagen.

3 | Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6, München und New York 1980, S. 127. 4 | Zur Erläuterung vgl. unten S. 35, Abschnitt 7: Referenzrahmen Systemtheorie. 5 | Empfehlenswerte Forschungberichte zum Interdiskurs von Literatur und Medizin: Erhart, Walter: Medizin–Sozialgeschichte–Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Bd. 29, 1. Heft, 2004, S. 118-128; Pethes, Nicolas und Richter, Sandra: Einleitung. In dies.: Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600-1900). Tübingen 2008, S. 1-11.

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1. M E TAPHERNKRITIK UND M E TAPHOROLOGIE . S USAN S ONTAG AND BE YOND Wenn man heute, z.B. zu Beginn eines Seminars, die Frage stellt, wer sich denn kulturwissenschaftlich mit dem Problem Krankheit auseinandergesetzt habe, kommt als Rückfrage oft: »Sie meinen Krankheit als Metapher«, und der Name Susan Sontag fällt gewiss. Susan Sontags Essays »Krankheit als Metapher« (1978), gefolgt von »Aids und seine Metaphern« (1989) sind ins breite Publikumsbewusstsein eingedrungen.6 Die meisten, die Susan Sontags Essays gelesen oder davon gehört haben, haben auch eine Botschaft verstanden: Metaphern sind schlecht. Man soll sie vermeiden. Susan Sontag hat für ihren metaphernkritischen Ansatz sehr gute Gründe. Sie kann zwei Dinge überzeugend aufzeigen. Erstens: Metaphorische Krankheitsmodelle tendieren dazu, den Patienten Schuld zuzuschreiben. Sie modellieren Krankheit z.B. als Strafe für nicht normgerechtes Verhalten, was auch immer die Norm im Einzelnen beinhalten mag, ob Gottes Wille und Zorn, ob zu viel oder zu wenig ausgelebte Sexualität, ob bürgerliches Wohlverhalten oder das Gegenteil davon. Alles das und das Gegenteil von allem scheint in diesen metaphorischen Modellen als Krankheitsursache in Frage zu kommen, die der Kranke selber hätte vermeiden können und sollen. Der zweite Punkt der Kritik bezieht sich auf die Metapher des Kampfes im Umgang mit Krebs. Die Modellierung von Krebs als Feind und die Modellierung der Therapie – ja des bloßen Willens zu leben – als Kampf gegen diesen Feind führen dazu, dass einerseits jeder Patient, der an Krebs stirbt, als Held auf einem Schlachtfeld gestorben zu sein scheint, und zwar in einem guten Krieg, den jeder einzelne und die Gesellschaft zu führen und zu finanzieren angehalten sind. Auf dem Schlachtfeld der Medizin schien in den 1970er-jahren nahezu jedes Mittel recht, um den Feind zu bekämpfen bis zum bitteren Ende, auch wenn der Einsatz kaum mehr zur Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität der kranken Person beitragen konnte. Krebs als Metapher außerhalb der Medizin zu verwenden und z.B. auf eine soziale Gruppe zu übertragen, ist in Konsequenz dieser metaphorischen Deutungsperspektive ein Aufruf zum ›totalen Krieg‹ und zu radikaler Vernichtung. Um diese unerwünschten Nebenwirkungen des Metapherngebrauchs im Diskurs über Krankheit zu vermeiden, empfiehlt Susan Sontag die Orientierung an der wissenschaftlich disziplinierten, von Metaphern gereinigten Sprache. Mit dieser Sprachmaxime ist auch eine Verhaltensmaxime für Kranke ver-

6 | Bezug genommen wird hier auf Sontag, Susan: Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors. New York 1990.

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bunden: Den Erkrankten empfiehlt Susan Sontag: »Sei ein informierter und aktiver Patient.« 7 Man schmälert nicht die kulturwissenschaftlichen und kulturkritischen Verdienste Susan Sontags, wenn man bemerkt, dass in ihrem Essay vor allem der Diskurs der sich für gesund Haltenden über die Krankheit untersucht wird, die Sprache der Kranken über sich selbst hingegen und die Literarisierung der Krankheit durch betroffene Autorinnen und Autoren jedoch kaum berücksichtigt werden, obschon es solche Texte im breiten Spektrum literarischer Kommunikation schon damals gab. Susan Sontags Umgang mit ihrer eigenen Erkrankung bestand darin, gerade keinen Ego-Text schreiben zu wollen, sondern, wie sie sich ausdrückt, »etwas Nützliches« zu tun.8 Diese Wertung, die letztlich auf den stark ausgeprägten Wissenschaftsoptimismus Susan Sontags zurückzuführen ist, konnten und wollten viele Kranke, denen das Schreiben im Umgang mit der Krankheitserfahrung wichtig war, nicht übernehmen. Dem Metaphernverbot sind diese schreibenden Kranken nicht gefolgt. Kranke haben ihre Krankheit immer wieder metaphorisch in Bilder zu fassen versucht, um mit der bedrohlichen Erfahrung sprachlich umgehen zu können. Gerade in Patiententexten wird deutlich, dass die Wissenschaftssprache der Medizin zwar den Fall erfassen kann, aber nicht die Erschütterung des Sinngefüges eines psychischen Systems und nicht dessen Versuche, die Krankheitserfahrung in das Sinngefüge des Bewusstseins zu reintegrieren. Wenn es um die subjektive Sinnerfahrung und deren Erschütterung resp. Neuausrichtung geht, sind Metaphern ein produktives Mittel. Die Metapher und ihre irreduzible Funktion zur Strukturierung menschlicher Kognition ist auch von Seiten der Sprachphilosophie und der konstruktivistischen Erkenntnistheorie nachhaltig rehabilitiert worden – was übrigens auch Susan Sontag nicht entgangen ist. George Lakoff und Mark Johnson, ein Linguist und ein Kognitionspsychologe, haben dies in zwei Publikationen geleistet: »Metaphors We Live by« und »Philosophy in the Flesh«.9 Sie zeigen auf, dass Metaphern tief im neuronalen und sprachlichen System der menschlichen Wirklichkeitskonstitution verankert sind, dass einige von ihnen »einge7 | Sontag 1990, S. 103. 8 | Sontag 1990, S. 101. Zur literaturkritischen Würdigung von Texten, die Sontag für unnütz hält, vgl. Frank, Arthur W.: The Wounded Storyteller. Body, Illness, and Ethics. Chicago und London 1995 und Käser, Rudolf: Metaphern der Krankheit: Krebs. In: Neumann, Gerhard und Weigel, Sigrid (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000, S. 323-342. 9 | Lakoff, George und Johnson, Mark: Metaphors We Live by. Chicago 1980; Dies.: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought. New York 1999.

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fleischt« sind, d.h. wahrscheinlich zum Bestand der evolutionär entwickelten Fähigkeiten des Menschen zur kognitiven Verarbeitung von Sinnesdaten gehören und selbst aus wissenschaftlichen Diskursen nicht weggedacht werden können, sondern oft die Grundeinstellung prägen, die eine Wissenschaft zur äußeren Realität einnimmt. Eindrücklich analysieren Lakoff und Johnson z.B. die metaphorische Deutung der Arbeit als »Ressource«, die den ökonomischen Diskurs prägt, aber dem Bedürfnis des einzelnen Individuums nach sinnvoller Arbeit nicht gerecht werden kann. Metaphorische Modelle sind selektiv, sie reduzieren Komplexität und eröffnen damit Handlungsspielräume für Aktanten, aber sie blenden damit immer auch Informationen aus und verdecken andere mögliche Perspektiven, die nur von anders strukturierten Beobachtungen wahrgenommen werden können.

2. B ESTANDESAUFNAHME UNTER HERMENEUTISCHEM V ORZEICHEN Wer sich im deutschen Sprachraum im Arbeitsfeld des Interdiskurses von Literatur und Medizin bewegt, kann seit kurzem ein Lexikon10 nutzen, welches den Versuch unternimmt, das Arbeitsfeld thematisch, terminologisch und bibliographisch zu erschließen und zu ordnen. Die beiden Herausgeber Bettina von Jagow und Florian Steger bieten unter Mithilfe zahlreicher namhafter Autorinnen und Autoren eine Bestandesaufnahme medizinischer Themen in der Weltliteratur von Homer bis Celan. Das Lexikon ist gegliedert in Artikel zur Kulturgeschichte einzelner Krankheitskonzepte und bringt zudem Artikel zu wesentlichen Grundbegriffen der Medizin in ihren gesellschaftlichen Relationen und Funktionen. Jagow und Steger stellen ihren Ansatz zudem in einer gemeinsamen Publikation vor unter dem Titel »Was treibt die Literatur zur Medizin?«.11 Methodisch führen Jagow und Steger den Ansatz weiter, den der Lübecker Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt erstmals 1978 in einem Aufsatz entworfen und dann in zahlreichen Einzelbeiträgen und in bisher zwei Bänden eines auf vier Bände angelegten Werks »Medizin in der Literatur der Neuzeit« umgesetzt hat.12

10 | Jagow, Bettina von und Steger, Florian (Hg.): Literatur und Medizin. Ein Lexikon (mit einem Geleitwort von Dietrich von Engelhardt). Göttingen 2005. 11 | Jagow, Bettina von und Steger, Florian: Was treibt die Literatur zur Medizin? Ein kulturwissenschaftlicher Dialog. Göttingen 2009. 12 | Engelhardt, Dietrich von: Medizin und Literatur in der Neuzeit. Perspektiven und Aspekte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geschichte (DVjs), Bd. 52, Heft 3, 1978, S. 351-380; Ders.: Medizin in der Literatur der Neuzeit.

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Engelhardts grundlegende Einteilung des Arbeitsfeldes Literatur–Medizin,13 die in das Geleitwort zum Lexikon von Jagow und Steger übernommen wird, zeichnet drei Untersuchungsperspektiven vor. Erstens: Die »fiktionale Funktion der Medizin« bezeichnet den Beitrag, den medizinisches resp. medizinhistorisches Wissen zum Verständnis literarischer Texte leisten kann. Unter dieser Perspektive hat der Rückgriff auf medizinhistorisches Wissen eine kommentierende, explikative Funktion in Bezug auf das Verständnis literarischer Texte, deren Bedeutung sich z.B. erst dann erschließen, wenn man historische Krankheits- und Therapiekonzepte mit einbezieht. Zweitens spricht Engelhardt von einer »szientifischen Funktion der Literatur«: Literarische Darstellungen von Krankheitserfahrung und Therapieerfahrung machen die wissenschaftliche Medizin darauf aufmerksam, dass es neben der wissenschaftlichen Perspektive immer auch die Erfahrungsperspektive des kranken Menschen, des Einzelnen gibt. Medizin als Wissenschaft sollte dem Rechnung tragen. Von diesem an die Medizin spezifisch gerichteten Appell der Literatur unterscheidet Engelhardt dann drittens noch die »genuine Funktion der literarisierten Medizin«; dabei geht es grundsätzlich um die Fragen des Sinns von Krankheit und Gesundheit, wie er nun nicht mehr aus der Perspektive der Medizin, sondern aus der Perspektive des ›Menschen‹ schlechthin, also in anthropologisch-philosophischer Sicht, ausgelegt werden soll. Für die Tiefenhermeneutik dieses Sinns erscheint Literatur als privilegierte Ausdrucksform. Der Materialreichtum, der in den erwähnten Werken erschlossen wird, ist beeindruckend und hilfreich. Doch sind in der Auseinandersetzung mit diesem Ansatz auch einige Bedenken methodologischer Art anzumelden. Die Auswahl der erwähnten und behandelten literarischen Texte bei Engelhardt resp. Jagow und Steger folgt implizit einem Kanon, der weitgehend identisch ist mit dem bürgerlichen Begriff der Allgemeinbildung. Gesammelt und gesichtet wird Höhenkammliteratur. Populäre Texte werden kaum berücksichtigt. Dieser Literaturbegriff und seine normativen Implikationen werden von den Autoren jedoch nie explizit reflektiert und nie begründet. Für den kulturwissenschaftlichen Zugang zum aktuellen Interdiskurs von Literatur und Medizin stellt dies ein Problem dar, denn breitenwirksame Genres können unter kulturwissenschaftlicher Perspektive nicht ausgeklammert werden. Kritisch zu hinterfragen ist zudem die nicht problematisierte Voraussetzung einer über lange Zeiten stabilen Differenz der Diskurse Literatur und Medizin und damit einer langfristigen Stabilität ihres Verhältnisses von der griechischen Antike bis heute. Diese Annahme ist systematisch verbunden mit Bd. 1: Darstellung und Deutung. Bd. 2: Bibliographie der wissenschaftlichen Literatur. Hürtgenwald 1991. 13 | Engelhardt 1978.

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der Auffassung, Literatur habe im Interdiskurs mit der Medizin und im Konzert der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation immer ein und dieselbe Grundfunktion eingenommen resp. einzunehmen, nämlich die Rettung des Humanen. In dieser Funktion der literarisierten Medizin sehen die erwähnten Autoren eine große Kontinuität von den Erzählungen der Wundversorgung in Homers Epen bis zu Prosatexten Kafkas und zu den Gedichten Paul Celans. Die diskurshistorisch beobachtbare Ausdifferenzierung der Diskurse Medizin und Literatur sowie Funktionsverschiebungen in ihrer Relation werden ausgeblendet. So wird das Verhältnis von Literatur und Medizin unter der Hand als anthropologische Konstante behandelt: Es geht um das überhistorische Wesen der Literatur im Bezug auf das überhistorische Wesen der Medizin; und es geht um das überhistorische Wesen des Menschen. Engelhart, Steger und Jagow stellen ihren Ansatz denn auch in den Kontext der Hermeneutik und übernehmen sämtliche idealistischen, universalistischen und logozentristischen Positionen, die mit dieser Traditionswahl verbunden sind. Wenn im Bezugsfeld von Literatur und Medizin die überzeitliche Kontinuität in der Hermeneutik des Humanen gesucht und gefunden wird, entstehen systematisch bedingte Schwierigkeiten im Umgang mit den dunklen, inhumanen Aspekten, die es in der Geschichte der Medizin auch gibt. Für Engelhardt, Jagow und Steger sind die auf Vernichtung angelegten Menschenversuche der Nationalsozialisten Hitler-Deutschlands der einzige Bruch, den sie in der Geschichte der Medizin erkennen. Hier und nur hier hat Medizin in ihren Augen mit ihrem überzeitlich gültigen Begriff gebrochen und ihr Wesen verraten. Damit beziehen sie Stellung in einer heiklen Debatte um die Frage der Kontinuität resp. Diskontinuität der nationalsozialistischen Vernichtungsmedizin mit der allgemeinen Geschichte der neuzeitlichen Medizin als Wissenschaft. Die Position eines einmaligen und unvergleichlichen Kontinuitätsbruchs wird in jüngerer Zeit mit zahlreichen Belegen des Gegenteils in Frage gestellt, z.B. durch Nicolas Pethes und seine Mitherausgeber im Vorwort der Anthologie »Menschenversuche 1750-2000«.14 Medizinische Menschenversuche gab es nicht nur in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten, es gab sie schon vor dem Zweiten Weltkrieg in den USA. Und sie sind nicht nach den Nürnberger Prozessen aus den Annalen der Medizingeschichte verschwunden. Vieles spricht in dieser Hinsicht für eine Kontinuität zumindest in der Medizingeschichte der Moderne. Literarisch legt u.a. Büchners »Woyzeck« davon ein kritisches Zeugnis ab. In seiner Rezension des Sammelbandes von Pethes et al. weist Robert Jütte zudem darauf hin, dass die Beschränkung des Menschenversuchs auf die Moderne den Fakten nicht angemessen sein dürfte und zahl-

14 | Pethes, Nicolas u.a. (Hg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000. Frankfurt a.M. 2008.

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reiche Beispiele aus früheren Epochen mit bedacht werden müssten.15 Gerade die insistierende Wiederkehr des Inhumanen in der Medizin kann im Rahmen einer hermeneutisch vorgehenden Geschichtskonstruktion und unter Voraussetzung einer Wesens-Kontinuität mit einmaligem historischem Bruch nur schwer in die kulturkritische Erinnerungsarbeit einbezogen werden.

3. D ISKURSANALYSE . M ICHEL F OUCAULT AND BE YOND Diskursanalyse ist unter anderem zu charakterisieren als der Versuch, Geschichte zu schreiben unter Verzicht auf jegliche ontologische Wesensaussagen in Bezug auf den ›Menschen‹. Der radikale Bruch mit den Methoden der ontologischen Anthropologie und mit ihren Kontinuitätsvoraussetzungen verbindet sich bekanntlich mit dem Namen Michel Foucaults. Stimulierend für das Feld Literatur–Medizin wirkten und wirken vor allem seine materialen Studien, neben der »Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft« also »Die Geburt der Klinik« und »Ueberwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses«.16 Dass der medizinische Blick eine Archäologie habe, die in den Archiven anhand von Texten zu rekonstruieren sei, hat äußerst anregend auf die kulturwissenschaftliche Relektüre klassischer Darstellungen von Krankheit und Medizin gewirkt. Eine weitere für das Arbeitsfeld Literatur und Medizin grundlegende BlickKorrektur bewirkte auch Foucaults Buch »Der Wille zu Wissen«, in dem er die Psychoanalyse Freuds einbezieht in den »discours pénitentiel«, jenen großen und langdauernden abendländischen Diskurs, der seit der Aufklärung durch intensivierte Beobachtung und stets verfeinerte sprachliche Thematisierung den Umgang mit dem Körper und seinem Begehren modelliert und diszipliniert hat.17 Diese These eröffnet neue Interpretationsräume für viele literarische Texte der Aufklärung, der Empfindsamkeit und der Klassik. Dem durch Foucault geprägten Blick ergibt sich z.B. ein kulturkritischer und medizinkritischer Hintersinn des dargestellten Umgangs der Erzieherinnen und Ärzte mit der Adoleszenten Mignon in Goethes »Wilhelm Meister«.18 15 | Jütte, Robert: Die Grausamkeit im Dienst der Wissenschaft. Horrorvisionen: Ein Katalog der Menschenversuche. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.2008, S. 37. 16 | Foucault, Michel: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1961; Ders.: La naissance de la clinique. Une archéologie du regard medical. Paris 1963; Ders.: Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975. 17 | Foucault, Michel: La volonté de savoir. Paris 1976. 18 | Vgl. Käser, Rudolf: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998, S. 45-63.

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In Goethes Roman erscheinen Ärzte unter anderem auch als Agenten einer sich ins Repressive, Vernichtende wendenden Aufklärung. Das zeigt sich unter anderem gegen Ende des Romans im Umgang des Medicus der Turmgesellschaft mit Mignon. Dem weichen, humanen Gehalt seiner Rede widerspricht die schneidende moralische Schärfe ihrer kommunikativen Funktion. In der Rede des Medicus über Mignons Zustand wird das Gesunde rhetorisch vom Kranken abgetrennt, Schuld wird zugewiesen und die geforderte Haltung zum ausgegrenzten Pathologischen für alle Beteiligten, insbesondere für Wilhelm Meister, definiert. Der Medicus ist zuständig für das nicht mehr integrierbare Personal. Er verfügt über die Sprache, um dessen inakzeptables Verhalten zu pathologisieren und in der Form der Krankengeschichte zumindest diskursiv beherrschbar zu machen. Im kulturellen Kontext der Turmgesellschaft hört die Zuständigkeit des Arztes mit dem Tod der Patientin nicht auf. Das therapeutische Programm geht, wenn es im Einzelfall scheitert, bruchlos in ein ästhetisches über, das dieses Scheitern sinngebend interpretiert. Einbalsamierung der Leiche ist Teil der ärztlichen Praxis. Doch zeigt sich die Brüchigkeit des Ästhetisierungsprogramms bereits in Goethes Darstellung der Exequien Mignons als Diskrepanz zwischen symbolisierendem Programm und allegorisierender Einlösung. Wie ein Marktschreier bittet der Abbé am Ende seiner Rede das Publikum, näherzutreten und die einbalsamierte Leiche Mignons als Kunstwerk, welches das Leben bedeute, zu bewundern. Doch Wilhelm verweigert dieser Zumutung die Gefolgschaft. In diesem Augenblick wird er zum Außenseiter der Turmgesellschaft und damit zum ersten überlebenden Zeugen des Scheiterns ihrer Integrationspraktiken. Der ideologische Horizont der Turmgesellschaft und der ideologische Horizont des Protagonisten beginnen an dieser Stelle in den Augen des Lesers auseinanderzubrechen, und der Leser hat nun die Wahl. Nichts zwingt ihn, die Botschaft des Romans oder gar die Intention des Autors mit den gescheiterten Konzepten der Turmgesellschaft gleichzusetzen. Diese Mikroanalyse der Wertvermittlung in Goethes Roman ist zwar von Foucault angeregt, doch arbeitet sie nicht mit Foucaultschen Kategorien. Denn mit Foucaults stimulierenden Diskursanalysen hält die textbezogene Kulturwissenschaft kein leicht zu handhabendes Instrument in Händen. Foucault schreibt von großen Konstrukten wie Epistemen, Diskursen, Dispositiven, Archiven etc. Wie verhalten sich diese Konstrukte zu dem, was Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler konkret lesen und analysieren können, zu literarischen Werken und ihren spezifischen, leserbezogenen Strategien der Wertvermittlung und Wertkritik? Foucaults Aufsatz »Was ist ein Autor?« zeigt zwar auf, was man mit dem Konzept der Autorschaft diskursana-

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lytisch tun kann und was nicht.19 Aber für die Mikroanalyse einzelner literarischer Werke in ihrem historischen Kontext muss man sich anderweitig nach methodischen Hilfsmitteln umsehen. Die Arbeitsmethode Foucaults bietet in dieser Hinsicht kein operationalisierbares Modell.

4. TE X TANALY TISCHE M E THODEN DER M IKROANALYSE Angeregt durch Foucaults Diskursanalyse sind mehrere textanalytische Methoden entwickelt worden, um auf der Ebene der Mikroanalyse von Dokumenten und literarischen Texten konkrete Resultate zu erzielen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang wohl zuerst der mit dem Namen Stephen Greenblatt verbundene Ansatz des New Historicism.20 Er untersucht den Grenzverkehr zwischen Literatur und außerliterarischen Wissensbeständen und Diskursen und hat namentlich das Verhältnis literarischer Diegesen zu Wirklichkeitskonstrukten der Medizin und des Rechtswesens in bestimmten historischen Epochen in den Blick genommen. Dabei geht es vor allem um auffällige und für das heutige Verständnis sperrige thematische Bestände und Handlungsverknüpfungen, die sich erst als sinnvoll erschließen, wenn man sie mit außerliterarischem diskursivem Material aus den historischen Kontexten in einen Zusammenhang bringen kann. Kontexualisierende Lektüre ist wohl eines der nachhaltigsten Ergebnisse des New Historicism.21 Ein weiterer Ansatz zur textanalytischen Konkretisierung der Diskursanalyse, der sich ausdrücklich auf Foucault bezieht, ist Jürgen Links Konzept der Kollektivsymbole.22 Link geht von der These aus, dass in einem Diskursfeld, das sich durch zunehmende fachspezifische Ausdifferenzierung kennzeichnet, bestimmte Gegenstände und Themen gleichsam Knoten und Verzweigungsstellen für Bedeutungskonstitutionen bilden, welche innerhalb der Grenzen der sich ausdifferenzierenden Diskurse nicht mehr möglich wären. Von solchen Kollektivsymbolen kann die Interdiskursanalyse ausgehen. Link weist der Literatur im Umfeld sich ausdifferenzierender Einzeldiskurse die 19 | Foucault, Michel: Qu’est-ce qu’un auteur? In: Bulletin de la Société française de Philosophie 63, Nr. 3, 1969, S. 73-104. 20 | Greenblatt, Stephen: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley und Los Angeles 1988. 21 | Die Ergiebigkeit dieses Ansatzes kann anhand einer kontexualisierenden Lektüre des Dramas »Der Hofmeister« des Sturm- und Drang-Autors Jakob M. R. Lenz erprobt werden. Vgl. dazu in diesem Band S. 87-115. 22 | Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Fohrmann, Jürgen und Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorie und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1988, S. 284-310.

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Funktion zu, das Allgemeine zu vertreten, aber nicht als begrifflich festzulegende Wahrheit, sondern durch die Prozessierung eines impliziten Netzes von Kollektivsymbolen, die in ihrem Verweisspiel ein Bedeutungsgeflecht bilden, das innerhalb eines einzelnen ausdifferenzierten Diskurses nicht mehr artikulierbar wäre. Link zeigt diese Funktion des literarischen Kollektivsymbols z.B. am Motiv der »Montgolfière«, des Luftballons auf. Die bereits zitierte Studie »Arzt, Tod und Text«23 von Rudolf Käser geht im Anschluss an Link ebenfalls von der Annahme aus, die in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts wiederholt auftretende Szene eines »Sterbens medico praesente« könnte ein Kollektivsymbol darstellen, das in der Literatur funktionalisiert wird, um irritierende kulturelle Konsequenzen des Modernisierungsprozesses kritisch zu reflektieren. Im Kontext des »Cultural Turn« der Literaturwissenschaft hat sich die Differenzanalyse als eine fruchtbare Methode im Umgang mit literarischen Texten erwiesen. Kulturen können analysiert werden anhand der Art und Weise, wie sie Differenzen in den vier wesentlichen Normbereichen bilden und handhaben, nämlich in den Bereichen der individuellen Reproduktion (Essen, Schlafen usw.), der sexuellen Reproduktion der Gattung, der Aggression und der Pathologie und des Sterbens. Differenzen wie essbar/nicht essbar, Mann/ Frau, heiratsfähig/nicht heiratsfähig, Herr/Knecht, Freund/Feind, gesund/ krank, lebend/tot gibt es in allen Kulturen. Kulturen können sich nicht konstituieren, ohne Normen in diesen Bereichen zu setzen. Diese Normen werden in kommunikativen Akten und damit auch in literarischen Texten aufgegriffen, neu verhandelt und dabei affirmiert, in Frage gestellt oder zur Veränderung empfohlen. Anhand der Analyse dieser Differenzen und ihrer Gefüge werden Kulturen lesbar.24 Eine spezielle Ausprägung der Differenzanalyse ist die Stereotypenanalyse. Ausgehend von Theorien der Objektpsychologie begreift z.B. Sander Gilman Stereotypen als dekomplexierende Reaktionen der Psyche auf Ambivalenzkonflikte.25 Das Kleinkind bewältigt die Ambivalenz der sich zuwendenden und sich abwendenden Mutter durch die Spaltung der Realität in ein bipolares Schema der guten und der bösen Mutter. Dieses Schema legt die Spur für die innerpsychische Bewältigung aller späteren Ambivalenzsituationen. Überall dort, wo in der Kultur Ambivalenzkonflikte auftauchen, tauchen auch stereotype Modellierungen auf. Solche Modellierungen sind diskursübergreifend zu beobachten. Sie prägen medizinische wie literarische Diskurse gleichermaßen – und auf23 | Käser 1998. 24 | Neumann, Gerhard und Weigel, Sigrid (Hg.): Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie. München 2000. 25 | Gilman, Sander: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotypen aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Reinbek b. H. 1992.

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grund ähnlicher Stereotypenstrukturen sind auch Importe und Exporte und Musterbildungen über Diskursgrenzen hinweg beobachtbar. Gilman hat solche Stereotypenbildung vor allem im Bereich pathologisierender Diskurse und der Konstruktion von Rassendifferenzen untersucht und dabei medizinisch-wissenschaftliche wie auch literarische Texte im Quervergleich gelesen und auf ihre stereotypenbildenden rhetorischen Strategien hin untersucht. Die bisher genannten Ansätze New Historicism, Interdiskurs der Kollektivsymbole sowie Differenz- und Stereotypenanalyse sind Ansätze, die inhaltsanalytisch vorgehen und den semantischen Gehalt der Texte in den Fokus der Untersuchung rücken. Inhaltsanalytisch und semantisch orientiert ist auch der Ansatz von Horst Thomé.26 Allerdings würde es schwer fallen, Thomés Studie den Ansätzen der Diskursanalyse im Gefolge Foucaults zuzuordnen. Thomé geht problemgeschichtlich vor. Probleme können in der Medizin und in der Literatur gleichzeitig auftauchen und jeweils mit den je eigenen Mitteln bearbeitet werden, ohne dass von direkten Rezeptionsbezügen gesprochen werden müsste. Thomé konstatiert diese Parallellagen in dem von ihm untersuchten Zeitraum und geht den Verästelungen der parallelen Diskurse minutiös nach, verweigert sich aber dem Versuch, aus solchen Gleichzeitigkeiten eine »Episteme« im Sinne Foucaults oder irgendwelche andere totalisierende Superstrukturen zu abduzieren. Solche Großthesen widersprechen seinem vorsichtig vorantastenden Argumentationsstil. Fragen der Machtverteilung in und durch Diskurse stehen bei Thomé nicht zur Debatte. Allen inhaltsanalytischen, semantischen Ansätzen gegenüber hat die Wirkungsästhetik Wolfgang Isers die scientific community weit über die Literaturwissenschaft hinaus darauf aufmerksam gemacht, dass literarische Texte auch andere als inhaltlich-semantische Strategien einsetzen, um ihre Leserinnen und Leser zu bewegen, sich ins Spiel der Textualität einzubringen. Isers Theorie der Appellstruktur der Texte verweist namentlich darauf, dass gerade Leerstellen, also das nicht Gesagte, das semantisch nicht Festgelegte in Texten die Kraft hat, an Leser zu appellieren und sie in den Prozess der Textkonstitution einzubinden.27 Isers Theorie der Leerstellen fokussiert stark darauf, wie Texte den Leser in das kognitive Spiel der Konstitution fiktionaler Welten einbeziehen. In kritischer Auseinandersetzung mit Isers Konzept der Leerstellen untersucht Christiaan L. Hart Nibbrig in »Ja und Nein. Studien 26 | Thomé, Horst: Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848-1914). Tübingen 1993. 27 | Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanzer Universitätsreden. Konstanz 1971; Ders.: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972.

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zur Konstitution von Wertgefügen in Texten«, wie Literatur durch ihre Darstellungsstrategien Werte in der Form von Geltungsfragen vermittelt, die sie an den Leser stellt.28 Auch Hans Robert Jauß hat die Frage nach Strategien der Steuerung von Identifikation und Distanzierung im Leseakt formuliert und damit die affektive und wertkonstituierende Dimension mit in die wirkungsästhetische Diskussion aufgenommen.29 Die wirkungsästhetische Dramenanalyse Manfred Pfisters spricht dann explizit nicht nur von den Strategien der Informationsvergabe im Drama, sondern koppelt diese Strategien direkt mit den Strategien der Sympathielenkung.30 Der Erzählanalytiker Jürgen H. Petersen entwirft mit seinem Konzept des »Erzählprofils« eine Kategorien-Raster, mit Hilfe dessen untersucht werden kann, wie die sprachlich-formalen Erzählmittel – Erzählform, Standort, Sichtweise, Erzählverhalten, Erzählhaltung, Darbietungsarten, Sprachstile – zusammen wirken, um die Leserin, den Leser emotional in den Akt der Darstellung einzubeziehen und ihm/ihr die Übernahme resp. Ablehnung bestimmter Wertperspektiven nahezulegen.31 Wirkungsästhetische Dramenanalyse und Erzählanalyse fokussieren auf das Wie der Darstellung und versuchen, vom Was der Diegese zu abstrahieren. Daraus ist für lange Zeit fast eine Schisma im Diskurs der erzählanalytischen Methodologie entstanden, eine Kirchenspaltung zwischen Methoden der Plotanalyse und der Analyse narrativer Vermittlungsformen. Diese unbefriedigende Dichotomie zu überwinden war ein Ziel der »Semiotik der Leidenschaften«, die Algirdas J. Greimas entwickelt hat.32 Im Anschluss daran hat Taehwan Kim in seiner Studie »Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften« ein textanalytisches Modell bereitgestellt, welches fordert und ermöglicht, Plotanalyse, Erzählanalyse und Wertungsanalyse literarischer Texte kohärent aufeinander zu beziehen.33 Kim macht darauf aufmerksam, dass bereits jede Plotkonstruktion in einem Text Schemata der Sinnstiftung 28 | Hart Nibbrig, Christiaan L.: Ja und Nein. Studien zur Konstitution von Wertgefügen in Texten. Frankfurt a.M. 1974. 29 | Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. München 1977. 30 | Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse. München 1977; Ders.: Zur Theorie der Sympathielenkung im Drama. In: Habicht, Werner und Schabert, Ina (Hg.): Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares. Studien zur publikumsbezogenen Dramaturgie. München 1978, S. 20-34. 31 | Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart und Weimar 1993. 32 | Greimas, Algirdas J. und Fontanille, Jacques: Sémiotique des passions. Des états de choses aux états d’âme. Paris 1991. 33 | Kim, Taehwan: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas. Tübingen 2002.

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voraussetzt, die werthaltig sind. Es gibt keine Plotkonstruktion ohne Axiologie, die darüber entscheidet, ob eine Reihe von Begebenheiten den Plot einer sinnvollen Handlung darstellt oder bloß eine sinnlose Agglomeration zufälliger Einzelereignisse. In einem Plot werden aus der Fülle erzählbarer, aber kontingenter Ereignisse die ausgewählt und verknüpft, die aufgrund eines kulturell geprägten mentalen Modells Sinn ergeben oder auf signifikante Weise von einem solchen Schema abweichen. Wer die wertvermittelnde Funktion erzählender Texte untersuchen will, darf sich also nicht nur auf die Analyse der Erzählweise beschränken, sondern sollte mit berücksichtigen, dass schon die Plotstruktur selber bedeutungstragend und wertvermittelnd ist. Die Semantisierung der Form ist damit zu einer zentralen Aufgabe textanalytischen Vorgehens geworden – und sie ist mit den Vorschlägen Kims auf ein methodologisch nachvollziehbares mikroanalytisches Verfahren abgestützt. Für die Arbeit im interdiskursiven Feld Literatur–Medizin ist die Semantisierung der Plotstruktur als Strategie der Wertvermittlung insbesondere dann wichtig, wenn man sich zu fragen beginnt, wie, aus welchen Gründen und im Hinblick auf welche persuasiven Effekte z.B. in der literarischen Darstellung einer Epidemie das Sterben unter den Aktanten des Plots verteilt wird. Oft ist nämlich zu beobachten, dass Aktanten, die sich konform zur impliziten Axiologie des Textes verhalten, die Epidemie in der dargestellten Welt überleben, und dass andere, welche die Axiologie nicht erfüllen, am Ende oft sterben müssen. Das ist wohl die trivialste Variante der so genannten ›poetischen Gerechtigkeit‹, die als literarische Strategie der Wertvermittlung in der Krankheit erzählenden Literatur ad nauseam wiederholt wird. Aber es gibt auch die andere Strategie: Der Wert eines axiologisch vorbildlichen Lebens wird vermittelt, indem die Erschütterung der Umstehenden am Sterbebett dargestellt wird. Der Wert erscheint als Lücke, die der Verblichene hinterlässt. Dies ist die Strategie, die z.B. Gotthelf oft anwendet und auch explizit poetologisch reflektiert. Strategien der Wertvermittlung durch Sterbeverteilung in Erzähltexten wurden anhand literarischer Seuchendarstellungen in der Zürcher Dissertation von Esther Claudia Orell eingehend untersucht.34 Den Fokus auf wertvermittelnde Textstrategien im Grenzverkehr zwischen Literatur und Medizin richtet ebenfalls Beate Schappach in ihrer Dissertation. Sie untersucht darin unter anderem das rätselhafte Auftauchen und Verschwinden der Hautläsionen des Kaposisarkoms im Gesicht des Protagonisten des Aids-Films »Philadelphia«.35 Der vorbildliche Kranke, dargestellt vom Sym34 | Orell, Esther Claudia: Die Macht der Benennung. Literarische Seuchendarstellungen und ihre wertvermittelnde Funktion. Dissertation Universität Zürich 2005. 35 | Schappach, Beate: Das Kaposisarkom als Bild im Aidsdiskurs. In: Dies.: Aids in Literatur, Theater und Film. Zur kulturellen Dramaturgie eines Störfalls. Zürich 2012, S. 143-163.

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pathieträger Tom Hanks, zeigt seine Stigmata öffentlich, wenn er leidet und in der Nachfolge Christi vor dem Richter steht. Aber ebenfalls in der Nachfolge Christi verschwinden die entstellenden Wundmale in der Phase der Apotheose aus seinem Gesicht. Hier wird die medizinische Wahrheit gebeugt, um ästhetische Identifikation zu steuern. Das Forschungsfeld Literatur–Medizin steht, wie das umfassender angelegte Forschungsfeld Literatur und Wissen allgemein, im deutschen Sprachraum vor allem im Zeichen der Analyse von Kognitionsformen, der Analyse von Wissens-Konzepten, Strategien der Wissens-Produktion und der WissensKommunikation. Repräsentativ für diese Forschungsperspektive sind zurzeit zwei Publikationen: der Sammelband »Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur«36 und der »Schwerpunkt Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion« in der Zeitschrift für Germanistik.37 In beiden Sammelbänden geht es darum, Schreibstrategien und Vertextungsmuster in Literatur und Medizin auf Analogien und Differenzen hin zu untersuchen, und zwar auf der Ebene der textuellen Mikrostrukturen, also gleichsam der kleinen Bausteine traditioneller Genres. Vergleicht man die in den beiden genannten Sammelpublikationen präsentierten Arbeiten mit den im Umkreis des Zürcher Arbeitskreises Literature– Medicine–Gender verfassten Studien,38 fällt eine charakteristische Differenz der Perspektive ins Auge. Die Zürcher Arbeitsgruppe interessiert sich nicht allein und vordringlich für Formen der Wissenspräsentation in Texten, sondern besonders auch für die wertvermittelnde Funktion und deren rhetorische Implementierung, die bei der Selektion und Überformung bestimmter medizinischer Wissensbestände und Sachverhalte durch literarische Texte und andere künstlerische Darstellungsweisen zu beobachten sind. Wenn bei dieser Grenzüberschreitung von Wissensbeständen zwischen medizinisch-wissenschaftlichen und literarischen Diskurs- und Textformen Selektion und Transformation zu beobachten ist, lässt sich daraus, so die Arbeitshypothese, relativ stringent die wertvermittelnde Rhetorik und damit das Wirkungspotential und die gesellschaftliche Funktion der literarischen Texte rekonstruieren.

36 | Pethes, Nicolas und Richter, Sandra: Medizinische Schreibweisen. Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600-1900). Tübingen 2008. 37 | Košenina, Alexander u.a. (Hg.): Schwerpunkt Fallgeschichten. Von der Dokumentation zur Fiktion. In ders.u.a. (Hg.): Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, XIX/2, Bern u.a. 2009, S. 283-395. 38 | Vgl. die Arbeiten von Käser, Orell und Schappach sowie mehrere Beiträge in diesem Band.

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5. S OZIOLOGIE UND S OZIALGESCHICHTE DES M EDIZINALWESENS Nachdem ausgehend von Foucault gezeigt wurde, mit welchen textanalytischen Ansätzen im Bereich Literatur und Medizin das Problem der Mikroanalyse bearbeitet werden kann, muss die Schlaufe der Argumentation noch einmal zu Foucault zurückgebogen werden, um ein zweites Problem zu benennen, das Foucault ungelöst zurückgelassen hat und das die theoretische Reflexion kulturwissenschaftlicher Literaturanalyse wahrscheinlich dazu zwingen dürfte, im Anschluss an Foucault über ihn hinaus zu gehen. Es betrifft die makroanalytische Ebene, d.h. die Frage nach den Gründen des Entstehens und Vergehens von Epistemen und Dispositiven der Macht. Dazu hat Foucault beharrlich geschwiegen. Er hat Brüche aufgezeigt, Kontinuitäten eher in den Hintergrund gerückt – und zu Kausalitäten nichts gesagt. Den Einzelnen hat Foucault in seinen späten Studien, z.B. im Kontext seines Aufsatzes »Das Leben der infamen Menschen«, vor allem als Potential des Widerstands gegen die Vereinnahmung durch Dispositive der Macht ins Auge gefasst.39 Doch wie entstehen Dispositive der Macht? Es sind ja keine sich selbst bewegenden Entitäten, die aus einem Jenseits niedersteigen und sich Menschen einverleiben. Dispositive der Macht ziehen ihre ›Betriebsenergie‹ letztlich doch aus den Kräften Einzelner, die sich durch vergesellschaftendes Handeln in Kollektive einbinden und dadurch soziale Gebilde konstituieren, welche dann aufgrund emergenter Strukturen und Dynamiken Potentiale entfalten, die sich auch wieder gegen den Einzelnen richten und ihm als Macht entgegentreten können. Dass solche emergenten gesellschaftlichen Prozesse eine strukturierte Dynamik aufweisen, die als langfristig wirksame Skripts zur Inszenierung gesellschaftlicher Integrationsprozesse beschrieben werden können, hat Marco Pulver in seiner Studie »Tribut der Seuche oder: Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung« eindrücklich gezeigt.40 Pulver beschreibt anhand reicher Materialien, dass die gesellschaftliche Kommunikation epidemischer Seuchen-Ereignisse immer und immer wieder nach demselben Eskalationsschema sowohl abläuft wie auch beschrieben wird. Dieses Eskalationsschema erlaubt einem gesellschaftlichen System im Krisenfall offensichtlich, kommu39 | Vgl. dazu die Textkonstellation und den biographischen Essay von Stingelin, Martin (Hg.): Michel Foucault. Freiburg 2009, bes. S. 176. 40 | Pulver, Marco: Tribut der Seuche oder: Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung. Eine Rekonstruktion des AIDS-Diskurses vor dem Hintergrund von Studien zur Historizität des Seuchendispositivs. Frankfurt a.M. u.a. 1999. Daran anschließend vgl. Käser, Rudolf: Wie und zu welchem Ende werden Epidemien erzählt? Zur kulturellen Funktion literarischer Seuchendarstellung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Bd. 29, 1. Heft, 2004, S. 200-227.

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nikative Prozesse zu vermehren, zu intensivieren und zu kanalisieren und so eine Rekalibrierung der erschütterten integrativen Wertsysteme zu erzielen, allerdings immer um den Preis verstärkter Kontrolle des Verhaltens und gegebenenfalls des Ein- oder Ausschlusses abweichender Individuen. Pulvers Verdienst ist es, beides aufzuzeigen, sowohl die positive integrative Leistung dieses Seuchen-Dispositivs aus Sicht der Gesellschaft, wie eben auch den Tribut, den Einzelne entrichten müssen und den sie als repressiv empfinden. Diese polare und irreduzible Doppelperspektive in ihrer Ambivalenz auszuhalten, stellt eine große Herausforderung an kulturwissenschaftliche Theoriebildung und Beschreibungspraxis dar. Angesichts des Tributs, den gesellschaftliche Integration dem Einzelnen abverlangt, stellt sich die Frage: Warum investieren sich Einzelne in die Vergesellschaftung, statt sich zu atomisieren? Was haben sie davon? Kann man jenseits der Foucaultschen Tendenz zur machtkritischen Dekonstruktion diskursiver Dispositive einen Sinn entwickeln für die positive Leistung der Institutionen für das Leben der vergesellschafteten Einzelnen? Wie funktionieren Gesellschaften? Wie entstehen und vergehen gesellschaftliche Formationen, wie ist ihr Wandel zu beschreiben und zu erklären? Diese und ähnliche Fragen fallen in den Bereich der Soziologie und der Sozialgeschichte. Die Soziologie des Medizinalwesens war für Talcott Parsons, den US-amerikanischen Begründer des soziologischen Strukturfunktionalismus, zeitlebens ein prominenter Gegenstand der Untersuchung und Theoriebildung. Die Summe dieser Lebensarbeit legte er in seinem Buch »Action Theory and the Human Condition« nieder.41 Alle nachfolgenden Ansätze zur Soziologie und Sozialgeschichte der Medizin haben wohl von Parsons virtuoser Analyse der »Patientenrolle« mit ihren Entlastungen, Gratifikationen und Tributen profitiert, auch wenn in historischer Perspektive im Einzelnen aufgezeigt werden kann, dass die Verhältnisse, wie Parsons sie in der US-amerikanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts vorfand, weder langfristig konstant noch interkulturell generalisierbar sind. Für die Frage »Wie entstehen Dispositive der Macht?« hat der soziohistorische Ansatz Roy Porters und insbesondere sein Buch »Health for Sale. Quackery in England 1660-1850« viel Neues in die Diskussion eingebracht.42 Porter und seine Schule geben sich nicht damit zufrieden, den Wandel, den Foucault (und andere) um 1770 ansetzen, einem irgendwie spontanen, in der Tiefenstruktur von Zeichenspielen sich aleatorisch ereignenden epistemologischen Bruch zuzuschreiben. Porter schreibt eine Sozialgeschichte der Medizin aus 41 | Parsons, Talcott: Action Theory and the Human Condition. New York 1978. 42 | Porter, Roy: Health for Sale. Quackery in England. 1660-1850. Manchester und New York 1989. Vgl. auch Porter, Dorothy und Porter, Roy: Patient’s Progress. Doctors and Doctoring in Eighteenth-Century England. Stanford 1989.

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Sicht des Patienten. Und er zeigt auf, dass es die Nachfrage nach Gesundheit gab, die zu einem strukturierten Markt für Medikamente und Heilpraktiken führte, lange bevor die Medizin eine naturwissenschaftlich-technische Wissenschaft mit nachweisbaren Erfolgen im heutigen Sinne war. Es ist vielmehr umgekehrt: Die moderne, sich naturwissenschaftlich verstehende Schulmedizin erbt Marktstrukturen, die von pionierhaften Rollenträgern aufgebaut wurden, die der modernen Medizin ex post als Quacksalber erscheinen. Die Herausbildung eines öffentlichen Raums, eines durch Printmedien getragenen öffentlichen Diskurses über Gesundheit und Krankheit und eines strukturierten und wirtschaftlich relevanten Medizin-Marktes mit differenzierten Rollen entstehen parallel zueinander und in sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkungen, lange bevor die Medizin naturwissenschaftlich in einem heutigen Sinne des Wortes wurde. Es wäre also ein Kurzschluss, die Professionalisierung und Kommerzialisierung der Medizin kritisch dem sich profilierenden Ärztestand und einem von den Ärzten inszenierten Dispositiv der Macht alleine anzurechnen. Für systemischen Wandel gibt es keine Einzeltäter. Gesellschaftliche Systeme können entstehen, sich wandeln und sich im Wandel erhalten, weil und so lange durch ihre Vermittlung die Nachfrage Vieler in systemische Praxis gebündelt und in einem akzeptierten Maße einer Befriedigung zugeführt werden kann. Die Zusammenführung von strukturfunktionaler Soziologie und Sozialgeschichte des Patienten hat eine fruchtbare Perspektive für weiterführende Untersuchungen des Medizinalwesens und seiner Geschichte eröffnet. In dieser Perspektive ist z.B. Robert Jüttes Studie zum Medizinalwesen der Stadt Köln in der frühen Neuzeit zu erwähnen.43 Jütte leitet das Stuttgarter Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, wo der sozialgeschichtliche Blick auf die Geschichte der Medizin weiter entwickelt wird, z.B. in dem von Martin Dinges und Thomas Schlich 1995 herausgegebenen Sammelband »Neue Wege in der Seuchengeschichte«, der den strukturfunktionalen Ansatz explizit diskutiert und Wege aufzeigt, wie er für sozialhistorische Analysen zu handhaben ist, z.B. dadurch, dass die Analyse sich von der ärztezentrierten Sicht der Medizingeschichte abwendet, sich auch vom Rollendualismus des Verhältnisses Arzt-Patient befreit und alle Aktanten und Funktionen des Medizinalwesens in die Analyse einbezieht.44

43 | Jütte, Robert: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit. München und Zürich 1991. 44 | Dinges, Martin und Schlich, Thomas (Hg.): Neue Wege in der Seuchengeschichte. Stuttgart 1995.

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6. S YMBOLISCHER I NTER AK TIONISMUS/K ULTURKRITIK / G ENDER A NALYSIS Die Landkarte der Methodenansätze wäre unvollständig ohne den Hinweis auf einen Gründungstext der kulturkritischen Auseinandersetzung mit der modernen Medizin, nämlich auf Ivan Illichs Essay »Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens«.45 In einer Zeit wie der heutigen, in der das moderne Gesundheitswesen an die Grenze seiner ökonomischen Tragbarkeit stößt und die einzige Antwort auf die Krise darin zu bestehen scheint, resigniert das Auseinanderbrechen in eine Zweiklassenmedizin zu konstatieren, ist Illichs Buch wiederum brennend aktuell. Nicht nur hat er den Forschrittsmythos, mit dem sich die Medizin gerne umgab und umgeben ließ, als Historiker nachhaltig in Frage gestellt, er hat mit Methoden des symbolischen Interaktionismus auch dargelegt, was mit traditionalen Kulturen geschieht, wenn sie in den Einflussbereich der modernen Medizin geraten. Illich zeigt auf, wie der Diskurs sich aufspaltet in einen dominanten Diskurs der Fachleute und einen entwerteten Diskurs der Laien. Die Laien werden dadurch nicht nur der Sprache zur Beschreibung ihres Leidens beraubt, sondern sie verlieren mit der Zuständigkeit für das Pathologische auch das Vertrauen in die tradierten kulturellen Praktiken im Umgang mit dem eigenen Schmerz und dem Leiden anderer. Zusammen mit dem Zugang zu den schmerzlindernden Drogen wird ihnen der Zugang zur autochthonen Kultur des Leidens entrissen. Auch Barbara Duden schreibt die Modernisierungsgeschichte des Gesundheitswesens kritisch als Enteignungsgeschichte. In ihrem Essay »Der Frauenleib als öffentlicher Ort« zeigt Duden auf, wie moderne bildgebende Verfahren das bisher Verborgene, das in der Obhut der Frauen stehende Geheimnis der ›Leibesfrucht‹, sichtbar machen und es damit als ›Fötus‹ objektivieren. Die Schwangerschaft wird damit zum Gegenstand öffentlicher Kontrolle und Normalisierung.46 Als Gegenstück hat sie in ihrem Buch »Geschichte unter der Haut« das Verhältnis eines Frauenarztes zu seinen Patientinnen vor dem Modernisierungsschub eindrücklich rekonstruiert.47 Um 1730 stellt der Frauenarzt seine Diagnosen und Therapievorschläge noch völlig auf das Gespräch mit 45 | Illich, Ivan: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens. Deutsch von Th. Lindquist. Reinbek b. H. 1977. 46 | Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben. Hamburg und Zürich 1991. Dudens kulturkritischer Blick auf neue Bildgebungsverfahren in der Medizin und deren kulturelle Auswirkungen müssten heute weitergeführt werden. Ansätze dazu finden sich in Burri, Regula Valérie: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Bielefeld 2008. 47 | Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987.

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seinen Patientinnen ab. Zwischen dem Diskurs der Frauen über ihren Körper und dem des Arztes gibt es nach Duden keinen diskursiven Bruch. Das Verhältnis von Arzt und Patientin ist ganz auf Sprache gegründet, untersuchende Berührung des weiblichen Körpers und Entblößungen desselben vor dem ärztlichen Blick kommen nicht vor. Es war und ist die feministische Gender-Forschung, die wesentliche Beiträge zur Erkenntnis der kulturellen Bedeutung der Medizin für die Neuverhandlung der Gender-Differenz im Modernisierungsprozess und zur Kritik an den damit verbundenen Macht- und Kontrollpraktiken geleistet hat. Erwähnen möchte ich hier, stellvertretend für viele andere Studien, die erwähnt werden müssten, nur das bahnbrechende Buch »Krankheit Frau« der Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger48 und die Studie Eliane Showalters zur Geschichte der Hysterie.49 Karen Nolte hat kürzlich in einem Aufsatz »Zum Besten der Menschheit und zu Ehren der Kunst. Ärztliche Autorität in Fallberichten über Gebärmutterkrebsoperationen um 1800« aufgezeigt, wie die Gender-Differenz bei der Konstitution der Gynäkologie als chirurgische Wissenschaft funktioniert hat.50 Der Aufsatz zeigt ein Horrorkabinett aus der Urgeschichte der Chirurgie. Was männliche Ärzte in diesem Zusammenhang am Leib kranker Frauen vorgenommen haben, aus heutiger Sicht jenseits jeder vernünftigen Aussicht auf Heilung oder Linderung, ist eines der vielen finsteren Kapitel in der langen Geschichte medizinischer Menschenversuche. Wiederum enger auf literaturwissenschaftliche Textanalyse bezogen haben Vera und Ansgar Nünnig in jüngster Zeit aufgezeigt, wie die Analyse der Konstruktion von Gender-Differenzen auf allen Ebenen literaturwissenschaftlicher Textanalyse fruchtbar gemacht werden kann. Hinweisen möchte ich exemplarisch nur auf den von ihnen herausgegebenen Sammelband »Erzähltextanalyse und Gender Studies«, der heute den Methoden-Standard für gender-orientierte Erzähltextanalyse darstellen dürfte: Kulturwissenschaftliche Gender-Forschung wird hier mit avancierten Methoden textanalytischer Mikroanalysen zusammengeführt.51 Mit diesen Methoden arbeitet u.a. die Zürcher Dissertation von Susanne Balmer zu literarischen Narrativen weiblicher

48 | Fischer-Homberger, Esther: Krankheit Frau. Bern 1979. 49 | Showalter, Elaine: The Female Malady. Women, Madness, and English Culture, 1830-1980. New York 1985; Dies.: Hystories. Hysterical Epidemics and Modern Media. New York 1997. 50 | Nolte, Karen: ›Zum Besten der Menschheit und zu Ehren der Kunst‹. Ärztliche Autorität in Fallberichten über Gebärmutterkrebsoperationen um 1800. In: Pethes und Richter (Hg). 2008, S. 245-265. 51 | Nünnig, Vera und Nünnig, Ansgar: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart 2004.

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Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert.52 Darstellungen weiblicher Entwicklungen durch Autorinnen stehen in diesem Zeitraum alle im Spannungsfeld sozialer und naturwissenschaftlicher Konzeptionen und Neukonzeptionen von Entwicklungsvorstellungen, die sowohl als semantische Bestände im literarischen Text explizit diskutiert werden wie auch als implizite Axiologien in sinnbezogene Plotmuster und Mustervarianten für weibliches Verhalten ausgelegt werden. Balmer unterscheidet im untersuchten Zeitraum vier Narrative weiblicher Entwicklung mit typischen Erzählstrukturen und typischen axiologischen Implikationen: Narrativ der Perfektibilität, Narrativ der Pathologie, Narrativ der Revolution und Narrativ der (darwinistisch verstandenen) Evolution. Besonders interessant erscheint Balmers Nachweis, dass die Handhabung des Narrativs der Pathologie und des Narrativs der (darwinistischen) Evolution durch Schriftstellerinnen wider Erwarten ein gesellschaftskritisches Wirkungspotential entfalten kann, das in der traditionellen ästhetischen und literaturhistorischen Würdigung dieser Werke bisher nicht adäquat wahrgenommen wurde.

7. R EFERENZR AHMEN S YSTEMTHEORIE Die Lektüre aktueller literarischer Texte zeigt auf, dass die Sicht der Medizin auf die Krankheit einerseits und die Sicht des leidenden Subjekts auf seine Krankheitserfahrung andererseits sich unter den Voraussetzungen der Moderne nicht mehr zur Deckung bringen lassen. Die Kluft, die sich hier öffnet, ist nicht nur die Kluft zwischen Laienwissen und Expertenwissen, die man durch Information und Dialogkultur überbrücken könnte. Zwar hat die linguistische Gesprächsanalyse sich der Arzt-Patienten-Kommunikation eindringlich gewidmet.53 In der praktischen Ausbildung von Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal hat Gesprächsführung heute einen unbestrittenen Platz; dies hat positive Effekte, so dass die krassen Verständigungsprobleme, welche das literarisch gestaltete Verhältnis von Arzt und Patient bisher oft prägen und motivieren, in der praktischen Wirklichkeit vielleicht seltener werden dürften. Doch wie die gesundheitsökonomischen Krisen und Debatten z.B. um die Rationierung medizinischer Leistung heute deutlich zeigen, ist die Spaltung der Diskurse radikal, systemisch bedingt und lässt sich nicht durch Kommunikation zwischen Einzelpersonen nachhaltig kurieren. Das Sinnbedürfnis eines Patienten und die Selbsterhaltung einer Gesellschaft folgen systemisch differenten Regeln. 52 | Balmer, Susanne: Der weibliche Entwicklungsroman. Individuelle Lebensentwürfe im bürgerlichen Zeitalter. Köln 2011 (Dissertation Universität Zürich 2010). 53 | Brünner, Gisela und Gülich, Elisabeth: Verfahren der Veranschaulichung in Experten-Laien-Kommunikation. In dies. (Hg.): Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen. Bielefeld 2002, S. 17-93.

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Was wir als Kommunikationskrise zwischen Arzt und Patient beobachten, ist oft der Manifestationsort und Austragungsplatz der Abgrenzung zweier interpenetrierender Systeme vom Typ ›Psyche‹ resp. ›Gesellschaft‹, die für einander Umwelt bleiben, auch und gerade dann, wenn sie in bestimmten Situationen gekoppelt sind und sich aufgrund dieser Koppelung koevolutiv entwickeln. Der Diskurs der Medizin in seiner Ausprägung als neuzeitliche Schulmedizin versteht sich als zugehörig zum ausdifferenzierten System Wissenschaft und codiert seine internen Kommunikationen nach der Differenz wahr/unwahr. Wir haben es hier mit der Eigenlogik einer Institution, also mit einem gesellschaftlichen System zu tun. Die kranke Person, insofern sie ein Bewusstsein ihrer selbst hat und in der pathogenen Krise aufrechterhält, ist ein psychisches System und operiert nach der Differenz sinnhaft/sinnlos.54 Im Bereich der Pathologie hat die funktional differenzierte Gesellschaft Institutionen geschaffen, die Krankheit als gesellschaftliche Irritation prozessieren, z.B. die Kliniken. Für die Institution Klinik als gesellschaftliches System ist der einzelne Patient eine Ressource, also in etwa das, was für das mechanische System Auto das Benzin darstellt: Ohne Ressource läuft nichts, sie wird gebraucht. Zwar braucht auch der einzelne Kranke vielleicht die Klinik, um zu überleben, aber ebenso dringend braucht die Klinik die Kranken, die sie prozessiert und mittels derer sie ihre Autopoiesis als Organisation nach den ihr eigenen Regeln vollzieht. Vielleicht geht es dem Einzelnen dann besser, vielleicht auch nicht. Aus der Perspektive des Einzelnen ist dies zwar ein sehr wichtiger Unterschied. Das gesellschaftliche System Klinik jedoch muss mit beidem umgehen können und kann es im Rahmen des logistisch Tragbaren meist auch. Die für den Einzelnen entscheidende Differenz, Sein oder Nichtsein, ist und bleibt für das gesellschaftliche System jedoch eine Kontingenz. Trotzdem leben die meisten Einzelnen, wenn sie die Wahl haben, gerne an Orten, wo im Bedarfsfall eine funktionstüchtige Klinik erreichbar ist, die sie aufnimmt – und sie bezahlen für diese Option. Eine prägnante literarische Darstellung dieser Diskursverhältnisse findet sich in Maja Beutlers Krebs-Autographie »Fuss fassen«. Der literarische Befund zum dargestellten Scheitern der Kommunikation zwischen Arzt und Patientin lautet dort: »Geschlossener Kreislauf da, geschlossener Kreislauf dort. Und jetzt muss alles übersetzt werden, endlos«.55 Dieser Wunsch nach der endlosen Übersetzung ist in Maja Beutlers Text dem Bewusstsein der Patientin eingeschrieben. Er findet auf der anderen Seite der medizinischen Experten keine 54 | Vgl. dazu Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt a.M. 1980, S. 9-72; Ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1984; Ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995; Ders.: Macht. Stuttgart 2003. 55 | Beutler, Maja. Fuss Fassen. Roman. Bern 1981, S. 85.

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Aufnahme. Was der Literatur zu tun bleibt, ist die Darstellung dieser Inkompatibilität durch die Konstellierung mehrerer Stimmen zu einem polyphonkontrapunktischen Textgeflecht, einem »symphonischen Satz«, so die Kapitelüberschrift, in dem es gerade darauf ankommt, die irreduzible Fremdheit der Stimmen und Sichten hörbar und lesbar zu machen. Auf diesen Kontrapunkt kommt es an. Es hilft heute nicht weiter, die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft und ihr Medizinalwesen einseitig aus der Sicht des einzelnen Patienten zur kritisieren. Der Einzelne ist aus Sicht der Systemtheorie nicht Teil der Gesellschaft, sondern er gehört zu ihrer Umwelt, er ist für sie Ressource. Daher können Systemtheoretiker auch sagen, dass in gewisser Weise das System stets weniger ist als die Summe seiner Teile.56 Gerade aufgrund dieser Negativdifferenz, aufgrund dieser Komplexitätsreduktion funktioniert das System. Die berüchtigte und viel kritisierte medizinische Rede vom »Blinddarm auf Zimmer 52« benennt dieses Verhältnis hart, aber exakt: Einen »Blinddarm« kann das System behandeln, einen »ganzen Menschen« nicht. Umgekehrt ist es so, und gerade davon legen literarische Texte Zeugnis ab, dass es psychische Systeme gibt, die an der Konstitution ihres Sinns arbeiten. Gegen die strukturalistische und zum Teil auch noch poststrukturalistische Reduktion des Subjekts auf einen Effekt der Sprache kann die Systemtheorie also sagen, dass die kommunizierten Selbstbilder individueller Sprecher nicht restlos als Produkte systemischer Dispositive der Macht erklärt werden können.57 Was also tut Literatur? Oliver Sill, der die Ansätze Luhmanns zur Bestimmung des operativen Codes des Systems Kunst diskutiert und kritisiert, gibt eine originelle und tragfähige Antwort: Literatur in funktional differenzierten Gesellschaften beobachtet Beobachter, ist also Beobachtung zweiten Grades.58 56 | Willke, Helmut. Systemtheorie II: Interventionstheorie. Grundzüge einer Theorie der Intervention in komplexe Systeme, S. 56. 57 | Die Luhmannsche Systemtheorie betont die Eigengesetzlichkeit und die irreduzible Differenz der lose gekoppelten Systeme Psyche und Gesellschaft. Damit lehnt sie alle Versuche ab, seien es strukturalistische oder hermeneutische, die eine Seite auf die andere zu reduzieren. Ob allerdings zur Beschreibung und theoretischen Modellierung der Interpenetration und der Evolution von Formen der Interpenetrationssphäre nicht andere Ausprägungen der Gesellschaftstheorie nötig und fruchtbar wären, die das Verhältnis von Handlung und Struktur flexibler und vor allem gestaltbarer zu denken erlauben, muss hier offen bleiben. Zu diskutieren wäre unter diesem Gesichtpunkt z.B. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M. 1988. Für den Hinweis auf Giddens danke ich Patricia Käppeli, die in ihrer Dissertation (Käppeli 2013)mit den Kategorien Giddens literarische Modelle der Vergesellschaftung in Dramen Friedrich Dürrenmatts untersucht. 58 | Sill, Oliver: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven auf ein komplexes Phänomen. Darmstadt 2001, S. 172f.

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Im Rahmen des Arbeitskreises Literature–Medicine–Gender wurde darüber hinaus die Arbeitshypothese entwickelt und erprobt, dass das System Literatur seine Beobachtungen zweiten Grades codiert mit Hilfe der Differenz ›gesellschaftlich problematisierbare Beobachtung‹ vs. ›gesellschaftlich nicht problematisierbare Beobachtung‹.59 Literatur beobachtet z.B. wie ein Arzt die Krankheit seiner Patientin wissenschaftlich beobachtet und wie eine Patientin ihre eigene Krankheitserfahrung beobachtet. Literatur konfrontiert diese beiden Beobachtungsweisen für die Leserschaft und weist dadurch darauf hin, dass beide nicht Letztbeobachtungen sein können. Der kanadische Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking hat die erkenntnistheoretischen Implikationen des sozialen Konstruktivismus, dem auch die Systemtheorie zuzuordnen ist, einer scharfsinnigen Analyse unterzogen und darauf hingewiesen, dass die Aussage, ein bestimmtes Weltmodell sei sozial konstruiert, implizit immer auch behaupte, dieses Modell sei kontingent und könnte also auch anders konstruiert werden.60 Dieses Grundaxiom jeder konstruktivistischen Beobachtung eines Weltmodells kann modalisiert werden. Es kann eine wertneutrale Feststellung sein, es kann aber auch wertend gemeint sein, und diese Wertung kann das ganze Spektrum abdecken zwischen ungeteilter Affirmation und völliger Negation. Es kann zudem Alternativen andeuten oder dies unterlassen. Hacking spricht in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen »Interventionsniveaus« konstruktivistischen Beobachtens von Beobachtungen. Was für Weltmodelle jeglicher Art gilt, gilt auch für die literarischen. Daraus lässt sich nun kombinierend ableiten: Wenn Literatur mit Luhmann und Sill verstanden werden kann als Beobachtung zweiter Ordnung, dann ist sie immer auch gekennzeichnet durch ein Interventionsniveau in Bezug auf die Geltung der beobachteten Beobachtung von Welt. Bezogen auf das Verhältnis von Literatur und Medizin in der neuzeitlichen Gesellschaft führt dies zu folgender These: Die Art und Weise, wie in der westlichen Gesellschaft Krankheit erlitten und wie gestorben wird, hat sich durch die Institutionalisierung der Medizin und der Hygiene rasant verändert. Literatur hat im 18., 19. und 20. Jahrhundert diesen Wandlungsprozess begleitet und bewertend reflektiert. Sie hat als Medium der Kommunikation diesen Wandlungsprozess auch mitgestaltet, sei es durch Kritik, sei es durch Affirmation oder durch Kommu59 | Vgl. dazu Leibacher, Rahel: Der Roman – (k)eine gefährliche Lektüre. Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2006 und ihr Beitrag in diesem Band S. 63-85. 60 | Hacking, Ian: Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in der Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1999. Als mögliche Interventionsniveaus sozialer Konstruktion von Differenzen nennt Hacking S. 39 die Haltungen »historisch, ironisch, reformistisch, entlarvend, rebellisch, revolutionär. » In Auseinandersetzung mit literarischen und massenmedialen Texten mit pathologisierender Tendenz muss diese Liste um die Werthaltung der entschiedenen Affirmativität erweitert werden.

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nikation bewerteter Alternativen. Literatur ist also in jedem Falle Intervention in die Prozesse gesellschaftlicher Kommunikation, die sie darstellt.

L ITER ATUR Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. H. 2006. Balmer, Susanne: Der weibliche Entwicklungsroman. Individuelle Lebensentwürfe im bürgerlichen Zeitalter. Köln 2011 (Dissertation Universität Zürich 2010). Beutler, Maja: Fuss Fassen. Roman. Bern 1981. Bourdieu, Pierre: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992. Brünner, Gisela und Gülich, Elisabeth: Verfahren der Veranschaulichung in Experten-Laien-Kommunikation. In: Dies. (Hg.): Krankheit verstehen. Interdisziplinäre Beiträge zur Sprache in Krankheitsdarstellungen. Bielefeld 2002, S. 17-93. Burri, Regula Valérie: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Bielefeld 2008. Dinges, Martin und Schlich, Thomas (Hg.): Neue Wege in der Seuchengeschichte. Stuttgart 1995. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Stuttgart 1987. Duden, Barbara: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben. Hamburg und Zürich 1991. Engelhardt, Dietrich von: Medizin und Literatur in der Neuzeit. Perspektiven und Aspekte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs), Bd. 52, Heft 3, 1978, S. 351-380. Engelhardt, Dietrich von: Medizin in der Literatur der Neuzeit. Bd. 1: Darstellung und Deutung. Bd. 2: Bibliographie der wissenschaftlichen Literatur. Hürtgenwald 1991. Erhart, Walter: Medizin – Sozialgeschichte – Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL), Bd. 29, 1. Heft, 2004, S. 118-128. Fischer-Homberger, Esther: Krankheit Frau. Bern 1979. Foucault, Michel: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1961. Foucault, Michel: La naissance de la clinique. Une archéologie du regard medical. Paris 1963. Foucault, Michel: Qu’est-ce qu’un auteur? In: Bulletin de la Société française de Philosophie 63, Nr. 3, 1969, S. 73-104.

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Konstruktion weiblicher und männlicher Identitäten

»Ganz ungewöhnlich eindrucksfähig« Krankheit in literarischen Weiblichkeitsentwürfen des 18. und 19. Jahrhunderts Susanne Balmer

»[D]ie Begegnung mit der Sphäre der Kunst, erotische Seelenabenteuer, die Selbsterprobung im Beruf und bisweilen auch der Kontakt zum öffentlichen Leben«1 sind die typischen inhaltlichen Elemente, die Jürgen Jacobs und Martin Krause für männliche Entwicklungsgeschichten wie »Wilhelm Meisters Lehrjahre« von Johann Wolfgang Goethe oder »Der grüne Heinrich« von Gottfried Keller ausmachen. Protagonistinnen, die sich in ähnlicher Weise vielfältig und aktiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, finden sich auch in vielen weiblichen Entwicklungsgeschichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Liebe, Beruf und Kunst gehören in Romanen wie »Geschichte des Fräuleins von Sternheim« (Sophie von La Roche, 1771) »Amalie« (Marianne Ehrmann, 1788) oder »Julchen Grünthal« (Friederike Helene Unger, 1798) zu den Faktoren, die den dargestellten Entwicklungsverlauf der weiblichen Hauptfigur entscheidend prägen. Sophie von Sternheim sichert sich ihren Lebensunterhalt als Gesellschafterin, Amalie als Schauspielerin. Liebschaften, erste Ehen oder auch Scheinehen gehören zum festen Repertoire dieser frühen Texte. Blickt man jedoch auf weibliche Entwicklungsromane des 19. Jahrhunderts, fällt auf, dass diese inhaltlichen Elemente dort fast ganz fehlen. Die Romane nach 1800 zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass ihre Hauptfiguren von allen möglichen Formen der Begegnung mit gesellschaftlichen Phänomenen abgehalten werden. Die Protagonistinnen bleiben auf den privaten Raum verwiesen und erhalten nicht die Möglichkeit, sich über ihre biologische Funktion als Tochter und Mutter hinaus in die Gesellschaft einzubringen. An die Stelle von Beruf, Kunst und Gesellschaft tritt in diesen Romanen die Familie mit ihren Konflikten. Im Zentrum des dargestellten Entwicklungsprozesses 1 | Jacobs, Jürgen und Krause, Markus: Der Deutsche Bildungsroman – Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München 1989, S. 37.

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steht der entsagungsvolle Verzicht der Hauptfiguren auf Selbstbestimmung. Als strukturierendes Moment der Handlung taucht dabei überaus häufig die wiederholte Erkrankung der Hauptfigur auf. Fieberschübe, Bluthusten, physische und psychische Ermattung und hysterische Anfälle gehören zu den Krankheitsbildern, die in Romanen wie »Luise« von Therese Huber von 1796 und »Gabriele« von Johanna Schopenhauer von 1821, »Aus guter Familie« von Gabriele Reuter von 1895 und »Schicksale einer Seele« von Hedwig Dohm von 1896 verwendet werden. Diese Darstellungen weiblicher Krankheit sollen im Folgenden im Kontext der Dichotomisierung der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts untersucht werden. Es soll gezeigt werden, dass sie eine entscheidende Rolle für den Entwurf von Weiblichkeit und weiblicher Entwicklung in den Romanen spielen, da sie als eigentlicher Angelpunkt der Kritik am bürgerlichen Weiblichkeitsmodell verstanden werden müssen.

1. G ESCHLECHT UND K R ANKHEIT IM 19. J AHRHUNDERT Im Zuge einer Neuordnung der Geschlechterverhältnisse wird der Mann im ausgehenden 18. Jahrhundert zunehmend als autonomes Individuum konzipiert. Komplementär dazu wird die Frau zum »anderen« Geschlecht erklärt, deren Identität sich in erster Linie in ihrer »natürlichen« Rolle als Tochter, Ehefrau und Mutter ausdrückt.2 Die weibliche Sexualität wird immer stärker auf die Funktion der Reproduktion festgelegt. Die Frau wird so zum eigentlichen Gattungswesen erklärt, ihre Entwicklung entsprechend nicht als Individuierung verstanden. Legitimiert wird dieser Dualismus entscheidend durch die aufkommende empirische und experimentelle Forschung in der Anatomie und Medizin, also durch die, wie es Claudia Honegger ausdrückt, »wahr zunehmende Natur«3. Eng mit dieser Entwicklung verflochten ist auch der medizinische Diskurs der Zeit. Dort kommt es um 1800 zu einer Verlagerung des Krankheitsgeschehens von den Körpersäften in die Organe und genau an diesen wird der Geschlechtsunterschied prominent festgemacht.4 Die Organe der Frau erschei2 | Siehe Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. München 1991, S. 179-181 und Stolzenberg-Bader, Edith: Weibliche Schwäche – Männliche Stärke. Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. In: Martin, Jochen und Zoepffel, Renate (Hg.): Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann. Bd. 2., Freiburg i.Br. und München 1989, S. 751-818, hier S. 765f. 3 | Honegger 1991, S. IX. 4 | Siehe Stolzenberg-Bader 1989, S. 751.

»Ganz ungewöhnlich eindrucksfähig«

nen den Anatomen kleiner und fragiler als die des Mannes, was negativ als Mangel an innerer Kraft im Bereich der Leibesstärke, des Geistes und Gemüts gedeutet wird.5 Generell als minderwertig eingestuft, übertrifft der weibliche Organismus den männlichen lediglich in seiner Fortpflanzungsfähigkeit. Folgerichtig wird die Gebärmutter auch als einziges weibliches Organ als derb beschrieben.6 Die Medizin um 1800 wertet auch das Nervensystem als die zentrale, dem Körper innewohnende Kraft gegenüber der Irritabilität der Muskeln auf. Dem weiblichen Organismus wird in diesem Kontext ein viel höherer Grad an Sensibilität zugeschrieben als dem männlichen. Dieser macht sie, so die Logik, besonders anfällig für ein durch »Geistesanstrengung« oder »Gemüthsbewegung« ausgelöstes Nervenleiden.7 Nervenfieber, Neurasthenie, Hysterie und Wahnsinn gehören zu den oft gestellten Diagnosen, mit denen Frauen mit oft diffusen Symptomen der Reizung konfrontiert werden. Folgerichtig werden die Leiden in einen engen Zusammenhang mit der weiblichen Biologie bzw. Sexualität gestellt. Menstruationsprobleme, Schwangerschaft und Mutterschaft können zu Wahnsinn oder Nervenleiden führen,8 wie ein Auszug aus Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1907 zeigt: So ist die Pubertät für disponierte Personen eine sehr gefährliche Zeit, manche Frauen sind während der Menstruation besonders empfänglich für geistige Störungen, 3 Proz. aller G. der Frauen kommen während der Schwangerschaft vor, 4,9 Proz. während der Stillungsperiode; manche erkranken im Wochenbett an Manie mit Halluzinationen schwerster Art, andre an Melancholie, Paranoia oder Dementia acuta. Ledige erkranken häufiger als Verheiratete. Im Greisenalter kommt Dementia senilis, im Klimakterium häufiger Melancholie, Paranoia vor. 9

Die Medizin beginnt also etwa ab 1800 der Frau eine genuine Nähe zu Krankheit zuzuschreiben, die Frauen, so könnte man sagen, generell krankzuschreiben. Weibliche Krankheit wird im medizinischen Diskurs zur Bestätigung der Vorstellung einer vor allem zur Reproduktion bestimmten und ansonsten körperlich und geistig schwachen Weiblichkeit ohne individuierte Entwicklung. Im Kontext dieser Verwissenschaftlichung des Geschlechtsunterschieds und der Pathologisierung des Frauseins werden die Darstellungen weiblicher 5 | Siehe Stolzenberg-Bader 1989, S. 766. 6 | Siehe Stolzenberg-Bader 1989, S. 769. 7 | Alle Zitate in diesem Satz: Herloßsohn, Carl (Hg.): Damen Conversations Lexikon. Bd. 7, Leipzig 1836, S. 401. 8 | Siehe auch Showalter, Elaine: The Female Malady. Women, Madness, and English Culture 1830-1980. New York 1985, S. 55. 9 | Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 7, Leipzig und Wien 1907, S. 499.

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Krankheit in den weiblichen Entwicklungsromanen des 19. Jahrhunderts als Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschlechterdichotomie lesbar. Dabei werden in den literarischen Texten die medizinischen Vorstellungen nicht lediglich dokumentiert, sondern vielmehr kritisch diskutiert und subvertiert: Indem die Romane den Fokus im Benennungsszenario und der Ätiologie der dargestellten Krankheit mittels der Perspektivstruktur und der Handlungslogik auf die sozialen Dimensionen weiblichen Leidens lenken, lösen sie ihn von der weiblichen »Natur«. Weibliche Krankheit wird in den Romanen zur Kritik an einer gattungsmäßigen Bestimmung der Frau, denn Krankheit wird in diesen Texten als Folge einer gesellschaftlich verhinderten Individuierung inszeniert. Die Darstellung der Medizin beziehungsweise der Mediziner selbst verändert sich in den Romanen. Kommt dem Arzt in den beiden frühen Romanen »Luise« und »Gabriele« noch eine gegenüber der gesellschaftlichen Konvention unabhängige Position zu, wird er in »Aus guter Familie« und »Schicksaale einer Seele« Teil des gesellschaftlichen Geschlechterdiskurses und bestimmt diesen maßgeblich. Diese Verschiebung deckt sich mit der schrittweisen Verwissenschaftlichung beziehungsweise der Biologisierung des Geschlechtsunterschiedes im Verlaufe des 19. Jahrhunderts.

2. »L UISE « – K R ANKHAF TE E NT WICKLUNG Der Roman »Luise« von Therese Huber (1796) erzählt die Krankheitsgeschichte der gleichnamigen Hauptfigur, einer jungen Bürgerstochter.10 Luise wird gegen ihren Wunsch mit dem adeligen Offizier Blachfeld verheiratet, der sie vernachlässigt, betrügt und sie um ihr ganzes Geld bringt. Von ihrer Familie, ihrer Mutter und ihren Brüdern, wird sie nach dem Tod des Vaters um ihr Erbe gebracht und während ihren wiederholten Krankheitsschüben der Pflege skrupellosen Personals überlassen. Die Erzählung endet, nachdem Luise ihren Ehemann mit ihrem Kind verlassen hat und dem Tod entgegensieht.

10 | Huber, Therese: Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. Hildesheim, Zürich und New York 1991. Der Roman »Luise« stammt von der Schriftstellerin, Übersetzerin und Redakteurin Therese Huber. Er wird 1796 ohne Vorabdruck in einer Zeitschrift, von der Wolfischen Buchhandlung Leipzig publiziert. Er erscheint anonym, genauso wie 1819 die zweite, unveränderte Auflage. Dies ist erstaunt insofern, als Huber ihre Anonymität bereits 1811 aufgibt und alle ihre anderen Werke von da an unter ihrem eigenen Namen erscheinen (Siehe Heuser, Magdalene: Nachwort zu Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. In: Huber, Therese: Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. Hildesheim, Zürich und New York 1991, S. 225-242, hier S. 226).

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Wiederkehrende Krankheitsschübe mit Fieber und Wahnvorstellungen strukturieren Luises Entwicklungsverlauf. Die Gesundheit Luises stellt sich nie ganz wieder ein, sondern verschlechtert sich nach jedem Anfall weiter. Für Luise gehören Selbstaufopferung und Duldsamkeit unabdingbar zu einer tugendhaften Weiblichkeit. Sie definiert sich ganz im Hinblick auf ihre Rolle als gehorsame Tochter und Ehefrau, obwohl sie von ihrer Familie und ihrem Ehemann permanent Misshandlungen erfährt. Dieser Wertstruktur wegen wird sie aus der Perspektive der auktorialen Er-Erzählinstanz »[a]ls Tochter und als Gattin gleich unglücklich!«11 Gleichzeitig aber kritisiert die Erzählinstanz die »Konvenienz«, also die hergebrachte Sitte, welche die Frauen diesem Wertesystem entsprechend erzieht und sie damit letztlich krank macht. »Weiblichkeit« wird damit von der Erzählinstanz zum Produkt von Sozialisation erklärt und nicht als biologisches Faktum begriffen. Dieser Deutung entspricht auch die im Roman der Medizin zugewiesene Position: Die Ärzte diagnostizieren Luises Leiden, von dem sie nach den ersten unglücklichen oder von ihren Eltern untergrabenen Beziehungen gequält wird, als »Hypochondrie«.12 Hypochondrie oder Milzsucht wird um 1800 in den Konversationslexika als eine Krankheit beschrieben, die als Pendant zur Hysterie in erster Linie Männer mittleren Alters oder solchen von »melancholischem oder cholerischem Temperament«13 befällt, auch den Geist in Mitleidenschaft zieht und »dadurch den eigentlichen Seelenstörungen sehr nahe verwandt« ist.14 Während Hysterik, auch »Mutterbeschwerde« genannt, im 18. Jahrhundert als »innere Krankheit des anderen Geschlechts«15 gilt, die, wie etwa Adelung meint, von vielen noch immer fälschlicherweise auf das »Herumwandern der Gebärmutter, auf das Aufstoßen der Mutter«16, zurückgeführt wird, haften der Hypochondrie deutlicher soziale Ursachen an: »Oft ist es ein bloßes Modewort, manche Unarten des Herzens und der Erziehung dadurch zu bemänteln.«17 Indem die Ärzte »Hypochondrie« als Ursache von Luises Leiden nennen, verstehen sie Luises Krankheit nicht als Folge ihres Geschlechts. Die von keiner Seite angezweifelte ärztliche Diagnose erscheint im Roman als 11 | Huber 1991, S. 220. 12 | Huber 1991, S. 73. 13 | Brockhaus, Friedrich Arnold. Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung. Bd. 2, Leipzig 1838, S. 434. 14 | Brockhaus 1838, S. 434. 15 | Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 3, Leipzig 1798, S. 344. 16 | Adelung 1798, S. 344. 17 | Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2. Leipzig 1796, S. 1345.

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Strategie, eine geschlechterspezifische Auslegung der Krankheit durch den Leser zu verhindern. Die Diagnose »Hypochondrie« legt zum einen äußere Ursachen für Luises Leiden nahe. Zum anderen schließt sie explizit einen Zusammenhang der Krankheit mit Luises weiblicher Biologie aus. In einer weiteren Krankheitsszene wird das Fieber, welches Luise nach der Geburt ihrer Tochter befällt, weder einer ärztlichen Diagnose noch Behandlung unterzogen. Es ist stattdessen die Mutter, die die Diagnose stellt und die Behandlung anordnet und gemäß der Erzählinstanz einem »[g]rausame[n] Vorurtheil« erliegt, indem sie ihrer Tochter das Stillen verbietet: »Luise litt unsäglich, die Milch trat ihr in das Blut, warf sich auf die Nerven, und verursachte ihr ein Fieber, das ihre Kräfte drey Monate lang verzehrte.«18 Weder die »Natur« noch die »medizinische Wissenschaft« schreiben die Frau krank, sondern gesellschaftliche Konventionen und Vorurteile. Luises Krankheitsgeschichte erscheint auf diese Weise als Folge ihrer benachteiligten gesellschaftlichen Stellung als Tochter und Ehefrau und damit als Resultat ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation, die »Entsagung« und »Aufopferung« implizieren. Dazu gehört auch, dass ihr wiederholt professionelle Pflege und medizinische Behandlung vorenthalten werden. Auf die Untauglichkeit von Luises Wert- und Handlungsstruktur wird in der Motivierung des Geschehens durch den Erzähler wiederholt hingewiesen. Die Erzählinstanz benennt akribisch die Motive jeder einzelnen Figur, welche Luise in irgendeiner Form Leid zufügt und weist diese in den meisten Fällen als gesunden oder zumindest nachvollziehbaren Egoismus aus. Luises einsame Selbstaufopferung erscheint als zum Scheitern verurteilte Strategie, weil niemand da ist, der diese Opfer würdigt oder gar belohnt. Die Tragik der Geschichte entsteht durch das Wissen des impliziten Lesers aus der Vorrede, dass Luise zu keinem Zeitpunkt des Geschehens ihre Werthaltung korrigiert, sondern in ihrer duldsamen Aufopferung unweigerlich ihrem Unglück und Tod entgegengeht. Luise vermag sich trotz ihrer schlechten Erfahrungen nicht von ihrem durch Tochterschaft und Ehe bestimmten Rollenverständnis zu lösen. Ihre Gesundheit leidet so sehr darunter, dass sie am Ende des Romans trotz ihrer jungen Jahre auf den nahenden Tod wartet.

3. »G ABRIELE « – K R ANKES I DE AL Auch im Roman »Gabriele« von Johanna Schopenhauer (1821) wird die Lebensgeschichte einer weiblichen Hauptfigur von der Geburt bis hin zum frühen

18 | Huber 1991, S. 145.

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Tod erzählt.19 Fokussiert werden die drei Wendepunkte in Gabrieles Leben, die als Entsagungsakte den Entwicklungsverlauf motivieren: Gabriele verzichtet zu Beginn der Geschichte auf ihre große Liebe Ottokar, weil er bereits ihrer Cousine versprochen ist. Sie verzichtet weiter auf ein ruhiges Leben im Kreis ihrer Freunde und heiratet auf Wunsch des Vaters ihren ungeliebten Vetter Moritz. Sie verzichtet schließlich auch auf die Liebe zu Hippolit, einem jungen Adeligen, obwohl der Tod ihres Gatten absehbar ist, der sie für eine neue Bindung frei machen würde. Aus jedem Akt der Selbstaufopferung resultiert ein Krankheitsschub, welcher Gabrieles psychische und physische Entwicklung bestimmt. Diese wird im Roman als schrittweise Transzendierung des Daseins in ein engelsgleiches Wesen gedeutet und gleichzeitig als eine zunehmende Entkörperlichung und Entmenschlichung gesehen. Die Handlungslogik des Romans zeigt die Krankheitsschübe der Hauptfigur als Folge von Entsagungsakten, die sie sich, in ihrer Funktion als Tochter und Ehefrau, auferlegen zu müssen glaubt. Auch im Roman »Gabriele« wird nicht die Medizin für die Festschreibung der Frau auf ihre Funktion als Tochter und Ehefrau verantwortlich gemacht. Die Rolle, die der Medizin in diesem Krankheitsszenario zugeschrieben wird, verweist sowohl auf diese soziale Dimension weiblicher Krankheit als auch darauf, dass die Medizin diese zwar nicht benennen kann, sie aber auch nicht negiert. Als Gabriele ein erstes Mal schwer erkrankt, nachdem sie sie sich gezwungen sieht, ihrer ersten Liebe zu entsagen, ist es gerade nicht der Arzt, sondern ihre Tante, die in ihrer Krankheit ein »bösartiges Nervenfieber«20 vermutet und damit auf eine geschlechterspezifische Ursache verweist. Der hinzugezogene Arzt dagegen will sich nicht »für oder wider ihre Muthmassung […] entscheiden«.21 Und verweigert damit eine Benennung der Krankheit und Spekulation über ihre Ursache. Auch anlässlich der dritten Erkrankung Gabrieles verweigern die Mediziner eine Diagnose: »die herbeygerufenen Aerzte erklärten ihr Übel für umso bedeutender, da man sogar nicht einen Nahmen dafür sogleich aufzufinden wußte.«22 Gabrieles Leiden bleibt namenlos und unheilbar. Es wird ausdrücklich nicht in den zeitgenössischen Kontext weiblicher Krankheit und krankhafter Weiblichkeit eingeordnet. Es fällt im Roman aus dem Kompetenzbereich der Ärzte heraus und wird damit in den Bereich sozialer, aber eben »umso 19 | Schopenhauer, Johanna: Gabriele. Frankfurt a.M. 2002. Der erste Teil des dreiteiligen Romans »Gabriele« erscheint 1819, 1821 ist das dreibändige Werk komplett. Wie viele andere Autorinnen beginnt auch Johanna Schopenhauer erst im Alter von über 50 Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, zu schreiben (siehe Stern, Carola: »Alles, was ich in der Welt verlange«. Das Leben der Johanna Schopenhauer. Köln 2003, S. 225). 20 | Schopenhauer 2002, S. I, 145. 21 | Schopenhauer 2002, S. I, 145. 22 | Schopenhauer 2002, S. III, 176.

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bedeutender« Determinanten verwiesen. Gabrieles Symptome, neben Fieber wird ihr tiefer Schlaf, welcher einer »Bewusstlosigkeit«23 gleicht und eine »Betäubung«24 genannt, verweisen dabei gleichzeitig auf dessen Ursache: die Passivität ihres Verhaltens und ihre Duldsamkeit, die sie sich auferlegt. Wie der Roman Hubers zeigt auch derjenige Schopenhauers die Wertstruktur der Protagonistin als Produkt ihrer Sozialisation. Es sind Erziehung und der Gehorsam, welche Gabriele dazu bringen oder zwingen, sich aufzuopfern. Anders als Luise erkennt Gabriele am Ende des Romans angesichts ihrer Gefühle für Hippolit, dass ihre Entsagungsbereitschaft nicht erfolgreich sein kann: Wie fern stand ihr jetzt jener kindliche Glaube, daß Liebe in sich beglücke, und nur das unbedingte Glück des Geliebten fordere, um dieses irdische Leben zum seligen der Engel zu erheben. Ihr ungestüm pochendes Herz, sie konnte es sich nicht ableugnen, es forderte Gegenliebe, Treue, Nähe des Geliebten […]. 25

Nach dieser Erkenntnis stirbt die junge Frau glücklich in den Armen ihres Geliebten. In ihrer Todesstunde wird er für sie erreichbar, weil sie schon nicht mehr den Gesetzen der Irdischen untersteht. Der Tod wird für Gabriele zur Erlösung. Denn nur im Tod, in der Transzendierung zum ewigen engelsgleichen Wesen, kann sie ihr entsagendes Frauenideal verwirklichen. Für das Leben taugt es nicht. Auch die Erzählinstanz und die zentralen Nebenfiguren interpretieren Gabrieles Entwicklungsverlauf als eine Vervollkommnung, weisen aber gleichzeitig auf die zunehmende Entrückung vom irdischen Leben hin. Aus der Perspektive ihres Mentors Ernesto, ihrer mütterlichen Freundin Frau von Willnangen und ihres Geliebten Hippolit gleicht Gabriele mehr und mehr einem Ideal, statt einem sterblichen Menschen und zeigt sich deswegen zunehmend ungeeignet für eine irdische Existenz.26 Entsprechend legen die Nebenfiguren der Hauptfigur verschiedentlich Alternativen zur Selbstaufopferung nahe und machen damit den potentiellen Leserinnen und Lesern deutlich, dass die Entsagung und die daraus resultierende Krankheit nicht unausweichlich sind. Der Roman verweist mit seiner Darstellung weiblicher Krankheit auf das Paradox des bürgerlichen Geschlechterdiskurses, der die Frau auf der einen Seite auf ihren Körper reduziert, ihr aber auf der anderen Seite totale Selbstentäußerung auferlegt. Dieser gänzliche Verzicht auf sinnliche Bedürfnisse und die absolute Entsagungsbereitschaft führen zu einer krankhaften Entkörperlichung. Ideale 23 | Schopenhauer 2002, S. I, 147. 24 | Schopenhauer 2002, S. II, 39. 25 | Schopenhauer 2002, S. III, 162. 26 | Schopenhauer 2002, S. II, 65, II, 70f. und III, 74.

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Weiblichkeit, so zeigt es das Schicksal Gabrieles, kann sich erst in der endgültigen Loslösung vom Körper verwirklichen, ist nur im Tod ›lebbar‹.

4. »A US GUTER F AMILIE « – V ERHINDERTE E NT WICKLUNG Wird weibliche Identität in »Luise« und »Gabriele« in erster Linie durch die Konvenienz, die Sitte und die Tradition determiniert, verweist der Roman »Aus guter Familie – Leidensgeschichte eines Mädchens« deutlich auch auf die Deutungsmacht der Medizin im Geschlechterdiskurs.27 Das Romangeschehen setzt sich aus verschiedenen Ereignissen zusammen, welche die verhinderte Entwicklung Agathe Heidlings, einer Tochter aus gutbürgerlichem Haus, zeigen. Agathe bleibt ehe- und kinderlos, letztlich, weil ihr Vater sich aufgrund der Spielschulden des Bruders ihre Mitgift nicht leisten kann. Ein Beruf, eine Berufung oder nur selbstgewählte Lektüre und Religionsausübung werden ihr als Tochter »aus guter Familie« untersagt. Agathe reagiert auf diese Einschränkungen wiederholt mit kurzen, schubartigen Anfällen von Krankheit. Agathes anfängliches Streben nach weiblicher Individuierung, nach einem sinnerfüllten Leben und einem selbstbestimmten Platz in der Gesellschaft wird namentlich durch den patriarchalen bürgerlichen Diskurs des Vaters und den religiösen Diskurs des Familiengeistlichen behindert, wie die den Roman eröffnende Konfirmationsszene deutlich macht. In ihren Festtagsreden legen Herr Heidling und der Pastor die Frau auf ein selbstloses Leben im Dienste der Familie und Gottes fest. Agathe richtet ihr Lebensziel entsprechend auf eine Heirat aus. Sie sieht und hat keine Möglichkeit auf eine alternative Lebensgestaltung. Auch als sich abzeichnet, dass sie unverheiratet bleibt, fristet sie ihr Dasein als gehorsame, aufopferungsvolle, ledige Tochter weiter. Eine sinnerfüllte Aufgabe ausserhalb der Familie bleibt ihr verwehrt.28 Dreimal wird ein Arzt eingeschaltet, der Agathes Leiden diagnostizieren soll. Die unterschiedlichen Rollen, welche der Medizin dabei jeweils zugeschrieben werden, zeichnen das Bild eines in sich heterogenen medizinischen Diskurses. In ihrer Kindheit reagiert Agathe auf die körperliche Züchtigung durch ihre Mutter mit starken Zweifeln an ihrer Tochterliebe. Die Vorstellung, wegen 27 | Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Marburg 2006. Der Roman erscheint 1895 im Fischer-Verlag und wird zu einem großen Erfolg für die Autorin Gabriele Reuter. 28 | Siehe auch Kaloyanova-Slavova, Ludmila: Übergangsgeschöpfe. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska von Reventlow. New York und Bern 1998, S. 45.

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ihrer mangelnden Liebe zu ihren Eltern eine schlechte Tochter zu sein, führt, so die auktoriale Erzählinstanz, zu schlechtem Gewissen und dieses wiederum zu Krankheitssymptomen: »Ihre Haltung wurde schlaff, in ihrem Gesichtchen zeigte sich ein müder Zug.«29 Weder die Eltern noch der hinzugezogene Arzt erkennen diese Ätiologie: »der Arzt, den man befragte, meinte, das käme vom gebückten Sitzen auf der Schulbank.«30 Indem der Hausarzt Agathes Beschwerden im Schulbesuch und der damit verbundenen Sitzhaltung begründet sieht, macht er Agathes Bildung für ihr Leiden verantwortlich. Damit folgt seine Diagnose dem eingangs skizzierten Geschlechterdiskurs, der Frauen die physische und psychische Fähigkeit zu geistiger Tätigkeit abspricht und sie gar für schädlich hält. Als Agathe von einem Bluthusten befallen wird und sich dem Tode nahe glaubt, wird neben dem »alten Hausarzt«31 ein Professor auf dem Gebiet der Lungen- und Brustkrankheiten hinzugezogen. Dieser diagnostiziert Erstickungsnot und ein Rasseln in der Brust, aber keine Tuberkulose. Er hält die Patientin für »ungewöhnlich eindrucksfähig«32, macht eine heftige »Alteration«33 für den Bluthusten verantwortlich. Er verweist damit ebenfalls auf die krankhafte ›weibliche‹ Sensibilität als Leidensursache. Als Behandlung schlägt er aber nicht eine wie in solchen Fällen typische Einschränkung von Reizen und geistige und körperliche Ruhe als Therapie vor. Er rät Agathe ganz im Gegenteil dazu, sich ihrer Jugend zu erfreuen, unbeschwerter und mit weniger Ernst die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen.34 Der Professor legt Agathe also gewissermaßen nahe, sich von ihrer entsagungsvollen Tochterrolle ein Stück weit zu distanzieren und sich um ihr eigenes Wohl zu kümmern. Dieser Anweisung leistet die Patientin allerdings nicht Folge, sondern versucht noch rigider, in der Entsagung ihre Bestimmung zu finden. Gegen Ende des Romans kommt es zu einer tätlichen Attacke Agathes gegen ihre Schwägerin Eugenie, welche sich den gesellschaftlichen Konventionen scheinbar angepasst hat, um in dieser Verstellung umso erfolgreich ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Darauf reagieren die im Roman anonym bleibenden Ärzte mit dem zur Behandlung von Hysterikerinnen damals üblichen Ruhigstellungsprogramm: »Mit Bädern und Schlafmitteln, mit Elektrizität und Massage, Hypnose und Suggestion brachte man Agathe im Laufe von zwei Jahren in einen Zustand, in dem sie […] wieder unter der menschlichen Gesellschaft

29 | Reuter 2006, S. 35. 30 | Reuter 2006, S. 35. 31 | Reuter 2006, S. 147. 32 | Reuter 2006, S. 149. 33 | Reuter 2006, S. 150. 34 | Siehe Reuter 2006, S. 151.

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erscheinen konnte, ohne unliebsame Aufmerksamkeit zu erregen.«35 Claudia Hauser verweist in Bezug auf diese zwei letzten Krankheitsszenen auf den für die Geschichte der Medizin symptomatischen Gegensatz zwischen dem empathischen Arzt, der Agathes Krankheit als »Ganzheit« wahrnimmt, und sie mit Einfühlung und Sympathie behandelt, und dem Apparatus Psychiatrie, der ihr am Ende des zweiten Teils anonym und »mit erheblicher Blindheit gegenüber ihrer Individualität« begegnet.36 Beide Arztinstanzen benennen aber gleichermaßen nicht die gesellschaftlichen Umstände, die in der Handlungslogik Agathes Leiden bedingen. Agathe wird, so können Leserinnen und Leser folgern, krank gemacht, und zwar durch exakt das Entsagungsprogramm, das die Medizin zur Heilung von Hysterie vorschlägt: »einfaches Leben ohne gesteigerte Ansprüche und Vergnügungssucht, […] Anspruchslosigkeit, Demuth, Zufriedenheit, echte Religiosität.«37 Die medizinische Therapie wird in der Handlungslogik selbst Teil der sozialen Ätiologie der Krankheit und damit zu einem Teil des Problems und zum Ziel der im Roman geäußerten Kritik. Wie Gabriele im Roman Schopenhauers rückt Agathe von ihrer anfänglichen Wertstruktur ab und erkennt die Anspruchslosigkeit, auf die sie sich hat festschreiben lassen, als Grund für ihr Unglück. Ihre verzweifelte Reaktion − der Übergriff auf ihre Schwägerin − liefert sie jedoch der Medizin aus. Ausgerechnet durch ihr Auf begehren verliert Agathe endgültig jede Chance auf eine Individuierung: Sobald Agathe ihre Aggression nicht nur gegen sich selbst, sondern gegen ihre Mitmenschen richtet, wird ihr letzter revoltierender Nerv getötet. Den Körper aber darf sie behalten: Die Hysterikerin, die ihre Schmerzen und ihren Widerstand auf den Körper schiebt, wird zum Körper gemacht. 38

Bei aller Ähnlichkeit endet hier Agathes Schicksal in völligem Gegensatz zu dem Gabrieles. Nicht die Entkörperlichung, sondern die endgültige Reduktion auf den Körper besiegelt Agathes Leidensgeschichte.

35 | Reuter 2006, S. 267. 36 | Alle Zitate in diesem Satz: auch Hauser, Claudia: Politiken des Wahnsinns. Weibliche Psychopathologie in Texten deutscher Autorinnen zwischen Spätaufklärung und Fin de siècle. Hildesheim, Zürich und New York 2007, S. 308. 37 | Herloßsohn, Carl (Hg.): Damen Conversations Lexikon. Bd. 4, Leipzig 1835, S. 356. 38 | Weber, Lilo: »Fliegen und Zittern«. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky. Bielefeld 1996, S. 231.

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5. »S CHICKSALE EINER S EELE « – Z WEIFELHAF TE K R ANKHEIT, BEZ WEIFELBARE E NT WICKLUNG Der Roman »Schicksale einer Seele« der Berliner Schriftstellerin Hedwig Dohm erscheint 1899.39 Er ist nach »Sibilla Dalmar« (1896) der zweite Roman einer Trilogie, die 1902 durch den Roman »Christa Ruland« beendet wird.40 Als Ich-Erzählerin schildert Marlene rückblickend ihr Leben. Sie kommentiert im ersten Teil der Erzählung das Verhalten des erlebenden Ich aus einer großen Distanz. Im zweiten Teil rücken das erlebende und das erzählende Ich näher zusammen. Die Ich-Erzählerin schildert dort ihre Erlebnisse in Rom, wo sie sich auch gleichzeitig der Niederschrift ihrer Lebensgeschichte widmet. Das erzählende Ich blickt distanziert, teilweise ironisch und mit großer Selbstkritik auf das erlebende Ich ihrer Vergangenheit, genauso wie auf das Ich ihrer Erzählgegenwart. Erzählt werden gut drei Jahrzehnte aus Marlenes Leben. Das Geschehen umfasst Kindheit und Jugend im Haus ihrer Eltern in Berlin, ihre Heirat und unglückliche Ehe mit Walter, einem Journalisten und Dichter, ihre zweifache Mutterschaft, ihre ersten Schritte in der Gesellschaft, einen ersten Kuraufenthalt, auf den ein langer Aufenthalt in Rom und die Trennung von ihrem Mann folgen. Alle Romane der Trilogie zeigen die Entwicklung der Hauptfigur als einen Prozess der Emanzipation von Fremdzuschreibungen. Schrittweise distanzieren sie sich von ihren Funktionen als Tochter Ehefrau und Mutter und suchen nach einem selbstbestimmteren Lebensentwurf. Marlene arbeitet sich erfolgreich an den Fremdzuschreibungen ihrer Umwelt ab. Sie löst sich von ihrer dominanten Mutter, löst sich aus ihrer lieblosen Ehe, distanziert sich von dem ihr entfremdeten Sohn. Die Frage nach einem alternativen individuellen Selbstentwurf vermag sie jedoch nicht zu beantworten. Als Erzählerin fühlt sie sich von ständigen Zweifeln an ihrer eigenen Entwicklungs- und Emanzipationsfähigkeit bedroht: »Du, Marlene, am Ende hatten sie alle, alle recht und du bist doch dumm, einfach dumm.«41 Die für die Ich-Erzählerin nicht gesicherte Emanzipation vom Gattungswesen zum Individuum spiegelt sich in ihrer Krankheits- bzw. Gesundheitsdarstellung. Marlene lernt, die Festschreibungen der Gesellschaft zu hinterfragen 39 | Dohm, Hedwig: Schicksale einer Seele. München 1988. 40 | Bezogen auf die chronologische Einordnung nimmt Schicksale einer Seele, wie auch Dohm selbst im Vorwort deutlich macht (Siehe Dohm, Hedwig: Sibilla Dalmar. Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 25), den ersten Platz in der Romanreihe ein. Denn die Hauptfigur Marlene, in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren, repräsentiert die frühste der drei von Dohm porträtierten Generationen. 41 | Dohm 1988, S. 318.

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und instrumentalisiert geschickt die Medizin beziehungsweise den medizinischen Geschlechterdiskurs für sich. Als sie zur Überzeugung gelangt, dass sie ihre Entwicklung nur außerhalb ihrer Ehe vorantreiben kann, lässt sich von ihrem Hausarzt unter dem Vorwand »brustkrank« zu sein krankschreiben und zur Kur schicken. Auf diese Weise schafft sie sich einen gesellschaftlich akzeptierten Freiraum für ihre Entwicklung und verhindert, dass sie an ihrer beengenden ehelichen Situation tatsächlich erkrankt. Während ihres Romaufenthalts erfährt sie jedoch, dass der Arzt, den sie konsultiert hat, sie beim Verlassen Berlins tatsächlich krankgeschrieben und sogar für eine »Todeskandidatin« gehalten hat.42 Das Zutreffen der ärztlichen Diagnose lässt sich im Roman rückblickend für niemanden mehr entscheiden. Marlene hat keine Hinweise darauf, ob die Diagnose des Arztes richtig war, sie weiß nur, dass ihr ganzes Umfeld daran geglaubt hat. Auch sie entscheidet sich, der Einschätzung des Arztes Glauben zu schenken: »Er war mir auf den Fersen, der Todesengel, dicht hinter mir, und ich sah ihn nicht.«43 Sie bringt an dieser Stelle selbst ihre Erkrankung in Zusammenhang mit den feindlichen Umständen ihres früheren Lebens in Berlin, das eine Gefahr für ihre Gesundheit bedeutet hat und vergleicht ihr Schicksal mit Gustav Schwabs »Reiter vom Bodensee«: Jenen Reiter, der ahnungslos den furchtbaren Ritt über den gefrorenen Bodensee machte, tötete hinterher das Entsetzen. Auch mich überrieselt es kalt, eiskalt. Zwar tötete mich nicht das Entsetzen, aber stiller Schauder lenkten mir die Blicke nach innen. Und umgekehrt wie jener Reiter sehe ich nun das Leben, das hinter mir liegt, wie einen Todesritt, einen Ritt vorbei an Höllen, in denen unheimliche Gluten loderten. 44

Nicht das Entsetzen über die überstandene Todesgefahr treibt Marlene um, sondern die Einsicht, dass ihr früheres angepasstes Leben, sie an den Rand des Todes geführt hat. Entscheidend in der Darstellung weiblicher Krankheit als krankmachende Weiblichkeitsnorm ist hier, dass niemand der Erzählerin die Deutung ihrer Entwicklung abnehmen kann. Niemand als sie selbst kann die Diagnose ihrer Krankheit und ihrer Ursache stellen. Die Selbstdiagnose wird zum notwendigen Bestandteil des Emanzipationsprozesses. So subjektiv und unsicher wie Marlenes Krankheitsgeschichte bleibt auch der Entwicklungsprozess, den Marlene im Roman durchläuft. Sie erkennt in Rom, in welchem Ausmaß sie von ihrer Umwelt auf die Rolle der passiven, 42 | Dohm 1988, S. 302. 43 | Dohm 1988, S. 303. 44 | Dohm 1988, S. 303.

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dummen und unselbständigen Frau, als die sie sich fühlt, festgelegt worden ist und beginnt sich in ihren Aufzeichnungen von diesen Festschreibungen zu emanzipieren. Der medizinische Diskurs ist im Roman zwar einer von vielen, von denen sich Marlene distanziert, von denen sie sich nicht mehr bestimmen lässt. Was aber bleibt ist die Unsicherheit, dass die Diskurse mit ihren Festschreibungen doch recht behalten könnten. Die Zukunft und die zukünftige Entwicklung der Hauptfigur liegen am Ende des Romans offen und unsicher vor ihr. Trotz ihrer Erkenntnis, selbst für ihre ›Schicksale‹ verantwortlich zu sein, sieht sie sich nicht in der Lage, auf die Hilfe anderer bei ihrer Entwicklung zu verzichten: »Aus eigener Kraft kann ich nicht werden.« 45 Das Verlangen nach einer Lehrmeisterin, nach jemandem, der ihr die Entwicklungsarbeit abnimmt, spiegelt sich in ihrem Wunsch, mit der Theosophin Helena nach Indien zu gehen, um dort in einer egalitären Gemeinschaft zu leben. Indien steht auch für Marlenes Selbstzweifel an ihrer tatsächlichen Bereitschaft, sich auf einen langwierigen Entwicklungs- bzw. Individuierungsprozess einzulassen. Das erzählende Ich wirft dem erlebenden Ich vor: »Du willst ja nur beten, um nicht zu arbeiten. Ohne Endliches zu durchmessen, willst du Unendliches erreichen. Anstatt Entwicklung willst du Offenbarung.«46 Marlene deutet damit das Abenteuer Indien als Flucht vor ihrer Entwicklungsaufgabe, gleichzeitig als Utopie und Aporie.47

6. K R ANKHEIT UND E NT WICKLUNG In allen vier Romanen strukturieren Krankheitsschübe die Entwicklung der Hauptfigur. Die Darstellung und Deutung dieser Krankheitsfälle erweist sich als zentral für die in den Texten entworfene Geschlechtervorstellung. Die Analyse hat gezeigt, dass die weiblichen Entwicklungsromane eine Biologisierung von Geschlechterrollen ablehnen, indem sie die Ursachen der Krankheitssymptome nicht im Geschlecht, sondern in der sozialen Realität der Figuren su45 | Dohm 1988, S. 311. 46 | Dohm 1988, S. 318f. 47 | Siehe Giesler, Birte: »…wir Menschen alle sind Palimpseste…«. Intertextualität in Hedwig Dohms Schicksale einer Seele am Beispiel der Verarbeitung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Herbholzheim 2000, S. 49 und S. 78. Dohm selbst beschreibt Marlenes Entwicklungsprozess im Roman ebenfalls als zum Scheitern verurteilt: »Er [der Roman] will anfangs noch dunkles, instinktives Ringen um Sein oder Nichtsein ihrer Seele veranschaulichen, und er endet mit einer theoretischen, fruchtlosen Erkenntnis. Fruchtlos, weil der Weg zum Ziel: Befreiung der ureigenen Individualität aus der Vergewaltigung der Jahrhunderte, noch in dämmernde Nebel gehüllt bleibt, weil die Zeit für die Verwirklichung ihrer Ideen noch nicht erfüllt ist« (Dohm 2006, S. 25).

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chen. Die Hauptfiguren werden krank gemacht, indem sie zur Selbstaufopferung gezwungen und in ihrer Individuierung behindert werden. Die sich verändernde Rolle der Medizin und der Mediziner in den Texten verweist auf die Verwissenschaftlichung des Geschlechterdiskurses. In »Luise« und »Gabriele« kommt dem medizinischen Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch eine kritische Rolle bezüglich der gesellschaftlichen Geschlechterkonventionen zu. In »Luise« lenkt der Arzt mit seiner Diagnose den Fokus auf die sozialen Ursachen von Luises Leiden. In »Gabriele« verweigern die Mediziner eine Diagnose und damit gleichzeitig einen Kurzschluss zwischen weiblichem Leiden und weiblicher Sexualität. Im Roman von Gabriele Reuter kommt es zu einer Ausdifferenzierung medizinischer Positionen. Der empathischen Figur des einzelnen Arztes tritt der anonyme klinische Apparat gegenüber, der die Krankschreibung der Frau professionell betreibt und für die Disziplinierung weiblichen Auf begehrens gegen die Geschlechternormen sorgt. Dieser Disziplinierung kann sich Marlene in »Schicksale einer Seele« zwar entziehen. Sie verzichtet auf eine Fremddiagnose und beurteilt selbstbestimmt ihren Gesundheitszustand, liefert sich damit jedoch ihren eigenen Zweifeln aus. So bleibt nicht nur ihr Gesundheitszustand letztlich unbestimmt, auch der Erfolg ihrer Emanzipation bleibt unsicher und ihr zukünftiges Entwicklungspotential fragwürdig. Alle Romane machen weibliche Krankheit zu einem Moment weiblicher Identität, das über eine Definition als Gattungswesen hinausweist. Betrachtet man die Romane in ihrer zeitlichen Folge, zeigt sich aber, dass sich der Fokus der Kritik am bürgerlichen Weiblichkeitsmodell von den beiden frühen zu den beiden späten Romanen verschiebt. In den Texten setzt eine Revision der Wertstruktur der Hauptfigur ein. Im Roman »Luise« gelingt es der Hauptfigur noch nicht, ihre eigene Werthaltung zu hinterfragen. Gabriele gelingt dies kurz vor ihrem Tod, ohne dass dieser dadurch verhindert werden könnte. In »Aus guter Familie« setzt Agathes Umdenken bedeutend früher ein, treibt sie jedoch in die Arme der psychiatrischen Medizin. In »Schicksale einer Seele« kommt der Wendepunkt in Marlenes Selbstdeutung ebenfalls früher. Er markiert gleichzeitig den Standpunkt, von dem aus sie ihre Geschichte erzählt und eröffnet zumindest die Chance auf eine bessere Zukunft. Neben der Gesellschaft mit ihren Konventionen und Normen geraten auf diese Weise die Hauptfiguren und ihre Werthaltungen immer stärker in den Fokus der Kritik. Vor allem bei Reuter und Dohm macht auch die Form der Darstellung deutlich, dass es sich bei der Emanzipation im Wesentlichen um einen Entwicklungsschritt der Hauptfigur selbst und nicht um die Notwendigkeit eines Wandels in der Gesellschaft handelt. In beiden Romanen wird im Gegensatz zu den Romanen »Luise« und »Gabriele« der Perspektive der Hauptfigur viel Platz eingeräumt. Agathes Verstrickung in die bürgerlichen

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Werte und Normen wird durch das Stilmittel der erlebten Rede gleichzeitig nachvollziehbar und kritisierbar: Vermittels der Ineinanderschiebung von Außen- und Innensicht vergegenwärtigt der Roman sowohl gesellschaftliche Einschränkungen der Selbstentfaltung der Frau als auch ihre Selbstentfremdung durch die Normen und Phrasen, die sich in ihr aufgebaut haben, fremde Gedanken und künstliche Stimmungen, in denen sie schwelgt. Die ihre Identität formenden Normen und Phrasen vergegenwärtigten die Determiniertheit der weiblichen Figur, die auch selbst gewonnene Einsichten, die thematisierten Widersprüche, die eingeschobenen, zum Teil ironischen Kommentare nicht brechen können.48

In Hedwig Dohms Roman erhält die Hauptfigur die volle Erzählautorität. Die Widersprüchlichkeit der Figur und ihrer Werthaltung ergibt sich aus der kritischen Distanz, aus der sie erzählt. Indem die Ich-Erzählerin selbst die Zweifel am Vollzug ihrer Emanzipation nie ausräumt, bleibt der Ausgang ihrer Entwicklung offen und unsicher. Gleichzeitig übernimmt die Erzählerin durch ihre kritische Selbstreflexion die volle Verantwortung für ihre Entwicklung und macht damit ihre Zweifel zum Zielpunkt der Kritik. Die Ich-Erzählerin und Hauptfigur weiß am Schluss nicht, wer sie ist und was aus ihr werden wird. Aber sie erkennt, dass es auch die anderen nicht wissen.49 Die Frage, ob sie tatsächlich von ihrer Krankheit geheilt ist, deckt sich mit der Frage nach dem Erfolg ihres Emanzipationsprozesses. Beantworten kann diese Frage kein Arzt, sondern nur Marlene selbst.

L ITER ATUR Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2. Leipzig 1796. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 3, Leipzig 1798. Brinker-Gabler, Gisela: Weiblichkeit und Moderne. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der Literatur. Naturalismus, Fin de sciècle, Expressionismus 1890-1918. Wien 2000, S. 243-256. Brockhaus, Friedrich Arnold. Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung. Bd. 2, Leipzig 1838. 48 | Brinker-Gabler, Gisela: Weiblichkeit und Moderne. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der Literatur. Naturalismus, Fin de sciècle, Expressionismus 1890-1918. Wien 2000, S. 243-256, hier S. 247. 49 | Siehe Dohm 1988, S. 319.

»Ganz ungewöhnlich eindrucksfähig«

Dohm, Hedwig: Schicksale einer Seele. München 1988. Dohm, Hedwig: Sibilla Dalmar. Roman aus dem Ende unseres Jahrhunderts. Berlin 2006. Giesler, Birte: »…wir Menschen alle sind Palimpseste…«. Intertextualität in Hedwig Dohms Schicksale einer Seele am Beispiel der Verarbeitung von Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Herbholzheim 2000. Hauser, Claudia: Politiken des Wahnsinns. Weibliche Psychopathologie in Texten deutscher Autorinnen zwischen Spätaufklärung und Fin de siècle. Hildesheim, Zürich und New York 2007. Herloßsohn, Carl (Hg.): Damen Conversations Lexikon. Bd. 4, Leipzig 1835. Herloßsohn, Carl (Hg.): Damen Conversations Lexikon. Bd. 7, Leipzig 1836. Heuser, Magdalene: Nachwort zu Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. In: Huber, Therese: Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. Hildesheim, Zürich und New York 1991, S. 225-242. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt a.M. 1991. Huber, Therese: Luise. Ein Beitrag zur Geschichte der Konvenienz. Hildesheim, Zürich und New York 1991. Jacobs, Jürgen und Krause, Markus: Der Deutsche Bildungsroman – Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. München 1989. Kaloyanova-Slavova, Ludmila: Übergangsgeschöpfe. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska von Reventlow. New York und Bern 1998. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 7, Leipzig und Wien 1907. Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Marburg 2006. Schopenhauer, Johanna: Gabriele. Frankfurt a.M. 2002. Showalter, Elaine: The Female Malady. Women, Madness, and English Culture 1830-1980. New York 1985. Stern, Carola: »Alles, was ich in der Welt verlange«. Das Leben der Johanna Schopenhauer. Köln 2003. Stolzenberg-Bader, Edith: Weibliche Schwäche – Männliche Stärke. Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. In: Martin, Jochen und Zoepffel, Renate (Hg.): Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann. Bd.  2., Freiburg i.Br. und München 1989, S. 751-818. Weber, Lilo: »Fliegen und Zittern«. Hysterie in Texten von Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter und Minna Kautsky. Bielefeld 1996.

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Männliche und weibliche Lesesucht Systemspezifisch differenzierte Anschlusskommunikation an den bürgerlichen Roman des 18. Jahrhunderts Rahel Leibacher

1. E INFÜHRUNG Der folgende Beitrag geht von der Beobachtung aus, dass der im 18. Jahrhundert neu aufkommende bürgerliche Roman in mehreren sich ausdifferenzierten Diskursen Anschlusskommunikation erzeugt. Anhand eines Vergleichs der im Erziehungs-, Medizin- und Literatursystem produzierten Kommunikationen über die Folgen von Romanlektüre bei Leserinnen und Lesern werden die Unterschiede der systemspezifischen Schemata erfasst und erläutert.1 Um eine valide Vergleichsbasis zu schaffen, wird ein systemtheoretischer Ansatz verwendet, der von einem ausdifferenzierten Literatursystem ausgeht.2 Die literarische Kommunikation über das Lesen wird anhand der Thematisierung des Lesens in Dramen und Erzählungen von Jakob Michael Reinhold Lenz untersucht.3 Der pädagogische Diskurs wird von Jean-Jacques Rousseau an-

1 | Schemata dienen der Formung des Gedächtnisses eines Sinnsystems. Sie repräsentieren kondensierten und konfirmierten, spezifisch relationalen Sinn (vgl. Kraus, Detlef: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart 2001, S. 195). Die Begriffe Schemata, Frames und standardisierte Sinnkombinationen werden hier als Synonyme verwendet. 2 | Luhmann selbst beschrieb das Literatursystem nicht als ausdifferenziertes System, sondern lediglich als Teilsystem des Kunstsystems, welchem er den Code schön/hässlich zuschrieb und die Funktion, der Welt eine Möglichkeit anzubieten, sich selbst zu beobachten (vgl. Sill, Oliver: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven auf ein komplexes Phänomen. Wiesbaden 2001 .S. 97). 3 | Da die Schrifterzeugnisse von J.M.R. Lenz oft als gesellschaftskritisch beschrieben werden (vgl. Beutin, Wolfgang et al.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen

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geführt. Im medizinischen Diskurs, der ebenfalls von Rousseau geprägt ist, nimmt vor allem Pierre Roussel eine tragende Rolle ein. Es wird von der These ausgegangen, dass sich die produzierten, standardisierten Sinnkombinationen über die Auswirkungen fiktionaler Lesestoffen sowohl systemspezifisch wie auch genderspezifisch unterscheiden. Dabei wird gezeigt, dass sich diejenigen des Literatursystems aufgrund seiner systemimmanenten Bedingungen wesentlich von denjenigen der anderen beiden Systeme abheben. Die Beobachtung, dass Romane lesende Männer in Lenz’ Werken als Melancholiker oder Wahnsinnige beschrieben werden,4 Romane lesende Frauen hingegen als psychisch labil und leicht verführbar, mag der Annahme einer systemspezifischen Differenzierung auf den ersten Blick widersprechen. Bei genauerem Hinsehen kann jedoch nachgewiesen werden, dass sich das Literatursystem lediglich bereits vorhandener Schemata anderer Systeme bedient, um daraus eine systemeigene Semantik zu kreieren.

2. L ESEN IM 18. J AHRHUNDERT Es gibt kaum eine Abhandlung über Mädchenerziehung, einen Ratgeber für Mädchen beziehungsweise für Mädchen und Frauen, kaum ein gynäkologisches Fachbuch und eine Gesundheitslehre für das weibliche Geschlecht, die sich nicht mit dem ›Lesen‹ beschäftigt oder dieses zumindest erwähnt. 5

Das Zitat von Barth verdeutlicht, dass lesende Mädchen und Frauen im 18. und 19. Jahrhundert eine breit diskutierte gesellschaftliche Thematik waren. Das Lesen von Romanen und anderer Phantasie anregender Lektüre war vielerorts Stein des Anstoßes. Der Roman des 18. Jahrhunderts war der bürgerliche Roman, der sich vor allem durch seine Hinwendung zum Familiensujet auszeichnete6 und zum Zeitvertreib oder zur Unterhaltung gelesen wurde.7 So beliebt bis zur Gegenwart. Stuttgart 1994, S. 139), eignen sie sich sehr gut als repräsentatives Untersuchungsmaterial des Literatursystems. 4 | Die Krankheitsbilder von Melancholie und Wahnsinn galten im 18. Jahrhundert bis auf den Ausprägungsgrad als identisch (vgl. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd. 13. Graz 1961, S. 1479-1481). 5 | Barth, Susanne: Mädchenlektüren. Lesediskurse im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. und New York 2002, S. 101. 6 | Vgl. Hartmann, Horst und Hartmann, Regina: Populäre Romane und Dramen im 18. Jahrhundert. Zur Entstehung einer massenwirksamen Literatur. Obertshausen 1991, S. 8. 7 | Vgl. Werber, Niels: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003, S. 115.

Männliche und weibliche Lesesucht

er bei seinem – meist weiblichen – Lesepublikum war, so unbeliebt war er bei seiner Gegnerschaft, bei Erziehern, Theologen und anderen, die einen gesellschaftlichen Umsturz befürchteten. Zwischen 1780 und 1800 resultierten diese Befürchtungen in Deutschland in einer politisch lancierten Bewegung, die als Lesesuchtdebatte in die Geschichte einging. Es wurde gegen das Lesen Phantasie anregender Lektüre polemisiert, indem Sittenverderb, Verwilderung des Geistes oder physisches und moralisches Elend der Lesenden prophezeit wurden. Als gefährdet wurden vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche sowie die niedrigen Stände betrachtet. Die Verfechter dieser Polemiken waren vorwiegend Männer, Bürgerliche, welche mit ihren Ratschlägen und Empfehlungen, wer wie viel und was lesen sollte, ihre soziale Stellung und damit ihre Macht zu wahren versuchten.

3. G ENDERDISKURS IM 18. J AHRHUNDERT Im ausgehenden 18. Jahrhundert existierten verschiedene Vorstellungen und Ausführungen über Männlichkeit und Weiblichkeit, besonders aber über Letztere, da der Mann als Norm galt. »Seit den fünfziger Jahren […] schienen Anatomie und Physiologie des Geschlechterunterschiedes ein verlässliches Fundament zu liefern, auf dem sich eine Theorie der Geschlechterbeziehung begründen ließ« 8 – eine Theorie der Komplementarität. Sowohl Rousseau, der mit seinem pädagogischen Hauptwerk »Emile« (1762) ganz Europa in seinen Bann gezogen hatte, wie auch Campe schrieben mit ihrem Erziehungsprogramm den Frauen die soziale Rolle als Hausfrau und Ehefrau auf den Leib. Neben ihnen schlugen sich jedoch auch »die Mehrheit der Ärzte auf die Seite der Komplementaristen«.9 Sie gingen davon aus, dass Männer und Frauen sowohl in körperlicher, geistiger sowie sozialer Hinsicht entgegengesetzt seien und dass in ihrer Vereinigung die gesellschaftliche Balance liege. In den publizierten anatomischen Untersuchungen wie »Système physique et moral de la femme« des Franzosen Pierre Roussel wurden die Unterschiede des weiblichen und männlichen Körperbaus beschrieben. Diese wurden häufig als Argumente hinzugezogen, um die Theorie der Komplementarität zu untermauern: Die weibliche Sonderanthropologie war geboren.

8 | Schiebinger, Londa: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart 1993, S. 303. 9 | Schiebinger 1993, S. 311.

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4. D IE THEMATISIERUNG DES L ESENS IM E RZIEHUNGSSYSTEM 4.1 Systemtheoretische Grundlagen des Erziehungssystems Die Funktion des Erziehungssystems besteht darin, »Veränderungen in den einzelnen psychischen Systemen auszulösen«.10 Sie bezieht sich demnach nicht in erster Linie auf Kommunikation, weshalb es dem Erziehungssystem an einem binären Code im engeren Sinne mangelt.11 Kraus führt aus, dass Erziehung in Personenänderung bestehe, da die Funktion »die Erzeugung von Lernfähigkeit für noch unbekannte Situationen und speziell für Karrieren bestimmt« sei.12 Dabei sei die Selektionsfunktion systemkonstitutiv. Selektion ermöglicht, Bewertungen aufgrund der Differenz zwischen Verbesserung und Verschlechterung zu produzieren.13 Der selektionsspezifische Code kann demnach wie folgt ausgedrückt werden: Lob/Tadel, Versetzung/Nichtversetzung, schlechte Zensuren/gute Zensuren.14 Die Pädagogik nimmt im Erziehungssystem eine wichtige Rolle ein, sie »erfüllt […] die Funktion einer Reflexionstheorie und beschäftigt sich mit den erzieherischen Bedingungen der Erziehung: Sie liefert, mit anderen Worten, eine Theorie der Erziehung, die innerhalb des Systems brauchbar ist«.15

4.2 Das Lesen fiktionaler Lektüre im Erziehungssystem Die in Kapitel zwei beschriebene Lesesuchtdebatte wurde stark von Pädagogen mitgetragen bzw. teilweise sogar von ihnen angeführt. Die meisten positionierten sich auf der Seite der Kritiker, was die neu aufgekommene Gattung Roman und die fiktionale Literatur betraf. Grundlegend für ihre Haltung war die im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts verbreitete RousseauRezeption, welche ein »geschärftes Bewusstsein für die Bedeutung von Lektüren in Entwicklungsprozessen«16 – insbesondere bei Heranwachsenden – mit sich brachte. Sowohl in seiner Anthropologie wie in seiner Pädagogik geht Rousseau davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut sei, Kultur und Zivilisation ihn jedoch unweigerlich verderben würden. Da auch Lektüre ein kultu10 | Baraldi, Claudio, Corsi, Giancarlo und Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M. 1997, S. 50. 11 | Vgl. Baraldi et al. 1997, S. 50. 12 | Kraus, Detlef: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart 2001, S. 209. 13 | Vgl. Baraldi et al. 1997, S. 51. 14 | Vgl. Kraus 2002, S. 209. 15 | Baraldi et al. 1997, S. 51f. 16 | Barth 2002, S. 81.

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relles Produkt sei, soll sie nur mit Vorsicht genossen werden. Häufiges Lesen schade der natürlichen Entwicklung: »Zu viel Lesen bringt nur anmaßende Ignoranten hervor. Von allen schöngeistigen Zeitaltern gibt es kein zweites, in dem man so viel gelesen hätte wie in diesem, und keines, wo man weniger gebildet wäre.«17 In seinen »Bekenntnissen« (1781) schildert Rousseau seine eigenen negativen Leserfahrungen mit phantastischen Büchern, welche er mit den für die Lesesucht bekannten Symptomen – Schwindel, Raum- und Zeitverlust – erfahren hat.18 Fiktive, Phantasie anregende Lektüre habe aber noch andere Auswirkungen. Rousseau geht davon aus, dass »Phantasieerfahrungen körperlich sind, dass sie in entscheidender Weise auf den Triebhaushalt und mithin auf die psychosexuellen Entwicklungsprozesse Heranwachsender einwirken«.19 Das Bild, das Pädagogen (aber auch Ärzte) von Heranwachsenden und deren Umgang mit fiktionalen Stoffen hatten, war unweigerlich von der Rousseau-Rezeption geprägt. Einer der berühmten Pädagogenvertreter war der Philantrop Campe. In seinem »Väterlicher Rath für meine Tochter« nennt er das Lesen zur Unterhaltung »literarischen Luxus [und] eine wirkliche Geistesseuche, welche in den gebildeten Klassen unserer Zeitgenossen, mit sichtbarer Verminderung des Familienglücks, umso schneller und gefährlicher um sich greift«.20 Campe verneint das Lesen zwar nicht grundsätzlich. Er stimmt einer maßvollen Lektüre zu, welche »Aufklärung, Rechtschaffenheit und Glückseligkeit« fördert.21 Er bemängelt jedoch hauptsächlich drei Gesichtspunkte: Erstens, dass viel zu viel gelesen würde. Zweitens, dass zu viel Verschiedenes mit zu geringer Auswahl gelesen würde. Und drittens, dass viele Zeitgenossen Schriften lesen würden, welche die Phantasie anregen und den Verstand verwirren.22

4.3 Weibliches und männliches Lesen im Erziehungssystem In seinen Werken entwickelte Rousseau eine eigene Weiblichkeitslehre, welche laut Barth Ausgangspunkt der im ausgehenden 18. Jahrhundert entstandenen weiblichen Sonderanthropologie war. Diese war Zentrum der zeitgenössischen

17 | Rousseau, Jean-Jacques: Emile. Oder über die Erziehung. Hg. von Rang, Martin. Stuttgart 1963 (Emile 1762), S. 898. 18 | Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Bekenntnisse. Hg. von Hardt, Ernst und Krauss, Werner. Frankfurt a.M. 1985 (Confessions 1781), S. 82. 19 | Barth 2002, S. 79. 20 | Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Paderborn 1988, S. 58. 21 | Campe 1988, S. 60. 22 | Vgl. Campe 1988, S. 60.

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medizinischen und pädagogischen Diskurse – und auch der Lesediskurse.23 Rousseau forderte, dass sich die Frau ganz ihrer Natur verschreiben solle, das heißt, dass sie ihren Wirkungskreis auf das Haus beschränke. Beide Geschlechter hätten in bestimmten Bereichen einen Herrschaftsanspruch – die Männer in politischen und sozialen Belangen; die Frauen in solchen der Liebe. Die Frau stehe in einer doppelten Abhängigkeit. Sie sei abhängig von ihrem Mann als Oberhaupt der Familie sowie von der Gesellschaft und ihrer Stellung in derselben. Für Letzteres sei ihre Moralität, die sie aufgrund ihres Verhaltens und ihres guten Rufes zugeschrieben bekomme, ausschlaggebend.24 Von der Bildung der Frauen hatte Rousseau ebenfalls ganz eigene Vorstellungen. Er war überzeugt, dass eine schöngeistige Frau von der Bevölkerung nur verspottet werden und sich zur Geißel ihrer Familie machen würde, da sie alle Pflichten verabscheue.25 Campe wiederum geht in seinen Erziehungsschriften davon aus, dass Mädchen sensibel auf Lektüreeinwirkungen reagierten. Mädchen würden durch den Leseakt (auch körperliche) Erfahrungen machen, die dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal in keiner Weise entsprächen.26 Er glaubte, die Gefahr von Romanen und fiktionalen Stoffen für junge Frauen komme aus zweierlei Richtungen: Zum einen werde dem jungen Mädchen durch Lektüre ein bislang unbekannter intellektueller Horizont aufgespannt, der zu einer anderen Lebenspraxis ermutigen könne. Und zum anderen werde das junge Mädchen das Erwachen seines pubertären Selbst- und Körpergefühls noch viel intensiver erleben, wenn es Fiktionslektüre im Stillen lese.27 Campe sieht durch das häufige Lesen sein pädagogisches Ziel, Mädchen in ihre Rolle als Hausfrau, Ehefrau und Mutter einzuführen, gefährdet.

4.4 Lesen als Reproduktionserzeugnis des Erziehungssystems Im Erziehungssystem werden Kommunikationen produziert, die auf Schemata basieren, in denen Romane eine Gefahr für die gesellschaftliche Moral, die Sitten und Tugendhaftigkeit des Individuums, aber auch für den Status quo der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur darstellen. Das Romanlesen in den vom Erziehungssystem hervorgebrachten Kommunikationen ist demnach hauptsächlich negativ konnotiert. Festgehalten werden kann, dass die damalige Lesepädagogik eine im System brauchbare Theorie der Leseerziehung lieferte,28 und zwar vor allem für Mädchen und junge Frauen. Diese Erziehung 23 | Vgl. Barth 2002, S. 42. 24 | Vgl. Rousseau 1963, S. 1019f. 25 | Vgl. Rousseau 1963, S. 819. 26 | Vgl. Rousseau 1963, S. 108. 27 | Rousseau 1963, S. 108. 28 | Vgl. Baraldi et al. 1997, 51f.

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trug dazu bei, dass populäre Romane in bürgerlichen Kreisen während einer bestimmten Zeit keine Anerkennung fanden.

5. D IE THEMATISIERUNG DES L ESENS IM M EDIZINSYSTEM 5.1 Systemtheoretische Grundlagen des Medizinsystems Das Medizinsystem mit seinem Code krank/gesund wird korrekterweise auch System der Krankenbehandlung genannt. Dies, da es sich durch eine besondere Codierung auszeichnet: »Sie ist die einzige, in welcher der sozial präferierte Wert (die Gesundheit) nicht derjenige ist, der im System anschlussfähig ist, sondern umgekehrt die Reflexion auslöst (der negative Codewert).«29 Nur wenn Krankheit zur Kommunikation wird, ist sie innerhalb des Systems anschlussfähig.30 Die Funktion des Medizinsystems wird nicht eindeutig definiert, es wird nur angegeben, dass sie »durch die Diagnose und Therapie erfüllt« werde.31 Hervorzuheben ist ein wichtiger Unterschied gegenüber den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Das zentrale Medium im Medizinsystem ist nicht die Kommunikation, sondern vielmehr der Körper und Bewusstseinsinterpretationen.32

5.2 Das Lesen fiktionaler Lektüre im Medizinsystem In ihren Schriften und Ratgebern gingen die Mediziner davon aus, dass fiktive Stoffe bei den Lesenden psychosexuelle Prozesse auslösen würden.33 Vor allem Liebesromane oder solche mit erotischen Motiven wurden einstimmig abgelehnt. Schließlich waren die Ärzte überzeugt, dass fiktive Literatur die im ausgehenden 18. Jahrhundert stark bekämpfte Onanie oder andere Pubertätskrankheiten wie Melancholie, Anorexie oder Nervenzuckungen förderte.34 Eine besondere Bedeutung hatte Pierre Roussels Werk »Système physique et moral de la femme«, welches 1775 erschien und in Deutschland für die »Sonderanthropologen, die nachfolgenden Psychophysiologen und Gynäkologen zu dem Standardwerk schlechthin« wurde.35 Roussel, ein so genannter »phi29 | Baraldi et al. 1997, S. 116. 30 | Vgl. Baraldi et al. 1997, S. 116. 31 | Baraldi et al. 1997, S. 115. 32 | Vgl. Kraus 2001, S. 210. 33 | Vgl. Barth 2002, S. 102 34 | Vgl. Barth 2002, S. 48/84/103. 35 | Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt a.M. 1991, S. 145.

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losophe médecin«, stellte seine Befunde vom weiblichen Körper und Geist in Beziehung zu denjenigen des Mannes. So betont er, dass sich nicht nur Körperbau, sondern auch Skelett, Muskeln und Nerven von Mann und Frau unterscheiden, was Anlass zu geschlechtsspezifischen Lebensgewohnheiten sei.36 Roussel ist von der schädlichen Wirkung der Romanlektüre überzeugt, die vor allem darin liege, dass Lesende die Realität nur noch durch die Brille ihrer Imagination sehen, wodurch ihr Urteilsvermögen verfälscht werde. Durch Romane projizierten Lesende ihre Wunschvorstellungen in ihnen nahe stehende Personen, die mit den Persönlichkeiten an sich und ihren menschlichen Schwächen nur wenig gemein hätten: Un des effets les plus nuisibles de la lecture des romans, c’est de nous faire perdre de vue la véritable mesure avec laquelle nous devons les juger. En ne nous offrant que des modèles de constance et de fermeté, cette sorte de livres nous familiarise trop avec l’idée d’une perfection peu compatible avec la faiblesse humaine; de sorte que chacun s’attendant à voir cette idée se réaliser en sa faveur, se regarde comme l’objet d’un mahlheur particulier, lorsqu’il vient à être détrompé. 37

5.3 Weibliches und männliches Lesen im Medizinsystem Auf der Grundlage von Rousseaus entwicklungstheoretischen Überlegungen entwickelte sich sowohl ein medizinischer wie ein pädagogischer Pubertätsdiskurs. Medizin und Pädagogik schlossen sich aber auch an Rousseaus Weiblichkeitskonzeption an, die der Frau eine besondere Nähe zur »Natur« und eine ihr eigene psychische und physische »sensibilité« zuschreibt.38 Auch nach Pierre Roussel erlangt die Frau ihre »sensibilité« aus ihrer organischen Schwäche.39 Frauen seien zart, zerbrechlich und behielten eine kindliche Veranlagung, da sie einen viel feineren Knochenbau als die Männer aufweisen würden.40 Im Gegensatz zu seinem Landsmann Adrien Helvétius (1715-1771), welcher festhielt, dass die Ungleichheit der Geschlechter von der Gesellschaft anerzogen worden sei, führt Roussel die soziale Unterlegenheit der Frau auf ihre organische zurück.41 So betont er auch, dass die Teile, die einen weiblichen

36 | Vgl. Schiebinger 1993, S. 311. 37 | Roussel, Pierre: Système physique et moral de la femme, suivi au système physique et moral de l’homme. Et un fragment sur la sensibilité. Revue corrigée et considérablement augmenté, d’après des manuscripts inédits. Paris 1805, S. 23f. 38 | Vgl. Barth 2002, S. 40. 39 | Vgl. Barth 2002, S. 41. 40 | Vgl. Roussel 1805, S. 4-6. 41 | Vgl. Honegger 1991, S. 136.

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Körper ausmachen, naturgegeben seien, und dass sie die Funktion der Frau – ihren passiven Zustand – erahnen ließen: […] les vaisseaux, les nerfs, les fibres charnues, tendiseuses, ligamenteuses, et le tissu cellulaire que leur sert de lieu commun, sont aussi marqués par différence qui laissent entrevoir les fonctions aux quelles la femme est appelée, et l’état passif auquel la nature la destine.42

Während für den Mann Kraft kennzeichnend sei, sei dies für die Frau eine ganz bestimmte Schwäche, und zwar sowohl in ihrer physischen wie psychischen Konstitution. Aufgrund dieser hätten Frauen wiederum ganz bestimmte Krankheiten.43 Die dominantesten Kennzeichen einer Frau seien ihre Schwäche und ihr Empfindungsvermögen (la faiblesse et la sensibilité).44 Deshalb seien die Frauen durch Lektüre noch viel leichter in einen leidenschaftlichen Zustand zu versetzen als die Männer: La lecture des romans est encore plus dangereuse pour les femmes, parce qu’en leur présentant l’homme sans une forme et des traits exagérés, elle les prépare à des dégoûts inévitables, et à un vide qu’elles ne doivent pas raisonnablement espérer de remplir.45

Neben der deutschen Übersetzung von Roussels Werk trugen auch Schriften deutscher Ärzte zur Verbreitung des oben beschriebenen Bildes der Frau bei. So schreibt der Arzt Johann Christian Gottfried Jörg in seinem »Handbuch der Krankheiten des Weibes«: »Es kann nicht schwer fallen, alle die psychischen Eigenthümlichkeiten des Weibes aus den somatischen desselben abzuleiten.«46 Unter anderem führt Jörg aus, dass die Empfindlichkeit des Geistes bei den Frauen von ihrem, gegenüber dem Manne veränderten, Verhältnis des Nervensystems zu der Körpermasse herrühre oder die weibliche Furcht auf die engere Brusthöhle der Frau zurückzuführen sei. Auch habe der Mann einen viel stärkeren Willen als die Frau, da er mehr Muskeln habe und demnach körperlich stärker sei.47 Jörgs Beschreibungen laufen ganz im Sinne Roussels darauf hinaus, die Frau als ein eigenes Wesen mit eigener Körperlichkeit und 42 | Roussel 1805, S. 9. 43 | Vgl. Roussel 1805, S. 13. 44 | Vgl. Roussel 1805, S. 27. 45 | Roussel 1805, S. 24. 46 | Jörg, Johann Christian Gottfried: Handbuch der Krankheiten des Weibes. Nebst einer Einleitung in die Physiologie und Psychologie des weiblichen Organismus. Leipzig 1821, S. 68. 47 | Jörg 1821, S. 70-72.

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eigenem Geist aufzufassen, das nie an die Norm – den Mann – herankommt. Schließlich will Jörg auch den weiblichen Wirkungskreis stark eingeschränkt wissen, wenn er schreibt: »Vermöge der sämtlichen körperlichen und geistigen Eigenthümlichkeiten gehört das Weib mehr ins Haus und in den häuslichen Kreis, um zu wirken und zu schaffen, und um da besonders für den Mann und die Kinder zu sorgen.«48 Dieses Zitat verdeutlicht einmal mehr, dass mit der Genese der Sonderanthropologie auch die Geschlechterrollen neu definiert wurden. Auf das Lesen von Romanen kommt Jörg in einem Kapitel zur Hysterie zu sprechen. Hysterie ist nach ihm eine chronische Nervenkrankheit mit mannigfachen Symptomen. Das einzige beständige Symptom – oder je nach Perspektive die Krankheitsursache – sei eine Anomalie der weiblichen Geschlechtsorgane: der Gebärmutter und der Eierstöcke.49 So vielfältig wie die Symptome, so vielfältig können auch die Ursachen sein, die diese »Frauenkrankheit« auslösen. Unter anderem wird als Ursache das Romanlesen genannt.50 Der Göttinger Arzt Friedrich Benjamin Osiander (1792-1822) widmet der Romansucht der jungen Frauen und Mädchen, bzw. der »Vesana ad scenas Romanenses propensio« wie er sie auch nennt, in seinem Fachbuch »Ueber die Entwicklungskrankheiten in den Bluethenjahren des weiblichen Geschlechts« ein eigenes Kapitel. Er stellt sie als gefährliche Entwicklungskrankheit dar, die sowohl Körper wie auch Psyche der weiblichen Jugend angreift: »Nichts wirkt in den Jahren der lebhaftesten Einbildungskraft auf Kopf und Herz eines jungen Frauenzimmers so nachtheilig, als die an sich verderbliche Romanenlectuere«.51 Der praktische Arzt ist der Ansicht, »schluepfrige Romane erwecken bey ihnen die noch schlafenden Zeugungstriebe«,52 wodurch sie ins Verderben gestürzt würden; weil die Mädchen entweder der Onanie verfallen, was geistigen sowie körperlichen Zerfall nach sich zieht, oder weil sie sich auf die Galanterie eines Gecken einlassen, wodurch ihre Ehre und Achtung, die Ruhe der Familie sowie das Glück ihrer zukünftigen Tage zu Grunde gerichtet würden. Da sie langfristig erkennen müssen, dass ihre Flucht in die Imagination jeweils nur von kurzer Dauer sei, würden sie schwermütig oder wählten den Freitod.53 Osiander sieht das Romanlesen also nicht wie Jörg als Auslöser für eine Krankheit an, sondern als eine Krankheit selbst – und zwar als eine unheilbare. 48 | Jörg 1821, S. 82. 49 | Vgl. Jörg 1821, S. 247. 50 | Vgl. Jörg 1821, S. 286. 51 | Osiander, Friedrich Benjamin: Ueber die Entwicklungskrankheiten in den Bluethenjahren des weiblichen Geschlechts. Bd. 1 und 2, Göttingen 1817, S. 46. 52 | Osiander 1817, S. 46. 53 | Vgl. Osiander 1817, S. 47.

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5.4 Lesen als Reproduktionserzeugnis des Medizinsystems Da im Medizinsystem der negative Codewert, also die Krankheit, anschlussfähig ist, konnte das Thema des Lesens fiktionaler Stoffe erst im Medizinsystem Fuß fassen, nachdem es als (Frauen-)Krankheit oder deren Erreger zu Kommunikation geworden war. So erreicht die Thematik der fiktionalen Lektüre in den medizinischen Schriften um die Jahrhundertwende ihren Höhepunkt. Die Sinnkombinationen oder auch Schemata, die für die Gedächtnisbildung der Gesellschaft notwendig sind, differieren auch im Medizinsystem bezüglich des Themas fiktiver Lesestoffe nicht. Ihre standardisierte Form, die sich dadurch auszeichnet, dass etwas als etwas bestimmt wird, zeigt sich im Medizinsystem durch die Gleichsetzung des Romanlesens mit einer Krankheit bzw. einem Krankheitserreger. Meistens handelt es sich dabei um eine Frauenkrankheit oder deren Erreger, da davon ausgegangen wurde, dass die Frau aufgrund ihrer Feingliedrigkeit viel weniger resistent sei als der Mann. Da nicht die Kommunikation, sondern der Körper bzw. die Bewusstseinsinterpretationen54 das zentrale Medium des Medizinsystems ist, erklärt sich der von vielen Medizinern ins Spiel gebrachte Zusammenhang zwischen dem schwächeren weiblichen Körper und der anscheinend schwächeren weiblichen Psyche. Diese Verbindung wurde mit anatomischen Befunden zu untermauern versucht, weshalb der Frauenkörper im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem wichtigen Untersuchungsgegenstand der Ärzte und Anatomen wurde. Eine derartige Fixierung auf Krankheiten des weiblichen Geschlechts ist wohl damit zu erklären, dass Frauenkrankheiten als ein geeignetes Mittel erschienen, Frauen von geistiger Weiterbildung oder der Reflektion über die vorherrschenden Gesellschaftsstrukturen abzuhalten.

6. D IE THEMATISIERUNG DES L ESENS IM L ITER ATURSYSTEM 6.1 Systemtheoretische Grundlagen des Literatursystems In Luhmanns Theorie wird Literatur nicht als eigenes System präsentiert, sondern es wird unter dasjenige der Kunst subsumiert.55 In diesem Beitrag hingegen wird von einem ausdifferenzierten Literatursystem ausgegangen, welches unabhängig vom Kunstsystem seine eigenen Spezifika aufweist. Dies unter anderem auch, weil ein Vergleich zwischen dem Erziehungs- bzw. Medizinsystem und dem Literatursystem nur sinnvoll ist, wenn man von einer 54 | Vgl. Kraus 2001, S. 210. 55 | Sill, Oliver: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven auf ein komplexes Phänomen. Wiesbaden 2001, S. 96.

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gleichen Grundlage der Systeme, d.h. ihrer Ausdifferenziertheit, ausgeht. Da bestehende Funktions- und Codebeschreibungen der Forschung – z.B. von Sill56 und Werber57 – sich für den diskutierten Zusammenhang als nicht fruchtbar erwiesen, musste im Sinne einer Arbeitshypothese eine eigene Systembeschreibung vorgenommen werden. Ausgangspunkt hierfür ist die Besonderheit des Literatursystems, dass es im Gegensatz zum Erziehungs- oder Medizinsystem ein Beobachter zweiter Ordnung ist. Es beobachtet nicht einfach wie ein Beobachter der ersten Ordnung ausschließlich Objekte, sondern es beobachtet, wie beobachtende Systeme etwas beobachten.58 Sowohl der binäre Code wie auch die Funktion des Literatursystems werden abhängig von seinen besonderen Eigenheiten als Beobachter zweiter Ordnung definiert. Aus diesem Grund soll die für diese Arbeit gültige Leitdifferenz des Literatursystems als »problematisierbare Codierung beobachteter Fremdsysteme/ nicht problematisierbare Codierung beobachteter Fremdsysteme« bestimmt werden. Indem das Literatursystem also beobachtet, wie andere Systeme beobachten, beobachtet es auch deren Leitdifferenz und die durch diese Leitdifferenz entstandenen kommunikativen Reproduktionserzeugnisse, die es im Literatursystem für Kommunikationen anschlussfähig macht. Als Funktion des Literatursystems – wiederum abhängig von seinem Status als Beobachter zweiter Ordnung – wird die Belieferung psychischer Systeme mit eigenen Reproduktionserzeugnissen sowie mit solchen anderer sozialer Systeme aus einer Zweitperspektive angesehen. Dies ist eine innovative Arbeitshypothese, die über Sill/Werber hinausgeht und im Rahmen einer Lizentiatsarbeit an der Universität Zürich entwickelt wurde.59

6.2 Das Lesen fiktionaler Lektüre im Literatursystem Betrachtet man die Leseszenen in Lenz’ Dramen und Erzählungen sticht einem eine Besonderheit ins Auge: Auf den ersten Blick scheint es einen engen Zusammenhang zwischen Romanleserinnen und ihrer Verführbarkeit zu geben. Frauen, die einen »falschen« Roman gelesen haben, werden verführt. Auch bei den Männern zeichnet sich scheinbar eine Gemeinsamkeit ab: Romane lesende Männer scheinen allesamt melancholisch oder wahnsinnig zu 56 | Sill 2001. 57 | Werber, Niels: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992. 58 | Vgl. Luhmann, Niklas: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Jahraus, Oliver (Hg.): Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, S. 270. 59 | Vgl. den Beitrag »Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin« von Rudolf Käser in diesem Band, insbesondere Abschnitt 7 »Referenzrahmen Systemtheorie«.

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werden – einige sterben zuletzt gar. Bei genauerem Hinsehen ist jedoch zu erkennen, dass ein solches Frauen- bzw. Männerbild nur entsteht, wenn das Publikum eine spezifische Perspektive einnimmt. Exkurs I: Weibliche Verführbarkeit im 18. Jahrhundert Die Verführbarkeit der Frau ist ein viel gebrauchtes und sehr altes literarisches Motiv. Seine Wurzeln hat es in der biblischen Schöpfungsgeschichte. In der frühen Neuzeit erscheint es meist in der Form der sexuellen Verführung. Gemäß Frenzel handelt es sich im 18. Jahrhundert hauptsächlich um den Topos des unschuldigen Mädchens aus einer unteren Schicht und des »teuflischen Verführers« eines höheren Standes.60 Die Romane Richardsons bereiten den Weg für die Ausgestaltung und Verbreitung des Motivs, welches im deutschen bürgerlichen Trauerspiel eine starke Gewichtung erhält.61 In der Sturm-und-Drang-Dichtung ist das Thema der Verführbarkeit, welches nun in Zusammenhang mit demjenigen der Kindsmörderinnen gestellt wird, häufig aufgenommen worden. So wird in den meisten literarischen Werken hervorgehoben, dass die Verführten sich aus »Furcht vor dem Verlust der Geschlechterehre, aus Scham, Verzweiflung, Mitleid mit dem als ›verächtlich‹ geltenden Unehelichen«62 zum Kindsmord entschließen. Behandelt man das Thema der Verführbarkeit im 18. Jahrhundert, kommt man nicht umhin, den zeitgenössischen Unschulds- beziehungsweise Tugenddiskurs miteinzubeziehen. Diese Diskurse mögen eng miteinander verknüpft sein, doch weisen sie einen fundamentalen Unterschied auf: Unschuldige Personen sind unwissend, tugendhafte hingegen wissend. Nach Johann Ludwig Ewald liebe ein Mann im Endeffekt auch nicht das tugendhafte Mädchen, welches nach langem Ringen dem Verführer widersteht und unbefleckt bleibt, sondern das unschuldige Mädchen, das rein blieb, weil es seine Natur ist.63 Das einst breite Bedeutungsspektrum des Tugendbegriffs wurde im 18. Jahrhundert auf weibliche Enthaltsamkeit reduziert. Dass der Begriff der Tugend sich neben seinem verblassenden ursprünglichen Wortsinn zum Synonym für Keuschheit entwickelt, wirft Licht auf die die Aufklärung kennzeichnende Sexualisierung der Moral.64 Die Sexualisierung gesellschaftlicher Werte wie Moral oder Tugendhaftigkeit kann umgekehrt auch als Desexualisierung der Frauen betrachtet werden. Weil eine Frau nur noch moralisch bzw. tugend60 | Vgl. Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1992, S. 761. 61 | Vgl. Frenzel 1992, S. 762f. 62 | Frenzel 1992, S. 764. 63 | Zitiert nach Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 439. 64 | Vgl. Koschorke 1999, S. 437.

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haft ist, wenn sie in sexueller Abstinenz lebt, muss sie ihre Sexualität gezwungenermaßen aufgeben, wenn sie ihr Gesicht in der Gesellschaft wahren will. Dies führt in der (Liebes-)Kommunikation des ausgehenden 18. Jahrhunderts zum spezifischen Phänomenen, dass die Körpersprache und das Gesagte oft nicht dasselbe aussagen. Dieser anscheinende Gültigkeitsverlust des gesprochenen Wortes kann gerade im Liebesdiskurs wieder zum Problem werden. Denn weshalb sollte ein Mann von seinen Zudringlichkeiten gegenüber einer Frau ablassen, nur weil diese nein sagt? Koschorke bemerkt, dass die von Trauerspiel und Drama inszenierten Missverständnisse in der Kommunikation zwischen Verführer und Verführter nicht nur durch die Differenz des männlichen und weiblichen Zeichensystems zu begründen seien, sondern zusätzlich durch die unterschiedlichen Zeichensysteme der Standeszugehörigkeit. Diese Verschiebungen in den Zeichensystemen werden von Koschorke 1999 als Ursache für das angehäufte Aufkommen des Motivs der (unschuldig) Verführten in den bürgerlichen Trauerspielen und Dramen des ausgehenden 18. Jahrhunderts angesehen.

6.2.1 Weibliches Lesen bei Lenz Von Gustchten, der Protagonistin aus »Der Hofmeister«, erfährt das Publikum, dass sie viele Bücher und Trauerspiele liest.65 Sie kennt beispielsweise auch die Tragödie »Romeo und Julia« sowie den Roman »La nouvelle Héloise«. Gustchen verkörpert aber keineswegs den Prototyp der unschuldig verführbaren Bürgertochter. Erstens kommt sie aus adeligem Hause, ist demnach nicht in der bürgerlichen Sittenlehre unterrichtet worden und verhält sich auch keineswegs so. Zweitens ist ihre Schwangerschaft – von wem auch immer das Kind stammt – im zeitgenössischen Diskurs als Zeichen eines beidseitig gewollten Geschlechtsakts gelesen worden. Die gängige Meinung (auch von Ärzten und Juristen) war, dass es nur zur Befruchtung komme, wenn eine Frau während des Zeugungsvorganges Lust und Begehren empfinden würde.66 So verkörpert Gustchen den Typ Mädchen, das seinem Begehren nachgibt und Warnungen leichtfertig verwirft. Trotzdem muss sie die Konsequenz ihres Verhaltens nicht (alleine) tragen und wird am Ende mitsamt ihrem Kind von Fritz, ihrem zukünftigem Ehemann, aufgenommen.

65 | Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. In: Voit, Friedrich (Hg.): J.M.R. Lenz. Werke. Stuttgart 2001, S. 9-100. 66 | Vgl. Peyer, Claudia: Das Maass des Vergnügens ist jederzeit die Heftigkeit des befriedigenden Verlangens. Zur Konstruktion der weiblichen Lust im medizinischen, rechtlichen und literarischen System des 18. Jahrhunderts. Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2004, S. 105.

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Die Verführung von Marie aus »Die Soldaten« hingegen scheint wie ein Fall aus dem Lehrbuch.67 Die junge Kaufmannstochter ist bereits dem rechtschaffenen Bürger Stolzius versprochen, als der Adlige Desportes ihr den Hof zu machen beginnt. Nachdem Marie sich vermutlich auf diesen eingelassen hat, verliert er das Interesse an ihr und macht sich mit dem Geld eines Bekannten aus dem Staub. Aus dem Text ist zwar nicht eindeutig nachweisbar, dass Marie und Desportes eine sexuelle Beziehung eingegangen sind. Doch schon die Vermutung genügt, um Maries Ruf zu schädigen. Der Versuch des Vaters, durch die Übernahme der Kaution ihr Ansehen sowie dasjenige der Familie zu retten, nützt nichts mehr. Am Ende finden sich Vater und Tochter von der Gesellschaft ausgestoßen und verarmt. Marie widerfährt dieses Schicksal nun aber nicht, weil sie eine besessene Romanleserin ist. Sie liest zwar Romane, doch hat sie entgegen der Annahme der Gräfin La Roche ein bestimmtes Buch – die »Pamela« – gerade nicht gelesen. Damit wird dem Publikum signalisiert, dass Marie sich wahrscheinlich nicht auf Desportes eingelassen hätte, wenn sie den moralischen Roman Richardsons gelesen hätte und ihr damit ein Beispiel für Standhaftigkeit und Tugendhaftigkeit vor Augen geführt worden wäre. In »Der Landprediger« bekommt Luzilla (eine Nebenfigur), die sich zuvor gerne in Offizierskreisen bewegt hatte, zur Hochzeit mit dem jungen Stadtpfarrer von einem Oberstleutnant den Roman »Das Leben des Sebaldus Nothanker« geschenkt. In seiner Widmung schreibt der Offizier, er hoffe, Luzilla irre nicht wie der Protagonist als »das Opfer der Vorurteile ihres Standes und der schrecklichsten Übel der Beschränktheit und des Aberglaubens umher«.68 Er warnt sie also am Beispiel von Sebaldus, bezieht sich jedoch direkt auf ihr früheres, untugendhaftes Leben. Hier wird der Roman nicht als Verführungsmittel dargestellt, sondern vielmehr als Warnung vor solchen Irrungen, als Beispiel eines nicht nachzuahmenden Lebens. Exkurs II: Melancholie im 18. Jahrhundert Die Geschichte der Melancholie als Krankheit, Gemütszustand oder Temperament findet ihren Ursprung um 400 v. Chr. in den hippokratischen Schriften (Corpus Hippocraticum). Im 2. Jahrhundert n. Chr. nahm sich der griechischrömische Arzt Claudius Galenus dieses Gegenstands an. Er kanonisierte die Viersäftelehre69 dergestalt, dass sie in gleicher Form bis ins 18., ja gar 19. Jahr67 | Lenz, Jakob Michael Reinhold: Die Soldaten. In: Voit, Friedrich (Hg.): J.M.R. Lenz. Werke. Stuttgart 2001, S. 173-236. 68 | Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Landprediger. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2. Leipzig 1987, S. 421. 69 | Der Corpus Hippocraticum unterschied in der Viersäftelehre die schwarze Galle (melancholia), von Blut (sanguinis), Schleim (phlegma) und der gelben Galle (cholera)

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hundert fortwirkte. Diese geht davon aus, dass die Substanz eines jeden Menschen aus flüssigen Teilen bestehe, die entweder »wässerichte, irdische, ölichte [oder] salzrige« sind.70 Bei jeder Person seien diese Teile anders gemischt. Wenn eine Ausgewogenheit (Eukrasie) der verschiedenen Anteile vorherrsche, sei der Mensch gesund. Krankheiten werden mit einem Ungleichgewicht (Dyskrasie) begründet.71 Das jeweilige Temperament eines Menschen werde durch diejenigen Partikel bestimmt, die in diesem Mix die Oberhand hätten. Das Phänomen Melancholie wurde zu verschiedenen Zeiten verschieden gedeutet, so dass auch der Umgang mit ihm nie derselbe blieb. Selbst innerhalb des 18. Jahrhunderts findet zwischen Aufklärung und dem ausgehenden Jahrhundert ein prägnanter Deutungswechsel statt. Der aufklärerische Geist duldete keine schwermütigen Dissidenten und schwarzgalligen Schwärmer. Jede Form melancholischer Abtrünnigkeit wurde resolut geahndet.72 Erst im ausgehenden Jahrhundert kam es zu einer Aufwertung der Melancholie, die vor allem im Geniegedanken des Sturm und Drang und in der Liebes- und Todessehnsucht der Romantik zum Ausdruck kommt.73 Die Melancholie wurde sodann in medizinischen Schriften, Ratgebern etc., aber auch vielen literarischen Werken thematisiert. Es wird deutlich, dass Melancholie ein schillernder Begriff ist, der in seiner Vielfalt und seiner Ursächlichkeit nie gänzlich erklärt werden konnte. Nicht zuletzt auch, da sie somatisch nie nachgewiesen werden konnte.74 Die Leerstelle der körperlichen Unnachweisbarkeit wurde sodann mit einer neuen Krankheit, die schon von Anfang an im Bild der Melancholie angelegt war, gefüllt: Die Hypochondrie. Hypochondrie war im 18. Jahrhundert unter »hypochondrisches Übel, Milz- Krankheit, Milz-Sucht, Milz-Weh, MilzBeschwehrung, Seiten-Weh« bekannt.75 Die Milz wurde auch als Produktions(vgl. Lambrecht, Roland: Melancholie – Vom Leiden an der Welt und den Schmerzen der Reflexion. Hamburg 1994, S. 28). 70 | Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 42. Graz 1962 S. 764. 71 | Vgl. Lambrecht, Roland: Melancholie – Vom Leiden an der Welt und den Schmerzen der Reflexion. Hamburg 1994, S. 29. 72 | Vgl. Lambrecht 1994, S. 32. 73 | Vgl. Lambrecht 1994, S. 35. 74 | Forster macht diesbezüglich einen interessanten Vergleich zur weiblichen Hysterie, indem er festhält, dass beide Leidenstypen ähnliche Strukturen aufweisen würden. Nach ihm beschrieben beide ein Verhältnis zum Patriarchat. Während die Hysterikerin dieses verweigere, empfinde der Melancholiker eine komplizierte Hass-Liebe zu Macht, Herrschaft und Gewalt (vgl. Forster, Edgar J.: Unmännliche Männlichkeit. Melancholie – Geschlecht – Verausgabung. Wien 1998, S. 32). 75 | Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 13. Graz 1961, S. 1479.

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ort der schwarzen Galle angesehen. Nach Wagner-Egelhaaf übernimmt die Hypochondrie das Krankheitsbild der Melancholie, jedoch unter besonderer Betonung der körperlichen Symptomatik.76

6.2.2 Männliches Lesen bei Lenz Lenz’ Erzählung »Der Waldbruder« ist in vielen Punkten ein Pendant zu Goethes Werther.77 Der Protagonist ist ein Romanleser und wird von verschiedenen Personen im Stück als Melancholiker oder Wahnsinniger beschrieben.78 Seine Melancholie wird von einigen Nebenfiguren explizit auf seine Romanlektüre zurückgeführt, eine bestimmte Nebenfigur verneint diesen Zusammenhang jedoch ausdrücklich. Der ursächliche Zusammenhang von Lektüre und Krankheit steht also zur Diskussion. Zu Beginn von »Etwas über Philotas Charakter« ist der Protagonist Philotas bereits tot. Aus Briefen seines Freundes, dem Ich-Erzähler, erfährt der/die Lesende, dass Philotas belesen war und von der Gesellschaft als Melancholiker betrachtet wurde. Ihm wurden körperliches Leiden und Schwermut nachgesagt. Schwermut galt seit Platon als typisches Merkmal für Melancholiker.79 Philotas psychischer Zustand muss als drastisch eingeschätzt worden sein, erzählte dieser seinem Freund doch: »[…], überall, wo ich hintrete, bietet man mir Schermesser zum Verkauf an«.80 Damit implizierte er, dass alle davon überzeugt waren, er wolle sich nächstens das Leben nehmen. Dies kann man als weiteren Hinweis auf Philotas Melancholie verstehen, denn seit »Werther« konnte auch der Selbstmord als Anzeichen eines melancholischen Gemüts gelesen werden. Der Ich-Erzähler ist jedoch anderer Meinung. Er argumentiert, dass Philotas dem Verstand gegenüber den Phantasien immer Vorrang gege76 | Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina. Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart und Weimar 1997, S. 145. 77 | Es lassen sich einige Parallelen zwischen Herz und Werther ausmachen, so ihre Abneigung gegenüber der Stadt bzw. das Einswerden mit der Natur, ihr Missfallen an der Ständehierarchie, die unerfüllte Liebe zu einer Frau sowie die drei ›Lösungen‹ aus diesem Dilemma: Wahnsinn, Kriminalität oder Selbstmord. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther. Stuttgart 1986, und Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden. In: Voit, Friedrich (Hg.): J.M.R. Lenz. Werke. Stuttgart 2001, S. 293-330. 78 | Melancholie und Wahnsinn lagen im zeitgenössischen Diskurs nahe beieinander (vgl. Zedler 1962, Bd. 13, S. 1479.) 79 | Vgl. Heidbrink, Ludger: Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung. München 1994, S. 26. 80 | Lenz, Jakob Michael Reinhold: Etwas über Philotas Charakter. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 2. Leipzig 1987, S. 471.

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ben habe und er eine reflexive Lesepraxis betrieben habe. Schließlich liefert der Freund auch eine Erklärung für Philotas’ Tod: nämlich, die zu große Anstrengungen beim Studieren oder eine Erkältung. Auch hier bleibt der Ursache-Diskurs aus Sicht der Leserschaft mit unauflösbarer Ambivalenz und Unsicherheiten behaftet. Mannheim, den braven Landpfarrer aus »Der Landprediger«, überkommt plötzlich der Drang, Romane nach den ihm bekannten Beispielen Richardsons und Fieldings zu schreiben, was ihn unzufrieden, passiv, lustlos und missmutig macht. Sein alter Freund geht davon aus, dass er krank sei oder ihm etwas im Unterleibe fehlen müsse.81 Dieser Hinweis auf die Unterleibs- und Gelehrtenkrankheit macht deutlich, dass Mannheims Kamerad befürchte, der Pfarrer leide an Hypochondrie. Mannheim gelingt es jedoch, sich selbst zu heilen. Nachdem er nämlich beschlossen hat, der Begierde zu trotzen und alle seine Pläne, einmal ein berühmter Schriftsteller zu werden, hinter sich zu lassen, ist sein Missmut plötzlich verflogen und er stürzt sich in die Arbeit. Die Hauptfigur Robert Hot in »Der Engländer. Eine dramatische Phantasei« ist eindeutig als Melancholiker zu identifizieren. Neben dem Verweis im Untertitel wird Robert auch von den Nebenfiguren als Melancholiker beschrieben. Robert selbst erwähnt gegenüber den Dienern seines Vaters, dass er einen Fehler im Kopf habe82 und antwortet ihnen: »Immer dieselbe Leier; wenn ich nicht närrisch wäre, könntet ihr mich dazu machen«.83 Neben diesen Fremddiagnosen durch die Nebenfiguren und die – wenn allenfalls auch ironisch gemeinte – Selbstdiagnose von Robert, kann der/die Lesende auch aus Roberts Freitod den Schluss ziehen, dass er ein Melancholiker gewesen sei. Auffällig ist, dass Robert zwar von allen als Melancholiker angesehen wird, seine Krankheit jedoch nur einmal mit seiner früheren Lektüre in Verbindung gebracht wird. So versucht der Vater die letzte Handlung seines Sohnes damit zu entschuldigen, »dass er [Robert] in der Kindheit über gewisse Bücher kam, die ihm Zweifel an seiner Religion beibrachten«.84 Eine einheitliche, dem Lesepublikum als Wahrheit dargestellte Ursache ist auch dies nicht.

6.3 Lesen als Reproduktionserzeugnis des Literatursystems Die Beschreibungen in den vorgehenden Kapiteln haben deutlich gezeigt, dass keine pauschalen Aussagen über das Thema Lesen in Lenz’ Werk gemacht werden können. Es kann zwar festgehalten werden, dass das Lesen fiktiona81 | Vgl. Lenz 1987, Bd. 2, S. 445. 82 | Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Engländer. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden, Bd. 1. Leipzig 1987, S. 331. 83 | Lenz 1987. Bd. 1, S. 331. 84 | Lenz 1987. Bd. 1, S. 336.

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ler Literatur in den vorgestellten Texten meistens von zentraler Bedeutung ist, doch kann keine eindeutige Aussage zur Ursache-Folge-Beziehung eruiert werden. Grund dafür ist die Polyperspektivität der Lenzschen Texte, welche hier unterschiedliche Wertungen über Fiktionslektüre und deren Auswirkungen hervorbringt und nebeneinander stehen lassen. Aufgrund dieser verschiedenen Blickwinkel lässt keiner der untersuchten Texte einen Kausalschluss zu. Diese »Offenheit« literarischer Texte ermöglicht dem Literatursystem einen kreativen Umgang in der Kommunikationsproduktion. Dadurch ist es befähigt, immer wieder Neues hervorzubringen und durch Neukombinationen völlig divergierender Elemente neue Formen zu generieren. Dies kann am Beispiel von »Gustchen« aus »Der Hofmeister« gezeigt werden. Die Majorstochter verkörpert ein typisches Fallbeispiel, wie es in der Lesesuchtdebatte des 18. Jahrhunderts von vielen Pädagogen (und Medizinern) angeführt wurde, um Mädchen und junge Frauen zu warnen. Als Warngeschichte könnte Gustchens Leben aber nur bis zur vierten Szene des vierten Aktes funktionieren, bis zu dem Zeitpunkt nämlich, als die junge Frau nach der Geburt ihres unehelichen Kindes aus lauter Verzweiflung ins Wasser gehen will. Lenz’ Auflösung der dramatischen Handlungsstruktur und die Überführung in einen Zustand der Harmonie macht das gesamte Drama als Warngeschichte jedoch unbrauchbar. Lenz übernimmt zwar Schemata des Erziehungs- oder Medizinsystems: Die Romanleserin wird verführt und muss die Konsequenzen tragen. Durch die Hinzufügung eines weiteren – eher unpopulären – kommunikativen Elements, des Happy Endings, kommt es jedoch zu einer literaturspezifischen Selektion, welche etwas Neues zu Stande bringt. Die Leseszenen in »Die Soldaten« hingegen verdeutlichen, dass auf ein und derselben Grundlage durch eine andere Anordnung kommunikativer Elemente ein anderes Neues, mit völlig anderer Aussage entstehen kann. So wirkt das bekannte Schema, dass Romanleserinnen leicht zu verführen seien, nach Maries Antwort, dass sie »Pamela« gar nicht gelesen habe, nicht mehr. Vielmehr kommt man zum Schluss, dass sie den Roman besser gelesen hätte, denn so hätte sie die listigen Verführungsversuche der Männer gekannt und hätte sich nicht täuschen lassen. Wenn man das Beispiel der Schreibpraxis Lenz’ zu dokumentieren versucht, ergibt sich der Befund, dass die Sinnkombinationen oder Schemata, mit deren Hilfe sich die Gesellschaft ein Gedächtnis bildet, in Bezug auf das Thema populäre Lesestoffe im Literatursystem des 18. Jahrhunderts voneinander abweichen können. Zwar treten sie auch in ihrer standardisierten Form als Bestimmung von etwas als etwas auf, doch differieren diese Formen durch unerwartete Neukombinationen der außerliterarischen verfügbaren Elemente. Dies ist nur dank der spezifischen Eigenheiten des Literatursystems möglich.

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7. V ERGLEICH DER SYSTEMSPEZIFISCHEN A NSCHLUSSKOMMUNIK ATIONEN ZUM THEMA L ESEN Jedes der drei ausdifferenzierten Teilsysteme Erziehung, Medizin und Literatur hat eine spezifische Leitdifferenz sowie eine Funktion, wodurch sie sich von der Umwelt, also auch von anderen Systemen, abgrenzen können. Das Medizin- und Erziehungssystem verbindet die Tatsache, dass sie beide Beobachter erster Ordnung sind, wohingegen das Literatursystem ein Beobachter zweiter Ordnung ist. Erstere beobachten das Phänomen des weit verbreitenden Lesens fiktionaler Lektüre und Letzteres beobachtet dies, während es zugleich beobachtet, dass und wie Erstere dieses Phänomen beobachten. Wie jedes Teilsystem produzieren das Medizin- sowie das Erziehungssystem in ihrer Beobachtung erster Ordnung Kommunikation über das Lesen populärer Lesestoffe in Abhängigkeit ihres binären Codes. Dies geschieht in der Erzeugung von Anschlusskommunikation an den anschlussfähigen Codewert. So bringt das Erziehungssystem aufgrund seines Codes kommunikative Einheiten und Schemata hervor, in denen Romane eine Gefahr für die gesellschaftlich Moral, die Sitten und Tugendhaftigkeit des Individuums, aber auch für die patriarchalische Gesellschaftsstruktur darstellen. Beispiele sind: »Lesen von unterhaltender Lektüre bewirkt einen Rückzug aus der Gesellschaft«, »es steigert die Zeugungstriebe«, »es hält die Frauen vor der Ausführung ihrer Pflichten ab« oder »es macht sie verführbar«. Das Medizinsystem hingegen produziert Sinnkombinationen, in denen das Romanlesen mit einer Krankheit bzw. einem Krankheitserreger gleichgesetzt wird. Beispiele sind: »Das Lesen von Fiktionslektüre verursacht Nervenkrankheiten«, »es führt zu Melancholie oder Hypochondrie«, »es ist Ursache für Realitätsverlust« oder »es verleitet zu Onanie«. Das Literatursystem hingegen, das beobachtet, wie die beiden anderen Systeme beobachten, benutzt in seiner Kommunikationsproduktion teilweise deren Schemata, die es dann entweder verändert (»Die Soldaten«) oder diesen – möglich durch die Einführung verschiedener Perspektiven – Alternativlösungen zur Seite stellt (»Waldbruder«/»Philotas Charakter«). Dies gelingt ihm dank seines binären Codes, welcher in der Etablierung eines Meta-Codes zu sehen ist: Der literarische Code ist die Problematisierbarkeit der Codierung beobachteter Fremdsysteme resp. die Nicht-Problematisierbarkeit derselben. Als Beobachter erster Ordnung, was ein Beobachter zweiter Ordnung schließlich auch ist,85 kann das Literatursystem jedoch auch ganz neue Schemata, die bezeichneten Alternativlösungen, hervorbringen. Dadurch dass das Literatursystem keine einheitlich bewerteten, sondern im Gegenteil ganz verschiedene kommunikative Einheiten hervorbringt, erfüllt es seine Funktion, 85 | Vgl. Luhmann, Niklas: Sthenographie. In: Luhmann, Niklas et al.: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien? München 1990, S. 127.

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indem es psychische Systeme mit eigenen Reproduktionserzeugnissen sowie mit solchen anderer sozialer Systeme aus einer Zweitperspektive beliefert. Wie aus den Darstellungen von Lenz’ Texten ablesbar ist, hinterfragt das Literatursystem die Methoden und Möglichkeiten des Beobachtens anderer Systeme jedoch nicht, wie dies ein Beobachter dritter Ordnung tun würde. Es zeigt lediglich auf, dass und wie diese beobachten. Das Privileg des Literatursystems, ein Beobachter zweiter Ordnung zu sein, ist einerseits Voraussetzung für seine Fähigkeit, verschiedene Perspektiven herzustellen. Dies gelingt ihm in Bezug auf die Leseszenen durch Selbstbeobachtung. Andererseits verschafft dieses Privileg dem Literatursystem aber auch einen souveränen Zugang zur Fremdthematisierung, denn das Literatursystem kann literarisch auch an die Negation des Literatursystems durch andere Diskurse anschließen, was die Beschäftigung mit dem Thema Lesen populärer Lesestoffe unweigerlich zu Tage bringt. Dadurch, dass das Literatursystem standardisierte Sinnkombinationen z.B. aus dem Erziehungs- oder Medizinsystem übernimmt, in denen das Lesen fiktionaler Literatur als untugendhaft oder krank machend gilt – in denen eine spezifische Form der Literatur also negiert wird –, problematisiert es sich selbst. Präzise ausgedrückt heißt das: Das Literatursystem hat die Möglichkeit, sich selbst zu problematisieren. Es übernimmt externe Schemata nicht eins zu eins, sondern entweder in umgewandelter Form oder in Kombination mit anderen, inhaltlich entgegen gesetzten Elementen: Es lässt dem Leser dadurch verschiedene Optionen offen und vermittelt Irritationen und neue Impulse im System gesellschaftlicher Kommunikation. Damit gestaltet Literatur den normativen Prozess des Themas Romanlektüre im 18. Jahrhundert aktiv mit.

L ITER ATUR Baraldi, Claudio, Corsi, Giancarlo und Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a.M. 1997. Barth, Susanne: Mädchenlektüren. Lesediskurse im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. und New York 2002. Beutin, Wolfgang et al.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1994. Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Paderborn 1988. Forster, Edgar J.: Unmännliche Männlichkeit. Melancholie – Geschlecht – Verausgabung. Wien 1998. Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1992. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther. Stuttgart 1986.

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Hartmann, Horst und Hartmann, Regina: Populäre Romane und Dramen im 18. Jahrhundert. Zur Entstehung einer massenwirksamen Literatur. Obertshausen 1991. Heidbrink, Ludger: Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung. München 1994. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt a.M. 1991. Jörg, Johann Christian Gottfried: Handbuch der Krankheiten des Weibes. Nebst einer Einleitung in die Physiologie und Psychologie des weiblichen Organismus. Leipzig 1821. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. Kraus, Detlef: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart 2001. Lambrecht, Roland: Melancholie – Vom Leiden an der Welt und den Schmerzen der Reflexion. Hamburg 1994. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. In: Voit, Friedrich (Hg.): J.M.R. Lenz. Werke. Stuttgart 2001, S. 9-100. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Waldbruder, ein Pendant zu Werthers Leiden. In: Voit, Friedrich (Hg.): J.M.R. Lenz. Werke. Stuttgart 2001, S. 293330. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Die Soldaten. In: Voit, Friedrich (Hg.): J.M.R. Lenz. Werke. Stuttgart 2001, S. 173-236. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Engländer. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Bd.  1. Leipzig 1987, S. 317-337. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Landprediger. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 2. Leipzig 1987, S. 413-463. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Etwas über Philotas Charakter. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Bd. 2. Leipzig 1987, S. 464-480. Luhmann, Niklas: Sthenographie. In: Luhmann, Niklas et al.: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien? München 1990, S. 120-137. Luhmann, Niklas: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Jahraus, Oliver (Hg.): Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, S. 262-296. Osiander, Friedrich Benjamin: Ueber die Entwicklungskrankheiten in den Bluethenjahren des weiblichen Geschlechts. Bd. 1 und 2. Göttingen 1817. Peyer, Claudia: Das Maass des Vergnügens ist jederzeit die Heftigkeit des befriedigenden Verlangens. Zur Konstruktion der weiblichen Lust im medizinischen, rechtlichen und literarischen System des 18. Jahrhunderts. Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2004.

Männliche und weibliche Lesesucht

Rousseau, Jean-Jacques: Emile. Oder über die Erziehung. Hg. von Rang, Martin. Stuttgart 1963 (Emile 1762). Rousseau, Jean-Jacques: Bekenntnisse. Hg. von Hardt, Ernst und Krauss, Werner. Frankfurt a.M. 1985 (Confessions 1781). Roussel, Pierre: Système physique et moral de la femme, suivi au système physique et moral de l’homme et d’un fragment sur la sensibilité. Revue corrigée et considérablement augmenté, d’après des manuscripts inédits. Paris 1805. Schiebinger, Londa: Schöne Geister. Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart 1993. Sill, Oliver: Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven auf ein komplexes Phänomen. Wiesbaden 2001. Wagner-Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart und Weimar 1997. Werber, Niels: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992. Werber, Niels: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München 2003. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd.  13. Graz 1961. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Bd.  42. Graz 1962.

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»Die jungen Herren weiß und roth« J. M. R. Lenz’ Drama »Der Hofmeister« im Kontext medizinischer, juristischer und moraltheologischer Diskurse des 18. Jahrhunderts Rudolf Käser

Männliche Sexualität wird im 18. Jahrhundert dominant im Zeichen ihrer pathogenen Gefährdung durch Onanie diskutiert. Einen kulturhistorischen Überblick über das Thema und dessen Omnipräsenz in den Diskursen des 18. Jahrhunderts bietet die umfassende Studie »Solitary Sex« von Thomas W. Laqueur.1 Der Onaniediskurs galt kulturkritischen Sexualhistorikern als

1 | Laqueur, Thomas W.: Solitary Sex. A Cultural History of Masturbation. New York 2003. Vgl. außerdem »The Face of the Sufferer: Physiognomy, Disease, and the Genitalia« in: Gilman, Sander L: Sexuality. An Illustrated History. Representing the Sexual in Medicine and Culture from the Middle Ages to the Age of AIDS. New York u.a. 1989. S. 203-210. Die hier ausgearbeitete These zur Onanie Läuffers wurde erstmals in Sander L. Gilmans DAAD-Sommerkurs »Disease an Sexuality in German Cultures« an der Cornell University im Sommer 1989 skizzenhaft vorgetragen. Sander L. Gilman verdanke ich u.a. den Hinweis auf die medizinhistorische Arbeit von Engelhardt, H. Tristram, Jr.: The Disease of Masturbation. Values and the Concept of Disease. In: »Concepts of Health and Disease. Interdisciplinary Perspectives«. Edited by Arthur L. Caplan et al. London u.a. 1981. S. 267-280. Der vorliegende Aufsatz ist eine umgearbeitete Fassung des Beitrags zum Symposium »Rebellionsmuster im Leben und in der Dichtung« in Tartu (Estland) 2001. Dieser Symposiumsbeitrag wurde publiziert als Käser, Rudolf: Onanie und Selbstkastration. J.M.R. Lenz’ ›Hofmeister‹ am Schnittpunkt von Medizin- und Literaturgeschichte. In: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen. Elfte Folge 2005. Riga und Bonn 2006, S. 7-30. Ich danke den Veranstaltern für die Gelegenheit, die sexualmoralischen Schriften Hupels in Tartu vor Ort einsehen zu können.

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das Paradebeispiel eines repressiven Diskurses.2 Foucaults Einspruch gegen die unhaltbaren Voraussetzungen der Repressionsthese hat in der Lenz-Forschung kaum Zustimmung gefunden. Zu klar und zu eklatant schien z.B. die Selbstkastration des Hofmeisters in Lenz’ gleichnamigem Theaterstück für die Repression der Sexualität im ›bürgerlichen‹ 18. Jahrhundert Zeugnis abzulegen.3 Es ist wohl diese allgemeine Akzeptanz der Repressionsthese, die in der Lenz-Forschung dazu geführt hat, dass es bisher unterlassen wurde, die Verzweigungen des Onanie-Diskurses auch dort aufzusuchen, wo sie implizit am Werk sind und die Handlungsabläufe strukturieren. Dies soll im Folgenden nachgeholt werden. Der Gewinn einer solchen diskurshistorisch kontextualisierenden Lektüre wird darin bestehen, dass erstens einige bisher disparat erscheinende inhaltliche Motive des Hofmeister-Dramas in ihrer diskurshistorischen Bedeutung rekonstruiert werden können und dass zweitens die Plotstruktur und der Motivationszusammenhang der dramatischen Handlung dieses Theaterstücks in einem bisher verkannten, da aus dem diskursiven Gedächtnis verschwundenen Zusammenhang plausibel gemacht werden können. Eine der Aufgaben literaturkritischer Textinterpretation ist die Bereitstellung griffiger Sinnmodelle, welche die Rezeption irritierender literarischer Texte erleichtern. Interpretatorische Sinnmodelle, wenn sie einmal akzeptiert 2 | Eine umfassende kulturkritische Darstellung und Dokumentation der Onanie-Diskurse unter dem Vorzeichen der Repressionsthese bietet Lütkehaus, Ludger: »O Wollust, o Hölle«. Die Onanie – Stationen einer Inquisition. Frankfurt a.M. 1992. 3 | Vgl. Luserke, Matthias: Lenz-Studien. Literaturgeschichte – Werke – Themen. St. Ingbert 2001. Luserke argumentiert, man müsse »die so genannte Repressionshypothese geradezu aufrecht erhalten, wenn man die Sturm-und-Drang-Texte als zivilisationsgeschichtliche Zeugnisse heranzieht, ganz im Gegensatz zu Michel Foucault« (S. 14). Statt aber zivilisationsgeschichtliche Zeugnisse tatsächlich heranzuziehen und z.B. die Diskursivierung der Kastration in außerliterarischen Diskursen des 18. Jahrhunderts als Kontext zu untersuchen, greift Luserke zu einer sich ideologiekritisch gebärdenden Konstruktion »symbolischer« Bedeutungen: »Als männliche Variante zur Kindsmordthematik mit derselben Funktion des Auslöschens von Sexualität kann das tabubrechende Thema der Selbstkastration gelten. Auf symbolischer Ebene wird damit die Selbstverstümmelung des Subjekts über die Sexualität hinaus als extremste Folge bürgerlicher Repression deutlich.« Dagegen ist mehreres einzuwenden: Kastration war damals kein Tabuthema, sondern wurde in medizinischen und moraltheologischen Diskursen der Zeit diskutiert. Die Selbstkastration führt in Lenz Drama zu einem neuen Erwachen des »Gernhabens« und eröffnet am Ende den Ausblick auf eine Ehe. Das ist gewiss heute befremdlich, kann aber an historisch gewordene Diskurse angeschlossen werden. Die Konstruktion von Sexualität, die Luserke in Anschlag bringt, ist diesem Kontext fremd und dürfte sich als eine ahistorische Rückprojektion herausstellen.

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sind, können ein sehr langes und zähes Leben führen und gehören schließlich zum eisernen Bestand an Selbstverständlichkeiten, die den Blick auf den Ausgangstext steuern. Die Selbstkastration Läuffers in Lenz’ Lust- und Trauerspiel »Der Hofmeister«4 ist eine solche irritierende literarische Textur. Was hat diese Handlung zu bedeuten? Welches ist ihr Sinn? Dazu gibt es ein gängiges Interpretationsmodell. Die herkömmlich Lesart fasst Kindlers Literaturlexikon wie folgt zusammen: »Als Marthe mit Gustchens Kind ins Schulhaus kommt und Läuffer es als das seine erkennt, entmannt er sich in selbstanklägerischer Reue und Verzweiflung«.5 Die Bedeutung der Selbstkastration wird als Selbstbestrafung aufgrund der Einsicht in die Schuldhaftigkeit eines von der Norm abweichenden Sexualverhaltens verstanden. Die Normverletzung besteht in der außerehelichen Zeugung eines Kindes. Doch diese These hat einige Schwächen. Ein erster Schwachpunkt besteht darin, dass wiederholte exakte Zeitangaben im Text Läuffer als den leiblichen Vater von Gustchens Kind ausschließen: Bei der Geburt des Kindes liegt die letzte Begegnung der beiden um mehr als ein Jahr zurück. »Hast nicht die geringste Nachricht von Deiner Tochter?«, fragt der Geheime Rat in der ersten Szene des vierten Aktes seinen Bruder, den Major (105). Dieser antwortet: »Ein ganzes Jahr – Bruder geheimer Rat – Ein ganzes Jahr – und niemand weiß, wohin sie gestoben oder geflogen ist?« (107) In der drauffolgenden zweiten Szene des vierten Aktes wird diese Zeitangabe im Gespräch zwischen Gustchen und der blinden Marthe bestätigt: Gustchen: »Liebe Marthe, bleibt zu Hause und seht wohl nach dem Kinde: es ist das erstemal, dass ich euch allein lasse in einem ganzen Jahr.« (109) Dieselbe Frist wird in der dritten Szene des vierten Aktes von Wenzeslaus angegeben, der dem Geheimen Rat gegenüber aussagt: »Er ist eben ein Jahr in meinem Hause: ein stiller, friedfertiger, fleißiger Mensch.« (111) Läuffer selbst versichert in dieser Szene: »Ich habe sie [Gustchen] nicht gesehen, seit ich aus Ihrem Hause geflüchtet bin.« (113) Gustchen hat ihr Kind zwei Tage vor Ablauf dieses Jahres geboren, wie übereinstimmend an zwei Stellen gesagt wird. Als Gustchen nämlich nach der Niederkunft ihren Vater benachrichtigen will, möchte Marthe die Wöchnerin nicht ziehen lassen und warnt: »[…] einmal hab ich’s versucht, den zweiten Tag nach der Niederkunft auszugehen, und nimmermehr wieder; ich hatte schon meinen Geist aufgegeben, wahrlich, ich könnt Euch sagen, wie einem Toten zu Mute ist.« (109) Gustchen setzt sich über diese Warnung hinweg und erleidet einen Schwächeanfall. Der Geburtstermin wird von Marthe später noch einmal be4 | So die Gattungsbezeichnung in der Handschrift. Zitiert wird im Folgenden nach: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister. Synoptische Ausgabe von Handschrift und Erstdruck. Hg. von Michael Kohlenbach. Basel und Frankfurt a.M. 1986. 5 | Jens, Walter (Hg.): J.M.R. Lenz. In: Kindlers Neues Literatur-Lexikon. Bd. 10. München 1992, S. 213.

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stätigt: »zwey Tage nach ihrer Niederkunft, Mittags gieng sie fort und wollt’ auf den Abend wiederkommen.« (131) Gustchen hat ihr Kind – wenn man die Zeitangaben des Textes genau nimmt – in der zweiundfünfzigsten Woche nach ihrem letzten Zusammensein mit Läuffer zur Welt gebracht. Läuffer weiß so gut wie jedermann und jede Frau im 18. Jahrhundert, da die tatsächliche Dauer einer Schwangerschaft erheblich kürzer ist. Auch das Zedlersche Lexikon von 1735 gibt in diesem Punkt klipp und klare Auskunft: Dass dem menschlichen Geschlecht eine gewisse Zeit zu Gebären bestimmt sey, lehret nicht nur das Vieh, welches nach aller Philosoporum Meynung seine gewisse Zeit zu gebären hat, sondern auch die Menschen selbst: sintemal die Erfahrung bezeuget, dass alle Weiber in der ganzen Welt 9 Monathe schwanger gehen, und nach Verflüssung gedachter Zeit endlich die Frucht zur Welt bringen; ob man schon, die Wahrheit zu bekennen, nicht die Zeit gar zu gewiss bestimmen und sagen kann, sondern gleichwie eine natürliche Geburt nicht leicht vor der 38. Woche zum Vorschein kömmt, also wird schwerlich eine über 40 Wochen ausbleiben, dahero jede Geburt, so entweder über oder unter gesetzter Zeit geschieht, vor eine widernatürliche zu halten ist. 6

Ob man nun mit 38 oder 40 Schwangerschaftswochen rechnet: Gustchens Kind wurde nicht von Läuffer gezeugt, sondern etwa drei Monate nach der Trennung von ihm – von wem auch immer. Claus O. Lappe hat bereits 1980 in einem Aufsatz unter dem Titel »Wer hat Gustchens Kind gezeugt?« dem Hofmeister die biologische Vaterschaft abgesprochen.7 Allerdings wurde seine Einsicht in der Lenz-Forschung nicht nachhaltig rezipiert und hat nicht dazu geführt, die Bedeutung der Vaterschaftsfrage im »Hofmeister«, bei Lenz und im 18. Jahrhundert neu zu durchdenken. Das Interpretationsschema außereheliche Vaterschaft – sexualmoralische Reue – Selbstbestrafung durch Selbstkastration hat sich gegen die explizite Zeitstruktur des Textes in der Rezeption durchgesetzt. Ein zweiter Schwachpunkt des herkömmlichen Interpretationsschemas besteht darin, dass die Integration der Szenenfolge des Lenzschen Dramas zu einer sinnvollen Handlungssequenz Schwierigkeiten bereitet. Die auf die Selbstkastration folgende Liebe Läuffers mit Lise und die sich anbahnende Ehe der beiden erscheinen im herkömmlichen Interpretationsschema als eine nicht recht schlüssige Zutat. Selbstkastration signalisiert in den Bedeutungsgeflech6 | Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon der Wissenschafften und Künste (1732-1754). Bd. 10. Halle und Leipzig 1732, S. 267. 7 | Lappe, Claus O.: Wer hat Gustchens Kind gezeugt? Zeitstruktur und Rollenspiel in Lenz’ Hofmeister. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Nr. 54, 1980, S. 14-46.

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ten der westeuropäischen Gegenwartsdiskurse eine Strafe für normwidriges sexuelles Begehren, das durch Selbstkastration ausgelöscht werden soll. Bei Lenz hingegen erwacht neues Begehren nach der Selbstkastration. Dem ist das gängige Interpretationsmuster offenbar nicht gewachsen. Brecht, der in seiner Bearbeitung des Dramas die These der moralischen Selbstbestrafung durch die These der opportunistischen Selbstanpassung ideologiekritisch radikalisierte, hat diese neu aufflackernde Liebe zwischen Läuffer und Lise denn auch in der Handlungssequenz nach vorne gezogen und die Selbstkastration nachfolgen lassen.8 Das Sinngefüge eines geläufigen Interpretationsmodells kann offenbar kaum dadurch hinterfragt werden, dass man an einem bestimmten Punkt eine Detailkritik anbringt. Die Geltungskonkurrenz von Deutungen entscheidet sich vielmehr an ihrer integrierenden Kraft. Man kann eine akzeptierte Lektüre nur dadurch hinterfragen, dass man ihr eine andere Bedeutungskonstruktion entgegenstellt, die ein ebenso umfassendes Bedeutungsmodell an die Hand gibt, mit den Sachverhalten der Textbasis besser in Übereinstimmung steht und möglicherweise sogar erlaubt, noch offene Bedeutungsfragen in einen kohärenten Sinnentwurf zu integrieren. Dies soll im Folgenden durch historisierende, kontextualisierende Lektüre versucht werden. Wenn man eine Lektüre des »Hofmeister« entwickeln will, die davon ausgeht, dass Läuffer nicht der Vater von Gustchens Kind ist, muss man in einem nächsten Schritt die moralische Bedeutung der Selbstkastration als Strafe hinterfragen. Läuffer hat kein Kind gezeugt. Seine Selbstkastration ist also keine Selbstbestrafung wegen eines unehelich gezeugten Kindes. Was bedeutet sie dann? Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass Läuffer seine Zeugungsunfähigkeit erkennt, diese im Zusammenhang mit anderen Krankheitssymptomen stillschweigend als Folge der Onanie auffasst und aufgrund einer medizinischen Selbstdiagnose die Selbstkastration als therapeutische und präventive Maßnahme an sich vollzieht. Die Erhärtung dieser These setzte eine Lektüre voraus, die Lenz’ literarischen Text mit Texten des damaligen medizinischen Onaniediskurses in Verbindung bringt. In einem weiteren Schritt gilt es dann zu zeigen, dass die Kastratenehe in kirchenjuristischen Diskursen, die als naher Kontext des Lenzschen Schaffens aufgefasst werden können, ein durchaus aktuelles Thema war und dass Lenz’ Drama einen im Rahmen dieses Diskurses innovativen Diskussionsbeitrag darstellt. Mit Läuffers auf die Selbstkastration folgenden Ehe konstruiert Lenz einen Kasus, der im Kontext des Diskurses um die Kastratenehe verstanden

8 | Vgl. Brecht, Bertolt: Der Hofmeister von Jakob Michel Reinhold Lenz. Bearbeitung. In: Ders.: Werkausgabe. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 6. Zürich 1975, S. 23302394. Die Selbstkastration dort in Akt 4, Szene 14.

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werden kann und zudem in Übereinstimmung steht mit Lenz’ eigenen und eigenwilligen moraltheologischen Konzepten von Sexualität und Sublimation.

O NANIEDISKURS UND LITER ARISCHE U MSE T ZUNG Geprägt wurde das Krankheitsbild der Onanie für das 18. Jahrhundert vor allem von zwei Texten: zuerst durch den Traktat »Onania or, the Heinous Sin of Self-Pollution«, der ohne Angabe von Autor, Ort und Jahr ab 1712 in englischer Sprache erschien, immer wieder neu aufgelegt, erweitert und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Eine deutsche Übersetzung erschien im Jahr 1736.9 Später folgte der Traktat »Tentamen de Morbis ex Mastupratione«, den der Lausanner Arzt Samuel-Auguste Tissot im Jahr 1758 auf Latein veröffentlichte und 1760 unter dem Titel »L’Onanisme« in französischer Sprache publizierte. Dieser Text sollte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in Europa und Amerika den Diskurs über das Krankheitsbild der Onanie beeinflussen. Onanie wird in diesen beiden Texten – und in einer Flut ähnlicher Traktate – als eine sehr gefährliche Krankheit dargestellt, die nach dem Urteil der zeitgenössischen medizinischen Autoritäten schwer behandelbar ist und eine erschreckend schlechte Prognose aufweist. Ihre Endstadien seien Auszehrung, epileptische Anfälle und Debilität. Das Krankheitsbild umfasst eine breite Palette von Zeichen und Symptomen und integriert sie als Syndrom in ein kausales Erklärungsschema.10 Erklärt werden die Krankheitszustände aus übermässiger sexueller Betätigung, die – so vor allem Tissot – aus zwei Gründen schädlich sei. Erstens stelle der Samen einen sehr konzentrierten Körpersaft dar, der in etwa der vierzigfachen Menge Blut entspreche. Jede Abführung dieses Saftes entziehe dem Körper die entsprechende Menge Kraft. Zweitens gilt der Orgasmus als Form eines epileptischen Anfalls, der das Nervensystem zerrütte, besonders bei zu häufiger Wiederholung. Den Zusammenhang zwischen der humoralpathologischen und der neurologischen Erklärung bildet die alte anatomische Auffassung, wonach die Samenflüssigkeit direkt aus dem Gehirn stamme, über das Rückenmark in die Samenkanäle geführt und dort konzentriert werde.11 Die Samen entstehen nach dieser Auffassung nicht in den Testikeln, ihnen wird dort nur die Hitze hinzugefügt, welche sie zur Zeugung 9 | Lütkehaus 1992, S. 21 geht noch davon aus, dieser Traktat stamme von einem Arzt namens Bekkers und sei erstmals 1710 in London erschienen. Laqueur 2003, S. 84 widerlegt diese Annahme und führt sie auf eine Fehlzuschreibung Tissots zurück. Laqueur identifiziert John Marten als Autor und geht davon aus, die erste Auflage sei um 1712 in London erschienen (S. 32). 10 | Vgl. dazu Engelhardt 1981, S. 267-280. 11 | Vgl. dazu Gilman 1989, S. 91.

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fähig macht. Jede Ejakulation schädige deshalb direkt das Nervensystem und damit das Gedächtnis und das Denkvermögen. Aufgrund mechanischer, humoralpathologischer und neuraler Kausalitätsannahmen kann Onanie deshalb der Grund sein von so unterschiedlichen leiblichen und seelischen Zuständen wie: Phimose, Paraphimose, Hodenkrebs, Strangurie, Priapismus, Gonorrhea, Erektionsverlust, Ejaculatio praecox, Unfruchtbarkeit, Verdauungsstörungen, Akne, Auszehrung, Ohnmachtsanfälle, Epilepsie, Debilität, Gewissensnot, Melancholie, Angst und Verzweiflung. Was geschieht, wenn wir auf dem Hintergrund dieses Diskurses die Partitur des Lenzschen »Lust- und Trauerspiels« mit gleichsam ärztlichem Blick als Krankengeschichte lesen? Was tut ein Arzt im 18. Jahrhundert? Er rezipiert die narrative Darstellung eines Falles, liest und sammelt die ihm darin auffallenden Sachverhalte als Symptome im Hinblick auf ein Krankheitsbild, das ihm und den Mitgliedern seines Diskurskollektivs bekannt ist. Jedes passende Symptom bestätigt die Anhiebsdiagnose. Ab einer bestimmten Dichte der versammelten Zeichen geht die Anhiebsdiagnose über in einen therapeutischen Plan und ein entsprechendes ärztliches Handeln.12 Als Darstellungsform die12 | Vgl. dazu die Rekonstruktion der medizinischen Semiotik durch Barthes, Roland: Semiologie und Medizin. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. 1988, S. 217f.: »Der Arzt verbindet all diese Krankheitssymptome, das heißt diese Zeichen, mit einer Krankheit, die im nosologischen Rahmen aufscheint. Der Ort des nosologischen Rahmens ist damit ganz einfach ein Name, die Krankheit als Name. Zumindest war dies am Anfang der Klinik eindeutig so. Genau das hat Foucault erhellt, indem er die Rolle der Sprache bei der Entstehung der Klinik aufzeigte; eigentlich heißt eine Krankheit lesen, ihr einen Namen verleihen; und von diesem Augenblick an […] gibt es eine perfekte Umkehrbarkeit, eben die der Sprache, eine schwindelerregende Umkehrbarkeit zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat; die Krankheit wird als Name definiert, als Zusammenspiel von Zeichen: aber dieses Zusammenspiel von Zeichen steuert nur auf den Namen der Krankheit zu und vollzieht ihn in sich, es gibt einen endlosen Kreislauf. Die diagnostische Lektüre, das heißt die Lektüre der medizinischen Zeichen, läuft anscheinend auf ein Benennen heraus: Das medizinische Signifikat existiert nur als benanntes; hier stößt man wieder auf den Prozess des Zeichens, den derzeit einige Philosophen betreiben: Wir können die Signifikate eines oder mehrerer Zeichen nur handhaben, indem wir diese Signifikate benennen, aber durch diesen Akt der Benennung verwandeln wir das Signifikat wieder in einen Signifikanten. Was in der Medizin dieser Art Rückgang oder Umkehrung des Signifikats in einen Signifikanten Einhalt gebietet, ist die Tatsache, dass das Signifikat als Name der Krankheit erfasst wird und man dadurch das semiologische System in ein Problem der Therapeutik umwandelt, die Krankheit zu heilen versucht und folglich von diesem Moment an dieser Art schwindelerregendem Kreislauf zwischen Signifikat und Signifikant durch das Operatorische entkommt, durch das Eindringen des Operatorischen, das ein Ausweg aus dem Sinn ist.«

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ser Rezeptionsweise sei hier eine Tabelle vorgeschlagen, die das Textmaterial den diagnostisch relevanten Symptomen des Onanie-Diskurses zuordnet. Damit ist die Annahme verbunden, dass Leserinnen und Leser dieser Textpartitur, die den Kontext des Onaniediskurses kennen, diese Zeichen in ebendieser Art hätten verstehen und den Hofmeister also in das Krankheitsbild Onanie hätten einordnen können. Die Zahl der Zeichen ist hoch, ihr Zusammentreffen dicht. Krankheitssymptome als Folgen der Onanie

Text

Akt, Szene

Melancholie

Gustchen: Aber was fehlt Ihnen denn? Sagen Sie mir doch! So tiefsinnig sind Sie ja noch nie gewesen. Die Augen stehen Ihnen ja immer voll Wasser: ich habe gemerkt, Sie essen nichts.

II. 2

Läuffer: Lassen Sie mich – Ich muß sehen, wie ich das elende Leben zu Ende bringe, weil mir doch der Tod verboten ist –

II. 2

Läuffer stützt sich mit der anderen Hand auf ihrem Bett, indem sie fortfährt seine Hand von Zeit zu Zeit an die Lippen zu bringen: Laß mich denken… Bleibt nachsinnend sitzen.

II. 5

Läuffer fällt wieder in Gedanken, nach einer Pause fängt sie wieder an.

II. 5

Wenzeslaus: Herr Mandel – Und darauf mußten Sie sich noch besinnen? Nun ja, man hat bisweilen Abwesenheiten des Geistes; besonders die jungen Herren weiß und roth –

III. 2

Geistesabwesenheit

»Die jungen Herren weiß und roth«

Krankheitssymptome als Folgen der Onanie

Text

Akt, Szene

Akne

Wenzeslaus: Hofmeister – Legt das Lineal weg, nimmt die Brille ab und sieht ihn eine Weile an. […] Nun nun, ich glaub’s Ihm, daß Er der Hofmeister ist. Er sieht ja so roth und weiß drein.

III. 2

Sie heißen unrecht Mandel; sie sollten Mandelblüthe heißen, denn Sie sind ja weiß und rot wie Mandelblüthe. Nun ja freilich, der Hofmeisterstand ist einer von denen, unus ex his, die alleweile mit Rosen und Lilien überstreut sind […]

III. 2

An eine Frau hab’ ich mich noch nicht unterstanden zu denken, weil ich weiß, daß ich keine ernähren kann – geschweige denn eine drauf angesehen, wie Ihr jungen Herren Weiß und Roth –

III. 2

Wenzeslaus: Ihr raucht doch eins mit heute? Läufer: Ich wills versuchen; ich hab’ in meinem Leben nicht geraucht. Wenzeslaus: Ja freylich, Ihr Herren Weiß und Roth, das verderbt Euch die Zähne. Nicht wahr? Und verderbt Euch die Farbe: nicht wahr? Ich habe geraucht, als ich kaum von meiner Mutter Brust entwöhnt war; die Warze mit dem Pfeiffenmundstück verwechselt. He he he! Das ist gut wider die böse Luft und wider die bösen Begierden ebenfalls.

III. 4

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Krankheitssymptome als Folgen der Onanie

Text

Akt, Szene

Fehlerhafte Ernährung

Man ißt, trinkt, schläft, hat für nichts zu sorgen; sein gut Glas Wein gewiß, seinen Braten täglich, alle Morgen seinen Kaffee, Tee, Schokolade, oder was man trinkt, und das geht denn immer so fort – Nun ja, ich wollte Ihnen sagen: wissen Sie auch, Herr Mandel, daß ein Glas Wasser der Gesundheit eben so schädlich auf eine heftige Gemütsbewegung als auf eine heftige Leibesbewegung; aber freylich, was fragt Ihr jungen Herren Hofmeister nach der Gesundheit – Denn sagt mir doch […], wo in aller Welt kann das der Gesundheit gut thun, wenn alle Nerven und Adern gespannt sind und das Blut ist in der heftigsten Cirkulation und die Lebensgeister sind alle in einer – Hitze.

III. 2

Gewissensbisse Verdauungsproblem

Wenzeslaus: […] Aber wenn der Schulmeister Wenzeslaus seine Wurst ißt, so hilft ihm das gute Gewissen verdauen, und wenn der Herr Mandel Kapaunenbraten mit der Schampignonsauce aß, so stieß ihm sein Gewissen jeden Bissen, den er hinabschluckte, mit der Moral wieder in Hals zurück: Du bist ein – […] sagt mir einmal, ist das nicht hundsvöttisch, wenn ich davon überzeugt bin. Daß ich ein Ignorant bin, und meine Untergebenen nichts lehren kann […]

III. 4

»Die jungen Herren weiß und roth«

Krankheitssymptome als Folgen der Onanie

Text

Akt, Szene

Appetitlosigkeit

Gustchen: […] ich habe gemerkt, sie essen nichts.

II. 2

So eßt doch; Ihr mach ja ein Gesicht, als ob Ihr zu laxieren einnähmt.

III. 4

Wenzeslaus. So eß Er doch; so sey Er doch nicht so blöde: bey der schmalen Mahlzeit muß man zum Kuckuck nicht blöde sein. Wart Er, ich will ihm noch ein Stück Brot abschneiden. Läuffer. Ich bin satt überhörig.

III. 4

Ohnmachtsanfälle

Wie? Dies wären nicht meine Züge? Fällt in Ohnmacht

V. 1

Sterilität

Läuffer: Es könnte mir gehen wie Abälard – Gustchen: Du irrst Dich. Meine Krankheit liegt im Gemüt. Niemand wird dich mutmaßen

II. 5

Wie? Dies wären nicht meine Züge? Fällt in Ohnmacht

V. 1

Betrachten wir die Tabelle der Läufferschen Symptome durch die Brille des Onanie-Diskurses, fällt auf, dass die Zeichen des Krankheitsbildes erst im zweiten Akt auftreten. Im ersten Akt erscheint Läuffer körperlich gesund, zumindest als Tänzer: »Wenigstens hab ich in Leipzig keinen Ball ausgelassen.« (15). Wenzeslaus, der ihm seine Unkenntnisse der lateinischen Sprache nachweist, nennt ihn nicht nur einen »Ignoranten« (97), sondern auch einen »Jungfernknecht« (91), d.h. einen, der mit leichten Mädchen sexuellen Umgang hatte. Diese Möglichkeit des Leipziger Studentenlebens fällt nun im Hause des Majors zunächst dahin. Erst hier setzt offenbar Läuffers Krankheit ein. Onanie gehört demnach zu den mit bitterer Ironie gerügten »Vorteilen der Privaterziehung«. Als Läuffer endlich wieder Sexualkontakt bekommen kann, ist es bereits zu spät: Die Krankheit hat die Zeugungskraft seines Samens vernichtet. Dass Läuffer und Gustchen insgeheim sexuellen Kontakt hatten, und zwar wohl über längere Zeit, erfahren wir aus ihrem Zwiegespräch im zweiten Akt. Läufer vermutet, Gustchen sei schwanger. »Läuffer. Es könnte mir

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gehen wie Abälard – Gustchen. Du irrst dich – Meine Krankheit liegt im Gemüth. Niemand wird Dich muthmassen.« (II. 5, 67) Läuffers Vergleich mit Abälard bringt zwar das Motiv der Kastration vorausdeutend ins Spiel. Man sollte aber die Kastration Abälards nicht unbesehen als Interpretationsmodell für den Text von Lenz akzeptieren.13 Abälard kann seine Schülerin Héloise – zwar gegen den anfänglichen Widerstand der Familie – zunächst heiraten. Der strafende Eingriff der Familie erfolgt erst, als diese aufgrund eines Missverständnisses annehmen muss, Abälard wolle Héloise und das Kind verlassen. Diese Ehrverletzung wird nicht mehr toleriert. Dieses Modell der strafenden Kastration durch den Clan der Frau passt nur in negativer Wendung zur Geschichte Läufers; denn nach der Zeugung eines außerehelichen Kindes wäre eine Heirat durchaus eine Lösungsvariante gewesen. Der Major selber erwähnt diese Möglichkeit: »Hättest du mir nur ein Wort vorher davon gesagt, ich hätte dem Lausejungen einen Adelbrief gekauft, da hättet ihr können zusammen kriechen.« (IV. 5, S. 119) Das zeigt, dass die außereheliche Zeugung eines Kindes nicht Gegenstand moralischer Verurteilung hätte bleiben müssen, sondern nach bestimmten Konfliktbewältigungsregeln durchaus zu einer

13 | Luserke 2001, S. 115 erkennt dieses Problem: »Die Frage ist nun, wie es von der Kastrationsangst als Angst vor der Drohung des väterlichen Verbots von sexueller Aktivität zur Selbstkastration, von der Angst zur Selbstbestrafung kommt?« Aber er zieht daraus keine stringenten Konsequenzen. Erstens kann er sich offenbar nicht entscheiden, ob Läuffer nun der Vater des Kindes sei: S. 101 nennt er die »Szene V/1: Anagnoresisszene, Läuffer erkennt sein Kind«, S. 116 schreibt er hingegen: »Läuffer erkennt sehr wohl, […] dass Gustchens Kind nicht sein Kind ist.« Zweitens bedenkt Luserke nicht, dass in der sozialen Realität des 18. Jahrhunderts mehrere Kompromissformen möglich waren, falls das »väterliche Verbot« einmal mit faktischen Konsequenzen übertreten worden war. Zum Umgang mit Töchtern und Vätern vorehelich gezeugter Kinder vgl. Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln u.a. 2000. Labouvie rekonstruiert sowohl die weiblichen Solidaritätsnetzen im Falle ausserehelicher Schwangerschaften (z.B. S. 32-34) wie deren Entmachtung durch die Umgestaltung der Beweislast in Vaterschaftsprozessen um die Mitte des 18. Jahrhunderts (S. 150152). Angesichts dieser zivilisationsgeschichtlichen Befunde muss die These, Sexualität unterliege im bürgerlichen 18. Jahrhundert einer generellen Repression, wenn nicht aufgegeben, so doch einer grundlegenden, gender-differenzierten Revision unterzogen werden: es beginnt die zunehmende Repression des weiblichen Begehrens, der weiter gefasste Freibrief für das männliche. »Bürgerliche« Sexualität ist keine diskursive Einheit, sondern gender-dichotomisch und macht-assymmetrisch konstruiert. Vgl. dazu Honegger, Claudia. Die Ordnung der Geschlechter: die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850. Frankfurt a.M., 1991. Lenz’ literarische Intervention stellt sich quer zu diesem Prozess einer einseitigen Ermächtigung des Mannes.

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pragmatischen Lösung hätten führen können.14 Das aber geschieht nicht; denn Läufer ist nicht der Vater des Kindes. An der Stelle des ersten Auftretens aber, in Szene II. 5, besagt die Anspielung auf Abälard zunächst nur, dass es zum Geschlechtverkehr zwischen Läuffer und Gustchen gekommen ist und dass Läuffer annimmt, Gustchen sei von ihm schwanger. Gustchen versteht diesen Gedankengang und verneint den Sachverhalt. Das Verhältnis zwischen Läuffer und Gustchen wird entdeckt, beide entfliehen den angedrohten Sanktionen auf getrennten Wegen. Als Läuffer nach etwas mehr als einem Jahr das Kind Gustchen zu sehen bekommt, muss er sich aufgrund einer einfachen Zeitrechnung eingestehen, dass dieses erst kürzlich geborene Kind nicht von ihm stammen kann, dass Gustchen zur Zeit ihres letzten Beisammenseins also tatsächlich nicht schwanger war. Die positive Variante des Abälard-Modells – Heirat mit einer Adligen – fällt damit für Läuffer dahin. Zu erklären bleibt der Grund für diese Enttäuschung. Wie liest sich die berühmte Szene, in der Läuffer sich mit Gustchens Kind auf dem Arm im Spiegel betrachtet, unter dieser Voraussetzung? »O Himmel! Welch ein Zittern – Ist das ihr Kind […] Gebt es mir auf den Arm – O mein Herz! Dass ich’s an mein Herz drücken kann – Du gehst mir auf, furchtbares Rätsel!« Nimmt das Kind auf den Arm und tritt damit vor den Spiegel. »Wie? Dies wären nicht meine Züge?« Fällt in Ohnmacht; das Kind fängt an zu schreien.

Die bisher weitgehend akzeptierte Lesart dieser Szene nimmt an, Läuffer erkenne vor dem Spiegel die Ähnlichkeit seiner Züge mit denen des Kindes. Aber bereits Lappe weist darauf hin, dass diese Lesart aus mindestens zwei Gründen im Missverhältnis zum Wortlaut des Textes steht. Erstens passt die Form des Frage-Satzes: »Wie? Dies wären nicht meine Züge?« nicht zur Erwartung einer bejahenden Antwort. Die Negation des Konjunktiv irrealis lässt eher auf die Erwartung einer negativen Antwort rückschließen. Zweitens: Wenn Läuffer von einer Vaterschaft ausgehen würde, welches sollte dann das furchtbare Rätsel sein, das ihm aufgeht? Es würde ja nur bestätigt, was er selbst schon zugleich befürchtet und erhofft. Eine Vaterschaft hätte den Konflikt mit der Familie sicher zunächst eskalieren lassen, aber am Ende hätte auch die Heirat und das Adelspatent als Lösung stehen können. Wenn Lappe meint: »In der schrecklichen Erkenntnis, dass ein anderer der Vater von Gustchens Kind sein müsse, fällt er in Ohnmacht«, wird das dem Wortlaut des Textes an dieser Stelle und dem Zusammenbruch des AbälardModells zwar gerecht. Aber der Zusammenhang mit dem Folgenden, mit der Selbstkastration, bleibt dunkel. Warum soll sich Läuffer dafür kastrieren, dass ein anderer Gustchens Kind gezeugt hat? Das ist nicht plausibel. Es ist nicht 14 | Vgl. dazu Labouvie 2000, S. 30f.

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Eifersucht oder Liebesenttäuschung, was Läuffer in die Knie zwingt, vielmehr dämmert ihm eine Erkenntnis, die nicht nur seine Männlichkeit, sondern seine Gesundheit und sein Leben zutiefst in Frage stellt: Ich habe mit ihr geschlafen – und das Kind ist nicht von mir – ich bin also offenbar unfruchtbar – und ich weiß auch warum! Dies ist der Inhalt des Rätsels, der ihm vor dem Spiegel aufgeht und der ihm das Bewusstsein raubt. Vom Befund der Zeugungsunfähigkeit lässt sich eine Brücke zur Selbstkastration finden, wenn man die Personendarstellung und das Handlungsgefüge des Dramas auf das zeitgenössische Krankheitsbild der Onanie bezieht. Sterilität des Samens wird im Rahmen dieses Diskurses als eine der wahrscheinlichen Folgen von Onanie genannt. Sowohl der anonyme Traktakt »Onania« wie Tissots Dissertation erwähnen Sterilität des Samens als Folge der Onanie nachdrücklich und an prominenter Stelle in ihren Fallschilderungen. Der Traktat »Onania«, der mir in einer englischen Version der sechzehnten Auflage von 1737 vorliegt, spricht in drastischen Bildern von der »Barrenness« der Onanisten: In some men of very strong Constitution, the Mischiefs may not be so visible, and themselfs perhaps capable of marrying. And jet the Blood and Spirits impair’d, and the Seed rendered unfertile, so as to make them unfit for Procreation, by its changing the crasis of the spermatick Parts, making them become barren, as Land becomes poor by beeing overtill’d.15

Tissot schildert ab der dritten Auflage seines Buches »L’Onanisme« als Beispiel von Sterilität erneut einen Fall von »fureur génital«, den er in der lateinischen Erstauflage erwähnt, dann aber in der französischen Erstübersetzung wohl wegen der direkten Benennung indiskreter Sachverhalte weggelassen hatte: Un homme âgé de cinquante ans en était atteint depuis plus de vingt-quatre; et dans ce long terme, il n’avait pas pu se passer vingt-quatre heures de femme ou de l’horrible supplément de l’onanisme, et il réitérait ordinairement les actes plusieurs fois par jour. Le sperme était âcre, stérile.16

Es ist nicht nur die Sterilität seines Samens, die Läuffer im Kontext des damaligen Krankheitsverständnisses als Onanisten ausweist, es werden im Text mehr oder weniger beiläufig auch mehrere andere Symptome erwähnt, die zum Krankheitsbild gehören. Das auffallendste steht Läuffer ins Gesicht ge15 | Anonymus: Onania or, the Heinous Sin of Self-Pollution. The Sixteenth Edition. Printed for the author and sold by J. Isted. London 1737, S. 14. 16 | Tissot, Samuel-Auguste: L’Onanisme. Préface de Christophe Calame. Paris 1991, S. 189.

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schrieben, wird vom Schulmeister Wenzeslaus sofort erkannt und diagnostiziert. Offenbar leidet Läuffer unter einer für Hofmeister typischen Unreinheit der Haut: er trägt Akne im Gesicht. Wenzeslaus: Herr Mandel – Und darauf mußten Sie sich noch besinnen? Nun ja, man hat bisweilen Abwesenheiten des Geistes; besonders die jungen Herren weiß und roth – (89)

Hier benennt Wenzeslaus in einem Atemzug zwei Symptome der Krankheit Onanie. Geistesabwesenheiten und Akne im Gesicht. Die Rede von den »jungen Herren weiß und roth« wird von Wenzeslaus wie ein Leitmotiv durchgeführt. Es lässt sich deuten als spöttischen Hinweis auf die Pickel im bleichen Gesicht Läuffers. Solche Stigmata werden in den Onanietraktaten immer wieder als sichtbare Zeichen des geheimen Lasters erwähnt und von den Betroffenen bitter beklagt. Tissot: »Les premiers symptômes maladifs furent beaucoup de butons au visage.« (50) »Une pâleur plus ou moins considérable […] souvent des boutons qui ne passent pas que pour faire place à d’autres, et se reproduisent continuellement par tout le visage, mais surtout au front, au tempes et prés du nez.« (47f.) »On voit non seulement des boutons au visage, c’est un symptôme des plus communs, mais même de vraies pustules suppurantes sur le visage, sur le nez, sur la poitrine, sur les cuisses […].« (42) Aus »Onania«: »About nine Months since I was full of pimples in my Face (31)« »My Nose is full of red spots, and sometimes it is very sore; I have likewise a Knob of Flesh risen in my forehead […] When I am told about the breaking out of my Face, which sometimes I am, it forces me to say it is the Heat of the Fire, though some will feign a laughter, and say I have the foul Disease, as if they said it out of Game; but God knows whether they did or no, for I do solemnly declare, I never had carnally to do with any Woman, and am twenty-two Years old this Month.« (26)

Die weiß-rote Gesichtslandschaft des Onanisten macht sein geheimes Laster öffentlich sichtbar und unterwirft ihn dem Zugriff des medizinischen, diätetisch-moralischen Diskurses der Ärzte und Erzieher. Der Anspruch dieser Diskurse ist allumfassend und total, jedermann ist angesprochen. Zudem wird durch die Hervorhebung der Stigmata im Gesicht ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem Onaniediskurs und den älteren Syphilisdiskursen. Dadurch wird ein enormes kollektives Angstpotential und ein stigmatisieren-

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des Zeichenrepertoire anschließbar gemacht und die Legitimation für entsprechend drastische Maßnahmen geschaffen.17 Wenzeslaus führt Akne als Onanie-Symptom und damit die Onanie selbst auf eine zu reichliche, zu verfeinerte und damit die Hitze der Leibessäfte übersteigernde Ernährung zurück. Damit schließt Lenz seinen Schulmeister an den von Tissot geprägten Diskurs an. Läuffer fühlt sich von der Diagnose Wenzeslaus’ getroffen und bestätigt damit wohl auch ihre unausgesprochenen Voraussetzungen: »Der wird mich noch zu Tode meistern – Das Unerträgliche ist, daß er recht hat.« (III. 4, S. 103) Kastration wurde von alters her bei allen möglichen Geschlechtskrankheiten als letzter Ausweg ins Auge gefasst. »Erasmus von Rotterdam fühlte sich aufgrund der sich ausbreitenden Lustseuche [Syphilis] veranlasst, alle Syphilitiker kastrieren und sogar verbrennen zu lassen. Auf diese Krankheit reagierten die Männer mit Panik, und einige entmannten sich sogar aus Angst, sich anzustecken – damals offenbar die einzige Prophylaxe!«.18 Syphilis-Diskurse geben in manchen Punkten das Modell ab für alle späteren Diskurse, die sich auf Geschlechtskrankheiten beziehen. Die Betonung der Akne bei Onanie wird ausdrücklich in Beziehung gebracht mit ähnlichen Zeichen der Syphilis. Mit der Rückkehr der sichtbaren Stigmata im Gesicht kehrt auch der Gedanke an Kastration als letzte möglich Kur und Prävention des schlimmeren Ausgangs zurück. Wenn alle Symptome der Onanie letztlich auf Samenverlust zurückzuführen sind, liegt es nahe, hier an drastische chirurgische Maßnahmen zu denken. Tissot selber erwähnt diese allerdings nicht. Seine Medizin folgt dem Brownianischen Schema von Sthenie und Asthenie, von Übererregung und Abspannung. Seine Kuren zielen einerseits auf schonende Stärkung durch angepasste Diät, andererseits auf Dämpfung der Erregungszustände durch opiumhaltige Medikamente. Der ältere Onanie-Traktat ist im Vergleich zu Tissot medizinisch nahezu substanzlos. Das Buch ist eine Propagandaschrift zum Vertrieb eines Universalheilmittels gegen alle Folgen der Onanie. Der Text liefert dazu die seelenzerknirschende Predigt und dringt auf Reue, Buße und ein »Life of Mortification«. Im Rahmen dieser drastischen Buß- und Strafpredigt fällt dann auch mit einem Bibelzitat die Anspielung auf die Opferung eines Gliedes: People must courageously resolve to overcome themselves, it being much better to deny themselves in those Things, and to cross their own Inclinations for a Time, than

17 | Auf diese semiotischen Verfahren und Strategien hat Gilman 1989, S. 206f. hingewiesen. 18 | Scholz, Piotr O.: Der entmannte Eros. Eine Kulturgeschichte der Eunuchen und Kastraten. Düsseldorf und Zürich 1997, S. 244 (ohne Quellenangabe).

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by pursuing them, to perish eternally: It is profitable that One of their Members should perish, and not that their whole Body should be cast into Hell.

Hier wird die leibliche Kastration absehbar als Strafe für sündhaftes Verhalten und Rettung der Seele vor Höllenpein. Im Jahr 1772 publizierte der in Oberpahlen lebende Pastor und aufklärerische Publizist August Wilhelm Hupel seinen Traktat »Origines oder von der Verschneidung«, den er im Untertitel als »Ein Versuch zur Ehrenrettung einiger gering geachteten Verschnittenen« ankündigt. Hupel, der schon verschiedentlich als möglicher Kontext Lenz’ diskutiert wurde, nimmt zum Thema der Onanie und der Kastration ein pragmatisches Verhältnis ein. Von der älteren Straf- und Zerknirschungsrhetorik ist nichts zu finden, die medizinischen Ansichten Tissots werden – zwar mit einiger Reserve – übernommen. Neu ist hier hingegen, dass Hupel die Kastration an sich durchaus positiv beurteilt als eine sozial indizierte Maßnahme zur Geburtenkontrolle in Situationen der Armut. Hupel klassifiziert das Phänomen der Verschneidung nach Math. 19.1012 und unterscheidet drei Kategorien: a) Verschnittene durch Geburt, b) Verschnittene durch den Menschen und c) Verschnittene um des Himmelreiches willen. Er gibt zu den drei Kategorien je eine ausführliche Kasuistik. Die humoralpathologischen Warnungen Tissots vor exzessiver sexueller Verausgabung werden zwar ausführlich dargestellt, aber buchstäblich in Klammer gesetzt und als Rede eines »Misogynen« apostrophiert. Als Folgen häufigen Beischlafs nennt dieser Frauenhasser: »Mattigkeit, Erschlaffung, geschwächtes Denkvermögen, Traurigkeit, Entnervung, frühes Altern, zitternder Körper, verlorenes Gedächtnis, schalgewordener Witz, tausend ebenso traurige als ekelhafte Krankheiten, ein früher Tod.« Hupel selbst setzt dagegen ein bejahendes Verhältnis zur Sexualität: »Der Beyschlaf bedarf keiner Lobrede, die ganze Natur hält sie ihm, alles gattet und paaret sich; […] dass die Lust im Beyschlaf durch öftern Gebrauch sich selbst verringert, gehört unter die alltäglichen Schulmeistererinnerungen.«19 Trotzdem gilt die Onanie der »Jünglinge« Hupel als große Gefahr: Sind Sie nicht im Stande die wollüstigen Vorstellungen bald aus ihrer verwüsteten Seele ganz zu verdrängen, so sind Sie ohne Hoffnung verlohren; ihr Wille wählt fehlerhaft; ihre Neigungen fallen aufs schädliche; nur durch die äußerste Anstrengung der letzten Kräfte schleicht ihr wankender Fuß mit schüchterner Sehnsucht unter dem Fenster der

19 | Hupel, August Wilhelm: Origenes oder von der Verschneidung. Über Matth. 19. v. 10-12. Ein Versuch, zur Ehrenrettung einiger gering geachteten Verschnittenen. Riga 1772, S. 26f.

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Buhlerinn vorbey; aber ihre Selbstbefleckung ist tödlicher als Opium; ihre markleeren Knochen, ihre erschlafften Nerven sind untrügliche Vorboten eines nahen Todes!20

Im Zusammenhang mit Lenz interessiert besonders Hupels zweite Kategorie, nämlich die durch die Menschen verschnittenen. Hupel nennt hier zunächst alle diejenigen Männer, die aufgrund äußerer Umstände ihre sexuellen Bedürfnisse nicht befriedigen können oder wollen, obschon sie physiologisch zum Beischlaf fähig wären, z.B. Priester, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, Soldaten, die keinen Zugang zu Frauen haben, Sklaven, Ehemänner kränklicher Frauen, Patienten, denen der Arzt den Umgang mit Frauen aus gesundheitlichen Gründen untersagt. Als »moralisch verschnitten« gilt also hier jeder Mann, der sein Begehren nicht durch Beischlaf mit einer Frau befriedigen kann oder will.21 Erst in einem zweiten Kapitel spricht Hupel dann von den »Entmannten oder physisch Verschnittenen«. Hupel lässt hier Kastration als etwas durchaus Wünschbares, mit vielen Vorteilen Verbundenes erscheinen. Kastration wird empfohlen als Heilpraktik gegen Lepra, Epilepsie und viele andere Krankheiten (144f.). Mit Entrüstung wird das Beispiel eines Lüstlings erwähnt, der sich verschneiden ließ, um folgenlos lustbetonten Beischlaf – also »Hurerei« zu betreiben (147). Ein »abgenützter Wollüstling«, der an allen Symptomen leidet, die auch Tissot für die sexuelle Erschöpfung beschreibt, rettet sich durch Kastration und erhält seiner Familie den Ernährer (117). Kastration wäre für manchen jungen Geistlichen und Schulmeister zu empfehlen, der bei dürftigem Lohn nicht weiß, wie seine Kinder zu ernähren wären. Hupel betont mehrmals, dass relative Sorgenfreiheit des ledigen kinderlosen Standes für den kurzen Schmerz der Kastration hinreichend entschädige und Kräfte freisetze für das Engagement in der Gemeinde. Die Frage der Ehre sei durch Verschneidung überhaupt nicht tangiert (94f.). Ein Verschnittener könne und solle jedem Geschäft nachgehen, dem andere ehrbare Bürger auch nachgingen (106). Der soziohistorische Kontext bitterer Armut läßt einige der Auffassungen Hupels zumindest nachvollziehbar erscheinen im Sinne einer sozial indizierten, auf den Mann fokussierten Praxis der Geburtenbeschränkung. Fast wie die Vorlage zu einer ungeschriebenen Lenzschen Tragikomödie liest sich der von Hupel skizzierte »Roman« eines jungen Mannes, »der durch seinen schönen Körperbau, durch den Reiz seines Gesichts, die schmachtenden Augen einiger wollüstiger Damen auf sich ziehet; aber eben hierdurch ihren Nachstellungen ausgesetzt ist. Unter ihnen sollen auch solche sein, in deren Hän20 | Hupel 1772, S. 21. 21 | Diese Bedeutung der »moralischen Verschneidung« macht es auch erklärbar, dass in dieser Kategorie sexuelles Verhalten rubriziert werden kann, das wir heute wohl eher der männlichen Homosexualität zuschreiben würden.

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den sein ganzes Glück stehet«. Eine typische Hofmeister-Situation also! Aus Angst vor der Rache des Ehemanns wagt es der Jüngling nicht, den sexuellen Nötigungen seiner Herrin zu entsprechen. Als Notlüge gibt er deshalb vor, kastriert zu sein. Und aus der nunmehr aufsteigenden Angst, bei »etwaniger oculären Inspection« vollends sein Gesicht zu verlieren, vollzieht er an sich, was vorher nur Ausrede war.22 Hier wäre eine zeitgenössische, kasuistische Antwort zu finden auf die Frage, wie denn die Angst vor der Bestrafung eines sexuellen Normverstoßes übergehen könne in Selbstkastration. Wo wir heute geneigt sind, von einem eklatanten Unterdrückungszusammenhang zu sprechen, meint Hupel: »wie sollte ich wagen, einen solchen Heroismus zu verdammen« und überlässt es ausdrücklich seinen Lesern zu beurteilen, ob dieser junge Mann nicht doch das bessere Teil ergriffen. An einer Stelle verbindet Hupel ausdrücklich den Onanie-Diskurs mit dem Gedanken der therapeutischen Kastration: »Manche klagende Mutter hätte ihren hoffnungsvollen Sohn nicht an einer schreckbaren Krankheit in der Lebensblüte sterben gesehen, wenn sie ihn hätte entmannen dürfen.«23 Kastrationen wurden im 18. Jahrhundert zwar ausgeübt, man denke nur an die Kastratenkultur in Italien, wo eine große Zahl kastrierter Knaben in Kauf genommen wurden, um einige wenige Sopranisten herzustellen. Doch offiziell war der Eingriff durch kirchliche Erlasse verboten. Es ist daher schwierig, für diesen Zeitraum publizierte medizinische Quellen zu finden, welche die tatsächlichen Praktiken und Indikationen belegen. Das praktische Wissen wurde offenbar in Bader- und Chirurgen-Familien mündlich tradiert. Es gibt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von namhaften Medizinern publizierte Fallgeschichten, welche die Anwendung der Kastration zur Behandlung der Onanie belegen und empfehlen.24 Aus diesem Material lässt sich der Schluss ziehen, dass Kastration als Onanietherapie keinesfalls eine private Phantasie oder gar individuelle Neurose des Autors Lenz ist. Sie ist als Möglichkeit im zeitgenössischen Diskurs über Krankheiten des Geschlechts angelegt und 22 | Hupel 1772, S. 149-151. 23 | Hupel 1772, S. 123. 24 | Entsprechende Materialien hat Engelhardt 1981, besonders S. 276f. zusammengestellt: »Male masturbation was […] treated by means of surgical procedures. Some recommended vasectomy, (Haynes, 1883), while others found this procedure ineffective and employed castration (Marshal, 1883). One illustrative case involved the castration of a physician who had been confined as insane for seven years and who subsequently was able to return to practice. Another case involved the castration of a twenty-two year old epileptic »at the request of the county judge, and with the consent of his father … the father saying he would be perfectly satisfied if the masturbation could be stopped, so that he could take him home, without having his family continually humiliated and disgusted by his loathsome habit (Potts, 1898).«

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wurde in Lenz’ unmittelbarem Kontext auch als solche im Zusammenhang mit dem Krankheitsbild der Onanie diskutiert.

J URISTISCHE D ISKUSSION DER K ASTR ATENEHE Eine ähnliche Relativierung der Bewertungsperspektive muss auch in Bezug auf Läuffers Liebesbeziehung zu Lise ins Auge gefasst werden. Kastratenliebe und Kastratenehe waren im 17. und 18. Jahrhundert ein viel diskutiertes, umstrittenes Thema.25 Kein Opernkomponist zwischen Händel und Meyerbeer hat nicht für Kastraten komponiert. Kastraten waren an mehreren deutschen Fürstenhöfen tätig, wo mit zum Teil exorbitantem Aufwand die italienische Oper gepflegt wurde. Nun ist es nicht so, dass die engelhafte Sopranstimme gleichzusetzen wäre mit der Abwesenheit sexueller Begierde. Kastraten gelten im 18. Jahrhundert im Gegenteil als hervorragende Liebhaber; offenbar hatten sie ihr Begehren und ihre Erektionsfähigkeit behalten, doch die Angst vor einer Schwangerschaft im Verkehr mit ihnen schwand. Es gab einige Kastraten, die sich nicht mit ihrer Rolle als Stimm- und Befriedigungsapparate begnügten, sondern auch heiraten wollten. Das aber wurde von Familienvätern, Theologen und Juristen offenbar nicht mehr toleriert. Gut dokumentiert ist der Fall des Kastraten Sorlisi, der als Sopranist an der Oper des Markgrafen Ernst Christian von Brandenburg-Bayreuth in Dresden sang, dort offenbar so gut verdiente, dass er sich 1665 ein Rittergut kaufen konnte und 1666 in den Adelsstand erhoben wurde. Er verliebte sich in die Tochter seines juristischen Ratgebers und ließ im selben Jahr 1666 beim protestantischen Konsistorium in Leipzig inkognito die Frage abklären, wie das Ehebegehren eines zeugungsunfähigen, weil an den Hoden kastrierten Mannes zu beurteilen wäre. Gegen die kirchenrechtliche Legitimität einer solchen Ehe spricht damals die allgemein akzeptierte Definition des Ehezweckes. Dieser bestehe a) in der Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts und b) in der Dämpfung und im Löschen der Lust. Die Ehe eines zeugungsunfähigen Kastraten galt im kirchenrechtlichen Diskurs als illegitim, da der Zweck der Kinderzeugung nicht erfüllt und auch die Lust der Frau nicht gelöscht werden könne und diese sich deshalb in ständiger Gefahr der Hurerei und des Ehebruches befinde. Es gelte 25 | Dieses lange Zeit vergessene und verdrängte Phänomen wird in Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. Eine andere Operngeschichte. Berlin 1993 materialreich erforscht und für das kulturelle Gedächtnis wieder zugänglich gemacht. Was die Medizingeschichte über das Phänomen der Kastration weiss, ist zusammengestellt in Jütte, Robert: Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung. München 2003, S. 141-147.

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der Schluss: »Quod impotens ad copulam sit impotens ad matrimonium.«26 Das Leipziger Konsistorium sollte zu diesem Urteil Stellung nehmen, und es machte sich die Sache nicht leicht. Offenbar wurden genaue Erkundigungen über das Geschlechtsleben des Kastraten eingezogen, denn schließlich kam das Konsistorium zum Schluss, die Ehe sei zu legitimieren, da der besagte ehewillige Kastrat »zu dem Excercitio venereo nicht gäntzlich untüchtig, sondern daß er annoch erectionem penis empfinge, den congressum halten, auch einem Weibes-Bilde satisfaction thun, und ihre Brunst stillen und extinguiren könne.«27 Sorlisi durfte also heiraten. Doch auch nach der kirchlichen Eheschließung von Sorlisi und seiner Frau beschäftigte das Ober-Konsistorium in Dresden sich erneut mit dem Fall, verwarft die liberale Auffassung der Leipziger Behörden und verlangte die Annullierung der Ehe. Der Kurfürst selbst setzt sich nun für Sorlisi ein, aber Dorotheas Stiefvater lässt nicht locker. Er fordert ein Gutachten der Theologischen Fakultät der Universität Jena an, das am 25. Februar 1668 erstellt wird. Darin wird festgestellt, dass Dorothea als eine junge, zum Kindergebären tüchtige Weibs-Person, vermöge göttlicher Stiftung des Ehestandes nicht befugt ist, in eine Ehe mit einer Mannes-Person, die zum Kinderzeugen nachweislich untüchtig ist, einzuwilligen, und ist demnach auch ihre Einwilligung nach demselben Rechte null und nichtig, Ist der Beischlaf mit einem, von dem bekannt ist, daß er seiner Leibes-Beschaffenheit wegen nicht Kinder zeugen könne, eine Sünde wider das Gewissen.

Der Fall Sorlisi provoziert aber auch ein anderslautendes Gutachten. Aus dem preußischen Königsberg schicken der Dekan und die Professoren der theologischen Fakultät eine Stellungnahme, welche die Kastratenehe verteidigt, und zwar mit einer damals sehr unkonventionellen Begründung: Die Welt habe sich seit der Zeit, in der die heilige Schrift aufgezeichnet wurde, geändert. In der heutigen Zeit, also um 1670, sei die hauptsächliche Begründung für die Ehe: die Hintertreibung und Überwindung der fleischlichen Lüste. Es ist das menschliche Geschlecht genugsam ausgebreitet, daß man auf Vermehrung desselben nicht groß zu denken hat, daß also der Ehstand heutigen Tages vornehmlich ist ein Heilmittel gegen unstete Begierden. […] Daß man dieser Ehe widersprechen, den Ehleuten GewissensScrupel machen und auf die Trennung dringen wollte, auch so lange von dem Abendmahl

26 | Zitiert nach Ortkemper 1993, S. 194. 27 | Ortkemper 1993, S. 194.

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sie abhalten, bis sie getrennt werden, halten wir nicht allein für unbillig, sondern auch für ärgerlich. 28

1685 erschien eine Text- und Quellensammlung dieser Kontroverse in Halle als Buch unter dem Titel »Eunuchi Conjugium oder Die Capaunen-Heyrat«. Das Problem wurde populär, und das Zedlersche Lexikon von 1735 widmet der Kastratenehe eine längere Passage. Mit dem liberalen Königsberger Gutachten kommen wir dem Lenzschen »Hofmeister« wieder etwas näher; denn der bereits erwähnte August Wilhelm Hupel hat in einer anderen Abhandlung »Vom Zweck der Ehen, ein Versuch, die Heuraht der Castraten und die Trennung unglücklicher Ehen zu verteidigen« (Riga, 1771) diese liberale Königsberger Linie weiter vertreten. Er nimmt darin ausdrücklich Bezug auf das Königsberger Gutachten und vertritt im Großen und Ganzen dieselbe Position.29 Hupel darf also als Vermittler sowohl des Kastrationsdiskurses wie der Kastratenehe für Lenz’ »Hofmeister«-Text in Anspruch genommen werden. Diesem Diskurs fügt Lenz durch sein Theaterstück allerdings einen neuen Aspekt hinzu. Denn mit der Ehe zwischen Läuffer und Lise geht es ja nicht um die Ehe zwischen einer jungen Frau und einem erektionsfähigen Kastraten. Läuffer kann den Beischlaf nicht vollziehen. Wenzeslaus bringt es auf den Punkt: Wenzeslaus. Aber dass dich der Kuckuck, er kann ja nichts – Gott verzeih mir meine Sünde, so laß dir doch sagen. Läuffer. Vielleicht fordert sie das gar nicht – Lise, ich kann bey dir nicht schlafen. Lise. So kann Er doch wachen bey mir, wenn wir nur den Tag über so beysammen sind und uns so anlachen und uns einsweilen die Hände küssen – Denn bei Gott! ich hab’ ihn gern. Gott weiß es, ich hab’ ihn gern. (V.10. S. 169)

Lises einfacher und ergreifender Satz »Ich hab’ ihn gern« hat bei Wenzeslaus keine Chance, verstanden zu werden. Läuffer muss dessen moraltheologischen Gehalt gleichsam übersetzen und argumentativ an den juristischen Diskurs anschließen: Läuffer. Sehen Sie, Herr Wenzeslaus! Sie verlangt nur Liebe von mir. Und ist’s denn nothwendig zum Glück der Ehe, daß man thierische Triebe stillt? 28 | Zitiert nach Ortkemper 1993, S. 199. 29 | Hupel, August Wilhelm: Vom Zweck der Ehen, ein Versuch, die Heurath der Castraten und die Trennung unglücklicher Ehen zu vertheidigen. Riga 1771. In Faksimile wiedergegeben mit einer Biographie des Autors und rechtsgeschichtlichen Erläuterungen versehen von Clausdieter Schott. Frankfurt a.M. 1985. Zu den Königsberger Gutachten vgl. dort S. 36 und S. 42.

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Damit überbietet Läuffer auch das liberale Königsberger Gutachten. In diesem konnte man auf den Zweck der Kinderzeugung allenfalls verzichten, am Zweck der Lust-Löschung, der Mortifikation tierischer Triebe, hielt man allerdings fest. Dass eine Ehe auf das Gernhaben allein gründen könnte, das erscheint hier neu und unerhört. Ehe ohne Triebauslöschung im heterosexuellen Geschlechtsakt: undenkbar – jedenfalls für Wenzeslaus. Das traut man im Rahmen des von ihm geführten Diskurses vor allem einer Frau nicht zu: Wenzeslaus. Geht zum Sultan und laßt Euch zum Aufseher über ein Serail dingen, aber nicht zum Hirten meiner Schafe. […] Heiraten – Ei ja doch – als ob sie mit einem Eunuch zufrieden.

Warum es zwischen Läuffer und Wenzeslaus zum Zerwürfnis kommt, kann man im Horizont der Hupelschen Klassifikation der Verschnittenen erläutern. Wenzeslaus erhofft sich in Läuffer einen um des Himmelreiches willen Verschnittenen. Läuffer aber gesteht, dass er andere Beweggründe hatte. Er hat sich aus therapeutischen Gründen entmannt, er sucht nicht das Heil, sondern Heilung von den Folgen der Onanie. Und als ein therapeutisch Verschnittener könnte er nun die Vorteile einer Ehe geniessen, die auf Zuneigung gründet, kinderlos bleiben wird und damit ganz im Sinne Hupels zwar ärmlich, aber ohne Last gelebt werden könnte. Vielleicht darf man hier mit der Interpretation sogar noch einen Schritt weiter gehen. Denn das Wesentliche wird in dieser Szene von einer weiblichen Stimme gesagt, die zum Akademismus des Diskurses, wie er zwischen Wenzeslaus und Läuffer herrscht, einen irreduziblen Kontrast bildet. Lise ist zwar vielleicht naiv, aber sie ist nicht unerfahren. Sie kennt das »puf paf« der Soldaten (163) und kann es mit der Artigkeit der »studierten Herren« vergleichen. Was in der Beziehung Lises zu Läuffers vielleicht zum Ausdruck zu kommen versucht, ist die Entdeckung einer Beziehungsqualität jenseits heterosexuell genormter Leistungszwänge. Lise umschreibt diese Qualität mit »Gernhaben« – und sie tut dies mit weiblicher Stimme in einem Kontext männlich dominierter Diskursivierung des Begehrens, die sich diese Qualität des »Gernhabens« nur denken kann, wenn sie fein säuberlich abgegrenzt ist von der »Stillung thierischer Triebe«.

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S UBLIMATION IM K ONTE X T DER L ENZSCHEN M OR ALTHEOLOGIE Inwiefern ist die Selbstkastration Läuffers eine literarische Antwort auf ein spezifisches Problem der Lenzschen Moraltheologie?30 Welche Form der Kastration entspricht Lenz’ anthropologischem Modell der Triebsublimierung am besten? Ein zentraler Leitwert der Lenzschen Theologie wie der Lenzschen Ästhetik ist die Selbstständigkeit des Handelns: »der stolze Gedanke, das tatst du, das wirktest du, nicht das wirkte die Natur oder der Zusammenstoß fremder Kräfte«. Dieser Gedanke erweist sich einer selbstzweiflerischen Überprüfung oft als Selbsttäuschung, und trotzdem kann er laut Lenz nicht aufgegeben werden. Lenz’ Anthropologie ist im Wesentlichen als psychologischer Diskurs konstruiert und enthält eine Lehre von den verschiedenen Seelenvermögen. Im Aufsatz »Meine wahre Psychologie« unterscheidet er vier, nämlich Empfindungsvermögen, Vorstellungsvermögen, Vernunft und die begehrenden Kräfte. Das Vermögen zu handeln entsteht nach Lenz aus der vernünftigen Beherrschung und asketischen Stauung der begehrenden Kräfte: Je sparsamer wir diese Konkupiszenz, die sich am ersten bei tierischen Bedürfnissen äußert und durch das erste Verbot Gottes so wie jetzt überhaupt durch Gesetz ihren Schwung erhält, befriedigen, desto größer, stärker und edler wird sie, das heißt desto größer, stärker, vielumfassender und edler werden unsere Entschließungen und die drauf folgenden Handlungen, desto edler wir, Helden, Halbgötter, Herkulesse, der Gottheit näher und ihrer Gnade würdiger. 31

Lenz findet eine Beglaubigung seiner psychologischen Konstruktion des Handlungsvermögens aus Triebaufschub und Triebverzicht in seiner eigenwilligen Interpretation des biblischen Mythos vom Baum der Erkenntnis. Die Fähigkeit, selbstständig zu handeln, entsteht nach Lenz aufgrund des ersten göttlichen Verbotes, die Regung eines natürlichen Triebes sogleich und ohne weiteres zu befriedigen. Lenz exponiert diesen Gedanken in seinem »Supplement zur Abhandlung vom Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen« und lässt dort Gott selber sprechen: 30 | Vgl. dazu Käser, Rudolf: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des Sturm und Drang. Herder – Goethe – Lenz. Bern u.a. 1987, bes. S. 272-296 und die Arbeit von Bosse, Heinrich und Lehmann, Johannes Friedrich: Sublimierung bei Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Wellberry, David E. und Begemann, Christian (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2002. S. 177-210. 31 | Lenz, Jakob Michael Reinhold: Gesammelte Schriften. Hg. von Franz Blei. Bd. IV, München und Leipzig 1909, S. 31.

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Diese Konkupiszenz ist meine herrlichste Gabe, nur behaltet sie ungeschwächt, als ein Gefäß mir zu Ehren, behaltet sie lebendig – damit sie euch durch eine Ewigkeit begleite, damit ihr eine Glückseligkeit ohne Ende damit auflösen könnet. Sobald ihr aber esset – eure Velleität der Konkupiszenz nachgibt, so wird diese Konkupiszenz nach kurzem Genuß eines ihrer nicht würdigen Guts immer enger zusammenschrumpfen, immer weniger begehren, sterben – leerer entsetzlicher Zustand, ihr begehrt, wünscht, hofft nichts mehr, ihr kehrt in Staub und Verwesung zurück ihr sterbt des Todes. 32

Jede Triebbefriedigung sei eine Schwächung des Begehrens. Das ist die Wendung des humoralpathologischen Onaniediskurses ins Psychologische: Jede Ejakulation schwäche den Körper. Das führt zum Rat, mit den beschränkten Vorräten haushälterisch umzugehen. Lenz treibt dieses Management der Konkupiszenz in seinen moralischen und diätetischen Schriften, z.B. in seinen »Lebensregeln«, bis ins kleinste Detail. Er verbietet nicht die sinnlichen Wünsche, aber er unterwirft sie einer Diätetik weniger der vernünftigen Befriedigung als der streng dosierten Erregung. Die Befriedigung bleibt immer versagt. Zunächst scheint Lenz eine aufgeschobene Triebbefriedigung im Ehestand noch gebilligt zu haben, doch schließlich negiert er auch diese Lebensform – konsequenterweise, kann man aus seiner Sicht sagen, solange der einzig anerkannte Ehezweck die Löschung der Konkupiszenz sein soll.33 Lenz’ Anthropologie kennt keinen Dualismus von Leib und Seele. Es ist in seinem Denkansatz nicht möglich, die Seele zu retten, indem man den Leib kasteit, aber es ist auch nicht möglich, die Seele zu erheben und dem Leib das Seine zu gewähren. Auf dem steilen Weg des Menschen zur Gottähnlichkeit muss bei Lenz der Körper mit. Dabei lauert unter anderem die Gefahr der Onanie mit all ihren beängstigenden Folgen. Hier nun entwirft die Komödie »Der Hofmeister« einen Ausweg. Insofern fügt Lenz’ Komödien-Dichtung dem Heroismus seiner moraltheologischen Schriften etwas Neues und Anderes hinzu: Es geht nicht mehr darum, ein Held oder Halbgott zu werden. Läuffer darf als kleiner, recht unbedeutender Mensch überleben. Wenn jemand nicht fähig sein sollte, dem Befriedigungsverbot aus freien Stücken zu folgen, kann er sich durch einen Schnitt helfen. Dies ganz im Sinne des Aufklärers Hupel. Allerdings müsste – so die Ergänzung des Sturm-und Drang-Dichters Lenz – dieser Schnitt richtig gesetzt sein. Die Quellen des Begehrens wären zu erhalten, nur die Instrumente seiner Befriedigung wären zu beseitigen. Penis-Ektomie bei gleichzeitiger Erhaltung der Testikel ist das adäquate somatische Modell dieser

32 | Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von S. Damm. Bd. 2, München und Wien 1987, S. 516. 33 | Eheverweigerung bis in den Selbstmord wird als radikale Konsequenz dieser Haltung z.B. im Drama »Der Engländer« imaginiert.

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moraltheologischen Kopfgeburt. Bei Läuffer scheint es – in der Literatur zumindest – als Kur recht gut anzuschlagen. Als Lichtenberg in seinen Sudelbüchern die Literatur seiner Zeit sarkastisch angreift, redet er ebenfalls unverblümt von anatomischen Verhältnissen und sexuellen Triebkräften: »Wenn eine andere Generation den Menschen aus unsern empfindsamen Schriften restituieren sollte, so werden sie glauben, es sei ein Herz mit Testikeln gewesen. Ein Herz mit einem Hodensack.« Dass Lichtenberg dabei konkret auch an den »Hofmeister« gedacht haben könnte, lässt sich nicht beweisen. Allerdings fällt auf, dass in diesem literaturkritischen Emblem Lichtenbergs der Penis fehlt.

A NSAT ZPUNK TE DER LITER ARISCHEN I NTERVENTION BEI L ENZ Die minutiöse Relektüre der Dramenhandlung im Kontext damaliger medizinischer, juristischer und moraltheologischer Kontexte erlaubt es, die Motivationskette des Dramas in Übereinstimmung mit dem Wortlaut zu rekonstruieren. Dabei werden vor allem Bezüge zur Symptomatologie des Onanismus und zur juristischen Debatte über die Legitimität der Kastraten-Ehe relevant. Mit detailliertem Hinweis auf diese Kontexte wird hier die These vertreten, dass Läuffer seine offenbar gewordene Zeugungs-Unfähigkeit auf Onanie zurückführt, dass zahlreiche weitere Symptome zu diesem Krankheitsbild passen, so dass Läufer sich selbst diese Diagnose stellt und an sich die drastische Therapie der Selbstkastration vornimmt, um der infausten Prognose Wahnsinn und früher Tod vorzubeugen. Seine Liebesfähigkeit wird dadurch – entsprechend der psychophysischen Energetik der Lenzschen Moraltheologie – gesteigert. Dass eine Ehe als Liebesbeziehung mit einem Kastraten auch dann legitim ist, wenn sie dem Ehezweck der Erzeugung von Nachwuchs nicht dienen kann, wurde in zeitgenössischen kirchenjuristischen Debatten ausgiebig diskutiert und namentlich durch ein Gutachten des Königsberger Konsistoriums explizit bejaht. Lenz fügt dieser Diskussion einen innovativen Kasus hinzu. Im Licht dieser Befunde ist Lenz schriftstellerisches Verfahren und damit die Stoßrichtung seiner literarischen Intervention in kulturelle Diskurse neu zu überdenken. Unbestritten bleibt, dass in Sturm und Drang und damit auch bei Lenz Fragen der Sexualität auf bisher literarisch unerhörte Weise aktuell werden. Allerdings ist dies weniger »revolutionär«, als bisher angenommen wurde; denn bei Lenz’ Thematisierungen des Sexuellen handelt es sich um literarische Aneignungen, Umschriften und Varianten medizinischer, moraltheologischer und kirchenjuristischer Diskurse seiner Zeit. Das Innovative an Lenz ist nicht in den Stoffen zu suchen, sondern in der Drastik der Darstellung, die inhaltlich oft an moraltheologische Kasuistik erinnert, aber unter Weglassung aller explizit begrifflichen Rahmung und Kommentierung

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realisiert wird. Lenz’ Drama erscheint damit als sexualtherapeutische Fallgeschichte im Rahmen des zeitgenössischen Onaniediskurses, die aber aus dem an sich leicht rekonstruierbaren begriffliche Rahmen, in dem allein sie kohärent lesbar wird, gleichsam herausgeschnitten und in ihrer faktischen Materialität als nunmehr literarischer Fall dargeboten wird. Lenz’ Originalität besteht in der radikalen literarischen De-Kontextualisierung medizinisch und kirchenrechtlich durchgearbeiteten kasuistischen Materials.34 Diese literarische Intervention verdankt ihre irritierende Wirkung damals wie heute gerade dieser Dekontextualisierung. Denktechniken der kasuistische Zuspitzung von Fallgeschichten im Kontext moraltheologischen Argumentierens werden als diskursiver Hintergrund vorausgesetzt, literarisch aber ohne diesen philosophisch und aufklärerisch argumentierenden Kontext dargeboten und als unmittelbare ›Realitäten‹ auf der Bühne präsentiert. Zuschauerinnen und Zuschauer, Leserinnen und Leser werden mit künstlerisch hergestellter anschaulicher Unmittelbarkeit konfrontiert. Die Verarbeitung aller begrifflichen Paradoxien und Wertambivalenzen, die sich aus dem Kontext erschließen, wird damit dem Publikum überantwortet.

L ITER ATUR Anonymus: Onania or, the Heinous Sin of Self-Pollution. The Sixteenth Edition. Printed for the author and sold by J. Isted. London 1737. Barthes, Roland: Semiologie und Medizin. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. 1988, S. 217f. Brecht, Bertolt: Der Hofmeister von Jakob Michel Reinhold Lenz. Bearbeitung. In: Ders.: Werkausgabe. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 6. Zürich 1975. S. 2330-2394. Bosse, Heinrich und Lehmann, Johannes Friedrich: Sublimierung bei Jakob Michael Reinhold Lenz. In: Wellberry, David E. und Begemann, Christian (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2002. S. 177-210. Engelhardt, Hugo Tristram, Jr.: The Disease of Masturbation. Values and the Concept of Disease. In: Concepts of Health and Disease. Interdisciplinary Perspectives. Edited by Arthur L. Caplan et al. London u.a. 1981, S. 267-280. 34 | Dekontextualiserung durch Tilgung argumentativer Textanteile lässt sich als innovative Methode zur Schaffung einer Sturm-und-Drang-spezifischen Theatertextur auch an den verschiedenen Fassungen des Goetheschen »Götz von Berlichingen« aufzeigen. Vgl. dazu Käser 1987, S. 176-252, bes. S. 240: »Die scheinbar unberührte Kompaktheit der Charaktere, die irreduzible Originalität ihres Soseins erweist sich auf der Folie der Urfassung als ein Produkt von Streichungen und […] Retouschen […].«

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Gilman, Sander L: Sexuality. An Illustrated History. Representing the Sexual in Medicine and Culture from the Middle Ages to the Age of AIDS. New York u.a. 1989. Honegger, Claudia: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, 1750-1850. Frankfurt a.M. 1991. Hupel, August Wilhelm: Vom Zweck der Ehen, ein Versuch, die Heurath der Castraten und die Trennung unglücklicher Ehen zu vertheidigen. Riga 1771. In Faksimile wiedergegeben mit einer Biographie des Autors und rechtsgeschichtlichen Erläuterungen versehen von Clausdieter Schott. Frankfurt a.M. 1985. Hupel, August Wilhelm: Origenes oder von der Verschneidung. Über Matth. 19. v. 10-12. Ein Versuch, zur Ehrenrettung einiger gering geachteten Verschnittenen. Riga 1772. Jens, Walter (Hg.): J.M.R. Lenz. In: Kindlers Neues Literatur-Lexikon. Bd. 10. München 1992, S. 213. Jütte, Robert: Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung. München 2003. Käser, Rudolf: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des Sturm und Drang. Herder – Goethe – Lenz. Bern u.a. 1987. Käser, Rudolf: Onanie und Selbstkastration. J.M.R. Lenz’ ›Hofmeister‹ am Schnittpunkt von Medizin- und Literaturgeschichte. In: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Litauen. Elfte Folge 2005. Riga und Bonn 2006, S. 7-30. Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln u.a. 2000. Lappe, Claus O.: Wer hat Gustchens Kind gezeugt? Zeitstruktur und Rollenspiel in Lenz’ Hofmeister. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Nr. 54, 1980, S. 14-46. Laqueur, Thomas W.: Solitary Sex. A Cultural History of Masturbation. New York 2003. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Gesammelte Schriften. Hg. von Franz Blei. Bd. IV, München und Leipzig 1909. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Hofmeister. Synoptische Ausgabe von Handschrift und Erstdruck. Hg. von Michael Kohlenbach. Basel und Frankfurt a.M. 1986. Lenz, Jakob Michael Reinhold. Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von S. Damm. Bd. 2, München und Wien 1987. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Der Engländer. In: Damm, Sigrid (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Bd.  1. Leipzig 1987. Lütkehaus, Ludger: »O Wollust, o Hölle«. Die Onanie-Stationen einer Inquisition. Frankfurt a.M. 1992.

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Luserke, Matthias: Lenz-Studien. Literaturgeschichte – Werke – Themen. St. Ingbert 2001. Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. Eine andere Operngeschichte. Berlin 1993. Scholz, Piotr O.: Der entmannte Eros. Eine Kulturgeschichte der Eunuchen und Kastraten. Düsseldorf und Zürich 1997. Tissot, Samuel-Auguste: L’Onanisme. Préface de Christophe Calame. Paris 1991. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon der Wissenschafften und Künste (1732-1754). Bd. 10. Halle und Leipzig 1732, S. 267.

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Emanzipation und Augenlicht Sehvermögen als Motiv weiblicher Entwicklung in Elsa Bernsteins Schauspiel »Dämmerung« (1893) Gaby Pailer

Aspekte des (Psycho-)Pathologischen, Fragen der Genese und Therapie von individuellen und sozialen Krankheitserscheinungen, Entwürfe des Vitalen im Gegenzug zur diagnostizierten Degeneration von Mensch und Gesellschaft, prägen die Literatur des Fin de siècle in besonderem Maße. Hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Strömung des bürgerlichen Realismus, programmatisch wie praktisch, an einer regelrechten Vertreibung des Pathologischen aus dem Feld der Literatur gearbeitet,1 so ist es besonders die Strömung des Naturalismus, die ab den späten 1880er Jahren eine Repathologisierung auf gleich mehreren Ebenen betreibt: Bereits Wilhelm Bölsches proto-naturalistischem Entwurf des Dichters als »Naturforscher«, der ein »poetische[s] Experiment[]«2 menschlicher Entwicklung in ihrer genetischen wie sozialen Bedingtheit anstellt, unterliegt eine Metaphorik von individueller und gesellschaftlicher Krankheit und Gesundheit. Die von ihm anvisierte neue Form von Realismus begreift er dabei mit einer Vitalitätsmetapher als »gesunden Realismus«,3 der »bis zum Unschönsten, was die Welt im gebräuchlichen Sinne 1 | Käser, Rudolf: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998, S. 182-187. 2 | Bölsche, Wilhelm: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik. In: Ruprecht, Erich (Hg.): Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892. Stuttgart 1962, S. 85-102 (zuerst: Leipzig 1887), hier S. 87f. Die Orientierung an naturwissenschaftlichen Praktiken, insbesondere am neuen Positivismus Comptes gilt neben der von Taine adaptierten Milieutheorie und der Darwin-Haeckelschen Entwickungstheorie als Wesenszug naturalistischer Literaturproduktion. Vgl. dazu etwa Mahal, Günter: Naturalismus. Uni-Taschenbücher, Nr. 363, München 1990, S. 42-58, hier S. 87f. 3 | Bölsche 1962, S. 88.

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hat, dem Krankensaale, vordringt«,4 freilich ohne bei einer rein mimetischen Darstellung verharren zu sollen. Anders als Arno Holz, der das naturalistische Kunstwerk als Mimesis von Vorgängen der Wirklichkeit, abzüglich ästhetischer Gestaltung, formelhaft begreift: »Kunst = Natur – x«,5 diskutiert Bölsche die Möglichkeit und Aufgabe der Kunst einer steuernden Tendenz »zum Harmonischen, Gesunden, Glücklichen«6 innerhalb einer am Experimentalverfahren des französischen Romanciers Zola sich orientierenden, aber auch reibenden, deutschsprachigen Literaturproduktion. Eine ganz ähnliche Position vertritt Irma von Troll-Borostyáni, die den Dichter in der Rolle eines Arztes sieht: »Gewiß ist der Dichter berechtigt, mit kühner Hand den Schleier von den abscheulichsten Wunden der Gesellschaft zu reißen, so er dies als Arzt thut, der zugleich auf die Ursache der Krankheit hinweist und dadurch anregt, auf die Mittel zur Heilung zu sinnen.« 7 In kritischer Auseinandersetzung mit Zola unterscheidet sie zwischen »Naturalismus«, der die Wirklichkeit nicht im Sinne reiner Mimese, sondern zum Zweck der Genesung darstelle, und »Trivialismus«, der sich im bloßen Selbstzweck einer Ästhetik des Hässlichen erschöpfe.8 Nicht nur in theoretischen Entwürfen des naturalistischen Umfeldes, auch in literarischen Texten, wird das Motiv physischer Krankheit mit sozial krankhaften Zuständen in Verbindung gebracht. Erkrankung wird dabei häufig familial-genealogisch, wenn nicht gar genetisch codiert und mit einer Helferfigur, dem so genannten ›Boten aus der Fremde‹, konfrontiert, die häufig im natur- oder sozialwissenschaftlichen, wenn nicht gar im medizinischen Feld agiert. Berühmtes Beispiel dafür ist Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang«, das den Sozialforscher Lot und den Landarzt Schimmelpfennig mit der Frage genetischer Defizienz aufgrund heriditärer Trunksucht konfrontiert.9

4 | Bölsche 1962, S. 90. 5 | Kursorisch dazu Meyer, Theo: Naturalistische Literaturtheorien. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nr. 7, München 2000, S. 28-43 und 581-584; hier S. 35. Eine ausführliche Diskussion bietet Frels, Onno: Zum Verhältnis von Wirklichkeit und künstlerischer Form bei Arno Holz. In: Bürger, Christa, Bürger, Peter und Schulte-Sasse, Jochen (Hg.): Naturalismus/Ästhetizismus. Frankfurt a.M. 1979, S. 103-138. 6 | Bölsche 1962, S. 96. 7 | Troll-Borostyáni, Irma von: Die Wahrheit im modernen Roman. In: Ruprecht, Erich (Hg.): Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892. Stuttgart 1962, S. 71-81 (zuerst in: Die Gesellschaft, 2. Jg., Nr. 4, 1886, S. 215-225), hier S. 73. 8 | Troll-Borostyáni 1962, S. 73 und 75, Hervorhebungen im Original. 9 | Hauptmann, Gerhart: Vor Sonnenaufgang. Berlin 2005.

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Unübersehbar ist ferner, in welchem Maße die neue Literaturströmung eines konsequenten Realismus ›männlich‹ codiert wird. Die erste Ausgabe der Münchner Zeitschrift »Die Gesellschaft«, herausgegeben von Michael Georg Conrad, lanciert etwa einen Aufruf zur ›Ermannung‹ der modernen Literatur. Es gelte »die Emanzipation der periodischen schöngeistigen Litteratur und Kritik von der Tyrannei der ›höheren Töchter‹ und der ›alten Weiber beiderlei Geschlechts‹« und, der »Verflachung und Verwässerung des litterarischen, künstlerischen und sozialen Geistes starke, mannhafte Leistungen entgegenzusetzen«.10 Das steht in gewissem Widerspruch zu dem Aufruf am Ende an »alle geistesverwandten Männer und Frauen […], sich mit uns thatkräftig zu vereinen, damit wir in gemeinsamer, froher, flotter Arbeit unser hochgestecktes Ziel erreichen«.11 Zudem entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn sich Autorinnen, wie etwa Troll-Borostyáni derselben Geschlechtermetaphorik zur Abwertung der bisherigen bürgerlichen Kunst bedienen – im Bild »eines ästhetischen Thee schlürfenden litterarischen Altjungferntums«12 –, aber auch umgekehrt, wenn dem Naturalismus selbst als einer der nervösen modernen Strömungen von Zeitgenossen beschieden wird, er sei »durchaus weiblich«.13 Auf der Folie einer solch disparaten Gemengelage naturalistischer Motivik und Metaphorik soll im Folgenden das erste und erfolgreichste Drama einer Autorin in den Blick genommen werden, das in der zeitgenössischen Rezeption wie in der gegenwärtigen Forschung dem Naturalismus zugeordnet wurde: »Dämmerung«, 1893 von Elsa Bernstein, geborener Porges, unter dem Pseudonym Ernst Romser verfasst und als erstes Drama einer Autorin auf der Berliner »Freien Bühne« inszeniert.14 In seiner ausführlichen Rezension der Erstaufführung würdigt Wilhelm Bölsche das Stück als gelungenen Ausdruck der von ihm wenige Jahre zuvor visionierten Amalgamierung naturwissenschaftlicher und poetischer Verfahren zu einem neuen Realismus, in gewisser Nachfolge zu Gerhart Hauptmanns kurz zuvor inszeniertem Stück »Die Weber« sowie in thematischer Nähe zu »Einsame Menschen« und »Das Friedens10 | Conrad, Georg Michael: Zur Einführung. In: Rupert, Erich (Hg.): Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892. Stuttgart 1962, S. 55-58 (zuerst in: Die Gesellschaft, Nr. 1, 1885), hier S. 55f. 11 | Conrad 1962, S. 56. 12 | Troll-Borostyáni 1962, S. 72. 13 | Brinker-Gabler, Gisela: Weiblichkeit und Moderne. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nr. 7, München 2000, S. 243-256 und 615-617; hier S. 243. 14 | Bernstein, Elsa [Pseudonym: Rosmer, Ernst]: Dämmerung. Schauspiel in fünf Akten. Berlin 1893; im Folgenden zitierte Ausgabe: Bernstein, Elsa: Dämmerung. Hg. von Susanne Kord. New York 2003.

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fest« und in Abgrenzung zu Ibsens »Gespenster[n]«.15 Entsprechend untersuchen auch neuere Interpretationen den Zusammenhang zur naturalistischen Programmatik und Dramentechnik und lesen das Stück als kritische Auseinandersetzung mit dem naturalistischen Credo, Kunst und Wissenschaft zu synthetisieren. Betont wird dabei Bernsteins geschlechterkritische Perspektive auf ästhetischer,16 psychologischer17 und epistemologischer Ebene.18 Angesichts der naturalistischer Programmatik inhärenten Metaphorik von Gesundheit und Krankheit, der Vorstellung vom Dichter als Naturforscher – Chemiker, Anatom und Arzt –, der im Dienste kultureller Gesundung ›operiert‹, und ihrer Verschränkung mit einer konservativen Geschlechtermetaphorik – weiblich = schwach, krank, nervös; männlich = kraftvoll, gesund und seelisch stabil – wäre der Frage nach dem Verhältnis von Autorinnen zum Naturalismus sicher grundsätzlicher nachzugehen, ebenso wie dem des bisher allenfalls kursorisch untersuchten Verhältnisses des Naturalismus zur Frauenbewegung.19 Demgegenüber ist der Kanon naturalistischer Bühnenwerke mit gewisser Renitenz männlich repräsentiert, sei es bezogen auf deutschsprachige Produktionen,20 sei es mit weiter ausholend europäischem Blick:

15 | Bölsche, Wilhelm: »Dämmerung«. In: Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit, 4. Jg., Nr. 1-2, Berlin 1893, S. 462-466. 16 | Weigert, Astrid: Gender – Art – Science. Elsa Bernstein’s Critique of Naturalist Aesthetics. In: Kraft, Helga und Lorenz, Dagmar C. G. (Hg.): From Fin-de-siècle to Theresienstadt. The Works and Life of the Writer Elsa Porges-Bernstein. New York 2007, S. 7790. Colvin, Sarah: Women and German Drama. Playwrights and their Texts, 1860-1945. Rochester 2003. 17 | Kord, Susanne: Introduction. In: Bernstein, Elsa: Dämmerung. Hg. von Susanne Kord. New York 2003, S. xi–xxxiv. Dies.: The Eternal Feminine and the Eternal Triangle. In: Kraft, Helga und Lorenz, Dagmar C. G. (Hg.): From Fin-de-siècle to Theresienstadt. The Works and Life of the Writer Elsa Porges-Bernstein. New York 2007, S. 145-161. 18 | Weiershausen, Romana: Wissenschaft und Weiblichkeit. Die Studentin in der Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2004, S. 227-252. Pailer, Gaby: Ernst Rosmer, Dämmerung. In: Loster-Schneider, Gudrun und dies. (Hg.): Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen (1730-1900). Tübingen 2006, S. 372-374. 19 | Bänsch, Dieter: Naturalismus und Frauenbewegung. In: Scheuer, Helmut (Hg.): Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Stuttgart u.a. 1974, S. 122-149. Giesing, Michaela: Theater als verweigerter Raum. Dramatikerinnen der Jahrhundertwende in deutschsprachigen Ländern. In: Gnüg, Hiltrud und Möhrmann, Renate (Hg.): Frauen – Literatur – Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M. 1989, S. 240-259 und 527-530. 20 | Z. B. Hoefert, Sigfrid: Theatergeschichtliche Perspektiven und Dokumentation. Naturalismus als Theaterphänomen. In: Rothe, Wolfgang und ders. (Hg.): Deutsches

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»Als Haupttypen schälen sich heraus: das sozialkritische Drama, das mit moralischem Engagement gesellschaftliche Mißstände geißelt (Zola), das soziale Milieudrama, das eine Symptombeschreibung der desolaten Situation des Proletariats und des Kleinbürgertums bietet (Hauptmann), das gesellschaftskritische Tendenzdrama, das die Gesellschaftslüge entlarvt und zu geistig-moralischer Erneuerung aufruft (Ibsen), das religiöse Wandlungsdrama, in dem ein Schuld-Sühne-Zusammenhang entfaltet wird (Tolstoi), das psychologische Enthüllungsdrama, das, vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Milieus, in extremer Zuspitzung den interindividuellen Konflikt, vor allem die Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern, exponiert (Strindberg), der konsequente Naturalismus, dessen Intention die Wiedergabe der unverstellten Wirklichkeit ist (Holz).« 21

Autorinnen des Fin de siècle, die mit naturalistischen Verfahren experimentieren – neben Elsa Bernstein und der bereits zitierten Irma von TrollBorostyáni etwa auch Clara Viebig, Anna Croissant-Rust, Juliane Dery, Emilia Mataja [Pseudonym: Emil Marriot] oder Marie von Ebner-Eschenbach –, finden innerhalb von Grundlagenwerken zum Naturalismus dagegen kaum Erwähnung, obschon sie sich an den von Zola, Hauptmann, Ibsen, Tolstoi, Strindberg oder Holz aufgeworfenen Diskursen virulent beteiligen.22 War Clara Viebig bisher hauptsächlich für ihre narrativen Texte bekannt,23 ist Elsa Bernstein vergleichsweise viel Beachtung für ihr dramatisches Werk zuteil geworden. Umstände, die das besondere Interesse an ihr weckten, sind neben der Bekanntschaft mit Schriftstellern des Fin de siècle – Gerhart Hauptmann etwa, dessen dritten Sohn Bernsteins Tochter Eva heiratet, oder Henrik Ibsen, von dessen Drama »Rosmersholm« sich das Pseudonym Ernst Rosmer herleitet – vor allem ihre jüdische Herkunft und ihre Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt, die sie in ihren Memoiren schildert.24 Allerdings Theater des Naturalismus. Dramen von Arno Holz, Johannes Schlaf, Max Halbe, Otto Erich Hartleben, Gerhart Hauptmann, Georg Hirschfeld. München 1992, S. 435-464. 21 | Meyer, Theo: Das naturalistische Drama. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nr. 7, München 2000, S. 64-76 und 587-589. 22 | Mahal listet etwa die Aufführungen der Freien Bühne von 1889 bis 1901 auf und verzeichnet für 1893 »Rosmer, Dämmerung«, für 1897 »Marriot, Gretes Glück« und »Ebner-Eschenbach, Am Ende«. Mahal 1990, S. 38. 23 | Vgl. hierzu die Neuedition ihres Dramenzyklus: Clara Viebig: Der Kampf um den Mann. Dramenzyklus (1905). Mit einem Nachwort hg. von Gaby Pailer und Franziska Schößler, Hannover 2011. 24 | Eine Chronologie der Lebensdaten mit besonderem Blick auf die Ermordung und Verfolgung deutscher Juden enthält der Band von Kraft, Helga und Lorenz, Dagmar C. G. (Hg.): From Fin-de-siècle to Theresienstadt. The Works and Life of the Writer Elsa

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hat sich auch für sie bislang vorwiegend die anglo-amerikanische Forschung interessiert.25 Elsa Bernsteins Erstlingsdrama »Dämmerung« soll im Folgenden exemplarisch in seiner Beziehung zu dramatischen Verfahren des Naturalismus untersucht werden. Da es den Naturalismus per se nicht gibt und sich die Programmatiken ebenso wie die Ausprägung bestimmter Prototypen stark unterscheiden – wie die Zusammenstellung »Literarische[r] Manifeste« Erich Ruprechts dokumentiert oder auch Meyers Liste insinuiert –, kann dies freilich nicht in einem einfachen Sinn erfolgen. Es geht nicht um die Devianz von einer wie auch immer rekonstruierbaren Norm, sondern um die Frage, welche Aspekte von Bernsteins Schauspiel mit typischen Zügen naturalistischer Dramatik korrelieren oder auch konfligieren. Besonderes Augenmerk werden die einleitend skizzierten Kernaspekte (und -aporien) erhalten, wenn Prozesse von Krankheit und Heilung, wie sie das Stück entfaltet, in ihrem Bezug auf literarische Intertexte sowie auf gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskursfelder untersucht werden. Indessen erschöpft sich die in Bernsteins Text angelegte Dramaturgie nicht in einer Mimesis von naturalistischer Motivik und Stil. Gegenüber einer alltägliche Sprach- und Dialogverfahren nachahmenden naturalistischen Bühnenund Sprachtechnik, arbeitet das Stück zugleich mit einer Vielzahl intertextueller Verweise, die neue Referenzrahmen eröffnen, angefangen von direkten Repliken auf Drama und Musikdrama (Wagners »Tristan und Isolde« und Schillers durch Verdi vertonten »Don Carlos«), über das Einspielen prominenter mythischer Figuren (Faust und Ödipus), bis hin zur Allusion namhafter Philosophen und Künstler (Nietzsche und Wagner). Im Aufdecken der interPorges-Bernstein. New York 2007, S. 225-229. Den 1999 posthum veröffentlichten Theresienstadt-Memoiren sind drei Beiträge des Bandes gewidmet von Deborah VietorEngländer, Dagmar C. G. Lorenz sowie Rita Bake und Birgit Kiupel. 25 | An US-Universitäten wurden mehrere Dissertationen vorgelegt: Novak, Sigrid Gerda Scholtz: Images of Womandhood in the Works of German Female Dramatists 18921918. Dissertation Johns Hopkins University 1973. Ametsbichler, Elizabeth Graff: Society, Gender, Politics, and Turn-of the Century Theater. Elsa Bernstein (ps. Ernst Rosmer) and Arthur Schnitzler. Dissertation University of Maryland 1992. Pierce, Nancy Jean Franklin: Woman’s Place in German Turn-of-the-Century Drama. The Function of Female Figures in Selected Plays by Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, Ricarda Huch, and Elsa Bernstein. Dissertation University of California 1998. Weigert, Astrid: Schriftstellerinnen als Ästhetikerinnen in Romantik und Naturalismus am Beispiel von Dorothea Schlegel und Elsa Bernstein. Dissertation Georgetown University 1999. Im deutschsprachigen Raum: Zophoniasson-Baierl, Ulrike: Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer. Eine deutsche Dramatikerin im Spannungsfeld der literarischen Strömungen des Wilhelminischen Zeitalters. Bern 1985; sowie Weiershausen 2004, S. 227-252.

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textuellen Verweisebenen folge ich dabei den Spuren markierter Intertextualität,26 nehme also Textsignale zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Dabei ist weniger von Gewicht, ob die Beziehungen zum alludiertem Text intentional sinnhaft sind, als die Frage, ob sie in der Rezeption bereits eines zeitgenössischen Publikums sinnhaft zusammenwirken konnten. Zu unterscheiden ist also zwischen dem, was die Autorin bei Verfassen ihres Werkes gekannt haben konnte – als ausgebildete Schauspielerin den Klassiker-Kanon des deutschen Theaters sowie die Mythen der griechischen Antike, durch ihren Vater, den Dirigenten Heinrich Porges, das Opern-Repertoire sowie Nietzsches bis dahin veröffentlichten Werke – und was erst nach der Uraufführung ihres Stückes erschien – etwa Kenntnisse zu Nietzsches Krankheitszuständen oder Freuds erst später entwickelte Theorien des psychischen Apparates und Ödipus-Komplexes.

»D ÄMMERUNG « – EIN NATUR ALISTISCHES D R AMA? Anhand zweier Frauenfiguren stellt das fünfaktige Drama »Dämmerung« Krankheitsprozesse und deren Behandlung ins Zentrum. Isolde Ritter, die 21-jährige Tochter des ehemaligen Wiener Dirigenten Heinrich Ritter, der um ihretwillen in die Nähe von München umgesiedelt ist, leidet an einer sich verschlimmernden Augenkrankheit. Anstelle des Augenarztes, der Isolde bisher behandelt hat, erscheint die Ärztin Sabine Graef zum Hausbesuch und behandelt Isolde fortan erfolgreich. Als sich jedoch Heinrich Ritter und Sabine Graef ineinander verlieben, versucht Isolde in übersteigerter Vaterbindung, Selbstmord zu begehen. Die Aufregung so kurz nach einer Augenoperation führt zu völliger Erblindung. Der Vater entsagt seiner Liebe zu Sabine, obwohl diese bereit wäre, ihre Pläne, in Berlin ihre Karriere fortzusetzen, aufzugeben. Wie diese kurze Wiedergabe des Handlungskerns zeigt, wird die Frage weiblicher Entwicklung mit Diskursen von Krankheit und Heilung verbunden und im Stück zweipolig auf weibliche Figuren verteilt: Auf der einen Seite haben wir die Vatertochter Isolde, die, ganz für das Dasein einer höheren Tochter erzogen ist, ein Dasein, das durch ihr Augenleiden in doppelter Hinsicht unerreichbar scheint, weil ihr vermindertes Sehvermögen auch ihr Aussehen und damit die Aussicht, eine gute Partie zu machen, beeinträchtigt. Aspekte ihrer Selbstbildung – insbesondere die musischen Tätigkeiten des Lesens und Zeichnens – muss sie unterdrücken, um ihre Augen zu schonen; zugleich wächst die Ungewissheit ob ihres Aussehens und der reduzierten Ausstrahlungskraft ihrer Augen. Im fünften Akt des Stückes ist Isolde – gewissermaßen durch eigenes Verschulden – völlig erblindet; als neue Form der Kreativität 26 | Im Sinne von Helbig, Jörg: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996.

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schult sie ihre taktilen Fähigkeiten, indem sie Hülsenfrüchte mit dem Tastsinn zu sondern versucht, fragt aber ihren Vater unsicher, wie sie denn aussehe: I SOLDE : […] Sag’ mal, Papa – ganz aufrichtig – bin ich sehr häßlich geworden? R IT TER: Nein – Gewiß nein. I SOLDE : Aber die Augen – ganz blöd und starr – R IT TER: (leise): Man sieht sie ja nicht – wenn du das Glas aufhast. 27

Das Gespräch über die Augen in dieser doppelten Codierung von ›Gesicht‹ – Sehen und Antlitz – bezieht sich zurück auf den Dialog Heinrich Ritters mit der Ärztin Sabine Graef im ersten Akt. Während die Ärztin sich für den Krankheitsverlauf und die Verminderung des »Sehvermögens« interessiert, seufzt der Vater wehmütig: »Ach sie hatte so schöne Augen.«28 Den Gegenentwurf weiblicher Bildung repräsentiert Sabine Graef, Ärztin für Augenheilkunde, die einen für eine Frau des Fin de siècle bemerkenswerten wissenschaftlichen Werdegang aufzuweisen hat: Nach Studium und Promotion in Zürich und Paris ist sie unlängst von der »Académie Française« mit einem hochdotierten Preis ausgezeichnet worden.29 Im Stück selbst erweist sie sich als fachkundiger denn sämtliche Wiener und Münchner Kapazitäten, die Isolde bisher behandelt haben, und vollführt mit der Augenoperation an ihr – wie selbst der geschlechterkonservative Ritter zugeben muss – ein wahres »Meisterstück«.30 Wird Isoldes traditionelle weibliche Entwicklung mit dem Ziel der Verheiratung durch ihre Augenkrankheit unterlaufen, so ist Sabine Graefs untraditionelle Entwicklung zur Wissenschaftlerin begleitet vom Aspekt der notwendigen Isolierung. Nicht nur ist sie Waise, mithin familienlos, sondern sie nimmt auch den Preis, ihrer Karriere zuliebe auf Liebe und Familie zu verzichten, zunächst nüchtern in Kauf; als sie sich in Heinrich Ritter verliebt, wäre sie zwar bereit, ihre berufliche Lauf bahn aufzugeben – indem sie nicht nach Berlin geht, sondern in München bleibt und Isolde pflegt –, doch lehnt Ritter dieses Opfer entschieden ab. Dem Naturalismus zugeordnet ist dieses Stück, wie bereits angedeutet, durch seine Uraufführung auf der Berliner »Freien Bühne«, die Bölsche ausführlich in der Zeitschrift selben Titels rezensiert. Bemerkenswert an seiner Rezension ist, dass er die Eigenständigkeit von Bernsteins Dramatik gegenüber Hauptmann und Ibsen hervorhebt. Die landläufige Kritik am naturalis27 | Bernstein 2003, S. 136. 28 | Bernstein 2003, S. 37. 29 | Den Aspekt Sabine Graefs als Wissenschaftlerin vor dem Hintergrund realer akademischer Karrieremöglichkeiten für Frauen des Fin de siècle untersucht insbesondere Weiershausen 2004, S. 229-234. 30 | Bernstein 2003, S. 112.

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tischen Stil, solche Dialoge hervorbringen könne ja jeder, kontert er damit, dass es gerade die Alltäglichkeit und Kunstlosigkeit der Dialoge sei, die wahre Kunstbeherrschung erfordere: So wenig ich mich als unbedingter Freund etwa der speziell Schlaf’schen Technik fühle, so wenig finde ich doch, daß die Art, Leute reden und handeln zu lassen, wie es Ernst Rosmer mit vollendeter Beherrschung der Dinge versteht, ›Jeder kann‹. Es können’s noch so verzweifelt wenige, daß einem fast bange wird, und von diesen ist beispielsweise eben ein Bester, wie Schlaf, wiederum so sehr nach einer extremen Ecke hin entwickelt, daß seine Leistung nahezu nur indirekt die allgemeine Emporentwickelung fördert […]. 31

Was Bölsche in Bernsteins Drama verwirklicht sieht, ist die Verbindung der sozialen Dialogsituation als Bühnenexperiment mit einem ästhetischen Wirkungsziel. Das schließt seiner Einschätzung nach ein, dass »die psychologische Echtheit gerade einen etwas trivialen Witz« fordern kann, wobei die »dem Dichter auf’s Kerbholz [geschriebene] Trivialität« nicht mit ästhetischer Trivialität zu verwechseln sei.32 Der Befund ist nicht unerheblich, zum einen in Bezug auf Elsa Bernstein, wird der Ausschluss von Frauen aus dem Kanon doch besonders gerne mit Epigonalität und Trivialität begründet, zwei Kriterien, die laut Bölsche, hier ausscheiden, und zum zweiten in Bezug auf das mimetische Verfahren des Naturalismus, dem sich der Vorwurf der Kunstlosigkeit sozusagen naturnotwendig zugesellt.33 Auf thematischer Ebene bringt Bölsche die Milieu- und Vererbungstheorien des Naturalismus in Anschlag, zum einen in der zentralen Vater-TochterDyade, um deren Exklusivität die Tochter mit aller Gewalt kämpft, zum andern in der Frage, ob in der finalen Entscheidung des Vaters, der blinden Tochter zuliebe eigenem Lebensglück zu entsagen, eine Ahnung seiner möglichen Schuld aufdämmert, insofern er durch jugendlich-ausschweifende Sexualität und Lues-Infektion – eine Möglichkeit, die die Ärztin zu Beginn andeutet – das Augenleiden Isoldes ausgelöst haben könnte.34 Will man die Figurenkonstellation vor dem Hintergrund naturalistischer Dramatik skizzieren, so erweist sich die Vater-Tochter-Dyade in der Tat als innerfamiliales Milieu: Heinrich und Isolde Ritter sind als Vater und Tochter in traditionellen Geschlechtervorstellungen ebenso wie wechselseitiger Abhängigkeit befangen. Sabine Graef dringt von außen in dieses Milieu ein, in einer 31 | Bölsche 1893, S. 463, Hervorhebung im Original. 32 | Bölsche 1893, S. 463, Hervorhebung im Original. 33 | Zur Verschränkung von »gender, art and science« im Rekurs auf die naturalistische Programmatik vgl. Weigert 2007, S. 80. 34 | Bölsche 1893, S. 466.

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ähnlichen Rolle wie die ›Boten aus der Fremde‹ in den bekannten Dramen Hauptmanns und Ibsens. Im Unterschied zum naturalistischen Modell liegt allerdings der Umstand, dass Sabine Graef trotz bester wissenschaftlicher Performanz letztendlich nicht helfen kann, gerade nicht in einer Erbkrankheit begründet. Ihr anfänglich nüchtern geäußerter Verdacht, Isoldes Augenkrankheit könne durch eine frühere Lues-Infektion des Vaters verursacht sein, weist dieser energisch zurück: R IT TER (hilflos die Hände zusammenschlagend): In Kuckuks [!] Namen, ich verstehe Sie nicht. S ABINE : Sie sollen mir sagen, ob die Möglichkeit einer spezifischen Belastung väterlicherseits ausgeschlossen ist – R IT TER: Sie meinen wohl, ich weiß, was spezifische Belastung ist? S ABINE (schweigt einen Augenblick, dann so gleichmäßig wie alles Vorangegangene): Lues. R IT TER (die Hände in den Hosentaschen, sieht sie immer noch verständnislos an. Wiederholt gleichgiltig): Lues – (langsam den Klang des Wortes sich erinnernd). Was?! (Fährt empor mit beiden Händen an die Stirne, wütend.) Sind Sie verrückt? (In zorniges Gelächter ausbrechend.) Vielleicht trauen Sie mir noch zu, daß ich silberne Löffel gestohlen habe. 35

Ritters Ahnunglosigkeit ist durchaus plausibel für eine Laien, zumal selbst für Fachleute das Krankheitsbild Lues in den 1890er Jahren keineswegs ausdifferenziert ist, sondern als Überbegriff verschiedener Geschlechtskrankheiten kursiert.36 Die Ärztin schenkt seiner Beteuerung Glauben, untersucht Isolde erneut und erklärt ihm in einem späteren Dialog, dass eine Lues-Infektion als Krankheitsursache ausscheide: »Die längere Beobachtung der Krankheit hat mich überzeugt, daß ich mich geirrt habe, vollständig, mit meiner Vermutung.«37 Tatsächlich war sie dieser Spur nur aufgrund der vorherigen Behandlungsmethoden gefolgt – der Arzt hatte eine ungewöhnlich hohe Zahl an »Quecksilbereinspritzungen unter die Haut« vorgenommen38 –, nicht aufgrund der Symptome. Umgekehrt ist ihre eigene Berufsentscheidung für die Augenheilkunde sozial- und familiengeschichtlich, aber nicht genetisch be35 | Bernstein 2003, S. 47. 36 | Vgl. Käser 1998, S. 203, mit Bezug auf Nietzsche: »Die historische Semantik des Wortes ›Lues‹ zeigt jedoch, daß damit mehrere, heute klar unterschiedene Geschlechtskrankheiten unidentifiziert bezeichnet werden konnten. Es gab z.B. keine eindeutige Differentialdiagnose zwischen Gonorrhoe und Syphilis. Die Behandlung der Symptome war weitgehend identisch.«. 37 | Bernstein 2003, S. 85. 38 | Bernstein 2003, S. 38

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gründet: Ihr Vater, sagt sie, »war sein ganzes Leben lang augenleidend und erblindete kurz vor seinem Tode.«39 Ritters Schuld liegt demnach nicht in der unwissenden physischen Vererbung eines Primärsymptoms der Lues, sondern im Sozialen, genauer: in der Art der Beziehung, die er zu seiner Tochter aufgebaut hat. Bricht das Stück im Aspekt der Vererbung mit einem Grundmerkmal naturalistischer Vorstellungen, so weicht es zudem in struktureller Hinsicht ab, indem eine zweite Botenfigur eingeführt wird, der Student der Kunstgeschichte Carl Curtius, Sohn eines verstorbenen Freundes von Heinrich Ritter, der häufig bei Ritters zu Besuch ist und vergeblich um Isolde wirbt. Mit der Verdoppelung der Botenfunktion, die Vater-Tochter-Dyade von gleich zwei Seiten aufzubrechen, sind gewissermaßen zwei ›Liebesdreiecke‹ überblendet.40 Unter dem Eindruck der Berliner Aufführung, hat Bölsche Carl als »bloß drollige Nebenfigur« gewertet, die als solche hätte besser gegeben werden können.41 Interessanterweise hat bisher keine der neueren Interpretationen an ihm in seiner dramaturgischen Funktion Interesse genommen. Die vordergründig naturalistische Aufmachung des Stücks, die sich in den minutiösen Bühnenanweisungen wie gekonnt kunstlos-alltäglichen Dialogen manifestiert, wird somit bereits durch das Übererfüllen eines markanten strukturellen Aspektes unterlaufen. Hinzukommt, und das sollen die folgenden Abschnitt erhellen, das scheinbar ebenso kunstlos-alltägliche, um nicht zu sagen triviale Zitieren literarischer, musikalischer und philosophischer Mythologeme, die dem Schauspiel eine über den Naturalismus hinausweisende Tiefendimension geben.

L IEBESDREIECKE : TRISTAN UND I SOLDE UND D ON C ARLOS Die offensichtlichste Anspielungsebene ist Richard Wagners Oper »Tristan und Isolde« mit einem wörtlichen Zitat aus der vierten Szene des ersten Aktes. Isolde spricht mit Carl über die rot verfärbte, verdorbene Medizin – das Eserin, das Sabine Graef anstelle des zuvor von Professor Berger verordneten Atropin verschrieben hatte. »Rotes Gift.« sagt sie, »Das ist doch wie aus einem Trauerspiel.« Sie beschließt, einen Zettel auf die »Phiole« zu kleben, sucht nach einem mittelalterlichen Motto und verfällt auf »Tristan und Isolde. ›Für tiefsten Schmerz, für höchstes Leid gab sie den Todestrank.‹«42 Bereits Romana 39 | Bernstein 2003, S. 87. 40 | Kord 2007, S. 150-152, fokussiert den Aspekt des »Eternal Triangle« in Bernsteins Œuvre, allerdings weniger hinsichtlich der intertextuellen Bezüge als des Diskurses weiblicher Sexualität und Professionalität. 41 | Bölsche 1893, S. 466. 42 | Bernstein 2003, S. 64.

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Weiershausen hat darauf hingewiesen, dass das Drama hier ein »Spiel mit Versatzstücken« betreibt, ohne in der Analogie zum Wagnerschen Musikdrama aufzugehen. Während »Heinrich Ritter und Sabine Graef das ideale Liebespaar« bildeten, »das aneinander wächst und sich ergänzt«, finde sich in Isolde »das reine Liebesverlangen der Wagnerschen Isolde pervertiert«, die anders als der Konkurrent Marke bei Wagner am Ende nicht zu entsagen vermag.43 Diese Übertragung der Konstellation ist fraglich, bedenkt man, dass nicht das ideale, aber das tragische Liebespaar in Bernsteins Drama Vater und Tochter sind, tragisch, weil in einer verbotenen, inzestuösen, Liebe befangen. Der einsichtsvoll, aber zu spät entsagende Marke, wäre dann in Sabine Graef personifiziert. Freilich geht auch diese Konstellation, dem flüchtig-launischen Charakter der Anspielung gemäß, nicht in einem direkten Sinn auf. Nimmt man etwa das zentrale Textsignal des Todestranks, so ergeben sich eine Reihe von Diskrepanzen. Zunächst die Stelle bei Wagner. Isolde weist ihre Begleiterin Brangäne heftig zurecht: »Kennst du der Mutter / Künste nicht? / Wähnst Du, die alles / klug erwägt, / ohne Rat in fremdes Land / hätt‹ sie mit dir mich entsandt? / Für Weh und Wunden / gab sie Balsam; / für böse Gifte / Gegengift: / für tiefstes Weh, / für höchstes Leid – / gab sie den Todestrank.«44 Während auf der Brautfahrt der von Isolde nach Rezeptur ihrer Mutter bereitete und für Tristan (und sich selbst) vorgesehen Todestrank durch ihre Zofe mit einem Liebestrank vertauscht wird und die Tragik des Paares auslöst, ist in Bernsteins Schauspiel der von Isolde so etikettierte »Todestrank« eine von der Ärztin Sabine Graef verordnete Medizin; Isolde will ihn einnehmen, als sie in ihr die Konkurrentin um ihren Vater wähnt, scheitert aber mit ihrem Versuch der Selbsttötung mit der zu Gift gewordenen Arznei. Eine zweite wichtige Abweichung ist, dass bei Wagner Isolde nicht die Kranke ist, sondern bereits in der Vorgeschichte des Dramas den verwundeten Tristan gesundpflegt, erst zu spät erkennt, dass er derjenige ist, der ihren Bräutigam getötet hat, und im dritten Akt als die »beste Ärztin« zu dem nun tödlich Verwundeten gerufen wird.45 Im Unterschied dazu ist Bernsteins Isolde selbst die Kranke, die ärztlicher Therapie bedarf und die Mischung aus Todes- und Liebestrank für sich selbst bereitet. In der Art des arbiträren Zitierens erfolgt eine trivialmythische Verschiebung des »Tristan und Isolde«-Stoffes: Im Motiv des Todestrankes wähnt sich Isolde, um sich in eine verbotene Liebesverbindung zu halluzinieren, tragisch deshalb, weil ihr Liebesobjekt der eigene Vater ist. Ihr Begehren auf ihn und seine ausschließliche Liebe, das sie zu Beginn fragend formuliert und das Rit43 | Weiershausen 2004, S. 249. 44 | Wagner, Richard: Tristan und Isolde. In: Ders.: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden. Hg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt a.M. 1983, Bd. 4, S. 7-82, hier S. 25. 45 | Wagner 1983, S. 66.

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ter übereifrig bejaht – »Isolde: – Papa! / Ritter: Was mein Kind? / Isolde: Hast du mich lieb? / Ritter: Aber! / Isolde: Ich meine – so schrecklich lieb – über alles lieb – nur mich lieb. / Ritter: Ja ja!!!« –,46 bleibt am Ende unerfüllt, ahnt sie doch, dass es nicht durch Liebe sondern durch Mitleid motiviert ist, wenn er in der dyadischen Beziehung zu ihr verbleibt.47 Entsprechend ist auch die Metaphorik von Licht und Dunkel, Nacht und Tag verschoben. Das Auslöschen allen Lichts, die Begrüßung der Dämmerung, um vor Wonne zu erblinden, bildet den Höhepunkt des Musikdramas: O sink hernieder, / Nacht der Liebe, / gib Vergessen, / daß ich lebe; / nimm mich auf / in deinen Schoß, / löse von / der Welt mich los! / Verloschen nun / die letzte Leuchte; / was wir dachten, / was und däuchte, / all Gedenken, / all Gemahnen, / heil’ger Dämmrung / hehres Ahnen / löschte des Wähnens Graus / welterlösend aus. / […] / wonn’-erblindet, / erbleicht die Welt / mit ihrem Blenden: / […]. 48

Geradezu grotesk erscheint im Vergleich dazu Isoldes finale Äußerung »Man kann auch im Dunkeln leben«, die der Vater stumpf repetiert,49 und die im völligen Gegensatz steht zur Liebe Tristan und Isoldes, die erst bei Nacht ihre einmalige ekstatische Erfüllung finden darf. Ähnlich dem Verfahren Hauptmanns, bei dem »die Grundbedingung des Sehens, das Licht, zum Gegenstand des theatralischen Geschehens wird« und »über die im Nebentext festgehaltenen Lichtverhältnisse tatsächlich die Bedingungen des Sehens selbst thematisch werden«,50 findet sich auch in Bernsteins Schauspiel eine dramaturgische Umsetzung der sich verändernden äußeren Bedingungen des Sehens durch Lichtverhältnisse und zunehmende Verdunkelung. Dem Sonnenlicht zugeordnet ist im Gegensatz dazu Sabine Graef.51 Das Stück endet mit einer Bühnenanweisung, die der verbalen Vereinigung von Vater und Tochter »im Dunkeln« mit bitterer Ironie romantische Beleuchtung zugesellt: »(Sie stehen fest umschlungen. Das helle Mondlicht fällt über sie.)«52 Auch das zweite Liebesdreieck in Bernsteins Drama, der Versuch des Studenten Carl, Isolde ihrem Vater abzuwerben, nimmt Bezug auf eine bekannte dramatische Quelle, Schillers Jugenddrama »Don Carlos« (1787), bekannt auch in der Version der Oper von Giuseppe Verdi (1867). Im zweiten Akt wird er 46 | Bernstein 2003, S. 52. 47 | Bernstein 2003, S. 140f. 48 | Wagner 1983, S. 48f. 49 | Bernstein 2003, S. 150. 50 | Schößler, Franziska: Wahrnehmungsprozesse und Sehertum in Hauptmanns frühen Dramen. In: Maske und Kothurn, 46. Jg., Nr. 3-4, 2001/02, S. 131-150, hier S. 139f. 51 | Vgl. Weiershausen 2004, S. 241. 52 | Bernstein 2003, S. 150.

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entsprechend bezeichnet, einmal von Isolde, hauptsächlich um sich über ihn zu mokieren – »Alterieren Sie sich nicht, Don Carlos«53 –, ein anderes Mal von Heinrich Ritter.54 Isolde, die ganz auf ihren Vater fixiert ist, nimmt seine Verehrung kaum ernst und von seinem glühenden Vorsatz, sie zu heiraten und ihrem familialen Milieu zu entreißen, kaum Notiz. Auf Dialogebene erfolgt die Anspielung auf Schillers Helden, der sich durch seinen autoritären Vater um die Frau, die er liebt, beraubt sieht, ähnlich trivialmythisch wie die auf »Tristan und Isolde«. Im dritten Akt tritt Carl vor Heinrich Ritter hin, um ihn auf seine »Vaterpflicht« aufmerksam zu machen, Seine »Manneswürde« verbiete es ihm, »ferner mitanzusehen, wie Isolde – mißhandelt wird.«55 Als er erklärt, Ritter habe nicht nur sein »äußeres«, sondern auch sein »inneres Vaterrecht an Isolde verwirkt«, weshalb er, Carl, Isolde heiraten wolle, verweist ihm der Gescholtene dieses Ansinnen aufs Heftigste.56 Bei der nächsten Begegnung der beiden, Carl nimmt Abschied, um sein Studium in Berlin fortzusetzen, nimmt Ritter ihm das Ehrenwort ab, auf Isolde zu verzichten, auch wenn er ihn im Augenblick für einen »Tyrannen« halte.57 Ritter rückt durch die Anspielung in die Nähe des hartherzigen und gefühllosen König Philipp II., dessen Sohn Carlos sich ungeliebt und für nicht ernst genommen fühlt. Einen Unterschied bildet freilich, dass das Liebesdreieck in Schillers Drama in der Konkurrenz zwischen Vater und Sohn um dieselbe Frau besteht. In seiner energischen Absage an Carl, sich um Isolde kümmern zu dürfen, scheint die tragische Schuld Heinrich Ritters durch, der seine Tochter als Liebesobjekt an die Stelle seiner Frau gesetzt hat. Wie er anfangs betont, ähnelten sich seine verstorbene Frau und Isolde »wie zwei Schwestern«,58 was auch Isolde bestätigt: »ich bin ja der Mama wie aus dem Gesicht geschnitten«.59 Angespielt wird damit auf das Inzestmotiv, das auch in der Problematik des Schiller’schen Stückes aufscheint. Indem Philipp II. die wesentlich jüngere, vormalige Geliebte des eigenen Sohnes zu seiner Gemahlin gemacht hat, vertritt sie nun Mutterstelle. Carlos selbst erscheint sein Begehren auf sie als inzestuös pervertiert.60 Bei Bernstein erfolgt durch die Apostrophe Carls als Don Carlos dagegen eine Re-Legitimierung des jugend53 | Bernstein 2003, S. 57. 54 | Bernstein 2003, S. 65. 55 | Bernstein 2003, S. 102. 56 | Bernstein 2003, S. 104. 57 | Bernstein 2003, S. 113. 58 | Bernstein 2003, S. 46. 59 | Bernstein 2003, S. 77. 60 | Reck, Hartmut: Vom Verschwinden der Helden im modernen Gesellschaftssystem. Zu Schillers Don Carlos. In: Die Wahrheit hält Gericht. Schiller Helden heute. Hg. von der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen. Weimar 2005, S. 92-101, hier S. 95.

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lichen Schwärmers, der nicht seinen eigenen, sondern den Vater der Geliebten vergeblich in seine Schranken fordern will und dabei an den neuralgischen Punkt stößt, indem der Vater sein Liebesobjekt nicht preisgeben will.61 Kaum zufällig heißt Ritters verstorbene Frau und Isoldes Mutter wie Schillers Königin, »Elisabeth«.62 Augenlicht, Sonnenlicht und die Notwendigkeit menschlicher Tränen als körperlicher Gefühlsausdruck bilden darüber hinaus eine dominante Motivik in Schillers Stück. Vergeblich versucht der Sohn, dem tyrannischen Vater eine Träne abzupressen: Durch welchen Mißverstand hat dieser Fremdling Zu Menschen sich verirrt. – Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind ja Tränen, Sein Aug’ ist trocken, ihn gebar kein Weib – O, zwingen Sie die nie benetzten Augen, Noch zeitig Tränen einzulernen, sonst, Sonst möchten Sies in einer harten Stunde Noch nachzuholen haben […]. 63

Bezichtigt Carl Ritter der Unmenschlichkeit und Lieblosigkeit, so ist er selbst indessen allenfalls eine Karikatur des spanischen Prinzen.64 Seinen Abschied von Isolde, mit tragischem Pathos vorgetragen, er habe Isoldes »grausame[m] Vater« seine »Ehre verpfändet« und dürfe ihr »das Ungeheure« – dass dieser Sabine zu heiraten gedenkt – nicht mitteilen, kennzeichnet eine pubertäre Grausamkeit, die Isolde gewissermaßen den Todesstoß versetzt.65 Eine weitere Umcodierung erfolgt im Motiv der Tränen als Ausdruck der Menschlichkeit, denn bei Bernstein ist es die unglückliche Tochter, die lichtempfindlich und augenleidend ist und ihre Tränen nachgerade unterdrücken muss, um ihren Gesundheits- und Normalitätszustand nicht zu beeinträchtigen. 61 | Dieses Festklammern an der Tochter manifestiert sich auch darin, dass er sie hat zu Hause behandeln lassen, anstatt sie in eine Fachklinik zu bringen. Zu Sabine Graef sagt er: »N-ein. Preisgeben mein Kind der Willkür und Laune von so Wärterinnen. Das ist gegen meine Prinzipien.«. Bernstein 2003, S. 39. 62 | Bernstein 2003, S. 119. 63 | Schiller, Friedrich: Don Carlos. Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1981, Bd. 2, S. 7-219. Hier S. 47, II.2, V. 1078-1083. 64 | Vgl. Bernstein 2003, S. 22. Carls Mutter will mit ihm im Sommer die Niederlande bereisen, damit er die Galerien kennenlerne – während Schillers Don Carlos vergeblich seinem Vater die Entsendung nach den Niederlanden abzutrotzen versucht. 65 | Bernstein 2003, S. 126.

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E RKENNTNIS UND V ERBLENDUNG : F AUST UND Ö DIPUS Hinter diesen explizit eingespielten Referenzen, über die die inzestuöse VaterTochter-Dyade von verschiedenen Seiten bearbeitet wird, eröffnen sich weitere Anspielungsebenen älterer und neuerer Mythen. Das große Thema des Stücks ist die Konfrontation der epistemologischen Felder Kunst und Wissenschaft in Verbindung mit der Frage nach dem Geschlecht. Eine Anspielung auf Goethes »Faust« unterstellt bereits der zeitgenössische Kritiker Paul Schlenther, dessen Rezension der Aufführung ein Zitat im Titel führt: »Was kann dich in der Dämmrung so ergreifen?«66 – Worte Wagners an Faust, als dieser den merkwürdige Kreise ziehenden schwarzen Hund beobachtet, dessen Tiefendimension seinem Famulus völlig entgeht: »Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel; / Es mag bei Euch wohl Augentäuschung sein.«67 So mag der Titel »Dämmerung« selbst eine gewisse Replik darstellen auf die faustische Erkenntnissuche jenseits rationaler Wissenschaft. Eine weitere Replik ist zu vermuten, wenn Isolde den Flacon mit der verdorbenen Medizin als »Phiole« bezeichnet, entsprechend dem Trank, den Faust in seinem Studierzimmer in der Nacht auf Ostern zu nehmen vorhat. Zudem hat ihr Vater mit Goethes Faust den Vornamen »Heinrich« gemeinsam. Trotz des Konnexes zu Isolde und Heinrich Ritter, ist es jedoch Sabine Graef die als ›faustisch Strebende‹ erscheint, die an Erkenntnis durch Wissenschaft glaubt, dafür jedoch auf Lebensglück verzichten muss. Als Ritter und sie sich einander annähern, beginnt sie die Begrenztheit ihres bisherigen Strebens zu fühlen: »Was kann ich dafür, wenn ich an einem geistigen Scotom leide? Wenn ich ein so beschränktes Gesichtsfeld habe? Ich weiß zu viel Kirchhofsgeschichten. Und Schlimmeres. Glauben Sie, daß alle Tragödien mit dem Tode enden? Bitte! bitte!«68 Der Hinweis auf ihr geistig beschränktes Gesichtsfeld korreliert mit dem Dramenende, an dem eine schlimmere Lösung als der Tod steht, nämlich die endgültige Einschränkung des körperlichen Gesichtsfeldes von Isolde, das zugleich die geistige ›Beschränktheit‹ von Vater und Tochter manifestiert. Das Motiv des sich mindernden Sehvermögens bis hin zur Blindheit lässt weiter an den Ödipus-Mythos denken: Vatermord und Inzest als tragischer Schuldzusammenhang, dessen Einsicht zu spät erfolgt, so dass Ödipus sich

66 | Schlenther, Paul: Was kann dich in der Dämmerung so ergreifen? In: Magazin für Litteratur, Bd. 62, Berlin 1893, S. 222-223. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3 Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 1982, hier S. 41, V. 1146. 67 | Goethe 1982, S. 42, V. 1156f. 68 | Bernstein 2003, S. 98.

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selbst blendet.69 Dem erlöschenden Augenlicht entspricht dabei die Entwicklung einer inneren Einsicht. Das Augenleiden und Isoldes Umgang damit spiegeln entsprechend den Verblendungszusammenhang ihrer übertriebenen Vaterbindung. An mehreren Stellen flirtet sie mit ihrem Vater, insistiert auf seine Anerkennung ihrer Schönheit. Dass sie der Mutter ähnelt, löst den Wunsch aus, an ihrer Stelle die Geliebte des Vaters zu sein. Im Gespräch mit Sabine betont sie: »Er ist ja wirklich so’n gutes Mannerl.« 70 Im selben Gespräch wirft Sabine Graef ihrer Patientin vor, Heinrich Ritter im Unklaren über ihren wirklichen Krankheitszustand zu lassen: Sie sind nicht offen. Sie erhalten Ihren Vater in einem fortwährenden Irrtum über Ihren Zustand – und über die Möglichkeiten der Besserung. Ich könnt’ es nicht. Ich könnte nichts verheimlichen. Ich bitte Sie – der nächste Zufall kann ihm weit härter – wie an dem ersten Abend – grad daß ich mich noch besann – und er glaubt, daß Sie links noch halbe Sehschärfe haben. Nicht ein Zehntel. Sie wissen’s doch.71

Isoldes darauffolgende neugierige Fragen zu Sabines Umgang mit nackten Menschen beiderlei Geschlechts und ihrem medizinischen Wissen über Sexualität, münden in ein schwelgendes Erinnern erotischer Tagträume: I SOLDE (wirft die Lippen auf und den Kopf zurück): Ich bin doch erwachsen. Geheimnisse machen neugierig. Man denkt nach darüber – und es ist angenehm – so ein schläfriger Sommerabend – in der weichen Hitze … … (lacht mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin, biegt den Kopf in den rechten Arm zurück und küßt sich leidenschaftlich auf die linke Hand).72

Sabine Graef, deren Hinweis auf Isoldes Unoffenheit ihrem Vater gegenüber bereits ins Psychopathologische verweist, ist schockiert und empfiehlt, dass Isolde alle Tage »eine kalte Douche« bekommen sollte, um diese »halbwüchsige Hysterie« zu behandeln.73 Damit äußert sie eine interessante Nebendiagnose, die die psychischen Aspekte hinter dem physischen Leiden Isoldes andeutet. 69 | Dass Bernstein die Sophokleische Tragödie bekannt war, ist anzunehmen. Sie selbst hat Stücke zu antiken Stoffen verfasst. Vgl. Mering, Sabine von: »No servitude is as miserable as that of women.« Elsa Bernstein’s Neoclassical Tragedies. In: Kraft, Helga und Lorenz, Dagmar C. G. (Hg.): From Fin-de-siècle to Theresienstadt. The Works and Life of the Writer Elsa Porges-Bernstein. New York 2007, S. 115-131. 70 | Bernstein 2003, S. 77. Vgl. auch S. 72. 71 | Bernstein 2003, S. 78. 72 | Bernstein 2003, S. 81. 73 | Bernstein 2003, S. 82. Auf den Aspekt der Hysterie in psychoanalytischen Zusammenhängen der Triangulierung geht insbesondere Kord 2007, S. 151f., ein.

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Der Hysterie-Begriff ist wohl noch im Charcot’schen Sinne zu verstehen, was auch zu Sabine Graef passt, die nach ihrer Promotion in Paris hospitiert hat. Rein zeitlich betrachtet, können nur die frühesten Schriften Sigmund Freuds über den Zusammenhang von Hysterie und Hypnose von Einfluss gewesen sein, etwa die später in die »Studien über Hysterie« eingegangene »Vorläufige Mitteilung«, die im Frühjahr 1893 erscheint. Bemerkenswert ist in diesem Text allemal die Abkehr von der Charcot’schen Vorstellung, Hysterie sei heriditär verursacht; stattdessen geht Freud von einem psychischen Trauma aus, dessen initiale Episode es unter hypnotischem Einfluss – man beachte die Metaphorik – »zu voller Helligkeit zu erwecken« gilt.74 Unter den Freud’schen Hysterie-Begriff, der von wiederkehrenden körperlichen Symptomen einer ansonsten physisch gesunden Person ausgeht, passt Isolde freilich nur bedingt, da die Ätiologie ihres Augenleidens nicht ermittelbar scheint und der Ärztin Rätsel aufgibt.75 Einzig dass es nicht heriditär ist, scheint gewiss. Indem Bernstein die Frage der Ursache offenlässt und eine Übertragung psychisch traumatischer Prozesse auf die Physis der Patientin nahelegt, wird der ödipale Verblendungszusammenhang eingespielt: der traumatische Verlust der realen Mutter, die die halbwüchsige Isolde auf gesellschaftlichen Veranstaltungen zu ihrem alter ego stilisiert hatte, wird in einen symbolischen ›Muttermord‹ verwandelt, um sich den Vater als Liebesobjekt zu sichern, was sie in hypnotisch-somnambulem Zustand im Tagtraum halluziniert. Zwar ist Isolde keine Muttermörderin, insofern sie den Tod ihrer Mutter durch ihre Geburt verursacht hätte – ein Vorwurf, den sich zum Beispiel Don Carlos macht –, zu ihren Strategien pathologischen Begehrens zählen aber die Vertreibung der »Großmutter« aus dem Leben ihres Vaters – dies ihr mehrfach erwähntes, eigentliches Motiv, mit ihm von Wien fortzuziehen76 –, sowie die Vertreibung einer möglichen »Stiefmutter« 77 in der Ärztin Sabine Graef.

74 | Freud, Sigmund: Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Vorläufige Mitteilung. In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 1 Werke aus den Jahren 1892-1899. Unter Mitwirkung von Marie Bonaparte. Hg. von Anna Freud. Frankfurt a.M. 1999, S. 81-98, hier S. 85, Hervorhebung im Original. Die auf Dezember 1892 datierte Schrift erscheint im Neurologischen Zentralblatt, Nr. 1 und 2, 1893. Vgl. Freud 1999, S. 81 und 577. 75 | Bernstein 2003, S. 84. 76 | Vgl. etwa Bernstein 2003, S. 52, 66f. und 104. 77 | Bernstein 2003, S. 127.

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TR ANSFORMATIONEN : N IE T ZSCHE CONTR A W AGNER Weibliche Transformationen Nietzsches, seines Helden Zarathustra oder auch seines Entwurfs des Übermenschen sind zur Zeit der Jahrhundertwende nicht ungewöhnlich, Hedwig Dohm, die mit Elsa Bernstein über ihre Tochter Hedwig Pringsheim bekannt ist, präsentiert etwa um dieselbe Zeit ihre Titelfigur »Sibilla Dalmar« (1896) als migräneleidende Nietzsche-Karikatur.78 Nietzsches ›verschwommene‹ Ansichten von Frauen, seine metaphorische Beschwörung von Weiblichkeit in Bezug auf Wahrheit und Lüge, Tradition und Emanzipation kommen mithin auch in den Blick für die Konkurrenzsituation zwischen der Patientin Isolde und ihrer Ärztin. Das Textsignal für eine mögliche Replik auf Nietzsche bildet der Name der Ärztin, Sabine Graef, der Carl spontan an einen berühmten Ophtalmologen denken lässt: »Carl: Gnädiges Fräulein sind mit dem berühmten Augenarzt Gräfe verwandt? / Sabine: Nein. Ich heiße Graef. Ohne e.« 79 Die Anspielung gilt aller Wahrscheinlichkeit nach Albrecht von Graefe, dessen Vetter und zeitweiliger Assistent Alfred Karl Graefe hieß und einer der Augenärzte Nietzsches war.80 Auch wenn fraglich ist, ob Bernstein biographisches Wissen um Nietzsches Augenleiden und Behandlungen bereits verfügbar war, löst die Replik Überlegungen aus, inwiefern Isolde als Patientin mit ihrer selbstverschuldeten Erblindung als Gegenentwurf des Philosophen bzw. als Gegenentwurf zu dessen Motiv des »Krankheitsgewinns« und Gebaren als »Anti-Patient« verstanden werden kann, wie sie insbesondere Rudolf Käser untersucht hat.81 Unterscheiden muss man gewiss zwischen bestechend parallelen Aspekten im Krankheitsbild- und verlauf – wie etwa dem Lues-Verdacht mit eingeschränktem Gesichtssinn als Primärsymptom und Quecksilbereinspritzungen als typischer Behandlungsmethode; der Atropin-Kur als Kunstfehler im Falle eines Glaucoms; oder auch der immer dunkler werdenden Brille 82 –, und zur Pro78 | Ausführlicher hierzu Pailer, Gaby: Ein Philosoph für alle und keine: Weibliche Figurationen Zarathustras im fiktionalen Werk Hedwig Dohms. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 40/2, Toronto 2004, S. 135-150. Zu weiteren Autorinnen vgl. dies.: »Exkurs: ›Überfrauen‹. Zur Nietzsche-Rezeption in der Literatur von Frauen um 1900«. In: Dies.: Schreibe, die du bist. Die Gestaltung weiblicher ›Autorschaft‹ im erzählerischen Werk Hedwig Dohms. Zugleich ein Beitrag zur Nietzsche-Rezeption um 1900. Pfaffenweiler 1994, S. 137-154. 79 | Bernstein 2003, S. 28. 80 | Vgl. Volz, Pia Daniela: Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Würzburg 1990, S. 105. Für Hinweise darauf danke ich Rudolf Käser. 81 | Käser 1998, Kap. 6, S. 179-207. 82 | Ausführlich dazu das Kapitel »Die Augenleiden eines ›Dreiviertel-Blinden‹« in: Volz 1990, S. 90-117.

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duktionszeit landläufigen Vorstellungen wie etwa der Nordau’schen These kultureller »Entartung« (1892/93) als ursächlich für Nietzsches Leiden.83 Bedeutend im engeren intertextuellen Sinn sind Äußerungen aus Nietzsches Werken selbst, in denen Gesundheit und Krankheit metaphorisch zum Einsatz kommen, etwa sein Aphorismus »Moral für Ärzte« aus der »GötzenDämmerung«, der zu einer täglichen Dosis Ekel gegenüber Kranken auffordert,84 wie zu der Denkfigur des Gewinns aus seinen eigenen Leiden für die philosophische Produktivität. Vergleicht man dem Bernsteins Heldin, so fungiert Krankheit, und insbesondere Augenleiden, hier nicht als Stimulans der Erkenntnis, sondern verweist auf das Gegenteil; sie ist Ausdruck mangelnder Einsicht in die geschlechtlich codierten Entwicklungsvorstellungen sowie die Zuordnung weiblicher Sonderressorts in den Systemen von Kunst- und Wissensproduktion. Vor diesem Hintergrund gelesen, ist Isoldes Strategie die einer systemisch bedingten Bildungsverweigerung, die durch ihre Krankheit in eine psychotische Krise gerät, im Kontrast zum Bildungshunger der gesunden Akademikerin Sabine. Für die Nietzsche-Bezüge in Bernsteins Drama geht der direktere Weg indessen über Wagner, an den Nietzsche sich bekanntlich erst enthusiastisch anbindet – etwa in der »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« –, dem er später aber eine radikale Absage erteilt, vor allem in »Der Fall Wagner«, einer noch von ihm selbst veröffentlichten Schrift, die Bernstein im Prinzip kennen konnte. Ritter ist nicht nur Wagnerianer – mit Büste auf dem Piano, 85 mit Rückerinnerungen an verschiedene Lebensstadien entlang Inszenierungen, wie etwa der »Meistersinger«;86 genau genommen repräsentiert er, gewesener Wiener Dirigent, nunmehr Münchner Klavierlehrer für Schulmädchen, den von seiner Dresdner Hofkapellmeisterstelle expellierten Richard Wagner selbst – Isolde sagt zum Beispiel, er sei einmal ein »Revolutionär« 87 gewesen –, dessen Geschöpf anstelle von Tonkunstwerken seine leibhaftige Tochter ist. In seiner Schrift schmäht Nietzsche den einst verehrten Komponisten als Produzenten krankhafter, dekadenter Kunst, die sich ihrer Dekadenz nicht bewusst werden will; der auf große und ganze Menschheitslösungen und -erlösungen zielt und dabei sich und die Menschheit betrügt:

83 | Volz 1990, S. 13f. 84 | Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. 6, S. 55-161, hier S. 134-136, Hervorhebung im Original. Vgl. Käser 1998, S. 179. 85 | Vgl. Bühnenanweisung zum ersten Akt, Bernstein 2003, S. 5. 86 | Bernstein 2003, S. 44. 87 | Bernstein 2003, S. 75.

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Unsere Aerzte und Physiologen haben in Wagner ihren interessantesten Fall, zum Mindesten einen sehr vollständigen. Gerade, weil Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Überreiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par excellence, der Cagliostro der Modernität. 88

Wenn in Bernsteins Drama Heinrich Ritter ein analoger Fall zu dem von Friedrich Nietzsche pathologisierten und als Krankheits(an)fall für die moderne Menschheit perhorreszierten Richard Wagner ist, dann ist seine Tochter Isolde in Analogie dazu als Übersetzung Wagners’scher Frauenfiguren »in’s Reale, in’s Moderne« zu lesen, wie es Nietzsche vorschlägt: »Welche Überraschungen man dabei erlebt! Würden Sie es glauben, dass die Wagnerischen Heroïnen sammt und sonders, sobald man nur erst den heroischen Balg abgestreift hat, zum Verwechseln Madame Bovary ähnlich sehn!«89 Womit wir wieder – fast – beim Naturalismus wären, zumindest beim französischen Realismus à la Flaubert, dessen Heldin als unbefriedigte Gattin eines Landarztes sich am Ende selbst tötet. Auf Figurenebene des Schauspiels haben wir also auf der einen Seite Ritter als Karikatur Richard Wagners, des Künstlers, der sich selbst und die Welt betrügt; auf der anderen Seite die Tochter Isolde als ins Reale übertragene Heroine Wagners, die zugleich einen Gegenentwurf zum AntiPatienten Nietzsche darstellt, der ›an Wagner‹ wie an einer Krankheit leidet.90 Um es kurz zusammenzufassen: Im Zentrum des naturalistischen Diskurses steht ein über Gesundheit und Krankheit codierter Entwicklungsbegriff, der aus dem naturwissenschaftlichen Bereich auf gesellschaftliche und individuelle Prozesse übertragen wird. Auf metaphorischer Ebene wird dabei ein geschlechtergeschichtliches Modell auf die anvisierte progressive Kunstproduktion übertragen. Vor diesem Hintergrund wurde gefragt, wie sich Elsa Bernsteins »Dämmerung« zu naturalistischen Verfahren der Produktion von Theatertexten verhält. Während sie einerseits auf der Ebene von Dialogführung, Bühnentechnik und Licht- und Raumverhältnissen deutlich an Autoren wie Hauptmann anknüpft, verweigert sie andererseits die Struktur des quasi-naturwissenschaftlichen Experiments, indem sie heriditärer Motivik eine entschiedene Absage erteilt und die Funktion des Boten aus der Fremde ver88 | Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1980. Bd. 6, S. 9-54, hier S. 23. Hervorhebung im Original. 89 | Nietzsche 1980, S. 34. 90 | Vgl. Käser 1998, S. 195. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Wagner vgl. auch Borchmeyer, Dieter: Richard Wagner und die Literatur der frühen Moderne. In: Mix, YorkGothart (Hg.): Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nr. 7, München 2000, S. 207-218 und 612f.

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doppelt. In symbolisch stringenter Präparationstechnik blendet sie zwei Liebesdreiecke in- und übereinander, um die inzestuöse Vater-Tochter-Beziehung als dekadent oder krankhaft zu markieren, demgegenüber sich das gesunde Streben nach Selbst- und Welterkenntnis der Ärztin nicht durchsetzen kann. Alle angespielten Mythen werden in geschlechtlichen Decodierungen präsentiert. Dabei geht es durchaus um die Emanzipation der schöngeistigen Literatur von der Tyrannei der ›höheren Töchter‹ – wie es die Naturalisten propagieren –, allerdings im Sinne einer Kritik dieses Entwurfes selbst, das heißt, einer Emanzipation aus falschen kulturellen und literarischen ›Vaterbindungen‹.

L ITER ATUR Ametsbichler, Elizabeth Graff: Society, Gender, Politics, and Turn-of the Century Theater. Elsa Bernstein (ps. Ernst Rosmer) and Arthur Schnitzler. Dissertation University of Maryland 1992. Bänsch, Dieter: Naturalismus und Frauenbewegung. In: Scheuer, Helmut (Hg.): Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement. Stuttgart u.a. 1974, S. 122-149. Bernstein, Elsa [Pseudonym: Rosmer, Ernst]: Dämmerung. Schauspiel in fünf Akten. Berlin 1893. Bernstein, Elsa: Dämmerung. Hg. von Susanne Kord. New York 2003. Bölsche, Wilhelm: »Dämmerung«. In: Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit, 4. Jg., Nr. 1-2, Berlin 1893, S. 462-466. Bölsche, Wilhelm: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik. In: Ruprecht, Erich (Hg.): Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892. Stuttgart 1962, S. 85-102. Borchmeyer, Dieter: Richard Wagner und die Literatur der frühen Moderne. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7, München 2000, S. 207-218 und 612f. Brinker-Gabler, Gisela: Weiblichkeit und Moderne. In: Mix, York-Gothart (Hg.): Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Nr. 7, München 2000, S. 243-256 und 615-617. Colvin, Sarah: Women and German Drama. Playwrights and their Texts, 18601945. Rochester 2003. Conrad, Georg Michael: Zur Einführung. In: Ruprecht, Erich (Hg.): Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892. Stuttgart 1962, S. 55-58. Frels, Onno: Zum Verhältnis von Wirklichkeit und künstlerischer Form bei Arno Holz. In: Bürger, Christa, Bürger, Peter und Schulte-Sasse, Jochen (Hg.): Naturalismus/Ästhetizismus. Frankfurt a.M. 1979, S. 103-138.

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Emanzipation und Augenlicht

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Die Lust am Scheitern Ärztinnen in populärer Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts Gabriela Schenk

»Sie sind doch ein eifriger Verteidiger des Frauenstudiums, Herr Doktor?« fragend sah sie zu ihm auf. »Ja – aber für Sie nicht – für Sie nicht.«1

Die Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium, insbesondere zum Medizinstudium, wurde in den zeitgenössischen Medien teils heftig diskutiert. Die von zwei thematisch einschlägigen Romanen2 aus den 1950er Jahren angeregte Idee, dem Bild der Ärztin in der belletristischen Literatur nachzugehen, motivierte die Suche nach älteren Romanen, deren Hauptperson (oder wichtige Nebenfigur) eine Ärztin ist. Das Thema wurde so weit wie möglich, d.h. bis in die Anfänge des Frauenstudiums im 19. Jahrhundert, zurückverfolgt, um die Aufnahme der zeitgenössischen Diskussion um Frauenstudium im Allgemeinen und Medizinstudium für Frauen im Besonderen in die Literatur zu erkunden.3

1 | Ury, Else und Sedlacek, Robert : Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Erzählung für junge Mädchen. Berlin o.J. (1921). 2 | Markwalder, Marga: Sinfonie der Liebe. Zürich 1953, sowie Markwalder, Marga: Versunkene Melodie. Zürich und Stuttgart 1957. 3 | Es gibt zahlreiche, auch (auto-)biografische Werke zur sozialen Realität der ersten Medizinerinnen und Studentinnen, z.B. Bachmann, Barbara und Bradenahl, Elke: Medizinstudium von Frauen in Bern, 1871-1914. Dissertation Universität Bern 1990; Verein Feministische Wissenschaft Schweiz: Ebenso neu als kühn. 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich. Zürich 1988; Kienle, Else: Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin. Berlin 1932; Heusler-Edenhuizen, Hermine: Du musst es wagen! Lebenserinnerungen der ersten deutschen Frauenärztin. Reinbek b. H. 1999 (Original: Die erste deutsche Frauenärztin. Opladen 1997); Brupbacher, Paulette: Meine Patientinnen. Aus dem Sprechzimmer einer Frauenärztin. Zürich 1953.

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Der zeitliche Rahmen dieser Untersuchung4 beginnt also mit der Zulassung der Frauen zu den (europäischen) Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts5 und erstreckt sich bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts. Populäre Literatur erweist sich dabei als Konfliktschauplatz: Das soziohistorische Faktum des Eintritts der Frauen ins (Medizin-)Studium wird im populärliterarischen Feld modelliert.6 Im Folgenden wird die Axiologie der fiktiven Welt sowie deren hypothetisches Wirkungspotential7 auf die zeitgenössischen Leserinnen und Leser anhand der Konflikte oder, um mit Vladimir Propp zu sprechen, anhand von Prüfungen und Proben diskutiert und dargelegt.8 In den untersuchten belletristischen Werken über Ärztinnen dominieren irritierend oft Handlungsmomente, die hier unter dem Begriff des Scheiterns subsumiert werden sollen. Die hoch motivierten und intelligenten Medizinstudentinnen brechen ihr Studium ab, Ärztinnen ziehen sich aus ihrem Beruf zurück, brechen zusammen, erkranken und/oder scheitern in ihrem Privatleben. Aufgegeben wird aus verschiedenen Gründen, allerdings meist um der Liebe bzw. der Karriere eines Mannes willen, sogar der des Sohnes, wie das Beispiel von Marie Zuberbühler in »Die Wunderdoktorin« (1910) von Lisa Wenger zeigt: Alles was ihr sonst Freude gemacht hatte, wurde ihr gleichgültig. Nur das Eine blieb für sie bestehen, dass der Sohn fort musste, hinausgedrängt durch die Mutter. Das durfte nicht sein. […] Einmal, in einer schlaflosen Nacht durchzuckte es sie wie ein Blitz. In grellem Licht stand ein Ausweg vor ihr, und in demselben Augenblick wusste sie, dass es der Weg war, den sie gehen musste. Wie ein Messer schnitt es ihr ins Herz und nahm ihr

4 | Dieser Artikel zeigt einen Ausschnitt aus meinem Dissertationsprojekt, das sich mit dem Bild der Ärztin in der Literatur beschäftigt und auf der historischen Entwicklung des Berufs der Ärztin basiert. 5 | Zu den Anfängen des (Medizin)Studiums von Frauen siehe z.B. Bachmann, Barbara und Bradenahl, Elke: Medizinstudium von Frauen in Bern, 1871-1914. Dissertation Universität Bern 1990 sowie Verein Feministische Wissenschaft 1988. 6 | Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 2008. 7 | Über das Wirkungspotential der Literatur siehe z.B. Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Stuttgart 1977, und Sommer, Roy: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: Berchem, Theodor u.a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 41, Berlin 2000, S. 319-341. 8 | Propp, Vladimir und Eimermacher, Karl: Morphologie des Märchens. Frankfurt a.M. 1975.

Die Lust am Scheitern

den Atem. Mit weit offenen Augen lag sie und starrte ins Leere. Was da vor ihr aufstand und sie wie eine Riesin aus mächtigen Augen mahnend ansah, war die Entsagung. 9

Diese ›Entsagung‹ erscheint aus heutiger Sicht eher als ein Scheitern. Die Beurteilung durch zeitgenössische LeserInnen mag damals etwas anders ausgefallen sein: Anhand der angebotenen literarischen Coping- und Passingstrategien wird Scheitern möglicherweise als Überlebensstrategie gemäß den Regeln des Genres gesehen. Wertneutral analysiert ist in diesem Verhalten und in seiner narrativen Darstellung die literarische Reaktion auf eine Irritation der konfliktgeladenen sozialen Realität zu erblicken. Die Formen dieser Reaktion gilt es im Folgenden zu analysieren.

K ONFLIK T N R . 1: K R ANKENSCHWESTER UND K INDERMÄDCHEN Eine Möglichkeit, die Medizinerinnen den Regeln des Genres gemäß literarisch scheitern zu lassen, war, sie gar nicht erst als Ärztinnen zu präsentieren. Die gesellschaftliche Diskussion darüber, ob die Frauen der mittleren und höheren Gesellschaftsschichten überhaupt arbeiten sollten, wurde von derjenigen abgelöst, welche Berufe für Frauen angemessen seien – notgedrungen, da die vielen unverheirateten Frauen sich unter den veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen irgendwie erhalten mussten.10 Diese Positionen wurden auch anhand literarischer Figuren aufgezeigt und verhandelt; die Krankenpflegerin ist diesbezüglich im medizinischen Bereich die vorherrschende Figur. Professor Clementi in Johanna Spyris »Sina« (1884) drückt dies folgendermaßen aus: »Sollte nun auch ein junges Mädchen den unabweisbaren Beruf in sich fühlen, Arzt zu werden, nun, so soll sie ihm folgen. Ich glaube zwar – zur Ehre der Frauen sage ich es – sie fühlen diesen Beruf in sich, indem sie den des Arztes mit dem der Krankenpflegerin in ihren Gedanken zusammenschmelzen. Wo ist die Frau, die nicht lieber verbinden und heilen als schneiden und brennen würde? Warum denn den Beruf wählen, in dem der Mann ohne Zweifel ungleich mehr und Besseres leisten kann und nicht denjenigen, in dem die Frau nie erreicht wird, wo der Mann sich gar nicht messen kann mit ihr?«11

Eine Frau schneidet nicht, will gar nicht schneiden, sondern lieber »verbinden und heilen«. »Sina« ist das älteste hier behandelte deutschsprachige Werk, das 9 | Wenger, Lisa: Die Wunderdoktorin. Heilbronn 1910, S. 290. 10 | Weedon, Chris: Gender, Feminism, and Fiction in Germany, 1840-1914. New York u.a. 2006, S. 47. 11 | Spyri, Johanna: Sina. Eine Erzählung für junge Mädchen. Stuttgart 1884, S. 125-126.

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sich mit dem Schicksal einer Medizinstudentin beschäftigt. Sina beginnt ein Medizinstudium, um die wohltätigen Werke ihrer geliebten Großmutter zu unterstützen. Allerdings stürzt deren Tod Sina in eine Sinnkrise. Außerdem ist sie tief verunsichert, da der verehrte Professor Clementi das Studium für Frauen grundsätzlich missbilligt. Zusätzlich wird ihr freundschaftliches Verhalten von einem Studenten missverstanden; nach dessen Liebeserklärung verlässt Sina überstürzt die Universität. Am Ende findet sie ihre Berufung als Professor Clementis Ehefrau. Die beiden treffen sich am Bett eines verletzten Kindes wieder – Sina wechselt nun der sogenannten ›Natur der Frau‹ gemäß Verbände, worin sie nach Professor Clementi von einem Mann nicht zu übertreffen ist – trotzdem gibt er ihr ausführliche Anweisungen: »Das Verbinden werde ich übernehmen, Herr Professor,« sagte sie, »wenn Sie denken, ich werde es gut machen.« »Das werden Sie ohne Zweifel,« entgegnet er herantretend, »meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass Verpflegen und Verbinden von Frauenhänden am besten besorgt wird.« Er besorgte nun den Verband unter Sinas Augen und erklärte ihr genau, was hauptsächlich zu beobachten und was zu vermeiden sei. Diese Erklärungen schienen Sinelis Missfallen zu erregen. Plötzlich rief die Kleine ärgerlich: »Ja, ja, das weiß Tante Sina schon gut genug.«12

Dieses Muster, nämlich Kinder zu pflegen und Verbände zu wechseln, taucht wiederholt vor allem in Mädchenliteratur auf; auch Medizinstudentinnen scheinen nichts anderes zu tun, als die Aufgaben von Krankenschwestern und Kindermädchen zu übernehmen. Das Tabu des Schneidens hat sich offenbar als Stereotyp literarisch etabliert, die hier behandelten Romane bilden diesbezüglich Punkte einer Linie13 oder die Spitzen von Eisbergen: Auch in Else Urys »Studierte Mädel« (1906), unterwirft sich die Figur Daisy gewissermaßen Professor Clementis Verdikt, dass Frauen nicht zum Schneiden gemacht sind, und reicht das scharfe Messer dem Arzt weiter, obwohl sie in dieser Geschichte den Konflikt zwischen Frauenstudium und den vorherrschenden Ideen bezüglich Weiblichkeit demonstrieren sollte: Es stürmte in ihm, seine Gedanken jagten sich – wie weich und zärtlich Daisy das eigensinnige Kind eben noch umfangen, und wie kaltblütig und ohne jedes Wimperzucken sie ihm gleich darauf das scharf geschliffene Messer zugereicht hatte. Reimte sich Weiblichkeit und Frauenstudium nicht doch zusammen, lieferte Daisy ihm nicht

12 | Spyri 1884, S. 207. 13 | Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a.M. 1977.

Die Lust am Scheitern

täglich aufs neue den Beweis, dass er ihr mit seinem verdammenden Urteil unrecht getan?14

Die Passingstrategie zur Konfliktbewältigung funktioniert über Vermeidung: Der Konflikt, den die Figur der Daisy ausdrücken soll, ist keiner; sie ist keine Bedrohung, keine Konkurrenz, sie ist eine Krankenschwester, wenn auch eine erstklassige Operationsschwester. Daisy, die das Physikum abgeschlossen hat, und als »Famulus« für ihren zukünftigen Ehemann arbeitet, wechselt Verbände und liest den kranken Kindern Märchen vor; »keiner tat so wenig bei der Untersuchung weh« wie sie.15 Diese Szene taucht fünfzehn Jahre später fast unverändert wieder auf; Else Ury entwarf für »Nesthäkchen fliegt aus dem Nest« (1921) eine ähnliche Situation. Die Wahrnehmung der Figur der Ärztin ist nach wie vor dieselbe; das Tabu des Schneidens und des Schmerzenzufügens besteht nach wie vor: Die lustige Tante, die mit den kleinen Kranken scherzte und spielte, […] vermochte […] dem Urselchen, das so arge Schmerzen hatte, gut zuzureden, bis es dem Onkel Doktor sein »Wehweh« zeigte […]. »Tante Annemarie soll das Pflaster auflegen, Tante tut nicht weh –« weinte das kleine Ding.16

Die Romane erscheinen bezüglich des Stereotyps des Nicht-Schneiden-Dürfens wie ein einziger Text; sie kommunizieren im diskursiven Feld der Medizin, Literatur und Geschlechterfragen miteinander.17 Während Else Ury in »Studierte Mädel« zumindest noch eine kurze Szene im Anatomiesaal einfügt, in der die Protagonistin Hilde als Tochter eines Augenarztes besser zurechtkommt als Daisy, die ohnmächtig wird, fällt im späteren »Nesthäkchen f liegt aus dem Nest« über das eigentliche Medizinstudium kaum mehr ein Wort. Wie Sina besucht das Nesthäkchen Annemarie Lektionen in Botanik – weder die theoretische noch die praktische medizinische Arbeit am menschlichen Körper erscheint in den beiden Büchern, deren Erscheinungsdaten doch gut vierzig Jahre auseinander liegen. Der ›Affront‹ einer akademisch gebildeten Frau an sich, kombiniert mit der Aussicht auf eine medizinisch ausgebildete und mit der menschlichen Anatomie vertraute Frau, führte in der sozialen Realität zu heftigen Diskussionen über Anstand – jedoch nicht im Zusammenhang mit der Ausbildung der Frau14 | Ury, Else: Studierte Mädel. Eine Erzählung für junge Mädchen. Stuttgart o.J. (1906), S. 222. 15 | Ury [1906], S. 220. 16 | Ury [1925], S. 168. 17 | Bourdieu 2008.

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en als Krankenpflegerinnen. Die Erklärung für diesen Widerspruch ist Macht – auch die bestausgebildete Krankenschwester, mag sie auch noch so erfahren sein, ist dem Arzt in der medizinischen bzw. Krankenhaushierarchie unterstellt. Professor Clementis zu Beginn dieses Artikels zitierte Aussage ist offenbar demgemäß auch eine literarische Umsetzung der zeitgenössischen Meinung, dass ›richtige‹ Frauen weder beruflich ehrgeizig noch an finanziellen Dingen interessiert sind, sondern in erster Linie ehrenamtlich arbeiten sollen bzw. wollen. Ihr beruflicher Erfolg soll sich nicht in Geld oder Sozialprestige bzw. Macht auszahlen.

K ONFLIK T N R . 2: E RFOLG Um 1900 ist es offenbar im Diskursfeld der populären Literatur nicht möglich bzw. gestattet, dass eine Frau erfolgreicher ist als ein Mann, sei es ihr Verlobter, Ehemann, Sohn oder ein anderer Mann im ›Geschäft‹. Zum Beispiel wird Therese, die Protagonistin aus »Der Kampf einer Ärztin« von Colette Yver (1901/1938), eine erfolgreiche, ehrgeizige und bewunderte Ärztin und Wissenschaftlerin, langsam zermürbt, als ihr Ehemann, ein Allgemeinpraktiker, beschließt, sie zu konkurrenzieren: Ferdinand, der die ganze Zeit über stumm zugehört hatte, stand auf und trat ans Fenster, als wollte er Luft schnappen. Ein Gedanke, der ihm gekommen war, als seine Frau so eifrig mit den Professoren diskutierte, ließ ihm keine Ruhe. Er hatte sich gefragt: »Und wie schätzt sie dich wohl innerlich ein, wo sie sich mit ihren vierundzwanzig Jahren ohne weiteres neben alle diese berühmten Leute stellt? Dich, den armseligen praktischen Arzt?« […] Zum ersten mal erwachte in seinem frischen unverbrauchten Kopf der Ehrgeiz. Er wollte nicht länger der unbedeutende Allerweltsarzt neben einem Boussard bleiben und für ihn, Herlinge und all die andern nur der Mann der vielbewunderten Ärztin sein. […] er musste bekannt werden, koste es, was es wolle.18 »Koste es, was es wolle« – es kostet seine Frau die Karriere, den Beruf, das persönliche Glück, die Seelenruhe, die Persönlichkeit. Während ihre wissenschaftliche Karriere wegen ihres neugeborenen Kindes und der Ansprüche ihres Mannes an sie als Ehefrau bröckelt, arbeitet er ungestört und erfolgreich an seinem neuen wissenschaftlichen Projekt. Marie in »Die Wunderdoktorin« ist auch viel erfolgreicher als ein Mann – ihr Sohn. Sie gibt ihre gutgehende Praxis aus Liebe zu ihm auf. Sie ist im Gegensatz zu ihm keine studierte Ärztin, sondern eine talentierte und erfahrene Autodidaktin. In ihrem Ostschweizer Kanton darf sie trotz fehlender Approbation praktizieren. Ihr Sohn verachtet ihre ›Kurpfuscher‹-Praxis und ihre 18 | Yver, Colette: Der Kampf einer Aerztin. Luzern 1938, S. 150-151.

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Werbung mit einer Heilsalbe (die jedoch sein Studium finanziell ermöglicht hat), weigert sich aber, seine Mutter auch nur einmal bei ihren Sprechstunden und Krankenbesuchen zu begleiten, um ihre eigentliche Arbeit selbst zu sehen. Er versucht, in Konkurrenz zu ihr ein Spital wieder in Schwung zu bringen, kann aber neben ihr nicht bestehen oder gar prosperieren. Josephine in »Arbeit« (1903) von Ilse Frapan wird zur Ernährerin der Familie, nachdem sie ihr Staatsexamen absolviert und die frühere Praxis ihres Mannes übernommen hat. Als er von einem Gefängnisaufenthalt zurückkehrt und ihren Erfolg sieht, greift er sie heftig an. Sie hingegen weist ihn nicht nur als Mann ab, sondern schlägt ihn auch noch auf seinem eigenen Berufsfeld, das ihm nun verschlossen ist, dem der Medizin. Das soziobiologische Argument der ›Natur‹ im Zusammenhang mit dem Verhalten und der beruflichen Position einer Frau wird in seiner Frustration deutlich ausgedrückt: Er betrachtet sie – als Frau im Allgemeinen – als eine »Untergebene, Untergeordnete«, einen »Menschen zweiter Sorte«, einen »auf den Thron gelangten Sklaven«19.

K ONFLIK T N R . 3: F EHLENDE V ORBILDER – N UR A USNAHMEN UND ›M ANNWEIBER ‹ Hilde und Annemarie werden ausgelacht, Sina begegnet nur ungläubigem Erstaunen, Josephine Unverständnis und Therese zuerst Widerstand. Diese Frauenfiguren sind allesamt sogenannt ›weibliche‹, attraktive Frauen, doch mögliche berufliche Vorbilder sind in den Romanen so unsympathisch oder hässlich gezeichnet, dass sie für attraktive junge Frauen keine Rollenmodelle sein können. Die unhöfliche und unbeliebte Osteuropäerin Fräulein Valevsky in »Sina« zum Beispiel ist aus übertriebenem Selbstschutz überaus rüde zu den Mitstudenten und kritisiert Sina für ihren freundschaftlichen Umgang mit anderen Studenten.20 Auch die neue Chefärztin in »Der Kampf einer Ärztin«, Dr. Boisselière, ist sehr negativ gezeichnet: »So’n alter Klapperkasten von Medizinerin«21 und wird, wie andere Frauen, über das Argument der ›Natur‹ beurteilt. Sie ist offenbar »sichtlich von Natur dazu bestimmt, alte Jungfer zu bleiben«: Fräulein Dr. Boisselière mochte mindestens ihre 45 Jahre hinter sich haben. Sie war ziemlich groß und knochig, sichtlich von Natur dazu bestimmt, alte Jungfer zu bleiben. Schlapphut, ein weißer Kragen mit schwarzem Selbstbinder, Herrenschnitt des Haars und ein Bartanflug über der Oberlippe unterstrichen noch den Eindruck des Mannweibs. 19 | Frapan-Akunian, Ilse: Arbeit. Berlin 1903, S. 223. 20 | Spyri 1884, S. 89-94. 21 | Yver 1938, S. 300.

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Sie gehörte zur alten Garde der französischen Medizinerinnen, war erst Lehrerin gewesen und hatte sich ihr Studium sauer mit Stundengeben verdient. Ihre berühmten männlichen Kollegen begrüßten sie mit ausgesuchter Höflichkeit. 22

Fräulein Dr. Boisselière ist als sogenanntes Mannweib absolut kein Rollenmodell für eine sehr attraktiv gezeichnete Frau wie Therese. Die andere ältere Ärztin im gleichen Roman, die schöne und begabte Dr. Lancelevée, wird in Thereses Wahrnehmung von einem leuchtenden Vorbild zu einer selbstgefälligen und kaltherzigen Frau, nachdem sie selbst sich entschlossen hat, die eigene Karriere für ihre Ehe aufzugeben. Alle Augen hatten sich unwillkürlich auf die beiden gerichtet. Theresens Blick überflog rasch die Runde und blieb an dem selbstgefälligen Gesicht der Lancelevée hängen, in dem der Stolz über den doppelten Erfolg geschrieben stand, den Erfolg als Frau und als Berufsmensch. »Es ist kein Geheimnis,« sagte Therese mit einem seltsamen Lächeln. »Ich habe mich entschlossen, meinen Beruf aufzugeben, Papa.« 23

Dr. Lancelevée ist für die bestehende Rollenverteilung die einzig richtige Bedrohung, sie ist sowohl als Ärztin wie auch als Frau in ihrem Privatleben erfolgreich. Sie gibt offen zu, mit einem der berühmten Professoren eine Affäre zu haben, und sie ist gegen die Heirat von Ärztinnen – aus guten Gründen, wie das Beispiel von Therese zeigt: Männer sind gegenüber Ehefrauen mit Berufen außerhalb ihrer häuslichen Verpflichtungen nicht tolerant. Die Kehrtwende in Thereses Wahrnehmung der verehrten Ärztin wirkt im Verlauf der Geschichte nicht überzeugend, macht aber in der Diskussion über Geschlechterrollen bezüglich Medizinstudentinnen und Ärztinnen Sinn: Dr. Lancelevée kann wohl aus poetologischen Gründen nicht mehr sympathisch sein, da das Konzept der selbstbestimmten Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse vor die eines Mannes stellt, privat wie auch beruflich erfolgreich ist und dazu noch schön und sympathisch, im zeitgenössischen Diskurs nicht erlaubt und auch literarisch nicht konzipierbar ist. Nur selbstvergessen liebende Frauen dürfen nach dieser Diskursregel attraktiv sein. Daher muss Dr. Lancelevée, die den sie liebenden Mann leiden lässt, da sie ihn nicht heiratet, unter ihrer schönen Fassade so unerwartet in eine selbstzufriedene und kaltherzige Person verwandelt werden. Bevor Dr. Lancelevée im Roman (aber nicht unbedingt auch bei den zeitgenössischen LeserInnen) als Vorbild scheitert, wird sie als eine außerordentliche Frau beschrieben und nur als Frau mit einem Beruf, nicht als Frau mit einem Privatleben (oder Liebesleben) wahrgenommen.

22 | Yver 1938, S. 302. 23 | Yver 1938, S. 303.

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»Ich bin frei,« sagte sie, als sie Artout die Hand zum Abschied gab, »ich bin glücklich.« In der erleuchteten Eingangstür erschien die Zofe, eine bildhübsche Engländerin, mit Spitzenschürze; durch die Vorhänge sah man in das behagliche, von rosigem Lichtschein durchflutete Esszimmer. Dort setzt sie sich jetzt zu Tisch, dachte Artout, allein und schweigsam, aber nichts stört ihren Frieden. Auf jedes Glück hatte sie verzichtet außer auf eines: eine außergewöhnliche Frau zu sein. Und dieser Traum ist ganz in Erfüllung gegangen. 24

Dr. Lancelevée ist also eine außergewöhnliche Frau mit einem außergewöhnlichen Lebensentwurf – offenbar kein Vergleich für durchschnittlichere Frauen: ein effektives Ausschlussverfahren, wie es bei heutiger Lektüre scheint, möglicherweise eine literarische Passingstrategie zum Überwinden der Hürden der sozialen Realität für die zeitgenössischen LeserInnen. Eine ähnliche Ausnahmeerscheinung ist Genia, die Medizinstudentin und Ärztin im Roman »Viele sind berufen« (1933) von Hermann Hoster. Sie ist weitgereist, hat bereits einen Mann getötet, und sie verströmt einen »beinahe männliche[n] Geruch«, nach »Leder, Sattelzeug und Pferde[n]«25. Doch auch sie wird nur als Assistentin eines Mannes beschrieben; sie ist, wie Else Urys Medizinstudentinnen, nur die »Famula« ihres zukünftigen Verlobten. Für einen großen Teil des Romans verschwindet sie sogar ganz aus der Geschichte. Ihre beinahe schon zahmes, auf jeden Fall sehr konventionelles Verhalten am Ende des Romans ist im Rückblick genauso wenig überzeugend wie die Kehrtwende in der Wahrnehmung von Dr. Lancelevée. Mit der Figur der Genia wird die ›außergewöhnliche‹ Frau mit ›Männlichkeit‹ verbunden; die Genderstereotypen bieten keine mit Weiblichkeit verbundenen Ausdrücke für die Beschreibung ihres unabhängigen und wilden Benehmens. Auch andere Medizinerinnen werden verschiedentlich als ›Männer‹ bezeichnet, sogar wenn sie sich speziell um ›Weiblichkeit‹ bemühen: Therese, die nach dem ersten Widerstand die volle Unterstützung ihres Vaters hat, enttäuscht ihn, als sie um ihrer Ehe willen ihren Beruf aufgibt. Er hat nur deswegen die neue Chefärztin, das sogenannte ›Mannweib‹ Dr. Boisselière, vorgeschlagen und unterstützt, um damit einen Präzedenzfall für die Zukunft seiner Tochter zu schaffen; er »war auf seine Tochter so stolz, wie es sonst Väter nur auf ihre Söhne sind«26. Bettina (Tina) Capadrutt, die Hauptfigur in »Sinfonie der Liebe« (1953) und »Versunkene Melodie« (1957) von Marga Markwalder, wird ebenfalls als außerordentliche Person gezeichnet. Sie ist keine Allgemeinpraktikerin, sondern Gynäkologin und Chirurgin. Die im untersuchten Zeitrahmen späten Roma24 | Yver 1938, S. 78. 25 | Hoster, Hermann: Viele sind berufen. Ein Roman unter Ärzten. Leipzig 1933, S. 87; Hervorhebung Schenk, Gabriela. 26 | Yver 1938, S. 305.

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nen aus den 1950er Jahren zeigen, wie langlebig manche Genderstereotypen sind und wie stabil das diskursive Feld bleibt: Das alte Bild von Frauen, die nicht schneiden wollen bzw. sollen, ist – ganz Professor Clementis Diktum gemäß – immer noch präsent, wie die Unterhaltung zwischen einer Patientin und einer Besucherin demonstriert: »[…] es handle sich zwar um etwas Ungefährliches, um ein Myom, aber es wäre besser, man würde es gleich entfernen. Das hat man denn auch getan.« »Wer hat das gemacht? Der Professor – ach, wie heißt er nur gleich – der Ordinarius von der Universität…« »Nein. Doktor Capadrutt, die Chefärztin.« »Eine Frau! Mein Gott! Wie gewagt! Melitta!!« »Aber, aber Elli, was würden unsere Freundinnen sagen, wenn sie deinen Ausspruch hörten!« »Nun – ja – schon – aber weißt du, nur unter uns gesagt: als Chirurgen, ausgerechnet als Chirurgen, möchte ich schon lieber einen Mann als eine Frau. Man hat doch immer das Gefühl, eine Frau könnte den Kopf verlieren. Ich wenigstens würde mich keiner anvertrauen.«27

Tina, die Chefärztin, als jungfräuliche Göttin inszeniert, hat einen Kopf wie eine Hermesstatue und benimmt sich wie eine Amazone. Sie trifft die Liebe ihres Lebens in ihren späten Dreißigern, gibt schweren Herzens ihren Beruf auf und wird dafür belohnt, da ihr Mann ihr ›erlaubt‹, den Beruf weiter auszuüben. Da er kein Mediziner, sondern Dirigent, ein Künstler ist, konkurrenzieren sich die beiden nicht; Tina gibt allerdings ihre Position als Chefärztin auf, folgt ihm nach New York und Wien und arbeitet jeweils teilzeitlich in Krankenhäusern. Sie erscheint trotz ihrer Position nicht als sogenanntes Mannweib, aber dennoch wird sie von der Besucherin – vielleicht sogar etwas ironisch – als ein »Mann« bezeichnet: »[…] Dein Doktor Capadrutt ist also der Mann der Übersicht und der starken Hand – furchtbar zeitgemäß. Aber, unter uns gesagt, sind dir solche Frauen wirklich restlos sympathisch? Man dürfte diesen Gedanken zwar im Kreise unserer Freundinnen nicht laut werden lassen – aber, – du weißt schon…« »Du stellst dir unter Tina Capadrutt etwas ganz Falsches vor. Sie hat nämlich gar nichts Männliches an sich, aber keine Spur – nur der Kopf, der ja – im Profil erinnert sie mich an irgend etwas aus der Kunstgeschichte, […].«28

Dr. Capadrutt darf also in ihrer Position als Chefärztin nicht sympathisch sein und muss, da sie es eben trotzdem und außerdem noch erfolgreich ist, von der Patientin ihrer Besucherin gegenüber verteidigt werden: Sie verfügt zwar über die positiven Charaktereigenschaften (bzw. Genderstereotypen) eines Mannes, 27 | Markwalder 1953, S. 8. 28 | Markwalder 1953, S. 9; Hervorhebung Schenk, Gabriela.

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sie ist aber schön und sieht deshalb offenbar nicht wie eine Chefärztin aus: »Man sieht es ihr tatsächlich nicht an.«29 Auch wenn Ärztinnen zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Romans schon bald hundert Jahre praktizieren, zeigt hier die Fiktion, wie die alten Stereotype lebendig sind und lebendig bleiben. Das soziale Konfliktfeld wird im Roman thematisiert. Die zitierten rollenkonservativen Stereotype werden im Roman selbst als in sich progressiv verstehenden Kreisen vordergründig nicht mehr akzeptabel dargestellt. Trotzdem wirken sie weiter. Die Verhandlungen zwischen Text und Gesellschaft zeigen sich anhand dieses und ähnlicher Beispiele deutlich.

K ONFLIK T N R . 4: L IEBE UND E HE Therese gibt am Ende nicht nur ihre wissenschaftliche Arbeit, sondern auch ihre Praxis als allgemeine Ärztin auf, da ihr Mann seinen Wunsch nach einer traditionellen Ehefrau nicht überwinden kann30 und die entsprechende Gesellschaft außerhalb des eigenen Heims sucht – und findet. Angesichts dieser Strategie entschließt sich Therese, die Assistentin ihres Mannes zu werden und sein wissenschaftliches Projekt zu unterstützen und folgt damit dem Beispiel einer anderen Ärztin, Dina Skaroff, obwohl diese, eine unbemittelte, verwaiste Ausländerin, ein völlig anderes Verhältnis zum Beruf und der Medizin hat und diese nur als Notlösung betrachtete, da außer der Wissenschaft niemand »Mitleid mit ihrem jungen verdüsterten Leben gehabt« habe.31 Dina Skarof, offenbar in einer scheuen Art attraktiv, gibt als »das Natürlichste von der Welt«32 ihren Beruf für die Ehe mit einem Kollegen auf, konkurrenziert ihn nicht, sondern wird gerne und freiwillig seine Assistentin, wenn sie neben Haushalt und Kinderbetreuung Zeit findet. Therese, die bewunderte Ärztin und zumindest vor ihrer Ehe erfolgreiche Wissenschaftlerin, die alle Anlagen und Begabung zu diesem Beruf hat, will schließlich ebenfalls nur die (unbekannte!) Assistentin ihres Mannes werden33. Therese handelt gegen ihre eigentliche ›Natur‹ und gegen ihre Persönlichkeit, um der sogenannten ›weiblichen Natur‹ zu entsprechen. Sie riskiert dabei jedoch, den Respekt ihres Mannes zu verlieren, denn der lange andauernde Kampf, der Erfolg und die Hingabe zum Beruf hinterlassen in der Wahrnehmung der Männer offenbar Spuren:

29 | Markwalder 1953, S. 10. 30 | Yver 1938, siehe z.B. S. 207, S. 209-210, S. 212-213. 31 | Yver 1938, S. 94. 32 | Yver 1938, S. 124. 33 | Yver 1938, S. 322.

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»Jetzt weißt du ja, wie lieb ich dich habe! Ein Stück meiner selbst, und nicht das wertloseste, habe ich mir ausgerissen, um es dir zu geben. Nun gehöre ich ganz dir, bin nichts mehr im Leben als deine Frau. Endlich!« »Arme Therese,« kam es gequält aus ihm heraus, »arme Therese! Ich bin entsetzt, wie ich dich so etwas konnte tun lassen. Das war ja gar nicht nötig! Das reinste Verbrechen! Wo du so an deinem Beruf hingst, ganz darin aufgingst! Er gab dir eine persönliche Würde, an die nicht zu rühren war. Wie konntest du das nur tun!« 34

Josephine Geyer in »Arbeit« studiert und praktiziert in Zürich als verheiratete Frau und Mutter von vier Kindern. Obwohl sie herausfindet, dass ihr Ehemann sogar anonyme Schmähschriften gegen studierte und emanzipierte Frauen schreibt, lässt sie sich aus Mitleid nicht scheiden. Als sie unter der Mehrfachbelastung jedoch zweimal zusammenbricht, fühlt sie sich als »ruhmlos Überwundene«: Dann fragte sie Rösli: »Jemand war gut zu mir, stützte mich, führte mich. War es der Vater?« Und sie errötete bei dieser Frage, sah, dass auch das Kind errötete und nickte. […] Und sie stützte den Kopf und schloss die Augen, und es war ihr wie einer ruhmlos Überwundenen. 35

Georges, ihr Ehemann, gewinnt durch ihre Zusammenbrüche wieder an Stärke, was Josephine nur zu klar ist und was sie zu verhindern sucht: Vor diesen anteilvollen Blicken, diesen mitfühlenden Worten floh Josephine, sie waren ihr die bitterste Bestätigung ihrer Schwäche. »[…] Aber er wünscht es, er wünscht, mich heruntergekommen zu sehen.« Und sie hielt sich steif aufrecht und bemühte sich, ruhig und heiter auszusehen, wenn Georges in der Nähe war. 36

Josephine entscheidet sich, gegen alle Widerstände ihre Arbeit fortzuführen. Doch sie bezahlt mit ihrem Privatleben dafür, verzichtet auf ihre heimliche Liebe, bleibt mit einem Mann verheiratet, mit dem sie nichts verbindet, und hat als weiteres Konfliktfeld Sorgen mit ihren heranwachsenden Kindern.

34 | Yver 1938, S. 307. 35 | Frapan 1903, S. 308-309. 36 | Frapan 1903, S. 305-306.

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K ONFLIK T N R . 5: D IE N OT WENDIGKEIT EINER R ECHTFERTIGUNG ODER E NTSCHULDIGUNG Auch in Hermann Hosters »Viele sind berufen« erscheint das Thema des Scheiterns mehr als einmal: Während sich die exotische Genia am Ende der Geschichte nicht mehr für ihren Beruf zu interessieren scheint, fällt eine Nebenfigur wegen Nervosität das zweite Mal durch die Abschlussprüfung. Bei einer inoffiziellen dritten Prüfung kommt sie durch, unter anderem auch deshalb, weil klar wird, dass sie niemandem das Geschäft wegnehmen wird. Die Prüfer können es sich leisten, großzügig zu sein; denn sie wird keinen Mann konkurrenzieren, sie ist nicht ehrgeizig: Sie war früher Lehrerin, aber das hat sie nicht befriedigt. Sie ist ohne höheren Ehrgeiz, nur in einem ganz kleinen Walddorf hat sie praktizieren wollen und bei ihrer Schwester wohnen, die dort als Lehrerin amtet, sie hat sich das sehr schön ausgemalt, es ist kein Arzt in der Nähe, sie wird keinem etwas wegnehmen, sie ist mit wenigem zufrieden. Der nächste Arzt wohnt drei Stunden entfernt, ein sehr alter Herr schon, und vielleicht trinkt er auch ein bisschen. […] Das Fräulein ist ein guter Mensch. Sie wird sich in ihrem Dorf, wenn es nachts bei Wetter, Sturm und Regen zum viertenmal an ihrer Tür läutet, nicht mit einer faulen Ausrede drücken, sie wird keine Appendicitis verschleppen, und wetten, dass sie nicht trinkt!37

Dieses Fräulein hat ihre Entschuldigung, sie darf durch das Wohlwollen und die Großzügigkeit der prüfenden Männer ihren Beruf ausüben und würde ohne ihre Hilfe scheitern, sie ist keine Bedrohung. Die Szene ist rein aus dem literarischen Diskursfeld über Frau und Medizin motiviert; sie hat keinerlei Bezug zum Hauptstrang der Geschichte. Prüfungen sind offenbar ein Versatzstück des Genres.38 Der narratologische Hintergrund zeigt vermittels der Plotstruktur Passingstrategien für diese Prüfungen; nach bestimmten Regeln (offenbar auch mittels eines Scheiterns) ist ein Durchkommen möglich: Frauen, die studieren, benötigen Erklärungen und Entschuldigungen für ihre Entscheidung, z.B. dass es besser ist, etwas Sinnvolles zu tun, anstatt die Zeit totzuschlagen, bis sie verheiratet sind. Zumindest kann sich eine Frau so selbst erhalten, wenn sie unverheiratet bleibt, wie ungefähr die Hälfte aller Frauen um 1900.39 »Warum soll deine Schwester nicht irgend etwas lernen,« hörte sie Günther Berndt weiter sprechen, »besser, als wenn sie die Zeit totschlägt und herumflaniert. Auch Frauen37 | Hoster 1933, S. 338. 38 | Siehe auch z.B. Propp und Eimermacher 1975. 39 | Weedon 2006, S. 47.

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studium hat sicherlich seine Berechtigung – ach Unsinn, Mensch, rede doch nicht von den paar Gramm Gehirn, die der Frau fehlen, sie haben ohne dasselbe doch schon genug geleistet. Ich habe alle Achtung vor diesen tüchtigen Frauen, ich verehre sie – aber lieben – niemals – nie kann ein Mann ein studiertes Mädel lieben oder sie gar begehren; solchem emanzipierten Frauenzimmer fehlt eben jeder Reiz des Weibes!« 40

Das Zitat aus »Studierte Mädel« enthält mit den ›fehlenden paar Gramm Gehirn‹ einen Hinweis auf die soziobiologische Argumentation gegen eine höhere Ausbildung für Frauen, wie sie auch in Paul Julius Möbius’ berüchtigter Publikation »Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes« [1900] vertreten wird.41 Es drückt auch die Befürchtung aus, dass ein Studium offenbar auch sogenannt ›weibliche‹ Frauen unfeminin bzw. zu ›Mannweibern‹ macht. Die einzig ›wahre‹ Entschuldigung für eine Frau, ein Studium zu beginnen, ist, unattraktiv genug zu sein, um nicht begehrt zu werden, deshalb auch die negativ gezeichneten möglichen Vorbilder: Nur sie haben eine Entschuldigung für ihren beruflichen Erfolg. Oder aber sie sind so außerordentliche Figuren, dass ein Mann eine solche Göttin respektvoll als komplett unerreichbar und – vor allem – als Ausnahmeerscheinung abschreiben kann, wie z.B. die Figuren der Lancelevée und Tina Capadrutt, die dafür mit ihrem Privatleben und Einsamkeit bezahlen sollen. Es gibt auch keine Entschuldigung für eine verheiratete Frau, einen Beruf auszuüben, da eine Ehefrau zu sein als Beruf angesehen wird. Eine Frau muss sich entscheiden; sie kann neben der Haushaltführung und einer allfälligen Mutterschaft keinen zweiten Beruf ausüben. Diese sogenannte Tatsache konnte in der zeitgenössischen Literatur um 1900 noch nicht verhandelt werden, und wird höchstens vage andiskutiert, wenn den Ärztinnen erlaubt wird, ihren Ehemännern zu assistieren. Wenn diese Frauenfiguren ihren Beruf nicht aufgeben, zahlen sie den Preis mit Unglück und Scheitern in der Ehe und in der Mutterschaft. Dies gibt literarisch auch Sinas Großmutter zu bedenken, als sie zumindest anerkennt, dass Sina eine erfolgreiche und begehrte Ärztin werden will: »[…] Und dann, Sina, wenn du dein ganzes Interesse und deine Lebenskraft in deinen Beruf setzen würdest, und du wolltest doch einmal dein eigenes Haus haben, wie käme es dann? Vor lauter Beruf ginge in deinem Haushalt alles drunter und drüber, denn Tag und Nacht, zu jeder Zeit müsstest du laufen, wohin du gerufen wirst, du wolltest ja doch dann eine begehrte Ärztin sein, nicht eine, die niemand braucht.« 42 40 | Ury [1906], S. 22. 41 | Möbius, Paul Julius: Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Halle an der Saale 1901. 42 | Spyri 1884, S. 55-56.

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Sinas Großmutter malt also aus, was die Figur der Therese erfährt: Das häusliche Glück ist mit einer Berufsausübung nicht zu erreichen. Vor allem die Jungmädchenbücher stellen jedoch von Anfang an klar, dass die Hauptfiguren wie Sina, Annemarie oder Hilde nicht wirklich dafür gemacht bzw. gedacht sind, Ärztinnen zu werden. Else Ury lässt in ihrem früheren Werk »Studierte Mädel« Daisy, die Freundin der Hauptfigur Hilde, noch das Physikum bestehen, da diese als Waise wie Dina Skaroff in »Der Kampf einer Ärztin« auf einen Beruf angewiesen ist und somit ebenfalls eine Entschuldigung für das Studium hat. Daisy, eine attraktive junge Frau, bekommt am Ende die Genugtuung, dass der von ihr geliebte Mann zugibt, eine Frau könne beides sein: geliebte Ehefrau und »treue Gefährtin im Beruf«.43 Aber es wird kein Wort darüber verloren, dass sie ihr Studium beenden wird – und wird sie einfach nur die Assistentin ihres Mannes werden, ihm als eine Art hochqualifizierte Operationsschwester weiterhin die scharfen Messer reichen? Oder wird sie wohl ehrgeizig bleiben und ihren Mann sogar konkurrenzieren? Daisy wünscht sich zwar eine »traute[s] Heim«,44 aber allfällige Konflikte mit ihrer akademisch geschulten Persönlichkeit, allfällige zusätzliche Berufswünsche – diese Konflikte werden komplett ausgeblendet. In Urys späterem Roman »Nesthäkchen fliegt aus dem Nest« gibt es nicht einmal mehr eine ambitionierte Freundin der Hauptfigur – und keine Frage, keine Diskussion bezüglich Annemaries Studienabschluss vor der Ehe oder auch nach der Heirat. Sie scheint ihren Studienabbruch nicht einmal ansatzweise zu bedauern, nachdem sie wild entschlossen war, die Assistentin ihres Vaters zu werden, und sie scheint auch keine Angst zu haben, ihren Studienabbruch später zu bereuen; Annemarie tut, was sogenannt ›natürlich‹ ist, und versucht deshalb nicht einmal, eine Entschuldigung für ein Weiterverfolgen des Studiums zu finden. Verheiratete Frauen dürfen natürlich ihre geistigen Fähigkeiten nach wie vor benutzen, um die Karriere ihres Mannes zu fördern und um eine interessante Gefährtin zu sein, wie Therese es anderen, »bildhübschen« Studentinnen wünscht, nachdem sie selbst aufgegeben hat: Wenn Therese aber die beiden bildhübschen jungen Studentinnen ansah, die kurz darnach auf der Treppe an ihr vorbeihuschten, dann dachte sie in ihrem Herzen: »lasst die reine Flamme eurer Jugend nur glühen und lodern für euren idealen Beruf; entwickelt dabei in euch alles, was seine Aufgabe: Hilfe und Fürsorge für den Menschen, von euch verlangen kann! Tritt aber eines Tages, wie ich es für euch hoffe, die Liebe, der Mann in euer Leben, o so gebt euch ihm mit gleicher feuriger Ausschließlichkeit ganz! Was ihr

43 | Ury [1906], S. 225. 44 | Ury [1906], S. 218.

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euch geistig errungen habt, geht ja nicht verloren; es gibt dem Zusammenleben, dem Heim erhöhten Wert, dauernden Reiz, auch ein wenig Glanz…« 45

S CHLUSSFOLGERUNG Die Unmöglichkeit, die hierarchische Dichotomie zwischen Männern und Frauen beziehungsweise zwischen den entsprechenden Genderstereotypen mit der neuen Forderung der Frauen nach Ausbildung und mehr oder gleichen Rechten zu kombinieren, führte auch literarisch zu verschiedensten Copingund Passingstrategien als Reaktion auf die Irritation in der sozialen Realität. Die aus heutiger Sicht – mit Blick auf die spätere Entwicklung der sozialen Realität – oft ungenügenden und erfolglosen Strategien wirken als Scheitern. Hier wird deshalb aus heutiger Sicht vom Motiv des Scheiterns gesprochen. Frauenfiguren als Ärztinnen scheitern zu lassen scheint eine literarische Möglichkeit zu sein, die Bedingungen für eine höhere (medizinische) Ausbildung für Frauen in den zeitgenössischen Diskursen zu verhandeln. Diese literarische Strategie lässt sich bis in die 1950er Jahre verfolgen (spätere Werke wurden nicht untersucht); das diskursive Feld bleibt lange stabil. Wiederkehrende Plotstrukturen sind genrespezifisch und als solche eine Antwort auf Irritationen in der sozialen Realität. Die Literatur bietet ein Arsenal an Konfliktbewältigungsstrategien; dem Scheitern an der Norm wird mit solchen Passingstrategien begegnet. Das Literatursystem reagiert auf das Konfliktfeld Frauen(medizin)studium mit einem ›Toolkit‹ aus Passingstrategien gemäß den jeweiligen Gattungsregeln. Auch das populärliterarische Modell empfiehlt Passingstrategien für real existierende Konflikte. Als Element der gesellschaftlichen Kommunikation sucht Literatur Antworten auf Irritationen in der sozialen Realität; am Motiv des Scheiterns zeigt sich sowohl die zeitabhängige Komponente dieser Antworten wie auch die langandauernde Stabilität des Diskursfelds. Die AktantInnen – Medizinstudentinnen, die eigentlich keine sind (Sina u.a.), Ärztinnen, entweder sehr unattraktiv (Fräulein Boisselière) oder überaus schön und begabt (Tina Capadrutt, Dr. Lancelevée) sowie Autoritätspersonen wie Prof. Clementi – gehören zum festen Personal des entsprechenden populären Romans. Wie Chris Weedon am Beispiel von Ilse Frapans Josephine und deren Familienleben feststellt, hat der Prozess des Studierens und der Berufsausübung eine starke Wirkung auf die Frauen bzw. die literarischen Frauenfiguren. Es wird klar, dass das Erreichen der feministischen Forderungen nach Zugang zu schulischer und Berufsausbildung ohne weitere Änderungen in den Geschlechterbeziehungen sowohl literarisch wie auch real weitere Spannungs45 | Yver 1938, S. 305.

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felder und Kämpfe für Frauen eröffnet:46 Georges kann Josephine nicht mehr konkurrenzieren; als Kompensation publiziert er anonyme Schmähschriften gegen gebildete Frauen. Ferdinand in »Der Kampf einer Ärztin« muss seine eigene Frau, Therese, beruflich herausfordern, er kann nicht weniger erfolgreich bleiben als sie. Diese Frauenfiguren zahlen für ihren beruflichen Erfolg mit ihrem Privatleben, werden isoliert und hart bekämpft, wenn sie erfolgreicher sind als Männer. Daher werden in den untersuchten Werken akademisch gebildete Frauen, die bereits verlobt oder verheiratet sind, den stärksten Konflikten ausgesetzt. Die Frauenfiguren in frühen Werken über studierte Ärztinnen verteidigen ihr Recht auf eine Ausbildung, auf einen Beruf und auf beruflichen Ehrgeiz oft leidenschaftlich, doch am Ende steht das Scheitern oder, freundlicher ausgedrückt, die Entsagung. Die literarische Figur der Ärztin war als Beispiel bzw. Repräsentantin höherer Ausbildung für Frauen offenbar sehr populär. Dies kann mit der Nähe und der Affinität zum bereits anerkannten Beruf der Krankenschwester erklärt werden. Was als Argument gegen die Ärztinnen benutzt wurde – die sogenannt ›natürliche‹ Neigung zum Pflegen – wurde literarisch auch als Strategie zur Überwindung der Hürden zum Medizinstudium verwendet. Literaturstrategisch wird die Kritik an Frauen im Arztberuf dadurch beschwichtigt, dass die dargestellten Ärztinnen an Prüfungen scheitern und sich im Endeffekt von Krankenschwestern kaum unterscheiden. Diese Romane erscheinen in ihrer Kontinuität bezüglich der verwendeten Coping- und Passingstrategien fast wie ein einziger Text und versichern den Gegnern des Frauenstudiums, dass, obwohl Frauen in erster Linie dazu gedacht sind, Krankenschwestern zu werden (wenn sie schon eine medizinische Ausbildung haben müssen), Ärztinnen kaum etwas anderes tun: Sie kümmern sich um Kinder und wechseln Verbände. Sie werden bestimmt keine Männer behandeln – sogar die praktizierenden Ärztinnen werden in erster Linie nur dabei gezeigt, wie sie Frauen und/oder Kinder versorgen. Diese Strategie, die nicht nur literarisch verwendet wurde, wie z.B. in (auto-)biografischen Texten zu lesen ist,47 sollte den Frauen einen ›gleichwertigen‹, aber eigenen, von den Männern verschiedenen Platz innerhalb des Berufsbildes verschaffen, d.h. den der Frauen- und Kinderärztin – und sie dadurch auch von einem großen Teil der Konkurrenzmöglichkeiten ausschließen.48 Das Feld für die Frauen wird literarisch erweitert. Der Kompromiss in der sozialen Realität bzw. die außerliterarische Passingstrategie heißt Spezialisierung.

46 | Weedon 2006, S. 61. 47 | Siehe Fußnote 2. 48 | Siehe auch Swenson, Kristine: Medical Women and Victorian Fiction. Columbia 2005, S. 144.

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Medizinstudentinnen werden als Assistentinnen ihrer zukünftigen Ehemänner gezeigt und erscheinen so nicht mehr als Bedrohung für diejenigen, die Frauen als Konkurrenz auf dem Markt medizinischer Dienstleistungen sehen. Mädchenliteratur vermeidet nach Möglichkeit die Konflikte zwischen Liebe bzw. Heirat und beruflicher Karriere, indem sie mögliche Probleme ganz einfach vernachlässigt oder umgeht, da sie die Protagonistinnen ihr Studium aus anderen Gründen aufgeben bzw. aus ›freiem Willen‹ ihrer ›natürlichen Bestimmung‹ folgen lässt. Andererseits scheinen diese Romane auf eine nicht ganz so offensichtliche, vielleicht sogar subversive Art und Weise junge Frauen dazu zu ermuntern, eine höhere Ausbildung zu beginnen: Diese Geschichten können helfen, die Angst davor zu verlieren, in den Augen der Gesellschaft bzw. der Männer ›unweiblich‹ bzw. emanzipiert zu sein oder zu werden und somit für niemanden begehrens- und liebenswert zu erscheinen, d.h. als Ehefrau nicht mehr in Frage zu kommen. Sie versichern den jungen Frauen, dass, wenn sie immer noch stereotypengemäß ›feminin‹ aussehen und sich entsprechend benehmen, ein Studium ihre Chancen auf einen Ehemann nicht unbedingt zerstört, solange sie sich um Kinder kümmern und nicht schneiden. Dass dieses Bild einer Ärztin mit der Realität 49 nicht viel zu tun hat, ist nicht maßgeblich. Es geht um die Bestätigung dessen, dass die Türe zu Liebe und Ehe mit dem Beginn des Studiums nicht geschlossen wird. Die Versuche, die Ausnahmeerscheinung einer gebildeten und beruflich erfolgreichen Frau der Allgemeinheit akzeptabel zu machen, kreierten gesellschaftliche Unsicherheiten, die zu widersprüchlichen Situationen führten: Weibliche literarische Figuren wurden intelligent und entschlossen genug gezeichnet, ein Studium zu beginnen und gleichzeitig sogenannt ›weiblich‹ genug dargestellt, um alles aufzugeben, sobald ein Mann es von ihnen aus Liebe erwartet. Der Preis dafür, dazwischen zu stehen – zwischen der traditionellen Frau des Bürgertums oder der Oberschicht, die Ehefrau und Mutter zu sein hatten, und den Männern mit einem Beruf – war, aufgrund dieser unsicheren Identität auffallend und verdächtig zu sein. Die neue Figur der Ärztin löst aufgrund ihrer als männlich verstandenen Machtposition in den Augen ihrer Umgebung Unsicherheiten bezüglich ihrer Geschlechtsidentität aus, was zu hilflos erscheinenden Konstruktionen in ihrer Beschreibung führt: Sie verhält sich ›wie ein Mann‹ oder ›männlich‹ kombiniert mit dem Zusatz, immer noch ›weiblich‹ zu sein, wenn sie positiv, ›unweiblich‹, und demnach wie ein ›Mannweib‹, wenn sie negativ gesehen wird. Fiktionales Scheitern, sei es als Studentin oder als Ärztin, geht aus diesem Identitätsproblem hervor und demonstriert die Konflikte und Unsicherheiten, die beim literarischen Versuch entstanden, die ›irreguläre‹ Ärztin in die existierenden sozialen und Geschlechterrollen

49 | Literatur zur sozialen Realität der frühen Medizinerinnen findet sich in Fußnote 2.

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einzufügen bzw. diese Rollen aktiv in Frage zu stellen.50 Die Möglichkeit, die Genderstereotypen aufzubrechen, besteht offenbar noch nicht; deshalb versuchen die fiktionalen Charaktere, die Berufstätigkeit der Frau mit den bestehenden Geschlechterrollen zu kombinieren und zu verhandeln, was zu kaum lösbaren Konflikten führt. Die Anstrengungen der Frauen um 1900, eine Identität zwischen den verschiedenen und widersprüchlichen Anforderungen an ihre Weiblichkeit auszubilden und ihre Position in Beruf und Privatleben zu finden, führt zu massiven Unsicherheiten und entsprechend ambivalenten Bewältigungsstrategien. Innerhalb des Feldes der populären Literatur zeigt sich diese Unsicherheit an den aus heutiger Sicht so subversiven wie hilflosen Bestrebungen, den Leserinnen des Genres anhand fiktiver medizinischer Protagonistinnen Formen des Scheiterns als mögliche Überlebensstrategie zu empfehlen.

L ITER ATUR Bachmann, Barbara und Bradenahl, Elke: Medizinstudium von Frauen in Bern, 1871-1914. Dissertation Universität Bern 1990. Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Stuttgart 1977. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 2008. Brupbacher, Paulette: Meine Patientinnen. Aus dem Sprechzimmer einer Frauenärztin. Zürich 1953. Frapan-Akunian, Ilse: Arbeit. Berlin 1903. Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a.M. 1977. Heusler-Edenhuizen, Hermine: Du musst es wagen! Lebenserinnerungen der ersten deutschen Frauenärztin. Reinbek b. H. 1999 (Original: Die erste deutsche Frauenärztin. Opladen 1997). Hoster, Hermann: Viele sind berufen. Ein Roman unter Ärzten. Leipzig o.J. (1933). Kienle, Else: Frauen. Aus dem Tagebuch einer Ärztin. Berlin 1932. Markwalder, Marga: Sinfonie der Liebe. Zürich 1953. Markwalder, Marga: Versunkene Melodie. Zürich und Stuttgart 1957. Möbius, Paul Julius: Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Halle an der Saale 1901. Propp, Vladimir und Eimermacher, Karl: Morphologie des Märchens. Frankfurt a.M. 1975.

50 | Swenson 2005, S. 125.

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Sommer, Roy: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: Berchem, Theodor u.a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Bd. 41, Berlin 2000, S. 319-341. Spyri, Johanna: Sina. Eine Erzählung für junge Mädchen. Stuttgart 1884. Swenson, Kristine: Medical Women and Victorian Fiction. Columbia 2005. Ury, Else und Sedlacek, Robert : Nesthäkchen fliegt aus dem Nest. Erzählung für junge Mädchen. Berlin o.J. (1921). Ury, Else: Studierte Mädel. Eine Erzählung für junge Mädchen. Stuttgart o.J. (1906). Verein Feministische Wissenschaft Schweiz: Ebenso neu als kühn. 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich. Zürich 1988. Weedon, Chris: Gender, Feminism, and Fiction in Germany, 1840-1914. New York u.a. 2006. Wenger, Lisa: Die Wunderdoktorin. Heilbronn 1910. Yver, Colette: Der Kampf einer Aerztin. Luzern 1938.

Erzählsysteme der Pathologisierung Kranke Protagonistinnen in Romanen von Gabriele Reuter und Elfriede Jelinek Virginia Pinto

P ROBLEMSTELLUNG Welche erzähltechnischen Mittel können eingesetzt werden, um eine Romanfigur als krankhaft darzustellen und welches Wirkungspotential entfalten diese Darstellungsmittel vermutlich auf Seiten der Leserschaft? Im Lichte dieser Leitfrage werden im Folgenden zwei Romane verglichen: »Aus guter Familie« von Gabriele Reuter und »Die Klavierspielerin« von Elfriede Jelinek. Es wurden bewusst zwei Romane gewählt, die zu verschiedenen Zeiten geschrieben wurden und in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten spielen, in denen die Protagonistinnen jedoch beide an ihrem Leben scheitern und dieses Scheitern explizit ihren psychischen Leiden zugeschrieben wird. Die Diskrepanz der sozialen Umstände und der Charaktereigenschaften der Protagonistinnen verstärkt die Wirkung ihres gemeinsamen Schicksals. In einer kurzen Zusammenfassung soll zunächst der Inhalt der Romane vorgestellt werden. »Die Klavierspielerin«: Erika Kohut, Ende dreißig und Klavierprofessorin am Wiener Konservatorium, lebt alleine bei ihrer Mutter. Diese kontrolliert zwanghaft jeden Schritt ihrer Tochter. Erika selbst verhält sich ihrer Mutter gegenüber sehr angepasst, gleicht den inneren Druck jedoch einerseits mit Selbstverletzungen und andererseits mit einer oft abschätzigen Behandlung ihrer Schüler aus. Einem dieser Schüler, Walter Klemmer, gelingt es, trotz des Kontrollsystems von Erikas Mutter, Erika näher zu kommen. Es beginnt ein abartiges Spiel zwischen den beiden, das in der Bitte Erikas gipfelt, Klemmer solle an ihr sadistische Praktiken durchführen. Dieser hat zwar kein Verständnis für Erikas Forderungen, vergewaltigt sie aber dennoch in ihrer eigenen Wohnung und schlägt sie nieder. Nach diesem Ereignis schwankt Erika zwischen Mord- und Versöhnungsabsichten. Sie rächt sich jedoch nicht an ihrem Peiniger, sondern sticht sich selbst mit einem Messer durch die Schulter und

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geht blutend aus der Musikschule nach Hause, zurück in die Obhut ihrer Mutter. Hier endet der Roman und lässt einen ziemlich ratlosen Leser zurück. »Aus guter Familie«: Im Roman von Gabriele Reuter geht es um Agathe, ein an sich fröhliches Mädchen, bereit, die Welt zu entdecken. Doch es nimmt ein trauriges Ende als psychisch zerrüttete Frau. Schnell wird klar, dass Agathe dazu neigt, sich in alle nur erdenklichen Vorstellungen und Gefühle hineinzusteigern. Sie reagiert oft übersteigert und wird von ihren Empfindungen beherrscht. Dazu kommt eine extreme Überprotektion ihrer Eltern, welche dazu führt, dass Agathe nicht richtig leben kann, da ihr alles vorgeschrieben wird, sogar ihre Denkweise. Ihre ohnehin schon schwachen Nerven werden zusätzlich belastet, weil sie bei den Männern, denen sie zugetan ist, stets auf Ablehnung stößt. Was als harmlose Überreiztheit begonnen hat, nimmt hysterische Züge an. Auch ihre Eifersucht auf andere Frauen nimmt Formen an, die man als krankhaft einstufen muss. Dies alles hat auch physische Folgen. Nachdem Agathe erfahren hat, dass ihr Geliebter mit einer anderen Frau ein Kind gezeugt hat, erhitzt sie das so sehr, dass sie einen gefährlichen Hustenanfall bekommt und Blut spuckt. Von diesen körperlichen Symptomen vermag sie sich zu erholen, seelisch jedoch bleibt sie gebrochen. Sie kann die darauf folgenden Enttäuschungen nicht mehr verkraften und verbringt schließlich, nach der Entlassung aus einer psychiatrischen Anstalt, den Rest ihres Lebens resigniert an der Seite ihres Vaters. Der folgenden Untersuchung liegt die These zugrunde, dass sich unter dem Blickwinkel der Pathologisierung seitens der Erzählinstanz und seitens der Nebenfiguren bedeutend mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Romanen herauskristallisieren, als es die beiden doch eher unterschiedlichen Werke auf den ersten Blick vermuten lassen. Die Wirkungsstrategie beider Texte besteht nämlich darin, durch eine erbarmungslose und überzeichnete Offenlegung des krankhaften Verhaltens der Figuren die Leserinnen und Leser zu kritischer Hinterfragung der impliziten Wertsysteme anzuregen. Im Hinblick auf eine kulturwissenschaftliche Textanalyse geht es hier nicht darum, psychologisierend nachzuvollziehen, was die Protagonisten fühlen oder erleben, sondern zu untersuchen, wie sie sprachlich dargestellt werden und wie diese Darstellung auf den Leser wirkt. Im Falle von Erika und Agathe bedeutet dies, dass die psychische Schädigung der beiden Frauen nur eine untergeordnete Rolle spielt und der Fokus der Untersuchung auf der Art und Weise liegt, wie diese pathologischen Zustände erzähltechnisch vermittelt werden. Es gilt zu untersuchen, wie die beiden Hauptfiguren pathologisiert werden, wer die Wertungen ausspricht und welche Wirkungen dies beim Leser erzielt. Es geht dabei um drei Leitfragen:

Erzählsysteme der Pathologisierung

1. Wer pathologisiert? 2. Wie wird pathologisiert? 3. Welche Wirkung erzielt diese Pathologisierung? Erzählanalytisch orientiert sich die folgende Untersuchung an den von Jürgen H. Petersen entwickelten Kategorien.1 Die Frage, wie die eingesetzten formalen Erzählmittel zusammen wirken, um die Rezeption durch die Leserschaft zu steuern, wird dabei im Vordergrund stehen.2 Aussagen zu einer möglichen Wirkung des literarischen Textes bleiben dabei immer hypothetisch. Die Hypothesenbildung geht von eigenen Leseerfahrungen aus, die aber durch die angewandten textanalytischen Verfahren intersubjektiv diskutierbar gemacht werden sollen.

E RZ ÄHLFORM Unter der Erzählform versteht Petersen das ontische Verhältnis der Erzählinstanz zum Erzählten.3 Erzählt der Narrator von sich selbst (Ich), vom Angesprochenen (Du) oder von Dritten (Er resp. Sie)? In den beiden vorliegenden Romanen erzählt der Narrator von Dritten, also handelt es sich bei beiden Erzähltexten um eine Er- resp. Sie-Form. Was bedeutet diese Formwahl für die Wirkung pathologisierenden Erzählens auf die Leserschaft? Eine Antwort auf diese Frage kann augenfällig demonstriert werden, wenn man als Experiment einen Formwechsel durchführt. Im Originaltext heißt es bei Elfriede Jelinek: Die Mutter streift jetzt in erhöhtem Tempo unter dolchigen Uhrblicken wie ein Wolf durch die Wohnung. Sie nimmt im Zimmer der Tochter Aufenthalt, wo es weder eigenes Bett noch eigenen Schlüssel gibt. […] Jetzt läuft noch ein Nachtgespräch, das sie sich nicht anschauen möchte, weil sie dabei einschliefe, was nicht geschehen darf, bevor das Kind nicht zu einem formlosen Knäuel zusammengestaucht ist.4 Leise aber dunkelrot sprintet die Mutter von dem Ort ihres letzten Aufenthalts hervor, reißt etwas irrtümlich um und die Tochter beinahe zu Boden, eine Phase des Kampfs, die erst später dran sein wird. Sie schlägt lautlos auf ihr Kind ein und das Kind schlägt nach einer kurzen Reaktionszeit zurück. 5 1 | Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart und Weimar 1993. 2 | Petersen modelliert die wirkungsästhetische Steuerung der Rezeption mit dem Begriff der »Reliefbildung«, S. 86f. 3 | Petersen 1993, S. 53. 4 | Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Hamburg 2006, S. 153f. 5 | Jelinek 2006, S. 158.

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Nun wird diese Passage aus »Die Klavierspielerin« versuchsweise so abgeändert, dass sie aus der Sicht der Protagonistin in der Ich-Form erzählt wird: Meine Mutter streift jetzt in erhöhtem Tempo unter dolchigen Uhrblicken wie ein Wolf durch die Wohnung. Sie nimmt in meinem Zimmer Aufenthalt, wo es weder eigenes Bett noch eigenen Schlüssel gibt. […] Jetzt läuft noch ein Nachtgespräch, das meine Mutter sich nicht anschauen möchte, weil sie dabei einschliefe, was nicht geschehen darf, bevor sie mich nicht zu einem formlosen Knäuel zusammengestaucht hat. Leise aber dunkelrot sprintet meine Mutter von dem Ort ihres letzten Aufenthalts hervor, reißt etwas irrtümlich um und mich beinahe zu Boden, eine Phase des Kampfs, die erst später dran sein wird. Sie schlägt lautlos auf mich ein und ich schlage nach einer kurzen Reaktionszeit zurück.

In der Originalfassung erlebt der Leser die Situation von außen, d.h. er sieht aus großer Distanz, wie ein zutiefst pathologisches Geschehen sich abwickelt. Die Mutter wird als überbesorgt, kontrollsüchtig und sehr dominant wahrgenommen, die Tochter Erika als hasserfüllte, Menschen verachtende Irre. In den zur Ich-Form variierten Textpassagen können wir demgegenüber als Leser die Schilderung der Mutter aus der Perspektive der Tochter nachvollziehen. Es ist verblüffend, was ein solcher Perspektivenwechsel bewirken kann: eine beinahe gegensätzliche Haltung. Indem Erika das Verhalten ihrer Mutter aus ihrer eigenen Sicht zu schildern vermag, wird ihre Reaktion nachvollziehbar: Erika kann kein ›normales‹ Leben führen, sie muss dem Groll, den ihre Mutter in ihr schürt, auf irgendeine Art Luft verschaffen. Auch wenn sie einen eigenartigen Weg wählt, vermag der Leser ihr Verhalten nachzuvollziehen. Erika erscheint nun als das Opfer, dessen Verhalten eine unvermeidliche Reaktion auf die Erziehungsmethoden der Mutter ist. Indem Erika reagiert und sich auflehnt, scheint sie allmählich zu genesen. Bei Gabriele Reuters Roman hat ein solcher Perspektivenwechsel eine ähnliche, wenn auch weniger drastische Wirkung. Im Originaltext heißt es: Sie sorgte mit peinlicher Pflichttreue für deren Anzug, für Zahnbürsten, Stiefel und Korsetts. Aber wenn Agathe mit einem Ausbruch ihres brennenden Interesses für alles und jedes in der Welt […] zu ihrer Mutter kam, sah sie immer nur dasselbe halb verlegene, halb beschwichtigende Lächeln auf dem blassen, kränklichen Gesicht. Und gerade dann wurde ihr meist das Wort abgeschnitten mit einer von den unaufhörlichen Ermahnungen: Halt’ Dich gerade, Agathe – wo ist Dein Zopfband wieder geblieben! Wirst Du denn nie ein ordentliches Mädchen werden?6

6 | Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Berlin 1904, S. 44.

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Aus Agathes Sicht erzählt lautet die Stelle: Meine Mutter sorgte mit peinlicher Pflichtreue für meinen Anzug, für Zahnbürsten, Stiefel und Korsetts. Aber wenn ich mit einem Ausbruch meines brennenden Interessens für alles und jedes in der Welt […] zu ihr kam, sah ich immer nur dasselbe halb verlegene, halb beschwichtigende Lächeln auf dem blassen, kränklichen Gesicht. Und gerade dann wurde mir meistens das Wort abgeschnitten mit einer von den unaufhörlichen Ermahnungen: Ich solle mich gerade halten – wo mein Zopfband wieder geblieben sei. Ob ich denn nie ein ordentliches Mädchen werde.

In der Sie-Form erzählt wird Agathe vom Leser als überempfindliches Mädchen wahrgenommen, das sich in alles hineinsteigert, übertrieben und panisch auf kleinste Probleme und Hindernisse reagiert und dessen Verhalten man kaum nachvollziehen kann. Aus Agathes Ich-Perspektive erzählt, erscheint ihr Verhalten dem Leser nun als folgerichtig; denn wer so über seine Mutter sprechen kann, hat sie überwunden. Die einzige Person, welche der Leser nun als befremdlich einstufen kann, ist Agathes Mutter. Ihr Unvermögen, dem Mädchen Rede und Antwort zu stehen, mit ihr die Welt zu entdecken, mit ihr zu scherzen oder zu diskutieren, ihr Ängste und Sorgen zu nehmen, führt dazu, dass Agathe mit ihrem Wissenshunger und mit ihrer Neugierde gänzlich allein ist. Es ist somit nachvollziehbar, dass diese ungeklärten Fragen Agathe zu erdrücken und schließlich auch zu ängstigen beginnen. Wenn es also in diesen Romanen darum gegangen wäre, Leserinnen und Leser in eine identifikatorisches, mitempfindendes und verständnisvoll-mitleidendes Verhältnis zu den dargestellten Protagonistinnen zu bringen, wäre wohl die Ich-Erzählform die angemessene Vermittlungs- und Steuerungsstrategie gewesen. Identifikatorisches Mitgefühl ist also wohl hier nicht das intendierte Wirkungspotential. Leserinnen und Leser sollen durch die distanzierte Erzählform der dritten Person in eine ganz andere Haltung gebracht werden, die es nun schrittweise zu rekonstruieren gilt.

E RZ ÄHLVERHALTEN Um zu entschlüsseln, wer in den Texten die beiden Frauen pathologisiert, muss der Aspekt des Erzählverhaltens untersucht werden. Nach Jürgen H. Petersen sind drei Arten des Erzählverhaltens zu unterscheiden: das auktoriale, das personale und das neutrale.7 Diese Kategorien fassen in erster Linie das Verhalten des Narrators zum Erzählten ins Auge. Verhält sich der Narrator auktorial, bringt er sich selbst ins Spiel, indem er die Handlung nicht auf sich beruhen 7 | Petersen 1993, S. 68f.

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lässt, sondern zusätzlich eigene Überlegungen, Meinungen und Kommentare einfließen lässt. Beim personalen Erzählverhalten schildert der Narrator die Geschehnisse streng aus der Perspektive der Figur, und alle weiteren Aspekte scheinen für ihn verborgen, wie für die Figur selbst. Das neutrale Erzählverhalten schließlich rückt weder die Sicht einer Figur noch die des epischen Mediums in den Vordergrund, sondern es suggeriert schlichteste Objektivität. Im Roman »Aus guter Familie« findet man folgende Passage: Sie liebte Lutz – und sie glaubte an seine Reinheit, wie an seine Schönheit, wie an seine Liebe – glaubte blind mit Fanatismus – dem Märtyrer gleich, der seinem Gotte Jubellieder singt, während die wilden Tiere seine Glieder zerreißen und er das Herzblut zu des Herrn Ehren opfern darf. 8

Hier wechseln sich neutrales und auktoriales Erzählverhalten ab. Dass Agathe Lutz liebt, ist eine neutrale Feststellung, der die junge Frau auch ohne Einspruch zustimmen würde. Die Attribute, die diese Liebe beschreiben, entspringen jedoch ausnahmslos der Auffassung der Erzählinstanz. Agathe wird als fanatische, blind-naive Person dargestellt, die in ihrer Liebe jeglichen Bezug zur Realität verloren hat, so dass sie sich von ihrem Angebeteten innerlich zerstören lässt. Mit Hilfe des auktorialen Erzählverhaltens schreibt somit die Erzählinstanz der Protagonistin Symptome krankhaften Verhaltens zu. Dasselbe Phänomen findet sich in Jelineks Roman: Erika sieht auf ihrem Schulweg beinahe zwanghaft überall das Absterben von Menschen und Esswaren, sie sieht nur selten, dass etwas wächst und gedeiht. 9

Dass Erika auf dem Schulweg allerlei Dinge sieht, ist eine neutrale Beobachtung, dass sie es jedoch zwanghaft tut, ist eine Symptomzuschreibung durch die Erzählinstanz. Der auktoriale Narrator in Elfriede Jelineks Roman ist aber nicht die einzige pathologisierende Instanz. Von Zeit zu Zeit richtet der Fokus des Narrators sich auf Erikas Mutter oder auf Walter Klemmer. In diesen Situationen wird sein Erzählen jedoch episodenweise personal, d.h. es werden keine von der Personenperspektive abweichenden Wertungen ins Spiel gebracht: Herr Klemmer will so gern Erikas Freund werden. Dieser formlose Kadaver, diese Klavierlehrerin, der man den Beruf ansieht, kann sich schließlich noch entwickeln, denn zu alt ist er gar nicht, dieser schlaffe Gewebesack. Sie ist sogar relativ jung, vergleicht man sie mit ihrer Mutter. Dieses krankhaft verkrümmte, am Ideal hängende Witzwesen, veridio8 | Reuter 1904, S. 173. 9 | Jelinek 2006, S. 94.

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tet und verschwärmt, nur geistig lebend, wird von diesem jungen Mann auf das Diesseits umgepolt werden. Die Freuden der Liebe wird sie genießen, warte nur!10

Dieses personale Erzählverhalten, das der Narrator hier bei der Vermittlung der Perspektive der Gegenspielerfigur an den Tag legt, zielt ab auf eine ganz bestimmte Wirkung auf den Leser. Indem die Erzählinstanz die Protagonistin auch durch eine andere Romanfigur pathologisieren lässt, von der sie sich nicht auktorial differenziert, wird Objektivität und Zuverlässigkeit des Erzählens simuliert. Sobald nämlich der Narrator als Einziger drastisch pathologisiert, hat der Leser immer die Möglichkeit, diese Perspektive zu problematisieren und die Erzählinstanz als einen unzuverlässigen Erzähler zu relativieren. Die Polyperspektivität der pathologisierenden Rhetorik bestärkt den Leser hingegen in der Annahme, dass mit der Protagonistin einfach etwas nicht stimmt. In »Aus guter Familie« finden sich ebenfalls Beispiele, welche aufzeigen, wie man durchaus auch mit personalem Erzählverhalten eine Figur krank wirken lassen kann. Lieber Gott, verlass mich bloß nicht! – Vielleicht kam die Prüfung über sie, weil sie in der Beichte, die sie hatte niederschreiben und beim Geistlichen überreichen müssen, nicht aufrichtig gewesen… Hätte sie sich so entsetzlich demütigen sollen… das benennen? Nein – nein – nein – das war ganz unmöglich. Lieber in die Hölle.11

Im diesem Beispiel ist klar zu erkennen, wie die Erzählinstanz personal aus der Sicht Agathes berichtet. Am Anfang und am Schluss des Zitats findet ein innerer Monolog statt, während die Passagen dazwischen die Innensicht mittels einer erlebten Rede verdeutlichen. Die Präsenz des Narrators scheint in den Hintergrund zu treten. Jedoch lässt Agathes innerer Monolog deutlich erkennen, dass sie psychische Probleme hat. Besonders ihre Zwanghaftigkeit wird durch stilistische Mittel hervorgehoben. Die Methode des personalen Erzählens wirkt auf den Leser wesentlich manipulativer als die des auktorialen, denn es wird ihm nun besonders schwer gemacht zu erkennen, dass die Figur der Agathe nach wie vor ein literarisches Konstrukt ist, dass sie nicht krank ist, sondern als krank dargestellt wird. Je mehr der Erzähler in den Hintergrund tritt, desto mehr vergisst man seine Präsenz und beginnt, den Figuren Eigenständigkeit zuzuschreiben. Auch wirken die Figuren umso kränker, je mehr sich der Erzähler mit subjektiven Wertungen zurückhält. Man vertraut der expliziten auktorialen Erzählinstanz weniger als der personalen Erzählinstanz, welche beim Leser durch ihre Innensicht das Bewusstsein der fiktionalen Inszeniertheit des Erzählens abschwächt. 10 | Jelinek 2006, S. 69. 11 | Reuter 1904, S. 9.

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Die Wirkung des personalen Erzählens wird in Reuters Roman noch verstärkt durch eine deutlich sichtbare Differenzierung des sprachlichen Stils der erzählten Personen resp. des Narrators.12 Der Narrator sowie die Nebenfiguren der erzählten Welt weisen eine deutlich andere Sprechart auf als die Protagonistin. Mit anderen Worten: Je klarer und nüchterner die Erzählinstanz und die übrigen Figuren sprechen, umso stärker sondern sich die wirren Aussagen und Gedanken der Protagonistin ab. ›Ich will nicht mit Eugenie! Ich will nicht! Lasst mich hier allein, Papa – ganz mutterseelen allein,‹ flehte Agathe ihren Vater an. ›Du sollst sehn, dann werde ich vernünftig! Ich habe nur eine solche Sehnsucht, einmal ganz allein zu sein – gar nicht sprechen zu brauchen – und gar keine Stimmen zu hören. Ich kann eure Stimmen nicht mehr vertragen. – das ist die ganze Geschichte. Ich will nicht zu einem Doktor.‹ Eugenie und Papa blickten sich bedeutungsvoll an. Der Regierungsrat seufzte tief. ›Kranke haben keinen Willen‹, sagte Eugenie energisch und packte die Koffer.13

Die Sprache Eugenies und der Erzählinstanz bleibt sehr nüchtern. Eugenie formuliert mit der scheinbaren Sachlichkeit eines Gemeinplatzes die härteste Konsequenz aus der Zuschreibung pathologischer Zustände. Der Narrator kommentiert die Szene unbeteiligt. Im Vergleich dazu klingt Agathes Sprechen verzweifelt, von Angst beherrscht. Sie kann kaum einen Satz vollenden. Sie stößt die Worte wie in abgerissenen Fetzen aus und wiederholt sie zuweilen, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen. Es ist die Gegenüberstellung der verschiedenen Sprachstile, was die Protagonistin in ihrer Andersartigkeit hervortreten lässt.

S TANDORT UND E RZ ÄHLHALTUNG DES E RZ ÄHLERS Nachdem die Frage nach den Redesubjekten pathologisierender Rhetorik in den untersuchten Romanen behandelt wurde, soll nun charakterisiert werden, wie die Protagonistinnen pathologisiert werden. Dazu muss man sich dem Standort des Erzählers, dem so genannten Point of View, widmen. Darunter versteht man das raum-zeitliche Verhältnis des Narrators zu den Figuren und Vorgängen, welche er schildert. Das lokale wie temporäre Verhältnis lässt sich nach Nähe und Entfernung, sprich nach größerem oder geringerem Überblick bestimmen.14

12 | Petersen 1993, S. 81f. 13 | Reuter 1904, S. 366. 14 | Petersen 1993, S. 65.

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Der Narrator beider Romane kennt das gesamte Umfeld der Protagonistinnen, all ihre Bekannten und kann somit aufzeigen, wie deutlich sich die beiden Frauen in ihrem Verhalten und ihren Denkweisen absondern. Gerade weil sein Fokus nicht stetig auf Agathe und Erika ruht, kann er ihre Eigenschaften stärker hervortreten lassen. »Agathe, hast du schon einmal einen Mann gern gehabt?«, fragte Eugenie leise. »Aber Eugenie, wie kannst du denn so etwas denken«, flüsterte Agathe erschrocken und wurde dunkelrot. »Du hast kein Vertrauen zu mir«, sagte Eugenie […]. »Wenn du offen wärest, würde ich dir auch etwas gesagt haben. Aber du bist immer so versteckt. Du bist eine Tugendheuchlerin. Ja, das bist du.«15

In dieser Passage erkennt man, wie sehr sich Agathe von ihrer Freundin Eugenie unterscheidet. Wie sehr Agathe die Angst plagt, etwas Untugendhaftes zu tun oder lediglich auszusprechen, wie sehr sie es sich aber insgeheim wünscht und wie sehr sie mit ihrer Haltung auf Abneigung und Unverständnis stößt. Die Erzählhaltung bezeichnet die wertende Einstellung des Narrators zum erzählten Geschehen und zu den Figuren.16 Auch sie gibt Aufschluss darüber, wie pathologisiert wird. Unter Geträne setzt sich Erika die gierigen Blutegel der frohbunten Plastik-Wäscheklammern an den Leib an. An Stellen, die für sie leicht erreichbar sind und später durch blaue Flecken gekennzeichnet sein werden. Weinend zwängt Erika ihr Fleisch ein. Sie bringt ihre Körperfläche aus dem Gleichgewicht. Sie bringt ihre Haut aus dem Takt. Sie spickt sich mit Haus- und Küchengerät. […] Wo eine leere Stelle aufscheint im Register ihres Leibes, wird sie gleich zwischen die gierigen Scheren der Wäscheklemmen gezwickt. Der straff gespannte Zwischenraum wird heftig mit Nadeln gestochen.17

Der Narrator scheint hier nichts anderes zu tun, als Erikas Selbstverstümmelung wiederzugeben. Er nimmt keine Stellung zum Geschehen ein. Erikas Handlungen werden mit einer Leichtigkeit abgehandelt, als wären sie vollkommen natürlich, als wäre ihr Selbstmitleid gar lästig. Die Plastikklammern, die, und das grenzt nahezu an Sarkasmus, mit dem Adjektiv »frohbunt« begleitet werden, weisen erneut darauf hin, dass Erika in ihrem Schmerz nicht ernst genommen wird. Diese übertriebene Beiläufigkeit, mit welcher die Erzählinstanz die Szene schildert, bewirkt beim Leser jedoch das Gegenteil. Gerade weil der Narrator der Szene keinerlei Pathos verleiht, sondern sie vielmehr 15 | Reuter 1904, S. 50. 16 | Petersen 1993, S. 78. 17 | Jelinek 2006, S. 253.

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einer ironischen Bedienungsanleitung für Selbstverstümmelung gleichkommen lässt, wird die Betroffenheit des Lesers verstärkt. Es kann somit trotz fehlender auktorialer Erzählweise nicht von Neutralität gesprochen werden. Denn gerade dieses offensichtliche und gewollte Nicht-Werten des Narrators offenbart das Unsagbare dieser Szene. Die Erzählhaltung ist, wie eben geschildertes Beispiel gezeigt hat, ein wichtiges Steuerungsmittel für die Wirkung der Pathologisierung auf die Leserschaft. Wird der Leser von der Erzählinstanz beeinflusst? Handelt es sich um gelenkte oder freie Rezeption?18 Hier wird die These vertreten, dass es sich bei beiden Romanen um gelenkte Rezeption handelt. Die Lektüre bewirkt beim Leser unweigerlich eine Art Wut, eine Wut auf die Welt, in der die Protagonistin leben muss, welche bewusst vom Narrator erzielt wird, indem er sich gegen die Protagonistinnen stellt. Das Schicksal der beiden Frauen und die Tatsache, dass sie mit ihren Problemen alleine dastehen, wirken auf den Leser empörend. Indem der Narrator, wie bereits deutlich wurde, die beiden Frauen weder bemitleidet noch verteidigt, sondern ihre Situation ins grelle Licht, mitunter auch ins Lächerliche zieht, so dass Erika und Agathe doppelt ausgeliefert sind, dem bösen Schicksal und den bösen Augen der Erzählinstanz – bewirkt er beim Leser eine Solidarisierung mit den Protagonistinnen. Für ihn ist es nicht nachvollziehbar, weshalb die Erzählinstanz so kalt und gefühllos mit den beiden umgeht, und infolgedessen greift die schon vorhandene Wut auf das Umfeld der Protagonistinnen auch auf den Narrator über der in die genau gleiche Kerbe drischt wie die anderen Figuren im Umfeld der Protagonistin. Der Narrator versteht die beiden Frauen nicht und somit bleibt der Leser die einzige Instanz, welche Verständnis auf bringen kann. Man stelle sich vor, der Narrator nähme die gänzlich entgegengesetzte Haltung ein. Würde dies dann nicht auch beim Leser ins Gegenteilige schwenken? Müsste er auf den 300 Seiten bei Jelinek beziehungsweise den 500 Seiten bei Reuter immer wieder lesen, wie arm und vom Schicksal gepeinigt Erika und Agathe seien, wäre es nachvollziehbar, wenn sich das Mitleid in Grenzen hielte und sich vielmehr eine Art Gereiztheit einstellen würde. Es braucht somit diese gelegentlich ungerechte Behandlung der Protagonistinnen seitens des Narrators, damit sich Mitleid und Verärgerung die Waage halten können. Zudem hat die eher erschreckende Art der Pathologisierung einen weiteren Effekt: Da sie oftmals überzeichnet wirkt, erwecken die Romane den Anschein einer Karikatur, eine Karikatur dessen, wie man zwei Frauen um ihren Verstand bringen kann. Auf überspitzte Weise wird eine Welt dargestellt, wie sie genau nicht sein sollte.

18 | Petersen 1993, S. 36-39.

Erzählsysteme der Pathologisierung

S TRUK TUR DES P LOTS Durch pathologisierende Rhetorik im Roman wird nicht bloß die affektive und wertende Einstellung der Leserschaft gesteuert, sondern es werden auch bestimmte Erwartungen bezüglich der Plotstruktur, d.h. bezüglich des zu erwartenden Handlungsablaufs, geweckt. Dies gilt insbesondere für Erwartungen, die sich auf das Ende der Romane beziehen. Während der Leser Agathes Untergang erwartet, der dann schließlich auch eintrifft, wird er durch das Ende von Jelineks Roman überrascht. Erika zieht unvermutet ihren eigenen Schluss: »Erika weiß die Richtung, in die sie gehen muss. Sie geht nach Hause.«19 Der Schluss ist abrupt und macht verlegen. Er enttäuscht die Erwartungen, die der Roman geweckt hat. Man hätte sich Erika mehr Selbstsicherheit und mehr Stolz gewünscht; den Mut zu tapferer Konsequenz, wie Selbstmord oder ein Ultimatum an die Mutter oder Walter Klemmer. Stattdessen Erikas stille Resignation. Der Text inszeniert den Bruch von Erwartung und deren Nichteinlösung. Wie schon erläutert, wird Erikas Mutter vom Narrator so dargestellt, dass man sie zu verabscheuen beginnt und ihr die Schuld für Erikas Zustand gibt. Erika ist das eigentliche Opfer. Kein Wunder, dass man nicht verstehen kann, weshalb sich Erika nicht endlich von ihr distanziert. Der Leser muss sich folglich fragen, ob Erika schlechthin nicht anders kann und der vorliegende Ausgang des Romans also der einzig folgerichtige sei. Hätte Erika die nötige Kraft, sich von ihrer Mutter loszusagen? Könnte sie unabhängig sein oder wäre sie vielmehr ohne die stetige Überwachung der Mutter verloren? Könnte es gar sein, dass sich die beide Frauen gegenseitig brauchen? Braucht die Mutter Erika, um ihre Kontrollgewalt auszuüben und Erika ihre Mutter, um sich der Verantwortung für ihr Handeln zu entziehen? Braucht Erika die mütterlichen Verbote, damit sie diese brechen kann und steigert die Vorstellung, ertappt zu werden, die Lust an ihren sexuellen Unternehmungen? Könnte sie sich selber spüren ohne die Selbstverletzungen? All diese Fragen hätte man sich ohne diesen Schluss nicht zu stellen brauchen. Indem der Leser diese Mutter-Tochter-Beziehung anders zu bewerten beginnt, sieht er sie plötzlich in einem ganz anderen Licht.

B AUFORM UND U RSACHENSCHEMA Auch Bauformen des analytischen Erzählens können dazu eingesetzt werden, Erwartungen zu wecken, den Anschein von Objektivität des Geschehens zu

19 | Jelinek 2006, S. 285.

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erzeugen.20 Dazu werden beispielsweise Rückgriffe in die Vergangenheit eingesetzt. In den beiden Romanen kommen Anekdoten aus der Kindheit der Protagonistinnen vor, welche bestimmte Vorfälle, die für die Krankheitsbilder von Belang sind, offenbaren. Beide Romane sind weitgehend chronologisch erzählt, die wenigen Rückgriffe auf die Kindheit sind deshalb umso signifikanter. In »Die Klavierspielerin« finden sich einige Passagen, die in die Vergangenheit rückgreifen. Die markanteste ist folgende: Es ist einer von diesen böse flimmernden Frühlingstagen gewesen, an dem die Damen Kohut den bereits vollkommen orientierungslosen und verstandesschwachen Vater in das niederösterreichische Sanatorium eingeliefert haben, bevor das staatliche Irrenhaus Am Steinhof – selbst der Landesfremde kennt es aus düsteren Balladen – ihn aufnahm und zum Bleiben einlud. So lange er wollte! Ganz wie gewünscht. […] Der Vater begreift nicht, weswegen er hier ist, denn hier ist er doch nicht zuhause gewesen. Es wird ihm viel verboten, und der Rest wird auch nicht gern geschehen. Was er tut ist falsch, daran ist er freilich gewöhnt, von seiner Gattin her. […] Wie bekäme sonst seine Familie den Störenfried ihrer Behaglichkeit los und die Zweifamilie ihre Reichtümer? […] Diese Höhlung, die sich schützend schließt, jetzt haben sie mehr Platz für ihre Hobbies, als je zuvor; jeden beliebigen nimmt die Wohnung nicht auf, nur den, der hierher gehört. 21

Einerseits zeigt diese Passage auf, dass auch Erikas Vater von psychischen Störungen litt, und andererseits wird deutlich, wie Mutter und Tochter damit umgehen. Sie bedauern diesen Vorfall nicht, sondern sind vielmehr erleichtert, den Störenfried endlich los zu sein. Erinnert sich der Leser an diese Rückgriffe, werden ihn Erikas Verbitterung und ihre Hassgefühle weit weniger überraschen. Hier wird der Leser mit einem Ursachenmodell konfrontiert. Das Mädchen hat nie Liebe erfahren, folglich ist die erwachsene Frau nicht in der Lage, selbst Liebe zu geben. Es wird vorausgesetzt, dass Erika keine andere Wahl hatte, als ihren Vater nicht zu lieben. Durch diese Erzählstrategie wird die die Schuld am erzählten pathologischen Zustand offensichtlich der Mutter zugewiesen, die ihrer Tochter die Liebe zum Vater vorenthalten hat. Die Mutter war weder eine liebende Mutter noch eine liebende Ehefrau. Sie steht bei Erika gleichsam doppelt in der Schuld. Von einer gesunden Entwicklung Erikas kann deshalb nicht die Rede sein. Auch bei Gabriele Reuters Roman bekommt man Einblick in die Kindheit der Protagonistin, allerdings nicht mittels eines Rückgriffs, sondern indem der Roman Agathe seit ihrer Konfirmation bis ins mittlere Alter kontinuierlich begleitet. Und auch bei Agathe gibt es einschneidende Erlebnisse, die für die 20 | Petersen 1993, S. 43. 21 | Jelinek 2006, S. 96-101.

Erzählsysteme der Pathologisierung

Krankheit im Sinne eines impliziten Ursachenschemas von Bedeutung sind. Folgende Textstelle zeigt die Reaktion von Agathes Familie und Bekannten, als das Mädchen von ihrem Vetter ein Gedichtband von Georg Herwegh, einem Sozialrevolutionär, geschenkt bekommt. »Mein liebes Kind«, sagte Pastor Randler beschwichtigend zu Agathe, »ich denke, wir heben dir das Buch auf und bitten Vetter Martin, es gegen ein anderes umzutauschen. Es gibt ja so viele schöne Lieder, die für ein junges Mädchen geeigneter und dir besser gefallen werden.« Agathe war ganz blass geworden. »Ich hatte mir Herweghs Gedichte gewünscht«, stieß sie ehrlich heraus. »Du kanntest wohl das Buch nicht?« fragte ihr Vater mit derselben beängstigenden Milde, die des Pastors Vorschlag begleitete. Man wollte sie an ihrem Konfirmationstage schonen, aber es war sicher – sie hatte etwas Schreckliches getan! »Doch!« sagte sie eilig und leise und setzte noch schüchtern hinzu: »ich fand sie schön!« »Du wirst einige gekannt haben«, entschuldigte Pastor Randler. Sein Blick haftete eindringlich auf ihr. Sollte das sanfte Kind ihn mit ihrer innigen Hingabe an das Christentum getäuscht haben? Woher plötzlich dieser Geist des Aufruhrs? »Was gefiel dir denn besonders an diesen Geschichten?« prüfte er vorsichtig. »Die Sprache ist so wunderschön«, flüsterte das Mädchen verlegen. »Hast du dir nie klar gemacht, dass diese Verse mit manchem, was ich dich zu lehren versuchte, in Widerspruch stehen?« »Nein – ich dachte, man sollte für seine Überzeugungen kämpfen und sterben!« »Gewiss mein Kind, für eine gute Überzeugung. Aber für eine törichte, verderbliche Überzeugung soll man doch wohl nicht kämpfen?« Agathe schwieg verwirrt. Vater und Seelsorger sprachen miteinander. »Das sind doch besorgliche Symptome«, sagte der Regierungsrat. 22

Diese Begebenheit ist in mehrerer Hinsicht prägend für ihr späteres Leben. Augenfällig ist, dass das junge Mädchen nicht bloß von der eigenen Familie bevormundet wird, sondern dass sich auch der Pastor einmischt. Agathes Vergehen wird somit in der Öffentlichkeit diskutiert, was ihre Scham zusätzlich schürt. Dem Mädchen werden Schuldgefühle eingeflößt. Ohne ihr zu erklären, weshalb man über dieses Buch so empört ist, lässt man sie in ihrer Verwirrtheit völlig allein. Agathe befürchtet, etwas Verbotenes getan zu haben, doch niemand klärt sie auf. Es wird ihr eingeredet, falschen Überzeugungen nachzueifern. Man gibt Agathe nicht die Chance, selber zu entscheiden, was Recht und Unrecht ist. Ihr freier Wille wird von den Wertvorstellungen der Eltern unterdrückt, die ihrerseits tunlichst darauf achten, den Gepflogenheiten der Gesellschaft gerecht zu werden. Ihr Kind wurde so geformt, dass es dem Bild, welches die Eltern repräsentieren wollen, entspricht. Abweichungen werden sofort unterbunden und verdächtiges Benehmen bestraft. Eigene Ansichten und Erfahrungen werden so gut wie möglich durch strikte Kontrollen 22 | Reuter 1904, S. 23f.

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in Schach gehalten. Der Leser kann Agathes späteres Verhalten durchaus auf diese Kindheit zurückführen. Sie lebt in ständiger Angst, ihrer Familie Schande zuzufügen, und versucht krampfhaft, unlautere Gedanken zu verbannen. Da dieses Vorhaben scheitert, plagen sie starke Schuldgefühle. Verzweiflung und Aussichtslosigkeit kommen bei ihr auf. Je mehr Agathe versucht, den Erwartungen ihrer Eltern zu entsprechen, desto frenetischer wächst in ihr der Drang nach Freiheit. Ein Teufelskreis also, der Agathe zu vernichten droht.

F A ZIT Die These, dass die beiden verglichenen Werke mehr gemeinsam haben, als sich auf den ersten Blick vermuten lässt, hat sich bestätigt. Beide Protagonistinnen, sowohl Agathe als auch Erika, werden von der Erzählinstanz oder ihrem Umfeld auf eine eher abschätzige Art und Weise pathologisiert. Beim Leser baut sich eine Abwehrhaltung gegen diese pathologisierende Rhetorik auf. Obgleich sich die Figuren in ihrem Wesen unterscheiden mögen, kämpfen sie gegen einen gleichen Feind, gegen die Unterdrücker ihrer Freiheit. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Opferrolle, in der sich sowohl Agathe wie auch Erika befinden und zwar in doppelter Hinsicht: Opfer der Situation und des Umfelds innerhalb der erzählten Geschichte und darüber hinaus Opfer des unbarmherzigen Pathologisierungsefforts der Erzählinstanz. Es steht außer Frage, dass man sich gründlich mit der Art der Darstellung auseinandersetzen muss, um sich der Ähnlichkeiten des Dargestellten bewusst zu werden. Die Reaktionen und Verhaltensweisen beider Frauen lassen sich nur auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wenn der Leser Einblick in Wirkungsmechanismen der Texte erhält. Wenn er erfasst hat, dass diese Romane Pathologisierung als Erzählstrategie einsetzten und auf welche Art sie dies tun, wird ihm bewusst, dass Agathes und Erikas Verhalten Teil der von den Texten verwendeten Wirkungsstrategie ist. Beide Romane verfolgen die Strategie, ihre Hauptfiguren so unausweichlich krank wie nur möglich erscheinen zu lassen. Und da sowohl Erika wie auch Agathe sich nicht dagegen zu wehren vermögen, werden sie zu analogen Aktantinnen. Diese Analogie bezieht sich nicht direkt auf sie selbst als Individuen, sondern vielmehr auf die Art, wie sie ihre Rolle in der Wirkungsstrategie der jeweiligen Roman spielen. Nicht Agathe und Erika sind sich ähnlich, sondern die Aufgabe, welche sie im Roman zu erfüllen haben. Nicht die beiden Romane sind sich ähnlich, aber das Ziel, welches sie verfolgen, die Art, es zu erreichen und die Wirkung, die sie zu erzielen streben. Es wird Anklage erhoben gegen die in den Texten dargestellte Welt und gegen die Wertsysteme, welche in dieser dargestellten Welt die pathologisierende Rhetorik legitimieren. Auch die Erzählinstanz der untersuchten Romane verwendet diese pathologisierenden Wertsysteme. Das ist Teil

Erzählsysteme der Pathologisierung

der Wirkungsstrategie dieser Romane; denn der einzige Hoffnungsträger ist der Leser. Er versagt, wenn er die Perspektive des Narrators übernimmt, statt das Gelesene zu hinterfragen.

L ITER ATUR Jelinek, Elfriede: Die Klavierspielerin. Hamburg 2006. Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart und Weimar 1993. Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Berlin 1904.

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Einschlüsse und Ausschlüsse

Der Kredit von Freuds Krankheitsmetaphern Zum Grenzverkehr des Wissens zwischen Wahn und Theorie Martin Stingelin

Die Freudsche Psychoanalyse ist eine Disziplin des Wortes (und damit anfällig für die Disziplinlosigkeiten von Metaphern): Den Analysanden hält ihre Grundregel dazu an, alles zu sagen, was ihm durch den Kopf geht, selbst wenn es ihm unangenehm sein oder widersinnig erscheinen sollte; für den Analytiker sind Worte »das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung«, wie Freud sagt. Schon in einem der frühesten, noch ganz auf die Hypnose konzentrierten analytischen Texte von Sigmund Freud über die »Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)« findet sich 1890 die Prägung: »die Worte unserer täglichen Reden sind nichts anderes als abgeblaßter Zauber«.1 An Formeln wie dieser, die einen Grenzverkehr zwischen verschiedenen Reichen beschwören, hält Freud sein ganzes Leben lang fest, weil von ihrem Wortzauber nicht zuletzt die Gesetzeskraft der Psychoanalyse selbst herrührt: Wir glauben nicht an Worte, wir glauben ihrer metaphorischen Ausstrahlungskraft,2 und die Freudsche Psychoanalyse versucht uns durch diese Illusion von dieser ›Illusion‹ zu heilen, ohne ihr selbst gänzlich entgehen zu können.

1 | Freud, Sigmund: Psychische Behandlung (Seelenbehandlung) (1890, 1905). In: Ders.: Gesammelte Werke, herausgegeben von Anna Freud u.a. (London: Imgago Publishing Co. 1940-1987). Frankfurt a.M. 1999. Bd. V: Werke aus den Jahren 1904-1905, S. 289. Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert als G.W., Band- und Seitenzahlen. 2 | Vgl. dazu Legendre, Pierre: ›Die Juden interpretieren verrückt.‹ Gutachten zu einem klassischen Text (1981). In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 43. Jg., Heft 1 (Januar 1989), S. 20-39. Modifizierte Übersetzung in ders.: Vom Imperativ der Interpretation. Fünf Texte. Wien und Berlin 2010 (=Legendre, Pierre: Schriften. Herausgegeben von Mein, Georg und Pornschlegel, Clemens, Bd. 1), S. 165188. Vgl. ders. Paroles poétiques échappées du texte. Leçons sur la communication industrielle. Paris 1982, v.a. S. 84-85 und ders.: Leçons VI: Les enfants du Texte. Étude sur la fonction parentale des États. Paris 1992.

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Sprechen heißt handeln, und die performative Sprachgewalt, mit der Freud im Anschluss an die Formel »das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt« die Kraft des Wortes reflektierte, übte im Wintersemester 1915/16 ihrerseits auf die Hörerinnen und Hörer seiner ersten »Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse« eine bestrickende Verführungsmacht aus: »Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander.«3 Noch in »Die Frage der Laienanalyse« belebte Freud 1926 die Tat im Wort durch das biblische Zitat aus Goethes »Faust«, eine reiche Quelle der psychoanalytischen Autorität: »Gewiß, zu allem Anfang war die Tat, das Wort kam später, es war unter manchen Verhältnissen ein kultureller Fortschritt, wenn sich die Tat zum Wort ermäßigte. Aber das Wort war doch ursprünglich ein Zauber, ein magischer Akt, und es hat noch viel von seiner alten Kraft bewahrt.«4 Doch die Freudsche Psychoanalyse bezog nicht nur einen Teil ihrer Legitimität von den Dichtern und Romanciers, in deren Schatten sie sich bewegte, wie die belgische Psychoanalytikerin Lydia Flem in ihrem Buch »Der Mann Freud« belegt.5 Selbst der Anstoß zur Grundregel ging wohl von einem poetischen Text aus, von Ludwig Börnes Aufsatz über »Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden«, der mit der Anweisung schließt: »Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht«.6 Freud erkannte fünfzig Jahre später selbst in dieser Jugendlektüre eine im Verborgenen weiterwirkende, unbewusste Erinnerung, »jenes Stück Kryptomnesie […], das in so vielen Fällen hinter einer anscheinenden Originalität vermutet werden darf«.7

3 | Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/1917). In: G.W. XI: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 10. 4 | Freud, Sigmund: Die Frage der Laienanalyse. Unterredung mit einem Unparteiischen (1926), In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 14. Werke aus den Jahren 1925-1931. Frankfurt a.M. 1999, S. 207-296, S. 214. 5 | Vgl. Flem, Lydia: Der Mann Freud. Frankfurt a.M. u.a. 1993. 6 | Börne, Ludwig: Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden (1823). In: Ders., Sämtliche Schriften, neu bearbeitet und hg. von Inge und Peter Rippmann. Bd. 1. Düsseldorf 1964, S. 740-743, S. 743. 7 | Freud, Sigmund: Zur Vorgeschichte der analytischen Technik (1920). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12. Werke aus den Jahren 1917-1920. Frankfurt a.M. 1999, S. 307-312, S. 312.

Der Kredit von Freuds Krankheitsmetaphern

Lydia Flem schreibt in ihrem Buch »Der Mann Freud« diejenige Geschichte der Psychoanalyse, die sich hinter Freuds Metaphern verbirgt.8 Ihr Buch versteht sich als »Roman des Unbewußten«, »lebensnah erzählt von Freud, seinem Autor«.9 Es nimmt Teil am Glück der Freudschen Formulierungsgenauigkeit, der Freudschen Produktivität und seiner frühen Alterssorge um ihr Versiegen und lädt den Leser durch eine sehr geschickte Collagetechnik ein, daran teilzunehmen. Diese Collagetechnik gibt Freud als Mann des Wortes, des Buches und der Schrift zu erkennen.10 Vordergründig entspringen Freuds Metaphern11 – allen voran die allegorisch verdichteten Übertragungen aus dem Bildfeld der Archäologie12 – dem Bestreben, das Unsichtbare und Unsagbare durch Analogien augenfällig zu machen: »In der Psychologie können wir nur mit Hilfe von Vergleichungen beschreiben«,13 erläutert Freud in »Die Frage der Laienanalyse«. Gleichzeitig offenbart sich in diesen Behelfskonstruktionen eine noch größere Darstellungsnot, die Freud zur Mimesis zwingt: Er kann dem Unbewussten nur auf die Spur kommen, wenn er nach seinem Diktat schreibt (der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan sollte diese Mimesis schließlich zu sibyllinischer Vollkommenheit führen). Das innige Verhältnis von Selbstanalyse und Theorie wird getragen von Freuds Vertrautheit im Umgang mit den eigenen Leidenschaften, in denen Lydia Flem die Wurzeln seiner Metaphern erkennt. Von Freuds Alltag, über seine Reiselust, seiner Obsession für die Archäologie, seiner inneren Geographie, die sich zwischen Athen, Rom und Jerusalem bewegt, bis hin zu seinen Freundschaften entwickelt sie sorgfältig, »auf welche Weise Freud die psychoanalytische Theorie mit Hilfe der Metaphern seines Innenlebens erfindet«.14 8 | Vgl. Flem 1993, S. 168-182 (»Der Mann der Metaphern«). 9 | Flem 1993, S. 9. 10 | Vgl. dazu insbesondere auch Grubrich-Simitis, Ilse: Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Frankfurt a.M. 1993. 11 | Vgl. dazu etwa auch Flader, Dieter: Metaphern in Freuds Theorien. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 54. Jg., Heft 4, Stuttgart 2000, S. 354-389; Mahony, Patrick J.: Der Schriftsteller Sigmund Freud (1982, 1987). Frankfurt a.M. 1989, S. 119-141 (»Herkunft und Funktion bildhafter Sprache«); Schönau, Walter: Sigmund Freuds Prosa. Literarische Elemente seines Stils. Stuttgart 1968, S. 130207 (»Die Bildlichkeit«); Thonack, Klaus: Selbstdarstellung des Unbewußten. Freud als Autor. Würzburg 1997 (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 211), S. 62-69 (»Metaphorischer Diskurs«). 12 | Vgl. Cassirer Bernfeld, Suzanne: Freud und die Archäologie (1951). In: Bernfeld, Siegfried und dies.: Bausteine der Freud-Biographik. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt a.M. 1981, S. 237-259. 13 | Freud 1926, S. 222. 14 | Flem 1993, S. 8.

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Dabei steckt in ihrem Buch selbst ein Stück Kryptomnesie in Form von Walter Muschgs wortgewaltigem Aufsatz »Freud als Schriftsteller«. Der Basler Germanist hat darin auch jenes Feld von Freuds Metaphern abgesteckt, das er selbst nicht einnehmen wollte: »Es sei den Psychoanalytikern überlassen, den jeweiligen Anteil des Unbewußten an diesen Gebilden zu eruieren.«15 Lydia Flem hat es mit ihrem Buch »Der Mann Freud« erobert. Offen bleibt in ihrem Buch allerdings die Frage nach der Funktion von Metaphern in der Theorie und Praxis der Freudschen Psychoanalyse. Denn auch in der psychoanalytischen Übertragungs-/Gegenübertragungsdynamik erweist sich das Wort, dem Freud so großes Gewicht beimisst, oft genug als Metapher, ja als Allegorie im rhetorischen Wortsinn eines fortgewebten Bildteppichs. Unter Freuds Schülern war Sándor Ferenczi der virtuoseste Praktiker im Umgang mit dieser Dynamik. Am 21. April 1909 unterrichtet er den Gründervater der Psychoanalyse, durch intensive Lektüre an dessen Metaphorik eindringlich geschult, über ein ›Experiment‹, das die augenscheinlich unabweisbare Explosivität psychischer Energien ebenso dort dokumentiert, wo der von Freud sogenannte »seelische« oder »psychische Apparat« unter Druck gesetzt zu sein scheint, wie es die Frage stellt, woher diese Energien kommen: Im ›Fall‹ »eines jungen, sehr intelligenten ›Homosexuellen‹, der durch zwanzig Analysen beinahe ganz geheilt ist. Geheilt wenigstens quoad libidinem sexualem«, genügt eine kleine Induktion, damit die Versuchsanordnung dieses Experiments die Bedingungen seiner Möglichkeiten preisgibt: Die Mitteilung von der Existenz seines kolossal starken Mutterkomplexes löste bei ihm eine furchtbare Reaktion aus, die drei Tage andauerte. Es war eine Reaktion wie im Probierglas. Ich bohrte ein Loch in die Scheidewand zwischen Bw. [Bewußtsein] und Ubw. [Unbewußtem], womit ich ein Feuerwerk von motorischen und psychischen affektiven Entladungen entzündete. Nach dem Ablauf der ›Reaktion‹ sah ich einen veränderten Menschen vor mir.16

Tatsächlich hat Sigmund Freud selbst die Prometheussage in einem charakteristischen Umkehrschluss vom metaphorischen Bildfeld auf den ihm in seinen Augen zugrunde liegenden theoretischen Gehalt als Allegorisierung ›psychischer Energien‹ gelesen: »Die Undurchsichtigkeit der Prometheussage wie anderer Feuermythen wird durch den Umstand gesteigert, daß das Feuer

15 | Muschg, Walter: Freud als Schriftsteller. In: Die psychoanalytische Bewegung II. Jg., Heft 5 (September-Oktober 1930), S. 467-509, S. 493. 16 | Sándor Ferenczi an Sigmund Freud, Budapest, 21.IV.1909. In: Freud, Sigmund und Ferenczi, Sándor: Briefwechsel. Band I/1. 1908-1911. Hg. von Eva Brabant, Ernst Falzeder und Patrizia Giampieri-Deutsch. Wien, Köln und Weimar 1993, S. 112.

Der Kredit von Freuds Krankheitsmetaphern

dem Primitiven als etwas der verliebten Leidenschaft Analoges – wir würden sagen: als Symbol der Libido – erscheinen mußte.«17 Im Folgenden möchte ich diesen Grenzverkehr zwischen metaphorischen Bildfeldern und demjenigen, was die Psychoanalyse im griechischen Wortsinn von θεωρία (theoría) darin zu erschauen wähnt, untersuchen. Die Frage, der ich dabei auf den Grund gehen möchte: Woher rührt Sigmund Freuds Scheu vor der poet(olog)ischen Autoreflexion der eigenen, doch schon von Zeitgenossen wie dem Zürcher und Basler Literaturwissenschaftler Walter Muschg18 ebenso eingehend analysierten wie aufrichtig bewunderten literarischen Verfahren, die seither in Monographien etwa von Walter Schönau 19 und Patrick J. Mahoney20 Gegenstand vertiefter Untersuchungen waren?21 Freud war seinerseits 17 | Freud, Sigmund: Zur Gewinnung des Feuers (1932). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 16: Werke aus den Jahren 1932-1939. Frankfurt a.M. 1999, S. 3-9, S. 6. 18 | Vgl. Muschg, Walter: Psychoanalyse und Literaturwissenschaft (1930a). Antrittsvorlesung in Zürich 1929. In: Ders.: Pamphlet und Bekenntnis. Aufsätze und Reden. Ausgewählt und herausgegeben von Peter André Bloch in Zusammenarbeit mit Elli Muschg-Zollikofer. Olten und Freiburg i.B. 1968, S. 111-135; zuletzt wiederabgedruckt in Muschg, Walter: Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays. Herausgegeben von Julian Schütt und Winfried Stephan. Zürich 2009, S. 596-620, und ders.: Freud als Schriftsteller (1930b). München 1975. 19 | Vgl. Schönau 1968. 20 | Mahony 1989. 21 | Zu Freud und die Rhetorik bzw. Poetik im allgemeinen vgl. Benveniste, Émile: Remarques sur la fonction du langage dans la découverte freudienne (1956). In: Ders.: Problèmes de linguistique générale. Paris 1966, S. 75-87; Billig, Michael: Rhetoric and the Unconscious. In: Argumentation 12, 1998, S. 199-216; Goldmann, Stefan: Topik und Memoria in Sigmund Freuds Traumdeutung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72. Jg. (1998), Sonderheft »Medien des Gedächtnisses«, S. 157-173; Groddeck, Wolfram: Vom brennenden Buch. Ein poetologischer Versuch über Freuds Traumdeutung. In: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse 14. Jg., Heft 46 (1999/III), S. 63-76; ders.: Überinterpretation. Freud und die Literaturwissenschaft heute. In: Variations. Literaturzeitschrift der Universität Zürich 15 (2007), S. 181-192; Hiebel, Hans: Witz und Metapher in der psychoanalytischen Wirkungsästhtik. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 28 (1978), S. 129-154; Holt, Robert R.: Freud’s Cognitive Style. In: American Imago 22 (1965), S. 163-175; Jaffe, Samuel: Freud as Rhetorician: Elocutio and the Dream-Work. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 1 (1980), S. 42-69; Stockreiter, Karl: Traumrhetorik – Rhetorik der Kunst – Kunst der Rhetorik. In: Ders. (Hg.): Schöner Wahnsinn. Beiträge zu Psychoanalyse und Kunst. Wien 1998, S. 13-36; ders.: Traumrede. Der Bruch mit der klassischen Rhetorik in der Traumdeutung. In: Marinelli, Lydia und Mayer, Andreas (Hg.): Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Freuds »Traumdeutung«. Frankfurt a.M. 2000, S. 251-274;

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um ein ambivalentes, in der Schwebe des Konjunktivs gehaltenes Kompliment nicht verlegen. Am 12. Mai 1931 bedankte er sich von der Wiener Berggasse 19 bei Walter Muschg an der Zürcher Bergstrasse 118 für ein Gratulationsschreiben zum 75. Geburtstag: 12.5.1931 PROF. D R. FREUD

WIEN, IX., BERGGASSE 19

Sehr geehrter Herr Sie sind mir seit dem Aufsatz in der »Bewegung« kein Fremder mehr. Und ich bekenne, dass es keinem besser als Ihnen gelungen ist mir zu sagen, was ich über alles gerne höre und wovon ich möchte dass es im ganzen Umfang zuträfe. Mit herzlichem Dank Ihr Freud 22

Die leise Ironie, die in einer doppelten Unentscheidbarkeit zum Ausdruck kommt, ist nicht zu überhören: Erstreckt sich der Konjunktiv, der zwischen dem Optativ und dem Irrealis oszilliert, nur auf Freuds Selbsteinschätzung oder berührt er auch die Trefflichkeit von Walter Muschgs Freud-Analyse? Freud liebte den rhetorischen Topos, seinen Dank für zutreffende Charakterisierungen seines Werks und seiner Person, durch die er sich entblößt wähnte, in ein ambivalentes Lob des in seine geheimen Wünsche und Absichten Eingeweihten zu kleiden. So bedankte er sich am 3. August 1930 beim Sekretär des »Kuratoriums des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt a.M.« für den Begleitbrief zur Preisverleihung:

Todorov, Tzvetan: La rhétorique de Freud. In: Ders.:Théories du symbole. Paris 1977, S. 285-321; stark gekürzte deutsche Übersetzung unter dem Titel »Freuds Rhetorik und Symbolik« in: Ders.: Symboltheorien (1977). Tübingen 1995, S. 247-254. 22 | Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Basel, Nachlass Walter Muschg F 34, 11, Antwort Sigmund Freuds auf Walter Muschgs Gratulationsschreiben zum 75. Geburtstag vom 6.5.1931, Wien, 12.5.1931 (zeilengenaue Transkription).

Der Kredit von Freuds Krankheitsmetaphern

Für Ihren Brief habe ich Ihnen besonderen Dank zu sagen, er hat mich ergriffen und verwundert. Von der liebenswürdigen Vertiefung in den Charakter meiner Arbeit abzusehen, habe ich doch nie zuvor die geheimen persönlichen Absichten derselben mit solcher Klarheit erkannt gefunden wie von Ihnen, und hätte Sie gern gefragt, woher Sie es wissen. 23

An dieser Stelle ein Wort darüber, was unter ›Metapher‹ zu verstehen ist: Die Metapher von der ›Metapher‹ bedeutet übersetzt vorab nichts anders als »Übersetzung«24 – wobei das Moment des Transports von Über-Setzen mitzuhören ist –; weshalb Roman Jakobson in einer lesenswerten linguistischen Studie zur Ökonomie der Metapher bzw. zu ihrer Konvertierung25 ebenso eindringlich wie risikoscheu vor dem inflationären Mehrwert gewarnt hat, dass die Metapher einen fremden Kredit aufnimmt, für den sie selbst nicht einstehen kann.26 Die von der Metapher ausgehende Gefahr, durch die sie gerade besticht, besteht darin, dass, wie der Bürge Antonio in William Shakespeares metaphernreicher Tragikomödie »The Merchant of Venice« leidvoll erfahren muss, der Rücktransport niemals absolut gewährleistet ist, weshalb es keine ›Metametapher‹ im Sinne des strikt regulierten Verhältnisses zwischen Objekt- und Metasprache27 geben kann.28 23 | Freud, Sigmund: Antwort Sigmund Freuds an Alfons Paquet. In: Storfer, A.J. (Hg.): Die psychoanalytische Bewegung II. Jg., Heft 5, Berlin 1930, S. 419. 24 | Vgl. etwa Man, Paul de: Epistemologie der Metapher (1978). In: Haverkamp, Anselm (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983 (= Wege der Forschung 389), S. 414437, hier S. 419: »Es ist kein bloßes Wortspiel, daß translate ins Deutsche durch ›übersetzen‹ übersetzt wird, das seinerseits das griechische ›meta-phorein‹ oder Metapher übersetzt. Metapher gibt sich selbst die Totalität, die sie zu definieren beansprucht, doch tatsächlich ist sie die Tautologie ihrer eigenen Setzung. Die Rede von einfachen Vorstellungen ist figürliche Rede oder Übersetzung und erzeugt als solche die trügerische Illusion einer Definition.« 25 | Vgl. Jakobson, Roman: Linguistische Aspekte der Übersetzung (1966). In: Ders.: Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen, München 1974 (= Internationale Bibliothek für allgemeine Linguistik 13), S. 154-161. 26 | Vgl. dazu Stingelin, Martin: Freud zur See. Anmerkungen zu den Fährnissen des Übersetzungskomplexes. In: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse Nr. 27/28 (Aug. 1988), S. 140-153, v.a. S. 140-142. 27 | Vgl. Schüttpelz, Erhard: Objekt- und Metasprache. In: Fohrmann, Jürgen und Müller, Harro (Hg.), Literaturwissenschaft. München 1995, S. 179-216. 28 | Vgl. Derrida, Jacques: Der Entzug der Metapher (1979). In: Volker Bohn (Hg.): Romantik, Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt a.M. 1987, S. 317-355, hier S. 319: »Das Drama – denn dies ist ein Drama – besteht darin, daß es mir, selbst wenn ich es wollte, nicht gelingen würde, unmetaphorisch von

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Am eindrücklichsten zerschellt dieser Rücktransport in Sigmund Freuds Deutung von Daniel Paul Schrebers »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«,29 die 1911 unter dem Titel »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)« im »Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschung« erschienen ist und bald größere Berühmtheit erlangte als ihr Gegenstand. Schreber bildet zusammen mit »Dora«, dem »Kleinen Hans«, dem »Rattenmann« und dem »Wolfsmann« eine der fünf großen psychoanalytischen Falldarstellungen von Sigmund Freud. Walter Benjamin selbst konnte sich 1928 nicht mehr erinnern, ob er zehn Jahre zuvor erst Freuds Abhandlung oder Schrebers Buch kennenlernte.30 Bald wurde dieses Buch überhaupt nur noch im Zusammenhang mit Freuds Abhandlung wahrgenommen. der Metapher zu sprechen; sie würde fortfahren, sich meiner zu entledigen, um – wie ein Bauchredner – mich zum Sprechen zu bringen, mich zu metaphorisieren. […] Keine Metaphorik, keine Lehre von der Metapher, keine Metametapher wird beständig genug gewesen sein, um diese Aussagen zu beherrschen.«. 29 | Vgl. Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: »Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?«. Leipzig 1903; Reprographischer Reprint herausgegeben von Gerd Busse. Gießen 2003. Zur Standardliteratur zählen (chronologisch) im allgemeinen wie im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Schreber und Freud im besonderen allen voran Calasso, Roberto: Die geheime Geschichte des Senatspräsidenten Dr. Daniel Paul Schreber (1974). Frankfurt a.M. 1980; Kittler, Friedrich A.: Flechsig/Schreber/Freud. Ein Nachrichtennetzwerk der Jahrhundertwende. In: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse Nr. 11/12 (März 1984), S. 56-68; Israëls, Han: Schreber: Vater und Sohn. Eine Biographie. München und Wien 1980; Busse, Gerd: Schreber, Freud und die Suche nach dem Vater. Über die realitätsschaffende Kraft einer wissenschaftlichen Hypothese. Frankfurt a.M. u.a. 1991; Lothane, Zvi: In Defense of Schreber. Soul Murder and Psychiatry. Hillsdale, New Jersey 1992. Vgl. zur Diskursanalyse des psychiatriehistorischen Enstehungskontextes Stingelin, Martin: Psychiatrisches Wissen, juristische Macht und literarisches Selbstverhältnis: Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken im Licht von Michel Foucaults Geschichte des Wahnsinns. In: Lutz Danneberg u.a. (Hg.): Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 4 (2000).Tübingen 2000, S. 131-164. 30 | Vgl. Benjamin, Walter: Bücher von Geisteskranken. Aus meiner Sammlung (1928). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1980, Bd. IV/1, 2, S. 615-619, hier S. 615-616: »Da fielen mir im Jahre 1918 in einem kleinen Berner Antiquariat Schrebers berühmte ›Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken‹ aus dem Verlag Oswald Mutze, Leipzig, in die Hände. Hatte ich von diesem

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Das Drama des Kredits, den Freud bei der Deutung von Schrebers »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« bei diesem aufnimmt, indem er dessen Feststellungen als Symptome eines paranoischen Wahnsystems metaphorisch liest, um ihre Bedeutung in das psychoanalytische System zurückübertragen bzw. -übersetzen zu können,31 spielt sich im Zusammenspiel dreier methodischer Schlüsselstellen ab, die deutungsbedürftiger sind, als Sigmund Freud sich dies gewünscht haben mag. Die erste betrifft die methodischen Voraussetzungen von Freuds metaphorischer Rückübersetzung: Die psychoanalytische Untersuchung der Paranoia wäre überhaupt unmöglich, wenn die Kranken nicht die Eigentümlichkeiten besäßen, allerdings in entstellter Form, gerade das zu verraten, was die anderen Neurotiker als Geheimnis verbergen. Da die Paranoiker nicht zur Überwindung ihrer inneren Widerstände gezwungen werden können und ohnedies nur sagen, was sie sagen wollen, darf gerade bei dieser Affektion der schriftliche Bericht oder die gedruckte Krankengeschichte als Ersatz für die persönliche Bekanntschaft mit dem Kranken eintreten. 32

Liegt die Möglichkeit zur metaphorischen Rückübertragung bzw. -übersetzung der Bedeutung von Symptomen (der Paranoia) in ihrer ›Entstellung‹, muss die Quelle dieser Entstellungen allerdings im Analysanden selbst, sie darf nicht in der Analyse wohnen. Deshalb kann der Analysand als Interpret seiner selbst, der gleichzeitig der eigenen Rede nicht mächtig ist, in Anspruch genommen werden: Auch die hohe Intelligenz und Mitteilsamkeit des Kranken scheint uns die Lösung der Aufgabe auf diesem Wege zu erleichtern. Gar nicht so selten drückt er uns den Schlüssel selbst in die Hand, indem er zu einem wahnhaften Satz eine Erläuterung, ein Zitat oder Beispiel, wie beiläufig, hinzufügt oder eine ihm selbst auftauchende Ähnlichkeit Buch schon damals gehört? Oder lernte ich erst einige Wochen später die Abhandlung kennen, die Freud im dritten Bande seiner ›Kleinen Schriften zur Neurosenlehre‹, Leipzig 1913, über dieses Buch veröffentlicht hat? Gleichviel. Ich war sofort aufs höchste gefesselt.« 31 | Zu diesem Grenzverkehr zwischen Wahn und Wissen vgl. Heinz, Rudolf, Kamper, Dietmar und Sonnemann, Ulrich (Hg.): Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit. Berlin 1993; Hahn, Thorsten, Person, Jutta und Pethes, Nicolas (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1930: Frankfurt a.M. und New York 2002. 32 | Freud, Sigmund: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) (1911). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Werke aus den Jahren 1909-1913. Frankfurt a.M. 1999, S. 239-320, hier S. 241.

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ausdrücklich bestreitet. Man braucht dann nur im letzten Falle die negative Einkleidung wegzulassen, wie man es in der psychoanalytischen Technik zu tun gewohnt ist, das Beispiel für das Eigentliche, das Zitat oder die Bestätigung für die Quelle zu nehmen, und befindet sich im Besitze der gesuchten Übersetzung aus der paranoischen Ausdrucksweise ins Normale. 33

Die Bürgschaft, die der Analytiker mit diesem Kredit beim Analysanden aufnimmt, ist allerdings heillos; die ihre zugrundeliegende metaphorische Verwechselbarkeit der analytischen Deutung mit dem Wahnsystem droht beides jederzeit in sein Gegenüber zu kippen: Da ich weder die Kritik fürchte noch die Selbstkritik scheue, habe ich kein Motiv, die Erwähnung einer Ähnlichkeit zu vermeiden, die vielleicht unsere Libidotheorie im Urteile vieler Leser schädigen wird. Die durch Verdichtung von Sonnenstrahlen, Nervenfasern und Samenfäden komponierten ›Gottesstrahlen‹ Schrebers sind eigentlich nichts anderes als die dinglich dargestellten, nach außen projizierten Libidobesetzungen und verleihen seinem Wahn eine auffällige Übereinstimmung mit unserer Theorie. Daß die Welt untergehen muß, weil das Ich des Kranken alle Strahlen an sich zieht, daß er später während des Rekonstruktionsvorganges ängstlich besorgt sein muß, daß Gott nicht die Strahlenverbindung mit ihm löse, diese und manche andere Einzelheiten der Schreberschen Wahnbildung klingen fast wie endopsychische Wahrnehmungen der Vorgänge, deren Annahme ich hier einem Verständnis der Paranoia zugrunde gelegt habe. Ich kann aber das Zeugnis eines Freundes und Fachmannes dafür vorbringen, daß ich die Theorie der Paranoia entwickelt habe, ehe mir der Inhalt des Schreberschen Buches bekannt war. Es bleibt der Zukunft überlassen, zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden. 34

Freud sah sich also durch die universale Gelehrsamkeit des Juristen Daniel Paul Schreber, der seine psychoanalytische Theorie über die Entstehung von Paranoia vorwegzunehmen schien, in einen beträchtlichen Legitimations- und Erklärungsnotstand gestürzt. Zuletzt wollte er gar »das Zeugnis eines Freundes und Fachmannes« – wahrscheinlich Carl Gustav Jung – »dafür vorbringen, daß ich die Theorie der Paranoia entwickelt habe, ehe mir der Inhalt des Schreberschen Buches bekannt war.«35 Das ist nicht die ganze Wahrheit. Freud hatte die »Denkwürdigkeiten« im Sommer 1910 auf Sizilien »noch nicht halb durchgelesen«, da lag für ihn »das Geheimnis« schon »klar zutage«; er deutete Schrebers Halluzinationen, ohne den Autor der »Denkwürdigkeiten« persön33 | Freud 1911, S. 269. 34 | Freud 1911, S. 315. 35 | Freud 1911, S. 315.

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lich zu kennen, als Projektionen einer verdrängten homosexuellen Fixierung zur »Abwehr einer homosexuellen Wunschphantasie«36 und schrieb an Carl Gustav Jung: »die Leute werden glauben können, ich hätte die Theorie auf das Buch hin gemacht«.37 Wo aber der Irre sich klüger erweist als sein Psychiater, verkehrt sich auch die rationale Logik in ihr Gegenteil, und Freud weiß als verzweifelt ironischen Selbstschutz zuletzt nur noch einen Witz ins Feld zu führen, der die verkehrte Wahrheit in Form ihres scheinbaren Gegenteils ausspricht: Freud nennt den Verfasser der »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« im Briefwechsel mit Jung »den wunderbaren Schreber, den man zum Professor der Psychiatrie und Anstaltsdirektor hätte machen sollen«.38 Keine Frage: Im Vergleich zu Schrebers Wahnsystem wirkt Freuds Falldarstellung so blass wie die »flüchtig hingemachten Männer«, die dieses bevölkern. Für die »Eintönigkeit der psychoanalytischen Lösungen« wollte Freud denn auch »nicht verantwortlich« zeichnen.39 Sie deuten Schrebers ebenso verrückte wie berückende Ausdrucksweise symbolisch und übersetzen sie durch diese psychoanalytische Technik »ins Normale«.40 Was »normal« ist, bestimmt aber erst diese psychoanalytische Übersetzungsleistung, ohne sich ihrer Normalisierung bewusst zu sein, weil sie den Begriff der »Norm« selbst nicht problematisiert (wenn die Freudsche Psychoanalyse, wie Jürgen Link gezeigt hat,41 die Grenzen des Normbegriffs auch beträchtlich erweitert hat). »Normal« ist für die Freudsche Psychoanalyse der Ödipuskomplex, deshalb bewegen sich alle

36 | Freud 1911, S. 295. 37 | Sigmund Freud an Carl Gustav Jung, Wien, 1. Okt. 1910. In: Freud, Sigmund und Jung, Carl Gustav: Briefwechsel. Herausgegeben von William McGuire und Wolfgang Sauerländer. Frankfurt a.M. 1974, S. 394-398, hier S. 395-396. Freuds Lesespuren in seinem Handexemplar der »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, das sich in Freuds Bibliothek erhalten hat, sind am ausgiebigsten ausgewertet worden durch Geller, Jay: Freud v. Freud: Freud’s Reading of Daniel Paul Schreber’s »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«. In: Gilman, Sander L. u.a. (Hg.): Reading Freud’s Reading. New York und London 1994, S. 180-210. 38 | Sigmund Freud an Carl Gustav Jung, Wien, 22. April 1910. In: Freud und Jung 1974, S. 341-343, hier S. 343. 39 | Freud 1911, S. 290. 40 | Freud 1911, S. 269. 41 | Zum Verhältnis von Norm, Normierung, Normalität, Normalisierung und Normativität vgl. die grundlegende Studie von Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen 2006, dort zur Freudschen Psychoanalyse insbes. S. 281-283, »Das Normale gerät in Anführungszeichen oder Freuds Beitrag zum flexiblen Normalismus.«

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»psychoanalytischen Lösungen«, die Freud anbietet, »auf dem wohlvertrauten Boden des Vaterkomplexes«.42 Indem Sigmund Freud ausgewählte Elemente aus Daniel Paul Schrebers ›Wahnsystem‹ als übersetzungsbedürftige Metaphern deutet, gewinnt er in einer Bewegung, die ich selbst metaphorisch als ›Gegenübertragung‹ bezeichnen möchte, seine psychoanalytische Theorie der Paranoia. Die Ökonomie von Metaphern, die Roman Jakobson so gescheut hat, bringt es allerdings mit sich, dass Freud mit der (vermeintlichen Rück-)Übersetzung von Schrebers Metaphern in psychopathologische Symptome bei diesem eine kaum abweisbare Schuld aufnimmt: In einer beispiellosen Gegenübertragung beginnt der Wahn »eine auffällige Übereinstimmung mit unserer Theorie« zu zeigen, und Freud kann es nur der Zukunft überlassen, »zu entscheiden, ob in der Theorie mehr Wahn enthalten ist, als ich möchte, oder in dem Wahn mehr Wahrheit, als andere heute glaublich finden«. Gleichzeitig spielt sich zwischen Sigmund Freud und Daniel Paul Schreber vor unseren Augen ein Kampf zwischen ›legitimen‹ (institutionell abgesicherten oder um institutionelle Absicherung ringenden) und ›illegitimen‹ (pathologisierten) Metaphern ab.43 Diese normalisierende Wirkung psychoanalytischer Metaphern hat vor allem Karl Kraus kritisiert, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Übertragungs-/Gegenübertragungsdynamik, die den Analysanden einen ›Symptomenstolz‹ suggeriert, wie im Hinblick auf die ›Mechanisierung‹ des Seelenlebens. Das möchte ich zum Abschluss kurz erörtern. Tatsächlich hegte Karl Kraus, der am Samstag Abend zwischen sieben und neun Uhr ebenfalls gelegentlich Freuds Vorlesungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik besuchte, gegen die Freudsche Traumdeutung und Witztheorie seinerseits früh den Verdacht der Projektion. An die »durch das bewußte Denken F.’s« erklärten Fehlleistungen wollte er erst glauben, »wenn das Unbewußte F.’s die Kalauer erklärt, die das Unbewußte seiner Patienten macht«. Kraus’ Skepsis entsprang dem von der Psychoanalyse selbst nicht bemerkten Umkehr- und Trugschluss von ihrer suggestiven Wirkung auf die vermeintliche logische Ursache, mit dem sie sich gegen den Einwand der Projektion immunisierte: Das Unbewußte macht aber wirklich schlechte Witze, erwiderte der Traumdeuter. Das Unbewußte ist nun einmal so. Was kann denn die ernste Wissenschaft dafür? Gewiß, sie behält in jedem Fall Recht. Auch wenn sich – und bei manchen jungen Traumdeutern mag’s gelingen – am Ende nachweisen ließe, daß die schlechten Witze nicht aus 42 | Freud 1911, S. 291. 43 | Vgl. Szasz, Thomas S.: Schizophrenie. Das heilige Symbol der Psychiatrie (1976). Frankfurt a.M. 1982 (zur Unterscheidung zwischen ›legitimen‹ und ›illegitimen‹ Metaphern insbes. S. 20-22).

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dem Unbewußten des Träumers, sondern aus dem Unbewußten des Deuters kommen, gleichsam als eine Schuld, die er überwälzt. Nun, das Unbewußte macht also doch schlechte Witze.44

Dagegen richtet sich Karl Kraus’ Kritik an der Psychoanalyse, am deutlichsten vielleicht im langen Aphorismus vom 5. Juni 1908, in dem Karl Kraus sich am ausführlichsten mit jener ›medizinischen Richtung‹ auseinandergesetzt hat, »welche die Fachausdrücke der Chirurgie auf Seelisches anwendet« und in ihrem Patienten dabei in Form eines ›Selbstbewußtseins des Unbewußtseins‹ »eine Art Symptomenstolz« erzeugt; der Aphorismus mündet in folgende Argumente: Auch eine Mechanisierung der seelischen Vorgänge verträgt den Versuch nicht, als Heilfaktor die Selbstbeobachtung der Symptome einer Krankheit zu setzen, zu deren Symptomen die Selbstbeobachtung gehört. Ich weiß nicht, ob man einen Beinbruch durch seelische Einwirkung heilen kann. Sicherlich eher, als ein seelisches Gebrechen durch Amputation. Der transzendentale Wunderglaube hatte den Vorzug, daß er dekorativ war. Den rationalistischen Wundern fehlt der Glaube.45

Entscheidend scheint mir die aphoristische Form dieser Kritik. Sie enthält vorab ein ästhetisches Moment.46 Nicht zufällig erfolgt die Kritik an der Psychoanalyse nach der sogenannten »ästhetischen Wende«47 von 1905/06, nach der Karl Kraus »als das einzige Ereignis gelten läßt: wie ichs erzähle«.48 Die Revolte gegen die letzte Aufklärung des Mysteriums der Schöpfung, das Karl Kraus stellvertretend in Form der Kunst gegen die Psychoanalyse verteidigt, ist selbst ästhetisch, und so wehrt sich Kraus am vehementesten gegen die psychoanalytische Rationalisierung der künstlerischen Kreativität, die glaubt, »daß im 44 | Kraus, Karl: Vorurteile (Aphorismen). In: Die Fackel Nr. 241, 15. Jänner 1908, S. 1-28, hier S. 21. 45 | Kraus, Karl: Tagebuch (Aphorismen). In: Die Fackel Nr. 256, 5. Juni 1908, S. 1532, S. 19-20. 46 | Zum theologischen und apokalyptischen Moment dieser Kritik vgl. Stingelin, Martin: Der katholische Aufstand gegen die (Erb)Sünden der Väter. Karl Kraus’ kritische Polemik gegen die Psychoanalyse zwischen 1908 und 1913. In: Meuter, Günter und Otten, Henrique Ricardo (Hg.): Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert. Würzburg 1999, S. 65-83. 47 | Vgl. Wagenknecht, Christian: Die ästhetische Wende der ›Fackel‹. In: Kaszynski, Stefan H. und Scheichl, Sigurd Paul (Hg.): Karl Kraus – Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznan. München 1989, S. 103-116. 48 | Kraus, Karl: Apokalypse. (Offener Brief an das Publikum). In: Die Fackel Nr. 261262, 13. Oktober 1908, S. 1-14, hier S. 11.

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Kunstwerk die Sexualität des Künstlers ›sublimiert‹ werde«.49 Gegen eine Psychoanalyse, die das »Mysterium des Genies« verletzt, indem sie in Goethes »Zauberlehrling« eine höhere Form der Onanie oder des Bettnässens erkennen will, schlägt Karl Kraus mit ihren eigenen Mitteln zurück: »Da aber das Genie eine Erklärung nicht braucht und eine, die die Mittelmäßigkeit gegen das Genie verteidigt, von übel ist, so bleibt der Psychoanalyse nur eine einzige Rechtfertigung ihres Daseins: sie läßt sich mit genauer Not zur Entlarvung der Psychoanalyse anwenden.«50 Der Bruch zwischen Kraus und Freud scheint sich mir aber schon in einem Artikel abzuzeichnen, den Karl Kraus am 2. Dezember 1907 unter dem Titel »Perversität« in der »Fackel« veröffentlichte. Kraus, der sich des psychoanalytischen Entwicklungsmodells in gesellschaftskritischer Absicht bedient hatte, unterbindet in diesem Plädoyer für die Straffreiheit der Homosexualität den Analogierückschluss von der zivilisationsgeschichtlichen Phylogenese auf die individuelle Ontogenese, indem er das Recht auf den »Erwerb« der Homosexualität in der persönlichen Entwicklung proklamiert, wo Freud nur eine gewisse Stockung der sexuellen Entwicklung zu erkennen vermochte: Auf die Gefahr hin, sich selbst dem Verdacht der ›erworbenen Homosexualität‹ preiszugeben, müßte jeder denkende Mensch laut aufschreien über die Schändlichkeit, die eine staatliche Norm für die Betätigung des Geschlechtstriebs vorschreibt, und laut und vernehmlich das Recht auf ›erworbene Homosexualität‹ proklamieren. Der fromme Blödsinn hat jede Nuancierung der Lust, jede Erweiterung der Genußfähigkeit und die Eroberung neuer erotischer Zonen, die in allen Kulturen, nicht bloß in der griechischen, das ureigenste Recht des Künstlers und den Vorzug jedes höher organisierten Menschen gebildet haben, als Wüstlingslaster verfehmt. 51

In einer metaphorischen Rückübertragung trägt Karl Kraus’ Essay über »Perversität« in spiegelbildlicher Entsprechung zu Sigmund Freuds biogenetischem Entwicklungsmodell der Sexualität die normativen Feststellungen über die menschliche (Trieb-)Natur wieder ab, die dieses in der ihm innewohnenden Teleologie macht. Kraus entzieht die Sexualität der Naturgesetzlichkeit, um sie der individuellen Freiheit des einzelnen zurückzuerstatten. Gegen die 49 | Die Fackel Nr. 406-412, Oktober 1915, S. 132-133 und S. 132. 50 | Kraus, Karl: Nachts (Aphorismen). In: Die Fackel Nr. 376-377, 30. Mai 1913, S. 1825, hier S. 20-21. Dieser Aphorismus bündelt die Strategien von Karl Kraus’ Retorsionsargumenten gegen die Psychoanalyse, wie sie der Aphorismus: »Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält« (S. 21), mittlerweile sprichwörtlich zum Ausdruck gebracht hat. 51 | Kraus, Karl: Perversität. In: Die Fackel Nr. 237, 2. Dezember 1907), S. 16-22, hier S. 18.

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Psychopathologisierung des (Sexual-)Strafrechts, durch die eine von der Norm abweichende, krankhafte, degenerierte Natur unter Strafe gestellt wird, richtet Karl Kraus das Gesetz in seiner Positivität wieder auf, die in seinen Augen alleine den Rechtsgüterschutz garantiert. Über die Richtung seiner Entwicklung soll der einzelne selbst bestimmen dürfen. Diese Freiheit ist nur dadurch zu gewinnen, dass die menschliche Entwicklung nicht länger als einer naturgesetzlichen Notwendigkeit unterworfen gedacht wird. Doch wo nicht mehr die Natur des Menschen herrscht, kann dieser auch nicht mehr gegen sie verstoßen: »Perversität gibt’s nicht«, ist der Schluss, zu dem Karl Kraus 1907 kommt, das heißt, sie ist eine Frage der Perspektive, der Interpretation und damit eine Metapher bzw. eine Gegenmetapher: »Perversität kann eine Krankheit, sie kann aber auch eine Gesundheit sein. Das Widerspiel der Norm, aber auch die letzte, untrügliche Probe der Norm.«52 Und mit der Perversität verabschiedet Karl Kraus gleichzeitig die Möglichkeit, darin in vergröberter Form zu erkennen, wie die »Normalität« aussieht. An ihre Stelle tritt die Individualität und die Singularität.

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52 | Kraus 1907, S. 19.

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Psychiatrie als gebauter Diskurs Architektur der Klinik in Texten von Alfred Döblin, Friedrich Glauser, Heinar Kipphardt und Rainald Goetz Lotti Wüest

Das Thema des vorliegenden Beitrages ist die Darstellung psychiatrischer Institutionen in vier ausgewählten literarischen Texten aus dem 20. Jahrhundert. Der Beitrag bewegt sich damit im interdiskursiven Feld von Literatur und Psychiatrie. Der Titel »Psychiatrie als gebauter Diskurs« verweist auf Schnittstellen zwischen der Architektonik psychiatrischer Kliniken und der Struktur des psychiatrischen Diskurses, welche im Folgenden anhand einer Analyse der literarischen Texte aufgezeigt werden sollen. Leitend ist dabei die Frage, wie Psychiatrie als Institution gebaut und als Diskurs räumlich strukturiert wird. Dabei soll zunächst untersucht werden, wie psychiatrische Kliniken in den Texten als Räume – in ihrer Architektur und Lage – gestaltet werden. Daran anschließend stellt sich die Frage nach Bewegungen in und um diesen Raum. Ergebnis solcher Bewegungen sind unterschiedliche Standorte und Perspektiven, welche im Kapitel über Innen- und Außenansichten zur Sprache kommen. In den darauf folgenden Kapiteln geht es in erster Linie um die Verräumlichung des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Dabei zeigt sich, dass Macht und Machtausübung als zentrale Elemente des psychiatrischen Diskurses durch Mechanismen wie Beobachtung, Überwachung, Kontrolle und die ihnen entsprechenden architektonischen Strukturen funktionieren. Die Darstellung verschiedener Sichtweisen (Innensicht resp. Außensicht), aber auch die Herstellung von Machtstrukturen durch Verräumlichung können zum Ausgangspunkt für die Frage nach Grenzziehungen werden. Im Folgenden wird es deshalb notwendig sein, auf diese Grundkategorie der Raumdarstellung zurückzukommen. Am Beginn sollen einige Hinweise zu theoretischen und methodischen Hintergründen dieses Beitrages stehen. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der aktuellen Bedeutung der Kategorie Raum in der Kul-

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tur- und insbesondere der Literaturwissenschaft sowie in der sozialgeschichtlichen Forschung zur Psychiatrie als Institution und Diskurs.

R AUM UND L ITER ATUR (- WISSENSCHAF T) Mit der Untersuchung der Darstellung von räumlichen Strukturen in literarischen Texten wird eine Analysekategorie aufgegriffen, welche in den Kulturwissenschaften schon seit längerer Zeit eine wichtige Rolle spielt. Diese haben den Raum im Zuge des Spatial Turn zu einer Leitkategorie erhoben.1 Dabei werden sowohl die »soziale Konstituierung des Räumlichen« als auch die »Rolle des Raumes für die Herstellung von sozialen Beziehungen« in den Blick genommen.2 Wichtige Aspekte der Untersuchung sind »gelebte soziale Praktiken der Raumkonstitution wie Ein- und Ausgrenzungen«.3 Insbesondere aber wird der Zusammenhang von Raum und Macht betont: »Der Raum selbst spiegelt […] bestehende Machtverhältnisse wider und verfestigt diese.« 4 Raum wird demzufolge nicht mehr als »Behälter, als neutraler Rahmen begriffen, in dem sich historische Ereignisse abspielen«,5 sondern als »Produkt sozialen und politischen Handelns mit seinen materiellen Entsprechungen in Architektur und Bauwesen«.6 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht sind u.a. folgende Überlegungen zur Konzeption der Raumkategorie von Bedeutung: Mit Hallet und Neumann ist festzuhalten, dass die Raumdarstellung eine der grundlegenden Komponenten fiktionaler Welterschließung bildet.7 Damit ist nichts anderes gemeint, als dass erzählte Ereignisse immer an Räume gebunden sind. Raum ist in literarischen Texten aber nicht nur Schauplatz, d.h. Ort der Handlung, sondern immer auch »kultureller Bedeutungsträger«,8 in dem beispielsweise vorherrschende Normen, Werthierarchien und Vorstellungen eine konkret anschauliche Manifestation erfahren. Raumstrukturen müssen deshalb immer auch 1 | Zum Entstehungskontext und der Herausbildung des Spatial Turn vgl. das entsprechende Kapitel bei Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek b. H. 2006, S. 284-328, hier S. 285-290. 2 | Bachmann-Medick 2006, S. 291. 3 | Bachmann-Medick 2006, S. 291. 4 | Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 11-32, hier S. 11. 5 | Hallet und Neumann 2009, S. 14. 6 | Bachmann-Medick 2006, S. 307. 7 | Hallet und Neumann 2009, S. 11. 8 | Hallet und Neumann 2009, S. 11.

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als Bedeutungsstrukturen aufgefasst werden. Auf den semantischen Gehalt des Raumes hat in den 1970er Jahren bereits der russische Strukturalist Jurij Lotman aufmerksam gemacht. Er betonte insbesondere die »Möglichkeit der räumlichen Modellierung von Begriffen, die an sich nicht räumlicher Natur sind«.9 Aus umgekehrter Perspektive können räumliche Relationen der Darstellung nichträumlicher Relationen dienen. So beispielsweise wenn die Begriffe ›nah–fern‹ die Bedeutung ›eigen–fremd‹ erhalten.10 Bemerkenswert erscheint dabei, dass mit dieser semantischen Verschiebung auch ein Zuwachs an Werthaltigkeit verbunden ist. Die besondere modellierende Funktion des künstlerischen Raumes in einem Text ergibt sich aus dem System räumlicher Relationen, aus der Struktur des Topos.11 Mit diesem Begriff bezeichnet Lotman »das ganze räumliche Kontinuum des Textes, in dem die Welt des Objektes abgebildet wird«.12 Ein wichtiges Merkmal dieses Kontinuums ist die Grenze, welche den Raum trennt und gliedert. So definiert Lotman beispielsweise ein Ereignis in einem Text als »Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes hinaus«13. Dem Textauf bau liege demnach stets eine semantische Struktur und eine Handlung zugrunde, die immer den Versuch darstelle, jene Grenze zu überwinden.14 Grenzen und Grenzüberschreitungen können deshalb als wichtige topologische Merkmale betrachtet werden, welche Aufschluss über die Funktionalisierung und Semantisierung der Raumdarstellung geben.15 Abschließend kann mit Nünning danach gefragt werden, wie der fiktionale Raum in literarischen Texten narrativ vermittelt und semantisiert wird.16 Wichtig erscheint dabei in erster Linie die durchgängige Einbeziehung der Formen erzählerischer Vermittlung, insbesondere die Differenzierung zwischen den Perspektiven wahrnehmender Figuren und der übergeordneten

9 | Lotman, Jurij: Künstlerischer Raum, Sujet und Figur. In: Dünne, Jörg und Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 529-543, hier S. 530. 10 | Für weitere Beispiele vgl. Lotman 2006, S. 530. 11 | Vgl. Lotman 2006, S. 532. 12 | Lotman 2006, S. 531. 13 | Lotman 2006, S. 535. 14 | Vgl. Lotman 2006, S. 540. 15 | So die Einschätzung von Nünning, Ansgar: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Hallet, Wolfgang und Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 33-52, hier S. 46. 16 | Nünning 2009, S. 34.

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Perspektive eines auktorialen Erzählers.17 Nünning schlägt deshalb vor, aus narratologischer Sicht grundsätzlich zwischen »auktorial-erzählten« und »figural-fokalisierten« Räumen zu unterscheiden.18 Diese Differenzierung erscheint hilfreich für die Analyse von Außen- und Innenansichten, wie sie im übernächsten Kapitel gemacht werden soll.

R AUM UND P SYCHIATRIE Die Kategorie des Raums nimmt nicht nur in der Kulturwissenschaft, sondern auch in der Sozialgeschichte der Psychiatrie eine hohen Stellenwert ein. Die Mechanismen des Ein- und Ausschlusses im Umgang mit dem Wahnsinn hat u.a. Michel Foucault in seiner Studie »Wahnsinn und Gesellschaft« nachgezeichnet. Nach Foucault waren es zunächst die Leprakranken, welche aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Die Lepra verschwindet im ausgehenden Mittelalter aber die Strukturen, die »Formeln des sozialen Ausschlusses«, bleiben bestehen.19 Die Irren werden zusammen mit Bettlern, Vagabunden und Arbeitslosen in Internierungshäusern eingesperrt.20 Sie besitzen dort keinen besonderen medizinischen Status, sondern führen im Prinzip die gleiche Existenz wie Sträflinge.21 Es ist laut Foucault wichtig zu sehen, dass die Internierung als »institutionelle Errungenschaft« des 17. Jahrhunderts nicht nur eine repressive – als »Massnahme zur sozialen Vorsicht« – sondern auch eine ökonomische Funktion besitzt: Die Eingesperrten müssen arbeiten und stehen so im Dienst der allgemeinen Prosperität.22 Genau wie Arme und Arbeitslose werden sie in die Ausmerzung des Müßiggangs mit einbezogen.23 Diese »administrative Ausgrenzung der Unvernunft«24 kennzeichnet die Epoche von 1650 bis 1800 und muss vor dem historischen Hintergrund der kapitalistisch-industriellen Revolution und der Entstehung der bürgerlichen 17 | Vgl. Nünning 2009, S. 36. 18 | Vgl. Nünning 2009, S. 45. 19 | Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M. 1973, S. 23. (Original: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1961). 20 | Diese Aufzählung von sozial abweichendem Verhalten kann weiter fortgesetzt werden: Verbrecher, Dirnen, Alkoholiker usw. Vgl. dazu Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt a.M. 1969, S. 27. 21 | Vgl. Foucault 1973, S. 103. 22 | Vgl. Foucault 1973, S. 85 und 97. 23 | Vgl. Foucault 1973, S. 91. 24 | Dörner 1969, S. 28.

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Gesellschaften in Europa sowie den mit ihr einhergehenden »Aufklärungs-, Rationalisierungs- und Normierungsprozessen«25 gesehen werden. Dabei lässt sich nach Dörner unter anderem eine Funktionalisierung der Irren beobachten, welche als »hervorragende Exempel zur Rechtfertigung der Pflicht des bürgerlichen Staates dienen, die innere Ordnung und den Schutz der Öffentlichkeit mit den Mitteln der Fürsorge und des sozialen Zwangs zu gewährleisten«.26 Dieser Zwang ist zunächst ein physischer, die Irren in den berühmten Internierungshäusern wie Bicêtre und Salpêtrière werden in Zellen eingesperrt und in Ketten gelegt.27 Seit ihrer legendären Befreiung durch den französischen Psychiater Philippe Pinel im Jahre 1793 wird der physische Zwang durch einen psychiatrischen Beobachtungsapparat ersetzt. Die Praktik der permanenten Überwachung spricht auch Foucault in seiner Studie »Überwachen und Strafen« an. Der seiner Ansicht nach entscheidende Schritt auf dem Weg zum vollkommenen Überwachungssystem an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist der Wegfall der körperlichen Züchtigung und die Einführung der Isolierung der Gefangenen in Zellen gewesen. Die Disziplinierung erfolgt nun nicht mehr über den Zwang der Ketten, sondern organisatorisch über räumliche Strukturen. Das beim Bau von Militärlagern angewandte Grundprinzip der »Einlagerung«28, welches die räumliche Verschachtelung hierarchisierter Überwachungen bezeichnet, wirkt im Städtebau und insbesondere bei der Errichtung von Arbeitersiedlungen, Spitälern, Asylen, Gefängnissen und Erziehungsheimen nach. An solchen Strukturen wird nach Foucault die Problematik einer Architektur sichtbar, welche nicht mehr bloß der Überwachung des äußeren Raumes diene, sondern der inneren gegliederten und detaillierten Kontrolle und Sichtbarmachung ihrer Insassen.29 Ähnliche Beobachtungen machte in den 1960er Jahren der amerikanische Soziologe Erving Goffman, der in seiner Untersuchung »über die soziale Situation psychiatrischer Patienten« den Begriff der »totalen Institution« geprägt hat. Diese definiert er als »Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen«.30 Der allumfassende oder totale Charakter solcher Institutio-

25 | Dörner 1969, S. 15. 26 | Dörner 1969, S. 72. 27 | Vgl. Foucault, S. 140f. 28 | Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1994 (Original: Surveiller et punir. La naissance de la prison. Paris 1975), S. 222. 29 | Vgl. Foucault 1994, S. 222. 30 | Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und

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nen wird durch die Beschränkung des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt und die Beschränkung der Freizügigkeit symbolisiert.31 Irrenhäuser zählt Goffman zur Gruppe der totalen Institutionen, welche »der Fürsorge für Personen dienen, von denen angenommen wird, dass sie unfähig sind, für sich selbst zu sorgen und dass sie eine Bedrohung der Gesellschaft darstellen«.32 Analog dazu können psychiatrische Kliniken mit Foucault auch als »Abweichungs-Heterotopien« bezeichnet werden. Deren charakteristisches Merkmal lautet: »In sie steckt man Individuen, deren Verhalten abweichend ist zur Norm.«33 Bezeichnend ist außerdem einer von fünf Grundsätzen, wonach Heterotopien immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraussetzen, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.34 Die folgenden Ausführungen sollen aufzeigen, wie Prozesse des Ein- und Ausschlusses und Grenzziehungen in literarischen Texten dargestellt und verhandelt werden.

I NNEN - UND A USSENANSICHTEN Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Einzelschicksal und Kollektiv, zwischen Individuum und Gesellschaft, ist eine der Leitlinien, die sich durch Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz« zieht. Der Roman erzählt die Geschichte des ehemaligen Zement- und Transportarbeiters Franz Biberkopf, der zu Beginn des Textes aus einer Haftanstalt in Berlin-Tegel entlassen wird und sich wieder in der Welt außerhalb der Gefängnismauern zurecht finden muss. Ausführlich werden nun seine Versuche, im Stadtleben Fuß zu fassen, geschildert. Obwohl er sich bei seiner Entlassung geschworen hat, fortan anständig zu bleiben, gerät er erneut auf die schiefe Bahn. Er wird in einen Mord an einer Prostituierten verwickelt und landet am Schluss des achten Buches im Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Im Polizeigefängnis, »dem panoptischen Bau vom Präsidium«, spielt er zunächst den »Verrückten« und wird schließlich aufgrund seines auffälligen Verhaltens in die Irrenanstalt Buch verlegt.35 Da

anderer Insassen. Frankfurt a.M. 1981, S. 11. (Original: Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates. New York 1961). 31 | Vgl. Goffman 1981, S. 15f. 32 | Goffman 1981, S. 16. 33 | Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1993, S. 34-46 hier S. 40. (Original: Des espaces autres. Paris 1967/1984). 34 | Vgl. Foucault 1993, S. 44. 35 | Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. München 2005, S. 419.

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er der Mittäterschaft in einem Mordfall verdächtigt wird, kommt er ins »feste Haus«, die Abteilung für Straftäter.36 An dieser Stelle zeigen sich die bereits erwähnten Prozesse des Ein- und Ausschließens, welche sich zunächst in der geographischen Lage der Klinik widerspiegeln: Denn die Anstalt Buch liegt außerhalb der Stadt, sogar »ein Stück hinter dem Dorf«, und »das feste Haus liegt außerhalb der Häuser der andern, die nur krank sind und nichts verbrochen haben. Das feste Haus liegt im freien Gelände, auf dem offenen, ganz flachen Land«, wo es den elementaren Kräften wie Wind, Regen, Kälte und Schnee ausgesetzt ist.37 In der Irrenanstalt befindet sich Biberkopf unter ständiger Überwachung und die Beobachtungen werden detailliert festgehalten: Sie haben den Franz erst in den Wachsaal gesteckt, weil er immer splitternackt dalag und sich nicht hat zugedeckt, sogar das Hemd riß er sich immer ab, das war das einzige Lebenszeichen, das Franz Biberkopf einige Wochen gab. Die Augen hielt er immer fest zugepreßt, er lag ganz steif, und jede Nahrung hat er verweigert, so dass man ihn mit der Schlundsonde hat füttern müssen, wochenlang nur Milch und Ei und etwas Kognak dabei. Dabei schmolz der kräftige Mann sehr zusammen, ein einzelner Wärter konnte ihn leicht ins Badewasser tragen, das ließ sich Franz gern gefallen, und im Badewasser pflegte er sogar ein paar Worte zu sagen, auch die Augen zu öffnen, zu seufzen und zu stöhnen, aber all den Tönen war nichts zu entnehmen. 38

Sein Zustand wird also zunächst rein äußerlich beschrieben. Dennoch steckt in diesem Protokoll sehr viel Subjektivität: »Nicht die Krankheit wird beschrieben, sondern der Kranke.«39 An diese Beobachtung anschließend, soll nun gezeigt werden, wie im weiteren Verlauf der Geschichte ein Wechsel von der Außen- zur Binnenperspektive stattfindet. Um die Anstalt Buch tobt ein Sturm. Aufgrund der exponierten Lage ist er in der Klinik deutlich vernehmbar: Wumm wumm, der Wind macht seine Brust weit, er zieht den Atem ein, dann haucht er aus wie ein Fass, jeder Atem schwer wie ein Berg, der Berg kommt an, kracht, rollt er gegen das Haus; rollt der Bass. […] Stürzende Gewichte, hämmernde Luft, Knackern, Knistern, Krache, wumm wumm, ich bin deine, komm doch, wir sind bald da, wumm, Nacht, Nacht.40 36 | Döblin 2005, S. 419. 37 | Döblin 2005, S. 419. 38 | Döblin 2005, S. 419. 39 | Käser, Rudolf: Arzt, Tod und Text. Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur. München 1998, S. 260. 40 | Döblin 2005, S. 420. Hervorhebung L.W.

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Obwohl sich Franz Biberkopf in einem äußerst apathischen Zustand befindet, lässt der Erzähler keinen Zweifel daran, dass auch er die Vorgänge außerhalb der Klinikmauern registriert: »Franz hört das Rufen. Wumm wumm, hört nicht auf, kann schon aufhören. […] Ich lieg auch schon lang. […] Wumm wumm, das kann wimmern, ich lieg schon lang, ich steh nicht auf, Franz Biberkopf steht nicht mehr auf.«41 Mit dem Wechsel von der Er- zur Ich-Form wird nun die Wahrnehmungsperspektive der Figur eingenommen. Die personale Erzählweise erlaubt es, die Leser und Leserinnen in diese Perspektive mit einzubeziehen: Sie können sich mit Biberkopf identifizieren. Der Wechsel von der Außen- zur Innenperspektive auf erzähltechnischer Ebene kündigt außerdem folgende Umdeutung an: Der Wind bläst nicht nur auf einer äußeren Ebene um die Anstalt und das feste Haus, sondern tobt auch innerlich in der Figur des Franz Biberkopf drin. Dieser vegetiert zwar nach wie vor stumm und erstarrt vor sich hin, ohne jegliches Anzeichen von Interaktion mit seiner Umwelt. Jegliche Versuche zur Kontaktaufnahme von Seiten der Ärzte scheitern an seiner Verschlossenheit gegen außen. Analog zum Sturm, der ums feste Haus tobt, können auch die vergeblichen Versuche der Ärzte, Biberkopf zum Reden zu bringen, gesehen werden. Biberkopf verschanzt sich in seinem Schweigen wie in einer anderen Welt, und es gelingt keinem der Außenstehenden die Mauer dieses Schweigens zu durchbrechen: »Im festen Haus liegt er im Bett, die Ärzte kommen und halten seinen Leib bei Kraft, inzwischen er immer tiefer verblaßt. Sie sagen selbst, er ist nicht mehr zu halten. Was in ihm Tier war, läuft auf dem Felde.«42 Der letzte Satz dieses Zitats deutet an, dass in seinem Innern jedoch ein komplexer psychodynamischer Prozess abläuft, »ein Seelendrama in mehreren Phasen«43, welches Döblin auf den folgenden Seiten größtenteils in Form innerer Monologe, durch Innensicht also, darstellt. Es ist ein Kampf mit dem Tod, welcher den Lebenslauf des alten Franz Biberkopf beendet und dem Leser einen neuen Biberkopf zeigt.44 Am Tag seiner Entlassung aus der Anstalt heißt es über diesen: Zum zweitenmal verläßt jetzt Biberkopf ein Haus, in dem er gefangengehalten war, wir sind am Ende unseres weiten Wegs und machen mit Franz zusammen noch einen einzigen kleinen Schritt. […] dieser Mann geht jetzt langsam die Invalidenstraße rauf, […] und sieht sich ruhig die Läden und Häuser an und wie die Menschen hier rumrennen, und

41 | Döblin 2005, S. 420. Hervorhebung L.W. 42 | Döblin 2005, S. 429. 43 | Käser 1998, S. 259. 44 | Vgl. die einleitenden Sätze zum 9. Buch in Döblin 2005, S. 411.

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lange habe ich das alles nicht gesehen, und jetzt bin ich wieder da. Biberkopf war lange weg. Jetzt ist Biberkopf wieder da. Euer Biberkopf ist wieder da. 45

Auch an dieser Stelle findet durch den Wechsel von der Er- zur Ich-Form erneut ein Perspektivenwechsel statt. Entscheidend ist, dass die Leser und Leserinnen mit der Wir-Form in den Kreis der Beteiligten miteingeschlossen werden. Sie werden auf diese Art und Weise zu direkten Zeugen von Biberkopfs Integration in die Gesellschaft. Diese Integration wird in Döblins Roman jedoch erst durch die Konstruktion eines Umweges, des Ausschlusses von Biberkopf durch den Gefängnis- und Klinikaufenthalt, möglich gemacht.

R AUM UND M ACHT Friedrich Glausers Roman »Matto regiert« beginnt mit der Ankunft von Fahnderwachtmeister Jakob Studer in der Heil- und Pfleganstalt Randlingen, einem roten Ziegelbau in U-Form.46 Er wird von Dr. Ernst Laduner, Psychiater und stellvertretender Direktor der Klinik, in die Institution eingeführt, »ins dunkle Reich, in welchem Matto regiert«.47 Der Arzt warnt ihn gleich zu Beginn, dass ihn die Diskrepanz zwischen der realen Welt und dem Reich der Klinik vielleicht unsicher machen und er sich unbehaglich fühlen werde. Diese Einschätzung Laduners bestätigt sich in der Folge. Neben der besonderen Atmosphäre und den vielen neuen Eindrücken trägt auch die Architektur der Klinik ihren Anteil zu Studers Unbehagen bei. Die Anstalt ist nämlich von Mauern und eisernen Gittern umgeben, die massiven Holztüren im Innern sind verschlossen und die Fenster vergittert.48 Obwohl Studer, mit den entsprechenden Schlüsseln ausgestattet, frei in der Anstalt zirkulieren kann, fühlt er sich gefangen: Studer blieb in der Mitte eines Durchgangsweges stehen und blickte um sich; ein unbehagliches Gefühl kroch ihm über den Rücken. Die roten Ziegelmauern der Anstalt Randlingen umgaben ihn von drei Seiten, und auch die vierte war nicht frei. 49

Vom Eingesperrt-Sein sind also nicht nur die Insassen betroffen, sondern auch Studer, der als Außenstehender, als Besucher, in die Anstalt gekommen ist.

45 | Döblin 2005, S. 447. 46 | Vgl. Glauser, Friedrich: Matto regiert. Zürich 1989, S. 19. 47 | Glauser 1989, S. 21. 48 | Vgl. Glauser 1989, S. 21, 22, 47 und 55. 49 | Glauser 1989, S. 85.

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Durch die Wirkung der vergitterten Fenster wird seine Beunruhigung noch verstärkt: Es war dem Wachtmeister, als seien die vielen Fenster, die mit ihren winzigen Scheiben in den Fronten funkelten, riesige Facettenaugen, die ihn beobachteten. Er hatte nichts zu verbergen, sicher nichts. […] Aber ungemütlich war es gleichwohl. Die Fenster warfen schielend-fragende Blicke: Was treibt der Mann? Was wird er jetzt tun?50

Mit diesem Hinweis auf die Beobachterfunktion wird deutlich gemacht, dass Studer wie die Insassen nun denselben Gesetzen von Überwachung und Kontrolle in Mattos Reich unterworfen ist. Doch was hat es mit Mattos Reich genau auf sich? Matto – italienisch für verrückt – ist eine Erfindung des alten Insassen Schül, der ein Gedicht über der »Geist der Irrsinns« abgefasst hat.51 Darin schreibt er, dass Matto manchmal oben auf dem Glockenturm sitze und seine Fäden auswerfe, »weit ins Land über die Dörfer und Städte und die Häuser […]«.52 Im letzten Abschnitt des Gedichts über Matto, »den Grossen, der die Welt regiert«,53 heißt es: »Matto! Er ist mächtig. […] die Welt ist sein Puppentheater. Sie wissen nicht, die Menschen, dass er mit ihnen spielt wie ein Puppenspieler mit seinen Marionetten… […].«54 Man könne nicht genau sagen, wo Matto aufhöre zu regieren, erklärt ein Pfleger und auch Laduner weist daraufhin, dass eine klare Abgrenzung schwierig ist: »Wo hört Mattos Reich auf, Studer? Am Staketenzaun der Anstalt Randlingen? […] Die Fäden reichen weiter. Sie reichen über die ganze Erde… […].«55 Mit dieser Bemerkung ist auch eine Grenzziehung auf einer anderen Ebene angesprochen. Ebenso wenig wie man genau definieren kann, wo Mattos Reich aufhört, kann man eine klare Grenze ziehen zwischen »geisteskrank und normal«, zwischen gesund und krank.56 Von solchen Vorstellungen angeregt, findet Studer eigene (poetische) Bilder: Die Anstalt Randlingen erscheint ihm nun »wie eine riesige Spinne, die ihre Fäden über das ganze umliegende Land gespannt hat und in den Fäden zappeln die Angehörigen der Insassen und können sich nicht befreien…«.57 In diesem – wenn man so will – Netz spielt sich nun ein besonderer Kampf ab, auf den im Folgenden ein Blick geworfen werden soll. Es geht um den Zusam50 | Glauser 1989, S. 85. 51 | Glauser 1989, S. 21. 52 | Glauser 1989, S. 69. 53 | Glauser 1989, S. 70. 54 | Glauser 1989, S. 115. 55 | Glauser 1989, S. 247. 56 | Glauser 1989, S. 245. 57 | Glauser 1989, S. 156.

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menprall zweier Institutionen, der Psychiatrie und der Kriminologie, vertreten durch die Figuren Laduner und Studer, welche sich bei der Arbeit an ihren jeweiligen Fällen in die Quere kommen. Studer wurde ursprünglich aufgrund des rätselhaften, gleichzeitigen Verschwindens des Patienten Pieterlen und des Direktors Borstli von Laduner in die Klinik gerufen. Dr. Laduner, Psychiater der Klinik Randlingen, ist jedoch nicht nur an der Aufklärung dieser beiden Fälle interessiert, sondern gibt außerdem an, von der Behörde »gedeckt« sein zu wollen.58 Studer soll ihm den Rücken frei halten, damit er sich ungestört seiner wichtigsten Aufgabe, der Behandlung des jungen Herbert Caplaun, widmen kann. Dieser befindet sich bei ihm als Privatpatient in Psychoanalyse und Laduner ist davon überzeugt, bei diesem Patienten wirklich etwas wieder gutmachen zu können.59 Zur »Kraftprobe«60 zwischen Studer und Laduner kommt es in erster Linie aufgrund der besonderen Verhältnisse in der Klinik. Bei der Arbeit an seinem Auftrag herauszufinden, was in Wirklichkeit geschehen ist,61 stößt Studer nämlich auf verschiedene Schwierigkeiten: »Immer wieder schien es ihm, dass in dem vorliegenden Fall mit den gewohnten kriminalistischen Methoden nichts auszurichten sei, dass man stillhalten und auf den Zufall passen müsse…«.62 Insbesondere das Indizienlesen, welches zu den Kernkompetenzen eines Kriminalisten gezählt werden kann63, bereitet Studer Mühe: […] das ist nicht ein einfacher Fall, wie ein anderer, der draußen unter normalen Menschen spielt… Dort habe ich sogenannte materielle Indizien, die ich so oder so werten kann… Hier hatte jedes Indizium einen ganzen Zopf von seelischen Komplikationen […].64

Trotz allem gewillt, seine Mission zu erfüllen und der Wahrheit auf die Spur zu kommen, beginnt Studer, sich anderer Methoden zu bedienen und seine Schlüsse aufgrund von psychologischen Überlegungen zu ziehen.65 Doch Stu58 | Vgl. Glauser 1989, S. 12. 59 | Vgl. Glauser 1989, S. 207. 60 | Glauser 1989, S. 89. 61 | Vgl. Glauser 1989, S. 175. 62 | Glauser 1989, S. 210. 63 | Vgl. dazu die Aussage von Studer: »[…] Was kenne ich?… Mein Handwerk. Und zu meinem Handwerk gehört doch, dass ich auf Grund von Indizien Verhaftungen vornehme.« (Glauser 1989, S. 285). 64 | Glauser 1989, S. 293. 65 | Vgl. dazu die Kapitelüberschrift »Studers erster psychotherapeutischer Versuch« (Glauser 1989, S. 160).

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der ist auf diesem Gebiet kein Fachmann und erliegt der Gefahr, »die psychischen Mechanismen allzu sehr zu vereinfachen«,66 wie es Laduner formuliert. Er muss sich deshalb am Schluss vom Arzt den Vorwurf gefallen lassen, nicht nur auf eigene Faust gehandelt, sondern ihm gar ins Handwerk gepfuscht zu haben: Es war eine Kraftprobe, die sie ablegen wollten, Sie wollten dem Herrn Psychiater beweisen, dass auch ein einfacher Fahnderwachtmeister psychologisch begabt sein kann… Aber mit Seelen muss man vorsichtig umgehen – Seelen sind zerbrechlich…67

Allerdings bleibt der Roman von Glauser nicht bei dieser Kritik an Studer als Vertreter der Kriminologie stehen. Martin Stingelin hat in seinem Aufsatz über Psychiatrie und Psychoanalyse in Leben und Werk von Friedrich Glauser herausgearbeitet, wie dieser in »Matto regiert«, mit der psychiatrisch institutionalisierten Psychoanalyse und »ihren fatalen Effekten ins Gericht geht«.68 Der Triumph von Ernst Laduners psychoanalytischer Deutung über die kriminologisch-psychologische von Jakob Studer sei nur ein vermeintlicher, denn die eigentlichen Protagonisten des Kriminalromans seien die Übertragung und die Ambivalenz der psychiatrisch institutionalisierten Psychoanalyse.69 Diese Ambivalenz, welche unter anderem darin bestehe, dass der Psychoanalytiker seinen Patienten in ein »Wechselbad aus Angst und Hoffnung« taucht, wird im Roman mehrfach angesprochen.70 Von der »Gewalt der vielgelästerten Psychiater« 71 ist die Rede und anhand des Falls Caplaun wird erzählt, was es heißt, sich in dieser Gewalt zu befinden: Es wird immer alles ganz anders, wenn man so daliegt, und der andere ist unsichtbar und raucht nur und schweigt und schweigt… Ich hab geweint, aber sprechen hab ich nicht können… […] Aber der Herr Doktor hat geschwiegen und ich bin auf dem Ruhebett gelegen und hab geweint… Sie wissen nicht, Wachtmeister, was das ist, eine Analyse!… Lieber drei Lungenentzündungen… Es sollte zu meinem Besten sein, ich sollte

66 | Glauser 1989, S. 287. 67 | Glauser 1989, S. 278. 68 | Stingelin, Martin: »Matto regiert« – Psychiatrie und Psychoanalyse in Leben und Werk von Friedrich Glauser (1896-1938). In: Heinz, Rudolf, Kamper, Dietmar und Sonnemann, Ulrich (Hg.): Wahnwelten im Zusammenstoß. Die Psychose als Spiegel der Zeit. Berlin 1993, S. 81-101, hier S. 96. 69 | Vgl. Stingelin 1993, S. 98. 70 | Stingelin 1993, S. 81. 71 | Glauser 1989, S. 138.

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ein anderer Mensch werden… Aber alles erzählen müssen!… Man kann doch nicht alles erzählen…72

Gegenüber Studer gibt Laduner sogar selbst zu bedenken, dass das Schweigen in der Analyse ein »furchtbares Druckmittel« sein könne.73 Bleibt zum Schluss für den Leser und die Leserin also die Frage, ob der Arzt mit der Macht, welche ihm in die Hände gegeben wurde, verantwortungsvoll und korrekt umgegangen ist. Für Stingelin ist nicht zu übersehen, dass Glauser die ganze Manipulationskraft der Psychoanalyse in der Figur von Dr. Ernst Laduner zusammengedrängt habe – »mit tödlicher Konsequenz für die Pfleger und Patienten der Anstalt, die in ihrem Bann stehen«.74 Abschließend lässt sich deshalb mit Stingelin feststellen: »Glausers Kriminalroman nimmt dem psychoanalytischen Prozess im architektonischen und administrativen Rahmen der Irrenanstalt jede Unschuld.« 75

R ÄUMLICHE S TRUK TUREN UND SOZIALE P R AK TIKEN Einem solchen Diskurs, welcher die enge Verflechtung von Raum und Macht sichtbar macht, ist auch der (Anti-)Psychiatrieroman »März« von Heinar Kipphardt verpflichtet. Die psychiatrische Landesklinik Lohberg, welche im Zentrum von Kipphardts Ausführungen steht, liegt idyllisch auf dem Land, »weit genug von der Stadt entfernt, aber nicht zu weit, […] für die Abgeschlossenheit einer psychiatrischen Klinik geeignet. Nicht zu erreichen durch Massenverkehrsmittel, Ruhe, Mauern, Park, gedacht als eine nach innen gekehrte Welt für sich […].« 76 Der Kern der Klinik besteht aus einem ehemaligen Kloster mit einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert und einem um 1750 im Barockstil geplanten und im Rokoko vollendeten viergeschossigen Klosterbau. Die Pracht einer solchen Architektur in »historischen Pastellfarben« und mit »reicher Stukkatur und Schnitzerei« kann von Touristen besichtigt werden, ohne dass sie die Klinik betreten müssen.77 Nahezu alle Besucher zeigen sich von der »architektonischen und landschaftlichen Schönheit Lohbergs« beeindruckt.78 Den Besuchern werden in erster Linie die Vorzüge der Institution, das Rokokokloster, der berühmte Bibliothekssaal und die modernen, mit der neusten 72 | Glauser 1989, S. 295f. 73 | Glauser 1989, S. 307. 74 | Stingelin 1993, S. 99. 75 | Stingelin 1993, S. 99. 76 | Kipphardt, Heinar: März. Roman und Materialien. Reinbek b. H. 1978, S. 9f. 77 | Kipphardt 1978, S. 10. 78 | Kipphardt 1978, S. 116.

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Medizintechnik ausgerüsteten Stationen gezeigt. Daneben existieren jedoch auch die rückwärtigen, alten Teile, in denen die Mehrzahl der Patienten, insbesondere alle Langzeitpatienten, untergebracht sind: Das waren in einer Art Postgotik errichtete Krankenhauskasernen, um 1880 erbaut, vergitterte Krankensäle, Gänge, ummauerte Innenhöfe, große Eßsäle, unzureichende hygienische Verhältnisse.79

Die Aufmerksamkeit für die Diskrepanz zwischen fassadenhafter Repräsentation gegen aussen und prekären inneren Verhältnissen steht in Zusammenhang mit einer institutionskritischen Haltung, welche in Kipphardts Roman vom Abteilungsarzt Kofler vertreten wird: Die Irren gelten als gefährlich, aggressiv, herausfordernd, gewalttätig und unheilbar. Deshalb muss man sie an abgelegene Orte bringen, wo sie unter Kontrolle sind, niemanden gefährden, öffentliches Ärgernis nicht erregen. Die Aufgabe der Anstalt ist folglich die Aufsicht über den Kranken, nicht die Beschäftigung mit ihm und seinen Problemen. […] Der Zweck der Anstalt, Aufsicht und Verwahrung, zeigt sich schon in deren Architektur. 80

Damit ist die Verbindung zwischen räumlichen Strukturen und sozialen Praktiken angesprochen. Die Architektur steht in hohem Grad im Dienste von Überwachung und Kontrolle der Insassen, wie am folgenden Beispiel deutlich gemacht werden kann: Der Wachsaal […] war von einem einzigen Schaltpult aus zu übersehen, Wände aus unzerbrechbarem Glas trennten den Saal vom einsehbaren Waschraum mit zehn großen Waschbecken auf der einen Seite und von dem einsehbaren Toilettenraum auf der anderen Seite. Die abschließbaren Toiletten, von Monitoren überwacht, gaben dem Patienten das Gefühl der geachteten Intimsphäre. 81

Es sind unter anderem diese Verhältnisse, welche Kofler die Anstalt mit einem Gefängnis vergleichen lassen.82 Er kommt sich als Arzt wie ein »Voyeur oder Spitzel«83 vor, der seine Beobachtungen gegen die beobachteten Objekte, in diesem Fall die Patienten, verwendet. Kofler benennt die repressive Funktion dieser Gewohnheiten: 79 | Kipphardt 1978, S. 119. 80 | Kipphardt 1978, S. 96. Hervorhebung L.W. 81 | Kipphardt 1978, S. 118. 82 | Vgl. Kipphardt 1978, S. 112. 83 | Kipphardt 1978, S. 112.

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Sie [die Beobachtungen, Anmerkung L.W.] rechtfertigten den Ausschluß von anpassungsunfähigen, störenden, widersetzlichen Elementen aus der Gesellschaft und deren soziale Vernichtung. 84

Da solche Wahrnehmungsweisen seinen Überzeugungen zuwiderlaufen, empfindet er die Institution der Anstalt selbst in zunehmendem Maße als krank und krankmachend – nicht nur für die Insassen, sondern auch für Pfleger und Ärzte.85 Dass es paradoxerweise gerade die Institution der psychiatrischen »Heilanstalt« sei, die von Kipphardts Roman in aller Ausführlichkeit als pathogen geschildert werde, schätzt Thomas Anz als besonders kennzeichnend für den Umschlag in der Geschichte normvermittelnder Diskurse über Gesundheit und Krankheit ein: »Die Normen, welche einmal als heilsam galten und daher in der Klinik besonders gewissenhaft durchgesetzt wurden, gelten nun als gänzlich heillos.« 86 Die literarischen Techniken der Normvermittlung, welche im Roman eingesetzt werden, bezeichnet er dabei als »recht simpel«.87 Folgender Satz aus den Notizen des Arztes Koflers fasse den normativen Gehalt des Romans in eine bündige Formel: »Eine Gesellschaft, die massenhaft psychisches Elend produziert, muss bekämpft werden.«88 Mit den Worten von Anz konkretisiert sich so »Kipphardts sozialpathologisch begründete Kritik der Gesellschaft […] in der Kritik ihrer Institutionen und deren Normen.«89

G RENZEN UND G RENZ ZIEHUNGEN Am Beispiel von Rainald Goetz’ Roman »Irre« können abschliessend noch einmal verschiedene in diesem Beitrag bereits erwähnte Aspekte verdeutlicht werden. Die psychiatrische Universitätsklinik, in der die zentrale Figur des Romans, der junge Arzt Raspe, arbeitet, erscheint wie in »Matto regiert« als eigene Welt. Der Tag, als Raspe zum ersten Mal die Klinik betritt, wird quasi als »historischer Moment«90 inszeniert:

84 | Kipphardt 1978, S. 112. 85 | Vgl. Kipphardt 1978, S. 111f. 86 | Anz, Thomas: Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989 (Habilitationsschrift Universität München 1987), S. 103. 87 | Anz 1989, S. 98. 88 | Kipphardt 1978, S. 169. 89 | Anz 1989, S. 99. 90 | Goetz, Rainald: Irre. Frankfurt a.M. 1983, S. 108.

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Gefährlich hochgestimmt also, trunken beinahe, betrat Raspe die Klinik, um den Dienst anzutreten, die erste Stelle, und in dem Dunkel der Eingangshalle verweigerten sich die an Helle gewöhnten Augen, überlange, wie es Raspe schien, und er konnte nur ahnen, eine kühle Höhe, Weite, Herrschaftlichkeit. 91

Raspe wird zu Dr. Raspe, bekommt Kittel und Schlüssel und wird von einem der anderen Ärzte durch die Anstalt geführt, quer durch die Stockwerke, Gänge, unterteilt von schweren, dunkel lackierten Holztüren, nur mit dem Schlüssel zu öffnen, dann sorgfältig wieder ins Schloß zu ziehen, Oberwelt, imperial prunkend, und dann hinunter in das Gebäuch, Stollen, eng und winkelig, unterirdisch geheimes Netzwerk, […]. 92

Mit der Erwähnung der Holztüre wird in diesem Zitat bereits die Bedeutung von Grenzen und Grenzziehungen angedeutet. Solche spielen auch bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Ärzten und Patienten in diesem Text eine große Rolle. Dieses lässt sich in erster Linie an der Schilderung der räumlichen Strukturen vergegenwärtigen. Entscheidend ist die Erwähnung jener dritten […] Türe des Arztzimmers, die direkt in den Aufenthalts- und Speiseraum der Patienten hineinführte, eine gepolsterte Doppeltüre, die den Ärzten ein mögliches Gelärme der Patienten akustisch in wattierte Ferne rückte, ihnen jedoch zugleich den direktesten Zugang zu den Kranken gestattete, falls nötig. 93

Die baulichen Gegebenheiten in dieser Klinik ermöglichen es der Ärzteschaft, sich räumlich abzugrenzen, bei Bedarf jedoch auch schnell den direkten Kontakt zu den Patienten aufzunehmen. Diese Möglichkeit zur Kontaktaufnahme besteht jedoch nur einseitig: Die Kranken umgekehrt, […], erhofften sich selbstverständlich von dieser Türe ebenfalls direkten Zugang zu den Ärzten, konnten freilich die Türe von Station her ohne Schlüssel nicht öffnen und mussten also anklopfen, ohne allerdings wissen zu können, aufgrund der Treppentüre, ob das Arztzimmer überhaupt besetzt war oder leer, ob ihr folgenloses Klopfen tatsächlich kein Ohr erreichte oder von den Ärzten nur ignoriert wurde, was häufig war […]. 94

91 | Goetz 1983, S. 108. 92 | Goetz 1983, S. 109. 93 | Goetz 1983, S. 110. 94 | Goetz 1983, S. 110.

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Auch in diesem Fall sind also architektonische Strukturen mit den Mechanismen der Kontrolle und Machtausübung verbunden, dies belegt unter anderem auch die Reaktion der Patienten auf das ignorierende Verhalten der Ärzte: Das Gefühl der Unwissenheit bzw. Ohnmacht wird nicht selten mit Zorn und Wutausbrüchen quittiert.95 Dieser Verhältnisse ist sich Raspe als Neuling nicht bewusst und so betritt er »noch in Unkenntnis über die besondere Bedeutung dieser Türe durch sie hindurch wie durch eine Schleuse die andere Welt«.96 Bald macht jedoch auch er Bekanntschaft mit »den tiefsten Schrecken der Psychiatrie« und empfindet die Arbeit in der Klinik im weiteren Verlauf des Romans zunehmend als Belastung.97 Vor diesem Hintergrund führt er ein Doppelleben zwischen Klinikalltag und Partyleben, im Bewusstsein, dass so etwas wie ein »gespaltenes Gesetz für Tag und Nacht existierte«.98 Kennzeichnend für dieses Pendeln zwischen den zwei Welten ist die Schilderung einer Discoszene, eine »Initiations- und Schlüsselszene, aus welcher der Held nachhaltig verändert hervorgeht«.99 Zusammen mit einem Freund betritt Raspe das Lokal: Sofort gelles Lärmen, Dröhnen, Krachen von Musik. […] Menschen unter Strom, vom Rhythmus hoch in übertaghelles Licht geschleudert, Rasende Rempelnde, Knäuel spastisch krampfender Arme und Beine, schräge Köpfe, kahle und gefärbte, schrille Farben über dem Schwarz abgerissener Lederjacken und der engen, zu kurzen Hosen. […] See the blood on the streets that day, the blood and the madness. […] In seinem Kopf explodierte der Anfang der nächsten Nummer. Wahnsinn, der totale Wahnsinn […].100

Auffällig an dieser Formulierung ist nach Anz, dass blood – Englisch für »Blut«, aber auch für »Leben«, »Leidenschaft« oder »Wut« – im Rahmen eines Rocksongzitats direkt neben madness gestellt wird.101 Damit wird einmal mehr klar gemacht, dass die Grenzen zwischen ›Normalität‹ und ›Wahnsinn‹ nicht eindeutig zu ziehen sind. Die verschiedenen Möglichkeiten der Wertung werden auch in Goetz’ Roman aufgezeigt. Wahnsinn wird politisiert und romantisiert: »[…] Wahnsinn ist Revolte, ist Kunst, Mann!«102 Seine ästhetische Dimension wird noch deutlicher dadurch, dass eine »offensichtliche Verwandtschaft zwi95 | Vgl. Goetz 1983, S. 110. 96 | Goetz 1983, S. 111. 97 | Goetz 1983, S. 113. 98 | Goetz 1983, S. 134. 99 | Anz 1989, S. 139. 100 | Goetz 1983, S. 131f. 101 | Anz 1989, S. 139. 102 | Goetz 1983, S. 31.

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schen psychotischer und künstlerischer Produktivität« postuliert wird.103 Im Roman finden sich jedoch auch Stimmen, die dagegenhalten: Kunst und Revolte, die interessieren mich null, ist das klar, absolut null. Und wenn du willst, dann kannst du mal mitkommen in die Klinik. Dann zeig ich dir’n Irren. Dann zeig ich dir die Irren. Dann kannst du mal sehen. Die Irren sind nämlich irr. Die sind keine Künstler oder Revolutionäre. Die sind einfach irr. […] Die Irren sind irr. Kannst du gerne besichtigen. Und irr ist null Kunst, null Revolte. Arme Teufel sind die Irren, die ärmsten Teufel, die ich kenne, sind die Irren.104

Insbesondere die Wirklichkeit der psychiatrischen Klinik, wie sie Raspe in seinem Arbeitsalltag erlebt, stellt also ein schlagendes Argument dar gegen die »heroische Stilisierung und Ästhetisierung des Wahnsinns«.105 Allerdings wird diese nüchterne Haltung im Roman nicht konsequent durchgehalten und sie ist nicht mit dessen poetologischem Prinzip gleichzusetzen; vielmehr muss sich Goetz den Vorwurf der Ästhetisierung des Wahnsinns gefallen lassen, wenn er »sein aus heterogensten Diskursfragmenten zusammengesetztes Romanprojekt«106 selbst durch den Erzähler als ›irre‹ bezeichnen lässt: »Und der einzige, der dieses irre Projekt zusammenhalten kann, ist logisch ein gescheit irres und zugleich irr gescheites ICH.«107

F A ZIT Die Darstellung der Architektonik psychiatrischer Kliniken in literarischen Texten eröffnet vielfältige Echoräume. Die Struktur des psychiatrischen Diskurses widerspiegelt sich im Innern der Texte bei der Bauweise von Plot und Figurenkonstellationen. Im neunten Buch von Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz« werden zwei verschiedene Sichtweisen – Innen- und Außensicht – konstruiert, wovon sich die eine mit Nünning als »auktorial-erzählter«,

103 | Goetz 1983, S. 37. 104 | Goetz 1983, S. 32. 105 | Goetz 1983, S. 78. 106 | Anz 1989, S. 139. 107 | Goetz 1983, S. 279. Im Übrigen ist Goetz’ Roman insgesamt geradezu ein Paradebeispiel für die Ästhetisierung des Wahnsinns. Anz 1989, S. 138f. weist daraufhin, dass sich der auf dem Buchumschlag abgebildete Kopf mit dem ekstatisch schreienden Gesicht wie eine neoexpressionistische Illustration zu Sätzen wie dem folgenden aus dem Roman ausnehme: »Ein MANIKER brüllt in mir. Der brüllt so laut, dauernd möchte der aus mir heraus brüllen.« (Goetz 1983, S. 238).

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die andere als »figural-fokalisierter« Raum bestimmen lässt.108 Durch die Perspektivenwechsel auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung erhalten Leser und Leserinnen Zugang zur Figurenwelt und werden zum Schluss in den Kreis der am Geschehen beteiligten Personen miteinbezogen. Die Verräumlichung von zunächst nichträumlichen Diskurselementen zeigt sich in erster Linie am Phänomen der Macht. Die Bedeutung dieses Elements im psychiatrischen Diskurs wird in verschiedenen Texten deutlich gemacht. In Friedrich Glausers Roman »Matto regiert« ist es die psychiatrisch institutionalisierte Psychoanalyse, welche als manipulativ entlarvt und somit auch in ihrem Deutungsanspruch kritisch hinterfragt wird. Bei Heinar Kipphardt (»März«) wird die enge Verflechtung von räumlichen Strukturen und Mechanismen der Machtausübung explizit benannt. Aus einer institutionsund gesellschaftskritischen Perspektive werden diese Verhältnisse selbst als krank und krankmachend dargestellt. Damit verbunden ist die Frage, wer denn bestimmt, was als gesund und was krank zu gelten hat. Diese Abgrenzung steht unter anderem in Rainald Goetz’ Roman »Irre« zur Debatte. Während die Grenzziehung in Bezug auf die Bauweise der Klinik einfach vorzunehmen ist – Räume für Ärzte und Patienten sind durch entsprechende Strukturen getrennt – wird sie im Bereich des Diskurses ambivalent dargestellt. So lässt Goetz seinen Arzt in der psychiatrischen Klinik Erfahrungen machen, welche als Grenzüberschreitungen interpretiert werden können. Bei Glauser wird die Grenzziehung problematisiert, wenn danach gefragt wird, wo Mattos Reich aufhöre.109 Die Frage nach der Reichweite bezieht sich dabei einerseits auf die Grenze gesund–krank, andererseits jedoch auch auf die Frage, wie weit man als Vertreter einer Institution gehen darf. Mit dieser Problematik sind in erster Linie die Figuren Studer und Laduner und ihr konkretes Handeln in einem bestimmten Fall angesprochen. Sie betrifft aber ebenso die Leser und Leserinnen, welche sich in Bezug auf solche Abgrenzungen zu positionieren haben. Anhaltspunkte für eine solche Positionierung liefern ihnen die in den Texten verwendeten räumlichen Metaphern. Das Bild der Anstalt als Spinne, welche ihre Fäden über die ganze Erde spannt,110 scheint die Leser und Leserinnen ebenso mit einzuschließen, wie die folgenden Metaphern in den Texten von Kipphardt und Goetz: Dort wird die Klinik wahlweise als »Labyrinth«111 oder »Netzwerk«112 beschrieben. Diese Raumkonzepte sind nicht nur Metaphern für die ›Architektur der Klinik‹, sondern auch für die Struktur des Diskurses und die Bauweise der 108 | Nünning 2009, S. 45. 109 | Vgl. Kapitel fünf in diesem Beitrag. 110 | Vgl. Glauser 1989, S. 160. 111 | Kipphardt 1978, S. 163. 112 | Goetz 21983, S. 109.

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Texte selbst. Die Leser und Leserinnen stehen vor der Aufgabe, sich in diesem ›Labyrinth‹ zurechtzufinden: Genau wie die Romanfiguren sind sie im ›Netz‹ von unterschiedlichen Sichtweisen und intertextuellen Bezügen auf den außerliterarischen Kontext gefangen und damit aktiv inkludiert in die Frage nach dem Unsicher-Werden der Grenze von Krank und Gesund.

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Pathogene Irritation als Motor der Kunst Jürg Federspiels »Die Ballade von der Typhoid Mary« Dave Schläpfer

»Die Ballade von der Typhoid Mary« des Schweizer Schriftstellers Jürg Federspiel hat international Beachtung gefunden.1 Wenig bekannt ist, dass der Publikation im Jahr 1982 ein schwieriger Entstehungsprozess vorausging. Dieser wird sichtbar durch die Analyse der fragmentarisch erhalten gebliebenen Urversion der Erzählung, die von der Druckfassung punktuell stark abweicht.2 Zudem zeigt sich beim Vergleich mit dem historischen Fall, auf dem die Erzählung basiert, dass Federspiel zahlreiche markante Umformungen vorgenommen hat.3

P ERSON UND Z EICHEN Mary Mallon ist die erste selber gesunde Typhus-Überträgerin, welche durch das vom miasmatischen auf das bakteriologische Paradigma umgestellte Objektiv des nordamerikanischen Medizinalsystems gesehen werden kann. Die 1869 in Cookstown geborene und 1883 in die Vereinigten Staaten immigrierte Irin verdient sich ihren Lebensunterhalt als Herrschaftsköchin in New York City und Umgebung. Durch ihre kalten Speisen steckt sie zwischen 1900 und 1907 22 Personen mit Typhus an (bei einer verläuft die Krankheit tödlich) und 1 | Federspiel, Jürg: Die Ballade von der Typhoid Mary. Frankfurt a.M. 1982. Für den Nachweis von Zitaten aus der »Ballade« wird im Lauftext die Sigle »F« verwendet. 2 | Das so genannte »Original-Typoskript« mit handschriftlichen Anmerkungen befindet sich seit dem Jahr 2001 im mittlerweile zum Nachlass gewordenen Archiv des Autors im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Für den Nachweis von Zitaten daraus wird im Lauftext die Sigle »OT« verwendet. 3 | Die umfassendste Darbietung und Interpretation der Quellen zum historischen Fall bietet zurzeit Walzer Leavitt, Judith: Typhoid Mary. Captive to the Public’s Health. Boston 1996.

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verbringt, im Zuge der Nachforschungen des Seuchenmediziners George A. Soper gefasst, mit einer Unterbrechung insgesamt 26 Jahre bis zu ihrem Tod als Internierte in einem Ein-Zimmer-Bungalow auf North Brother Island im East River. Unter den so genannten typhoid carriers, von denen es Tausende gibt, ist sie die einzige, die derart harsche Sanktionen erfährt, obgleich andere viel mehr Opfer verursacht haben. Auf Grund der Rechtswidrigkeit des Verfahrens gegen sie (Bezug auf den Habeas Corpus Act) darf Mary Mallon die Insel nach einem ersten dreijährigen Aufenthalt mit dem Versprechen, nie wieder im Lebensmittelgewerbe tätig zu sein, 1910 verlassen. Obgleich sie zu diesem Zeitpunkt nun erwiesenermaßen über ihren Status als Überträgerin und die damit zusammenhängenden Gefahren Bescheid weiß, taucht die inzwischen rund 40-Jährige nach einiger Zeit unter, hört nur zeitweise mit dem Kochen auf und arbeitet unter anderen Namen weiter. Über die Gründe für dieses Verhalten ist nichts bekannt. Als es im Sloane Maternity Hospital erneut zu Erkrankungen kommt (dieses Mal erkranken 25 Personen, von denen zwei sterben), fliegt Mary Mallons falsche Identität auf – sie wird zum zweiten Mal, diesmal endgültig, interniert. Ab 1918 werden die Isolationsbestimmungen gelockert, was Besuche in der Stadt möglich macht; zudem kann sie im Riverside Hospital als Krankenpflegerin und im Labor arbeiten. 1932 erleidet sie einen Hirnschlag, wird bettlägerig und stirbt schließlich 69-jährig im Jahr 1938. Ihr Grab befindet sich auf dem St. Raymond’s Cemetery in der Bronx.4

M E TAPHORISIERUNG UND R E AK TIVIERUNG Aus Mary Mallon ist bereits zu Lebzeiten5 sukzessive das von der realen Person losgekoppelte label »Typhoid Mary« – »the U.S. archetype […] of the carrier 4 | Die historischen Angaben fußen auf Walzer Leavitt 1996. Vgl auch ihren vorgängigen Aufsatz zum Thema: Walzer Leavitt, Judith: »Typhoid Mary« Strikes Back. Bacteriological Theory and Practice in Early Twentieth-Century Public Health. In: Isis, Bd. 83, 1992, S. 608-629 und dazu auch die interessante Reaktion von Mendelsohn, J. Andrew: »Typhoid Mary« Strikes Again. The Social and the Scientific in the Making of Modern Public Health. In: Isis, Bd. 86, 1995, S. 268-277. Ich halte mich im Folgenden auch an Leavitts Empfehlung: »The term ›Typhoid Mary‹ should always appear in quotation marks because it is a phrase applied to Mary Mallon and not her real name and in acknowledgment of its negative connotation.« (Walzer Leavitt 1996, S. 256). 5 | »Mary Mallon, the individual, soon became Typhoid Mary, an example of what Foucault (1973) calls a category involved in the ›grid of identities, similitudes, analogies‹ of epistemic knowledge (p. xix). Mallon lost her social agency as she was quickly transmogrified into the typhoid disease itself.« (Hasian Jr., Marouf A.: Power, Knowledge, and

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narrative«6 und gleichzeitig ein Stereotypenbündel aus den Bereichen disease, race, class und gender – geworden: »a metaphor for a dangerous person who should be reviled and avoided« 7 respektive »synonymous with the health menace posed by the foreign born«.8 Ursprünglich wurde der Begriff von medizinischen Autoritäten mit dem Ziel geschaffen, die Persönlichkeitsrechte der Patientin zu bewahren.9 Doch bald als Metapher in verschiedenen Kontexten verwendet, über die yellow press popularisiert und so immer mehr Eigenleben erhaltend, findet er nach wie vor Verwendung in der amerikanischen Alltagssprache. Rückblickend gesehen brachte die pathogene Irritation »Typhoid Mary« die Systeme Recht, Politik und Massenmedien zwar nur für relativ kurze Zeit, dafür aber umso heftiger zum Oszillieren. Insgesamt kam den Aussagen George Sopers die größte Deutungsmacht zu; der Aufsatz »The Curious Career of Typhoid Mary«10 des sanitary engineer aus dem Jahr 1939 hallt noch immer nach. Insgesamt setzte aber Ruhe ein – für lange Zeit: »For more than half a century, the name of Mary Mallon was temporarely lost from public and legal view, with only occasional interest being shown in retelling her tale.«11 Dies ändert sich schlagartig mit dem Einsetzen des Aids-Diskurses, der wohl aufgrund von Parallelen im Setting des Ansteckungsdiskurses zu einem regelrechten Wuchern des »Typhoid-Mary«-Stoffes führt, nun auch erstmalig in der Kunst.12 In the Rhetorical Invention of »Typhoid Mary«. In: Journal of Medical Humanities, Bd. 21, Nr. 3, 2000, S. 123-139, hier S. 127. Er bezieht sich auf Foucault, Michel: The Order of Things. New York 1973. (Originalausgabe: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966). 6 | Wald, Priscilla: Cultures and Carriers. »Typhoid Mary« and the Science of Social Control. In: Social Text 52/53, Bd. 15, Nr. 3/4, 1997, S. 181-214, hier S. 182. 7 | Walzer Leavitt 1996, S. 127. 8 | Kraut, Alan M.: Silent Travellers. Germs, Genes and the »Immigrant Menace«. London 1994, S. 97. 9 | Der Term »typhoid Mary« (hier noch mit kleinem »t«) wurde an einem Meeting im Jahr 1908 von Milton J. Rosenau, Direktor des Hygienic Laboratory of the Public Health and Marine Hospital Service, zum ersten Mal gebraucht, damals noch nicht mit pejorativer Konnotation. (»›Typhoid Mary‹ originally was simple description. Rosenau used the phrase, no doubt, merely as a way to refer to a woman whose real name had not been released.«) (Walzer Leavitt 1996, S. 237). 10 | Soper, George A.: The Curious Career of Typhoid Mary. In: Bulletin of The New York Academy of Medicine, Bd. 15, 1939, S. 698-712. 11 | Hasian Jr. 2000, S. 123. 12 | Selbstredend hatte es auch bereits in den Jahrzehnten davor mehrfach bildliche Darstellungen der »Typhoid Mary« gegeben. Diese waren jedoch klar einem hierarchisch höher einzustufenden Text untergeordnet und brachten dessen Aussage quasi verdop-

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diesem Kontext finden die Verhandlungen von Mary Mallons Fall, einsetzend am 15. Januar 1979 mit dem schlicht »Typhoid Mary« betitelten BBC-Hörspiel von Shirley Gee,13 Weiterführung bis in die Gegenwart – in bildlichen Darstellungen, literarischen Texten, Theaterstücken und Musicals, in der Popmusik, in Film und Computerkunst sowie in den Genres der Superhelden-Comics und der Mangas. Ein zahlreichen Ausformungen des Stoffs inhärentes Element stellt die Frage nach der Schuld Mary Mallons dar. Weiter wird die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der behördlichen Maßnahmen zum Schutze des Allgemeinwohls problematisiert und unterschiedlich beantwortet. Auch das Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdreferenz (Eigenwahrnehmung und Außensetzung) wird oft zum Thema gemacht. Wissenschaftlich eingehend untersucht wird Mary Mallons Geschichte zum ersten Mal im Jahr 1996 von Judith Walzer Leavitt in »Typhoid Mary. Captive to the Public’s Health«. Auch auf eine Auswahl der bestehenden Kunstausformungen geht die in Genderfragen engagierte amerikanische Medizinhistorikerin in einem der Analyse der geschichtlichen Begebenheiten nachgestellten Kapitel ein – jedoch nur summarisch.

E INZEL AUSFORMUNG UND S ERIE Bei einer Untersuchung ausgewählter Element der diskursiven Formation »Typhoid Mary« zeigen sich einerseits die Differenzen kultureller Repräsentation im Vergleich mit dem historischen Fall, andererseits kommen aber auch die Dissonanz zwischen den einzelnen Diskurs-Strängen und die Polyphonie des Kunstsystems zum Vorschein.14 Aufgrund dieser Befunde werpelnd auf einer visuellen Erfahrungsebene zum Ausdruck. Deshalb sind diese nicht als eigenständige Kunstwerke zu betrachten. 13 | Gee, Shirley: Typhoid Mary. The Monday Play. In: Best Radio Plays 1979. The Giles Cooper Award Winners. London 1980, S. 7-49. Es handelt sich beim Hörspiel um »the first modern dramatic rendition of [Mary Mallon’s] story« (Walzer Leavit 1996, S. 215), die aber aufgrund der Entstehungszeit noch nicht dem Aids-Diskurs zugezählt werden kann. 14 | Dies ist der Gegenstand meines transdisziplinären Dissertationsprojektes »›Typhoid Mary‹ multidiskursiv«, das an der Universität Zürich von Rudolf Käser und Philipp Sarasin betreut wird. Durch das von Rudolf Käser gehaltene Seminar »Rhetorik der Ansteckung« und einen Aufsatz, in dem er die »Ballade« thematisiert (Käser, Rudolf: Wie und zu welchem Ende werden Epidemien erzählt? Zur kulturellen Funktion literarischer Seuchendarstellung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Nr. 1, 2004, S. 200-227), bin ich auf die Thematik aufmerksam geworden. Dies mündete zunächst in der ebenfalls bei Rudolf Käser eingereichten Lizentiatsarbeit

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den zwei Thesen zu erörtern sein: 1. die Charakterisierbarkeit des »concept« »Typhoid Mary« als »mobiler Signifier« 15 und 2. die Funktion der Kunst als Prozessor von Irritation unter dem Vorzeichen der Reinszenierung als Beobachtung zweiter Ordnung.16 Im Folgenden soll jedoch nicht die multidiskursive Serie der Aktualisierungen, sondern nur eine Instanz daraus, nämlich die Erzählung »Die Ballade von der Typhoid Mary« des Schweizer Autors Jürg Federspiel untersucht werden. Die spezifische Logik, welcher der Diskurs der »Ballade« unterworfen ist, wird herauskristallisiert. An der inneren Architektur des Werks wird gezeigt, wie sich Federspiel des Stoffs angenommen hat. Dabei kommen exemplarisch Möglichkeiten der Praxis zum Vorschein, wie die westliche Gesellschaft Krankheit zu Kulturprodukten verarbeitet.

J ÜRG F EDERSPIELS »B ALL ADE « Nach dem Tod des Autors im Januar 2007 bleibt »Die Ballade von der Typhoid Mary« aus dem Jahr 1982 unbestritten das bekannteste Werk Jürg Federspiels. Das hat auch damit zu tun, dass schon seit Längerem beinahe das ganze übrige Œuvre Federspiels vergriffen ist. Der kleinformatige, mit gut 150 Seiten relativ dünne Band – inzwischen in der zehnten Auflage vorliegend und in acht Sprachen übersetzt, auch die Filmrechte wurden verkauft17 – dürfte das mit Abstand kommerziell erfolgreichste Produkt des 1931 im Kanton Zürich geborenen Autors und Journalisten darstellen.

»›Typhoid Mary‹. Fakto-Fiktion bei Jürg Federspiel. Ein kulturwissenschaftliches Augmentum«. Für die Entfaltung der Gedankengänge wichtig war für mich der Besuch des Seminars »Mikroben, Gift, Gas. Bedrohungsängste in der Moderne« von Philipp Sarasin sowie die Lektüre seines Buches zum Thema. (Sarasin, Philipp: »Anthrax«. Bioterror als Phantasma. Frankfurt a.M. 2004). 15 | Dieser Begriff findet hier Verwendung in Anlehnung an Bennet, Tony und Woollacott, Janet: Bond and Beyond. The Political Career of a Popular Hero. London 1987, S. 42. 16 | Vgl. dazu den Abschnitt »Referenzrahmen Systemtheorie« in der Einleitung dieses Bandes, oben S. 35ff. 17 | Zu einer Verfilmung ist es bis dato jedoch nicht gekommen. Im Schweizerischen Literaturarchiv sind das auf Englisch abgefasste Screenplay von Rudi Wurlitzer sowie der (nicht unterschriebene) Filmvertrag gelagert. (Signaturen im Schweizerischen Literaturarchiv: A-05-c-04 und C-02-b/03).

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I NITIAL ZÜNDUNG UND E NTSTEHUNG Zum Stoff seiner von der Literaturkritik mehrheitlich gut aufgenommenen »Ballade« ist der in Davos aufgewachsene Federspiel während eines seiner zahlreichen Aufenthalte in New York gekommen, als er für die Kurzgeschichte »Eine Empfehlung für Potter’s Field«18 Erkundigungen einholte: Ich lernte etwas ausserhalb von New York den ›King of the Hippies‹19 kennen, einen kleinen Gangster, und dessen Freundin wurde ›Typhoid Mary‹ genannt, weil sie immer, wenn sie die Grippe hatte, alle anderen ansteckte. Der Name faszinierte mich. Man sagte mir, er sei sprichwörtlich für einen Krankheitsüberträger, der selbst immun gegen die Krankheit ist, und vielleicht habe es wirklich einmal eine ›Typhoid Mary‹ gegeben. Aber wahrscheinlich sei das Mädchen nur eine Legende. 20

Ausgehend von dieser auch noch heute im amerikanischen vernacular verbreiteten21 metaphorischen Verwendung des Begriffs begann Federspiel zu recherchieren – und wurde eigenen Angaben zufolge schließlich nach mehreren Fehlschlägen in der Bibliothek der Historical Society of New York fündig. Hier spürte er die beiden Aufsätze »The Work of a Chronic Typhoid Germ Distributor« von 1907 und »The Curious Career of Typhoid Mary« von 1939 auf – beide 18 | Publiziert im Band »Die beste Stadt für Blinde und andere Berichte«, Zürich 1980. 19 | In seiner literarischen Reportage »Vito, König der Hippies. Eine Romanze für Aussteiger« lässt Federspiel jedoch keine »Typhoid Mary«, dafür im Gegenzug eine »Bloody Mary« in der Entourage des selbst ernannten »Kings« auftreten. Die lapidare Erklärung ihres Namens durch den Ich-Erzähler, Jürg Federspiels Alter Ego »Yorick«: »Sie schneidet sich beim Brotschneiden oder Gemüsezerkleinern fast immer in den Finger.« (Federspiel, Jürg: Wahn und Müll. Zürich 1983, S. 37). Interessanterweise existieren weitere kulturelle Verknüpfungen zwischen dem »Typhoid Mary«-Strang und der Gruselmär über die vom Namen her auf Königin Mary I von England referierende »Bloody Mary«, wie ein Superheldencomic aus der »Daredevil«-Reihe von 1994 zeigt. Ein anderer, 1996 erschienener Comic namens »Bloody Mary« von Garth Ennis geht sogar so weit, diese beiden Stoffe mit der im frühestens auf 1883 datierten irischen nursery rhyme »Cockles and Mussles« auftretenden Molly Malone zu synthetisieren. Bereits Shirley Gee hat in ihrem Hörspiel »Typhoid Mary«, der ersten modernen künstlerischen Aufnahme des Stoffs von 1979, aus Molly Malone und Mary Mallon ein und dieselbe Frau gemacht. 20 | Zitat Federspiels in Luchsinger, Fridolin: Typhus-Saga. In: Sonntags-Blick, 24.10.1982. 21 | Dies belegen zum einen die Resultate einer noch nicht abgeschlossenen Inhaltsanalyse der »New York Times« von der ersten Verwendung des Wortpaars »Typhod Mary« im Jahr 1909 bis zur Gegenwart, zum anderen wird dies auch rasch an den Ergebnissen der Eingabe des Terminus in gängigen Internet-Suchmaschinen offenkundig.

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vom eingangs erwähnten Seuchenmediziner George Soper verfasst.22 Diese belegten die historische Existenz von »Typhoid Mary« respektive Mary Mallon und machten den Status ihrer Geschichte als reine urban legend zunichte. Die beiden Dokumente reichten Federspiel als historisches Fundament für seine Erzählung aus: »Ich wollte gar nicht mehr wissen.«23 Dem Autor zufolge wurde bei einem Wohnungsbrand im Jahr 1982 sämtliches Recherchematerial zur »Ballade« vernichtet, weswegen keine gesicherten Aussagen über anderweitige Nachforschungen Federspiels mehr gemacht werden können.24 Aufgrund der detaillierten Nachzeichnung des Lebens im historischen New York und der dargestellten zeitgenössischen Ereignisse liegt es jedoch nahe, dass Federspiel solche betrieben hat. Das gilt auch für den Fall der »Typhoid Mary«, wie ein beinahe wörtliches Zitat aus einer anderen Quelle beweist.25

U RVERSION UND D RUCKFASSUNG Der Weg von der Niederschrift bis zur Publikation der Erzählung verlief nicht ohne Friktionen: »Ich schicke das Manuskript an den Verlag und bekam es zurück mit vielen Fragezeichen. Ich war so wütend, dass ich mich in ein leeres Haus zurückzog und die ganze Geschichte nochmals in zweieinhalb Monaten neu schrieb.«26 Elisabeth Borchers (1926-2013), Federspiels damaliger Lektorin bei Suhrkamp, blieben die Auseinandersetzungen mit dem Autor nachhaltig in Erinnerung: »Es ist richtig, meine Anmerkungen und Korrekturen nahmen kein Ende, und der Autor setzte mir telefonisch zu, als hätte ich sein Werk verunstaltet.«27 Infolge dieser Querelen existieren zwei sowohl stilistisch als auch 22 | Soper, George A.: The Work of a Chronic Typhoid Germ Distributor. In: The Journal of the American Medical Association, Bd. 48, Nr. 24, June 1907, S. 2019-2022. (Zitiert nach dem Reprint in: Gutmann Rosenkrantz, Barbara (Hg.): The Carrier State. New York 1977, Originalpaginierung beibehalten). 23 | Zitat Federspiels in Luchsinger 1982. 24 | Die einzige weitere greifbare Quelle, aufbewahrt im Federspiel-Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv, stellt »The Isle of Tears«, ein undatierter Magazinartikel über Ellis Island, dar. 25 | »[I]t was like being in a cage with an angry lion«, beschreibt die an der Verhaftung Mary Mallons beteiligte Medizinerin S. Josephine Baker in ihrer Autobiografie das Verhalten der sich gegen die Polizisten energisch zur Wehr setzenden Mary Mallon (Baker, S. Josephine: Fighting for Life. New York 1939, S. 75). »›Es war, als befände man sich mit einer Löwin in einem Käfig.‹« (F 139) heisst es beinahe wörtlich übersetzt bei Federspiel. Diese Passage findet sich so nirgends bei Soper. 26 | Zitat Federspiels in Luchsinger 1982. 27 | Persönliches Schreiben an Dave Schläpfer vom 5.1.2005.

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inhaltlich und vom Auf bau her zum Teil erheblich differierende Fassungen der »Ballade von der Typhoid Mary«. Die angenommene Urfassung, das so genannte »Original-Typoskript«, ist jedoch leider nur noch fragmentarisch erhalten. Einen Autografen gibt es – wie im ganzen Nachlass – nicht, auch die einem Journalisten gegenüber erwähnte 34-seitige Vorstudie ist nicht mehr greif bar.28

D ICHTUNG UND W AHRHEIT Federspiel war es stets enorm wichtig, den hohen fiktionalen Gehalt seiner Version der »Typhoid Mary« herauszustreichen: »95 bis 99 Prozent ist frei erfunden.«29 Dies hat seinen Grund möglicherweise darin, dass sich der Autor klar von seinen benutzten Quellen, den medizinischen Aufsätzen Sopers, abgrenzen und auf seine dichterische Freiheit und Eigenleistung verweisen wollte. Diese Strategie der Abgrenzung liegt vielleicht darin begründet, dass sich gerade »The Curious Career of Typhoid Mary« für das heutige (deutschsprachige) Publikum keineswegs wie eine wissenschaftlich-nüchterne Abhandlung, sondern vielmehr wie eine Detektivgeschichte liest, in der bereits selber ein faktofiktives, literarisches Element angelegt ist.30 Dies wiederum mag mit der amerikanischen Tradition wissenschaftlichen Schreibens zu tun haben, aber gewiss auch damit, dass sich der medizinische Fokus mit dem irreversiblen Übergang von der Miasmatheorie zum bakteriologischen Paradigma schlagartig auf die nun sichtbar gewordenen »Bazillenträger«31 zu richten begann und damit auch nach ganz anderen Methoden verlangte.

28 | Vgl. Luchsinger 1982. 29 | Persönliches Telefonat Dave Schläpfers mit Jürg Federspiel vom 21.2.2002. Zum Zeitpunkt des Erscheinens der »Ballade« sprach dieser übrigens noch davon, dass diese »›zu vier Prozent aus Fakten und zu 96 Prozent aus Erfindung besteht‹«. (Zitat Federspiels in Luchsinger 1982). 30 | Dieser Punkt wird bei Walzer Leavitt 1996 überhaupt nicht thematisiert. Für die Historikerin ist offensichtlich, dass Sopers Beiträge klar dem wissenschaftlichen System zuzuordnen und damit der ›Wahrheit‹ verpflichtet sind. Von dieser Warte aus betrachtet, muss Leavitt mannigfaltige Defizite bezüglich vorgenommener Wertungen in seinen Aufsätzen feststellen. 31 | Soper (1907, S. 2022) referiert mit diesem in deutscher Sprache belassenen Ausdruck auf den deutschen Bakteriologen Robert Koch.

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Ö KONOMIE UND G ENRE An den Rezensionen ist zu erkennen, dass zumindest die deutschsprachigen Kritiker der Federspiel’schen »Ballade« keineswegs in der Lage waren, das tatsächliche Verhältnis zwischen Faktum und Fiktion adäquat abzuschätzen: »Was an dieser Geschichte historische Wirklichkeit ist und was Erfindung dessen, der sie aufgeschrieben hat, nämlich Jürg Federspiel – ich weiss es nicht.«32 Auch unter den Verlegern wurde diese offensichtliche Irritation diskutiert. So schlägt etwa Sheila McIlwaith in einem Brief an Federspiel vor, die »Ballade« in Großbritannien in der Kategorie »non-fiction« erscheinen zu lassen, weil sie auf einer »true story« basiere.33 Paul T. Angelis, der amerikanische Verleger, hält in seiner Antwort an McIlwaith dagegen: »From an American publishing point of view, our feeling was that it made more sense to publish the book as fiction than as non-fiction – both saleswise and because, after all, it is at least 80 % invented.«34 Die Korrespondenz Federspiels zum Thema ist leider nicht erhalten, sein Standpunkt zum Thema scheint jedoch klar. Möglicherweise muss gerade dieses unentscheidbare Mäandern zwischen Dichtung und Wahrheit, diese nachhaltige Verunsicherung der als authentisch angenommenen historischen Überlieferung als Grund für den Erfolg der »Ballade« und die Faszination, die von diesem Werk ausgeht, betrachtet werden. Dazu beigetragen hat vermutlich auch der ›stimmige‹ Zeitpunkt der Publikation im September 1982 respektive vor allem derjenige der englischen Übersetzung im Januar 1984: Am 27.7.1982 wurde vom Center for Disease Control and Prevention (CDC) der Begriff Aids eingeführt – die Krankheit wurde am 1.12.1981 erkannt und den Startpunkt der Epidemie legte man rückwirkend offiziell auf den 5.6.1981 fest. Aufgrund der aktuellen Ereignisse gewann die Abwägung zwischen der individuellen Freiheit und der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, ein in der Geschichte Mary Mallons angelegtes Element, Anschlussfähigkeit. Die akute Sorge, selber Opfer einer ›unsichtbaren Gefahr‹ oder aber als Mitglied einer Minderheit diskriminiert zu werden, gewann an Nährboden. Ein Vakuum tat sich auf, und der Bedarf an bereits bestehendem

32 | C.C. [=Cornu, Charles]: Der Todesengel Maria Caduff. In: Der Bund, 9.10.1982. 33 | Einem Schreiben vom 16.1.1984 an den Suhrkamp Verlag mit der Bitte um Weiterleitung an Jürg Federspiel beigelegt. Der Originalbrief datiert auf den 6.12.1983 (Signatur Schweizerisches Literaturarchiv: B-02-MCIL). 34 | Der Brief wurde auf den 24.1.1984 datiert (Signatur Schweizerisches Literaturarchiv: B-03-DEANG-MCIL). Man beachte den erneuten Versuch – siehe dazu Fußnote 29 –, dieses Mal von anderer Seite (jedoch möglicherweise basierend auf einer Äußerung oder einer Briefpassage Federspiels?), eine klare kalkulatorische Angabe für das Verhältnis von Wahrheit und Dichtung zu machen.

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Diskursmaterial zum Thema wuchs an.35 Soweit die Situation auf der Ebene der Rezeption – die »Ballade« selber muss jedoch aufgrund des Zeitpunktes ihrer Niederschrift zur Prä-Aids-Ära gezählt werden.

N EUSCHREIBUNG DER H ERKUNF T Federspiel hält sich zwar an die Eckpfeiler der biografischen Stationen Mary Mallons, so wie diese von George A. Soper beschrieben werden,36 doch seine Umformungen sind zahlreich und einschneidend. Das betrifft zunächst einmal die Herkunft Mary Mallons: Federspiel macht aus der emigrierenden Irin eine auswandernde Schweizerin und gibt ihr, stimmig zu den ihr angedichteten Graubündner Wurzeln, den Familiennamen Caduff. George Soper, der diesbezüglich nur Annahmen machen kann, lässt dem Autor dazu genügend Freiraum: »I think Mary was born in the North of Ireland.«37 Infolge dieser abgeänderten Ethnizität kommt der sich sonst aufdrängende Aspekt allfälliger Ressentiments nicht ins Spiel.38 Denn irische Einwanderer – damals als ›white niggers‹ verfemt – waren mannigfaltigen Anfeindungen ausgesetzt: »Vague fears of strangers coalesced into specific stigmatization of a particular group – the Irish. […] Late in the nineteenth century, renowned cartoonist Thomas Nast continued to depict the Irishman and ape as closely related.«39 In der »Ballade« wird der historische amerikanische Einwanderungsdiskurs und mit ihm das rassistische Element, welches beim realen Fall eine durchaus wichtige Rolle gespielt haben mag, ausgefiltert und das entstandene Vakuum durch ein helvetisches (und gleichzeitig auch autobiografisches) Ele-

35 | Zur rückwirkenden Interpretation der »Ballade« bezüglich Aids vgl. Fußnote 79. 36 | Diese setzt 1907, dem Jahr der ersten Ergreifung Mary Mallons, an. In der Ausgestaltung seiner Erzählung vor diesem Zeitraum war Federspiel also völlig frei, da keine anderen historischen Quellen dazu greifbar sind. 37 | Vgl. Soper 1939, S. 698. 38 | Dies ist umso erstaunlicher in Anbetracht dessen, dass die ehemalige Schwabengängerin ihre Schweizer Wurzeln anderen Figuren gegenüber stets zu verleugnen versucht und sich selber eine irische Herkunft zulegt. Dazu übernimmt sie kurzerhand den Familiennamen des Schiffskochs Sean Mallon, dem sie während der Überfahrt körperlich sehr nahe gekommen zu sein scheint. Das Feld eigen/fremd stellt auch beim historischen Fall ein zentrales Element dar: Zum einen durch die Bezeichung der Immigrantin als »Typhoid Mary«, zum anderen durch Mary Mallon selber, die sich im Gegensatz zu den medizinischen Autoritäten nie als krank gesehen hat, des Weiteren auch durch den Aspekt der Pseudonyme, die sich Mallon nach ihrem Untertauchen zugelegt hatte. 39 | Kraut 1994, S. 48/42.

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ment aufgefüllt. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Typhus nicht aus Irland, sondern aus der Schweiz nach Übersee gelangt.40

V ORVERLEGUNG DER E REIGNISSE Obgleich Federspiel aufgrund einer recht genauen Schätzung Sopers41 bekannt war, dass Mary Mallons Geburtsjahr um 1867 liegen musste, setzte dieser für die Ankunft seiner Figur in New York bereits das Jahr 1868 an (statt 1883, wie verbürgt ist, Federspiel aber nicht wissen konnte). Auch wenn das Alter der historischen Mary und der Figur Maria in etwa übereinstimmt 42, hat diese Vorverlegung zur Folge, dass anno 1868 – die ›bakteriologische Revolution‹ hatte noch nicht stattgefunden – der healthy carrier-Status der »Typhoid Mary« den Medizinern und der breiten Masse umso unerklärlicher hat erscheinen müssen: Although Koch and some of his colleagues had presented papers on the probable role of healthy carriers in producting typhoid, the phenomen was not familiar to many American epidemiologists and was certainly not comprehended by the public.43

Zudem gestaltete sich zum Federspiel’schen Zeitpunkt die Immigration in die Staaten noch viel einfacher: »Die Einreise […], bis etwa 1875 für Ausländer so gut wie frei, wurde schrittweise restriktiven Maßnahmen unterworfen

40 | Dazu der Autor selber in einem Interview: »Sehen Sie mal, als ›Typhoid Mary‹, die ja in Wirklichkeit eine Irländerin war, in der englischen Übersetzung herauskam, also auch in Irland, waren die Zeitung dort begeistert und voller Dankbarkeit, dass die Mary entgegen dem bislang geltenden Mythos keine Irländerin war, sondern eine aus der Schweiz. In Irland gelte ich als Heilsbringer.« (Federspiel in Steinert, Hajo: Er wär’ nicht ungern ein Engel. Jürg Federspiel über das Tätowieren und über sein Schreiben. In: Die Weltwoche, 17.8.1989). 41 | »I first saw Mary Mallon thirty-two years ago, that is, in 1907. She was then about fourty years of age […]« (Soper 1939, S. 698). Mary Mallons historisch verbürgter Geburtstag ist gemäss Walzer Leavitt 1996 am 23.9.1869. 42 | Das Mädchen der »Ballade« wurde für »dreizehn- oder vierzehnjährig [gehalten], obwohl es behauptete, erst zwölf Jahre alt zu sein« (F 11), während die reale Mary Mallon als 13- oder 14-Jährige in der ›neuen Welt‹ ankam. 43 | Kraut 1994, S. 97. Des Weiteren schreibt er: »Perhaps it was simply Mary Mallon’s bad fortune to be a healthy carrier at the time when the phenomen was still on the periphery of medical understanding. There is little doubt that headline hungry journalists capitalized extensively on her misfortune.« (Kraut 1994, S. 102).

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[…].«44 Zu guter Letzt ist die fiktive Mary Mallon durch diese Vorverschiebung bei ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen mit George A. Soper über eine Dekade älter als der sie verfolgende, 1870 geborene Seuchenmediziner. In Federspiels Text heißt es dann, dass es »nicht die Weiblichkeit (Mary war entschieden älter […]) [war], sondern der medizinische Fall, der [Soper] faszinierte« (F 13). Worin ist der Grund für diese zunächst unmotiviert erscheinende Änderung zu suchen? Möglicherweise gibt der Umstand Aufschluss, dass Federspiel seine Protagonistin mit einem von Typhus heimgesuchten Auswandererschiff namens »Leibnitz« einreisen lässt. Gemäß Leavitt ist weder historisch belegt, mit welchem Schiff Mary Mallon immigrierte, noch ob sie zum Zeitpunkt der Reise bereits infiziert war und ihrer Typhusinfektion überhaupt bewusst wurde: »We do not know when she contracted typhoid fever, except that it must have been during or before 1900. She denied ever having been sick with the disease, and it’s likely she never knew she had it, suffering only a mild flu-like episode.«45 Walzer Leavitt nahm Anstoß an den zahlreichen Abweichungen von historischen Fakten, die Federspiel in seine »Ballade« eingebaut hat: »It was a good reading in many ways, but I thought it distorted too much of what actually happened historically for my liking.«46 Trotzdem ist nicht ganz von der

44 | Perec, Georges und Bober, Robert: Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht. Berlin 1997, S. 10. (Original: Récits d’Ellis Island. Histoires d’errance et d’espoir. Paris 1980). 45 | Walzer Leavitt 1996, S. xvii. Historisch betrachtet ist demnach durchaus die Möglichkeit gegeben, dass sich Mallon erst in Amerika mit Typhus angesteckt hatte und damit zur gesunden Überträgerin wurde. Im Gegensatz dazu ist Maria bei Federspiel bereits zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung eine »Typhoid Mary«, welche den Typhus als Fremdkörper aus dem Osten kommend in den Westen bringt – übrigens eine äußerst hartnäckige »Prä-« bzw. »Uridee« im Sinne Ludwik Flecks. Zudem ist es Walzer Leavitt zufolge durchaus denkbar, dass Mallon nicht gemerkt hat, dass sie selber an Typhus erkrankt ist. 46 | Antwort in einem anlässlich der Ausstrahlung des auf Leavitts Publikation (1996) basierenden TV-Dokumentarfilms von der »Washington Post« lancierten Livechats auf die Frage, was ihre Meinung zu Federspiels »Ballade« sei: Walzer Leavitt, Judith: PBS Nova. Typhoid Mary. In: The Washington Post, 13.10.2004, www.washingtonpost.com/ ac2/wp-dyn/A18157-2004Oct8?, 31.3.2010. Die Frage, was Leavitt von der Eigenart der Dokumentation, zahlreiche historische Szenen durch Schauspieler nachstellen zu lassen, sowie vom gewählten Untertitel hält, wurde im Forum interessanterweise nicht gestellt respektive von der »Washington Post«-Redaktion im Nachhinein für eine Zusammenstellung nicht berücksichtigt. (Typhoid Mary. The Most Dangerous Woman in America. Regie: Nancy Porter, USA 2004, 60 Min., Farbe).

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Hand zu weisen, dass Federspiel durchaus (auch) »Wahres erfindet«47: So existierte ein Schiff namens »Leibnitz« aus Hamburg, das am 11. Januar 1868 New York erreichte, tatsächlich – und es hatte zeitgenössischen Quellen zufolge die Cholera an Bord.48 Federspiel füllt also die Lücke in den Quellen, und er tut dies mit recherchiertem Material. Wenn man zudem davon ausgeht, dass der Autor bei seinen Recherchen wohl durchaus noch auf andere Emigrantenschiffe gestoßen ist, die sich aufgrund ihres Überfahrtsdatums angeboten hätten, kann man annehmen, dass die Wahl genau dieses Schiffes intendiert erfolgte, was den Bezug zu den Theodizee-Deutungen, die Rezensenten angestellt haben, durchaus plausibel erscheinen lässt: »Dass sie [Mary Mallon] sich selbst bis zu ihrem Tod keines Vergehens bewusst wird (oder doch bloß in Ahnungen darüber nachdenkt), weist in die Richtung der Theodizee. ›Leibnitz‹49 hatte das Schiff geheißen, mit dem sie kam.«50

Z WISCHENERGEBNIS 1 Zusammenfassend kann bezüglich der Neuschreibung der Herkunft und Identität Mary Mallons festgestellt werden, dass Jürg Federspiel im historischen medizinischen Diskurs angelegtes Material konsultiert und dieses in einem Akt literarischen Handelns in die Logik des Systems Kunst überführt. 47 | Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus F 44 – Rageet umschreibt so seine Methode, zu der er sich aufgrund von Lücken im Quellenmaterial bei der Erzählung seiner »Ballade« genötigt sieht. Diese Textstelle schien zudem einem Rezensenten derart zentral, dass er diese zum Titel seiner Kritik machte (mey: Wahres erfinden. Jürg Federspiel: »Die Ballade von der Typhoid Mary«. In: Neue Zürcher Zeitung, 21.5.1982). 48 | E.W.: Die Cholera auf dem Auswandererschiff »Leibnitz«. In: Mecklenburgisches Volksblatt für Stadt und Land, 10.2.1868. 49 | Die beinahe unmerklich modifizierte Orthografie in »Leibnitz« ist – sofern man den Namen des deutschen Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz und Verfasser von »Die Theodicee« (1710) als Referenz annimmt, was zwei Rezensenten der »Ballade« tun – kompatibel mit der in der ganzen Erzählung angewandten Praxis Federspiels, das Schriftbild historisch authentischer Begriffe minimal zu verfremden: So heißt es etwa »Ellies Island« anstelle von Ellis Island oder »Williard Parker Hospital« statt Willard Parker Hospital. Aufgrund der offensichtlichen Systematik dieser im Lautbild unmarkiert erscheinenden Eingriffe drängt sich eine Deutung im Sinne der Derrida’schen Différance auf – als wollte der Autor mittels der Homofone auf das höchst verunsicherte Verhältnis zwischen »Authentizität und Ergänzung« (Klappentext der Erstausgabe der »Ballade«) – im Werk und möglicherweise in der Wahrnehmung generell – hinweisen: »[E]s gibt auf dieser Welt nicht eine einzige wahre oder echte Biographie.« (F 44). 50 | mey 1982. Mehr dazu im Abschnitt »Schuld und Sinn«.

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Dadurch wird ein Operieren mit dem Faktor der Möglichkeit legitim. Dieses findet – aller Umformungen zum Trotz – stets in einem sorgfältig recherchierten Rahmen und im Terrain des Plausiblen statt. Chancen zur freien Gestaltung des Stoffs durch Leerstellen in den Quellen werden konsequent und sehr bedacht ergriffen. Der Autor produziert zudem durch die Einführung von Metaebenen ein erhöhtes Niveau an Komplexität, wie sich im nächsten Schritt der Analyse zeigt.

D ER STERBENDE A RZ T ALS E RZ ÄHLER Der folgenreichste Kunstgriff Federspiels in der aus 45 kurzen Kapiteln und einem Epilog bestehenden Erzählung kann im narrativen »Framing« der historischen Handlung ausgemacht werden: In einer mit dem zweiten Kapitel beginnenden Rahmenerzählung lässt der Schriftsteller einen fiktiven Ich-Erzähler – den 58-jährigen New Yorker Kinderarzt Howard J. Rageet aus dem Hier und Heute51 – auftreten. Rageet, der innerdiegetisch zum Autor von Maria Caduffs Geschichte wird, entstammt eigenen Angaben zufolge einer Arztfamilie, die im 19. Jahrhundert ebenfalls aus Graubünden in die Staaten emigriert ist. Er steht seinem Beruf nicht mehr vorbehaltlos gegenüber. Dies ist wohl ein Grund, weshalb er sich mit seiner »Ballade«, wie er die biografische Erzählung nennt, im System Kunst zu bewegen beginnt, welches anderen Gesetzen folgt als der medizinische Diskurs und zum Beispiel Gedankengänge zulässt, die nach dem Sinn fragen, wenn es darum geht, Erkrankungen zu erklären. Federspiel lässt den Arzt, der den hippokratischen Eid »nur noch mit geschlossenen Augen und überkreuztem Zeige- und Mittelfinger schwören würde« (F  12), Sopers Aufsatz von 1939 kennen, interessanterweise jedoch nicht denjenigen von 1907.52 Federspiel erfindet zusätzlich die Figur Irving Rageet, den Großvater Howards, der Soper gekannt haben soll. Die beiden Mediziner werden als Konkurrenten im Fall der »Typhoid Mary« inszeniert: »Ich besitze 51 | Respektive in den Wochen oder Monaten – so genau ist dies aufgrund der nicht transparent gemachten Erzählzeit nicht zu eruieren – vor dem »Herbst 1981«, dem Zeitrahmen von Rageets Ableben, wie im Epilog ausgeführt wird. (F 154). 52 | »[Ü]brigens hat George A. Soper seinen ersten Artikel über Mary Mallon bereits 1907 veröffentlicht. Mutmaßungen allerdings.« (Rageet in F 13) Auch der dritte Aufsatz Sopers von 1919 kommt nichts ins Spiel, obgleich Federspiel aufgrund der Nennung im Aufsatz von 1939 Kenntnis von diesem hatte. Soper, George A.: Typhoid Mary. In: The Military Surgeon. Bd. 45, Nr. 1, July 1919, S. 1-15. (Zitiert nach dem Reprint in: Gutmann Rosenkrantz, Barbara (Hg.): The Carrier State. New York 1977, Originalpaginierung beibehalten.) Im Vergleich bleibt zu konstatieren, dass der Aufsatz von 1919 bei Kenntnis des Artikels von 1939 inhaltlich redundant ausfällt.

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einen Kalender, in dem mein Großvater seine eigenen Nachforschungen hinter dem Rücken seines Freundes und Kollegen notierte […].« (F 13) In der früheren Fassung geht Federspiel noch weiter: »[I]ch habe Anlass zu vermuten, dass die Freundschaft der beiden Herren deshalb in die Brüche ging, weil mein [Grossvater] seine Untersuchungen bereits am 15. Mai 1938 im Magazine of the Medical World Association, also ein halbes Jahr früher, publizierte.« (OT 8) Howard Rageet umschreibt seine Arbeitsmethode folgendermaßen: »Das wenige Material, das ich auffinden konnte, habe ich mir zu eigen gemacht und die weitere Wirklichkeit erfunden.« (F  13) Damit bewegt er sich – wie sein Schöpfer Federspiel – in der Grauzone zwischen dem literarischen und dem historiografischen Diskurs. Neben derselben Herkunft wie Maria Caduff nennt der Kinderarzt als Motivation zur Niederschrift »die Muße, die mir von einer heimtückischen Krankheit gleichsam als Schwarzer Peter zugeschoben wurde« (F 14). Der Erzähler ist also selber krank, und er ist dazu noch ein Arzt, für den der Tod zeitlebens der »gehasste Nachbar« gewesen ist. Er erzählt nun die Geschichte einer Gesunden und zugleich Kranken. Er tut dies sowohl in der Rolle des auktorialen als auch des Ich-Erzählers mit seiner ganz eigenen »Kolorierung« (OT  34), die noch genauer zu erläutern sein wird.53 Je weiter Rageet mit dem Schreiben kommt, umso mehr breitet sich seine eigene Erkrankung aus. Diese wird von einem Rezensenten vorsichtig als »Krebs«54 gedeutet, obgleich das im Text nie explizit gesagt wird – Rageet zieht es vor, nicht »im Detail auf die eigene Anamnese einzugehen« (F 24). Nur so viel: »Meine Krankheit hat auch mit dem Alter nichts zu schaffen.« (F 46) Was die Symptome anbelangt, zeigt der Akt des Schreibens von »Typhoid Marys« Geschichte beim 58-Jährigen eine therapeutische Wirkung: »Es geht auf Mitternacht zu, während ich diese Zeilen schreibe. Mit fortschreitender Krankheit konstatiere ich, wie sich das Schreiben immer mehr als ein Mittel gegen die Schmerzen erweist.« (F 24) Gemäß einem Rezensenten ist es Rageet möglich, die historische Begebenheit »mit dem geschärften Blick des Nicht-mehr-Lebenden« zu betrachten: »[P]olitische und menschliche Dummheiten von damals und heute werden mit demselben abstandhaltenden und gleichzeitig teilnehmenden Blick des Todkranken registriert.«55

53 | Siehe die folgenden Abschnitte »Sexualität und Identität« und »Schuld und Sinn«. 54 | o.A.: Slapstick mit Bakterien. In: Spiegel, 5.4.1982. 55 | vé: Die moderne Ballade um den Mythos der Typhoid Mary. In: Der Zürcher Oberländer, 14.7.1982.

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M EDIZINDISKURS ALS K L AMMER Aller temporären Linderung zum Trotz: Letztlich handelt es sich um ein Anschreiben gegen den Tod, gegen das »Gespenst […] Hoffungslosigkeit« (F 152). Das Ableben Rageets setzt gleichzeitig auch der Erzählung gewaltsam ein Ende. Die letzten beiden Abschnitte lauten: »Morgen werde ich versuchen, Mary Mallons Motive zu beschreiben, nein nicht die Motive, es gibt keine. Doch vielleicht hilft mir meine Einbildungskraft weiter. | Meine Phantasie erlischt. Ich brauche sie nicht mehr.« (F 152) Es folgt ein von Howard Rageets Tochter Lea acht Tage nach seinem Tod im »Herbst 1981«56 (F 154) verfasster, zwecks Abgrenzung zum Vorderen kursiv gesetzter Epilog über Mary Mallons letzte Jahre und ihren Tod. Ihre Bemerkung »er hat dabei seine eigene Wahl getroffen« (F 152), zusammen gelesen mit der Passage »›Schlaf gut, Dad, und missbrauch deinen Beruf nicht gegen dich selber.‹ Sie meinte die Medikamente.« (F 91) und Rageets früher beschriebene, durchaus wohlwollende Einstellung zur Euthanasie scheint darauf hinzudeuten, dass Howard Rageet seinen Schmerzen durch eine zu hohe Medikamentendosis selber ein Ende gesetzt hat. Wie sich am Epilog zeigt, verschwindet mit dem Ableben des Erzählers Howard Rageet auch die »Phantasie« respektive die »Einbildungskraft« aus der »Ballade«. Durch die Autorschaft Leas endet diese in einem »blanken, nüchternen Bericht«.57 Zu einer Weiterführung der Reflexion über die mögliche Motivation Mary Mallons, mit dem Kochen nicht aufzuhören und damit Menschen aktiv zu gefährden, so wie dies Rageet »vor dem Eindämmern« (F 151) vorschwebt, kommt es durch den Wechsel in den medizinischen Diskurs, in dem sich Lea bewegt, nicht.58 Das als Postskriptum angefügte Kochrezept aus 56 | Das wird wohl auch in etwa den Zeitraum der Fertigstellung der »Ballade« durch Federspiel darstellen. 57 | Arnold, Heinz Ludwig: Die Todesköchin. Jürg Federspiels »Ballade von der Typhoid Mary«. Manuskript der vom Radio »Deutsche Welle« ausgestrahlten Buchbesprechung, 7.6.1982, S. 4. 58 | Dies korrespondiert damit, dass Lea zwar in den Augen ihres Vaters »kühl« bleibt, nachdem sie das Manuskript der »Ballade« zum ersten Mal gelesen hat (Rageets Erklärung: »Eine Medizinerin.«). Seinen Verdacht, dass sie vom Inhalt seines Werks Rückschlüsse auf den Autor ziehen, sprich: den Systemstatus in Frage stellen könnte, kontert sie jedoch bravourös. Mehr noch: Rageets Bedenken in den Wind schlagend (»Bin ich als Mediziner zu abgebrüht?«), verweist sie selber auf die Legitimation des Fiktionalen in der Literatur: »Schließlich handele es sich um eine Geschichte und nicht um einen medizinischen Rapport.« Gleichzeitig legt Lea ganz klar fest, wo die Grenzen der »Phantasie« zu verorten sind: »›Erfind doch weiter, wie die Leute umkamen»›, sagte Lea, ›aber lass es reiche Leute sein […].‹« (Alle Zitate aus F 90f.) Die junge Medizinerin zeigt sich also

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dem Nachlass von Leas »Urgroßvater« (F 153) bleibt ein geschichtsloses, stummes Dokument. Die vormaligen Aussagen gänzlich verkehrend, wird zudem behauptet, dass die ehemals renitente Patientin in der Gefangenschaft schließlich »›lustig und fromm‹« geworden sei und »nur noch ironisch auf der Vaterschaft des Irländers Sean Mallon bestanden habe« (F 153). Immerhin – der inneren Logik der Erzählung folgend – macht die Tochter des textimmanenten Erzählers die »Ballade« der Öffentlichkeit publik, so jedenfalls deutet dies die an den impliziten Leser gerichtete Anfangssentenz an: »Ich, Lea Rageet,59 schließe diese Aufzeichnungen über Mary Mallon alias Typhoid Mary.« (F 152) Zusammen mit der vorangestellten und dadurch zunächst extradiegetisch wahrgenommenen Widmung (»Für Lea« (F 5)) entstehenden Klammer ergibt sich eine gewisse Unterminierung von Rageets Autorschaft – immerhin ist es Lea, die (zumindest in der Logik der Erzählung) den Autografen ihres Vaters posthum, wohl auch mit inhaltlichen Eingriffen, in eine druckfähige Form bringt.

Z WISCHENERGEBNIS 2 Die »Ballade« ist in ihrer Sicht auf einen realen historischen Gegenstand durch erzählerische Rahmenbildung und den Einsatz mehrerer Ebenen komplex strukturiert. Es sind vier Ebenen erkennbar: 1. Mary Mallons fiktionalisierte Biografie, die von Howard J. Rageet auf der Basis historischer Quellen zweier konkurrenzierender Mediziner, wovon einer aus der eigenen Familie stammt und damit Sympathieträger ist, zu Papier gebracht wird; 2. Howard Rageets Einschübe qua Selbstreferenz. 3. Leas Epilog. 4. Die durch seinen Namen auf dem Buchdeckel beglaubigte Autorschaft Jürg Federspiels, wobei dieser und Rageet dieselbe Hauptquelle kennen und Federspiel seinen fiktiven Erzähler nach derselben Methode arbeiten lässt, die er selbst anwendet. Dadurch wird vorgeführt, dass es keinen unmittelbaren Zugang zum historischen Fall gibt. Sowohl zwischen den verschiedenen ausdifferenzierten Systemen der moder-

durchaus bereit, Kunst als solche anzunehmen, sie wünscht sich aber eine ›stimmige‹ Literatur mit klarer Moral, nicht das ›hässliche‹, postmodern durchbrochene Kunstwerk. Ihr Vorschlag für die Funktion der »Typhoid Mary« ist analog zu diesem Kunstbegriff: die Schaffung ausgleichender Gerechtigkeit. Später attestiert Rageet ihr jedoch, dass sie gerade aufgrund ihres »Berufs-Ethos« »keinerlei Sinn für ausgleichende Gerechtigkeit haben kann«. (F 124) 59 | Mit dieser sprechaktgleichen klaren Setzung des neuen Subjekts werden gleichzeitig die Regeln des neuen Diskurses – das Fingiertabu im wissenschaftlichen und das Sinntabu im medizinischen Diskurs – genannt.

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nen Gesellschaft als auch zwischen der äußeren Wirklichkeit, ihrer Beobachtung und deren Niederschrift bestehen unüberwindbare Klüfte.

S E XUALITÄT UND I DENTITÄT Während der Überfahrt nach Amerika praktiziert der Schiffskoch Sean Mallon »Teigkneten« (F 142) an Marias Körper. Im als Sündenpfuhl inszenierten Schmelztiegel New York,60 in dem sich die »Gaunerei […] pestilenzialisch« (F 20) ausbreitet und Menschengesichter in den Augen Marias Tierantlitzen ähneln, angekommen, wird das Mädchen vom Arzt Gerald Dorfheimer von der unter Quarantäne gesetzten »Leibnitz« durch die Kontrollen geschleust und zu ihm nach Hause mitgenommen – aus »nicht ganz uneigennützig[en]« (F  16) Motiven, wie sich bald herausstellt. Damit beginnt in Federspiels Erzählung die Sexualisierung der Maria Anna Caduff alias Mary Mallon zur »Typhoid Mary«. Die körperliche Ausbeutung der von Rageet als »bildschönes weibliches Wesen« (F 13) inszenierten Protagonistin zieht sich durch die Erzählung. Zunächst ist es Dorfheimer, der sich bei einem Glas Bourbon die schlafende Gestalt der »Schweizer Lolita«61 besieht und ob ihres »lange[n] Botticelli-Hals[es]« (F 27) in Verzückung gerät. Später will er sich ihr »zitternd vor Begierde« (F 35) körperlich nähen, Maria wartet bereits nackt auf ihn – »das weiße Kissen bedeckte wie zufällig ihren Schoß« (F  35). Der Akt misslingt kläglich: Erst als er endlich in sie einzudringen versuchte, verwandelte sich das Grinsen in ein Lächeln. Das Ende kam auch dieses Mal abrupt. Seine Männlichkeit fiel zusammen, Maria grinste wieder, trug dieses Grinsen zur Schau, in dem er das Hohnlächeln aller Frauen dieser Welt zu spüren glaubte. (F 35) 62

Nach Dorfheimers Tod gerät Maria – vermittelt über einen »livrierte[n] Herr[n]« (F 47), der ihr einen Dollarschein zusteckt – in die Gesellschaft zweier Lustgreise. Die beiden »Onkel« (F 49) heißen sie sich zu entkleiden: »›Göttlich‹, 60 | Die Bemerkung eines Rezensenten, New York fungiere im Werk Federspiels »als Chiffre für die Welt«, scheint durchaus plausibel. (Oberholzer, Niklaus: Jürg Federspiels neues Buch. »Die Ballade von der Typhoid Mary«. In: Vaterland, 1.5.1982). 61 | o.A. 1982. 62 | Eine ambivalente Stelle zum Verhältnis Marias/Marys zu Dorfheimer aus der ersten Fassung der »Ballade« hat keinen Eingang in die Druckversion gefunden: »Sie mochte ihn gern, und nur einmal schlug sie ihm die Kerze aus der Hand, als er damit seine Männlichkeit zu ersetzen versuchte. Dann weinte er vor Entsetzen über sich selbst, und sie redete ihm liebevoll zu, Kochrezepte, Deutsch und Englisch durcheinander.« (OT 28f.).

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flüsterte der eine, und der andere, kein Kunstmaler, aber Kunstkenner, fügte schwer atmend hinzu: ›Kindlicher Rubens!‹« (F 51) Bereits an diesen beiden Szenen fällt auf, dass Maria, sie nennt sich jetzt selber Mary, sich gegen die Annäherungsversuche nicht zur Wehr setzt und punktuell sogar selber die Initiative ergreift. Das mag irritieren,63 könnte aber in Anbetracht der asymmetrischen Verteilung der Macht als Folge struktureller Gewalt erklärt werden. Widerstand zeigt Mary auf sprachlicher Ebene, z.B. durch den mehrfach in den ›unpassendsten‹ Momenten geäußerten Satz »I can cook« (F 35, 42 und 49). Außerdem geht sie nicht auf Kommunikationsangebote ein. Dorfheimer etwa, der im Schiffsregister ihre Herkunft erkundet hat und in deutscher Sprache Kontakt mit ihr aufzunehmen versucht, begegnet sie mit Schweigen und Verweigerung des Blickkontakts. Diese ambivalente Mischung von körperlicher Anpassung und kommunikativem Widerstand ist bedeutsam. Sie kann im Kontext der Federspiel’schen Erzählung als erste Stufe der später in Bio-Terrorismus mündenden Reaktion Marys auf die Zumutungen ihrer Ausbeuter gelesen werden. Weitere Stufen auf diesem ambivalenten Weg lassen sich feststellen: Als Akt der Anpassung ans kapitalistische System ganz im Sinne des Grundsatzes »do ut des« (OT 72) setzt Federspiels Mary auf ihrem Weg zur Herrschaftsköchin ihr Körperkapital ein – so etwa bei Monsieur d’Albert, Chef de Cuisine bei einem großen Hotel: Monsieur d’Albert kam hinter dem Vorhang hervor, splitternackt, grazil-viril, lockte Mary neckisch zu sich her, befehlend auch mit dem wichtigen Zeigefinger der unteren Körperhälfte. Sie begriff und begann die Kleider abzustreifen, wie es ein argloses Kind tut […]. (F 78)

Als ›Dank‹ wird sie als billige Arbeitskraft in der Großküche angestellt und schuftet, »bis ihre doch arbeitsgewöhnten Hände dunkelrot geschwollen waren […], was ihn nicht hinderte, sie während der halbstündigen Arbeitspause [an ihrem »jour fixe«] in den Keller zu führen und sie dort in kaninchenhafter Eile zu genießen« (F 80).

63 | Zusammen mit Marys mehrfach erwähntem »Grinsen«, das auf die Konstruktion einer kindlichen femme fatale hinzudeuten scheint – oder aber auch einfach auf ein »ganz besonders intelligente[s] Mädchen« (F 53), das die in der ›neuen Welt‹ vorgefundene Logik, ob pervers oder nicht, perfekt verinnerlicht, um überleben zu können. Diese These wiederum korrespondiert mit der Charakterisierung als auf sich alleine gestellte, irische Immigrantinnen, wie sie Anthony Bourdain – arrivierter Koch und Buchautor – möglicherweise etwas zu emphatisch vornimmt: »Without family or husbands, they learned to hustle, to negotiate, to endure. […] Mary was one of these new women.« (Bourdain, Anthony: Typhoid Mary. An Urban Historical. New York und London 2001, S. 62).

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Als der soziale Aufstieg geglückt ist, lässt sich Mallon, die sich der GenderProblematik durchaus bewusst ist,64 nicht mehr auf zwielichtige Angebote ein, auch in Zeiten der Krise: »›Ich bin Köchin‹, versetzte Mary halsstarrig.« (F 111) Auch d’Albert wird von ihr später zur Rechenschaft gezogen und in einem erpresserischen Akt zur Ausstellung eines neuen Arbeitszeugnisses genötigt. Die komplette Verinnerlichung der ökonomischen Logik – je nach Sichtweise könnte man auch von einer Art empowerment sprechen – hat aber ihren Preis: »Einmal hatte sie ein Verhältnis mit einem Koch. Die Affäre war von kurzer Dauer: Der Koch liebte zwar gut, doch er kochte lausig, und somit war der Fall für sie erledigt.« (F 83) Im Fokus sexuell orientierter Beziehungen steht alleinig die Maximierung des persönlichen Nutzens und Vorankommens: Ich gebe, damit du gibst. Ein Prinzip, dem sich Mallon jedoch schließlich entziehen möchte, damit gleichzeitig aber auch einer auf Liebe fußenden Sexualität entsagend: »Sie hatte kein geschlechtliches Verlangen mehr. Nie mehr. Sie hatte im Geist ihre Begierden als Flaschenpost versiegelt und in den Ozean geworfen. Ohne das Versprechen für einen Finderlohn.« (OT 103) Umso wichtiger dürfte daraufhin das Kochen für sie geworden sein: »Das Essen ist nach der Liebe das Wichtigste im Leben eines Menschen […].« (F 83) »Männer waren bisher immer etwa Entzauberndes, Missbrauchendes für sie gewesen« (OT 48), heißt es am Ende des ersten Drittels der »Ballade« zusammenfassend. Dieses Schema wird durchbrochen, als sich die noch jugendliche Mary den sich sozialkritischer Philosophie hingebenden und »für einen Kriminellen viel zu gutherzigen« (F  60) Einbrecher namens Chris Cramer kennen lernt.65 Er »war 23 Jahre alt, ein Hüne mit Kindergesicht« (F 62). Cramer fragt Mary, die fortan in seiner ärmlichen Behausung unterkommt, zwar bereits am ersten gemeinsamen Abend, ob sie noch Jungfrau sei, scheint aber sonst kein sexuelles Interesse an ihr zu haben:

64 | »[I]hr Inneres verschlang sich selber vor Neid und Ehrgeiz, wenn sie an all die Männer dachte, Köche, die vor ihrer kleinen feinen Nase standen, und ihr jede Gelegenheit als Köchin wegstahlen, eben, weil sie bloss eine Frau war. In hoher Gesellschaft galten nur Köche, zwischen deren Beinen etwas meist Überflüssiges baumelte.« (OT 120). 65 | Es scheint sich hierbei um die literarische Umsetzung des »disreputable looking man« (Soper 1939, S. 705) zu handeln, über den der Seuchenmediziner nicht viele Worte verliert – außer dass dieser einen »place of dirt and disorder« bewohne. Über Mallons Freund A. Briehof, mit dem sie zusammenwohnte, scheint historisch nichts verbürgt zu sein, auch kein Bildmaterial liegt vor. Leavitt konnte nichts über seinen (bei Soper erwähnten) Tod herausfinden (vgl. Walzer Leavitt 1996, S. 307, Fussnote 81).

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Chris Cramer hielt sein Gesicht noch immer dem Kaminfeuer zugewandt, wurde nicht gewahr, wie Mary sich langsam, doch ohne Zögern auszuziehen begann,66 und als er sich schließlich umdrehte und sie halbnackt sah, befahl er ihr, sich nicht weiter zu entblößen. (F 63)

Bei seiner Zurechtweisung tituliert der auch sonst nicht immer gerade herzlich daherkommende Cramer die für ihn schwärmende Mary als »dumme Gans, die noch nicht mal ein richtiges Dreieck habe und selbst noch ein Kind sei« (F 72). Dies ist in Anbetracht des Altersunterschiedes verständlich, signalisiert aber bei Cramer explizit die Absenz pädophiler Neigungen, die bis anhin in der Erzählung Federspiels bei allen andern Männern, mit denen Mary in Kontakt kommt, vorhanden zu sein scheinen. »Anderntags erklärte er ihr beim Frühstück, sie könne gerne bei ihm bleiben, als Tochter oder als Schwester, doch auf Liebe sei bei ihm kein Verlass.« (F 72) Es bleibt auch in den folgenden Jahren ihrer Beziehung – Mary hat ihre Volljährigkeit längst überschritten – bei einer »Josephs-Ehe« (F 95): Cramer »behielt auf der Matratze wie eh und je seine Unterwäsche an« (F 110). Cramer deswegen als »Homosexuellen«67 einzustufen, wie das mehrere Rezensenten tun, ist reine Spekulation. Auf der Textebene lassen sich dazu keinerlei Hinweise finden. Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht vielmehr ein innerdiegetischer Bezug zu Cramers Lektüre der Romane des zeitgenössischen Autors Alger Jr. besteht, welche für Cramer anzustrebende Idealbilder darzustellen scheinen: »Eine besondere Charakterisierung seiner Personen wäre noch hervorzuheben: Bei Horatio Alger Jr. werden aus Mädchen Frauen, Knaben bleiben Knaben.« (F 58) Gemäß Cramers Logik will sich dieser nicht auf Mary als sexuelles Wesen – und damit auch auf keine Heirat und keine Vaterschaft – einlassen, weil er vorhabe, sich einer »verbotenen anarchistischen Partei« (F 72) anzuschließen: »[E]s sei dies keine Zeit, eine Familie zu gründen […].« (F  72) Wie sich erst nach seinem Tod zeigt, handelt es sich bei Chris Cramer um einen gesuchten Anarchisten, der bei Un-

66 | Es handelt sich hier um einen Kontrapunkt zu Marys sonstigen Ausziehverhalten: »›So‹, befahl Onkel Delbert, ›und nun ziehst du dein Röckchen und Höschen herunter‹. Mary gehorchte wie eine aufgezogene Puppe oder ebenso unsorgfältig, wie sich ein Kind auszuziehen pflegt. ›Sachte, sachte‹, flüsterte Onkel Steve.« (F 51) Und an anderer Stelle: »Sie begriff und begann die Kleider abzustreifen, wie es ein argloses Kind tut […].« (F 78). 67 | Schwarz, Egon: Vom Essen und von der Liebe. Jürg Federspiels »Ballade von der Typhoid Mary«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.5.1982, S. 26. und o.A.2: Jürg Federspiels Duell mit Amerika. Bazillen-Ballade. In: Annabelle, 8.7.1982.

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ruhen im Jahr 1886 68 mit einer Bombe einen Polizisten getötet hat.69 Wie sich diese Haltung zu Cramers Lektüre der Werke des Horatio Alger Jr. verhält, soll hier nicht weiter untersucht werden, obschon in diesem Motiv das Thema der Ontogenese terroristischen Verhaltens anklingt. Möglicherweise spielen auch biografisch-psychologische Gründe mit: Wie Mary hat auch Cramer in seiner Jugend Übergriffe sozial besser Gestellter auf seine sexuelle Integrität erleben müssen.70 Wie Mary spricht er nicht von seiner eigenen Vergangenheit. Er verlangt seinerseits von ihr keine Rechenschaft über ihre Lebensgeschichte, auch »[ü]ber ihre ›Krankheit‹ hatte er nie ein Wort verloren […].« (F 145)

V ORURTEIL UND R EL ATIVIERUNG Bei all diesen Ausführungen stellt sich die Frage, inwiefern der Faktor Sexualität bei George Soper, auf dessen Aufsätze sich Federspiel beim Verfassen der »Ballade« gestützt hat, angelegt ist. Welches Bild zeichnet der Seuchenmediziner von der historischen Person Mary Mallon, von der bis auf wenige Briefe und Zitierungen in Presseberichten keine Selbstzeugnisse vorliegen? Der gesamte Strang der sexuellen Aktivität Mallons findet sich bei George Soper nicht, er ist also Federspiels Zutat. Federspiel hat zwar punktuell vorgefundene Elemente adaptiert, das Meiste jedoch dazuerfunden. Mehrfach verhält er sich dabei widerständig zu seiner Quelle, indem er Sopers Wahrnehmung durch den Ich-Erzähler Howard Rageet in Frage stellen lässt, der sich seinerseits auf die (fiktiven) Notizen seines »perfiden Ahnen« (F  130) Irving stützt. Damit wird die Autorität der historischen Quelle Soper literarisch untergraben. Das erstaunt keineswegs vor dem Hintergrund, dass in Federspiels literarischem Gesamtwerk der erotischen Komponente eine große Bedeutung zukommt, am ausgeprägtesten wohl in »Geographie 68 | Federspiel zieht hier eine historische Begebenheit zu Rate – die so genannte Haymarket Affair. 69 | So wie es scheint, haben Cramer – er »sei auf der Strasse zusammengebrochen und liege in der Morgue« (F 146) – seine diesbezüglichen Schuldgefühle ins Grab gebracht. In seinem geringen Nachlass findet Mary unter anderem die folgende Niederschrift: »›Entweder ist jeder Mensch schuldig, durch das, was er tut; oder umgekehrt: Jeder ist unschuldig, trotz allem, was er getan hat. Ich kann mich nicht entscheiden. Man möge mir verzeihen.‹« (F 148) Diese Passage wiederum kann auf Marys eigene Situation übertragen werden. 70 | »Ja, und einmal trug er einer Lady den Koffer nach Haus; sie bat ihn zu Tee und Kuchen, nestelte eine halbe Stunde später an seinem Hosenbund, und als er sich enttäuscht verabschiedete, rief die Dame aus dem Fenster ›Notzucht! Notzucht! Notzucht!‹ Und dies brachte ihm acht Monate schwerster Jugendverwahrung ein.« (F 60).

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der Lust«. Interessanterweise handelt es sich bei Federspiels Sexualisierung Marys jedoch keineswegs um einen Einzelfall, wie sich bei der Analyse der anderen Stränge des »Typhoid Mary«-Stoffs zeigt. Vor allem im Bereich der Superhelden-Comics und Popmusik findet sich dieses Motiv wieder. Zudem existieren auch explizit pornografische Ausformungen in der Bondage-Sparte. Um die Bedeutung von Federspiels Umgang mit dem vorhandenen Diskursangebot erkennbar zu machen, muss die moderne Forschungsdiskussion miteinbezogen werden. Walzer Leavitt vertritt nämlich (gewiss berechtigterweise) die These: »[G]ender was one very important factor in Mary Mallons’ situation, and it interacted closely with class and ethnicity.« 71 Sie führt mit Bezug auf Soper und dessen soziales Milieu aus: Soper’s ideas about women’s roles were similarly in keeping with his time and with his own encounters with working women. […] Viewed through the lens of his own gender and class expectations, Mary Mallon would have seemed a social inferior. His own social orientation, as well as his strong commitment to science, help explain the ways Soper tried to solve the public health dilemma Mary Mallon posed.72

Von einem ideologiekritischen Standpunkt aus betrachtet, hat Soper demnach durch seine stereotype Sichtweise viel zur Stigmatisierung Mallons und deren Behandlung zu Lebzeiten beigetragen und auch die weitere Verhandlung ihres Falls maßgeblich beeinflusst. An einer konkreten Stelle soll nun aufgezeigt werden, wie sich gemäß Walzer Leavitt Sopers misogyne Optik textlich manifestiert und wie Federspiel diese aufgenommen hat: Nothing was so distinctive about her as her walk, unless it was her mind. The two had a peculiarity in common. Those who knew her best in the long years of her custody said Mary walked more like a man than a woman and that her mind had a distinctly masculine character, also.73

Die Textstelle »Maria hatte sich auf dem Schiff eine Art Matrosengang angeeignet, der komisch wirkte.« (F 19) aus der »Ballade« scheint klar auf der Basis dieser Passage adaptiert worden zu sein. Federspiel übernimmt zwar den Vermerk zu dem besonderen Gang Mallons, verlinkt diesen jedoch nicht explizit mit bestimmten normativen Gender-Vorstellungen. In Anbetracht der »fast siebzig Tage Reise« (F 10) auf einem auf und ab wankenden bzw. hin und her schaukelnden Schiff scheint die Aneignung einer solchen Gangart tatsächlich 71 | Walzer Leavitt 1996, S. 100. 72 | Walzer Leavitt 1996, S. 104f. 73 | Soper 1939, S. 698.

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nachvollziehbar. Im Hinblick auf das Alter Marys bei ihrer Ankunft dürfte bei Federspiel auch die Praxis des Duzens, die Soper in seinem Aufsatz konsequent anwendet, keineswegs als pejorativ einzustufen sein.74 Gemäß Walzer Leavitt ist es bei George Soper auf Grund der Kollision von Mary Mallons Charakter mit den erwarteten Mustern zu einer derartigen Verzerrung gekommen, dass dieser selbst Mallons Äußeres völlig inadäquat beschrieben habe: Even more startling, the one early photograph I have been able to find of Mary Mallon indicates the physical description of her was not only immaterial, it was false. […] She is the woman in bed closest to the photographer, a neat, conventionally pretty, distinctly ›feminine‹ woman. The physically imposing masculinized woman seems to have existed only in the eyes of the anxious beholders, in the vision of those like Soper who needed to see in her an aberrant ›other‹ in order to justify their actions against her.75

Bezüglich des Aussehens schreibt Federspiel die in der Vorlage enthaltenen Aussagen komplett um: So inferior-maskulin Mallon bei Soper erscheint, so ausgesprochen feminin inszeniert sie Rageet als Erwachsene, gerade auch, was ihren Gang anbelangt, der nun »graziös […] aus der Mitte des Körpers« (F 112) entspringt und geradezu die Antithese zum ehemals komischen »Matrosengang« (F 19) Marys darstellt. Während Soper jedes Mallon zugewiesene positive Attribut relativiert,76 ist Federspiels Mary durch und durch »bildschön« (F  13), ihre Attraktivität entfaltet sich geradezu umgekehrt proportional zur »andauernden Agonie« (F103) New Yorks und seiner an Typhus darbenden Bevölkerung. Wie bereits angesprochen, wird in Federspiels Text Sopers Wahrnehmung der Mary Mallon relativiert, indem der Ich-Erzähler den Notizen sei74 | Als ›problematisch‹ könnte je nach Standpunkt höchstens der Umstand bezeichnet werden, dass Federspiel – analog zu Soper, aber ganz gegenteilig etwa zur Bearbeitung von Gee 1979 – seine Mary nur ausgesprochen selten selber sprechen lässt, und wenn, sich diese stets sehr einsilbig gibt. Auch erhält die Leserschaft kaum Einblick in ihre Gedankenwelt. 75 | Walzer Leavitt 1996, S. 107f. 76 | »She was five feet six inches tall, a blond with clear blue eyes, a healthy color and a somewhat determined mouth and jaw. Mary had a good figure and might have been called athletic had she not been a little too heavy. […] She could write an excellent letter, so far as composition and spelling were concerned. She wrote in a large, clear, bold hand, and with remarkable uniformity.« (Soper 1939, S. 698) Walzer Leavitt schätzt das folgendermassen ein: »He praised her (possibly to showcase his own humanity and compassion); but there were limits to the positive qualities he would attribute to Mary Mallon.« (Walzer Leavitt 1996, S. 106).

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nes (fiktiven) Großvaters als Referenz mehr Glaubwürdigkeit zumisst. Dies kommt im Original-Typoskript zu Ungunsten Sopers noch stärker zum Tragen: Soper beschreibt Mary im Weiteren, als etwas zu ›gewichtig‹, doch ich möchte da lieber – aus ästhetischen Gründen; wie sich bisher schon erwiesen hat –, meinem Grossvater Glauben schenken. In seiner Erinnerung war Mary schlank und agil. Soper war, so mein Grossvater, selber etwas schwerfällig und seine kommenden Erlebnisse77 waren nicht dazu angetan, einem weiblichen Wesen mehr Kräfte zuzugestehen, als es dies für ein Heimchen am Herd geziemte. (OT 123)

Z WISCHENERGEBNIS 3 Jürg Federspiel hat eine auffallend dominante erotische Komponente in die Geschichte der Mary Mallon einfließen lassen. Sofern man diese auf den ersten Blick originäre Anreicherung vor dem Hintergrund einer longue durée betrachtet, schreibt er damit hinsichtlich des starken Konnexes sowohl zwischen Ansteckung und Sexualität 78 – auch wenn es sich bei Typhus nicht um eine Geschlechtskrankheit handelt 79 – als auch demjenigen zwischen Ernährung 77 | Gemeint ist das persönliche Aufeinandertreffen von George Soper und Mary Mallon, bei dem der Seuchenmediziner mit seinem Versuch, Mallon zu überzeugen, dass sie krank sei und er ihren Stuhl zur Untersuchung benötige, empfindlich Schiffbruch erleidet. Federspiel hat diese Szene recht ›werkgetreu‹ von Soper übernommen und dessen Niederlage noch etwas ausgeschmückt. 78 | Im viktorianischen Zeitalter wurden ›contagious‹ und ›veneral‹ als gleichbedeutend konstituiert (vgl. Gilman, Sander L.: Sexuality. An Illustrated History. Representing the Sexual in Medicine and Culture from the Middle Ages to the Age of AIDS. New York 1989. S. 310). 79 | Man beachte dazu die interessante Bemerkung eines Rezensenten – »Die Symptome des Typhus halten Marys ›Kontaktpersonen‹ für Nachfolgelasten der Lust. Und damit trauten sich damals nur wenige vor den Arzt.« –, für die sich jedoch im Text keinerlei Hinweise finden lassen. (Spengler, Tilman: Respekt vor Mary Mallon. In: Süddeutsche Zeitung, 8./9.5.1982) Einige Jahre nach dem Erscheinen der »Ballade« knüpft ein Journalist an diese (syphilitische) Auffassung an und macht einen expliziten Link zu Aids: »Eine Schweizerin bringt hier den Typhus nach Amerika und stürzt, wie heute eine liebestolle Aidskranke, die Männer gleich reihenweise ins Unglück.« (Steinert 1989) Mit dieser Parallelsetzung verrät er gleichzeitig viel über seine Lesart von Federspiels Erzählung: Zwar ist daraus nicht ableitbar, ob Mallon sich ihrer Schuld bewusst ist, doch das Attribut »liebestoll« – nymphomanisch und promisk miteinschließend – scheint auf ein als deviant aufgefasstes Sexualleben hinzudeuten.

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und Sexualität 80 im Grunde jedoch eine zutiefst alte Geschichte fort. Sexualität wird im zum Sündenbabel stilisierten New York der »Ballade« als störanfälliges Unternehmen unter dem Vorzeichen eines maroden kapitalistischen Systems charakterisiert. Der sozial höher stehende, ausbeutende Mann setzt dabei die Frau als Objekt. Mit dem Akt, welcher der männlichen Triebbefriedigung dient, sind keine Gefühle verbunden. Zu wirklicher Liebe – auch wenn die herrschenden Strukturen sich letztlich derart machtvoll erweisen, dass das Projekt zum Scheitern verurteilt ist – kommt es nur, sofern die Beziehung platonischer (oder aber mütterlicher, wie sich im folgenden Abschnitt zeigt) Natur ist. Um die Kapitalismuskritik zur Entfaltung bringen zu können, muss Mary Mallon zwingend »bildschön« (F  13) inszeniert werden. Indem sie die Logik des Systems adaptiert, wird sozialer Aufstieg möglich, was jedoch auch einen partiellen Verlust der eigenen Weiblichkeit – Frigidität – zur Folge hat. Aus dieser Neuschreibung der äußeren Gestalt Mallons resultiert eine Nonkompatibilität zu frauenfeindlichen Ansätzen. Federspiel betreibt Quellenkritik, indem er Aussagen sympathisch komponierter Figuren zur Diskreditierung der ursprünglichen Referenz einsetzt.

S CHULD UND S INN Ich als Chronist muss zugeben, es wäre das Beste gewesen, wenn Maria damals umgekommen wäre. Doch das Schicksal verschonte sie ausgerechnet in Gestalt eines Arztes, der doch Leben retten soll und dann mit der Tat hundert-, sogar tausendfachen Tod verbreitete. (F 16f.)

Dies konstatiert der Erzähler Howard Rageet zu Beginn der »Ballade«, als sich Maria von der Reling der Leibnitz zu stürzen versucht. Er charakterisiert das Mädchen als »Todesengel […] zunächst ohne Schuld und Tadel« (wonach sie also in den Augen Rageets noch schuldig werden wird), welche »in schuldiger Unschuld« (F 44) agiert. Später wird dieses Motiv im Original-Typoskript in einem handschriftlichen Vermerk nochmals aufgenommen: »Man sah Krankheit noch als Schicksal und Krankheitsüberträger als Todesengel. U. das wäre vielleicht auch heute noch die überzeugendste ›wissenschaftliche‹ Erklärung.« (OT 34). Aus dem Verlust des religiösen Durchdrungenseins zahlreicher Diskurse resultiert in der Gesellschaft ein Manko an Sinngebung. Darauf antwortet Rageet durch seine Niederschrift eines literarischen Textes, welcher zu80 | »Verschmelzen und Trennen sind dominante Konzepte ebenso in den kulinarischen wie in den erotischen Diskursen. […] Die Phantasmen von Verschlingen und Verschlungenwerden haben in kulinarischen ebenso wie in erotischen Bezügen Platz.« (Prahl, Hans-Werner und Setzwein, Monika: Soziologie der Ernährung. Opladen 1999, S. 51f.).

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mindest für ihn, den kranken Arzt, die fehlende Sinngebung in der Medizin kompensieren soll. In der Urfassung findet sich zudem folgende Passage: »Sie war ein Wunderwesen, das Krankheit und Tod verbreitete, unschuldig wie ein Raubtier, wie eines der grausamen Fabelwesen auf den Bildern des Malers Rousseau (des Zöllners).« (OT 8a) Dieser Vergleich mit einem »Raubtier« oder einem »grausamen Fabelwesen«, verbunden mit der Bezeichnung als »Todesengel«, macht deutlich, worauf Rageet letztlich hinaus will: Aus dem Mädchen Maria Caduff wird metaphorisch überhöht eine Strafe respektive Prüfung Gottes, ein von Zeus geschleuderter Blitz. In ihrer vollendeten Grausamkeit ist sie bar jeder Grausamkeit, da sie sich jenseits der letztlich durch den Menschen hervorgebrachten Konzepte Gut und Böse bewegt. Federspiel, der Mary in der frühen Fassung bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt intuitiv von ihrem Status als Überträgerin wissen lässt (»Mary ahnte, dass eine Macht in ihr lebte […].« (OT 31)) stilisiert diese zu Rageets »Heldin«, später gar zum persönlichen Racheengel des sterbenden Arztes: Es fällt mir immer schwerer, Mary Mallon nicht als meine eigene Tochter zu sehen. 81 Ob ich sie als Instrument der Rache benütze? Denn ich bin auch der alte närrische Bruder der beiden geizigen Schwestern, der so tut, als wisse er nichts von Marys Fähigkeit, ausgleichende Gerechtigkeit zu schaffen, jene Gerechtigkeit, von der jeder Irdische, Atheist oder nicht, zuweilen träumt, nicht wahr? (F 124)

Die genannte Schaffung »ausgleichender Gerechtigkeit« ist innerhalb der Erzählung jedoch nur stellenweise erkennbar, so etwa beim Ableben Dorfheimers (pädophile Neigungen)82, Gilbert Newtons (Ausnützung seiner Arbeiter) oder Gwendolyn Kotterer-de Roches (Verlangen von Wucherzinsen und rigorose Sanktionen bei zu später Zahlung). Möglicherweise macht es mehr Sinn, umgekehrt danach zu fragen, wer in der »Ballade« denn nicht an Typhus stirbt: Das ist zum einen Chris Cramer, zum anderen das mongoloide Mädchen Caroline, das Mallon gerade im Wissen um ihren Überträgerstatus in mörderischer Absicht von reichen Herrschaften anvertraut wird. Zudem kommt es zu keiner einzigen Erkrankung während ihrer späteren Arbeit in einem Kinderspital: 81 | Möglicherweise ist damit im übertragenen Sinne gemeint, dass es Rageet immer schwerer fällt, Mary nicht als sein Produkt als schriftstellernder Arzt, als sein vom historischen Fall eklatant differierendes Konstrukt zu sehen. 82 | Irritierenderweise wird Dorfheimer durch seinen Typhustod jedoch vor dem »trostlosen Ende als Alkoholiker« (OT 26) bewahrt. Bei Spornberg, der sich jedoch keines Vergehens schuldig macht, macht die Ansteckung gar den Eindruck einer Sterbehilfe: »›Wie sinnlos war diese Zeit. […] Und jetzt diese wunderbare Stille. Wie wunderbar!‹« (F 122), so die letzten Worte des in seiner Kindheit von seinem Vater irreparabel Geschädigten.

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»Nichts war passiert.« (F 150) Ist es die Liebe, die Absenz von Machtausübung, die immun macht gegen die Krankheit, die von Mary ausgeht? Quer zu dieser Annahme steht jedoch, dass es das Schicksal mit den Überlebenden keineswegs gut meint. Zudem wird auch Monsieur d’Albert nicht krank. Insgesamt kann postuliert werden, dass das Sterbemuster und allgemein das Schema ›gute Figuren belohnen/schlechte Figuren sanktionieren‹ sich nicht immer durchsetzt und einigen Interferenzen ausgesetzt ist. In seinem letzten Kapitel spinnt der todkranke Rageet den Diskurs über die Schuld/Unschuld Marys – diese ist nach ihrer ersten Inkarzeration untergetaucht und arbeitet wieder als Köchin – weiter, wobei die Antwort auf die gestellten Fragen offen gelassen und in die Entscheidungsgewalt des Lesers gelegt wird: »Warum – nach Chris Cramers Tod – arbeitete sie als Köchin in einem Kinderspital? Sie liebte doch Kinder. […] Oder war es bloß Rache? Ein mißglückter Versuch der Rache?« (F  150) Gleichzeitig bestätigt Rageet, dass Mallon ihre Opfer eben gerade nicht intendiert hat auswählen können: »Welche Überlegungen mag ein ungebildetes Wesen anstellen, wenn im bewusst wird, dass es den Tod bringt und die Opfer doch nicht auswählen kann?« (F 151)

B IO -TERRORISMUS Im Original-Typoskript spitzt der Erzähler Rageet diesen Gedankengang zu, indem er sich vorstellt, dass Mary die ihr aufoktroyierte Fremdreferenz »Typhoid Mary« zur Selbstreferenz machen und bedingungslos annehmen könnte.83 Damit wird sie in der Tat zum Todes-, mehr noch: zum Racheengel, zum »black angel«,84 zur Bio-Terroristin, zum grausamen Rousseau’schen Fabelwesen, zur realen Bedrohung: Es hieß, dass Chris Cramer einverstanden war mit ihrem Plan, etwas in die Welt zu setzen und zu verbreiten, wozu nur sie, Mary Mallon, imstande war, ohne dass Gott oder eine stellvertretende Instanz dies vereiteln konnte. | Rache. | Sie öffnete nur die Büchse der Pandora, und zog am folgenden Morgen los, als wäre sie eine Handelsreisende für Zerstörung, Vernichtung und Trauer, und bot einem Herrn, der sie begehrlich anstarrte, ein angebissenes Sandwich an. Ihre erste Stelle fand sie als Köchin in einem Kinderspital, und sie verliess die Stelle am siebenten Tag, einem erahnten Tag destruktiver 83 | Siehe dazu konträr: »Mary Mallon felt deeply and, I think, honestly that she was not what the label ›Typhoid Mary‹ signified.« (Walzer Leavitt 1996, S. 201). 84 | »After the death of her friend, Mary began to behave like a black angel.«, schreibt Federspiel in einem undatierten Brief an Joel Agee, den Übersetzer der englischen Ausgabe der »Ballade«. (Signatur Schweizerisches Literaturarchiv: A-01-a/06) Auch das geplante Filmprojekt trug den Titel »Black Angel«, wie aus dem Screenplay hervorgeht.

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Schöpfung, der eine Quersumme der Inkubationszeit von Typhus darstellte. | Elf Kinder starben. (Glück oder Unglück für Mary –: Das Kinderspital verheimlichte dies.) Über eine Typhus-Epidemie wurde nichts bekannt, und selbst wenn Mary es erfahren hätte, so wären ihr diese Kinder Opfer und Ersatz gewesen für jene, die sie mit Chris hätte gezeugt haben wollen. Sie war eine rasende Mutter ohne Kinder. | Als Mary das Spital verliess (sie hatte ihr Wochen-Salär Lohn abgeholt), erkrankten zweiundzwanzig von ihnen. […] [V]on diesem Tag an, begann sie ihren Kampf gegen die Schöpfung. Oder – um es profan zu sagen –, die Welt, der Planet Erde, war falsch programmiert. 85

In dieser Version legt Mary es durch die Wahl ihrer Stellen geradezu darauf an, dass Kinder an Typhus sterben müssen – eine one woman army gegen die »falsch programmierte Welt«. Im Original-Typoskript kommen zu den insgesamt um die einhundert auf »Typhoid Mary« zurückzuführenden Erkrankungen und zu den um 25 Todesfällen noch zahlreiche weitere dazu, was für diese erste Niederschrift ein Gesamt von weit mehr als einhundert Erkrankungen und gegen vierzig Todesfällen ergibt. Verglichen mit den eingangs erwähnten historischen Zahlen handelt es sich um eine eklatante Vermehrung. Mit der Masse wird zugleich auch eine klare Axiologie des Textes bezüglich des Sterbemusters weggespült. Ein weiterer Unterschied zur Druckfassung stellt der Umstand dar, dass der Schluss des ersten Fassung ohne Lea, die als Medizinerin die »Ballade« zu Ende schreiben muss, auskommt – auch Howard Rageet als Erzähler tritt nicht mehr in den Vordergrund, nachdem Mary zum zweiten Mal verhaftet, diesmal endgültig weggesperrt wird und mehrere Jahre danach stirbt. Diese eklatanten Differenzen dürften ihren Ursprung im langwierigen Entstehungsprozess der »Ballade« haben: Denn mit den im Zuge der Niederschrift der zweiten Fassung realisierten Änderungen verfolgte Jürg Federspiel ein klares Ziel: die Annahme beim Suhrkamp Verlag, dies nachdem das »Original-Typoskript« bei der dafür zuständigen Lektorin durchgefallen war. Um eine Publikation und damit sein Weiterbestehen als Schriftsteller zu erwirken, installierte Federspiel nebst generellen inhaltlichen Abmilderungen eine Klammer in der höchsten Strukturebene, bestehend aus der Widmung von Rageet für seine Tochter und deren Epilog. Im Rahmen dieses containment – so die These – wird die ungeheure Irritation, dass sich Mary Mallon in einem Kinderspital anstellen lässt, obwohl sie um die Gefahr, die von ihr ausgeht, weiß, für den Verlag akzeptabel.

85 | OT 146f., letzter Satz durchgestrichen.

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F A ZIT Wie im Zuge der Analyse deutlich geworden ist, hat der Schweizer Autor Jürg Federspiel das historische, um die Wende zum 20. Jahrhundert angelegte Setting für seine zum Bestseller gewordene Erzählung »Die Ballade von der Typhoid Mary«, die auf einem realen Fall basiert, profund recherchiert und authentisch rekonstruiert. Aussagen der benutzten Hauptquelle – ein Aufsatz aus dem Jahr 1939 des epidemic fighter George Soper – werden zum einen adaptiert, zum anderen jedoch auch widerständig umgeschrieben, damit Walzer Leavitts harsche Ideologiekritik auf dem Feld der Literatur implizit vorwegnehmend. Durch die zwar explizierte, aber nicht detailliert ausgewiesene Vermengung von Faktum und Fiktion erwächst, zusätzlich begünstigt durch die komplexe Erzählstruktur, die Spannung zusammen mit der Unsicherheit, wie das Verhalten der Protagonistin und des fiktiven Erzählers zu verstehen und zu bewerten sei. Während sich Soper im medizinischen System bewegt und von diesem Standort aus Welt mit den entsprechenden blinden Flecken zu beobachten vermag, dekonstruiert Federspiel durch Beobachtung zweiter Ordnung diesen Diskurs und spannt ihn – Material aus Sopers Text neu angeordnet in seinen eigenen integrierend – unter verändertem Vorzeichen wieder auf. So setzt er als Erzähler den sich in der Gegenwart (der realen Buchniederschrift) bewegenden, todkranken Arzt Howard J. Rageet ein, welcher seinem inzwischen nicht mehr praktizierten Beruf kritisch gegenübersteht, was einen immensen Einfluss auf seine Darstellung der Geschichte von der »Typhoid Mary« zeigt: Nicht mehr die medizinische Triumphgeschichte steht im Fokus, vielmehr wird die vom kapitalistischen System sowohl physisch wie auch psychisch ausgebeutete Mary Mallon sexuell aufgeladen, mythologisch überhöht und zu einem »Todesengel« stilisiert, dem Rageet offenbar Verständnis entgegenbringen kann. »Typhoid Mary« hinterlässt – zunächst unwissend, dann erahnend und schließlich bei voller Kenntnis – durch ihr Kochen eine Spur des Todes in dem als Sündenpfuhl dargestellten New York, in einer Stadt, welche für die ganze, nach Rageets Ansicht »falsch programmierte« Welt steht. Dabei handelt es sich um den Versuch eines Revivals eines ganzheitlichen Erklärungsmodells von Krankheit, welches in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gemeinhin keinen Platz mehr findet und nach dem sich Rageet im Angesicht des eigenen Todes zurücksehnt. Ironischerweise geschieht die Ansteckung gerade im Kontext von Mallons Bestrebungen, sich als funktionierendes Mitglied in die ihr repressiv begegnende Gesellschaft zu integrieren, den von Horatio Alger Jr. durch seine Romane propagierten American dream zu verwirklichen und es mit dem Kochen in einer Männerdomäne zu sozialer Anerkennung zu bringen. Der Logik der Legende folgend, werden die Opferzahlen im Vergleich zu den historischen

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Quellen vervielfacht, dies um den Preis, dass das Argument der Notwendigkeit einer Internierung Aufschub erhält. Weil zunächst meist Personen aus vornehmen, als moralisch korrumpiert geschilderten Kreisen sterben, scheint auf den ersten Blick eine Interpretation Marys als Stifterin ausgleichender Gerechtigkeit in Frage zu kommen. Diese Deutung wird verstärkt durch den Umstand, dass dort, wo Liebe ohne Sexualität im Spiel ist, also bei Chris Cramer und Caroline bzw. in der Druckfassung bei Kindern allgemein, nicht gestorben wird. Die zahlreichen sozialkritischen Gedankengänge Rageets weisen in dieselbe Richtung. Damit fände sich Leibniz’ Denkfigur der »besten aller möglichen Welten« in der »Ballade« realisiert.86 Bald wird jedoch eklatant deutlich, dass die Ansteckungen keineswegs einem »stringenten Moralkodex«87 folgen. Am Gegenstand des ausdifferenzierten Systems Literatur selber zeigt sich, dass der Ariadnefaden unwiderruflich gerissen ist – daran vermag auch ein desillusionierter Mediziner, der den Tod vor Augen hat und sich nun als Schriftsteller betätigt, nichts zu ändern. So gelingt es Rageet im Medium der Schrift nur punktuell, den niedrigen Komplexitätslevel seiner in früheren Jahren an seine Kinder gerichteten oralen Narration der Legende von der »Typhoid Mary« zu simulieren. Was bleibt, ist eine stark pessimistisch gefärbte Weltsicht getreu dem an den Anfang gestellten Zitat von Thomas Wolfe, eine »ungeheuerliche Gleichgültigkeit«, wie sie Rageet auch seiner fiktionalisierten Mary andichtet, der bewusst geworden ist, »dass sie den Tod bringt und die Opfer dennoch nicht auswählen kann«. Die vom Erzähler herbeigesehnte Parallelisierung der bipolaren Unterscheidungen gut/böse und schön/hässlich mit derjenigen des medizinischen Codes gesund/krank bleibt Wunschdenken – selbst im eigenen Werk entfaltet sich die ›gute Ordnung‹ nicht konsequent. Alle Varianten sind möglich, es gibt keine Tabus. Das Gute darf hässlich, das Böse schön dargestellt werden; Krankheit weist keinerlei zwingenden Konnex zur Tugendhaftigkeit auf. Kurzum: Der herbeigesehnte archimedische Punkt muss als Illusion betrachtet werden. Es stellt sich nur noch die Frage: Hat Dorfheimer von den von Mary mit ungewaschenen Händen zubereiteten Speisen gekostet oder nicht und wie hat sein Immunsystem darauf reagiert? Und nicht: Hat er – seinen Status ausnutzend –, sich an dem Mädchen vergangen oder nicht? Als logische Folge des schmerzlichen Bewusstwerdens dieser kompletten Arbitrarität und der sich darob einstellenden Ernüchterung wird Mary im Schlusskapitel der vom Suhrkamp Verlag zurückgewiesenen Urfassung dazu gebracht, in einem Akt totaler Misanthropie die in ihrer Gallenblase logierenden Typhusbazillen als Waffe intendiert gegen Kinder zu richten, womit sie durch 86 | Siehe Fußnote 48. 87 | Schlienger, Niklaus: Mit Typhusbakterien gegen Hauptstadt NY. In: Basler Zeitung, 24.4.1982, S. 47.

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und durch zur ohne Gewissen hereinbrechenden Natur, zum Rousseau’schen Fabelwesen, zum Externen, zum vermenschlichten Typhus-Bazillus wird, was die restriktiven Maßnahmen des Staates zu legitimieren scheint. Das Projekt einer Änderung der Gesellschaft scheint letztlich gescheitert: Der Querdenker Chris Cramer kommt nach vielen Jahren des sich innerlich Verzehrens vor lauter Schuldgefühlen zu Tode, Mary Mallon verbringt die letzten 23 Jahre ihres Lebens in der Isolation. Mit dem Erlöschen der Fantasie und dem Suizid des Erzählers (in dieser Reihenfolge), mündet die Erzählung von der »Typhoid Mary« in den Epilog von Rageets Tochter Lea ein, in dem an keiner Stelle mehr von Todesengeln oder ausgleichender Gerechtigkeit die Rede ist. Im Gegenzug wird die Behauptung aufgestellt, Mallon habe sich in den Jahren auf North Brother Island schließlich mit dem System, dessen Struktur ihr Leben entscheidend geprägt hat, ausgesöhnt. Als letzter Akt wird das ›misslungene‹ Kunstprodukt schließlich – wohlgemerkt unter der Federführung der aufstrebenden Medizinerin – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Gerade was den Schluss anbelangt, zeigen sich enorme Differenzen zwischen der ersten und der schließlich gedruckten Version. Böse Zungen könnten diesbezüglich von einer Bankrotterklärung des Schriftstellers Jürg Federspiel gegenüber dem Literaturbetrieb sprechen. Doch dass »Die Ballade von der Typhoid Mary« überhaupt erst als Buch erscheinen konnte und nicht in der Schublade verschwand, ist wohl gerade dieser Neumodellierung unter pragmatischem Vorzeichen zu verdanken. Ein Blick auf spätere Aufnahmen des Stoffs ganz im Geiste der Federspiel’schen Urfassung im Superhelden-Comic und im Bereich alternativer Popmusik macht letztlich deutlich, dass die Fantasie nicht zu stoppen ist.

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Eskalation und Konsolidierung

Rhetorik der Seuche Wie und wozu man über Seuchen spricht Marco Pulver

Im folgenden Beitrag geht es um charakteristische Redeweisen über Seuchen, vor allem aber um die Frage, wie das Reden über epidemische Erkrankungen das Ereignis der Seuche selbst maßgeblich gestaltet. Ich möchte eine Theorie der Seuche vorstellen, der langjährige diskursanalytische Untersuchungen vorangegangen sind, die ich im Rahmen meiner Dissertation am interdisziplinären Forschungszentrum für historische Anthropologie der Freien Universität Berlin durchgeführt habe.1 In diesem Projekt ging es darum, das Reden über AIDS bzw. den AIDS-Diskurs – vor allem in Deutschland – vor dem Hintergrund geschicht lich überlieferter Seuchendarstellungen zu rekonstruieren. Ich fasse die wesentlichen Ergebnisse der Analyse hier in sechs Thesen zusammen. Diese Thesen bilden quasi den Grundstock einer Theorie der Seuche. 1. Es bedarf einer Theorie des Seuchendiskurses. 2. Seuche ist als diskursives Ereignis zu begreifen. Der Diskurs speist sich aus einem Repertoire geschichtlich entstandener Seuchenrhetorik. 3. Als diskursives Ereignis stabilisiert die Seuche unterschiedliche gesellschaftliche Positionen und Verhältnisse. Innergesellschaftliche Barrieren werden verstärkt sichtbar. 4. Als Effekt des Schürens von Radikalisierungsängsten verfügen Seuchenmythen über gesellschaftlich regenerative Funktionen: Seuchendiskurse aktualisieren geltende Ordnungsvorstellungen und gemeinschaftliche Orientierungen im gesellschaftlichen System. 5. Seuche ist ein geschichtlich entstandener Brennpunkt gesellschaftlicher Macht 6. Seuchendiskurse lassen sich nicht leicht aus der Welt schaffen. 1 | Pulver, Marco: Tribut der Seuche oder: Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung. Eine Rekonstruktion des AIDS-Diskurses vor dem Hintergrund von Studien zur Historizität des Seuchendispositivs. Frankfurt a.M. 1999.

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Mit der ersten These, dass es einer Theorie des Seuchendiskurses überhaupt bedarf, möchte ich meine Perspektive erst einmal grundlegender von der herkömmlichen Sichtweise auf Seuchen abgrenzen und deren Defizite thematisieren. Die zweite These besagt, dass Seuche als diskursives Ereignis zu begreifen ist und sich der Diskurs aus einem Repertoire geschichtlich entstandener Seuchenrhetorik speist. Das bezieht sich auf einen der Kernpunkte meiner Untersuchungen, in der es um charakteristische Strukturen des Redens über Seuchen, m.a.W. um rhetorische Elemente und Formationen geht, die dem Geschehen überhaupt erst Evidenz verleihen. In diesem Kontext gehe ich später auf Elemente des AIDS-Diskurses und auf deren geschichtlich-literarische Wurzeln ein, auf Strategien der Mystifizierung und Dramatisierung von Krankheiten bzw. Seuchengefahren. Mit der dritten und vierten These ist der gesellschaftliche Stabilisierungseffekt von Seuchenmythen angesprochen. Im Kontext der fünften These möchte ich Aspekte der Seuche als historisch entstandene Kultur- und Machttechnik im Sinne Michel Foucaults diskutieren. Die sechste These – eher eine Prophezeiung –, nämlich dass Seuchen sich wohl nicht so leicht aus der Welt schaffen lassen, ergibt sich als Konsequenz aus den drei zuvor formulierten Thesen.

1. THESE : E S BEDARF EINER THEORIE DES S EUCHENDISKURSES In meiner ersten, sehr allgemein gehaltenen These, stelle ich zunächst einmal fest, dass es einer Theorie des Seuchendiskurses bedarf. Ich meine damit natürlich nicht, eine Theorie, die beschreibt wie Epidemien entstehen, sondern wie, bisher jedenfalls, über ein Geschehen gesprochen werden musste, damit es als Seuche problematisiert wird bzw. Evidenz erlangt. Es erscheint mir in diesem Kontext angebracht, meinen Ansatz von der herkömmlichen Sicht auf die Seuchenproblematik abzugrenzen. Denn selbst hier, auf der heutigen Tagung, mag es Teilnehmerinnen und Teilnehmer geben, denen es – bisher jedenfalls noch – ganz absurd erscheint, sich über das Reden über Seuchen den Kopf zu zerbrechen, während alle Welt sich darum bemüht, Seuchen zu vermeiden, rechtzeitig zu erkennen, zu bekämpfen usw., wie wir das zur Zeit vor allem in Bezug auf die so genannte Schweinegrippe beobachten. Solange man aber das Reden über Seuchen nur als Ausdruck der unterschiedlichen Reaktionen auf ein reales katastrophisches Geschehen auffasst, wird man kaum verstehen, worauf ich heute hinaus will. Von daher erscheint es mir zunächst einmal wichtig, wenigstens ansatzweise auf die herkömmliche Perspektive auf Seuchen einzugehen und in dem Kontext auf wesentliche Defizite dieser Sichtweise aufmerksam zu machen, die es letztlich selbst schon geboten erscheinen lassen, das Problem der Seuchen gewissermaßen neu aufzuwerfen.

Rhetorik der Seuche

Ein solches Defizit lässt sich schon in Bezug auf die Definition von Seuche feststellen. Denn eine klare Übereinkunft darüber, was eine Seuche eigentlich ist, was man genauer darunter zu verstehen hat, existiert nicht. Wenn man sich mit Texten über Seuchen im weitesten Sinne (literarische, medizinische, historische Seuchenliteratur) zu beschäftigen beginnt, fällt auf, dass der Begriff der Seuche zwar auf viele Krankheiten bzw. geschichtliche Ereignisse angewendet wird, dass er aber selten explizit thematisiert wird. Man findet etymologische Ableitungen, man findet Aufsätze über bestimmte Krankheiten, die als Seuche bezeichnet werden; aber die meisten Autoren von Aufsätzen oder Büchern, die von Seuchen handeln, tun so, als würde es sich von selbst verstehen, was eine Seuche ist. Und kaum jemand beschäftigt sich ausführlicher mit der Frage, welche Merkmale eine Krankheit haben muss, damit man von ihm bzw. von ihr als Seuche sprechen kann. Auch in den Standardwerken zur Seuchengeschichte, die ja vor allem aus dem 20. Jahrhundert stammen, wird diese Frage selten explizit angesprochen.2 Eine Ausnahme gibt es allerdings: Die Medizinhistoriker Jack Ruffié und Jean-Charles Sournia sprechen in ihrem Buch »Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit« ausdrücklich von einem Seuchen-Grundmuster, einer Kombination von Merkmalen, die auf eine Reihe von Krankheiten angewandt werden könnten und die man eben deshalb zu Recht als Seuchen bezeichnen würde.3 Mit der Rede vom Seuchen-Grundmuster kommt wiederum eine Vorstellung zum Ausdruck, die ansonsten eben eher implizit in allen Darstellungen über die Geschichte und Zukunft der Seuchen ent halten ist und damit wohl auch der herkömmlichen, alltäglichen Sichtweise zugrunde liegt. Es handelt sich um den Gedanken, dass das als Seuche bezeichnete Geschehen ein durch alle Zeiten hindurch wiedererkennbares Ereignis, gewissermaßen eine konstante Größe und quasi einen naturgesetzlich geregelten Vorgang darstellen würde; darüber hinaus, bezogen auf das Verhalten der davon betroffenen Menschen auch eine anthropologische Konstante. In diesem Sinne für charakteristisch hält man u.a. das plötzliche Auftreten der Seuchen, eine explosive Dynamik der Krankheitsausbreitung, eine hohe Sterberate und nicht zuletzt charakteristische Verhaltensweisen im Umgang mit der Katastrophe, vor allem panische Reaktionen.4 Ruffié und Sournia vergleichen die Seuchen der Geschichte darüber hinaus sogar mit atomaren Ka-

2 | Der erste Teil meines Buchs »Tribut der Seuche. Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung« beschäftigt sich ausführlich mit dem diffusen Alltagswissen über Epidemien und der medizingeschichtlichen Konzeption des Seuchenbegriffs. Vgl. Pulver 1999, S. 23-63. 3 | Ruffié, Jacques und Sournia, Jean-Charles: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit. Stuttgart 1989, S. 9f. 4 | Ruffié und Sournia 1989, S. 10-12.

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tastrophen, um die verheerende Wirkung von Epidemien zu verdeutlichen.5 Wie gesagt soll dieses Grundmuster angeblich Gültigkeit für eine Vielzahl von Krankheiten haben. Unter anderem werden neben der Pest die Syphilis, Cholera, Lepra, die Pocken und auch AIDS quasi in einem Atemzug genannt. Neuerdings wird von der WHO auch die sogenannte Schweinegrippe dazu gezählt. Was nun allerdings die historischen Texte betrifft, auf die viele Medizinhistoriker des 20 Jhs. gerne selbst als Quellentexte – Ruffié und Sournia gewissermaßen als Referenz – für ihre Auffassung von der Existenz eines SeuchenGrundmusters verweisen, so haben schon Literaturwissenschaftler wie zum Beispiel Jürgen Grimm6 bereits in den 1960er–Jahren auf eine ausgesprochen starke Schematisierung und eine literarische Abhängigkeit dieser Texte untereinander hingewiesen.7 Die Vermutung liegt aber nahe, dass es sich bei dem behaupteten idealtypischen Ablauf von Seuchen wohl eher um eine literarische Erfindung handelt, die schon in der griechischen Antike bei Thukydides ihren Ausgang nimmt.8 Die Seuchengeschichte, so würde ich hier pointiert formulieren, besteht in erster Linie aus einer Aneinanderreihung von Geschichten, die vor allem Nacherzähltes, offensichtliche Übertreibungen, Schematisierungen, zuweilen auch Erfindungen im Sinne von phantasievollen Ausschmückungen beinhalten.9 Wenn dem aber so ist, ließe sich die herkömmliche Sichtweise, wonach historische Seuchentexte die übergeschichtliche Existenz eines »Epidemie-Grundmusters« widerspiegeln, nicht oder nur sehr schwer verifizieren. Besonders die historischen Seuchendarstellungen, die aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert stammen, sind angefüllt von kuriosen Geschichten, wie zum Beispiel Nonnen, die mit Leichen Bockspringen spielen, Hunde, die als Pestbringer gesteinigt werden und sich dann als Dämonen in die Lüfte erheben, Vögel, die in Pestzeiten nicht mehr singen, Menschen, die versehentlich in Pestgräber stolpern oder für tot gehalten und begraben werden, und so fort.10 Oft handelt es sich um literarische Motive oder Episoden, die man auch außerhalb von Seuchendarstellungen findet. Ganz offensichtlich dienen viele dieser 5 | Ruffié und Sournia 1989, S. 15. 6 | Grimm, Jürgen: Die literarische Darstellung der Pest in der Antike und der Romania. München 1965. 7 | Ausführlicher in Pulver 1999, S. 27-29, 65-67. 8 | Thukydides gilt in der Historiographie der Seuchen als der Kronzeuge für jene Vorgänge, die lt. Rouffié und Sournia als Grundmuster Gültigkeit für jede Epidemie hätten. Der griechische Gelehrte hat in seinem Werk über die Geschichte des Peloponnesischen Krieges detailliert eine Krankheit beschrieben, die die Bevölkerung Athens 430 vor Chr. in Angst und Schrecken versetzte. Vgl. Pulver 1999, S. 37-39. 9 | Vgl. Pulver 1999, Teil I: Über den Begriff der Seuche und den fiktionalen Gehalt epidemiologischer Historiographie, S. 19-21 und 27-29. 10 | Vgl. Pulver 1999, S. 19-21.

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Seuchen-Geschichten, die nicht zuletzt Schilderungen einer chaotischen Welt, einer Naturverkehrung, einer auf den Kopf gestellten Ordnung enthalten, dazu, eine Wendezeit oder Endzeit zu bebildern, in Aussicht zu stellen bzw. herbeizureden. Hier wird deutlich, dass viele Seuchendarstellungen dazu beitragen, einen geschichtlich verbreiteten Typus von Erzählung fortzuschreiben, bei dem es darum geht zu illustrieren, wie eine Welt, die sich quasi geschichtlich verbraucht hat, durch Zerstörung wieder neu entsteht, mit allen Chancen, die das neue Leben enthält.11 Ich werde im Laufe meines Vortrags viele fiktionale Elemente der Seuchenhistorie ansprechen, die in herkömmlicher, medizinisch-epidemiologischer Perspektive eigentlich gar keinen Sinn machen; in denen all zu offensichtlicher Aberglaube und Übertreibung dann nur aufgefasst werden kann, als irrationales Nebenprodukt des Versuchs, Natur zu bezwingen oder wenigstens zu verstehen. Wenn wir aber, und damit komme ich zur 2. These, Seuche als Erzählung bzw. diskursives Ereignis auffassen, dann lässt sich zeigen, dass gerade Fiktionen (im Sinne von unbeweisbaren Behauptungen) und bestimmte rhetorische Strukturen entscheidend dazu beitragen, einen Mythos von Seuche zu generieren bzw. zu reproduzieren, der seinerseits wichtige gesellschaftlich-kulturelle Funktionen erfüllt.

2. THESE : S EUCHE IST ALS DISKURSIVES E REIGNIS ZU BEGREIFEN . D ER D ISKURS SPEIST SICH AUS EINEM R EPERTOIRE GESCHICHTLICH ENTSTANDENER S EUCHENRHE TORIK Lassen Sie mich zunächst einem Missverständnis vorbeugen: Ich rede im Folgenden über bestimmte rhetorische Formationen als Bedingungen der Möglichkeit, dass Krankheit als Seuche diskursiviert wird. Ich möchte nicht behaupten – auch wenn es mir verlockend erscheint und manches durchaus auch dafür spricht – dass alle Seuchendiskurse sich immer auf die gleiche Weise formiert haben und formieren werden. Damit würde ich quasi die Behauptung von Ruffié und Sournia, dass es ein Seuchengrundmuster gibt, von der bisherigen medizinhistorischen Ebene auf die diskursive Ebene übertragen. Das kann ich mir schon deshalb nicht erlauben, weil die Analyse, die ich durchgeführt habe, sich nur auf AIDS und auf historische Wurzeln des AIDS-Diskurses bezieht. Aber ich würde doch zumindest soweit gehen wollen, von einem historisch entstanden Repertoire an rhetorischen bzw. diskursiven Elementen

11 | Vgl. Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt a.M. 1984.

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und Strategien zu sprechen, aus dem historische, aktuelle und künftige Seuchenmythen bzw. Seuchendiskurse schöpfen konnten bzw. schöpfen können. Dieses Repertoire ist also ein wichtiger Bestandteil jener Theorie der Seuche, die ich entwickelt habe und Ihnen heute vorstelle. Und um diesen Bestand an rhetorischen Figuren und Strategien geht es im Folgenden vor allem. Einige Elemente des erwähnten Repertoires sind anscheinend dazu in der Lage, Seuchendiskurse zu initialisieren, andere sind eher dazu geeignet, die Seuchengefahr diskursiv auszuweiten, eine Dramatisierung der Seuchengefahr zu erwirken, was dann dazu führen kann, dass zunehmend über radikale Maßnahmen der Seuchenabwehr geredet wird. Im Hinblick auf die Frage etwa, wie sich ein Seuchendiskurs herausbilden kann, wären im wesentlichen fünf Elemente anzuführen, die gewissermaßen die Hauptbestandteile einer mystifizierenden Strategie bilden können, die ihrerseits das Design eines Übergangs von einer seuchenfreien Zeit in eine katastrophische Zeit reproduziert. Zu den einzelnen Elementen: Die Initialisierung von Seuchendiskursen gelingt zunächst einmal häufig durch die Mystifizierung der Seuchenkrankheit als Krankheitsnovum. Das heißt, wenn von Seuche die Rede ist, dann oft auch davon, dass es sich um eine unbekannte Krankheit handelt. Eine Seuche wird schon in den geschichtlich frühesten Darstellungen von Epidemien häufig als neue Krankheit präsentiert. Beispiele sind der Pestbericht des Thukydides aus der Zeit um 400 vor Christi, die Darstellungen über den schwarzen Tod im 14./15. Jahrhundert und über die Syphilis am Ende des 15.Jhs.12 Auch die Schweinegrippe, vor der zur Zeit so häufig gewarnt wird, haben Ärzte und Medien zumeist als neue Krankheit präsentiert. Und AIDS wurde bekanntlich ebenfalls als neue Krankheit eingeführt – auch wenn Anfang der 1980er–Jahre eigentlich nur einige mehr oder weniger seltene, aber durchaus bekannte Krankheiten unter dem Akronym AIDS (ursprünglich GRID: gay related immun deficiency) genannt, zu einem Syndrom zusammengefasst wurden. Aber dieses Syndrom konnte dann als neu gelten.13 AIDS wurde nun in der frühen Berichterstattung und auch von Medizinern nicht nur als neu, sondern darüber hinaus auch noch als plötzlich und überraschend auftretend thematisiert. Es scheint also, als erfülle diese Krankheit damit ein wichtiges Kriterium für die Charakterisierung als 12 | Nachweise zu den folgenden Beispielen und ausführlicher über die Krankheit als Novum siehe Pulver 1999, S. 72-74. 13 | Vgl. auch Gremek, Mirko: Aids und das Problem der neuen Krankheiten. In: Burkel, Ernst (Hg.), Der AIDS-Komplex. Dimen sionen einer Bedrohung. Frankfurt a.M. und Berlin (1988), S. 38-51. Gremek beschreibt in dem erwähnten Artikel verschiedene Situationen, in denen sich eine Krankheiten (zu Recht oder Unrecht) als neu darstellen kann. Er vergisst dabei zu erwähnen, dass man aus der Geschichte auch lernt, dass Krankheiten auch ›erfunden‹ werden, man denke an Onanie, Homosexualität usw.

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Seuche entsprechend dem vorhin erwähnten Grundmuster der Seuchen, wie es von Medizinhistorikern konstruiert wurde. Aus meiner Sicht stellt sich allerdings die Frage, wie man in den 1980er Jahren zu dem Eindruck gelangen konnte, dass ein neu entdecktes Krankheitssyndrom die Menschheit geradezu überfällt – vor allem wenn man sich vor Augen hält, dass es viele Jahre dauerte, bis die Zahl der Neuerkrankungen in einigen Ländern tatsächlich bedrohliche Dimension annahm. Plausibel wird dieser Vorgang nur, wenn man berücksichtigt, dass die Bevölkerung, jedenfalls in Westeuropa, mit dem Aufkommen einer tödlichen Krankheit, die sich epidemisch verbreiten würde, schon gar nicht mehr gerechnet hatte. Diese Haltung wurzelte nicht zuletzt in einer Selbstüberschätzung der Medizin der 1960er und 1970er Jahre. Man sprach damals schon vom vollständigen und prinzipiellen Sieg über die klassischen Seuchenkrankheiten.14 Und Sorgen machte man sich auch viel eher um eine Explosion der Bevölkerung als um deren Dezimierung. Ernsthafte Bedrohungen wurden also aus einer ganz anderen Richtung erwartet, worauf ich noch in anderem Zusammenhang weiter eingehe. So waren jedenfalls diskursiv Bedingungen geschaffen, die es im Grunde erst ermöglichten, von AIDS als einer überraschend und plötzlich auftretenden neuen Seuche reden zu können, was wiederum die Krankheit auf eine für Seuchen typische Weise mystifizierte: Man begann sich nämlich zu fragen, womit es zu tun haben könnte, dass diese Krankheit so plötzlich neu entstehen konnte. Und man begann sogleich, sich eine Vielzahl abstruser und geheimnisvoller Geschichten über die Herkunft der Seuche zu erzählen, die letztendlich selbst maßgeblich dazu beigetrugen, AIDS zu dem Mysterium zu machen, das die Menschen dann so fürchteten. Auf diese Weise bekam der Versuch, sich mit der unerwarteten und noch unbekannten Gefahr vertraut zu machen,15 einen paradoxen Effekt: Je mehr über AIDS gesprochen wurde, umso größer wurde der Bedarf, sich mit AIDS zu beschäftigen. 14 | Kurz bevor das erste Mal über AIDS berichtet wurde, war noch der Sieg über die »letzte große Seuche« ausgiebig gefeiert worden. Die Rede ist von dem Festakt der WHO 1979 anlässlich der offiziellen Bekanntgabe der Ausrottung der Pocken. Man hatte sogar steckbrieflich nach Erkrankten gefahndet und eine Belohnung von 1000 US-Dollar für die Meldung von Pockenfällen ausgesetzt. In diese Feststimmung platzte die Nachricht von AIDS. Vgl. z.B. »Siegreich bekämpft«, Der Spiegel Nr. 11/1979, S. 235 und 237. 15 | Das ist unter anderem auch dadurch geschehen, dass der Begriff AIDS umgehend mit vielen alltäglichen Begriffen eng verknüpft wurde. Ich habe allein in der Zeit von 1986-87 ca. 300 Komposita mit dem Bestimmungswort AIDS in der deutschsprachigen Presse gefunden (vgl. Pulver 1999, S. 337-339). Da war u.a. die Rede vom AIDS-Teppich, AIDS-Kind, AIDS-Pfarrer, AIDS-Schwein, AIDS-Kuchen, AIDS-Schule usw. Und wer weiß heute noch auf Anhieb zu sagen, was mit einem AIDS-Kuchen eigentlich gemeint

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Abbildung 1 zeigt eine Karikatur aus den 1980er–Jahren, die diese Entwicklung thematisiert. Die Bilderflut – eine Fülle von Zeichnungen, Fotos oder sprachlichen Bildern – ist übrigens ein wesentliches Merkmal des AIDS-Diskurses. Und mit deren Dokumentation und Erörterung wird der Erkenntnis Rechnung getragen, dass die Dynamik des Redens über eine Seuche nicht nur von Bildern begleitet, sondern zugleich maßgeblich gesteuert wird.

Abb. 1: Karikatur von Ingram Pim, in Magnus, AIDS-Special 1992. Die Präsentation des sogenannten Humanen Immundeffizenz-Virus (HIV) hat übrigens diese Mystifizierung der Krankheit in Bezug auf ihre Ursachen oder ihre Herkunft keinesfalls beendet. Im Gegenteil: Der Erreger der Seuche wurde von Beginn der Berichterstattung an entweder mit einer tickenden Zeitbombe verglichen, die früher oder später explodiert.16 Oder der Erreger wurde anthropomorphisiert und auch von Medizinern als ein dem Menschen gar noch überlegener Feind beschrieben: tückisch, raffiniert und vor allem »im Wechseln seiner Vermummung ein Meister« – so hieß es beispielsweise in

war? Aber auf diese Weise wurden die gewöhnlichsten Begriffe von ihrer alltäglichen Verwendung gelöst und in einen Kontext überführt, der eine bedrohliche Veränderung in eben diesem Alltag suggerierte. 16 | Zu den Annahmen über die pathogene Potenz des HI-Virus und über mystifizierende Darstellungen seiner Eigenschaften und Wirkungsweise in der medizinischen Fachpresse vgl. ausführlicher Pulver 1999, Seite 342-344.

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einer Fernsehreportage von 1993 über die epidemiologische Situation in New York.17 Nun werden allerdings nicht die Ursachen jeder Krankheit, von der es heißt, dass sie neu entdeckt worden sei, sogleich mystifiziert. Und nicht jeder Name einer Krankheit, die man für neu hält, verbreitet sich so schnell wie das zum Beispiel bei AIDS der Fall war. Damit dies passiert, müssen offenbar noch einige andere Bedingungen erfüllt sein. So ist es unter anderem sicher von Bedeutung, dass es häufig schon im Vorfeld des Redens über eine Seuche zu einer Häufung apokalyptischer Symbole kommt. Schon die frühesten historischen Seuchendarstellungen stellen Berichte über Kriege, Krisen, Hungersnöte oder kosmische Katastrophen den Berichten über die jeweilige Seuche voran. Und die jeweils anderen Katastrophen werden dann meist zugleich als Vorzeichen oder als Ursachen der Seuche gedeutet. Beliebt war in der Regel ein Dreiheitsschema, zum Beispiel Dürre – Hunger – Pest oder Krieg – Seuche – Hunger.18 Bis heute glauben wir anscheinend daran, dass ein Unglück selten allein kommt. Die Beobachtung, dass eine zumal als neu bezeichnete Krankheit offenbar eher unter Verdacht gerät, sich zu einer bevölkerungsdezimierenden Macht zu entwickeln, wenn sie in einen katastrophischen Ereigniskontext eingliedert werden kann, trifft auf AIDS jedenfalls zu: Im Vorfeld des AIDS-Diskurses war vermehrt die Rede von der Zerstörung der Welt, vom Untergang der Menschheit. Man sprach Anfang der 1980er Jahre zum Beispiel verstärkt über atomare Gefahren, ausdrücklich schon von der Gefahr der atomaren Verseuchung. Und in diesem Kontext wurden auch schon Metaphern benutzt – fast könnte man sagen geprobt – die dann auch in Bezug auf AIDS Verwendung fanden; beispielsweise war damals schon – wie später in Bezug auf HIV – die Rede vom unsichtbaren oder maskierten Feind. Außerdem hielten die Medien die Bürger Anfang der 1980er Jahre mit Berichten über drohende Terroranschläge in Atem und die Berichterstattung über die Katastrophe der zunehmenden Umweltzerstörung war bereits in vollem Gange.19 AIDS bezog seine Bedeutung, seine Aufmerksamkeit anfangs offenbar mehr aus dieser schon vorhandenen apokalyptischen Symbolik als aus medizinisch-epidemiologischen Beobachtungen. Mit anderen Worten: Die Behauptung, bei der vermeintlich neuen Krankheit handle es sich um eine Seuche, bezog ihre Legitimation zumindest zum Teil auch aus der schon vorhandenen und verbreiteten Überzeugung oder Stimmung, die Welt könnte demnächst untergehen. Und dieser katastrophische Ereigniskontext wurde übrigens in 17 | »AIDS – Kampf mit dem Todesvirus«. Regie: Max H. Rehbein und Wolfgang Wegner, Deutschland 1993, 90 Min., Farbe, produziert im Auftrag des NDR. 18 | Vgl. Pulver 1999, S. 76-78 und S. 277-279. 19 | Vgl. Pulver 1999, S. 280-282.

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der frühen Berichterstattung über AIDS – jedenfalls in Deutschland – auch ganz direkt thematisiert. Eine Karikatur von 1987 zeigt zum Beispiel einen Menschen, der von zwei Seiten bedroht wird, von radioaktiver Strahlung auf der einen und von der Seuchengefahr auf der anderen Seite (siehe Abb. 2). Zur selben Zeit wurde aber bisweilen auch schon suggeriert, AIDS sei von allen Bedrohungen die schlimmste (vgl. Abb. 3).

Abb. 2: Karikatur im Berliner Stadtmagazin Zitty, Ausgabe 9/87.

Die diskursive Einbettung einer Krankheit in einen katastrophischen Ereigniskontext ist ein wichtiger Bestandteil der Seuchenrhetorik. Ein hohes Krisenbzw. Gefährdungsbewusstsein ist somit offenbar eine wichtige Bedingung für die Möglichkeit des Auftretens von Seuchendiskursen. Zu den mystifizierenden Strategien der Diskursivierung von Krankheiten, die wir dann als Seuchen aperzipieren, gehört aber auch die Präsentation bestimmter Krankheitsbilder und eine spezifische Rhetorik des Seuchenträgers. Was das zuerst genannte Merkmal betrifft, so lässt sich feststellen, dass sich bestimmte Krank heitsbilder geschichtlich-literarisch herausgeschält haben, deren Präsentation die Diskursivierung einer Krankheit offenbar voranzutreiben vermag – nicht zuletzt, weil diese Bilder oft eine kulturelle Bedeutung transportieren, die sie besonders bedrohlich erscheinen lassen. Dazu gehört vor allem die Rede vom plötzlichen Tod, bei dem es zu einer Ausbildung von Krankheitszeichen womöglich gar nicht mehr kommt – früher sehr gefürchtet, weil der plötzliche Tod mit unbußfertigem Sterben assoziiert war. Aber auch die Metapher der Auszehrung, und damit verbunden Vorstellungen von einer

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allmählichen Auflösung oder Zerfaserung des Körpers, sind offenbar eher als andere Krankheitszeichen bzw. Krankheitsbilder dazu angetan, einen Diskurs über eine Krankheit zu mystifizieren und dazu beizutragen, das Reden über diese Krankheit in einen Seuchendiskurs zu transformieren. Auch Male, Flecken, Beulen, also auffällige, großflächige Veränderungen der Haut, die dann mit Aussatz bzw. Unreinheit assoziiert und als Zeichen für einen sündigen Lebenswandel oder Schuld aufgefasst werden können, sind ein häufiges Motiv historischer Seuchendarstellungen. Und natürlich gehören zum Konzept der klassischen Seuchen, abgesehen von den genannten Krankheitsbildern, seit jeher auch die Tödlichkeit und die Infektiosität der Krankheit.

Abb. 3: »Weltuntergangs-Olympiade.« Der Spiegel, Nr. 7/87. Mit anderen Worten, wenn eine zumal als neu beschriebene Krankheit mit einem oder mehreren der genannten Krankheitsbilder in Verbindung gebracht wird, ist das sicher eine die Möglichkeit der Initialisierung eines Seuchendiskurses optimierende Bedingung. Ich sage ausdrücklich »in Verbindung gebracht wird«, weil es geschichtlich oft so war und auch in Bezug auf AIDS festgestellt werden muss, dass ein Krankheitszeichen, über das im Kontext einer Krankheit am meisten geredet wird, nicht unbedingt das häufigste Merkmal der jeweiligen Krankheit sein muss. Im Gegenteil ist ja zum Beispiel auch in Bezug auf AIDS anfangs, abgesehen von der Abmagerung, vor allem von bläulichen Flecken und Läsionen am Körper als dem charakteristischen Krankheitszeichen gesprochen worden, was aber, wie wir heute wissen, sicher nicht das häufigste Zeichen von AIDS, geschweige denn der HIV-Infektion ist. Im Jahre 1986 wurde aber ein entsprechendes fotografisches Portrait eines Erkrankten gar zum Pressefoto des Jahres gekürt, nicht zuletzt offenbar weil

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auf diese Weise eindrucksvoller als durch jeden medizinischen Artikel, der bis dahin über das Syndrom verfasst worden war, definiert wurde, was AIDS ist, und weil dieses Portrait dem Schein nach objektiv dokumentierte, wie die neue Seuche aussieht (vgl. Abb. 4).

Abb. 4: »AIDS-Kranker« – »Pressephoto des Jahres 1986«, AP-Fotofax. Gezeigt wurde damit allerdings nur eines von vielen Symptomen, die man mit AIDS in Verbindung bringen konnte oder bis heute in Verbindung bringt. Schließlich gehört ja gerade zum Konzept von AIDS, dass die Infektion eine Vielzahl von so genannten opportunistischen Infektionen und damit auch eine Vielzahl von Symptomen nach sich ziehen kann. Die Mystifizierung von AIDS gelang aber eben nicht durch den Hinweis auf diese Vielzahl von möglichen Krankheitszeichen, sondern durch jene Krankheitsbilder, die in der Geschichte des Redens oder Schreibens über Seuchen eine große Rolle spielen. Und dazu gehören auch diese mit Aussatz und Unreinheit assoziierten Flecken am Körper, die anfangs als das charakteristische Symptom von AIDS gerade auch von Medizinern beschrieben wurde. So warnte man etwa im Jahre 1982 auf dem Titelblatt einer Ausgabe einer deutschen Ärztezeitung, dem Praxis Kurier, vor

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dem Kaposi–Sarkom, dem »Malignom als Epidemie«20 Diese Läsionen, dieses Symptom eines seltenen Gefäß–Tumors, das anfangs als das zentrale Merkmal einer beginnenden Epidemie kommuniziert wurde, ist nun allerdings eine der heute selten beobachteten AIDS-definierenden Krankheiten. Häufiger ist unter anderem eine bestimmte Form der Lungenentzündung. Aussatz andererseits, ist auch nur eine der in historischen Seuchendarstellungen verbürgten Metaphern, die im AIDS-Diskurs Verwendung fand. Auch Redeweisen und Illustrationen, die einen plötzlichen Tod oder – oder wie zum Beispiel in einem Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel von 1984, Pestbeulen mit AIDS assoziierten, kann man häufig in den frühen Darstellungen über AIDS finden (Abb. 5).21

Abb. 5: Illustrationskombination im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, Nr. 29/1984. Die diskursive Verbreitung der erwähnten Krankheitsbilder und die Assoziation mit der Pest haben jedenfalls die HIV-Infektion auf besondere Weise mystifiziert und damit zur Initialisierung eines Seuchendiskurses, zur Entstehung eines Seuchenmythos AIDS, beigetragen. Ob nun ein bestimmtes Krankheitssymptom, zumal bei einer als neu bezeichneten Krankheit, den Verdacht bestärkt, dass sich die betreffende Krankheit zu einer Seuche ausweitet, hängt aber offenbar auch davon ab, wie die Person oder Personengruppe beschrieben wird, bei der man diese Symptome zuerst beobachtet bzw. diagnostiziert hat. Und eins steht dabei fest: Jemand, der in dieser Zeit des Übergangs von einer seuchenfreien Zeit in eine Zeit der Seuche verdächtigt wird, eine neue Krankheit zu haben, von der man glau20 | Praxis Kurier Nr. 52/82. 21 | Hierzu ausführlich Pulver 1999, S. 290-292.

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ben soll, dass sie sich seuchenartig ausbreitet, ist regelmäßig kein etabliertes Mitglied der Gemeinschaft, die über diese Krankheit spricht – auch wenn es zunächst manchmal so aussehen mag. In historischen Seuchendarstellungen wird die Seuche regelmäßig von Feinden, von Fremden »eingeschleppt«. Dieser Begriff des Einschleppens, den wir heute noch verwenden, sagt bereits, dass die ersten so genannten Träger der Seuche von außerhalb kommen, sie leben auf Wanderschaft, sie kommen aus einem anderen Land, sie sind jedenfalls »anders« als die, die über die Seuche zu sprechen beginnen. Und dieses Anderssein wurde geschichtlich auch häufig noch genauer differenziert und an mythischen Figuren vorgeführt, die uns bis heute nicht nur das Gruseln lehren, sondern wohl auch epidemiologisches Wissen mythisch kodifiziert tradieren. Ich denke vor allem an die Figur der mit Warzen übersäten, gebeugt laufenden, alten Hexe oder auch an die des von Blutarmut geprägten Vampirs. Beide Figuren wurden früher mit der Verbreitung von Krankheit und Tod in Verbindung gebracht.22 In einem Schweizer Märchen- und Sagenbuch habe ich die Illustration zu einer Sage über die Pest gefunden, bei der diejenigen abgebildet wurden, die die Seuche angeblich ins Land brachten. Sie werden im Buch als »Pestleutchen« bezeichnet. In der erwähnten Illustration wurden sie mit den typischen Merkmalen der Hexenfigur versehen. Wenn es nach den alten Legenden und Geschichten geht, dann haben solche Wesen allerdings, neben vielen anderen charakteristischen Eigenschaften vor allem die Fähigkeit, sich effektiv zu tarnen, um ihre wahre Natur zu verbergen.23 Dass das eine sehr boshafte Natur ist, brauche ich ihnen nicht zu sagen; und auch nicht, dass solche Wesen auf nichts anderes aus sind, als Krankheit und Tod unter die unbescholtenen Menschen zu bringen. Auf diese Weise geraten aber auch Menschen, die an Seuchen erkranken, in Verdacht, die Krankheit willentlich weiterzugeben. Mit der Rede vom Seuchenträger wird die Ausweitung der Seuchengefahr hinreichend begründet und dramatisiert, weil man vermuten muss, dass schon sehr viele Träger der Krankheit unter uns weilen, ohne dass wir das bemerken – eben weil sie sich nicht als solche zu erkennen geben und weil man sie erst ihrer Maske berauben muss. Nun glauben wir natürlich heute nicht mehr an Hexen und Vampire, aber wir glauben zum Beispiel an die Existenz von »Homosexuellen«. Und deren vermeintlich wahre, quasi nicht-menschliche Natur wurde wiederum zu Beginn des AIDS-Diskurses in den bundesdeutschen Medien deutlich vor Augen geführt. In seinen ersten Berichten über die neue epidemische Gefahr zeigte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, wie man sich die Seuchenträger vorzustellen hatte: halb nackt, gezäumt mit Lederriemen wie die Tiere, mit Ketten 22 | Vgl. Pulver 1999, S. 92-94. Hexen und Vampire gibt es in anderen kulturellen Diskurszusammenhängen allerdings auch als positiv gewertete Helferfiguren. 23 | Vgl. Pulver 1999, S. 92-94 (Die Seuchengefahr durch den maskierten Feind).

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behangen, eingepfercht in einem vergitterten Raum – Menschen, wie sie uns jeden Tag auf der Straße begegnen, sehen anders aus. Und um die wahre Natur der designierten Träger der Seuche zum Vorschein bringen zu können, musste man die Fotos zudem offenbar heimlich, an ihren dunklen und geheimen Treffpunkten schießen. Das jedenfalls suggerierten manche Fotos, die die ersten Berichten über AIDS illustrierten (Abb. 6 & 7)

Abb. 6: »AIDS-Ansteckungsquelle: Homosexueller«, Der Spiegel, Nr. 3/87. Schwule Männer wurden aber bekanntlich schon vor dem Beginn des Redens über eine neue Seuche als eigenartige und gefährliche Spezies mystifiziert. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass mit der Schaffung einer Rhetorik der Homosexualität seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Bedingungen für die Möglichkeit der Initialisierung eines Seuchendiskurses optimiert wurden, insofern diese Rhetorik der Homosexualität insbesondere Aspekte von Krankheit, Kriminalität, Monstrosität und Brutalität, ja sogar kulturellen Verfalls enthält und vor allem eben auch das Motiv der Tarnung, das Verstecken der wahren Natur, mit beinhaltet. Damit wurde angeschlossen an historische Legenden, die sich um die Figur des Seuchenträgers ranken, die nun wiederum für die Diskursivierung epidemischer Krankheit eine gewichtige Rolle spielt. Ich habe soeben fünf Elemente bzw. Strategien der Mystifizierung von Krankheiten genannt, die historisch-literarische Wurzeln haben und die dazu geeignet sind oder dazu einen Beitrag leisten können, Seuchendiskurse zu initialisieren, den Übergang von einer seuchenfreien Zeit in eine Zeit der Seuche

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rhetorisch zu gestalten – und zwar gerade dann, wenn das Gefährdungspotential einer Krankheit nicht (oder noch nicht) auf der Hand liegt.

Abb. 7: »West-Berliner Homo-Szene«, Der Spiegel, Nr. 23/83.

Die weitere, zunehmende Dramatisierung des Geschehens, eine diskursive Ausweitung der Seuchengefahr resultiert nicht zuletzt aus der frühen Determination der Themen, über die man anfangs spricht und die ich Ihnen soeben vorgestellt habe. Der Diskurs beginnt dann um einige zentrale Fragen und Figuren zu kreisen und ufert dabei aus. Die zunehmende Dramatisierung gelingt aber auch durch eine Reihe weiterer Elemente der Seuchenrhetorik, die ich ihnen hier zunächst einmal aufzählen möchte. Zu den Elementen der Dramatisierung von Seuchenkrankheiten zähle ich (1.) die Idee von der Dominanz der Seuche, (2.) eine Infektionsrhetorik, die die Effizienz der Krankheitsausbreitung diskursiv steigert, (3.) die Vervielfältigung von Erkrankungsdispositionen, (4.) Schematisierungen des Krankheitsverlaufs und (5.) ein Unheilbarkeitsdogma. Zu den hier genannten Strategien im Einzelnen: Die erste Strategie betrifft erneut das Reden über die Symptomatik der als Seuche thematisierten Krankheit. Am Beginn eines Seuchendiskurses wird in aller Regel wenigstens eines der Krankheitszeichen bzw. der Krankheitsbilder präsentiert, die besonders gefürchtet sind, weil sie häufig zugleich noch eine zusätzliche, geschichtlich entstandene kulturelle Symbolik wie Unreinheit, Unbußfertigkeit o. ä. trans-

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portieren.24 Das hilft offenbar dabei, eine Krankheit, von der man nicht viel weiß, als Seuche zu verdächtigen bzw. ins Gespräch zu bringen. In Bezug auf AIDS zum Beispiel habe ich vorhin die mit Aussatz und Unreinheit assoziierbaren blau-schwarzen Flecken oder Läsionen erwähnt. Aber schon geschichtlich kam es dazu, dass im Verlauf des Redens über eine Seuche sukzessive immer mehr und ganz unterschiedliche Krankheitssymptome der jeweiligen Krankheit zugerechnet wurden, über die man dann als Seuche sprach. Auf diese Weise wächst die Aufmerksamkeit in der betroffenen Bevölkerung eben dieser Krankheit gegenüber – einer Krankheit, die ihr Gesicht allmählich zu verändern scheint, die womöglich auch viele Gesichter haben kann und bei der man nicht mehr weiß, wenn man irgendeine Veränderung an sich bemerkt, ob es sich nicht womöglich, um die ersten Anzeichen der Seuche handelt, über die zunehmend gesprochen wird. Genau diese Möglichkeit ist im Ansatz schon bei Thukydides beschrieben. In der oben bereits erwähnten Seuchendarstellung seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges heißt es, dass alle, die in der Stadt erkrankt waren, eben an der Seuche erkrankt waren, und wenn jemand doch an einer gewöhnlichen Krankheit zu erkranken schien, diese Krankheit dann in die Seuche umschlug.25 Thukydides hat hier quasi das Motiv oder eine Theorie von der Dominanz der Seuche entwickelt, die sich dann in vielen späteren Seuchendarstellungen so oder in Variation wiederfindet. Entweder können Krankheiten in eine Seuche umschlagen oder die Seuche drückt sich in verschiedenen Krankheiten aus. Man redet außerdem von Mitläufern der Seuche. Entsprechende Beschreibungen finden sich bis hinein ins 19. Jahrhundert. So spricht man auch im 16., 17. Jahrhundert etwa in Bezug auf die Pest, von dem »pestilenzialischen Gift«, als einem Gift, das alle Arten von Krankheiten erwecken kann, je nachdem wozu ein Mensch neigt.26 Und später, im 19. Jahrhundert, ist es zum Beispiel auch die Idee von der Seuche als der evolutionär höchstentwickelten Form von Krankheit, die – und das wäre ein Ausdruck ihrer evolutio24 | Der Diskurs der Schweinegrippe musste bisher offenbar ohne ein ›seuchentypisches‹ Krankheitsbild auskommen. Anfangs wurde die Information verbreitet, es gäbe plötzlich viele unerklärliche Todesfälle aufgrund einer vermeintlich neuen Krankheit. Die beobachteten Symptome eignen sich nicht für eine Mystifizierung oder Dramatisierung. Und eine Diskursivierung der Schweinegrippe gelang nur unter der Bedingung, dass von den Symptomen gerade nicht die Rede war, so dass sich wenigstens unausgesprochene Phantasien über einen plötzlichen Tod, Auszehrung oder dergleichen entwickeln konnten. 25 | Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, aus dem Griechischen übersetzt von Dr. Johann David Heilmann. Erster Band. Leipzig 1883. 26 | Eggerdes, Alardus M.: Der grausamen Pestseuche gründliche und wahrhafftige Abbildung. Breslau und Liegnitz 1720, S. 40.

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nären Entwicklung – eine Mannigfaltigkeit an Symptomen hervorrufen kann. Gelingt es, diese Rhetorik der Dominanz der Seuche in Bezug auf eine bestimmte Krankheit anzuwenden, wird zwangsläufig jede Diagnostik unscharf. Viele Erkrankungen lassen sich dann mit der Seuche in Verbindung bringen und können nun theoretisch die Zahl der Seuchenopfer in die Höhe treiben. Abgesehen von der Frage übrigens, welche unterschiedlichen Krankheiten sich hinter einer Seuchenstatistik verbergen, ist auch die Form der Darstellung der Fallzahlentwicklung zumindest in heutiger Zeit eine Strategie, die Seuchengefahr diskursiv auszuweiten. Ich nenne nur die in diesem Kontext auffälligste Methode, nämlich die Angabe von kumulierten Erkrankungsfällen: Statt wie sonst in der Epidemiologie üblich, nur die Zahl der Neuerkrankungen pro Monat, Halbjahr oder Jahr anzugeben, werden bei ›neuen‹ Krankheiten, von denen man glaubt, sie könnten sich zu einer Epidemie ausweiten, die Neuerkrankungen des jeweils aktuellen Zeitraums immer wieder zu allen vorher bereits registrierten Erkrankungsfällen hinzugezählt. Solche Kurven steigen definitionsgemäß ständig an, sie können gar nicht abfallen. Ich habe an anderem Ort ausführlicher gezeigt, auf welche Weise die Rhetorik der Dominanz der Seuche auch im AIDS-Diskurs zur Wirkung kam.27 Im Rahmen dieses Vortrags muss der Hinweis genügen, dass das Konzept von AIDS als Immunschwäche natürlich in idealer Weise dazu geeignet ist, diese geschichtlich entstandene Rhetorik vom allmächtigen Seuchengift in ein neues und modernes Gewand zu kleiden. Eine Immunschwäche kann sich sehr vielfältig äußern. Und so ist es inzwischen fast unmöglich, alle Krankheiten und Krankheitssymptome aufzuzählen, die bisher bereits mit HIV oder AIDS in Verbindung gebracht wurden. Für die Ausweitung des AIDS-Diskurses von Bedeutung war vor allem, dass sich der Fokus der Berichterstattung allmählich von der ursprünglich präsentierten angeblich sehr klaren und gefürchteten Leitsymptomatik von AIDS (Sarkom bzw. blau-schwarze Flecken auf der Haut, schnelles Sterben u. ä.) zunehmend zu den unspezifischen ersten Anzeichen der Erkrankung verschob: Fieber oder Durchfall, ein unspezifischer Hautauschlag, Halsschmerzen oder anderes mehr.28 Man redete jetzt im Kontext von AIDS über Symptome, die wirklich jeder jederzeit an sich entdecken konnte. Und dabei war es schon bald im Verlauf des Redens über AIDS keine Frage mehr, dass es für jeden auch genügend Gelegenheiten geben würde, sich die Seuche einzufangen. Denn es entwickelten sich zahlreiche Ideen, Phantasien, Vorstellungen darüber, wie jedermann unversehens mit der Seuche in Kontakt 27 | Vgl. Pulver 1999, S. 360-362. 28 | Einen Überblick über mögliche Symptome einer akuten HIV-Infektion gaben Ende der 1980er Jahre z.B. Goebel, Frank-Detlef und Bogner, Johannes R.: Symptome einer HIV-Infektion. In: Braun-Falco, Otto: AIDS. Leitlinien für die Praxis. Der Umgang mit vermutlich oder tatsächlich Infizierten. München 1987, S. 26-29, hier S. 27.

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geraten und erkranken könnte, wodurch sich die Seuche auch unaufhaltsam ausbreiten würde. Die Rede war unter anderem von infizierten Geldscheinen, Türklinken, Kleidungsstücken, Nahrungsmitteln usw. Mit anderen Worten: die Effizienz der Krankheitsverbreitung wurde diskursiv gesteigert, indem multiple Infektionsmomente in den Diskurs eingepflanzt wurden. (Abb. 8)

Abb. 8: Artikelüberschriften aus der deutschen Boulevardpresse von 1986/87 (Bild-Zeitung vom 10.10.1986, Berliner Zeitung (B.Z.) vom 27.1.1987). Ähnliches gilt bereits für das Reden über die Pest in früheren Zeiten – wo man viele abstruse Geschichten erfunden hat, die davon erzählen, auf welchen kuriosen Wegen die Seuche zum Menschen findet.29 Überliefert ist zum Beispiel eine Episode, in der eine Feder von einem verpesteten Vogel, die durch den Kamin fällt, die Pest ins Haus bringt. Es finden sich auch Legenden von der Möglichkeit einer in Kisten und Truhen über viele Jahre eingeschlossenen Pest, die dann bei Öffnung wieder zum Leben erweckt wird; oder einer Pest, die man sich holt, weil man ein altes Archiv durchstöbert und mit verpesteten Papieren in Kontakt kommt, wie eine Legende von 1638 erzählt. Bis heute hat sich auf diese Weise der Ausdruck erhalten, dass nichts so ansteckend sei wie die Pest. Auf das Infektionsdispositiv, das in diesem Kontext historisch entstanden ist und in viele gesellschaftliche Bereiche hingewirkt hat, komme ich nachher noch zu sprechen. Das geschichtlich früheste Schema der Verbreitung der Seuche hängt freilich mit der den Seuchenträgern unterstellten Bosheit zusammen. Die Seuche wird also von Bösewichtern wie ein Gift verbreitet – für eine Ansteckung, bzw. 29 | Für alle folgenden und weiteren Beispiele siehe Pulver 1999, S. 115-117.

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einen Kontakt mit dem Seuchengift wird quasi gesorgt. Dieses Motiv der absichtlichen Verbreitung und Ansteckung – nicht zuletzt auch mit Hilfe von Magie – ist wie gesagt in den frühesten Seuchendarstellungen verbürgt und zieht sich wie ein roter Faden bis in die heutige Zeit, wo jedes Gerücht über die absichtliche Ansteckung (zum Beispiel mit HIV) von den Medien sofort aufgegriffen wird. Seit den frühesten Pestdarstellungen wird die Effizienz der Infektion bzw. Verbreitung bei epidemischen Erkrankungen aber vor allem auch mit Hilfe von Metaphern kommuniziert, die die Schnelligkeit der Ausbreitung, quasi als Naturgesetz, veranschaulichen sollen: Die Rede ist dann beispielsweise von einem Funken, der wie bei einem Brand von einem Haus zum Nächsten springt oder der zu einem Steppenbrand führt. Die Metapher des Überspringes, die in diesem Kontext schon lange Verwendung findet, wurde auch in Bezug auf AIDS verwandt, wenn man behauptete, die Seuche würde von den Risikogruppen in die Allgemeinbevölkerung ›überspringen‹. Die Rede ist aber zum Beispiel auch von einem »schnellen Reiter«, der, wie Beckmann in einem 1987 erschienen Buch über die Pest schreibt, mit einem Tempo von 70 km/ Tag »vorgeprescht« sei.30 Auch in Bezug auf AIDS wurde zuweilen suggeriert, die Seuche hätte die Kraft von wilden Pferden, wenn man beispielsweise im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, in einer Ausgabe des Jahres 1985 formulierte: AIDS sei nun endgültig aus dem Gatter ausgebrochen. Andere suggerieren in ihren Beschreibungen zur Ausbreitung von Seuchen auch, dass eine intelligente Macht am Werk sei. Die Rede ist dann zum Beispiel von der Seuche als einem überlegenen Spieler, der manchmal in einem Gebiet eine bestimmte Region auslässt und aus taktischen Gründen erst später zuschlägt.31 In diesem Kontext der Ausbreitungs- und Infektionsrhetorik kommt es auch zu einer diskursiven Vervielfältigung von Erkrankungsdispositionen, wodurch sich auch die Seuche bzw. die Bedrohung diskursiv ausweitet. Mit anderen Worten, das Infektionsrisiko wird von Ärzten und Medien allmählich auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, Lebensräume, Lebensstile, Lebensphasen bezogen, so dass jeder am Ende seine spezielle Affinität zur Seuche erkennt, sich in irgendeiner Form oder aus einem bestimmten Grund für besonders anfällig halten muss (Abb. 9) In der deutschen Berichterstattung über AIDS warnte man seit Mitte der 1980er–Jahre beispielsweise Eltern vor der AIDS-Gefahr, der sich ihre Kinder im Sandkasten aussetzen würden (weil dort infizierte Spritzen liegen könnten), Autofahrer wurden gewarnt vor dem AIDS-Risiko bei der Ersten Hilfe, 30 | Vgl. Beckmann, Gudrun: Europa und die Große Pest 1348-1720. In: Dies.u.a.: Eine Zeit großer Traurigkeit. Die Pest und ihre Auswirkungen. Marburg 1987, S. 11-71, S. 19, ohne Angabe von Quelle oder Art der Berechnung. 31 | Vgl. Pulver 1999, S. 130f.

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Schüler vor der AIDS-Infektion beim ›ersten Mal‹, Reisende vor dem AIDSRisiko beim Urlaubsflirt usw. Es kam zu einer allmählichen Auffächerung des Infektionsrisikos nach Geschlecht, Alter, Charakter, gesellschaftlichem Status und Berufsgruppen. Diese diskursive Vervielfältigung von Erkrankungsdispositionen und Infektionswegen hat eine Zeitlang bei vielen Menschen offenbar den Eindruck erwecken können, dass eine Infektion im Grunde gar nicht vermeidbar wäre. Diese Erfahrung steht bis heute in krassem Gegensatz zu einer staatlichen Gesundheitsaufklärung, die Infektionsrisiken als vermeidbar thematisiert, etwa wenn es in dem zentralen Slogan zur AIDS-Prävention nach wie vor heißt, dass man AIDS keine Chance geben soll; oder auch wenn etwa in Berlin auf großen Aufklärungsplakaten viele Jahre lang zu lesen war, dass AIDS »ein vermeidbares Risiko« sei. Solche Mottos stehen im Widerspruch zu der Botschaft, die die gesamte Seuchenliteratur der Geschichte verkündet, nämlich dass man nicht vermeiden kann, mit einer Seuche in Kontakt zu kommen, selbst wenn man sich noch so gut schützt. Darüber hinaus haben Aufklärungskampagnen, die das Infektionsrisiko bei HIV/AIDS thematisierten, auch durch missverständliche oder doppeldeutige Botschaften zur Ausweitung von Infektionsängsten beigetragen – zum Beispiel wenn wie in Abb. 10 suggeriert wird, eine Infektion könnte über einen Austausch aller Körperflüssigkeiten erfolgen, und zwar mit je gleich hoher Wahrscheinlichkeit.

Abb. 9: Titelseite der BILD vom 9.2.1987 (Ausriss).

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Abb. 10: »Wie erfolgt die Ansteckung? Wege der Übertragung«, Gesundheit in Betrieb und Familie (Bundespost-BKK), 2/87, S .17.

Auch eine Aufklärung über die (geringe) Infektionswahrscheinlichkeit bei Kontakten mit HIV-Positiven steht in Widerspruch zu allen geschichtlich überlieferten Legenden im Umgang mit Seuchenträgern. Und solange HIV bzw. AIDS weiter als Seuche thematisiert wird, wird es bei diesem Widerspruch bleiben. Nur die wenigsten Menschen, die von sich glauben, dass sie nicht mit HIV infiziert sind, werden sich überwinden, aus einem Glas oder einer Tasse mit jemanden zu trinken, von dem bekannt ist, dass er oder sie HIV-positiv getestet ist. Daran kann eine entsprechende Aufklärung, die freilich immer wieder versucht wird, auch nicht viel ändern. Entsprechende Anzeigen und Plakate haben wohl – aus den oben genannten Gründen – eher den Effekt, betreffende Risiken zu erinnern als diesbezügliche Ängste auszuräumen. Auch in der Geschichte der Seuchendarstellungen kommt es zu einer Entwicklung der zunehmenden Auffächerung der Erkrankungsrisiken und der Infektionswege32 Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass sich die geschichtlich und 32 | Bei Thukydides beispielsweise betrifft die Krankheit von Anfang an alle gleichermaßen. Sie wird allerdings zunächst durch einen Feind in die Stadt gebracht. In ge-

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in jedem Seuchendiskurs immer wieder neu herausbildenden Vorstellungen über die Modalitäten einer effizienten Seuchenausbreitung gegenseitig verstärken und begründen. Die Seuche erscheint mit Hilfe der erwähnten Rhetorik als ein Perpetuum mobile: Sie verfügt über das höchste Verbreitungstempo, die längste Verweildauer an einem Ort, die größte Vernichtungsleistung und eine andauernde Bewegungsfähigkeit in alle Richtungen, so dass es regelmäßig als ein Wunder erscheint, wenn am Ende einer Seuche ein Großteil der Bevölkerung doch noch verschont bleibt. Bei der Diskursivierung von epidemischen Erkrankungen spielt auch die Schematisierung von Krankheitsverläufen eine wichtige Rolle. Die Schematisierung bezieht sich vor allem auf die unbedingte Progredienz der jeweiligen Krankheit, eine Progredienz zum Tode. In Bezug auf AIDS gelang dies schon dadurch, dass man den Erreger HIV in der Weise mystifizierte, wie ich das beschrieben habe: Das Virus war von Anfang an als ein Mechanismus konzipiert, der das Immunsystem eher früher als später, aber jedenfalls notwendigerweise ausschalten würde. Dieses Konzept basierte allerdings auf Vermutungen, ausgehend von der Beobachtung einiger dramatischer Krankheitsverläufe in den 1980er Jahren, von denen man damals aber nicht wissen konnte, ob sie die Regel oder aber die Ausnahme bei HIV–Infektionen sind. Solche notwendigen oder gar schnellen Progredienzen nach einer Infektion hin zum Tod ließen sich lange Zeit auch gar nicht experimentell bestätigen – denn Schimpansen, denen HIV in großer Menge injiziert wurde, hatten noch nach zehn Jahren keinerlei Immunschwäche entwickelt. Aber man sprach trotzdem von HIV als »tickender Zeitbombe«, oder einer »Bombe mit langsam brennender Lunte«.33 Und damit war die Rhetorik von der unbedingten Tödlichkeit der Seuche auf HIV anwendbar – eine Rhetorik, deren Ursprünge sich in den frühesten Seuchendarstellungen finden: Etwa wenn Thukydides sehr anschaulich ausführt, wie die Krankheit, über die er schreibt und die lange für die Pest gehalten wurde, schnell und systematisch den gesamten Organismus erfasst, in dem sie sich vom Zentrum des Körpers zur Peripherie hin ausbreiten würde, bis man dann – innerhalb weniger Tage – stürbe. Diese Rhetorik hat offenbar auch Einfluss auf Schemata des Krankheitsverlaufs bei anderen Krankheiten gewonnen, die dann als Seuche beschrieben wurden, wie zum Beispiel Tuberschichtlich späteren Darstellungen wird aber zunehmend differenziert, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen, vor allem räumlich (die Krankheit breitet sich vom Rand der Stadt zum Zentrum hin aus) und schichtspezifisch (erst erkrankten die Armen, dann die Reichen), so dass sich die Vorstellung von einer zunehmenden Ausbreitung der Seuche besser entwickeln kann. Hierzu ausführlicher Pulver 1999, S. 162-164. 33 | So z.B. L’age-Stehr, Johanna und Koch, Michael G.: Verbreitung von AIDS in der Bundesrepublik. In: Korporal, Johannes und Malouschek, Hubert: Leben mit AIDS – Mit AIDS leben. Hamburg 1987, S. 52-67, hier S. 60.

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kulose oder Syphilis, die auch, wie AIDS, in einem Progredienz-Modell, einem drei-Phasen-Modell (hin zum Tod) konzipiert sind.34 Der Krankheitsverlauf bei Seuchen wird mit einem Automatismus assoziiert und der tödliche Ausgang der Krankheit erscheint somit als naturgesetzlich vorbestimmt.35 Und genau das macht letztlich die Angst, an so einer Krankheit zu erkranken, maßgeblich aus. Das Beste, was ein Kranker gemäß diesem Modell nach seiner Infektion noch erwarten kann, ist ein Aufschub seines bereits programmierten Todes, zum Beispiel durch Therapien. In der Realität bildet freilich die Übereinstimmung des faktischen Infektionsverlaufs beim einzelnen Menschen mit dem medizinischen Modell des Verlaufs die Ausnahme.36 Aber nicht nur das Schema, von dem ich eben sprach, trägt zum Dogma der unbedingten Tödlichkeit der Seuchenkrankheiten bei, sondern auch ein Unheilbarkeitsglaube. Dass, wie beispielsweise in Bezug auf AIDS, trotz inzwischen sehr effektiver Therapien, die das Virus unter die Nachweisgrenze drängen, strikt vermieden wird, von einer Heilungschance zu sprechen, ist nicht zuletzt ein Effekt diskursiver Mechanismen: In Bezug auf die HIV-Infektion gehört dazu vor allem, dass schon in den ersten Jahren des Redens über AIDS wiederholt Heilungschancen erst in Aussicht gestellt, dann aber schnell wieder ausgeräumt wurden – und das immer wieder, über Jahre hinweg – bis niemand mehr an die Existenz effektiver Therapien glauben wollte oder konnte. Damit wurde wiederum eine Rhetorik der Unheilbarkeit reproduziert, die sich schon in den geschichtlich frühesten Seuchendarstellungen findet und die man zusammenfassen könnte in der Formel, dass gegen eine wahre Seuche kein Kraut gewachsen ist und Ausnahmen nur die Regel bestätigen.37

34 | Siehe Pulver 1999, S. 295-297 (in Bezug auf HIV) und S. 138-140 (in Bezug auf historische Seuchenkrankheiten). 35 | Vgl. hierzu Sontag, Susan: Krankheit als Metapher. München und Wien 1980. 36 | Bei Syphilis und Tuberkulose heilt die Krankheit in der weit überwiegenden Zahl der Fälle bereits im »ersten Stadium«, sofern die Infektion überhaupt symptomatisch verläuft. In Bezug auf AIDS wiederum sind die Symptome oder Merkmale, die einzelnen Stadien zugeordnet werden, äußerst unspezifisch und bieten kaum charakteristische Anhaltspunkte für einen klinischen Vergleich der Fälle. Ausführlicher hierzu Pulver 1999, S. 138-140. 37 | Vgl. Pulver 1999, S. 383-385.

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3. THESE : A LS DISKURSIVES E REIGNIS STABILISIERT DIE S EUCHE UNTERSCHIEDLICHE GESELLSCHAF TLICHE P OSITIONEN UND V ERHÄLTNISSE . I NNERGESELLSCHAF TLICHE B ARRIEREN WERDEN VERSTÄRK T SICHTBAR Die hier von mir skizzierte Perspektive gibt, anders als die herkömmliche Sichtweise, den Blick frei auf produktive Funktionen der Seuche als diskursives oder rhetorisch induziertes Ereignis. Vor allem wird ein vielfältiger gesellschaftlicher Stabilisierungseffekt deutlich. Dieser gesellschaftliche Stabilisierungseffekt von Seuchendiskursen hängt zunächst vor allem damit zusammen, dass die Initialisierung eines solchen Diskurses regelmäßig die Frage nach der Herkunft der Seuche provoziert. Es kommt zu einer Suche nach Motiven für das zumindest in Aussicht gestellte Leid. Verschiedene gesellschaftliche Deutungssysteme werden geradezu aufgefordert, solche Motive anzubieten. Schließlich scheint von der Lösung des Rätsels auch die Rettung der Welt abzuhängen. So präsentierten zum Beispiel religiöse Gemeinschaften wie evangelikale Christen oder die Zeugen Jehovas AIDS als Strafe Gottes für eine Abkehr vom Glauben. Eine Rückkehr zu bzw. ein Festhalten an den Glaubensgeboten erschien aus dieser Perspektive als einzige Möglichkeit, die Katastrophe zu vermeiden. Für die Mitglieder bestimmter Religionsgemeinschaften wurde der AIDS-Diskurs somit zur Quelle der Stabilisierung ihrer Weltsicht. Für andere wiederum war es ein Anlass, sich einmal mehr über religiöse Anschauungen lustig zu machen und sich davon abgrenzen zu können (Abb. 11).

Abb. 11: »Gottesstrafe 378129: A.I.D.S. » »Vertreibung aus dem Paradies, Sintflut, Turmbau zu Babel… das hatte wenigstens noch Stil«, taz vom 18.12.1987. Gegner der Genforschung wiederum präsentierten AIDS als Produkt dieser Forschung. Und für Kritiker einer US-amerikanischen Politik war AIDS die neue

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Geheiwaffe der CIA. Andere zeichneten AIDS wiederum als Waffe des KGB, es war eben auch noch die Zeit des so genannten Kalten Krieges. Heute wundern wir uns vielleicht nur noch über die Vehemenz und Ernsthaftigkeit, mit der solche Diskussionen geführt wurden. Aber in den Auseinandersetzungen über die Frage nach der Herkunft und den Ursachen einer Seuche, an denen sich (bereits geschichtlich) viele gesellschaftliche Gruppen beteiligen, wird letztlich darüber verhandelt, was gut, was böse, was richtig und was falsch ist. Alle Gruppen, die sich an der Lösung des Herkunftsrätsels beteiligen, verweisen auf Regeln, Gesetze, zumeist moralische Prinzipien, die aus ihrer Sicht verletzt werden bzw. gegen die verstoßen wurde und die nun besonders bedeutsam erscheinen, eben weil behauptet werden kann, dass die Verletzung dieser Regeln die Seuche und damit womöglich das Ende der Welt nach sich ziehen würde.38 Es fällt übrigens auf, dass die Erklärungen in Bezug auf die Herkunft und Ursachen einer Seuche historisch immer vielfältiger werden. Vor allem beim AIDS-Diskurs lässt sich aber beobachten, dass es im Kontext solcher Verhandlungen zu einer Betonung oder Visualisierung der innergesellschaftlichen Barrieren im weitesten Sinne kommt. Jeder hat schließlich eine andere Erklärung für den angeblichen Ausbruch der Seuche und betont damit nicht zuletzt sein Anderssein, hat die Chance seine besondere Existenz zu legitimieren, grenzt sich von anderen Positionen ab, nicht zuletzt indem er andere mit deren jeweils anderen Sicht- und Lebensweisen als verantwortlich für die Katastrophe darstellt. Aus dieser Beobachtung lässt sich folgern, dass die Seuchenerwartung einen Stabilisierungsbedarf verschiedener gesellschaftlicher Positionen, wenn schon nicht selbst erzeugen, so doch zumindest verstärken und aufdecken kann. Und sie hält zugleich die Möglichkeit einer Bestätigung bereit, sofern die Chance wahrgenommen wird, die Wahrheit des jeweiligen Standpunktes mit Hinweis auf das Seuchenereignis nachhaltig zu begründen. In Bezug auf AIDS konnten von dem erwähnten Mechanismus offenbar politische genauso wie religiöse oder wissenschaftstheoretische Positionen profitieren.39 Eine gesellschaftlich stabilisierende Funktion hat auch das Reden über die Infektionsrisiken. Denn auch in diesem Kontext kommt es zu einer Thematisierung von sozialen Unterschieden. Beim AIDS-Diskurs wird das besonders deutlich: Man sprach über unterschiedlich hohe Infektionsrisiken bei Männern und Frauen, bei Heterosexuellen und Homosexuellen, bei Jungen und Alten, 38 | Was historische Seuchentexte betrifft, so lässt sich feststellen, dass in den alten Darstellungen die Seuche immer in erster Linie anzeigt, dass ein Gebot verletzt wurde; viel mehr erfährt man häufig nicht über die Krankheit. So heißt es z.B. in der Bibel im Alten Testament (Samuel), dass Gott das Volk mit einer Seuche bestraft hat, weil David, der König, eine verbotene Zählung durchführen ließ. Und die Seuche erscheint somit als der beste Beweis für die Wahrheit des göttlichen Gebots, das dadurch verletzt wurde. 39 | Hierzu ausführlicher Pulver 1999, S. 361-363.

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der Bevölkerung von West und Ost und in verschiedenen Ländern und Kontinenten. Und diese tatsächlich oder vermeintlich unterschiedlichen Infektionsrisiken – höhere oder niedrigere Risiken der Erkrankung oder Infektion – wurden nicht oder nicht nur medizinisch-epidemiologisch begründet, sondern auch gesellschaftlich-kulturell. Der Seuchendiskurs gab auf diese Weise Anlass, gesellschaftlich-kulturelle Differenzen und ordnungsstiftende Differenzierungen neu zu begründen. Hier nur ein Beispiel: Kinder und Jugendliche wurden in Deutschland in Bezug auf ihr sogenanntes AIDS-Risiko am Ende der 1980er und in den 1990er Jahren als besonders gefährdet dargestellt, was nur im Hinblick auf den Status ihrer vermeintlichen Unwissenheit, Naivität, Abenteuerlustigkeit oder sexuellen Unerfahrenheit zu begründen war. Denn die Zahl der infizierten Kinder war im Vergleich zur Anzahl der infizierten Erwachsenen sehr gering.40 Gleichwohl wurden Erwachsene – zumal Lehrer – nun dazu aufgefordert, Kindern und Jugendlichen vorzuleben, wie sie mit dem Seuchenrisiko umgehen sollen. Auf diese Weise wurde also die Definition der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern als Schutzbeziehung erneuert, was offenbar in einer Zeit immer wichtiger wird, wo eben solche gesellschaftlichen Differenzierungen wie die zwischen Kind und Erwachsener diffuser werden.41

4. THESE : A LS E FFEK T DES S CHÜRENS VON R ADIK ALISIERUNGSÄNGSTEN VERFÜGEN S EUCHENMY THEN ÜBER GESELLSCHAF TLICH REGENER ATIVE F UNK TIONEN : S EUCHENDISKURSE AK TUALISIEREN GELTENDE O RDNUNGSVORSTELLUNGEN UND GEMEINSCHAF TLICHE O RIENTIERUNGEN IM GESELLSCHAF TLICHEN S YSTEM Wie oben dargestellt haben die Diskussionen über Infektionsgefahren und über die Herkunft der Seuche die Funktion, innergesellschaftliche Barrieren bzw. Verhältnisse zu thematisieren und zu erneuern. Dies ist allerdings nur ein vorübergehender Effekt der angewandten Seuchenrhetorik. Denn die Auseinandersetzung über das Herkunftsrätsel und die Aktivierung eines Infektionsdispositivs sorgen für eine wachsende Verwirrung und Verunsicherung, die Angst macht, so dass die Gewissheit, dass es tatsächlich zum Schlimmsten kommt, immer weiter zunehmen kann. In Folge dieser anhaltenden Mystifizierung und Dramatisierung einer Krankheit mehren sich deshalb auch Stimmen, die radikale Maß40 | AIDS-Fälle bei Kindern durch die prä- oder perinatal erfolgte HIV-Infektion trugen in der Bundesrepublik bis Ende des 20. Jahrhunderts nur mit insgesamt weniger als 1 Prozent zur Gesamtzahl der AIDS-Fälle bei; vgl. z.B. RKI-Heft 17/1997, S. 73. 41 | Vgl. Lenzen, Dieter: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Hamburg 1985.

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nahmen zur Seuchenabwehr fordern. Nun ist von Einschränkungen der Freiheit jedes Einzelnen die Rede. In Bezug auf AIDS kam es beispielsweise zu Forderungen nach einem obligatorischen HIV-Test für jedermann, zu Diskussionen über die Einschränkung sexueller Freiheiten und Debatten über einschneidende Veränderungen in Recht und Gesetz. So entstehen vielfältige Visionen vom Verlust an Normalität und Alltag in zentralen gesellschaftlichen Lebensbereichen, was wiederum den Fokus (weg von den innergesellschaftlichen Unterschieden hin) zu den zentralen gemeinschaftlichen Werten und Traditionen lenkt, die nun ernstlich bedroht erscheinen, auf den Prüfstand geraten und auf diese Weise die Chance erhalten, nachhaltig erneuert bzw. bestätigt zu werden. Hinsichtlich der Auswirkungen des AIDS-Diskurses auf Rechtsvorstellungen in Deutschland beispielsweise lässt sich vor allem feststellen, dass die im Kontext der Seuchenerwartung zunächst problematisierte Idee des Minoritätenschutzes schnell zur zentralen Orientierung im politischen Umgang mit der diskursiv potenzierten Seuchengefahr wurde.42 Besonders häufig kam es bald auch zu Plädoyers für die Unantastbarkeit der Person – und zwar spätestens nachdem von einer Kennzeichnungs- bzw. Tätowierungspflicht für »Positive« die Rede war (Abb. 12). Bestätigt wurde auch deren unbedingtes Recht auf Fortpflanzung, nachdem schwangeren HIV-positiven Frauen häufig schon das Recht abgesprochen worden war, Kinder auf die Welt zu bringen. Energisch verteidigt wurde die geltende Auffassung von Gerechtigkeit bzw. gerechter Strafordnung. Dazu kam es etwa im Kontext der Diskussion über die Frage, wie man mit einem HIV-Infizierten verfährt, der mit einem HIV negativ getesteten Menschen ungeschützten Sex hat. Und zahlreich waren auch die Bekenntnisse zu den höchsten demokratischen Idealen, zur Idee der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Menschenwürde – vor allem im Zusammenhang mit den Diskussionen über den so genannten heimlichen AIDS-Test (Abb. 13) oder den Forderungen nach einer lebenslangen Isolierung oder Inhaftierung von Kranken und Infizierten. Auch Gerüchte über die Möglichkeit der Einführung eines Zwangs- und Massen-AIDS-Tests hatten letztlich den Effekt, dass das bestehende Recht verteidigt und bestätigt wurde. In ähnlicher Weise wurde auch die von einigen Politikern und Medizinern geforderte Einschränkung sexueller Freiheiten abgewiesen. Die Ansicht, dass »Promiskuität« der »Motor der Seuche« sei, konnte sich offenbar nicht durchsetzen. Von der Kirche wiederum wurde sehr nachdrücklich an die Tradition der christlichen Nächstenliebe erinnert. Vor allem kam es aufgrund der Vorwürfe, dass die Kirche Kranke allein ließe oder sogar ausgrenzen würde, zu einer wieder verstärkten Konzentration auf die traditionellen kirchlichen Aufgabenfelder, also Diakonie, Sterbebegleitung, Seelsorge und Trostspendung. Der Eindruck war entstanden, dass 42 | Hierzu und zu den folgenden Ausführungen vgl. Pulver 1999, S. 665-775 (Der Gesellschaftstest).

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zentrale christliche Tugenden angesichts von AIDS nichts mehr gelten würden und offenbar schon länger vernachlässigt worden waren.

Abb. 12: Kennzeichnungspflicht für HIV-Positive?, BenettonWerbung, Postkarte, ca. 1987/88.

Abb. 13: Schüren von Radikalisierungsängsten: Verlust der bestehenden Rechtsordnung? Zeitungsausrisse mit Artikeln aus dem Jahr 1987, die den sogenannten »heimlichen AIDS-Test« thematisieren.

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Der Seuchenmythos hält der Gesellschaft ein verzerrtes Spiegelbild vor Augen, eines, in dem sie sich selbst nicht mehr wiedererkennt. Er veranlasst zu einer Diagnose des Ist-Zustandes der Gesellschaft und zwingt zu einer Korrektur – bis die vertrauten oder gewünschten Züge wieder deutlicher hervortreten. Das Gesagte gilt auch für geschichtliche Seuchen, denn am Ende vieler historischer Seuchenereignisse, im Rahmen derer radikale Maßnahmen der Seuchenabwehr oftmals wohl nicht nur in Aussicht gestellt, sondern tatsächlich durchgeführt wurden, steht ja das Ereignis einer Prozession zum Dank für das Ende der Seuche, eine Prozession, die zugleich auch immer eine Demonstration der wieder hergestellten Ordnung, vor allem der sozialen Hierarchie, war: Vorn liefen die kirchlichen Würdenträger, es folgten die Würdenträger der Stadt usw.43 Soviel zum sozial-kulturellen Regenerationsaspekt der Seuchendiskurse, zur Seuche als Technik sozial-kultureller Erinnerung. Das ist allerdings nur ein Aspekt der kulturellen Bedeutung von Seuchenmythen. Insofern sich nämlich das Reden über Seuchengefahren von konkreten, aktuellen Bedrohungen bzw. den tatsächlich bestehenden Gefahren geschichtlich immer mehr gelöst bzw. emanzipiert hat und unabhängig davon ausweiten konnte, hat es auch kulturellen Wandel begünstigt oder gar forciert. Damit komme ich zu meiner vorletzten These.

5. THESE : S EUCHE IST EIN GESCHICHTLICH ENTSTANDENER B RENNPUNK T GESELLSCHAF TLICHER M ACHT Im Grunde handelt es sich bei der Funktion, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte, um einen weiteren Aspekt des Spiegelbildeffekts, von dem ich eben sprach. Denn das Zerrbild, das Negativ-Bild einer Gesellschaft, das Seuchendiskurse produzieren, kann auch als Mahnung über den konkreten Seuchenfall hinaus fortbestehen.44 Einzelne Aspekte des Seuchenglaubens – insbesondere das Infektionsdispositiv – konnten historisch allmählich und zunehmend unabhängig von einem konkreten Hinweis auf Seuchengefahren Einfluss gewinnen auf die Beziehungen der Menschen zu sich selbst und zu anderen. Methoden der Seuchenabwehr haben sich verselbständigt und sich zu Praktiken der Abwehr sozialer Unordnung entwickelt. Unter anderem begünstigt das epidemiologische Wissen schon seit dem 17. Jahrhundert – vor allem als Effekt des Infektionsdispositivs – eine sich allmählich verstärkende Selbstkontrolle im Alltag. So entwickeln und verbreiten sich in diesem Kontext verstärkt diätetische Ratschläge zu einer gesunden Lebensführung, die 43 | Vgl. Pulver 1999, 202-204. 44 | Vgl. Pulver 1999, S. 210-267.

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den ganzen Tagesablauf regulieren sollte – als individuelle Prävention gegen die Seuchengefahr.45 Das Seuchendispositiv nimmt dann zunehmend Einfluss auf das allgemeine Gesundheitsbewusstsein, das sich historisch herausgebildet hat. Die Vorstellungen, die sich ursprünglich darüber entwickelt haben, wie man sich vor der Pest am besten schützt, sind im 18. und 19. Jahrhundert zu allgemeinen Gesundheitsregeln avanciert: Menschenansammlungen vermeiden, auf frische Luft achten, auf regelmäßigen Schlaf, Ernährung und Verdauung achten, »Zorn und Grimm« vermeiden, weil, wie beispielsweise ein Seuchenarzt namens Schelling 1501 schrieb, auch das Blut von »solch unordentlicher Bewegung« des Gemüts ebenfalls unordentlich bewegt würde und das Seuchengift dann leichtes Spiel hätte, sich darin auszubreiten.46 Epidemiologisches Wissen wird seit dem 18. Jahrhundert auch in Architektur und Stadtplanung zunehmend berücksichtigt. Mit Hinweis auf die Seuchengefahr, die sich angeblich in zu engen Gassen und Straßen, in zu beengten Wohnverhältnissen besser ausbreiten könnte, kommt es zu einer Umgestaltung des öffentlichen Raums.47 Das Reden über die Gefahr der Seuchenentstehung begünstigt im 18. und 19. Jahrhundert auch die Herausbildung einer Privatsphäre, das Bedürfnis, sich zurückzuziehen, für sich zu sein, mit sich allein zu sein, die Entwicklung von Vorstellungen über Intimität und Nähe. Damit gewinnt die Seuchenrethorik auch Einfluss auf die Entstehung eines Sexualitätsdispositivs.48 Ich nannte soeben einige Bereiche, in die das epidemiologische Wissen, hineingewirkt hat, als Machtwissen, wie Foucault es nennen würde. Mit den soeben angesprochenen Aspekten gesellschaftlicher Normalisierung und Disziplinierung wird das Veränderungspotential der Seuchenmythen sichtbar. Dass sie auch gesellschaftlich regenerativ wirken können, habe ich am Beispiel des AIDS-Diskurses verdeutlicht. Der Schwerpunkt meiner Ausführungen lag auf der Darstellung eines historisch entstandenen Repertoires an rhetorischen Elementen, aus denen Seuchenmythen schöpfen.

45 | Ausführlicher zu den erwähnten ärztlichen Ratschlägen siehe Pulver 1999, S. 230-232. 46 | Schelling, Conradt: Ein kurtz Regiment von dem hochgelerten meister Conradt Schelling von Heidelberg doctor der artzeney, wie man sich vor der Pestilentz enthalten/ und auch ob der Mensch damit begriffen wurd im helfen sol. Heidelberg, 1501. 47 | Ausführlicher bei Pulver 1999, S. 238-240. 48 | Pulver 1999, S. 210-267 (über ausgewählte Funktionsbereiche der Diskursivierung von Seuchengefahren im 14. bis 17. Jahrhundert).

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6. THESE : S EUCHENDISKURSE L ASSEN SICH NICHT LEICHT AUS DER W ELT SCHAFFEN Wenn es aber zutrifft, dass Seuchendiskurse unabhängig vom natürlichen Auftreten von Epidemien entstehen können und offenbar wichtige soziale und kulturelle Kalibrierungsleistungen vollbringen – und das offenbar schon seit geraumer Zeit – sollte man annehmen, dass das Reden über Seuchen nicht so bald verebbt. Hinzu kommt, dass sich das Reden über Seuchen Bedingungen für die Möglichkeit seiner Wiederkehr im Laufe der Jahrhunderte selbst geschaffen hat und augenscheinlich weiterhin schafft. Fragen, die gestellt werden müssen, damit das Reden über Seuchen weiter seinen Lauf nimmt, Figuren, von denen man spricht, um die Angst vor der Seuche lebendig zu erhalten, und Bilder, die garantieren, dass man sich an Seuchen und deren Folgen erinnert, sind in jeder Seuchenschilderung enthalten. Einige dieser Fragen, Bilder und Figuren versuchte ich in diesem Beitrag zur Diskussion zu stellen.

L ITER ATUR »AIDS – Kampf mit dem Todesvirus«. Regie: Max H. Rehbein und Wolfgang Wegner, Deutschland 1993, 90 Min., Farbe, produziert im Auftrag des NDR. o. A.: »Siegreich bekämpft«, Der Spiegel Nr. 11/1979, S. 235 und 237. Beckmann, Gudrun: Europa und die Große Pest 1348-1720. In: Dies.u.a.: Eine Zeit großer Traurigkeit. Die Pest und ihre Auswirkungen. Marburg 1987, S. 11-71. Eggerdes, Alardus M.: Der grausamen Pestseuche gründliche und wahrhafftige Abbildung. Breslau und Liegnitz 1720. Eliade, Mircea: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt a.M. 1984. Goebel, Frank-Detlef und Bogner, Johannes R.: Symptome einer HIV-Infektion. In: Braun-Falco, Otto: AIDS. Leitlinien für die Praxis. Der Umgang mit vermutlich oder tatsächlich Infizierten. München 1987, S. 26-29. Gremek, Mirko: Aids und das Problem der neuen Krankheiten. In: Burkel, Ernst (Hg.): Der AIDS-Komplex. Dimensionen einer Bedrohung. Frankfurt a.M. und Berlin 1988, S. 38-51. Grimm, Jürgen: Die literarische Darstellung der Pest in der Antike und der Romania. München 1965. L’age-Stehr, Johanna und Koch, Michael G.: Verbreitung von AIDS in der Bundesrepublik. In: Korporal, Johannes und Malouschek, Hubert: Leben mit AIDS – Mit AIDS leben. Hamburg 1987, S. 52-67.

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Lenzen, Dieter: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Hamburg 1985. Pulver, Marco: Tribut der Seuche oder: Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung. Eine Rekonstruktion des AIDS-Diskurses vor dem Hintergrund von Studien zur Historizität des Seuchendispositivs. Frankfurt a.M. 1999. Ruffié, Jacques und Sournia, Jean-Charles: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit. Stuttgart 1989. Schelling, Conradt: Ein kurtz Regiment von dem hochgelerten meister Conradt Schelling von Heidelberg doctor der artzeney, wie man sich vor der Pestilentz enthalten/und auch ob der Mensch damit begriffen wurd im helfen sol. Heidelberg, 1501. Sontag, Susan: Krankheit als Metapher. München und Wien 1980. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, aus dem Griechischen übersetzt von Dr. Johann David Heilmann. Erster Band. Leipzig 1883.

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»Es war, als hätte das Virus mich geschwängert.« Geschlecht als Erzählparadigma in Darstellungen von Aids Beate Schappach

Das im Titel angeführte Zitat stammt aus der Autobiografie eines aids-kranken Mannes.1 Diese überraschende Metaphorik gab Anlass zu einer genaueren Untersuchung der genderdifferenten Vertextung von Aids in der Literatur und im Film. Dabei zeigte sich, dass Gendering eine der wesentlichen Strategien beim Erzählen von Aids in den Texten und Filmen ist. Geschlecht wird als Erzählparadigma funktional eingesetzt. Unter dem Begriff ›Erzählparadigma‹ werden im folgenden Beitrag rhetorische Strategien verstanden, die mit identifizierbarer Wirkungsabsicht eingesetzt werden und die sich wesentlich in der Narration, also in der Handlungs-, Erzähl- und Wertstruktur niederschlagen. Die Kategorie Geschlecht wird im Folgenden im Sinne der konstruktivistischen Sicht der Gender Studies verstanden. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Geschlecht und Geschlechterzuschreibungen im Aids-Diskurs funktional eingesetzt werden. Das Material der Untersuchung bilden (zumeist autobiografische) Texte sowie Dokumentarfilme aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum.

M E THODOLOGIE Die folgende Analyse erfolgt methodologisch auf zwei Ebenen: Auf der Makroebene werden Literatur und Film als Systeme als Manifestationen des Systems Kunst im Sinne Niklas Luhmanns verstanden. Im Zentrum steht die Frage 1 | Seyfarth, Napoleon: Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod. München 1996. – Der Beitrag beruht auf dem Kapitel »Genderkonzepte in Literatur und Film« in Schappach, Beate: Aids in Literatur, Theater und Film. Zur kulturellen Dramaturgie eines Störfalls, Zürich 2012, S. 129-142.

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nach den Funktionen dieser Kunstformen bei der Thematisierung von Aids.2 In der Sprache der Diskursanalyse Michel Foucaults ausgedrückt, geht es um die Strategien der Thematisierung und Bewältigung von Aids.3 Auf der Ebene der Mikrostrukturen wird mit Stephen Greenblatt argumentiert. Greenblatt zufolge eignen sich Diskurse Material aus anderen Diskursen, etwa der Medizin, an und transformieren dieses, wobei diese Transformationen durch gattungspoetologische Möglichkeiten bestimmt sind. In der Analyse werden auf der semantischen Ebene Topologien analysiert und auf der Ebene der Pragmatik Wirkungspotentiale eruiert, wie es Roy Sommer für literarische Texte formuliert hat.4 Der semantische Aspekt umfasst unter anderem die Festlegung kulturdefinierender Differenzen, beispielsweise Mann/Frau, gesund/krank, Glauben/Wissen, sinnhaft/sinnlos. Zugleich rücken wirkungsästhetische Aspekte wie persuasive Verfahren, textuelle Appellstrukturen sowie Coping- und Passing-Strategien in den Fokus des Interesses.5 Die pragmatische Dimension der Wirkungspotentiale findet ihre Konkretisierung in Vertextungsstrategien, wie etwa Sinngebungsverfahren, Metaphorisierungen sowie Krankheits- und Sterbeverteilungen. Durch die Analyse der Wirkungspotentiale verdeutlicht sich auch das Interventionsniveau des jeweiligen Textes in Bezug auf seine diskursiven Kontexte, welches unter anderem affirmativ, kommentierend, re-inszenierend, kritisch oder subversiv sein kann.6

2 | Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1984. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995. Berg, Henk de: Kunst kommt von Kunst. Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft. In: Berg, Henk de und Schmidt, Johannes (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Frankfurt a.M. 2000, S. 175-221. 3 | Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1992. 4 | Zum Begriff des Wirkungspotentials siehe Sommer, Roy: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: Berchem, Theodor u.a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge, Bd. 41, Berlin 2000, S. 319-341. 5 | Als Coping bezeichnet man Bewältigungsstrategien von Betroffenen einem schwerwiegenden Problem, etwa einer schweren Krankheit, gegenüber. Passing umfasst Verfahren dieser Betroffenen in Bezug auf die Gesellschaft, insbesondere zur Sicherung ihrer sozialen Integration und Anerkennung. 6 | Zum Begriff des Interventionsniveaus siehe Hacking, Ian: Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt a.M. 1999. (Original: The Social Construction of What? Cambridge 1999). Siehe auch den Beitrag von Rudolf Käser »Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin«, in diesem Band, S. XX–XX, hier S. X.

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K ONTE X TUALISIERUNG DES U NTERSUCHUNGSMATERIALS Im Rahmen einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit der Thematisierung von Aids in den westlichen Kulturen konnte ich unterschiedliche Darstellungsmodi bzw. Phasen der Diskursivierung von Aids herausarbeiten. Diese sollen vorab skizziert werden, um das im Weiteren untersuchte Material zu kontextualisieren. Die erste kulturelle Reaktion auf die neue Bedrohung war die Zuschreibung der Ursache zu bestimmten Risikogruppen, etwa männlichen Homosexuelle, Afrikanerinnen und Afrikanern, später auch Fixerinnen und Fixern sowie Prostituierten. Auf diese Gruppen wurde ein Schulddiskurs appliziert. Indem man sie ausgrenzte, meinte man die Bedrohung durch Aids abgewehrt zu haben. Diese ausgrenzende Rhetorik ist vor allem von den 1980er- bis Mitte der 1990er Jahre in den Massenmedien zu finden.7 Nachdem die Übertragungswege des HI-Virus bekannt geworden sind, begann die zweite Phase der Aids-Thematisierung. Im Kontext des neuen auf Ansteckungsprävention ausgerichteten gesundheitspolitischen Kurses wurde der Aids-Diskurs medikalisiert und neu strukturiert: Die Rede von Risikogruppen wurde durch das Konzept des Risikoverhaltens ersetzt. Entsprechend wurden Handlungsanweisungen formuliert. Neben dem medizinischen Wissen wurden auch bestimmte Werte vermittelt: Selbstverantwortung und Rationalität standen dabei im Mittelpunkt. Parallel zur Prävention setzten auch die Bemühungen um die gesellschaftliche Integration der Kranken und Infizierten ein. Betroffene meldeten sich in Erfahrungsberichten zu Wort. Krankheits- und Krisenerfahrungen wurden nun auch als produktiv angesehen und positiv bewertet. Auch in Darstellungen, die nicht von Kranken stammen, wurden seit Beginn der 1990er Jahre Krankheit und Tod umgewertet, um der Stigmatisierung von Infizierten und Kranken entgegenzuwirken und die Gesellschaft für die Integration der Kranken zu gewinnen. Die Kranken wurden hier häufig als Identifikationsfiguren dargestellt, womit der Topos des ›guten Kranken‹ in den Aids-Diskurs eingeführt wurde: Dieser hat zwar zunächst Angst, lernt aber, die Krankheit mit Würde zu tragen und sich demütig dem Tod zu ergeben. Diese Mitleidsdramaturgie setzt auf Einzelschicksale, die emotional aufgeladen werden. Das Leiden wird sinnhaft umgedeutet als Weg zur Läuterung. Die Integration der Kranken wird durch die Reaktualisierung des gesellschaftlichen Wertes der Caritas gewährleistet. 7 | Diesen Aspekt vertieft der Beitrag von Marco Pulver »Rhetorik der Seuche oder Wie und wozu man über Seuchen spricht« in diesem Band. Siehe auch Pulver, Marco: Der Tribut der Seuche oder: Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung. Eine Rekonstruktion des AIDS-Diskurses vor dem Hintergrund von Studien zur Historizität des Seuchendispositivs. Frankfurt a.M. u.a. 1999.

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Das nachfolgend untersuchte Material steht vor allem im Kontext dieser Präventions- und Integrationsbemühungen der 1990er Jahre. Es gibt nicht den heutigen Stand der Diskursivierung von Aids wieder. Die Dokumente reagieren vielmehr auch auf den bis Mitte der 1990er Jahre andauernden Ausgrenzungs- und Schulddiskurs gegenüber Aids-Kranken.

»U NERK ANNT IN IHRER G RÖSSE « – D IE RE ALE K R ANKE ALS V ORBILD Christina Vogel berichtet in ihren drei autobiografischen Büchern, wie sie dank der Liebe zu ihren drei Kindern ihre häufigen Krankheitsphasen und ihre Angst vor dem Sterben bewältigt hat.8 Sie erscheint als starke Frau, die sich im Alleingang ein neues Leben mit Aids aufgebaut hat und die auch andere von ihrer Kraft profitieren lässt. Die Schilderungen zielen auf Mitleid sowie auf die Anerkennung ihrer Stärke und Lebenskraft. Ihre Selbstaufopferung als Mutter wird als Wert und Bewältigungsstrategie gezeigt. Die Autobiografien kreisen um ihre mütterliche Liebe und ihre Verantwortung für ihre Kinder, die sie die nötige Lebenskraft auf bringen lassen: Sie [Vogels Kinder, Anm. B. S.] sind es, die mich am Leben erhalten, der Druck, sie nicht allein lassen zu wollen. Nur ihretwegen ist das Leben noch lebenswert, sonst würde ich dankend darauf verzichten!!!9

Ihre Mutterschaft zieht Vogel auch als Strategie zur Bewältigung der Angst vor dem Sterben heran. Das Sterben wird akzeptabel durch die Vorstellung, es sei einer Geburt ähnlich: »Geburt und Tod, wie nah beieinander sie sind!«10 Die Geburt empfand ich als sehr grosses Erlebnis. Ich hatte nie einen Kurs über Geburtstechniken besucht. Ich wusste, dass ich es ganz bewusst miterleben wollte, und dass es nur etwas gibt: sich ganz hineingeben, sich richtig hineinfallen lassen, ja nicht dagegen ankämpfen. Ich war völlig auf meinen Bauch konzentriert, bis ich mich nur noch als Bauch empfand. Die Wehen sah ich, wie wenn man im Meer steht und eine Welle auf sich zurollen sieht. Man weiss ganz genau, man kann ihr nicht ausweichen, es bleibt nur eine Möglichkeit: es zulassen, dass sie einen überrollt, packt, hochreisst und wie8 | Vogel, Christina: Es ist wunderbar, leben zu dürfen. Der Lebensweg einer jungen aidskranken Mutter. Basel 1989; Vogel, Christina: Die geschenkte Zeit. Basel 1991; Vogel, Christina: Denn niemand kennt die Stunde. 20 Jahre überleben mit dem Aidsvirus. Basel 2003. www.christinavogel.ch, 24.5.2009. 9 | Vogel 1991, S. 90. 10 | Vogel 1989, S. 146.

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der niederwirft. Man kann das Meer nicht bezwingen, so elementar ist seine Urgewalt, und so ist auch eine Geburt, wer wollte sie aufhalten! Ich fand es ein berauschendes Erlebnis.11 Ich träumte seltsame Dinge. Einmal stand ich an einem Fluss, es war Hochwasser mit Eisschollen darin, das Wasser war eine tobende braune Brühe, aufgewühlt und wogend, und es bewegte sich genau auf mich zu, in Form einer riesengrossen Welle. Ich hatte überhaupt keine Angst, ich starrte fasziniert darauf. Fast im Zeitlupentempo kam die Welle auf mich zu, und dann riss sie mich direkt mit sich. Ich wurde auf eine grüne Blumenwiese geworfen und dachte nur noch »So ist das also.«12

Gebären und Sterben werden durch die Metapher der Welle in Analogie gesetzt. Zugleich lädt Vogel ihre eigene Geburtserfahrung mit Bedeutung auf, allegorisiert sie gleichsam. Vogel wird durch die konsens- und vorbildfähigen Werte der Mütterlichkeit und Selbstaufopferung für ein breites Publikum als Integrationsfigur anerkennbar. Gender ist bei Vogel somit eine der entscheidenden wirkungsästhetisch eingesetzten Kategorien. Wie eine Lektüreanweisung liest sich daher ihre Bemerkung über eine andere Aids-kranke Mutter am Beginn eines ihrer Bücher: […] und sie, die so viel gekämpft und so viel gelernt hat, ist krank, todkrank und hat einem Menschenkind das Leben geschenkt, trotz allem Wissen um ihren Zustand! Welche Stärke, welchen Mut hat diese Frau, unerkannt in ihrer Grösse unter den Massen!13

In dieser Formulierung klingen zwei Aspekte aus dem Neuen Testament an. Zum einen weilte Jesus Christus unerkannt unter den Menschen, ohne von diesen erkannt zu werden.14 Jesus selbst gebietet seinen Jüngern und anderen Menschen, seine Gottnatur vor seinem Tod nicht zu offenbaren.15 Zum anderen weiß Jesus von Anfang an von den Leiden, die er zu ertragen haben wird, und er weissagt dies seinen Jüngern mehrmals.16 William Wrede betont in seiner Untersuchung des Motivs des Messiasgeheimnisses, dass für den altchristlichen Glauben die bewusste Entscheidung Jesu für den Weg des Leidens und

11 | Vogel 1989, S. 122f. [Hervorhebung im Original]. 12 | Vogel 1989, S. 144. 13 | Vogel 1991, S. 22. 14 | So berichtet das Lukas-Evangelium beispielsweise von zwei Jüngern, die Jesus zunächst nicht erkennen; siehe Lk 24, 13-35. 15 | Dieses Motiv des so genannten Messiasgeheimnisses ist besonders ausgeprägt im Markus-Evangelium, siehe Mk 1,34; 1,43-45; 3,12; 7,36; 8,30 und 9,9. 16 | Mk 8,31-32; 9,31 und 10,32-34.

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des Sterbens ein zentrales Motiv im Konzept des Messias war.17 In Anlehnung an diese Vorstellung entwirft Vogels Text die Aids-kranke Mutter als jesusgleiche Leidensfigur, die sich trotz des Wissens um ihre Erkrankung und die ihr bevorstehenden Leiden für die Mutterschaft entscheidet und deren aufopferungsvolle Tätigkeit für ihr Kind in der Öffentlichkeit unbemerkt bleibt. Mit dem Anklang an den unerkannt unter den Menschen wandelnden Jesus Christus eröffnet Vogel neben der Mutterschaft und dem Gebären einen zweiten Bereich, den sie integrationsfördernd einsetzt. Sie deutet mit dem religiösen Topos sich selbst und andere Aids-Kranke als christliche Leidensfiguren, die in der Imitatio Christi – dem Leiden, der Entsagung und der Selbstaufopferung für andere – zu sich selbst und einem geläuterten Verhältnis zum Leben und zum Sterben finden. Der positiven Besetzung von Jesus als Schmerzensmann entsprechen Vogels ausgiebige Schilderungen ihrer unterschiedlichen Krankheitsphasen und ihrer Erfahrungen körperlichen Leids. Die Autorin stellt Aids als Herausforderung, als schwere Lebenskrise dar, die sie bewältigt hat. Damit nimmt sie der Krankheit ihre skandalhafte Einzigartigkeit. Vielmehr wird Aids prinzipiell vergleichbar mit anderen schweren Leiden. Die Bewältigung dieses Leidens und der Angst vor dem Sterben erfolgt in Vogels Texten durch den Bezug auf den Wert der aufopferungsvollen Mütterlichkeit und die Engführung des Sterbens mit der Erfahrung des Gebärens. Die gesellschaftliche Integration von Aids-Kranken ist auf diese Weise eng an die Affirmation eines wertkonservativen Geschlechterdiskurses gekoppelt, welcher Weiblichkeit in Gestalt von Mütterlichkeit als einen grundlegenden Wert vertritt. Auf den Ausgrenzungsdiskurs reagierend, verhandeln die Texte von Vogel auch die Frage nach der Schuld an der Infektion. Vogel schreibt, sie habe sich lange vor dem Bekanntwerden von Aids als Jugendliche beim Drogenkonsum angesteckt, wobei sie nur wegen des Versagens des Sozialsystems in die Drogenszene abgerutscht sei. Eine Ansteckung auf sexuellem Wege wird in ihren Texten nicht in Erwägung gezogen. Bemerkenswert an dieser Erzählung ist, dass es aus medizinischer Perspektive nicht möglich ist, den genauen Ursprung einer so lange zurückliegenden Infektion zu eruieren. Im Text wird der Plot eindeutig und kohärent konstruiert, währenddem der medizinische Diskurs diese Eindeutigkeit nicht anbieten kann. Diese Lücke im medizinischen Wissen wird bei Vogel narrativ überbrückt, wodurch eine kohärente Lebensgeschichte erzählbar wird. Diese bildet zum einen eine Sinngebungsstrategie für das Erzähl-Ich, zum anderen fungiert diese Konzeption der Erzählung der Lebensgeschichte als Passing-Strategie. Indem der Text den konsensfähigen Wert der Mütterlichkeit ins Zentrum stellt, schafft er Akzeptabilität für die HIV-infizierte Frau, die in der Rolle der Mutter aufgeht. Zugleich zielt die Plot17 | Wrede, William: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums. Göttingen 1969, S. 82-85.

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struktur darauf, den bis Mitte der 1990er Jahre virulenten Ausgrenzungs- und Schulddiskurses gegenüber Aids-Kranken auszuhebeln.

»S TARK WIE DAS L EBEN « – D IE FIK TIVE K R ANKE ALS V ORBILD Der für die Aids-Prävention unter Jugendlichen verfasste Comic »Jo« von 1991 erzählt die Geschichte der weiblichen Titelfigur Jocelyne, die sich trotz ihres vorbildlichen Lebenswandels mit HIV infiziert hat.18 Jo ist eine junge, attraktive, sportliche Frau, die im Gegensatz zu ihrer Schwester nie zu Drogen gegriffen hat, in der Schule erfolgreich ist und sowohl auf dem Sportplatz als auch in der Familie Vorbildcharakter besitzt (Abb. 1) Sie weiß, wie sich HIV überträgt und praktiziert nur Safer Sex. Ihr einziger ungeschützter Sexualkontakt wird als Ursache der Infektion herangezogen. Auf die HIV-Diagnose reagiert sie zunächst niedergeschlagen und verzweifelt (Abb. 2). Eine Stütze findet sie aber in ihrem HIV-negativen Freund Laurent (Abb. 3). Jo gelangt wieder zu Lebensmut und engagiert sich mit – geschlechtertypischen – Sekretariatsarbeiten für Laurents Musikband (Abb. 4). Als die Aids-Erkrankung ausbricht, kämpft sie so lange wie möglich dagegen an. Schließlich ergibt sie sich demütig dem Sterben. Abgeschlossen wird die Geschichte von einem melodramatischen Tableau der Musiker an Jos Grab und einem ätherisch anmutenden Porträt der Verstorbenen (Abb. 5).

Abb. 1: Jo wird im ersten Bild des Comics als attraktive und sportliche junge Frau präsentiert. Derib 1991, S. 1. 18 | Derib [d. i. Claude de Ribaupierre]: Jo. Genf u.a. 1991.

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Abb. 2: Diagnose von HIV bei Jo. Derib 1991, S. 52.

Abb. 3: Coping innerhalb der Beziehung. Derib 1991, S. 60.

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Abb. 4: Coping durch berufliches Engagement: Sekretariatsarbeiten für die Musikband von Jos Freund. Derib 1991, S. 64.

Abb. 5: Verklärung nach dem Tod von Jo in der Schlussszene. Derib 1991, S. 79.

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Wie in den Texten von Christina Vogel steht in »Jo« eine weibliche Figur im Zentrum der Darstellung. Doch der Comic adressiert ein anderes Publikum als die Bücher von Vogel. Er ist Teil der Bemühungen um Aufklärungs- und Präventionsarbeit im Rahmen des Schulunterrichts. So wurde die französische Fassung des Comics in der Deutschschweiz gezielt in den Lehrplan des Französischunterrichts aufgenommen. Um das jugendliche Zielpublikum anzusprechen und ihm eine integrative Haltung gegenüber HIV-Infizierten zu vermitteln, greift »Jo« einige Motive auf, die auch in der Jugendliteratur populär sind: familiäre Krisen und Streitigkeiten der Eltern, den Wunsch nach körperlicher Schönheit und Sportlichkeit, Rock-Musik und nicht zuletzt eine romantische Beziehung mit einem Rock-Musiker. Das Setting und er Plot des Comics markieren seine Ausrichtung auf ein junges Publikum. Darüber hinaus ähneln sich die Darstellungen von Vogel und in »Jo« jedoch darin, dass beide Frauen ihr Schicksal allein meistern und selbstständig einen neuen Sinn in ihrem Leben finden. Für beide stellt sich dieser in Form einer aktiven, ja aufopfernden Tätigkeit für andere dar. Beide finden schließlich zu einer versöhnlichen Haltung zum Sterben. Die Konzentration auf weibliche Aids-Kranke erleichterte den Darstellungen, sich in den Integrationsdiskurs einzuschreiben, da Frauen nicht als Risikogruppe angesehen wurden. Aus diesem Grund stellen auch einige Kampagnen der Aids-Hilfe Schweiz und des Bundesamtes für Gesundheitswesen, die sich für die Integration von Aids-Kranken einsetzen, weibliche Aids-Kranke ins Zentrum.19 So operieren die Plakate auf den die Abbildungen 25 und 27 mit Aids-kranken Frauen. In den beiden in diesem Kapitel untersuchten Darstellungen weiblicher, Aids-kranker Figuren wird die Frage nach ihrer potentiellen Schuld an der HIV-Infektion verhandelt und zugunsten der Frauen entschieden: Jo wurde bei ihrem einzigen ungeschützten Sexualkontakt infiziert, was im Comic als verzeihliche Jugendsünde angesichts ihres Alters und ihrer sonstigen vorbildlichen Lebensweise bewertet wird. Christina Vogel hat sich nach ihren eigenen Angaben lange vor dem Bekanntwerden von Aids beim Drogenkonsum angesteckt, wobei sie nur wegen des Versagens des Sozialsystems in die Drogenszene abgerutscht sei. Diese spezifische Darstellungsweise der weiblichen Figuren steht im Dienst des Integrationsdiskurses und wendet sich gegen den bis Mitte der 1990er Jahre noch verbreiteten Ausgrenzungs- und Schulddiskurses gegenüber Aids-Kranken.

19 | Siehe Kapitel 2.3.

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»E S WAR , ALS HÄT TE DAS V IRUS MICH GESCHWÄNGERT« – S INNSTIF TUNG FÜR DIE K R ANKEN Napoleon Seyfarth nutzt in seiner Autobiografie »Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod« von 1991 wie Vogel die Metaphern 20 der Schwangerschaft und Geburt, um seine HIV-Infektion bzw. sein Sterben zu beschreiben. Und ausgerechnet, als alles um mich herum abnahm und sich dieser Abnahme schämte, nahm ich zu. Es war, als hätte das Virus mich geschwängert. Als hätte es einen Keim in mir gelegt, der täglich größer wurde. Der mich immer unförmiger werden ließ, so daß ich mit der Zeit immer größere Ähnlichkeit mit einer Spätgebärenden hatte. 21

Während der fortschreitenden Krankheit beginnt Seyfarth, seine Autobiografie zu schreiben. Sein Leiden und die knapp werdende Lebenszeit sind dabei ein starkes Movens seiner Kreativität, so dass für ihn die Krankheit als produktiv erscheint. ›Geschwängert‹ vom Virus gebiert er ein Werk, sein autobiografisches Lebenswerk. Seyfarths aktive Auseinandersetzung mit seiner Biografie und ihren gesellschaftlichen Bedingungen verleihen ihm eine gewisse Autonomie gegenüber seinem Leben und damit auch seiner Krankheit. Die Metapher der Schwangerschaft verdeutlicht diese produktive Kraft, die die Krankheit beim Erzähl-Ich freisetzt. Der Erzähler führt die Schwangerschaftsmetapher konsequent zu Ende und bewertet auch sein bevorstehendes Sterben genauso wie Vogel neu und positiv, und zwar folgerichtig mit der Metapher der Geburt: Jessica, die mitgelitten hatte während der Zeit, in der ich meinem Freund, dem Computer, von meinem Leben erzählte, und die mir während meiner Schwangerschaft als gute Freundin zur Seite gestanden hatte, hielt meine Hand. Wollte sie bei der bevorstehenden Geburt die Rolle der Hebamme, der Wehmutter, einnehmen? Es war ein Bild der Idylle. 22

Am Ende der Autobiografie steht das Sterben des Erzähl-Ichs, das explizit geschildert wird. Dabei nimmt Seyfarth ähnlich wie Vogel eine positive Umwertung des Sterbens als Glückserfahrung vor: Ich lasse los. Ich entspanne mich. Nur die Verkrampfung hatte mir Schmerz bereitet. Das Nichtloslassenkönnen. […] Ich hatte das Glück geschaut, ja, ich hatte es gefunden. 20 | Zur Definition und Funktion von Metaphern siehe Lakoff, George und Johnson, Mark: Metaphors We Live by. Chicago 1980; Lakoff, George und Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought. New York 1999. 21 | Seyfarth 1996, S. 239. 22 | Seyfarth 1996, S. 273.

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Ich, der Messias der Aids-Kranken, das Licht der Schwulen, der Prinz der Eltern, ich hatte diese drei Bestandteile miteinander verknüpft. Ich ward Ich. Ich ward Gott. Gott ward ich. Ich bin Gott! Gott ist tot. 23

Nach diesem Textabschnitt verstummt der Ich-Erzähler, aus dessen Perspektive der Text bisher erzählt wurde. Nach der Sterbe-Szene wechselt die Ich-Erzählsituation zu einer auktorialen Erzählsituation, d.h. der Erzähler berichtet nicht mehr aus der Perspektive der Hauptfigur, sondern er tritt aus dem Geschehen heraus und präsentiert dieses aus seiner allwissenden Sicht:24 »Er ist jetzt tot«, sagte Schwester Anita zu den drei bleichen Besuchern. »Sie können noch einmal hineingehen, bevor wir die Formalitäten erledigen müssen.« Die drei Besucher betrachteten das im Bett liegende Insekt. Napoleon sah aus wie eine ausgesaugte Biene. Der übergroße Kopf hing an einem ausgemergelten Körperchen, der voller violetter Streifen war. Er wirkte insgesamt wie ein umgedrehtes Ausrufezeichen. Das Gesicht war eingefallen und bläulich eingefärbt. Eines der Augen war geschlossen. Das andere war halbgeöffnet in der Augenhöhle vergraben. Die Pupille starrte zur Decke. Die drei Besucher wandten sich ab, um wieder ihrer Arbeit in der Aids-Hilfe nachzugehen. 25

Bis zum Ende des Buches bleibt die Erzählperspektive auktorial. Auf der Ebene der Erzählung ist der Ich-Erzähler also tatsächlich gestorben. Diese literarische Konstruktion entwirft eine Innensicht in die Wahrnehmung des Sterbenden. Diese ›Live-Berichterstattung‹ eines Sterbenden ist unter den untersuchten Aids-Darstellungen eine Einmaligkeit. Seyfahrts Text geht jedoch noch weiter. Das Buch endet mit der Zerstörung des autobiografischen Textes, an dem der Ich-Erzähler gearbeitet hatte: In ihrer Mittagspause las sie [die Pressereferentin der Aids-Hilfe, die zufällig auf das Buchmanuskript des Erzähl-Ichs gestossen ist, Anm. B.S.] ein wenig in Napoleons Manuskript. Bei einigen Stellen mußte sie schmunzeln. Andere Stellen wiederum verstand sie nicht, da sie zu wirr geschrieben waren. Bei einigen Stellen schüttelte sie den Kopf. Sie warf die ausgedruckten Manuskriptseiten in den Papierkorb und setzte sich noch einmal an den Computer, um ihren Jahresbericht zu schreiben. Um genügend Platz zu haben, löschte sie die jetzt überflüssig gewordene Datei mit dem Namen »Napoleon«. Denn sie hatte es gerne sauber und ordentlich. 26

23 | Seyfarth 1996, S. 273-275. 24 | Zur Definition der personalen und auktorialen Erzählperspektive siehe Stanzel, Franz K. Theorie des Erzählens. Göttingen 2001, S. 242-299. 25 | Seyfarth 1996, S. 275. 26 | Seyfarth 1996, S. 282.

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Nicht nur das Erzähl-Ich, auch dessen geschriebener Text werden am Ende der Biografie ausgelöscht. Das Werk, das der Erzähler während seiner Aids-Erkrankung gebiert, wird im Text am Ende wieder zurückgenommen. Anders als bei Vogel resultiert aus der Metaphorisierung des Gebärens kein Geborenes. Dieser Schluss lässt die Lesenden mit der Unsicherheit über den Status des vor ihm liegenden Textes zurück: Woher stammt das Buch, das man soeben gelesen hat, wenn es sich nicht um dasjenige handelt, das der Erzähler während seiner Krankheit verfasst hatte? Die hier vorgestellten deutschsprachigen Darstellungen stellen den Lesenden durch die Darstellung von Sterben in der Metapher des Gebärens positive Sinnangebote zur Verfügung. Diese zielen auf die Integration von Krankheitserfahrungen in das alltägliche Leben ab. Dabei richten sich die Texte mit den weiblichen Hauptfiguren wohl vorrangig an die breite Gesellschaft. Sie beinhalten schwerpunktmäßig Passing-Strategien. Seyfarths Text schließt hier an, indem er sich seinerseits derselben Metaphorik bedient. Beide Darstellungen laufen auf eine Lehre vom guten Sterben hinaus. Dabei entwickelt Seyfarth am explizitesten ein literarisches Szenario des erzählten Sterbens und bietet damit eine Coping-Strategie an, die sich an die Aids-Kranken richtet.

»W IR MÜSSEN FINDEN , WAS UNS VERBINDE T« – I NTEGR ATION DURCH G EMEINSCHAF T Das Buch »AIDS. Was du tun mußt, damit du es nichts kriegst, wenn du es tust« von 1992 des HIV-infizierten, ehemaligen Basketballspielers Earwin Johnson richtet sich vor allem an Jugendliche.27 In einem sowohl erklärenden als auch belehrenden Duktus werden zentrale Informationen über die Übertragungswege, Safer Sex und den Umgang mit HIV-Infizierten vermittelt. Dazwischen eingestreut berichten Betroffene, wie sie sich infiziert haben und wie sie mit der Krankheit umgehen. Dabei wird auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern, Frauen, Farbigen und Weissen geachtet. Auch Johnson selbst kommt zu Wort: Er habe sich in Sicherheit gewiegt, bis er zufällig von seiner Infektion erfahren habe. Daraufhin zog er sich aus dem Profisport zurück, um sich der Aids-Prävention und der Hilfe für Aids-Kranke zu widmen. Die Erfahrungsberichte haben denn auch Eines gemeinsam: Alle Infizierten bzw. Kranken berichten, wie sie in einer aussichtslos scheinenden Situation neue Hoffnung geschöpft haben. Die Mehrheit engagiert sich in der Aids-Hilfe und -Aufklärung 27 | Etwa in Johnson, Earvin »Magic«: AIDS. Was du tun mußt, damit du es nicht kriegst, wenn du es tust. Hamburg 1993. (Original: What you can do to avoid AIDS. New York 1992).

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und findet hier durch die neue Aufgabe einen neuen Lebenssinn, Hoffnung und Kraft im Kampf gegen die eigene Erkrankung. So berichten Antigone, 23: In die Gruppe zu gehen, gab mir neuen Mut. […] Obwohl sich mein Leben im letzten Jahr entscheidend verändert hat, habe ich neue Ziele und neue Hoffnungen gefunden. 28 Bill, 24: Und ich weiß jetzt, wie ich anderen HIV-Positiven helfen kann. Man muß sich mit ihnen identifizieren […] mit ihren Gefühlen, mit dem, was sie durchmachen. Wir müssen finden, was uns verbindet. 29 Elizabeth, 44: In meinem Fall entschieden sich zwei meiner Freunde dazu, gemeinsam mit mir eine Stiftung für Kinder mit Aids zu gründen. […] Ich bin stolz darauf, einer Situation, die mir so vollkommen aussichtslos erschien, etwas so Positives abgewonnen zu haben. 30

Der Dienst an der Gemeinschaft wird so zum sinngebenden Moment und macht zugleich die Aids-Kranken gesellschaftlich akzeptabel und damit integrationswürdig. Im Unterschied zu den Darstellungen aus dem deutschsprachigen Raum werden im Buch von Johnson keine genderspezifischen Sinngebungs- bzw. Coping- und Passing-Verfahren unterschieden. Im Gegenteil: Durch die hohe Bewertung der gruppenbezogenen Tätigkeiten und des Engagements für andere erscheinen die Grenzen zwischen den Rassen, Klassen und Geschlechtern nahezu nivelliert.

»C OMMON THRE ADS « – K R ANKHEITSVERTEILUNG UND G ENDERING Diese Beobachtung lässt sich auch in Bezug auf das US-amerikanische »Names Project« machen, das in dem Dokumentarfilm »Common Threads. Stories from the Quilt« von 1989 präsentiert wird.31 Zunächst werden Menschen mit HIV oder Aids bzw. deren Hinterbliebene vorgestellt. Sie stammen alle aus unterschiedlichen sozialen Gruppen: ein bluterkranker Junge, ein Vater, der dunkelhäutig 28 | Johnson 1993, S. 49-50. 29 | Johnson 1993, S. 112. 30 | Johnson 1993, S. 128. 31 | Common Threads. Stories from the Quilt. Regie: Robert Epstein und Jeffrey Friedman, USA 1989, 80 Min. Farbe.

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und drogenabhängig ist, ebenso wie ein hellhäutiges, homosexuelles Männerpaar. Für das »Names Project« gestalten die Hinterbliebenen oder die Kranken selbst ein großes Stück Stoff. Die einzelnen Stücke werden aneinander genäht und das ganze Quilt zu bestimmten Anlässen zeremoniell entrollt (Abb. 6 und 7). In dem Projekt und in dem Dokumentarfilm werden das gemeinsame Leiden und Kämpfen aller von Aids Betroffenen als Coping-Strategie und gesellschaftlicher Wert vermittelt. Das Projekt wie auch der Film zielen auf die Integration unterschiedlicher sozialer Gruppen und damit die Schaffung von Solidarität unter Aids-Kranken und Gesunden. Als konstituierendes Moment der Gemeinschaft fungiert, dass die Beteiligten von dem gleichen Problem betroffen sind, sich auf dieser Ebene gleichwertig begegnen und sich gegenseitig unterstützen.

Abb. 6 und 7: Die zeremonielle Entrollung des Aids-Quilts. Standbilder aus dem Dokumentarfilm »Common Threads. Stories from the Quilt«, USA 1989.

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Die Konstituierung einer Gemeinschaft von HIV-Infizierten, Aids-Kranken, deren Angehörigen, Freundinnen und Freunden sowie der Hinterbliebenen von Aids-Toten wird im Rahmen des »Names Projects« durch zeremonielle Entrollungen des Aids-Quilts manifestiert. Der Film »Common Threads« zeigt in der längeren Schlusssequenz eine dieser Entrollungen. Die Gleichheit und der Zusammenhalt der von Aids Betroffenen wird auf verschiedene Weise hergestellt: Alle Teilnehmenden tragen weiße Kleidung. Sie fügen sich in eine Choreografie, bei der Gruppen von je acht Personen einen Teil des Quilts nach einem bestimmten Bewegungsmuster entfalten. Am Beginn der Entrollung eines Teils des Quilts halten sich die acht Personen an den Händen. Am Schluss, wenn alle Teile entfaltet auf dem Boden liegen, stellen sich alle Teilnehmenden entlang des äußeren Randes des gesamten Quilts auf und halten sich an den Händen. Während der Entrollungszeremonie verlesen weitere Beteiligte die Namen von ihren Angehörigen und Freunden, die an Aids gestorben sind. Der Film »Common Threads« dokumentiert diese choreografierte, zeremonielle Entrollung des Aids-Quilts. Darüber hinaus werden die filmischen Mittel so eingesetzt, dass sie die wirkungsästhetische Stoßrichtung des »Names Projects« unterstützen. Zunächst werden in einer Totale die Vorbereitungen für die Entrollung des Quilts gezeigt.32 Es folgen mehrere ähnlich aufgebaute Sequenzen, in denen die Choreografie der Entfaltung der einzelnen Quilt-Teile in der Halbtotale bzw. der Amerikanischen Einstellung und im Wechsel damit Großaufnahmen der Gesichter der Beteiligten gezeigt werden. In dieser Schnittdramaturgie vermitteln die Großaufnahmen die individuelle Betroffenheit aller Beteiligten. Die Kamera zeigt – analog zur Auswahl der davor im Film porträtierten Personen – abwechselnd Männer und Frauen und Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und verschiedenen Alters. Die größeren Einstellungen zeigen diese Einzelpersonen als homogene Gruppe, die sich nach einem gemeinsamen Rhythmus bewegt. Am Schluss dieser Filmsequenz steht eine Weitaufnahme des gesamten entrollten Quilts, das eine riesige Fläche einnimmt. In dieser Einstellung sind kaum mehr einzelne Menschen zu erkennen; die Personengruppe und die Stoffpanels verschmelzen miteinander. Dergestalt präsentiert der Film die Beteiligten des »Names Projects« als solidarische Gruppe von Menschen, die Klassen-, Rassen-, Alters- und Geschlechtergrenzen nivelliert. Diese vordergründig scheinbar nicht geschlechtsbezogene Darstellung von Aids in dem Film erweist sich bei genaueren Hinsehen als durchaus vergeschlechtlicht: Unter den porträtierten Aids-Kranken ist keine Frau. Frauen treten ausschließlich als Hinterbliebene in Erscheinung, die sich mehrheitlich 32 | Die Definition der Einstellungsgrößen folgt Kuchenbuch, Thomas: Filmanalyse: Theorien – Methoden – Kritik. Wien, Köln und Weimar 2005, S. 44f.

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durch ihre Rolle als aufopferungsvolle Mütter qualifizieren. Die porträtierten Aids-kranken Männer werden als liebende Väter gezeigt, um sie als gesellschaftlich integrationswürdig zu qualifizieren. Eine der wenigen kinderlosen Ausnahmen bildet ein homosexueller Mann, ein hochrangiger Angehöriger des Militärs. Seine militärische Tätigkeit wird als gesellschaftlicher Beitrag dargestellt. Vordergründig akzentuiert die Darstellung also den Wert der Gemeinschaft. Der Film zeigt aber eine Krankheits- und Sterbeverteilung, die Aids als Männerkrankheit erscheinen lässt. Im Hintergrund werden damit GenderKonzepte axiologisch wirksam, die die bürgerliche Kleinfamilie mit Kindern und den Fortpflanzungsbeitrag eines und einer jeden als integrativen Wert re-aktualisieren. Ähnlich wie bei Christina Vogel und in »Jo« wird die gesellschaftliche Integration von Aids-Kranken in »Common Threads« an die Affirmation eines dominanten, wertkonservativen Diskurses gebunden.

F A ZIT Die Untersuchung des Materials ergibt folgende Ergebnisse: Alle hier vorgestellten Darstellungen zielen persuasiv auf die Akzeptabilität von Infizierten und Kranken (Passing) und bieten Sinngebungsverfahren im Umgang mit Aids für die Kranken an (Coping). Wie die Untersuchung gezeigt hat, eignen sich die Darstellungen nicht nur Material aus der Medizin an, sondern überformen dieses teilweise auch mit literarischen Topoi. Diese Überformung kann wie im Fall des Infektionsursprunges bei Christina Vogel oder der männlichen Schwangerschaft von Napoleon Seyfarth dem Medizindiskurs widersprechen. Die jeweilige Plotstrukturierung und Metaphernbildung ermöglicht eine sinnstiftende und versöhnliche Erzählung. Die Darstellungen weisen Referenzen auf ihr gesellschaftliches Umfeld und die dort vorherrschenden kulturellen Werte auf. Im deutschsprachigen Raum steht eher die individuelle Bewältigung des Leidens im Mittelpunkt, während in den USA die Partizipation an Gemeinschaften als Coping- bzw. Passing-Strategie präferiert wird. Entsprechend wählen die Darstellungen unterschiedliche Topoi aus. Die Protagonistinnen und Protagonisten der deutschsprachigen Darstellungen sind Einzelpersonen, die als ›gute Kranke‹ Sinngebung und Coping erreichen. Im Unterschied dazu steht in den Darstellungen aus den USA das Engagement in und für die Gruppe im Zentrum. Die Funktion der Darstellungen ist aber jedes Mal die gleiche: Aushebelung des Schulddiskurses und Integration der Infizierten. Die Texte rücken die positive Darstellung von Aids-Kranken in den Mittelpunkt, um eine persuasive Wirkung für die Integration von Infizierten und Kranken zu erzeugen. Was jedoch

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das Positive und Werthafte ausmacht, ist jeweils vom kulturellen Kontext abhängig. Die Entscheidung für die eine oder andere genderdifferenten Erzählweise hängt von ihrer Anschließbarkeit an kulturell vorhandene Axiologien ab. Die jeweiligen Gendering-Strategien referieren ebenso auf differierende, in der jeweiligen Kultur etablierte Darstellungsformen und Topoi. In Europa sind dies eher die auf die Frau als Mutter und die auf individuelle Erfahrung fokussierte Erzählung sowie die versöhnliche Metapher des Sterbens als Gebären. In den USA schließen sich die Narrationen an die Kultur der politisch und gesellschaftlich partizipierenden Communities an. Hier steht das aktive, Geschlechter-, Rassen- und Klassengrenzen nivellierende Engagement als Coping-Struktur im Zentrum. Es gilt, sich für die Community einzusetzen. Im Gegenzug dafür ist caritative Zuwendung zu erwarten. Wenn ein Text oder Film sich in den Integrationsdiskurs einschreiben will, sind nur bestimmte Erzählweisen geeignet. In der Verteilung der Rollen sind Frauen als trauernde Hinterbliebene und aufopferungsvolle Mütter zu sehen, während Männer an Aids erkranken, sich aber durch gesellschaftliches Engagement integrieren. Das horizontal ausgerichtete, gemeinschaftliche Netz der US-amerikanischen Aids-Community ist familial strukturiert. Auf der Ebene dieser familialen Gemeinschaftsstruktur werden bürgerlich-konservative Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfe der liebenden und aufopfernden Mütter und Väter reinszeniert. Im deutschsprachigen Raum ist mit der Imitatio Christi und der im Christentum läuternden und daher positiv besetzten Leidenserfahrung eine vertikale Erlösungsperspektive verbunden. Demgegenüber stellt der Bezug auf die soziale Gemeinschaft in den USA eher eine horizontale Erlösungsperspektive dar. Sowohl die untersuchten deutschsprachigen als auch die US-amerikanischen Aids-Darstellungen affirmieren also letztlich wertkonservative Geschlechternormen, während sie zugleich auf die Integration von HIV-Infizierten und Aids-Kranken abzielen. Der gesellschaftlichen Integration der Betroffenen geht die Integration der Darstellungen in einen wertkonservativen Gender-Diskurs voraus.

L ITER ATUR UND Q UELLENVERZEICHNIS Berg, Henk de: Kunst kommt von Kunst. Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft. In: Berg, Henk de und Schmidt, Johannes (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Frankfurt a.M. 2000, S. 175-221. Common Threads. Stories from the Quilt. Regie: Robert Epstein und Jeffrey Friedman, USA 1989, 80 Min. Farbe.

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Derib [d. i. Claude de Ribaupierre]: Jo. Genf u.a. 1991. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1992. Hacking, Ian: Was heißt ›soziale Konstruktion‹? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften. Frankfurt a.M. 1999. (Original: The Social Construction of What? Cambridge 1999). Johnson, Earvin »Magic«: AIDS. Was du tun mußt, damit du es nicht kriegst, wenn du es tust. Hamburg 1993. (Original: What you can do to avoid AIDS. New York 1992). Kuchenbuch, Thomas: Filmanalyse: Theorien – Methoden – Kritik. Wien, Köln und Weimar 2005. Lakoff, George und Johnson, Mark: Metaphors We Live by. Chicago 1980. Lakoff, George und Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought. New York 1999. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1984. Pulver, Marco: Der Tribut der Seuche oder: Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung. Eine Rekonstruktion des AIDS-Diskurses vor dem Hintergrund von Studien zur Historizität des Seuchendispositivs. Frankfurt a.M. u.a. 1999. Schappach, Beate: Aids in Literatur, Theater und Film. Zur kulturellen Dramaturgie eines Störfalls, Zürich 2012. Seyfarth, Napoleon: Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod. München 1996. Sommer, Roy: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: Berchem, Theodor u.a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge, Bd. 41, Berlin 2000, S. 319341. Stanzel, Franz K. Theorie des Erzählens. Göttingen 2001. Vogel, Christina: Denn niemand kennt die Stunde. 20 Jahre überleben mit dem Aidsvirus. Basel 2003. www.christinavogel.ch, 24.5.2009. Vogel, Christina: Die geschenkte Zeit. Basel 1991. Vogel, Christina: Es ist wunderbar, leben zu dürfen. Der Lebensweg einer jungen aidskranken Mutter. Basel 1989. Wrede, William: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums. Göttingen 1969.

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Krankheit, Sexualität und Tod Zur Darstellung des Identitätsfindungsprozesses in Patrick Kokontis’ Erzählung »Entgleisungen« Ruth von Rotz

1. E INLEITUNG Ziel der vorliegenden Untersuchung ist eine Analyse der Darstellung des Identitätsfindungsprozesses, den der Protagonist in der 2001 erschienenen Erzählung »Entgleisungen« durchläuft.1 Der Titel dieser Erzählung ist doppeldeutig: Es wird nämlich geschildert, wie sich der Protagonist Pavlos an einem stürmischen Tag während einer Zugfahrt, in der der Zug beinahe entgleist, seinen sprunghaften Reflexionen, seinen gedanklichen Entgleisungen sozusagen, hingibt. Diese handeln hauptsächlich von seiner eigenen Krankheitserfahrung mit Aids, seinen ersten sexuellen Erlebnissen, vom Aidstod seines Ex-Freundes, vom Krebstod seines letzten Freundes und von seiner eigenen Identitätsfindung. Dass das Problem der Identität und Rollenfindung ein zentrales und schwieriges Thema dieser Erzählung ist, belegt eine Stelle, in der geschildert wird, dass der Protagonist glaubt, erste Anzeichen einer Erkrankung festzustellen und es in der Folge zu einer Auseinandersetzung mit der Frage nach seiner Identität kommt. Als Pavlos eines Abends mit Kollegen im Kino sitzt, spürt er eine beklemmende Enge, worauf er das Kino nach der Halbzeit frühzeitig und überstürzt verlassen muss. Die ihn aus dem Kino treibende Kraft wird als »zweites Gesicht« und als »Fratze« beschrieben: Das zweite, sein zweites Gesicht zeigte sich nun, verhöhnte, verlachte ihn und prügelte ihn aus dem Saal. […] Er verlor jede Kontrolle. Als könnte er entkommen, rannte Pavlos drauflos, fuchtelte abwehrend mit den Armen, doch die Fratze war mächtiger. Nach

1 | Kokontis, Patrick: Entgleisungen. Zürich 2001. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe und unter der Sigle »Entg« und Seitenzahl zitiert.

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hundert, zweihundert Metern hatte sie ihn eingeholt, stülpte sich über ihn und zwang ihn zu Boden. (Entg 36)

Als er wieder zu sich kommt, scheint sich etwas verändert zu haben: »Er war ein anderer, der da zu sich kam […].« (Entg 36) Auch später noch, als Pavlos schon zu Hause ist, beschäftigt ihn das zuvor im Kino und auf dem Nachhauseweg Erlebte nochmals nachhaltig: Zu Hause dann stand er minutenlang vor dem Badezimmerspiegel und studierte den jämmerlichen Kerl, der ihm da entgegen starrte, bis dieser in die Stille hinein sagte: – DU hast AIDS. Es sollte noch eine schwierige Zeit verstreichen, bis er endlich ICH sagen konnte. Das Leben begann. (Entg 37)

Wie der Erzähler in eben zitierter Textstelle andeutet, gestaltet sich die Annahme des Ich für den »jämmerlichen Kerl« keineswegs als einfache Aufgabe. Ich zu sagen zu sich in seinem Zustand als Kranker bedeutet für ihn die schwierigste Prüfung, welche AIDS ihm früher als erwartet auferlegt. Die Wichtigkeit der Ich-Findung wird mit der unmittelbar angeschlossenen, gravitätisch wirkenden Erzähler-Ankündigung »[d]as Leben begann« unterstrichen. Es ist deshalb zu erwarten, dass das Thema der Identitätsfindung auch an anderen Stellen der Erzählung auftreten wird. Es gilt, im Folgenden den Text systematisch nach Spuren dieser »schwierige[n] Zeit« abzusuchen und deren Struktur und Bedeutung einer genauen Analyse zuzuführen. Folgende Fragen sind in diesem Zusammenhang zentral: Existieren Handlungs- und Entwicklungsschemata, mit denen sich die Identitätsfindung des Protagonisten systematisch erfassen und nachvollziehen lässt? Wie wird die Identitätsfindung des Protagonisten erzählerisch dargestellt? Wie wird dabei mit stereotypen Bildern von sozialen Gruppen verfahren? Werden diese Bilder übernommen und bestätigt oder als unbrauchbar entlarvt? Findet der Protagonist schließlich zu einer für ihn annehmbaren Identität und wenn ja, wie stellt der Text dies dar? Antwort auf diese Fragen wird unter Bezug verschiedener theoretischer Konzepte gesucht. In einem ersten Schritt soll auf ein Modell der Identitätsfindung und deren verschiedene Phasen eingegangen werden. Als nächstes werden der Begriff des Stereotyps und dessen Bedeutung für die Identitätsfindung erläutert. Sodann wird A. J. Greimas’ Modell der drei Prüfungen beigezogen und dessen Relevanz für die narrative Darstellung der Identitätsentwicklung aufgezeigt. Als Gegengewicht zu Greimas’ funktionalistischer Sicht auf Makrostrukturen des Plots wird schließlich mithilfe erzählanalytischer Methoden die literarische Gemachtheit des Texts untersucht. Durch eine systematische Zusammenführung und konsequente Weiterentwicklung der umrissenen Konzepte wird in der Folge gezeigt, wie das Problem der Identitätsfindung auf

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verschiedenen Ebenen mit jeweils unterschiedlichem Fokus greif bar wird. Das auf einer konsequenten Weiterentwicklung bestehender Ansätze basierende Modell wird dabei auf eine Auswahl von Textstellen angewendet, die die Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem Problem der Identitätsfindung aufzeigen und diese darüber hinaus auch in ihrer Prozesshaftigkeit sichtbar machen. Auf diese Weise wird der interessierende Gegenstand nicht einseitig, sondern von mehreren Seiten und durch Sichtweisen unterschiedlicher Detaillierungsgrade gleichzeitig beleuchtet. Dadurch soll eine präzise Beschreibung der Phasen ermöglicht werden, die der Protagonist bis zu einer für ihn annehmbaren Lösung der Aufgabe der Selbstfindung durchläuft. Als Resultat der Untersuchung wird sich u.a. herausstellen, dass Kokontis’ narrative Darstellung der Identitätsfindung eines Homosexuellen mit Aids sich in wesentlichen Aspekten von einem Konzept schwuler Identitätsfindung unterscheidet, das unmittelbar vor dem Bewusstwerden dieser Krankheit publiziert wurde.

2. B EGRIFFE , THEORIEN UND M E THODEN 2.1 Identität und Identitätsfindung Definition: In der Soziologie bezeichnet Identität »[…] das mit unterschiedlichen Graden der Bewusstheit und Gefühlsgeladenheit verbundene Selbstverständnis (Selbstgewissheit) von Personen im Hinblick auf die eigene Individualität, Lebenssituation und soziale Zugehörigkeit«.2 Die Identität eines Individuums ist allerdings nicht von vornherein gegeben, sondern entwickelt sich im Verlaufe der Zeit durch die Sozialisation, durch Interaktionen mit anderen und durch das Lernen von sozialen Rollen. Besonders wichtig für diese Entwicklung sind die Phasen der Pubertät und der Adoleszenz. Das Finden der eigenen Identität verläuft indes nicht zwingend linear, sondern wird durch Erfahrungen und besonders auch durch einschneidende Veränderungen in Bezug auf die Lebensgeschichte gelenkt, d.h. die Identitätsfindung ist einer verändernden Prozesshaftigkeit unterworfen. Konkret bedeutet dies, dass das Individuum herausgefordert wird, fortwährend an seinem Selbstbild zu arbeiten und Neues und Widersprüchliches in diese Entwicklung einzubeziehen. Diese Anpassungsforderung wird zusätzlich durch die sich ändernden gesellschaftlichen Bedingungen verstärkt.

2 | Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1994, S. 350.

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Social-Identity-Theor y Die Social-Identity-Theory trägt der Bedeutung Rechnung, die der Identitätsfindung für die menschliche Existenz zukommt und untersucht die Art und Weise, wie der Mensch sich bei der Entwicklung seines Selbstbildes an seiner Umwelt orientiert. Diese Theorie wurde in erster Linie von Henri Tajfel entwickelt.3 Die Annahmen der Theorie, die für die vorliegende Arbeit relevant sind, lassen sich wie folgt umreißen:4 1. Der Mensch empfindet das Bedürfnis, sich sich selbst zu denken. 2. Indem der Mensch sich selbst denkt, entwickelt er ein Ich-Konzept, eine mentale Repräsentation des Ich. Dieses Ich-Konzept wird dabei entweder innerhalb oder außerhalb von sozialen Kategoriekonzepten (z.B. Studenten, Banker, Homosexuelle etc.) angesiedelt. Dadurch gehen auch mit den entsprechenden Kategorien zusammenhängende Inhalte auf das Ich-Konzept über. 3. Da der Mensch positiv über sich selbst denken will, tendiert er auch dazu, diejenigen sozialen Gruppen, denen er sich zugehörig fühlt, positiv zu beurteilen und zu favorisieren. Es gilt m. a. W. der Regelfall, dass die InGroup oder Bezugsgruppe gegenüber der Out-Group oder Fremdgruppe besser bewertet wird. 4. Soziale Kategorien sind mentale Repräsentationen von Wirklichkeit, die in den in einer Kultur ablaufenden Kommunikationsprozessen erzeugt und vom Individuum verinnerlicht werden. Allerdings ist die Social-Identity-Theory auf Zustände orientiert und verlangt damit zusätzlich nach einem Modell, das der Prozesshaftigkeit der Identitätsfindung Rechnung trägt. Ein solches Modell wird in der Folge dargestellt.

Ein Phasenmodell der Identitätsfindung Das nachfolgend in seinen Grundzügen vorgestellte Phasenmodell wurde zur Erklärung des Coming-out-Prozesses entwickelt, den homosexuelle Männer durchlaufen.5 Die idealtypische Phasenabfolge erhebt allerdings den An3 | Tajfel, Henri: Social Categorization and Intergroup Behaviour. In: European Journal of Social Psychology, Nr. 1, 1971, S. 149-178; Tajfel, Henri: Human Groups and Social Categories. Studies in Social Psychology. Cambridge 1981. 4 | Vgl. dazu Telus, Magda: Gruppenspezifisches Stereotyp. Ein textlinguistisches Modell. In: Hahn, Hans H. u.a. (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt a.M. 2002, S. 98-100. 5 | Coleman, Eli: Developmental Stages of the Coming Out Process. In: Journal of Homosexuality, Nr. 7, 1982, S. 31-43. Vgl. dazu auch Rauchfleisch, Udo: Schwule, Lesben, Bisexuelle. Lebensweise, Vorurteile, Einsichten. Göttingen 1994, S. 76-116.

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spruch, mit Einschränkungen auch dem Prozess zu entsprechen, den alle Menschen in Bezug auf das Gewahrwerden ihrer sexuellen Orientierung und das Finden eines eigenen Lebensstils durchlaufen. Coleman geht im Jahr 1982 von einem Phasenmodell homosexueller Identitätsentwicklung aus, das nicht mit der Gefährdung durch Aids rechnet. Es wird im Folgenden anhand der Erzählung von Patrik Kokontis zu zeigen sein, wie die plötzliche Notwendigkeit, mit Aids zurechtzukommen, dieses Schema verändert. Coleman unterscheidet fünf Phasen, die sich durch charakteristische Erfahrungen auszeichnen: 1. Prä-Coming-out-Phase: Diese Phase umfasst die Zeit von der Geburt bis zu dem Moment, in dem das Individuum, in welchem eine homosexuelle Orientierung angelegt ist, seine Andersartigkeit bewusst wahrnimmt. Diese Andersartigkeit wird vornehmlich durch das in dieser Phase wichtige Lernen und Hinterfragen von sozialen Rollen und Verhaltensweisen, die als typisch männlich bzw. typisch weiblich gelten, bewusst. Diese Phase zeichnet sich allerdings oft auch dadurch aus, dass das Individuum mit homosexueller Orientierung negativ geprägte Homosexuellenbilder, die in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch vorherrschen, annimmt. Mögliche Folgen davon sind nicht nur Diskriminierungen anderer Homosexueller, sondern auch eine Beschneidung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten, da ein Annehmen der eigenen Persönlichkeit zunächst nicht möglich ist. 2. Coming-out-Phase: Den Beginn dieser Phase markiert die vom Individuum akzeptierte Gewissheit, homosexuell zu sein. Dazu äußert sich nun in der Regel auch der Wunsch, seine sexuelle Orientierung der Umwelt kundzutun. Der Weg zum Schritt in die Öffentlichkeit kann allerdings mit Zweifeln und Unsicherheit behaftet sein. Dazu kommt, dass sich die Frage, wem gegenüber und wann man von seiner sexuellen Orientierung sprechen will, bei neuen Bekanntschaften im Verlaufe des Lebens immer wieder stellt. Weiter zeichnet sich diese Phase durch eine Festigung und Differenzierung des Selbstbildes, durch die Ablösung vom Elternhaus, durch den Auf bau eines eigenen Freundes- und Bekanntenkreises, durch das Eingehen erster sexueller Beziehungen und durch Entscheidungen in Bezug auf Berufswahl und Lebensentwurf aus. Für junge Homosexuelle stellt sich dabei oft das Problem, dass positive homosexuelle Identifikationsmodelle aufgrund der vorherrschenden Stigmatisierung Homosexueller fehlen. Auch in dieser Phase werden darum negative Charakterisierungen Homosexueller von Homosexuellen selbst oft in ihr Selbstbild übernommen. 3. Explorative Phase: Auch diese Phase zeichnet sich durch die Festigung der eigenen Identität und der sozialen Rolle aus. Dazu gehört für das Individuum außerdem der Versuch, sich in seiner Identität in den verschiedenen Bereichen des Lebens zu erfahren und diese Bereiche auch bewusst zu gestalten. Dabei kann es auch vorkommen, dass Homosexuelle in dieser Phase Erfahrungen im Bereich der Sexualität aufgrund gesellschaftlichen Drucks in

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der so genannten Subkultur suchen. Erschwerend kommen in dieser Phase zusätzlich zum sozialen Druck die im Zusammenhang mit HIV und Aids ausgelöste Unsicherheit und Angst dazu. 4. Phase des Eingehens erster Beziehungen: In dieser Phase werden erste ganzheitliche, längere und stabilere Beziehungen eingegangen, in denen sowohl körperliche als auch seelische und emotionale Aspekte gleichermaßen eine Rolle spielen. Außerdem werden für die Partner gegenseitige Fürsorge, Anteilnahme und Unterstützung sowie das gemeinsame Bewältigen des Alltags wichtiger. 5. Integrationsphase, dauerhafte Paarbeziehung und höheres Lebensalter: In dieser Phase ist typischerweise eine Beziehung bestimmend, die für beide Partner eine hohe Verbindlichkeit und den Status einer dauerhaften Lebensgemeinschaft besitzt. Dieses Modell ermöglicht nun eine Zuteilung verschiedener Entwicklungsschritte in Bezug auf die Identität zu Phasen. Es ist allerdings zu beachten, dass dieses Modell stark verallgemeinert und lediglich idealtypische Verläufe beschreibt, die von Individuum zu Individuum verschiedene Ausprägungen aufweisen können. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, den Plot der von Patrick Kokontis erzählten Lebensgeschichte eines homosexuellen Mannes so weit wie möglich mit Hilfe dieses Phasenmodells zu strukturieren. Dabei wird sich allerdings zeigen, dass Ziel und Dynamik der Identitätsentwicklung sich radikal ändern, wenn Aids das Erreichen der fünften Phase verunmöglicht.

2.2 Stereotyp und Stereotypentheorie Definition: Der Beginn der Stereotypenforschung wird oft bei Walter Lippmann6 angesetzt, der den Begriff als erster wissenschaftlich zu fassen versuchte.7 Allerdings ist Lippmanns Verwendung des Begriffs noch sehr unscharf. Eine eigentliche Definition fehlt; es werden lediglich Hinweise auf mögliche Verwendungsweisen des Begriffs gegeben, so z.B. beschreibt Lippmann das

6 | Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung. München 1964. 7 | In diesem und in den folgenden Teilen des Unterkapitels 2.2 wird Bezug genommen auf die Ausführungen in: Hahn, Hans H. und Hahn, Eva: Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung. In: Hahn, Hans H. u.a. (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt a.M. 2002, S. 17-56; Hillmann 1994, S. 842-843; Quasthoff, Uta: Soziales Vorurteil und Kommunikation. Eine sprachwissenschaftliche Analyse des Stereotyps. Frankfurt a.M. 1973, S. 17-29; Schaff, Adam: Stereotypen und das menschliche Handeln. Wien und München 1980, S. 27-54.

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Stereotyp als »Welt unserer Erwartungen«,8 als »Weltbild«9 oder als »Projektion unseres Wertbewusstseins«.10 Heute liegen verschiedene Verwendungsweisen und Definitionen des Begriffs vor. Es ist jedoch nicht Aufgabe der vorliegenden Untersuchung, die verschiedenen Definitions- und Verwendungsvorschläge im Einzelnen vorzustellen und voneinander abzugrenzen. An dieser Stelle soll eine grobe Einteilung in die zwei sich hauptsächlich abzeichnenden Verwendungsweisen genügen: Auf soziologischer, sozialpsychologischer und geschichtswissenschaftlicher Seite findet vorrangig die Verwendung des Stereotypenbegriffs als kollektiv geteilte Überzeugung, als »verfestigte Vorstellung«,11 »verfestigte Redeweise«12 und »Werturteil«13 Verwendung, während sich die linguistische Stereotypenforschung i. A. eher auf die konkrete sprachliche Realisation, auf das Zuschreiben und Übertragen von Eigenschaften und Überzeugungen auf bestimmte Personengruppen oder einzelne Gruppenmitglieder konzentriert.14 Da in der vorliegenden literaturwissenschaftlichen Analyse notwendigerweise der Text sowohl Untersuchungsgegenstand als auch Referenzbasis ist, scheint der sprachwissenschaftliche Zugang geeignet zu sein. In dieser Untersuchung interessieren jedoch nicht nur die Zuschreibungsrelationen an sich, sondern es wird auch auf die Funktion dieser Zuschreibungen im Prozess der Identitätsfindung und auf ihnen zugrunde liegende Vorstellungen eingegangen. Deshalb soll eine Synthese der beiden Zugangsarten erfolgen, wobei der Begriff des Stereotyps folgendermaßen definiert wird: Ein Stereotyp ist eine sozialen Gruppen oder einzelnen Mitgliedern sozialer Gruppen zugeschriebene, auf wenige Orientierungspunkte reduzierte und unabhängig von allfälligen gegenteiligen Erfahrungen längerfristig unveränderte Vorstellung über deren Wesens- und Verhaltensmerkmale.15 Außerdem soll auch klar unterschieden werden zwischen Auto- und Heterostereotyp: Ein Autostereotyp richtet sich auf einzelne oder alle Mitglieder derjenigen sozialen Gruppe oder Gruppen, der oder denen sich ein Individuum zugehörig fühlt, ein Heterostereotyp hingegen zielt auf einzelne oder alle Mitglieder von sozialen Gruppen ab, in die sich ein Individuum nicht einordnet. 8 | Lippmann 1964, S. 78. 9 | Lippmann 1964, S. 79. 10 | Lippmann 1964, S. 80. 11 | Hillmann 1994, S. 842; Imhof, Michael: Stereotypen und Diskursanalyse. Anregungen zu einem Forschungskonzept kulturwissenschaftlicher Stereotypenforschung. In: Hahn, Hans H. u.a. (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt a.M. 2002, S. 61. 12 | Hahn und Hahn 2002, S. 18. 13 | Schaff 1980, S. 31. 14 | Quasthoff 1973; Telus 2002. 15 | In Anlehnung an: Quasthoff 1973, S. 28; Hillmann 1994, S. 842-843.

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Bedeutung von Stereotypen für die Identitätsfindung Stereotype erfüllen für die Selbstbildentwicklung des Individuums wichtige Funktionen, die teilweise auch in die Annahmen der Social-Identity-Theory und, wenn auch weniger offensichtlich, in die Entwicklung des Phasenmodells der Identitätsfindung eingeflossen sind (vgl. 2.1).16 An dieser Stelle sollen die Funktionen von Stereotypen, die in der vorliegenden Untersuchung eine Rolle spielen, kurz erläutert werden. Dabei wird auch auf Parallelen zur Social-Identity-Theory hingewiesen. Stereotype fungieren als Beurteilungs- und Orientierungshilfe in der sozialen Welt und ermöglichen es dem Individuum, diese anschaulich in Kategorien (z.B. Homosexuelle, Banker, Studenten) einzuteilen und damit gleichzeitig Klarheit über die Position der eigenen Person zu schaffen.17 Verbunden mit einer Einteilung ist allerdings immer auch eine Wertung der wahrgenommenen oder zugeschriebenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiedenen sozialen Kategorien. Resultat dieser Wertung ist in den meisten Fällen eine Herausbildung eines positiven Autostereotyps und neutraler bzw. negativ konnotierter Heterostereotype.18 Diese Auto- und Heterostereotype wiederum erfüllen eine wichtige soziale Funktion, wirken sie doch sowohl integrativ als auch ausgrenzend, d.h. sie bezeichnen Gruppen nicht nur, sondern sie sind auch maßgeblich an der Festigung von Gruppenkonzepten beteiligt, da sie zugeschriebene Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen deutlich zutage treten lassen. Auto- und Heterostereotype erfüllen noch eine zweite wichtige Funktion: Sie treten oft nicht zusammen, sondern allein auf, implizieren jedoch das jeweils andere Stereotyp. Je nach Kommunikationssituation oder Kontext ergeben sich dabei für das geäußerte und das evozierte Stereotyp verschiedene Funktionen. Dabei ist oft zu beobachten, dass bei der Äußerung eines negativen Heterostereotyps ein positives Autostereotyp mitgedacht ist: Schreibt z.B. ein Schweizer den Franzosen Überheblichkeit zu, erklärt er in aller Regel, wenn auch unausgesprochen, die Schweizer für nicht überheblich, also für bescheiden.19 Die Funktion, die die Äußerung dieses negativen Heterostereotyps hat, ist in diesem Falle wahrscheinlich eine Unterstreichung oder Präzisierung der Werte der eigenen Gruppe. Wird hingegen ein positives Heterostereotyp benutzt, hat das implizierte, wenn auch unausgesprochene Autostereotyp wohl eher eine negative Prägung. Entsprechend ändert sich die Funktion der stereotypen Zuschreibung, die in diesem Falle zu Veränderung auffordernden oder kritisierenden Charakters sein könnte. Allerdings ist bei 16 | In diesem Teil des Unterkapitels 2.2 wird speziell Bezug genommen auf die Ausführungen in: Hahn und Hahn 2002, S. 27-32; Hillmann 1994, S. 842-843. 17 | Vgl. 2.1, Punkt 3. 18 | Vgl. 2.1, Punkt 4. 19 | In Anlehnung an: Hahn und Hahn 2002, S. 31-32.

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solchen Generalisierungen Vorsicht geboten, bedarf es doch immer einer eingehenden Prüfung des Kontexts, um allfällige Implikationen und Funktionen der jeweiligen Zuschreibungen zu beurteilen. Eine eingehende, den jeweiligen Kontext berücksichtigende Analyse des Zusammenspiels von Auto- und Heterostereotypen in Stereotypenuntersuchungen kann jedoch erkenntnisfördernd sein.

2.3 Greimas’ Modell der drei Prüfungen Algirdas Julien Greimas’ Modell der drei Prüfungen basiert auf einer systematischen, kritischen Weiterentwicklung von Vladimir Propps Theorie des Volksmärchens.20 Propp untersuchte ein Korpus von einhundert russischen Zaubermärchen und gelangte zu der Einsicht, dass in diesen Märchen oft nur die Namen und Attribute der handelnden Personen wechselten, dass jedoch ihre Aktionen und die damit verbundenen Funktionen, d.h. ihre Bedeutung für den Gang der Handlung, gleich blieben. Aufgrund dieser Erkenntnis entwickelte Propp eine funktionalistische Methode für die Märchenanalyse, deren Kernstück eine auf 31 Funktionen reduzierte Handlungsstruktur ist, die allen untersuchten Märchen zugrunde liegt, manchmal zwar mit Auslassungen oder Wiederholungen einzelner Funktionen, jedoch stets in Wahrung der Reihenfolge.21 Kritiker werfen Propp allerdings vor, sein Funktioneninventar sei zu wenig abstrahiert.22 Diese Kritik nahm Greimas zum Anlass, das Modell weiterzuentwickeln. Dazu reduzierte er die anfänglich 31 Funktionen auf 20, indem er einige paarweise anordnete. Nach dieser Reduktion teilte er die verbleibenden Funktionen nach ihrem semantischen Inhalt in die fünf Kategorien »Kontrakt«, »Kampf«, »Kommunikation«, »Anwesenheit« und »Dislokation« ein.23 Die Kategorien »Kontrakt«, »Kampf« und »Kommunikation«, ihrerseits wiederum in zwei aufeinander folgende Handlungen oder Vorgän20 | Greimas, Algirdas J.: Sémantique structurale. Recherche de méthode. Paris 1966. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Literatur als Kunst, Nr. 131, Frankfurt a.M. 1972. In diesem Kapitel wird Bezug genommen auf die Ausführungen in: Kim, Taehwan: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas. Tübingen 2002, S. 1-43. 21 | Zur Illustration seien an dieser Stelle einige Funktionen als Beispiele genannt (Kim 2002, S. 27-28): »Dem Helden wird ein Verbot erteilt«, »Das Verbot wird verletzt«, »Der Held verlässt das Haus«, »Der Held gelangt in den Besitz des Zaubermittels«, »Der Held und sein Gegner treten in einen direkten Zweikampf«, »Der Held vermählt sich und besteigt den Thron«. 22 | Z.B. Lévi-Strauss, Claude: Structure and Form. Reflections on a Work of Vladimir Propp. Theory and History of Literature, Nr. 5, Minneapolis 1984, S. 183. 23 | Greimas 1966, S. 194.

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ge aufgeteilt, fasste er als einheitlichen Prozess auf, den er als »Prüfung« bezeichnete.24 Schematisch könnte dieser Prozess folgendermaßen dargestellt werden:25 1. Kontrakt

1.1 Aufforderung 1.2 Annahme

Prüfung: 2. Kampf

2.1 Konfrontation 2.2 Gelingen

3. Kommunikation

3.1 Emission 3.2 Empfang

Greimas’ Modell basiert auf der Annahme, dass Propps Handlungsschema aus drei Arten von Prüfungen besteht, die sich hauptsächlich in Bezug auf das unter »Kommunikation« dargestellte Resultat unterscheiden: Bei der »Qualifizierenden Prüfung« empfängt der Märchenheld ein Zaubermittel. Bei der »Hauptprüfung« wird alsdann mithilfe dieses Zaubermittels ein anfangs festgestellter Mangel aufgehoben. Die »Glorifizierende Prüfung« schließlich dient dazu, die in der Hauptprüfung durch den Helden erreichte Macht erneut zu demonstrieren oder zu unterstreichen.26 Gemäß Greimas sind diese drei Prüfungen allerdings nicht nur für das Märchen, sondern auch für die menschliche Lebensgeschichte entscheidend. Sie geben als kanonisches narratives Schema den Rahmen vor, in dem das Individuum geheißen wird zu handeln und dabei sich selbst zu entdecken. Kim weist indes darauf hin, dass die drei Prüfungen nicht chronologisch aufeinander folgen, sondern dass sie eine hierarchische Struktur bilden, in der die Qualifizierende und die Glorifizierende Prüfung der Hauptprüfung untergeordnet sind: Die Qualifizierende Prüfung bereitet auf die Hauptprüfung vor und die Glorifizierende Prüfung dient als Verfahren für die Anerkennung der in der Hauptprüfung erbrachten Leistung.27 Überträgt man diesen Gedanken auf die menschliche Lebensgeschichte, erscheint die von Greimas postulierte Entdeckung des Selbst als 24 | Greimas 1966, S. 194. 25 | Es ist allerdings zu beachten, dass die einzelnen Handlungen oder Vorgänge nicht immer verbalisiert sein müssen, jedoch trotzdem mitgedacht sind. So setzt z.B. das Gelingen eine Konfrontation mit einer Aufgabe voraus, auch wenn diese im Vorfeld nicht zur Sprache kommt. 26 | Greimas 1966, S. 197. 27 | Kim 2002, S. 42-43.

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Hauptprüfung, die ihrerseits entscheidend von der Qualifizierenden Prüfung vorbereitet wird, indem dem Individuum ein Mittel in die Hand gegeben wird, mithilfe dessen es die Hauptprüfung zu lösen vermag. Die Glorifizierende Prüfung dient dann dazu, die in der Hauptprüfung erarbeitete Lösung zu bestätigen und ihre Relevanz zu betonen. Nicht nur Propps Theorie, sondern auch Greimas’ Arbeiten werden v.a. im erzähltheoretischen Kontext immer wieder kritisiert mit dem Hinweis, ihr Fokus liege zu sehr auf der handelnden Instanz und lasse die erzählerische Gemachtheit eines Texts gänzlich außer Acht.28 Es sei deshalb im folgenden Unterkapitel auch ein Modell vorgestellt, das der Art und Weise des Erzählens Rechnung trägt und Greimas’ Modell ergänzen kann.

2.4 Erzähltheorie Dieser Ansatz fußt auf der Gegebenheit, dass fiktionale Texte von einem durch den Autor eingesetzten Medium, der erzählenden Instanz, vermittelt werden.29 Der Fokus der Erzähltheorie liegt deswegen weniger auf der handelnden als auf der erzählenden Instanz; sie fragt nach der erzählerischen Gemachtheit eines Texts und setzt diese in Beziehung zum Leser. Dies erfordert die Untersuchung des Verhältnisses der erzählenden Instanz (des Narrators) zum Erzählten und zu den im Text auftretenden Figuren und die daraus sich ergebenden Implikationen für den Leser. Das Verhältnis des Erzählers zum Erzählten bzw. zu den Figuren kann anhand verschiedener Dimensionen erfasst werden, zeigt sich allerdings am deutlichsten in der Wahl des Erzählverhaltens, das im Wesentlichen drei Ausprägungen kennt: 1. Auktoriales Erzählverhalten: Der Erzähler greift selbst ins Erzählte ein, indem er seine Meinungen, kritischen Kommentare und Reflexionen, d.h. seine eigene Sichtweise, darlegt. 2. Personales Erzählverhalten: Der Erzähler schildert das Geschehen aus der Sicht der Figur. Dies zeigt sich besonders deutlich als Erlebte Rede (Gedankenpräsentation aus Figurensicht) und als Innerer Monolog (Gedankenpräsentation, die sich der Ich-Form bedient und oft im Präsens dargeboten wird). 3. Neutrales Erzählverhalten: Der Erzähler berichtet sachlich-objektiv, er rückt weder die eigene Sicht noch die der Figur in den Vordergrund. Das Erzählverhalten wiederum erlaubt Rückschlüsse auf die Haltung, die wertende Einstellung des Erzählers zum Erzählten und zu den Figuren. Entsprechend dieser Haltung wird schließlich auch der Leser positioniert: Nimmt 28 | Z.B. Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994, S. 200-201. 29 | In diesem Unterkapitel wird Bezug genommen auf die Ausführungen in: Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart 1993, S. 1-93.

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der Erzähler gegenüber Erzähltem und Figuren eine kritische Haltung ein, verhält er sich also auktorial oder ist er gar ironisch, so wird auch der Leser dieser Haltung folgen. Berichtet der Erzähler hingegen aus der Sicht der Figur, ohne sich von dieser Sicht mit eigenen Kommentaren zu distanzieren, wird es auch dem Leser ermöglicht, diese Perspektive einzunehmen, d.h. sozusagen in die Figur hineinzuschlüpfen und mit den Augen der Figur zu sehen. Entsprechend wird der Leser schließlich auch einer neutralen Haltung des Erzählers, in der er weder die eigene Sichtweise noch die der Figur hervortreten lässt, folgen. Dabei ist zu beachten, dass das Erzählverhalten innerhalb eines Textes zwischen den genannten Positionen wechseln kann. Je nach Erzählverhalten, das der Erzähler in einem Textausschnitt an den Tag legt, ergeben sich für den Leser somit andere Hinweise darauf, wie Erzähler und Erzähltes bzw. Figur zueinander stehen. Dieser Zugang eröffnet dem Leser Einblicke in wirkungsästhetische Steuerungsstrategien von Texten, die ihm bei einer Konzentration auf die handelnden Instanzen verwehrt bleiben. Die Erkenntnisse der Erzähltheorie werden deshalb in der vorliegenden Untersuchung als Ergänzung zu dem auf semantische Makrostrukturen zurückgreifenden Ansatz von Greimas verwendet.

3. A NALYSE AUSGE WÄHLTER TE X TSTELLEN Um eine Beantwortung der eingangs gestellten Fragen zu ermöglichen, sind Textstellen oder Textstellenkomplexe aus »Entgleisungen« zu untersuchen, die die Auseinandersetzung des Protagonisten mit dem Problem der Identität dokumentieren und dieses darüber hinaus auch als Prozess, als Entwicklung sichtbar machen. Dazu soll auf das unter 2.1 vorgestellte Modell zurückgegriffen werden, das eine Einteilung der Identitätsentwicklung in verschiedene Phasen ermöglicht und diese damit systematisch fassbar macht. Zur Illustration der Prozesshaftigkeit der Identitätsfindung wird pro Phase eine Stelle oder ein Stellenkomplex angeführt und deren bzw. dessen Einordnung in die entsprechende Phase zu begründen versucht. Im Anschluss daran werden die ausgewählten Textstellen oder Textstellenkomplexe unter Bezug der im zweiten Kapitel dargestellten Begriffe, Theorien und Methoden analysiert.

3.1 Orientierung an stereotypen Bildern Als inhaltliche Schlüsselstelle der Prä-Coming-out-Phase kann jene Szene betrachtet werden, in der dargestellt wird, wie sich der Protagonist in einer Londoner Bar an der sich ihm präsentierenden Ausprägung der schwulen Subkultur stößt:

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[…] jedesmal, wenn Dornröschen nach langen Irrwegen in den wirren Gedärmen der Tube an der richtigen Station ausgestiegen war, wo sich nach den Anweisungen des Reiseführers aus dem Sexshop ganz in der Nähe die ominösen Bars und Kneipen befinden mussten, begann ein neues, diesmal aber ergebnislos ablaufendes Herumirren. Denn Dornröschen war beim Träumen blind und sein Kokon noch zu hart und stachelig, als dass ein Prinz sich daran versucht hätte. Einzig am dritten Tag, als er seine enervierende Suche mit ziel- und lustlosem Herumschlendern vertauscht hatte und sich der ersten Novemberdepression seines Lebens statt einem Liebhaber ergeben hatte, landete er nachmittags um zwei in einer zweistöckigen, bezeichnenderweise in den Untergrund führenden Bar, wo er vier, fünf an Schwuchteln erinnernde Gestalten im rötlichen Halbdunkel zu erkennen meinte, und wie sich beim Herausgehen dann herausstellte, musste es sich tatsächlich um eine schwule Kneipe gehandelt haben, denn die Einladung über dem stets geöffneten Portal versprach dem Gast einen Brief Encounter, eine flüchtige Begegnung also, was eindeutig zu dem Bild passte, das Pavlos in den Magazinen vorgetischt bekommen hatte, welche die Schwulen eindeutig als promiske Typen darstellten, denen es nur um das Eine geht. Dass dieses Eine komischerweise alle kennen, auch die Heten, und die darin versteckte, unberechtigte Vorhaltung subtil verborgen liegt, war Pavlos in seiner Naivität entgangen. Die Wahl eines solch pragmatischen Namens für eine Szenekneipe, diese distanziert ironische Selbstdarstellung der schwulen Subkultur […] höhnte dem von überhöhter Erwartung in sich Rasenden, dass er sich in seiner Verzweiflung von dieser Lokalität mit Sarkasmus und Verachtung verabschiedete, und er merkte gar nicht, wie er sich mit diesen Gefühlen gegen sich selbst wandte und wie er seinen Fall in ein manisches Loch nur beschleunigte. Nein, er, der sich so sehr nach Erfüllung sehnte, hatte rein gar nichts mit der Flüchtigkeit zu tun. Er hatte ja nur zu gut diese verschatteten, ausgelatschten Gestalten beobachtet, wie sie schlaff und bar jeder Erwartung einer Möglichkeit am Tresen hingen. Nein, er wollte die grosse, absolute Geste. (Entg 53-54)

Zwei Beobachtungen legen es nahe, diesen Ausschnitts der Prä-Coming-outPhase zuzuordnen: Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Aufklärung der Umwelt über die Homosexualität des Protagonisten nicht erfolgt30; er wünscht die ersten sexuellen Erfahrungen weit weg von der Heimat und damit unbehelligt von Bekannten zu machen31. Außerdem verweisen auch Pavlos’ diskriminierende und auf Äußerlichkeiten gestützte Haltung gegenüber den sich in der Bar befindlichen Homosexuellen, den »verschatteten, ausgelatschten Gestal30 | Dass die Umwelt nicht im Bilde über Pavlos’ Homosexualität und/oder dessen Reisevorhaben ist, belegt auch jene Textstelle, in der dargelegt wird, wie sich Pavlos in einem Laden, den er zuvor mit seinen »nichtsahnenden Klassenfreunden« (Entg 49) erkundet hat, einen Sexführer für seine Londonreise besorgt. 31 | Dies belegt folgende Textstelle: »Er wollte seine Initiation weit, weit weg von zu Hause erfahren« (Entg 49).

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ten« (Entg 53), und die Auseinandersetzung mit stereotypen Gruppenbildern auf ein frühes Stadium der Identitätsfindung bzw. auf eine zunächst verhinderte positive Entwicklung des Selbstbildes.32 Zusammenfassend dokumentiert die gewählte Textstelle Pavlos’ Scheitern an seinem ersten »Versuch, sich in den Schlund der schwulen Subkultur zu stürzen« (Entg 49). Die Hauptfigur bringt sich mit dem Wunsch, ihre sexuelle »Initiation weit, weit weg von zu Hause [zu] erfahren« (Entg 49) in eine Situation, in der sie auf die Probe gestellt wird, denn das Vorhaben will nicht gelingen und wird zu einem »ergebnislos ablaufende[n] Herumirren« (Entg 53), zu einer »enervierende[n] Suche« (Entg  53) und schließlich zu einem »zielund lustlose[n] Herumschlendern« (Entg 53). Dieses mündet in der Folge in eine Konfrontation mit Vertretern der schwulen Subkultur, welche ein Modell eines Lebensentwurfs verinnerlicht haben, mit dem sich der Protagonist nicht zu identifizieren scheint: »Nein, er, der sich so sehr nach Erfüllung sehnte, hatte rein gar nichts mit der Flüchtigkeit zu tun. […] Nein, er wollte die grosse, absolute Geste.« (Entg 54) Diese in erlebter Rede präsentierte Distanzierung von der Flüchtigkeit wird allerdings in der Folge relativiert33 und ist damit als Indiz dafür zu lesen, dass sich die Figur an dieser Stelle trotz der Entschlossenheit suggerierenden Gedankenpräsentation noch nicht im Klaren darüber ist, was sie will bzw. erwartet und inwiefern diese Erwartung sich mit der sie umgebenden Realität deckt. In eine ähnliche Richtung verweist das Verhalten des Erzählers gegenüber der Figur, betitelt er diese doch spöttisch als »Dornröschen, [das] beim Träumen blind« (Entg 53) ist und macht sich lustig über die Tatsache, dass der Protagonist sich »der ersten Novemberdepression seines Lebens statt einem Liebhaber« (Entg 53) ergibt. Weiter bezichtigt der Erzähler die Figur der Naivität, was als ein Hinweis darauf betrachtet werden kann, dass sie nicht versteht, was um sie herum abläuft. In diese Richtung verweist auch die Semantik der Verben, durch die das Denken und das Urteils- und Einordnungsvermögen des Protagonisten charakterisiert sind: Diese bewegt sich mit »meinen«, »entgehen« und »nicht merken« ebenfalls in einem Bereich, der darauf hindeutet, dass der Protagonist die sich ihm darbietende Situation nicht versteht und als Konsequenz daraus für sich selbst und seine Identitätsfindung vorerst nicht die richtigen Schlüsse zu ziehen vermag. Die Situation, die sich ihm bietet, deutet er nämlich als Bestätigung des Schwulenbildes, das er »in den Magazinen [über/für Schwule, R. v. R.] vorgetischt bekommen« (Entg 53) hat. Allerdings unterlässt er es, nach dem Ursprung oder der Autorität dieses 32 | Weiter unten wird dargelegt, dass Pavlos bis zur Rekrutenschule noch kein »rechtes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein« (Entg 84) entwickelt hat. 33 | Während der zunächst erfolglosen Partnersuche besucht Pavlos eine »schwule Sauna« (Entg 86) und macht dort seine ersten – ebenfalls flüchtigen – sexuellen Erfahrungen (vgl. Entg 86-89).

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Bildes, nach dem Schwule »promiske Typen« (Entg 53) sind, welchen es »nur um das Eine geht« (Entg 53), zu fragen. Eine Antwort gibt der Text trotzdem. Die von Ironiesignalen (»bezeichnenderweise«, »tatsächlich«, »eindeutig« [Entg 53]) gespickte Beschreibung des Schwulenlokals und des Schwulenbildes wird in Form eines Erzählereingriffs als Stereotyp, als »Etikette der Heterosexuellen«34 entlarvt und relativiert: Sexualität und – im Extremfall – Sexbesessenheit betreffen nämlich Homosexuelle und Heterosexuelle gleichermaßen. Diese Einsicht bleibt der Figur allerdings verwehrt: »Dass dieses Eine komischerweise alle kennen, auch die Heten, und die darin versteckte, unberechtigte Vorhaltung subtil verborgen liegt, war Pavlos in seiner Naivität entgangen.« (Entg 53-54) So vermag der Protagonist denn auch den auf diese Einsicht anspielenden Namen der von ihr besuchten Kneipe, diese »ironische Selbstdarstellung der schwulen Subkultur«, (Entg  54) nicht richtig einzuordnen. Was ihm bleibt, ist die Orientierung an dem auf zwei Merkmale – Promiskuität und Sexbesessenheit – reduzierten Schwulenbild, einem Stereotyp, das die Schwulenmagazine ihm liefern und das er in den »verschatteten, ausgelatschten Gestalten« (Entg 54) in einer Londoner Kneipe bestätigt sieht. Dieses übernommene Stereotyp ist es nun also, das zur Bewertung der eigenen Position und der sozialen Zugehörigkeit zu einer Gruppe herangezogen wird. Dass sich der Protagonist in die soziale Gruppe der Schwulen aufgrund der negativen Charakterisierungen jedoch nicht einordnen will, ist mit der Social-IdentityTheory erklärbar, die davon ausgeht, dass der Mensch sich sich selbst positiv denken will. Damit wird die Entwicklung des Ich-Konzepts, des Selbstbildes, das auf der Einordnung des Ich innerhalb oder außerhalb von sozialen Kategoriekonzepten basiert und maßgeblich vom Zusammenspiel zwischen positivem Autostereotyp und sich davon abgrenzendem Heterostereotyp abhängt, erschwert. Kurz, der Protagonist wendet sich »mit diesen Gefühlen gegen sich selbst« (Entg 54).

3.2 Über windung der Orientierung an stereotypen Bildern Eine positivere Entwicklung zeichnet sich in der nächsten Schlüsselstelle ab, die der Phase des Coming-out zugerechnet werden kann. Es wird berichtet, wie der Protagonist nach einer einschneidenden Erfahrung in der Rekrutenschule sein an gruppenspezifischen Stereotypen orientiertes Denken als Sackgasse erkennt und sich die Entwicklung eines differenzierteren Selbstbildes ankündigt:

34 | Orell, Esther C.: Die Macht der Benennung. Literarische Seuchendarstellungen und ihre wertvermittelnde Funktion. Dissertation Universität Zürich 2005, S. 221.

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Von diesem Augenblick an war für Pavlos der Rest der Rekrutenschule ein Kinderspiel, er blühte richtig auf. Denn all das, was er bis dato auf die Träger des männlichen Geschlechts losgelassen hatte, erwies sich mit einemmal als Tand. Er war ernüchtert und erleichtert. Er war sich bewusst geworden, er spürte, dass da jemand war, den er heute und gerade jetzt kennenlernte. Da war plötzlich jemand, der sich mit einem emotionslosen Nein selbst eine Grenze gesetzt hatte, hinter der er genügend Sicherheit fand, sich ohne unbrauchbare heterosexuelle Immissionen zu entwickeln. (Entg 84)

Diese Erkenntnis macht es dem Protagonisten nun auch möglich, allmählich bewusster als Homosexueller aufzutreten bzw. auch als solcher erkannt zu werden, was als ein erster Schritt in die Öffentlichkeit, als »Coming-out« in der Terminologie des Phasenmodells, betrachtet werden kann: Am anderen gleissend hellen Morgen begann ein neues Glühwürmchen in schwuler Nacht zaghaft zu leuchten, begann Dornröschen die Stacheln abzulegen. Die Mär vom Prinzen aber war noch nicht tot. (Entg 84)

Der Bezug von Greimas’ Modell (2.3) weist in eine ähnliche Richtung, denn damit kann die gewählte Textstelle als Teil der Qualifizierenden Prüfung gelesen werden: Der Protagonist wird mit einer schwierigen Situation konfrontiert, meistert diese bravourös und gelangt so in den Besitz des Mittels, das ihn die Hauptprüfung bestehen lässt. Den Anstoß zu dieser Lesart gibt der Text an der Stelle, an der die Hauptfigur in der Rekrutenschule einer heiklen Situation gegenübersteht: Vor dem Duschen mit den anderen Soldaten entsteht ein »spielerische[s], unterschwellig sexuelle[s] Gemenge« (Entg 79), das damit endet, dass sich einige Rekruten gegenseitig einseifen und dabei eine Erektion bekommen. Pavlos aber, der »liebend gerne auch den Rücken eingeseift bekommen [hätte]« (Entg 82), beteiligt sich nicht an diesem Gemenge. Auch als in der darauf folgenden Nacht der längste Penis gekürt werden soll, ist Pavlos unbeteiligt. Es gelingt ihm jedoch, mittels Beobachtung und Analyse für seine Identitätsfindung wichtige Erkenntnisse zu gewinnen und diese schrittweise in die Entwicklung seines Selbstbildes einzubeziehen: Erstens erweist sich sein bisheriges Bild der »Träger des männlichen Geschlechts« (Entg 84) als »Tand« (Entg 84), als bedeutungslos, und kann damit aufgegeben bzw. revidiert werden. Mit der Formulierung »Träger des männlichen Geschlechts« (Entg  84) sind gleich zwei von der Figur verinnerlichte Bilder gemeint, nämlich das der homosexuellen Männer, bis dato von Darstellungen aus Schwulenmagazinen bestimmt, und das der heterosexuellen Männer, denen die Figur bisher einen diskreten Umgang mit der Sexualität zugeschrieben hat.35 Zweitens entlarvt 35 | Dieses Bild deckt die Erwartung der Figur, die sie an ihre heterosexuellen Mitrekruten stellt, auf. Als sich beim gemeinsamen Duschen nämlich »einige Glieder um ihn her-

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er ebendiese nunmehr unbrauchbaren Bilder als »heterosexuelle Immissionen« (Entg 84), als übernommene Stereotype, von denen er sich distanziert.36 Mit dieser Prüfung und ihren Konsequenzen ist nun der Grundstein für eine individuelle, autonome Entwicklung der Identität und des Selbstbewusstseins gelegt. Der Protagonist hat nun das Mittel in der Hand, mit dem er die Hauptprüfung, die Selbstfindung, angehen kann: »Er war sich bewusst geworden, er spürte, dass da jemand war, den er heute und gerade jetzt kennenlernte.« (Entg 84) Dass die Figur durch diese Bewusstwerdung allerdings erst am Anfang der Entwicklung eines für die soziale Umwelt klar erkennbaren Selbstbildes und Selbstbewusstseins steht, deutet der Erzähler in der folgenden Passage an. Man beachte die Doppelsetzung des Verbs »beginnen« und die Formulierung »noch nicht« (Entg  84), die mit Nachdruck deutlich machen, dass die Entwicklung des Selbstbildes und die Partnersuche noch viel Zeit erfordern: »Am anderen gleissend hellen Morgen begann ein neues Glühwürmchen in schwuler Nacht zaghaft zu leuchten, begann Dornröschen die Stacheln abzulegen. Die Mär vom Prinzen aber war noch nicht tot.« (Entg 84) Auch durch das Diminutiv »Glühwürmchen« (Entg 84) verweist der Erzähler spöttisch darauf, dass die Entwicklung des Selbstbildes noch nicht weit fortgeschritten ist bzw. dass diese Entwicklung noch einige Zeit beanspruchen wird. Die Schwierigkeit des Unterfangens, das Selbstbild gegen außen klar zu kommunizieren, macht die Konfrontation des »in schwuler Nacht« (Entg 84) nur spärlich und zaghaft leuchtenden »Glühwürmchen[s]« (Entg 84) mit dem »gleissend hellen Morgen« (Entg  84) deutlich. Konkret heißt dies, dass die Bedingungen, ein Selbstbild zu entwickeln und dieses für die soziale Umwelt erkennbar zu machen, äußerst schwierig sind. Erschwerend kann in diesem Prozess zudem die träumerische Naivität, die der Erzähler der Figur bereits in der Szene in einer Londoner Bar zuschreibt und die durch das Anknüpfen an das bereits an jener Stelle verwendete »Dornröschen« (Entg 53 und 84) erneut evoziert wird, wirken. Dass diese Naivität weiterhin eine Rolle spielt, wird auch in der nächsten Textstelle deutlich werden.

um [regen]«, erwartet Pavlos, dass sein Umfeld »peinlich berührt und diskret« (Entg 82) reagiert. 36 | Damit erreicht die Figur denselben Erkenntnisstand wie der Erzähler in der Textstelle über den Vorfall in einer Londoner Bar (»Dass dieses Eine komischerweise alle kennen, auch die Heten, und die darin versteckte, unberechtigte Vorhaltung subtil verborgen liegt, war Pavlos in seiner Naivität entgangen« [Entg 53-54]).

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3.3 Festigung und Erprobung der gewonnenen Erkenntnisse Das Selbstbild des Protagonisten wird nun in der explorativen Phase – basierend auf den Erfahrungen und Erkenntnissen der Coming-out-Phase – schrittweise gefestigt und in der Folge erprobt, auch in Bezug auf die Partnersuche: Wenigstens wusste er nach dieser schadlos überstandenen Zeit [der Rekrutenschule, R. v. R.], auf welcher Wellenlänge er die Suche nach seinem Prinzen fortsetzen konnte […]. Bis jetzt hingen seine suchenden Blicke an Silhouetten fest, sie waren darin gefangen gewesen. Doch im gleichen Augenblick, wo er die Syntax des schwulen Blicks erkannt hatte, konnte Pavlos nicht verstehen, wieso er ihn so lange übersehen hatte. Aber machte er sich nicht weiter Gedanken darüber, denn jetzt war der Traum vom Leben einem Abenteuer gewichen. (Entg 84-85)

Durch die Aufgabe des von außen übernommenen, stereotypen Schwulenbildes werden die soziale Rolle und die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe klarer und positiver definiert: Plötzlich waren die Strassen für Pavlos von schwulem Leben erfüllt, er war nicht mehr alleine unterwegs und unbeschreiblich erleichtert, dass schwul sein nicht bedeutet, unabänderlich so zu sein wie dieser schleimige Kerl, der ihn während seiner Zeit am Gymnasium allabendlich abgepasst hatte, nur um ihn in der Bahnhofsunterführung mit einem Räuspern zu überholen und vor seinen Augen in der Klappe zu verschwinden. (Entg 85)

In diesem Textausschnitt wird dargelegt, wie die Figur mit den neu gewonnenen Erkenntnissen umgeht und welche Konsequenzen sich daraus für die Partnersuche ergeben. Allerdings spielt hier, wie oben angedeutet, immer noch eine träumerische Naivität seitens der Figur mit, wie die erneute Verwendung des Märchenbegriffs »Prinz«, die Darstellung ihrer bisherigen Unkenntnis der »Syntax des schwulen Blicks« (Entg  85) und v.a. die fehlende Reflexion darüber zeigen. In eine ähnliche Richtung verweist die Bezeichnung des Lebens als »Abenteuer« (Entg 85) und der Straßen als »von schwulem Leben erfüllt« (Entg 85). Wie sich später nämlich zeigen wird, liegt hier eine naive Überschätzung der Verhältnisse vor, erweisen sich doch das Leben und die in diesem Abschnitt besonders interessierende Partnersuche keineswegs als so ereignisreich, wie sich dies der Protagonist ausmalt. Außerdem lässt auch die geringe Resonanz potentieller Partner auf sein Werben zu wünschen übrig: »Die Monate gingen ins Land im Wechsel der Farben. Sein Werben war fruchtlos, niemand hielt auf der Straße an, um aus dem übersprudelnden Kelch der Liebe zu trinken, den Pavlos wie ein Bettler vor sich her trug.« (Entg 86) Trotz der immer noch größtenteils bestimmenden Naivität macht der Protagonist in-

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des eine wichtige Erfahrung: Er sieht sich als »nicht mehr alleine unterwegs« (Entg 85), ordnet sich also in die soziale Gruppe der Homosexuellen ein. Dies ist ihm möglich, weil das negativ behaftete, von außen übernommene Stereotyp der Schwulen als sexuell ausschweifend und promiskuitiv, das für ihn lange Zeit die Homosexuellen schlechthin charakterisierte, von ihm endgültig aufgegeben wird. Damit tritt eine Zuordnung des Ich zu dieser nunmehr nicht mehr ausschließlich negativ beurteilten Gruppe nicht mehr mit dem Wunsch in Konflikt, sich sich selbst positiv zu denken.

3.4 Erste Beziehungen und differenziertere Zugänge zur Selbstfindung Auf die explorative Phase folgt das Eingehen erster längerer Beziehungen, die nebst der körperlichen vermehrt auch geistige und seelische Nähe zulassen und in der gegenseitige Unterstützung und Fürsorge wichtiger werden. Als Zeugen dieses größeren Verantwortungsbewusstseins, das mehr als nur körperliche Anziehung voraussetzt, können die fürsorgliche Begleitung des sterbenden Ex-Freundes Richard durch Pavlos37 und umgekehrt, das BegleitetWerden des kranken Pavlos durch dessen aktuellen Freund Reto38 beigezogen werden. In dieser Phase werden auch differenziertere Zugänge zur Selbstfindung, zum Wesen des Selbst und zum Rätsel des Lebens ganz allgemein offen gelegt: […] [Pavlos] sieht jetzt auf den Pfad, der sein Leben ist. Und jetzt erst sieht er bestürzt, wie wenig von diesem Pfad gelebt ist […], und er ruft in die Leere hinaus: – Ist das alles? Soll das alles sein? Hab ich denn alles falsch gemacht? (Entg 174)

37 | Als Richard im Sterben liegt und nach Pavlos’ Hilfe verlangt, fliegt dieser »noch gleichen Tags mit der letzten Maschine zurück in die Schweiz und an das Bett eines Zombies« (Entg 127) und löst damit und mit seiner wochenlangen Pflege sein Versprechen gegenüber Richard ein, »ihn nicht einfach alleine zu lassen an seinen Schläuchen« (Entg 127). 38 | Ein Zeugnis von Retos Liebe und Fürsorge liefert der Text an der Stelle, an der sich Reto bei dem eben aus einem Koma erwachenden Pavlos im Krankenhaus befindet: »Pavlos öffnet die Augen und hört eine Stimme zärtlich seinen Namen stammeln, spürt, wie eine Hand zitternd seinen Kopf wie eine Schale in ihrer Mulde hegt, wie dann an unbestimmtem Horizont Retos Augen auftauchen, in denen Sonnen aufgehen; und in die wartende Stille hinein sein gestammelter Name, der immer klarer, bestimmter erklingt […]: Pavlos, Pavlos, o mein Pavlos, ach, Pavlos, was hast du nur gemacht?! He! Du!« (Entg 168).

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Und da war es, als ihm das Licht, das sein Leben ist, wieder aufging, und Pavlos begriff, dass die Antwort nur er selber ist und er zurückmusste, um sich diese letzte Antwort überhaupt erst geben zu können, und dafür wieder auf die Suche nach sich selbst musste. (Entg 174) […] Pavlos [bleibt] nur die Spekulation auf eine möglichst genaue Annäherung an das Selbst, das er einmal war und das sich so hartnäckig sträubt, wenn er in seine Nähe kommen will. Doch was wäre sein Leben noch wert, wenn sich der Schleier des Geheimnisses über dem Rätsel, das sein Leben ist, lüften würde, wäre er nicht mit einemmal matt, am Ende seiner Reise? (Entg 91) Und jetzt erkennt Pavlos plötzlich […] die Moral der Geschicht‹. Dass wir Menschen Fleisch gewordene Götter sind und wir uns deshalb die Welt selber erschaffen. Müssen, wenn wir Lebende sind. Und deshalb eitel sind, weil wir Werdende sind […]. (Entg 174)

Im Lichte des Modells der drei Prüfungen kann der ausgewählte Stellenkomplex als verdichteter und bestätigter Lösungsansatz der in der Hauptprüfung des Lebens gestellten zentralen Fragen und Aufgaben, als »Glorifizierende Prüfung«, gelesen werden: Eine bereits gewonnene Erkenntnis wird bestätigt und deren Relevanz damit betont. Ausgangspunkt ist dabei der Wunsch, auf die Frage, ob das Leben nun schon vorbei sei, eine Antwort zu erhalten. Die Antwort auf diese Frage gibt sich der Protagonist selber, indem er begreift, dass »die Antwort nur er selber ist« (Entg 174), dass er zurück ins Leben und »wieder auf die Suche nach sich selbst« (Entg 174) muss. Mit diesem im Text im Präteritum formulierten, zeitlich zurückliegenden Begreifen sieht sich der Protagonist nun in seinen Reflexionen konfrontiert. Das ehemalige Begreifen wird zu einem auf Gewissheit gründenden Erkennen, durch die Präsens-Form in die Gegenwart geholt und prägnanter, verdichteter, als »Moral der Geschicht‹« (Entg 174) reartikuliert. Zur Illustration seien die beiden Stellen noch einmal zitiert und ihre sich entsprechenden, parallel formulierten Inhalte hervorgehoben (Hervorhebungen R. v. R.): […] Pavlos begriff, dass die Antwort nur er selber ist und er […] wieder auf die Suche nach sich selbst musste. (Entg 174) […] jetzt erkennt Pavlos plötzlich […] die Moral der Geschicht‹. Dass wir Menschen […] uns […] die Welt selber erschaffen. […] Und deshalb eitel sind, weil wir Werdende sind […]. (Entg 174)

Diese zwei Textstellen liefern ein Bild der Art und Weise, wie sich der Protagonist dem Rätsel Leben nähert: Er geht davon aus, dass nur er selber die Antwort dieses Rätsels, die sich seine Welt schaffende Kraft ist und deshalb die

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Suche nach dem Selbst unabdingbar wird. Das Ziel kann allerdings nicht das Finden dieses Selbst, des Rätsels Lösung, sein. Das Ziel liegt vielmehr in der Suche selbst, im Werden, denn der Wert des Lebens besteht für den Protagonisten eben gerade darin, dass er des Rätsels Lösung in seinem Leben nicht in Erfahrung bringen kann. Die dem Suchen und Werden innewohnende, nicht anzuhaltende Prozesshaftigkeit hat allerdings auch zur Folge, dass das ständig sich entwickelnde Selbst für den Protagonisten nicht leicht fassbar ist. Als Konsequenz davon bleibt ihm »[…] nur die Spekulation auf eine möglichst genaue Annäherung an das Selbst […]«. (Entg 91) Daraus ergibt sich wiederum die Forderung nach einer Suche, die dadurch in einen lebenslänglich nicht endenden Prozess mündet. Das Erzählverhalten in diesem Textstellenkomplex hat personales Gepräge, das sich besonders deutlich in zwei Ausschnitten zeigt, nämlich in dem Gedankengang, der als Innerer Monolog präsentiert ist (»[…] ist das alles? Soll das alles sein? Hab ich denn alles falsch gemacht?« [Entg 174]) und in der in Erlebter Rede dargestellten Reflexion über das Rätsel des Lebens (»Doch was wäre sein Leben noch wert, wenn sich der Schleier […] lüften würde, wäre er nicht mit einemmal matt, am Ende seiner Reise?« [Entg 91]). Doch auch die übrigen Ausschnitte dieser als Textstellenkomplex zusammengefassten Einheit zeichnen sich durch personales Erzählverhalten aus: Es wird durchgängig aus der Sicht der Figur erzählt und dem in den übrigen untersuchten Textstellen oftmals spottenden auktorialen Erzähler begegnen wir nicht mehr. Diese kritikfreie Darstellung aus der Perspektive der Figur könnte als Hinweis dafür gelesen werden, dass sich die Figuren- mit der Erzählersicht deckt und Figur und Erzähler denselben Erkenntnisstand erreicht haben. Für die letzte Phase schließlich, die von einer verbindlichen Paarbeziehung im Sinne einer Lebensgemeinschaft geprägt ist, finden sich im Text kaum Spuren, ist doch bei der Beziehung zwischen Pavlos und Reto mitunter von einer »heimlichen Routine«, (Entg 151) also nicht von einer offen gelebten, dauerhaften Zweierbeziehung die Rede. Zudem verkürzt die hereinbrechende Krankheit die Lebenszeit und verwandelt die Dynamik der Identitätsfindung massgeblich. Die große Prüfung findet früher statt und auf andere Weise, als das Schema der fünf Phasen es als Normalität erwarten lässt. Das hat einschneidende Folgen für die Logik des Identitätskonzeptes. Der hier literarisch dargestellte Protagonist muss die Illusion aufgeben, Identität sei ein heranreifendes Resultat, etwas wie die eingesammelte Fülle eines Lebensziels. Identität ist angesichts der tödlichen Krankheit so resultathaft nicht mehr zu konzipieren, sondern sie wird zum Bewusstsein des Vollzugs auf einem Weg ohne Ziel, zu einem Vollzug, der seine genuine Bedeutung hat in jeder Phase seiner Strecke. Dazu muss der Protagonist lernen, Ich zu sagen. Damit beginnt das Leben für ihn auch im Kranksein. Diese Umstrukturierung des Identitätskonzeptes kann als Resultat der Analyse einer literarischen Erzählung zurückgemeldet

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werden an ein sozialpsychologische Identitätsmodell, das im Wesentlichen noch die Verhältnisse vor dem Einbruch von Aids zu reflektieren scheint.

4. F A ZIT Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass eine Analyse der Darstellung der Identitätsfindung, eines vielschichtigen Gegenstands also, durch Beiziehen von verschiedenen Handlungs- und Entwicklungsschemata angegangen werden kann. Das vorgestellte Modell der Identitätsfindung ermöglicht eine Grobeinteilung eines komplexen Vorgangs in Phasen, wobei nur vier Phasen eines bisher verbreiteten sozialpsychologischen Fünfphasenmodells ersichtlich sind. Die literarisch erzählte Geschichte einer Identitätsfindung angesichts von Aids erschließt sich besser, wenn stattdessen das erzählanalytische Modell der drei Prüfungen, das gleichsam einer Kürzestzusammenfassung die menschliche Lebensgeschichte umreißt, herangezogen wird. Innerhalb des auf diese Weise modifizierten Phasenmodells erweist es sich sodann als lohnend, feinere erzählanalytische Analyseinstrumente einzusetzen. Im vorliegenden Fall hat dieses Vorgehen auf vier verschiedenen Ebenen Resultate zutage gefördert: Die Entwicklung der Identitätsfindung kann in Phasen eingeteilt werden, die sich durch das Modell der drei Prüfungen strukturieren lassen. Die Qualifizierende Prüfung, die den Schlüssel zur Identitätsfindung birgt, tritt in einer frühen Phase ein, die Glorifizierende Prüfung hingegen, die den individuellen Lösungsansatz zur Entdeckung des Selbst bestätigt, erfolgt erst in einer späteren Phase. In den einzelnen Phasen sind das Stereotypenkonzept und die Annahmen der Social-Identity-Theory gut geeignet, charakteristische Verhaltensund Denkweisen zu erklären: Eine Orientierung an stereotypen Bildern spielt in der frühesten Phase eine Rolle, in der zweiten Phase werden diese Bilder entlarvt und revidiert, in der dritten Phase erfolgt eine endgültige Ablehnung dieser nachhaltig eingeprägten Bilder und in der vierten Phase kommen diese Stereotype gar nicht mehr zur Sprache und ein individueller Zugang zum Selbst scheint gefunden. Allen Phasen gemeinsam ist dagegen die von Vertretern der Social-Identity-Theory getroffene Annahme, der Mensch wolle sich sich selbst positiv denken, was allerdings in der ersten Phase, in der sich der homosexuelle Protagonist an einem negativen Schwulenbild orientiert, noch nicht gelingen kann. Die Erzähltheorie schließlich bestätigt die mithilfe der Stereotypentheorie und der Social-Identity-Theory erlangten Resultate. Die Identitätsentwicklung der Figur äußert sich nämlich nicht nur in ihrer Denkund Verhaltensweise, sondern auch in der Haltung, die der Erzähler ihr gegenüber einnimmt. Dieser steht der naiven, sich an Stereotypen orientierenden Figur kritisch gegenüber, äußert sich oft spottend und ironisch, der reiferen Figur hingegen hat er nichts mehr entgegenzusetzen, er hat dieselbe Perspek-

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tive wie sie. M. a. W. gleichen sich die anfangs oft diametral sich gegenüberstehenden Sichtweisen der Figur und des Erzählers allmählich an. Dadurch wird literarisch suggeriert, dass der Protagonist der Erzählung zu einer für ihn, für den Erzähler und auch für den Leser annehmbaren Lösung der Aufgabe der Selbstfindung gekommen ist. Er lernt, zu seinem Spiegelbild Ich zu sagen und besteht damit die Lebensprüfung, die sich ihm angesichts der Krankheit früher und anders stellt, als die Sozialpsychologie der Homosexualität sich dies vor dem Einbruch von Aids vorstellen konnte.

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Ja-Sagen zum Nein-Tun Die Krankheitsperspektive einer Randfigur in Hugo Loetschers Erzählung »Die Einwilligung« Vera Landis

Für Searle und Austin wäre ›Einwilligen‹ ein Sprechakt wie viele andere, d.h. eine Möglichkeit, sprachlich zu handeln und damit Konsens mit einem bestimmten Vorschlag zum Ausdruck zu bringen.1 Im Kontext von Hugo Loetschers Novelle »Die Einwilligung«2 ist dieses titelgebende Wort jedoch Ausgangspunkt für Irritationen: Der Leser sieht sich herausgefordert, eine Reihe von Fragen zu stellen, auf welche der Text eine bündige Antwort aufschiebt und vorenthält: Wer ist es, der in wessen Vorschlag einwilligt? Und worin genau besteht dieser Vorschlag? Nicht nur bleibt die Antwort auf diese Fragen suspendiert, sondern im Laufe der Geschichte stellen sich des Öfteren Momente der Irritation ein, in denen die gesellschaftlich stabilisierten Erwartungen und Werthaltungen des Lesers mit denjenigen des Protagonisten zu kollidieren scheinen. Auf den ersten Blick erscheint »Die Einwilligung« als eine ruhig dahinfließende Erzählung eines Er-Narrators mit personalem Erzählverhalten und dezent wohlwollender Erzählhaltung.3 Er stellt dar, wie der Protagonist, ein an Aids erkrankter Mann im Zustand einer voranschreitenden Lungenentzündung, einige Aspekte seines Lebens reflektiert und unter anderem seine Homosexualität, sein Liebesleben, persönliche und ideologische Konflikte mit seiner Umwelt sowie seine ausbrechende Krankheit und deren Bedeutung thematisiert. Erst durch die vertiefte Analyse der im Text implizierten Wertstrukturen wird deutlich, dass es sich hier nicht nur um den (fiktiven) Erfahrungs1 | Vgl. Austin, John L.: How to do things with Words. Oxford 1962 resp. Searle, John R.: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969. 2 | Loetscher, Hugo: Die Einwilligung, in: Der Buckel. Zürich 2002. Zitate nach dieser Ausgabe künftig im Text unter der Sigle L und mit Seitenzahl. 3 | Die erzählanalytische Terminologie wird hier verwendet im Anschluss an Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart u. Weimar 1993.

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bericht einer Aidserkrankung handelt, denn zu sehr stehen andere Elemente wie z.B. die gestörte Kommunikation und die gesellschaftliche Ausgrenzung im Vordergrund. Dieser Fokus auf das Problem der Akzeptanz bildet den Ausgangpunkt für eine Problematisierung der Wertperspektive, in der Gesundheit und Krankheit in dieser Erzählung erscheinen. Die Krankheit Aids wird in diesem Text aus einer den Leser womöglich befremdenden Perspektive dargestellt. In diesem Sinne ist die folgende Textanalyse im interdiskursiven Feld von Kulturwissenschaft und Literaturwissenschaft angesiedelt. Anhand der fiktiven Wirklichkeits- bzw. Lebensdarstellung des Texts wird untersucht, inwiefern die literarisch vermittelten Wertperspektiven »von dominanten kulturell-gesellschaftlichen Mentalitäten der jeweils dargestellten Zeit« abweichen.4 Im Folgenden werden zunächst einige methodische Vorüberlegungen in den Bereichen Krankheit und Kommunikation formuliert, die zum Verständnis des Hauptteils beitragen sollen. In drei Schritten wird anschließend zuerst das kommunikative Scheitern im Zusammenhang mit Wahrheit und Lüge analysiert, dann wird die unkonventionelle Wertauffassung der Krankheit Aids diskutiert und schließlich wird die wirkungsästhetische Dimension des Textes, d.h. seine Figurenkonstellation und die Strategie der Sympathielenkung5 untersucht.

M E THODISCHE V ORÜBERLEGUNG 1: A IDS , K R ANKHEIT UND G ESELLSCHAF T Beate Schappach erläutert in ihrer Abhandlung zur kulturellen Dramaturgie von Aids die drastische Veränderung des Aidsdiskurses zwischen dem Auftreten von Aids in den frühen 1980er Jahren und dem Anfang des 21. Jahrhunderts. Zunächst als »unbeherrschbare, akute epidemische Bedrohung« verstanden, wurde auf bestimmte Risikogruppen sehr bald ein »Schuld- und Ausgrenzungsdiskurs« appliziert.6 Mit zunehmender Kenntnis der Übertragungswege begann Ende der 80er Jahre die »Medikalisierung des Aidsdis-

4 | Gutenberg, Andrea: Mögliche Welten. Plot und Sinnstiftung im englischen Frauenroman. Heidelberg 2000, S. 19. 5 | Vgl. Manfred Pfister: Zur Theorie der Sympathielenkung im Drama. In: Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares. Hg. v. Habicht, W; Schabert. I. München 1978, S. 20-34. 6 | Schappach, Beate: Aids in Literatur, Theater und Film. Zur kulturellen Dramaturgie eines Störfalls. Zürich 2012, S. 9 und 34. Als Risikogruppen eingestuft wurden »männliche Homosexuelle, Afrikaner, später auch Fixerinnen und Fixer sowie Prostituierte«. (34)

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kurses«, Aufklärung und Prävention erhielten einen neuen Stellenwert.7 Ein Schwerpunkt der Gesundheitspolitik war und ist bis heute die Integration, welche das Ziel hat, Kranke und Infizierte gesellschaftlich zu reintegrieren. Ende der 1990er Jahren wurde Aids mit der Entwicklung der Kombinationstherapien medizinisch behandelbar und ist heute zwar nach wie vor nicht heilbar, gilt jedoch »in der westlichen Welt nicht mehr vorrangig als unmittelbar tödliche Krankheit«.8 In Bezug auf die gesellschaftlich normierte Wertung von Krankheit und Gesundheit spricht der Soziologe Talcott Parsons von einer »virtual universality of the positive valuation of health and the correlative, negative valuation of states of illness.«9 Auch Arthur W. Frank unterstützt diese Sichtweise, wenn er bemerkt: »[C]ontemporary culture treats health as the normal condition that people ought to have restored«.10 Während Parsons und Franks Standpunkte Universalcharakter beanspruchen, gibt es doch auch Stimmen, die aus einer Krankheit Positives schöpfen. So schreibt beispielsweise Friedrich Nietzsche, durch seine Krankheit inspiriert, geläutert und gereinigt worden zu sein: »[M] an kommt aus solchen Abgründen […] neugeboren zurück, gehäutet, kitzliger, boshafter […] und hundertmal raffinierter, als man jemals vorher gewesen war.«11 In diesem Feld gesellschaftlicher Erwartungshaltung zum Thema Krankheit ist noch eine Bemerkung zum Begriff des ›guten Kranken‹ nötig. Schappach umschreibt diese normative Figur folgendermaßen: Der ›gute Kranke‹ hat zwar zunächst Angst, lernt aber, die Krankheit mit Würde zu tragen. Er kämpft gegen die Erkrankung und seinen körperlichen Verfall an, damit er so lange wie möglich aktiv am Leben teilhaben, arbeiten sowie familiären und sozialen Pflichten nachkommen kann. Wenn der Tod sich nähert, ergibt sich dieser Kranke gefasst und mit vollem Einverständnis dem Sterben.12

Die Tatsache, dass mit der Erfahrung ›Krankheit‹ unterschiedlich umgegangen werden kann, untersucht Arthur W. Frank in »The Wounded Storyteller«. 7 | Schappach 2012, S. 36. 8 | Schappach 2012, S. 52. 9 | Parsons, Talcott: Action Theory and the Human Condition. 3. Auflage. New York 1978, S. 74. Er fügt hinzu, dass Ausnahmen dieser Regeln mit »systematic cults of pessimism and anti-worldly values« in Verbindung stünden. (S. 74) 10 | Frank, Arthur W.: The Wounded Storyteller. Body, Illness, and Ethics. Chicago 1995, S. 77. 11 | Nietzsche, Friedrich: Werke in sechs Bänden. Band 2, 3 und 4. Schlechta, Karl (Hg.). München 1980, S. 14. 12 | Schappach 2012, S. 57.

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Sein Modell beinhaltet drei mögliche (oft auch neben- oder nacheinander bestehende) Handlungsweisen, nach denen Krankheitsgeschichten strukturiert sind: ›Restitution‹ (Zuversicht in Heilung), ›chaos‹ (Kontrollverlust im Angesicht der Hoffnungslosigkeit), und ›quest‹ (Krankheit als Mittel zu neuen Erkenntnissen).13 Im Kontext von Krankheitsbewältigung sind außerdem noch die zwei Termini ›Coping‹ und ›Passing‹ zu erläutern. Schappach definiert ›Coping‹ als »Bewältigungsstrategien von Betroffenen einem schwerwiegenden Problem gegenüber wie etwa einer schweren Krankheit.« ›Passing‹ hingegen erklärt sie als »Verfahren der Betroffenen in Bezug auf die Gesellschaft, insbesondere zur Sicherung ihrer sozialen Integration und Anerkennung.«14

M E THODISCHE V ORÜBERLEGUNG 2: K OMMUNIK ATIVES H ANDELN NACH H ABERMAS In den 1970er Jahren begründete Jürgen Habermas den theoretischen Ansatz der ›Universalpragmatik‹ mit dem Ziel, »allgemeine Voraussetzungen kommunikativen Handelns« zu beschreiben.15 Das ›kommunikative‹ (verständigungsorientierte) Handeln umfasst eine der zwei Unterkategorien des ›sozialen Handelns‹; die zweite Untergruppe ist das ›strategische‹ (erfolgsorientierte) Handeln.16 Im strategischen Handeln stehen »egozentrische Erfolgskalküle« im Vordergrund, der Aktant versucht also sein Bestreben unabhängig vom Einverständnis des Gegenübers zu erreichen.17 Unter ›kommunikativem Handeln‹ ist verständigungsorientierte Interaktion zu verstehen, die grundsätzlich das Ziel hat, einen Konsens bzw. das Einverständnis zwischen den Gesprächspartnern herbeizuführen. Nach Habermas beruht »Einverständnis […] auf der Basis der Anerkennung der vier korrespondierenden Geltungsansprüche«.18 Unter dem Geltungsanspruch der ›Wahrheit‹ versteht Habermas die Absicht des Sprechers, einen »wahren propositionalen Gehalt mitzuteilen« in Bezug

13 | »Restitution stories attempt to outdistance mortality by rendering illness transitory. Chaos stories are sucked into the undertow of illness and the disasters that attend it. Quest stories meet suffering head on; they accept illness and seek to use it.« (115) 14 | Schappach 2012, S. 15. 15 | Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? In: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984, S. 353-440, hier S. 535. 16 | Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1981, S. 384f. 17 | Habermas 1981, S. 385. 18 | Habermas 1984, S. 255.

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auf die objektive Welt der äußeren Natur.19 ›Richtigkeit‹ bezieht sich auf die Korrektheit einer Aussage in Bezug auf einen bestehenden »gemeinsam anerkannten normativen Hintergrund«, so dass Hörer und Sprecher »in diesen Werten übereinstimmen« können.20 Die Kommunikationsvoraussetzung der ›Wahrhaftigkeit‹ zielt auf die expressive Selbstdarstellung des Sprechers ab, welcher seine Intention wahrhaftig, also willentlich, äußert.21 Die ›Verständlichkeit‹ bezieht sich schließlich auf die Verwendung der Sprache, mit derer Hilfe sich Sprecher und Hörer verstehen können. Für eine kommunikativ erfolgreiche Sprechhandlung müssen die Kommunikationsteilnehmer einerseits die drei Geltungsansprüche simultan erheben und andererseits »verständigungsbereit sich und die Ansprüche auf Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit […] wechselseitig als erfüllt unterstellen.«22 Drei der vier von Habermas postulierten Geltungsansprüche, nämlich Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit, werden im Folgenden die Analyse des Textes von Hugo Loetscher anleiten. Der verständliche, grammatische Satz, d.h. der Geltungsanspruch der Verständlichkeit wird als Voraussetzung für die anderen drei Elemente verstanden und in Bezug auf die hier vorgeschlagene Lektüre nicht eigens diskutiert.

D ER R ICHTIGKEITSANSPRUCH IM K ONTE X T VON W AHRHEIT UND L ÜGE Es kam ihm vor, als habe sich sein Leben um nichts anderes als um Wahrheit und Lüge gedreht, als gehe es angesichts des Todes nur noch um dieses Thema. (L157)

Nach Jürgen Habermas soll sich erfolgreiche Kommunikation durch die Herbeiführung eines Konsenses und durch die damit entstehenden interpersonalen Beziehung auszeichnen.23 Dieses Einverständnis beruht auf »reziprok erhobenen Geltungsansprüche[n]«,24 was im Kontext von Loetschers »Die Einwilligung« besonders interessant ist im Hinblick auf die normative ›Richtigkeit‹, in der gesellschaftliche Handlungsnormen und Werte in einer Proposition geäußert werden. Bei dem namenlosen Protagonisten lassen sich 19 | Habermas 1984, S. 354. 20 | Habermas 1984, S. 355. 21 | Habermas 1984, S. 426. 22 | Habermas 1984, S. 393. 23 | Habermas 1984, S. 355 und 428. 24 | Habermas 1984, S. 436.

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zwei Lebensbereiche ausmachen, in denen er, aufgrund von Diskrepanzen zwischen seinen eigenen und den gesellschaftlichen Normvorstellungen, sich veranlasst sieht, den Wertmaßstab der Wahrheit als entwertet und ungültig zu erleben. Einerseits findet ein Verwischen der Kategorien ›Wahrheit/Unwahrheit‹ in seinem Beruf als Reiseleiter statt, der von ihm »tägliche Berufsschwindeleien« (L142) verlangt und in dem er im Geschäftsinteresse Arrangements »dreh[t] und wende[t], […] nicht nur am Telefon, sondern von Angesicht zu Angesicht.« (L142) Dazu kommt, dass der Protagonist auch Kunden assistiert, die eine Lüge leben, beispielsweise wenn er diskret ›Geschäftsreisen‹ für Kunden bucht, die heimliche Affären pflegen. (L159) Die Lüge und ihre Beschönigung und Verharmlosung ist ein zentraler Bestandteil seiner Arbeit, doch scheint er die Richtigkeit dieses Umgangs mit Wahrheit und Lüge persönlich nicht zu vertreten. Er reflektiert, durchnässt an seinem Küchentisch sitzend, seine Rolle in der Agentur äußerst kritisch: »[I]hm war, als habe er an einem riesigen Schwindelnetz mitgearbeitet.« (L159) In diesem Sinne führt der Protagonist in seinem Beruf ›strategische Handlungen‹ durch; es ist seine Aufgabe, mittels Manipulation und Täuschung die Ziele seiner Agentur zu verfolgen. Bedeutungstragend dabei ist die Tatsache, dass die Kommunikation zwischen Protagonist und Kunden (trotz Unwahrheiten beiderseits) funktioniert, ja, dass das Geschäft gerade wegen den nicht-thematisierten, diskret behandelten Unwahrheiten erfolgreich ist. Seine zynische Haltung gegenüber dieser gesellschaftlich offenbar geduldeten, ja erwünschten Aufhebung von Wahrheit und Lüge zeigt eine erste Diskrepanz zwischen ihm und der Außenwelt. Es lässt sich schon auf der beruflichen Ebene erkennen, dass das Leben mit und in der Lüge für die Hauptfigur unvermeidlich ist und die Lüge als Teil seiner Wirklichkeit zu sozialer Akzeptanz beiträgt. Der zweite Lebensbereich, in dem der Unterschied zwischen Wahrheit und Unwahrheit und damit der zwischen gesellschaftlicher und subjektiver ›Richtigkeit‹ verwischt wird, ist der seiner (Homo-)Sexualität. Noch vor seiner Aidserkrankung erlebt der Protagonist, dass er mit seiner Denkweise über Homosexualität überall aneckt. In diesen Kommunikationssituationen zwischen ihm und akzeptierten Repräsentanten der Gesellschaft scheint die Ebene der ›Richtigkeit‹ eine wichtige Rolle zu spielen, denn was Normen und Werte betrifft, herrscht eine große Diskrepanz zwischen seinen Auffassungen und denjenigen seiner Kommunikationspartner. Um kommunikativ zu einem Einverständnis über Sexualität zu gelangen, wäre es nötig, dass alle Kommunikationspartner von demselben Hintergrundkonsens ausgehen. Habermas erklärt: »Sobald dieser Hintergrundkonsensus erschüttert ist […], kann kommunikatives Handeln nicht fortgesetzt werden.«25 Die Handlungszusam25 | Habermas 1984, S. 355f.

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menhänge des vorliegenden Textes bestätigen diese Annahme im Bereich der Sexualität. In diesem für ihn zentralen Thema befindet sich der Protagonist zwischen zwei Polen, was sich auf seine gesellschaftliche Positionierung erschwerend auswirkt: Auf der einen Seite finden sich Figuren wie Kurt, die ihre Homosexualität öffentlich thematisieren, auf der anderen Seite stehen heterosexuelle Personen (der Rest der Einheit ›Gesellschaft‹), die von ihm ein gewisses Normverhalten, d.h. Verheimlichung, erwarten. Er stellt seine Inkongruenz mit beiden Fraktionen wie folgt dar: Als er Koch am ersten Arbeitsmorgen an seinem Schreibtisch sah, […] fiel ihm ein, in welcher Bar er ihm schon begegnet war, im Roten Kater. Aber gerade das mochte er nicht, daß einer, nur weil er seine Vorlieben teilte, fraternisierte […]. […] Sogleich waren sie aneinandergeraten. Koch hatte ihn einen Feigling und Verräter geschimpft, mit Leuten wie ihm kämen die Homosexuellen nie aus den Toiletten heraus: »Outing«, er schrie das Wort so laut, dass manche Kolleginnen und Kollegen vom Bildschirm aufsahen. Soll er aufs T-Shirt »schwul« drucken lassen, »komm ans andere Ufer«? Er fand jede Spezialisierung grotesk, damit schaffe man gerade das Getto, aus dem man herauswolle […]. 26 Aber er hatte bald realisiert, daß gerade seine Selbstverständlichkeit [seiner Homosexualität gegenüber] provozierte; dabei war es nicht Mut, er war unbekümmert und sorglos. Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn er sich freiwillig in die Ecke gestellt und gebettelt hätte, aus ihr hervortreten zu dürfen. Das hätte den anderen erlaubt, ein Zugeständnis zu machen und Toleranz zu üben. Natürlich kannte er das Schulterklopfen: Ich habe nichts dagegen. Als ob es an den anderen gewesen wäre, etwas dagegen oder dafür zu haben. So irritierte er noch die, die es gut meinten. Anders hätte es sich verhalten, hätte er geklagt und gejammert. 27

Wie diese beiden Zitate zeigen, kann der Protagonist in Bezug auf den Umgang mit seiner Sexualität keine Verständigung erreichen: Den Homosexuellen ist er zu unsolidarisch, wirkt auf sie wie ein Verräter, der nicht zu seiner Sexualität und der sie repräsentierenden Gruppe stehen will. Für den Rest der Gesellschaft verstößt er gegen gängige Erwartungen, denn er geht in ihren Augen zu freigeistig, zu zwanglos und zu selbstverständlich mit Homosexualität um, denn er gibt sich nicht als akzeptanzsuchende Randfigur aus. Problematisch für die Identitätsbildung des Protagonisten ist in dieser Beziehung weniger sein Unwille, mit anderen Homosexuellen zu ›fraternisieren‹, als die Tatsache, dass ihm ohne sein Einverständnis von außen ein Fremdstereotyp zugewiesen wird, in welches er (bisher) nicht einwilligen konnte. Ob und inwiefern er am Ende doch in die an ihn herangetragenen Normvorstellungen 26 | Loetscher 2002, S. 153f. Hervorhebungen durch V. L. 27 | Loetscher 2002, S. 152. Hervorhebungen durch V. L.

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bezüglich Homosexualität einwilligt, wird vom Text nie abschließend geklärt. Diesbezüglich wäre der Titel des Textes durch den interpretierenden Leser also wohl mit einem Fragezeichen in der Schwebe zu halten. Versteht man die Beziehung zwischen Protagonist und Gesellschaft als eine Art der grundsätzlich verständigungsorientierten Kommunikation, so scheitert diese aufgrund der fehlenden Kongruenz des normativen Hintergrunds bezüglich Homosexualität. Durch die zwei verschiedenen Vorstellungen von ›Richtigkeit‹ irritieren sich die Gesprächspartner, und eine kommunikative Verständigung ist nicht mehr möglich. Mögliche Alternativen wären laut Habermas »auf strategisches Handeln umzuschalten oder die Kommunikation überhaupt abzubrechen oder aber das verständigungsorientierte Handeln auf der Ebene argumentativer Rede […] wieder aufzunehmen.«28 In diesem Fall geschieht das Zweitgenannte: Die Kommunikation bricht ab, der Protagonist wendet sich von der Gesellschaft ab, die ihm unwillentlich die Rolle bzw. Identität des schwulen Außenseiters zugewiesen hatte. An einem Punkt macht er folgende zentrale Bemerkung: »[E]r spürte, wie er zum Lügner wird, indem er sagt, wie es war.« (L166) Dies beschreibt sehr genau seine durch fehlgeschlagene Kommunikation entstandene paradoxe Situation: Was für ihn Wahrheit darstellt, entstand unter anderen ›Richtigkeitsbedingungen‹, also vor einem anderen normativen Hintergrund im Vergleich zu demjenigen der Gesellschaft. Sagt er die Wahrheit, erscheint sie den ›Anderen‹ als Lüge, weil sie für diese auf falschen Werten basiert. Aussagen wie »Er wusste nicht mehr, wo das Lügen begann und wo die Wahrheit endete […]« (L149) lassen erahnen, dass diese beiden ethisch-moralischen Kategorien für den Protagonisten schon lange verwischt sind, während sie für den Leser im Laufe der Erzählung ebenfalls dekonstruiert werden. Seine liberale, undramatische Ansicht über Homosexualität wird ihm zum Verhängnis, da er aufgrund seiner persönlichen Werthaltung sowohl an die Peripherie der Gesellschaft wie an die Peripherie der sich ›outenden‹ Homosexuellen gedrängt wird und diesem Dilemma nur entkommen könnte, würde er mit beiden brechen.

K R ANKHEIT – U NTERSTÜT ZUNG ZUM ›N EIN -TUN ‹? Nun stand ihm der Körper bei […] (L174)

Die Krankheit Aids spielt in dieser Erzählung eine überraschend marginale Rolle – sie tritt nicht als die schreckliche, todbringende Infektionskrankheit auf, die der Leser erwarten würde, sondern vielmehr als das Element, das den Protagonisten in seiner paradoxen sozialen Situation unterstützt und ihn sich 28 | Habermas 1984, S. 356.

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selbst näher bringt.29 Ganz im Sinne von Franks Quest-Narrative akzeptiert der Protagonist die Krankheit und nutzt sie, macht sie sich zu eigen.30 Jedoch gibt es auch Indizien, die auf eine Gleichzeitigkeit von Quest- und Chaos-Narrative hinweisen. Zwei Gründe sprechen für eine Vermischung dieser zwei Erzählarten: Direkt nach der Diagnose werden die Eindrücke des Protagonisten erzähltechnisch auffallend detailreich und instabil dargestellt: Er war danach drauflosgebummelt. An der Autowaschanlage vorbei, ›Keine Bürsten. Keine Kratzer‹. Vor einem ›Flohladen‹ ein altes Kinderbett, in einer Hutschachtel antiquarische Bücher und über dem Secondhand-Pelz am Ständer, was er schon lange nicht mehr gerochen hatte, Mottenkugeln. […] Ihm schien, als lösten sich die Gegenstände auf; es hätte ihn nicht überrascht, wenn die Häuserfronten weggeschoben worden wären […]. (L173)

Im ersten Teil des Zitates wird die für Chaos-Narrative typische syntaktische Struktur »and then and then and then […]« deutlich,31 während im zweiten Teil gezeigt wird, wie der Protagonist in den Sog der Krankheit gezogen wird und sich dabei die Realität auflöst. Für eine Kombination aus Quest- und ChaosNarrative spricht auch die Tatsache, dass die ganze Geschichte (fast) ohne chronologische Zeitfolge erzählt wird. Da die Erzählung vor allem aus Analepsen besteht, könnte man ihre Struktur auch als »auf bauende Rückwendung«32 bezeichnen, denn erst in den verschiedenen Analepsen werden »die Hintergründe einer zunächst unvermittelt präsentierten Situation entwickelt« und die Rätselstruktur wird größtenteils aufgelöst. Die zeitlich ungeordnete, chaotisch erscheinende Erzähltechnik vermittelt dem Leser durch Innensicht und die Darbietungsart der erlebten Rede authentisch die Gedanken und Emotionen der Hauptperson. Trotz verschiedener Hinweise auf ein Chaos-Narrativ ist es nicht so, dass der Protagonist komplett versinkt. Er schöpft aus seiner Erkrankung Kraft und Mut, einen Schritt zu tun, den er ohne Aids nie gewagt hätte:

29 | Wie Rudolf Käser feststellt, wird Aids hier »nach der Normalisierung der Verhältnisse« thematisiert. Der Text fügt sich also in einen schon bestehenden und dem Leser bekannten Diskurs ein. Vgl. Käser, Rudolf: Wie und zu welchem Ende werden Seuchen erzählt? Zur kulturellen Funktion literarischer Seuchendarstellung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 29 (2004), S. 200-227, S. 226. 30 | Siehe Frank 1995, S. 115. 31 | Frank 1995, S. 99. 32 | Martinez, Matias und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Auflage. München 1999, S. 36. Sie zitieren hier Lämmert, Eberhart: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955, S. 104-108.

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Ein Körper, der sich nicht mehr wehrt – er hätte nie den Mut gehabt, von sich aus radikal »nein« zu sagen. Nun stand ihm der eigene Körper bei, mit dem er geliebt und getanzt hatte und mit dem er geschwommen war. Was für ein Angebot – ein befreiendes Gefühl, daß alles um ihn und er sich selber bald nichts mehr anging. (L174)

Erst an dieser Stelle wird deutlich, dass der Protagonist sich schon vor der Erkrankung zwischen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und Normvorstellungen eingeengt und eingekeilt gefühlt hat. Die misslungene Kommunikation zwischen ihm und dem Rest der Welt führt zu tiefer Unsicherheit und zu einem Leben in Lüge. Doch es scheint so, als ob ihn die Krankheit von dieser Ambiguität befreit und ihn mittels des Körpers dazu zwingt, nein zu sagen. Diese Vorstellung, die Krankheit Aids könnte einen Sinn haben, sie sei wohl gar als Unterstützung auf dem individuellen Weg der Selbstfindung zu verstehen, ist dazu angetan, die Werthaltung des Lesers, d.h. die übliche Privilegierung von Gesundheit, herauszufordern und damit gesellschaftlich geprägte Normvorstellungen zu problematisieren. Allerdings steht die Hauptfigur mit der affirmativen Haltung zur Krankheit nicht alleine – die Vorstellung, Krankheit als gesellschaftsverträgliches Mittel zum ›Nein-Tun‹ anzunehmen, war auch für Nietzsche von Bedeutung. Nietzsche spricht von einer »Umwertung der Werte«, von einer Umstellung der »Perspektive«, die er erst durch die Krankheit erlernt habe.33 Zudem versteht Nietzsche die Krankheit als Gewinn für seine persönliche Entwicklung, denn er kann als Kranker, ohne dies explizit äußern zu müssen und womöglich andere vor den Kopf zu stoßen, indirekt ›nein sagen‹, indem er (bzw. sein Körper) ›nein tut‹.34 Hier kam mir auf eine Weise, die ich nicht genug bewundern kann, und gerade zur rechten Zeit jene schlimme Erbschaft von Seiten meines Vaters her zu Hilfe – im Grunde eine Vorbestimmung zu einem frühen Tode. Die Krankheit löste mich langsam heraus: sie ersparte mir jeden Bruch, jeden gewalttätigen und anstößigen Schritt. Ich habe kein Wohlwollen damals eingebüßt und viel noch hinzugewonnen. Die Krankheit gab mir insgleichen ein Recht zu einer vollkommnen Umkehr aller meiner Gewohnheiten; […]. 35 33 | Nietzsche 1980, S. 1071. Er spricht bezüglich des Perspektivenwechsels von seiner Fähigkeit, von der »Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werten« zu streben und aus »der Fülle und Selbstgewißheit des reichen Lebens hinunter[zu]sehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkt«. 34 | So beschreibt Nietzsche in »Ecce Homo« das ›Nein-Tun-ohne-zu-verneinen‹ wie folgt: »Das psychologische Problem im Typus des Zarathustra ist, wie der, welcher in einem unerhörten Grade Nein sagt, Nein tut, zu allem, wozu man bisher Ja sagte, trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes sein kann.« Nietzsche 1980, S. 1136. 35 | Nietzsche 1980, S. 1121.

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Lötschers Protagonist folgt mit seiner affirmativen Wertung der Krankheit offenbar einer Spur, die Nietzsche gelegt hat. Dass Krankheit positiv konnotiert wird, entspricht durchaus nicht den außerliterarischen, gesellschaftlich normierten Werthaltungen. Auch Loetscher zeigt in der fiktiven Welt seiner Erzählung, dass die Sicht des Protagonisten nicht allein gültig ist und durch andere Coping-Strategien anderer Personen relativiert wird. Diese Polyperspektivität kann den Leser irritieren und ihm bewusst machen, dass es möglicherweise nicht die eine ›richtige‹ Wertauffassung von Krankheit gibt. Der Protagonist in Loetschers Erzählung stellt sich auch in Gegensatz zur geläufigen Vorstellung des ›guten Kranken‹; denn er kämpft nicht »gegen die Erkrankung und seinen körperlichen Verfall an.«36 Er will die Krankheit vielmehr beschleunigen: »er wünschte sich einen Tee, der nichts vertrieb, der sollte fördern, was sich in ihm auszubreiten begann.« (L151) Statt die Krankheit zu bekämpfen, möchte er diese selbstbestimmt modellieren: »Er nahm sich das Recht heraus, das Sterben mitzubestimmen.« (L151) »Nie hätte er geahnt, daß er eines Tages den Tod herbeirufen wird und sich dafür dem Regen ausliefert.« (L144) Diese Reaktion auf die Diagnose ›Aids‹ erscheint im außerliterarischen Kontext befremdlich, könnte der Protagonist doch mit der heutigen antiretroviralen Therapie den Krankheitsverlauf drastisch verlangsamen, wenn nicht sogar anhalten. In diesem Kontext könnte die ›Einwilligung‹ als Bejahung und Annahme der Krankheit Aids verstanden werden. Die Entscheidung der Hauptfigur wird allerdings vor dem Hintergrund der missglückten Kommunikation nachvollziehbar. Bereits vor seiner Erkrankung wird er als Randfigur stigmatisiert, seine Werthaltungen sind aus gesellschaftlicher Sicht eine Lüge und konträr zu dem, was als ›normal‹ und ›richtig‹ gilt. Der Protagonist steht jedoch kompromisslos zu seiner Überzeugung und vertritt sie bis zur letzten Konsequenz. Auch in seinem Tod beugt er sich den gesellschaftlichen Maßstäben nicht. Er nimmt seine Krankheit an, weil ihm diese Haltung erlaubt, die von ihm individuell vertretene Werthaltung zu bejahen, die er unerschütterlich gegen den doppelten Widerstand der Gesellschaft wie der homosexuellen Subkultur vertritt.

36 | Schappach, 2012, S. 57.

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F IGURENKONSTELL ATION UND S YMPATHIELENKUNG Doch im Gedächtnis drängten sich mehr und mehr Gesichter, lösten einander ab und gingen ineinander über, namenlose und solche mit Namen und Namen, die ihm nichts mehr sagten. (L161)

Eine weitere Komponente, die den Text Loetschers zum Ort der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Wertperspektiven macht, ist die ambivalente Figurenkonstellation. Zwar erlebt der Leser die Innensicht des Protagonisten als Bewusstseinsbericht und erlebte Rede, dennoch ist die literarische Konstruktion der Figur so gehalten, dass keine ausschließliche Identifikation mit der Hauptfigur stattfinden kann. Schappach erklärt zur Identifikationsteuerung Folgendes: »Die Erzählsituation steuert insbesondere die Identifikation der Lesenden mit bestimmten Figuren und die Übernahme oder die Ablehnung bestimmter Wertperspektiven.«37 In der hier vorliegenden personalen Erzählsituation, die in erlebter Rede wiedergegeben wird, ist der Erzähler nur teilweise Sympathieträger, weshalb auch seine Wertperspektiven nicht ohne Weiteres vom Leser angenommen werden. Ein Grund für die oftmals ambivalenten Gefühle des Lesers in Bezug auf die Hauptperson ist darin zu sehen, dass er in seiner Kommunikation bzw. seiner Gedankenrede den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit sehr ernst nimmt und aus diesem Grund dem Leser die »sprachlich sich darstellende […] Subjektivität« (scheinbar) ohne Zensur vermittelt.38 Es wird beispielsweise erzählt, wie er einen jüngeren Freund skrupellos »belogen und hingehalten« hat (L143); wie er fragwürdige, ihm selbst etwas unbehagliche Liebschaften eingeht 39 oder wie er über den Selbstmord eines Freundes offenbar recht unbekümmert denkt. (L144f.) Mit diesen menschlichen Charakterfehlern wird die Figur des Erzählers als Antiheld konstruiert. Dazu kommt, dass in dem doch recht kurzen Text weitaus häufiger von negativem Handeln, schlechten Erfahrungen und verpassten Chancen die Rede ist, die öfters auch mit den außerliterarischen Wertvorstellungen von einem ethisch-moralisch ›richtig‹ geführten Leben kollidieren. Dies führt dazu, dass der Protagonist zwar einerseits als Opfer einer intoleranten Gesellschaft erscheint, seine Handlungen andererseits aber auch hinterfragt und kritisiert werden müssen und von ihm selbst hinterfragt werden. Seine bedingungslose Ehrlichkeit lässt den Erzähler 37 | Schappach 2012, S. 16f. 38 | Habermas 1984, S. 426. 39 | »Er war anfänglich geniert. Leo war verheiratet; er wußte nicht recht, als was er sich vorkommen sollte. […] Hatte er nicht schon längst mitgespielt? Und wenn es ein unehrliches Spiel war, hatte er nicht längst mitgelogen?« L163.

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äußerst zuverlässig erscheinen, was seinen Darlegungen eben trotz fehlender Übereinstimmung mit (außerliterarischen) Werthaltungen einen hohen Grad an Glaubhaftigkeit verleiht. Eine weitere Erklärung dieser unvollständigen Identifikation mit der Hauptperson ist die Präsenz zweier anderer homosexueller Figuren, die nicht als Antagonisten, sondern vielmehr als positiv besetzte Gegenfiguren konstruiert werden. Zu nennen ist einerseits die Figur des ›Monsieur‹ Leo, eines ehemaligen Liebhabers des Protagonisten, der als öffentliche Person seine sexuelle Orientierung geheim hält und vorgibt, eine perfekte Ehe zu führen. Am anderen Ende dieses sich so eröffnenden Spektrums steht der Arbeitskollege Koch, der offen zu seiner Homosexualität steht. Durch die detailreiche Beschreibung dieser zwei Figuren stellt der Text alternative Umgangsweisen mit Homosexualität dar und bietet dem Leser andere mögliche Werthaltungen an, die im einen Fall etwas radikaler, im anderen Fall etwas pragmatischer sind als die vom Protagonisten vertretenen. Die Anwesenheit dieser beiden nicht negativ gestalteten Gegenfiguren trägt stark dazu bei, dass die Identifikation mit dem Protagonisten limitiert wird und der Leser auch mit einer anderen Figur sympathisieren könnte. Als letzter Punkt muss noch erwähnt werden, dass auch die Axiologie der Plot-Struktur die Identifikation mit dem Protagonisten in Frage stellt, bzw. offen lässt, welche Werthaltungen der Text selbst vertritt. Schappach erläutert diese literarische Wertvermittlungsstrategie, die auch als »poetische Gerechtigkeit« bezeichnet werden kann,40 wie folgt: »Gerade bei Krankheitsdarstellungen ist zu beobachten, dass häufig diejenigen Figuren erkranken und sterben, welche innerhalb der Axiologie des Textes negativ bewertet werden, während die positiv bewerteten Figuren gesund bleiben oder von der Krankheit geheilt wurden.«41 In der vorliegenden Erzählung kann sich der Leser jedoch nicht auf diese literarische Strategie der Wertvermittlung verlassen – der Plot verläuft hier gerade entgegengesetzt zu dem, was man als Leser konventioneller fiktionaler Krankheitsnarrative erwarten würde. Der unsympathische Heuchler (Leo) kommt ohne Einsicht mit seinen Lügengeschichten davon und der extrovertierte Homosexuelle (Koch) ist beruflich äußerst erfolgreich, sie beide überleben. Nur der namenlose Protagonist mit seiner gemäßigten, dezenten Haltung erkrankt an Aids und stirbt höchstwahrscheinlich daran. Sein fehlender Name verstärkt dabei den fast schon ironischen Eindruck seiner Bedeutungslosigkeit in der Gesellschaft. Nur in Loetschers literarischer Er40 | Vgl. Käser, Rudolf: »Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin«. In diesem Band S. 15-42. 41 | Schappach 2012, S. 19. Schappach verweist an dieser Stelle auch auf Orell, Esther Claudia: Die Macht der Benennung. Literarische Seuchendarstellungen und ihre wertvermittelnde Funktion. Dissertation, Universität Zürich 2005.

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zählung wird er zur Hauptfigur. Der gesellschaftlichen Irrelevanz dieser Person steht die Authentizität der literarischen Erzählung gegenüber, welche die melancholisch-bitteren Lebensumstände des Protagonisten eindrücklich und überzeugend ins Zentrum des Leserbewusstseins rücken. Gerade durch die Namenlosigkeit der Hauptperson gelingt es dem literarischen Text zu bewirken, dass sich Leser und Protagonist auf Distanz begegnen, ähnlich, vielleicht sogar genau so, wie der Protagonist die dargestellte Gesellschaft auf Abstand hält und wohl halten muss: immer auf der Hut vor Vereinnahmung. Zwar kann dem Leser resp. der Leserin eine Identifikation mit ihm nur teilweise gelingen, jedoch ist es möglich, seine individuelle Werthaltung bezüglich Homosexualität, sozialer Ausgrenzung und Krankheit aus nächster Nähe kennen zu lernen, ohne dass diese kategorisch und vorbehaltlos übernommen werden müsste. Damit bietet der Text verschiedene Wertsysteme und deren Hintergründe an, doch geschieht dies unter Berufung auf die Freiheit zu individueller Wertauffassung, auf eine Freiheit also, die, wie der Text zeigt, noch längst nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft selbstverständlich ist.

F A ZIT Die Einwilligung des Protagonisten – sei es in die gesellschaftlich geltenden Vorstellungen über Homosexuelle oder in den Tod – stellt den Ausbruch aus einer zirkulären, unglückbringenden Beziehung mit der Gesellschaft dar. Nicht nur beim Leser, sondern auch bei der fiktionalen Gesellschaft eckt der Protagonist mit seinen individuellen Werthaltungen an. Innerhalb des Textes kann aufgrund dieser unterschiedlichen, nicht-kongruenten Geltungsansprüche der Richtigkeit keine erfolgreiche Kommunikation entstehen. Da sich die normativen Hintergründe (und damit die gegenseitigen Erwartungen aneinander) grundlegend unterscheiden, ist keine Verständigung zwischen den Parteien (Protagonist, tonangebende Gesellschaft, Subkultur der offen Homosexuellen) möglich. Der so entstehende Teufelskreis eliminiert daher jede Möglichkeit eines verständnisorientierten Austauschs, da ohne Kommunikation Vorurteile und Missverständnisse kaum aus dem Weg geräumt werden können. Die Aidserkrankung spielt in dieser Erzählung eine instrumentale Rolle, da sie den Protagonisten zum Nein-Tun motiviert und er dadurch eindrücklich bis zum Schluss für seine Werte einstehen kann. Zudem ist die positive Haltung gegenüber der Krankheit stärkster Ausdruck der divergenten Werthaltungen des Protagonisten im Vergleich zur gesellschaftlichen ›Normalität‹. Aus der Sicht der Wirkungsästhetik wird die Werthaltungsproblematik, wie sie im Text zwischen Gesellschaft und Protagonist nachgezeichnet wird, auch auf den irritierten Leser übertragen. Leserinnen und Leser können sich selbst im Text als Teil einer Gesellschaft wiedererkennen, die zu leicht und zu

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gerne ausgrenzende Urteile der einen oder anderen Art fällt und damit Randfiguren schafft. Die Erzählung zeigt dem Leser die Wirklichkeit einer randständigen Figur, die unerwartete Entscheidungen bezüglich ihrer Krankheit fällt und diese als Möglichkeit erlebt, ihren Werten treu zu bleiben. Der Text lässt dem Leser Raum für die individuelle Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen, die mit den eigenen, gesellschaftlich gefestigten Haltungen kollidieren. Hugo Loetschers Erzählung gelingt es, subtile Gesellschaftskritik zu üben, indem, ohne zu dramatisieren, eine fiktionale Geschichte in eine realistische Problematik derart eingebettet wird, dass der Leser/die Leserin sich selbst darin wiederfindet kann und seine/ihre Position innerhalb der entschleierten Verhältnisse kritisch hinterfragen muss.

L ITER ATUR Austin, John L.: How to do things with Words. Oxford 1962. Frank, Arthur W.: The Wounded Storyteller. Body, Illness, and Ethics. Chicago 1995. Gutenberg, Andrea: Mögliche Welten. Plot und Sinnstiftung in englischen Frauenroman. Heidelberg 2000. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1981. Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? In: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984, S. 353-440. Käser, Rudolf: Methodenansätze zur Erforschung des interdiskursiven Verhältnisses von Literatur und Medizin. In: Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit  im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin. Käser, Rudolf u. Beate Schappach (Hg.). Bielefeld 2014. Käser, Rudolf: Wie und zu welchem Ende werden Seuchen erzählt? Zur kulturellen Funktion literarischer Seuchendarstellung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 29 (2004), S. 200-227. Lämmert, Eberhart: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955. Loetscher, Hugo: »Die Einwilligung«. In: Der Buckel. Zürich 2002. Martinez, Matias und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Auflage. München 1999. Nietzsche, Friedrich: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Schlechta, Karl. München 1980. Orell, Esther Claudia: Die Macht der Benennung. Literarische Seuchendarstellungen und ihre wertvermittelnde Funktion. Dissertation Universität Zürich 2005.

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Parsons, Talcott: Action Theory and the Human Condition. 3. Auflage. New York 1978. Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart u. Weimar 1993. Schappach, Beate: Aids in Literatur, Theater und Film. Zur kulturellen Dramaturgie eines Störfalls. Zürich 2012. Searle, John R.: Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge 1969.

Popularisierung und Breitenwirksamkeit

Mad Scientists im Dienst eines uralten Menschheitstraums? TV-Dokumentationen über Forschungen zur Lebensverlängerung 1 Ingrid Tomkowiak

Ein Filmanfang: Wir hören leise, bedrohliche Musik und sehen in ein Labor hinein: Ein weißhaariger Mann im weißen Kittel, der uns den Rücken zudreht, ist mit Pipettieren beschäftigt. Er wendet sich uns zu und sagt: Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, Das wagen wir verständig zu probieren, Und was sie sonst organisieren ließ, Das lassen wir kristallisieren. Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll; Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen, Und so ein Hirn, das trefflich denken soll, Wird künftig auch ein Denker machen.

Es folgt ein Kommentar aus dem Off: »Ein Traum oder vielleicht besser Alptraum der Menschheit scheint durch die Entwicklung der Gentechnologie möglich zu werden.« Das Zitat ist bekannt, es stammt aus der Laboratoriumsszene von Goethes »Faust. Der Tragödie zweiter Teil« (1832): Der emsige Famulus Wagner erzeugt den Homunkulus.2 Die hier angesprochene Laboratoriumsszene stammt jedoch nicht aus einer aktualisierenden Inszenierung von Goethes Tragödie, 1 | Der Beitrag erschien auch unter dem Titel: Fakten und Fiktionen. TV-Dokumentationen über Forschungen zur Lebensverlängerung. In: Brigitte Boothe, Pierre Bühler, Paul Michel, Philipp Stoellger (Hg.): Textwelt – Lebenswelt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 (Interpretation Interdisziplinär, 10), S. 125-142. 2 | 1 Goethe, Faust II, 6857-6860, 6867-6870.

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sondern es handelt sich eher um das Gegenteil, nämlich um eine historisierende Szene am Beginn einer Fernsehdokumentation über Genforschung3. Über den Bezug zum im Beisein Mephistos geschaffenen Homunkulus bzw. zum Faust-Stoff mit all seinen Implikationen wird das behandelte Thema im Sinne einer Nobilitierung kulturhistorisch angeschlossen und gleichzeitig problematisiert. Implizit kommt in der Laboratoriumsszene von Goethes »Faust« eine Kritik am einfältig-beschränkten rationalen Wissenschaftsoptimismus zum Ausdruck. Die Stoßrichtung der Sendung ist mit den Bezügen zu Faust und der Schaffung des Homunkulus vorgegeben, es gehe, so die Botschaft, bei der Gentechnologie um die naive Realisierung eines als Alptraum gedeuteten Menschheitstraums. Der 1995 produzierte Dokumentarfilm »Menschen nach Maß« aus der zehnteiligen Sendereihe »Genzeit«, den diese Laboratoriumsszene einläutet, gehört zu einer ganzen Reihe von Wissenschaftsdokumentationen, die im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen Mitte der 1990er Jahre gezeigt wurden und sich vor dem Hintergrund der Beratungen über das Embryonenschutzgesetz bzw. ein Verbot von Forschungen an embryonalen Stammzellen mit dem Themenkomplex »Künstliches Leben – Ewige Jugend – Unsterblichkeit« auseinandersetzen.4 Um die naturwissenschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu erklären, werden in den Medien immer wieder auch Figuren und Motive aus Literatur und Mythologie herangezogen, und es scheint so, als seien sie als Sprachrohr kollektiver Einstellungen besonders dann gefragt, wenn es um das Bestreben geht, die als natürlich definierten Grenzen zwischen Tod und Leben, zwischen Leben und Tod zu überschreiten. Wie diese Rückgriffe in den kulturellen Fundus in der fernsehjournalistischen Behandlung naturwissenschaftlicher Forschungen eingesetzt werden und welche Funktionen sie dort haben, soll hier an einigen Beispielen aufgezeigt werden. Vor diesem Hintergrund werden die vorgestellten Dokumentationen sodann im Kontext der Debatte über die Aufgaben des Wissenschaftsjournalismus verortet und abschließend im Zusammenhang mit dem Vertrauensbegriff bewertet. In einem ersten Schritt möchte ich versuchen, das Themenspektrum besagter Dokumentationen aufzufächern. Sehen wir uns dafür zunächst zwei 3 | Fischenich und Pöpperl 1995 (siehe Filmverzeichnis). Zur Indienstnahme des Homunkulus-Stoffes für die zeitgenössische Wissenschaftskritik vgl. Drux, Rudolf: Das Menschlein aus der Retorte – Bemerkungen über eine literarische Gestalt, ihre technikgeschichtlichen Konturen und publizistische Karriere. In: Kegler, Karl R. und Kerner, Max (Hg.): Der künstliche Mensch. Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Köln, Weimar und Wien 2002, S. 217-238. 4 | Menschen nach Mass. Regie: Reinhold Fischenich und Manfred Pöpperl Deutschland 1995, Länge, Farbe, Reihe: Genzeit, Teil 9, H3.

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Filmausschnitte an. Der erste stammt aus dem Film »›Unsterblichkeit, nun bist du mein!‹ Suche nach ewigem Leben« (1994) von Ulrike Filgers.5 Auch hier wird im Titel ein literarisches Zitat verwendet, auf das im Verlauf des Films allerdings an keiner Stelle Bezug genommen wird. Es stammt aus der Scheinhinrichtungsszene am Ende des Schauspiels »Prinz Friedrich von Homburg« (1809/10) von Heinrich von Kleist. Der Vorspann des Films stellt die behandelten Themen und Akteure kurz vor, gezeigt wird jeweils ein kurzer Interviewausschnitt, dazwischen geschnitten sind verschiedene Bilder (im Folgenden in eckige Klammern gesetzt): [Hirnforscher:] Die Sterblichen haben es noch nie gerne gehört, sterblich zu sein. Aber man muss auch bedenken, dass der Tod ein Gedanke ist, der gefährlicher ist als spaltbares Material. – [kopulierende Kröten im Wasser] – [Roboterforscher, Übersetzung aus dem Englischen aus dem Off:] Eine Form von Unsterblichkeit ist für mich, Maschinen zu schaffen, die dem Menschen ähnlich sind, die mir ähnlich sind. [Fruchtfliegen] – [buddhistischer Mönch:] I think we all want to continue. [Übersetzung aus dem Off:] Wir alle wollen weiterleben, wir wissen nur nicht, wie. Manchmal wollen wir einfach diese Existenz, dieses uns vertraute Sein immer weiter verlängern. Das jedoch ist sehr schwierig. – [Paartanz von Bodybuildern, Kommentar aus dem Off:] Sterblich – verderblich – für immer? Niemals! Man konserviere seinen Leib beizeiten, denn die Biomasse ist marode. – [Bodybuilder:] Eine wunderbare Art der Körperertüchtigung. Man kann tatsächlich in diesem Sport mit Leichtigkeit attraktiv alt werden. – [historischer Filmausschnitt in schwarz-weiß zu Alcor, Übersetzung aus dem Englischen aus dem Off:] Ein Leben nach dem Tode. Die Gesellschaft für Kälteforschung in Phoenix, Arizona, sucht Mittel und Wege. Das Einfrieren der Biomasse ist die Antwort. Eine Testperson demonstriert, wie das gemacht wird. Das Blut wird durch eine Spezialflüssigkeit ersetzt, der Körper in Alufolie eingewickelt und bei minus 220 Grad Fahrenheit in einer Kapsel verschlossen.

Auch die Sendung »Der Traum vom ewigen Leben« (1994) aus der Wissenschaftsmagazin-Reihe »Quarks & Co« mit dem Diplom-Physiker Ranga Yogeshwar als Moderator beginnt mit einem Themenüberblick: [Yogeshwar:] […] Heute geht es in unserer Sendung um ein Thema, das vermutlich genau so alt ist wie unsere Menschheit. Es geht um den Traum von der Unsterblichkeit. […] Eines kann ich Ihnen versprechen: Unser heutiges Thema ist spannend, spinnen Sie mit uns mit, denn das erwartet Sie: [Bilder von Alcor] Eiskalt in die Zukunft. Für 120 000 Dollar lassen sich Menschen in den USA einfrieren. Ihre Hoffnung: Die Medizin der Zukunft kann sie wiederbeleben. – [Mensch am Mikroskop, Blick durchs Mikroskop] Müssen wir Menschen sterben? Wissenschaftler suchen nach Genen, die uns altern 5 | »Unsterblichkeit – nun bist du mein!« Suche nach ewigem Leben. Regie: Ulrike Filgers, Deutschland 1994, 44 Min., Farbe, WDR 3, 17.9.1994.

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lassen, und versuchen, sie abzustellen. – [Fruchtfliegen] Experimente mit dem Leben. Diese Fruchtfliegen leben doppelt so lange wie ihre Artgenossen. – [Mann auf OP-Tisch wird von Roboter am Kopf operiert] Der Geist auf der Festplatte. Der Roboterforscher Hans Moravec prophezeit einen sonderbaren Gedankenaustausch zwischen Gehirn und Computer.6

All diese Filme verfügen über ein recht einheitliches Repertoire von Berichten über wissenschaftliche Forschungen im Zusammenhang mit Zeugung, Leben, Altern und Tod. Im Zentrum stehen vermeintliche Bemühungen um eine irdische Unsterblichkeit in den Forschungsbereichen Zellbiologie bzw. Genforschung, Medizin, Computertechnologie, Mechanik, Pharmazie, Diätetik, Physikalische Chemie und Gerontologie. Ebenso finden sich allerdings Hinweise auf die Möglichkeit, durch Taten und Werke Unsterblichkeit im Gedächtnis der Menschen zu erlangen, sowie auf das Verständnis von jenseitiger Unsterblichkeit in verschiedenen Religionen (vgl. Grafik 1) Die Berichte werden gestützt durch Interviews mit Forscherinnen und Forschern und aus Laborsituationen stammendes Bildmaterial, dazu kommen Text-, Bild-, Musik- und Filmzitate aus nicht-wissenschaftlichem Umfeld mit ihrem jeweiligen intertextuellen Bezugsfeld, auf das hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann 7. Außer Faust und dem Homunkulus handelt es sich dabei um Gilgamesch und seine Suche nach dem Lebenskraut, das Lebenselixier als Wunschprodukt alchimistischen Strebens nach Allmacht und Gottgleichheit, das Bad im Wasser des Lebens als geistige Wandlung zur Vorbereitung auf das ewige Leben im Jenseits, den Jungbrunnen zur Überwindung der körperlichen Gebrechen des Alters. Das klingt dann beispielsweise so wie in dem Film »Das unendliche Leben. Auf der Suche nach der irdischen Unsterblichkeit« (1995) von Martin Papirowski und Jan Biekehör aus der Reihe »Gott und die Welt«: [Kommentar aus dem Off:] [See im Mondlicht] Es gibt viele Urmythen, die sich um die irdische Unsterblichkeit ranken. Vielleicht ist die Vorstellung von einem See, einem Fluss, einem Brunnen der Jugend der älteste Mythos. Wasser als Urelement allen Lebens. Aber die Suche nach dem Jungbrunnen ist voller Gefahren, Mühsal und Irrungen, [alter Mann im Wasser des Sees] die Verjüngung eine Belohnung für bestandene Prüfungen. Man 6 | Der Traum vom ewigen Leben. Reihe: Quarks & Co, WDR, 1.11.1994. 7 | Einen guten Einstieg in die Stoff- bzw. Motivgeschichte bieten neben den entsprechenden Artikeln in der »Enzyklopädie des Märchens« (Berlin/New York 1977) und sonstiger einschlägiger Überblicksliteratur im allgemeinen und trotz aller auch berechtigten Vorbehalte die jeweiligen Einträge in der Internet-Enzyklopädie »Wikipedia«, http:// de.wikipedia.org.

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muss sie sich verdienen, und nur ganz ganz wenigen wird sie zuteil [der Mann taucht ins Wasser ein und verjüngt wieder auf; Musik: Mozart, Requiem: Benedictus]. – [mittelalterliche Werkstatt, Mönch mit Phiole] Dann der Glaube an die Macht des eigenen Geistes. Die Verknüpfung von Magie und Experiment. Die Alchimie. Alles ist machbar. Silber in Gold zu verwandeln oder ein Elixier zu destillieren, das aus einem Greis einen Jüngling macht. Die Unsterblichkeit nicht als Belohnung, vielleicht verliehen von einem höheren Wesen, sondern selbstgeschaffen. Der Mensch als Schöpfer. Und an dieser Selbsteinschätzung hat sich in den vergangenen Jahrhunderten nichts verändert, obwohl der Traum vom Elixier ein Wunschtraum blieb. [Mönch trinkt von der Flüssigkeit aus der Phiole und verjüngt sich; dissonante Klänge]. 8

Dazu kommen in den Filmen Verweise auf den Ewigen Juden bzw. Ahasver, den Golem, immer wieder auf die Figur Frankenstein (allerdings ohne Bezug auf den gleichnamigen, 1818 erschienenen Roman Mary Shelleys) und die »Schöne neue Welt« Aldous Huxleys (1932); aber auch auf die Plastiken »Oh! Charley, Charley, Charley…« (1992) und »Family Romance« (1993) von Charles Ray, auf »Starwars« (Filmserie, beginnend 1977 unter der Regie von George Lucas), »Startreck« (TV-Serie, beginnend 1966 nach dem Konzept von Gene Roddenberry) und »Terminator« (Filmserie, beginnend 1984 unter der Regie von James Cameron) wird immer wieder Bezug genommen. Der musikalischen Gestaltung dienen Johann Sebastian Bachs »Toccata und Fuge in D-Moll« (BWV 565), ferner Mozarts »Requiem in D-Moll« (KV 626), die ursprünglich 1878 als »Chanson Groënlandaise« komponierte Abschiedsarie »Ebben? Ne andrò lontana« aus Catalanis Oper »La Wally« (1892, nach dem Roman »Die Geierwally« von Wilhelmine von Hillern), diverse Stücke von Philip Glass (*1937) sowie der Titelsong aus dem Film »Highlander« (1986, Regie: Russell Mulcahy) mit der Chorus-Zeile »Who wants to live forever?«, entweder in der Originalfassung von Queen oder der orchestrierten Fassung der deutschen Band Dune (1996). So haben wir es mit einem narrativen Gebilde aus Worten, Tönen und Bildern zu tun, dessen Komplexität durch Kameraperspektiven, Licht- und Farbgestaltung, Bildkomposition, Lautstärkemodulation, Schnitt- und Überblendungsmöglichkeiten und das sich daraus ergebende mit- oder gegenläufige Zusammenspiel von Wort, Ton und Bild noch verstärkt wird.

8 | Das unendliche Leben. Auf der Suche nach der irdischen Unsterblichkeit. Regie: Papirowski, Martin und Biekehör, Jan, Deutschland 1994, 45 Min., Farbe, Reihe: Gott und die Welt, N3, 14.4.1995.

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Ingrid Tomkowiak Zellbiologie/ Genforschung

Medizin

›Qualitäts­ kontrolle‹

Präimplantationsdiagnostik Pränataldiagnostik Genom-Projekt

Künstliches Leben

Klonen

In-VitroFertilisation als Her stellung von ›Retortenbaby‹

Prozess des Alterns

Alte Lebewesen 100-Jährige Progeria Programmierter Zelltod Krebszellen

Hirnforschung (Alzheimer u.a.)

Verjüngung

plastische Chirurgie

Lebens­ verlängerung

Fruchtfliegen Fadenwürmer Hefepilze Organzüchtung

Unsterblich­ keit/Ewiges Leben

?

Computertechnologie/IT

Mechanik

Automaten Roboter Artificial Life Künstliche Intelligenz

Prothesen

Reanimierung Lebensverlängernde Maßnahmen durch technische Geräte außerhalb des Körpers Transplantate Implantate, Nanotechnologie

Posthumanes ›Weiterleben‹ (Moravec)

Grafik 1: Übersicht über das Spektrum der Bemühungen um Langlebigkeit (eigene Darstellung).

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Pharmazie

Diätetik

Physikal. Chemie

Arzneimittel

Gerontologie

Religion/ Sekten

Produktivität

Ewiges Leben im Jenseits/ Unsterblichkeit im Diesseits

durch ihre Werke: Bach Mozart

Verbesserung der Lebensqualität im Alter u.a.

Kosmetik Arzneimittel

Ernährung Fitness

Arzneimittel

Ernährung Fitness

Cryoniker (ALCOR)

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Grafik 2: Mediale Ebenen im Dokumentarfilm (eigene Darstellung). Schauen wir uns einen weiteren Ausschnitt an, diesmal aus dem Film »Der Traum von der Unsterblichkeit« (1997) von Gero von Boehm.9 Wir sehen mikroskopische Bilder von sich bewegenden Würmern, es folgt ein Schnitt zu einer Panoramaaufnahme des nächtlichen Montreal. Aus dem Off hören wir den Erzähler des Films: Je mehr man über die Signale weiß, mit denen die Gene den Alterungsprozess steuern, desto wahrscheinlicher wird es, dass man ihn irgendwann auch verlangsamen kann. [Wir hören einen Männerchor singen.] Das ist letztlich genau das Ziel der Forscher, auch wenn es ihnen am Anfang immer nur um esoterische Detailfragen geht. An der Mc GillUniversität in Montreal ist es zum ersten Mal gelungen, die Lebensspanne einer Kreatur um ein Mehrfaches zu verlängern.

Präsentiert – oder besser: inszeniert – wird der Forscher Siegfried Hekimi in der intimen Atmosphäre seines Arbeitszimmers. Untermalt vom Soldatenchor aus Charles-François Gounods Oper »Faust« (1859, IV, 4) betreten wir den Raum mit dem Auge der Kamera, unser Blick fällt auf eine Publikation zur Zellbiologie, schwenkt sodann auf das mit der Figur Mephistos geschmückte Cover der Opern-CD (EMI-Classics, Cat. No: CDM 7630902), auf einen makellosen jugendlichen Frauenakt auf dem Monitor (es handelt sich um Jean Auguste Dominique Ingres’ 1856 entstandenes Gemälde »La Source«), und schließlich sehen wir aus der Perspektive des heimlichen Voyeurs – übrigens ein Stilmittel des Horrorfilms10 – den Forscher bei der Arbeit (Abb. 1).

9 | Der Traum von der Unsterblichkeit. Regie: Gero von Boehm, Deutschland 1997, 45 Min., Farbe, Reihe: Odyssee 3000, ZDF, 16.3.1997. 10 | Vgl. Vineyard, Jeremy: Crashkurs Filmauflösung. Kameratechniken und Bildsprache des Kinos. Frankfurt a.M. 2001, S. 56; König, Jan C. L.: Herstellung des Grauens.

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Abb. 1: Szenenbild aus von Boehm 1997. Der Erzähler fährt fort: »Professor Siegfried Hekimi hört gern klassische Musik, wenn er seine Experimente macht. Und wenn diese Experimente dann auch noch erfolgreich sind, belohnt er sich mit Bildern alter Meister aus dem Internet.« Die Perspektive wechselt auf identifikatorische Nähe11, zusammen mit ihm schauen wir nun durch das Mikroskop, derweil uns die Erzählerstimme – sie gehört dem Autor der Sendung, Gero von Boehm – mit einem Hinweis auf den biblischen Urvater Methusalem (siehe Gen 5, 21-27) kurz in Hekimis Forschungen zur Lebensverlängerung bei Nematodenwürmern einführt: Das sind, vielfach vergrößert, die winzigen Methusalems, die der Forscher geschaffen hat. Nematoden-Würmer, mit deren Erbgut es sich angenehm leicht arbeiten lässt, wenn man ihr Leben länger machen will. Siegfried Hekimi, Alternsforscher12: »drei- bis viermal länger. Unser Rekord ist fünfmal länger.« Erzähler: »Hekimi fand in diesen sogenannten Mutanten ein Gen, das er Clock- oder Uhr-Gen nannte und das für die dramatische Lebensverlängerung verantwortlich ist.«

Es folgt der Hinweis, um den es dem Autor eigentlich geht: »Und ein solches Gen gibt es auch beim Menschen.« Fortan sehen wir Hekimis Forschungen als mittelfristig auf den Menschen ausgerichtet an, und als wäre es ein ironischer Kommentar, singen unterdessen die Soldaten vom unsterblichen Ruhm der Vorfahren und dass man den Heldentod sterben wolle wie sie: Wirkungsästhetik und emotional-kognitive Rezeption von Schauerfilm und -literatur. Frankfurt a.M. u.a. 2005, S. 83. 11 | Vgl. König 2005, S. 60f., S. 73, S. 83 und Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 1996, S. 125. 12 | So lautet der eingeblendete Untertitel.

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Gloire immortelle De nos aïeux, Sois-nous fidèle, Mourons comme eux!13

Hekimi, dessen Muttersprache Französisch ist, fährt fort: »Der Altersprozess, der ja eine Veränderung, eine graduelle Veränderung ist des Lebensprozess, hängt auch von allen Genen ab. Clock I und andere Genen, die wir auch studiert haben, vielleicht in gleichen Kategorie fallen, höchstwahrscheinlich reguliert die Ausdrucksweise aller Genen oder viele der Genen des Organismus. Und vielleicht, was wir glauben, ist dass in den Clock I-Mutanten sind alle Gene weniger ausgedrückt exprimiert. Die sind irgendwie leicht abgeschaltet. Und das ist gut genug zum jetzt alles zu verlangsamen und ein längeres Leben herbeizuführen.« Erzähler: »Mit diesen Erkenntnissen wird es theoretisch möglich, auch beim Menschen Lebensverlängerung durch einen Eingriff ins Erbgut zu erzielen. Dann hätte man das Altern an der Wurzel gepackt und die Natur endgültig überlistet. Ein Pakt mit dem Teufel und sicher nicht das oberste Ziel des ehemaligen Schweizer Meisters im Radrennfahren Siegfried Hekimi. Aber, er gibt sich keinen Illusionen hin.« Hekimi: »Es stimmt für andere Errungenschaften der Wissenschaft ja auch in der Vergangenheit oder heutzutage: Wenn was möglich ist, dann machen’s die Leute. Und das ist einer der Gründe, warum man muss sich diese moralischen Fragen stellen, auch über andere moderne biologische Errungenschaften, weil, wenn es da ist, wenn’s gemacht werden kann, dann wird’s auch gemacht. Immer. Das glaube ich also ganz fest.« (Schlussakkord)

Was von Boehm von Hekimis Forschungen hält, teilt er uns in aller Deutlichkeit mit: Das »Altern an der Wurzel zu packen« und »die Natur zu überlisten«, sei »ein Pakt mit dem Teufel«. Der Zoologe Hekimi weiß zwar, dass er sich mit seinen Forschungen in einem ethisch bzw. moralisch diffizilen und komplexen Bereich bewegt, ist sich aber gleichzeitig über deren Unaufhaltsamkeit im Klaren. Schließlich wird auch er sie zweifellos weiterführen. Und dass es sich bei dem als Teufelsbündner etikettierten Wissenschaftler um einen erfolgreichen Menschen handelt, der nach harter Arbeit sein Ziel auch erreicht, legt uns schon der Hinweis auf seinen Meistertitel im Radrennsport nahe14. Der Film operiert noch in anderer Weise mit dem Faust-Vergleich. Bei der Groß- bzw. Detailaufnahme von Hekimis Gesicht (Abb. 2) drängt sich die Assoziation zu Mephisto in Gustaf Gründgens’ 1960 verfilmter Faust-Inszenierung im Hamburger Schauspielhaus (Abb. 3) auf. Der Wissenschaftler 13 | Charles-François Gounod: Faust, IV, 4. 1859. 14 | Der Schweizer Hekimi war 1983 Sieger des »Grossen Preises des Kantons Aargau«.

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verschmilzt bildlich gleichsam mit seinem Vertragspartner, er ist Faust und Mephisto in einer Person. Der hier verwendete, in der Malerei der Renaissance entwickelte Chiaroscuro-Effekt, der im expressionistischen Stummfilm und im Horrorfilm eingesetzt wird, um der Faszination des Grauens Ausdruck zu verleihen, vermag dabei die dunkle Seite wissenschaftlicher Selbstüberhebung noch zu unterstreichen15.

Abb. 2: Szenenbild aus von Boehm 1997.

Abb. 3: Szenenbild aus der Verfilmung der »Faust«Inszenierung von und mit Gustaf Gründgens (1960). 15 | Vgl. Eisner, Lotte H.: Dämonische Leinwand. Die Blütezeit des deutschen Films. Wiesbaden-Biebrich 1955, S. 22-24; vgl. auch Baumann, Hans D.: Horror. Die Lust am Grauen. Weinheim und Basel 1989; Ruthner, Clemens: Vampirische Schattenspiele. Friedrich Wilhelm Murnaus »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« (1922). In: Keppler-Tasaki, Stefan und Will, Michael (Hg.): Der Vampirfilm. Klassiker des Genres in Einzelinterpretationen. Würzburg 2006, S. 29-54.

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Die Worte Mephistos in der dem Bild entsprechenden, mit »Studierzimmer« betitelten Szene aus dem »Faust« sind kaum zufällig die folgenden: Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, Mein eigentliches Element.16

Findet hier eine Stilisierung Hekimis zum Mad Scientist statt? Dieser im Repertoire medialer Repräsentationen des Wissenschaftlers fest verankerten Figur, die zwischen Amoralität und Genialität oszilliert und zahlreiche Science-Fiction- und Horrorfilme bevölkert?17 Die Art, wie der Autor den Forscher Hekimi hier inszeniert, wie er dabei mit Konventionen des Horrorfilms spielt, legt den Schluss, dass hier eine Nähe zum Mad Scientist zumindest angedeutet werden soll, durchaus nahe: Präsentiert wird ein sympathisch wirkender, sich an der Schönheit der Kunst und der Jugend erfreuender Wissenschaftler, der isoliert von anderen Menschen, in einer anheimelnden Atmosphäre, von Neugier und Hybris angetrieben, seinem Teufelswerk nachgeht und sich dabei auch noch den Anschein eines moralisch denkenden Menschen gibt. Der Ästhetik des Horrors entsprechend wird seine Arbeitsstube zum ambivalenten Ort, zu einer ›twilight zone››18, von der aus sich das Grauen als schockierende Abweichung vom Vernünftigen, Schönen und Guten, wie Hans Richard Brittnacher den Horror definierte19, ausbreiten wird. »Wissenschaft im Kontext des Mad Scientist«, so beschreiben es Thorsten Junge und Dörte Ohlhoff, »wird zu einer geheimnisvollen Methode, Menschen zu verwandeln, Schöpfungsakte zu vollbringen, die gegen den natürlichen Schöpfungsplan gerichtet sind und 16 | Goethe, Faust I, 1338-1344. 17 | Vgl. Junge, Torsten und Ohlhoff, Dörthe: In den Steinbrüchen von Dr. Moreau. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Aschaffenburg 2004, S. 7-22; Frizzoni, Brigitte: Der Mad Scientist im amerikanischen Science-FictionFilm. In: Junge und Ohlhoff, S. 23-37; Frayling, Christopher: Mad, Bad and Dangerous? The Scientist and the Cinema. London 2005; Haynes, Roslynn D.: From Faust to Strangelove. Representations of the Scientist in Western Literature. Baltimore und London 1994. 18 | Vgl. König (wie Anm. 5) S. 55. 19 | Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a.M. 1994, S. 7.

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daher Katastrophen auslösen können.«20 Und Georg Seeßlen stellt fest: »Mit der Entwicklung der Gentechnologie war das alte Bild vom verrückten Wissenschaftler und seinem blasphemischen Eingriff in die Schöpfungsgeschichte in aller Prächtigkeit restauriert.«21 Gero von Boehm sagte in einem Interview, dass er es für journalistische Pflicht halte, den Wissenschaftlern die Ängste und Zweifel der Gesellschaft vor Augen zu führen und insbesondere Fragen zu den ethischen Aspekten der Forschung zu stellen. Es sei »dies eine Möglichkeit, zu zeigen, dass die Forschung von Männern und Frauen durchgeführt wird, die mit ihren eigenen Zweifeln und Ängsten konfrontiert sind. So paradox es scheint, ist auch dies ein Weg, die Furcht zu lindern, die die Wissenschaft den Menschen einflößen kann.«22 Gegenüber dieser zwecktheoretischen Indienstnahme der aristotelischen Katharsis-Theorie scheint es mir bei der gezeigten Szene wie im gesamten Film allerdings eher darum zu gehen, die Furcht vor solcher Forschung zu wecken und ihre Akteure zu dämonisieren. Dass von Boehm Verständnis für Vorbehalte der Wissenschaftler gegen Medien und Popularisierung auf bringt, steht dazu meines Erachtens nicht im Widerspruch: Wenn ich den geringsten Zweifel habe, rufe ich sie an. Wenn sie der Meinung sind, dass bestimmte Elemente zu vereinfachend sind, verhandeln wir – manchmal über einen 20 | Junge und Ohlhoff (wie Anm. 12) S. 11. 21 | Seeßlen, Georg: Mad Scientist. Repräsentationen des Wissenschaftlers im Film. In: Gegenworte. Zeitschrift für den Disput über Wissen. Heft 3, 1999, S. 44-48, hier S. 48. 22 | von Boehm, Gero: Porträt eines Porträtisten. In: FTE info. Sonderausgabe: Wissenschaft verbreiten. September 2002, S. 10-11, ec.europa.eu/research/news-centre/de/soc/02-09-special-soc03.html, 17.06.2012. Vgl. auch das Interview mit David Filkin: Die Kunst, Wissenschaft zu erzählen. In: FTE info 2002, S. 18-19; zur narrativen Strategie der Personalisierung äußerte sich Filkin, der für das Renommee der BBC hinsichtlich Wissenschaftsdokumentation mit verantwortlich zeichnet, wie folgt (S. 18): »Im Übrigen wird auch in vielen Dokumentarfilmen, die wissenschaftliche Themen sehr viel präziser untersuchen, von der menschlichen Seite der Forscher erzählt. Dieser Ansatz macht es möglich, die Fernsehzuschauer genauso zu fesseln wie mit einem tollen Thriller… Jede wissenschaftliche Frage kann spannend sein. Solange man den menschlichen Aspekt der Wissenschaft nicht vernachlässigt und die Forscher nicht auf die bloße Erklärung unpersönlicher Daten reduziert werden, kann jedes Thema eine gute Fernsehsendung abgeben. Die Herausforderung für den Regisseur besteht darin, rund um eine Person eine Geschichte aufzubauen. Dennoch können Begriffe wie Komplexität und Zweifel, die eng mit der Wissenschaft verknüpft sind, in der Erzählung aufscheinen. Manchmal bilden diese Elemente sogar die aufregendste Triebkraft einer wissenschaftlichen Geschichte.«.

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Satz, ein Wort –, aber es gelingt uns immer, die Dinge ins Gleichgewicht zu bringen. Man muss sich nur ein bisschen Mühe geben. Wichtig ist, das Vertrauen der Wissenschaftler zu besitzen. 23

Bei Siegfried Hekimi war das offenbar der Fall. Auf meine Anfrage, ob er sich noch an diesen Dokumentarfilm erinnern könne24, antwortete mir Hekimi prompt, dass er sich noch ganz genau an die Sendung erinnere und mit der Darstellung sehr zufrieden gewesen sei. Er fährt fort: Die Inszenierung des lieben Herrn von Boehm war gar nicht so schlimm. Die CD mit dem Faust lag effektiv herum auf meinem Schreibtisch, da ich nun mal ein Opernfreund bin. Das hat er in diesem Sinn gar nicht inszeniert. An dem Tag hätte auch Wozzeck da liegen können, das nichts mit dem Teufel und kaum mit dem Tod zu tun hat. Und das Bild von der Quelle von Ingres ist ja auch ganz harmlos. Ich wurde damals, und öfters seitdem, dargestellt in Sendungen über Altersforschung, so bin ich an den Quatsch, den die meisten Journalisten glauben erzählen zu müssen, ganz gewöhnt. Sie müssen verstehen, dass die Wissenschaft, die ich betreibe, ganz seriös und langweilig die Mechanismen des Alterns und der Alterskrankheiten erforscht. Da ist von teuflischer Lebensverlängerung sowieso keine Rede. Alles in allem war die Sendung vom Gero nicht schlecht. 25

Möglicherweise findet Hekimi, der sein Vertrauen zu Gero von Böhm auch nach der Etikettierung als Teufelsbündner nicht verloren hat, diese Darstellung – bei gleichzeitiger Ablehnung ähnlich lautender Medienberichte – auch irgendwie reizvoll. Auf seiner Website hat er unter dem Stichwort »Media-Impact« übrigens eine Reihe von Presseberichten über seine Forschung dokumentiert 26. Das Böse lauert häufig hinter der Tür, und dieses Stilelement des Horrorfilms27 machen sich Martin Papirowski und Jan Biekehör in ihrer Dokumentation »Das unendliche Leben« (1995) zunutze. Von einer typischen Laborauf23 | von Boehm 2002, S. 10. 24 | Auszug aus meiner Anfrage vom 7.12.2007: »Können Sie sich noch an diesen Film erinnern? Waren Sie mit der Darstellung in diesem Film zufrieden? Waren Sie damit zufrieden, wie Herr von Boehm Sie in Szene gesetzt hat (mit Bezug zu Gounods ›Faust‹Oper und der Zuschreibung, dass es sich bei Ihrer Forschung um einen ›Pakt mit dem Teufel‹ handle)?«. 25 | Auszug aus dem Antwortschreiben von Siegfried Hekimi vom 07.12.2007. Orthografie- und Grammatikfehler habe ich im obigen Zitat bereinigt. Zu Hekimi siehe dessen Website http://biology.mcgill.ca/faculty/hekimi/Home/Briefintro.htm, 13.1.2009. 26 | http://biology.mcgill.ca/faculty/hekimi/Media/MediaImpact.htm, 13.1.2009. 27 | Vgl. König (wie Anm. 5) S. 66.

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nahme ausgehend (Abb. 4 und 5), berichten sie zunächst über Forschungen zur Lebensverlängerung bei Hefepilzen, um unweigerlich auf ihre eigentliche Frage zuzusteuern: »Inwieweit jedoch ist diese Erkenntnis auf den Menschen übertragbar? Welche genetischen Todesprogramme wirken in seiner Erbsubstanz, und wird man sie eines fernen Tages abschalten können?« Für den Menschen, der diese Pforte der Wissenschaft öffnet (Abb.  6), werden jene Pilze allerdings zum feurigen Höllenschlund (Abb. 7).

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Abb. 6-7: Szenenbilder aus Papirowski/Biekehör 1995. Für diese Autoren handelt es sich bei solcher Forschung – so die Botschaft der filmischen Montage – also ebenfalls um eine Gefahr, die letztlich in die Verdammnis führt. Auch mit der Einschätzung des verlängerten bzw. unendlichen Lebens durch die Betroffenen setzen sich die untersuchten Dokumentarfilme auseinander, wobei sie sich wiederum altbekannter literarischer Motive bedienen, und mit dem Rückgriff klingen auch deren traditionelle Sündenregister an: die der Todsünde Superbia zugerechneten Hybris und Vanitas. Die Verwendung des Motivs vom Juden Ahasver in dem eben angesprochenen Film von Papirowski und Biekehör verbindet die Einschätzung seiner Unsterblichkeit als göttliche Strafe für Hartherzigkeit mit der romantischen Lesart dieser Figur, welche die Sehnsucht nach Ruhe und die Bemühungen des Verfluchten um seinen Tod thematisiert: »Ahasver, der Ewige Jude. Verurteilt zur rastlosen Wanderung verjüngt er sich alle hundert Jahre. Nicht sterben

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dürfen – Strafe Gottes.« In diese Tradition setzen die Autoren weitere Figuren; wir sehen eine kurze Einblendung einer Szene aus Fritz Langs expressionistischem Stummfilm »Metropolis« (1927), in der ein Mann anscheinend versucht, die Uhr zurückzudrehen, und das Gesicht des ›Highlanders‹ Connor MacLeod/Russell Nash aus dem bereits erwähnten Film: Erzähler: Unsterblichkeit liefert den Stoff für Träume und Alpträume auf Zelluloid. Der Highlander wird zu ewigem Leben verurteilt. Sehnt sich schließlich nach dem Tod: ›Oh nein. Nicht schon wieder!‹ Die Verjüngung als Strafe. Ein halbes Jahrtausend hat er gelebt. Dutzende Male hat er die Menschen, die er liebt, altern und sterben sehen. Er ist unendlich einsam und des Lebens überdrüssig: ›Und – ich kann nicht sterben…‹

Als Trennblende erscheint wieder die Uhr-Szene aus »Metropolis«. Während das Bild auf einen Ausschnitt aus Robert Zemeckis’ schwarzer Komödie »Death Becomes Her« (1992) wechselt, fährt der Erzähler fort: Unsterblichkeit als Strafe die zweite. Bestrafung für die Gier nach Jugend und ewigem Leben. Beides wird gewährt. Aber der Preis ist hoch. [Bild aus dem Filmausschnitt: Der Kopf sitzt verkehrt herum auf den Schultern; es folgt wieder die Trennblende mit der Uhr-Szene aus ›Metropolis‹.] Die künstlichen Visionen von Unsterblichkeit schwanken zwischen Faszination, Angst und Grauen. Welche kommt der Wahrheit am nächsten?

Auch die untersuchten Dokumentationen sind in dieser Weise ambivalent, dafür sorgen die verwendeten Filmzitate. Allerdings geht es in der verwendeten Szene aus »Metropolis« eigentlich nicht um das Zurückdrehen der Uhr bzw. der Zeit, sondern eher um das Gegenteil: »Nehmen zehn Stunden n i e m a l s ein Ende –  –  ??!!«, lautet der dazugehörige Text angesichts eines gnadenlosen Arbeitstaktes in der Fabrik. Auch die Szene aus »Death Becomes Her«, ein Film, in dem es tatsächlich um ein Elixier für ewige Jugend geht, wird verfälscht dargestellt, ist doch der verdrehte Kopf das Resultat eines Mordanschlags. Dass der darübergesprochene Kommentar die gezeigten Filmsequenzen verbal zurechtbiegt, gehört durchaus zum Charakter solcher Dokumentationen, darauf komme ich später zurück. Richten wir unser Augenmerk auf einen weiteren Ausschnitt aus dem Film von Papirowski und Biekehör: Wir sehen einen Sternenhimmel und hören Walzermusik. Der Kommentar des Erzählers setzt ein: In wenigen Jahrzehnten wird der Mensch die Macht haben, sich selbst in seinem Sinne zu verändern, sich neu zu erschaffen, auf dass er gesünder, langlebiger, vielleicht sogar unsterblich werde. Nur Gott und der Glaube an eine spirituelle jenseitige Unsterblichkeit

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boten dem Menschen Trost vor Tod. Menschsein war und ist geprägt von dem Wissen um die eigene Endlichkeit und die Hoffnung auf Ewigkeit. Hat Gott ausgedient, wenn der Mensch unsterblich ist? Solange Leben ist, wird niemand den Tod von der Erde bannen können, und immer werden Menschen sterben, und mit dem Tod existiert die Angst vor dem Tod. Ein Gedankenspiel: Vielleicht verlieren die unsterblichen Menschen schnell die Freude an ihrem endlosen Leben, wenn kein Ereignis mehr einzigartig ist, wenn alle Freude zu einem endlosen Walzer immer gleicher Erlebnisse wird, wenn Lust und Leid zu grauer Langeweile gerinnen.

Während die Instrumentalklänge des Walzers »An der schönen blauen Donau« (1867) von Johann Strauß d. J. (dessen Text von Josef Weyl, dem Vereinsdichter des Wiener Männergesangvereins, übrigens dazu aufruft, der Zeit zu trotzen und den Augenblick zu nutzen28) eine Atmosphäre der Unbeschwertheit schaffen, sprechen die schnell aufeinander folgenden Bilder (Uhrenpendel, Uhrenzahnräder, Zifferblätter, Knochenhand, Computer-Trackball, computergenerierte Gehirnabbildungen, Mensch mit Festplatte als Kopf, Computer-Tastatur, rotes Signallicht, Kopf- und Gesichtsabbildungen, Kopf einer antiken Männerstatue, Superheldendarstellung, Doppelporträt eines menschlichen Kopfes im Profil bei Tag und bei Nacht) von Vergänglichkeit und Ewigkeit, Vergangenheit und Zukunft, und der Kommentar verweist auf die Monotonie des Lebens für das unsterbliche Individuum. Allerdings wird sie von der Angst vor dem Tod begleitet – dem als ungerecht empfundenen, mit Schuld verbundenen, gewaltsamen Tod, wie eine andere Szene des Films unter Verwendung des InsertSchnitts herausarbeitet, in der Bilder von Unfällen in raschem Wechsel in die Großaufnahme eines sich bewegenden, entsetzt wirkenden Auges hinein geschnitten sind. Mit den Konsequenzen der Unsterblichkeit für Umwelt und Gesellschaft schließlich setzen sich die Autoren im Folgenden, letzten Ausschnitt auseinander. Wir hören die oben erwähnte Abschiedsarie aus Catalanis Oper »La Wally« als Cello-Adagio und sehen Bilder von Umweltverschmutzung und Naturzerstörung. Am Ende beobachten wir einen Schwarzbären, der durch einen abgeholzten Wald irrt, und sehen das Meer in schwarzrußigen Flammen aufgehen. Dazu der Erzähler: Eine düstere Vision. Enthoben aller Verantwortung für die Folgen. Lebenssatt und gelangweilt. Die immer aussichtslosere Suche nach dem Thrill des noch nie Erlebten. Überdrüssig und verantwortungslos seiner Umwelt gegenüber, den letzten Genuss kitzelnd. Eine Welt grenzenloser Vermögen und nie endender Armut. Eine zynische Welt. Voller Egozentrik, geprägt von tiefer Gleichgültigkeit gegenüber der Natur. 28 | »Drum trotzet der Zeit/Der Trübseligkeit./[…]/Nützet den Augenblick,/Denn sein Glück/Kehrt nicht zurück.«

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Getragen von Catalanis Adagio und Bildern von Naturzerstörung und Verlassenheit, wird hier zum Zweck der Emotionsverstärkung gegen Ende des Films ein hypothetisches apokalyptisches Szenario für Natur und Gesellschaft gezeichnet, in dem der Wunsch nach Unsterblichkeit den Ausgangspunkt für alles Negative bildet. Ich komme zur Ausgangsfrage zurück, welche Funktionen die Rückgriffe auf Literatur, Film, Kunst und Musik in den untersuchten Wissenschaftsdokumentationen haben. Zum einen werden sie benutzt, um die gezeigten Forschungen in einen kulturgeschichtlichen Kontext ewiger Menschheitsträume zu stellen und so ihre Faszinationskraft zu erklären. Gleichzeitig dienen sie jedoch dazu, der Faszination den Schrecken beizugesellen. Weil sie dem Publikum die negativen Aspekte dieser Forschungen veranschaulichen sollen, werden sie auf dogmatische Stränge ihrer Deutungsmöglichkeiten reduziert. Herausgearbeitet wird die bestrafungswürdige Anmaßung des Menschen, Gott gleichen oder ihn sogar übertrumpfen zu wollen. Präsentiert werden rational argumentierende, aber letztlich besessen wirkende Wissenschaftler, die nicht mehr aufzuhalten sind 29. Präsentiert werden der Hybris verfallene Menschen, deren Traum von ewiger Jugend und Unsterblichkeit sich als Unheil für Individuum, Natur und Gesellschaft erweist. Mit ihrer Mischung aus Fakten und Fiktionen, ihrem Wechselspiel von Kognition und Affekt (die generell als Leitfunktionen des narrativen Mediums Films angesehen werden30) lassen sich die untersuchten Filme dem Infotainment zuordnen, und wie Jörg-Uwe Nieland auf zeigt, ist Infotainment »nicht nur als Bestandteil der Programmstrategien der Fernsehanbieter von Interesse«, sondern liefert »auch für die Wahrnehmung medialer Angebote einen Erklärungshintergrund«31. Nach Louis Bosshart zeichnet sich Infotainment durch Abwechslung, Emotionalisierung, Personalisierung und eine dosierte 29 | Vgl. auch Erlemann, Martina: Menschenscheue Genies und suspekte Exotinnen. Mythen und Narrative in den medialen Repräsentationen von Physikerinnen. In: Junge, Torsten und Ohlhoff, Dörthe (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Aschaffenburg 2004, S. 241-265. 30 | Vgl. Grodal, Torben: Emotions, Cognitions, and Narrative Patterns in Film. In: Plantinga, Carl und Smith, Greg M. (Hg.): Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion. Baltimore und London 1999, S. 127-145; ders.: Moving Pictures. A New Theory of Film Genres, Feelings, and Cognition. Oxford 1997, S. 42; Plantinga, Carl R.: Affect, Cognition, and the Power of Movies. In: Post Script. Essays in Film and the Humanities. Jacksonville 1993, S. 10-29 (= Post Script 13, 1). 31 | Nieland, Jörg-Uwe: Infotainment. In: Hügel, Hans-Otto (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart und Weimar 2003, S. 262-266, hier S. 265. Hilfreich in diesem Zusammenhang sind auch Göpfert, Winfried (Hg.): Wissenschaftsjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. Berlin 2006; sowie

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Mischung von Spannung und Entspannung, Stimulation und Vermeidung von Langeweile aus, wobei der Emotionalisierung die größte Tragweite zugestanden wird32 . Wie Rudi Renger betont, vermitteln Infotainment-Sendungen trotz des Anscheins objektiver Berichterstattung eine dramatisierte, sensationalisierte und fiktionalisierte Weltsicht 33. Und auch die von Georg Seeßlen hervorgehobenen Rückgriffe auf aus der Unterhaltung bekannte Strategien und Bedürfnisse treffen für die hier untersuchten Dokumentationen zu: die Tendenz, die Welt zu ordnen, zu quantifizieren, zu erklären und sie zugleich immer wieder ins Chaos versinken zu lassen; das Verlangen, ›Verbotenes‹ zugleich zu sehen und zu bannen; die Projektion eigener Ohnmachtsempfindungen in Allmachtsphantasien34. Oder in den Worten Gero von Boehms: »Längst ist er [der Mensch, I.T.] ein hilfloses Objekt einer Wissenschaft geworden, die sich verselbständigt hat und der Verwirklichung ihres uralten Traums immer näher rückt.«35 Kritik am Infotainment erwächst auch aus dem Selbstverständnis des Achermann als allwissender Tröster oder – wie hier – als Warner und Mahner, als »mystisch-moralisches WIR«36. Und schließlich wird der Vorwurf formuliert, Infotainment erhebe die Fälschung zum Prinzip37. Alle genannten Punkte sind, wie ich ausschnittweise zu zeigen versucht habe, für die untersuchten Dokumentationen zutreffend. Im Gefolge des Bedeutungsgewinns der Gentechnologie und der seit den achtziger Jahren geführten Debatten um Technikfolgenabschätzung und Risikokommunikation fand in der Mitte der neunziger Jahre in der Auseinandersetzung mit den Funktionen des Wissenschaftsjournalismus ein Paradigmenwechsel statt: von der Wissenschaftspopularisierung in die Gesellschaft

Kienzlen, Grit, Lublinski, Jan und Stollorz, Volker (Hg.): Fakt, Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 2007. 32 | Bosshart, Louis: Infotainment im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung. In: Medienwissenschaft Schweiz, Bd. 2, 1991, S. 1-4, hier S. 3. 33 | Renger, Rudi: Populärer Journalismus. Nachrichten zwischen Fakten und Fiktion. Innsbruck, Wien und München 2000, S. 15; vgl. Blöbaum, Bernd, Renger, Rudi und Scholl, Armin: Journalismus und Unterhaltung. Theoretische Ansätze und empirische Befunde. Wiesbaden 2007. 34 | Seeßlen, Georg: Unterhaltung über alles. Oder: Infotainment im elektronischen Biedermeier. In: merz 40,3 (1996) S. 135-144, hier S. 139f. 35 | Faust III. Auf dem Weg zum künstlichen Leben. Regie: Gero von Boehm, Deutschland 1994, 45 Min., Farbe, ARD. 36 | Seeßlen 1996, S. 139. 37 | Seeßlen 1996.

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zur Wissenschaftsbeobachtung für die Gesellschaft38. Während Wissenschaftsjournalismus über Jahrzehnte im Dienst der Schaffung von Akzeptanz für die Naturwissenschaften stand und ihn deshalb eine affirmative Berichterstattung prägte, sollte er sich nun mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischen Errungenschaften kritisch auseinandersetzen, deren Folgen für Individuum und Gesellschaft aufzeigen. Gleichzeitig und in gewisser Weise dazu gegenläufig begann der Wandel des öffentlich-rechtlichen »Belehrfernsehens« zum »Erzählfernsehen«, der Trend ging vom Wissenschafts- zum heutigen Wissensmagazin, das für jeden verständlich ist, Spaß macht und unterhält 39 – eine Entwicklung, an der übrigens der bereits erwähnte Ranga Yogeshwar einen maßgeblichen Anteil hatte40. In genau dieser Umbruchsituation wurden die hier angesprochenen Filme über Forschungen zur Lebensverlängerung gedreht. Mit ihrer soziopolitischen Reflexion einerseits und der 38 | Vgl. hier und im Folgenden Kohring, Matthias: Wissenschaftsjournalismus. Forschungsüberblick und Theorieentwurf. Konstanz 2005. 39 | Der Bestsellerautor Frank Schätzung plädiert im Zusammenhang mit Wissenschaftskommunikation für fiktionale Formen des Geschichtenerzählens über wissenschaftliche Fakten und formuliert sechs entsprechende Vorschläge: »Angst abbauen«, »Die Menschen wichtig nehmen«, »Die Massenmedien nutzen«, »Die Vorstellungskraft entfesseln«, »Mut zur Überhöhung«, »Niemals den Zeigefinger heben. Sondern immer nur die Spannung«, siehe Schätzing, Frank: Science Fiction für Höhlenmenschen – Wie man Wissenschaft unters Volks bringt. In: Kienzlen, Grit, Lublinski, Jan und Stollorz, Volker (Hg.): Fakt, Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 2007, S. 144-151. 40 | Yogeshwar war von 1995 bis 2001 stellvertretender Leiter der Programmgruppe Wissenschaft beim WDR, von 2001 bis 2005 Leiter der Programmgruppe Wissenschaft Fernsehen; vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Ranga_Yogeshwar, abgerufen am 10.5.2009: »Yogeshwar ist neben Joachim Bublath, Harald Lesch, Ingolf Baur und Karsten Schwanke einer der derzeit bekanntesten Wissenschaftsvermittler und ein wichtiger Vertreter des ›Infotainment‹. Mit ihm als Moderator vollzog der WDR in den 1990er Jahren einen Wechsel vom umwelt- und gesellschaftskritischen Journalismus, wie ihn u.a. Jean Pütz seit den 1970er Jahren vertrat, hin zur wissenschaftlichen Unterhaltung. Dieses neue Konzept wird z.B. in der ARD-Sendereihe ›W wie Wissen‹ deutlich, in der Showeffekte eine große Rolle spielen. Zusammen mit dem Moderator Frank Elstner präsentiert Ranga Yogeshwar seit dem 4. Mai 2006 auch ›Die große Show der Naturwunder‹. In dieser Sendung werden Showelemente (in Form eines Quiz mit prominenten Kandidaten) und die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte (durch Ranga Yogeshwar) miteinander verknüpft. Ende des Jahres 2007 gab er die Moderation der Sendung ›W wie Wissen‹ an Dennis Wilms ab. Stattdessen kreierte Yogeshwar mit der Sendung ›Wissen vor 8‹ ein neues Format. Darin versucht er, ein Thema innerhalb von 145 Sekunden zu erklären.«.

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zum Zweck der Weckung von Betroffenheit an der Angstlust orientierten artifiziellen Mixtur von skandalisierten Fakten, unterhaltenden Fiktionen und ebenso stereotypen wie suggestiven Metaphern andererseits entsprechen sie gleichzeitig beiden Tendenzen. Den Einfluss emotionalisierend-affektorientierter Darstellung auf die Glaubwürdigkeit haben Britta Schultheiss und Stefan Jenzowsky untersucht41. Es zeigte sich, dass ein erhöhtes Maß an emotionalisierenden Darstellungen eine deutlich verringerte Glaubwürdigkeit zur Folge hat. Das ist auch in Bezug auf die in Rede stehenden Filme von Interesse. Eine allein auf die Affektorientierung fokussierte Argumentation greift allerdings hier zu kurz. Matthias Kohring hat in den letzten Jahren mehrfach dafür plädiert, die Vertrauenswürdigkeit des Wissenschaftsjournalismus stärker in den Blick zu nehmen. Unter Bezug auf Anthony Giddens und Niklas Luhmann schreibt er: »Vertrauen gewinnt seine Bedeutung dort, wo ein System zu komplex wird und nur noch für Experten kontrollierbar ist.«42 Den Wissenschaftsjournalisten könnten Medienkonsumenten dann vertrauen, wenn sie die relevanten Themen aus der Wissenschaft selektieren, die wichtigsten Fakten aus der Flut des Neuen auswählen und die Vorgänge in der Wissenschaft in Bezug auf ihre Bedeutung für die Gesellschaft bewerten43. Dies tun die Autoren der gezeigten Filme zweifellos. Durch die am Infotainment orientierte Gestaltung und die Mischung aus Fakten und Fiktionen büßen sie jedoch an Glaubwürdigkeit ein und erschweren das Vertrauen in solche Berichterstattung. Nach Ansicht Kohrings sollte guter Wissenschaftsjournalismus die Rezipienten durch unabhängige Berichterstattung in die Lage versetzen, über ihre Vertrauensverhältnisse zu anderen Akteuren in der Gesellschaft, z.B. Wissenschaftlern, zu entscheiden. Weil heute niemand mehr alles wissen könne, solle er nicht Wissen, sondern vor allem Vertrauen vermitteln – auch Vertrauen oder Misstrauen in die Wissenschaft.44 Zwar mag eine Dokumentation der hier gezeigten Art für Misstrauen gegenüber der Wissenschaft sorgen45, zu fragen ist jedoch, ob hier nicht hin41 | Schultheiss, Britta M. und Jenzowsky, Stefan A.: Infotainment: Der Einfluss emotionalisierend-affektorientierter Darstellung auf die Glaubwürdigkeit. In: Medien- und Kommunikationswissenschaft, Heft 48, Nr. 1, 2000, S. 63-84. 42 | Kohring (wie Anm. 33) S. 292. 43 | Kienzlen, Grit, Lublinski, Jan und Stollorz, Volker: Vorbemerkungen. In: Dies. (wie Anm. 26) S. 11-20, hier S. 13. 44 | Kohring, Matthias: Vertrauen statt Wissen – Qualität im Wissenschaftsjournalismus. In: Kienzlen, Grit, Lublinski, Jan und Stollorz, Volker (Hg.): Fakt, Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 2007, S. 25-38. 45 | Auf einer Konferenz zum Wissenschaftsjournalismus stellte Renate Bader zusammenfassend fest: »Germans seem to be well informed about and highly aware of new

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sichtlich der Macht der Wissenschaft eine problematische Haltung der Ohnmacht und Angst erzeugt wird. Indem die vorgestellten Filme die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen überspielen, geben sie die mit der Genese der modernen Wissenschaft verbunden geglaubte Überwindung des mythischen Denkens bewusst preis. Das Amalgam von Fakten und Fiktionen hat durchaus das Potential, dort archaische Empfindungen zu produzieren, wo rational begründbare Einstellungen gefordert wären. Was bei oberflächlicher Betrachtung für viele Menschen lediglich eine ästhetisch attraktive Gestaltungsweise sein mag, liefert sie letztlich einer Darstellung von Wissenschaftswirklichkeit aus, bei der es für den Zuschauer schwierig bis unmöglich ist, Wissenschaft und Mythos zu trennen. Womit er in Gefahr gerät, erneut in Unmündigkeit zu verfallen.

L ITER ATUR UND Q UELLENVERZEICHNIS »Unsterblichkeit – nun bist du mein!« Suche nach ewigem Leben. Regie: Ulrike Filgers, Deutschland 1994, 44 Min., Farbe, WDR 3, 17.9.1994. Bader, Renate: Media Coverage of Risks – Overviews and Appraisals of the Research Literature: The German Perspective. In: Göpfert, Winfried und Bader, Renate (Hg.): Risikoberichterstattung und Wissenschaftsjournalismus. Stuttgart 1998, S. 23-42. Baumann, Hans D.: Horror. Die Lust am Grauen. Weinheim und Basel 1989. Blöbaum, Bernd, Renger, Rudi und Scholl, Armin: Journalismus und Unterhaltung. Theoretische Ansätze und empirische Befunde. Wiesbaden 2007. Bosshart, Louis: Infotainment im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung. In: Medienwissenschaft Schweiz, Bd. 2, 1991, S. 1-4. Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt a.M. 1994.

technological developments and risks. But they tend to perceive them as more dangerous than beneficial, and levels of acceptance for such research areas, like biotechnology, tend to be rather low in consequence.« Den Grund für diese negative Haltung sieht Bader in einseitiger, auf Risiken fokussierender Berichterstattung voreingenommener Journalisten, siehe Bader, Renate: Media Coverage of Risks – Overviews and Appraisals of the Research Literature: The German Perspective. In: Göpfert, Winfried und Bader, Renate (Hg.): Risikoberichterstattung und Wissenschaftsjournalismus. Stuttgart 1998, S. 23-42, hier S. 23, S. 31. Vgl. demgegenüber die Analyse der Inszenierungen der Gentechnologie in der Berichterstattung im Schweizer Fernsehen von Leonarz, Martina: Gentechnik im Fernsehen. Eine Framing-Analyse. Konstanz 2006.

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Das unendliche Leben. Auf der Suche nach der irdischen Unsterblichkeit. Regie: Papirowski, Martin und Biekehör, Jan, Deutschland 1994, 45 Min., Farbe, Reihe: Gott und die Welt, N3, 14.4.1995. Der Traum vom ewigen Leben. Reihe: Quarks & Co, WDR, 1.11.1994. Der Traum von der Unsterblichkeit. Regie: Gero von Boehm, Deutschland 1997, 45 Min., Farbe, Reihe: Odyssee 3000, ZDF, 16.3.1997. Drux, Rudolf: Das Menschlein aus der Retorte – Bemerkungen über eine literarische Gestalt, ihre technikgeschichtlichen Konturen und publizistische Karriere. In: Kegler, Karl R. und Kerner, Max (Hg.): Der künstliche Mensch. Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Köln, Weimar und Wien 2002, S. 217-238. Eisner, Lotte H.: Dämonische Leinwand. Die Blütezeit des deutschen Films. Wiesbaden-Biebrich 1955. Erlemann, Martina: Menschenscheue Genies und suspekte Exotinnen. Mythen und Narrative in den medialen Repräsentationen von Physikerinnen. In: Junge, Torsten und Ohlhoff, Dörthe (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Aschaffenburg 2004, S. 241-265. Faust III. Auf dem Weg zum künstlichen Leben. Regie: Gero von Boehm, Deutschland 1994, 45 Min., Farbe, ARD. Frayling, Christopher: Mad, Bad and Dangerous? The Scientist and the Cinema. London 2005. Frizzoni, Brigitte: Der Mad Scientist im amerikanischen Science-Fiction-Film. In: Junge, Torsten und Ohlhoff, Dörthe (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Aschaffenburg 2004. Göpfert, Winfried (Hg.): Wissenschaftsjournalismus. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis. Berlin 2006. Grodal, Torben: Moving Pictures. A New Theory of Film Genres, Feelings, and Cognition. Oxford 1997. Grodal, Torben: Emotions, Cognitions, and Narrative Patterns in Film. In: Plantinga, Carl und Smith, Greg M. (Hg.): Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion. Baltimore und London 1999, S. 127-145. Haynes, Roslynn D.: From Faust to Strangelove. Representations of the Scientist in Western Literature. Baltimore und London 1994. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 1996. Junge, Torsten und Ohlhoff, Dörthe: In den Steinbrüchen von Dr. Moreau. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Wahnsinnig genial. Der Mad Scientist Reader. Aschaffenburg 2004, S. 7-22. Kienzlen, Grit, Lublinski, Jan und Stollorz, Volker (Hg.): Fakt, Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 2007. König, Jan C. L.: Herstellung des Grauens. Wirkungsästhetik und emotionalkognitive Rezeption von Schauerfilm und -literatur. Frankfurt a.M. u.a. 2005.

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Kohring, Matthias: Vertrauen statt Wissen – Qualität im Wissenschaftsjournalismus. In: Kienzlen, Grit, Lublinski, Jan und Stollorz, Volker (Hg.): Fakt, Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 2007, S. 25-38. Kohring, Matthias: Wissenschaftsjournalismus. Forschungsüberblick und Theorieentwurf. Konstanz 2005. Leonarz, Martina: Gentechnik im Fernsehen. Eine Framing-Analyse. Konstanz 2006. Menschen nach Mass. Regie: Reinhold Fischenich und Manfred Pöpperl Deutschland 1995, Reihe: Genzeit, Teil 9, H3. Nieland, Jörg-Uwe: Infotainment. In: Hügel, Hans-Otto (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart und Weimar 2003, S. 262-266. Plantinga, Carl R.: Affect, Cognition, and the Power of Movies. In: Post Script. Essays in Film and the Humanities. Jacksonville 1993, S. 10-29 . Renger, Rudi: Populärer Journalismus. Nachrichten zwischen Fakten und Fiktion. Innsbruck, Wien und München 2000. Ruthner, Clemens: Vampirische Schattenspiele. Friedrich Wilhelm Murnaus »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« (1922). In: Keppler-Tasaki, Stefan und Will, Michael (Hg.): Der Vampirfilm. Klassiker des Genres in Einzelinterpretationen. Würzburg 2006. Schätzing, Frank: Science Fiction für Höhlenmenschen – Wie man Wissenschaft unters Volks bringt. In: Kienzlen, Grit, Lublinski, Jan und Stollorz, Volker (Hg.): Fakt, Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 2007, S. 144-151 Seeßlen, Georg: Unterhaltung über alles. Oder: Infotainment im elektronischen Biedermeier. In: medien + erziehung, Heft 40, Nr. 3, 1996, S. 135-144. Seeßlen, Georg: Mad Scientist. Repräsentationen des Wissenschaftlers im Film. In: Gegenworte. Zeitschrift für den Disput über Wissen. Heft 3, 1999, S. 44-48. Schultheiss, Britta M. und Jenzowsky, Stefan A.: Infotainment: Der Einfluss emotionalisierend-affektorientierter Darstellung auf die Glaubwürdigkeit. In: Medien- und Kommunikationswissenschaft, Heft 48, Nr. 1, 2000, S. 63-84. Vineyard, Jeremy: Crashkurs Filmauflösung. Kameratechniken und Bildsprache des Kinos. Frankfurt a.M. 2001. von Boehm, Gero: Porträt eines Porträtisten. In: FTE info. Sonderausgabe: Wissenschaft verbreiten. September 2002, S. 10-11, ec.europa.eu/research/ news-centre/de/soc/02-09-special-soc03.html, 17.06.2012.

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Zeitbombe im Unterleib Eine Boulevardzeitung popularisiert (sexual)medizinisches Wissen Annika Wellmann

Medizin ist populären Medien nicht fremd. Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten regelmäßig in eigens dafür konzipierten Rubriken und Sendungen darüber. Sie bringen ihre Rezipientinnen und Rezipienten auf den neuesten Stand der Forschung und geben Einblick in die Welt der Wissenschaft.1 Mit der Frage, wie populäre Printmedien über Medizin und Naturwissenschaften schreiben, haben sich schon etliche Studien beschäftigt. Die Aufmerksamkeit lag dabei zunächst auf dem Informationstransfer, den zu leisten man ihnen gemeinhin abverlangt, sie verschob sich aber in den vergangenen Jahren auf die Konstruktion von Bedeutung.2 Nunmehr werden die »spezifischen Ausprägungen der Berichterstattung als Ausdruck einer eigenständigen journalistischen Rationalität« sowie die »Eigenständigkeit der Medien« anerkannt.3 In diesem Kontext ist auch mein Beitrag angesiedelt. Er geht der Frage nach, wie 1 | Siehe dazu den Beitrag von Ingrid Tomkowiak in diesem Band, S. 355-379. 2 | Einen kritischen Überblick über die Entwicklung der Forschung bietet Kohring, Matthias: Wissenschaftsjournalismus. Forschungsüberblick und Theorieentwurf. Konstanz 2005. Typisch für die Fokussierung auf Vermittlung sind Hömberg, Walter: Das verspätete Ressort. Die Situation des Wissenschaftsjournalismus. Konstanz 1990; und Maciejewski, Michael: Arzt und Medizin im Spiegel der Tagespublizistik Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung. Ein Vergleich. Düsseldorf 1985. Zu einem konstruktivistischen Ansatz siehe Wellmann, Annika, Maasen, Sabine: Wissenschaft im Boulevard: Zur Norm(alis)ierung intimer Selbstführungskompetenz. In: zeitenblicke 7, 2008, Nr. 3. www.zeitenblicke.de/2008/3/maasen_wellmann, 10.2.2010. 3 | Kohring, Matthias: Die Wissenschaft des Wissenschaftsjournalismus. Eine Forschungskritik und ein Alternativvorschlag. In: Müller, Christian (Hg.): SciencePop. Wissenschaftsjournalismus zwischen PR und Forschungskritik. Graz und Wien 2004, 161-183, hier S. 175; Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der

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Boulevardmedien sexualmedizinisches und reproduktionsbezogenes Wissen generieren und popularisieren: In welchen Formationen taucht es hier auf? Diese Frage werde ich exemplarisch anhand der Boulevardzeitung Blick beantworten. Dabei fokussiere ich auf die letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts, in denen sich – auch über das schweizerische Blatt hinaus – eine Zunahme entsprechender Formate beobachten lässt. Die Geschichte der Popularisierung medizinischen Wissens reicht freilich viel weiter zurück. Bereits im 19. Jahrhundert florierte ein Markt für Hausarztliteratur und Hygieneratgeber, die ihrem bürgerlichen Publikum die Körperfunktionen erklärten und einen gesunden Umgang mit Leib und Seele anleiteten.4 Publikumszeitschriften wie die Gartenlaube führten Briefkästen, die auf medizinische Themen zugeschnitten waren.5 Der Arzt fand auch als Figur ins Kino und als Experte ins Radio, während sein weibliches Pendant bis in die späten 1950er Jahre vor allem als Romanprotagonistin sehr gefragt war.6 Die mediale Präsenz von Ärzten und medizinischem Wissen hatte sich somit frühzeitig verstetigt. Im Zuge der Forderung nach einem Public Understanding of Science kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Ausweitung der Popularisierung wissenschaftlichen Wissens, die auch für die Medizin nicht ohne Folgen blieb. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sahen sich nun aufgefordert, ihre Ergebnisse breitenwirksam zu präsentieren. Eine wichtige Rolle kam dabei populären Medien zu.7 Diese wiederum verfügten nicht nur über eine lang währende Praxis der Wissenschaftspräsentation, sondern hatten auch ein

Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001, S. 237. 4 | Vgl. Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914. Frankfurt a.M. 2001; Helmstetter, Rudolf: Der stumme Doctor als guter Hirte. Zur Genealogie der Sexualratgeber. In: Bänziger, Peter-Paul u.a. (Hg.): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen. Berlin 2010, S. 58-93. 5 | Bessinger, Otto: Carl Ernst Bock als Mitarbeiter der »Gartenlaube«. Frankfurt a.M. 1956. 6 | Vgl. Gottgetreu, Sabine: Der Arztfilm. Untersuchung eines filmischen Genres. Bielefeld 2001. Zur Figur der Ärztin im Roman siehe den Beitrag von Gabriela Schenk in diesem Band. 7 | Der »Sputnik-Schock« der späten 1950er Jahre gilt als Initialzündung der Förderung eines »Public Understanding of Science«. Staatliche Maßnahmen dafür wurden in Großbritannien in den 1980er Jahren und in Deutschland Ende der 1990er Jahre getroffen. Vgl. Göpfert, Winfried: Starke Wissenschafts-PR – armer Wissenschaftsjournalismus. In: Müller, Christian (Hg.): SciencePop. Wissenschaftsjournalismus zwischen PR und Forschungskritik. Graz und Wien 2004, S. 184-198, hier S. 185f.

Zeitbombe im Unterleib

großes Interesse an der Medialisierung gesellschaftlich anerkannten Wissens. Durch dieses nämlich konnten sie ihre eigene Relevanz steigern. Dem Boulevard sind Medizin und speziell Sexualmedizin höchst willkommen. Sex ist ein Thema, das er gerne besetzt – nicht umsonst wird das Themenspektrum der auflagenstarken Straßenverkaufszeitungen gemeinhin auf die Formel »Sex, crime and sports« gebracht.8 In Verbindung mit Medizin verliert der Sex jedoch den Ruch des Schlüpfrigen, und dies kommt den stets um Legitimation ringenden Boulevardzeitungen zugute.9 Andererseits lässt sich Medizinberichterstattung wiederum mühelos sexualisieren, etwa durch die Illustration entsprechender Beiträge mit nackten oder spärlich bekleideten Frauenleibern. Sex und Medizin teilen zudem aus Sicht dieser Medien eine wichtige Eigenschaft: Sie taugen, um die Leserschaft im Alltag abzuholen – in einem Alltag, in dem die Sorge um den Körper und die Lüste seit der Moderne für jeden und jede Einzelne zentral sind.10 Boulevardzeitungen nutzen diese Situation indes nicht nur aus, um ihre Relevanz zu demonstrieren und zu intensivieren, sie tragen auch dazu bei, die Sorge um den Körper und die Lüste weiter zu stimulieren, indem sie zu deren Problematisierung anreizen und Wissen zu Verfügung stellen. In der boulevardmedialen Auf bereitung medizinischen und insbesondere sexualmedizinischen Wissens lassen sich seit den 1980er Jahren drei größere Tendenzen beobachten. Erstens ist medizinisches Wissen im Boulevard keineswegs marginal. Im Gegenteil: Entsprechende Informationen werden hier umsichtig recherchiert und sind zunehmend präsent. Zweitens wird dieses Wissen den boulevardmedialen Produktions- und Textlogiken entsprechend auf bereitet, zugleich lassen technizistische Metaphern wie »Zeitbombe im Unterleib« – eine boulevardeske Metapher für Prostatakrebs – 11 den Sexualkörper als beherrschbar erscheinen. Drittens tragen Boulevardzeitungen durch die Popu8 | Bruck, Peter A. und Stocker, Günther: Die ganz normale Vielfältigkeit des Lesens. Zur Rezeption von Boulevardzeitungen. In: Medien & Kommunikation, Nr. 23, Münster 1996, S. 23. 9 | Boulevardzeitungen werden vor allem aufgrund ihrer Themenwahl und Recherchemethoden angegriffen. Kritik wurde besonders prominent und breitenwirksam von Heinrich Böll und Günter Wallraff formuliert. Vgl. Böll, Heinrich: Die verlorene Ehre der Katarina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. München 1977; Wallraff, Günter: Der Aufmacher. Der Mann, der bei Bild Hans Esser war. Köln 1977. Zur Geschichte der Kritik am Boulevardblatt Blick siehe: Wellmann, Annika: »… als schweizerisch deklariertes Produkt«. Die Boulevardzeitung Blick im Kreuzfeuer der Kritik 19591969. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 58, 2008, Nr. 2, S. 198-211. 10 | Vgl. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1977. 11 | Blick vom 17.4.1990, S. 15.

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larisierung sexualmedizinischen und reproduktionsbezogenen Wissens zu einer Wissensbasierung des Sexuellen bei. Sie verfolgen damit eine Strategie, die in der jüngeren Geschichte des Sexuellen wesentlich und folgenreich ist.

(S E XUAL) MEDIZINISCHES W ISSEN IM B OULE VARD : F ORMATE UND F IGUREN Bezüglich der Formate und Figuren, die medizinisches Wissen popularisieren, lässt sich im Blick zwischen den späten 1970er und den späten 1990er Jahren eine Doppelbewegung beobachten: Zum einen nahmen diese Formate und Figuren zu, zum anderen wurden sie zu eigenständigen redaktionellen Angeboten zusammengefasst. Medizin war zunächst vor allem im Verbund mit Wissenschaft aufgetaucht. Der Blick verfügte seit Mitte der 1970er Jahre über eine Wissenschaftsredaktion, die die Präsenz auch der Medizinberichterstattung gewährleistete.12 Nach und nach kamen unabhängig davon immer mehr Formate hinzu, die vermehrt auf die Nützlichkeit und Anwendung medizinischen Wissens abstellten. Dazu zählten Tipps, Tests, als Ratschläge präsentierte Forschungs-News und Ratgeberrubriken. Die Bedeutung dieser Formate unterstrich der Blick, indem er ihnen eigene redaktionelle Teile zuwies: Ende der 1980er Jahre erschien der »Blick-Ratgeber Medizin – Gesundheit« und Ende der 1990er Jahre die Doppelseite »GsundBlick«. Beide versammelten verschiedene gesundheitsbezogene Rubriken. Mit der Etablierung der unterschiedlichen Formate erfolgte zunächst auch eine Zunahme und Ausdifferenzierung der Figuren, die medizinisches Wissen vermittelten. Der Wissenschaftsjournalist, der über Neuigkeiten aus Naturwissenschaft, Technik und Medizin berichtete, wurde 1980 ergänzt durch die Kolumne »Liebe Marta«, die ihre alltagspraktischen Ratschläge zu Sex12 | Vgl. Ograjenschek, Helmut: Boulevard beginnt beim Detail – und hört dort auf. In: Bulletin des Schweizer Klub für Wissenschaftsjournalismus, 1, 2003, www.sciencejournalism.ch/html/bulletin+140.html, 2.9.2010. Mit einem eigens für die Wissenschaftsberichterstattung zuständigen Redakteur stellte der ›Blick‹ in der Schweiz geradezu eine Besonderheit dar, denn die reine Wissenschaftsberichterstattung war hier in den 1980er Jahren noch eher marginal. Wissenschaftsjournalistische Artikel hatten am Gesamtvolumen der redaktionellen Leistung schweizerischer Zeitungen einen durchschnittlichen Anteil von unter zwei Prozent. Nur etwa ein Fünftel der Artikel wurde als optisch dominierende Einheit aufgemacht, wissenschaftsjournalistische Einspalter dienten lediglich dem Ausgleich redaktioneller Mängel. Vgl. Schanne, Michael: Wissenschaftsberichterstattung in den Tageszeitungen der Schweiz. In: Ders. (Hg.): »Wissenschaft« in den Tageszeitungen der Schweiz. Diskussionspunkte. Seminar für Publizistikwissenschaft der Universität Zürich, Nr. 11, Zürich 1986, S. 20-82, S. 42.

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und Beziehungsproblemen mit medizinischem und psychologischem Wissen anreicherte. Als 1996 Eliane Schweitzer die »Liebe Marta« ablöste, setzte sie in ihrer Sexual- und Partnerschaftsberatung auf eine an der Psychoanalyse orientierte Inszenierung.13 Ab 1989 erteilte parallel zur Sexratgeberin »Doktor Giertmühlen« Rat in Sachen Gesundheit. Damit trat nun eine Figur auf, die ausschließlich und professionell mit Medizin konnotiert war, über akademisch gewonnenes und praktisch erprobtes Wissen verfügte. Bei seiner Einführung wies die Zeitung auf seinen Werdegang und seine Arbeitsgebiete hin, und mit den entsprechenden Zeichen wie dem Doktortitel setzte sie den Rat gebenden Arzt in Szene.14 »Doktor Giertmühlen« verschwand zwar nach wenigen Jahren wieder aus der Boulevardzeitung, doch im Oktober 1999 lancierte das Blatt erneut einen Gesundheitsratgeber – und startete damit eine wahre Gesundheits-Offensive. Es verkündete: »Ihre Gesundheit liegt uns am Herzen! 14 Experten sind ab heute für Sie da.«15 Wöchentlich standen der Leserschaft nun Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Fachrichtungen wie Diabetologie, Neurologie, Plastischer Chirurgie oder Geburtshilfe für eine telefonische Beratung zur Verfügung. Die »interessantesten Fragen« wollte der Blick veröffentlichen.16 Mit einer Vielzahl sachkundiger, praxiserfahrener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beriet die Zeitung nun erneut ihre breite Leserschaft. In der Inszenierung der Ratgeberinnen und Ratgeber spielte Geschlecht zunächst keine unwesentliche Rolle. Ratgeberinnen wurden mit als weiblich geltenden Attributen präsentiert. Die Sexratgeberin Marta Emmenegger erschien in ihren Kolumnen wie auch in der Berichterstattung über sie als mütterlich und lebenserfahren,17 und Eliane Schweitzer präsentierte sich vor allem in der Anfangszeit als attraktive Frau in knappem Kleid und erotischer Pose.18 Dr. Friedrich Giertmühlen hingegen repräsentierte die bürgerlich-männlich konnotierte Figur des Arztes. Erst Ende der 1990er Jahre scheint sich hier – wie in der gesamten Repräsentation von Wissenschaft im Blick – eine Wende

13 | Schon der anfängliche Titel »Auf Elianes Sex-Couch« spielte unmissverständlichdoppeldeutig auf das populäre Psychoanalyse-Möbel an. 14 | Vgl. Herr Doktor, bitte helfen Sie mir! In: Blick vom 11.7.1989, S. 11. 15 | Blick vom 27.10. 1999, S. 26f. 16 | Blick 1999, S. 27. 17 | Siehe dazu etwa die Serie, in der der ›Blick‹ im Sommer 1980 Marta Emmenegger portraitierte. Die Beiträge schildern das Leben der Ratgeberin als Ehefrau und Mutter. Illustrationen zeigen sie bei familienbezogenen Tätigkeiten mit Kindern und Enkeln. Vgl. Kummer, Rut: Fünf Emmenegger – fünf Journalisten. In: Blick, 16.9.1980, S. 11; Kummer, Rut: Was Marta als Grossmutter über das Älterwerden denkt. In: Blick, 19.9.1980, S. 15. 18 | Siehe etwa Auf Elianes Sex-Couch. In: Blick vom 30.1.1996, S. 4.

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abzuzeichnen: Geschlechterstereotype weichten auf, auch Frauen erschienen jetzt in der Rolle professioneller Expertinnen. Hatten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Autorinnen und Autoren Mitte der 1980er Jahre noch eine »kleine, untergeordnete Gruppe« in der Medizinpublizistik dargestellt,19 erhielten sie in den 1990er Jahren zunehmend Gewicht. Sie hatten in der Boulevardzeitung Blick die Chance, nicht zuletzt im Sinne des Public Understanding of Science Einblick in aktuelle Entwicklungen auf ihren Arbeitsgebieten zu gewähren und Kontakt zu weiten Bevölkerungskreisen herzustellen. Derweil konnte die Zeitung durch ihr Beratungsangebot die Leserbindung intensivieren und redaktionell verwertbaren Stoff generieren. Freilich war diese Praxis für den Blick nicht neu: Die Ratgeberrubrik »Liebe Marta« hatte bereits sechzehn Jahre lang sehr gut nach ebendiesem Muster funktioniert.

E INE R ATGEBERIN GENERIERT (SE XUAL) MEDIZINISCHES W ISSEN Die »Liebe Marta« war eines der erfolgreichsten Formate der Leserbindung im Blick, wie die rund 6000 Zuschriften an sie zeigen. Der Nachlass der 2001 verstorbenen Ratgeberin – die komplette Sammlung ihrer Kolumnen, und die nahezu vollständige Sammlung der Ratgesuche und Durchschläge der Antworten – gewährt einen einmaligen Einblick in die Art und Weise, wie hier beratungsrelevantes Wissen generiert und popularisiert wurde.20 Marta Emmenegger, die die Kolumne führte, verfügte nicht über eine akademische Ausbildung. Die 1923 geborene vierfache Mutter war als Erziehungsratgeberin und Redakteurin für Frauenzeitschriften tätig gewesen, bis sie 1980 begann, im Blick eine Ratgeberrubrik zu den Themen Liebe, Sex und Partnerschaft zu verfassen.21 In ihrer Eigenschaft als Beraterin erreichten sie Ratgesuche zu vorzeitigem Samenerguss und später Mutterschaft, Liebeskummer und Trennungswünschen, Menstruationsbeschwerden und Dammrissen, Lust auf Oralsex und Angst vor Infektionen. Vielfältiges Wissen war also notwendig, um adäquat Rat zu erteilen. Um dieses Wissen zu erlangen, schlug Marta Emmenegger verschiedene Wege ein. 19 | Maciejewski 1985, S. 24. 20 | Dieses Quellenkorpus wurde 2004-2007 an den Universitäten Zürich und Basel in einem interdisziplinären Forschungsprojekt untersucht. Siehe dazu Bänziger, PeterPaul: Liebe Marta. Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion sexueller Selbstverhältnisse im »Blick« (1980-1995) und in aktuellen Internetforen. In: Zeitenblicke 7, 2008, Nr. 3, www.zeitenblicke.de/2008/3/baenziger/index_html, 9.2.2010. 21 | Bürgi, Markus: Art. Emmenegger, Marta. In: Historisches Lexikon der Schweiz, 11.2.2005. http://hls-dhs-dss.ch/textes/d/D47834.php, 16.3.2006.

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Medienberichte betonten, dass ihre Befähigung zum Ratgeben auf zwei Säulen fuße: zum einen auf »Lebenserfahrung«, zum anderen auf Fachwissen, das sie sich »in jahrelanger Kleinarbeit selbst beigebracht« habe.22 Zwar handelte es sich hier in erster Linie um Inszenierungen einer gebildeten und zugleich ›volksnahen‹ Ratgeberin, die die Leserschaft von ihrer Eignung zum Ratgeben überzeugen sollte. Marta Emmenegger war jedoch tatsächlich um Weiterbildung bemüht. Eine ihrer ehemaligen Mitarbeiterinnen sagte mir in einem Gespräch, die Ratgeberin habe »Stunden und Abende« gelesen.23 Auf ihre Kenntnis beratungsrelevanter Literatur wies Marta Emmenegger in Kolumnen und persönlichen Briefen auch selbst immer wieder hin. So empfahl sie regelmäßig Ratgeber, die sexualtherapeutisches Wissen popularisierten. Dass sie auch Fachliteratur rezipierte, zeigte sich in Bezug auf das in der Rubrik beschriebene Problem, nach einem Orgasmus unaufhörlich niesen zu müssen. Marta Emmenegger schrieb dazu, ihr sei »wie gerufen die neue Nummer der ›Medical Tribune‹ […] und damit die Erklärung eines amerikanischen Experten« in die Hand gekommen.24 Auf diese Weise rief sie eine Autorität auf, durch die ein eher ungewöhnliches Problem als Beratungsgegenstand legitimiert wurde. Korrespondenzen und Notizen zeugen davon, dass Marta Emmenegger auch Kontakt zu Expertinnen und Experten aufnahm, um beratungsrelevante Informationen zu erhalten. 1985 bat sie beispielsweise die PR-Abteilung eines deutschen Pharmakonzerns um eine Broschüre zum neu entwickelten Medikament RU 486, mit dem Schwangerschaften abgebrochen werden können.25 Sie suchte auch eine Apotheke in der Zürcher Altstadt auf, um Auskünfte über »Potenzmittel, Stärkungsmittel Auf baumittel etc.« zu erhalten.26 Zudem etablierte sie für ihre Tätigkeit um sich herum ein Experten-Netzwerk aus Urologen, Gynäkologen, Sexualtherapeutinnen und Psychologen, die sie anrief, wenn sie selbst Rat in Bezug auf spezifische Fälle benötigte. Auf Expertenwissen setzte sie besonders dann, wenn es um medizinische oder psychisch begründete Probleme ging. In Bezug auf Beziehungs- oder familiäre Probleme, Homosexualität, Prostitution oder Alterssexualität ließ sie sich dagegen weitaus seltener beraten. Hier vertraute sie offenbar auf ihr ›Erfahrungswissen‹. Entlang der Problembereiche Beziehung und Körper bzw. Psyche verlief also eine markante Scheidelinie: Ließen sich Beziehungsprobleme mit Erfahrungs-

22 | Kummer, Rut: Warum Marta helfen will… In: Blick, 15.9.1980, S. 13. 23 | Wellmann, Annika: Interview mit Lisa Biderbost vom 17.10.2005. 24 | Kolumne vom 1.12.1988, DNr. 10175. 25 | Vgl. Brief vom 4.10.1985, DNr. 1721. Zur Geschichte des Medikaments RU 486 in Europa siehe de Costa, Caroline: RU 486. The Abortion Pill. Salisbury 2007, S. 25-36. 26 | Gesprächsnotiz, nicht datiert, DNr. 2406.

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oder Alltagswissen bewältigen, bedurften psychische oder körperliche Schwierigkeiten eines speziellen Fachwissens.27 Die Personen, deren Rat Marta Emmenegger einholte, kamen aus spezialisierten Feldern, in denen Fachsprachen mit entsprechenden Termini verwendet wurden. Die Kolumnistin konnte sich dennoch offenbar mühelos mit den Expertinnen und Experten verständigen, weil diese sich zur Darstellung von Diagnosen und Methoden interdiskursiver Sprachspiele bedienten. Nach Jürgen Link hat man es dabei »zunächst mit einem wenig institutionalisierten, relativ lockeren Gewimmel von Diskursinterferenzen und Diskursberührungen zu tun, das meistens unscharf mit ›Alltag‹, ›Alltagswissen‹ usw. gekennzeichnet wird«.28 Wie sich der interdiskursive Austausch konkret gestaltete, lässt die Notiz eines Telefongesprächs, das Marta Emmenegger mit einem Gynäkologen geführt hatte, vermuten: Auskunft [des Gynäkologen]: Kein Uterus zu klein um schwanger zu sein. Behandlung: Oestrogen für Wachstum. Ich mache es nicht, ich würde schauen, dass Eisprung 3 Monate sind keine Zeit, die Krankenkassen zahlen eine Behandlung auch erst, wenn mindestens 12 Monate gepröbelt. Das ist der Grund des Arztes, nach drei Monaten wieder zu kommen. Eisprung ausmachen mittels Temperaturkurve. Aber es braucht immer zwei dazu. Samen des Mannes muss auch untersucht werden. Man nimmt auch nicht ein Auto auseinander, bevor man nicht den Benzinstand kontrolliert hat. Keine Operation. Es gibt Gebärmuttervergrösserung. Sie wächst mit dem Kind – auf Frage wegen Geburt. Gebärmutter muss durchgängig sein. Es gibt Missbildungen, aber das betrifft nur ältere Frauen, nicht junge, die regelmässig Mens haben. 29

Marta Emmenegger und der sie beratende Gynäkologe hatten mögliche Ursachen ausbleibender Schwangerschaft und Verfahren zur Behebung des Problems erörtert. Das Gespräch bezog neben medizinischen auch versicherungsrechtliche Aspekte ein. Bei der interdiskursiven Verhandlung von Fachwissen wurden zwar durchaus gynäkologische und endokrinologische Fachausdrücke 27 | Vgl. auch Wellmann/Maasen 2008. 28 | Vgl. Link, Jürgen: Literaturanalyse und Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Fohrmann, Jürgen und Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307, hier S. 288f. 29 | Telefonnotiz vom 22.9.1986, DNr. 2758.

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wie »Uterus« und »Östrogene« verwendet, doch vor allem verständigten sich Marta Emmenegger und der Arzt umgangssprachlich. Auch mit dem Vergleich von Sexualkörper und Auto wurden ärztliche Vorgehensweisen in eine Alltagssprache übersetzt. Solche Sprachspiele waren auch im Repertoire der »Lieben Marta« üblich – und äußerst effektvoll, wie ich zeigen werde.

E INE R ATGEBERIN POPUL ARISIERT (SE XUAL) MEDIZINISCHES W ISSEN Das auf unterschiedlichen Wegen erzeugte Wissen erschien im Blick auf spezifische Weise. In erster Linie war das in den Kolumnen präsentierte sexualmedizinische und reproduktionsbezogene Wissen von den Bedingungen des Boulevardformats geprägt. Zentraler Aspekt boulevardjournalistischer Zeitungsbeiträge sind die narrativen Strukturen der Schilderungen. Durch Akzentuierung von Erlebnissen und Gefühlen sollen sie der Leserschaft Identifikationsmöglichkeiten bieten und den Wunsch nach medialer Melodramatisierung erfüllen.30 Die Ratgeberrubrik konnte diese Ansprüche sehr gut erfüllen, denn hier schilderten Ratsuchende stets gefühlsgeladen Probleme aus ihrem persönlichen Beziehungs- und Sexualleben. Dies sei an einer Kolumne veranschaulicht, die im Juni 1980 erschien: Liebe Marta, ich bin im siebten Monat schwanger und weiss nicht, wie ich mich im Intimverkehr verhalten soll. Unser sexueller Kontakt wird mehr und mehr eingeschränkt, weil es mir wehtut. Aber ich kann doch von meinem Mann nicht schon jetzt Verzicht verlangen. Daisy P., Wallis. 31

Das daraufhin von der Ratgeberin in Anschlag gebrachte Wissen über den Körper und seine Empfindungen – die »Liebe Marta« riet zu Zärtlichkeitspraktiken und Positionen, die Schmerzfreiheit beim penisvaginalen Geschlechtsverkehr garantierten – erschien folglich im Kontext von Narrationen, die durch die Einblicke in das Intimleben einer Leserin nicht zuletzt auf Unterhaltung zielten. Das Format Ratgeberrubrik verspricht aber nicht nur Zerstreuung, sondern auch nützliche Antworten. Ihr Merkmal sind Alltagstauglichkeit und Anwendungorientierung. Medizinisches Wissen darf hier folglich nicht als komplexe Darstellung empirischer Befunde erscheinen, sondern muss sich in Form wissensbasierter Vorschläge präsentieren; die Ratsuchenden erwarten Wissen auf dem besten Stand, zugleich aber auch Verständlichkeit und situa30 | Vgl. Bruck/Stocker 1996, S. 26-28. 31 | Kolumne vom 30.6.1980, DNr. 10522.

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tionsgerechte Anpassung an ihre Probleme. Die »Liebe Marta« bot als Mediatorin zwischen Wissenschaft, Journalismus und Alltagsverstand entsprechende Ratschläge an.32 So forderte sie etwa eine Ratsuchende, die an den Genitalien kaum erregbar war, sehr konkret dazu auf, die Beckenbodenmuskulatur zu bearbeiten. Dabei popularisierte sie ein Übungsprogramm, das der amerikanische Gynäkologe Arnold Kegel entwickelt hatte und das auch andere zeitgenössische Ratgeber verbreiteten: Die Vaginalmuskeln kannst Du auf einfache Weise festigen. Halte beim Wasserlösen während zehn Sekunden an, lass zehn Sekunden los, halt zehn Sekunden an. Dies, so lange es eben dauert und mehrmals am Tag. Nach drei Monaten sind sie wieder elastisch. 33

Die Texte, die Boulevardmedien produzieren, müssen unkompliziert und alltagsnah sein.34 Dies hat schwerwiegende Folgen für die Konstruktion von Wissen, denn nicht selten bedarf es auch hier interdiskursiver Sprachspiele, um Verständlichkeit und Alltagstauglichkeit zu gewährleisten. Solche Sprachspiele bringen aber das Wissen immer auf spezifische Weise hervor: Sie erzeugen zumeist ein Mehr an Bedeutung. Durch den Vergleich etwa von Körper und Auto, der in der Notiz zu dem Telefongespräch zwischen Marta Emmenegger und dem Gynäkologen ihres Vertrauens verwendet wurde, und der damit einhergehenden Gleichsetzung von Samenflüssigkeit und Benzinstand wurde der männliche Körper im Rahmen einer mechanistischen Logik gedeutet und damit zugleich als rational handhabbar beschrieben. In ihrer Rubrik verwendete die Ratgeberin Vergleiche und Metaphern, die genau diese Logik weiter trieben. So umschrieb die »Liebe Marta« etwa die Potenz als »wunderbare Hydraulik«.35 Diese technizistische Metapher entsprang keineswegs der Vorstellungskraft der um Anschaulichkeit bemühten Ratgeberin. Sie gründete vielmehr in populärwissenschaftlichen Darstellungskonventionen, die bereits etliche Jahrzehnte währten. So hatte Fritz Kahn, ein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts breit rezipierter Autor populärwissenschaftlicher Bücher mit Schwer32 | Vgl. Wellmann/Maasen 2008, Absatz 12. 33 | Kolumne vom 8.3.1985, DNr. 1369. Darstellungen der Übung finden sich bei Heiman, Julia, LoPiccolo, Leslie und LoPiccolo, Joseph: Gelöst im Orgasmus. Entwicklung des sexuellen Selbst-Bewusstseins für Frauen. Frankfurt a.M. 1978, S. 59-62; La Haye, Tim und La Haye, Beverly: Wie schön ist es mit dir. Das Intimleben in der Ehe. Aßlar 1982, S. 161-168. Diese Bücher empfahl die »Liebe Marta« den Ratsuchenden auch zur Lektüre. 34 | Vgl. Bruck/Stocker 1996, S. 26. 35 | Kolumne vom 16.8.1982, DNr. 11055.

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punkt auf Sexualaufklärung, 1935 in seiner erfolgreichen Publikation »Unser Geschlechtsleben« die männliche sexuelle Dysfunktion als hydraulisches Gefüge visualisiert.36 Die »Liebe Marta« knüpfte folglich an eingespielte Darstellungskonventionen an und reproduzierte dabei ein überkommenes Körperbild. Vordergründig veranschaulichte die technisch-physikalische Metapher der Hydraulik dabei eine Körperfunktion; sie sollte die Leserschaft – nicht ohne ein gewisses Maß an Humor – zur Einsicht in den Funktionsauf bau des (Männer-)Körpers führen und die Komplexität der Potenzprobleme reduzieren. Die Metapher unterstellte den Körper aber zugleich einer technischen Rationalität und rief damit den Eindruck hervor, dass er – hier: die Potenz bzw. die Zeugungsfähigkeit – beherrschbar sei. Reproduktive Frauenkörper begriff die »Liebe Marta« ebenfalls technisch – mit derselben Konsequenz. Dies sei an einem weniger offenkundigen Beispiel verdeutlicht. Die sicherste Verhütungsmethode, schrieb die Ratgeberin, »ist immer noch die Pille, gerade, wenn der Zyklus unregelmässig wird. Sie regelt ihn, was Dir zunächst einmal die Tatsache verschleiert, dass Deine Eierstöcke mehr und mehr altern und ihre Hormonproduktion allmählich einstellen.«37 Hier erscheinen die weiblichen Geschlechtsorgane im Sinne einer Fabrik, in der »Eierstöcke« eine Funktionseinheit mit konkreter Aufgabe bilden: die »Produktion« von »Hormonen«, die mit zunehmendem Alter durch Außeneinwirkung geregelt werden müsse. In einer Doppelung von Arbeits- und Technikbezügen erscheinen die Eierstöcke sowohl als pensionsreife Arbeiterinnen als auch als verschleißende Maschine, die durch die leistungsfähigere Pille ersetzt werden könne. Dieses Bild verweist auf den gesellschaftlichen Kontext kapitalistischer Ökonomie, in der Menschen und Maschinen bei nachlassender Produktionskraft ausgetauscht werden. Die »Liebe Marta« projizierte folglich die Logik kapitalistischer Ökonomie in den Unterleib. Auch dabei reproduzierte sie die Auffassung eines beherrschbaren Körpers und behebbarer Probleme. Die Sprachspiele, die die »Liebe Marta« zur Beschreibung der Sexualkörpers verwendete, waren also höchst effektvoll. Sie zeigen, dass dieser Körper im Kontext der zeitgenössischen gesellschaftlichen Ordnung situiert und gedeutet wurde. Sie trugen zugleich dazu bei, diese Deutungsmuster zu reproduzieren und zu verstetigen. Aus Sicht des Mediums mögen die Sprachspiele zwar einem ganz anderen Zweck gedient haben: abstrakte Konzepte und Ideen zu veranschaulichen, somit Wissen situationsgerecht aufzubereiten und für Laien anschlussfähig zu machen und schließlich alltagspraktischen Rat zu ermöglichen. Im medizinisch fundierten Rat zur Lösung sexueller Probleme 36 | Vgl. Borck, Cornelius: Der industrialisierte Mensch. Fritz Kahns Visualisierungen des Körpers als Interferenzzone von Medizin, Technik und Kultur. In: WerkstattGeschichte, Nr. 47, 2007, S. 7-22, hier S. 14. 37 | Kolumne vom 11.4.1983, DNr. 11388.

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verknüpften sich jedoch äußerst produktiv diese medialen Logiken mit den Körperdiskursen.

F A ZIT : W ISSENSBASIERUNG DES S E XUELLEN IM B OULE VARD Mit all diesen Techniken der Erzeugung und Popularisierung medizinischen und körperbezogenen Wissens stand die »Liebe Marta« im Zentrum der jüngeren Geschichte des Sexuellen. Diese Geschichte zeichnet sich nicht zuletzt durch Wissensbasierung aus. Bereits in den 1920er Jahren hatten neuartige Sexualratgeber, deren medizinisch geschulte Verfasserinnen und Verfasser eine von der Fortpflanzung losgelöste Sexuallust bejahten, statt normativer Vorschriften technische Ratschläge erteilt.38 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellten dann diverse populäre Medien zunehmend Wissen über den Sexualkörper und seinen korrekten Gebrauch zur Verfügung. Aufklärungsbücher und -filme, die mitunter zu Kassenschlagern avancierten, zeigten in Bild, Text und Ton wie die menschliche Reproduktion von statten geht und erklärten die Entwicklung und Funktionen von Sexualkörpern.39 Auch Ehe- und Sexratgeber, ja selbst die Sex-Reports der späten 1960er und 1970er Jahre speisten ihre Ratschläge aus medizinischen Ressourcen oder beglaubigt ihre Darstellungen mit dem Hinweis auf die Autorität des medizinisch oder psychologisch versierten Experten.40 Diese Medien sind Teil jener »diskursive[n] Explosion«,41 die Michel Foucault zufolge in der Neuzeit um den Sex herum zündete: Sie geben jenen, die den Sex aufspüren, verorten und im Rahmen medizinischer Begrifflichkeiten kategorisieren, einen Ort, an dem sie ihre Ergebnisse vorzeigen und Meinungen kundtun können. Sie tragen auf diese Weise dazu bei, dieses Wissen über 38 | Vgl. Helmstetter 2010. 39 | Vgl. Sauerteig, Lutz: Representations of Pregnancy and Childbirth in (West) German Sex Education Books, 1900s – 1970. In: Ders. Und Roger Davidson: Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe. Studies in the Social History of Medicine, Nr. 32, London und New York 2009, S. 129-160; Schwarz, Uta: Helga (1967): West German Sex Education and the Cinema in the 1960s. In: Sauerteig, Lutz/Roger Davidson: Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe. Studies in the Social History of Medicine, Nr. 32, London und New York 2009, S. 197-213. 40 | Vgl. Eder, Franz X.: Das Sexuelle beschreiben, zeigen und aufführen. Mediale Strategien im deutschsprachigen Sexualdiskurs von 1945 bis Anfang der siebziger Jahre. In: Bänziger, Peter-Paul u.a. (Hg.): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen. Berlin 2010, S. 94-123. 41 | Foucault 1977, S. 23.

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den Sex zu speichern und verbreiten. Zugleich zeigen alle diese Medien der ihnen jeweils eigenen Produktionslogik gemäß, wie Krankheiten kuriert, Praktiken vervielfältigt, Lüste gesteigert werden können. Sachbuch und Zeitung, Funk und Fernsehen ebenso wie die Ärztinnen und Ärzte, die sie so bereitwillig zu Wort kommen lassen, führen damit jene stimulierenden Strategien fort, die sich strukturell ähnlich auch in einem zeitgenössischen Imperativ zum Umgang mit dem Körper manifestierten: »Zeige dich nackt… aber sei schlank, schön und gebräunt!« 42 Die Wissensbasierung, die die Medien zum Zweck ihres eigenen ökonomischen Erfolgs verfolgen, wird damit zu einem Ansatzpunkt der Selbstgestaltung des (Sexual-)Alltags. Diese wird nun, in Form verschiedengestaltiger Imperative über populäre Medien allerorts und dauerhaft präsent, jedem und jeder Einzelnen abverlangt, verbunden mit dem Versprechen auf gute Gesundheit und befriedigenden Sex. In diesem medien- und sexualitätsgeschichtlichen Kontext steht die Boulevardzeitung Blick, die sich zwar nicht ausschließlich Sex und Medizin widmete, aber deshalb nicht weniger intensiv zur Wissensbasierung des Sexuellen beitrug. Medizinisches Wissen erschien insbesondere auf ihren Ratgeberseiten als gewichtiger Teil einer hybriden Ordnung des Wissens über den Sex. Erfahrungs- und Alltagswissen, medizinisches und psychoanalytisches Wissen wurden hier eingesetzt, um die Körper, Praktiken und Beziehungen zu diskursivieren.43 Speziell das institutionell etablierte und als effektiv geltende sexualmedizinische Wissen war dabei von Seiten der Rezipierenden durchaus gefragt, wie die Briefe an die »Liebe Marta« zeigen.44 Durch diese Rubrik und andere Medien stimuliert, baten Leserinnen und Leser um wissensbasierte Ratschläge, um ihre Lüste zu intensivieren, Praktiken zu optimieren oder Genesung zu erzielen. Im Gegenzug zu ihren verwertbaren Problemgeschichten versprach das Boulevardblatt ihnen Orientierung und Anleitung in einer verständlichen Sprache. Es ist damit Teil einer Geschichte des Sexuellen, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in jeder Hinsicht durch Produktivität und Vervielfältigung geprägt ist.

42 | Foucault, Michel: Macht und Körper, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. 2:1970-1975. Hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M. 2002, S. 934941, S. 935. 43 | Die Hybridisierung von Wissensformen ist typisch für Ratgebermedien. Vgl. Duttweiler, Stefanie: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie. Konstanz 2007, S. 128-130. 44 | Vgl. Bänziger, Peter-Paul: Sex als Problem. Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die »Liebe Martha«. Frankfurt a.M., New York, Zürich 2010.

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L ITER ATUR Bänziger, Peter-Paul: Sex als Problem. Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die »Liebe Martha«. Frankfurt a.M., New York, Zürich 2010. Bänziger, Peter-Paul: Liebe Marta. Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion sexueller Selbstverhältnisse im »Blick« (1980-1995) und in aktuellen Internetforen. In: Zeitenblicke 7, 2008, Nr. 3, www.zeitenblicke. de/2008/3/baenziger/index_html, 9.2.2010. Bessinger, Otto: Carl Ernst Bock als Mitarbeiter der »Gartenlaube«. Frankfurt a.M. 1956. Böll, Heinrich: Die verlorene Ehre der Katarina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. München 1977. Borck, Cornelius: Der industrialisierte Mensch. Fritz Kahns Visualisierungen des Körpers als Interferenzzone von Medizin, Technik und Kultur. In: WerkstattGeschichte, Nr. 47, 2007, S. 7-22. Bruck, Peter A. und Stocker, Günther: Die ganz normale Vielfältigkeit des Lesens. Zur Rezeption von Boulevardzeitungen. In: Medien & Kommunikation, Nr. 23, Münster 1996. Bürgi, Markus: Art. Emmenegger, Marta. In: Historisches Lexikon der Schweiz, 11.2.2005. http://hls-dhs-dss.ch/textes/d/D47834.php, 16.3.2006. de Costa, Caroline: RU 486. The Abortion Pill. Salisbury 2007. Duttweiler, Stefanie: Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechnologie. Konstanz 2007. Eder, Franz X.: Das Sexuelle beschreiben, zeigen und aufführen. Mediale Strategien im deutschsprachigen Sexualdiskurs von 1945 bis Anfang der siebziger Jahre. In: Bänziger, Peter-Paul u.a. (Hg.): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen. Berlin 2010, S. 94-123. Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1977. Foucault, Michel: Macht und Körper, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Bd. 2:1970-1975. Hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M. 2002, S. 934-941. Göpfert, Winfried: Starke Wissenschafts-PR – armer Wissenschaftsjournalismus. In: Müller, Christian (Hg.): SciencePop. Wissenschaftsjournalismus zwischen PR und Forschungskritik. Graz und Wien 2004, S. 184-198. Gottgetreu, Sabine: Der Arztfilm. Untersuchung eines filmischen Genres. Bielefeld 2001. Heiman, Julia, LoPiccolo, Leslie und LoPiccolo, Joseph: Gelöst im Orgasmus. Entwicklung des sexuellen Selbst-Bewusstseins für Frauen. Frankfurt a.M. 1978.

Zeitbombe im Unterleib

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Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten Die Darstellung von Ad(h)s in der Kinder- und Jugendliteratur Sarah Lüssi

Der folgende Beitrag untersucht Kinder- und Jugendbücher, in denen Ad(h)s (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) explizit thematisiert wird, und stellt diese Texte in den Kontext medizinischer und medialer Diskurse. Während die Hyperaktivität des Zappel-Philipps aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann (1845) erst postum festgestellt wurde, tauchen in aktuellen jugendliterarischen Texten vermehrt Figuren auf, die schon werkimmanent diagnostiziert sind. Die Ad(h)s-Diagnose steckt häufig schon im Namen der Kinderbuch-Helden, die literarischen Nachfahren des Zappel-Philipps heißen beispielsweise »Zappelmax«1, »Zappel-Felix«2, »Tim Zippelzappel und Philipp Wippelwappel«3 oder »Flippie-Bär« 4, »Twist«5 und »Johnny Hurricane«6. Das besondere Augenmerk der Untersuchung dieser jugendliterarischen Texte gilt der Struktur ihrer Plots und deren impliziten Wertvoraussetzungen.7 Die strukturprägenden Axiologien der literarischen Fallgeschichten werden einerseits anhand einer Analyse metaphorischer Konzepte, andererseits durch die hypothetische Ermittlung kulturinhärenter Leitsätze, welche die Erwartungen an sinnvoll gestaltete literarische Plotmuster steuern, sichtbar. Als 1 | Rummel, Klaus und Grütter, Thomas: Wie Zappelmax zu seinem Namen kam. Ein Buch der Lebenshilfe Osterholz. Lilienthal 2001. 2 | Künzler-Behncke, Rosmarie: Der kleine Zappel-Felix. Wien und München 2007. 3 | Schäfer, Ulrike: Tim Zippelzappel und Philipp Wippelwappel. Eine Geschichte für Kinder mit ADHS-Syndrom. Bern 2003. 4 | Best, Anne: Flippie-Bär. …für alle großen und kleinen Leute, die wissen wollen, wozu AD(H)S gut ist! Hamm 2005. 5 | Shreve, Susan: Mein Freund Twist. Ein Junge hat ADS. Hamburg 2005. (Original: Trout and me. New York 2002). 6 | Johnny Hurricane. Regie: Christian Dzubiel, Deutschland 2009, 33 Min., Farbe. 7 | Kim, Taewan: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas. Tübingen 2002.

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wesentliches Teilresultat der Studie wird sich herausstellen, dass der medizinwissenschaftliche und der jugendliterarische Diskurs zu Ad(h)s heute in erstaunlichem Masse voneinander abweichen. Differenzen, Ambivalenzen und Konfusionen charakterisieren auch den öffentlichen Diskurs über Ad(h)s.8 Es stellt sich die Frage, welche kulturellen Funktionen die Jugendliteratur in diesem heterogenen Kontext übernimmt und wie in den Texten mit Ambivalenz verfahren wird. Bevor wir uns mit den Verknüpfungen von (medizin)historischen, literarischen und öffentlichen Diskursen beschäftigen, gilt es zu definieren, was unter Ad(h)s im Kontext dieser kulturwissenschaftlichen Analyse verstanden werden soll. Dazu orientieren wir uns zunächst am aktuellen Kenntnisstand der Medizin und rekonstruieren die Entwicklung des gegenwärtigen Störungsmodells. Die Geschichte der Ad(h)s führt uns über die medikamentöse Behandlung zu den aktuellen massenmedialen Kontroversen. Die öffentliche Diskussion um Existenz, Ursachen, Behandlungsbedürftigkeit und -möglichkeiten liefert weitere Hinweise zum Verständnis der untersuchten Texte, die in ihrer spezifischen Differenz zum neurobiologischen Forschungsstand und dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext dargestellt werden.

M EDIZINISCHES UND M EDIZINGESCHICHTLICHES ZUR A D (H) S Gemäß den diagnostischen Kriterien des DSM-IV9 macht sich Ad(h)s durch erhebliche Störungen von Konzentration und Daueraufmerksamkeit, durch erhebliche Störungen der Impulskontrolle und der emotionalen Regulation sowie fakultativ bei Hyperaktivität durch auffällige motorische Unruhe bemerkbar. Die Symptome bestehen seit der Kindheit und treten vor dem 6. Lebensjahr auf. Die Ursachen von Ad(h)s sind nicht restlos geklärt. Noch fehlt ein biologischer Marker, welcher die Diagnose sichert. Neurobiologische Untersuchungen beschreiben Funktionsabweichungen in der Regulation und Verfügbarkeit von Botenstoffen, deren Transportern und Rezeptoren im Gehirn. Es finden sich neurochemische, neurophysiologische und radiologische Auffälligkeiten, die vor allem auf Anomalien im dopaminergen und noradrenergen System hinweisen, welche zu Beeinträchtigungen der Reizfilterung und -verarbeitung, der Impulskontrolle, der Affektregulierung, der Vigilanzsteuerung und 8 | Lüssi, Sarah: Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten. Zur Darstellung von Ad(h)s in der Kinder- und Jugendliteratur. Lizentiatsprojekt bei Prof. Dr. Rudolf Käser am Deutschen Seminar der Universität Zürich. 9 | American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders. DSM-IV. Washington, DC, 1994.

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der Handlungsplanung und -organisation führen. Die genetisch bedingte Disposition bestimmt zusammen mit Umwelt- und Sozialisationsbedingungen die Ausprägung der Symptomatik. Die Behandlungsbedürftigkeit richtet sich nach dem Leidensdruck und dem individuellen Grad der Beeinträchtigung.10 Anders als manche Darstellungen der Massenmedien vermuten lassen, handelt es sich bei Ad(h)s nicht um eine neuere Erscheinung. Ad(h)s hat eine lange Geschichte – und diese wiederum hat ein ganz besonderes Verhältnis zur Literatur; denn die Geschichte der Ad(h)s beginnt meistens mit dem Zappel-Philipp. Im medizinischen Diskurs fungiert das Bilderbuch von Heinrich Hoffmann als historischer Beleg für Ad(h)s und gewinnt als frühe Beschreibung an Gültigkeit und Gewicht, wenn Heinrich Hoffmann dabei als Nervenarzt, Psychiater oder gar Neurologe bezeichnet wird. Dabei war Hoffmann 1844, als er die Urfassung des »Struwwelpeters« schuf, lediglich ein durchschnittlich verdienender Allgemeinarzt. Zur Psychiatrie kam er erst sieben Jahre später, als er 1851 die Leitung der Frankfurter »Anstalt für Irre und Epileptische« übernahm. Von Freunden zum Druck überredet – zuerst waren die Geschichten ein Weihnachtsgeschenk für seinen Sohn – wurde das Kinderbuch zum Bestseller. Erst in der zweiten Auflage (1846) tritt auch der Zappel-Philipp darin auf.11 Die pointierten Illustrationen sind vermutlich der Hauptgrund, weshalb sich gerade der Zappel-Philipp als Sinnbild für Ad(h)s durchgesetzt hat. Heinrich Hoffmann hat das Krankheits-Bild gezeichnet, nicht nur beschrieben. Die Figur aus dem Struwwelpeter macht die Abkürzung Ad(h)s greif barer und verdichtet die Beschreibungen zu sichtbaren Symptomen, wobei die motorische Unruhe das Leitsymptom ist. So wird die Karikatur zum bildgebenden Verfahren: »Wenn Kinder selten ruhig sitzen können, häufig unkonzentriert, leicht reizbar, stimmungsschwankend und impulsiv sind, spricht man von Hyperaktivität, dem sogenannten ›Zappelphilipp-Syndrom‹.«12 Der Zappel-Philipp ist auch im öffentlichen Diskurs ein Archetyp geworden, wo »Zappel-Philipp-Syndrom« synonym für Ad(h)s verwendet wird. Ist dieser literarische Ursprung des Krankheitsbildes Ad(h)s vielleicht mit ein Grund für seine kontroverse Ambivalenz bis auf den heutigen Tag? Die berechtigte Kritik an den Anteilen »Schwarzer Pädagogik«, die es in Hoffmanns Kinderbuch ja ohne Zweifel gibt, trifft vielleicht heute metonymisch auch den 10 | Krause, Johanna und Krause, Klaus-Henning: Neurobiologische Grundlagen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. In: psychoneuro, 10, 2007, S. 404-410. 11 | Seidler, Eduard: Zappelphilipp und ADHS. Von der Unart zur Krankheit. In: Deutsches Ärzteblatt, 5, 2004, S. 239-243. 12 | Künzler-Behncke 2007.

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neurologischen Befund und stellt in einer Art von Nachträglichkeit auch noch die inzwischen ganz anders gemeinten Wertimplikationen des modernen Störungsmodells in Frage. Hoffmann war nicht der erste und einzige, der das Phänomen beschrieb. Die Aufmerksamkeitspsychologie existiert seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus dieser Zeit stammt eine ganze Reihe von Texten mit Hinweisen auf Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter.13 Eine organische Basis der Symptome wurde bereits 1902 von Still vermutet. Still beschreibt ein Störungsbild mit Aufmerksamkeitsdefizit, Überaktivität und Unfähigkeit zu diszipliniertem Verhalten mit Beginn vor dem 8. Lebensjahr und vermutet eine angeborene Konstitution als Ursache. So gibt es also eine traditionsreiche Wissenschaftsgeschichte bezüglich Ad(h)s. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die meisten Fachleute, die sich mit Ad(h)s beschäftigten, der Überzeugung, die Verhaltensauffälligkeiten seien mit einer Hirnschädigung verbunden. Die Beobachtungen von Primaten mit Frontalhirnläsionen, deren Verhalten dem hyperaktiver Kinder ähnelt, veranlassten zu dieser Meinung, obwohl bei den meisten betroffenen Kindern keine offensichtlichen Läsionen zu finden waren.14 Auch die medikamentöse Behandlung der Ad(h)s ist kein neues Phänomen. 1937 berichtet Bradley im Journal of Psychiatry über die positiven Effekte einer Stimulanzien-Behandlung von pädagogisch kaum beeinflussbaren Kindern mit dem Störungsbild von Still (1902). Mit dem Beginn der Pharmakotherapie von verhaltensauffälligen Kindern wurde auch das Konzept der Hirnschädigung in Frage gestellt, so dass »Minimale Hirnschädigung« durch die Bezeichnung »Minimale zerebrale Dysfunktion« ersetzt wurde. Man hielt es zwar für möglich, dass subtile Anomalien des Gehirns vorlagen, gleichzeitig tauchten aber auch andere Hypothesen auf, weil für das Konzept der Hirndysfunktion kaum methodische Zugänge zur Überprüfung vorhanden waren. Da empirische Beweise für das Konzept der Dysfunktion fehlten, verlegte man sich auf die Verhaltensbeobachtung. Auf Grundlage der beobachtbaren Symptomatik entstanden auch Konzepte mit psychoanalytischem Hintergrund, beziehungsweise systemisch-konstruktivistische Erklärungsansätze.15 In den Folgejahren entwickelten sich Forschung und Praxis in Europa und Nordamerika in unterschiedliche Richtungen. Europäische Kliniker behielten die engere Sichtweise der Störung aufrecht und betrachteten das Syndrom als selten und üblicherweise mit einer Hirnschädigung verbunden, in Nordamerika wurde die Hyperaktivitätsstörung – motorische Unruhe stand als auffälligs13 | Rothenberger, Aribert und Neumärker, Klaus-Jürgen: Wissenschaftsgeschichte der ADHS. Kramer-Pollnow im Spiegel der Zeit. Darmstadt 2005, S. 9. 14 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 11. 15 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 11.

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tes Symptom im Vordergrund – als etwas Häufiges angesehen, was nicht mit einer Hirnschädigung zu tun haben muss.16 In den 1970er Jahren begann man, sich mehr mit »Störungen der Aufmerksamkeit« zu befassen. Eine Anzahl von Autoren zeigte, dass hyperaktive Kinder große Schwierigkeiten hatten, die Daueraufmerksamkeit aufrecht zu erhalten. Diese wissenschaftliche Erkenntnis rückte die motorische Hyperaktivität etwas in den Hintergrund. Diskutiert wurde nun auch der Einfluss von Umgebungsfaktoren. Gesellschaftliche Tendenzen hin zu einem gesünderen Lebensstil waren der ideale Nährboden für Hypothesen über allergische Reaktionen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten als Ursachen für Ad(h)s. Die Forschungsaktivität im Bereich psychophysiologischer Methoden nahm jedoch weiter zu und es entstanden verschiedene Studien, welche den pathologischen, hirnfunktionellen Hintergrund der Ad(h)s untersuchten.17 In den 1980er Jahren veränderten sich die Forschungskriterien. Es gab nun standardisierte Abklärungsprozeduren und auch bei der Behandlung wurden Fortschritte erzielt und zwar mit Methoden, die an der kognitiv behavioralen Therapie orientiert waren.18 Allmählich setzte sich in der Medizin die Betrachtung der Hyperaktivitätsstörung als Störung mit starker Erblichkeit, chronischem Verlauf und deutlicher Beeinträchtigung vor allem hinsichtlich der schulischen und sozialen Entwicklung durch.19 In den 1990er Jahren entstand mehr Forschungsliteratur über Ad(h)s als über jede andere kinderpsychiatrische Störung. Neben Forschungsergebnissen zur Genetik und Neurobiologie, gab es auch Resultate zur Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener Behandlungsmethoden, woraus sich Leitlinien ergaben. Dabei wurde immer deutlicher, dass sich Ad(h)s nicht auswächst, sondern bei einem beträchtlichen Anteil der betroffenen Kinder auch im Jugend- und Erwachsenenalter behandlungsbedürftig bleibt.20»Die gegenwärtige Konzeptualisierung der Störung stellt wahrscheinlich auch nur eine bestimmte Phase im Rahmen der komplexen und von Variationen geprägten Entwicklungsgeschichte dieses Störungsbildes dar.«21 Es scheint an dieser Stelle angebracht, etwas über die medikamentöse Behandlung von Ad(h)s zu schreiben. Über Ritalin. Ritalin ist der Name eines Präparates mit dem Wirkstoff Methylphenidat, der bei der medikamentösen Therapie der Ad(h)s als Mittel der ersten Wahl gilt. Vorbehalte gegen den Einsatz von Methylphenidat werden dem Umstand, dass Ritalin – bei richtiger 16 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 12. 17 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 12. 18 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 12. 19 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 12. 20 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 12-13. 21 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 10.

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Diagnose und korrekter Anwendung – ein höchst effektives und risikoarmes Medikament ist, nicht gerecht. Entgegen der weit verbreiteten Annahme ist Methylphenidat kein Beruhigungsmittel, sondern ein zentralnervöses Stimulans, also ein Aufputschmittel, das 1944 von Panizzon entwickelt und 1954 auf den Markt gebracht wurde. Erste kontrollierte Studien mit Ad(h)s-Kindern entstanden in den 1960er Jahren. Es konnte gezeigt werden, dass bei etwa 75 % der behandelten Kindern und Jugendlichen die Kernsymptomatik merkbar gelindert wird und eine gute Verträglichkeit vorliegt. Ritalin gilt nach über 40 Jahren klinischer Erfahrung als zuverlässiges und sicheres Produkt.22 Die Church of Scientology und die Anti-Psychiatriebewegung startet seit den achtziger Jahren immer wieder Kampagnen gegen den Einsatz von Methylphenidat. Obwohl keinerlei empirische Belege für eine Abhängigkeit oder Gehirnschäden durch Methylphenidat vorliegen, wird stetig verbreitet, Ritalin würde süchtig machen und Parkinson verursachen. Im medizinwissenschaftlichen Diskurs sind solche Behauptungen natürlich unhaltbar – die Auseinandersetzungen um den Einsatz von Ritalin finden daher in den populären Medien und auf politischer Ebene statt, wo heftig polemisiert, Fakten verdreht, Tatsachen ignoriert und Gerichtsverfahren angestrengt werden.23

A D (H) S IN DEN M ASSENMEDIEN Die aktuelle öffentliche Diskussion hat sich in den Massenmedien also vor allem um die Behandlung von Ad(h)s mit Ritalin entfacht. Um dies zu veranschaulichen, hier die Headlines mit zum Begriff ›Ritalin‹ aus dem TagesAnzeiger 2009-2010: »Ritalin hilft Drogensüchtigen« 24 »Der Ritalin Konsum steigt weiter« 25 »Ritalin wird in Zürich immer öfter als Partydroge missbraucht« 26

22 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 26. 23 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 26. 24 | Fossgreen, Anke: Ritalin hilft Drogensüchtigen. In: Tages-Anzeiger, 30.7.2010, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-und-psycho logie/Ritalin-hilft-Drogensuechtigen/story/16279385, 1.7.2012. 25 | o. A.: Der Ritalin Konsum steigt weiter. In: Tages-Anzeiger, 4.7.2010, www.ta gesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-und-psychologie/ Der-RitalinKonsum-steigt-weiter/story/21681931, 1.7.2012. 26 | o. A.: Ritalin wird in Zürich immer öfter als Partydroge missbraucht. In: Tages-Anzeiger, 29.6.2010, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/zuerich/

Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten »14jaehrige Knaben nehmen Ritalin doppelt so häufig wie gleichaltrige Mädchen« 27 »Mit Ritalin besser durchs Examen?« 28 »Selbstversuch mit Ritalin: 10mg Arbeitswut« 29 »Kein Ritalin, keine Schulreise« 30 » ›Ritalin wirkt viel besser als Kaffee… und macht nicht nervös‹« 31 »Studenten im Stress: ›Am Morgen Ritalin und abends Wein‹« 32 »Ritalin boomt auch bei den Grossen« 33 »Ritalin-Boom: Schwere Vorwürfe gegen Schweizer Hausärzte« 34 »Ritalin-Kinder: Lehrer sind überfordert« 35 region/Ritalin-wird-in-Zuerich-immer-oef ter-als-Par t ydroge-missbraucht/stor y/ 23606111, 1.7.2012. 27 | o. A.: 14-jährige Knaben nehmen Ritalin doppelt so häufig wie gleichaltrige Mädchen. In: Tages-Anzeiger, 8.4.2010, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.ta gesanzeiger.ch/zuerich/region/14jaehrige-Knaben-nehmen-Ritalin-doppelt-so-haeu fig-wie-gleichaltrige-Maedchen/story/19815402, 1.7.2012. 28 | Ziegler, Manuela: Mit Ritalin besser durchs Examen? In: Tages-Anzeiger, 29.9.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/leben/gesell schaft/Mit-Ritalin-besser-durchs-Examen/story/11632969, 1.7.2012. 29 | Schmid, Birgit: Selbstversuch mit Ritalin: 10mg Arbeitswut. In: Tages-Anzeiger, 14.8.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/ Selbstversuch-mit-Ritalin-10-Milligramm-Arbeitswut/story/13976846, 1.7.2012. 30 | Thiriet, Maurice: Kein Ritalin, keine Schulreise. In: Tages-Anzeiger, 25.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010. 31 | Habicht, Claudio: »Ritalin wirkt viel besser als Kaffee… und macht nicht nervös«. In: Tages-Anzeiger, 24.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/ schweiz/standard/Ritalin-wirkt-viel-besser-als-Kaffee--und-macht-nicht-ner voes/ story/27494397, 1.7.2012. 32 | Habicht, Claudio: Studenten im Stress. »Am Morgen Ritalin und abends Wein«. In: Tages-Anzeiger, 24.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger. ch/schweiz/standard/Studenten-im-Stress-Am-Morgen-Ritalin-und-abends-Wein/sto ry/28696522, 1.7.2012. 33 | Thiriet, Maurice: Ritalin boomt auch bei den Großen. In: Tages-Anzeiger, 23.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/schweiz/stan dard/Ritalinboomt-auch-bei-den-Grossen/story/23206152, 1.7.2012. 34 | Habicht, Claudio: Ritalin-Boom. Schwere Vorwürfe gegen Schweizer Hausärzte. In: Tages-Anzeiger, 9.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger. ch/schweiz/standard/RitalinBoom-Schwere-Vorwuerfe-gegen-Schweizer-Hausaerzte/ story/11495266, 1.7.2012. 35 | Habicht, Claudio: Ritalin-Kinder. Lehrer sind überfordert. In: Tages-Anzeiger, 3.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/ RitalinKinder-Die-Lehrer-sind-ueberfordert/story/11710492, 1.7.2012.

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Sarah Lüssi »Ritalin als Opium für das Volk« 36 »Rätselhafter Boom von Ritalin: Politiker fordern Untersuchung« 37 »Junkies kaufen Kindern Ritalin ab« 38 »Ritalin verursacht kokainähnliche Veränderungen im Gehirn« 39

Die kontroverse Berichterstattung über die Zunahme der Verschreibungen von Psychostimulanzien, Fehldiagnosen und Nebenwirkungen erwecken den Eindruck, es handle sich bei Ad(h)s um eine höchst umstrittene Diagnose und die zur Behandlung eingesetzten Medikamente seien möglicherweise gefährlich. Dies steht in einem krassen Gegensatz zu den Forschungsergebnissen und den langjährigen Erfahrungen mit der medikamentösen Behandlung. Und obwohl es aus neurobiologischer Sicht keinen Spielraum für beschönigende Erklärungen gibt, wird Ad(h)s als Modediagnose verharmlost, wird nach alternativen Heilmethoden gefragt und die Diskussionen um Ursachen, Behandlungsbedürftigkeit und -möglichkeiten von Ad(h)s reißen nicht ab. Rothenberger hat herausgearbeitet, dass sich die aktuelle öffentliche Diskussion auf folgende drei Punkte konzentriert: erstens die Validität von Ad(h) s als psychiatrische Störung, zweitens die Sorge vor Überdiagnostizierung von Ad(h)s oder Fehldiagnosen und drittens mögliche Gefahren einer Behandlung mit Psychostimulanzien.40 Rothenberger kommentiert: »Während mittlerweile klar sein dürfte, dass der diagnostische Status nicht schlechter ist als bei anderen psychiatrischen Störungen bleiben vor allem Punkt 2 und 3 weiterhin Diskussionsthemen.«41

36 | Thiriet, Maurice: Ritalin als Opium für das Volk. In: Tages-Anzeiger, 28.2.2009. 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/schweiz/stan dard/Ritalin-als-Opium-fuer-das-Volk/story/26684028, 1.7.2012. 37 | Thiriet, Maurice: Rätselhafter Boom von Ritalin: Politiker fordern Untersuchung. In: Tages-Anzeiger, www.tagesanzeiger.ch, 24.2.2009, www.tagesanzeiger.ch/schweiz/ standard/Raetselhaf ter-Boom-von-Ritalin-Politiker-fordern-Untersuchung /stor y/ 11827937, 1.7.2012. 38 | o. A.: Junkies kaufen Kindern Ritalin ab. In: Tages-Anzeiger, 5.2.2009, www.tages anzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/panorama/vermischtes/Junkies-kau fenKindern-Ritalin-ab, 1.7.2012. 39 | o. A.: Ritalin verursacht kokainähnliche Veränderungen im Gehirn. In: Tages-Anzeiger, 3.2.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/wissen/me dizin-und-psychologie/wissen/medizin-und-psychologie/Ritalin-verursacht-kokain aehnliche-Veraenderungen-im-Gehirn/story/27220767, 1.7.2012. 40 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 1. 41 | Rothenberger und Neumärker 2005, S. 1.

Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten

Tatsächlich wird Ad(h)s immer öfter diagnostiziert. Dabei ist laut Rothenberger aber lediglich die »administrative« Prävalenz der Ad(h)s gestiegen, vermutlich da durch die Sensibilisierung der Öffentlichkeit häufiger eine Diagnose gestellt wird. Ad(h)s kommt heute nicht häufiger vor als früher. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass die heutigen Anforderungen im Alltag für mehr Menschen mit einer Ad(h)s-Konstitution eine so große Belastung werden, dass eine Behandlung notwendig wird. Die höheren Verschreibungszahlen lassen sich durch längere Behandlungszeiträume, beziehungsweise die Behandlung von älteren Jugendlichen und Erwachsenen erklären. Es ist jedoch davon auszugehen, dass trotzdem noch immer nur eine Minderheit der Betroffenen diagnostiziert und behandelt wird. Wie ist es in Anbetracht des aktuellen Forschungsstandes zu erklären, dass man darüber diskutieren kann, ob Ad(h)s die Folge von antiautoritärer Erziehung, das Resultat der zivilisationsbedingten, zeitgenössischen Reizüberflutung oder am Ende doch nur ein Konstrukt sei, welches dazu dient, unerwünschte Verhaltensweisen unbequemer Menschen zu unterdrücken? Fakten helfen nicht gegen Sorgen: Offenbar werden Diagnose und Therapie der Ad(h)s zur Projektionsfläche für mehr oder weniger diffuse Ängste in Bezug auf Normen, Regelverstöße und Sanktionspraktiken in der gesellschaftlichen Sozialisation. In diesem Zusammenhang erscheint Ad(h)s nicht nur als Übel, sondern auch als besondere Herausforderung, ja sogar als Gabe. Die Beobachtungen spezieller Eigenschaften und Talente – wie zum Beispiel die hohe Kreativität und der Gerechtigkeitssinn – verlocken dazu, Ad(h)s nicht (nur) als Krankheit zu sehen. Die Teilnehmer der öffentlichen Diskussion haben unterschiedliche Perspektiven und Anliegen, es sind Ärzte, Psychologen, Therapeuten, Pädagogen, Eltern von Ad(h)s-Kindern und Politiker – und viele andere, die glauben, etwas zu dem Thema beizutragen zu müssen. Nun gibt es nicht nur viele Menschen, die sich dem wissenschaftlichen Realismus nicht verpflichtet fühlen, es gibt im Bereich Ad(h)s auch Missverständnisse, Fehlinterpretationen und hartnäckige Vorurteile, die durch die Massenmedien immer wieder aufgewärmt werden. Zum Beispiel die Idee, es handle sich bei Ritalin um ein Beruhigungsmittel, die vermutlich daher kommt, dass Ritalin unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. In den öffentlichen Medien werden verschiedene Erklärungsansätze nebeneinander gestellt und präsentieren sich so als scheinbar gleichwertig. Der Zwang, immer auch Gegendarstellungen zu berücksichtigen und die journalistische Praxis, alles in Frage zu stellen, führt zu oberflächlichen und beliebigen Darstellungen. So entstehen leider oft verwirrende Diskussionen, deren Teilnehmer nicht die gleichen Begriffe verwenden. Leider, weil die Leidtragenden dieser Diskussionen die Betroffenen sind. Die Menschen, die mit Ad(h)s leben und die durch die immer wieder in Zweifel gezogene Validität der Diagnose, durch die fehlende Anerkennung der lebenslangen Beeinträch-

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tigung und durch die Stigmatisierung wirksamer Behandlungsmethoden immer wieder zusätzlich belastet werden. Es geht hier nicht darum, zu zeigen wie und was Ad(h)s wirklich ist, sondern darum, was mit Ad(h)s gemeint ist, wenn wir darüber sprechen. Cave: Damit wird nicht behauptet, dass Ad(h)s nicht wirklich ist – Wirklichkeiten werden jedoch von Konzepten definiert. Während Neurobiologen vielleicht Opfer ihres Algorithmus werden, der misst, was sie zeigen möchten, stellen systemisch-konstruktivistische Erklärungsansätze die Gesetze der Schwerkraft in Frage, ohne überhaupt eine Messung durchzuführen! Es mag sein, dass es nicht nur eine einzige Wahrheit gibt. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Theorien gleich richtig sind. Nach diesem Rundgang durch medizinische und massenmedial-öffentliche Diskurse bleibt der Befund: In unserer Kultur existieren mehrere mentale Modelle, die in verschiedenen diskursiven Zusammenhängen Geltung beanspruchen. In der Zusammenschau dieser differierenden Geltungsansprüche resultiert eine Ambivalenz der Bewertung: Ad(h)s ist eine Krankheit, Ad(h)s ist eine Gabe. In dieser Wertambivalenz wird Ad(h)s in der westeuropäischen Kultur modelliert, dies ist die diskurshistorische Situation, in der jugendliterarische narrative Modelle von Ad(h)s sich positionieren.

D ISKURSREGELN JUGENDLITER ARISCHER F IK TIONALISIERUNG VON A D (H) S Die teilweise hitzigen Debatten in den Massenmedien liefern Hinweise auf wichtige Koordinaten im Wertesystem und gehören auch zum implikativen Horizont der erzählten Welten, in die wir nun eintauchen wollen. Der Korpus setzt sich aus neueren literarischen Texten zusammen, welche das Thema Ad(h)s explizit thematisieren. Bei der Recherche zeigte sich, dass vor allem Texte für Kinder und Jugendliche Ad(h)s-Darstellungen bieten, welche als literarisch zu bezeichnen sind. Im deutschen Sprachraum gibt es mittlerweile neben Fach- und Sachbüchern über Ad(h)s viele Textdokumente von Betroffenen und Angehörigen. Während diese Texte in der Regel Authentizität anstreben, oft aus der Selbsthilfe kommen und die Bewältigung der eigenen Problematik begleiteten, sind in der Kinder- und Jugendliteratur heute Texte zu finden, welche einen hohen Grad an Fiktionalität aufweisen. Dies liegt wohl einerseits daran, dass es eine gängige Praxis ist, gerade jüngeren Lesern Wissen durch eine Erzählung zu vermitteln. Andererseits hat Aktualität des Themas zu einem populären Konzept von Ad(h)s geführt, so dass hyperaktive Kinder, Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit und Konzentrationsproblemen Bestandteil von fiktiven Alltagswelten geworden sind. Dies gilt

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für die Figur des hyperaktiven Jungen. Mädchen mit Ad(h)s und erwachsene Betroffene sind weiterhin spezielleren Diskursen vorbehalten. Die narrative Funktion von Ambivalenz wird sichtbar, wenn wir die Handlungs- und Erzählschemata der untersuchten Texte betrachten. Wenn Ad(h)s nicht ambivalent betrachtet werden könnte, so gäbe es keine Geschichten zu erzählen. Ambivalenzkonflikte rufen stereotype Modellierungen auf den Plan, welche in unserem Fall die unsicheren Grenzen zwischen gesund und krank verhandeln. Das spezifische Wertesystem, welches auch die öffentliche Diskussion prägt, wirkt auch in den untersuchten Texten. Vielleicht ist diese Ambivalenz auch in der menschlichen Narrativität angelegt, welche die Welt mit sinnstiftenden Erklärungen strukturiert. Diese Erklärungen erzählen, wenn nicht von Absicht und Willen, so wenigstens von kausalen Reaktionen auf Umwelt und Erfahrung. Und so stringent die neurobiologischen Erkenntnisse die funktionellen Unterschiede bei Ad(h)s auch zu erklären vermögen – zu sehen sind Verhaltensweisen, die bewertet (beurteilt und sanktioniert) werden, denn Menschen mit Ad(h)s sind keine sichtbar differente Art. So spiegeln sich in den Texten gesellschaftliche Normen, Werte und der Umgang mit Grenzüberschreitungen, und immer wieder taucht die Frage auf, ob jemand nicht könnte, wenn er nur wollte. Ad(h)s-Geschichten enthalten zwar auch Informationen über Neurobiologie, klassische Jugendbuchthemen wie das ›An-sich-arbeiten‹ und das ›Seinen-Platz-finden‹ werden jedoch wie gewohnt aufgerollt. So muss etwa Jorin auf dem Reiterhof lernen, seine Wut zu beherrschen.42 Dies gelingt nur durch Willenskraft und diszipliniertes Training. Wie sollte denn eine Figur handlungsfähig sein, wenn sie keinen freien Willen hätte? Wie bereits angedeutet, füllen Erklärungen den Leerraum, der zwischen dem auffälligen Verhalten und dessen Sinn und Zweck entsteht. Es muss Gründe dafür geben, warum jemand immer alles vergisst, ständig dazwischen redet und sehr emotional reagiert: Es ist ihm nicht wirklich wichtig, er nimmt den Lehrer nicht ernst, verweigert sich und ist unglücklich, verwirrt und enttäuscht, weil seine Eltern sich scheiden lassen. Die Symptomatik der Ad(h)s produziert also aufgrund der Unverständlichkeit der sichtbaren Auffälligkeit Leerstellen im Narrativ, die mit sinnstiftenden Erklärungen gefüllt werden müssen. In den untersuchten Texten stehen in der Regel Schulprobleme im Vordergrund, anhand derer die Symptome berichtet werden. Ausgelassene Fröhlichkeit, fantasievolle Ideen, Entdeckerdrang, Schnelligkeit und Kraft werden in der Schule zum Problem, wo diese Kinder zu wild sind, sich langweilen, nicht bei der Sache bleiben, zu schnell aufgeben und unangemessen wütend werden. Schwierigkeiten in der Familie sind oft Folgen von Schulproblemen (Zeugnisse) oder haben mit Ordnung und Zuverlässigkeit zu tun, Hauptgrund 42 | Schulz, Almut: Rabenhaar. Erlebnisse eines ADHS-Kindes. Norderstedt 2006.

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für eine Diagnose sind aber die Schwierigkeiten in der Schule. Als Beispiel eine Szene aus »Rabenhaar«: »Macht er viele Fehler beim Abschreiben?« »Seine Hefte sind ein einziges Chaos.« »Vergisst er die Hausaufgaben?« »Ja.« »Hat er Angst vor Klassenarbeiten?« »Hast du?« »Ein bisschen.« »Kommt er abends leicht zur Ruhe?« »Nein, da dreht er meist so richtig auf.« »Hat er ein schlechtes Selbstbewusstsein?« Sie überlegte. »Ich weiss nicht.« »Kann er den Leuten in die Augen schauen?« »Eher nein.« »Ist er unordentlich?« »Ja, sehr.« »Eine lange Liste. Sie sehen aber schon selber, worauf das hinweist. Ich möchte den Befund gerne noch mit einigen weiteren Tests untermauern, aber er scheint ein typisches ADHS-Kind zu sein.« 43

»Sie sehen aber schon selber, worauf das hinweist«, sagt die Ärztin zur Mutter. Der hyperaktive Junge ist heute auch für den Laien erkennbar geworden. Die Symptome, die in den untersuchten Texten berichtet werden, sind sichtbar. Während die Hyperkinese in der Medizin heute nicht mehr das Leitsymptom ist, sind die Ad(h)s-Geschichten von motorischer Unruhe geprägt. Hyperaktive Figuren haben in der Kinder- und Jugendliteratur eine lange Tradition, neu ist jedoch, dass sie eine Diagnose bekommen. Die bekannten, nicht diagnostizierten Vorgänger verleiten natürlich dazu, das Konzept einer Störung in Frage zu stellen, welche Kinderbuch-Helden als regulationsgestört und anpassungsbehindert definiert. Neue Erklärungsmodelle und die Popularisierung des Wissens über Ad(h)s wirken auf die Lesarten von Kinderbuch-Klassikern, wobei solche Umdeutungen meist nicht explizit ergänzt und somit greif bar werden. Allerdings gibt es in einer neuen Ausgabe des »Struwwelpeters«, erschienen beim Garant-Verlag44, zu den einzelnen Geschichten, jeweils in einem rotgerahmten Kasten, dem Text vorangestellt, Erläuterungen zu den Bildergeschichten von Heinrich Hoffmann. Vor der Geschichte vom Zappel-Philipp steht geschrieben: »Es gibt 43 | Schulz 2006, S. 34-35. 44 | Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter. Leonberg 2007.

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wirklich Kinder, die sind dauernd unruhig und zappelig, weil sie nicht anders können. Diese Kinder bezeichnet man als ›hyperaktiv‹ und häufig muss ihnen der Arzt dabei helfen, ruhiger zu werden […]«45 So werden Fakten aus dem medizinischen Diskurs Perspektive und Lesart literarischer Texte verändern. Die Pathologisierung spricht den Zappel-Philipp von Unerzogenheit und Charakterschwächen frei, er hat jetzt Ad(h)s: » ›Ich kann nichts dafür, dass ich nicht lesen kann‹, sagte Sascha eines Nachmittags zu Elli. ›Ich habe ADHS.‹ »46 Der Zappel-Philipp kann nichts mehr dafür. Dadurch ist aus einer Warngeschichte ein Aufruf zum Arztbesuch geworden. Wenn der Arzt hilft, dann kommen die Sorgen und Gefahren, denen wir beim Blick auf die Diskussionspunkte des öffentlichen Diskurses begegnet sind, ins Spiel. Der literarische Arztbesuch führt meistens nicht zu einer Verbesserung der Situation, wie wir noch sehen werden. Die Diagnose Ad(h)s ist zwar eine Erklärung, ein bequemer Behandlungsweg generiert aber keine Handlung, denn es fehlt der Konflikt. Ad(h)s erstreckt sich tief in alle Lebensbereiche. Deshalb wird in den intertextuellen Fallgeschichten des Ad(h)s-Diskurses nach der akzeptablen menschlichen Varianz und deren Begründung, dem Einfluss von Erziehung und Erfahrung auf genetisch bedingte Dispositionen gefragt, wobei wiederum deutlich wird, dass Individuum, Gesellschaft und Umwelt gemeinsam betroffen sind. Dazu kommt, dass Ad(h)s ein Fluch und ein Segen ist. Während in anderen Krankheitsdiskursen die Krankheit mit Symptomen einhergeht, die in der Regel durchgehend deutlich negativ bewertet werden, gibt es bei Ad(h)s positiv bewertete Symptome, syndromtypische Ressourcen. Es gibt einen richtigen Geniekult um Ad(h)s. Als »Bekannte Persönlichkeiten«, die »Merkmale des ADS haben« werden in »Flippie-Bär«: Ernest Hemingway, Benjamin Franklin, Wilhelm Busch, Thomas Carlyle, Thomas Alva Edison, Wolfgang Amadeus Mozart, Albert Einstein, John Lennon, Johann Wolfgang von Goethe, Winston Churchill, Sir Richard Francis Burton, Jack Nicholson, Dustin Hoffmann [und] Whoopy Goldberg 47

genannt. Wohlgemerkt: Die Ad(h)s-Diagnose wird in diesem Kontext dazu benutzt, herausragende künstlerische und intellektuelle Begabung, Kreativität und Erfolg mit ›syndromtypischen Ressourcen‹ zu erklären und die bemerkenswerten Talente ursächlich auf Ad(h)s zurück zu führen und nicht 45 | Hoffmann 2007, S. 23. 46 | Tuckermann, Anja: Das verschluckte Lachen. Düsseldorf 2007. 47 | Best 2005, S. 26.

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etwa, um Bewunderung darüber auszudrücken, dass diese Menschen trotz ihrer schweren Störung dieses oder jenes erreicht haben! Dabei sind von ›auserwählt‹ bis ›nur ein bisschen anders, nicht krank‹ alle Positionen vertreten. Die positiven Seiten von Ad(h)s, sind durch die Einnahme von Medikamenten bedroht. Kinder, die mit Tabletten behandelt werden, sind müde, traurig und verlieren sogar ihr Lachen, so geschehen in »Das verschluckte Lachen« von Anja Tuckermann.48 Die Tabletten, die der Arzt verschreibt, sind böse. Und so verwundert es nicht, dass der gute Arzt in der Literatur die Behandlung mit Medikamenten zu vermeiden versucht: Ich verschreibe diese Medikamente nicht leichtsinnig. Ich möchte erst noch einige Tests zur weiteren Absicherung der Diagnose machen. Außerdem könnten wir versuchen, ob wir nicht durch eine andere Art der Behandlung vielleicht den Medikamentengebrauch umgehen können. Das häufig verwendete Medikament Ritalin ist dem Kokain und dem Koffein verwandt. 49

Auch Flippie-Bär wird wohl kein Ritalin bekommen: Es kann auch sein, dass wir ein Medikament hinzu nehmen müssen. Das Medikament bewirkt, dass der kleine ADS-Mensch sich besser konzentrieren und alle wichtigen Informationen aufnehmen kann. Das Zusammenleben und -spielen wird leichter, weil der kleine Zappelphilipp nicht mehr so fürchterlich aufbrausend sein muss. […] Wir würden das aber noch genauer besprechen, falls ein Medikament notwendig wäre. 50

Obwohl es im Klappentext heißt: »Beim Besuch von Mama Bär mit Flippie bei Dr. Arno werden Lösungswege gezeigt, die auch eine Medikation nicht ausschließen.« wird die Medikation nur im Falle eines wirklich schweren Falles als Möglichkeit in Aussicht gestellt. Das Bilderbuch über den Bären aus dem Wanderzirkus beschreibt die Probleme, die durch Ad(h)s entstehen, das Buch endet jedoch mit der Diagnose und der kindgerechten Erklärung von Symptomatik und Ursachen. Sogar bei »Johnny Hurricane«51, der im Auftrag der Novartis Pharma GmbH in einer Kooperation des Instituts für neue Medien gGmbH sowie der Filmemachergruppe 8bar aus Rostock produziert wurde, werden Medikamente nicht an erster Stelle genannt und nicht als Lösung dargestellt:

48 | Tuckermann 2007. 49 | Schulz 2006, S. 36. 50 | Best 2005, S. 24. 51 | Johnny Hurricane.

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Erstens: Ich mach’ jetzt eine Therapie, seit gestern nehm‹ ich auch Tabletten. Zweitens: Nachhilfe. In Mathe und Deutsch. Macht sogar ein bisschen Spass. Drittens: Windstärke Null, keine Chance für meinen Drachen, aber vielleicht schaff‹ ich es [übersieht die rote Ampel und wird beinahe von einem Auto überfahren] – nie so richtig. 52

Medikamente können nicht gut wirken und einfach helfen; nicht nur, weil es, wie wir noch sehen werden, kulturinhärenten Vorstellungen von natürlicher Ordnung und menschlichen Grenzen widerspricht, sondern auch, weil eine Heilung der Handlung nicht dienlich ist. Die Ad(h)s-Geschichten handeln von der Auseinandersetzung eines andersartigen Individuums mit seinen Stärken und Schwächen und den Anforderungen der Gesellschaft. Dass es keine derartige Geschichte über einen Jungen mit Diabetes gibt, liegt daran, dass für Diabetes kein ambivalentes, komplexes Störungsmodell existiert. Das wiederum heißt nicht, dass Diabetes keinerlei Konflikte generiert, die einen Plot generieren könnten. Der Punkt ist, dass die Geschichte ›Der Junge, der ohne Brille kurzsichtig war‹ keine gute Story ist. Es wäre deshalb zu einfach, wenn jemand nichts anderes braucht, als ein Medikament. »Offenbar gibt es eine historisch und kulturell stabile narrative Kompetenz, die darüber bestimmt, wann eine Erzählung wohlgeformt und erzählenswert ist.«53 Und die maßgeblich an der narrativen Sinnbildung beteiligt ist. Das Gemeinsame und Übertragbare von Geschichten ist nicht die Art und Weise der Darstellung in ihren sprachlichen und erzähltechnischen Modalitäten, sondern die Abfolge von Ereignissen und Aktionen, die auf der Handlungsebene eine autonome Sinnstruktur ergeben. 54

Was hier noch zu ergänzen ist, ist die evaluative Komponente: Die Abfolge oder eben die Möglichkeiten fiktiver Welten werden durch die Axiologie definiert. Das Schema der abenteuerlichen Suche, welches von Propp (1927)55 beschrieben wurde, passt auf die Ad(h)s-Geschichten, in denen der Held die Aufgabe hat, mit seiner Andersartigkeit leben zu lernen, ohne sich selbst zu verraten und ohne sein Talent zu verschwenden. Der Held wird vor eine Prüfung gestellt und beginnt eine Reise, muss im Kampf mit sich selbst den Willen zur Überwindung seines Leids auf bringen. Wie ein Auserwählter mit magischen Kräften, muss jemand mit Ad(h)s lernen, mit seiner Gabe umzugehen 52 | Johnny Hurricane, 00:22:08-00:23:00. 53 | Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 138. 54 | Martines und Scheffel 1999, S. 138. 55 | Propp, Vladimir. Die Morphologie des Märchens. Frankfurt a.M. 1982.

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und naturgemäß hat jede übernatürliche Gabe ihren gerechten Preis. Damit sind wir mitten im Wertegefüge, welches den Handlungsschemata der Ad(h) s-Geschichten zugrunde liegt und dem Helden den richtigen Weg durch die Gefahren und Versuchungen weist. Eine Gesellschaft hat verschiedene Möglichkeiten, einem Individuum einen Platz innerhalb oder außerhalb zuzuweisen, je nachdem, wo die Grenze zwischen ›normal‹ und ›gestört‹ gezogen wird und wie mit Grenzüberschreitungen umgegangen wird. Um zu bestimmen, ob jemand nicht will oder nicht kann, muss man definieren, was jemand können muss, wenn er will. Die Relationen von Figuren und Ereignissen zu gesellschaftlichen Normen – und zwar werkimmanent wie kontextuell – generieren eine sinnvolle Handlung. Kulturinhärente Annahmen, welche die Werte eines Erzählsystems definieren, werden häufig nicht explizit geäußert und unreflektiert übernommen. Wie wir am Beispiel der neuen Lesart des Zappel-Philipps gesehen haben, werden Narrative, die unverständlich werden, mit sinnstiftenden Erklärungen ergänzt. Sinnvolle Erklärungen verdichten sich zu wiederkehrenden Symbolen, Sujets und bestimmen die Handlungsstruktur. Das Verhältnis von bewusst intendierten, implikativen Konstruktionen zum Tümpel der unreflektiert und willkürlich suggerierten Sachverhalte sowie die Decodierbarkeit athematischer Implikationen erzählter Welten bleiben ungewiss. Die Strukturen des Erzählschemas können analysiert werden und für die narrativen Muster eines Diskurses lassen sich Leitsätze formulieren, welche die kulturinhärenten Annahmen greif bar machen. Die Werte im Ad(h)s-Diskurs sind eng mit den gültigen Vorstellungen von Natur, Schicksal und menschlichen Grenzen verknüpft. In neueren literarischen Texten, welche sich mit dem Thema Ad(h)s beschäftigen, sind die gültigen Vorstellungen von Natur, Ordnung und Gerechtigkeit wie folgt organisiert: Die Natur ist gut. Es gibt eine natürliche Ordnung der Welt, in der alles seinen Platz hat. Diese Ordnung ist gut. Solange der Mensch gemäß dieser Natur lebt, hat diese Ordnung Bestand. Die Natur ist richtig und die Welt ist gut, solange man mit ihr im Einklang lebt. Die Natur rächt sich, wenn man gegen die Weltordnung verstößt. Werden Grenzen überschritten, dann wird das Gleichgewicht zerstört, es ist mit Unglück und Krankheit zu rechnen. Missachtungen der natürlichen Ordnung werden geahndet. Im Wertemodell der Ad(h)s-Narrative hat die Welt nicht nur eine natürliche Ordnung, die Welt ist auch gerecht. Der Leitsatz dafür lautet: ›Jeder kriegt was er verdient.‹ Der Mensch muss seiner Natur gerecht werden, sein Schicksal meistern. Mit den Vorstellungen über die Gerechtigkeit der Welt wird auch ein Schulddiskurs eröffnet. Wer an etwas leidet, der ist daran schuld, hat versucht, die Welt zu betrügen, ist nicht am richtigen Platz in der Weltordnung, will seine Grenzen nicht akzeptieren und bekommt dafür, was er verdient: Ad(h)s. Oder aber, Ad(h)s ist fair, denn Stärken und Schwächen halten sich die Waage.

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Hier zeigt sich auch, dass Vorstellungen von Gleichheit und Gleichberechtigung aller tief in unserem Konzeptsystem verwurzelt sind. Wer an die Gerechtigkeit des Lebens glaubt, der glaubt auch, dass sich harte, ehrliche Arbeit auszahlt. ›Alles hat seinen Preis.‹ Teuer ist wertvoll, billig ist einfach. Daraus folgt, dass das, was hart und schwierig ist, besser ist, als das, was leicht und einfach ist. Die für manche Fälle im realen Leben gültige Aussage, dass sich ein beschwerlicher Weg lohnt, hat auch auf abstrakte Sachverhalte übertragen eine starke Wirkung. ›Der leichtere Weg ist immer der falsche.‹ Ad(h)s kann als Krankheit, als Normvariante oder als Gabe betrachtet werden und zwar in Übereinstimmung mit dem vorgestellten Wertesystem. Eine der häufigsten kongruenten Aussagen über Ad(h)s ist: ›Mit Ad(h)s muss man halt leben‹. Da die ›natürliche Ordnung‹ bewahrt werden muss, muss man Ad(h)s akzeptieren. Jeder Mensch ist, wie er ist. Ein Versuch, die Natur zu verändern, rächt sich, also kann man nichts weiter tun, als Ad(h)s zu akzeptieren. Diese Einstellung kann sowohl Grundlage einer gesunden Akzeptanz unveränderlicher Sachverhalte oder aber ein Argument dafür sein, nichts verändern zu wollen. ›Man muss lernen, mit Ad(h)s richtig umzugehen‹, ist ebenfalls eine kongruente Aussage über Ad(h)s. Eine Einstellung, die Veränderung ermöglicht, ja eine Entwicklung fordert. Da der leichtere Weg der falsche ist, ist nur ein unangenehmer, beschwerlicher Weg eine hilfreiche Therapie. Wenn es nicht hart ist, dann hilft es nicht, wenn es zu schnell geht, dann nützt es nicht wirklich, ist lediglich eine Täuschung oder führt gar ins Verderben. ›Natürlich‹ ist richtig. Medikamente kommen nur als letztes Mittel überhaupt in Frage. Da alles seinen Preis hat, ist es nicht möglich, dass Medikamente einfach helfen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass eine beschwerliche und unangenehme Therapie nachhaltig hilft. ›Ad(h)s ist nur eine Modediagnose‹: eine Ausrede von Leuten, die zu faul sind, an sich zu arbeiten. Diese Ansicht gilt auch für viele gesellschaftskritische Darstellungen, wo Eltern oder Institutionen Individuen, welche die Ordnung stören, als krank bezeichnen. In diesem Schema werden ganz normale, lebhafte Kinder mit Ad(h)s diagnostiziert, um sie durch diese Pathologisierung loszuwerden. ›Ad(h)s ist eine Krankheit unserer Zeit‹ ist eine weitere kongruente Aussage, welche in gesellschaftskritischen Darstellungen anzutreffen ist. Als Ursache des Phänomens wurde der zeitgenössische Lebenswandel erkannt, die Umweltbedingungen und die Anforderungen der Gesellschaft. Wenn die besonderen Fähigkeiten betont werden, so kommen weitere Aussagen ins Spiel, welche die Negativsymptome in einem anderen Licht zeigen. ›Ad(h)s ist ein Fluch und ein Segen‹, weil alles seinen Preis hat. Wenn ich etwas Besonderes kann, so muss ich dafür bezahlen. Um eine Gabe zu nutzen, muss ich gewisse Bedingungen erfüllen und meist muss man erst lernen, mit

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der Gabe richtig umzugehen. Wenn man den falschen Weg wählt, verliert die Gabe. Die Angst vor gefährlichen Nebenwirkungen wurzelt in dem Glauben, dass man für alles bezahlen muss. Die einzige Möglichkeit, wie Medikamente in den Darstellungen zulässig sind, ist folgende Sichtweise: ›Ad(h)s ist eine schwere Krankheit, die trotz Behandlung schweres Leid verursacht‹. Wenn man wirklich alles versucht hat, dann sind Medikamente als letzter Ausweg erlaubt. Diese Medikamente lassen die Symptome aber nicht gänzlich verschwinden, machen weiterhin harte Arbeit an sich selbst erforderlich, damit sie wirken oder aber sie bringen andere Nachteile mit sich, so dass Ad(h)s trotz der Behandlung ein schweres Los bleibt. In der Variante, wo die Medikamente gut helfen, müssen diese möglichst schnell wieder weggelassen werden, weil sie nur kurzfristig als Hilfe erlaubt sind und es besser ist, die Schwierigkeiten allein durch harte und ehrliche Arbeit zu überwinden, selbst wenn das bedeutet, dass die Probleme sich nicht auflösen. Die Vorstellung einer natürlichen Ordnung, die gerecht ist, in einer Welt, wo jeder bekommt, was er verdient, führt dazu, dass es unmöglich wird, die Geschichte: ›Ad(h)s ist mit Medikamenten gut zu behandeln‹ zu erzählen. Es verstößt gegen die natürliche Ordnung, die Natur zu verändern. Die künstlich (chemisch) veränderte Natur wird irgendwann wie ein begradigter Fluss über die Ufer treten. Wer sich nicht am gültigen Wertesystem orientiert, der wirkt unglaubwürdig. Inkongruente Ansichten über Ad(h)s können im gültigen Wertesystem nicht plausibel erzählt werden, tut man es trotzdem, so ist das Resultat Unbehagen und Provokation (vgl Abb. 1) Wie wir gesehen haben, ist die Ansicht, dass Medikamente gefährlich sind, sehr stark vertreten. Da der bequeme Weg nicht richtig sein kann und da man die Natur so akzeptieren muss wie sie ist, ist die negative Bewertung von Medikamenten doppelt verankert. Dies natürlich umso mehr, da es nicht akut um Leben und Tod geht, sondern um eine Störung, welche man ambivalent betrachten kann – und muss, denn sonst gäbe es nichts zu erzählen. Wie bereits erwähnt ist unser Umgang mit Ambivalenz nicht pragmatisch, sondern narrativ. Was neurobiologisch schlüssig erklärbar ist, trägt nichts zur Erzählung bei. ›Ritalin ist gut‹ ist eine Aussage, die nicht glaubwürdig ist. Wer Medikamente bei Ad(h)s als wirksame und nebenwirkungsarme Therapie empfiehlt, der sieht sich sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, bloß Werbung für Medikamente zu machen, Risiken zu verschweigen oder blind für andere, ›sanftere‹ Therapien zu sein. Wenn überhaupt, so ist Ritalin die allerletzte Möglichkeit, nachdem alle anderen Therapien gescheitert sind und wird auch nur in besonders schweren Fällen überhaupt erwogen. Genau wie die Ärztin in »Rabenhaar« argumentieren Ritalingegner und Befürworter, denn niemand kann sich einem gültigen Wertesystem entziehen:

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Grundsätzlich sind wir aber der Meinung, dass zu viel und zu wahllos Ritalin vergeben wird. Wir sind der Auffassung, dass Ritalin nur ein letztes Mittel sein darf, also erst eine Therapie versucht werden muss. Wir sind darüber hinaus der Auffassung, dass die Vergabe von Ritalin nur befristet erfolgen darf und dass danach ein neuer therapeutischer Versuch gestartet werden muss. 56

Dies führt dazu, dass Betroffene einen langen Leidensweg hinter sich haben, bevor überhaupt eine Medikation erwogen wird und dazu, dass gut wirkende Medikamente abgesetzt werden, um zu versuchen, ob es auch ohne Ritalin irgendwie geht. Medikamente kann man bei Ad(h)s nur dann einsetzen, wenn die wertekonforme Aussage ›Ad(h)s verursacht trotz Behandlung schweres Leid‹ gilt.

Abb. 1: Wer sich nicht am gültigen Wertesystem orientiert, wirkt unglaubwürdig.

56 | Baer, Udo und Barnowski-Geiser, Waltraut: Jetzt reden wir! Diagnose AD(H)S und was die Kinder wirklich fühlen. Weinheim und Basel 2009, S. 158.

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Chemische Eingriffe bedrohen die natürliche Ordnung, denn sie erschaffen eine neue, künstliche Welt. Chemie ist unnatürlich, zerstört das Gleichgewicht und führt ins Verderben. So schwingt in den Texten über Ad(h)s die Angst davor mit, sich einen Menschen zu wünschen, der so nicht existiert beziehungsweise gar nicht existieren kann. »Die moderne Science-Fiction-Literatur wimmelt von solchen künstlichen Geschöpfen, die der Herrschaft der sie Erschaffenden entrinnen und verheerendes Unheil anrichten.«57 Es gibt noch eine andere inkongruente Aussage über Ad(h)s, die ebenfalls mit unnatürlichen Geschöpfen zu tun hat. Diese zweite, ebenfalls dem Wertesystem grundsätzlich widersprechende Position, lässt sich am besten mit ›Das Genie beherrscht das Chaos‹ umschreiben. In einer gerechten und ordentlichen Welt kann niemand besondere Fähigkeiten haben, der nicht leidet beziehungsweise einen fairen Preis dafür bezahlt. Wenn jemand ein Genie ist, so ist das ein Frevel gegen die Natur und da alles seinen Preis hat, ist auch klar, dass derjenige dafür bezahlen muss, etwas zu können, was so in der Natur nicht vorgesehen ist. Das Chaos kann man nicht beherrschen. Die Vorstellung, dass jemand die natürliche Ordnung umstürzt und trotzdem Sieger bleibt, ist absurd. Leitsätze lassen sich häufig durch die Entdeckung von metaphorischen Konzepten dekonstruieren, denn unsere Konzepte spiegeln sich in den Metaphern. Wie Lakoff und Johnson (1980) gezeigt haben, prägen Metaphern durch Selektion und Reduktion der Komplexität die Handlungsspielräume in ihrem Wirkungsbereich.58 Da neuronale Systeme eng mit der Sprache verknüpft sind, strukturieren Metaphern unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln. Das metaphorische Konzept ›Ad(h)sler sind Naturkatastrophen‹ ist sehr häufig anzutreffen, wenn das Temperament und das Verhalten von lebhaften (hyperaktiven) Kindern beschrieben wird, nicht nur dort, wo es offensichtlich wird, wie im Lehrfilm»Johnny Hurricane«59. Die Naturkatastrophenmetaphorik ist in den folgenden Beispielen jeweils hervorgehoben: Felix saust mal wieder wie der Blitz durch die Wohnung, von einem Zimmer zum anderen und über den Flur, immer rundherum. 60

57 | Wurmser, Léon und Gidion, Heidi: Die eigenen verborgensten Dunkelgänge. Narrative, psychische und historische Wahrheit in der Weltliteratur. Göttingen 1999, S. 94. 58 | Lakoff, George und Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 2007. 59 | Johnny Hurricane. 60 | Künzler-Behncke 2007, o. S.

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»Gerade saust die Kleine am Stand vorbei. Nur mit Müh und Not kann Piet den Wirbelwind am Ärmel ihrer Jacke erwischen.« 61 »Vom Flur hört man erst einen dumpfen Aufprall und Sekunden später eine laute Kindersirene.« 62 »Wie schon geahnt wird die darauffolgende Woche der reinste Horror. Laura springt und zappelt noch mehr als sonst und auch die Erdanziehung hat wieder enorm zugelegt.« 63 »Elli hörte kurz darauf das Rumpeln von Sprüngen im Treppenhaus, sie kannte das, Sascha sprang immer die Treppen der acht Stockwerke hinab, unter ihren Fingern bebte die Tür, schon sah Elli Sascha von den letzten Stufen eines Treppenabsatzes herabfliegen, schon nahm er die letzte Treppe auf sie zu in zwei Sprüngen, schon hatte der schmale dunkelblonde Junge die Tür aufgerissen und stand über das ganze Gesicht grinsend vor Elli.« 64 »Saschas Laune kippte […] dann fluchte und sprang er und manchmal sprang er wütend wie ein Springteufel aus einer Schachtel heraus oder trat gegen Dinge.« 65 »Elli nahm ihr Springseil und versuchte, den Papagei Sascha wieder einzufangen. Sie jagten durch die ganze Wohnung, bis es Elli im Flur gelang, das Springseil um Saschas Handgelenk zu schlingen.« 66 »Jorin, du raubst mir den letzten Nerv.« 67 »Das ganze Geschreibsel sieht ziemlich chaotisch aus. Arvids Hefte sehen auch immer aus, als sei eine Horde Hühner darüber gelaufen.« 68 »Du scheinst mir ein echtes Katastrophenkind zu sein.« 69

Wenn wir uns an die Vorstellungen von Natur aus dem Wertesystem erinnern, wird klar, was das metaphorische Konzept bewirkt: Man fühlt sich Naturkatastrophen gegenüber machtlos und weiß, dass man die Natur nicht ungestraft ändern kann. Die Natur ist launisch, gewaltig und sie rächt sich. Metaphorische Konzepte reduzieren die Komplexität, indem sie selektiv auf die Betrachtungsweise wirken. So werden allerdings auch Informationen ausgeblendet und ein Perspektivenwechsel erschwert. So bleibt am Ende das Tragische am Zappel-Philipp zu erläutern. Menschen mit Ad(h)s sind Menschen, die so vergesslich, so ungeschickt, so schnell 61 | Buchholz, Katy: Meinst du, das hab‹ ich mit Absicht getan? Gelnhausen 2007, S. 130. 62 | Buchholz 2007, S. 150. 63 | Buchholz 2007, S. 151. 64 | Tuckermann 2007, S. 6. 65 | Tuckermann 2007, S. 74. 66 | Tuckermann 2007, S. 80. 67 | Schulz 2006, S. 14. 68 | Schulz 2006, S. 60. 69 | Schulz 2006, S. 61.

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abgelenkt, so vorschnell, so sprunghaft und so unkontrolliert sind, dass ihre Lebensgeschichte wie ein Comic anmutet und sie selber wie eine Karikatur wirken. Die Frage, ob jemand nicht will oder nicht kann, die stellt sich auch bei der Selbstbeurteilung: Ad(h)s ist, wenn es unglaubwürdig wird. Dieser Schwund an Gewissheit ist auch für die Betroffenen selber so akut wie unfassbar. Wie sieht sich ein Mensch, dessen Leben eine endlose Abfolge unglücklicher Missgeschicke und übersteigerter Affekte ist? Der sich selber fragen muss, was alle andern sich fragen: ob er denn nicht anders könne oder nicht anders wolle? Muss eine Person, die sich so sehen lernt, sich nicht sehen als wäre sie oder er eine lebendige Karikatur?

Abb. 2: Bilder können Erzählmuster hintergehen. Als sich während meiner Beschäftigung mit Ad(h)s-Texten die Strukturen der Ad(h)s-Narrative immer deutlicher abzeichneten, entstanden Bilder und schließlich eine ganze Geschichte, welche die gängigen Erzählmuster hintergeht. Die Bilder aus »Tracy und Lysander« schlagen gleichzeitig die Brücke zurück zum Zappel-Philipp und illustrieren, was so schwer beschreibbar ist: Mehrdeutigkeit (Abbildung 2). Das merkt man nicht immer und meistens

Der Zappel-Philipp und andere Fallgeschichten

nicht sofort. Manchmal merken es nur ganz wenige. Es ist das, was es so unbequem macht, dort, wo die gültigen Wertvorstellungen ignoriert werden. So zeigen diese neuen ›Störungs-Bilder‹, wie Dekonstruktion durch Grenzüberschreitung funktioniert.

L ITER ATUR American Psychiatric Association. Diagnostic and Statistical Manual for Mental Disorders. DSM-IV. Washington, DC, 1994. Baer, Udo und Barnowski-Geiser, Waltraut: Jetzt reden wir! Diagnose AD(H)S und was die Kinder wirklich fühlen. Weinheim und Basel 2009. Best, Anne: Flippie-Bär. …für alle großen und kleinen Leute, die wissen wollen, wozu AD(H)S gut ist! Hamm 2005. Buchholz, Katy: Meinst du, das hab‹ ich mit Absicht getan? Gelnhausen 2007. Fossgreen, Anke: Ritalin hilft Drogensüchtigen. In: Tages-Anzeiger, 30.7.2010, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizinund-psychologie/Ritalin-hilft-Drogensuechtigen/story/16279385, 1.7.2012. Habicht, Claudio: Ritalin-Kinder. Lehrer sind überfordert. In: Tages-Anzeiger, 3.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/ schweiz/standard/RitalinKinder-Die-Lehrer-sind-ueberfordert/story/ 11710492, 1.7.2012. Habicht, Claudio: Ritalin-Boom. Schwere Vorwürfe gegen Schweizer Hausärzte. In: Tages-Anzeiger, 9.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www. tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/RitalinBoom-Schwere-Vorwuerfe-ge gen-Schweizer-Hausaerzte/story/11495266, 1.7.2012. Habicht, Claudio: »Ritalin wirkt viel besser als Kaffee… und macht nicht nervös«. In: Tages-Anzeiger, 24.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www. tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Ritalin-wirkt-viel-besser-als-Kaffeeund-macht-nicht-nervoes/story/27494397, 1.7.2012. Habicht, Claudio: Studenten im Stress. »Am Morgen Ritalin und abends Wein«. In: Tages-Anzeiger, 24.3.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www. tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Studenten-im-Stress-Am-MorgenRitalin-und-abends-Wein/story/28696522, 1.7.2012. Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter. Leonberg 2007. Johnny Hurricane. Regie: Christian Dzubiel, Deutschland 2009, 33 Min., Farbe. Kim, Taewan: Vom Aktantenmodell zur Semiotik der Leidenschaften. Eine Studie zur narrativen Semiotik von Algirdas J. Greimas. Tübingen 2002. Krause, Johanna und Krause, Klaus-Henning: Neurobiologische Grundlagen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. In: psychoneuro, 10, 2007, S. 404-410.

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Künzler-Behncke, Rosmarie: Der kleine Zappel-Felix. Wien und München 2007. Lakoff, George und Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 2007. Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999. o. A.: 14-jährige Knaben nehmen Ritalin doppelt so häufig wie gleichaltrige Mädchen. In: Tages-Anzeiger, 8.4.2010, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www. tagesanzeiger.ch/zuerich/region/14jaehrige-Knaben-nehmen-Ritalindoppelt-so-haeufig-wie-gleichaltrige-Maedchen/story/19815402, 1.7.2012. o. A.: Der Ritalin Konsum steigt weiter. In: Tages-Anzeiger, 4.7.2010, www. tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/wissen/medizin-undpsychologie/Der-RitalinKonsum-steigt-weiter/story/21681931, 1.7.2012. o. A.: Junkies kaufen Kindern Ritalin ab. In: Tages-Anzeiger, 5.2.2009, www. tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/panorama/vermischtes/ Junkies-kaufen-Kindern-Ritalin-ab, 1.7.2012. o. A.: Ritalin wird in Zürich immer öfter als Partydroge missbraucht. In: TagesAnzeiger, 29.6.2010, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger. ch/zuerich/region/Ritalin-wird-in-Zuerich-immer-oefter-als-Partydrogemissbraucht/story/23606111, 1.7.2012. o. A.: Ritalin verursacht kokainähnliche Veränderungen im Gehirn. In: Tages-Anzeiger, 3.2.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/ wissen/medizin-und-psychologie/wissen/medizin-und-psychologie/Rita lin-verursacht-kokainaehnliche-Veraenderungen-im-Gehirn/story/27220767, 1.7.2012. Propp, Vladimir. Die Morphologie des Märchens. Frankfurt a.M. 1982. Rummel, Klaus und Grütter, Thomas: Wie Zappelmax zu seinem Namen kam. Ein Buch der Lebenshilfe Osterholz. Lilienthal 2001. Rothenberger, Aribert und Neumärker, Klaus-Jürgen: Wissenschaftsgeschichte der ADHS. Kramer-Pollnow im Spiegel der Zeit. Darmstadt 2005. Schäfer, Ulrike: Tim Zippelzappel und Philipp Wippelwappel. Eine Geschichte für Kinder mit ADHS-Syndrom. Bern 2003. Schmid, Birgit: Selbstversuch mit Ritalin: 10mg Arbeitswut. In: Tages-Anzeiger, 14.8.2009, www.tagesanzeiger.ch, 5.8.2010, www.tagesanzeiger.ch/ leben/gesellschaft/Selbstversuch-mit-Ritalin-10-Milligramm-Arbeitswut/ story/13976846, 1.7.2012. Schulz, Almut: Rabenhaar. Erlebnisse eines ADHS-Kindes. Norderstedt 2006. Seidler, Eduard: Zappelphilipp und ADHS. Von der Unart zur Krankheit. In: Deutsches Ärzteblatt, 5, 2004, S. 239-243. Shreve, Susan: Mein Freund Twist. Ein Junge hat ADS. Hamburg 2005. (Original: Trout and me. New York 2002).

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Autorinnen und Autoren

Susanne Balmer (Dr.) Studium der Germanistik, Philosophie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich; Mitglied des Graduiertenkollegs »Gender: Scripts and Prescripts« der Universitäten Bern und Freiburg; Stipendiatin des SNF und Aufenthalt als Visiting Scholar an der University of British Columbia (UBC). Dissertation »Der weibliche Entwicklungsroman. Individuelle Lebensentwürfe im bürgerlichen Zeitalter«, Köln 2011. Rudolf Käser (Prof. Dr.) Titularprofessor für Neuere Deutsche Literatur, Universität Zürich. Professor für Literaturwissenschaft und Deutschdidaktik an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Gründungsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften, Initiator des Arbeitskreises »Literature–Medicine–Gender«. Rahel Leibacher (Lic. phil.) Studium der Germanistik, Publizistik und europäischen Volksliteratur. Daneben im Journalismus tätig. Seit 2008 Leiterin der Kommunikationsstelle der Stadt Aarau. Der Beitrag basiert auf ihrer Lizentiatsarbeit zum Phänomen des Romanlesens im ausgehenden 18. Jahrhundert. Vera Landis Studium der Deutschen und Englischen Sprach- und Literaturwissenschaft in Zürich. Der Beitrag basiert auf einer Seminararbeit im Rahmen des Seminars »Krankheit erzählen« bei Prof. Dr. Rudolf Käser. Sarah Lüssi Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich. Der Beitrag basiert auf ihrem Lizentiatsprojekt zur Darstellung von Ad(h)s in der Kinder- und Jugendliteratur.

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Krank geschrieben

Gaby Pailer (Prof. Dr.) Professor of Germanic Studies an der University of British Columbia Vancouver Kanada. Herausgeberin (mit Gudrun Loster-Schneider) des »Lexikon deutschsprachiger Epik und Dramatik von Autorinnen, 1730-1900«, Autorin u.a. der Monographien »Charlotte Schiller. Leben und Schreiben im klassischen Weimar«, Darmstadt 2009 und »Hedwig Dohm«, Hannover 2011. Virginia Pinto (Lic. phil.) Studium der Germanistik, Didaktik des Mittelschulunterrichts und italienischen Sprachwissenschaft an der Universität Zürich. Lizentiatsarbeit zum Thema Autismus in der Literatur. Der Beitrag basiert auf einer Seminararbeit im Seminar »Krankheit erzählen« von Prof. Dr. Rudolf Käser. Marco Pulver (Dr.) Dozent an der Freien Universität Berlin. Leiter des Netzwerks »Anders Altern« in der Schwulenberatung Berlin. Studium der Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Promotion am Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin: »Der Tribut der Seuche oder: Seuchenmythen als Quelle sozialer Kalibrierung. Eine Rekonstruktion des AIDS-Diskurses vor dem Hintergrund von Studien zur Historizität des Seuchendispositivs«, Frankfurt a.M. u.a. 1999. Beate Schappach (Dr.) Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften und Koordinatorin des Arbeitskreises »Literature–Medicine– Gender«. Dissertation »Aids in Literatur, Theater und Film. Zur kulturellen Dramaturgie eines Störfalls«, Zürich 2012. Gabriela Schenk (Lic. phil) Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Europäischen Volksliteratur und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Beruflich Tätigkeit u.a. in der Geschäftsstelle des Kompetenzzentrums Umwelt & Nachhaltigkeit der ETH. Dissertationsprojekt zum Bild der Ärztin in der Literatur. Dave Schläpfer (Lic. phil.) Studium der Germanistik, Publizistik und Geschichte an der Universität Zürich. Seit dem Abschluss seines Studiums ist er journalistisch tätig und arbeitet an einem Dissertationsprojekt zur multidiskursiven Präsenz der »Typhoid Mary«.

Autorinnen und Autoren

Martin Stingelin (Prof. Dr.) Ordinarius für Neuere deutsche Literatur an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Dortmund. Herausgeber der IX. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Friedrich Nietzsche (zusammen mit Marie-Luise Haase). Zahlreiche Bücher und Artikel zur Literaturtheorie, zur Literatur im Verhältnis zur Rechts- und Psychiatriegeschichte, zu Deleuze, Dürrenmatt, Freud, Glauser, Goethe, Kraus, Laederach, Lichtenberg, Nietzsche, Schreber, Wölfli u.a. Ingrid Tomkowiak (Prof. Dr.) Extraordinaria für Populäre Literaturen und Medien am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der Universität Zürich sowie Forschungsleiterin am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, Assoziiertes Institut der Universität Zürich. U.a. Herausgeberin der Reihe »Populäre Literaturen und Medien«, Autorin zahlreicher Beiträge zu Aspekten der Populärkultur. Ruth von Rotz (Lic. phil.) Studium der Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, der Betriebswirtschaftslehre und der Englischen Sprachwissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2009 in der Abteilung Produktmanagement einer Tessiner Privatbank in Lugano tätig. Der Beitrag basiert auf einer Seminararbeit im Seminar »Krankheit erzählen« von Prof. Dr. Rudolf Käser. Annika Wellmann (Dr.) Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Hygiene Museum Dresden. Studium der Geschichte, Anglistik und Politikwissenschaft in Hannover und Liverpool. Mitarbeit im SNF-Projekt »Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion sexueller Selbstverhältnisse im ›Blick‹ (1980-1995) und in aktuellen Internetforen«. Der Beitrag basiert auf ihrer Dissertation »Beziehungssex. Medien und Beratung im 20. Jahrhundert«, Köln 2012. Lotti Wüest (Lic. phil) Studium der Allgemeinen Geschichte, der Neueren deutschen Literaturwissenschaft und der deutschen Sprachwissenschaft in Zürich. Lizenziatsarbeit zur »Literarischen Semiotik der Demenz in zeitgenössischen Erzählungen über Alzheimer«. Der Beitrag basiert auf einer Seminararbeit im Rahmen des Seminars »Krankheit erzählen« bei Prof. Dr. Rudolf Käser.

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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke November 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4

Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe Oktober 2014, 278 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4

Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3

Carolin John-Wenndorf Der öffentliche Autor Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern Juni 2014, 500 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2757-2

Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1

Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing Januar 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2

Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.

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