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German Pages 240 Year 2015
Jonathan Everts Konsum und Multikulturalität im Stadtteil
2008-07-07 14-20-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02af183335317672|(S.
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Jonathan Everts hat seine Dissertation an der Universität Freiburg im Breisgau im Fach Geographie geschrieben. Seine Forschungsinteressen liegen in der Stadt- und Konsumforschung sowie der Kultur- und Sozialtheorie.
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Jonathan Everts
Konsum und Multikulturalität im Stadtteil Eine sozialgeographische Analyse migrantengeführter Lebensmittelgeschäfte
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© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Migrantengeführtes Lebensmittelgeschäft im Stuttgarter Süden während der Fußball-WM 2006, Jonathan Everts, Stuttgart 2006 Lektorat & Satz: Jonathan Everts Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-866-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt 1. Die Untersuchung kleiner 7 migrantengeführter Lebensmittelgeschäfte 1.1 Einleitung 7 1.2 Theoretische und konzeptionelle Vorüberlegungen 14 Multikulturalität 14 Theorie der Praktiken 16 Die immigrant-business-Forschung 18 Konsumgeographie 24 Synthese von immigrant-business-Forschung und Konsumgeographie 28 Abgrenzung des Untersuchungsgebietes 29 1.3 Methodologie 31 Das Untersuchungsgebiet Stuttgart-Süd 31 Ethnographie und die Erschließung „praktischen Wissens“ 38 Methodisches Vorgehen im Einzelnen 40 Aufbereitung des Datenmaterials und Auswertung 47 Qualität des Datenmaterials 48 Darstellungsform 49 Kapitelübersicht 50
2. Kontexte und Alltag kleiner 51 Lebensmittelgeschäfte im Quartier 2.1 Strukturelle Ausrichtung und Bedeutung kleiner Lebensmittelgeschäfte 51 2.2 Kleine Geschäfte im stadtökonomischen Kontext 59 Nachfragemacht 60 Sortimentsgestaltung 61 Lokalpolitik 62 Standort 63 2.3 Überlebensstrategien und Alltag im Händlerberuf 66 Arbeiten für den sozialen Aufstieg 70 Minimierung der Betriebskosten 76 Fähigkeiten 79 Authentizität 84 2.4 Fazit 91
3. Die Bedeutung der kleinen Lebensmittelgeschäfte für ihre Stammkundschaft
93
3.1 Einkaufsgeographien 93 3.2 Haushaltskontexte 96 3.3 „Praktisches“ Einkaufen 103 3.4 Lebensmitteleinkauf als multisensorisches Erlebnis 116 3.5 „Richtiges“ Einkaufen 125 Nachbarschaftliche Solidarität und persönliche Betroffenheit 131 Qualität und Preis 138 3.6 Fazit 144
4. Die Sozialität ökonomischer 147 Austauschbeziehungen 4.1 Der Supermarkt als „Nicht-Ort“ 4.2 Vertrauen 4.3 Rollenaushandlung: Kunde-Sein, Händler-Sein Ladengestaltung Erwartungshaltungen Rollenkonflikte Selbsterkenntnis 4.4 Fazit
147 158 169 170 173 181 189 198
5. Alltägliche Integration
201
5.1 Wahrnehmung kultureller Differenz im Alltag 5.2 Kultureller Wandel im „Dritten Raum“ 5.3 Fazit
201 203 214
6. Schlussfolgerungen
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Literaturverzeichnis
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1. Die Untersuchung kleiner migrantengeführ ter Lebensmittelgeschäfte 1.1 Einleitung Die Zuwanderungsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg haben die westlichen europäischen Gesellschaften verändert. Die Rück- und Zuwanderung aus ehemaligen Kolonien, die Anwerbung von Gastarbeitern und die Gewährung von Asyl haben dazu beigetragen, dass sich die soziale Struktur in den großen europäischen Nationen wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland, aber auch in kleineren Ländern wie etwa den Niederlanden, grundlegend gewandelt hat – sie sind, auch wenn der Begriff umstritten sein mag, multikulturell geworden (Rex 1998). Dieses Anwachsen an Multikulturalität hat, parallel zur allgemeinen Modernisierung, zu veränderten Mustern der geographischen Bevölkerungsverteilung, der sozialen Hierarchien und der daraus resultierenden gruppenspezifischen ökonomischen Aktivitäten innerhalb dieser Staaten geführt (Bade 2000). Auch auf lokaler Ebene und in der alltäglichen Erfahrungswelt haben diese Entwicklungen Veränderungen mit sich gebracht. Nachdem sich die deutsche Politik jahrzehntelang gesperrt hatte, kam sie nicht umhin, 2001 anzuerkennen, dass Einwanderer aus aller Welt in Deutschland ein neues Zuhause gefunden und für sich und ihre Kinder hier eine Existenz aufgebaut haben, dass Deutschland sogar auf Zuwanderung angewiesen ist (Bade/Münz 2002).1 Als ein Beispiel für die dauerhafte Präsenz von Migranten kann das sogenannte immigrant business gesehen werden. Hinter dem Fachbegriff verbirgt sich der Umstand, dass sich unter Immigranten ebenso wie unter ihren einheimischen Kollegen Personen befinden, die anstelle 1 | Im Folgenden sind alle Bezeichnungen wie Einwanderer, Migranten, Händler,
Kunden etc. geschlechtsneutral zu verstehen.
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einer lohnabhängigen Beschäftigung als Unternehmer selbständig tätig sind. In Deutschland werden Unternehmensgründungen von Migranten üblicherweise als ein Beleg dafür angesehen, dass sich viele Zuwanderer dauerhaft niedergelassen haben (Schuleri-Hartje u.a. 2005). Das selbständige Unternehmertum von Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland ein weitverbreitetes Phänomen und stellt keine Ausnahme mehr dar. Es wird geschätzt, dass in Deutschland 2005 nahezu 300.000 Menschen mit ausländischem Pass selbständige Unternehmer waren und insgesamt rund 800.000 Menschen mit Migrationshintergrund selbständig beschäftigt waren oder in einem solchen Betrieb abhängig beschäftigt arbeiteten (Schuleri-Hartje u.a. 2005, 14). Die größte Gruppe der Unternehmer mit Migrationshintergrund stammt aus der Türkei mit ca. 60.500 Selbständigen, gefolgt von 49.500 italienischer und 27.500 griechischer Herkunft (ifm 2005, 5). Eine Folge der Verbreitung des Unternehmertums von Migranten oder von deren Nachkommen ist die allgemein gestiegene Sichtbarkeit ihrer ökonomischen Aktivitäten. Im Vergleich zu ihren „deutschen“ Kollegen sind Migrantenunternehmer in einigen Sektoren besonders stark vertreten (ifm 2005). Dazu zählt neben der Gastronomie der eigentümergeführte Einzelhandel, speziell in der Form von kleinen Lebensmittelgeschäften, wie sie typisch sind für die innerstädtischen Quartiere deutscher Städte. Wie kaum eine andere ökonomische Einrichtung sind solche Geschäfte Sinnbild einer Gesellschaft, deren Alltag ein multikultureller geworden ist. Das Auftauchen selbstverständlicher Formen der Multikulturalität ist aber nicht gleichzusetzen mit einem gleichberechtigten Umgang von Einheimischen und Zugewanderten. Im Gegenteil, gerade das zunehmende Unternehmertum von Migranten wird vielfach als ein weiterer Ausdruck der Diskriminierung von Migranten auf dem formellen Arbeitsmarkt gesehen. Das immigrant business wird häufig als ein Unternehmertum beurteilt, das aus der Not geboren wurde, da Menschen mit Migrationshintergrund nicht in ausreichender Form eine Anstellung auf dem formellen Arbeitsmarkt finden können, aufgrund der Deindustrialisierung ihren Arbeitsplatz verloren haben und als städtische Arbeitskraftreserve in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen werden (Hillmann 2003). Darüber hinaus sind es gerade die vielen migrantengeführten Geschäfte des Einzelhandels, die häufig eher als Etablierung von Parallelstrukturen betrachtet werden und als ein problematisches Eindringen des Fremden in den städtischen Alltag (Yavuzcan 2003; Schuleri-Hartje u.a. 2005, 81f.).
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Allgemein stellen die migrantengeführten Geschäfte auf lokaler Ebene Orte dar, welche die veränderte Gesellschaftsstruktur sichtbar machen, unabhängig von integrationspolitischen Erwägungen. Empirische Erkenntnisse über ihren Alltag, Bedeutung und Nutzung fehlen aber weitgehend. Folglich mussten bisherige Einschätzungen, welche Rolle die Orte des immigrant business in der Aushandlung um einen multikulturellen Alltag spielen, spekulativer Natur bleiben. Hier mehr Klarheit zu schaffen ist sinnvoll, weil das soziale Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften vielfach durch immer neue Herausforderungen geprägt ist. In sich verändernden Gesellschaften wird fortwährend ausgehandelt, was als selbstverständlich, was als alltäglich gelten kann (Bukow u.a. 2001). • Auf welche Weise sind migrantengeführte Lebensmittelgeschäfte Teil des multikulturellen Alltags? • Wie selbstverständlich und alltäglich ist es, in einem migrantengeführten kleinen Lebensmittelgeschäft einzukaufen? • Wird dort vorgelebt, was Multikulturalität in der Praxis bedeuten könnte, oder sind die Geschäfte Manifestationen einer ethnischen Ausdifferenzierung der Gesellschaft? In den politischen Debatten um Zuwanderung und Integration sind es die problematischen Aspekte, die im Vordergrund stehen. Ausdruck findet diese Tendenz unter anderem im Begriff der „Parallelgesellschaften“, der einen festen Bestandteil der Diskussion darstellt. Daraus folgt eine Stigmatisierung von Zuwanderung, die als die verkürzte Aussage „Migranten bringen Probleme“ den öffentlichen Diskurs bestimmt. Eine kritische Auseinandersetzung mit Phänomenen der Migration, der es um eine seriöse Einschätzung ihrer Auswirkungen und Dynamiken geht, wird dadurch behindert (vgl. Bremer/Gestring 2004). Daran hat die sozialgeographische Segregationsforschung keinen unwesentlichen Anteil. Migration wird meist als Phänomen bestimmter abgegrenzter Räume behandelt. Durch die Betrachtung von Städten auf der Basis von statistischen Daten zu ihren Stadtteilen erscheint die Stadt als ein Nebeneinander abgegrenzter Raumeinheiten. Diese „Container-Räume“ werden aufgrund sozialstatistischer Merkmale charakterisiert. Dabei entsteht der Eindruck, dass in sich homogene Stadtteile repräsentiert werden, Unterschiede nur von Raumeinheit zu Raumeinheit bestehen. Auf diese Weise werden diejenigen städtischen Teilräume eruiert, deren Bewohner gefährdet sind, dauerhaft von Armut betroffen zu sein und den Zugang zu sozialem und ökonomischem Aufstieg end-
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gültig zu verlieren (Häußermann/Kapphan 2004). Diese sozial benachteiligten Teilräume sind meist identisch mit den Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil. Daraus resultiert die verbreitete gedankliche Verbindung der Phänomene Armut und Migration. Tatsächlich sind „Armut“ und „soziale Exklusion“ der dominierende Diskurs in der sozial wissenschaftlichen Migrationsforschung (Pott 2001). Trotz der zahlreichen Fallstricke, der sich die meisten Migrationsforscher bewusst sind, werden selbst in Lehrbüchern zur Sozialgeographie Phänomene der Migration lediglich von ihrer problematischen Seite her behandelt. Auch wenn sich eine Verschiebung der Betrachtung weg von den Migranten und hin zu den Vorurteilen und Abgrenzungen der Aufnahmegesellschaft abzeichnet, wird das Stigma der „Ausländerproblematik“ beibehalten (z.B. Pain 2001, Kap. 5). Das gilt auch für die Erforschung des immigrant business. Hillmann (2001, 51) konstatiert, dass die deutsche Diskussion durch eine „extreme Betonung der problematischen Seite der Zuwanderung in die Städte gekennzeichnet“ ist. Ethnisierungsprozesse in Teilarbeitsmärkten würden sehr schnell „als ein ‚Problem‘, als der Beginn einer entstehenden urban underclass unter dem Vorzeichen sozialer Exklusion thematisiert“ (ebd.). Migranten erscheinen daher im wissenschaftlichen Diskurs häufig isoliert und ausgegrenzt von den gesellschaftlichen Entwicklungen der einheimischen Bevölkerung. Eingeigelt in die vom Niedergang gezeichneten Stadtteile würden die Migranten eine Ghettomentalität entwickeln, welche die Keimzelle von Extremismus, Fundamentalismus und Gewalt sei (z.B. Heitmeyer 1998). In vielen Untersuchungen zum immigrant business herrscht der problematisierende Tonfall vor, der in sozialwissenschaftlichen Studien „dem Fremden“ vorbehalten ist. Dabei wird häufig der alltägliche Kontext vernachlässigt, in dem sich die Entwicklung selbständigen Unternehmertums abspielt. Ursächlich hierfür könnte eine Kombination von einer städtischen Verfallssemantik mit einer „ethnisch zentrierten Beschreibungsperspektive“ sein (Bukow u.a. 2001, 44), durch die der urbane Kontext entkontextualisiert und nach ethnischen Kriterien rekontextualisiert wird. Dadurch werden nicht nur bestimmte Zusammenhänge vernachlässigt, sondern Problemkonstellationen häufig erst erzeugt, „die mit dem urbanen Alltagsleben nicht im geringsten korres pondieren“ müssen (ebd.). Bukow u.a. (2001, 31ff.) haben darauf hingewiesen, dass bereits soziologische „Klassiker“ wie zum Beispiel Emile Durkheim für die weit verbreitete Auffassung der Problemhaftigkeit des Alltags in multikul-
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turellen modernen Stadtgesellschaften verantwortlich gemacht werden müssen. Durkheim zog aus seinen Studien die Konsequenz, „[...] dass Bindungen unter modernen Bedingungen schnell zu zerfallen drohten, weil sie weniger in der Tradition verankert seien. Die fehlende moralische Infrastruktur und die verringerte Macht des Kollektivbewusstseins auf das moderne Individuum drohen nach Durkheim zu gesellschaftlicher Desintegration und zum Teil zum Chaos – kurzum zur Anomie – zu führen (vgl. Durkheim 1996, 437ff). Infolge der Individualisierung würde die Gesellschaft auf Dauer aus den Fugen geraten und daran zugrunde gehen.“ (Bukow u.a. 2001, 32)
Nach Bukow u.a. ist es diese modernisierungsskeptische Einschätzung, die zu einer Fokussierung der Stadtforschung auf ein erodierendes Kollektivbewusstsein führte bei gleichzeitiger impliziter Idealisierung vormoderner Integrationsformen. Daher folgern die Autoren: „Diese traditionelle Zerfallsperspektive findet man heute in Variationen immer noch in vielen stadtsoziologischen Studien, die das urbane Zusammenleben zum Untersuchungsgegenstand haben. Sie sind stark durch eine gewisse Idealisierung und Romantisierung traditioneller Lebensformen geprägt. Man orientiert sich immer noch an dem Mythos, die Integration von Menschen habe in früheren Zeiten besser funktioniert als es in den heutigen Städten der Fall sei. Durch diesen Mythos bedingt, kommen die tatsächlichen Integrationsleistungen heutiger Städte und die von Menschen entwickelten Fertigkeiten überhaupt nicht zum Vorschein.“ (Bukow u.a. 2001, 32)
Die Idealisierung traditioneller Lebensformen führt nicht selten zur Propagierung sozial homogener Räume, die kulturell gesehen eine Einheit bilden sollen. Der brisante Umkehrschluss lautet dann, dass das kulturell Andere, das Fremde, keinen Platz in diesen Räumen hat. Das Eindringen des Fremden in diese Räume bewirke den Zerfall funktionierender autochthoner Gesellschaften. Es handelt sich hierbei um eines der klassischen Angstszenarien, an deren Kolportage die sozialwissenschaftliche Stadtforschung zumindest eine Mitverantwortung trägt (Mitchell 2004). Daher genügt es nicht, undifferenzierte Äußerungen aus Politik und Gesellschaft zurückzuweisen, sondern es muss bereits an den wissenschaftsinternen Positionen angesetzt werden, deren interpretative Grundausrichtung für die problematisierende Einschätzung multikultureller Alltäglichkeit als ursächlich gesehen werden muss.
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Den Erforschern westlicher Zivilisationen, vor allem ihrer urbanen Zentren, öffnet sich gegenwärtig nach eigenem Bekunden ein Bild der verwirrenden Vielfalt (vgl. Wood 2003; Helbrecht/Pohl 1995). Ein zunehmender Gegensatz zwischen Armut und Reichtum bestimmt das Bild der Weltmetropolen, es herrscht Pluralismus hinsichtlich der Weltanschauung, Religionsausübung, Freizeitgestaltung und der gesprochenen Sprachen. Versuche der Entwirrung dieses neuzeitlichen Babels führen allerdings nicht immer zu mehr Klarheit. Während sich die unterschiedlichen Alltagsroutinen auf lokaler Ebene unentwegt weiter ausdifferenzieren, wird eine weltweite Nivellierung der Unterschiede hinsichtlich der Gestaltung urbaner Zentren, der Konsumgewohnheiten, Kleidungsstile und Umgangsformen beobachtet (Jayne 2006). Homogenisierung und Heterogenisierung finden gleichzeitig statt. Um dieses Paradox konzeptionell zu fassen, wird zum Beispiel versucht, soziale Gruppen anhand von Lebensstilen einzuteilen und identitätsstiftende Gruppenzugehörigkeit nicht mehr über räumliche Grenzen zu erklären, sondern über räumlich weit ausgreifende und verzweigte soziale Netzwerke (Castree 2003). Doch je komplexer die Erklärungsmodelle werden, je ausgefeilter ihre Terminologien, desto unfassbarer wird die Existenz einer Alltäglichkeit, die sich dem Einzelnen als selbstverständlich erschließt. Die „normale“ Existenz einer alltäglichen Lebensführung in modernisierten und multikulturellen Gesellschaften wird somit zum gordischen Knoten der Sozialwissenschaft. Als eine Folge davon stehen verschiedene Gesellschaftstheorien in Konkurrenz, deren Gemeinsamkeit jedoch der Fokus auf die problematische Seite des sozialen Zusammenlebens ist (vgl. Reckwitz 2005). Die Mediatoren dieser wissenschaftlichen Positionen finden sich in Politik, Medien, Kirchen und ähnlichen Institutionen. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Positionen interpretieren sie für ihre Zuhörer die Alltagswelt in ihrem Sinne und Interesse. Eine nicht untypische Einschätzung ist beispielsweise, dass die Übernahme von vormals „deutschen“ Gaststätten und Lebensmittelgeschäften durch „Ausländer“ eine Schlüsselerfahrung der Gegenwart sei. Diese Erfahrung sei für die Lokalbevölkerung im Wesentlichen eine beängstigende und berge Konfliktstoff. Mit dieser Darstellung wird der Verunsicherung durch Globalisierungsprozesse ein Gesicht gegeben in Form von Menschen, die uns im lokalen und alltäglichen Kontext in ihrem Geschäft gleich um die Ecke erwarten. Die in die Alltäglichkeit eingebettete Begegnung mit dem Fremden, das anscheinend „über Nacht“ in unseren geregelten Alltag eingedrungen ist, wird als Auslöser einer traumatischen Begegnung mit einer sich verändernden Welt gesehen (z.B. Kamphaus 2005).
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Aus wissenschaftlicher Perspektive wird der Alltag in westlichen Gesellschaften zunehmend komplexer und die Gestaltung dieses Alltags bedarf vermehrt der Erklärung. Die Individuen sind dabei, auch wenn sie ihr Leben überwiegend in einem lokal begrenzten Bereich führen, zunehmend in globale Prozesse verstrickt, auf die sie häufig keinen oder nur sehr geringen Einfluss haben. Die Intensivierung der weltwirtschaftlichen Verflechtungen und die Verfügbarkeit weltweit gefertigter Waren, die globalen Machtansprüche nationaler politischer und finanzieller Interessen, die globale Vernetzung durch elektronische Kommunikationsmedien, die Zunahme globaler Umweltprobleme, der steile Anstieg der Massenmobilität und der internationalen Migration führen zu Veränderungen, denen sich der Einzelne nicht mehr entziehen kann und die zwangsläufig den Alltag der Individuen auf nie gekannte Weise transformieren. Dafür sind Anpassungsleistungen nötig, für die es bisher keinerlei Vorbilder gibt. Kurzum, die Beschreibung und Erklärung des Alltags sowie die Generierung von Problemlösungsstrategien sind in massenmedialen, multikulturellen und globalwirtschaftlich vernetzten Konsumgesellschaften zu einem Problem für die Sozialwissenschaften geworden. Genau dieses Problem stand am Beginn der Untersuchung migrantengeführter Lebensmittelgeschäfte. Um dabei der Gefahr einer unkritischen Übernahme der Durkheimschen Verfallssemantik zu entgehen, schlagen Bukow u.a. (2001) für die wissenschaftliche Erforschung des multikulturellen Alltags vor, sich explizit der Mikrologik des städtischen Alltags zu widmen (vgl. Steffen u.a. 2004). Dabei verweisen die Autoren mit Nachdruck darauf, dass bei aller Heterogenität und allen tatsächlichen Problemen die Städte nicht in das Chaos abgeglitten seien und das alltagspraktische Zusammenleben, trotz anderslautender Berichte, relativ „gut“ funktioniere (Bukow u.a. 2001, 58). Genau hier müsse die Forschung ansetzen und danach fragen, wie und wieso das urbane Zusammenleben trotz der Vielfalt gelingt. Die Untersuchung dieses „Funktionierens“ könne dabei anhand alltäglicher Begegnungssituationen beobachtet werden, denn: „Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird heute aber nicht mehr durch große Werthorizonte oder nationale kulturelle Geschlossenheit gewährleistet, sondern im Kontext alltagspraktischer Begegnungen bewirkt. Dabei geht es um das symbolisch organisierte tagtägliche Zusammenleben.“ (Bukow u.a. 2001, 57)
Es geschieht in diesem Sinne, wenn im Folgenden die kleinen migrantengeführten Lebensmittelgeschäfte als Orte „alltagspraktischer Be-
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gegnungen“ in multikulturell geprägten urbanen Gesellschaften untersucht werden. Die differenzierende Analyse der Mikrologik des Alltags soll dabei einem besseren Verständnis des sozialen Zusammenlebens unter Bedingungen der Multikulturalität dienen. Eben aus diesem Grund werden im Folgenden die migrantengeführten Lebensmittelgeschäfte nicht so behandelt, als wären sie Teil eines abgegrenzten Migrantenreichs. Vielmehr wird versucht werden, sie in ihrem alltäglichen Kontext darzustellen und ihre Bedeutungen und Funktionsweisen innerhalb dieses Kontextes zu interpretieren.
1.2 Theoretische und konzeptionelle Vorüberlegungen Außer Acht gelassen in den Debatten um Migration und Integration wird in der Regel der profane Alltag der Individuen. Das birgt die Gefahr einer theoretischen Überfrachtung und Überbewertung simpler und unproblematischer Alltagspraktiken. Aus diesem Grund werden theoretische Erklärungsmodelle mit Vorsicht verwendet und soweit möglich plausible Erklärungen aus dem Alltag selbst hergeleitet. Dennoch basiert die Untersuchung auf theoretischen Vorüberlegungen, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden.
Multikulturalität Die grundsätzliche theoretische Perspektive teilt diese Arbeit mit anderen Arbeiten, die sich im Rahmen einer kulturtheoretisch informierten Humangeographie verorten. Trotz vielfältiger methodischer und theoretischer Schattierungen ist diesen Arbeiten ein konstruktivistisches Verständnis von Welt gemeinsam (vgl. Gebhardt u.a. 2003). Die Implikationen dieses Verständnisses haben für die Geographie vor allem zu einer kritischen Überprüfung und Retheoretisierung der Konzepte „Raum“ und „Kultur“ geführt, die im Kern humangeographischen Arbeitens stehen. Wie der Begriff der „Neuen Kulturgeographie“ andeutet, steht im Mittelpunkt der aktuellen Bestrebungen einer theoretischen und inhaltlichen Repositionierung humangeographischen Arbeitens das Konzept der Kultur. Die Ursache hierfür liegt in einer ausführlichen Theoretisierung und Diskussion des Begriffs Kultur, deren Ergebnisse vor allem seit den 1970er Jahren Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden haben und dort weiter geführt werden (Reckwitz 2000). Vorrei-
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ter in der Humangeographie kamen dabei hauptsächlich aus dem angloamerikanischen Sprachraum (z.B. Jackson 1989). In der deutschsprachigen Humangeographie ist die Rezeption noch nicht abgeschlossen. Prinzipiell beinhaltet die „kulturtheoretische Wende“ – der sogenannte cultural turn – in der Geographie einen Wechsel der theoretischen Grundperspektive, was sowohl Auswirkungen auf die als relevant erachteten Themenfelder als auch auf die angewandten Methoden hat (vgl. Blotevogel 2003). Der Hauptgedanke des cultural turn drückt sich in der Auffassung aus, dass die Beziehungen der Menschen zur sozialen Welt ausschließlich symbolisch vermittelt sind. Aus dieser Perspektive heraus wird Kultur definiert als sich überlagernde Deutungsschemata oder Zeichenund Sinnsysteme, über deren Genese und Aneignung die Welt und die in ihr befindlichen Prozesse und Handlungen interpretierbar werden. Kultur wird somit nicht mehr als ein räumlich abgrenzbares, vererbtes, quasi-natürliches und gegenüber Veränderungen resistentes Phänomen gesehen. Stattdessen handelt es sich um die Summe der kontextabhängig herangezogenen Beurteilungskriterien (z.B. Boltanski/Thévenot 2006; vgl. Wagner 2004), die Routinen der Situationsdefinition (Goffman 1974) und die daraus resultierenden Muster sozialer Praktiken (Reckwitz 2003), die der Gestaltung des Alltags trotz stetiger Veränderung eine gewisse Konsistenz und Vorhersehbarkeit verleihen. Wenn daher in dieser Arbeit von „multikulturellen“ Gesellschaften die Rede ist, so ist damit in erster Linie die relative Heterogenität der in einem Nationalstaat vorhandenen kulturellen Deutungsmuster gemeint, die aufgrund der multinationalen Zusammensetzung der Bevölkerung vermutet wird. Das Multikulturalismuskonzept lenkt den Blick auf „Konstellationen, in der Akteure gleichzeitig an mehreren unterschiedlichen Wissensordnungen teilnehmen, die sie zu unterschiedlichen Interpretationen ihrer Lebensführung anleiten“ (Reckwitz 2001, 188). Damit unterscheidet sich die Multikulturalismusforschung von den Konzepten der Transnationalisierung und der Transkulturalität. Im Mittelpunkt der Transnationalisierungsforschung „stehen alltagsweltliche Beziehungsgeflechte und grenzüberschreitende Interaktionen von Subjekten und Akteursgruppen“ (Pries 2008, 166). Betont wird hier eine „netzwerkförmige Verbindungsstruktur von Plätzen“ (ebd., 161). Etwas vereinfacht ausgedrückt: Während die Transnationalisierungsforschung nach den unterschiedlichen Orten fragt, die zum Sozialraum einer sozialen Gruppe werden, fragt die Multikulturalismusforschung nach den sozia-
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len Beziehungen, die unterschiedliche soziale Gruppen an einem Ort haben. Der Ansatz der Transkulturalität ist mit dem der Multkulturalität verwandt, bezieht sich aber weniger auf die kulturellen Aushandlungsprozesse in der sozialen Interaktion zwischen Subjekten sondern betont die Aushandlungsprozesse unterhalb der Subjektebene, also auf der Ebene des Individuums. Damit rückt die individuelle Handhabung von kulturellen Repertoires, die aus unterschiedlichen Deutungsmustern bestehen können, in den Vordergrund (vgl. Pütz 2004, 26ff.). Während also die Transkulturalitätsforschung nach den Wissensordnungen fragt, die ein Individuum in verschiedenen Kontexten anwendet, fragt die Multikulturalismusforschung nach Wissensordnungen, die von mehreren Individuen innerhalb eines Kontextes verhandelt werden. Multikulturalität kann auch als Ausdruck einer Entkopplung von Nationalstaat und Nationalkultur gesehen werden (Reckwitz 2001). Die Zuschreibung aber, die verschiedene Bevölkerungsgruppen verschiedenen „Kulturen“ zuordnet, erfolgt nach wie vor über die nationalstaatliche und räumliche, seltener ethnische Benennung („türkisch“, „deutsch“, „afrikanisch“, „kurdisch“ etc.). Hier hinkt die Begrifflichkeit offensichtlich den Entwicklungen hinterher. Eine Kulturtheorie, die in letzter Konsequenz angewandt wird, kennt keine definitiv abgrenzbaren Kulturen. Multikulturell müsste also korrekterweise im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung definiert werden als die relative räumliche Enge des Zusammenlebens von Individuen, deren Deutungsmuster, Praktiken und Erklärungen von Welt, Biographien, Muttersprachen und Identitätskonstruktionen eine relativ höhere Heterogenität aufweisen, als dies von anderen Orten oder Zeiten behauptet werden kann.
Theorie der Praktiken Die Erforschung des Alltags geriet im Zuge des cultural turn in den Mittelpunkt humangeographischen Arbeitens. Eine Begleiterscheinung davon ist, dass der Begriff des „Alltags“ selbst Gegenstand theoretischer Betrachtungen wurde. Dabei entstanden unterschiedliche Konzeptionen und Verständnisformen (Lippuner 2005b). Der vorliegenden Arbeit wurde ein praxistheoretisches Verständnis von Alltag zugrunde gelegt. Generell lässt sich Alltag über diejenigen Handlungen erschließen, die für die handelnden Individuen die Selbstverständlichkeit wiederkehrender Tagesabläufe konstituieren. Aufgrund der Problematik
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handlungstheoretischer Ansätze sind damit nicht im eigentlichen Sinne Handlungen gemeint, sondern Praktiken, die als Routinen, als wiederkehrende Muster von Handlungsabläufen dasjenige bilden, was uns als alltäglich erscheint. Nach Reckwitz (2002; 2003) finden sich Ansätze zu einer Theoretisierung von Praktiken bei zahlreichen Autoren des 20. Jahrhunderts (z.B. Bourdieu, Giddens, Foucault). Darauf auf bauend bemüht sich Reckwitz um eine systematische Ausarbeitung einer „Theorie der Praktiken“. Zunächst stellt Reckwitz fest, dass es sich bei den verschiedenen Autoren, auf die er sich bezieht, um ein gemeinsames Grundinteresse am Alltäglichen handle, das die Hinwendung zu „Praktiken“ als wesentliches theoretisches Konzept erklärt. Die entsprechenden Autoren seien alle beeinflusst durch die kulturtheoretische Wende. Wichtige philosophische Bezugspunkte seien der späte Wittgenstein und, wenn auch in geringerem Maße, der frühe Heidegger (Reckwitz 2002, 244). Für Reckwitz (2002, 249f.) sind Praktiken: • routinierte Verhaltensformen, die aus mehreren Elementen bestehen • ein „Block“, dessen Existenz von dem Vorhandensein und den spezifischen Verbindungsformen dieser Elementen abhängt • ein Muster, welches durch eine Vielzahl an einzelnen und oft einzigartigen Handlungen entsteht, die eine Praktik reproduzieren • Muster körperlicher Bewegungsabläufe • konventionalisierte geistige Aktivitäten des Verstehens, des Knowhows und des Wünschens • Verbindungen von „Tun“ und „Sagen“ • verstehbar für den Handelnden und für potentielle Betrachter Der Handelnde als die Person, die eine Praktik ausführt, als „körperlicher“ und „geistiger“ Akteur, wird nach dem Verständnis von Reckwitz so zum „Träger“ von Praktiken. Praktiken bestehen aus der routinisierten Art und Weise, in der Körper bewegt, Objekte gehandhabt, Subjekte behandelt, Dinge beschrieben werden und die Welt verstanden wird (Reckwitz 2002, 250). Der Alltag selbst wird erzeugt durch die spezifische Parallelität und Wiederkehr einer Vielzahl an Praktiken zu bestimmten Zeiten und Orten. Alltag existiert nur durch und mit dem handelnden Menschen. Die Theorie der Praktiken kann für die Geographie zu einem nützlichen Analyseinstrument werden, wenn sie zum Beispiel in Verbindung gebracht wird mit der Konzeption von Orten, die von Nigel Thrift der
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Humangeographie nahegelegt wird. Für Thrift (2003, 102f.) sind Orte räumliche Ausschnitte aus dem Alltagsleben. Sie werden aus spezifischen „Rhythmen des Seins“ hervorgebracht. Damit meint er die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen in ihrem Tagesgeschäft von Tag zu Tag fortfahren, in der Grundannahme, dass die Welt sich weiterdreht. Gerade diese Selbstverständlichkeit ist es aber, die dazu beiträgt, dass die Welt sich nicht radikal verändert. Wenn man allerdings die Details alltäglicher Interaktionen und Praktiken genauer betrachte, dann sehe man nicht nur Routinen, sondern jegliche Art von kreativer Improvisation. Sie ist notwendig, da sich die Menschen in Ereignisse verstrickt sehen, über die sie keinerlei Kontrolle haben. Allerdings können über die Routinen von Sprechen und Körperbewegungen abgegrenzte Bereiche und Situationen erzeugt werden, die den Beteilig ten wieder die Kontrolle übergeben. Somit wird in einem kleinen Ausschnitt Alltag erzeugt. Ein wesentlicher Bestandteil ist dabei die Herstellung und Wahrnehmung von Orten. Durch ihr räumliches Arrangement ermöglichen und verhindern sie verschiedene Handlungsweisen, durch ihre stetige Form bieten sie Erinnerungshilfen und Hinweise für angemessenes Verhalten. Die Ausübung von Praktiken steht damit in einem interdependenten Verhältnis zur Existenz derjenigen Orte, die die jeweilige Praktik ermöglichen. Der Alltag entsteht also in der routinisierten Verbindung von Ort und Praktiken. Die Untersuchung der impliziten Logiken von Alltag setzt genau an dieser Verbindung an.
Die immigrant-business- Forschung In Staaten mit einer längeren multikulturellen Tradition (z.B. USA, Kanada) wird das selbständige Unternehmertum von Migranten meist mit dem Terminus Ethnische Ökonomie belegt, da die statistische Unterscheidung der Unternehmensgründer nicht nach Nationalität, sondern nach ethnischen Kriterien festgelegt wird. Mitunter hat der Terminus „immigrant“ eine pejorative Konnotation, weshalb im englischen Sprachgebrauch häufig auch von einem minority business gesprochen wird, da es sich statistisch gesehen um die Selbständigenquoten von Angehörigen „ethnischer Minderheiten“ handelt (vgl. Rath 2002, 23f.). Für den deutschen Fall ist jedoch der Terminus der Ethnischen Ökonomie problematisch, da die Verwendung des Begriffs „Ethnie“ häufig mit der Vorannahme verknüpft wird, dass sich die Branchenwahl und der Kundenkreis selbständiger Unternehmer in jedem Fall entlang „ethnisch-kultureller“ Kriterien segmentieren. Trotz der verstärkten Einbürgerung von Migranten empfiehlt es sich, in Deutschland von
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einem immigrant business zu sprechen, da gesellschaftliche Minderheiten in den meisten Fällen deckungsgleich mit dem Teil der Bevölkerung sind, der einen Migrationshintergrund aufweist. In Deutschland wird davon ausgegangen, dass sich durch das immigrant business (wieder) Möglichkeiten der wohnortnahen Versorgung ergeben, die besonders sinnfällig als ein Prozess von „Tante Emma zu Onkel Ali“ paraphrasiert worden sind (Schuleri-Hartje u.a. 2005, 78). Unterstützt wird dieser Eindruck durch die empirische Beobachtung, dass der migrantengeführte Lebensmitteleinzelhandel einen wachsenden Anteil deutscher Kunden verzeichnet (Pütz 2000). Vor diesem Hintergrund wird von verschiedenen Autoren darauf hingewiesen, dass die Bedeutung des immigrant business für die Stadtteile und ihre Bewohner nur unzureichend bekannt ist. In ihren Forschungsdesiderata fordern sie daher eine stärkere Fokussierung auf die lokale Situation (Schuleri-Hartje u.a. 2005), empirische Untersuchungen des immigrant business in seinem städtischen Kontext (Hillmann 2001) sowie eine Klärung, welche Nachfragestrukturen eigentlich bedient werden (Wilpert 2003). Die Forschungsdesiderata verweisen auf eine konzeptionelle Schwachs telle in der immigrant-business-Forschung. Aufgrund der migrantenzentrierten Perspektive gelingt es kaum, angrenzende Themenfelder in den Blick zu nehmen. Gerade in Bezug auf den migrantengeführten Einzelhandel wurde die Frage nach dem Verhältnis von immigrant business und Konsum bisher weitgehend ausgeblendet. Die Ursachen hierfür können in der theoretischen Grundlegung des Forschungsfeldes gesehen werden. Die Arbeiten zum immigrant business kommen im Wesentlichen aus den Geschichts-, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Die heterogene thematische Ausrichtung der immigrant-business-Literatur spiegelt diesen Umstand wider. Trotz vielfältiger Überschneidungen sind disziplinäre Schwerpunktsetzungen erkennbar. So waren soziologische Arbeiten der 1970er Jahre von der marxistischen Konfliktforschung inspiriert (Light 1972; Bonacich 1973). Seit den 1980er Jahren werden die Bedeutung sozialer Netzwerke oder Bourdieus Kapitaltheorie in den Vordergrund gerückt (Light u.a. 1994; Light/Gold 2000; Waldinger 1994; Kapphan 1997). Die Arbeiten mit wirtschaftswissenschaftlichem Hintergrund sind stärker an die Kleingewerbeund Gründungsforschung angelehnt (ifm 2005; Loeffelholz u.a. 1994). Autoren der Kultur- und Geschichtswissenschaften konzentrieren sich vor allem auf die Bedeutung von Migrantenunternehmern für den Fort-
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bestand oder Wandel kultureller oder ethnischer Identitätskonstruktionen (Pichler 1997; Pécoud 2001). Geographische Arbeiten zum Thema sind entsprechend der Disziplin in ihren Schwerpunktsetzungen breit gefächert und reichen von wirtschaftsgeographisch orientierten Standort- und Marktstrategie untersuchungen (Li u.a. 2006; Fallenbacher 2000; Pütz 2000) über die sozialgeographische Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Segregation, Armut und Selbständigenrate (Scholz 1990; Aldrich u.a. 1981; Kaplan 1997) bis hin zu kulturgeographischen Arbeiten, die die weitverbreiteten Vorannahmen wie die Existenz distinkter, ethnisch konnotierter Märkte und Handlungsweisen kritisch überprüfen (Pütz 2003; Hillmann 1998; Barrett u.a. 1996). Allgemein wirkt die geographische Forschung häufig als ein Korrektiv innerhalb der immigrantbusiness-Forschung. Die von anderen Autoren konstruierten Konzepte und Theorien werden von der Geographie meist kritisch überprüft und mit den Ergebnissen eigener Feldforschung kontrastiert. Aber trotz vieler Fortschritte ist auch in der Geographie der Transfer von Forschungsfragen aus angrenzenden Themenfeldern die Ausnahme geblieben. Um den heutigen Forschungsstand, die primäre Zielrichtung dieser Forschung und auch die konzeptionellen Probleme zu verstehen, mit denen die immigrant-business-Forschung zu kämpfen hat, ist eine genauere Betrachtung der Frühphase sehr aufschlussreich. Der Grundstein für die heutige immigrant-business-Forschung wurde in den frühen 1970er Jahren durch die US-amerikanischen Soziologen Ivan Light und Edna Bonacich gelegt. Vor 1970 stand die Funktion ethnischer Minderheiten innerhalb von Gesellschaften im Mittelpunkt der Betrachtung. Bonacich (1973) lenkt den Blick auf die Entstehung dieser Minderheiten und vollzieht damit eine grundlegende Wende. Dieser Perspektivenwechsel könnte als die Geburtsstunde der gegenwärtigen immigrant-business-Forschung bezeichnet werden, da bis heute die Entstehung ethnischen Unternehmertums den Ausgangspunkt und das zentrale Erkenntnisinteresse bildet. Bonacich schließt Migranten und Minderheiten, die zum Beispiel durch Kolonialisierung, Verschleppung oder freiwillige dauerhafte Migration entstanden sind, aus ihrer Betrachtung aus (Bonacich 1973, 584). Stattdessen geht es ihr ausschließlich um Migranten, die ohne Absicht, sich dauerhaft niederzulassen, in ein Land kamen. Sie unterscheidet daher zwischen Gastarbeitern (sojourner) und Siedlern (settler). Typische Merkmale für Gastarbeiter seien:
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• Widerstand gegen Heiraten außerhalb der Gruppe • Residentielle Selbst-Segregation • Etablierung von eigenen Bildungseinrichtungen für ihre Kinder (Sprache, Kultur) • Beibehaltung distinktiver kultureller Merkmale (z.B. Religion) • Vermeidung der Einmischung in die lokale Politik, außer wenn es um sie selbst geht • Bildung gut durchorganisierter Gemeinschaften, die der Assimilation widerstehen. Diese Merkmale seien auf das Heimatland hin orientiert. Die Ressourcen, die innerhalb der Gruppe verteilt werden, sind Kapital, Kredite, günstigere Einkaufskonditionen, Information, Ausbildung und Arbeit (Bonacich 1973, 586f.). In der Folge dieser Merkmalskonstruktion wurden die wesentlichen Ansätze der immigrant-business-Forschung entwickelt, die sich nach Pütz (2004, 15ff.) zwei grundlegenden Modellvorstellungen zuordnen lassen: Die Opportunitätenmodelle stellen die strukturellen Rahmenbedingungen in den Vordergrund. Ihnen zufolge sind es die Benachteiligungen von Immigranten auf dem Arbeitsmarkt, die den Weg in die Selbständigkeit als eine alternative Form der Existenzsicherung attraktiv werden lassen. Bestimmte Branchen bieten dabei günstigere Entwicklungsperspektiven als andere. Um welche Marktsegmente es sich dabei handelt, hängt hauptsächlich von den rechtlichen Rahmenbedingungen (z.B. Ausländergesetzgebung) und von der eventuellen Existenz von Nischenmärkten ab (vgl. Kloosterman 2000). Die Ressourcenmodelle heben die gemeinsamen Eigenschaften von Menschen gleicher Herkunft hervor. Grund zu dieser Annahme geben vor allem unterschiedliche Selbständigkeitsquoten bei der Betrachtung verschiedener „ethnischer“ Gruppen (z.B. Light 1972; Bonacich/Light 1991). Dabei könnten Migranten auf spezifische kulturelle Ressourcen (Traditionen, Netzwerke) zurückgreifen. Im Extremfall wird behauptet, dass die Herkunft das ökonomische Handeln auf deterministische Weise prägt (Wiebe 1984). Moderatere Ansätze untersuchen die Funktionsweisen von Netzwerkstrukturen. Diese und der allgemeine Außenseiterstatus oder auch ein gemeinsamer sozioökonomischer Status (Klassenressourcen) führten zu gruppeninternem gegenseitigem Vertrauen, Kooperation und kollektiver Selbsthilfe, zum Beispiel bei der Kapitalbeschaffung, Mitarbeiterakquise oder dem Warenbezug (Light/Rosenstein 1995).
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Aufgrund der vielfältigen und sich zum Teil widersprechenden Konzepte gibt es seit den 1990ern Vorschläge zu einer Rekonzeptionalisierung der immigrant-business-Forschung. Vorreiter finden sich vor allem in der niederländischen Stadtforschung, zum Beispiel bei Kloosterman/Rath (2001), Rekers/Van Kempen (2000) und Dijst/Van Kempen (1991), gestützt durch die kritischen Anmerkungen zur immigrantbusiness-Forschung von den britischen Geographen Barret u.a. (1996). Kloosterman und Rath (2001) schlagen ein Konzept der mixed embeddedness vor. Sie sind daran interessiert, ein allgemeingültiges Forschungsdesign zu entwickeln, welches über ethnische und nationale Grenzen hinweg Vergleiche zulässt. Ihr Ansatz ist gekennzeichnet durch eine Verbindung der zuvor genannten Opportunitäten- und Netzwerkmodelle. Sie sehen die zugewanderten Unternehmer in doppelter Hinsicht eingebettet in einen strukturellen Rahmen, der durch den Arbeitsmarkt, die Politik und die Gesetzgebung gebildet wird, und in die persönlichen sozialen Netzwerke, bestehend aus der Familie, Freunden und Bekannten. Darüber hinaus werden Unternehmer aber nicht in ihrer Handlung determiniert gesehen, sondern es wird ihnen eine kreative Fähigkeit zur Etablierung der Selbständigkeit unter den gegebenen Rahmenbedingungen attestiert: „Immigrant entrepreneurs make use of, negotiate and, to a lesser extent, create openings to start a business. These openings are not everywhere the same; they are contingent on the wider socio-economic context. Immigrant entrepreneurs and their social embeddedness should be understood within the concrete context of markets and, hence, opportunity structures. This, in a nutshell, is what our mixed embeddedness is all about.“ (Kloosterman/Rath 2001, 198)
Kloosterman und Rath geben eine theoretische Grundrichtung vor, die eine ganzheitliche Konstitution des Forschungsfeldes bewirken soll. Ihr Vorschlag für die empirische Forschung ist eine Abgrenzung von drei verschiedenen Untersuchungsebenen. Danach müssten Feldstudien ausgeführt werden auf nationaler, regionaler/städtischer und nachbarschaftlicher Ebene, die jeweils Vergleichsdaten für andere Studien in ähnlichem Maßstab generieren. Jede dieser Ebenen stelle eine bestimmte Perspektive dar, die auf einen unterschiedlichen Bereich der Unternehmerkonstitution ausgerichtet sei. So sei der Blick auf die nationale Ebene vor allem an den strukturellen Rahmenbedingungen interessiert, während der Blick auf den lokalen Kontext die Subjektivität und individuelle Handlung des Unternehmers in den Vordergrund stelle im Zusammenspiel mit sozialen Netzwerken und den sich innerhalb
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der Rahmenbedingungen ergebenden Möglichkeiten (Kloosterman/ Rath 2001, 194ff.). In eine ähnliche Richtung gehen die Vorschläge von Rekers/Van Kempen (2000). Sie stellen fest, dass die bisherige Forschung zu einseitig auf Migranten fokussiere. Gerade durch die Betonung, dass zum Beispiel die interne Solidarität ihre Ursache in der Interaktion mit der Aufnahmegesellschaft hat, zeige sich, dass es sich bei ethnic entrepreneurs nicht um kulturelle Merkmale einer ethnischen Gruppe handelt. Darüber hinaus werde durch den einseitigen Fokus leicht übersehen, dass es sich bei vielen Faktoren um Merkmale handelt, die auf selbständiges Unternehmertum im Allgemeinen zutreffen, egal ob ethnisch oder nicht (Rekers/Van Kempen 2000, 56), eine Feststellung, die auch von Barrett u.a. (1996) vertreten wird. Rekers und Van Kempen (2000) kritisieren die bisherigen Forschungsansätze aufgrund ihrer Migrantenzentriertheit als unvollständig und unzulänglich. Ihr Lösungsvorschlag liegt in einer Kontextualisierung des immigrant business mithilfe eines „räumlichen Ansatzes“, der den bisher vorherrschenden „kulturalistischen“ oder „strukturellökonomistischen“ Ansätzen zur Seite gestellt wird (Rekers/Van Kempen 2000, 54ff.). Der „räumliche Ansatz“ entspricht dabei der „räumlichen Perspektive“, so wie sie uns für humangeographisches Arbeiten von Bathelt/Glückler (2003, 33f.) nahegelegt wird. Über den „räumlichen Blick“ sollen bisher übersehene oder zu kurz gekommene Einflüsse, Prozesse und Auswirkungen identifiziert werden. Dabei verorten Rekers und Van Kempen das immigrant business stärker als jemals zuvor in der (zumeist urbanen) Realität mit all ihren vielseitigen sozialen, historischen, ökonomischen, individuellen und politischen Facetten. Über den „räumlichen Blick“ gelangen Rekers/Van Kempen (2000, 58) zu drei wesentlichen Kontexten, innerhalb derer sie das immigrant business verorten: • Ökonomische Entwicklungen (Arbeitslosigkeit, strukturell-funktionale Veränderungen, Firmengrößen, Ausmaß des Subunternehmertums, Unternehmensbesatz, Agglomerationseffekte, Nachahmungsverhalten) • Soziale Veränderungen (Ausdifferenzierung der Lebensstile) • Städtische Umwelt (Voraussetzungen, Lokalpolitik) Im Folgenden wird die Untersuchung der kleinen migrantengeführten Lebensmittelgeschäfte in Stuttgart-Süd sich an den Vorschlägen für eine rekonzeptionalisierte immigrant-business-Forschung orientieren.
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Auf eine Grenzziehung a priori zwischen unterschiedlichen Nationalitäten wurde daher verzichtet und das Forschungsfeld stattdessen anhand ökonomischer und struktureller Merkmale bestimmt. Gemäß Rekers/ VanKempen (2000) wird der Blick vor allem auf den Kontext gelenkt, innerhalb dessen sich immigrant business ereignet. Dabei wird der Schwerpunkt, gemäß dem Forschungsinteresse am alltäglichen Zusammenleben, auf den ökonomischen und den sozialen Kontext gelegt (zum politischen Kontext s. Pütz 2004, 80ff.; Fallenbacher 2000, 10ff.). Die bevorzugte Betrachtungsebene ist die von Kloosterman/Rath (2001) als lokal-nachbarschaftlich bezeichnete Ebene, auch wenn die Darstellung des ökonomischen Kontextes eine Bezugnahme auf nationale und internationale Entwicklungen und Rahmenbedingungen erfordert.
Konsumgeographie Einen wichtigen Kontext für die Erforschung migrantengeführter Lebensmittelgeschäfte bilden die Kunden. Um diese auch konzeptionell in die Forschung mit einzubeziehen, wird die migrantenzentrierte Perspektive der immigrant-business-Forschung ergänzt um eine konsumentenzentrierte Perspektive. Die ergänzende Perspektive wird aus den Ansätzen der sozialwissenschaftlichen Konsumforschung hergeleitet. Die sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Konsum entwickelte sich seit den 1970er Jahren. Damit ist nicht die marktorientierte Konsumentenforschung gemeint, die als Zulieferer für Werbefirmen und Großunternehmen Erkenntnisse über Absatzmärkte produziert. Gemeint ist im Gegenteil ein Forschungszweig, der in seinem theoretischen Anspruch und seiner gesellschaftlichen Relevanz über die praktischen Anforderungen profitorientierter Marktforschung hinausreicht. Diese Konsumforschung ist disziplinär überwiegend verankert in der Soziologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaft und der Geographie, wo sie auch als Konsumgeographie bezeichnet wird. Die Entwicklung und Etablierung einer sozialwissenschaftlichen Konsumforschung war nicht unproblematisch. Bis in die 1980er Jahre hinein überwogen in den Sozialwissenschaften konsumkritische bis konsumfeindliche Haltungen. Sowohl aus neomarxistischer als auch aus konservativer Perspektive dominierte eine ablehnende Einstellung (Jayne 2006, 8ff.; Miles/Paddison 1998). Konsum wurde als ein Symptom der modernen, moralisch und kulturell als minderwertig erachteten Massengesellschaft aufgefasst und als eine Fehlentwicklung der modernen Gesellschaften gesehen. Die Folge dieser Haltung war ein langanhaltendes Ausblenden von Konsum aus dem akademischen Dis-
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kurs. Konsum wurde nicht wie Produktion als ein menschlicher Handlungsmodus gesehen, der einer wissenschaftlichen Untersuchung wert ist, sondern als ein verwerf liches Nebenprodukt der Moderne, und höchstens zu Zwecken der Gesellschaftskritik begutachtet (z.B. Horkheimer/Adorno 1947). Die Konzeptionalisierung von Konsum als soziokulturelles Phänomen ohne normative Vorzeichen und seine empirische Erforschung sind daher als ein Tabubruch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung zu verstehen (Prinz 2003). Die wissenschaftliche Erforschung von Konsum findet seitdem auf verschiedenen Ebenen statt. Einer der ersten Ansätze galt der Erforschung von „Demonstrativem Konsum“ (conspicuous consumption). Diese Forschungsrichtung wurde als Antithese zu den funktional-rationalistischen Erklärungsansätzen der Wirtschaftswissenschaften von Thorstein Veblen begründet (Veblen 1934 [1899]) und wird noch immer in diesem Sinne angewendet (Mason 2002). Sozialwissenschaftliche Relevanz erhielt dieser Ansatz vor allem, als der zunehmende Wohlstand seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr Menschen ermöglichte, Luxusgüter zu konsumieren. Der Konsum von Markenartikeln, Kleidung, Autos und Häusern, aber auch der im erweiterten Sinne Konsum von Urlaubsreisen oder Kunstobjekten wurde zunehmend als Ausdruck einer sich in zahlreiche Lebensstile ausdifferenzierenden Gesellschaft betrachtet (Bourdieu 1982; Berger/Hradil 1990). Die Tätigkeit des Einkaufens wurde somit zum „Lifestyle-Shopping“. Studien zum Konsum von Mode, Urlaubsorten oder Restaurants belegten den expressiven Charakter dieser Tätigkeit, der vor allem der Betonung von Individualität und Gruppenzugehörigkeit diente (Schor/Holt 2000; Urry 1995). Konsum wurde so in erster Linie als ein spielerischer Akt der Selbstversicherung und als eine Auseinandersetzung um Prestige und Status verstanden, mit lebensstilbildender und identitätsstiftender Funktion (vgl. Wiswede 2000; Featherstone 1998). In der deutschsprachigen Geographie entwickelt sich die Konsumforschung erst seit kurzem als ein eigenständiges Forschungsfeld. Traditionell ist die geographische Konsumforschung in Deutschland stark an die Einzelhandelsgeographie gekoppelt. Entsprechende Untersuchungen basieren daher meist auf standardisierten Konsumentenbefragungen oder konzentrieren sich auf die Marketingstrategien großer Einzelhandelskonzerne (z.B. Gerhard 2001; Kampschulte 2001; Gerhard/Arnold 2006). Erst in den letzten Jahren hat sich aus der Kritik am rationalen Akteursbild der Einzelhandelsgeographie eine kulturund sozialtheoretisch engagierte Perspektive entwickelt (s. Schröder 2003; Ermann 2006). Nach wie vor steht die deutschsprachige Kon-
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sumgeographie aber erst am Anfang und stützt sich fast ausschließlich auf die zahlreichen Arbeiten aus Großbritannien und den USA (Pütz/ Schröder 2007). In die Geographie hielt die Konsumforschung Einzug mit der Erforschung von spektakulär inszenierten Konsumlandschaften. Die immer größer werdenden Einkaufszentren, Themenparks und Mega-Malls in den USA und Kanada zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Während für die Forschung zum demonstrativen Konsum in den 1980er Jahren ein positiver Unterton kennzeichnend war, da Konsum als befreiende Tätigkeit selbstbestimmten Handelns konzipiert wurde, nahm die „MegaMall“-Forschung eine kritischere Haltung ein. Untersucht wurde, wie Besucher dieser Orte durch spektakuläre Architektur und Design „verzaubert“ (Ritzer 1999) und zu ungehemmtem Konsum verführt werden sollen, bei gleichzeitiger Verschleierung der handfesten monetären Interessen ihrer Erbauer. Auch wenn es nicht immer gelänge, sei das Ambiente der Mall darauf ausgelegt, die Konsumenten nicht nur ihre eigenen finanziellen Nöte und Sorgen vorübergehend vergessen zu lassen, sondern auch die Realität ausbeuterischer Produktions- und Angestelltenverhältnisse (Hopkins 1990; Goss 1993; Goss 1999). Zwischen den Extrempositionen der autonomen Selbstverwirklichung durch demonstrativen Konsum und der manipulierten Fremdgesteuertheit in der Mega-Mall entwickelte sich in der britischen Geographie eine vermittelnde Stellung. Kaufentscheidungen werden dort als eine routinisierte Praktik begriffen, die sich innerhalb der eingeschränkten Möglichkeiten erreichbarer Geschäfte und Produkte und der verschiedenen Bedürfnissen des Haushaltes entwickeln (Miller 1998; Jackson u.a. 2006). Einkaufen wird daher als eine erlernte und professionalisierte Fähigkeit verstanden und damit auch die Vorstellung zurückgewiesen, Konsumenten seien passive Wesen, deren Bedürfnisse fortwährend manipuliert werden durch den Markt und die verborgenen Überredungskünste der Werbeindustrie (Jackson 1999b, 28). Empirisch umgesetzt wurde dieser Ansatz mit der Erforschung des alltäglichen, gewöhnlichen und unspektakulären Konsums zum Beispiel von Lebensmitteln im Supermarkt. Tatsächlich lässt sich der Antagonismus zwischen Mega-Mall- und Supermarkt-Forschung nicht nur als eine historische Abfolge lesen (z.B. Crewe 2000), sondern auch als eine parallele Entwicklung verschiedener Konsumgeographien, wie dies von Crang/Jackson (2001) aus britischer und von Goss (2004) aus US-amerkanischer Sicht konstatiert wird. Während in den USA konsumgeographisches Arbeiten nach wie vor der Semiotik spektakulärer Konsumlandschaften eine zentrale Be-
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deutung beimisst, wird dieser Ansatz in Großbritannien nur noch disziplinhistorisch gewürdigt. Was sich hier vordergründig als ein Streit um die adäquaten Untersuchungsobjekte (Mall oder Supermarkt) präsentiert, ist ein fundamentaler Richtungsstreit um die eigentlichen Grundlagen sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung mit ihren disziplinpolitischen und wissenschaftsethischen Implikationen. So hat sich die Forschung in Großbritannien mithilfe der dort entstandenen Cultural Studies von den Anfängen der sozialkritischen Konsumforschung gelöst, ihre theoretische Grundlegung an der Kulturphilosophie der 1960er und 1970er Jahre ausgerichtet und nähert sich gegenwärtig einem ethnographischen Praxis-Paradigma an, wie es etwa von Bourdieu (1977) und Reckwitz (2002) vertreten wird. Auf der Forschungsagenda stehen daher vor allem individuelle Konsumpraktiken in empirischen Kontexten (Crewe 2003; Williams u.a. 2001; Gregson/Crewe 2003). In den USA fand zwar auch eine Rezeption der europäischen Kulturtheorien statt, aber mit anderen Ergebnissen. Der bis in die 1970er Jahre hinein vorherrschende marxistische Ansatz sozialkritischer Wissenschaft wurde durch die Inkorporation neuer Theorien nur überformt und weiterentwickelt, nicht aber verworfen. Die Beschäftigung mit den Schriften von Karl Marx ist dort, wenn auch mit nachlassender Tendenz, nach wie vor ein integraler Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Ausbildung (Harvey 2000). Aus dieser Perspektive lässt sich nachvollziehen, weshalb die amerikanische Forschung, trotz Betonung von hedonistischen und anderen demonstrativen Inszenierungen von Konsum, einen starken Akzent auf die problematische, ausbeuterische und profitorientierte Seite von Handel und Kommerz legt und gleichzeitig den britischen Ansatz zurückweist (Goss 2004; Goss 2006). Umgekehrt wird der amerikanischen Forschung vorgeworfen, dass der einseitige Blick auf die spektakulären Orte des Konsums den profanen Alltag von Konsum vernachlässigen würde (vgl. den Schlagabtausch zwischen Jackson 2002a und Mitchell 2002). Es würde übersehen, dass es kein Leben ohne alltäglichen Konsum geben kann, dass alle Menschen essen, wohnen und schlafen müssen und dass wir bei all diesen Tätigkeiten, ob Arbeit oder Freizeit, fortwährend in konsumtive Prozesse verstrickt sind (Warde 2005; Shove 2003). Konsum müsse daher als eine Grundkomponente des sozialen Lebens konzipiert werden (Crewe 2003; Crang/Jackson 2001). Auch wenn in der vorliegenden Arbeit kein so umfassendes Konzept von Konsum zum Tragen kommen wird, so bietet die britische Variante der Konsumgeographie einige nützliche Anknüpfungspunkte. Vor
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allem die zentrale Stellung alltäglicher Praktiken des Konsums bildet einen geeigneten Bezugspunkt für die ethnographische Untersuchung der Kunden migrantengeführter Geschäfte. Durch die Darstellung des Händleralltags fließen aber auch die sozialkritischen Grundzüge der amerikanischen Forschung in die Darstellung mit ein.
Synthese von immigrant-business- Forschung und Konsumgeographie Aus der Perspektive einer Theorie der Praktiken betrachtet, bieten die beiden Forschungsfelder immigrant business und Konsumgeographie Ansätze für die Untersuchung jeweils bestimmter Sets an Praktiken. Während bei den Forschungen zum immigrant business die Praktiken der Unternehmensgründung und -führung im Vordergrund stehen, sind es in der Konsumgeographie die Praktiken des „Einkaufens“ und „Verbrauchens“. Eine Untersuchung, die beide Ansätze vereint, gelangt zu einer Synthese, indem sie die Schnittstellen dieser Praktikenbündel in den Blick nimmt. Mit Bezug auf die kleinen Lebensmittelgeschäfte handelt es sich um die Schnittstellen der Praktikenbündel des „Händler-Seins“ und des „Kunde-Seins“. Händler-Sein bedeutet, dass eine wesentliche Praktik das Verkaufen ist. Kunde-Sein bedeutet, dass eine wesentliche Praktik das Einkaufen ist. Beide Kategorien sind aufeinander angewiesen, da es ohne die jeweils andere keine Möglichkeit gibt, die Praktik erfolgreich auszuführen. Die Praktiken des Verkaufens und des Einkaufens müssen also an einer bestimmten Stelle zusammenfinden. Im Gegensatz zum Versandhandel ist beim Lebensmitteleinzelhandel im Quartier eine Begegnung von Praktiken mit der Begegnung von realen Personen verbunden. Diese Begegnungen konstituieren, auf der Grundlage der Praktiken, auf die diese Begegnungen zurückzuführen sind, einen Ausschnitt des alltäglichen sozialen Zusammenlebens. Für den Moment des räumlichen Zusammentreffens der Praktiken nehmen die beteiligten Personen bestimmte soziale Rollen ein. Nach Giddens können wir von einer Rolle dann sprechen, „[...] wenn die Interaktion in einem eindeutig umschriebenen Bezugsrahmen stattfindet, wo also die normative Bestimmung der ‚erwarteten‘ Verhaltensweisen besonders stark unterstrichen ist. Für solche Bezugsrahmen ist fast immer ein besonderer Ort oder Ortstypus vorgesehen, in dem geregelte Begegnungen unter der Bedingung von Kopräsenz stattfinden.“ (Giddens 1997, 140).
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Gerade für Orte des Konsums sind soziale Rollen wahrscheinlich, da die erwarteten Interaktionen vor allem auf die Kunden- und die Händlerbzw. Verkäuferrolle reduziert sind. In der Regel aller Fälle sind diese Orte auf die gleichzeitige Zusammenkunft von vielen Menschen ausgelegt, also auf die Bedingung von Kopräsenz. Zur Vermeidung von Chaos und Unstimmigkeit greifen daher implizite Institutionen der „höflichen Gleichgültigkeit“ gegenüber anderen und explizite Regeln, die das Verhalten anleiten (Giddens 1997, 127). Im Zusammenhang mit Orten des Konsums ergibt sich daher auch die Frage nach Art und Beschaffenheit der dort vorgesehenen Rollen, deren Kombination in der Praxis und deren individuelle Interpretation bzw. Ausübung.
Abgrenzung des Untersuchungsgebietes Wissenschaftliche Arbeiten, die an der Mikrologik des Alltags ansetzen, sind notwendig an die individuelle Erfahrung von Lokalität gekoppelt. Die trotz zunehmender Mobilität überwiegend lokalen Erfahrungshorizonte des Alltags bilden die Kulisse dieses wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens. Es geschieht daher in Übereinstimmung mit ähnlich gelagerten Studien, dass die Auswahl eines räumlichen Ausschnitts – zum Beispiel in der Form eines Stadtteiles – als konkretes Forschungsfeld am Beginn der Annäherung an die zu untersuchenden Phänomene steht (vgl. z.B. Miller 2001; Jackson u.a. 2006; Certeau u.a. 1998; Bukow u.a. 2001). Dennoch ist bei der Konstituierung der räumlichen Grenzen, die ein Forschungsfeld einfassen, Vorsicht geboten. Die Konstruktion von Raumgrenzen ist ein forschungspraktisches Hilfsmittel und kann selbst nicht Teil der gesuchten Antworten sein (z.B. A handelt so, weil er aus X kommt) (vgl. Löw 2001, 44ff. und 64). Gegenstand humangeographischer Untersuchungen sind menschliche Handlungs- und Verhaltensweisen, soziale Strukturen, Konventionen und Beurteilungsschemata, die ihren Niederschlag in der räumlichen Organisation menschlicher Aktivität finden. Die ungleiche räumliche Verteilung von menschlicher Aktivität ist als ein Symptom gesellschaftlichen Handelns zu verstehen. Sie bietet daher einen Ansatzpunkt, den Mechanismen gesellschaftlicher Organisation und Hierarchisierung auf den Grund zu gehen (vgl. Werlen 1988). Die ungleiche räumliche Verteilung menschlicher Aktivität sagt nichts über die Eigenschaften des Raumes aus als vielmehr über die biologische Disposition, die technologischen Fähigkeiten und die soziokulturelle Organisation der Menschen. Die Betrachtung räumlicher Gegebenheiten kann also nur als ein Ausgangspunkt verstanden werden,
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Rückschlüsse auf menschliches Handeln und Verhalten zu ziehen. Eine sozialwissenschaftliche Forschung in humangeographischer Tradition bedient sich demnach des „räumlichen Blicks“, um sich ihrem eigentlichen Forschungsgegenstand, dem Menschen, zu nähern. Dieser räumliche Ansatz hat Konsequenzen auf theoretischer und methodologischer Ebene. Die Theoretisierung nimmt ihren Ausgang dann in der Räumlichkeit menschlichen Handelns. Auf methodologischer Ebene dienen räumliche Phänomene der Bestimmung von Thema, Untersuchungsgegenstand, Fragestellung, Informationsquellen und adäquaten Methoden (vgl. Werlen 2004, 305ff.). Ansatzpunkte humangeographischer Forschung können dabei Orte verschiedener Größe und Gestalt sein. Nationalstaaten und Regionen sind ebenso typische Ansatzpunkte wie Städte oder Stadtteile. Ist die Forschung stärker an der individuellen Ausgestaltung des Alltags interessiert, dann kann auch die Betrachtung noch kleinerer Raumeinheiten sinnvoll sein. Geachtet werden muss aber darauf, dass das Untersuchungsgebiet oder der Ort nicht einfach als ein „Container“ konzipiert wird, innerhalb dessen sich Gesellschaft ereignet. Dies wäre zu einfach und zu kompliziert zugleich. Erstens eignen sich Orte immer nur, um einen Ausschnitt des globalen menschlichen Lebens zu beobachten. Außeneinflüsse werden notwendigerweise aus der empirischen Betrachtung ausgeschlossen und finden somit als quasi göttliches Einwirken nur in sehr abstrakter Form Beachtung. So erscheint zum Beispiel die Schließung einer Fabrik als eine schicksalhafte Einwirkung von außen und nicht als das Resultat einer Vorstandssitzung, unter welchen komplexen Bedingungen die Beteiligten auch immer ihre Entscheidung getroffen haben mögen. Zweitens ist das Containerverständnis zu kompliziert, da es praktisch unmöglich ist, alle Handlungen innerhalb eines noch so klein gewählten Raumes zu beobachten, zu beschreiben und zu interpretieren. Notwendigerweise ist das Konzept des Ortes daher ein Hilfskonstrukt, dessen sich die Humangeographie als einem möglichen Ansatz für die Erforschung der spezifischen Ausprägungen menschlichen Daseins bedient.
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1.3 Methodologie Der Zugang zum Forschungsfeld sowie die eigentliche Feldforschung waren durch ein qualitatives Vorgehen geprägt. Dies liegt in den methodologischen Implikationen begründet, welche die Erforschung der Mikrologik des Alltags mit sich bringen. Bei der Feldforschung handelte es sich um ein ethnographisches Vorgehen, bestehend aus ad-hoc-Befragungen, Teilnehmender Beobachtung und Interviews. Dokumentiert wurden Beobachtungen und Gespräche mit Gedächtnisprotokollen, längere Interviews mit einem Aufnahmegerät. Im Folgenden wird das methodische Vorgehen genauer erläutert, von der Abgrenzung des Untersuchungsgebietes bis hin zur Darstellung der Ergebnisse.
Das Untersuchungsgebiet Stuttgar t- Süd Bei sozialwissenschaftlichen Fragestellungen mit Bezug auf Migration und multikulturelles Zusammenleben wird üblicherweise die Wahl eines metropolitanen Milieus als Untersuchungsgebiet erwartet, da dort in der Regel die Anzahl und der Prozentsatz von Migranten an der Bevölkerung Höchstwerte erreichen. In Deutschland beziehen sich diese Untersuchungen überwiegend auf Berlin und die Metropolregionen Rhein-Ruhr (inkl. Köln) und Rhein-Main (inkl. Frankfurt a.M.). Um die regionale Schwerpunktsetzung zu ergänzen, aber vor allem aufgrund der interessanten soziostrukturellen Ausgangsbedingungen wurde Stuttgart als Untersuchungsgebiet für diese Arbeit ausgewählt (vgl. Plahuta 2007, 113ff.). Auch wenn Stuttgart nicht den klassischen Definitionen einer Global City entspricht, so zeigt ein Blick auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung eine starke internationale Vernetzung (Halder 2008). Als Sitz von Konzernzentralen bedeutender transnationaler Unternehmen wie der Daimler AG, der Robert Bosch GmbH oder der Porsche AG ist Stuttgart ein globales Zentrum der Automobilbranche. Im europäischen Vergleich hat der Sekundäre Sektor eine überdurchschnittliche Bedeutung für die Stadt, vor allem in den Branchen Fahrzeugbau, Elektrotechnik und Maschinenbau. In keiner anderen der 29 europäischen Metropolregionen ist der Wertschöpfungsanteil des Produzierenden Gewerbes höher. In der Stadt entfallen 28,4% (2004) der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze auf diesen Sektor (Plahuta 2007, 113f.). Die in Stuttgart ansässige Landesbank Baden-Württemberg ist die größte öffentliche Bank Deutschlands und die Börse in Stuttgart die Nummer Zwei nach Frankfurt. Die Stuttgarter Oper und die Staatsga-
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lerie genießen internationales Renommee und das kulturelle Angebot wurde durch das Mercedes-Benz Museum und das neue Kunstmuseum signifikant erweitert. Mit zwei Universitäten und sieben weiteren staatlichen und privaten Hochschulen nimmt Stuttgart auch für die Wissenschaft und die akademische Ausbildung eine wichtige Stellung ein. Vor allem in den Bereichen Kunst und Musik sowie im Ingenieurswesen und der Technik haben diese sich international einen Namen gemacht. Die Stadt selbst hat annähernd 600.000 Einwohner. Als Metropolregion Stuttgart wird die gesamte Agglomeration im Umkreis von 50km bezeichnet, mit ihren insgesamt über vier Millionen Einwohnern. Die Einwohner Stuttgarts haben Nationalitäten aus über 170 Ländern, was bedeutet, dass zumindest in der Bevölkerungsstatistik alle Regionen der Erde in Stuttgart vertreten sind. Stuttgart hat mit knapp 22% (2005) einen der höchsten Ausländeranteile im deutschen Großstadtvergleich (Frankfurt a.M. 24,8%, Köln 17,2%, Düsseldorf 17,1%, Berlin 13,8%).2 Bereits Ende der 1960er Jahre betrug der Ausländeranteil in der Region Stuttgart 11%. Der relative Höhepunkt des Ausländeranteils für die Stadt Stuttgart war 1996 und lag bei ca. 25% (Plahuta 2007, 116). In absoluten Zahlen wurde der Höhepunkt bereits 1992 mit 138.000 ausländischen Bürgern überschritten (ebd., 117). Vor allem durch Einbürgerungen ist der Ausländeranteil in den letzten Jahren etwas gesunken, die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund nimmt aber weiterhin zu und lag 2004 bei 34% (Lindemann 2005). Werden die ausländischen Bürger nach ihrer Herkunftsregion aufgeschlüsselt, so stammten 2004 25,6% aus dem ehemaligen Jugoslawien, 17,6% aus der Türkei, 11,6% aus Griechenland und 11,1% aus Italien. Damit stammen zwei Drittel der ausländischen Bevölkerung Stuttgarts aus den vier „klassischen“ Einwanderungsländern. Seit den 1990ern hat die Einwanderung aus den ehemaligen Sowjetstaaten, Ostasien, Südasien und Osteuropa stark zugenommen, fällt aber relativ noch nicht so stark ins Gewicht (Plahuta 2007, 118ff.) Zusätzlich zu den ausländischen Bürgern lebten 2004 41.531 eingebürgerte Einwanderer aus 173 Staaten in Stuttgart. Weitere 28.144 wer2 | Die Daten wurden den Angaben der entsprechenden Statistischen Ämter
entnommen und gelten für das Jahr 2005 (Frankfurt und Berlin) bzw. 2006 (Köln und Düsseldorf): http://www.duesseldorf.de/statistik/; http:// www.stadt-koeln.de/zahlen/; http://www.statistik-berlin.de/; http://www. frankfurt.de/sixcms/; http://www.stuttgart.de/sde/; zuletzt aufgerufen am 15.7.2007.
Abb. 1: Lehenviertel / Stuttgart Süd (im Hintergrund links das Stadtzentrum) U ntersuchung migr antengeführter
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Abb. 2: Stadtbezirkskarte Stuttgart (Schraffur: Stuttgart-Süd)
Zeichnung: Wiedemeyer
Abb. 3: Dörfliche Strukturen im Zentrum von Heslach / Stuttgart-Süd
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Abb. 4: Blockrandbebauung in steiler Lage im Stuttgarter Süden
Abb. 5: Hauptstraße von Heslach / Stuttgart-Süd
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den zu den Spätaussiedlern gezählt. Zählt man die in Deutschland geborenen, aber mit mindestens einem im Ausland geborenen Elternteil hinzu, so ergebe sich ein noch höherer Anteil von knapp 40% mit Migrationshintergrund (Plahuta 2007, 121). In der Geschichte der Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg nimmt Stuttgart eine zentrale Stellung ein. Die großen Industriebetriebe in und um Stuttgart (allen voran der Daimler-(Chrysler)-Konzern) waren schon bald nach dem Krieg in hohem Maß auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen (vgl. Gaebe 1997, 12ff.; Meier-Braun/ Weber 2005). Das Erbe dieser „Gastarbeiterära“ präsentiert sich heute als ein multikulturelles Sozialgefüge, welches überdurchschnittlich hoch in der Kernstadt vertreten ist. Auf der Ebene von Stadtvierteln werden dort Ausländeranteile von über 40% erreicht (Plahuta 2004). In allen fünf Innenstadtbezirken liegt der Ausländeranteil deutlich höher als im kommunalen Durchschnitt (Landeshauptstadt Stuttgart/Statistisches Amt 2006). Dass Stuttgart derzeit im Umbruch ist und schon bald nicht mehr als „Schwabenmetropole“ gesehen werden kann, zeigt sich vor allem bei den jüngeren Generationen. In der Altersgruppe von 0 bis 17 Jahren liegt der Anteil mit Migrationshintergrund bei über der Hälfte. Seit den 1990ern verlassen im Schnitt jedes Jahr ca. 50.000 Menschen die Stadt und in etwa so viele ziehen neu hinzu. Der Anteil an gebürtigen Stuttgartern lag 2004 bei 36%, ein Wert, der bei den über 18jährigen deutlich unterschritten wird und auch im inneren Stadtgebiet größtenteils darunter liegt (Lindemann 2005; vgl. die statistischen Daten auf www. stuttgart.de). Der engere Untersuchungsrahmen bezieht sich auf den Stadtbezirk Stuttgart-Süd mit knapp 44.000 Einwohnern (2005). Die Statistik weist für knapp 39% einen Migrationshintergrund aus (Landeshauptstadt Stuttgart/Statistisches Amt 2006). Das Untersuchungsgebiet setzt sich von Ost nach West aus den Stadtteilen Bopser, Weinsteige, Lehen, Karlshöhe, Heslach, Südheim und Kaltental zusammen. Der Stadtteil Kaltental liegt außerhalb der geschlossenen Kernstadtbebauung und besitzt einen vorstädtischen Charakter. Dieser Teil wurde daher aus der empirischen Untersuchung ausgeklammert. Alle statistischen Angaben beziehen sich aber auf den gesamten Stadtbezirk Stuttgart-Süd. Der interkulturelle Austausch sowie das Integrationsniveau erscheinen in Stuttgart relativ hoch. Den Themen Migration und Integration wird in der Stuttgarter Kommunalpolitik ein hoher Stellenwert eingeräumt. Die Ausrufung eines „Bündnisses für Integration“ im Jah-
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re 2001 stellte den Beginn einer stärkeren Koordination der verschiedenen Akteure dar (Stabsabteilung für Integrationspolitik der Landeshauptstadt Stuttgart 2004). 2005 wurde die Stadt für ihre Bemühungen vom Bundesinnenministerium und der Bertelsmann-Stiftung ausgezeichnet. Die Jury nominierte Stuttgart als Preisträger des Wettbewerbes „Erfolgreiche Integration ist kein Zufall. Strategien kommunaler Integrationspolitik“ in der Kategorie Großstädte. Das Segregationsniveau in Stuttgart ist deutlich niedriger als in deutschen Städten vergleichbarer Größenordnung. Der Segregationsindex für die ausländische Bevölkerung bezogen auf die Gesamtbevölkerung weist für Stuttgart (2000) den relativ niedrigen Wert 18,0 auf (Düsseldorf 18,8; Essen 24,6; Hannover 22,9) (Klagge 2003). Trotz der fortgeschrittenen Ausprägung multikultureller Eigenschaften haftet an Stuttgart das Image einer wenig „weltoffenen“ oder „gastlichen“ Stadt (Gaebe 2004). In der Stuttgarter Kernstadt ist das immigrant business ein fester Bestandteil der städtischen Gewerbelandschaft. Im Stadtbild präsent sind neben den gastronomischen Einrichtungen die Geschäfte des Lebensmitteleinzelhandels. Verschiedene Großhändler in und um Stuttgart haben sich bereits auf die besondere Nachfrage dieser Geschäfte spezialisiert und können aufgrund ihrer Herkunft ebenfalls dem immigrant business zugerechnet werden. Der Stadtbezirk Stuttgart-Süd weist eine charakteristische Ausprägung in Bezug auf Topographie, Siedlungsstruktur und funktionale Gliederung auf. Es gibt kaum fließende Grenzen zu anderen Stadtteilen. Im Süden und Norden ist der Stadtbezirk durch kaum besiedelte Höhenzüge begrenzt. Im Westen endet die geschlossene Bebauung der Kernstadt, während im Nordosten der Übergang zum Stadtzentrum liegt. Dessen Funktion ist hauptsächlich tertiärwirtschaftlicher Art. Im Gegensatz zum Stadtzentrum kennzeichnet den gesamten Stadtbezirk Stuttgart-Süd eine hohe Wohndichte. In den tiefer gelegenen Stadtteilen dominiert eine dichte gründerzeitliche Blockrandbebauung mit starker funktionaler Durchmischung. In den Hanglagen herrscht die Wohnfunktion vor.3 Der gründerzeitliche Geschosswohnungsbau wurde teilweise durch Einfamilien- und Apartmenthäuser ersetzt, die nach 1945 entstanden. Eine lokale Identität in der Stadtteilbevölkerung ist bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen, wird aber durch lokale
3 | Daraus erklären sich die Begriffe, mit denen die zitierten Gesprächspartner
in Kapitel 3 und 4 häufig ihre räumlichen Bezüge im Stadtteil herstellen („oben“, „hoch“, „rauf“ oder „unten“, „runter“).
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Vermarktungsstrategien mittelständischer Einzelhändler bewusst gefördert (z.B. www.stuttgart-sued.info).
Ethnographie und die Erschließung „praktischen Wissens“ In den Sozialwissenschaften gewinnen zunehmend Ansätze an Bedeutung, in deren Mittelpunkt das Interesse an den unterschiedlichen Formen von Weltverstehen, Alltagsgestaltung und Identitätskonstruktion steht. In spezifisch humangeographischer Aneignung wird danach gefragt, wie verschiedene Menschen ihre Welt und deren Orte verstehen, wie sich die Routinisierung des Alltags in Raum und Zeit vollzieht und auf welche Art und Weise durch Darstellungen, Erinnerungen und Emotionen Orte mit sozialen Identitätskonstruktionen verknüpft werden (Cloke u.a. 2004, 180). Diese Ansätze finden in der deutschsprachigen Geographie vor allem innerhalb des „interpretativen Paradigmas“ der „Neuen Kulturgeographie“ ihre Anwendung (Blotevogel 2003). Die vorliegende Arbeit mit ihrem spezifischen Interesse am alltagspraktischen Handeln in durch Migration geprägten Stadtgesellschaften verortet sich grundsätzlich innerhalb dieses Paradigmas. Dies hat auch Konsequenzen für die Auswahl der geeigneten Forschungsmethoden. Überwiegend kommen dafür die Methoden der „Qualitativen Forschung“ infrage. In dieser Arbeit wurde ein Methodenmix angewendet, der in vielerlei Hinsicht an die Forschungspraktik der Ethnographie angelehnt ist, in deren Mittelpunkt üblicherweise eine längere Phase der „Teilnehmenden Beobachtung“ steht, die allerdings häufig mit anderen Methoden kombiniert wird (z.B. Interviews). Die Ethnographie ist ein Ansatz, der sich als Zugang für den aus sozialwissenschaftlicher Sicht komplexen Forschungsgegenstand der urbanen Alltäglichkeit besonders gut eignet. Lüders (2004) bezeichnet Ethnographien als Beschreibungen von kleinen Lebenswelten. Ethnographien rücken die verschiedenen kulturellen Deutungsschemata und Sinnstrukturen menschlicher Gemeinschaften und die darin eingelagerten Wissensbestände und Lebensformen in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie werden somit gerade in pluralistischen Gesellschaften zu „einem [geeigneten] Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung“, da dort die Nachfrage nach Beschreibung und Analyse des „gar nicht mehr so Selbstverständlichen und des Neuen“ zunimmt (Lüders 2004, 389f.). Wissensbestände und Lebensformen liegen dabei für den Forschenden nicht immer klar auf der Hand, sondern müssen interpretativ er-
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schlossen werden. Der Forscher versucht also, die Interpretationen, die Menschen von der Welt machen, zu rekonstruieren und zu interpretieren. Auf diesen Umstand weisen viele Autoren hin, wenn sie sozialwissenschaftliches Arbeiten als eine „doppelte Hermeneutik“ begreifen, dessen Aufgabe die „Interpretation von Interpretationen“ ist, die zu „Konstruktionen zweiter Ordnung“ führt (Goffman 1959; Giddens 1997; Reuber/Pfaffenbach 2005, 110). Charakteristikum dieses sozialwissenschaftlichen Arbeitens ist die Anerkennung der unvermeidlichen Subjektivität von Forschung. Es wird aus Gründen der Nachvollziehbarkeit daher für notwendig erachtet, dass methodisches Vorgehen und theoretisches Vorwissen sowie der Forschungskontext offengelegt werden. Die traditionellen ethnographischen Probleme der Validität und Reliabilität und der Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen können durch ein Schreiben in der Ich-Perspektive umgangen werden, indem die Person des Forschers und ihr notwendig subjektiver Zugang zur Welt sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise überbrückt „die interpretative Ethnographie [...] die Kluft, die zwischen der beobachtenden Person und der untersuchten Welt besteht. Werden die Texte in der ersten Person Singular geschrieben, bedienen sie sich der forschenden Person als eines Fensters auf die Welt. Der Autor wird zum Textsubjekt.“ (Denzin 1990, 231 zit. n. Lincoln 2004)
Vor allem bei der Interpretation des empirisch gesammelten Materials wird daher darauf geachtet, die „erste Person Singular“ in die Darstellung miteinzubeziehen. Für die Rekonstruktion alltagspraktischen Handelns wurde Material auf verschiedenen Ebenen gesammelt. Die Sinnhaftigkeit von Alltagspraktiken ergibt sich für die Menschen durch ihre Handlungen meist von selbst, ohne dass eine andauernde ref lexive Überprüfung derselben notwendig wäre (vgl. Lippuner 2005a). Es ist daher von besonderer Bedeutung, nach den Handlungskonstituenten zu suchen, die den Akteuren als selbstverständlich erscheinen und deren implizite Logik ihnen im „praktischen Bewusstsein“ (Giddens 1997) präsent ist, ohne dass sie darüber aktiv nachdenken müssen. Übergeordnet könnte man von der sozialwissenschaftlichen Aufgabe der Rekonstruktion des „praktischen Wissens“ sprechen, das nach Reckwitz (2003) drei Elemente umfasst:
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• Ein Wissen im Sinne eines interpretativen Verstehens, d.h. einer routinemäßigen Zuschreibung von Bedeutungen zu Gegenständen, Personen, abstrakten Entitäten, dem ‚eigenen Selbst‘ etc. • Ein i.e.S. methodisches Wissen, d.h. script-förmige Prozeduren, wie man eine Reihe von Handlungen ‚kompetent‘ hervorbringt • Schließlich das, was man als ein motivational-emotionales Wissen bezeichnen kann, d.h. ein impliziter Sinn dafür ‚was man eigentlich will‘, ‚worum es einem geht‘ und was ‚undenkbar‘ wäre. (Reckwitz 2003, 292) Für den Forscher drückt sich dieses praktische Wissen sowohl in beobachtbaren Handlungen aus als auch in den Beschreibungen und Rechtfertigungen, die die Menschen von diesen Handlungen geben können. Diesem Umstand versucht der Methodenpluralismus des ethnographischen Ansatzes gerecht zu werden.
Methodisches Vorgehen im Einzelnen Die Sammlung von Material konzentrierte sich auf die empirisch und diskursiv zugänglichen Alltagspraktiken von Kunden und Händlern und die Verschränkungen dieser Praktiken, die eine spezifische Form des urbanen Zusammenlebens konstituieren. Die Erhebung erfolgte durch Teilnehmende Beobachtung und verschiedene Befragungsformen. Im Folgenden sollen die verwendeten Methoden sowie die aus forschungspraktischen Gründen vorgenommenen Modifikationen näher erläutert werden. a) Feldzugang Der Feldzugang gestaltete sich komplizierter als erwartet. In einer ersten Phase wurden die Lebensmittelgeschäfte im Stadtbezirk StuttgartSüd erfasst und kartiert (s. S.43). Im Zentrum standen dabei die kleinen Lebensmittelgeschäfte, in denen in der Regel das Verkaufspersonal mit der Inhaberfamilie identisch ist. Alle wurden einzeln aufgesucht, um über einen ersten einfachen Fragebogen Grundcharakteristiken der Geschäfte zu erfassen. Die Händler wurden danach gefragt, ob sie selbständige Unternehmer seien, seit wann sie ihr Geschäft führten, welche Waren sie hauptsächlich verkauften, welcher Herkunft sie seien und welchen Umsatz sie im Durchschnitt erwirtschafteten. Darüber hinaus wurde geklärt, ob der Händler damit einverstanden war, dass ich vor dem Geschäft seine Kunden befragte.
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Tab. 1: Leitfaden Kundeninterviews
Einkaufsstättenwahl •
Können Sie sich an Ihren ersten Einkauf in dem Geschäft erinnern und wie es dazu kam?
•
Wo kaufen Sie noch Lebensmittel ein?
•
Kennen Sie noch weitere kleine Geschäfte hier im Viertel?
Produktauswahl •
Welche Produkte kaufen Sie dort hauptsächlich?
•
Gibt es Dinge, auf die Sie bei der Produktauswahl achten?
•
Haben Sie in letzter Zeit neue Produkte kennengelernt?
Kommunikation •
Wissen Sie etwas über den Händler und seine Familie?
•
Können Sie sich an Gespräche erinnern, die Sie mit dem Händler geführt haben?
•
Werden Sie vom Händler beraten?
Alltag •
Wie würden Sie den Stadtteil charakterisieren?
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Tab. 2: Leitfaden Händlerinterviews
Kontakt zu Kunden
•
Können Sie abschätzen, wie viele Stammkunden Sie haben?
•
Welche Produkte kaufen die Kunden überwiegend ein?
•
Gibt es Kunden, mit denen Sie persönlich bekannt sind?
•
Wollen die Kunden von Ihnen beraten werden?
•
Haben Sie die Kunden schon mal um Rat gebeten (z.B. Wohnungssuche)?
•
Gibt es Kunden, mit denen Sie Probleme haben?
•
Bieten Sie spezielle Dienstleistungen an (z.B. Lieferservice)?
Allgemeines •
Seit wann haben Sie Ihr Geschäft?
•
Woher beziehen Sie Ihre Ware?
•
Wo kaufen Sie Ihre Frischeprodukte und wie oft?
•
Mit dem Umsatz welcher Produkte sind Sie besonders zufrieden?
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Dieses Vorgehen brachte einige Probleme mit sich. Grundsätzlich waren die Händler sehr zurückhaltend. Angaben zu Umsätzen wurden kategorisch abgelehnt. Diese Frage wurde daher aus dem Fragebogen gestrichen, da ihr meist mit großem Misstrauen begegnet wurde und sie die Kooperationsbereitschaft in höchstem Maße beeinträchtigte. Auch die Frage nach den am häufigsten verkauften Produkten wurde in der Regel nicht beantwortet. Schließlich standen die Händler einer möglichen Befragung ihrer Kunden sehr skeptisch gegenüber und lehnten sie zunächst ab. Erst nachdem ein Händler nach einiger Bedenkzeit dazu bereit war, mir die Befragung seiner Kunden zu gestatten, konnte ich auch andere Händler überzeugen. Ich erzählte ihnen dann, dass ich bereits bei einem ihrer Kollegen Befragungen gemacht hatte, woraufhin die Bereitschaft, mit mir zu kooperieren, signifikant anstieg. Dennoch konzentrierte sich ein Großteil der Kundenbefragung auf drei Geschäfte, deren Inhaber mir weitgehend freie Hand ließen. b) Kundeninter views Das Ansprechen der Kunden erfolgte, nachdem diese ihren Einkauf im Geschäft erledigt hatten. Nach Morse (1994) hat ein „guter Gesprächspartner“ folgende Merkmale (vgl. Reuber/Pfaffenbach 2005, 150): • • • • • •
verfügt über das notwendige Wissen verfügt über die notwendige Erfahrung verfügt über genug Zeit hat die Fähigkeit zur Reflexion hat die Fähigkeit zur Artikulation ist bereit, sich an der Untersuchung zu beteiligen
Die Kunden wurden zuerst gefragt, ob sie in dem betreffenden Geschäft Stammkunden seien. Dadurch sollte gewährleistet werden, dass Kunden mit entsprechendem Wissen und Erfahrung an der Untersuchung teilnehmen. Danach wurde die Bereitschaft erfragt, sich an meiner Untersuchung zu beteiligen. Die Ablehnungsrate war hier relativ hoch (je nach Tag von 80% bis 100%). Begründet wurde dies überwiegend mit einem Mangel an Zeit. Vor allem ältere Menschen zeigten kaum Bereitschaft, sich auf ein längeres Gespräch einzulassen. Bei gesprächsbereiten Kunden wurde versucht, einen Interviewtermin zu vereinbaren. Auch hier wurden einige Termine in letzter Minute wieder abgesagt. Die verbliebenen Interviews fanden in der Regel in der Wohnung des Kunden statt. Auf diese Weise wurden Interviews mit
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14 Personen geführt. Diese Interviews wurden aufgenommen und waren zwischen einer halben Stunde und anderthalb Stunden lang. Andere Kunden, die zwar Gesprächsbereitschaft signalisierten, mir aber keinen Termin für ein längeres Interview geben konnten oder wollten, wurden direkt vor dem Geschäft interviewt. Bei 12 solcher Interviews wurde mir die Aufnahme erlaubt. Diese dauerten wenige Minuten bis zu einer Viertelstunde. Für die prinzipiell offen gehaltenen Kundeninterviews wurde zur Unterstützung ein Leitfaden entwickelt. Der Leitfaden wurde dabei überwiegend als erzählungsgenerierendes Instrument genutzt. Die Leitfadenkonstruktion richtete sich nach den für die Alltagspraktik des Einkaufens als wichtig vermuteten Aspekten und Kontexten. Wie für ethnographisches Vorgehen üblich wurde der Leitfaden stetig weiterentwickelt, da im Forschungsprozess fortwährend neue Themen oder Fragen auftauchten, während sich alte Fragen als wenig ergiebig erwiesen. Die Fragen kreisten dabei im Wesentlichen um die praktische Einkaufsroutine, die Bedeutung von Produktqualität, die Wahrnehmung des Stadtteils und das Verhältnis zum Händler des entsprechenden Geschäftes (s. Tab. 1). Möglichst offene Fragen sollten den interviewten Kunden die Möglichkeit geben, ihr eigenes Deutungssystem zu entwickeln. Daher wurde die Befragungstechnik eng angelehnt an die Methode des narrativen Interviews. Dabei wurden prinzipiell die von Breckner (1994) und Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997) erstellten Kriterien für die Praxis des narrativen Interviews beachtet, die Leitfadenerstellung wurde an Witzel (1985) und Mason (1996) angelehnt, und für die humangeographischen Besonderheiten in der Adaption der Interviewmethoden, der Erhebung und Darstellung wurden Cloke u.a. (2004), Reuber/ Pfaffenbach (2005) und Meier Kruker/Rauh (2005) zugrunde gelegt. Bei den ausführlichen Interviews wurde den Gesprächspartnern von vornherein vermittelt, dass sie sich mit ihren Antworten Zeit lassen und über alles sprechen könnten, was ihnen wichtig wäre, ohne von mir unterbrochen zu werden. Nach einer Aufwärmphase führte dies bei allen Gesprächspartnern zu langen und ausführlichen Erzählungen. Während dieser Erzählungen machte ich mir Notizen und versuchte, Unklarheiten am Ende des Interviews zu klären. „Warum“-Fragen, deren Beantwortung Argumentationsstrukturen provozieren, wurden so gut als möglich vermieden. Eine solche Frage wäre zum Beispiel „Warum kaufen Sie bei XY ein?“. Fragen dieser Art führen dazu, dass der Interviewte ad hoc Gründe erfindet, die sein eigenes Handeln im Nachhinein rechtfertigen. Dadurch entstehen Argu-
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mentationsstrukturen, die vor allem auf den Erwartungshorizont des Interviewers ausgerichtet sind. Besser sind daher „Wie“-Fragen, da sie meist einen Erzählprozess in Gang setzen. Ein Beispiel wäre die Frage: „Wie kam es dazu, dass Sie zum ersten Mal bei XY eingekauft haben?“ Die Beantwortung dieser Frage lässt sich nur anhand einer Geschichte verdeutlichen. Diese Aufforderung zur Erzählung einer persönlichen Geschichte gibt dem Interviewten die Möglichkeit, seine Erfahrungen und Handlungen innerhalb eines selbstgewählten Rahmens selbständig zu rekonstruieren und zu gewichten. Während detailliertes Nachfragen den Interviewpartner in der Regel verunsichert und unter Argumentationsdruck setzt, soll die an das narrative Interview angelehnte Befragungstechnik dazu anregen, eine „Geschichte“ zu erzählen. In solchen Geschichten kommen Detailinformationen eher zu Tage und die Konsistenz von Informationen ist im Kontext einer „Geschichte“ besser zu beurteilen. Die Geschichte liefert erst den notwendigen Rahmen, innerhalb dessen einzelne Informationen angemessen bewertet werden können (Breckner 1994, 201). Gerade für die Interpretation der oftmals geringer Reflexivität unterliegenden Routinen des Alltags sind diese Erzählungskontexte von großem Nutzen, da sie alltägliche Sinnzusammenhänge rekonstruieren, die einer phänomenologischen Herangehensweise verborgen geblieben wären. Ein auffallendes Merkmal in den meisten Interviews war, dass die Gesprächspartner bereits zu Beginn ihrer Erzählungen deutliche inhaltliche Schwerpunkte setzten, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit der thematischen Vorgabe aufwiesen. Einige dieser Schwerpunkte zogen sich wie „Leitthemen“ durch den gesamten Verlauf des Interviews. Es waren genau diese Leitthemen, die dann einen wichtigen Schlüssel für die Interpretation bildeten. Da es zunächst oft so schien, als hätten diese Leitthemen mit dem ursprünglich intendierten Gesprächsgegenstand wenig zu tun, fiel es mir als Interviewer anfangs schwer, den Erzählfluss nicht zu stoppen und in eine andere Richtung lenken. Ich lernte mit der Zeit durch Zuhören und gegebenenfalls aktives Nachfragen, diesen Leitthemen auf den Grund zu gehen. Ein solches Leitthema war zum Beispiel eine „Buslinie“: Ein älterer Herr wohnt nur unweit des kleinen Lebensmittelladens, in dem er Stammkunde ist. Während des Interviews erwähnte er immer wieder die neue Buslinie, die nun erstmals sein Wohnviertel mit der Stuttgarter Innenstadt verbindet. Er erklärte mir den Verlauf dieser Buslinie und nannte mir die Namen von Haltestellen. Im Laufe des Gesprächs zeigte sich dann, dass die Angst vor
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einem Mobilitätsverlust aus gesundheitlichen Gründen den Rahmen für seine gesamte Argumentation bildete. In der Erzählung werden die Buslinie und das Lebensmittelgeschäft zu den zwei zentralen Einrichtungen, die dem Interviewten seines Erachtens ein selbständiges Leben ermöglichen. Der Wegfall einer dieser beiden Einrichtungen wäre das Ende, meinte er, dann müsse er ins Heim. Daher unterstütze er auch den Laden, indem er auch Sachen, die er anderswo günstiger bekäme, dort einkaufe, um seine Nahversorgungsmöglichkeit für die Zukunft zu erhalten.
Ich bemühte mich daher während der Interviews bereits auf eventuelle Leitthemen zu achten, die einen Sinnzusammenhang herstellen könnten, innerhalb dessen die Befragten ihr Handeln verorten. c) Händlerinter views und Teilnehmende Beobachtung Ein weiteres Befragungselement bildeten die Gespräche mit den Händlern. Die Gespräche fanden in der Regel im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung statt. Die 20 im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden Geschäfte (s. Kap. 2) wurden mehrfach aufgesucht mit der Absicht, die sich dort abspielenden Handlungen zu beobachten. Anders als in einem Supermarkt, einem Café oder auf einem öffentlichen Platz ist es in einem solchen Setting nicht möglich, die Beobachterrolle verdeckt zu halten, ganz abgesehen von den forschungsethischen Bedenken gegenüber der verdeckten Teilnehmenden Beobachtung (s. Hopf 2004). Erfahrungsgemäß dauerte es nicht länger als fünf bis zehn Minuten, bis der Händler, zum Beispiel durch die Frage, ob man etwas Bestimmtes suche, einen „verdeckten“ Feldaufenthalt beendete. Daraufhin begann ich mit dem Händler ein Gespräch, in dessen Verlauf ich Absicht und Zweck meines Aufenthaltes darlegte. Als Gesprächseinstieg bewährte sich vor allem die allgemeine Erkundigung nach dem Geschäftshergang. Bei einigen Händlern durfte ich mich dann auch über längere Zeit im Laden aufhalten. Die meisten dieser Ladenaufenthalte dauerten ein bis zwei Stunden. Meistens verliefen sie so, dass sich in den Pausen, in denen keine Kunden anwesend waren, zwischen mir und dem Händler längere Gespräche entwickelten. Die nachträgliche Protokollierung dieser Gespräche bildet eine wichtige Grundlage für das Verständnis des Händlerberufes und der damit verbundenen Praktiken, Kenntnisse und Fähigkeiten. In einer letzten Phase der Feldforschung wurden noch gezielt einige leitfadengestützte Händlerinterviews geführt (s. Tab. 2), von denen sieben auf Band aufgenommen werden konnten. Sie dauerten von einigen Minuten bis zu über einer Stunde.
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Die Beobachtung der Praktiken von Händlern und Kunden geschah während der beschriebenen Geschäftsaufenthalte. Dabei wurden alle Verhaltensweisen im Geschäft protokolliert. Feldnotizen bilden bei der Teilnehmenden Beobachtung die zentrale Form der Datenerhebung. Gewöhnlich sollten Feldnotizen bereits während des Feldaufenthaltes oder aber unmittelbar danach angefertigt werden. Typischerweise konzentrieren sich die Feldnotizen in der Anfangsphase des Forschungsprozesses darauf, was jemand tut. Erst nachdem die Abläufe geläufig sind beginnt die Phase, in der verstärkt darauf geachtet wird, wie etwas getan wird (vgl. Hammersley/Atkinsosn 1983, 151). Allgemein wurden Feldnotizen mit der Uhrzeit, dem Datum und dem Wochentag versehen, sowie dem Ort des Geschehens und den beobachteten Personen. Inhaltlich wurde vorrangig darauf geachtet Tätigkeiten, Verhalten sowie Gespräche mit ihren typischen Begrifflichkeiten, dem „situierten“ Vokabular, festzuhalten (vgl. Hammersely/Atkinson 1983, 152ff.). Insbesondere der Kontakt zwischen Kunden und Händler, Fragen zu Produkten, Gespräche der Kunden untereinander oder das Mitbringen von Kindern und deren Verhalten wurden gezielt beobachtet. Bei Kunden, die länger stehen blieben und mit dem Händler ein Gespräch begannen, nahm ich je nach Situation an dem Gespräch teil und wurde so zum aktiven „teilnehmenden“ Beobachter, der selbst Teil der Wirklichkeit ist, die er beobachtet. Während solcher Geschäftsaufenthalte wurde das Verhalten von ca. 500 Kunden beobachtet und dokumentiert. Die Feldforschung fand, unterbrochen durch Auswertungsphasen, von August 2005 bis Juni 2006 statt.
Aufbereitung des Datenmaterials und Auswer tung Der Auswertung zugrunde gelegt wurde das in Textform aufbereitete Datenmaterial. Die Protokolle der Teilnehmenden Beobachtung, in Form von Feldnotizen in einem Feldtagebuch festgehalten, wurden in einem zweiten Schritt ausformuliert. Aufgenommene Interviews wurden transkribiert. Aufgrund des thematisch konzentrierten Erkenntnisinteresses wurde entgegen den sonst üblichen Transkriptionsweisen für narrative Interviews mehr Wert auf die inhaltliche Aussage und die Lesbarkeit gelegt als auf die Authentizität der sprachlichen Besonderheiten (vgl. Reuber/Pfaffenbach 2005, 156). Daher wurden die Texte behutsam geglättet, Dialekt und grammatische Unregelmäßigkeiten bereinigt, soweit der Aussagesinn davon nicht betroffen wurde. Gesprächsprotokolle wurden in der Regel in indirekter Rede wiedergege-
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ben, wobei für besonders markante Formulierungen versucht wurde, die direkte Rede so weit wie möglich beizubehalten. Die Auswertung des aufbereiteten Datenmaterials erfolgte in drei Schritten. Zunächst wurde in Anlehnung an die Auswertungsverfahren der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1998) ein „offenes Codieren“ von einem Teil des Materials vorgenommen. Wiederkehrende Motive in den Interviews oder Handlungsformen wurden zu Sinneinheiten verdichtet (z.B. „Charakterisierung des Händlers“). In einem zweiten Schritt wurden diese Codes zu größeren Sinnzusammenhängen zusammengefasst, woraus sich Kategorien ergaben, die bereits ein erstes theoretisches Grundgerüst bildeten (z.B. „Vertrauen“). Das restliche Material wurde dann auf der Grundlage dieser Kategorien im Sinne der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2000) bearbeitet. Zum Ende des Auswertungsprozesses wurde das so entstandene Kategoriensystem in Bezug gesetzt zu den von anderen Autoren in ähnlichen Themenzusammenhängen entwickelten Codes und teilweise überarbeitet (v.a. Miller 2001; Jackson u.a. 2006), um eine stärkere Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Für die Codierung wurde das Softwareprogramm ATLAS.ti 5.0 verwendet.
Qualität des Datenmaterials Misst man die qualitative Forschung an den Maßstäben quantitativer Verfahren, dann sind die geringen Fallzahlen qualitativer Forschung generell ein Problem. Die qualitative Forschung leitet ihre Gültigkeit aber nicht aus der Frage nach Repräsentativität her, sondern aus grundlegenden erkenntnistheoretischen Überlegungen. Es gelten hier andere Regeln und Gütekriterien. Generell wird nicht danach gefragt, wie viele Menschen in einem Punkt die gleiche Meinung äußern oder ein ähnliches Verhalten an den Tag legen. Von Interesse ist vielmehr, dass ein Mensch genau so gehandelt hat und sich genau so zu seinem Handeln geäußert hat. In der Abstraktion dieser Handlungen und Äußerungen, der Rekonstruktion ihrer Kontexte und Bezüge finden sich dann die Mechanismen und Logiken, die von allgemeinem Interesse sind. Dieser Abstraktionsprozess geht Hand in Hand mit der Erkenntnisgewinnung während des Forschungsprozesses. In der Grounded Theory wird von einer „theoretischen Sättigung“ gesprochen, die den Forschungsprozess beendet. Diese ist erreicht, wenn in Bezug auf das Erkenntnisinteresse während der Feldforschung keine wesentlich neuen Aspekte mehr auftauchen, die das im Forschungsprozess entwickelte Theoriegerüst und Verständnis verändern. Innerhalb des gezogenen Rahmens wurde diese
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theoretische Sättigung erreicht. Eine Erweiterung des Forschungsgebietes oder der untersuchten Branchen hätte zwar den Forschungsprozess verlängert, aber nicht notwendig den theoretischen Schlussfolgerungen neue Aspekte hinzugefügt. Der Vergleich mit ähnlich gelagerten Studien kann aber als ein wichtiges Kriterium für die Güte und Plausibilität der eigenen Schlussfolgerungen gesehen werden, auch wenn die Gefahr besteht, dass dieses Vorwissen die eigene Wahrnehmung einschränkt und die Richtung der Interpretationen vorstrukturiert. Ein wesentlicher Teil der zum Vergleich herangezogenen Literatur wurde daher erst nach der Feldforschungsphase bearbeitet. Abschließend sei hier angemerkt, dass die Erforschung des banalen, normalen und unspektakulären Alltags neben der konzeptionellen Herausforderung noch einen großen Vorteil beinhaltet. Nahezu alle Personen, mit denen ich über meine Forschung gesprochen habe, schilderten dabei ihre eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Praktiken. Wenn ich erste Interpretationsversuche erläuterte, entwickelten sich häufig längere Diskussionen. Diese Diskussionen waren sehr hilfreich im Aufdecken vernachlässigter Aspekte oder bei der Überprüfung vielleicht voreilig gezogener theoretischer Schlussfolgerungen. Die Arbeit unterlag so von Anfang bis Ende der kritischen Begutachtung.
Darstellungsform Aus Gründen der thematischen Konzentration erfolgt die Darstellung des Datenmaterials innerhalb des Fließtextes. Aus den Interviews werden die entsprechenden thematisch relevanten Passagen zitiert. Auf die Darstellung der Interviews in ihrem Gesamtzusammenhang wurde hier verzichtet. Dies würde den Erzählungen der Einzelpersonen zwar mehr Gewicht verleihen, aber die Darstellung der Interaktion zwischen Händlern und Kunden und deren Alltagsverhalten zu sehr in den Hintergrund drängen. Da aber die längeren Interviews viele interessante Informationen enthalten und beobachtete Sachverhalte dort gut auf den Punkt gebracht werden, wird teilweise ausführlich aus ihnen zitiert. Auf die meisten Interviews wird mehrfach zurückgegriffen. Merkmale der interviewten Personen (z.B. Alter oder Geschlecht) werden, soweit es einem besseren Verständnis dient, im Text genannt. Alle Angaben zu den Personen sind so weit anonymisiert, dass eine Identifizierung derselben ausgeschlossen werden kann. In Kapitel 2 findet sich eine Auflistung der untersuchten Geschäfte nach der nationalen Herkunft ihrer Inhaber. In der folgenden Untersu-
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chung wird die nationale Herkunft, soweit nicht inhaltlich von Bedeutung, aber nicht mehr genannt werden. Dies geschieht nicht, um die nationale Herkunft im dargestellten Einzelfall zu verschleiern, sondern verweist auf die Alltäglichkeit im Umgang mit „dem Fremden“, so wie sie vorgefunden wurde.
Kapitelübersicht Die Darstellung und Interpretation der Mikrologik des Alltags wird in drei Schritten vollzogen. Dabei werden jeweils unterschiedliche Ebenen zur Kontextualisierung verwendet. Kapitel 2 widmet sich dem Alltag und den Kontexten der Händler. In Kapitel 3 wird das Gleiche für die Kunden nachvollzogen. Beide Seiten werden in verschiedene Forschungskontexte eingeordnet. Die Händler werden in den Kontext der immigrant-business-Forschung gestellt und ihre Geschäfte in den der Entwicklungen im Lebensmitteleinzelhandel. Die Kunden werden zu den Theorien, Konzepten und empirischen Erkenntnissen der sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf Konsumenten und Konsumverhalten in Bezug gesetzt. In beiden Kapiteln wird Wert gelegt auf die individuellen Kontexte, innerhalb derer die Praktiken des Einkaufens bzw. des Händlerberufs ausgeübt werden. Besonderes Augenmerk liegt auf den alltäglichen Verpflichtungen und Anforderungen, die in routinisierter Form mit diesen Praktiken in Einklang gebracht werden müssen. In Kapitel 4 werden die bis dahin im Wesentlichen getrennt behandelten Welten der Konsumenten und Händler zusammengeführt. Der Fokus liegt auf der Betrachtung, auf welchen Faktoren die HändlerKunde-Beziehung gründet und wie sich Händler und Kunden gegenseitig behandeln, sich über dieses Behandeln als Händler und Kunden wahrnehmen bzw. konzipieren. Anhand verschiedener Beispiele wird gezeigt werden, wie diese Rollen nicht nur festgeschriebenen Skripten folgen, sondern auch unter den Bedingungen von Kopräsenz ausgehandelt werden müssen. In Kapitel 5 wird dann eruiert, welche Schlüsse daraus für die Frage nach der Alltäglichkeit in multikulturellen Stadtgesellschaften gezogen werden können. In allen Kapiteln wird ein Bezug zu theoretischen Konzepten hergestellt, welche einer weiterführenden Erklärung der dargestellten Sachverhalte dienen und diese in einen größeren Rahmen stellen. Auf die herangezogenen Theorien und ihre Autoren wird in den jeweiligen Kapiteln näher eingegangen.
2. Kontexte und Alltag kleiner Lebensmittelgeschäfte im Quar tier 2.1 Strukturelle Ausrichtung und Bedeutung kleiner Lebensmittelgeschäfte „Die 90er waren eine Superzeit“, erzählte mir Herr O. Zeitweise hätten drei Familien in seinem Geschäft gearbeitet, und es hätte für alle gut gereicht. Expandiert habe er damals auch. In der Hochphase betrieb er vier Läden. Heute glaubt er, dass sein starkes Expansionsbestreben ein Fehler gewesen sei. Am Ende ist ihm nur sein ursprüngliches Geschäft geblieben, das er mit seiner Frau alleine betreibt. Herr O. ist ein Mann in den Vierzigern. Sein Geschäft ist ein kleiner Lebensmittelladen, in dem hauptsächlich Obst und Gemüse verkauft werden. Außerdem bietet er verschiedene Dosenwaren und Trockenwaren, Fladenbrot, Oliven und Schafskäse, Süßigkeiten und Getränke an. Seine Frau bereitet kleine, mit Gemüse gefüllte Teigtaschen zu, die von den Kunden sehr geschätzt werden. Sobald es die Temperaturen zulassen, wird Herr O. wieder Obstkisten vor das Geschäft stellen, die auch dem Vorbeifahrenden ins Auge fallen. Es ist eines dieser Geschäfte, die umgangssprachlich vielerorts als „Gemüsetürke“ bezeichnet werden, und tatsächlich ist Herr O. als junger Mann aus der Türkei nach Deutschland migriert. Herr O. ist wie viele seiner Kollegen, die ein kleines Lebensmittelgeschäft in Stuttgart betreiben, selbständiger Unternehmer. Auch den anderen gehe es nicht mehr so gut wie in den 1990er Jahren, meint er. Die kleinen Geschäfte hätten es derzeit allgemein schwer. Woran man das merke? Herr O. nennt mir als Beispiel den Großmarkt. Fast jeden Morgen fährt Herr O. zum Großmarkt, wo er vor allem die frische Ware, Obst und Gemüse, einkauft, aber auch Brot. Früher musste er um 4 Uhr morgens, wenn der Markt seine Tore öffnet, dort sein, um gute Ware zu bekommen. Allein einen Parkplatz zu finden
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konnte bis zu einer Stunde Zeit in Anspruch nehmen. Wertvolle Zeit, in der andere Händler die besten Waren und Angebote wegkauften. Heute hingegen reiche es locker, wenn er um 7 Uhr da sei. Herrn O.’s größte Sorge ist, dass der Großmarkt pleite gehen könnte. Als drittgrößter Warenumschlagplatz Deutschlands für Frischeprodukte mit ca. 4.000 Kunden (2005) ist der Großmarkt in Stuttgart-Wangen zwar von diesem Schicksal noch entfernt, doch die Krisensymptome sind unübersehbar. Der Stammgroßhändler von Herrn O. schätzt, dass er derzeit 120 Kunden am Tag hat. Das seien rund 20% weniger als vor drei Jahren. „Jetzt gibt es zwar weniger Konkurrenz, aber dafür hat es früher auch mehr Spaß gemacht“, kommentiert Herr O. den Wandel und denkt mit Wehmut an die Zeit zurück, als der Großmarkt morgens noch voll mit Händlern war. Herr A., ebenfalls türkischer Abstammung und Besitzer eines kleinen Lebensmittelgeschäftes, sieht das ähnlich. Er sieht auch sein eigenes Geschäft in einer ernsten Krise und fürchtet, dass es die umsatzschwachen Monate des nächsten Winters nicht überstehen könnte. Der Winter ist eine Zeit, in der die meisten kleinen Gemüse- und Obsthändler von ihren Ersparnissen leben müssen. In dieser Jahreszeit ist nicht nur das Angebot an frischen Waren sehr eingeschränkt, sondern auch der Appetit auf Obst und leichte Gemüsegerichte geht deutlich zurück. Ich erinnere mich an ein Gespräch vor einigen Jahren, in dem die Angestellte eines Obstkistenlieferanten über einen verregneten und viel zu kalten Sommer klagte. Bei diesem Wetter würden die Menschen deutlich weniger Nektarinen, Pfirsiche und Ähnliches kaufen, also würden auch weniger Kisten benötigt, was für ihr Geschäft ein ernsthaftes Problem sei. Aber, sagt mir Herr A. resigniert, es wäre überall in Deutschland so, dass es schlechter würde. Alle großen Firmen würden Mitarbeiter entlassen. In Stuttgart wäre man abhängig von Daimler und Bosch und Bosch wieder von Daimler als Zulieferbetrieb von Zündkerzen und Ähnlichem. Und wenn nun der eine Leute entlasse, dann entlassen die anderen auch und was ist dann? Dann stehen die Leute auf der Straße. Schlechter geworden sei vor allem alles durch die Einführung des Euro, eine Einschätzung, die viele andere Händler mit Herrn A. teilen. Ein anderer Händler mit einem kurdisch-türkischen Migrationshintergrund macht dies konkret am veränderten Verhalten seiner Kunden fest. Es sei früher undenkbar gewesen, dass ein Kunde nicht genug Geld dabei gehabt habe. Heute, vor allem seit der Euroeinführung, käme es regelmäßig vor, dass Kunden an der Kasse bemerkten, dass sie nicht genug Geld hätten und auf einen Teil der Waren verzichten müssten.
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Vor dem Hintergrund der Unberechenbarkeit makroökonomischer Entwicklungen ist es ein riskantes Unterfangen, als selbständiger Unternehmer ein kleines Lebensmittelgeschäft zu führen. Doch nicht nur die konjunkturellen Schwankungen sind es, auf welche die kleinen Unternehmen besonders sensibel reagieren. Eine der langfristigen Entwicklungen in der Lebensmittelbranche ist der konstante Rückgang kleiner Geschäfte. Die Gesamtzahl der Geschäfte des Lebensmitteleinzelhandels ist in Deutschland im Zeitraum von 1995 bis 2005 nach Angaben von Marktforschungsinstituten um schätzungsweise 20.000 auf gut 57.000 Geschäfte gesunken. Dieser enorme Rückgang betrifft fast ausschließlich kleine Geschäfte, die unter 100m2 Verkaufsfläche haben, mit knapp 10.000 endgültigen Betriebsschließungen allein in den Jahren 2000 bis 2006. Auch wenn die kleinen Geschäfte nach wie vor mit 38% einen großen Anteil an der Gesamtzahl der Betriebe des Lebensmitteleinzelhandels haben, so ist dieser Anteil doch stark zurückgegangen (2000 bis 2006 um knapp 7%) und ihr Marktanteil beträgt nur noch magere 2,8% (2006; zum Vergleich: 2000: 5,3%) am Gesamtumsatz der Branche (AC Nielsen GmbH 2001und 2006; vgl. Kreimer/Gerling 2006). Typische Vertreter der Kategorie „kleine Lebensmittelgeschäfte“1 sind Obst- und Gemüsegeschäfte wie das von Herrn O., die sich neben dem Frische-Schwerpunkt um ein eher breites als tiefes Sortiment bemühen mit einer Auswahl an Dosen- und Trockenwaren aus Nah- und Fernost sowie Begleitsortimenten aus den Bereichen Drogerieartikel, Zeitungen und Zeitschriften. Trotz Schwerpunkten in der Sortimentsstruktur werden diese Geschäfte in ihrem Bestreben, ein grundsätzlich breites Angebot anzubieten, hier als Generalisten bezeichnet. Ebenso zählen zu den „Kleinen“ eine Anzahl von Spezialisten, deren Sortiment sich auf bestimmte Produktsorten, Produktionsweisen oder Importregionen konzentriert. Vor allem die Spezialisierung auf Letzteres ist in multikulturellen Gesellschaften häufig anzutreffen und in Deutschland zum Beispiel durch italienische Spezialitätengeschäfte und Asiamärkte vertreten. Derzeit wird in der deutschsprachigen geographischen Forschung zwischen sechs Betriebsformen im Lebensmitteleinzelhandel unterschieden (Heinritz u.a. 2003). Als Abgrenzungskriterien dienen neben 1 | Üblicherweise werden Geschäfte des Nahrungsmittelhandwerkes wie Bäcker
und Metzger sowie Kioske, reine Getränkehändler und Tankstellenshops in der Statistik extra erfasst und nicht zu der Kategorie „kleine Lebensmittelgeschäfte“ gezählt.
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Tab. 3: Betriebsformen im Lebensmitteleinzelhandel (nach Angaben von Heinritz u.a. 2003, eigene Darstellung) LebensmittelSortimentbreite
Kiosk
Laden
SB-Markt
Supermarkt
Discounter
hoch mittel niedrig
Spezialgeschäft
Sortimen ttiefe Verkaufsfläche Anteil Selbstbedienung Filialisierungsgrad Dienstleistungsorientierung Preisn iveau
der Verkaufsfläche die Form der Andienung, die Sortimentbreite und -tiefe (vgl. Tab. 3). Im Stuttgarter Süden können von den insgesamt 28 Lebensmittelgeschäften – von Kiosken, Bäckereien, Metzgereien und Getränkehändlern abgesehen – 20 den Kategorien LM-Laden, LM-SB-Markt oder LM-Spezialgeschäft zugeordnet werden und gleichzeitig aufgrund ihrer geringen Verkaufsfläche (< 100m2) in der Terminologie des BVL (Bundesverband des Deutschen Lebensmitteleinzelhandels e.V.) als „kleine Geschäfte“ bezeichnet werden. 10 von diesen sind als Spezialisten anzusehen. Immerhin noch 10 kleine Lebensmittelgeschäfte versuchen also, neben Obst und Gemüse ein verhältnismäßig breites Sortiment an Lebensmitteln anzubieten und befinden sich damit im direkten Konkurrenzkampf mit Supermärkten und Discountern, die im Stadtbezirk mit 3 bzw. 5 Standorten vertreten sind (s. Abb.6). Typisches Merkmal kleiner Lebensmittelgeschäfte ist die berufliche Selbständigkeit ihrer Betreiber. In der Regel sind Geschäfte mit unter 100m2 Verkaufsfläche keine Filialbetriebe. Tatsächlich werden in Stuttgart-Süd alle kleinen Geschäfte von Selbständigen geführt. Der Großteil von diesen weist einen Migrationshintergrund auf (17 von 20). Die Dominanz von Händlern mit Migrationshintergrund im kleinen eigentümergeführten Lebensmitteleinzelhandel ist im Stuttgarter Süden überdurchschnittlich hoch verglichen mit den im Jahre 2000 landesweit (Baden-Württemberg) erhobenen 12% der im Lebensmitteleinzelhandel tätigen Kleingewerbetreibenden ausländischer Nationalität (Leicht u.a. 2001). Von den 10 Obst- und Gemüsegeschäften mit der Tendenz zum Generalisten werden 9 von Migranten geführt. Die Eigentümer stammen mehrheitlich aus der Türkei (3) und aus den kurdischen Gebieten der
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Abb. 6: Lebensmittel einzelhandel in Stuttgart-Süd (ohne Nahrungsmittel handwerk und Getränkemärkte)
LM-Laden / SB-Markt LM-Spezialgeschäft Supermarkt Discounter Tankstelle Mischbetrieb Mittagstisch
Entwurf: Everts Zeichnung: Wiedemeyer Quelle: eigene Erhebungen Stand: Juni 2006 Kartengrundlage: Stadtmessungsamt der Stadt Stuttgart 2006
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Türkei und des Irak (3). Jeweils ein Händler stammt aus Griechenland und einer aus Italien, ein Ehepaar migrierte aus Spanien. Bis auf zwei sind alle diese Händler vor 1990 nach Deutschland immigriert und sechs von ihnen hatten zum Zeitpunkt der Befragung ihr Geschäft seit über 10 Jahren. Einige Geschäfte versuchen als Mischbetriebe am Markt zu bestehen. So werden ein marokkanisches und ein ghanaisches Geschäft in Kombination mit einem Internetcafé betrieben, ein Händler irakischer Herkunft bietet im Wesentlichen Haushaltswaren an und hat erst kürzlich sein Sortiment um Frischeprodukte erweitert. Spezialgeschäfte haben sich in der Regel auf die „landestypischen“ Produkte einer bestimmten Auslandsregion spezialisiert. Die Aussagen der Händler suggerieren ein unterschiedliches Erfolgsniveau dieser Strategie. Stark umkämpft ist zum Beipiel der „italienische“ Spezialitätensektor, der allein im Stadtbezirk von vier Spezialisten und einem LM-Laden abgedeckt wird. Spezialitäten aus Fernost werden von einem thailändisch und einem japanisch geführten Geschäft angeboten, während ein anderes sich vor allem auf Wurst- und Fleischwaren des ehemaligen Jugoslawien spezialisiert hat. Vier der Spezialgeschäfte bieten auch einen Mittagstisch an, der nach Aussage der Händler einen nicht unwesentlichen Teil der Einnahmen ausmacht. Obwohl alle vier Geschäfte sich auf „ausländische“ Spezialitäten beziehen, werden zwei von Personen geführt, die keinerlei Migrationshintergrund aufweisen. Die Inhaberinnen dieser Geschäfte, die französische bzw. italienische Spezialitäten anbieten, zeigen sich von allen befragten Händlern als einzige aufrichtig zufrieden hinsichtlich ihres Umsatzes und der Geschäftsentwicklung. Die zehn im eigentlichen Sinne als kleine Lebensmittelgeschäfte zu bezeichnenden LM-Läden bzw. LM-SB-Märkte scheinen im Vergleich zu einigen Spezialisten einen wesentlichen schwereren Stand zu haben. Nach den Angaben der Händler stehen zwei dieser Geschäfte nahe vor dem Bankrott, während drei Geschäfte im Vergleich zu früheren Umsätzen seit einigen Jahren empfindliche Einbußen hinnehmen mussten. Zwei Geschäfte wurden erst vor kurzem (< 2 Jahre) übernommen und haben nach Aussagen ihrer Betreiber einige Mühe, sich zu etablieren. Der migrantengeführte Lebensmitteleinzelhandel lässt sich aber nicht nur hinsichtlich der Sortimentsgestaltung differenzieren, sondern auch hinsichtlich der Kundenansprache. So identifizierte Fischer (2001, 80f.) in einer Studie über türkischstämmige Unternehmer im Stadtteil Duisburg-Marxloh für kommerzielle Einrichtungen drei verschiedene Typen der Kundenansprache.
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Erstens gebe es Geschäfte, deren Präsentation und Gestaltung gängigen Standards in Deutschland entsprechen. Diese richteten sich vorwiegend an einen allgemeinen Kundenkreis. Die Schaufenstertexte dieser Läden und andere Beschriftungen sind überwiegend in deutscher Sprache gehalten und die Herkunft des Betreibers spielt eine nachgeordnete Rolle. Dekoration und Gestaltung dieser Geschäfte lassen keine Rückschlüsse auf einen eventuellen Migrationshintergrund des Unternehmers zu und die Produkte und der Service sollen grundsätzlich alle Bevölkerungsgruppen ansprechen. Auf eine Ethnische Nische sind nach Fischer, zweitens, diejenigen Geschäfte ausgerichtet, deren Beschriftung von Laden und Waren in der Herkunftssprache sind. Die Außendarstellung dieser Geschäfte sei oftmals vernachlässigt, da die Kundschaft häufig über Mund-zu-MundPropaganda gewonnen werde. Importartikel bilden hier einen wesentlichen Teil des Sortimentes. Ein hochqualitatives Angebot hingegen, das um die positive Herausstellung der Herkunftskultur der angebotenen Produkte bemüht ist, richtet sich, drittens, an Kunden, die sich für das Exotische interessieren. Nach Fischer handelt es sich hierbei überwiegend um ein „deutsches“ Publikum. Betrachtet man die kleinen Lebensmittelgeschäfte im Stuttgarter Süden nach dieser Einteilung, lässt sich eine Kongruenz von Betriebsform und Kundenansprache feststellen. Die zuvor als Generalisten bezeichneten Geschäfte sind überwiegend auf einen allgemeinen Kundenkreis ausgerichtet. Die Spezialisten teilen sich in Geschäfte ethnischer und exotischer Ausrichtung auf. Das Sortiment ersterer besteht zu einem Großteil aus Importwaren und richtet sich nach Aussage der Händler speziell an Kunden aus den entsprechenden Herkunftsregionen. Hierzu zählen sowohl die beiden asiatischen Geschäfte als auch das marokkanisch und das ghanaisch geführte Geschäft sowie das von einem serbokroatischen Händlerehepaar geführte Geschäft. Die „Exoten“ richten sich mit ihren meist hochpreisigen Spezialitäten überwiegend an ein gutverdienendes Publikum. Dazu sind vor allem die italienisch geführten Spezialitätengeschäfte und die beiden Läden der deutschen Händlerinnen zu zählen. Die in der Außendarstellung intendierte Kundenansprache und das tatsächliche Publikum müssen aber nicht konform gehen. Ein „spanischer“ Generalist hat beispielsweise einen auffallend hohen Anteil spanisch-sprechender Kunden. Auch in den italienischen Geschäften gibt es eine Stammkundschaft mit italienischem Hintergrund. Andererseits haben die Spezialisten für fernöstliche Importwaren einen relativ
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ausgewogenen Anteil „ethnischer“ und „exotisch-interessierter“ Kundschaft. Auch rein auf ethnische Nischen ausgerichtete Spezialisten wie das marokkanische oder das serbokroatische Geschäft gaben an, neben ihrer wichtigsten Zielgruppe einen steigenden Anteil „deutscher“ Kundschaft zu bemerken. Lediglich die Obst- und Gemüsegeschäfte der Händler türkischer oder kurdischer Herkunft haben keinen auffallenden Anteil „ethnischer“ Kundschaft. Aufgrund des Preisniveaus, der Menge und Art der gekauften Produkte, des Auftretens der Kundschaft und der Befragung der Händler ließ sich für die meisten Geschäfte eine grobe Einteilung vornehmen, welchem sozioökonomischen und kulturellen Hintergrund ihre Kundschaft überwiegend angehört. Anzumerken ist grundsätzlich, dass diejenigen Kunden, die Geschäfte aufgrund ihres „ethnisch-kulturellen“ Hintergrundes aufsuchen, aus allen Gesellschaftsschichten stammen. Die „deutsche“ Kundschaft der Spezialisten lässt sich hinsichtlich Auftreten, Kleidung und eingekauften Mengen mehrheitlich der Mittelschicht zuordnen, während für die Generalisten grundsätzlich keine bestimmten Gruppenmerkmale vorherrschend sind, auch wenn die Kundschaft einiger Geschäfte das sozioökonomische Muster in der Nachbarschaft widerspiegelt. Diese Geschäfte sind es auch, die Stadtplaner, Wissenschaftler und Lokalpolitiker im Sinn haben, wenn sie im migrantengeführten Lebensmitteleinzelhandel eine Reinkarnation des „Tante-Emma-Ladens“ sehen (vgl. Schuleri-Hartje u.a. 2005, 78f.). Der Niedergang des Tante-Emma-Ladens, des kleinen Lebensmittelgeschäftes „an der Ecke“, in fußläufiger Entfernung zum Wohnort, fand in Westdeutschland vor allem in den 1960er und 1970er Jahren statt. Meistens handelte es sich bei diesen Läden um sogenannte Bedienungsgeschäfte, deren Anzahl im Zeitraum von 1966 bis 1979 von über 91.000 auf unter 10.000 sank (Ditt 2003, 334). Die Konsequenzen dieses Ladensterbens werden von der stadtgeographischen Forschung kritisch beurteilt. Auf der einen Seite werden ökologische Bedenken angemeldet. Standortverlagerungen haben einen Anstieg des Individualverkehrs mit sich gebracht, was eine weitere Belastung der Verkehrsinfrastruktur sowie der Umwelt durch Straßenneubau und Luftverschmutzung nach sich zieht. Auf der anderen Seite wird auf Gemeinde- und Stadtteilebene eine Gefährdung der flächendeckenden Nahversorgung konstatiert. Zusätzlich würden die Stadtteile durch die Schließung kleiner selbständiger Unternehmen eine lokalpolitische Trägerschicht verlieren. Im Stadtteil verbliebene Unternehmen wären häufig Filial- oder Zweigbetriebe, auf deren Verbleib und
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Entwicklung von lokalen Akteuren kaum Einf luss ausgeübt werden könne. Damit wäre man aus stadtteilökonomischer Sicht zunehmend fremdbestimmt (Heinritz u.a. 2003, 44f.; Junker/Kühn 2006). Es ist daher nicht verwunderlich, dass „Tante Emmas“ Rückkehr in der Gestalt von „Onkel Ali“ in den 1990er Jahren begrüßt wurde (Schmidt 2000). Die kleinen eigentümergeführten Lebensmittelgeschäfte wurden auch als ein Zeichen für die ökonomische Eigeninitiative und Integrationsbereitschaft der ausländischen und vor allem türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland gesehen (vgl. Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ 2001, 225ff.). Doch Experten schätzen die Zukunftschancen für den kleinen, migrantengeführten Lebensmitteleinzelhandel eher pessimistisch ein. Unter globalisierten Marktbedingungen sei dieser genauso wie andere Branchen der Logik des „Wachsens oder Weichens“ unterstellt. Der Einzelhandel im Quartier würde sich nicht mehr rechnen und sei funktional an seine Grenzen gestoßen. Für diese Form des Einzelhandels, auch den „türkischen“, gebe es daher keine Zukunft. Wenn überhaupt, dann habe dieser höchstens noch eine soziale Funktion, aber keine wirtschaftliche Relevanz mehr (Schuleri-Hartje u.a. 2005, 78f.). Unterstützt wird diese Sichtweise durch die beginnenden Konzentrationsprozesse im türkisch geführten Lebensmitteleinzelhandel. Ein Beispiel ist die türkische Supermarktkette Birlik in Berlin, die 2003 bereits mit 2000m2 Verkaufsfläche und 12 Standorten in Berlin vertreten war (Pütz 2004, 148). Ist das kleine Lebensmittelgeschäft im Quartier, auch das migrantengeführte, also nur noch eine residuale Restgröße, deren endgültigen Niedergang wir nun miterleben?
2.2 Kleine Geschäfte im stadtökonomischen Kontext Der gesamte Einzelhandel ist spätestens seit den 1950er Jahren in einer Umbruchphase. Diese Phase, die noch nicht abgeschlossen ist, äußert sich in einer grundlegenden Restrukturierung hinsichtlich der Größe, der internen Organisation und des Standortes von Einzelhandelsbetrieben. Dieser Strukturwandel lässt sich vor allem an zwei auffälligen Veränderungen festmachen. Erstens wird von einem Prozess der sogenannten Maßstabsvergrößerung gesprochen. Gemeint ist damit das Phänomen einer sinkenden Anzahl an Einzelhandelsbetrieben bei
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gleichzeitiger Zunahme der gesamten Verkaufsfläche. Seit den 1980er Jahren hat sich in Deutschland die durchschnittliche Verkaufsfläche im Lebensmitteleinzelhandel auf 400m2 verdoppelt (Wortmann 2003, 2). Damit einher geht, zweitens, eine Unternehmenskonzentration, welche die Dominanz des eigentümergeführten Betriebes ablöst. Spätestens seit den 1990ern gehört ein Großteil der deutschen Einzelhandelsbetriebe zu nationalen oder internationalen Großkonzernen (Heinritz u.a. 2003, 37f.).
Nachfragemacht Die Unternehmenskonzentration hat speziell im Lebensmitteleinzelhandel dazu geführt, dass von einer „Oligopolsituation“ gesprochen wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden in Deutschland 97,6% des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel von nur noch 30 Unternehmen erwirtschaftet, die fünf umsatzstärksten erwirtschaften 65% des Umsatzes (Heinritz u.a. 2003, 37ff.; vgl. Kreimer/Gerling 2006, 19ff.). Durch die Herausbildung der Oligopolstellung einiger weniger Großkonzerne fand schließlich auch eine Verschiebung der Gleichgewichte hinsichtlich der Möglichkeiten bei der Preisgestaltung statt. Die Nachfragemacht der Großunternehmen hat mittlerweile eine Größenordnung erreicht, die Sonderkonditionen bei nahezu allen Produzenten und Lieferanten ermöglicht. Die drei größten Kunden sorgen für die Hälfte des Absatzes der deutschen Zulieferer und Produzenten (Wortmann 2003, 4). Sonderkonditionen und Rabatte bleiben kleineren Unternehmen nicht nur verwehrt, sondern es werden auch Verluste, die den Produzenten und Lieferanten aufgrund der Gewährung von Sonderkonditionen an Großunternehmen entstehen, häufig auf jene umgelegt (Heinritz u.a. 2003, 44). Diese Entwicklung bestätigte mir ein Angestellter auf dem Stuttgarter Großmarkt. Eines der Hauptprobleme für die Großhändler wären die steigenden Preise bei sinkender Qualität. Immer mehr große Unternehmen würden ihre Waren direkt beziehen. Vor allem die Discounter (namentlich erwähnt ALDI und LIDL) würden die gleiche Ware in gleicher Qualität von denselben Erzeugern zu wesentlich günstigeren Konditionen beziehen und dementsprechend billiger verkaufen können. Er erklärte mir dies beispielhaft anhand von Salatgurken. Die Salatgurken wurden im Großmarkt an diesem Tag (17.1.2006) für 1,20 Euro pro Stück (inkl. Mwst.) verkauft und lagen im Einkaufspreis nur unwesentlich niedriger (max. 10 Cent), während ALDI dieselben Gurken für 59 Cent das Stück anbieten könne. Auch wenn die Discounter nicht unter
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Einkaufspreis anbieten würden, so hätten sie viel größere Spielräume bei der Preisgestaltung. Wenn eine Kette wie ALDI-Süd zum Erzeuger käme, erzählte mein Informant, und ein Angebot für die nächsten vier Wochen unterbreite, dann würden zum Beispiel Einkaufspreise zwischen 41 und 43 Cent pro Gurke ausgehandelt. Der Einkaufspreis läge also über 50% unter dem des Großhändlers. Der Gemüsehändler, mit dem ich den Großmarkt besuchte, zeigte mir später, dass er die Gurken zum Einkaufspreis von 1,20 Euro weiterverkaufte. Damit macht er effektiv Verlust, da er immer einen Teil der Ware wegwerfen muss. Einen höheren Preis zu verlangen wäre aber für seine Kunden inakzeptabel. Keine Salatgurken anzubieten sei allerdings auch keine Alternative, da seine Kunden einen gewissen Standard an Sortimentsbreite erwarten. Die für den Erzeuger negativen Effekte der Gewährung günstiger Einkaufskonditionen an Großkunden werden so an die kleineren Geschäfte weitergegeben. Auf diese Weise geraten vor allem die kleinen Generalisten indirekt in den sogenannten interformalen Wettbewerb, in dem unterschiedliche Betriebsformen in Konkurrenz treten. Verschärft wird dieser durch ein gestiegenes Preisbewusstsein auf der Konsumentenseite. BilligSlogans bestimmen die Marketingstrategien im Lebensmitteleinzelhandel. Nachdem die Anziehungskraft der Discountmärkte mit ihren „Schnäppchenangeboten“ zunächst vor allem auf sozioökonomisch schwächer gestellte Konsumenten beschränkt gesehen wurde, hat sich der „Billigtrend“ längst in allen Einkommensschichten durchgesetzt. Auch Multimillionäre bekennen sich öffentlich als Schnäppchenjäger (vgl. Zukin 2005, 69 & 85). Auch wenn das rasante Wachstum des Biowaren-Sektors eine gegenläufige Entwicklung suggeriert, so kann noch lange nicht von einer Trendumkehr gesprochen werden, zumal auch die Discounter vermehrt im Biogeschäft tätig werden.
Sor timentsgestaltung Die Einführung der Selbstbedienung, die Sortimentsvergrößerung und die Rationalisierung der Arbeitsabläufe werden als die wichtigsten organisatorischen und technologischen Innovationen im Einzelhandel gesehen (Ditt 2003; Heinritz u.a. 2003, 40). Die Einführung dieser Innovationen bestimmte in den letzten fünfzig Jahren in erheblichem Maße die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens. Kleinere Betriebe verschwanden, da diese nicht über das notwendige Kapital verfügten, das die organisatorische und technologische Restrukturierung erforderte.
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Die Konzentrationsprozesse im Lebensmitteleinzelhandel sind daher auch als eine Folge einer kapitalbedingten Selektionswirkung zu sehen. Der Erhöhung des Angebotes unter gleichzeitiger Senkung des Preisniveaus seitens der größeren Unternehmen folgte eine zunehmende Verschärfung des interformalen Wettbewerbs zwischen den selbständigen kleineren Geschäften und den großen Filialbetrieben. Auch für Spezialisten wird es schwieriger, diesem interformalen Wettbewerb aus dem Weg zu gehen. Mit dem Ziel der Abdeckung weiterer Konsumbedürfnisse steigen die Großunternehmen auch in die klassischen Bereiche der Spezialgeschäfte ein. Ein Beispiel wäre das sogenannte Ethnomarketing (vgl. Jackson 2002b; Jayne 2006, 135ff.). Produkte, die bisher ausschließlich in kleineren, auf „landestypische“ Produkte spezialisierten Lebensmittelgeschäften erworben werden konnten, sind in zunehmendem Maße nun auch in Supermärkten erhältlich. Besonders betroffen von dieser Strategie sind die auf ost- und südasiatische Produkte spezialisierten „Asia-Märkte“, deren Sortimentsstruktur mittlerweile weitgehend auch in Supermärkten vorzufinden ist. Damit stoßen die Großunternehmen in eine Marktlücke vor, die vor allem aufgrund der gestiegenen Attraktivität asiatisch konnotierter Kochkunst ein lukratives Geschäft verspricht. Der Händler des thailändisch-asiatischen Spezialitätengeschäftes im Untersuchungsgebiet erklärte mir, dass ihm die Supermärkte das Geschäft abgraben würden, seit sie verstärkt asiatisch konnotierte Lebensmittel anbieten. Der Laden, der bereits in den 1980er Jahren von der Tante des Händlers gegründet wurde und den diese immer noch mitführt, steht nach Angaben des Händlers kurz vor dem Konkurs. Doch das Ethnomarketing der großen Unternehmen trifft nicht nur die „Exoten“. Auf der Suche nach der Erschließung neuer Zielgruppen wird zunehmend der multikulturelle Hintergrund der städtischen Bevölkerung als Marktpotenzial entdeckt. So ist das bei der „türkischen“ Bevölkerung beliebte Molkereiprodukt „Ayran“ mittlerweile fester Bestandteil im Kühlregal der Stuttgarter Supermärkte. Damit dringen die Großunternehmen auch in die „ethnischen Nischen“ vor, die bisher den kleinen Geschäften oder türkisch geführten Supermärkten vorbehalten waren.
Lokalpolitik Im Nachteil befinden sich die kleinen Geschäfte auch hinsichtlich der Unterstützung durch die Kommunalpolitik. Das Verständnis von Kommunalpolitik erfuhr seit den 1970er Jahren eine radikale Wandlung.
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Die Verwaltungsorgane der Kommunen wurden immer mehr zu einer Art Unternehmen nach rational-ökonomischem Vorbild transformiert. Mit dem politischen Erfolg neoklassischer Wirtschaftstheorien, zum Beispiel des Exportbasis-Modells, wurden Kommunen und Städte von ihren Repräsentanten mehr und mehr als Orte im regionalen und internationalen Wettbewerb konzeptionalisiert (vgl. Bathelt/Glückler 2003, 75ff.). Die Privatisierung staatlichen Eigentums und staatlicher Unternehmen geht einher mit dem interkommunalen Wettbewerb um vermeintlich prestige- und arbeitsplatzträchtige Gewerbeansiedelungen, die als Stimulus für den lokalen Markt dienen sollen (Jayne 2006, 75ff.). Gerade für die von Deindustrialisierung stark betroffenen Gemeinden ist die Ansiedelung von großflächigen Einzelhandelszentren und den sogenannten Shopping Malls ein wichtiger Hoffnungsträger. Nach anfänglicher Zurückhaltung wurden nach britischem Vorbild großzügig Genehmigungen zum Bau entsprechender Einkaufsstätten auch in Deutschland erteilt, obwohl sich die erhofften positiven Effekte auf den Arbeitsmarkt zumeist nicht bestätigten (Zehner 2001, 83). In Deutschland ist die Verkaufsfläche in den innerstädtischen Gebieten pro Einzelhandelsgeschäft gesetzlich beschränkt (in der Regel