Konstruktion und Entäußerung: Bildlogik und anschauliches Denken bei Kant und Hegel 3787340297, 9783787340293

Der iconic turn verstand sich weitgehend als Antithese zu einer bildervergessenen philosophischen Tradition. Diese Studi

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German Pages 460 [507] Year 2023

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Inhalt
Vorwort und Danksagung
Einleitung: Bildlogik und anschauliches Denken bei Kant und Hegel – ein Problemaufriss
Verortung in der Forschungsdebatte
Anschauung und anschauliches Denken
Bildlichkeit und Bildlogik
Kant und Hegel und der iconic turn
TEIL I: Vom iconic turn zu Kant und Hegel
1. Sechs kritische Lektüren zum iconic turn
1.1 Die Wende zum Bild als Rationalitätskritik
1.1.1 Mitchell: pictorial turn
1.1.2 Boehm: iconic turn
1.2 Polarisierung und Alleinvertretungsansprüche
1.2.1 Wiesing: die neue Bildmythologie
1.2.2 Bredekamp: die Angst der Philosophie vor dem Bild
1.3 Asymmetrische Pluralisierungen
1.3.1 Bogen: Schattenriss und Sonnenuhr
1.3.2 Boehm: starke Bilder und schwache Bilder
2. Vier Thesen zum iconic turn: eine andere Lesart
2.1 Eine anthropologische Fundierung
2.2 Die Pluralität menschlicher Grundverhältnisse
2.3 Von der intellektualistischen Metaphysik zur Leiblichkeit
2.4 Von der Logik der Substanz zur Logik der Relation
3. Eine alternative Kartierung des Bilddiskurses
3.1 Die Anschaulichkeit der Welt und die operative Bildepisteme
3.2 Die Anschaulichkeit des Sozialen und die performative Bildepisteme
3.3 Die Anschaulichkeit der Alterität und die energetische Bildepisteme
4. Bildtheorien bei Kant und Hegel
4.1 Drei Forschungsansätze
4.2 Ein alternativer Ansatz: Anschauung und anschauliches Denken
4.3 Kants Disegno und Hegels Colore
TEIL II: Kant: Konstruktion
1. Kants Geometrietheorie: eine diagrammatische Lesart
1.1  Die bildwissenschaftliche Rezeption 
1.2 Die epistemologische und mathematikphilosophische Standardkritik
1.3 Logische, phänomenologische und diagrammatische Verteidigungen
2. Kants Konzeption der Anschauung
2.1 Kants Entdeckung des Eigenrechts der Anschauung
2.1.1 Kants Gegner: Leibniz’ intellektuelles System der Welt
2.1.2 Das Eigenrecht der Anschauung als Produkt der kopernikanischen Wende
2.2 Die Eigenlogik der Anschauung bei Kant
2.2.1 Diskursiver Verstand und empirische Anschauung
2.2.2 Nichtempirische Anschauung als Anschauungsform und Medium anschaulichen Denkens
3. Die Anschauungsform: Verkörperter, perspektivischer und indexikalischer Weltbezug
3.1 Verkörperte Perspektivität in der transzendentalen Ästhetik
3.2 Kants Kritik an Leibniz’ intellektuellem System der Welt
3.2.1 Leibniz: Prädikatenlogisches Identitätsprinzip und Stellenraum
3.2.2 Kant: Körperschema und Körpergefühl als Identitätsprinzip
3.3 Orientierung als Krise propositionalen Urteilens
3.4 Die soziale Logik der Anschauung: transzendentale Ästhetik und sensus communis
3.5 Fazit und Überleitung: von der Anschauungsform zum Diagramm
4. Anschauliches Denken: Konstruktion
4.1 Kants Mathematiktheorie als Kritik logizistischer Erkenntnisprogramme
4.2 Konstruktion: vier Eckpunkte
4.2.1 Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit
4.2.2 Das Verfahren: iterative Transformationen
4.2.3 Der Inhalt: Anschauungsformen
4.2.4 Das Ziel: Explizitmachen des Impliziten
4.3 Konstruktion: eine geistesgeschichtliche Verortung
5. Bildlogik und Medialität: Kants Theorie des geometrischen Diagramms
5.1  Die Differenz von Figur und Grund: Relationalität und Operativität 
5.1.1 Relationalität: Räumliche Differenzen und Äquivalenzen
5.1.2 Zwei Dimensionen diagrammatischer Bildlichkeit
5.1.3 Operativität: schöpferische und genetische Definitionen
5.1.4 Zwei Prinzipien: figürliche Synthesis und räumliche Einschränkung
5.2  Die Differenz von Schema und Bild: das Generalitätsproblem der  Diagramme
5.2.1 Der Bildbegriff zwischen transzendentaler Logik und Methodenlehre
5.2.2 Das Schema: Konstruktionsanweisung und Relevanzfilter
5.2.3 Wozu dann noch ›reine Anschauung‹ ? – ein Desiderat
5.3  Die Differenz von Form und Materie: die Physiklosigkeit operativer Bildmedien
5.3.1 Reine Anschauung als Physiklosigkeit
5.3.2 Eine Verteidigung der Imagination
5.3.3 Die zentrale Unterscheidung: Konstruktion vs. Experiment
5.3.4 Medienspezifik: Raumrelationen vs. physikalische Relationen
5.3.5 Exkurs: Physiklosigkeit und energetische Bildtheorien
6. Zwischenfazit und Überleitung: Leib und Bild bei Kant und Hegel
TEIL III: Hegel: Entäußerung
1. Hegels Malereitheorie:eine verkörperungstheoretische Lesart
1.1  Die kunstgeschichtliche und bildwissenschaftliche Rezeption 
1.2 Die philosophische Standardkritik an Hegels Ästhetik
1.2.1 Der doppelte Logozentrismusvorwurf (Adorno, Derrida)
1.2.2 Der doppelte Anachronismus in Hegels Kunsttheorie
1.3 Verteidigungen und Modernisierungen Hegels
1.3.1 Kunsttheoretische Lesarten
1.3.2 Verkörperungstheoretische Lesarten
2. Hegels Konzeption der Anschauung
2.1 Hegels kritische Weiterentwicklung der Idee des Eigenrechts der Anschauung
2.1.1 Hegels Gegner: diskursiver Verstand und leere Vernunft bei Kant
2.1.2 Das Modell des intuitiven Verstands: Metaphysik oder Metaphysikkritik ?
2.2 Die Eigenlogik der Anschauung bei Hegel
2.2.1 Hegels Geistphilosophie: Anschauung als mediale Form
2.2.2 Geistdurchdrungene Anschauung: intelligibel ohne expliziten Begriff
2.2.3 Bild, Name, Symbol: Wo ist das anschauliche Denken bei Hegel ?
3. Lebensform und Anschauungsform: Expressive Leiblichkeit und visuelle Reziprozität
3.1 Hegels Kritik an Kants Metaphysik der Subjektivität
3.1.1 Kants intellektualistische Freiheitskonzeption
3.1.2 Hegels expressive Freiheitskonzeption
3.2 Die Ästhetik der Subjektivität: Hegels Theorie expressiver Leiblichkeit
3.2.1 Menschliche Leiblichkeit als Sich-Zeigen
3.2.2 Die Anthropologie: Selbstgefühl, Habitus und Einfühlung
3.2.3 Die Ästhetik: Beseeltheit, Haut und Auge
3.3 Fazit und Überleitung: von der expressiven Leiblichkeit zum Kunstwerk
4. Anschauliches Denken: Entäußerung
4.1 Hegels Kunsttheorie als Kritik des intellektualistischen Selbstbewusstseins
4.2 Entäußerung: vier Eckpunkte
4.2.1 Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit
4.2.2 Das Verfahren: expressive Ganzheiten
4.2.3 Der Inhalt: Lebensformen
4.2.4 Das Ziel: Explitmachen des Impliziten
4.3 Entäußerung: eine geistesgeschichtliche Verortung
5. Bildlogik und Medialität: Hegels Theorie der figurativen Malerei
5.1 Malerei als Kunst der Subjektivität
5.1.1 Hegels Theorie der Medienspezifik der Malerei
5.1.2 Romantische Kunst als innerästhetisches Fortschrittsmodell
5.2  Die Differenz von Figur und Grund: Relationalität und Performativität 
5.2.1 Zwei Prinzipien: expressive Figuren und rahmende Kontexte
5.2.2 Relationalität: Entfaltung und In-Beziehung-Setzen
5.2.3 Performativität: Inkarnation und Blickbeziehung
5.3  Die Differenz von Inhalt und Form: die Partikularität der Malerei 
5.3.1 Der Bildbegriff zwischen Geistphilosophie und Ästhetik
5.3.2 Das Generalitätsproblem der Malerei
5.4  Die Differenz von Schein und Materie: Sichtbarkeit, Flächigkeit,  Farbigkeit
5.4.1 Verflachung als Prinzip der Malerei
5.4.2 Die Genese des Bildraums aus der Farbe
TEIL IV: Zusammenfassung und Diskussion
1. Kant und Hegel als Bildphilosophen
2. Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und Ästhetik
2.1 Anschauungstheorie und Metaphysikkritik
2.2 Die Epistemologie anschaulichen Denkens bei Kant und Hegel
Kant – ein abschließendes Fazit
Hegel – ein abschließendes Fazit
2.3 Epistemologische Ästhetiken und Ästhetiken der Kraft
3. Bildlogik: die operative und performative Logik der Bilder
4. Bildphilosophische Schlussfolgerungen
Siglen und Abkürzungen
Kants Schriften
Hegels Schriften
Literaturverzeichnis
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Konstruktion und Entäußerung: Bildlogik und anschauliches Denken bei Kant und Hegel
 3787340297, 9783787340293

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Martin Beck

Konstruktion und Entäußerung

Meiner

Beck   Konstruktion und Entäußerung

Martin Beck

Konstruktion und Entäußerung Bildlogik und anschauliches Denken bei Kant und Hegel

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte biblio­g raphische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7873-4029-3 ISBN eBook 978-3-7873-4030-9

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver­a rbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich g­ estatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. G ­ edruckt auf ­a lterungs­beständigem Werk­d ruck­papier. Printed in Germany.

Inhalt Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung Bildlogik und anschauliches Denken bei Kant und Hegel – ein Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Verortung in der Forschungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Anschauung und anschauliches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Bildlichkeit und Bildlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Kant und Hegel und der iconic turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 TEIL I Vom iconic turn zu Kant und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Sechs kritische Lektüren zum iconic turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1.1 Die Wende zum Bild als Rationalitätskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.1.1 Mitchell: pictorial turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.1.2 Boehm: iconic turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.2 Polarisierung und Alleinvertretungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.2.1 Wiesing: die neue Bildmythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.2.2 Bredekamp: die Angst der Philosophie vor dem Bild . . . . . . . . . . . 41

1.3 Asymmetrische Pluralisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.3.1 Bogen: Schattenriss und Sonnenuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1.3.2 Boehm: starke Bilder und schwache Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Vier Thesen zum iconic turn: eine andere Lesart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

2.1 Eine anthropologische Fundierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.2 Die Pluralität menschlicher Grundverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.3 Von der intellektualistischen Metaphysik zur Leiblichkeit . . . . . . . . . 57 2.4 Von der Logik der Substanz zur Logik der Relation . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Eine alternative Kartierung des Bilddiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

3.1 Die Anschaulichkeit der Welt und die operative Bildepisteme . . . . . . 60



6 Inhalt

3.2 Die Anschaulichkeit des Sozialen und die performative Bildepisteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.3 Die Anschaulichkeit der Alterität und die energetische Bildepisteme 66 4. Bildtheorien bei Kant und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

4.1 Drei Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.2 Ein alternativer Ansatz: Anschauung und anschauliches Denken . . 75 4.3 Kants Disegno und Hegels Colore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 TEIL II Kant: Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Kants Geometrietheorie: eine diagrammatische Lesart . . . . . . . . . . . . . 83

1.1 Die bildwissenschaftliche Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1.2 Die epistemologische und mathematikphilosophische Standardkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1.3 Logische, phänomenologische und diagrammatische Verteidigungen 91 2. Kants Konzeption der Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

2.1 Kants Entdeckung des Eigenrechts der Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.1.1 Kants Gegner: Leibniz’ intellektuelles System der Welt . . . . . . . . 98 2.1.2 Das Eigenrecht der Anschauung als Produkt der ­kopernikanischen Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2.2 Die Eigenlogik der Anschauung bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.2.1 Diskursiver Verstand und empirische Anschauung . . . . . . . . . . . . 105 2.2.2 Nichtempirische Anschauung als Anschauungsform und ­Medium anschaulichen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Die Anschauungsform: verkörperter, perspektivischer und indexikalischer Weltbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

3.1 Verkörperte Perspektivität in der transzendentalen Ästhetik . . . . . . 117 3.2 Kants Kritik an Leibniz’ intellektuellem System der Welt . . . . . . . . . . 127 3.2.1 Leibniz: Prädikatenlogisches Identitätsprinzip und Stellenraum 127 3.2.2 Kant: Körperschema und Körpergefühl als Identitätsprinzip . . . 132 3.3 Orientierung als Krise propositionalen Urteilens . . . . . . . . . . . . . . . . 136



Inhalt 

3.4 Die soziale Logik der Anschauung: transzendentale Ästhetik und sensus communis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.5 Fazit und Überleitung: von der Anschauungsform zum Diagramm . . 147 4. Anschauliches Denken: Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

4.1 Kants Mathematiktheorie als Kritik logizistischer ­Erkenntnisprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4.2 Konstruktion: vier Eckpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4.2.1 Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit . . . . . . . . . . 158 4.2.2 Das Verfahren: iterative Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4.2.3 Der Inhalt: Anschauungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.2.4 Das Ziel: Explizitmachen des Impliziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.3 Konstruktion: eine geistesgeschichtliche Verortung . . . . . . . . . . . . . . . 168 5. Bildlogik und Medialität: Kants Theorie des geometrischen Diagramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

5.1 Die Differenz von Figur und Grund: Relationalität und Operativität 173 5.1.1 Relationalität: räumliche Differenzen und Äquivalenzen . . . . . . . 176 5.1.2 Zwei Dimensionen diagrammatischer Bildlichkeit . . . . . . . . . . . . 180 5.1.3 Operativität: schöpferische und genetische Definitionen . . . . . . . 183 5.1.4 Zwei Prinzipien: figürliche Synthesis und räumliche ­Einschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5.2 Die Differenz von Schema und Bild: das Generalitätsproblem der ­Diagramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.2.1 Der Bildbegriff zwischen transzendentaler Logik und ­Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.2.2 Das Schema: Konstruktionsanweisung und Relevanzfilter . . . . . 204 5.2.3 Wozu dann noch ›reine Anschauung‹ ? – ein Desiderat . . . . . . . . 211 5.3 Die Differenz von Form und Materie: die Physiklosigkeit operativer Bildmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5.3.1 Reine Anschauung als Physiklosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.3.2 Eine Verteidigung der Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5.3.3 Die zentrale Unterscheidung: Konstruktion vs. Experiment . . . . 235 5.3.4 Medienspezifik: Raumrelationen vs. physikalische Relationen . . 240 5.3.5 Exkurs: Physiklosigkeit und energetische Bildtheorien . . . . . . . . 249 6. Zwischenfazit und Überleitung: Leib und Bild bei Kant und Hegel . . . . 253

7



8  Inhalt

TEIL III Hegel: Entäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Hegels Malereitheorie: eine verkörperungstheoretische Lesart . . . . . . 259

1.1 Die kunstgeschichtliche und bildwissenschaftliche Rezeption . . . . . . 260 1.2 Die philosophische Standardkritik an Hegels Ästhetik . . . . . . . . . . . . 263 1.2.1 Der doppelte Logozentrismusvorwurf (Adorno, Derrida) . . . . . . . 264 1.2.2 Der doppelte Anachronismus in Hegels Kunsttheorie . . . . . . . . . . 270 1.3 Verteidigungen und Modernisierungen Hegels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1.3.1 Kunsttheoretische Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1.3.2 Verkörperungstheoretische Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 2. Hegels Konzeption der Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

2.1 Hegels kritische Weiterentwicklung der Idee des Eigenrechts der ­A nschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 2.1.1 Hegels Gegner: diskursiver Verstand und leere Vernunft bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 2.1.2 Das Modell des intuitiven Verstands: Metaphysik oder ­Metaphysikkritik ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2.2 Die Eigenlogik der Anschauung bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2.2.1 Hegels Geistphilosophie: Anschauung als mediale Form . . . . . . . 293 2.2.2 Geistdurchdrungene Anschauung: intelligibel ohne expliziten Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2.2.3 Bild, Name, Symbol: Wo ist das anschauliche Denken bei Hegel ? 299 3. Lebensform und Anschauungsform: expressive Leiblichkeit und visuelle Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

3.1 Hegels Kritik an Kants Metaphysik der Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . 309 3.1.1 Kants intellektualistische Freiheitskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . 311 3.1.2 Hegels expressive Freiheitskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3.2 Die Ästhetik der Subjektivität: Hegels Theorie expressiver L ­ eiblichkeit 319 3.2.1 Menschliche Leiblichkeit als Sich-Zeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 3.2.2 Die Anthropologie: Selbstgefühl, Habitus und Einfühlung . . . . . 326 3.2.3 Die Ästhetik: Beseeltheit, Haut und Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 3.3 Fazit und Überleitung: von der expressiven Leiblichkeit zum Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338



Inhalt 

4. Anschauliches Denken: Entäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

4.1 Hegels Kunsttheorie als Kritik des intellektualistischen ­Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 4.2 Entäußerung: vier Eckpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 4.2.1 Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit . . . . . . . . . . 350 4.2.2 Das Verfahren: expressive Ganzheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 4.2.3 Der Inhalt: Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 4.2.4 Das Ziel: Explitmachen des Impliziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 4.3 Entäußerung: eine geistesgeschichtliche Verortung . . . . . . . . . . . . . . . 360 5. Bildlogik und Medialität: Hegels Theorie der figurativen Malerei . . . . . 367

5.1 Malerei als Kunst der Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.1.1 Hegels Theorie der Medienspezifik der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . 368 5.1.2 Romantische Kunst als innerästhetisches Fortschrittsmodell . . . 374 5.2 Die Differenz von Figur und Grund: Relationalität und Performativität 384 5.2.1 Zwei Prinzipien: expressive Figuren und rahmende Kontexte . . 385 5.2.2 Relationalität: Entfaltung und In-Beziehung-Setzen . . . . . . . . . . . 389 5.2.3 Performativität: Inkarnation und Blickbeziehung . . . . . . . . . . . . . 397 5.3 Die Differenz von Inhalt und Form: die Partikularität der Malerei . . 413 5.3.1 Der Bildbegriff zwischen Geistphilosophie und Ästhetik . . . . . . 414 5.3.2 Das Generalitätsproblem der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 5.4 Die Differenz von Schein und Materie: Sichtbarkeit, Flächigkeit, ­Farbigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 5.4.1 Verflachung als Prinzip der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 5.4.2 Die Genese des Bildraums aus der Farbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 TEIL IV Zusammenfassung und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 1.  Kant und Hegel als Bildphilosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 2.  Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und Ästhetik . . . 448

2.1 Anschauungstheorie und Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 2.2 Die Epistemologie anschaulichen Denkens bei Kant und Hegel . . . 454 Kant – ein abschließendes Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Hegel – ein abschließendes Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 2.3 Epistemologische Ästhetiken und Ästhetiken der Kraft . . . . . . . . . . 472

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10  Inhalt

3.  Bildlogik: die operative und performative Logik der Bilder . . . . . . . . . . . . . 477 4.  Bildphilosophische Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Siglen und Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Vorwort und Danksagung

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as Ziel der vorliegenden Studie war es, die Frage, was es bedeutet, in Bildern zu denken, auf Grundlage der Philosophien Kants und Hegels zu beantworten. Dieses Vorhaben führte allerdings nicht zum Begriff der Einbildungskraft, sondern zu dem der Anschauung. Es wurde zu dem Projekt, mit Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie zwei Konzeptionen eines anschaulichen Denkens und einer Logik der Bilder zu rekonstru­ieren, die bei allen Unterschieden doch eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Als zwei Kernkonzepte der Studie kristallisierten sich dabei Leiblichkeit und Relationalität heraus – eines ihrer zentralen Ergebnisse ist, dass sich mit Kant und Hegel zeigen lässt, dass Bildlogik in einem essenziellen Sinne Körperlogik und Relationenlogik ist. Von ebenso zentraler Bedeutung wurde der Gedanke der nichtempirischen Anschauung als einer dritte Sphäre neben begrifflichem Denken und empirischer Natur, die den konzeptuellen Ort jener medialen, leiblichen und relationalen Logiken bildet, die im Zen­trum von Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie stehen. Dieses Projekt sah sich von Anfang an mit zahlreichen Gegenargumenten konfrontiert. Hierzu gehörte die in der Bildphilosophie weitverbreitete These, wonach Kant und Hegel grundsätzlich Vertreter eines bilderfeindlichen Logozentrismus seien. Aber auch die jeweilige mathematik- und kunstphilosophische Standardkritik, die Kants Idee eines anschaulichen Verfahrens der Mathematik für grundfalsch erklärt und Hegels Ästhetik vorwirft, mit einer geist- und sprachtheoretischen Ausrichtung Sinnlichkeit und Bildlichkeit zu verfehlen. Hierdurch wurde die Studie über die Rekonstruktion von Kant und Hegel hinaus zu einer Auseinandersetzung mit Diskursformationen. Sie fand in neueren Auslegungen Kants und Hegels Argumente gegen die Standardkritik. Und sie stellte eine grundlegende Affinität zwischen dem Interesse der medienphilosophischen turns für die nichtdiskursiven Eigenlogiken von Raum, Leib und Bild und den zwei Jahrhunderte zuvor im Rahmen einer neuen Disziplin der Ästhetik entworfenen Konzeptionen eines anderen Denkens in der Anschauung fest. Hieraus wurde die These, dass Kant und Hegel im Zuge ihrer Kritik an Metaphysik und Substanzdenken bereits entscheidende begriffliche Grundlagen einer Bildepistemologie entwickeln. Die Arbeit an diesem Buch wurde im Rahmen eines Promotionsstipendiums am DFG-Graduiertenkolleg ›Sichtbarkeit und Sichtbarmachung. Hybride Formen des Bildwissens‹ der Universität Potsdam und der Freien Universität Berlin begonnen und im Rahmen des DFG-Projekts ›Warum und mit welcher



12 Vorwort und Danksagung

Berechtigung ist Kant Euklidianer ?‹ an der Freien Universität Berlin weitergeführt. Beide Projekte stehen für einen Berlin-Potsdamer Diskursraum der 2010er Jahre. Dieser verband im Zeichen der medientheoretischen turns die Reflexion der epistemischen Praktiken der Künste und der visuellen Praxeologie der Wissenschaften mit einer medienphilosophischen Aufarbeitung der philosophischen Tradition. Das Projekt, sich mit dem anschaulichen Denken und einer Bildlogik in Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie zu befassen, hat hier seine Wurzeln. Es entstand aber auch aus dem Interesse des Verfassers, sich vor dem Hintergrund seiner Praxis im Feld der bildenden Kunst und der Erfahrung, dass Kunst ebenso wie Philosophie ein Medium des Denkens ist, mit den philosophischen Grundlagen eines nichtdiskursiven Denkens auseinanderzusetzen. Die Studie wurde im Frühjahr 2018 als Dissertation am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin eingereicht und im Frühjahr 2019 verteidigt. Ich danke meinen Betreuern Prof. Dr. Dr. h. c. Sybille Krämer und Prof. Dr. Dieter Mersch für die Unterstützung und inspirierende Zusammenarbeit. Darüber hinaus danke ich der Akademie Schloss Solitude Stuttgart, wo ich im Rahmen eines dreimonatigen Aufenthalts an der Studie arbeiten und zahlreiche Freundschaften schließen konnte. Für kritische Diskussionen, Korrekturlesen und Freundschaft danke ich Johannes-Georg Schülein, Jan Wöpking, Lea Hartung und Julian Jochmaring sowie insbesondere meiner viel zu früh verstorbenen Freundin Bärbel Karrass. Ich danke dem Felix Meiner Verlag, Marcel Simon-Gadhof und insbesondere Ulla Hansen für die professionelle Betreuung und das Lektorat. Nicht zuletzt danke ich der Boehringer Ingelheim Stiftung für einen großzügigen Beitrag zu den Druckkosten dieser Studie.

Einleitung Bildlogik und anschauliches Denken bei Kant und Hegel – ein Problemaufriss

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iese Studie rekonstruiert den Beitrag Kants und Hegels zu einer Epistemologie der Bilder. Sie fragt somit: Wie funktionieren Bilder als Medien eines anschaulichen Denkens und Wissens ? Was unterscheidet bildliches Denken von sprachlichem und diskursivem Denken ? Was sind mögliche Inhalte eines Bildwissens und welche nichtsprachlichen Logiken kommen dabei zum Tragen ? Diese Fragen gehören zu jenem Diskursraum, der in den 1990er Jahren von iconic turn und pictorial turn eröffnet wurde.1 Schon die Idee der Wende verweist aber auf die Kritik des Vorangegangenen, die zumeist in der Annahme bestand, dass die westliche Philosophietradition das Bildliche systematisch verdrängt und vernachlässigt hatte. Die Bildepistemologie erhält so auch eine historische Dimension und muss sich fragen, was die Ursachen einer solchen Verdrängung sein können und ob es vor dem expliziten Auftreten von Bildphilosophien in den 1990er Jahren schon implizite oder explizite philosophische Bildtheorien gab. Die Programmentwürfe des iconic turn und pictorial turn haben diese Fragen in Form einer doppelten Logozentrismuskritik beantwortet: Sie wandten sich nicht nur gegen die Sprachzentrierung des linguistic turn als dominierende geistesgeschichtliche Strömung des 20. Jahrhunderts, sondern ebenso sehr gegen die Bildvergessenheit und Bilderfeindlichkeit der gesamten westlichen Philosophietradition, die mit Platons Bildkritik beginnt. Paradigmatisch formuliert Gottfried Boehm, dass die »abendländische[] Theoriegeschichte […] bis anhin nie wirklich dahin gelangte, dem Logos einen präverbalen, insbesondere ikonischen Sinn zuzugestehen.«2 Indem die vorliegende Studie 1 Die Begriffe ›Bildwende‹ und ›iconic turn‹ werden im Folgenden synonym verwendet und als systematische Termini begriffen, die eine Selbstkritik der Philosophie an ihrer eigenen Begriffs- und Sprachzentriertheit, und die Anerkennung von eigenständigen Formen bildlicher Sinnerzeugung bezeichnen. Wenn es spezifisch um die von Boehm und Mitchell formulierten Programmentwürfe von iconic turn und pictorial turn aus den 1990er Jahren geht, wird dies gesondert gekennzeichnet. Siehe dazu: Boehm, Gottfried (1994): »Die Wiederkehr der Bilder«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild ?, München: Fink, 11–38. Mitchell, W. J. T. (1994): Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Rep­ resentation, Chicago: University of Chicago Press. Eine genaue Auseinandersetzung mit diesen Positionen folgt im ersten Teil der Studie. 2 Boehm, Gottfried (2011): »Ikonische Differenz«, Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bild­ kritik, Jg. 1, 170–176, 172.



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mit Kant und Hegel zwei zentrale Figuren dieser Tradition als Bildtheoretiker rekonstruiert, steht sie von Beginn an quer zu dieser Programmatik. Sie teilt den Impetus, die Epistemologie über das Diskursive und Sprachliche hinaus zu erweitern, will aber gegen die These Boehms zeigen, dass Kant und Hegel nicht nur Philosophen von Bewusstsein, Logik und Sprache sind, sondern auch einen Beitrag zur Philosophie des Bildes leisten. Hierzu stützt sie sich auf neue Interpretationsansätze zu Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie, die diese als Theorien medialer, leibbezogener Praktiken lesen. Kants Geometrietheorie wird in dieser Studie als Theorie operativen Diagrammgebrauchs rekonstruiert, Hegels Malereitheorie als Theorie der lebendigen Bilder, in denen uns quasi-soziale Gegenüber begegnen. Ein roter Faden der Untersuchung ist dabei der durchgängige Zusammenhang zwischen der Reflexion nichtdiskursiver Logiken von Anschauung und Bild und der Reflexion menschlicher Leiblichkeit. Wichtige Themen sind insofern auch die Rekonstruktion der Rolle von Körperschema und Körpergefühl in Kants Raumtheorie und Hegels Gedanken zur Expressivität des menschlichen Leibs und zur Konstitution menschlicher Sozialität im Blickverhältnis. So will die Studie nicht nur dem Vorurteil einer Bildervergessenheit, sondern ebenfalls dem einer Körper- und Leibvergessenheit der Philosophien Kants und Hegels widersprechen. Mit dieser Aktualisierung Kants und Hegels geht es der Studie um einen Vermittlungsversuch zwischen den medienphilosophischen Diskursen der turns seit den 1990er Jahren und der Epistemologie und Ästhetik um 1800. Ziel ist es, die Frage nach nichtdiskursiven Denkformen im Kontext der systematischen Debatten zum Verhältnis von Anschauung und Begriff, zum Mythos des Gegebenen und zur Aufwertung der Sinnlichkeit durch Metaphysikkritik und Ästhetik zu diskutieren. Dabei erweisen sich beide Philosophien auch als wichtige Quellen für eine Bildlogik. Neben der Einsicht in den engen Zusammenhang von Bildlogik zu Leiblichkeit und Relationenlogik betrifft dies Reflexionen zum Figur-Grund-Verhältnis, die Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Singulärem und Allgemeinem im Bild und die Bestimmung von Bildräumen als medialen Sonderräumen. Aus der kritischen Konfrontation dieser Lektüre mit dem Diskurs von iconic turn und pictorial turn resultiert schließlich ein Alternativentwurf, der mit den Schlagworten eines iconic turn avant la lettre und einer pluralen Bildepisteme umrissen ist. Dieser Entwurf einer kritischen Neubestimmung der Bildwende bildet eine Rahmenargumentation, die im ersten Teil der Studie entwickelt wird und den zwei Teilen zu Kant und Hegel vorangestellt ist. Im Kern ist diese Studie also eine medienphilosophische und bildepistemologische Rekonstruktion der Grundlagen von Kants Geometrietheorie und

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Hegels Malereitheorie, die von vier Forschungsfragen geleitet wird: (i) Wie kann sich eine bildepistemologische Rekonstruktion Kants und Hegels innerhalb der verschiedenen einschlägigen Forschungsdebatten positionieren ? (ii) Wie lassen sich Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie als Theorien eines anschauliches Denken verstehen und wie verhalten diese sich zu Metaphysikkritik, Epistemologie und Ästhetik ? (iii) Welchen Beitrag leisten Kants Theorie des geometrischen Diagramms und Hegels Theorie figurativer Malerei zu einer Theorie der Bildlogik ? (iv) Welche Konsequenzen hat eine bildepistemologische Rekonstruktion Kants und Hegels für das Verständnis des iconic turn und die systematischen Anliegen der Bildphilosophie ? Im Folgenden werden diese Fragebereiche, einige zentrale Prämissen und die Vorgehensweise der Studie skizziert. Es folgt ein konziser Überblick zum Gang der Untersuchung. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse findet im Schlusskapitel statt.

Verortung in der Forschungsdebatte

Die Rekonstruktion von Kant und Hegel als Bildtheoretikern muss sich innerhalb von drei Debatten positionieren: in der bildphilosophischen Debatte im Umfeld des iconic turn, in den mathematik- und kunstphilosophischen Fachdebatten sowie den internen Debatten der Kant- und Hegelforschung.3 Zunächst stellt sich die Frage, ob Kant und Hegel überhaupt einen Beitrag zum bildphilosophischen Diskurs leisten können. Es dominieren zwei konträre Ansichten: Einerseits gelten Kant und Hegel mit ihren zentralen Themen von Selbstbewusstsein, Logik, Begriff und Sprache als paradigmatische Vertreter einer bilderfeindlichen Rationalitäts- und Logozentrismustradition. Andererseits scheinen gerade Kants Theoreme von Einbildungskraft und Schematismus aus Sicht der Bildphilosophie interessant, weil mit ihnen das Bildliche ins Zentrum der Epistemologie rückt. In abgeschwächter Form kann dies auch für die Konzeptionen von Erinnerungsbild und zeichenmachender Phantasie in Hegels Geistphilosophie gelten. Dieses zunächst widersprüchliche Nebeneinander wird durch ein Narrativ kompatibel, das Heidegger in seinem Kantbuch effektvoll dramatisiert hat: Kant habe in der A-Deduktion in revolutionärer Weise die Einbildungskraft als »bildende Mitte der reinen Erkenntnis« ent-

3 Weil dieser Bereich grundlegende Entscheidungen für die weiteren Forschungsfragen enthält, wird dieser Teil – im Verhältnis zu den anderen Fragen – etwas ausführ­ licher beschrieben.

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deckt.4 In der späteren Neufassung der B-Deduktion sei er aber »vor dieser unbekannten Wurzel zurückgewichen«5, um die Sinnlichkeit erneut dem traditionellen »Primat der Logik«6 zu unterstellen. Demzufolge bricht die Alterität des Bildlichen also störend in das Gefüge des Logozentrismus ein, wird aber sogleich wieder von diesem neutralisiert. Diese Erzählung hat im Diskurs der ikonischen Wende vielfach als Folie gedient, um das Verhältnis von Bildlichkeit und philosophischer Tradition im Sinne eines Macht- und Kräfteverhältnisses zu beschreiben: als Ausschluss, Überformung und Stillstellung des Bildes durch den Logos; als Subversion, Heimsuchung und Infragestellung des Logos durch das Bild. Das Bildliche erscheint dabei als das Andere, das in paradoxer Gleichzeitigkeit Bedingung der Möglichkeit wie der Unmöglichkeit des Logos ist.7 Die vorliegende Studie will bewusst einen anderen Weg gehen: Sie sucht nach Stellen, an denen Kant und Hegel nicht nur über die Einbildungskraft als Vermögen, Tätigkeit oder Kraft, sondern über konkrete Bildpraktiken und Bildartefakte sprechen. Diese findet sie in Kants Theorie der Konstruktionspraxis der euklidischen Geometrie und Hegels Theorie der christlich-mittelalterlichen und neuzeitlichen europäischen Malereitradition. Hier finden sich zugleich jene begrifflichen Unterscheidungen, die klären, was jeweils spezifisch für bildliches und diskursives Denken ist: Kant unterscheidet den intuitiven Vernunftgebrauch der Mathematik vom diskursiven Vernunftgebrauch der Philosophie; Hegel unterscheidet das anschauliche Wissen der Kunst vom Wissen der Philosophie, das die Form expliziter Begriffe und arbiträrer Sprachzeichen hat. An diese Unterscheidungen knüpft die Studie an, um die Konzepte eines anschaulichen Denkens und einer Bildlogik mit Inhalt zu füllen.8 4 Heidegger, Martin (1951): Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M.: Klostermann, 162. 5 Ebd. 160. 6 Ebd. 167. 7 Vgl. hierzu die ausführliche Auseinandersetzung mit der bildtheoretischen Forschungsdebatte im Allgemeinen (Kapitel I.1) und mit bildphilosophischen Lektüren von Kant und Hegel im Besonderen (Kapitel I.4.1). 8 Mit diesem Ausgangspunkt und mit dem Fokus auf die Begriffsfelder ›Ästhetik‹, ›Anschauung‹ und ›anschauliches Denken‹ grenzt sich diese Studie von den zwei anderen wichtigen Studien zur Bildlichkeit bei Kant und Hegel ab. Stephan Ottos Monographie Die Wiederholung und die Bilder nimmt das Spannungsfeld von Erinnerungsbild und Einbildungskraft in den Blick und wird ausführlich betrachtet. Otto, Stephan (2007): Die Wiederholung und die Bilder. Zur Philosophie des Erinnerungsbewusstseins, Hamburg: Meiner. Lidia Gasperonis Monografie Versinnlichung diskutiert Bildlichkeit zwischen Kant und Hegel im Kontext einer erweiterten Theorie des transzendentalen Schematismus und konnte in der vorliegenden Studie nicht mehr im Einzelnen berücksichtigt werden.

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Das Vorhaben einer Aktualisierung dieser Theorien stößt allerdings zunächst auf große Schwierigkeiten: Kants Mathematiktheorie und Hegels Kunsttheorie wurden beide im 20. Jahrhundert einer grundlegenden Kritik unterzogen: Der logische Empirismus und die frühe Analytische Philosophie haben sich auf die Entwicklungen der Mathematik und Physik des 19. und 20. Jahrhunderts gestützt, um Kants Idee vom Anschauungsbezug der Mathematiktheorie für schlichten Unsinn zu erklären. Hegels Kunsttheorie erscheint dagegen als Paradebeispiel einer geistphilosophischen Überformung von Sinnlichkeit, die – so Adorno und Derrida – das Singuläre und Nichtidentische von Kunst und Natur logozentrisch verkennt. Warum sollte die Bildepistemologie also Theorien aktualisieren, die in ihren eigenen Feldern weitgehend als diskreditiert und obsolet gelten ? Eine Lösung zeichnet sich in neueren Strömungen der Kant- und Hegelinterpretation ab, die an der Rehabilitation dieser Konzeptionen arbeiten: eine diagrammatische Lesart, die Kants Geometrietheorie als eine Theorie des Operierens mit diagrammatischen Inskriptionen rekonstruiert; und eine verkörperungstheoretische Lesart von Hegels Kunst- und Malereitheorie, die diese als eine Theorie nichtdiskursiver leiblicher Sinnerzeugung liest. In beiden Fällen werden Kant und Hegel innerhalb der mathematik- und kunsttheoretischen Debatte rehabilitiert, indem in der Kant- und Hegelinterpretation neue Akzente gesetzt werden. Statt um Bewusstsein, Logik, Begriff und Sprache geht es nun um Eigenlogiken von Raumerfahrung, Leiblichkeit und Bildlichkeit, womit sich jeweils ein anderer, nicht mehr ausschließlich logozentrischer Kant und Hegel abzeichnet. Die Studie greift diese Ansätze auf und versucht sie weiterzuführen.9 Mit Blick auf den Forschungsstand ist schließlich auch festzustellen, dass es – nach Wissen des Verfassers – bisher keine gemeinsame Untersuchung von Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie gibt. Das mag wenig überraschen, sind es doch unterschiedliche Themen, die bei verschiedenen Denkern in unterschiedlichen Kontexten diskutiert werden. Warum also diese Gegenüberstellung ? Eine zentrale Prämisse dieser Studie ist die Überzeugung, dass gerade der bildepistemologische Zugriff eine Reihe struktuSiehe Gasperoni, Lidia (2016):  Versinnlichung: Kants transzendentaler Schematismus und seine Revision in der Nachfolge, Berlin, Boston: De Gruyter. 9 Vgl. hierzu jeweils die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand in Kapitel II.1 und III.1. Dabei wird zunächst die Standardkritik dieser Konzeptionen in Mathematik- und Kunstphilosophie rekonstruiert, um dann jeweils verschiedene Verteidigungsmöglichkeiten zu beschreiben. Vgl. exemplarisch zur Rehabilitation von Kants Geometrietheorie: Stekeler-Weithofer, Pirmin (2008): Formen der Anschauung. Eine Phi­ losophie der Mathematik, Berlin, New York: de Gruyter. Zur Rehabilitation von Hegels Malereitheorie: Pippin, Robert B. (2012): Kunst als Philosophie. Hegel und die moderne Bild­ kunst, Berlin: Suhrkamp.

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reller Gemeinsamkeiten und Analogien freilegt: so etwa mit Blick auf die Unterscheidung von diskursivem und nichtdiskursivem Denken, die Kritik an Metaphysik und Substanzdenken und den Zusammenhang von Anschauung, Bild, Leib und Relationenlogik. Diesen Analogien spürt die Studie durch den weitgehendend strukturgleichen Aufbau der Teile zu Kant und Hegel nach, markiert dabei aber auch die zahlreichen Unterschiede, die sich aus den Gegenstandsbereichen von Diagrammatik und Malerei und den philosophischen Grundintentionen der Autoren ergeben.

Anschauung und anschauliches Denken

Den Schlüsselbegriff der Rekonstruktion von Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie bildet der Begriff des anschaulichen Denkens, dessen hybrider Charakter diese Konzeptionen zwischen Epistemologie und Ästhetik verortet. Sie können insofern auch als Epistemologien des Ästhetischen oder ästhetische Epistemologien bezeichnet werden. Um die Grundlagen dieser Konzeptionen zu verstehen und ihre Position zwischen Metaphysikkritik, Epistemologie und Ästhetik zu bestimmen, betrachtet die Studie bei beiden Autoren vier Gedanken: ihre Auffassung zum Verhältnis von Anschauung und Begriff, die Unterscheidung einer empirischen und einer nichtempirischen Anschauung, eine jeweilige Konzeption der Eigenlogik der Anschauung und schließlich die eigentliche Konzeption eines anschaulichen Denkens von Geometrie und Malerei. Eine erste Perspektive fragt dabei, wie die Anschauungskonzeptionen Kants und Hegels als Teil einer Kritik an Metaphysik, Rationalismus, Intellektualismus und Substanzdenken zu verstehen sind und auf welche konkreten Argumente und Entdeckungen sie sich dabei beziehen. Im Zentrum der Rekonstruktion Kants steht seine Kritik am Rationalismus, genauer an der Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie mit ihrer reduktionistischen Auffassung von Sinnlichkeit als verworrener Begrifflichkeit. Den roten Faden der Rekonstruktion Hegels bildet wiederum dessen kritische Auseinandersetzung mit Kants Reflexions- und Subjektphilosophie. Eine zentrale These der Studie ist hierbei, dass Hegel Kants metaphysikkritischen Impetus aufnimmt und Kants Idee einer Eigenständigkeit der Anschauung kritisch weiterentwickelt. Hegel kritisiert dabei erstens, dass die von Kant in der theoretischen Philosophie vollbrachte Überwindung der Metaphysik der Objektivität vor allem in seiner praktischen Philosophie in das andere Extrem einer Metaphysik der Subjektivität umgeschlagen sei. Hierauf basiert die zentrale These der Studie, dass Kant in seiner Anschauungskonzeption das theoretische Welt-

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verhältnis in den Blick nimmt und erst Hegel die anschaulichen Grund­lagen des praktischen Sozialverhältnisses reflektiert. Zweitens kritisiert Hegel, dass Kants Reflexionsphilosophie der Subjektivität unüberbrückbare Trennungen hervorgebracht hat, die Hegel selbst in einer holistischen Konzeption des Geistes überwinden will. Hieraus resultieren jeweils zwei verschiedene Auffassungen zum Verhältnis von Anschauung und Begriff, aus denen zwei verschiedene Konzeptionen eines anschaulichen Denkens hervorgehen. Um die epistemologischen Grundlagen anschaulichen Denkens zu verstehen, nimmt die Studie ihren Ausgangspunkt in der Debatte um den Mythos des Gegebenen, für die die Philosophien Kants und Hegels wichtige Referenzpunkte sind. Auf dieser Grundlage formuliert sie ein epistemologisches Dilemma, dem sich Konzeptionen anschaulichen Denkens stellen müssen: Wie kann ein Begriff anschaulichen Denkens mehr besagen, als dass diskursives Denken Anschauungen benötigt ? Wie kann er umgekehrt vermeiden, eine problematische Epistemologie begriffslosen Anschauens zu vertreten ? Wie gezeigt werden soll, entwickeln Kant und Hegel zwei unterschiedliche Lösungen für dieses Problem, in denen jeweils die Idee einer Eigenlogik der Anschauung und die eines anderen Verhältnisses von Anschauung und Begriff eine zentrale Rolle spielen. Eine dritte Perspektive auf diese Anschauungskonzeptionen betrifft ihre Stellung im Diskurs der philosophischen Ästhetik. Eine zentrale Weichenstellung der Studie ist es, die Alternativkonzeption zum diskursiven Verstand bei Kant nicht in der Kritik der Urteilskraft zu suchen. Stattdessen nimmt sie die transzendentale Ästhetik und die Mathematiktheorie in den Blick, die, wie auch Hegels Ästhetik, das Ästhetische nicht als ästhetische Erfahrung, sondern als ästhetische Form des Denkens oder Wissens konzipiert. Bemerkenswert ist dabei eine Logik hybrider Begriffsbildungen wie ›nichtempirische Anschauung‹ und ›anschauliches Denken‹, die die traditionelle Hierarchie zwischen spontanem Begriff und passiver Sinnlichkeit verkomplizieren. Die Studie fragt insofern nach dem möglichen Gegenstand, auf den diese Begriffe zielen und danach, wie sich diese ästhetischen Epistemologien von Ästhetiken der Erfahrung, Kraft und Negativität unterscheiden.

Bildlichkeit und Bildlogik

Ein weiteres zentrales Anliegen ist es, den Beitrag von Kants Geometrieund Hegels Malereitheorie zu einer systematischen Theorie der Bildlogik zu rekonstruieren, um somit Einsichten der Ästhetik und Epistemologie um 1800 für die Bild- und Medientheorie des 20. und 21. Jahrhunderts fruchtbar zu

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machen. Hierfür wählt die Studie zwei parallele Vorgehensweisen. Die erste besteht in einem close reading der Aussagen von Kant und Hegel zum Thema der Bildlichkeit. Dabei geht es darum, zu klären, inwiefern Kant und Hegel Bilder nicht nur thematisieren, sondern ihre ästhetischen, epistemischen und logischen Eigenschaften in einer Weise reflektieren, die auch für eine gegenwärtige Bildtheorie interessant ist. Konkrete Aussagen über Bildartefakte und Bildpraktiken finden sich jenseits von Theorien der Einbildungskraft in der Theorie geometrischer Diagramme und figurativer Gemälde. Begleitet werden diese allerdings von Konzepten wie ›reine Anschauung‹ (Kant) und ›geistdurchdrungene Anschauung‹ (Hegel), die gängigerweise im Sinne eines medienvergessenen Idealismus interpretiet werden. Die Studie sucht daher nach alternativen Interpretationen solcher Konzepte, die einem heutigen Standard medienphilosophischer Reflexion genügen. Parallel hierzu wählt die Studie eine Vorgehensweise, die als paradigmatische Lektüre bezeichnet werden kann. Diese basiert auf der These, dass unter den Begriffen ›operative Bildepisteme‹ und ›performative Bildepisteme‹ bei Kant und Hegel zwei exemplarische Ausformulierungen einer Epistemologie der Bilder rekonstruiert werden können, die jeweils grundlegend unterschiedliche Modelle einer epistemischen Bildpraxis entwickeln: das Operieren mit diagrammatischen Visualisierungen und die Herstellung figuraler Gemälde, in denen wir einem lebendigen Gegenüber begegnen, zu dem wir in eine quasi-soziale Beziehung treten können. Beide Theorien lassen sich als Vorläufer von heutigen Positionen der Bildepistemologie begreifen, mit denen sie Familienähnlichkeiten teilen, ohne dass aber eines dem anderen zu subsumieren wäre. Mit Blick auf derartige Verwandtschaftsverhältnisse stellt die Studie daher regelmäßig Querverbindungen zu jüngeren und aktuellen Bildund Leiblichkeitstheorien her. Auf dieser Basis rekonstruiert die Studie mit Kant und Hegel zwei Varianten einer Bildlogik im Sinne einer Theorie der logischen und medialen Spezifika zweidimensional-flächiger Bildartefakte. Hierfür greift sie den Begriff der ikonischen Differenz auf, um jeweils drei Dimensionen von Diagrammen und figuralen Gemälden zu rekonstruieren: die Differenz von bedeutungstragender Figur und vorgängigem Grund, die Differenz von partikulärer Figur und allgemeiner Bedeutung und die Differenz von materiellem Bildträger und immateriellem Bildraum. Gesucht wird dabei nach den Gemeinsamkeiten ebenso wie den Unterschieden von Diagrammatik und Malerei. Hierbei zeigt sich auch, dass Kant und Hegel neben der Unterscheidung von Operativität und Performativität noch in einem anderen Sinne entgegengesetzte Optionen der Bildtheorie entwickeln: Kant ist in seiner Geometrie- wie auch in seiner Malereitheorie ein Vertreter des disegno, und fokussiert sich auf die Zeich-

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nung als den Formaspekt der Anschauung. Hegel ist demgegenüber Vertreter des colore und stellt Farbigkeit, Empfindung und Lebendigkeit ins Zentrum seiner Theorie der Medienspezifik der Malerei. Eine zentrale These der Studie zur Bildlogik ist, dass sich mit Kant und Hegel zeigen lässt, dass Bildlogik in einem essentiellen Sinne Körperlogik und Relationenlogik ist. Das heißt, dass es in beiden Konzeptionen einen wesentlichen Zusammenhang zwischen der Logik zweidimensionaler Bildartefakte und Logik des dreidimensionalen Anschauungsraums gibt. Diese These verbindet die Bildlogik mit der Metaphysikkritik, die bei Kant und Hegel jeweils mit der Einsicht in die unhintergehbare leibliche Eingebundenheit und Relationalität menschlicher Welt- und Sozialverhältnisse verbunden ist.

Kant und Hegel und der iconic turn

Eine letzte Forschungsfrage betrifft die Konsequenzen dieser bildphilosophischen Rekonstruktion Kants und Hegels für das Verständnis des iconic turn, in dessen Kontext beide Autoren häufig als paradigmatische Vertreter einer bilderfeindlichen Philosophietradition gelten. Gefragt wird dabei zunächst nach den impliziten und expliziten Prämissen, mit denen iconic turn und pictorial turn dieses Urteil begründet haben. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis des Bilddiskurses zur Rationalitätskritik und zum Differenz-, Negativitäts- und Alteritätsdenken des 20. Jahrhunderts, das in einem close reading wichtiger Positionen untersucht wird. Insbesondere an die Fundierung der Bildwende in einer globalen Logozentrismuskritik ist die Frage zu stellen, ob dabei stets hinreichend zwischen dem ›Logos‹ als Rationalität, als Sprache oder als Propositionalität unterschieden wurde. Ein Alternativentwurf schlägt daher vor, die Kritik von Intellektualismus und Substanzdenken bei Kant und Hegel als einen iconic turn avant la lettre zu verstehen, der mit der Entdeckung leiblicher und relationaler Logiken des Anschauungsraums zugleich das epistemische Potenzial der Bilder auf die philosophische Tagesordnung stellt. Hierzu gehört das Modell einer pluralen Bildepistemologie, das das operative Bildverständnis Kants und das performative Bildverständnis Hegels mit energetischen Bildkonzepten in ein Verhältnis setzt. Dieser Argumentationszusammenhang ist als ein philosophischer Denkversuch zu verstehen, der den möglichen Beitrag des kantschen und hegelschen Denkens zur Bildepistemologie in seinen maximalen Konsequenzen ausreizen will. Mit diesem Entwurf beginnt der erste Teil der Studie; er kann beim Lesen aber auch übersprungen werden, um bei Kapitel I.4 einzusteigen, das in die Lektüre Kants und Hegels einleitet.

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22  Einleitung

An dieser Stelle folgt eine knappe Skizze des Argumentationsgangs. Zu Zwecken der Übersichtlichkeit ist den einzelnen Kapiteln ebenfalls eine kurze Zusammenfassung vorangestellt. Zusammengelesen bilden diese Kapiteleinleitungen eine ausführliche Zusammenfassung des Argumentationsgangs der Studie. Teil I entwickelt die Rahmenargumentation einer kritischen Auseinandersetzung mit dem iconic turn und fragt, wie Kant und Hegel als Bilddenker gelesen werden können. Dies beginnt mit einem close reading von zentralen Positionen des Bilddiskurses seit den 1990er Jahren (I.1). Daraus werden die Vorschläge einer alternativen Auffassung der Bildwende (I.2) und einer alternativen Kartierung des Bilddiskurses (I.3) entwickelt. Es folgt eine Auseinandersetzung mit gängigen Ansätzen zur Bildlichkeit bei Kant und Hegel und die Darstellung des eigenen Ansatzes der Studie (I.4). Unter dem Stichwort ›Konstruktion‹ widmet sich Teil II der Studie Kants Geometrietheorie. Den Ausgangspunkt bilden die kritische Debatte zu Kants Mathematikphilosophie und neuere diagrammatische Lesarten, die Kant gegen die moderne Standardkritik des logischen Empirismus verteidigen (II.1). Ausgehend von seiner Kritik am intellektuellen System der Welt wird gezeigt, wie Kant die Anschauung als eigenständige Sphäre vom Begriff abtrennt und zugleich eine empirische und eine nichtempirische Anschauung unterscheidet (II.2). Vor dem Hintergrund dieser Kritik wird dann deutlich gemacht, wie Kants Entdeckung des Problems der inkongruenten Gegenstücke zur Theorie einer nichtbegrifflichen Eigenlogik des Raums als leiblicher, relationaler Anschauungsform führt (II.3). Es folgt die Lektüre von Kants Konstruktionstheorie als Theorie eines anschaulichen Denkens, die beschreibt, wie das Operieren mit geometrischen Diagrammen epistemische Überschüsse erzeugt (II.4). Den Abschluss bildet die Rekonstruktion einer am Konzept der Operativität ausgerichteten Bildlogik, die die ikonischen Differenzen von Figur und Grund, singulärer Darstellung und allgemeinem Inhalt sowie materiellem Bildträger und immateriellem Bildraum umfasst (II.5). Teil III untersucht unter dem Stichwort ›Entäußerung‹ Hegels Malereitheorie und folgt dabei weitgehend dem Aufbau von Teil II. Neuere verkörperungstheoretische Lesarten werden als Ausgangspunkt identifiziert, um an Hegels Ästhetik Aspekte freizulegen, die die differenztheoretische Kritik Adornos und Derridas unberücksichtigt gelassen hat (III.1). Anhand von seiner Kantkritik wird gezeigt, wie Hegel Kants Überlegungen zu Anschauung und Begriff kritisch fortsetzt und ebenfalls zwei Dimensionen der Sinnlichkeit unterscheidet (III.2). Hegels Kritik einer Metaphysik der Subjektivität bildet den Hintergrund für die Darstellung seiner Gedanken zur verkörperten Intersubjektivität und zur Expressivität menschlicher Leiblichkeit (III.3).

Einleitung

Hegels Modell eines anschaulichen Denkens wird rekonstruiert als eine Tätigkeit, die über ästhetische Externalisierungen zu einer nichtbegrifflichen Erkenntnis menschlicher Lebensformen gelangt (III.4). Dies konkretisiert sich in der Auseinandersetzung mit der Bestimmung der Malerei als romantischer Kunst, die zeigt, dass Hegel ein eigentümliches Konzept der Medienspezifik figurativer Malerei hat, in dessen Zentrum Farbe und Raum, eine performative Handlungslogik und eine relationale Subjektkonzeption stehen. Abschließend wird herausgearbeitet, wie sich auch diese performative Logik der Malerei in drei Dimensionen einer ikonischen Differenz ausprägt (III.5). Das Schlusskapitel fasst die wichtigsten Ergebnisse mit Blick auf die eingangs dargestellten Forschungsfragen zusammen.

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TEIL I Vom iconic turn zu Kant und Hegel



D  

ieser erste Teil versucht das Verhältnis von iconic turn und pictorial turn zu den Philosophien Kants und Hegels zu bestimmen. Die kritische Analyse exemplarischer Positionen seit den 1990er Jahren wird dabei zum Ausgangspunkt für alternative Verständnisse von Bildwende und Bildtheorie, die es letztendlich möglich machen sollen, diese Konzepte auch bei Kant und Hegel wiederzufinden. Im Sinne der vierten Forschungsfrage der Einleitung werden dabei bereits thesenhaft Schlussfolgerungen vorweggenommen, die sich aus der Kant- und Hegellektüre dieser Studie ergeben haben. Weil sie aber auch wichtige Prämissen zum Verständnis der späteren Argumentation enthalten und zugleich überhaupt die Sicht auf Kant und Hegel als Bildphilosophen im Sinne der Studie eröffnen, wird die folgende Auseinandersetzung den Einzelanalysen vorangestellt. Am Beginn steht ein exemplarisches close reading von sechs bildtheoretischen Positionen, das das Verhältnis von Rationalität und Nichtrationalität als ein zentrales Organisationsschema des jüngeren Bilddiskurses identifiziert (I.1): Mitchell und Boehm verbinden den Gedanken der Wende zum Bild mit der Tradition der Rationalitätskritik, wodurch der gesuchte nichtsprachliche Logos des Bildes prinzipiell den Charakter einer Anomalie erhält (I.1.1). Die Kontroverse zwischen Wiesing und Bredekamp reproduziert diesen Dualismus innerhalb der Bildtheorie als Frontstellung zwischen einer rationalistisch-aufklärerischen und einer rationalitätskritisch-bildmythologischen Position (I.1.2). An Bogen und Boehm zeigt sich, wie dieser Dualismus auch die Differenzierung verschiedener Dimensionen von Bildlichkeit prägt, insofern zwischen epistemisch potenten und epistemisch depotenzierten Bildern unterschieden wird (I.1.3). Dieser Bestandaufnahme folgen vier Thesen zum iconic turn. In diesen schlägt die Studie eine andere Deutung der Bildwende vor, die sich nicht am Verhältnis von Rationalität und Nichtrationalität orientiert und die Positionen Kants und Hegels integrieren kann (I.2): Der iconic turn sollte nicht im Argumentationsschema der Rationalitätskritik, sondern in einer philosophischen Anthropologie fundiert werden (I.2.1). Die epistemische Funktion von Bildlichkeit kann mit Blick auf verschiedene anthropologische Grundverhältnisse differenziert werden (I.2.2). Der iconic turn basiert zum einen darauf, dass derartige Grundverhältnisse nicht intellektualistisch, sondern im Sinne einer Theorie der Verkörperung aufgefasst werden (I.2.3). Zum anderen basiert er auf der kritischen Einschränkung der Geltung von Logiken der Substanzialität zugunsten von Logiken der Relationalität (I.2.4).



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Teil I · Vom iconic turn zu Kant und Hegel

Hierauf folgt die Skizze einer alternativen Kartierung des Bilddiskurses, die drei Dimensionen einer Bildepistemologie unterscheidet (I.3). Eine erste Bildepisteme kann operativ genannt werden. Sie betrifft die Anschaulichkeit der Welt, die Rolle von Bildern in der menschlichen Welterschließung. Hier ist Kants Theorie des anschaulichen Denkens der Geometrie einzuordnen (I.3.1). Eine zweite Bildepisteme ist performativ und betrifft die Anschaulichkeit des Sozialen in verkörperten Subjekt-Subjekt-Beziehungen. Dies ist der Ausgangspunkt von Hegels Malereitheorie (I.3.2). Eine dritte Bildepisteme ist energetisch und bezieht sich auf eine anschauliche Dimension der Alterität. Dieses Modell liegt der Anbindung der Bildtheorie an die philosophische Rationalitätskritik zu Grunde, wie sie bei Mitchell, Boehm und Bredekamp geschieht (I.3.3). Danach wird in einem ersten Blick auf den Forschungsstand nach möglichen Strategien gefragt, um Kant und Hegel als Bilddenker zu rekonstruieren (I.4). Hierzu gehört zunächst die Rekonstruktion von Kant und Hegel als Denker der Repräsentation, als Denker der Einbildungskraft und als paradigmatische Bilderfeinde. (I.4.1). Ihnen wird der in dieser Studie verfolgte Ansatz entgegengestellt: Dieser findet seinen Bezugspunkt einerseits in konkreten Bildpraktiken der Geometrie und Malerei, andererseits in den Begriffen ›Ästhetik‹, ›Anschauung‹ und ›anschauliches Denken‹. Spezifisch für die betrachteten Ästhetiken Kants und Hegels ist dabei allerdings, dass es nicht um das Ästhetische als Gegenpol zu rationalen Vermögen geht, sondern um verkörperte Logiken des menschlichen Welt- und Sozialverhältnisses (I.4.2). Abschließend wird eine weitere Dimension des Vergleichs der beiden Autoren eingeführt: Kants Bildauffassung orientiert sich am disegno, Hegels Bildauffassung am colore (I.4.3).

1.  Sechs kritische Lektüren zum iconic turn

Die These dieser Studie, dass es bereits bei Kant und Hegel philosophische Bildtheorien gibt, stellt sich gegen Selbstbeschreibungen der Bildwende, die einen pictorial turn (Mitchell, 1992) bzw. iconic turn (Boehm, 1994) als historische Aufgabe in den 1990er Jahren ansiedeln. Eine Wende zum Bild legitimierte sich dabei zweifach: Erstens schien sich das Bild der wissenschaftlichen Reflexion aufgrund der medientechnologischen Entwicklung gleichsam von außen aufzudrängen.1 Zweitens erschien es als zuvor verdrängter und nun wiederkehrender Topos innerhalb einer als bildvergessen oder gar bilderfeindlich geltenden westlichen Theorietradition. Diese Abgrenzung war aber wiederum eine doppelte: Zum einen ging es um eine kritische Ergänzung zum linguistic turn. Neben die fundamentale Rolle der Sprache (d. h. der Signifikanten, Worte, Begriffe und Urteile) für unser Welt- und Selbstverhältnis sollte die bisher zwar vernachlässigte, aber ebenso fundamentale Rolle der Sichtbarkeit, des Zeigens und der Bilder treten. Zum anderen begriff sich die Wende zum Bild als eine Fortsetzung der Rationalitätskritik des 20. Jahrhunderts mit anderen (nämlich medientheoretischen) Mitteln.2 Hier wird behauptet, dass genau die unmittelbare Überblendung dieser zwei Motive den Zugang zu einem kantischen und hegelschen Bilddenken systematisch verstellt, indem die philosophische Tradition insgesamt als bilderfeindlich begriffen wird und die Pluralität von Funktionen der Bilder im menschlichen Welt- und Selbstverhältnis unberücksichtigt bleibt. Wie dies geschehen ist, 1 »Die ›Wendung zum Bild‹ kommt nicht von ungefähr, sondern stützt sich auf die tiefgreifenden Transformationen, die das Bild durch die Avantgarden des 20. Jahrhunderts erfuhr und die seine Erscheinungs- und Darstellungsweise extrem vervielfältigt haben. Die digitalen Technologien haben des Weiteren dafür gesorgt, das Bild zu dem zu machen, was es vordem nie gewesen war: ein flüssiges und interaktives Mittel der Kommunikation.« Boehm 2011, 170. »[W]e find that the problem of the twenty-first century is the problem of the image. Certainly, I would not be the first to suggest that we live in a culture dominated by pictures, visual simulations, stereotypes, illusions, copies, reproductions, imitations, and fantasies. What we need is a critique of visual culture that is alert to the power of images for good and evil and that is capable of discriminating the variety and historical specificity of their uses.« Mitchell 1994, 2 f. 2 Es gibt selbstverständlich Ausnahmen, wie exemplarisch die Semiotik, für die Stjernfelt feststellt: »The return of schematic iconicity is probably the main event in semiotic scholarship during the recent decades«. Deren metatheoretische Behandlung will Stjernfelt selbst mit seiner an Peirce orientierten Diagrammatologie vorlegen. Stjern­felt, Frederik (2007): Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phe­ nomenology, Ontology, and Semiotics, Dordrecht: Springer, 89.



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Teil I · Vom iconic turn zu Kant und Hegel

soll nun – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in sechs kritischen Lektüren herausgearbeitet werden.

1.1  Die Wende zum Bild als Rationalitätskritik 1.1.1 Mitchell: pictorial turn

W. J. T. Mitchell betrachtet den pictorial turn zunächst in Analogie zu Rortys linguistic turn3 als einen »shift in what philosophers talk about«, verbunden mit »a complexly related transformation … in other disciplines of the human sciences and in the sphere of public culture.«4 Spezifisch für das Bild ist hierbei sein Status »somewhere between what Thomas Kuhn called a ›paradigm‹ and an ›anomaly‹«5. Tritt das Bild im pictorial turn also zunächst an die Stelle des Paradigmas der Sprache im linguistic turn, stellt es als Anomalie zugleich die Möglichkeit einer – sprachlich verfassten – Wissenschaft vom Bild überhaupt in Frage. Ursache hierfür ist das angenommene Ausschluss- und Alteritätsverhältnis von Logos und Bild. Im Namen des zoon logon echon hatte die Tradition das Bild stets in die Position des Vor- oder Subrationalen6 gerückt oder als das passive Andere des sprechenden, spontanen Selbst in die Position eines Subalternen.7 Festzuhalten ist also: Die Bilderfeindlichkeit der klassischen Philosophie ist das Produkt ihres Logozentrismus, verstanden als doppelte Privilegierung der Sprache über das Bild und der Ratio über ihr Anderes. Daraus folgt für eine Iconology, dass »the very name of this ›science of images‹ bears the scars of an ancient division and a fundamental paradox that cannot be erased from its workings.«8 Zur Gretchenfrage der Bildtheorie wird 3 Zur Charakteristik des linguistic turn: »Linguistics, semiotics, rhetoric, and various models of ›textuality‹ have become the lingua franca for critical reflections of the arts, the media, and cultural forms. Society is a text. Nature and scientific representations are ›discourses.‹ Even the unconscious is structured like a language.« Mitchell 1994, 11. Vertreter sind Peirce, Goodman, die europäische Phänomenologietradition, die Frankfurter Schule, Foucault, Wittgenstein. Ebd. 12. 4 Ebd. 11. 5 Ebd. 13. 6 »There is an ancient tradition, of course, which argues that language is the essential human attribute: ›man is the speaking animal‹. The image is the medium of the sub­ human, the savage, the ›dumb‹ animal, the child, the woman, the masses.« Ebd. 24. 7 »This otherness or alterity of image and text is not just a matter of analogous structure, as if images just happened to be the ›other‹ to texts. It is, as Daniel Tiffany has shown, the very terms in which alterity as such is expressed in phenomenological reflection, especially in the relation of speaking Self and seen Other.« Ebd. 28.   8 Ebd. 24 f.



Sechs kritische Lektüren zum iconic turn

daher für Mitchell der Umgang mit einer Machtkonstellation von Methode (Logos) und Forschungsgegenstand (Bild).9 Kritikobjekt ist Panofskys Ikonologie, die eine ›diskursive Wissenschaft der Bilder‹ und ›Beherrschung des Bildes durch den Logos‹ betreibe, zugleich aber – im Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten – vom Bild in Form unhinterfragter Ähnlichkeitsannahmen und totalisierender Weltbilder heimgesucht werde.10 Mitchells picture theory verfolgt demnach eine doppelte Strategie: Zum einen sollen in den Theorien selbst »visual paradigms« aufgespürt werden, »that seem to threaten and overwhelm any possibility of discursive mastery«11. Zum anderen soll eine wiederbelebte oder kritische Ikonologie entstehen, die sich von Panofskys diskursivem Überfall auf das Bild12 (oder auch semiotischen und diskursiven Bildmodellen)13 dadurch abgrenzt, dass sie »would surely note […] the resistance of the icon to the logos.«14 Es geht also darum, die Idee einer Bildwissenschaft im Sinne eines kontrollierenden theoretischen Metadiskurses aufzugeben, und stattdessen zu fragen, wie »pictures attempt to represent themselves«15 – im Sinne von Metabildern und der berühmt-berüchtigten 9 Diese Fokusverschiebung vom Konzept einer Bildtheorie hin zu einer Machttheorie der Bilder beschreibt Mitchell schon in der Einleitung zu Iconology (1986): »The simplest way of stating this is to admit that a book which began with the intention of producing a valid theory of images became a book about the fear of images.« Mitchell, W. J. T. (1986): Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago: University of Chicago Press, 3. auch: Eine theory of pictures erscheint daher »an attempt to master the field of visual representation with a verbal discourse«; demgegenüber geht es Mitchell in seinem Entwurf des Pictorial Turn um »the way modern thought has reoriented itself around visual paradigms that seem to threaten and overwhelm any possibility of discursive mastery.« Mitchell 1994, 9. 10 Bezüglich »the root meanings of the very word ›iconology‹«: »On the one hand, we are promised a discursive science of images, a mastering of the icon by the logos; on the other hand (as Wood notes), certain persistent images and likenesses insinuate themselves into that discourse, leading into totalizing ›world-pictures‹ and ›world-views.‹ The icon in iconology is like a repressed memory that keeps returning as an uncontrollable symptom.« z. B. »Aristotle’s wax tablet, Locke’s dark room, Wittgenstein’s hieroglyphic«. Ebd. 24. 11 Ebd. 9. 12 Ebd. 24. Vgl. auch: »in which the ›icon‹ is thoroughly absorbed by the ›logos,‹ understood as a rhetorical, literary, or even (less convincingly) a scientific discourse.« Ebd. 28. 13 »What pictures want from us, what we have failed to give them, is an idea of visuality adequate to their ontology.« Mitchell, W. J. T. (2005): What Do Pictures Want ? The Lives and Loves of Images, Chicago: University of Chicago Press, 47. Problem hierbei sind »›semiotic‹ or ›discursive‹ models of images that will reveal them as projections of ideology, technologies of domination to be resisted by clear-sighted critique.« Ebd. 14 Mitchell 1994, 28. 15 Ebd. 24.

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Teil I · Vom iconic turn zu Kant und Hegel

Frage ›What do pictures want ?‹16. Der »encounter between the ›icon‹ and ›logos‹« solle statt in einer Bild-Wissenschaft oder Bild-Logik eher nach dem Vorbild der »paragone of painting and literature« organisiert werden.17 Zwei Dinge sind hieran problematisch: Mitchell identifiziert den Logos als Sprache (das Thema des linguistic turn) mit dem Logos als Ratio (das Thema der klassischen Philosophietradition). Damit bezeichnet Bildlichkeit nicht nur ein zur Sprache alternatives Register des Medialen, sondern unmittelbar auch eine Anomalie sui generis, die außerhalb der Ratio steht und das Projekt einer Ikono-Logie inhärent paradox macht. Diese Vorentscheidung für das Bild als Alterität zeigt sich auch dort, wo Mitchell die unhintergehbare Rolle von »visual reciprocity … in mediating social relations« anspricht, die »not reducible to language, to the ›sign,‹ or to discourse« sei.18 Mitchell vertritt hier eine Einsicht, die auch für das Hegel-Kapitel wichtig sein wird: dass das Sehen und Gesehenwerden eine konstitutive epistemische Funktion für Subjekt-Subjekt-Beziehungen hat und Bilder auch als Quasi-Subjekte, d. h. nicht nur als Gegenstand, sondern als Gegenüber fungieren können.19 Dieser Gedanke bleibt aber nur teilweise entfaltet, insofern für Mitchell das Bild als Quasi-Subjekt oder Gegenüber stets die Position von subalternen Subjekten haben soll:20 »the power of pictures and of women is modeled on one another, and … this is a model of both pictures and women that is abject, mutilated and castrated.«21 Wird die Position der Wissenschaft zum Bild also als eine asymmetrische und eindimensionale Herrschaftsbeziehung (›mastering of 16 In dem gleichnamigen Aufsatz von 1996, wiederabgedruckt und erweitert in Mitchell 2005. 17 Mitchell 1994, 24. 18 Mitchell 2005, 47. 19 Mitchell hebt dabei richtigerweise die Rolle von Anerkennung (recognition) hervor »shift[ing] both ›sciences‹ from an epistemological ›cognitive‹ ground (the knowledge of objects by subjects) to an ethical, political, and hermeneutic ground (the knowledge of subjects by subjects …).« Mitchell 1994, 33. Das Problem ist, dass er ein Ausschlussverhältnis zwischen diesen Perspektiven annimmt, während es sich aus Sicht dieser Studie, wie unten gezeigt werden soll, um komplementäre und gleichermaßen konstitutive Dimensionen von Bildlichkeit handelt. 20 Diese schlägt zwei Verschiebungen im Bilddiskurs vor: »(1) assent to the constitutive fiction of pictures as ›animated‹ beings, quasi-agents, mock persons; and (2) the construal of pictures not as sovereign subjects or disembodied spirits but as subalterns whose bodies are marked with the stigmata of difference, and who function both as ›go-betweens‹ and scapegoats in the social field of human visuality.« Mitchell 2005, 46; zentral auch: »If pictures are persons, then, they are colored or marked persons« Ebd. 35. Dies soll später mit Blick auf die Idee einer Dimension visueller Reziprozität noch einmal in Frage gestellt werden. 21 Ebd. 36.

Sechs kritische Lektüren zum iconic turn



the image by the logos‹) verstanden, so findet diese ihr Gegenbild in einer ebenso asymmetrischen Beziehung der Herrschaft des Bildes, das seinen Betrachter etwa durch den Medusa-Effekt in seinen Bann schlägt.22 In beiden Dimensionen wird die Bildwissenschaft somit auf einen Grenzfall verpflichtet: Als nicht zu beseitigende Anomalie ebenso wie als subalternes Subjekt kann das Bild keine konstitutive Funktion für unser Welt- und Selbstverhältnis erfüllen, sondern muss dieses stets usurpieren. Der pictorial turn wird so auf eine alteritätstheoretische Richtung festgelegt.

1.1.2 Boehm: iconic turn

Gottfried Boehm führt die »ikonische Wendung« ebenfalls in »Analogie« zum linguistic turn ein. Es handelt sich um die »Rückkehr der Bilder, die sich auf verschiedenen Ebenen seit dem 19. Jahrhundert vollzieht.«23 Dabei ist wie bei Mitchell zunächst eine Dimension von Bildlichkeit innerhalb des philosophischen Logos gemeint. Der iconic turn ist eine »Wendung zum Bild als unvermeidliche[] Figur der philosophischen Selbstbegründung«24. Wie bei Mitchell wird das Bildliche nach dem Schema einer Wiederkehr eines Verdrängten innerhalb des Logos wirksam und konterkariert so zugleich das Begründungsprojekt des linguistic turn. Gemeint sind hierbei die Bemühungen von Carnap, Ryle oder Russell, den »letzten Grund alles Argumentierens« in den »Regeln der Sprache« zu fundieren. Diesen gegenüber stehen etwa »Kant, Kierkegaard, Nietzsche, Freud, Wittgenstein, Husserl, Heidegger u. ä.« als Denker, bei denen sich »der Erkenntnisanspruch und die Erkenntnis­ sicherheit der Philosophie zu verändern [begannen], und damit dem Bild (der Einbildungskraft, der unbewußten Imagination, der Metapher, der Rhetorik usf.) eine neue Rolle und Legitimität zuwuchs.«25 An dieser Stelle nähert sich Boehm der These dieser Studie von Kant als Bilddenker an. Gegenüber den an den »strengen Regeln der Logik«26 orientierten Fundierungsversuchen 22

Ebd. 46. Boehm 1994, 13. 24 Ebd. 14. Damit kommt es zur Doppeldeutigkeit, das Bildliche zugleich als etwas innerhalb des philosophischen Logos (als Einbildungskraft, Familienähnlichkeit etc.) und als Eigenschaft konkreter Bildartefakte denken zu wollen. Vgl. auch: »Die ikonische Differenz macht als theoretische Figur den Versuch, das Ikonische im Logos bzw. als Logos zur Geltung zu bringen.« Boehm 2011, 121. 25 Boehm 1994, 12. Bei Kant bezieht sich Boehm auf die Rolle der Einbildungskraft in der transzendentalen Deduktion, nicht aber auf transzendentale Ästhetik und Mathematiktheorie, die in dieser Studie Thema sind. 26 Ebd. 13. 23

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Teil I · Vom iconic turn zu Kant und Hegel

des linguistic turn sollen sich die entsprechenden nicht-sprachlichen Gründe aber eher als Ungründe erweisen. Die von Boehm an dieser Stelle identifizierte ikonische Wendung der Philosophie seit Kant entspricht in etwa der von Bäumler oder Welsch beschriebenen Tendenz der Philosophie seit dem 18. Jhd., das Ästhetische als ein tendenziell Irrationales in den Begriff des Denkens mit aufzunehmen.27 Die Argumentation Boehms – wie auch diejenige Mitchells – erinnert aber ebenfalls an Derridas Argumentation zur Schrift: In Analogie zur Schrift als pharmakon erweist sich der Rekurs auf das Bild zugleich als notwendige Voraussetzung wie Bedingung der Unmöglichkeit eines logozentrischen Systems.28 Gegenüber dieser historischen Genealogie beruht die von Boehm anderswo als »Hermeneutik des Bildes«29 projektierte Bildwissenschaft hingegen auf einem radikalen historischen Bruch. Die Betrachtung von Bildartefakten – so die These – sei in der Geschichte stets sprachlich überformt gewesen: Von Platon bis Saussure sei die Idee des Logos bestimmt vom »Vorrang der Sprache … und der ihr einwohnenden Ontologie«30. Die antike und neuzeitliche Tradition der Bildauslegung verdecke das Problem der Differenz von Bild und Sprache durch das »literarische Thema« als »problemloses tertium comparationis«31. Hinzu kommt wie schon bei Mitchell die Kritik an Panofskys Ikonologie: Innerhalb von deren Prämissen bekomme »das Bild den Rang eines Derivates, das sich aus sprachlichem und das heißt ›realem‹ Sinn ableiten läßt.«32 Im Zentrum von Boehms Bildhermeneutik dagegen soll die »Argumentationsfigur der ikonischen Differenz stehen«, und diese sei »dann erfolgreich, wenn sie zu begründen vermag, wie die Bilder Sinn generieren und woraus sie ihre Kraft ziehen, ohne von sprachlichen oder sprachanalogen Modellen Gebrauch zu machen.«33 Hierbei kann sie aber nicht z. B. auf Konzeptionen von Deleuze, Derrida, Heidegger oder Hegel zurückgreifen. Grund 27 Vgl. Welsch, Wolfgang (1990): Ästhetisches Denken, Stuttgart: Reclam, und Baeumler, Alfred (1967): Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Laut Boehm kann diese Tendenz noch weiter zurückverfolgt werden, z. B. zu »Plotins Denken des Einen«. Boehm 1994, 14. 28 Vgl. Derrida, Jacques (1995): Dissemination, Wien: Passagen, 106 ff. 29 Boehm, Gottfried (1978): »Zu einer Hermeneutik des Bildes«, in: Hans-Georg Gadamer; ders. (Hg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 444–471, 444. 30 Ebd. 448. 31 Ebd. 445. 32 Ebd. 453; Weiter: »Es bildet von sich aus keinen Sinn aus und ist zur Darbietung eigener Wahrheiten nicht fähig«. 33 Boehm 2011, 174.

Sechs kritische Lektüren zum iconic turn



sei die »Diagnose der abendländischen Theoriegeschichte, die – so unsere Behauptung – bis anhin nie wirklich dahin gelangte, dem Logos einen präverbalen, insbesondere ikonischen Sinn zuzugestehen.«34 Vorbild und Orientierungspunkt für den iconic turn ist dagegen vor allem das veränderte Bildverständnis, das in der Kunst der Moderne entwickelt wurde. Entscheidend für Boehm sind insofern immer wieder Bildbeispiele von Cézanne, Matisse oder Mondrian.35 Auch bei Boehm ist das Bild also im weitesten Sinne das Andere des abendländischen Logozentrismus. Die problematische Vieldeutigkeit von ›Logos‹ zeigt sich dabei auch in der Vieldeutigkeit dessen, was als ›Bild‹ dagegen in Stellung gebracht werden soll: (i) Zunächst sind es Eigenschaften ikonischer Präsenz und Visualität, die das Bild vom Logos als (Laut-)Sprache unterscheiden: Die ikonische Differenz tritt dabei als Alternative neben die Saussure’sche Konzeption des Sprachzeichens. Als Grundlage einer bestimmten Logik im Sichtbaren geht es dabei um einen »ikonischen Kontrast«, von dem etwa gesagt werden kann, »er sei zugleich flach und tief, opak und transparent, materiell und völlig ungreifbar«.36 (ii) Auf einer zweiten Ebene unterscheidet sich das Bild vom Logos als Propositionalität, d. h. dem sprachlichen Aussagesatz der Form ›S ist p‹: »Die ikonische Differenz generiert Sinn, ohne ›ist‹ zu sagen, sie eröffnet Zugänge zur Realität, die ›sich erweisen‹, die ›sich zeigen‹.«37 Die Grenze von Bild und Logos verläuft hier nicht mehr zwischen Sehen und Sprechen, sondern auch innerhalb der Sprache selbst: Die Metapher drohe für die an Propositionalität orientierte »analytische Sprachtheorie« aufgrund ihrer Vieldeutigkeit »zu einer erkenntnisgefährdenden Krankheit auszuwachsen«. Analoges gilt für das »lange verschüttete« Phänomen der Rhetorik und die »affektiven Wirkungen der Rede«.38 (iii) Schließlich erscheint das Bild auch als das Andere des Logos im Sinne rationaler Praxis oder gründender Subjektivität. Bildlichkeit steht dann für die Dimension ästhetischer und irrationaler Ungründe an der Wurzel des philosophischen Denkens, wie beispielswiese die Einbildungskraft. Ebenso findet sich dies in der Idee einer Spontaneität und eines Zurückblickens der Bilder: »Dieses Erblickt-werden unterliegt nicht dem Willen des Subjekts, es erscheint ›in 34

Ebd. 172. Vgl. ebd. 170. 36 Boehm 1994, 35. 37 Boehm 2011, 174. 38 Boehm 1994, 27. Dieser Rekurs auf die Metapher steht deutlich in Spannung zu der von Boehm postulierten Gelingensbedingung der ikonischen Differenz: zu begründen, woraus Bilder »ihre Kraft ziehen, ohne von sprachlichen oder sprachanalogen Modellen Gebrauch zu machen«. Boehm 2011, 174. 35

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Form einer befremdlichen Kontingenz‹ (ist Symbol des konstitutiven Mangels, in psychischer Hinsicht: der Kastratiosnangst [sic !]).«39 So wie er im Begriff des Logos tendenziell die Register von Sprache, Proposition und Ratio verschleift, changiert ›Bild‹ bei Boehm zwischen den Bedeutungen ›sichtbare Inskription‹, ›nichtpropositionale Sinnerzeugung‹ und ›Alterität‹. Dem ist aber entgegenzuhalten: Visuell-spatiale Medialität und Nichtpropositionalität implizieren noch nicht jenen Charakter einer unbewältigbaren Anomalie, wie ihn auch Mitchell in das Zentrum des picto­ rial turn stellt. Bestes Beispiel hierfür sind diagrammatische Inskriptionen, die nicht-sprachlich und nicht-propositional fungieren,40 zugleich aber eine konstitutive Rolle für unser rationales Weltverhältnis und das neuzeitliche Projekt der Naturbeherrschung spielen. Diese Verschleifung verschiedener Rede­bereiche durch Boehm und Mitchell kann auch als ein Grund für die These einer generellen Bilderfeindlichkeit der westlichen Philosophietradition identifiziert werden. Durch sie scheint das Eigentümliche des Bildes automatisch mit jenen Formen von Nichtverstehen und Negativität zusammenzufallen, die eigentlich nur als ein Aspekt oder Grenzfall ikonischer Logik zu werten wären, und die wohl am deutlichsten an Werken moderner Kunst hervortreten. Insofern stillschweigend vorausgesetzt wird, dass im Logozentrismus Sprache, Logik und Ratio zusammenfallen, wird undenkbar, dass die klassische Philosophie überhaupt einen Beitrag zur Aufklärung der Logik des Bildlichen leisten könnte. So sind Kants Theorie transzendentaler Subjektivität und Hegels Geistphilosophie zwar einerseits Großtheorien des Logozentrismus, die durchaus kein Gespür für jene Alterität und Negativität haben, die den Bildern unter anderem auch zukommen kann. Dennoch entwirft Kant eine Theorie der Unverzichtbarkeit diagrammatischer Erkenntnis und Hegel eine Theorie der expressiven Logik der menschlichen Gestalt, die zugleich Grundlage des Bildsinns der Malerei ist. So kann deutlich gemacht werden, dass die Ratio für Kant und Hegel durchaus visuelle und nichtpropositionale Dimensionen hat. Wie später noch gezeigt wird, lassen sich bei beiden Denkern Grundlagen einer Bildlogik und ein komplexes Verständnis ikonischer Differenzialität rekonstruieren. Festgehalten werden kann aber auch: Wenn es bei Kant und Hegel einen iconic turn avant la lettre gibt, ist dieser kein grundsätzlicher Schritt aus der Ratio hin39 Boehm 1994, 23. Dies – zunächst in Nachfolge von Sartre als eine Theorie des Blicks entwickelt  – überträgt Lacan auch auf Bilder: »Aus der Überkreuzung von Auge und Blick überträgt sich ins Bild ›mit Sicherheit immer ein Blickhaftes‹ (107).« Ebd. 24. Boehm zitiert hier Lacans Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. 40 Obgleich sie natürlich – wie wohl fast alle Bildpraktiken – mit sprachlichen Praktiken verflochten sind.

Sechs kritische Lektüren zum iconic turn



aus. Es geht stattdessen um die konstitutive Rolle von Visualität und Bildlichkeit für unser Welt- und Selbstverhältnis und damit gleichsam um eine anschauliche und praxeologische Dimension theoretischer und praktischer Vernunft.

1.2 Polarisierung und Alleinvertretungsansprüche

Das rationalitätskritische Schema findet sich aber nicht nur in der Konstellation von rationalistischem linguistic turn (und Logozentrismus) und rationalitätskritischem pictorial bzw. iconic turn. Es reproduziert sich auch innerhalb des Bilddiskurses in der Kontroverse zwischen den Vertretern verschiedener Bildkonzeptionen. Exemplarisch hierfür sind die polemischen Differenzen zwischen Wiesings Selbstverständnis als Aufklärer und der aufklärungskritischen Position Bredekamps. Daran wird sichtbar, wie das rationalitätskritische Programm bei seinen Gegnern wie seinen Anhängern Alleinvertretungsansprüche über den Gegenstand ›Bild‹ im Singular produziert. Zugleich entsteht die Idee, es gehe im Bilddiskurs darum, sich im Rahmen einer subjektiven Haltung einem bestimmten Lager zuzuordnen. Damit wird verstellt, dass solche Ansätze – schon auf der Ebene der Phänomene – von verschiedenen Dimensionen und Funktionen von Bildern handeln, die nur zusammen eine umfassende Bildepistemologie ergeben können.

1.2.1 Wiesing: die neue Bildmythologie

Den Ansätzen von Boehm und Mitchell ist gemeinsam, Bildern nicht nur Präsenz und Nichtpropositionalität, sondern zugleich eine Kraft zuzuschreiben, die, in gezielter Umkehrung einer Macht- und Verdrängungsbeziehung, die menschliche Ratio oder den philosophischen Logos herausfordert und destabilisiert. Zugleich gibt es – vor allem bei Mitchell – den Gedanken, dass eine Bildepistemologie Bilder nicht nur als Gegenstände, sondern auch als Gegenüber, d. h. als Quasi-Subjekte beschreiben kann. Eine scharfe Kritik an solchen Ansätzen findet sich bei Wiesing, der sie als neue Bildmythologie und »Vermenschlichung des Bildes« begreift.41 Damit wirft er Autoren wie 41

»Die Vermenschlichung des Bildes biete einen gewaltigen Vorteil; mit der anthropomorphen Sprache lässt sich eine angeblich bei Bildern vorhandene Dimension erfassen, nämlich die, die in der neuen Bildmythologie mit Schlagworten beschwört wird, wie: die ›Kraft der Bilder‹ [Boehm], die ›Macht der Bilder‹ [Waldenfels], das ›Leben der Bilder‹ [Mitchell], die ›Faszination des Bildes‹ [Boehm] oder auch die ›Lebendigkeit des

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Mitchell, Boehm, Bredekamp und Figal vor, »das Bild und insbesondere die Kunst … zu einem Ort des Numinosen und des Kitsches zu verklären«42. Legitim sei zwar die dort geübte Kritik an semiotischen und sprachanalytischen Bildtheorien, die der »Eigenständigkeit und Besonderheit des Bildes nicht gerecht« würden, weil darin »das Bild als ein bloßes sprachliches Kommunikationsmedium beschrieben sei«.43 Die Übereinkunft mit seiner eigenen Position sieht Wiesing darin, »dass Bilder keine Zeichen sein müssen und dass Bilder über ihre spezifische Sichtbarkeit und Präsenz zu beschreiben sind.«44 Diese legitime These vermenge die Bildmythologie aber mit dem Gedanken einer Lebendigkeit des Bildes, die »die angeblich vorhandene besondere Faszination des Menschen für Bilder« zu erklären versuche.45 In einer derartigen »Fusion von zwei Aufgabenstellungen«46 werde das bildliche Zeigen unmittelbar mit einer bildeigenen Aktivität gleichgesetzt, womit man bei dem für Wiesing sinnlosen Begriff des ›sich selbst zeigenden‹ Bildes landet.47 Wiesings Kritik überschneidet sich in gewissem Maße mit der, die oben formuliert wurde: dass eine Unterscheidung von bildlichem und sprachlichem Sinn nicht unmittelbar auf die Eigenschaft bestimmter Bilder zurückzuführen ist, uns als Betrachter zu faszinieren oder gefangen zu nehmen. Problematisch aus Sicht dieser Studie ist die Kritik Wiesings aber dort, wo er diesem Erfahrungsbereich grundsätzlich die Legitimation abspricht, etwa in Anspielung auf Rilke: »Da ist zum Glück keine Stelle, die mich sieht.«48 Wiesing möchte seine Kritik an der »vitalistische[n] Einstellung dem Bild gegenüber« in Analogie zur Kritik an der Vermenschlichung des Gehirns in der Hirnforschung verstanden wissen.49 Der These von einer Kraft oder Lebendigkeit der Bilder tritt er insofern in der Rolle als Philosoph der »AufBildes‹ [Bredekamp]« Wiesing, Lambert (2013): Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin: Suhrkamp, 88 f. [der jeweilige Urheber des Zitats wurde von mir in eckigen Klammern eingefügt, MB]. 42 Ebd. 105. 43 Ebd. 89. 44 Ebd. 90. 45 Ebd. 89. 46 »[D]as Bild soll einerseits in seiner spezifischen Präsenz phänomenologisch beschrieben werden. Es geht also darum zu beschreiben, wie Bilder zeigen – und diese Frage wird andererseits mit der Frage verbunden, was die besondere Bedeutung und Lebendigkeit der Bilder ausmacht.« Ebd. 90. 47 Ebd. 90. Bemerkenswert ist hier die Auslassung von Mersch, Dieter (2002a): Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München: Fink. 48 Ebd. 90. Zu dem Rilke-Zitat und der Idee des blickenden Kunstwerks vgl. auch Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts, Berlin: Suhrkamp, 246 ff. 49 Wiesing 2013, 78.

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klärung«50 gegenüber: Es ginge diesen Positionen darum, ein »materielles Ding zu einem mythischen Subjekt [zu] verklären, obwohl es … schlicht um handelnde, weltliche Menschen geht: … um Menschen, die mit Bildern etwas zeigen«.51 Die Vertreter derartiger Bildtheorien werden entsprechend unter Motivverdacht gestellt und der Scharlatanerie bezichtigt: Der »große Vorteil« dieser Position bestünde darin, »dass sich so ein Sprachspiel entwickelt, welches das kaum schlagbare Potenzial besitzt, einfache Sachverhalte als tiefsinnige, geistige und bedeutsame Phänomene beschreiben zu können.«52 Schließlich ließe sich die Faszination für das Bild auch mit dem Alternativmodell der »Partizipationspause« erklären.53 Wiesings Position, die mit dem Gestus der Neutralität das Bild vor der Bildmythologie retten will, kann allerdings auch als partikuläre Bildtheorie verstanden werden, die von einer ganz bestimmten Theorietradition und Perspektive geformt ist. Zu nennen ist hier insbesondere die von Zimmermann begründete Tradition formaler Ästhetik, deren Leistung Wiesing in seiner Studie Die Sichtbarkeit des Bildes vor allem darin sieht, gegen die idealistische Ästhetik Hegels oder Schellings eine »Philosophie der ästhetischen Oberfläche« zu begründen54. Diese hat zugleich – wie Wiesing plausibel rekonstruiert – eine enge Bindung an die Relationenlogik, mit Peirce als prominentem Vertreter.55 Eine mögliche Beschränkung der Perspektive Wiesings 50

Ebd. 81. Ebd. 80. 52 Ebd. 92. 53 »Dem Subjekt einer Wahrnehmung widerfährt in den Momenten der Bildbetrachtung eine Zumutung weniger als sonst: Es braucht nicht selbst ein sichtbarer Teil in der gesehenen Welt zu sein  – und das ist bemerkenswert. Die Faszination des Bildes lässt sich – gerade umgekehrt zu dem Modell der neuen Bildmythologie – mit dem Phänomen der weltlichen Partizipationspause verständlich machen: Denn einzig und allein durch Bilder erhält der Mensch die Möglichkeit, etwas sehen zu können, ohne leiblich am Gesehenen partizipieren zu können. […] Da ist zum Glück keine Stelle, die mich sieht.« Ebd. 91. 54 »Die formale Ästhetik faßt das ästhetische Objekt als ein reines Strukturgebilde auf, um so eine phänomenalistisch-positivistische Sicht, die jede ›dahinterliegende‹ Tiefendimension ausklammert, in die philosophische Ästhetik einzuführen. Die formale Ästhetik Zimmermanns begründet eine Philosophie der ästhetischen Oberfläche.« Wiesing, Lambert (2008): Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Frankfurt/M., New York: Campus, 42. Als anti-idealistisches Programm wendet sie sich so dezidiert gegen spekulative Inhaltsästhetiken (die die Form abhängig vom Inhalt machen) des Hegel’schen oder Schopenhauer’schen Typus. Zu einer positiven Idee der Oberflächlichkeit im – verwandten – Kontext der Diagrammatik vgl. Krämer, Sybille (2016): Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin: Suhrkamp, 13. 55 Zwischen beiden gebe es ein »komplementäres Ergänzungsverhältnis«: »In der Kunst – so kann man Riegl lesen – sind es logische Unterschiede, die man sieht. In der 51

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liegt – so hier die These – in einem bestimmten Erfahrungsbegriff, der sich in drei Dimensionen seiner Theorie des Zeigens offenbart: (i) Dem Beharren auf der Handlungsmacht und den Intentionen eines menschlichen Subjekts56, das stets die Kontrolle darüber ausübt, was ein Bild zeigt.57 Bilder sind in diesem Sinne instrumentelles ›Zeigzeug‹. (ii) Dem Fungieren von Bildern – wie in der gesamten Tradition formaler Ästhetik – als Objekte, nämlich als immaterielle Bildobjekte (und nicht etwa als Werke).58 (iii) Der Reduktion des Begriffs des Zeigens auf die indexikalische Individuation von Gegenständen59 und die Exemplifikation von Eigenschaften im Sinne einer Probe.60 Die Ausgangsfragen in Wiesings Theorie des Zeigens lauten in etwa: Wo ist das Stück Kuchen ? Wie sieht der Eiffelturm aus ? Etwas philosophischer gefasst: Wie kann sich eine Gemeinschaft von Subjekten indexikalisch auf Objekte in der Welt beziehen ? Wie später noch deutlicher werden soll, folgt Wiesing so jenem Erfahrungsbegriff der Kritik der reinen Vernunft, von dem Hegel polemisch, aber treffend bemerkt: »Es kommt darauf an, wie man die Welt ansieht; aber die Erfahrung, Betrachtung der Welt heißt bei Kant nie was anderes, als daß hier ein Leuchter steht, hier eine Tabaksdose.«61 Das Fazit lautet also: Während Wiesing eine zum Teil absolut berechtigte Kritik übt, ist sein eigener Alleinvertretungsanspruch problematisch. Er will den Logos des Bildes gegen die Bildmythologie verteidigen ohne anzuerkenLogik – so kann man Peirce lesen – sind es ästhetische Unterschiede, die man denkt.« Wiesing 2008, 91. 56 »Wer beschreiben will, was es heißt, dass ein Bild etwas zeigt, muss die Handlungen beschreiben, in denen Menschen Bilder als Instrumente zum Zeigen verwenden.« Wiesing 2013, 43. 57 »Was auf einem Bild sichtbar ist, determiniert demnach in keiner Weise, was es zeigt, denn Letzteres hängt ausschließlich davon ab, welcher Gebrauch von diesem Bild gemacht wird.« Ebd. 127. 58 »Denn wenn eine Postkarte zum Zeigen des Eiffelturms genutzt wird, dann zeigt nicht das Papier diesen Turm, sondern das auf dem Papier sichtbare und zwar nursichtbare Bildobjekt.« Ebd. 125. 59 Die »zwei Grundarten des Zeigens« sind nach Wiesing »das Zeigen durch Konfrontation mit der Sache und das Zeigen durch Hinweisen auf die Sache«. Ebd. 21. 60 »Die Betrachtung des Eiffelturms mittels eines Bildes ist folglich eine Probehandlung: Sie nimmt ein Bildobjekt als eine Aussehens- oder Ansichtsprobe für das Aussehen oder die Ansicht einer realen Sache.« »Kurzum das Prinzip bildlichen Zeigens lautet: Wenn ein Bild etwas zeigt, dann verhält sich das Bildobjekt zu dem, was es zeigt, wie eine Probe zu dem, was sie zeigt.« Ebd. 127. 61 VGPh III 352. Hegel verbindet dies mit dem Vorwurf, Kant habe nicht den Schritt zum Unendlichen, d. h. zum sich selbst erkennenden Geist vollzogen. Vgl. hierzu auch Stekeler-Weithofer, demzufolge es für eine Theorie der Anschauungsformen zentral ist, Aussagen zu erklären wie »dass links da drüben ein Stuhl ist«. Stekeler-Weithofer 2008, 47.

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nen, dass eine Theorie des instrumentellen, indexikalischen Zeigens und eine etwa performativitätstheoretisch fundierte Theorie des Sich-Zeigens durchaus nebeneinander bestehen können. Wiesing schreibt, das vergeistigte und vermenschlichte Bild sei »für diejenigen die geistdurchdrungene Sichtbarkeit für bemerkenswerter als reine Sichtbarkeit halten, bemerkenswert.«62 Hiermit ist aber in gewisser Weise schon zugegeben, dass es verschiedene Dimensionen von Sichtbarkeit gibt, die ein theoretisches Interesse wecken können. Interessant ist hierbei, dass sich Wiesings Position – wie die Tradition formaler Ästhetik – auch gegen die idealistische Ästhetik Hegels richtet, die, ebenso wie den alteritätstheoretischen Ansatz, eine Kritik am Tiefsinn trifft. Man muss nur ›Sichtbarkeit‹ durch den älteren Terminus ›Anschauung‹ ersetzen und gelangt zu einem zentralen Terminus der KrV: reine Anschauung63; und einem zentralen Terminus der Hegel’schen Ästhetik: geistdurchdrungene Anschauung. Letzterer wird in Hegels Malereitheorie wiederum zu einer Theorie bildlicher Lebendigkeit spezifiziert. Wie auch im Weiteren gezeigt werden soll, geht es hier also nicht um die Alternative von Aufklärung und Mythologie, sondern um verschiedene Sichtbarkeitsdimensionen und Bildpraktiken, die sich aus jeweils gleichermaßen berechtigten sachlichen Fragestellungen ergeben.64

1.2.2 Bredekamp: die Angst der Philosophie vor dem Bild

Bredekamps Theorie des Bildakts ist sicher die konsequenteste Ausformulierung der Idee aktiver, handelnder Bilder. Ihr Ziel ist es, »den Impetus in die Außenwelt der Artefakte zu verlagern«65, wobei mit Blick auf die Sprechakttheorie Austins gerade »die Akteure vertauscht«66 werden. Im Bildakt handelt nicht primär der Mensch, dieser ist »eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln …, die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit 62

Wiesing 2013, 93. Wiesing ordnet dem Begriff ›reine Sichtbarkeit‹ nicht – wie in dieser Arbeit vorgeschlagen – den Begriff ›reine Anschauung‹ der KrV als Vorläufer zu, sondern den der ›reinen Schönheit‹ (im Gegensatz zur ›anhängenden‹ Schönheit) der KU. Vgl. Wiesing 2008, 32; sowie Kapitel II.5.3. 64 Zu einer Erwiderung auf diese Kritik Wiesings sowie einer rationalen Rekonstruktion der Bildmagie mit der Idee eines ›containments‹ von Energien, vgl. Rautzenberg, Markus (2014): »Transformatio Energetica«, in: Martin Beck; Fabian Goppelsröder (Hg.): Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Zürich, Berlin: Diaphanes, 109– 128. 65 Bredekamp 2010, 52. 66 Ebd. 51. 63

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dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht.«67 Ein wichtiger Ausgangspunkt ist dabei der von Leonardo stammende Topos eines »Verlust[s] der Freiheit«68, den der Betrachter erleidet: Das Bild selbst entwickle eine Spontaneität, mit der es sich aus einer bloß rezeptiven oder instrumentellen Verfasstheit emanzipiert, und zugleich die Spontaneität des menschlichen Subjekts einschränkt. Eine derartige Erfahrungsdimension wurde Bredekamp zufolge vor allem von der historischen Aufklärung verdrängt: »Bis zur Aufklärung« wurde die »Bildkraft als fester Bestandteil der Bildtheorie mit den Begriffen der natürlichen Wirkungskräfte vis, virtus, facultas und dynamis beschrieben. […] Danach aber geriet die Vorstellung bildimmanenter Kräfte unter den Verdacht des magischen Denkens und des religiösen Okkultismus.«69 In dem Versuch, diese Vorstellung zu rehabilitieren, versteht sich Bredekamp aber nicht als der voraufklärerische Mythologe, als den Wiesing ihn zeichnet, sondern als Metakritiker der Aufklärung im Sinne von Adorno/Horkheimers Dialek­ tik der Aufklärung 70: Gegenüber etwa Wiesings exklusiver Ausrichtung an der menschlichen Handlungskraft hat Bildtheorie für Bredekamp die Aufgabe »jenen Sphärenverlust ungeheuren Ausmaßes zu überwinden, den die Moderne mit ihrer Privilegierung des Subjekts als Erzeuger und Halter der Welt produziert hat.«71 Diese Aufklärungskritik soll zugleich die Vollendung von Aufklärung implizieren: Wurde nämlich in »früheren Epochen … die von innen her kommende Kraft von Bildern durch eine göttlich gestiftete Macht erklärt«, so lag darin nur »eine externe Lösung, die das Problem nicht aus sich heraus zu klären vermochte. Mit der Aufklärung hätte dieser Konflikt zum Gegenstand von deren genuinen Anliegen werden können, aber dies ist nicht geschehen.«72 Vorstellungsgehalte aus Bildmagie oder religiösem Fetischismus sollen also gerade im Sinne von Aufklärung auf ihre medialen und phänomenalen Wurzeln zurückgeführt werden. Die Tatsache, »daß Bilder aus anorganischer Materie bestehen und dennoch lebendig wirken können«73, soll phänomenologisch aufgeklärt werden. Das bedeutet: Auch jener Phänomenbereich, den wir als Alterität, Widerständigkeit oder Eigenaktivität von Bildern beschreiben, kann nicht durch externe Ursachen, etwa 67

Ebd. 52. Ebd. 17. 69 Ebd. 82. 70 Vgl. Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max (1981): Dialektik der Aufklärung. Philo­ sophische Fragmente, Frankfurt/M.: Suhrkamp. 71 Bredekamp 2010, 328. 72 Ebd. 99. 73 Ebd. 79. 68



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mit Rekurs auf eine Geisterwelt, reduktionistisch wegerklärt werden, sondern bedarf einer Reflexion auf die mediale und materielle Präsenz von Bildern, wie sie Bredekamp etwa im Begriff der ›Enargeia‹ fasst.74 Hierbei ist es zugleich ein wesentliches Verdienst von Bredekamp, den Topos der Lebendigkeit des Bildes durch die Einteilung von schematischem, substitutivem und intrinsischem Bildakt weiter zu differenzieren.75 Problematisch ist allerdings auch hier ein Alleinvertretungsanspruch, mit dem Bredekamp sich in Stellung bringt.76 Auch er unterstellt die Position der Gegenseite einem Motivverdacht, wenn er von der »tiefverwurzelte[n] Angst« spricht, »im Bild einer Sphäre zu begegnen, die der Philosoph nicht zu kontrollieren vermag.«77 Dies zeige sich am deutlichsten bei Platon: dieser sei »Antipode« und »Feind« der Bilder, weil er sie lediglich dort anerkenne, wo sie »Grundlage des Denkens und des glückenden Handelns« seien78, nämlich einerseits in der kognitiven Funktion von Modellen und Diagrammen, wie etwa im Liniengleichnis, und andererseits in der sozialen Funktion der körperlichen Schemata. Demgegenüber übe Platon Zensur an allem, »was der Moderne teuer war: die Störung, die Normsprengung, der Schock, das Fiktive und das Surreale«.79 Solche Angst zeigten aber auch jene modernen Philosophen, die »Bilder philosophisch ernst zu nehmen versucht« haben, wie Heidegger und Lacan.80 Entwickle Heidegger die Idee, dass sich das Kunstwerk 74 »Es geht um die aus der antiken Sprachtheorie entwickelte enárgeia, die Aristoteles in der Poetik aus dem lebendigen ›Vor-Augen-Führen‹ entstehen sah: Mitreißend sei eine Darstellung dann, wenn der Eindruck erweckt würde, lebendig zugegen gewesen zu sein.« Ebd. 22. »Diese Art rhetorischer Kraft, die sich an den lebendig wirkenden Sprachbildern entzündet, hat eine aus sich selbst erwachsende Affinität zum materiell emergierenden Bild.« Ebd. 75 Dies ist zunächst der schematische Bildakt, der (mit Blick auf den platonischen Schemabegriff und dessen somaästhetische Aktualisierung) Bilder umfasst, »die darin musterhafte Wirkungen erzielen, daß sie auf unmittelbare Weise lebendig werden oder Lebendigkeit simulieren« (Ebd. 104), etwa im Falle von tableaux vivants oder Automaten. Die Kategorie des substitutiven Bildakts erklärt demgegenüber die Macht von Bildern im Kontext von Bildpolitik und Ikonoklasmus durch die Idee einer Substituierbarkeit von Bild und Körper. Als intrinsischer Bildakt sind schließlich Fälle zusammengefasst, die ihren Ursprung in der »Kraft der gestalteten Form als Form« (Ebd. 53) haben: Die Frage, ob Bilder den Betrachter anblicken, das unkontrollierte Element ästhetischer Produktionsprozesse (etwa bei Pollock), oder die ›mitreißende‹ und ›suggestive‹ Dynamik von Diagrammen und Modellen: »daß der Mensch in Bildern denkt, die sein Produkt sind, dennoch aber eine eigene Ich-Form besitzen.« Ebd. 293. 76 Wiesing wird nicht erwähnt, der Gedanke an seine Position liegt aber nahe. 77 Ebd. 42. 78 Ebd. 42. 79 Ebd. 43. 80 Ebd. 43.

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als Dinghaftes »von sich aus zeigen müsse«, nehme er diesen Impuls aber zurück, insofern er das Bild letztlich auf das Poetische zurückführe.81 Lacan gelinge es zwar, eine »Theorie zu entwickeln, die darauf beharrt, daß der Betrachter von den Dingen angeblickt werde«82, diese kippe aber, »[ä]hnlich wie in Heideggers Kehrtkehre … in eine panisch anmutende Verpanzerung um.«83 »Die Platonische Urangst vor der Konfrontation mit dem unbeherrschbaren Bild« mündet in dessen Entschärfung durch den Hinweis auf »die pazifizierende, apollinische Wirkung der Malerei«.84 Fazit: »Das von Petit-Jean angestoßene Problem hat Lacan entwickelt, um es zu verstellen.«85 Und auch »Theorien der Nachahmung, der Repräsentation und des Konstruktivismus« seien, als »Spielarten der Philosophie und Kunsttheorie lediglich … Varianten der begrifflichen Entschärfung des objektiven Problems.«86 Bredekamp ruft hier also, wie schon Mitchell und Boehm, zentrale Topoi einer rationalitätskritischen Tradition auf: Nietzsches Idee, dass uns das Bildreich des Apollinischen vor der unerträglichen Wucht des Dionysischen zu schützen habe.87 Oder Heideggers Diagnose von Kants »Zurückweichen vor der transzendentalen Einbildungskraft« in der B-Version der transzendentalen Deduktion.88 Hier besteht nun folgendes Problem: Es wurde von Autoren 81 Ebd. 43. Insofern er zuletzt ein »Paragone der Kunstgattungen zugunsten der Dichtkunst« entscheidet. Ebd. 44, vgl. auch die analoge Kritik Derridas in Derrida, Jacques (1992): Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen. Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Kapitel III.1.2.1 82 Bredekamp 2010, 46. 83 Ebd. 47. 84 Lacan zitiert aus Ebd. 47. Für das Ganze siehe ebd. 36 ff. 85 Ebd. 48. 86 Ebd. 100. 87 »Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z. B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen solle.« Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1999): »Die Geburt der Tragödie« [1872], in: Giorgo Colli; Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 1, München, Berlin: DTV, de Gruyter, 9–156, § 21. 88 Werde die Einbildungskraft in der A-Deduktion als »bildende Mitte der reinen Erkenntnis« identifiziert, werde sie dann aber als »das beunruhigende Unbekannte« zum »Beweggrund für die neue Fassung« (Heidegger 1951, 162), nämlich die B-Deduktion, die sie als rein funktionales Vermögen dem Verstand unterstellt: »Kant ist vor dieser unbekannten Wurzel zurückgewichen.« (ebd. 160) Zu den Motiven: »Wie soll auch das niedere Vermögen der Sinnlichkeit das Wesen der Vernunft ausmachen können ? Gerät nicht alles in Verwirrung, wenn das unterste zu oberst gestellt wird ? Was soll mit der ehrwürdigen Tradition geschehen, nach der die Ratio und der Logos in der Geschichte der



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wie Derrida hinreichend plausibel gemacht, dass die europäische Philosophietradition eine Dimension der Alterität verdrängt hat. Daraus folgt aber nicht, dass Bildkonzepte, die innerhalb dieser Tradition entwickelt wurden, allein Produkte von Verpanzerung, Zurückschrecken und somit einer Entschärfung oder Stillstellung bildlicher Alterität sind. Dies wird gerade an Bredekamps Beispiel von Platon deutlich. Platon hat, wie Bredekamp richtigerweise feststellt, keine Theorie einer Alterität des Bildes.89 Platon hat aber, wie Bredekamp konzediert, einerseits eine Theorie der kognitiven Bedeutung von Diagrammen und Modellen; andererseits (in der Theorie der Schemata als Körperbewegungen) eine Theorie visueller sozialer Bedeutung. Es ist aber unplausibel, dass die letztgenannten Theorien lediglich psychologische Abwehrreflexe gegenüber jener verdrängten Alteritätsdimension sind. Viel plausibler anzunehmen ist es, dass diese Konzeptionen auf genuine Fragestellungen der theoretischen und praktischen Philosophie antworten; jene Fragestellungen, die in dieser Studie in den Kapiteln über Kants KrV und Hegels Ästhetik wiederauftauchen werden. Wiesings Ablehnung der Bredekamp’schen Position als bloßer Mythologie entspricht also umgekehrt Bredekamps Ablehnung von rationalitätsorientierten Positionen als bloßer Abwehrreaktionen. Dagegen bleibt zu zeigen, dass sich beide Positionen aus sachlich unterschiedlichen Problemstellungen herleiten. Ein weiteres Problem seiner monistischen Perspektive auf das Bild im Kollektivsingular zeigt sich dort, wo Bredekamp von dem spezifischen Überschuss der Bilder spricht, der Ausweis ihrer Eigenaktivität sein soll:

»Der Betrachter erhält unabdingbar mehr als nur einen Rekurs seiner Vorstel-

lungen und Imaginationen. Er zielt damit auf eine im Artefakt selbst ruhende Latenz, die auf kaum kontrollierbare Weise von der Möglichkeits- in die Ak­ tions­form umzuspringen und den Beobachter und Berührer mit einem Gegenüber zu konfrontieren vermag, das er nicht nur nicht beherrscht, sondern das ihn in die leonardeske Gefangenschaft zu führen vermag.«90

Zur Erklärung jener bildspezifischen Latenzen oder Überschüsse gibt eine Endnote gleich zwei Referenzen an: Zum einen das Kapitel »How to learn more« aus Stjernfelts Diagrammatology, das Peirce’ Theorie diagrammatiMetaphysik die zentrale Funktion beanspruchen ? Kann der Primat der Logik fallen ? …« Ebd. 167. 89 Zumindest nicht explizit. Was etwa Derrida als Pharmakon und Deleuze/Guattari als Simulakrum (Trugbild) herausarbeiten, ist gerade nicht explizite Theorie, sondern das Produkt einer dekonstruktiven Lektüre. Vgl. Derrida 1995, 106 ff. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1996): Was ist Philosophie ?, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 311–325. 90 Bredekamp 2010, 21.

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scher Überschüsse rekonstruiert. Und zum anderen Mitchells What do Pictures Want ?. Sind diese zwei Formen des Überschusses aber tatsächlich vergleichbar ? In dem einen Fall geht es um ein technisches Verfahren, aus einer Darstellung auf kontrollierte Weise mehr Informationen zu beziehen als in ihre Konstruktion eingeflossen sind.91 Im anderen Fall geht es – deutlich näher an Bredekamps Idee des Bildakts – um die Konfrontation mit einer Alterität, die zu Gefangennahme und Kontrollverlust durch eine Spontaneität des Objekts führen soll.92 Dadurch wird der operative, Überschüsse erzeugende Charakter diagrammatischer Kalküle einer allgemeinen Dynamik des Bildakts subsumiert,93 die Bredekamp später als eine Art Verallgemeinerung von Adornos Auffassung des Kunstwerks darstellt.94 Somit werden zweierlei Arten des Überschusses vermischt: der Überschuss im Sinne des synthetischen Apriori bei Kant und der Überschuss im Sinne einer widerständigen Dynamik des Nichtidentischen bei Adorno. Deren Vermischung in einem allgemeinen Begriff des Bildakts nivelliert aber wichtige Unterschiede, wie etwa den verschiedenen Status der Materialität in beiden Kontexten.95 Derartige Unterschiede sollen hier in einem pluralen Verständnis der Bildepisteme berücksichtigt werden.

91 Vgl. Stjernfelt, Frederik (2007): Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, Dordrecht: Springer, 90. 92 Vgl. Mitchell 2005, 46. 93 Später spricht Bredekamp mit Blick auf Modelle von einem »Doppelcharakter von Klärung und Suggestion« Bredekamp 2010, 290. Hier bestehen die bildaktiven Überschüsse aber nicht in der Fähigkeit zur kontrollierten Herstellung von Überschüssen, sondern in ihrem potenziell irreführenden suggestiven Charakter, der bildkritisch offengelegt werden muss: »Modellbildung führt dann zur Erkenntnis, wenn der bildaktive Eigenanteil von Modellen mitreflektiert wird.« Ebd. 292. 94 »Adorno bezeichnet Kunstwerke allgemein als ›Artefakte‹, sowie er ihren Doppelcharakter betont, materiell gestaltet zu sein und zugleich über ein inneres Kraftfeld zu verfügen. In seiner Ästhetischen Theorie hat er in Gegenstellung zu Hegels Definition der Kunst als ›sinnliches Scheinen der Idee‹ gleichfalls betont, dass ›durch das Artefakt, seine Probleme, sein Material‹ selbst diese Kraft erzeugt wird. Wie sich gezeigt hat, gilt diese Grundbestimmung für alle Bilder.« Bredekamp 2010, 324. 95 Für Bredekamp beruht die eigentümliche ontologische Verfassung des Bildes auf seiner Materialität, während sie für Fiedler und Wiesing darin besteht, eine »anwesende Welt sui generis« zu schaffen, die gerade durch ihre Immaterialität »ontologische Eigenschaften besitzt, die es nirgendwo anders gibt.« Wiesing 2008, 163.



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1.3 Asymmetrische Pluralisierungen

Der Dualismus von Ratio und ihrem Anderen fand sich bisher erstens im Verhältnis von Logozentrismus und iconic turn, zweitens im polemischen Gegensatz zwischen rational-aufklärerischen und rationalitätskritisch-bildmythologischen Ansätzen. Er findet sich aber noch auf einer dritten Ebene. Dies betrifft Positionen, die der Perspektive dieser Studie schon näherkommen, weil sie nicht als Theorien von Bildlichkeit überhaupt auftreten, sondern eine Pluralität von Bildarten oder Bildfunktionen annehmen. Dem Kollektivsingular ›das Bild‹ wird hier also eine Differenzierung entgegengestellt. Die gängigste ist dabei jene von Kunstbildern und epistemischen oder technischen Gebrauchsbildern. Assoziiert wird mit ersteren dann etwa der klassische Kanon der Kunstgeschichte, mit letzteren jene Dimension, die eine umfassendere Bildwissenschaft zusätzlich noch enthalten sollte. Ein Problem liegt dann vor, wenn eine solche Einteilung sich wiederum einem dualistischen Schema von Auf- und Abwertung bedient und so zur Unterscheidung von potenten und depotenzierten Bildern wird.

1.3.1 Bogen: Schattenriss und Sonnenuhr

Steffen Bogens wegweisender Aufsatz Schattenriss und Sonnenuhr macht einen wichtigen Schritt zu einer pluralisierten Bildepisteme. Seine »allgemeine Unterscheidung von Bild und Diagramm«96 will er dabei nicht als eine Klassifikation oder Gattungstheorie von Objekten, sondern als eine Theorie bestimmter Auffassungsarten verstanden wissen. Zu unterscheiden ist die »diagrammatische Auswertung einer Einschreibung« von der »Wahrnehmung eines Artefakts als Bild«. Es folgt: »Genau deshalb kann ein Bild auch diagrammatische Aspekte enthalten und ein Diagramm bildlich aufgefasst werden.«97 Dieser Differenzierung geht es also nicht primär um Eigenschaften von Artefakten98, sondern um deren funktionale und intentionale Kontexte und die Praktiken des Umgangs. Diese werden wiederum an bestimmten anthropologischen Urszenen verankert: Die Theorie des Diagramms wird 96 Bogen, Steffen (2005): »Schattenriss und Sonnenuhr. Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik«, Zeitschrift für Kunstgeschichte 68, 153–176, 158. 97 Ebd. 154. 98 Hiermit präzisiert und korrigiert Bogen eine Unterteilung von pikturalen und diagrammatischen Schemata, wie sie sich schon bei Goodman findet. Vgl. Goodman, Nelson (1973): Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 209 ff.

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exemplifiziert an der antiken Praxis der Verräumlichung der Zeitmessung durch Sonnenuhren. Die Theorie des Bildes (im engeren Sinne) an der Legende von der Erfindung der Malerei durch die Tochter des Butades, im Schattenriss ihres Geliebten.99 Hiermit ist eine Differenzierung angedeutet, wie sie auch für diese Studie wichtig ist: Steht an der Wurzel von Kants Auffassung von Bildlichkeit das Problem der Orientierung im Raum, worauf etwa auch Krämer hinweist100, so bei Hegel die Idee eines sozialen Subjekt-Subjekt-Verhältnisses. Obgleich der Kunsthistoriker Bogen unverdächtig ist, die Kunst zu unterschätzen, findet sich in diesem Aufsatz doch eine Rhetorik, die für Debatten über das epistemische Bild symptomatisch zu sein scheint: die Konstruktion von Kunstbildern als dem tendenziell folgenlosen Anderen des Epistemischen. »Ein Diagramm hat man erst richtig verstanden, wenn man es auch selbst kon­ struieren kann. […] Produzent und Rezipient führen einen auf die Konstruktion des Diagramms bezogenen Dialog, in dem sich Rezeptions- und Produktions­ aspekte ständig ineinander transformieren, […] Ein Bild wird dagegen ausgestellt oder präsentiert. Es tritt dem Betrachter wie eine andere Person oder eine zweite Welt gegenüber. Das Produktionswissen wird gekappt, neue Rezeptionskompetenzen kommen ins Spiel.«101

Auch wenn diese Beschreibung durchaus nachvollziehbar ist: Sie zeigt die Ausgrenzung sogenannter ›Kunstbilder‹ aus dem Epistemischen mittels einer Dichotomie von Spontaneität und Rezeptivität.102 Während das ständig produktive Diagramm nie den interaktiven Bezug auf ein menschliches Erzeugen, Nachvollziehen und Kontrollieren verliert (wo auch »der Rezipient … im Sinn von Peirce zu einer Art Ko-Autor der Darstellung werden muss«103), ist 99 »Der Schattenriss ist ein Bild, dessen Sichtbarkeit an einen konkreten Körper erinnert. Das Liniennetz der Sonnenuhr folgt dagegen einer komplizierteren Projektionslogik und kann eine so schwierige Kategorie wie Zeit kulturell handhabbar machen.« Bogen 2005, 157. Hieraus entwickelt Bogen drei Differenzierungen: i) Simultaneität vs. Sukzession; ii) Schattenriss: »in möglichst vielen Details«; Sonnenuhr: es Interessieren nur zwei Merkmale des Schattens: »seine Länge und seine Orientierung«; iii) Sonnenuhr: Interaktion von Liniennetz und Schatten; beim Schattenriss: kein vergleichbares Phänomen; ebd. 158. 100 Vgl. Krämer 2016, Kapitel 8, mit dem Titel »Kant: Denkorientierung durch An­ schauung«. Ebd. 199 ff. 101 Bogen 2005, 164. 102 Deutlich wird dies auch an dieser Stelle: »In der Überlagerung der Aspekte [des Bildlichen und Diagrammatischen] verbindet sich das Emotionale mit dem Kognitiven, das Bewusste mit dem Unbewussten, das Schauen und Imaginieren mit dem Handeln und Entscheiden.« Bogen 2005, 168. 103 Ebd. 174.

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die für das Bild charakteristische Seinsweise seine Musealisierung im Sinne einer Dekontextualisierung und Entfunktionalisierung. Dies zeigt sich exemplarisch an Bogens Diskussion des sogenannten ›Schinkens von Portici‹, einer schinkenförmigen Sonnenuhr. Deren Wahrnehmung als Bild trete erst durch die reproduzierende Abbildung in antikenkundlichen Werken in den Vordergrund: »Die Bereitschaft zum bildhaften Sehen wird jedoch auch durch die (photo)graphische Reproduktion verstärkt. […] Die Form ist entmaterialisiert und die Imagination einer anderen Materialität (Schinkenfleisch) wird dadurch unterstützt. Als Sonnenuhr kann die Reproduktion im Buch dagegen nicht mehr dienen.«104

Das Bild fungiert also – zugespitzt gesagt – in Bogens Aufsatz als so etwas wie ein depotenziertes oder ästhetisiertes Diagramm, das unfreiwillig zum ›Schinken‹ an der Wand wird.105 An die Stelle der epistemischen, nämlich welterschließenden Funktion des Diagramms tritt die »Interaktion mit inneren Vorstellungs- und Erinnerungsbildern des Betrachters«106. Dies ist aber  – wie die Rhetorik des Textes nahelegt  – ein tendenziell folgenloses Assoziations- und Affektgeschehen: »Der Bildträger wird zu einer Projektionsfläche für Erinnerungen und Phantasien.«107 Hiermit wird nicht nur die existenzielle Dimension der von Bogen selbst genannten Urszene (»Liebeskummer«108) depotenziert und ausgeblendet, sondern ebenfalls, dass mit einer vom Schattenriss her gedachten Malereitradition eine eigenständige Episteme vorliegen könnte, die sich nicht auf eine museale und letztlich desinteressierte Rezep­tions­haltung reduzieren lässt. Eine solche könnte sich etwa darauf stützen, dass sich – gegenüber der konstruktiven Aktivität des Diagramms – im Schatten eine andere Spontaneität in der Interaktion von Mensch und Bild zeigt, deren Grundlage – nach Belting – »die Erfahrung« ist, »dass der eigene Körper medial und bildhaft agiert.«109 104

Ebd. 165. Auf die kultische Funktion sowie komplexere Funktionen im Kontext moderner Kunst geht Bogen nur im Vorübergehen ein. Vgl. ebd. 168. Dass der Schwerpunkt hier auf dem Diagrammatischen liegt, erklärt sich auch durch Bogens Ziel, das Desiderat einer kunstwissenschaftlichen Diagrammatik zu formulieren. 106 Ebd. 167. Bogen spricht von ›spontaner Interaktion‹, wobei ›spontan‹ hier offensichtlich nicht im philosophischen Sinne von ›Spontaneität‹ oder ›Handlungskraft‹ gemeint ist, sondern im alltäglichen Sinne von: nicht vorher festgelegt und geplant. 107 Ebd. 164. Dies ist zugleich weiblich codiert: »Nicht umsonst handelt das Mädchen der Ursprungslegende aus Liebeskummer.« Ebd. 165. 108 Ebd. 164. Zu Liebe als einem Modell malerischer Intersubjektivität vgl. Kapitel III.5.2. 109 Belting, Hans (2007): »Blickwechsel mit Bildern. Die Bildfrage als Körperfrage«, 105

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1.3.2 Boehm: starke Bilder und schwache Bilder

Eine hierzu fast spiegelbildliche Perspektive findet sich im Aufsatz Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst von Gottfried Boehm.110 Auch diesem geht es um eine Pluralisierung des Bildbegriffs, nämlich »einzelne Bildbegriffe kritisch zu durchleuchten, ihre Grenzen (aber auch Eigenarten) sichtbar zu machen«111. Deren tendenziöse Ausrichtung zeigt sich allerdings bereits an der gewählten Terminologie: Boehm unterscheidet ›starke‹ und ›schwache‹ Bilder, und dies in einem klassifikatorischen und ontologischen Sinne.112 Schwache Bilder sind Abbilder, definieren sich durch ihre referenzielle Beziehung auf die Welt: Ihr »Ziel und [ihre] Funktion« besteht darin »abzuschildern, Informationen via Auge zu verbreiten. Wir sollen auf diesem Wege erfahren: was sich ereignet hat, wie ›es‹ steht, was ›ist‹.«113 Ein solches Abbild hat die Tendenz, im Vollzug des Abbildens auf- und unterzugehen. Es »vollendet seine Intention dann am besten, wenn es keinerlei Eigenwillen ins Spiel bringt, gar nicht auf sich verweist, sondern sich ganz transparent macht auf die Sache.«114 Demgegenüber gelten als ›stark‹ »solche Bilder«, die »uns an der Wirklichkeit etwas sichtbar machen, das wir ohne sie nie erführen. Das Bild verweist auf sich selbst (betont sich, anstelle sich aufzuheben), weist damit aber zugleich und in einem auf das Dargestellte. So vermag es eine gesteigerte Wahrheit sichtbar zu machen, die es über die blosse Vorhandenheit, welche Abbildung vermittelt, weit hinaushebt.«115 Starke Bilder sind demnach Instanzen eines Sichtbarmachens, die mit der Darstellungsbeziehung zugleich immer ostentativ sich selbst mit zeigen. Ihre Welthaltigkeit beruhe nicht auf der Abbildung von Sachverhalten, sondern darin, im Sinne von Heideggers Der Ursprung des Kunstwerks der Ort eines Erschließungsgeschehens von Wahrheit zu sein. Hierdurch erhalte das Bild im Sinne Gada-

in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München: Fink, 49–75, 55. 110 Dieser Aufsatz von 1996 wurde wiederabgedruckt als Boehm, Gottfried (2007a): »Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst«, in: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press, 243–267. 111 Ebd. 245. 112 Dass sie dabei trotzdem nicht an bestimmte mediale Dispositive gebunden sind, zeigten etwa die »künstlerischen Möglichkeiten der Fotografie (und anderer Bildtechnologien)«: »Durch Abbildungstechnologie hervorgebracht, überwinden sie jedoch die Limitationen der Abbilder, des Inbegriffs der schwachen Bilder.« Ebd. 246. 113 Ebd. 246. 114 Ebd. 247. 115 Ebd. 252.



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mers »gleichsam einen Zuwachs an Sein«116. So offenbart sich darin etwa das Sein alltäglicher Dinge auf andere Weise (wie etwa im berühmten Beispiel von Van Goghs Bauernschuhen).117 Historisch findet sich, so Boehm, starke Bildlichkeit auch im Kontext christlicher und monarchischer repraesentatio.118 Auch wenn man die an Platon angelehnte ontologische Graduierung von Seinshaftigkeit nicht teilen will, vermitteln diese Ausführungen doch nachdrücklich den Gedanken, wie Kunstbilder Medium von Erkenntnissen sein können. Zentral ist dabei ein ästhetischer Wahrheitsbegriff, wie ihn vor Heidegger schon Schelling und Hegel vertreten. Problematisch ist, dass Boehm hierbei erneut eine dualistische Figur aufruft. Nur Kunstbilder sind die eigentlichen potenten Bilder, die sich durch eine ihnen eigentümliche Prozessualität auszeichnen119; technische Bilder hingegen deren blasse Nachbilder, Schwundstufen oder Epiphänomene, die sich in ihrem Bildsein selbst negieren und aufheben.120 Damit verkennt und unterschätzt Boehm aber seinerseits eine ganze Dimension von Bildlichkeit. Die bildliche Antwort auf die Frage »was sich ereignet hat, wie ›es‹ steht, was ›ist‹«121 – Merkmal der ›schwachen‹ Bilder – wird auf das Problem des Einsatzes von Bildern als Realitätsbeweis in den »visuellen Massenmedien«122 reduziert. Man mag hier 116 »Das Bild hebt sich nicht auf, sondern bleibt im Prozess der Darstellung Bild, sättigt sich dabei aber mit der Realität des Dargestellten. Die Realität bleibt Realität, erschließt sich jedoch gleichzeitig durch die Leistung des Bildes. […] Das Bild, so Gadamers These, gehört zum Sein des Dargestellten hinzu. Deshalb ist jedes starke Bild ein Seinsvorgang, der den Seinsrang des Dargestellten mitbestimmt. Mehr noch: ›Durch die Darstellung erfährt es gleichsam einen Zuwachs an Sein‹.« Ebd. 254. 117 »Wirkliche Bilder sind keine folgenlosen Massnahmen neben der Wirklichkeit, sondern Eingriffe, Einsichten, Deutungen. Für den Kunstfreund sind das vertraute Erfahrungen. Hundertmal gesehene Sachen: ein Gesicht, ein Wald oder Berg, Krug oder Flasche werden erst durch die Erschließungsleistung des Bildes bemerkenswert, bedeutsam, kostbar.« Ebd. 254. 118 »Die Christologie zum Beispiel schliesst bereits ein Darstellungsverhältnis ein.« Ebd. 256; »Der Herrscher hat sein Sein ›wesenhaft im Sich-Zeigen‹« Ebd. 257. 119 »Sein fester Standpunkt [der des alltäglichen Betrachters, MB] kommt erst in Bewegung, wenn es sich auf die innere Differenz einlässt, die es im Bilde nicht verleugnen kann. Da gibt es doch zugleich Mittel, die zeigen, und das Gezeigte. Das Spiel, das sie eingehen, setzt auch den Blick des Betrachters in Bewegung, gibt ihm Arbeit. Aus dem Bildding wird ein Prozess, den Gadamer ›Seinsvorgang‹ nennt.« Ebd. 252 f. 120 »Gadamer spricht auch vom ›verschwindenden Sein‹ des Spiegelbildes, wenn er die Realität der Abbilder charakterisieren möchte. Sie heben sich, tendenziell, selbst auf. Die so gearteten technischen Bilder sind mithin auch ganz schwache Bilder. Ihre Schwäche resultiert aus der Negation ihres Eigenwertes und aus dem Vorrang der bildlichen Angleichung an das Dargestellte.« Ebd. 247. 121 Ebd. 246. 122 Ebd. 246.

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auch an die schnörkellose Abbildung von Objekten in der Welt denken, etwa im Sinne von Wiesings »Das Bild zeigt den Eiffelturm«123. Hinter scheinbar simpler Abbildlichkeit können sich aber auch komplexe epistemische Strukturen verbergen. Boehm selbst gibt hierauf den Hinweis, wenn er schreibt, die »eigentliche Karriere« der schwachen Bilder beginne »als es in der Renaissance möglich wurde, Bilder nach rationalen, nämlich geometrischen Regeln zu konstruieren.«124 Gemeint ist also jene neuzeitliche Revolution einer Diagrammatisierung der Welt, die Heidegger mit der These von der Neuzeit als Zeitalter des Weltbildes einfangen will.125 Die perspektivische Konstruktion ist dabei – neben Sonnenuhren, Karten, Verlaufsdiagrammen und Simulationen – nur eine Form, raumzeitliche Relationen im Bild dem Denken verfügbar zu machen. Und verstehen wir Abbildlichkeit im Sinne von Peirce‹ operativem Ähnlichkeitskriterium126, wird die eigentliche Potenz solcher Abbilder deutlich. Es ist nunmehr schwer plausibel zu machen, inwiefern etwa eine komplexe Klimasimulation ›schwach‹ im Gegensatz zu etwa einem Bild von Cézanne sein sollte. Ein angemessenes Verständnis der jeweiligen Eigenart verschiedener Bildpraktiken wird hier verhindert, weil es darum geht, allein eine bestimmte Bildpraxis mit ontologischer Dignität auszustatten.

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Wiesing 2013, 109 ff. Boehm 2007a, 247. Weiter: »Jedes beliebige Datum auf der Oberfläche der sichtbaren Welt konnte tendenziell in ein Äquivalent auf der Fläche des Bildes (der Darstellungsebene) übertragen werden. Ein folgenreiches Modell war etabliert. Bilder gehen nicht mehr nach dem Bedeutungsgehalt ihres Sujets, sondern rekurrieren, schlechterdings, auf pure Vorhandenheit.« Ebd. 125 Heidegger, Martin (1977): »Die Zeit des Weltbildes«, in: Holzwege, Frankfurt/M.: Klostermann, 75–113. 126 Vgl. Stjernfelt 2007, 90. 124

2. Vier Thesen zum iconic turn: eine andere Lesart Diese ausschnitthafte Kartierung wichtiger Positionen im Bilddiskurs der letzten Jahrzehnte sollte verdeutlichen, wie das dualistische Schema von Rationalität und ihrem Anderen die Rhetorik des historischen iconic turn durchzieht. Bei dieser Diagnose geht es nicht darum, hinter die Rationalitätskritik etwa Adornos und Derridas zurückzufallen. Behauptet werden soll aber, dass diese im Rahmen des iconic turn an der falschen Stelle angewendet wurde. Sie erweist sich als ungeeignet zu klären, was eine Logik des Bildlichen gegenüber einer Logik von Diskurs und Sprache im Allgemeinen ausmacht, und, was die verschiedenen medialen und epistemischen Funktionen von Bildlichkeit sind. Eine solche Pluralität von Bildfunktionen wird (i) bei Boehm und Mitchell in einem Konzept des Bildes als Anomalie verschliffen; (ii) bei Wiesing und Bredekamp in einem Ausschlussverhältnis gegeneinander in Stellung gebracht; (iii) bei Bogen und Boehm in einem Verhältnis von potenten und depotenzierten Bildern hierarchisiert. Wie besonders die letzten beiden Beispiele zeigen, scheint die ultima ratio der Anwendung dieses Schemas in der Bildepistemologie letztlich die »fruchtlose Opposition von Kunst und Nichtkunst«127 zu sein. Hiergegen wendet sich die vorliegende Studie mit der Behauptung, dass diese rhetorischen Oppositionen etwas verstellen, was die Texte selbst immer wieder nahelegen: Dass es verschiedene Dimensionen von Bildlichkeit und bildlichem Denken gibt, die jeweils in ihrem sachlichen Eigenrecht zu rekonstruieren sind. Bevor daher eine alternative Kartierung des Sichtbarkeits- und Bilddiskurses vorgeschlagen wird, sollen vier Thesen verdeutlichen, wie der iconic turn einerseits im Sinne seiner Grundintention einer Freilegung nichtsprachlicher und nichtdiskursiver Weltzugänge verstanden werden kann. Und wie es andererseits möglich ist, schon bei Kant und Hegel von einer Bildwende zu sprechen, einem iconic turn avant la lettre.

127 Dombois, Florian; Mersch, Dieter (2014): »Vorwort«, in: Florian Dombois; Mira Fliescher; Dieter Mersch; Julia Rintz (Hg.): Ästhetisches Denken. Nicht-Propositionalität, Episteme, Kunst, Zürich: Diaphanes, 4–13, 7.



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2.1 Eine anthropologische Fundierung

THESE 1: Die Epistemologie des Bildes sollte ihren systematischen Ausgangspunkt nicht in der These vom Bild als verdrängtem Anderen der westlichen Theoriegeschichte nehmen, sondern in der Frage nach den anthropologischen Grundlagen des Bildgebrauchs. Die ikonische Wende wird häufig als Projekt verstanden, das Bilder nicht in der etablierten Traditionslinie der philosophischen Ästhetik und unter dem Blickwinkel einer Kunsttheorie betrachtet, sondern aus der Perspektive einer (philosophischen oder sonstigen) Anthro­pologie.128 Analog intendiert die Bildwissenschaft gegenüber der traditionellen Kunstgeschichte eine Fokusverschiebung von dem etablierten Kanon der Kunstbilder hin zu einer umfangreicheren Kategorie von Bildlichkeit, die auch technische, epistemische oder massenmediale Bildpraktiken umfassen soll.129 Eine solche Wende wurde zwar innerhalb des Bilddiskurses an vielen Stellen eingelöst, nicht aber in den metatheoretischen Programmatiken des pictorial turn und iconic turn: Autoren wie Mitchell, Boehm und Bredekamp orientieren sich an den Narrativen von Heideggers Seinsgeschichte, Derridas Logozentrismuskritik und Adornos Dialektik von Mythos und Aufklärung. Damit ist auch ein Ausscheren aus den Begründungsmustern philosophischer Ästhetik nicht gelungen, insofern sich die gegenwärtige philosophische Ästhetik häufig ebenfalls an diesen Narrativen orientiert.130 Wird hingegen die anthropologische 128 Paradigmatisch zusammengefasst in Koch, Gertrud (2014): »Falsche Versöhnung. Für eine begriffliche und praktische Differenzierung von Kunst und Bild«, Texte zur Kunst 95, 41–52. Beispielhaft für solche anthropologischen Begründungen: Jonas, Hans (1994): »Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild ?, München: Fink, 105–124; und Tomasello, Michael (2014): Eine Naturgeschichte des mensch­ lichen Denkens, Berlin: Suhrkamp. Bredekamp ist hier noch radikaler, insofern für ihn – in Anlehnung an die Naturphilosophie von Lukrez  – ein ›bildaktives Geschehen der Natur‹ bereits vor menschlichen Bildpraktiken beginnt. Als Beleg können die ästhetischen Dimensionen von Evolution und Darwins Arbeiten zum ›Schönheitstrieb‹ dienen, die in den letzten Jahren erst wirklich gewürdigt wurden. Vgl. Bredekamp 2010, 322. 129 Einen anderen – hier nicht weiterverfolgten – Weg gehen Visual Studies, die den Bereich traditioneller Ästhetik in eine allgemeine Theorie der kulturellen Bedeutung von Bildern (im Sinne der Cultural Studies) überschreiten wollen. Als Ausgangspunkt kann dabei eine historische Diagnose gelten, wie sie etwa John Berger in Anschluss an Benjamins Analyse der technischen Reproduzierbarkeit von Bildern stellt: »The art oft he past no longer exists as it once did. Its authority is lost. In its place there is a language of images. What matters now is who uses that language for what purpose.« Berger, John (2008): Ways of Seeing, London: Penguin, 33. 130 Vgl. hierzu später in diesem Kapitel. Auch in der Position Wiesings löst sich eine anthropologische Perspektive aus Sicht dieser Studie metatheoretisch nicht ein. Stattdes-



Vier Thesen zum iconic turn

Frage an den Anfang gestellt, zeigen sich auch die Motivationen des Bilddenkens bei Kant und Hegel: Kants Idee eines Eigenrechts der Anschauung, das am Ursprung seines Bilddenkens steht, ergibt sich dort, wo er spezifisch das menschliche Körperschema und die menschliche Anschauungsform zum Gegenstand seines Nachdenkens macht. Zentraler Einsatzpunkt von Hegels Ästhetik ist die Frage des expressiven Potentials menschlicher Leiblichkeit, mit der Malerei als ›anthropomorphistischster‹ Kunstform. Diese weist wiederum Bezüge zur Theorie der Leiblichkeit auf, die Hegel in seiner Anthropologie entwickelt. Das Nachdenken über den Menschen und seine Leiblichkeit impliziert hier zugleich eine Reflexion des epistemischen Potentials von Bildlichkeit und vice versa.

2.2 Die Pluralität menschlicher Grundverhältnisse

THESE 2: Eine solche anthropologische Ausrichtung impliziert die Frage nach existenziellen Grundverhältnissen des Menschen, die stets plural gedacht werden müssen. In der Philosophie und philosophischen Anthropologie werden diese Grundverhältnisse standardmäßig mit der Formel vom ›Selbst- und Weltverhältnis‹ bezeichnet.131 Im Rahmen dieser Studie sollen heuristisch und strategisch mit Blick auf die epistemische Funktion von Bildern drei solcher Grundverhältnisse unterschieden werden: Im Rahmen dieser Studie sollen heuristisch und strategisch mit Blick auf die epistemische Funktion von Bildern drei solcher Grundverhältnisse unterschieden werden: (i) Das theoretische und instrumentelle Verhältnis des Menschen zu den Objekten seiner Welt (Subjekt-Objekt). Dies bildet den Ausgangspunkt für Kants Theorie der Geometrie als eine Theorie operativer Bilder; (ii) Das soziale Verhältnis des Menschen zu anderen Menschen (Subjekt-Subjekt). Dies bildet die Basis für Hegels Theorie der Malerei als Theorie bildlicher Performativität; (iii) Das Verhältnis des Menschen zu Seins- und Erfahrungsdimensionen, wie sie von sen erscheint seine Position des ›Aufklärers‹ als rationalistische Abwehrreaktion gegen Rationalitätskritik, die ihrerseits analogen Beschränkungen unterliegt. 131 Diese heute ubiquitäre Formulierung geht vermutlich ursprünglich auf Dieter Henrichs Buch Selbstverhältnisse von 1982 zurück, wo die Idee eines ›Grundverhältnisses‹ des Menschen erörtert wird, das sich sachlich eben in diese Dualität spalte. Henrich, Dieter (1982): Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart: Reclam. Die hier vorgestellte Idee, Bilder in Grundverhältnisse einzuordnen, die von einer allgemeinen philosophischen Anthropologie formuliert werden, unterscheidet sich von Beltings Projekt einer Bild-Anthropologie.

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Theorien der Alterität thematisiert werden (Subjekt-Alterität). Diese Dimension wird etwa in den Bildtheorien von Mitchell, Boehm und Bredekamp prominent.132 Eine derartige Differenzierung verschiedener Dimensionen von Bildlichkeit ist innerhalb des Bilddiskurses auch immer wieder anzutreffen. Mitchell etwa thematisiert eine Alternative zwischen einem (i) »epistemological ›cognitive‹ ground (the knowledge of objects by subjects)« und einem (ii) »ethical, political, and hermeneutic ground (the knowledge of subjects by subjects …)«133. Bredekamp unterscheidet ein Interesse Platons an Bildern als (i) »Grundlage des Denkens« und (ii) »des glückenden Handelns« von (iii) dem, »was der Moderne teuer war: die Störung, die Normsprengung, der Schock, das Fiktive und das Surreale«.134 Anstatt hieraus den Schluss zu ziehen, dass eine Theorie bildlichen Denkens allen diesen Dimensionen in ihrer Verschiedenheit Rechnung zu tragen habe, konzentrieren sich Mitchell und Bredekamp vor allem auf die Alteritätsdimension des Bildes und seinen Charakter als Anomalie. Mit der Idee einer Triplizität soll aber auch Krämers Idee von einer »Zweiteilung des Sehens« und der Bildepisteme in einen operativen und einen performativ-pathischen Pol ergänzt und erweitert werden.135 Die 132 Eine derartige Einteilung kann auch auf philosophische Vorläufer Bezug nehmen. Sie findet sich analog schon bei dem Schulmetaphysiker und Kant-Vorgänger Christian Wolff, nämlich als Einteilung der Hauptgegenstände des philosophischen Denkens in Welt, Seele und Gott. Diese resultiert wiederum in der entsprechenden Einteilung der Disziplinen der metaphysica specialis in Kosmologie, Psychologie und Theologie. Dieses Schema kehrt in einer zweiten bekannten Triplizität wieder, nämlich den berühmten Fragen, auf die sich Kant zufolge das »Feld der Philosophie« in seiner »weltbürgerlichen Bedeutung« bringen lässt: »1) Was kann ich wissen ?  2) Was soll ich tun ?  3) Was darf ich hoffen ?  4) Was ist der Mensch ?« Kant weist diesen Fragen bekanntermaßen die Disziplinen Metaphysik, Moral, Religion und Anthropologie zu, wobei er vermerkt: »Im Grund könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.« (Logik A 25) Dies ist ein Sinn von Anthropologie, auf den sich diese Arbeit bei dem Vorschlag bezieht, die Bildtheorie in der Anthropologie zu fundieren. Die Wolff’sche Trias und die Trias der drei Fragen kehren nun zugleich als die jeweiligen Problembereiche der drei Kritiken Kants wieder. Fragt die Kritik der reinen Vernunft nach der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, so ist ihr Hauptgegenstand die Welt als »Inbegriff aller Erscheinungen« (KrV B 391, B 447, B 435) und sie fragt nach den »Quellen des menschlichen Wissens« (Logik A 25). Die Kritik der praktischen Vernunft fragt in Nachfolge rationaler Seelenlehren nach dem freien Wesen des menschlichen Selbst und den Bedingungen der Verwirklichung dieser Freiheit. Die Kritik der Urteilskraft fragt hingegen: »Was darf ich hoffen ?«, und verbindet damit den Anspruch rationaler Theologie mit der kritischen Frage nach den »Grenzen der Vernunft«. Logik A 25. 133 Mitchell 1994, 33. Mitchell verschleift allerdings aus Sicht des hier vorgeschlagenen Schemas die Subjekt-Subjekt-Beziehung mit der Frage der Alteritätsdimension. 134 Bredekamp 2010, 42 f. 135 Krämer schreibt: »Das identifizierende, reflektierende Sehen operativer ­ Bilder einerseits und das pathische, ästhetische Verhältnis zu Bildern, die uns anschauen ande-



Vier Thesen zum iconic turn

performative Dimension von Bildern, in denen diese als Quasi-Subjekte auftreten, soll nicht nur pathisch-passiv, sondern auch im Sinne einer geteilten Spontaneität verstanden werden.136

2.3 Von der intellektualistischen Metaphysik zur Leiblichkeit

THESE 3: Der iconic turn sollte zunächst nicht als Kritik an Rationalität verstanden werden, die eine Dimension der Anomalie und Alterität freilegt. Sondern als Kritik an intellektualistischer Metaphysik, die eine Dimension menschlicher Leiblichkeit freilegt. Als intellektualistische Metaphysik wird eine philosophische Theorie bezeichnet, die die existenziellen Grundverhältnisse des Menschen allein nach den Prinzipien einer anschauungsfreien, diskursiven Logik entwirft. Das beste Beispiel für die Kritik einer solchen Metaphysik geben Kants kopernikanische Wende und die transzendentale Ästhetik. Kant richtet sich damit gegen die metaphysische Grundlage rationalistischer Ontologie: der Idee der Reduzierbarkeit von sinnlicher Erscheinung auf eine intelligible Welt, die substanzontologisch und prädikatenlogisch strukturiert ist. Demgegenüber behauptet Kant die mediale Unhintergehbarkeit verkörperter, d. h. perspektivischer und relationaler, anschaulicher und bildlicher Weltbezüge. (Die Idee vom iconic turn avant la lettre lässt sich demnach auch so verstehen, dass in rerseits, bilden die ›Enden‹ einer Skala, auf der die Fülle unserer Bildpraktiken in beliebig komplexen Mischverhältnissen lokalisierbar sind.« Krämer, Sybille (2011): »Gibt es eine Performanz des Bildlichen ? Reflexionen über ›Blickakte‹«, in: Ludger Schwarte (Hg.): Bild-Performanz, München, Paderborn: Fink, 63–87, 83. Die Erweiterung gegenüber Krämer bestünde darin die ›performative‹ Dimension von Bildlichkeit nicht auf das Pa­ thisch-Passive zu beschränken, sondern mit Hegel (und in Anlehnung an einen Terminus der sozialen Epistemologie) zunächst eine Art der ›geteilten Spontaneität‹ zu betrachten. Vgl. dazu ebenfalls Pape, der »zwei Befähigungen« unterscheidet, »durch welche die Gemeinschaftlichkeit und das Sehen des Einzelnen verbunden sind«, und zwar mit Blick auf das theoretische Subjekt-Objekt-Verhältnis einerseits und das praktische SubjektSubjekt-Verhältnis andererseits. Pape, Helmut (2011): »Wir können nur gemeinsam sehen. Die Verschränkung der Blicke als Modell humanen Sehens«, in: Horst Bredekamp; John Krois (Hg.): Sehen und Handeln, Berlin: Oldenbourg, 129. Krois unterscheidet »pictureoriented and subject-oriented conceptions«, zu ersteren zählen Krois’ eigener verkörperungstheoretischer Ansatz, sowie Bredekamps bildaktiver, zu letzteren solche, die im Sinne Gombrichs den ›Anteil des Betrachters‹ stark machen, worunter etwa die Positionen Goodmans oder Wiesings fallen. Vgl. Krois, John (2011a): »Enactivism and Embodiment in Picture Acts. The Chirality of Images«, in: Horst Bredekamp; Marion Lauschke (Hg.): Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, Berlin: Akademie, 272–289. 136 Genaueres dazu im folgenden Kapitel sowie in Kapitel III.5.2.2.

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der kopernikanischen Wende bereits ein iconic turn enthalten war.) Kant leistet diese Kritik also für das Verhältnis von Subjekt und Welt (bzw. Objekt), insofern er das ›intellektuelle System der Welt‹ kritisiert, wie es die Leibniz-Wolff’sche Schulphilosophie vertritt. Kants kritisches Projekt bleibt aber unvollständig, weil er selbst immer noch eine intellektualistisch-metaphysische Theorie des Subjekts vertritt, das sich selbst zwar denken, nicht aber anschauen und empfinden können soll. Die Kritik an dieser ›Metaphysik der Subjektivität‹ ist ein zentraler Impetus von Hegels Philosophie – sowohl seiner Kantkritik generell wie auch seiner Überlegungen zur Leiblichkeit und zur Medienspezifik der Malerei. Hegel setzt somit die Kantische Intellektualismuskritik mit Blick auf das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und anderen fort, indem er die Bedeutung der leiblichen Interaktion im Raum für das menschliche Selbstbewusstsein in den Blick nimmt. Mit Blick auf diese Kritik am Intellektualismus können Kant und Hegel so jeweils als Theoretiker der Verkörperung gelesen werden, die die fundamentale Bedeutung von Körperschema und Motorik, Gestik, Blick und verkörperter Interaktion für den Menschen erkennen, und in ihre philosophischen Theorien integrieren. Damit steht ihr Bilddenken zugleich Modellen eines entkörperten, reinen Sehens entgegen. Letztlich scheint auch für die Frage der Alterität eine derartige Kritik möglich zu sein. Denn auch die Alteritätsdimension menschlicher Existenz kann rein intellektualistisch oder diskursiv aufgefasst werden, etwa in Gestalt einer Theologie oder einer Theorie der unsichtbaren différance. Dass eine solche Kritik zugunsten des Präsenzcharakters von Alterität, ihrer phänomenalen Erfassung nötig ist, hat insbesondere Mersch in der Kritik an Derrida gezeigt.137 Dies zeigen auch jene Positionen im Bilddiskurs, die, wie Boehm, Mitchell und Bredekamp den Alteritätscharakter von Bildern betonen.

2.4 Von der Logik der Substanz zur Logik der Relation

THESE 4: Der iconic turn impliziert den Übergang von Logiken der Substanz zu Logiken der Relation. Zahlreiche Positionen im Bereich des Bilddiskurses nennen als die grundlegende Eigenschaft von Bildern deren relationale Organisation (vgl. Peirce/ Stjernfelt, Krämer, Wiesing, Pape).138 In diesem Licht betrachtet, setzt der 137 Vgl. Mersch 2002a sowie ebenfalls Jay, Martin (1993): Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley: University of California Press. 138 Stjernfelt 2007, 49 ff u. 89 ff. Pape, Helmut (1997): Die Unsichtbarkeit der Welt. Eine



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iconic turn also dasjenige voraus, was Cassirer als die Wende vom antiken Substanzparadigma zum neuzeitlichen Funktions- oder Relationsparadigma beschrieben hat. (In diesem Sinne stellt Wiesing auch ein »komplementäres Ergänzungsverhältnis« zwischen der Relationenlogik bei Peirce und dem Bilddenken Fiedlers oder Wölfflins fest.139) Kant und Hegel haben wesentlichen Anteil an dieser Wende, insofern für beide Denker die relationale Konstitution von Welt und Selbst zur entscheidenden Voraussetzung wird. Kant kritisiert die Idee der Welt als beobachterunabhängiger Ordnung von Substanzen und zeigt, wie von Welt nur relativ auf ein sich darin orientierendes Subjekt die Rede sein kann.140 Hegel kritisiert die Idee einer substanziellen, selbständigen Individualität. Dies trifft gleichermaßen die kantische Metaphysik der (praktischen) Subjektivität als Ding an sich, wie das substanzorientierte Charaktermodell der klassischen Antike. Dagegen konstituiert sich Selbstwissen und sozialer Sinn erst in der Relation zwischen interagierenden Subjekten. Für beide Denker sind es spezifisch flächige Bildmedien (Diagramme, Malerei), die diese relationale Logik artikulieren. Kant zeigt dies über die Kritik am begrenzten Ausdruckspotenzial der monistischen aristotelischen Prädikatenlogik und ihres Substanz-Akzidenz-Schemas. Bei Hegel geschieht dies vor allem über die Kritik am Substanz-Akzidenz-Schema der klassischen Skulptur. Zusammengefasst: Die Logik des Bildlichen lässt sich nicht auf eine Logik der Proposition reduzieren, die das Verhältnis von Dingen und Eigenschaften (monadischen Prädikaten) betrifft. Sie ist stattdessen eine Logik der Relation.

visuelle Kritik neuzeitlicher Ontologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Krämer dazu: »Was eine Relation ist, erhält im Diagramm einen sinnlich wahrnehmbaren und auch explorierbaren Ort.« Krämer 2016, 59. 139 Wiesing 2008, 91. »In der Kunst  – so kann man Riegl lesen  – sind es logische Unterschiede, die man sieht. In der Logik – so kann man Peirce lesen – sind es ästhetische Unterschiede, die man denkt.« Ebd. 140 Wie in Kapitel II.3 ausführlich zu zeigen sein wird, impliziert dies zugleich die kritische Fortführung der relationalen Raumauffassung Leibniz‹.

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3. Eine alternative Kartierung des Bilddiskurses

Im Folgenden soll eine alternative Kartierung des Bilddiskurses skizziert werden, die auf der in These 2 skizzierten Dreiteilung basiert. Zentral ist hierbei folgende Idee: Verschiedene epistemische Funktionen von Bildlichkeit müssen in Kontinuität mit verschiedenen Dimensionen eines verkörperten In-der-Welt-Seins betrachtet werden. Die Bildtheorie hat daher immer einen Bezug auf etwas, das körperlich, aber noch nicht bildlich ist. Die drei folgenden Beschreibungen setzen daher jeweils zunächst bei einer Dimension verkörperten Sehens an, wie es generell Thema von Ästhetik, Phänomenologie und Verkörperungstheorie ist, um dann erst aufzuzeigen, wie sich dies in Praktiken des Zeigens und komplexeren Bildpraktiken fortsetzt. Die gewählte Zusammenstellung zielt dabei wiederum keineswegs auf Vollständigkeit, sondern versucht einen skizzenhaften Überblick zu geben.

3.1 Die Anschaulichkeit der Welt und die operative Bildepisteme

»It is seeing which establishes our place in the surrounding world; we explain that world with words, but words can never undo the fact that we are surrounded by it.«141 Mit diesen Worten beschreibt John Berger die Voraussetzung einer ersten anthropologische Dimension des iconic turn: Über den Sehsinn erschließt sich uns vor jeder Sprachlichkeit eine Welt von sichtbaren Objekten, die in ihrer Sichtbarkeit eine spezifische Ganzheit und einen spezifischen Zusammenhang bildet. Mit den Worten Papes: »Nur durch den Gesichtssinn können wir Objekte gleichzeitig und unmittelbar in, neben, hinter und nacheinander in einem Zusammenhang geordnet und so als durch ihre Position individuiert erfassen.«142 Gleichzeitig ist dieses Feld des Sichtbaren stets von der Perspektive einer Betrachterin abhängig, ist auf diese hin orientiert. Im Sichtbaren konstituiert sich so eine ursprüngliche Subjekt-Objekt-Beziehung, die von einer doppelten Relationalität gekennzeichnet ist: Relationen der Dinge untereinander und Relation der Dinge auf uns als Beobachter. Die Differenz von Figur und Grund, wie sie Merleau-Ponty zufolge grundlegend für jede Wahrnehmung ist, erfüllt sich so spezifisch im Sehsinn. Bei Blinden 141

Berger 2008, 7. Pape 1997, 41. Anders gesagt: Nur der Sehsinn leistet »die Differenzierung von visuellen Objekten in einem kontinuierlich sichtbaren, strukturierten visuellen Feld.« Ebd. 39. 142



Eine alternative Kartierung des Bilddiskurses

etwa muss dies durch andere Sinne (Tasten, Echolot) ersetzt werden.143 Das Sehen ist hier ein vorzüglicher Sinn der Individuation, wie nicht nur Nietzsche in Bezug auf das Apollinische denkt, sondern etwa auch Pape in seiner visuellen Ontologie.144 Seine Rolle in der Konstitution von Gegenständlichkeit ist ein Haupttopos in der Kritik des Okularzentrismus.145 Dabei erweist sich die vom Sehen gestiftete Simultaneität aber immer wieder mit der Taktilität und Motorik des Körpers, spezifisch der Hand, verschränkt. Ein solcher visueller Objektbezug setzt sich in Zeige- und Bildpraktiken fort: Dass uns die Gegenstände der Welt zunächst und zumeist durch den Gesichtssinn begegnen, wird weitergeführt in der entwicklungsgeschichtlichen These Tomasellos vom gestischen Zeigen als erster – noch vorsprachlicher – Dimension der Verständigung über diese Welt. Dabei unterscheidet er zwischen ikonischen und deiktischen Gesten: Die schlängelnde Geste bildet eine Konfiguration der Objektwelt ab (Schlange); der Zeigefinger lokalisiert sie (Höhle) und lenkt so die Aufmerksamkeit.146 Auch hier findet sich also die doppelte Relationalität: erstens der Dinge untereinander; zweitens mit indexikalischem Bezug auf einen Betrachter. Wie Krämer in ihren Überlegungen zu einem ›kartographischen Impuls‹ darstellt, liegt an der Wurzel des Diagrammatischen das Problem der Lokalisierung eines Subjekts relativ zu den Dingen der Welt. Dies wird auch an Bogens Beispiel der Sonnenuhr als Paradigma des Diagrammatischen deutlich, die immer einen Zeiger involviert.147 Peirce’ Bestimmung, dass Diagramme ihre Gegenstände durch relationale Strukturähnlichkeit abbilden, besagt, dass Relationen von Gegenständen der Welt in den Relationen eines Bildraums wiederaufgenommen werden, um sie dort einem epistemischen Handeln verfügbar zu machen. Pläne und Entwürfe fungieren in der anderen Richtung als Vorbilder für neu herzustellende materielle Anordnungen. Modelle visualisieren und eröffnen dasjenige einem denkenden Zugriff, was dem Sehen sonst gar nicht zugänglich ist.148 Diagramme können aber auch eine reflexive Metaperspektive auf solche Objektbezüge einnehmen: Die euklidische Geometrie beschreibt allgemeine Bedingungen flächiger Inskriptionen. Peirce’ existential graphs sind 143 Vgl. Berger 2008, 8 f.: »Close your eyes, move round the room and notice how the faculty of touch is like a static, limited form of sight.« 144 Vgl. Nietzsche über das Apollinische: Nietzsche 1999, 28. 145 Vgl. den Sammelband: Kleinberg-Levin, David Michael (Hg.) (1993): Modernity and the Hegemony of Vision, Berkeley: University of California Press. 146 Tomasello 2014, 94 ff und 105. 147 Vgl. Bogen 2005. 148 Vgl. Beck, Martin; Wöpking, Jan (2014): »Diagrammatik – Graphen – Modelle«, in: Stephan Günzel; Dieter Mersch (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, 346–353.

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nicht als besonders effektives Kalkül konzipiert, sondern als ein »semiotischvisuelles Modell dafür, wie sich durch die Interpretation der dialogischen Abfolge der Blicke eine gemeinsame Verständigung über … gemeinsame[] Objekte aufbauen lässt.«149 Die visuelle Erschließung von Relationen der Welt ist nicht auf den Kontext diagrammatischer Epistemologien beschränkt, sondern ebenfalls das zentrale Thema der formalen Ästhetik: Bilder, etwa in der Malerei, sind dann »konstruierte Sichtbarkeiten«, die »mit den immanenten Relationen ihrer Infrastruktur als […] ›Anleitungen, zu sehen‹ dienen, sozusagen als Konstruktionspläne von Zuständlichkeiten, die […] ›das Spiegelbild der Welt in den Köpfen der Menschen umgestalten‹. Die Kunst erhält so die Aufgabe, neue Weisen des Sehens zu konstruieren und zu lehren.«150 Diesen Aspekt der Konstruktion teilt das Bilddenken der formalen Ästhetik mit dem der Diagrammatik.151 Trotz aller Unterschiede (und der Skizzenhaftigkeit dieser Darstellung) lässt sich doch eine Art einheitlicher Kern der genannten Positionen benennen: die Frage nach der welterschließenden Funktion von Sehen, Zeigen und Bildern, das Interesse an einer gegenständlichen Wirklichkeit, ihren Konfigurationen oder Strukturgesetzen und ihrer indexikalischen, gerichteten Beziehung auf den Betrachter. Im Bereich der Bildepisteme bzw. Bildpragmatik liegt damit – so hier der Vorschlag – ein operatives Paradigma vor: das Bild ist vor allem hergestelltes Objekt, das sich durch seinen Werkzeugcharakter kennzeichnet. Dies gilt nicht nur für den Bereich des Diagrammatischen mit der dort zentralen Kategorie der Operativität, sondern ebenfalls in der formalen Ästhetik. Dort ist das Bild »Produktionstechnik einer besonderen Art von Gegenständlichkeit«,152 nämlich eines Bildobjekts, das dann eben als Werkzeug (des Zeigens, des epistemischen Operierens etc.) dienen kann.153

149

Pape 2011, 137; vgl. auch Wiesing 2008, 90 f. Wiesing 2008, 153. Vgl. auch Wiesing 2013, 109 ff. 151 Hiermit sei erneut auf das von Wiesing festgestellte »komplementäre[] Ergänzungs­ verhältnis« zwischen der Relationenlogik bei Peirce und der formalen Ästhetik Fiedlers oder Wölfflins hingewiesen. Wiesing 2008, 91. »In der Kunst – so kann man Riegl lesen – sind es logische Unterschiede, die man sieht. In der Logik – so kann man Peirce lesen – sind es ästhetische Unterschiede, die man denkt.« Ebd. 152 Vgl. Wiesing 2008, Xf. 153 Vgl. Wiesing 2013, 125 ff. 150



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3.2 Die Anschaulichkeit des Sozialen und die performative Bildepisteme

»Soon after we can see, we are aware that we can also be seen. The eye of the other combines with our own eye to make it fully credible that we are part of the visible world.«154 Was John Berger hier beschreibt, ist Voraussetzung einer zweiten Dimension des iconic turn. So wie die Gegenstände der uns umgebenden Welt begegnen uns auch die anderen Menschen über den Sehsinn (schon bevor wir sprechen gelernt haben): Von den »everyday processes of looking at others and being looked at« kann mit Mitchell festgestellt werden: »This complex field of visual reciprocity is not merely a byproduct of social reality but actively constitutive of it. Vision is as important as language in mediating social relations, and it is not reducible to language, to the ›sign,‹ or to discourse.«155 Oder mit Belting: »Im Blick eröffnet sich das soziale Feld der Bildpraxis.«156 Wichtig ist dieser Studie das Plädoyer, diese visuelle soziale Beziehung nicht, wie etwa Sartre, unmittelbar negativ auszudeuten, indem der mich anblickende Andere stets nur als »Grenze meiner Freiheit« gedacht wird.157 Wenn Mitchell von einem ›shift from cognition to recognition‹158 und ›visueller Reziprozität‹ spricht, dann könnte oder sollte das – auch gegen Mitchells eigenes Modell einer fundamental asymmetrischen Beziehung – bedeuten: Die visuelle Beziehung zum Anderen ist Grundlage einer gemeinsamen Lebensform, Möglichkeitsbedingung meiner Freiheit und meines Wissens von mir selbst. In einer solchen Hinsicht wird Visualität etwa im Rahmen der Anerkennungstheorie diskutiert.159 Eine Theorie der Konstitution des Sozialen im Blickverhältnis, die sich von Sartre kritisch abgrenzt, entwirft etwa Rainer Marten: »Menschen spiegeln sich: je der Eine im Anderen. Ohne das fänden sie nicht zueinander und zu sich selbst.«160 Oder auch, im Anschluss daran, Pape: »Das Ineinander der Blicke ist eine Lebensweise, die ein praktisches 154

Berger 2008, 9. Mitchell 2005, 47. 156 Belting 2007, 49. 157 Sartre, Jean-Paul (1994): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 472. 158 Mitchell liest hier Panofskys Ikonologie und Althussers Ideologietheorie zusammen. Er betont die Bedutung des Begriffs Anerkennung (recognition) mit Blick auf «shift[ing] both ›sciences‹ from an epistemological ›cognitive‹ ground (the knowledge of objects by subjects) to an ethical, political, and hermeneutic ground (the knowledge of subjects by subjects …).« Mitchell 1994, 33. 159 Honneth, Axel (2003): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt/M.: Suhrkamp. 160 Marten, Rainer (1988): Der menschliche Mensch. Abschied vom utopischen Denken, Paderborn: Schöningh, 7. Vgl. zur Kritik an Sartre 29 ff. 155

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Verhältnis des Lebensvollzugs und der Selbstfindung herstellt.«161 Hier geht es weniger um ein pathisches Betroffensein durch den Blick des Anderen als um eine ›geteilte Spontaneität‹.162 Auch diese Dimension der Sichtbarkeit findet ihre Fortsetzung in Zeigeund Bildpraktiken. Entscheidendes Medium in dieser Beziehung ist der Körper, eine »körperliche Deixis«163 in der sich der Mensch gestisch für andere manifestiert. In solcher Deixis geht es jetzt nicht mehr um ein ikonisches Abbilden oder ein Hinzeigen, sondern ein Sich-Zeigen. Diese beseelte und intelligible Medialität unterscheidet die Wahrnehmung menschlicher Körper als Gegenüber von derjenigen der Gegenstände der physikalischen Welt.164 Menschliche Körper erscheinen uns nicht als mental ferngesteuerte Automaten, denen wir aufgrund eines induktiven Beobachtungswissens eine irgendwie dahinter vorhandene Seele zuschreiben. Leiblichkeit hat eine bestimmte Präsenz, in der sich auch vorsprachlich soziale Beziehungen manifestierten, in der mir der andere nicht nur als fühlendes Wesen, sondern auch als ethisch-praktisches Subjekt begegnet. Beispiele für soziale Beziehungen, soziales Bewusstsein und Selbstbewusstsein, die sich im Visuellen konstituieren, sind etwa Scham165, Geschlechterverhältnisse und Begehren166 oder Neid167. Im Äußeren der Augen, des Gesichts, der Körperbewegungen, generell der menschlichen Gestalt, zeigt sich ein Inneres, nicht im Sinne der Repräsen161

Pape 2011, 127. Zum Begriff der geteilten Spontaneität vgl. Lauer, David (2014): »What Is It to Know Someone ?«, Philosophical Topics 42, 321–344. 163 Boehm, Gottfried (2007b): »Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes«, in: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press, 19–33, 24. 164 Dies schon bei Sartre: »Das bedeutet, daß meine Wahrnehmung des Anderen als Gegenstand … ihrem Wesen nach auf ein fundamentales Erfassen des Andern verweist, wo der Andere sich mir nicht mehr als Gegenstand, sondern als ›leibhaftige Anwesenheit‹ entdecken wird.« Sartre 1994, 457. Gegenüber der Wahrnehmung des Anderen als Gegenstand muss es das »Wesen« der Wahrnehmung des Anderen sein, »sich auf eine erste Beziehung meines Bewußtseins zu dem des Andern zu beziehen, in der der Andere mir direkt als ein Subjekt, wenn auch in Verbindung mit mir, gegeben sein muß, und die der fundamentale Bezug, der eigentliche Typus meines Für-Andere-seins ist.« Ebd. 458. Das Problem ist allerdings, dass Sartre dies unmittelbar negativistisch als Quelle der Desintegration und nicht etwa einer potenziellen Reziprozität auslegt: »Erscheint also unter den Gegenständen meines Universums ein Element der Desintegration eben dieses Universums, so nenne ich das das Erscheinen eines Menschen in meinem Universum.« Ebd. 461. 165 Vgl. Sartre 1994, 467 ff. 166 Vgl. Mulvey, Laura (1975): »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, Screen 16, 6–18. 167 Vgl. Berger 2008, 131 f. 162



Eine alternative Kartierung des Bilddiskurses

tation eines begrifflich strukturierten Gehalts, sondern als sichtbar Prä­ sentes.168 Diese spezifische Medialität menschlicher Leiblichkeit bildet die Grundlage für eine oft problematisierte Übertragung. Erneut sei Beltings Beobachtung zitiert, dass wir etwa an unserem Schatten erfahren »dass der eigene Körper medial und bildhaft agiert.«169 Belting weist diesbezüglich darauf hin, »dass Menschen am eigenen Körper erfuhren, wie Bilder entstehen, bevor sie selbst daran gingen, Bilder künstlich herzustellen.«170 In der Beziehung zu Bildern kann dann etwas von jener visuellen Beziehung wiederkehren, die wir zu anderen Subjekten haben. Hiervon spricht in gewisser Weise schon die Urszene, die Panofsky für seine Ikonologie wählt: Dies Szene, dass »mich ein Bekannter auf der Straße durch Hutziehen« grüßt.171 Hierin hat nun auch der Topos von Bildern als Quasi-Subjekten ihren Hintergrund. Belting spricht hier von »Animation« als »geborene (und erlernbare) Fähigkeit unserer Körper, in unbelebten Bildern ein Leben zu entdecken, das wir ihnen doch erst selbst geben. […] Auf diese Weise erwerben Bilder die Macht lebender Wesen. […] Bildmedien sind gleichsam fiktive Partner unseres Blicks.«172 Dieses Wechselverhältnis von Bild und Körper ist auch dasjenige, was bei Bredekamp dem schematischen und substitutiven Bildakt zugrunde liegt. Pate ist dabei der Platonische Schemabegriff und seine Aktualisierung in der somaästhetischen Pragmatik als »Summe aller Steuerungen, welche die Haltungen und Bewegungen der Körper ermöglichen«.173 Wenn also eine soziale Dyna168

Vgl. hierzu etwa Panofskys Unterscheidung zwischen Tatsachenbedeutung und Ausdrucksbedeutung. Panofsky, Erwin (1975): »Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance«, in: Erwin Panofsky (Hg.): Sinn und Deutung in der Bildenden Kunst, Köln: Dumont, 36–66, 36 f. 169 Belting 2007, 55. 170 Ebd. 56. 171 Panofsky 1975, 36. Es handelt sich um eine »Form des Grüßens« die »der abendländischen Welt eigentümlich und ein Überrest des mittelalterlichen Rittertums [ist]: Bewaffnete pflegen die Helme abzunehmen, um ihre friedlichen Absichten und ihr Vertrauen in die friedlichen Absichten anderer kundzutun.« Ebd. 37. Hier steht also deutlich die Idee von visueller Reziprozität und Anerkennung im Vordergrund, wovon sich etwa der von Mitchell beschriebene Medusa-Effekt und der von Derrida beschriebene VisierEffekt (vgl. Fußnote 189) unterscheiden. 172 Belting 2007, 50. 173 »Weitgehend unerkannt, ist Platons Definition des Schemas in der Variante der somaästhetischen Pragmatik aktualisiert worden. In der Philosophie der Verkörperung gilt sie als Summe aller Steuerungen, welche die Haltungen und Bewegungen der Körper ermöglichen. Auf diese Wiederkehr der Bedeutung des Schemas als körperliche Basis des Erkennens und Verhaltens bezieht sich die Definition des schematischen Bildakts. Er umfaßt Bilder, die darin musterhafte Wirkungen erzielen, daß sie auf unmittelbare Weise lebendig werden oder Lebendigkeit simulieren.« Bredekamp 2010, 104.

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mik der Blicke, Gesten und sichtbaren Handlungen entscheidend für die Subjektivierung innerhalb einer Gemeinschaft ist, dann können auch Bilder an einer derartigen Dynamik teilhaben. Auch hier konnte nur ein skizzenhafter Überblick gegeben werden. Gemeinsam ist diesen Positionen jedoch, dass eben die visuelle Subjekt-Subjekt-Beziehung, in der sich das Soziale konstituiert, auf Bilder übertragen wird. Dies hat seine Wurzeln in einem bestimmten Konzept der Ästhetiktradition, nämlich der von Aristoteles begonnenen Poetiktradition, deren Kern  – wie auch Mitchell anmerkt  – »the analysis of the properties of a made thing, treated as if it had a soul«174 ist. Innerhalb eines solchen perfor­ mativen Paradigmas ist das Bild nicht primär Gegenstand, operatives Kalkül oder Instrument. Sondern das Bild ist Gegenüber, das – wie in der Legende von Butades – ein reales Gegenüber substituiert. Eine zentrale These der Auseinandersetzung mit Hegel in dieser Studie besagt, dass dies nicht bloß voraufgeklärter Animismus ist, wie es etwa Wiesing nahelegt. Er lässt sich auf bestimmte mediale Techniken zurückführen (etwa als Fähigkeit zur Inkarnation und die Farbwirkungen des Inkarnats) und ist an Überlegungen der sozialen Epistemologie anschlussfähig (etwa über die soziale Bedeutung der Blickbeziehung).

3.3 Die Anschaulichkeit der Alterität und die energetische Bildepisteme

Bisher wurde versucht zu zeigen: Im Sehen konstituiert sich unser Verhältnis zur Welt. Die Identifikation von Gegenständen im Sichtfeld und die Orientierung als Bestimmung des eigenen Standpunkts sind zwei komplementäre Dimensionen unseres Weltverhältnisses. Im Sehen konstituiert sich auch unsere soziale Beziehung zu anderen. Die Reziprozität von Blicken und die gestische Interaktion erzeugen ein Sozialverhältnis. Die Bildphilosophie thematisiert aber immer wieder einen dritten Modus von Sichtbarkeit und Sehen: als Verhältnis des Subjekts zu einem radikal Anderen, das spontan agiert, sich einem instrumentellen Zugriff und aneignenden Verstehen entzieht und so menschliche Spontaneität und Freiheit beschränkt. Hierin ist eine dritte Dimension des iconic turn enthalten. Im Sichtbaren soll sich eine Begegnung mit einer Alterität ereignen, die sich als Widerfahrnis begreifen lässt. Paradigmatisch hierfür ist Lacans paradoxe und kontraintuitive Theorie des Sehens am Beispiel einer auf dem Meer treibenden glitzernden Sardinenbüchse: eine Theorie, »die darauf beharrt, daß der Betrachter von den 174

Mitchell 2005, 46.



Eine alternative Kartierung des Bilddiskurses

Dingen angeblickt werde«.175 Vergleichbar ist dasjenige Modell, das Rilke in seinem Gedicht Archaischer Torso Apollos entwickelt: »denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht«.176 Die Blickbeziehung ist hier nicht mehr als reziproke Anerkennungsrelation gedacht, sondern als das nichtreziproke Verhältnis zu einem Anderen, das uns angeht (nous regarde), sich aber unserem epistemischen und verstehenden Zugang entzieht. Hier ist nun Sartres Blicktheorie vom Anderen als »Grenze meiner Freiheit«177 einzuordnen. Zu nennen wären ebenso die Figur des Medusenhaupts bei Mitchell,178 des Antlitzes bei Levinas179 oder des Visier-Effekts bei Derrida.180 All diese Figuren zielen auf einen unheimlichen, nicht zu bewältigenden Abgrund innerhalb des Sichtbaren. Sie sind jenseits der Erfahrungsdimension beheimatet, die Kants Rede von den »Grenzen der Vernunft«181 umreißt. Auf einer solchen Wendung basiert Bredekamps Theorie des Bildakts mit ihrem Ziel, »den Impetus in die Außenwelt der Artefakte zu verlagern.«182 Das Bild wird hier selbst zum handelnden Akteur. Statt in ein Einfühlungsund Reziprozitätsverhältnis mit dem Betrachter zu treten, beschränkt es des175

Bredekamp 2010, 46. Rilke, Rainer Maria (1955): Sämtliche Werke, Bd. 1, Frankfurt/M.: Insel, 557. 177 Sartre 1994, 472. Durch den anderen ist mein Universum »mitten in seinem Sein von einem Abflußloch durchbohrt […] und [fließt] fortwährend durch dieses Loch ab«. Ebd. 462. »So bin ich mein Ego für den andern inmitten einer Welt, die zum andern hin abfließt.« Ebd. 471. Der andere ist »die Grenze meiner Freiheit«. Ebd. 472. »Alles geschieht so, als ob ich eine Seinsdimension hätte, von der ich durch ein radikales Nichts getrennt wäre: und dieses Nichts ist die Freiheit des Andern« Ebd. 473. »Das bedeutet, daß ich mit einem Schlag Bewußtsein von mir habe, insofern ich mir entgehe, nicht insofern ich der Grund meines eigenen Nichts bin, sondern insofern ich meinen Grund außerhalb von mir habe.« Ebd. 470. 178 Mitchell 2005, 46. 179 »Das Antlitz entzieht sich dem Besitz, meinen Vermögen. In seiner Epiphanie, im Ausdruck, wandelt sich das Sinnliche, das eben noch faßbar war, in vollständigen Widerstand gegen den Zugriff.« Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München: Alber, 283. 180 »Dieser gespenstische jemand anders erblickt uns, und wir fühlen uns von ihm erblickt, außerhalb jeder Synchronie, vor jedem Blick von unserer Seite und jenseits davon, gemäß einer absoluten Dissymmetrie und Vorzeitigkeit (die von der Ordnung der Generation, mehr als einer Generation, sein kann), gemäß einem absolut unbeherrschbaren Mißverhältnis. Hier macht die Anachronie das Gesetzt. Daß wir uns gesehen fühlen von einem Blick, den zu kreuzen immer unmöglich bleiben wird, darin besteht der VisierEffekt, von dem her wir das Gesetz erben.« Derrida, Jacques (2004): Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 21 f. Derridas Visier-Effekt ist genau das Gegenstück zu Panofskys Beispiel des Hutziehens, das auf das Grüßen mit offenem Visier zurückgeht. 181 (Logik A 25) Vgl. hierzu auch Fußnote 141. 182 Bredekamp 2010, 52. 176

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sen Souveränität. Zentral ist diese Idee auch für Didi-Huberman in Was wir sehen, blickt uns an, und – wie oben geschildert – für Mitchell und Boehm. Wichtig ist hier zu betonen, dass ein solcher Ansatz gar nicht notwendigerweise eine Vermenschlichung des Bildes impliziert. Wie im vorigen Abschnitt (2.2) diskutiert wurde, macht ein Verständnis des Bildes als Gegenüber dieses noch nicht notwendigerweise zu einer sich entziehenden Alterität. Umgekehrt ist nun festzustellen, dass Theorien einer Eigenaktivität des Bildes nicht notwendigerweise die Analogie zum menschlichen Gegenüber benutzen, sondern ebenso die zum Physikalischen183: Dies zeigt sich etwa dort, wo mit Kategorien wie ›Kraft‹ und ›Widerständigkeit‹ oder ›Aufladung‹ operiert wird. Beispielhaft sind hier etwa Warburg und Benjamin, die eine Theorie der Energetik des Bildes mit Kategorien aus dem Bereich der Elektrizität entwickeln.184 Hier soll die These vertreten werden, dass diese Positionen zusammen ein drittes, energetisches Paradigma der Bildepisteme bilden.185 Entgegen Wiesings Vorwurf der Mythologisierung haben auch sie einen rationalen Kern, der in der Metakritik von Rationalität und historischer Aufklärung liegt. Charakteristisch zeigt sich dies an Bredekamps genealogischem Rückbezug auf Adornos Theorie des Kunstwerks und dessen Gedanken eines Nichtidentischen und eines Vorrangs des Objekts.186 Kritikwürdig ist allerdings  – und hier schließt sich der Kreis zum Anfang dieser Einleitung – die Überblendung dieses Projekts mit der Bildwende als solcher, die die Bildlichkeit überhaupt zum Antipoden der Ratio machen will. Stattdessen handelt es sich hier nur um eine Dimension der Bildwende, deren Sinn als medientheoretische Reflexion des Differenz- und Alteritätsdenkens begriffen werden kann. Paradigmatisch hierfür ist nicht nur die bereits erwähnte Kritik Merschs an Derridas unsichtbarer différance zugunsten einer medialen Reflexion dessen, was sich zeigt, sondern ebenso ein Gedanke Bredekamps: Wenn in »früheren Epochen … 183

Zu unterscheiden ist eine solche Quasi-Physikalisierung selbstverständlich von solchen Phänomenen der Bildlichkeit, die tatsächlich auf physikalischen Effekten beruhen, wie etwa Schatten, Spiegelbildern oder Spurbildern. 184 Vgl. hierzu erneut Rautzenberg 2014: Bildkonzepte von Warburg und Benjamin, die von ›Energien‹ der Bilder etc. reden und dabei auf vormoderne oder frühantike bildmagische Konzepte zurückgreifen, lassen sich zugleich als Anwendung von Theorien der Elektrizität auf Bilder begreifen. Hiermit stehen diese im offenkundigen Gegensatz zur bildphilosophischen Kategorie der ›Physiklosigkeit‹, wie sie später noch bei Kant (Kapitel II.5.3) diskutiert werden soll. Die Aufhebung von Kategorien der Physik (Kraft, Substanz etc.) im Bildraum ist gerade die Pointe von Begriffen wie ›reine Sichtbarkeit‹ und ›reine Anschauung‹ (Kant). 185 Vgl. zum Begriff der Enargeia: Bredekamp 2010, 20 ff. 186 Bredekamp 2010, 324. Vgl. hierzu Fußnote 94.



Eine alternative Kartierung des Bilddiskurses

die von innen her kommende Kraft von Bildern durch eine göttlich gestiftete Macht erklärt« wurde, so lag darin nur »eine externe Lösung, die das Pro­ blem nicht aus sich heraus zu klären vermochte.«187 Ein iconic turn impliziert dann, die eigentümliche Medialität und aisthetischen Grundlagen von Alterität zu klären, d. h. die Bedingungen einer widerfahrnishaften, pathischen Begegnung mit dem Anderen im konkreten Phänomen zu reflektieren. Zusammenfassend: Diese schematisierte Dreiteilung versteht sich nicht als Klassifikation von Bildtypen, sondern als Beschreibung einer Pluralität von Erfahrungsdimensionen des Bildlichen und entsprechenden Theorien. In den realen Bildpraktiken kommen diese sicher stets auch in Verhältnissen von Überschneidung, Gleichzeitigkeit, Aspektwechsel oder Störung vor. Sinn der begrifflichen Differenzierung ist zu skizzieren, wo eine Bildreflexion Kants und Hegels ihren Ort haben könnte, und wie sie sich zur gegenwärtigen Debatte verhält: Kant vollzieht einen iconic turn in Bezug auf eine visuelle Subjekt-Objekt-Beziehung und entwirft mit seiner Theorie der Geometrie eine operative Bildepisteme. Damit ist er – so die These – Vorläufer gleich zweier Strömungen der Bildreflexion: der diagrammatischen Bildtheorien wie bei Peirce ebenso wie der formal-ästhetischen Bildtheorien etwa Fiedlers und Wölfflins. Hegel vollzieht einen iconic turn in Bezug auf eine visuelle Subjekt-Subjekt-Beziehung und entwirft in seiner Theorie der Malerei eine performative Bildepisteme. Hegel soll so als Vorläufer von Theorien gelesen werden, die eine Sozialität der Blickbeziehung und eine Performativität des Bildes denken. Dabei aber nicht im pathischen Sinne eines Angeblicktwerdens, wie bei Sartre, sondern im Sinne eines Einfühlens als Basis sozialen Sinns. Die dritte Alternative einer energetischen Bildepisteme wird im Folgenden nur am Rande vorkommen. Sie fällt nicht in den Fokus der Studie und hat, wie schon oben angedeutet, bereits in der Bildwende der 1990er Jahre eine herausragende Stellung eingenommen.

187

Ebd. 99.

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4. Bildtheorien bei Kant und Hegel

Die Unterscheidung der drei genannten Dimensionen eines iconic turn diente dazu, Kants und Hegels Stellung zur gegenwärtigen Bildforschung zu klären. Die Frage soll aber noch einmal umgekehrt gestellt werden: An welchem systematischen Ort kann eine bildphilosophische Rekonstruktion bei diesen Denkern ansetzen ? Vor der Darstellung des hier vertretenen Ansatzes sollen drei Alternativen diskutiert werden. Dabei geht es zunächst um Ansätze, die beide Denker zugleich betreffen – die Auseinandersetzung mit dem spezifischen Forschungsstand zu Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie folgt später in den entsprechenden Kapiteln.

4.1 Drei Forschungsansätze

Ein erster Ansatz begreift Kant und Hegel als Bilddenker im Sinne einer Theorie der Repräsentation. Paradigmatisch hierfür steht Reisingers Studie Idealismus als Bildtheorie (1979). Reisinger sieht das zentrale Problem einer kantischen Bildtheorie in der Frage »wie im Bewußtsein Bewußtseinsunabhängiges bewußt sein kann«.188 Hierbei interpretiert er den idealistischen Erscheinungsbegriff als »Bild oder Zeichen des Objektes als des verstandenen Referenten«189. Reisinger geht es also um das Bild im Kontext einer allgemeinen Theorie der Repräsentation. Das Problem dieser Perspektive ist, dass sich dieser repräsentational gedachte Bildbegriff gegenüber der vom iconic turn geforderten medienphilosophischen Perspektive als unterkomplex erweist. Seine Weite führt zu der undifferenzierten Charakteristik, Kant sei generell als Bilddenker zu verstehen, wobei verloren geht, dass für Kant nicht jedes Denken bildlich verfasst ist. Mit seiner Unterscheidung von intuitivem und diskursivem Vernunftgebrauch geht es Kant gerade darum, den epistemischen Diagrammgebrauch in der Mathematik von einem begrifflich-sprachlichen Denken der Philosophie zu unterscheiden. Analoges gilt für Hegels Ästhetik, die Formen des spezifisch anschaulichen Wissens betrachtet, die sich von dem philosophischen Denken in arbiträren Sprachzeichen unterscheiden. 188 Reisinger, Peter (1979): Idealismus als Bildtheorie. Untersuchungen zur Grundlegung einer Zeichenphilosophie, Stuttgart: Klett-Cotta, 86. 189 Ebd. 57.



Bildtheorien bei Kant und Hegel

Ein zweiter Ansatz begreift Kant und Hegel als Denker der Einbildungs­ kraft. Der Begriffskomplex Einbildungskraft – Phantasie – Imagination mag zunächst als vielversprechendster Ausgangspunkt für die Aufklärung des Verhältnisses von Bild und Denken innerhalb der abendländischen Tradition erscheinen.190 Zu Kants und Hegels Theorien der Einbildungskraft existiert auch eine umfangreiche Debatte.191 Zur Rekonstruktion von Kant und Hegel als Bildtheoretikern scheint die Einbildungskraft als systematischer Ausgangspunkt allerdings aus zwei Gründen ungeeignet: Zum einen fehlt hier erneut die Medienspezifik. So erscheint die Einbildungskraft bei Kant und Hegel etwa im Kontext von Wahrnehmungs- und Erinnerungstheorien, als ontologisches Prinzip oder im Kontext einer Theorie der Begriffsbildung.192 Über den – ebenfalls nicht unproblematischen – etymologischen Zusammenhang hinaus bleibt dabei oft wenig Bezug zu konkreten Bildartefakten oder Praktiken.193 Zum anderen verbindet sich mit dem Konzept ein systemati190 Konzeptionen der Einbildungskraft erscheinen aus mehreren Gründen prädestinierte Kandidaten für die Frage nach einem bildlichen Denken: (i) Ein Bezug zum Bild ergibt sich schon etymologisch: phantasma – phantasia, imago – imaginatio, Bild – Einbildungskraft. (ii) Es gibt in der logozentrisch-rationalistischen Philosophietradition eine lange Geschichte von Abwertung und Ausschluss der Einbildungskraft. Vgl. hierzu: Castoriadis, Cornelius (1984): Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/M.: Suhrkamp; Costa Lima, Luiz (1990): Die Kontrolle des Imaginären. Vernunft und Imagination in der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp; Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imagi­ näre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp. (iii) Umgekehrt ist immer wieder auf eine essentielle Funktion der Einbildungskraft und ihrer Produkte für die Versinnlichung des Denkens hingewiesen worden: So etwa in Aristoteles’ Aussage »Die Seele denkt niemals ohne Phantasma« oder im Schematismus bei Kant oder Hegels zeichenmachender Phantasie. 191 Im 20. Jahrhundert vgl. Heidegger 1951; Kritisch dazu: Henrich, Dieter (1955): »Über die Einheit der Subjektivität«, Philosophische Rundschau 3, 28–69. Zum Spektrum der jüngeren Debatte vgl. etwa exemplarisch Loock, Reinhard (2007): Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings, Würzburg: Königshausen & Neumann; Sallis, John (2012): Logic of Imagination. The Expanse of the Elemental, Bloomington: Indiana University Press; Wunsch, Matthias (2012): Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant, Berlin: de Gruyter. 192 Mit Blick auf Wahrnehmungs- und Erinnerungstheorien im Schematismus und verwandten Passagen von Hegels Psychologie, als ontologisches Prinzip beim frühen Hegel, der sich im Sinne der sogenannten Wurzelthese auf Kant bezieht, im Rahmen der Begriffsbildung etwa in der Enzyklopädie. 193 So sind viele Theorien der Einbildungskraft nicht Bild-Theorien, sondern Wahrnehmungstheorien, die erklären, wie wir Wahrnehmungen kognitiv verarbeiten. Für die Inhalte der Einbildungskraft wie Schemata oder Modelle gilt zwar vermutlich, dass sie Ikone im Sinne Peirce’ sind, sie haben aber zunächst mit Sichtbarkeit nichts zu tun. Zu Theorien des Bewusstseins auf derart schematisch-ikonischer Basis vgl. etwa JohnsonLaird, Philip (1983): Mental Models. Towards a Cognitive Science of Language, Inference, and

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sches Problem, das Iser in seiner historisch-systematischen Studie Das Fik­ tive und das Imaginäre herausgearbeitet hat: Die Frage ›Was ist Einbildungskraft als solche ?‹ ist notorisch schwer zu beantworten. Wird sie bei Platon als anti-rationale Kraft ausgeschlossen, von Aristoteles als Seelenvermögen funktionalisiert194, macht sie besonders in der Neuzeit Karriere: Spätestens seit den empiristischen Theorien des inneren Sinns wird die Imagination in das Zentrum von Theorien des Geistes gerückt, wo sie dann – vermittelt über Kants Schematismuskonzeption und seine sogenannte ›Wurzelthese‹195 – bei Fichte und dem frühen Hegel zum universalen Grund aller Seelenaktivität wird. Mit Blick auf diese Geschichte gelangt Iser zu dem Fazit, dass die Einbildungskraft je fundamentaler desto unverständlicher werde.196 Symptomatisch zeigt sich diese Schwierigkeit auch an Kants Rede von einer »verborgene[n] Kunst in den Tiefen unserer Seele, deren wahre [/] Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden.« (KrV B180 f.) Eine systematische Theorie des Imaginären kann dieses, wie Iser nahelegt, allein als ein unbestimmtes Potential der Bilderzeugung fassen, dass sich in konstitutiver Weise der Frage ›Was ist ?‹ entzieht.197 Eine nähere Bestimmung erhält es erst durch kontextspezifische Funktionalisierung, die über Halluzination und Traum bis hin zum mathematischen Denken reichen kann.198 Hinter diesen verschiedenen Funktionen verbirgt sich dann aber nichts, was sich als Essenz von Einbildungskraft als solcher ansprechen ließe: »als sie selbst ist sie nichts Bestimmtes«.199 An diese These von der streng kontextbezogenen Bedeutung von Einbildungskraft hält sich auch die vorliegende Studie, etwa indem sie diese weder in den Mittelpunkt stellt, noch Kapitel zur Einbildungskraft als solcher enthält. Ein dritter Ansatz begreift Kant und Hegel als paradigmatische Bilderfeinde. Diese Position nimmt Stephan Otto in seiner wegweisenden Monographie Die Consciousness, Cambridge, Mass.: Harvard University Press; Lenk, Hans; Skarica, Mirko (2009): Wittgenstein und die schema-pragmatische Wende, Berlin, Münster: LIT. 194 Vgl. hierzu auch Castoriadis 1984; für die Poetik der frühen Neuzeit: Costa-Lima 1990. 195 Diese sogenannte Wurzelthese bezieht sich auf die Stelle am Ende der Einleitung der KrV, wo Kant kryptisch anmerkt, dass die zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis, Sinnlichkeit und Verstand, »vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen« (KrV B 29). Vgl. Heidegger 1951, § 31 ff., sowie Henrich 1955. 196 Iser 1991, 351. 197 Es entstehe »der Eindruck, daß der Vermögenscharatker der Einbildungskraft eine unbesetzbare Leerstelle sei.« Ebd. 307. 198 Es geschehe »ein wechselseitiges Verändern, das es bedingt, daß Imaginäres immer nur in Produkten – wie in Wahrnehmung, Vorstellung, Traum etc. – faßbar wird, die ihrerseits nicht ausschließlich Erzeugnisse des Imaginären sind.« Ebd. 315. 199 Ebd. 310.



Bildtheorien bei Kant und Hegel

Wiederholung und die Bilder ein. Während die Idee einer Bilderfeindlichkeit des deutschen Idealismus häufiger geäußert wird, ist Ottos Studie die einzige dem Verfasser bekannte, die sich im engeren Kontext des iconic turn systematisch mit beiden Denkern befasst. Ihre Grundthese ist der vorliegenden Studie konträr entgegengesetzt: Die Philosophien Kants und Hegels erscheinen in Ottos Argumentation gerade als katastrophisches Ereignis der philosophischen Verkennung von Bildlichkeit gegenüber einer seit der Antike bestehenden Tradition ihrer philosophischen Anerkennung. Ausgangspunkt für diese Feststellung bildet die »Philosophie des Erinnerungsbewusstseins«200, die seit Aristoteles eine Theorie des »Bildbewußtsein[s]« gewesen sei.201 Zum Untergang dieser Tradition führten Kants und Hegels Philosophien des »transzendentalen und spekulativen Idealismus«, die »das Thema ›Subjektivität‹ maßlos übersteigert« hätten.202 Kant und Hegel wären demnach die eigentlichen Hauptgegner eines iconic turn, der diese Tradition wiederzugewinnen hat.203 Das Ergebnis seiner Lektüre fasst Otto so zusammen: »Kants transzendental-logische Korrespondenz von Anschauung und Begriff ebenso wie Hegels dialektisch geführter Brückenschlag vom Anschauen zum Erkennen in Zeichen: beide sparen die Frage nach jener erkenntnisrelevanten Anschaulichkeit aus, welche den Bildern der Erinnerung zukommt und die – um noch einmal mit Rudolf Arnheim zu sprechen – nicht ›Übersetzung von Denkergebnissen‹ ist, sondern ›Fleisch und Blut des Denkens selbst‹.«204 200

Otto 2007, 17. Ebd. 23. Das »Bilderproblem« ist »seit Aristoteles mit der Reflexion über Erinnerung verknüpft«. Ebd. 195. 202 Ebd. 20. 203 Von Aristoteles’ Konzeptionen von phantasma und theoria (ebd. 153) reiche diese Tradition über die Scholastik bis hin zum Renaissancephilosophen Vico und seiner Kritik an der »Barbarei ›der abstrakten Wörter‹«. Vico zitiert aus ebd. 27. vgl. generell ebd. 20 f. Zum Untergang dieser Tradition führten Kants und Hegels Philosophien des »transzendentalen und spekulativen Idealismus«, die »das Thema ›Subjektivität‹ maßlos übersteigert« hätten. Ebd. 20. Orientiert an einem Begriff ›reinen Denkens‹ und einer Vernunft, die sich in Anschauungen höchstens selbst darstelle, hätten sie »die memoria und die remi­ niscentia als der theoretischen Aufklärung bedürftige Tatsachen des Bewußtseins in die Verbannung geschickt.« Ebd. 41. Die Wiedergewinnung einer solchen Dimension beginne nach diesem »Verlust« (ebd. 23) erst wieder »mit einem in der Kunstbetrachtung des ausgehenden 19. Jahrhunderts sich anbahnenden neuen Bildbewußtseins«, etwa bei Cezanne, sowie »im Zuge der ikonischen Wende des 20. Jahrhunderts«. Diese Bewegung sei korreliert mit dem Niedergang idealistischer Philosophie, d. h. »dem Brüchigwerden« ihres »emphatischen Erkenntnisanspruchs«. Ebd. 211. Zu Aristoteles’ Theoria: »The theoria, von der Aristoteles spricht, ist deshalb nicht einfach deckungsgleich mit unserem neuzeitlichen Begriff von Theorie, weil sie auf ein ›anschauliches Denken‹ abhebt, nicht auf eine ›reine‹, der zusätzlichen Ergänzung durch ›Anschauung‹ bedürftige Vernunft.« Ebd. 153. 204 Ebd. 209. 201

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Im Verlauf dieser Studie soll gezeigt werden, dass diese Diagnose aus zwei Gründen nur eingeschränkt stichhaltig ist. Der erste Grund besteht darin, dass Otto einer Lesart des iconic turn folgt, die bereits oben bei Mitchell, Boehm und Bredekamp rekonstruiert wurde. Das heideggersche Motiv des Zurückweichens aufnehmend, spricht Otto von einer »Flucht vor der ›nichtigen‹ Zeitlichkeit der Erinnerungsbilder.«205 Deutlich wird dies auch an seiner Charakteristik des »immanenten Sinn[s]« der Bilder: »gerade unsere Unfreiheit ist [den Bildern, M.B.] abzulesen, unsere Verstrickung in Schicksal und Geschichte – unser Einbehaltensein in Kontingenz, in jene ›Nichtigkeit‹, der Hegel stets aus dem Wege ging.«206 Der Eigensinn der Bilder, hier der Erinnerungsbilder, besteht also präzise in jener Beschränkung menschlicher Spontaneität, der Erzeugung von Unfreiheit, die auch Bredekamp als Gefangennahme oder Mitchell als Medusa-Effekt in das Zentrum ihrer Theorien stellen. Otto ist zuzustimmen, dass diese Phänomene nicht adäquat von Kant und Hegel reflektiert werden.207 Auch ist der Diagnose zuzustimmen, dass dies mit der nachdrücklichen Orientierung dieser Autoren an der Spontaneität und Freiheit des Subjekts zu tun hat. Otto verengt den iconic turn aber erneut auf eine Theorie, die allein von den Grenzen der Vernunft und menschlicher Freiheit handelt. Wie das obige Zitat deutlich macht, sucht Otto hierbei – und hierin besteht das zweite Problem – die »erkenntnisrelevante[] Anschaulichkeit«208 zugleich an Stellen, wo sie aus Sicht dieser Studie gerade nicht im Mittelpunkt steht: Einerseits in Kants transzendentaler Logik und andererseits in Hegels Theorie des theoretischen Geistes in der Psychologie, die ihrerseits mit ihrer Sprachkonzeption die Wissenschaft der Logik vorbereitet. Während die Bedeutung von Logik und Sprache bei beiden Autoren nicht zu leugnen ist, soll die Reflexion von Bildlichkeit und anschaulichem Denken in der vorliegenden Studie gerade an einem anderen Ort gesucht werden, nämlich im Bereich der Ästhetik. Ottos These von Kant und Hegel als Erbfeinden der Bildlichkeit beruht also im Wesentlichen auf diesen zwei Prämissen, wie im Verlauf der Studie noch eingehender betrachtet werden soll.209

205

Ebd. 48. Ebd. 44. 207 Otto verweist plausibel darauf, wie es die »plötzlich auftauchenden und versinkenden Bilder im Erinnerungsbewußtsein« (ebd. 44) sind, die »oft genug, jeden Widerstand unseres Denkens verhöhnend, das Bewußtsein beherrschen« (ebd. 47). Sie seien »es zumal, die jene ›Signatur‹ der Subjektivität zu verwischen scheinen, die den Titel ›Selbstbewußtsein‹ trägt.« Ebd. 44. 208 Ebd. 209. 209 Vgl. dazu eingehend Kapitel II.2, III.2. 206



Bildtheorien bei Kant und Hegel

4.2 Ein alternativer Ansatz: Anschauung und anschauliches Denken

Der Ansatz, den diese Studie bei ihrer bildphilosophischen Rekonstruktion von Kant und Hegel verfolgt, unterscheidet sich von den genannten in zwei Hinsichten. Zum einen orientiert sich der Bildbegriff hier nicht am Bild als Repräsentation oder singuläre Vorstellung, sondern an konkreten Bildpraktiken: der euklidischen Beweispraxis und der mittelalterlichen und neuzeitlichen Tafelmalerei. Der Grundgedanke lautet: Erst in ihren Theorien konkreter Bildpraktiken und Bildmedien erweisen sich Kant und Hegel als Philosophen des Bildes in einem gehaltvollen Sinne. Zum anderen erfolgt der systematische Zugriff darauf nicht über Vermögen der Einbildungskraft oder Erinnerung, sondern über den Begriffskomplex Ästhetik – Anschauung – anschauliches Denken. Bei Kant betrifft dies den Zusammenhang von transzendentaler Ästhetik, der Theorie des Raums als Anschauungsform und der Geometrie als intuitivem Vernunftgebrauch. Bei Hegel betrifft dies die Ästhetik-Vorlesungen, die von einem Wissen des Menschen in Gestalt der Anschauung und Empfindung handeln. Diese wird in der vorliegenden Studie mit Hegels Anthropologie zusammengelesen, die – so die These – in Hegels Geistphilosophie eine ähnliche Stellung einnimmt, wie die transzendentale Ästhetik am Beginn der KrV, nämlich die Klärung von leiblich-anschaulichen Voraussetzungen des Geistes. Anschauung ist hierbei einerseits nicht als bloßes Sehen zu verstehen, sondern als etwas, das andere leibliche Dimensionen der Motorik, Haptik, des Körpergefühls etc. involviert. Andererseits liegt die Spezifik des Anschauungsbegriffs in seiner Differenz zu einem bloß rezeptiven Fühlen, Wahrnehmen oder Beobachten. In der Konzeption der Anschauung steckt, wie gezeigt werden soll, der Gedanke einer spontanen Sinnlichkeit oder sinnlichen Spontaneität, die – operativ oder performativ – als ein Drittes, Mediales fungiert, das nicht in der Hierarchie von spontanem Intellekt und rezeptiver Sinnlichkeit aufgeht. Der Begriff der Ästhetik wird hierbei in einem bestimmten Sinn relevant, der von einem gegenwärtigen Standard-Begriff des Ästhetischen abweicht. Im Zentrum dieser Studie stehen nämlich zwei Ästhetiken, denen immer wieder vorgeworfen wurde, im Grunde genommen das eigentlich Ästhetische zu verfehlen. Die transzendentale Ästhetik gilt typischerweise als Ausreißer in der Geschichte philosophischer Ästhetik, weil sie die Frage der Sinnlichkeit mit einer Mathematik- und Verstandestheorie verknüpft.210 Das eigentlich 210 »Indem Kant von Baumgarten den Namen Ästhetik übernimmt, um die Theorie von den Formen der Sinnlichkeit zu bezeichnen, verwirft er im Grund das, was ihm seinen Sinn gab, sprich die Idee des Sinnlichen als verworrenes Intelligibles. Ästhetik ist für ihn nur denkbar als Theorie der verworrenen Erkenntnis. Und die Kritik der Urteils­

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Ästhetische bei Kant wird dann erst in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft lokalisiert. Auch Hegels Ästhetik wird, trotz ihrer unbestreitbaren Bedeutung für nachfolgende Kunstphilosophien, immer wieder vorgeworfen, das Ästhetische – durch die Einordnung in ein geistphilosophisches System und die Bindung an die praktische Vernunft – rational und inhaltlich zu überformen.211 Hier findet sich also eine Gemengelage, die zu derjenigen analog ist, die zuvor mit Blick auf die These des iconic turn von der Bilderfeindlichkeit Kants und Hegels diskutiert wurde. Ursache hierfür ist ein Begriff des Ästhetischen, der erneut in der Rationalitätskritik fundiert ist. Diese Auffassung formuliert exemplarisch Menke, dessen ästhetische Anthropologie auf der »Grundthese« beruht, »daß der menschliche Geist im Widerstreit von ästhetischer Kraft und vernünftigem Vermögen besteht.« Darin, dies zu zeigen, bestehe »die Wahrheit der Kunst«.212 In diesem Modell werden allerdings das kraft kenn die ›Ästhetik‹ als Theorie nicht. Sie kennt nur das Adjektiv ›ästhetisch‹, das einen Typ des Urteils bezeichnet und nicht einen Bereich von Objekten. Erst im Kontext der Romantik und des Idealismus nach Kant, in den Schriften von Schelling, der Gebrüder Schlegel oder denen Hegels wurde mit Ästhetik das Denken der Kunst bezeichnet.« Rancière, Jacques (2006): Das ästhetische Unbewußte, Zürich, Berlin: Diaphanes, 9 f. Vgl. auch Wiesing: Kants Ziel sei es »die Berechenbarkeit der natürlichen Welt [zu] erklären und nicht eine emanzipierte Anschauung phänomenologisch [zu] beschreiben«. Wiesing 2008, 139. 211 In Bezug auf Hegels Betrachtung des Kunstwerks aus seinem Werkcharakter heraus: »Diese erste Antwort auf die Frage nach dem Werkcharakter der Kunst ist ebenso zutreffend wie unzureichend. Wenn sie als die ganze Antwort genommen wird, verstellt sie den spezifisch ästhetischen Werkcharakter der Kunst. Wer das Kunstwerk als normatives, geistiges Werk definiert, verfehlt es in seinem Wesen.« Menke, Christoph (2013): Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp, 18; sowie insbesondere zur Kritik an Hegel auch 39 f. Zur Kritik von Adorno und Derrida vgl. Kapitel IIl.1. Zur Abwesenheit einer Theorie ästhetischer Erfahrung bei Hegel vgl. Pippin, Robert B. (2008): »The Absence of Aesthetics in Hegel’s Aesthetics«, in: Frederick C. Beiser (Hg.): The Cambridge Companion to Hegel and Nineteenth-Century Philosophy, Cambridge, Eng.: Cambridge University Press, 394–418. 212 Menke 2013, 9. Vgl. dazu auch Menke, Christoph (2002): »Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion. Zu Genese und Dialektik der Ästhetik«, in: Andrea Kern; Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 19–48. Historisch beginne Ästhetik mit dem »Einspruch« gegen »die rationalistische[] Skepsis gegenüber dem Sinnlichen und Schönen«. Paradigmatisch: Descartes disqualifiziere die sinnliche Wahrnehmung als »dunkel und verworren«, insofern sie keine »methodisch verfahrende und kontrollierbare Tätigkeit der Seele« (ebd. 21) ist. Während die »rationalistische Philosophie« die sinnlichen Vollzüge des Menschen »als passiv verstanden und abgewertet hatte« (ebd. 28) ist das Entscheidende der Ästhetik eine »neue Auffassung des Sinnlichen als Tätigkeit« (ebd. 31). Dies erfordert zugleich »eine Neubestimmung von Tätigkeit …, die sie auf gründende Subjektivität irreduzibel macht« (ebd. 33). Kern von Ästhetik soll eine Spontaneität sein, die nicht den Strukturen methodischen Erkennens und praktischen Handelns folgt, sondern diese gerade in Frage



Bildtheorien bei Kant und Hegel

Ästhetische und die Kunst beide auf eine bestimmte, nämlich die oben als energetisch bezeichnete Option festgelegt. In Anknüpfung an die Unterscheidung von Ästhetik und Aisthetik, kann dem ein anderer Begriff von Ästhetik entgegengestellt werden, der nicht in der Kritik an der menschlichen Ratio überhaupt, sondern zunächst in der Metaphysik- und Intellektualismuskritik fundiert ist.213 Die Grundbestimmung Ritters von der »Gegnerschaft der Ästhetik gegenüber der rationalistischen Philosophie«, auf die sich Menke bezieht, kann entsprechend auch anders gedeutet werden: Die Stoßrichtung philosophischer Ästhetik besteht nicht allein in der Kritik spontanen Handelns, Wissens und Könnens und der Verfügungsmacht rationaler Vermögen, sondern ebenso in der Kritik am Intellektualismus und seiner Beschränkung des Epistemischen auf die Sphäre des Diskursiven. Während Menkes ästhetische Anthropologie den Begriff der Kraft in den Mittelpunkt stellt, nimmt die in dieser Studie an Kant und Hegel rekon­ stru­ierte ästhetische Anthropologie ihren Ausgangspunkt von den Begriffen ›Anschauung‹ und ›anschauliches Denken‹. Durch den Fokus auf die Frage eines ästhetischen Denkens und Wissens können die betrachteten Theorien in Abgrenzung zu einer Ästhetik von Kraft, Negativität und Alterität als ästhetische Epistemologien oder Epistemologien des Ästhetischen bezeichnet werden. Im Zentrum steht dabei die Reflexion von Eigenlogiken der Anschauung, von phänomenalen und leiblichen Dimensionen menschlicher Existenz und die Weise, wie diese die Grundlage eines anschaulichen stellt. Wie sind aber nun jene Ästhetiken zu verstehen, die nicht diesem Modell folgen ? Die schon bei Ritter zu findende These von der »Gegnerschaft der Ästhetik gegenüber der rationalistischen Philosophie« (ebd. 31) muss für Menke noch einmal modifiziert werden: Während etwa Pascal die besondere Alterität und Macht des Ästhetischen anerkenne, versuche Baumgarten, das Ästhetische in den Bereich des Rationalen zu reintegrieren und diesem kognitive Funktionen zuzuweisen. Der »Grundzug in Baumgartens Systematisierung« bestehe »in dem Versuch, das spannungsvolle Verhältnis von ästhetisch reformulierter Sinnlichkeit und rationalistischer ›Logik‹ des Verstandes im Begriff der ›Analogie‹ zu entschärfen: das sinnliche ›Denken‹, um das es der Ästhetik geht, ist ›der Vernunft analog‹ (Ästhetik, § 1).« Ebd. 29. An die Stelle der Alterität des Ästhetischen trete hier also die Analogie, die Eingemeindung und Beschreibung des Ästhetischen nach dem Vorbild des Logischen. Insofern gelte spezifisch für Baumgarten, dass seine »Systematisierung des Ästhetischen ebensosehr eine anti-rationalistische Aufwertung wie eine para-rationalistische Stillstellung des Sinnlichen« (ebd. 31) bedeute. Wie schon mit Blick auf den iconic turn ergibt sich hier das Bild, dass aus einer rationalitätskritischen Sicht die Integration des Ästhetischen in den Bereich des Denkens allein als falsche Rationalisierung und als Stillstellung seiner eigentümlichen Kraft erscheint. Dagegen wird in dieser Studie dafür argumentiert, dass solche Konzeptionen das hiervon abweichende Ziel verfolgen, Formen eines sinnlichen Denkens, im Sinne eines Denkens im Medium der Aisthesis zu beschreiben. 213 Zum Begriff der Aisthetik vgl. paradigmatisch Welsch 1990, 9 f.

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Denkens bilden. Kants transzendentale Ästhetik richtet sich hierbei gegen das vom Rationalismus entworfene intellektuelle System der Welt, die Idee eines prädikatenlogisch strukturierten mundus intelligibilis. Dem stellt Kant die körperliche Orientierung in einer relationalen und perspektivischen Welt gegenüber. In der geometrischen Konstruktionspraxis werden diese Relationen wiederum zum Medium einer anschaulichen, diagrammatische Denkform. Hegels Ästhetik wiederum richtet sich gegen eine Metaphysik der Subjektivität. Gegen die Idee einer absoluten Innerlichkeit eines Subjekts, das sich allein im denkenden Selbstbezug gegenwärtig ist, betont er dessen körperliche, soziale und historischen Dimensionen. Seine Theorie der Malerei als anschauliche Denkform entfaltet eine Sichtweise von Subjektivität, die sich erst in solchen Relationen und Abhängigkeiten konstituiert. Auf diese Weise knüpft die Rekonstruktion von Kant und Hegel als Bildtheoretikern und die Idee eines iconic turn avant la lettre an die Begriffe des Ästhetischen, der Anschauung und des anschaulichen Denkens an: Gegen eine Philosophie, die ihre Denkgegenstände in einer Sphäre rein logisch und diskursiv adressierbaren Seins verortet, zeigen Kant und Hegel, dass der Mensch in seinem Welt- und Sozialverhältnis irreduzibel auf Anschauung bezogen ist. Erst wenn die Denkgegenstände selbst nicht mehr unsichtbar, sondern sichtbar verfasst sind, steht der Weg von einem intellektualistischen Konzept des Denkens hin zu einem Konzept ästhetischen oder anschaulichen Denkens offen. Die Ästhetik ist hierbei gleichermaßen Ort der Metaphysikkritik sowie der Entwicklung von Alternativkonzeptionen zu jenen Theorien eines diskursiven Denkens, die Kant und Hegel im Horizont einer transzendentalen oder spekulativen Logik entwickeln.

4.3 Kants Disegno und Hegels Colore

Abschließend soll hier auf eine weitere bildtheoretische Dimension des Vergleichs von Kant und Hegel hingewiesen werden, die insbesondere im HegelTeil explizit von Bedeutung werden wird. Diese betrifft nun aber zunächst nicht den Unterschied zwischen operativer und performativer Bildepisteme, sondern im engeren Sinne die Frage danach, was das Spezifische der Malerei als einer Kunstform ist, und hier den Gegensatz zwischen disegno und colore bzw. klassischen und nichtklassischen Auffassungen der Malerei. Hier befinden sich Kant und Hegel auf zwei Seiten eines Spektrums, wie diese kurze Passage aus Kants Kritik der Urteilskraft zeigt:



Bildtheorien bei Kant und Hegel

»In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön machen: vielmehr werden sie durch das, was die schöne Form erfordert, mehrenteils gar sehr eingeschränkt, und selbst da, wo der Reiz zugelassen wird, durch die erstere allein veredelt.« (KU B 42)

Kants Urteil zur Malerei ist hier deutlich bestimmt vom klassizistischen Diskurs des disegno. Er identifiziert die Zeichnung mit dem Aspekt der Form und weist ihr die primäre Rolle in der Kunstwirkung der Malerei zu. Die Farbe erscheint als bloß sekundäres Element, das im Sinne materieller Reize sogar vom Eigentlichen ablenken kann. Zeichnung und Farbe werden so dem hierarchischen Unterschied zwischen dem formalen interesselosen Wohlgefallen des Reflexionsgeschmacks und dem bloß materiellen Interesse an angenehmen Reizen zugeordnet. Hegel wertet dagegen die Farbe auf. Erst die Farbe, so Hegel, »macht die Malerei zur Malerei. Zeichnung, Erfindung ist wesentlich [/], notwendig, doch die Farbe ist erst die Lebendigkeit, kein bloßes Kolorieren, sondern zugleich bezeichnender Ausdruck.«214 Was bei Kant noch als bloß zusätzliche Belebung einer Zeichnung verstanden wurde, wird hier also zum entscheidenden Kunstmittel. Farbe ist für Hegel Ursache der Lebendig­ keit und somit der zentralen ästhetischen Wirkung der Malerei. Exemplarisch zeigt dies Hegels Interesse am Inkarnat und der Fähigkeit der Malerei hier auf der Basis von Farbmischungen und Lasierungen den Eindruck lebendiger und empfindungsfähiger Haut zu evozieren. Wie bereits mehrfach betont wurde, ist es gerade nicht die Intention dieser Studie, Kants KU und Hegels Ästhetik zu vergleichen. Die Gegenüberstellung von Kants disegno und Hegels colore ist aber auch im Kontext dieser Studie sinnvoll, und zwar gerade, weil es ein gemeinsames Element beider Ästheti­ ken Kants (der transzendentalen Ästhetik und der Kritik der Urteilskraft) gibt. Dies ist die Form-Materie-Unterscheidung, die Kants Theorie der Sinnlichkeit insgesamt durchzieht. In beiden Kontexten wird damit ein epistemisch relevanter Formaspekt der Sinnlichkeit von einer mit der Materie assoziierten Empfindung abgehoben. Dieser Formaspekt wird in beiden Fällen mit einer Theorie der Zeichnung assoziiert: mit der geometrischen Zeichnung ebenso wie mit der der Malerei zu Grunde liegenden Entwurfszeichnung. Insofern gibt es bei Kant also zwei verwandte Bildauffassungen des disegno bzw. zwei 214

VÄ Hotho 1823, 258, MS 241 f.

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Teil I · Vom iconic turn zu Kant und Hegel

Theorien der Zeichnung: (i) die Zeichnung im diagrammatischen Kalkül, die jederzeit eine schematisierte Darstellung mathematischer Begriffe ist und in der sich der mathematische oder mathematisierbare Aspekt des disegno niederschlägt; (ii) die Zeichnung als individueller künstlerischer Entwurf, der den Gegenstand des ästhetischen Reflexionsgeschmacks bildet. Auch im zweiten Fall liegt das herausgehobene Moment der Zeichnung in ihrer Affinität zum Begriff, die allerdings im Modus unbestimmter Potenzialität verbleibt: Im Kontext der reflektierenden Urteilskraft wird dieser Formaspekt »doch auf Begriffe, obzwar unbestimmt welche«215 bezogen bzw. führt zwar zu keiner bestimmten Erkenntnis, hat aber doch Bezug zu einem »Erkenntnisse überhaupt«.216 In diesem Sinne ist also auch Kants Geometrietheorie, die hier als Theorie einer operativen Bildepisteme rekonstruiert wird, eine Theorie des disegno. Wie betont werden muss, dominiert hier allerdings der Aspekt der Mathematisierbarkeit von Zeichnung gegenüber dem Aspekt freier ästhetischer Wirkung, wie ihn die KU entfaltet. Es ist aber anzunehmen, dass zumindest einige der hier rekonstruierten Prämissen der Geometrietheorie auch für die Zeichnung als exemplarischen Ort formaler Schönheit gelten. Exemplarisch zeigt dies etwa darin, dass Kants den Linienzug als grundlegendes Prinzip bildlicher Figuration identifiziert. Insofern ist dann auch Hegels Interesse am colore als Prinzip der Lebendigkeit der Malerei nicht nur als Gegenentwurf zu Kants Malerei- und Kunstkonzeption zu begreifen. Sondern – weiter verstanden – überhaupt als Gegenentwurf zu beiden Ästhetiken Kants und ihrer gemeinsamen Tendenz, einen mit der Zeichnung assoziierten Formaspekt zum einzigen epistemisch relevanten Anteil unserer Sinnlichkeit zu erklären.

215 216

KU B 74. KU B 28.

TEIL II Kant: Konstruktion

1. Kants Geometrietheorie: eine diagrammatische Lesart Dieser zweite Teil der Studie ist einer ausführlichen Lektüre der Position Kants gewidmet und zielt darauf, die zwei zentralen Forschungsfragen zu beantworten, die in der Einleitung skizziert wurden: Wie entwirft Kant in seiner Geometrietheorie eine Theorie des anschaulichen Denkens ? Wie lässt sie sich als Bildtheorie lesen und welchen Beitrag kann sie zu einer Bildlogik leisten ? Die Untersuchung dieser Fragen knüpft an drei zentrale Thesen des ersten Teils an. Mit Blick auf den Forschungsstand wurde dort vorgeschlagen, den Beitrag Kants zur Bildepistemologie nicht in der Theorie der Einbildungskraft, sondern in Theorien einer Eigenlogik der Anschauung und des anschaulichen Denkens zu suchen, die Kant im Kontext der Geometrietheorie formuliert. In Auseinandersetzung mit dem iconic turn wurde die These aufgestellt, dass Kants Theorie innerhalb einer plural zu verstehenden Bildepistemologie einen spezifischen Ort besetzt. Sein Beitrag zur Bildepistemologie besteht in der Reflexion der epistemischen Rolle der Bilder für das menschliche Weltverhältnis. In diesem Sinne soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Geometrietheorie nicht nur eine Theorie des Diagrammatischen ist, sondern zugleich zeigt, wie das epistemische Operieren mit Raumrelationen mit der verkörperten und relationalen Struktur des menschlichen Weltverhältnisses zusammenhängt. Und eine dritte These besagte, dass es eine spezifische Leistung Kants ist, die konzeptuellen Grundlagen für eine Epistemologie operativer Bilder aus der Kritik von Metaphysik und Sub­ stanzdenken zu entwickeln. Dies wurde dort als iconic turn avant la lettre bezeichnet. Zunächst ist allerdings noch eine weitere Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand nötig. Neben einem kurzen Überblick über die bildwissenschaftliche Kant-Rezeption muss insbesondere ein Blick auf die mathematikphilosophische und epistemologische Standardkritik geworfen werden. Diese hat Kants Idee vom Anschauungsbezug mathematischen Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts für falsch und obsolet erklärt und mit diesem Urteil die Debatte um Kant bis heute geprägt. Die folgende Betrachtung soll daher herausarbeiten, welche Verteidigungsstrategien existieren und wie die Studie daran anschließen kann. Im Zentrum stehen dabei jüngere diagrammatische und verkörperungstheoretische Lesarten Kants. An dieser Stelle folgt zunächst, wie auch bei allen weiteren Kapiteln, ein Überblick über den Argumentationsverlauf des Kapitels.



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Teil II · Kant: Konstruktion

Dieses Kapitel soll also einleitend klären, mit welcher Kritik sich eine bildepistemologische Rekonstruktion Kants auseinandersetzen muss und auf welche neueren Lesarten von Kants Philosophie sie sich stützen kann. Eine Betrachtung der bildwissenschaftlichen Rezeption führt zu dem Fazit, dass ein kantisches Konzept des Diagrammatischen reichhaltiger ist, als dies eine bestehende Rezeption Kants über Peirce vermuten lässt (II.1.1). Ein Überblick über die epistemologische und mathematikphilosophische Debatte um Kants These vom Anschauungsbezug der Geometrie zeigt die Hürden, die eine Aktualisierung Kants nehmen muss. Dies ist vor allem die vom logischen Empirismus formulierte Standardkritik an Kants Konzeption des synthetischen Apriori. Sie zielt darauf, die methodische und transzendentale Rolle des synthetischen Apriori der Mathematik in einen reinen, logischen sowie einen angewandten, empirischen Anteil aufzulösen (II.1.2). Es folgt ein Überblick über drei Weisen, wie moderne Interpreten Kant verteidigen wollen; logische Lesarten rekonstruieren den Anschauungsbegriff vor dem Hintergrund einer Theorie der Logik; phänomenologische vor dem Hintergrund einer Theorie der Wahrnehmung und des Wahrnehmungsraums. Eine jüngere, diagrammatische Lesart rekonstruiert Kants Anschauungstheorie als Theorie eines Operierens mit gezeichneten Diagrammen und hat dabei zunächst vor allem die Rolle des Schematismus beim Operieren mit Diagrammen betrachtet. Die Studie will diese Perspektive in mindestens drei Hinsichten erweitern: durch den Anschluss an erweiterte diagrammatische Lesarten, die die Verbindung des diagrammatischen Denkens zum Anschauungsraum in den Blick nehmen, durch die Verbindung mit verkörperungstheoretischen Lesarten von Kants transzendentaler Ästhetik und durch eine Deutung des Konzepts ›reiner Anschauung‹ als kantische Theorie des Bildmediums (II.1.3).

1.1  Die bildwissenschaftliche Rezeption

Innerhalb der bildtheoretischen Debatte ist das Verhältnis zu Kant meist kritisch oder ambivalent. Kant gilt – wie bereits zuvor gezeigt – einerseits als Bilderfeind: neben einem pauschalen Verdikt über die gesamte westliche Philosophietradition wie von Boehm1, zeigt dies die Kritik Ottos, der Kant eine idealistische Überformung des Bildlichen vorwirft. Otto misst Kant, wie argumentiert wurde, an einem energetischen Bildbegriff, den er nicht vertritt, ohne Kants operativen Bildbegriff zu würdigen.2 Bei Wiesing, dessen Bildkon1 2

Vgl. oben I.1.1.2 Vgl. oben I.4.1



Kants Geometrietheorie

zeption, wie oben behauptet wurde, durchaus in den Bahnen eines kantischen Paradigmas lokalisiert werden kann, überwiegt die kritische Abgrenzung. So wiederholt er etwa den Vorwurf, Kant vertrete einen deflationären Erscheinungsbegriff.3 Und er kritisiert den Apriorismus und die eingeschränkte ›techniktaugliche Sicht‹ der transzendentalen Ästhetik, gegen die er ein größeres Spektrum von Sichtbarkeitsdimensionen geltend machen will.4 Krois, dessen Idee vom Körperschema für die gesamte Studie wichtig ist, grenzt sich von Kant vor allem ab, etwa – und das durchaus mit Recht – vom Gedanken einer transzendentalen Apperzeption. Dabei bleiben verkörperungstheoretische Motive bei Kant – etwa mit Blick auf die inkongruenten Gegenstücke – von ihm unberücksichtigt.5 Schubbach kritisiert in seiner bildtheoretischen Auseinandersetzung mit dem kantischen Schemabegriff einen Internalismus und Mentalismus Kants, dem – so hier die These – ein externalistischer Sinn von Kants Anschauungsbegriff entgegengehalten werden kann.6 Positive Anknüpfungspunkte findet die Bilddebatte in den Begriffen Einbildungskraft und Schema, die allerdings oft isoliert herausgegriffen werden, unabhängig von den verschiedenen systematischen Funktionen, die sie bei Kant erfüllen.7 Den systematisch fokussiertesten Bezug gibt es innerhalb der Debatte um diagrammatic thinking. Gilt dort Peirce geradezu als Standardtheoretiker dia3 Erscheinung bedeute »bei Platon oder Kant etwas […], das dem Eigentlichen und Wesentlichen entgegensteht«. Wiesing 2013, 33. 4 Kants Ziel sei es dagegen – so Wiesing – »die Berechenbarkeit der natürlichen Welt [zu] erklären und nicht eine emanzipierte Anschauung phänomenologisch [zu] beschreiben«. Wiesing 2008, 139. 5 Vgl. zu dieser Frage spezifisch die mit abgedruckte Anschlussdiskussion zu Krois, John (2012): »Bildkörper und Körperschema«, in: André Blum; John Krois; Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Verkörperungen, Berlin: Akademie, 91–109. 6 »Unter den transzendentalen Vorzeichen von Kants Argumentation wird das Bild daher allein auf das Bewusstsein bezogen und auf dessen Vorstellung reduziert.« Schubbach, Arno (2010): »Zur Darstellung von Zeit und die Zeit der Darstellung«, Studia Philo­ sophica 69, 95–120, 103. Ein entscheidender Ausgangspunkt für eine dem entgegengesetzte externalistische Lesart Kants ist die Rolle des Körpers und deren Beziehung zum ersten Raumargument. Vgl. zur Kritik der Deutung der Anschauungsform als innermentaler Ordnungsstruktur und zum ersten Raumargument als Abkürzung des Arguments zu den – nur verkörpert zu erfahrenden – inkongruenten Gegenstücken: Ruckgaber, Matthew (2009): »›The Key to Transcendental Philosophy‹. Space, Time and the Body in Kant«, Kant-Studien 100, 166–186. Zu einer analogen Argumentation: Nuzzo, Angelica (2008): Ideal Embodiment. Kant’s Theory of Sensibility, Bloomington: Indiana University Press. 7 Der Bezug auf die transzendentale Einbildungskraft findet sich etwa bei Boehm. Zu genaueren Lektüren des Schemabegriffs vgl. Schubbach 2010, Khurana, Thomas (2013): »Schema und Bild – Kant, Heidegger und das Verhältnis von Repräsentation und Ab­strak­t ion«, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58, 203–224.

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grammatischer Ikonizität8, so wird häufig zugleich die Vorbildfunktion von Kants Überlegungen zu Schema und geometrischer Konstruktion für Peirce erwähnt.9 Dieser Richtung begegnet die Studie mit der These, dass eine alleinige Rezeption von Kant über Peirce – dessen Überlegungen zum diagrammatischen Denken im Übrigen wesentlich fragmentarischer sind, als die Kants – eine Reihe theoretischer Ressourcen übersieht, die sich bei Kant finden. Dies hat mit Peirce’ Fokussierung auf semiotische Aspekte zu tun, etwa in der Reformulierung der Schema-Bild-Unterscheidung als type-token-Unterscheidung. Gegen eine Verengung auf die semiotische Perspektive soll gezeigt werden, dass sich bei Kant auch theoretische Ressourcen finden, deren Erbe heute von phänomenologischen und formalästhetischen Bildtheorien vertreten wird. Dies ist zum einen das Theorem der reinen Anschauung, das – so hier die These – ein Vorläufer von bildtheoretischen Konzepten wie reine Sichtbarkeit, artifizielle Präsenz und Physiklosigkeit ist.10 Ein anderes, nicht bei Peirce zu findendes Motiv ist die Verknüpfung diagrammatischen Denkens mit einer Theorie des verkörperten In-der-Welt-Seins, wie sie die transzendentale Ästhetik entwirft. Indem sie solche Motive betrachtet, knüpft die Studie also an Krämers Projekt an, das Konzept eines diagrammatischen Denkens aus der Verengung auf Peirce zu befreien.11

1.2 Die epistemologische und mathematikphilosophische Standardkritik

Gegenüber der eher schmalen bildtheoretischen Rezeption hat sich um Kants These vom Anschauungsbezug der Mathematik in Mathematikphilosophie und Erkenntnistheorie eine kaum überblickbare Debatte entwickelt. Wie die Kapitelüberschriften der KrV zeigen, können hierbei an Kants These vom synthetischen Apriori der Anschauung zunächst zwei Dimensionen unter-

8 Vgl. etwa Bauer, Matthias; Ernst, Christoph (2010): Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld: Transcript; sowie Bogen 2005. 9 Vgl. hierzu etwa Shin, Sun-Joo (1997): »Kant’s Syntheticity Revisited by Peirce«, Syn­ these 113, 1–41. Stjernfelt, Frederik (2000): »Die Vermittlung von Anschauung und Denken: Semiotik bei Kant, Cassirer und Peirce«, Zeitschrift für Semiotik 22, 341–368. Sowie Stjernfelt 2007. 10 Die These, dass für Kant nur beide Konzepte (Schematismus und reine Anschauung) zusammen die Eigenschaften diagrammatischen Denkens erklären, spiegelt dabei Wiesings These vom historisch-systematischen Parallelismus von Relationenlogik und formaler Ästhetik. Vgl. dazu Wiesing 2008, 80 ff., sowie oben I.2.4. 11 Vgl. Krämer 2016.



Kants Geometrietheorie

schieden werden: In der Methodenlehre geht es um die methodische Frage nach der Rolle der Anschauung in der Gewinnung von neuen Erkenntnissen. Kants These ist hier bekanntlich, dass die elementare Mathematik auf einem intuitiven Vernunftgebrauch, d. h. einer Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung beruht. Mit der Idee eines Denkens in concreto (d. h. mittels anschaulicher Figuren) verbindet sich jene These, dass die geometrische (wie auch arithmetische) Erkenntnis nicht analytische, sondern synthetische Erkenntnis a priori ist. In der transzendentalen Ästhetik geht es um die transzendentale Rolle geometrischen Wissens in der Konstitution der menschlichen Erfahrungswelt. Hier vertritt Kant bekanntermaßen die These von einer ausgezeichneten transzendentalen Bedeutung der euklidischen Geometrie. Beide Dimensionen sind für Kant im Begriff des synthetischen Apriori bzw. der apriorischen, reinen Anschauung verschränkt. War diese gegen die Schulphilosophie gerichtete Position Kants – wie etwa die Debatte mit Eberhard zeigt12 – schon zu seinen Lebzeiten umstritten, so hat sich am Anfang des 20. Jahrhunderts – vorangetrieben vor allem durch den logischen Empirismus – eine dezidierte Anti-Kant-Haltung entwickelt, die zu großen Teilen noch fortbesteht. Dass dies so ist, liegt nicht zuletzt daran, dass die Widerlegung der kantischen Idee vom synthetischen Apriori der Anschauung ein Kernunterfangen jener Positionen ist, die den historischen Ursprung von (sprach-)analytischer Philosophie und des linguistic turn im 20. Jahrhundert bilden.13 In diesem Sinne spricht Hanna von der Wittgenstein-CarnapSchlick-Ayer-These, die »essential to the emergence and flourishing of the analytic tradition in its middle and later phases« gewesen sei.14 Diese lehnt bereits den philosophischen Begriff des synthetischen Apriori vollständig ab, weil dieses »oxymoron«15 bereits argumentative und sprachliche Grundregeln verletze.16 12 Vgl. hierzu Allison, Henry; Kant, Immanuel (1973): The Kant-Eberhard Controversy. An English Translation Together with Supplementary Materials, Baltimore: The Johns Hopkins University Press. 13 Vgl. Hanna, Robert (2001): Kant and the Foundations of Analytic Philosophy, Oxford, New York: Clarendon Press; Oxford University Press, 235. Vgl. zur Rolle der Kritik an Kants Mathematikphilosophie bei der Genese des logischen Empirismus auch die augenöffnende Darstellung in Buldt, Bernd; Löwe, Benedikt; Müller, Thomas (2008): »Towards a New Epistemology of Mathematics«, Erkenntnis 68, 309–329. 14 Hanna 2001, 237. Hanna selbst will diese als »third dogma of empiricism« (ebd. 238) in Frage stellen. 15 Ebd. 235. 16 »Synthetic a priori truths, by virtue of their corrupt form and corrupt content – that is, by virtue of their violation of syntactic and semantic first principles – are impossible simply because they are unintelligible.« Ebd. 237.

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Spezifischer greift die moderne Standardkritik17, wie sie etwa von Rudolf Carnap formuliert wurde18, Kants Verschränkung der beiden genannten Dimensionen an: Kants synthetisches Apriori sei das Resultat einer mangelnden Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik. Auf methodischer Ebene soll die apriorische Anschauung durch die Logik ersetzt werden. Wir haben es mit bloß logischen, d. h. analytischen Verhältnissen innerhalb von satzförmigen Axiomensystemen zu tun. Auf der transzendentalen Ebene des Weltbezugs soll Kants Idee der transzendentalen Euklidizität unseres Erfahrungsraums durch die empirische Wissenschaft der Physik ersetzt werden, die die Geltung einer bestimmten Geometrie von der Wahl eines Maßstabs und empirischer Beobachtung abhängig mache. Vom synthetischen Apriori bleibt so nichts mehr übrig: Die Mathematik zerfällt für diese Position Carnaps – gemäß dem Titel ›logischer Empirismus‹ – in einen reinen logischen Teil und einen angewandten empirischen (physikalischen) Teil. Dies muss noch einmal spezifischer betrachtet werden: Die Kritik an der ersten, methodischen Dimension der Anschauung kann sich auf das von Hilbert und Russell unternommene Axiomatisierungs- und Logifizierungsprogramm der Mathematik stützen. Eine moderne Mathematik sei abstrakte Strukturwissenschaft und habe die methodische Rolle der Anschauung zu eliminieren.19 Zu dieser methodischen Skepsis beitragen konnte die soge17 Vgl. zum sogenannten »standard modern complaint« Friedman, Michael (1992): Kant and the Exact Sciences, Cambridge, Mass: Harvard University Press, 55; sowie dessen Diskussion bei Shabel, Lisa (2003): Mathematics in Kant’s Critical Philosophy. Reflections on Mathematical Practice, New York: Routledge, 2; Unruh, Patrick (2007): Transzendentale Ästhetik des Raumes. Zu Immanuel Kants Raumkonzeption, Würzburg: Königshausen & Neumann, 259. 18 Vgl. etwa »The statements of pure geometry hold logically, but they deal only with abstract structures and they say nothing about physical space. Physical geometry describes the structures of physical space; it is a part of physics. The validity of its statements is to be established empirically- as it has to be in any other part of physics – after rules of measuring the magnitudes involved, especially length, have been stated […]. In neither of the two branches of science which are called ›geometry‹ do synthetic judgements a priori occur. Thus, Kant’s doctrine must be abandoned.« Carnap, Introductory remarks to English edition of Reichenbach’s The Philosophy of Space and Time (1958), zitiert aus Hagar, Amit (2008): »Kant and Non-Euclidean Geometry«, Kant-Studien 99, 80–98, 87. 19 Ihr zufolge gehört die Anschauung zum vorwissenschaftlichen Bestand einer Geometrie, deren Verwissenschaftlichung »darauf gerichtet ist, die anschaulichen Elemente, die sie zur ersten Anknüpfung nicht entbehren kann, im Fortgang der Untersuchung mehr und mehr zurückzudrängen, ja sie für die eigentliche Methode des Beweises entbehrlich zu machen.« Cassirer, Ernst (1907): »Kant und die moderne Mathematik (mit Bezug auf Bertrand Russells und Louis Couturats Werke über die Prinzipien der Mathematik)«, Kant-Studien 12, 1–49, 29. Hierbei ist es das Methodenideal der ›Strenge‹, die auf die lückenlose deduktive Folgerung aus ersten Definitionen beharrt und den Rekurs auf



Kants Geometrietheorie

nannte ›Krise der Anschauung‹: aufgrund einer ›geometrischen Intuition‹ für wahr gehaltene Sätze (z. B. ›Jede stetige Kurve ist differenzierbar‹) erwiesen sich durch die sogenannten ›Monster‹, wie etwa die Weierstrass-Funktion, als falsifizierbar.20 Aus dieser Sicht ergeben sich also drei Hauptargumente gegen die Anschauung. Erstens die Redundanz der Anschauung: Dies betrifft zum einen die Idee der Anschauung als bloß verworrener Form, sich – im Grunde genommen – analytische Verhältnisse vorzustellen.21 Zum anderen die bloß beschränkte Rolle, die die sogenannte Russell’sche Kompensationsthese der Anschauung historisierend zubilligt: war die Anschauung einst unerlässliches Mittel zur Genese von Erkenntnissen, wurde sie in dieser Funktion durch die moderne Logik überflüssig gemacht.22 Zweitens die Unverlässlichkeit, insofern gezeichnete geometrische Figuren stets imperfekt und partikulär sind, wodurch Fehler entstehen können.23 Und drittens die expressive Nichtadäquatheit: wir hätten es in der modernen Mathematik mit Entitäten wie etwa vierdimensionalen Würfeln oder raumfüllende Kurven zu tun, die sich überhaupt nicht anschaulich darstellen ließen.24 »irgend eine evidente ›Anschauung‹« als Lückenfüller ablehnt. Ebd. 3. Eine derart logifizierte Geometrie muss dann aber vollständig unabhängig sein, »vom Sinn der geometrischen Begriffe, wie er unabhängig sein muss von den Figuren; nur die in den benutzten Sätzen bzw. Definitionen niedergelegten Beziehungen zwischen den geometrischen Begriffen dürfen in Betracht kommen.« Pasch zitiert aus ebd. 28. 20 Vgl. Hahn, Hans (1988): »Die Krise der Anschauung«, in: Hans Hahn; Brian McGuin­ ness; Karl Menger (Hg.): Empirismus, Logik, Mathematik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 86–114. Auch Kant setzt sich allerdings schon mit unendlich rekursiven Operationen auseinander, etwa in Bezug auf die unendliche Teilbarkeit des Raums. Vgl. MAN A 20. Schon Eberhard hatte die Unmöglichkeit, sich ein Tausendeck vorzustellen als Kritik an Kants Anschauungsbegriff vorgebracht, wogegen sich Kant mit Verweis auf die Unterscheidung von Bild und Schema verteidigt. Vgl. dazu Allison 1973, 126; Shabel 2003, 203 ff.; Giaquinto, Michael (2007): Visual Thinking in Mathematics. An Epistemological Study, Oxford, New York: Oxford University Press, 3 ff. 21 »What Kant must defend is the substantive (and controversial) claim that there is in fact true knowledge […] on the synthetic side of the analytic/synthetic-divide, and more, that such knowledge is scientifically serious, and not merely some confused, logically imperfect formulation of underlying containment analyticities.« Anderson, R. Lanier (2015): The Poverty of Conceptual Truth. Kant’s Analytic/Synthetic Distinction and the Limits of Metaphysics, New York: Oxford University Press, 224. 22 Dies vertritt prominent Friedman, vgl. etwa Friedman, Michael (2012): »Kant on Geometry and Spatial Intuition«, Synthese 186, 231–25, 238 f. 23 Vgl. Manders, Kenneth (2008a): »Diagram-Based Geometric Practice«, in: Paolo Mancosu (Hg.): The Philosophy of Mathematical Practice, Oxford: Oxford University Press, 65–79, 65 f. 24 Einerseits gebe es »different forms of geometry, which differ in their conclusions, and so a single-diagram-based form of reasoning cannot serve them all […] Finally there

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Die Kritik an der zweiten Dimension, dem Gedanken der Euklidizität der transzendentalen Anschauungsform, stützt sich vor allem auf die Entdeckung der Konsistenz nichteuklidischer Geometrien und ihre Anwendbarkeit im Kontext der Einstein’schen Relativitätstheorie. Geometrien könnten so nicht mehr als das Produkt einer Auslegung »anschauliche[r] Raumerfahrungen« verstanden werden, sondern »der freien Entfaltung logischer Möglichkeiten«.25 Ihre Geltung im physikalischen Raum steht nicht in einem transzendentalen Sinne fest, sondern basiert letztlich auf konventionellen und pragmatischen Entscheidungen. In diesem Sinne gelangt Poincaré zu der Aussage, dass eine Geometrie nicht wahrer, sondern nur praktischer als eine andere sein kann.26 Damit verliert die Geometrie aber auch die Fähigkeit, irgendeine Voraussage über Verhältnisse realer Objekte zu treffen. Zugleich erweist sich in dieser Perspektive die Anschauung als zu schwach oder unbestimmt, um eigene normative Prinzipien zu enthalten: Reichenbach zufolge erweist sich ein angeblicher anschaulicher Zwang stets nur als die uneingestandene Projektion eines logischen Zwangs in die Anschauung.27 Die Idee einer epi­ stemologischen Rolle anschaulicher Evidenzen wird schließlich durch die moderne kontraintuitive Physik des Makro- und Mikrokosmos vollends in Frage gestellt.28 are geometricals such as space-filling curves which utterly defeat diagram-based reasoning.« Manders 2008a, 56 f. 25 Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried (Hg.) (1971–2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel, Stuttgart: Schwabe, 93. 26 Vgl. zu Poincarés Konventionalismus etwa überblickshaft Garbe, Annette (2001): Die partiell konventional, partiell empirisch bestimmte Realität physikalischer Raumzeiten, Würzburg: Königshausen & Neumann, 97 ff. 27 »Die Bilder, die wir uns zur Geometrie machen, sind immer schon so eingerichtet, daß sie den Gesetzen entsprechen, die wir dann aus ihnen ablesen; diese Gesetze sind implizit stets mitgedacht« (Reichenbach 1928, S. 57, zitiert aus Koriako, Darius (1999): Kants Philosophie der Mathematik. Grundlagen, Voraussetzungen, Probleme, Hamburg: Meiner, 270, FN 54). Die Tatsache, dass wir uns nicht vorstellen könnten, dass sich Parallelen nicht schneiden, liege daran, dass wir uns immer nur euklidische Parallelen vorstellen würden, d. h. implizit von den Normen der euklidischen Geometrie ausgehen. 28 So etwa der Physiker Max Tegmark: »Die Evolution stattete unsere entfernten Vorfahren lediglich mit einer Intuition für solche Aspekte der Physik aus, die einen Über­ lebensvorteil boten, wie etwa die parabelförmige Bahn fliegender Steine … Darwins Theorie macht daher die überprüfbare Vorhersage, dass bei jeder Anwendung von Technik zur Erkennung von Wirklichkeit jenseits des menschlichen Maßstabs unsere von der Evolution geprägte Intuition versagt.« Tegmark, Max (2015): Unser mathematisches Uni­ versum. Auf der Suche nach dem Wesen der Wirklichkeit, Berlin: Ullstein, 20. Die moderne Physik betrachtet insofern eine kontra-intuitiv strukturierte Hinterwelt, deren Gesetzmäßigkeiten sich einem Erscheinen entziehen und wird dadurch zum Nachfolger der philosophischen Metaphysik.



Kants Geometrietheorie

Dass eine Wiederbelebung der kantischen Position keinesfalls zum philosophischen Mainstream gehört, zeigt sich auch daran, dass die aktuell immer noch philologisch genaueste Studie zur kantischen Mathematiktheorie, Koriakos Kants Philosophie der Mathematik (1999, Neuauflage 2013), zum Ziel hat, die klassische Kritik weiter zu befestigen, indem sie entsprechende Inkonsistenzen und Widersprüche in Kants Gedankengang selbst nachzuweisen versucht. Zentral ist dabei die Idee, Kant habe eigentlich zwei Theorien, um »dasselbe Phänomen [zu] erklären: die Möglichkeit einer synthetischen und apriorischen Erkenntnis mathematischer Sachverhalte. Aber sie erklären es mit Hilfe zweier disparater Strategien: zum einen mit einer Theorie, in welcher die ›Reinheit‹ der Anschauung‹ als Explikans fungiert, zum anderen mit einer Theorie, in welcher die ›Reinheit‹ der Begriffe diese Explikation leistet.«29 Insofern die erste Theorie einer cognitio sensitiva, die auch der transzendentalen Ästhetik zugrunde liege, scheitere, führe die zweite Theorie dazu, dass Kant – gegen seine eigenen Intentionen – letztlich der Position des logischen Empirismus Reichenbachs zustimmen müsse.30

1.3 Logische, phänomenologische und diagrammatische Verteidigungen

Die Verteidiger Kants lassen sich zu Übersichtszwecken in drei Lager einteilen.31 Die Vertreter der logischen Lesart (Hintikka, Friedman, Anderson) interessieren sich vor allem für die methodische Rolle der Anschauung und deren Status als singuläre Vorstellung. Exemplarisch hierfür ist Hintikkas Bezugnahme auf die euklidische Ekthesis als Herstellung einer konkreten, einzelnen Figur.32 Eine wichtige Leistung dieser Lesarten besteht darin, gegen die verkürzte Deutung, es ginge Kant irgendwie um das Haben von Intuitionen oder unmittelbaren Eingebungen, die Rolle operativer Kalküle für Kant zu zeigen.33 Diesem Motiv, die logisch-begriffliche Seite der geometrischen Kon­ 29

Vgl. Koriako 1999, 265. Vgl. Koriako 1999, 269. 31 Die Darstellung von logischer und phänomenologischer Lesart lehnt sich an die Einteilung in Anderson 2015 an und wird um die dritte, diagrammatische Lesart ergänzt. Vgl. zu dieser Typologie auch Beck, Martin (2023): »Praxis, Diagramm, Körper. Die episte­mologischen turns und die Rehabilitation von Kants Euklidizitatsthese«, in: KantStudien 114 (4), 1–35. 32 Hintikka, Jaakko (1992): »Kant on the Mathematical Method [1967]«, in: Carl J. Posy (Hg.): Kant’s Philosophy of Mathematics. Modern essays, Dordrecht, Boston: Kluwer Academic Publishers, 21–42, 28 f. Vgl. dazu auch Anderson 2015, 216, und Krämer 2016, 232. 33 »[T]he primary role of pure intuition is to underwrite the constructive procedures used in mathematical proofs.« Friedman 1992, 92. Weiter: »The intuition involved here 30

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struktion (etwa die Rolle der Definitionen für Kant) nicht zu unterschätzen, folgt diese Studie. Wichtig ist ebenfalls die Einordnung von Kants synthetischem Apriori in der Wende vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff, bzw. von der aristotelischen monadischen Prädikatenlogik zur modernen Relationenlogik. Dies führt allerdings zu einer tendenziellen Entleerung und Unterschätzung des Anschauungsbegriffs, der entweder weit und logisch gefasst wird (so ist für Hintikka die Ekthesis völlig äquivalent zur existenziellen Instantiierung im quantorenlogischen Kalkül), oder umgekehrt enger und dann aber nur kompensatorisch (Friedman etwa betont, dass das von Euklid und Kant erst durch Anschauung begründbare Kontinuitätsaxiom heute problemlos logisch, d. h. unanschaulich formuliert werden könne).34 Um einen emphatischeren Anschauungsbegriff geht es der sogenannten phänomenologischen Lesart (Parsons, Carson, Hanna), die als wesentliche Eigenschaft von Anschauung deren Unmittelbarkeit identifiziert. Insofern dabei nach einem inhaltlichen und fundierenden Beitrag der Anschauung gefragt wird, steht die transzendentale Funktion der Anschauung auf dem Spiel. Neben der Betonung der Rolle des anschaulichen Substrats eines im Raum fundierten geometrischen Denkens35 steht im Zentrum dieser Lesart is not a quasi-perceptual faculty by which we ’read off’ the properties of triangles from particular figures, but that involved in checking proofs step by step to see that each rule has been correctly applied: in short, the intuition involved in ’operating a calculus’.« Ebd. Es geht also auch nicht um intuitive Gewissheiten im Sinne der cartesischen Regulae, oder der Pascal’schen ›verités du coeur‹, die als gleichsam außerbegriffliche Deduktionsgrundlage dienen. Daher verfällt Kants Anschauungstheorie auch nicht der Kritik am Mythos des Gegebenen. Wie im folgenden Kapitel (II.2) gezeigt werden soll, geht es ihm nicht um begrifflose Anschauungen, sondern um andere Verhältnisse von Anschauung und Begriff. 34 Vgl. dazu Friedman: »[W]hereas Hilbert represents the infinite divisibility of a line by an explicit quanitficational axiom stating that between any two points there exists a third, Euclid represents the same idea by showing how to construct a bisections function for any given line segment (Proposition I.10): our ability to iterate this construction indefinitely then represents the infinite divisibility of the same segment.« Friedman 2012, 238. Diese unendliche Teilbarkeit wäre nicht gegeben bei einer »plane coordinate geometry restricted only to rational numbers«. Manders 2008a, 66. Zentral für die Verteidigungen der logischen Lesart ist Kants Kritik am logizistischen Erkenntnisprogramm der LeibnizWolff’schen Schulphilosophie. Jüngst am deutlichsten gemacht von Anderson 2015. Kant erkenne die Insuffizienz der dabei zugrunde gelegten aristotelischen (monadischen) Prädikatenlogik. Mit seiner Anschauungstheorie sei er zugleich Geburtshelfer der modernen polyadischen Relationenlogik. 35 Vgl. Carsons Kritik an Friedman in Carson, Emily (1997): »Kant on Intuition in Geometry«, Canadian Journal of Philosophy 27, 489–512. Sowie Friedmans Zugeständnisse in Friedman, Michael (2000): »Geometry, Construction and Intuition in Kant and his Successors«, in: Gila Sher; Richard Tieszen (Hg.): Between Logic and Intuition: Essays in Honor of Charles Parsons, Cambridge: Cambridge University Press, 186–218.



Kants Geometrietheorie

die Idee eines modalen Dualismus bei Kant36: Kant unterscheide zwischen logischer Möglichkeit (nach dem Satz vom Widerspruch) und anschaulicher Möglichkeit (nach den Bedingungen des Raums). Diese Unterscheidung zwischen Denkbarkeit und Konstruierbarkeit gibt ein wichtiges Instrumen­ tarium in die Hand, um Kant auch gegen die Einwände zu verteidigen, die sich aus der Entdeckung der Konsistenz nichteuklidischer Geometrien ergeben haben: Die Konstruktion wird dann gleichsam zum Kriterium, aus den verschiedenen logisch möglichen Geometrien die anschaulich gültige auszuwählen.37 Problematisch ist hier allerdings die fehlende Differenzierung zwischen Wahrnehmungsraum und Kalkül, bzw. eine Blindheit gegenüber verschiedenen medialen Weltbezügen. Hanna etwa vertritt die Auffassung, der Wahrnehmungsraum sei unmittelbar und generell euklidisch, was mit der Nichteuklidizität des optischen Sehens in Konflikt gerät.38 Gegenüber diesen zwei klassischen Lesarten haben sich in jüngerer Zeit neue, sogenannte diagrammatische Lesarten etabliert, die als den Kern von Kants Anschauungstheorie das Operieren mit diagrammatischen Visualisierungen identifizieren.39 Ein erster Strang (Manders, Shabel, Mancosu, Giaquinto)40 konzentriert sich vor allem auf die methodische Dimension der Anschauung. Ein Kernpunkt, etwa von Manders und Shabel, ist die Widerlegung der Kritik an der Unverlässlichkeit der Anschauung. Zentral ist dabei das Konzept des Schematismus, das erklärt, wie an unperfekten und partikularen Zeichnungen dennoch gültige Schlussfolgerungen möglich sind. Während – so Manders – gezeigt werden kann, dass die euklidische Beweispraxis »reliable and justificationally adequate« ist, so wird doch zugleich der Sonderstatus der euklidischen Geometrie fallengelassen: »The existence of different forms of geometry is, of course, fatal to the claim that Euclidean geometry is 36 Zu diesem Begriff: Hanna 2001, 234 ff., insbesondere 264 ff. vgl. hierzu auch Gómez, Ricardo (1986): »Beltrami’s Kantian View of Non-Euclidean Geometry«, Kant-Studien 77, 102–107. 1986. Sowie Carson 1997. 37 Damit unterscheidet sich diese Lesart von einer in der Kant-Deutung verbreiteten Rückzugsstrategie, wonach es Kant »nicht um die Geltung einer spezifischen Geometrie« gehe, sondern »eher ›Geometrisierbarkeit überhaupt«. Unruh 2007, 264, in Anschluss an Höffe. 38 Zur Kritik an einer solchen Auffassung: »Jeder Versuch, Axiome, etwa einer Geometrie, direkt als wahre Aussagen über den realen (›physikalischen‹) Raum anzusehen ist … logisch irreführend.« Stekeler-Weithofer 2008, 73. 39 Den Begriff der ›diagrammatischen Lesart‹ für die Positionen von Manders und Shabel verwendet Friedman in Friedman 2012. 40 Oft ist der Bezug zu Kant allerdings sehr knapp: So etwa Giaquinto: »[W]e have arrived at a view that is at least close to Kant’s often dismissed view that there can be synthetic a priori knowledge.« Giaquinto 2007, 47.

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unique as a conception of space.«41 Insofern stellt auch Friedman fest, dass die diagrammatischen Lesarten von Manders und Shabel mit ihren bescheidenen Erklärungszielen der wesentlich ambitionierteren philosophischen Agenda Kants allenfalls partiell gerecht würden.42 Sie könnten gerade nicht erklären, warum für Kant die geometrische Konstruktion im Stile Euklids zugleich die Quelle eines apriorischen Bezugsrahmens für den physischen Raum bildet.43 Dieser ambitionierteren philosophischen Agenda Kants folgt StekelerWeithofer in seinem Buch Formen der Anschauung.44 Dieses entwirft eine Philosophie der mathematischen Praxis, die sich als gezielter Gegenentwurf zu Logizismus und logischem Empirismus und als eine Verteidigung von Kants Anschauungskonzeption versteht. Ihre Pointe besteht darin, der Idee von Mathematik als abstrakter Strukturwissenschaft eine Konzeption verkörperter und sozialer Praktiken gegenüberzustellen, die sich als Aktualisierung von Kants Theorie einer nichtempirischen Anschauung versteht. Für dieses Projekt sind zwei Thesen zentral: die, dass sich Kants These von der Euklidizität des Anschauungsraums verteidigen lässt, indem festgestellt wird, dass Kants Raumtheorie eigentlich eine Theorie unseres praktischen Umgangs mit formbaren Körpern ist.45 Eine zweite These lautet, dass die Rolle des Anschauungsbezugs der Mathematik bei Kant nicht (nur) methodisch zu verstehen ist, sondern im Sinne einer semantischen Fundierungsleistung.46 Dies macht Kants Position auch dann noch relevant, wenn die diagrammatische Anschauung – im Rahmen einer syntaktisch operierenden, axiomatisierten und logifizierten Geometrie – vom Verfahren her obsolet scheint. Dabei fällt die mathematikphilosophische Grundlagendiskussion nicht in den eigentlichen Fokus der vorliegenden Studie. Stekeler-Weithofers Position, die Kant eher systematisch aktualisiert und wenig auf den Text Kants und die 41 Manders 2008a, 65. Eine gewisse Beschränkung auf empiristische und deskriptive Dimensionen ist dabei generell ein Zug des Methodenparadigmas einer ›Philosophie Mathematischer Praxis‹ in dessen Kontext sich diese Ansätze zumeist positionieren. Für eine solche praxisbezogene Wende steht Mancosus Edition Mancosu, Paolo (Hg.) (2008): The Philosophy of Mathematical Practice, Oxford: Oxford University Press; sowie Buldt/ Löwe/Müller 2008 (»Towards a New Epistemology of Mathematics«). 42 Friedman 2012, 254. Er schließt daher: »[D]iagrammatic interpretations of Euclid’s Elements offered by Manders and Shabel are not adequate as interpretations of Kant’s conception of geometry and spatial intuition.« Ebd. 43 Friedman 2012, 231. 44 Stekeler-Weithofer 2008. 45 Ebd. 29. 46 Ziel ist dabei eine Neubewertung der »logischen oder prototheoretischen Grundlagen der Mathematik« (ebd. 2) die aufzeigt, dass die Geometrie die »heimliche Königin der Mathematik« ist und zwar »in der Form eines diagrammtheoretisch fundierten Strukturmodells, nicht in der Form eines axiomatischen Systems wie bei David Hilbert« (ebd. 1).



Kants Geometrietheorie

Debatten der Kantauslegung eingeht, bildet für die folgende Lesart allerdings einen wichtigen Orientierungsrahmen. Auch die Debatte um Kants These von der Euklidizität des Anschauungsraums konnte hier nicht vollständig eingeholt werden. Zu diesem Zweck wird bei Gelegenheit auf einen Aufsatz des Verfassers zur Debatte um Kants Euklidizitätsthese im Kontext einer praxeologischen Wende der Mathematikphilosophie verwiesen.47 Die Studie legt stattdessen ihren Fokus auf eine bildepistemologische Lektüre, die Kants Geometrietheorie als Theorie des anschaulichen Denkens und als einen Beitrag zu einer Bildlogik rekonstruiert und zu zeigen versucht, wie Kant damit als Vertreter eines iconic turn gelesen werden kann. Dabei soll der ursprüngliche Ansatz der diagrammatischen Lesart, der sich auf die Rolle des Schematismus in der epistemischen Funktionsweise von Diagrammen konzentriert hat, in mindestens drei Hinsichten erweitert werden. Eine erste Erweiterung betrifft die Beziehung der diagrammatischen Erkenntnis zum menschlichen Weltverhältnis, womit die Studie an Stekeler-Weithofer sowie Krämer anknüpft.48 Hier geht um einen intrinsischen Zusammenhang zwischen der Logik der Orientierung im dreidimensionalen Anschauungsraum und der Logik des Operierens im zweidimensionalen diagrammatischen Bildraum.49 Zweitens stützt sich die Studie auf die Einsicht, dass Kants Raumtheorie eine Theorie der Leiblichkeit ist. Hier knüpft die Studie an eine verkörperungstheoretische Lesart von Kants transzendentaler Ästhetik an, wie sie vor allem von Hanna, Ruckgaber und Nuzzo entwickelt wurde.50 In einer dritten Erweiterung soll gezeigt werden, dass Kants Diagrammtheorie neben der Theorie des Schematismus auch die Eigenschaften diagrammatischer Bildräume als epistemischer Sonderräume reflektiert. Diesem Thema widmet die Studie eine ausführliche Auseinandersetzung, die im Kernpunkt 47

Beck 2023. Siehe Stekeler-Weithofer 2008, Krämer 2016. Vgl. auch Papes Verknüpfung einer visuellen Ontologie mit dem relationenlogischen und diagrammatischen Kalkül bei Peirce in Pape 1997. Dieser Punkt, den Krämer auch mit dem Begriff eines ›kartographischen Impulses‹ beschreibt, ließe sich so zusammenfassen: Es gibt einen intrinsischen Zusammenhang von dem Problem der epistemischen Bewältigung einer sichtbaren (relationalen und perspektivischen) Welt einerseits und dem epistemischen Diagrammgebrauch andererseits. 49 Siehe Stekeler-Weithofer 2008, Krämer 2016. Vgl. auch Papes Verknüpfung einer visuellen Ontologie mit dem relationenlogischen und diagrammatischen Kalkül bei Peirce in Pape 1997. Dieser Punkt, den Krämer auch mit dem Begriff eines ›kartographischen Impulses‹ beschreibt, ließe sich so zusammenfassen: Es gibt einen intrinsischen Zusammenhang von dem Problem der epistemischen Bewältigung einer sichtbaren (relationalen und perspektivischen) Welt einerseits und dem epistemischen Diagrammgebrauch andererseits. 50 Hanna 2001, Nuzzo 2008, Ruckgaber 2009. 48

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eine bildtheoretische Deutung des in der Forschung häufig problematisierten Theorems einer ›reinen Anschauung‹ vorschlägt. Auf der Basis dieser Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand fokussieren die folgenden vier Kapitel nun auf die Kernfragen der Studie. Dabei soll zunächst gezeigt werden, auf Grundlage welcher Argumente und Entdeckungen Kant die Anschauung in seine Epistemologie integriert. Kapitel II.2 betrachtet, wie Kant das Verhältnis von Anschauung und Begriff konzipiert und zwei Dimensionen der Anschauung unterscheidet. Kapitel II.3 rekon­ stru­iert an Kants Raumtheorie die Theorie einer Eigenlogik der Anschauung. Kapitel II.4 untersucht zentrale Parameter der Konstruktionstheorie als Theorie des anschaulichen Denkens. Dabei enthalten bereits Kapitel II.3 und II.4 wichtige Hinweise auf die Beziehung der Logik diagrammatischen Denkens zu Leiblichkeit und Relationenlogik. Kapitel II.5 widmet sich schließlich explizit dem Thema diagrammatischer Bildlogik im Rahmen einer Rekon­ struktion verschiedener Dimensionen ikonischer Differenz. Insgesamt soll dabei mit Blick auf die im ersten Teil aufgestellte These vom iconic turn avant la lettre gezeigt werden, dass Kants Theorie anschaulichen Denkens nicht nur mit einer allgemeinen Theorie der diagrammatischen Erkenntnis kompatibel ist, sondern dass er im Rahmen einer Kritik an Metaphysik und Substanzdenken wichtige systematische Ressourcen einer solchen Theorie überhaupt erst entwickelt. Ein kurzes Zwischenfazit am Ende dieses Teils diskutiert methodische Aspekte der Interpretation von Kant als Theoretiker von Leiblichkeit und Bildlichkeit und stellt dem die Situation bei Hegel gegenüber. Eine ausführliche Zusammenfassung der Ergebnisse des Kantteils folgt dagegen erst im Schlusskapitel der gesamten Studie, wo sie zusammen mit den Ergebnissen des Hegelteils diskutiert werden.

2. Kants Konzeption der Anschauung

Dieses Kapitel fragt nach dem Eigenrecht und der Eigenlogik der Anschauung bei Kant, mit dem Ziel, den Ort eines anschaulichen Denkens zu bestimmen. Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst soll gezeigt werden, wie Kants Gedanke des Eigenrechts der Anschauung als Resultat einer Metaphysikkritik verstanden werden kann (II.2.1). Hierzu wird zunächst der Adressat dieser Kritik betrachtet: die von der Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie vertretene intellektualistische Metaphysik, die Kant als ›intellektuelles System der Welt‹ bezeichnet. Für diese ist Sinnlichkeit verworrene Begrifflichkeit ohne Eigenlogik (II.2.1.1). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es die kopernikanische Wende als Rückzug der Erkenntnisbegründung auf den Horizont endlicher Subjektivität ist, die zum Gedanken eines Eigenrechts der Anschauung führt (II.2.1.2). In einem zweiten Schritt wird die Frage der Eigenlogik der Anschauung gestellt, die zugleich kritisch mit dem Mythos des Gegebenen abgeglichen werden muss. Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zweier Dimensionen der Anschauung (II.2.2). Die empirische Anschauung (oder Anschauung a posteriori) steht für das Denkfremde der Natur. In der KrV ist sie in einem funktionalen Korrespondenzmodell auf den diskursiven, theoretischen Verstand bezogen und bildet ein materielles Substrat ohne Eigenlogik. Ihre potentielle Eigenlogik thematisiert Kant erst in der KU. Die Fortsetzung dieser Linie im 20. Jahrhundert führt zu Konzepten des Nichtidentischen und der Alterität (II.2.2.1). Als eigentlicher Ort eines anschaulichen Denkens bei Kant kann stattdessen die nichtempirische Anschauung (oder Anschauung a priori) und die Theorie des intuitiven Vernunftgebrauchs der Mathematik identifiziert werden. Erst hier ist die Anschauung bei Kant nicht nur Substrat, sondern Medium des Denkens. Die Eigenlogik der Anschauung besteht hierbei in einer Dimension der Form, spezifischer: einer Logik der Koordination und Relation, die an die Stelle einer Logik der Substanz-Akzidenz-Verhältnisse tritt. Dass die Anschauung im Kontext der Mathematiktheorie dennoch auf Begriffe bezogen bleibt, widerspricht dem Konzept eines anschaulichen Denkens nicht. Es ist vielmehr mit den Einsichten aus dem Problem vom Mythos des Gegebenen kompatibel: Anschauliches Denken kann nicht begriffsloses Anschauen meinen, sondern impliziert – wie später von Hegel noch expliziter gemacht – andere Verhältnisse von Anschauung und Begriff (II.2.2.2).



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Teil II · Kant: Konstruktion

2.1 Kants Entdeckung des Eigenrechts der Anschauung 2.1.1 Kants Gegner: Leibniz’ intellektuelles System der Welt

Ausgangspunkt für Kants Theorie einer Eigenlogik der Anschauung ist vor allem seine Kritik an dem, was er Leibniz’ ›intellektuelles System der Welt‹ nennt:51 »[D]er berühmte Leibniz [errichtete] ein intellektuelles System der Welt, oder

glaubte vielmehr, der Dinge innere Beschaffenheit zu erkennen, indem er alle Gegenstände nur mit dem Verstande und den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens verglich. […] Er verglich alle Dinge bloß durch Begriffe mit einander, und fand, wie natürlich, keine andere Verschiedenheiten, als die, durch welche der Verstand seine reinen Begriffe von einander unterscheidet. Die Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihre eigene [sic] Unterschiede bei sich führen, sahe er nicht für ursprünglich an; denn die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorstellungsart, und kein besonderer Quell der Vorstellungen; Erscheinung war ihm die Vorstellung des Dinges an sich selbst, obgleich von der Erkenntnis durch den Verstand, der logischen Form nach, unterschieden, [/] da nämlich jene, bei ihrem gewöhnlichen Mangel der Zergliederung, eine gewisse Vermischung von Nebenvorstellung in den Begriff des Dinges zieht, die der Verstand davon abzusondern weiß.« (KrV B 325 f.)

Innerhalb der Position, die Kant hier beschreibt, wurde er selbst philosophisch sozialisiert. Es handelt sich um die Leibniz-Wolff’sche Schulphilosophie, die zugleich die damals modernste Spielart des philosophischen Rationalismus und einer am Substanzbegriff ausgerichteten Ontologie war. Sie verbindet den rationalistischen Reduktionismus aller Vorstellungen auf Begriffe mit einem bestimmten  – beschränkten  – Logikbegriff und einer bestimmten Art von Metaphysik. Wo Kant also einen Dualismus der Erkenntnisquellen von Anschauung und Begriff unterscheidet, kann hier hingegen von einem 51 Zentral für Kants Kritik an Leibniz ist das Kapitel über die Amphibolie der Refle­ xionsbegriffe: Kants Argument besteht jeweils darin, dass die Reflexionsbegriffe wie Identität und Differenz im Bereich von Intellekt und Sinnlichkeit jeweils unterschiedliche Bedeutungen haben. Weil Leibniz das Instrument einer transzendentalen Topik fehlt, wird er dieser Medienspezifik nicht gerecht, intellektualisiert die Erscheinungen und erzeugt so Trugschlüsse. KrV B 319. Eine parallele Kritik richtet Kant gegen den Lockeschen Empirismus und dessen Sensifizierung der Verstandesbegriffe, gegen die ein von der Empirie transzendental getrennter Verstand verteidigt werden muss. Vgl. KrV B 327. Das Konzept des intellektuellen Systems der Welt lässt sich in Hegels kritischer Rede von einer »Metaphysik der Objektivität« (GW 430) wiedererkennen. Vgl. unten III.2 und III.3.



Kants Konzeption der Anschauung

Monismus des Begriffs gesprochen werden. Gerade mit Blick auf Leibniz ist hier allerdings eine Einschränkung vorzunehmen: Es ist zu beachten, dass Kants Kritik aus heutiger Sicht wohl nicht unbedingt das leibnizsche Denken als solches trifft, sondern ein idealtypisches intellektualistisches Substanzdenken, das aus Teilaspekten der leibnizschen Erkenntnislehre konstruiert ist. Leibniz wäre als Denker von Externalität und Bildlichkeit gesondert in den Blick zu nehmen. Dies kann die vorliegende Studie nicht leisten und muss sich – im Rahmen dieses Kapitels – auf einige Andeutungen beschränken. Die idealtypische Position, gegen die sich Kant mit seiner Kritik richtet, besteht in fünf wesentlichen Gedanken: a) Logik (»den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens«): Ausgangspunkt dieses Modells ist die klassische aristotelische Logik, wie sie vor der modernen Aussagen- oder Relationenlogik das Bild des Denkens prägte. Sie ist an einem triadischen Modell von Begriff, Urteil und Schluss ausgerichtet. Ihre Wurzeln liegen in dem von Platon entwickelten Begriffsanalyseverfahren der Dihairesis und einer Prädikationstheorie, die von Aristoteles aufgenommen und durch die ausgearbeitete Syllogistik ergänzt werden.52 In dieser Form prägt sie auch Kants eigene – von den Zeitgenossen bereits als anachronistisch empfundene – sogenannte Jäsche-Logik sowie sein Verständnis formaler Logik überhaupt.53 Dieses Modell der Logik ist, wie es Cassirer zentral zum Thema gemacht hat, ein begrenztes Bild. Es ist ausgerichtet an den »Gattungsbegriffe[n] der beschreibenden und klassifizierenden Naturwissenschaft«.54 Ihre Hauptleistung ist die eindeutige Klassifikation eines Gegenstandes durch Merkmale, d. h. dessen Bestimmung durch höhere Gattung und spezifische Differenz. Logische Verhältnisse beschreiben demnach das »kategoriale Grundverhältnis des Dinges zu seinen Eigenschaften«.55 52 Wie etwa Stekeler-Weithofer und Krämer zeigen, werden auch die Strukturen und Regeln dieser Logik mittels räumlich-diagrammatischer Modelle etabliert. Dies ändert allerdings nichts an deren grundlegend diskursivem Charakter. Mit Wittgenstein gesprochen: Der diskursive Satz kann seine logische Form nicht selbst sagen, sondern weist sie auf. Zum Baummodell der Dihairesis als »genuin anschauliche[r]« Methode vgl. Krämer 2016, 144. Vgl. ebenfalls Stekeler-Weithofer, Pirmin (1986): Grundprobleme der Logik. Ele­ mente einer Kritik der formalen Vernunft, Berlin, New York: de Gruyter, 52 ff. Zum Segeltuchmodell der platonischen-aristotelischen Prädikationstheorie vgl. ebd. 39 ff. 53 Vgl. Kants Aussage in der Vorrede zur zweiten Ausgabe, dass die Logik »seit dem Aristoteles keinen Schritt rückwärts hat tun dürfen« und »auch keinen Schritt vorwärts hat tun können, und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint.« KrV B VII. 54 Cassirer, Ernst (1969): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 15. 55 Ebd. 10.

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Dieses Modell ist somit beschränkt auf eine monadische Prädikatenlogik, während sich Relationen hier nicht oder nur sehr schlecht darstellen lassen.56 b) Ontologie (»und fand, wie natürlich, keine andere [sic] Verschiedenheiten, als die, durch welche der Verstand seine reinen Begriffe von einander unterscheidet«): Wie Cassirer zeigt, ist diese Logik seit Aristoteles mit einer Metaphysik verbunden, die das kategoriale Grundverhältnis der Prädikation verallgemeinert und ontologisiert.57 Das, was als erkennbare Realität gilt, folgt der Struktur von Substanzen und Akzidenzen, nur diese sind metaphysisch real, Relationen hingegen ideal. Als relevantes Kriterium der Individuation und Unterscheidung von Erkenntnisgegenständen können also allein begriffliche Unterschiede dienen. Dieser Reduktionismus des Denkens auf den logischen Modus der Prädikation wird dann – wie etwa in der Logik Wolffs  – dogmatisch von der Ordnung des Seins her begründet: »Modus praedicandi sequi modum essendi.«58 Seine »[m]etaphysische Voraussetzung« bildet die »Isomorphie zwischen logischen und ontologischen Strukturen.«59 c) Theologie: Diese Isomorphie von Logik und Ontologie kann allerdings nicht mit den epistemischen Ressourcen endlicher Subjektivität allein begründet werden. Leibniz denkt die Erkennbarkeit der Dinge daher gleich von zwei Subjekten her:60 zum einen vom Standpunkt des endlichen menschlichen Subjekts, dessen Selbstgewissheit Descartes zum methodischen Prinzip der Phi56 Es ist »[v]or allem […] die Kategorie der Relation, die durch diese metaphysische Grundlehre des Aristoteles zu einer abhängigen und untergeordneten Stellung herabgedrückt wird.« Ebd. 10. Gerade die Idee von Relationalität ist aber zentral für die welterschließende Funktion des Sehens, ebenso wie von Bildern, Diagrammen und Modellen. Vgl. hierzu oben I.2.3 sowie unten II.3. 57 Ursachen für diese dogmatische Allianz von Logik und Ontologie sind für Cassirer die zunehmende Inhaltsleere der Begriffe bei aufsteigender Allgemeinheit und die Unmöglichkeit festzustellen, ob diesen in den Dingen etwas Wesentliches entspricht. Diesen Mangel behebe Aristoteles durch die metaphysische Annahme, dass die »Begriffspyramide« zugleich die »reale Form sei, die den kausalen und teleologischen Zusammen­ hang der Einzeldinge verbürgt«. Dies führt zugleich zur Festlegung der Logik auf Sein und Substanzialität: »Die Bestimmung des Begriffs durch seine nächsthöhere Gattung und durch die spezifische Differenz gibt den Fortschritt wieder, kraft dessen die reale Substanz sich successiv in ihre besonderen Seinsweisen entfaltet.« Ebd. 9. 58 Die Weise des Aussagens folgt der Weise des Seins. Wolff, Lateinische Logik § 219, 224; aus: Schöttler, Tobias (2012): Von der Darstellungsmetaphysik zur Darstellungspragma­ tik. Eine historisch-systematische Untersuchung von Platon bis Davidson, Münster: Mentis, 93. Siehe auch: Schulthess, Peter (1981): Relation und Funktion. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur theoretischen Philosophie Kants, Berlin, New York: de Gruyter, 18 ff. 59 Schulthess 1981, 20. 60 Im Folgenden beziehe ich mich auf die Darstellung von Kaehler, Klaus Erich (2008):



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losophie gemacht hatte, zum anderen vom Standpunkt eines Schöpfergotts, der über einen unendlichen Verstand verfügt. Dieses metaphysische Subjekt fungiert als »ultima ratio« bzw. »vernunfttätiger Grund« allen Seins.61 Es verbürgt die universale Geltung bestimmter logisch-metaphysischer Prinzipien auch dort, wo das endliche Subjekt dies aufgrund seiner beschränkten epistemischen Ressourcen nicht eigens nachvollziehen kann. d) Denken als Analysieren (»verglich alle Dinge bloß durch Begriffe miteinander«): Auch wenn das höchste, nämlich göttliche Erkennen für Leibniz intuitiver Natur ist, ist das menschliche Denken im Kern diskursiver Natur. Der logischen Ausrichtung am Modell der Klassifikation entspricht ein Bild des Denkens als Vorstellungsanalyse, die operativ auf der Fähigkeit beruht, Ähnlichkeiten und Unterschiede festzustellen. Der Verstand ist das Organ eines »Vergleichens und Unterscheidens gegebener sinnlicher Mannigfaltigkeiten«62. Ziel des Erkennens ist die Begriffsklärung: Dunkle werden in klare Vorstellungen verwandelt, verworrene in deutliche Vorstellungen. Eine Sache ist erkannt, wenn ihre Merkmale durch abstrakte Allgemeinbegriffe angegeben und distinkt auseinandergelegt sind, am Ende steht idealerweise eine adäquate Definition. Die Ordnung des Seins wird so als ein System von Gattungen und Arten erkannt. e) Kontinuität und Aufstieg (»Erscheinung war ihm die Vorstellung des Din­ ges an sich selbst, obgleich von der Erkenntnis durch den Verstand, der logischen Form nach, unterschieden«): Grundlage dieses Modells ist der Gedanke einer prinzipiellen epistemischen Kontinuität: »Vernunft ist überall ein und dieselbe, nur in verschiedenen Graden und Reichweiten vollzogen.«63 Auf diese Weise werden auch die sinnlichen Vorstellungen innerhalb der Logik verortet, nämlich als verworrene, d. h. nicht ausreichend analysierte begriffliche Vorstellungen. Das Erkennen ist ein kontinuierlicher Prozess der Ab­ straktion, der bei der sinnlichen Wirklichkeit anfängt und zu immer höherer Allgemeinheit fortschreitet. Die prinzipielle Kontinuität aller Vorstellungen bedeutet, dass eine sinnliche Erscheinung durch methodisch-rationale Arbeit de jure in die Vorstellung des Dings an sich selbst verwandelt werden kann. »Baumgartens Metaphysik der Erkenntnis zwischen Leibniz und Kant«, Aufklärung 20, 117–136, 118 ff. 61 »Das cartesische Prinzip der reinen Selbsttätigkeit, die eo ipso unbedingtes Sein ist, erhält so in Leibniz’ Theologie der Vernunft seine dem Gedanken nach unüberbietbare reale Erfüllung. Erst darin hat sich die subjektive Gewißheit vollständig zur objektiven Wahrheit entfaltet.« Ebd. 118 f. Das endliche Denken »bindet sich selbst zurück an die metaphysisch verobjektivierte Vollendungsgestalt seines eigenen Vermögens.« Ebd. 120. 62 Cassirer 1969, 5. 63 Kaehler 2008, 119.

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Telos eines solchen platonischen Aufstiegs ist die rein intellektuelle Erkenntnis ohne sinnlichen Anteil. Dies impliziert einen Reduktionismus: Bei jenen Aspekten, die für die sinnliche Erscheinung eines Dings spezifisch sind, handelt es sich bloß um »eine gewisse Vermischung von Nebenvorstellungen […], die der Verstand davon abzusondern weiß.« (KrV B 327) Der Aspekt der Sinnlichkeit besteht also lediglich in einer Verworrenheit, von der prinzipiell abstrahiert werden kann.

2.1.2 Das Eigenrecht der Anschauung als Produkt der kopernikanischen Wende

Innerhalb des geschilderten Modells spielt die Sinnlichkeit also keine eigene Rolle: Sinnliche Eigenschaften haben kein ontologisches Eigenrecht, sind nicht ursprünglich und daher ontologisch eliminierbar. Bei Kant ändert sich dies: Er vertritt einen Dualismus von Vorstellungsarten, der von einer irreduziblen Heterogenität von Anschauung und Begriff ausgeht. Dies bedeutet zunächst, dass der Unterschied von sinnlichen und intellektuellen Vorstellungen nicht wie bei Leibniz »logisch« aufzufassen ist, d. h. »bloß die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit« betreffend. Stattdessen ist er aufzufassen als »transzendental«, d. h. bezogen auf »den Ursprung und den Inhalt«.64 Die logischen Kategorien würden hier von Leibniz falsch angewendet: Der Begriff ›Recht‹, als eine rein rationale Vorstellung, könne deutlich oder verworren gedacht werden. Daraus folge aber nicht, dass der alltägliche, verworrene Begriff gegenüber dem klar definierten Begriff des Rechtswissenschaftlers »sinnlich sei, und eine bloße Erscheinung enthalte« (KrV B 61).65 Umgekehrt gelte für die sinnliche Vorstellung eines Körpers, dass seine Körperhaftigkeit, d. h. jene Eigenschaften und Relationen, die seine sinnliche Gestalt für uns ausmachen, irreduzibel zur Sinnlichkeit gehören. Diesen entspreche überhaupt kein intellektuelles Gegenstück in Form eines rein rational erkennbaren Dings. Wir können von seinem Erscheinungsbild also nicht durch Verstandesoperationen abstrahieren und zu einer intellektuellen Erkenntnis 64 »Die Leibniz-Wolffische Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur und den Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz unrechten Gesichtspunkt angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen bloß als logisch betrachtete, da er offenbar transzendental ist, und nicht bloß die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit, sondern den Ursprung und den Inhalt derselben betrifft […].« KrV B 61 f. 65 Zur Kritik einer rein intellektualistisch entworfenen praktischen Philosophie vgl. unten III.3.



Kants Konzeption der Anschauung

aufsteigen, so als »ob man jene (die Erscheinung) gleich bis auf den Grund durchschauen möchte«.66 Diese These eines ontologischen Hiatus zwischen Anschauung und Begriff, ihrer grundsätzlichen Heterogenität, ist unmittelbar verknüpft mit der kopernikanischen Wende, die als »radikale Verselbständigung der neuzeitlichen natürlichen Vernunft zum autonomen, sich selbst bestimmenden Subjekt« zu begreifen ist.67 Durch die Kritik der Gottesbeweise fällt eine externe Instanz weg, die die universale Geltung logischer und ontologischer Prinzipien verbürgen könnte. Notwendig wird stattdessen eine Klärung der Erkenntnismöglichkeiten des endlichen Subjekts aus dessen immanenten Ressourcen, zu denen eben auch unhintergehbar sinnliche Weltbezüge gehören. Den Gedanken, dass die sinnlichen Vollzüge dieses Subjekts eine kognitive Funktion haben können, hatte in gewisser Weise schon Leibniz vorbereitet. Gerade die Idee einer prinzipiellen Kontinuität der Rationalität erlaubt es ihm, auch solche Kognitionen des Menschen als rational zu betrachten, die nicht dem Methodenideal einer klaren und deutlichen Erkenntnis entsprechen.68 Dies sind erstens die ›klaren, aber verworrenen‹ Erkenntnisse, etwa über Farben oder Geschmacksurteile (im Sinne eines ›je ne sais quoi‹ der Kunst). Mit dieser Konzeption eines ›Denken dessen, was nicht denkt‹ (Rancière) wird Leibniz zum Begründer der Ästhetik.69 Zugleich ist mit den 66 Ebd. Vgl. auch: »Wenn wir diese unsre Anschauung auch zum höchsten Grade der Deutlichkeit bringen könnten, so würden wir dadurch der Beschaffenheit der Gegenstände an sich selbst nicht näher kommen.« KrV B 60. Zur Unabhängigkeit beider Unterscheidungen: »Es kann aber das Sinnliche völlig deutlich sein und das Intellektuelle äußerst verworren.« De mundi 37 A. Ersteres zeige die Geometrie, letzteres die Metaphysik. Vgl. hierzu insgesamt klassisch: Martin, Gottfried (1966): »Kants Auseinandersetzung mit der Bestimmung der Phänomene durch Leibniz und Wolff als verworrene Vorstellungen«, in: Friedrich Kaulbach; Joachim Ritter (Hg.): Kritik und Metaphysik, Berlin: de Gruyter, 99–105. 67 Kaehler 2008, 122; auch: »Das Eigenrecht des Sinnlichen ergibt sich grundsätzlich und allgemein genau aus der ontologischen Fassung des endlichen Subjekts, wenn dieses sich als unüberschreitbarer Ort des neuzeitlichen Prinzips in sich reflektiert. Nur wenn dieser Schritt getan und damit das Eigenrecht des Sinnlichen methodisch-theoretisch gesichert ist, kann die nähere Explikation des Sinnlichen, d. h. seine Eigenart, auch wirklich philosophische Relevanz beanspruchen.« Ebd. 123. Zur Umdeutung des Sinns von Endlichkeit bei Kant, vom Geschaffensein durch Gott hin zum endlichen Erkennen, das auf Gegebenes angewiesen ist, vgl. Heidegger, Martin (1976): »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken, Frankfurt/M.: Klostermann, 21–72, 48. 68 Für das endliche Subjekt ist »der Bezug auf alle wirklichen und möglichen Objekte des Erkennens nur zu einem geringen Teil in der expliziten Form der Rationalität möglich – nämlich nur hinsichtlich relativ abstrakter Allgemeinheiten und formaler Strukturen von Rationalität überhaupt.« Kaehler 2008, 120. 69 Vgl. etwa Bäumler 1967; Menke 2002; Rancière 2006.

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›blinden und symbolischen‹ Erkenntnissen ein symbolisches und diagrammatisches Operieren in den Blick gerückt, eine ›berechenbare Vernunft‹ (Krämer), die gegenüber der profunditas der bis zum Ende durchgeführten Analyse gerade auf der Oberflächlichkeit, d. h. der Sichtbarkeit und Manipulierbarkeit eines zeichenhaften Kalküls beruht.70 Aus Sicht des hier verfolgten philosophiehistorischen Narrativs (auf dessen Einschränkungen oben hingewiesen wurde) gilt aber: Das Problem bei Leibniz wie auch bei Baumgarten bleibt, dass das ästhetische, sinnliche oder symbolische Erkennen immer noch als Vor- oder Schwundstufe eines eigentlich intellektuellen Erkennens konzipiert wird – auch wenn dieses vom Menschen selbst nicht erreicht werden kann, sondern Gott vorbehalten ist.71 Der Schritt zum Eigenrecht der Anschauung ist dann erst in Kants kritischer Philosophie konsequent vollzogen, indem sie den endlichen – und somit auf Aisthesis angewiesenen – Standpunkt, der für Leibniz unvollkommenes Pendant eines vollkommenen, göttlichen Subjekts ist, zum einzigen, unhintergehbaren Standpunkt des Erkennens überhaupt macht. Durch den radikalen Schnitt Kants wird die Aisthesis von einer bloßen Schwund- oder Vorstufe in eine grundsätzlich neue Stellung befördert. Als Anschauung wird sie zu einer eigenständigen Erkenntnisquelle, die den Verstandesbegriffen gegenüber absolut heterogen ist. Als Erscheinung wird sie zum unhintergehbaren Erkenntnishorizont: Empirische Dinge sind für uns jederzeit nur als Erscheinungen real, wir haben keine intellektuelle Erkenntnis von Dingen an sich.72

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Vgl. hierzu Krämer, Sybille (1991): Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin, New York: de Gruyter, 120 ff. Als dritter Punkt wäre noch die Konzeption des Stellenraums zu nennen, die im folgenden Kapitel genauer erörtert wird. 71 Vgl. zur Stellung Baumgartens ebenfalls Kaehler 2008. 72 Kant vollzieht dies in zwei Schritten: In der Inauguraldissertation von 1770 legt er einen ontologischen Dualismus von sinnlicher und intelligibler Welt zu Grunde. Während die sinnliche Welt bereits in ihren Eigenstrukturen und ihrem Bezug auf das endliche Subjekt gedacht wird, korrespondiert dieser aber immer noch eine »Verstandeswelt«, die vom Schöpfergott als »objektivem Grund« abhängt. Vgl. dazu De Mundi §§ 13, 15, 20. Erst 10 Jahre später ersetzt die KrV diese onto-theologische Lehre durch die transzendentale Logik. Diese restringiert nun auch den Verstand auf sinnliche Gegenstände, lokalisiert die intellektuellen Gründe der Welt im endlichen Subjekt, nämlich den »Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption«. KrV B 136.



Kants Konzeption der Anschauung

2.2 Die Eigenlogik der Anschauung bei Kant

Kants These, »daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, […] nämlich Sinnlichkeit und Verstand« (KrV B 29), ist sehr vielschichtig. Pippin weist auf mindestens drei verschiedene Dimensionen dieser Unterscheidung hin: (i) eine logische Dimension, die die Frage nach dem Verhältnis von allgemeinen und singulären Termini betrifft, (ii) eine transzendentalphilosophische Dimension, die etwa zur Begründung von Mathematik und Naturwissenschaft formale Elemente von Anschauung und Begriff unterscheidet, (iii) und schließlich, noch umfassender, ein allgemeines Modell des Verhältnisses von Geist und Welt.73 Mindestens ebenso wichtig ist bei der Frage nach dem Eigenrecht der Anschauung aber die Differenzierung zwischen der aposteriorischen und der apriorischen Dimension der Anschauung. Die nicht mehr substanz- und prädikatenlogisch überformte Anschauung erscheint bei Kant nämlich in zwei Gestalten: (i) als sinnliches Aposteriori, also ein den Synthesen des Verstandes gegebenes denkfremdes Material, d. h. als Natur, (ii) als sinnliches Apriori, also eine zu den Formen des Verstandes alternative apriorische Form, d. h. als etwas, das in gewisser Weise den epistemischen Vermögen und Praktiken des Subjekts angehört.74 Damit liegen auch zwei mögliche Ausgangspunkte für Konzeptionen eines anschaulichen Denkens vor. Es wird sich zeigen, dass ein solches bei Kant spezifisch in der zweiten Dimension der apriorischen Anschauung zu suchen ist.

2.2.1 Diskursiver Verstand und empirische Anschauung

Der These von den zwei Quellen der Erkenntnis entspricht zum einen ein Modell, das als hierarchisches Korrespondenzmodell von Anschauung und Begriff bezeichnet werden kann, dessen zentrale Unterscheidungen sich so darstellen lassen:75 73 Pippin 2005, 25; zu einer ähnlichen Differenzierung vgl. auch Strawson, Peter F. (1981): Die Grenzen des Sinns. Ein Kommentar zu Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹, Königstein/Ts: Hain, 40 f. 74 Der Anschauungsbegriff erscheint einerseits als Vehikel eines Schritts aus der Logik heraus ins Alogische, wie paradigmatisch in dem von Bäumler beschriebenen Irrationalitätsproblem, andererseits eines Schritts in eine neue Logik hinein, wie paradigmatisch in der von Cassirer beschriebenen Ablösung des Substanzbegriffs durch den Funktionsbegriff. 75 Vgl. KrV: Beginn der transzendentalen Ästhetik KrV B 33 f.; Beginn der transzendentalen Logik KrV B 74 ff.; sowie den Abschnitt Von dem logischen Verstandesgebrauche

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Sinnlichkeit (unteres Vermögen)

Verstand (oberes Vermögen)

intuitiv

diskursiv

Stoff

Form

Rezeptivität der Eindrücke

Spontaneität der Begriffe

Gegenstand wird gegeben

Gegenstand wird gedacht

unmittelbarer Gegenstandsbezug

nur mittelbarer Gegenstandsbezug (vermittelst gewisser Merkmale)

beruht auf Affektionen

beruht auf Funktionen

einzeln

allgemein

Gegenüber dem monistischen Modell des Rationalismus bedeutet die Behauptung eines Eigenrechts der Anschauung hier zunächst einen Schritt aus der Logik heraus ins Alogische, wobei die Sinnlichkeit aus dem Bereich des Verstands ausgekoppelt und diesem gegenübergestellt wird. Die Anschauung erscheint dabei als Aposteriori, ein Denkfremdes, das durch keine rationale Seinsordnung antizipiert ist.76 In dieser Hinsicht ist Anschauung zentral für das, was Bäumler als das ›Irrationalitätsproblem in der Logik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts‹ bezeichnet hat.77 Anschauungen fallen durch ihre Eigenschaften der Singularität und Rezeptivität aus der ›Begriffspyramide‹ der aristotelischen Logik heraus: Erstens gibt es für Kant keine unterste Spezies, d. h. es ist unmöglich, die Fülle der singulären Anschauung durch einen logischen Prozess der Spezifikation zu erreichen. Ihre Einzelheit und Individualität macht sie zu einem Irrationalen, das sich durch keinen Versuch prädikativer Beschreibung vollständig einholen lässt.78 Und zweitens ist für überhaupt KrV B 92 ff.; eine wichtige Stelle ist ebenfalls die sogenannte Stufenleiter der Vorstelllungen KrV B 376 f. 76 Sinnlichkeit ist hier ein »im bloßen Denken nicht sachhaltig antizipier[bares]« gegebenes Äußeres, eine Mannigfaltigkeit, die dem Denken [d. h. dem Selbstbewusstsein] gegenüber heterogen ist. Kaehler 2008, 122. 77 Bäumlers Studie zum »Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts« stellt dabei insbesondere das Problem der Individualität bzw. Singularität in den Mittelpunkt. In der KrV wird dieses vor allem in der Bestimmung der Anschauung als einzelner oder singulärer, unmittelbarer und aposteriorischer Vorstellung virulent. Die für Bäumler entscheidende Formulierung findet dieses Problem allerdings erst in der KU, die den Übergang zur hegelschen Philosophie und der irrationalistischen Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts bilde. 78 Vgl. Logik § 11, A 151, sowie § 15, A 153 f.; Bäumler hierzu: »Logische Deutlichkeit und ästhetische Fülle wachsen umgekehrt proportional. Geht man auf diesem Wege weiter nach abwärts, so gelangt man schließlich zur Vorstellung der infima species, des Indivi-



Kants Konzeption der Anschauung

Kant ›Sein‹ kein ›reales Prädikat‹ mehr: Die Existenz einer Sache ist kein logisch gedachtes Merkmal, sondern muss rezeptiv erfahren werden. Diese Angewiesenheit des menschlichen Subjekts auf Rezeptivität, auf Gegebenes und Empfindung, drückt Kant so aus, dass der Mensch nur über einen diskursiven, nicht aber einen intuitiven Verstand verfügt.79 Im Sinne eines allgemeinen Verhältnisses von Geist und Welt steht die empirische Anschauung hier also für die Natur, die dem menschlichen Verstand seine Materie gibt und ihn somit zugleich von außen determiniert und beschränkt. Das Eigenrecht der Anschauung kann hier also beschrieben werden als Angewiesenheit des Menschen auf eine nicht auf Begriffliches zurückzuführende Rezeptivität. Diese Idee Kants wirft allerdings die Frage auf, ob er damit nicht demjenigen philosophischen Mythos verfällt, den Sellars und McDowell als den ›Mythos des Gegebenen‹ prominent kritisiert haben. Dieser Mythos besteht in der problematischen Annahme, dass unsere Überzeugungen über die Welt in einer Form der intuitiven oder anschaulichen Einsicht ein nichtbegriffliches Fundament finden könnten.80 McDowell hat in Mind and World argumentiert, dass es die Einsicht in diese Problematik ist, die Kant dazu bringt, der These von den zwei Quellen der Erkenntnis die ebenso berühmte Kodependenzthese hinzuzufügen: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV B 75) Der Rekurs auf eine Rezeptivität darf demnach bei Kant nie so verstanden werden, dass es eine von Begriffen unabhängige oder ungeformte Vorstellung des Typus ›Anschauung‹ gebe, die bereits für sich eine Art Wissen darstellt, und dann als eigenständiger Grund in Prozesse des Urteilens und Schlussfolgerns eingehen kann, etwa im Sinne einer unmittelbaren intuitiven Einsicht. Es muss hingegen gelten: Die spontane Syntheseleistung des Verstandes ist nicht erst in expliziten Akten des Urteilens am Werk, sondern schon auf der Ebene der duums. Eben damit ist aber auch die bloße Logik überschritten. Wir sind im Alogischen […] Anschauung ist der methodische Terminus, den Kant für den metaphysischen der Individualität eingesetzt hat.« Bäumler 1967, 322. 79 Vgl. KU § 76–77, speziell B 347. 80 Der Anhänger dieses Mythos ist in einer Oszillation zwischen zwei Zuständen gefangen: Mit Bezug auf den Rekurs auf Anschauungen als »external constraint on our freedom« ergibt sich die Unmöglichkeit, zu zeigen, wie von Begriffen unabhängige Inhalte zu Geltungsgründen unseres Urteilens werden können. McDowell, John (1994): Mind and World, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 6. Ein nicht von äußeren Gegenständen beschränktes Erkennen ergibt die Gefahr eines epistemischen »frictionless spinning in the void« (ebd. 11). Zu einem Überblick über diese Debatte (und die Parteinahme für Kant darin) vgl. Haag, Johannes (2011): »Anschauung«, in: Hermann Krings; Petra Kolmer; Armin G. Wildfeuer; Wolfram Hogrebe (Hg.): Neues Handbuch phi­ losophischer Grundbegriffe, Freiburg/Brsg.: Alber, 163–178, 166 ff.

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Wahrnehmung.81 Bereits unsere Erfahrung ist stets so strukturiert, dass in ihr Rezeptivität und Spontaneität zusammenkommen, und nur in dieser Form (qua Spontaneität und begrifflichem Formanteil) können die Anschauungen Teil eines space of reasons werden.82 Wenn wir also zur anschaulichen Fundierung unseres Urteilens gewissermaßen in die Welt zeigen, dann liegt darin immer schon eine Verbindung von Spontaneität und Rezeptivität, begrifflichem und anschaulichem Anteil. Eine reine Rezeptivität, die als Erkenntnis oder Erfahrung fungieren würde, gibt es für Kant nicht.83 Die Heterogenität von Anschauung und Begriff impliziert hier also ihre funktionale Komplementarität in einem Korrespondenzmodell. Liegt mit der Fassung des Eigenrechts der Anschauung in einem solchen Korrespondenzmodell schon eine Konzeption anschaulichen Denkens vor ? Diese Frage kann schon insofern verneint werden, als Kant selbst hier explizit von einem diskursiven Verstand spricht. Es scheint auch sonst nicht sinnvoll, in diesem Zusammenhang davon zu reden, das Denken sei anschaulich verfasst. Stattdessen handelt es sich – mit Otto gesprochen – um ein Modell eines reinen Denkens formaler Verstandesbegriffe, das sich auf ein anschauliches Korrelat als seinen Stoff bezieht, also um ein Modell »des herrscherlichen Nach-Denkens über Anschauungen«.84 Das Korrespondenzmodell des diskursiven Verstandes folgt bei Kant einem hierarchischen Verhältnis von Anschauung und Begriff im Rahmen einer Unterscheidung von oberem und unterem Erkenntnisvermögen.85 Anschauung als aposteriorische Anschauung 81 »Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch [/] der bloßen Synthesis verschiedene[r] Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt.« KrV B 105 f. 82 McDowell 1994, 9 f. 83 Beispiele für blinde Anschauung: »Sieht z. B. ein Wilder ein Haus aus der Ferne, dessen Gebrauch er nicht kennt: so hat er zwar eben dasselbe Objekt, wie ein anderer, der es bestimmt als eine für Menschen eingerichtete Wohnung kennt, in der Vorstellung vor sich. Aber der Form nach ist dieses Er[/]kenntnis eines und desselben Objekts in beiden verschieden. Bei dem einen ist es bloße Anschauung, bei dem andern Anschauung und Begriff zugleich.« Logik A 40 f. Fehlt in jenem Beispiel bloß der empirische Begriff, so lassen sich auch Passagen über das Scheitern einer Synthesis überhaupt als Instanzen blinder Anschauung deuten, z. B. wenn ich beim Zählen vergesse, wo ich bin, vgl. KrV A  105. Oder das Scheitern der Zusammenfassung einer Vorstellung im mathematischErhabenen, vgl. KU § 25 ff. 84 Otto 2007, 209. 85 »Man pflegt die Sinnlichkeit auch das niedere, den Verstand dagegen das obere Vermögen zu nennen; aus dem Grunde, weil die Sinnlichkeit den bloßen Stoff zum Denken gibt, der Verstand aber über diesen Stoff disponiert und denselben unter Regeln und Begriffe bringt.« Logik A 45.



Kants Konzeption der Anschauung

ist für Kant also lediglich unerlässliches Substrat oder Materie, nicht aber Medium des Denkens. Sinnlichkeit oder empirische Anschauung steht hier nicht für einen anschaulichen Charakter des Denkens selbst, sondern ist, wie Otto feststellt, ein »logisch geformte[r] Quasibegriff«86, den sich der kantische Verstand als Bezugsobjekt abstrakt gegenüberstellt. Genau diesen Mangel seines Modells der aposteriorischen Anschauung thematisiert Kant in der KU. Die in der KrV wirksame Hierarchie von spontanem Verstand und passiv-stofflicher Natur wird dort mit Blick auf eine Natur infrage gestellt, die nicht bloß passives Material ist, sondern über Eigenstrukturen und eine Eigendetermination verfügt, die dem mechanistischen Weltbild der KrV entgehen. Um diese zu erfassen, wäre ein »intuitive[r] Verstand« nötig, der für Kant jedoch lediglich ein hypothetisches, kein wirkliches Vermögen des Menschen ist.87 Der spezifische Weg, der von der aposteriorischen Anschauung zu einem anschaulichen Denken führt, wird von Kant also zwar angedeutet, aber nicht beschritten. Erst Schelling und Hegel nehmen dies in dem Gedanken der Natur als ›Subjekt-Objekt‹ und einer ›Spontaneität des Objekts‹ auf.88 Bei Adorno wird – diese Linie fortsetzend – die Natur schließlich als Nichtidentisches gegenüber der nivellierenden Herrschaft transzendentaler Subjektivität in Stellung gebracht. Eigenlogik der Anschauung heißt dann: Negativität, Alterität, Entzug. Auf ein solches Ziel, dem materiellen Aposteriori zu seinem Eigenrecht zu verhelfen, beziehen sich schließlich auch jene Konzeptionen von Bildepisteme und anschaulichem Denken, die hier unter dem Titel ›Bildenergetik‹ zusammengefasst werden: In Bredekamps Bildakt, in Boehms Rede von der Lebendigkeit oder Kraft des Bildes, sowie in Ottos Idee der Kontingenz des Erinnerungsbildes ist dieser Gedanke einer Widerständigkeit der denkfremden Natur am Werk. Hierbei wird das Bild thematisiert als Träger einer Kraft und Handlungsmacht, die die Reichweite menschlicher Spontaneität nachhaltig begrenzen soll. Daraus, dass Kant diesen Weg nicht beschreitet bzw. lediglich andeutet, folgt aber nicht, wie Otto unterstellt, dass mit Kant überhaupt keine Konzeption eines anschaulichen Denkens möglich wäre. Die folgende Rekonstruktion eines anschaulichen Denkens bei Kant zeigt, dass dieser über eine vollständige und eigenständige Konzeption anschaulichen Denkens verfügt, und zwar im Kontext von aprio­ rischer Anschauung und Anschauungsform.

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Otto 2007, 197. KU § 77, B 347. 88 Vgl. Kapitel III.2. 87

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2.2.2 Nichtempirische Anschauung als Anschauungsform und Medium anschaulichen Denkens

Die apriorische Anschauung bzw. nichtempirische Sinnlichkeit ist eine spezifisch kantische Erfindung, die über den soeben beschriebenen Dualismus von Logischem und Empirischem, Begriff und empirischer Sinnlichkeit hinausgeht. Sie bildet insofern ein drittes Register, das sich auf keinen der beiden genannten Pole reduzieren lässt. Formal entwickelt Kant dieses Register, indem er den zwei Erkenntnisquellen Anschauung und Begriff jeweils ihr eigenes apriorisches Vermögen zuweist, also den Dualismus der Erkenntnisquellen zu einem Dualismus von Prinzipien ausweitet: Es gibt apriorische Erkenntnis und oberste formale Prinzipien dann nicht nur im Bereich der Logik, sondern ebenfalls in der Sinnlichkeit. So entsteht die Idee einer trans­ zendentalen Ästhetik, die, als »Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori«, »im Gegensatz [zu] derjenigen« Wissenschaft aufzufassen ist, »welche die Prinzipien des reinen Denkens enthält, und transzendentale Logik genannt wird« (KrV B 35 f.).89 Dieser formale, transzendentale, apriorische und spontane Anteil der Sinnlichkeit bildet das eben skizzierte neuartige Dritte, das zum Thema der Disziplin der Ästhetik wird. Diese wird so im Sinne Baumgartens als Analogon der Logik gedacht – mit all jenen Paradoxien, die eine solche Analogie mit sich bringt.90 Auf der Ebene der philosophischen Begriffsbildung erscheint die Dimension einer Anschauung a priori als das Produkt einer Operation der Hybridisierung bzw. einer Operation, in der die Differenz von oberem und unterem Erkenntnisvermögen noch einmal auf sich selbst angewendet wird. Hierdurch verkompliziert sich die für 89 Vgl. auch: »Daher unterschieden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d. i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. i. der Logik.« KrV B 76. In der Ästhetik fehlen die feinen Einteilungen, wie sie Kant in Bezug auf Logik nach KrV B76 ff entwickelt. Was etwa eine allgemeine oder besondere Ästhetik sein könnten, bleibt unausgeführt. Wichtig ist Kant die Abgrenzung von der Ästhetik im Sinne einer Kritik des Geschmacks, insbesondere bei Baumgarten, wobei deren Unfähigkeit zur Wissenschaft in Analogie zur angewandten Logik mit Verweis auf deren empirischen und psychologischen Charakter begründet wird. Erst mit der Entdeckung eigener Prinzipien der Urteilskraft wird Kant diesem Projekt in der KU eine ganz eigene Wendung geben. Gegen dieses Projekt beruft er sich auf jeden Fall jetzt auf den »Sinn […] der Alten […] bei denen die Einteilung der Erkenntnis in aistheta kai noeta sehr berühmt war«. Ästhetik soll sein: »wahre Wissenschaft« von der Aisthesis, nämlich sofern sie epistemologisch relevante Prinzipien enthält, also Ästhetik »im transzendentalen Sinne« ist. KrV B 36 Anmerkung. Zu weiteren und noch spezifischeren Verwendungen von ›Ästhetik‹ in diesem Kontext vgl. Unruh 2007, 96 f. 90 Vgl. dazu Derrida 1992.



Kants Konzeption der Anschauung

die KrV leitende Form-Materie-Unterscheidung.91 Damit gibt es nun innerhalb des unteren Erkenntnisvermögens selbst wieder eine Unterscheidung von unterem (aposteriorischen und rezeptiven) und oberem (apriorischen und spontanen) Anteil:92 empirische Anschauung (unteres Vermögen)

Materie

a posteriori

empirischer Begriff

Materie

a posteriori

reine Anschauung (oberes Vermögen)

Form

a priori

reiner Begriff

Form

a priori

Die resultierende Idee einer Anschauung a priori oder nichtempirischen Sinnlichkeit erscheint aufgrund einer solchen Operation also einerseits als Paradox, Oxymoron oder contradictio in adjecto.93 Andererseits verweist sie auf die neuartige Idee eigener, der Anschauung zugehöriger Ordnungsformen. Sie beschreibt den Gedanken, dass die für das Subjekt der kopernikanischen Wende unhintergehbare Welt der Aisthesis über spezifische Erscheinungs-, Individuations- und Ordnungsformen verfügt, die im intellektuellen System

91 »Beide [Anschauungen und Begriffe] sind entweder rein, oder empirisch. Empirisch, wenn Empfindung (die die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt) darin enthalten ist; rein aber, wenn der Vorstellung keine Empfindung beigemischt ist. Man kann die letztere die Materie der sinnlichen Erkenntnis nennen. Daher enthält reine [/] Anschauung lediglich die Form, unter welcher etwas angeschaut wird, und reiner Begriff allein die Form des Denkens eines Gegenstandes überhaupt. Nur allein reine Anschauungen oder Begriffe sind a priori möglich, empirische nur a posteriori.« KrV B 75 f. 92 Dies begründet auch den Unterschied, den Kant zwischen Empfindung (sensatio), Wahrnehmung (perceptio) und Anschauung (intuitio) macht. Vgl. hierzu ebenfalls wieder die Stufenleiter der Vorstellungen: »Eine Perzeption, die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustands bezieht, ist Empfindung (sensatio), eine objektive Perzeption ist Erkenntnis (cognitio). Diese ist ent[/]weder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus).« KrV B 376 f. 93 Entsprechend bemerkt etwa Ebbinghaus die »Anschauung apriori, deren Begriff ja schon eine Paradoxie enthält (denn wie soll ich etwas anschauen unabhängig von seinem Dasein ?)« sei Kants »eigenstes Eigentum.« Ebbinghaus, Julius (1944): »Kants Lehre von der Anschauung a priori«, Zeitschrift für deutsche Kulturwissenschaft 10, 169–186, 174. Diese Anwendung einer Unterscheidung auf sich selbst ist (oberflächlich betrachtet) die Ursache einer ganzen Reihe von nach der Ausgangsopposition paradoxen Begriffsbildungen im Bereich der Ästhetik, die nicht erst mit den berühmten Paradoxien der KU wie ›interesseloses Wohlgefallen‹, ›Allgemeinheit ohne Begriff‹ etc. auftauchen, sondern bereits auf der Ebene der Theorien von Raum, Zeit und Mathematik: ›Allgemeinheit einer einzelnen Vorstellung‹, ›nichtempirische Anschauung‹, ›nichtsinnliche Anschauung‹ sind derartige Bildungen.

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der Welt unberücksichtigt geblieben sind. Was bedeutet hier das Eigenrecht der Anschauung und was ist ihre Eigenlogik ? Der erste Hinweis auf die Eigenlogik einer solchen Ordnungsform liegt in dem Begriff der Koordination. Dieser wird in der Inauguraldissertation noch ganz allgemein mit der sinnlichen Welt assoziiert und steht für ein Gegenmodell zu der auf Subordination beruhenden Begriffspyramide der aristotelischen Logik. Paradigmatisch zeichnet dies die Kantinterpretation Cassirers nach.94 Neben das Substanz-Akzidenz-Verhältnis tritt nun die Relation als Organisationsform der Welt. Die ontologisch vorausgesetzte Ordnung des Seienden wird ersetzt durch die aktive Syntheseleistung eines Subjekts. Statt um die profunditas eines Aufsteigens zu allgemeineren Merkmalen und immer höheren Erkenntnisgründen, geht es dem Denken nun um die laterale und gleichsam oberflächliche Ordnung von Mannigfaltigkeiten. Die Stelle der aus den Dingen herausabstrahierten Gattungsbegriffe nimmt nun der schöpferisch-konstruktive mathematische Begriff ein. Der Begriff ›Anschauung‹ führt hier also nicht ins Alogische, Singuläre und Irrationale, sondern in eine neue Logik hinein, die sich an Konzepten wie Relation und Funktion orientiert.95 Charakteristisch für Cassirers Lesart ist die Idee, dass das eigentliche Telos der kantischen Anschauungstheorie entsprechend in einer neuen Theorie des Begriffs zu sehen sei, nämlich dem konstruktiv gebildeten reinen Verstandesbegriff, der die moderne Relationenlogik vorwegnehme.96 Dafür, dass ein solches Denken der Relation dennoch nicht in ein vollständig unanschauliches Denken führt, stehen als Kronzeugen etwa Peirce, der das Konzept der Relation unauflösbar mit einer Konzeption diagrammatischen Denkens verbindet97, und Wiesing, der auf die Parallelität von formaler Ästhetik und Relationenlogik im 19. Jahrhundert hinweist.98 94 Vgl. zu einer Lesart in diesem Geiste auch Schulthess 1981: Zentrales Projekt Kants ist demnach der Nachweis der Realität von Relationen, anstelle der zuvor als einzig real geltenden Substanzen und Akzidenzen. 95 Diesen relationalen Sinn des Anschauungsbegriffs fasst Kant in der Aussage zusammen »daß alles, was in unserem Erkenntnis zur Anschauung gehört […] nichts als bloße Verhältnisse enthalte, der Örter in einer Anschauung (Ausdehnung), Veränderung der Örter (Bewegung), und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte).« KrV B 66 f. 96 Grund für dieses Erfordernis sind die Erkenntnisfortschritte der Naturwissenschaften: »Die exakte Wissenschaft war […] zu Fragen gelangt, für welche die Formensprache der traditionellen Logik kein genaues Korrelat besitzt.« Cassirer aus Wiesing 2008, 81. 97 Vgl. Stjernfelt 2007, 94 ff.; Pape 1997, 378 ff. 98 Wiesing 2008, 91. Kantimmanent wäre vor allem auf die nicht zu vernachlässigende Distanz zwischen transzendentaler Ästhetik und transzendentaler Logik hinzuweisen:



Kants Konzeption der Anschauung

Spezifischer um Eigenrecht und Eigenlogik der Anschauung geht es in der Raum- und Geometrietheorie. Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, entwickelt Kant in den Raumargumenten den Gedanken der Irreduzibilität räumlicher auf begriffliche Verhältnisse. Der Raum erhält so den Status einer nichtempirischen Sinnlichkeit, eines Dritten, das nicht auf den Dualismus von spontanem Begriff und rezeptiver Sinnlichkeit, logischer Form und sinnlicher Materie zurückgeführt werden kann.99 Dem korrespondiert Kants Idee von mathematischer Erkenntnis als intuitivem Vernunftgebrauch, den er dem diskursiven Vernunftgebrauch der Philosophie gegenüberstellt. In diesem intuitiven Vernunftgebrauch wird die nichtempirische Sinnlichkeit zum Medium des Denkens. Beide Begriffe teilen den oben beschriebenen hybriden Charakter, der sie aus der Sicht eines epistemologischen Dualismus zu Paradoxien oder Oxymora macht. Die These dieser Studie ist, dass genau hier Kants genuine Theorie anschaulichen Denkens zu finden ist. Bevor dies in den folgenden Kapiteln genauer entwickelt wird, stellt sich aber noch die Frage, wie eine derartige Konzeption anschaulichen Denkens mit der Einsicht aus der Kritik am Mythos des Gegebenen vereinbar ist – der Einsicht, dass unsere mentalen Akte je immer schon Begriffe involvieren und ein begriffsloses Anschauen zwar möglicherweise denkbar ist, aber jedenfalls keine epistemische Relevanz für uns haben kann. Zunächst ist festzustellen, dass Kants Theorie der Anschauung keine des begriffslosen Anschauens ist: Kants These, dass der Raum kein Begriff ist, bedeutet keinesfalls, dass vom Raum nicht gesprochen werden kann, sondern: dass der Raum phänomenale Qualitäten und Eigenschaften hat, durch die klar wird, dass er selbst keine begriffliche Vorstellung sein kann. Auch ein Terminus wie ›reine Anschauung‹ zielt gerade nicht auf begriffslose Evidenz. Kants Theorie von mathematischen Begriffen und Schemata zeigt, wie etwa auch diagrammatisches Operieren immer in begriffliche und sprachliche Kontexte eingebunden ist.

Das kantische Apriori der Anschauung ist nicht auf eine Durchgangsstufe zu einer neuen Theorie des Begriffs zu reduzieren. 99 Erwähnt werden muss hierbei aber auch die sogenannte Nonkonzeptualismusdebatte. Insbesondere mit Blick auf die berühmte Passage KrV B 160 wird hierbei diskutiert, ob Kant durch die Unterscheidung von ›Anschauungsform‹ und ›formaler Anschauung‹ den Gedanken eigener Ordnungsstrukturen der Raumanschauung (Nonkonzeptualismus) nicht wieder zurücknimmt und die Ordnung des Raums stattdessen in einer Ordnungsleistung des Verstandes lokalisiert (Konzeptualismus). Vgl. zusammenfassend Onof, Christian; Schulting, Dennis (2015): »Space as Form of Intuition and as Formal Intuition. On the Note to B160 in Kant’s Critique of Pure Reason«, Philosophical Review 124, 1–58; sowie den Band Schulting, Dennis (Hg.) (2016): Kantian Nonconceptualism, London: Palgrave Macmillan.

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Teil II · Kant: Konstruktion

Ist hiermit aber nicht umgekehrt wieder das Desiderat eines anschaulichen Denkens in einer Konzeption des diskursiven Denkens aufgehoben ? Es ist eine tiefe Überzeugung dieser Studie, dass dies verneint werden kann. Stattdessen gilt umgekehrt, dass die philosophische Frage nach dem anschaulichen, nichtdiskursiven Denken wichtige Lehren aus der Kritik am Mythos des Gegebenen ziehen kann. Wie später mit Blick auf Hegel betont werden wird (vgl. Kapitel III.2) legt es gerade die Einsicht in eine grundsätzliche Untrennbarkeit begrifflicher und anschaulicher Momente nahe, dass verschiedene Konstellationen dieser Momente in Betracht zu ziehen sind.100 Die Suche nach einem anschaulichen Denken sucht nach anderen Verhält­ nissen dieser Momente, anderen Verhältnissen von Anschauung und Begriff als in jenem hierarchischen, funktionalen Korrespondenzmodell, das in der Theorie des diskursiven Verstandes vorliegt. Im Falle des mathematischen Denkens hört die Anschauung für Kant auf, bloßes Substrat zu sein, sondern wird vielmehr zum Medium des Denkens. Die eigentliche Scheidelinie zwischen diskursivem und anschaulichem Denken verläuft hier zwischen einer Erkenntnis ›aus Begriffen‹ bzw. der Subsumtion ›unter Begriffe‹ und einer Erkenntnis aus der ›Konstruktion der Begriffe‹.101 Dass die Geometrie hierbei auch für Kant eine offensichtliche begriffliche Dimension hat, wie sie in den Definitionen und Konstruktionsanweisungen manifest wird, impliziert noch nicht, dass sie vollständig in einem begrifflichen Erkennen aufgeht. So hat in der Geometrie bei Kant dasjenige einen Ort, was Otto bei ihm vermisst: »erkenntnisrelevante Anschaulichkeit«102. An die Stelle »des herrscherlichen Nach-Denkens über Anschauungen«103 tritt das diagrammatische Denken in Anschauungen, in Gestalt eines Operierens mit Raumrelationen. Das Eigenrecht und die Eigenlogik der Anschauung ergeben sich hier aus einer medialen Gebundenheit des Denkens an eine Raumerfahrung, in der sich Momente 100 Vgl. etwa: »Was dagegen den Menschen betrifft, so besteht ein jedes Erkenntnis desselben aus Begriff und Anschauung. Jedes von diesen beiden ist zwar Vorstellung, aber noch nicht Erkenntnis. Etwas sich durch Begriffe, d. i. im allgemeinen vorstellen, heißt denken, und das Vermögen zu denken ist der Verstand. Die unmittelbare Vorstellung des einzelnen ist die Anschauung. Das Erkenntnis durch Begriffe heißt diskursiv, das in der Anschauung intuitiv; in der Tat wird zu einer Erkenntnis beides mit einander verbunden erfordert, sie wird aber von dem benannt, worauf, als den Bestimmungsgrund desselben, ich jedesmal vorzüglich attendiere.« Fortschritte A 182. 101 Zur Verflochtenheit der Mathematik mit dem Verstand vgl. neben der Methodenlehre auch etwa KrV B 198 f.: »Es gibt aber reine Grundsätze a priori, die ich gleichwohl doch nicht dem reinen Verstande eigentümlich beimessen möchte, darum, weil sie nicht aus reinen Begriffen, son[/]dern aus reinen Anschauungen (obgleich vermittelst des Verstandes) gezogen sind; Verstand ist aber das Vermögen der Begriffe.« 102 Otto 2007, 209. 103 Ebd.



Kants Konzeption der Anschauung

von Visualität, Motorik und Taktilität verbinden. Es handelt sich – und daher ist auch von einer nichtempirischen Anschauung oder Anschauung a priori die Rede – um Spielarten eines Vermögens oder Machenkönnens, die mit der sinnlichen Existenz des Menschen zusammenhängen, aber gerade nicht auf Passivität und Rezeptivität, sondern auf Spontaneität beruhen. Die Tatsache, dass Kant – bezogen auf das allgemeinere Verhältnis von Mensch und Natur, Geist und Welt – ein anschauliches Denken auf den Aspekt apriorischer Formen und somit auf einen Anteil des Subjekts bezieht, macht deutlich, warum diese Konzeption von Interpreten wie Otto oder Bredekamp übersehen wird. Diese suchen in der Anschauung die Materialität, Kontingenz und potentielle Unbeherrschbarkeit der aposteriorischen Anschauung; Kants Theorie mathematischer Konstruktion geht es dagegen um ein technisches Machenkönnen des Menschen innerhalb eines apriorischen Kalküls. Dieses schließt, wie später noch am Begriff der ›reinen Anschauung‹ gezeigt werden soll, die Dimension des materiellen Aposteriori gerade aus (vgl. Kapitel II.5.4). Bevor aber Kants Überlegungen zur Operativität (Kapitel II.4) und Bildlichkeit (Kapitel II.5) der Geometrie betrachtet werden, gilt es, deren basale Voraussetzungen zu verhandeln, in denen die Eigenlogik der apriorischen Anschauung deutlich wird: Kants Theorie der Anschauungsform (Kapitel II.3).

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3.  Die Anschauungsform Verkörperter, perspektivischer und indexikalischer Weltbezug Ziel dieses Kapitels ist es, Eigenrecht und Eigenlogik der Anschauung in ihrer Bedeutung als Form, genauer: als transzendentale Anschauungsform zu betrachten. Dabei greifen zwei Motive ineinander: die Kritik einer intellektualistischen Metaphysik und die Entdeckung einer Verkörperungsdimension menschlichen Geistes. Den Leitfaden bildet die Auseinandersetzung mit der Kernfrage der KrV nach dem Verhältnis von Subjekt und Welt: ›Wie kommt das Subjekt zu seinem Objekt ?‹ Hierzu wird zunächst der Gegenstand der transzendentalen Ästhetik bestimmt: Gegen das Vorurteil von Mentalismus und Subjektivismus wird diese als Theorie einer verkörperten und sozial vermittelten Subjekt-Objekt-Beziehung gelesen. Ihr Kernthema ist die Unhintergehbarkeit eines perspektivischen Weltbezugs. Im Zentrum der perspektivischen Raumerfahrung stehen bei Kant Lage- und Richtungsbeziehungen. Als deren entscheidendes Merkmal kann zunächst eine zweifache Relationalität identifiziert werden, die sich insbesondere am Sehen zeigt: Die Simultaneität von Objekten in einem visuellen Feld und Relation dieser Objekte auf einen Betrachter. Allerdings ist Kants Idee von Perspektivität nicht in den Eigenschaften eines rein optischen Sehens, sondern in der Verknüpfung der visuellen mit einer motorischen und taktilen Dimension fundiert. Es geht in der Theorie der Anschauungsform nicht um projektive Eigenschaften des optischen Sehens, sondern indexikalische Richtungs- und Lagebeziehungen (II.3.1). In einem zweiten Schritt wird erneut Kants Argumentation gegen Leibniz’ intellektuelles System der Welt betrachtet, diesmal spezifisch mit Blick auf dessen reduktionistische Ontologie (II.3.2). Kants Argumentation lässt sich als Suche nach einem Identitätsprinzip für die Welt der Erscheinung rekon­struieren. Seine Kritik richtet sich erstens gegen die Idee der universalen Geltung des prädikatenlogischen Identitätsprinzips, dem er die eigenen, relationalen Unterschiede des Raums gegenüberstellt. Zweitens richtet sie sich gegen die leibnizsche Konzeption des Stellenraums, in der zwar die relationale Ordnungsstruktur des Raums, nicht aber der perspektivische Bezug auf den Betrachter anerkannt ist (II.3.2.1). Den Fluchtpunkt dieser Kritik bildet das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke, an dem die Insuffizienz des Stellenraums durch reductio ad absurdum deutlich gemacht werden kann. Als alternatives Identitätsprinzip identifiziert Kant das Körperschema und Körpergefühl des Menschen, in denen die Fähigkeit zur Unterscheidung



Die Anschauungsform

von rechts und links fundiert ist (II.3.2.2). Diese Entdeckung des subjektiven Körpergefühls als transzendentaler und zugleich begrifflich nicht einholbarer Bedingung unseres Weltbezugs ist für Kant ein ›Paradoxon‹ und Ausdruck einer Krise des propositionalen Urteils. Diese begriffliche Uneinholbarkeit wurde von späteren Interpreten bezweifelt. In der Zurückweisung eines einschlägigen Widerlegungsversuchs soll gezeigt werden, dass die noch heute gültige Pointe der kantischen Auffassung in der Nichteliminierbarkeit indexikalischer, singulärer Termini besteht: Was rechts oder links ist, lässt sich nicht propositional sagen, sondern nur indexikalisch oder gestisch zeigen (II.3.3). Hieran anschließend wird argumentiert, dass die Anschauung für Kant auch, zumindest potenziell, eine soziale Logik hat. Als verallgemeinerbare Urteile auf Basis eines Gefühls sind die indexikalischen Urteile Vorläufer jener ästhetischen Urteile, die Kant in der KU analysiert. Die dortigen Über­legungen zum sensus communis und einer sozialen Logik des Per­ spektivenwechsels zeigen, wie eine soziale Dimension von Kants Theorie der Anschauungsform gedacht werden kann (II.3.4). Abschließend wird der Weg skizziert, der von der Anschauungsform zum geometrischen Wissen führt. Die Orientierung im Anschauungsraum und das Operieren im Diagramm teilen dieselbe relationale Logik. Zugleich gibt es aber einen Hiatus: Das diagrammatische Operieren kann nicht als unmittelbare Abbildung von oder Abstraktion aus Relationen des Anschauungsraums verstanden werden, sondern als deren Reflexionsform (II.3.5).

3.1 Verkörperte Perspektivität in der transzendentalen Ästhetik

Kernthese der transzendentalen Ästhetik ist die Behauptung der »transzen­ dentale[n] Idealität« (KrV B 44) von Raum und Zeit. Diese These besagt grob gesprochen Folgendes: Unsere durch Wahrnehmung gestiftete Beziehung zur Welt lässt sich aufteilen in (i) Rezeptivität und Materie und (ii) Raum und Zeit als Formen dieser Rezeptivität. Wesentlich ist dabei, dass raumzeitliche Eigenschaften nicht reale Eigenschaften der Dinge selbst sind, sondern zu unserer Perspektive als sinnlicher Wesen gehören. Sie sollen also »eine subjektive Beschaffenheit der Sinne« (KrV B 59) sein, bzw. etwas, das »bloß im Subjekte« seinen »Sitz hat« (KrV B 41). Es gilt, »daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei« und »verschwinden« würde, wenn das wahrnehmende Subjekt wegfällt (KrV B 59). Dinge an sich, die außerhalb einer derartigen Relation zu uns stehen, sind uns unzugänglich. Dieses Theorem, das Kant noch im Opus Postumum als ›Schlüssel der Trans­

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zendentalphilosophie‹ bezeichnet104, gilt oft als Paradebeispiel einer philosophischen Theorie der verkehrten Welt. So spricht Strawson von den »doktrinalen Träumereien des transzendentalen Idealismus«.105 Wiesing wirft Kant vor, er verwende den Erscheinungsbegriff deflationär als »Gegenbegriff zu Begriffen wie das Wesentliche, das Eigentliche und das wirklich Seiende«.106 Ebenfalls verbreitet ist die Ansicht, dass Kant eine internalistische, subjektivistische oder mentalistische Auffassung im Stile Berkeleys vertrete.107 Einem solchen »sensationism«108 bzw. der »empiristische[n] Lesart Kants«109 zufolge gäbe es eine Art chaotischen Datenstrom von Sinnesempfindungen (das ›Mannigfaltige‹), der durch innermentale Formen geordnet werden muss. Die Rede von einer »Brille« (Wölfflin)110 oder »grünen Gläsern« (Kleist)111 deutet Anschauungsformen als entstellenden und verzerrenden Zwang. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwiefern die Theorie der Anschauungsform nicht internalistisch-mental und individuell-subjektiv zu deuten ist, sondern externalistisch-körperbezogen und überindividuell-sozial. Es soll also gegen das Vorurteil von Mentalismus und Subjektivismus gezeigt werden, dass sich Kants transzendentale Ästhetik als Theorien einer verkörperten und sozial vermittelten Subjekt-Objekt-Beziehung lesen lässt. Die philosophische Relevanz des Körpers wurde bei Kant häufig allein in der Anthropologie lokalisiert, und damit außerhalb der Transzendentalphilosophie. Darauf, dass der Körper für Kant auch eine entscheidende transzendentale Rolle spielt, haben zuletzt insbesondere Hanna, Nuzzo und Ruckgaber 104

Siehe Ruckgaber 2009. Strawson 1981, 44. 106 Wiesing 2013, 33. Dies werde erst durch Heideggers Phänomenbegriff überwunden. 107 Zu der Ansicht, dass das Festhalten an der Idee von Dingen an sich in einen solchen Subjektivismus führe: Strawson 1981, 44. 108 Vgl. Ruckgaber 2009, 166, der sich mit dieser Begriffsprägung wiederum auf Westphal bezieht. Ruckgaber unterscheidet dann noch eine konstruktivistische Variante (etwa bei Béatrice Longuenesse) und eine empiristische Variante (etwa Falkenstein und Allison). Die Zurückweisung dieser mentalistischen Auffassung findet sich bereits in der sogenannten Widerlegung des Idealismus der B-Auflage der KrV; vgl. ebd. 168 ff. Zu einer Kritik an der Sinnesdaten-Konzeption vgl. auch Pape 1997, 58. 109 Stekeler-Weithofer, Pirmin (2010): »Die soziale Logik der Anschauung«, in: Guido Kreis; Joachim Bromand (Hg.): Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissen­ schaft, Kunst und Religion, Berlin: Akademie, 235–256, 249 f. 110 Wölfflins Beispiel sind die Wahrnehmungsverzerrungen eines Betrunkenen. Vgl. Wiesing 2008, 122. 111 Kleists pessimistische Deutung im Brief an Wilhelmine von Zenge: »Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.« Kleist, Heinrich von (1997): Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Briefe 1793–1811, Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 205. 105



Die Anschauungsform

hingewiesen, die somit auch als Vertreter*innen einer verkörperungstheoretischen Lesart Kants bezeichnet werden können.112 Zentral für diese Einsicht sind die Überlegungen Kants zur Rolle von Körperschema und Körpergefühl im Umgang mit sogenannten inkongruenten Gegenstücken und bei der Orientierung im Raum. An diesen wird zunächst deutlich, dass die Raumerfahrung bei Kant nicht als innermentaler Mechanismus, sondern externalistisch gedacht wird.113 Ruckgaber und Nuzzo zeigen darüber hinaus, dass es genau diese Überlegungen zur unverzichtbaren epistemischen Rolle des Körpers sind, die gleichermaßen zur Idee des transzendentalen Idealismus wie zur Idee eines nichtempirischen Anteils unserer Sinnlichkeit führen.114 Hierbei ist es eine entscheidende Entdeckung Kants, dass der Körper nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt des Denkens ist.115 Die daraus resultierende Idee einer in der menschlichen Körperlichkeit lokalisierten nichtempirischen Sinnlichkeit stellt nicht nur den begrifflichen Monismus des intellektuellen Systems der Welt in Frage, indem sie eine neue Art nichtbegrifflicher Prinzipien einführt. Sie sprengt zugleich den Dualismus von spontanem Begriff und empirischer Sinnlichkeit, der für Kants Modell des diskursiven Verstan112 Hanna 2001, Nuzzo 2008, Ruckgaber 2009. Mit diesem Hinweis auf die zentrale epistemologische Rolle des Körpers bei Kant kann auch der Kantkritik aus der Verkörperungstheorie begegnet werden. Krois etwa will die internalistische Fokussierung Kants auf die »Bewusstseinseinheit des ›Ich denke‹ in der Apperzeption« durch die Idee einer »Einheit in der körperlichen Propriozeption« überwinden, die »im kontinuierlichen Erfassen des Körpers als ambulanten Standpunkt im Raum« bestehe. Weiter: »Dieser Zusammenhang ist kein gedanklicher, er betrifft die kontinuierliche Form der Körperhaltung und der Bewegungen in Raum und Zeit.« Krois 2012, 96. Hiergegen kann gezeigt werden, dass Kant neben der Apperzeption als innerlich-zeitlicher Bewusstseinseinheit auch eine Theorie des raumbezogenen Körpergefühls entwickelt, wie es seinerseits zentrales Thema der Verkörperungstheorie Krois’ ist. 113 Neben den Überlegungen zur Inkongruenz bringt dies vor allem die sogenannte Widerlegung des Idealismus (KrV B 274 ff.) zum Ausdruck, die Kant der B-Ausgabe der KrV hinzugefügt hat. Dort heißt es, »daß wir, um die Möglichkeit der Dinge, zu Folge der Kategorien zu verstehen, und also die objektive Realität der letzteren darzutun, nicht bloß Anschauungen, sogar immer äußere Anschauungen bedürfen.« (KrV B 291) Heidegger stellt fest, dass hier »die transzendentale Funktion des Raumes zum Vorschein« komme: »Der Raum geht mit in den reinen Schematismus ein.« Heidegger 1951, 199. Ruckgaber meint mit Bezug auf die Revisionen in der B-Version, dass nicht der empirische Bewusstseinsfluss, sondern die Fähigkeit der Selbst-Bewegung, d. h. einen ›Raum zu beschreiben‹ erst das Nacheinander hervorbringen. Ruckgaber 2009, 180. Siehe dazu ebenfalls Krämer 2016, 221 f. 114 »I take a priori intuition to be the bodily grasp on the field of possible spatio-temporal relations that we have by virtue of our being an embodied creature.« Ruckgaber 2010, 173; Nuzzo 2009, 35. 115 Ebd. 38.

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des gilt, und erweist sich auch hier als Paradoxie, die es nötig macht, eine dritte epistemische Dimension einzuführen. Kants Ausgangspunkt ist hierbei erneut die Kritik an der leibnizschen Metaphysik. Deren Antworten bleiben für Kant mit Blick auf eine zentrale Frage seiner theoretischen Philosophie ungenügend. Dies ist die Frage nach dem Verhältnis des Subjekts zur Welt, oder, informell gesprochen: Wie kommt das Subjekt zu seinem Objekt? ›Erscheinung‹ bezeichnet bei Kant nicht mehr deflationär das verworrene Abbild einer metaphysischen Ordnung der Sub­ stanzen,116 sondern die Unhintergehbarkeit des perspektivischen Weltbezugs endlicher Wesen. Daher müssen an Stelle der alten ontologischen Prinzipien, die nur für intellektuelle Substanzen gelten, neue Prinzipien gefunden werden, die die irreduzible Struktur der Welt als Erscheinung erfassen. Der erwähnten epistemologischen Grundfrage der KrV (Wie kommt das Subjekt zu seinem Objekt ? ) entspricht als zentrales Problem der Theorie der Anschauungsform die Suche nach einem Identitätsprinzip für Gegenstände der Anschauung:117 Wie können Gegenstände in der Welt der Erscheinung als individuiert und unter­ schieden gedacht werden ? Wie zentral diese Frage für Kant ist und dass er sie mit einer Theorie der Indexikalität beantwortet, erkennt auch Hegel, der bemerkt: »[D]ie Erfahrung, Betrachtung der Welt heißt bei Kant nie was anderes, als daß hier ein Leuchter steht, hier eine Tabaksdose.«118 Bei Kant hat diese Frage aber auch ein Gegenstück, in dem sich diese Frage gleichsam 116 Auch nicht, wie hinzuzufügen ist, im Locke’schen Sinne als Inbegriff bloß subjektiver sekundärer Qualitäten. Vgl. KrV B 62 f. 117 Hierin liegt eine Beziehung zu Papes Projekt einer visuellen Ontologie, die ebenfalls die Frage nach einem Identitätsprinzip in den Vordergrund stellt. Der Unterschied besteht darin, dass Pape von der nichteuklidischen projektiven Geometrie ausgeht, weil das menschliche Auge als Hohlkugel den Bezugspunkt bildet. Kants Idee der Euklidizität verwendet hingegen das dreidimensionale Bewegungsschema des Körpers als Bezugspunkt. Zur Grundlage seiner visuellen Ontologie macht Pape »die invariante visuelle Eigenschaft der perspektivischen Proportionalität«. Pape 1997, 16. Kant kommt für Papes Projekt, das dezidiert eine neue Ontologie anstrebt, offenkundig deshalb nicht in Betracht, weil er glaube »Ontologie durch Erkenntnistheorie austauschen zu können« (ebd. 15), sowie weil dieser nicht ganz vom ontologischen Physikalismus verschont geblieben sei (ebd. 16). Ruckgaber will Kant mehr ontologisch denn epistemologisch lesen. Ruckgaber 2009, 173. 118 Hegel, VGPh III 352. Dies steht im Kontext des Vorwurfs, Kant habe damit nicht den Schritt zum Unendlichen, d. h. zum sich selbst erkennenden Geist vollzogen. Vgl. hierzu auch Stekeler-Weithofers Feststellung, zentrale Aufgabe der transzendentalen Ästhetik sei es, Aussagen zu erklären wie: »dass links da drüben ein Stuhl ist«. StekelerWeithofer 2008, 47. Dazu, dass »the fundamental feature of Kantian syntheticity and intuition alike […] their essential indexicality« ist, Hanna 2001, 232. Zu Identitätsprinzip und ästhetischem Denken vgl. Mersch, Dieter (2014a): »Nicht-Propositionalität und ästhetisches Denken«, in: Florian Dombois; Mira Fliescher; Dieter Mersch; Julia Rintz



Die Anschauungsform

umgekehrt stellt: Wie kann das Subjekt seine eigene Position innerhalb einer Objektwelt bestimmen ?119 Die Antwort auf diese Fragen kann für Kant nicht eine Logik der Substanz, sondern nur eine Logik der Relation geben.120 Die Theorie des Raums als Anschauungsform gibt dieses Individuationsprinzip in Gestalt von Raumrelationen (vorne, hinten, oben, unten etc.), so wie die hier ausgesparte Theorie der Zeit von Zeitrelationen (früher, später etc.) handelt. Bevor die Argumentation zu Leibniz genauer betrachtet wird, soll skizziert werden, wie Kant diese Raumrelationen denkt, und zwar mit Blick auf drei Dimensionen unserer verkörperten Welterfahrung: Visualität, Motorik und Taktilität.121 Zentral ist für Kant zunächst, dass immer zwei Arten von Relationen eine Rolle spielen. Diese Eigenschaft des Raums lässt sich am besten an unserer visuellen Erfahrung verdeutlichen: Im Sehen begegnet uns erstens ein Objekt stets als Teil eines visuellen Feldes, in dem es simultan in Relationen zu anderen Objekten steht.122 Und zweitens ist das Objekt wie auch das visuelle Feld im Ganzen immer in perspektivischer Relation auf einen Beobachter orientiert.123 Mit John Berger: »We never look at just one thing; we are always looking at the relation between things and ourselves.«124 Diese doppelte Relationalität ist zum einen die Pointe von Kants frühen Überlegungen zu inkongruenten Gegenstücken und Gerichtetheit. Zum anderen finden (Hg.): Ästhetisches Denken. Nicht-Propositionalität, Episteme, Kunst, Zürich: Diaphanes, 28–55, 31. 119 Zur Rolle der Orientierung bei Kant vgl. Krämer 2016, 201 ff. Zum kartographischen Impuls allgemein vgl. ebd. 17 f. Vgl. allgemein zu dieser Problematik auch Pape 1997, 64. 120 Zur Logik der Anschauung als Logik der Relationalität vgl. Kants Bemerkung, »daß alles, was in unserem Erkenntnis zur Anschauung gehört […] nichts als bloße Verhältnisse enthalte, der Örter in einer Anschauung (Ausdehnung), Veränderung der Örter (Bewegung), und Gesetze, nach denen diese Veränderung bestimmt wird (bewegende Kräfte).« KrV B 66 f. 121 An dieser Stelle müsste aus kantimmanenter Sicht genauer das Verhältnis Raumtheorie der KrV zur Theorie der Sinne in der Anthropologie diskutiert werden, was hier nicht geschehen kann. Hier geht es darum, zu zeigen, welche Phänomenbereiche den grundlegenden Problemen der kantischen Raumtheorie zugeordnet werden können. 122 Dabei geht es um »die Differenzierung von visuellen Objekten in einem kontinuierlich sichtbaren, strukturierten visuellen Feld«. Pape 1997, 39; »Der Gesichtssinn ist der leitende Sinn für die Lokalisierung und Re-Identifizierung von Objekten und das Modell ihrer Individuation als Einzeldinge. Nur durch den Gesichtssinn können wir Objekte gleichzeitig und unmittelbar in, neben, hinter und nacheinander in einem Zusammenhang geordnet und so als durch ihre Position individuiert erfassen.« Ebd. 41. 123 Vgl. auch analog die Unterscheidung zwischen ›intrinsischer Ausrichtung‹ und ›extrinsischer Orientierung‹ bei Krämer. Krämer 2016, 61. 124 Berger 2008, 9.

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wir sie – wie Ruckgaber feststellt125 – im ersten Raumargument der transzendentalen Ästhetik wieder, insofern der Raum als Anschauungsform die Dinge einerseits als »außer und neben einander« präsentiert, andererseits an einem »andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde«.126 Kant hat damit, wie Ruckgaber überzeugend zeigt, jene Figur-Grund-Unterscheidung im Visier, wie sie etwa auch Merleau-Ponty als Fundament jeder Wahrnehmung begreift.127 Wie wir sehen werden, gelangt Kant dorthin mit der Einsicht, dass es nie ausreicht, intrinsische Relationen einer Figur zu erkennen, sondern stets auch eine extrinsische Beziehung zu einem Grund nötig ist. Diesen ›ersten Grund des Unterschieds der Gegenden im Raume‹ bildet – wie gleich ausführlicher gezeigt werden soll – das vom Körperschema strukturierte Sicht- und Bewegungsfeld des Menschen. Weiter ist die Raumerfahrung für Kant – wie seine Überlegungen zur Orientierung im Raum zeigen – zunächst immer die eines beweglichen Körpers (eines »ambulanten Standpunkt[s] im Raum«, wie Krois es nennt)128, d. h. mit Motorik verbunden.129 Erst aus der Beweglichkeit des Standpunkts ergibt sich das Problem des Perspektivenwechsels, und dieser hatte ja gerade die visuelle Erfahrung für eine rationalistische Metaphysik stets verdächtig gemacht. Insofern sich das Sichtbare anders verhält, als es im Kontext traditioneller Metaphysik von Substanzen erwartet wird, wird es aus der Sphäre wirk­ lichen Seins ausgeschlossen.130 Dass Kant die Raumerfahrung essentiell mit 125 Mit Ruckgaber kann es entsprechend als »essentially an abbreviated form of the argument from incongruence« bezeichnet werden. Er weist damit die Ansicht Strawsons zurück, es handle sich bloß um eine Tautologie. Ruckgaber 2009, 176. 126 Vollständig lautet dieses Argument: »Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden. Denn damit gewissen Empfindungen auf etwas außer mich bezogen werden (d. i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. Demnach kann die Vorstellung des Raumes nicht aus den Verhältnissen der äußern Erscheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich.« KrV B 38. 127 Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter, 22. Merleau-Ponty kommt zu diesem Punkt allerdings von der anderen Seite. Nicht durch die Kritik am Rationalismus wie Kant, sondern – wie auch Hegel in seiner Kritik der sinnlichen Gewissheit – durch eine Kritik an der empiristischen Kategorie der Impression. 128 Krois 2012, 96. Vgl. Fußnote 113 oben. 129 Vgl. dazu, dass der Körper in Kants Raummodell immer schon mitgedacht ist, Ruckgaber 2009, 173. Zum Zusammenhang von Sehen und Bewegung auch: Pape 1997, 27 ff. 130 Vgl. etwa zu Descartes’ Kritik der visuellen Gestalt der Sonne: Pape 1997, 34 ff. Das Fazit: »Die visuellen Formen, Gestalten und Bilder der Gegenstände sind für den klassi-



Die Anschauungsform

der Bewegungsfähigkeit des Körpers verbindet, ist auch der Punkt, in dem sich seine transzendentale Theorie der Erscheinung von der bloßen Verwendung visueller Metaphern unterscheidet. Es handelt sich um jenen Unterschied, der auch das verkörperte Sehen im phänomenalen Sinne von einem ›Sehen‹ unterscheidet, wie es – so Pape – etwa in der leibnizschen Monadologie den körperlosen Monaden zukommen soll.131 Kants Konzept der Anschauungsform beschreibt insofern – so die These – im Gegensatz zur rationalistischen Metaphysik den Raum so, wie wir ihn wirklich als verkörperte und daher bewegungsfähige Wesen erleben.132 Wenn bisher festgestellt wurde, dass Kants Theorie der Raumerfahrung mit den Prämissen einer verkörperten, visuellen und motorischen Welterfahrung konsistent ist, müssen doch noch zwei Dimensionen einer solchen Erfahrung differenziert werden. In diesem Sinne kritisiert Stekeler-Weithofer etwa die Kantkritiker Reichenbach, Carnap und Grünbaum, die den kantischen Anschauungsraum als einen »optische[n] Sehraum« missverstanden hätten. ›Anschauung‹ stünde bei Kant stattdessen für »jeden präsentischperzeptiven Dingbezug, wie er konkret durch unseren praktischen Umgang mit formbaren Körpern strukturiert ist.«133 Auch Wiesing stellt fest, dass es Kant nicht um die Visualität eines reinen Sehens geht: Im Gegensatz etwa zu Fiedlers Ansatz ›reiner Sichtbarkeit‹ sei es das Ziel von Kants transzendentaler Ästhetik, »die Berechenbarkeit der natürlichen Welt [zu] erklären und nicht eine emanzipierte Anschauung phänomenologisch [zu] beschreiben«134. schen Ontologen synonym mit dem Scheinbaren, dem, was zu dem nicht-ontologischen, rein erfahrungsabhängigen Bereich gehört, der aus der ontologisch zu bestimmenden Wirklichkeit ausgegrenzt werden muß.« Pape 1997, 36. 131 Es kann allerdings – wie dies etwa Bredekamp tut – argumentiert werden, dass die Monaden nicht körperlos sind, ein iconic turn avant la lettre bereits bei Leibniz stattgefunden hat. Mit seiner These von der Monadologie als einer Ontologie des Unsichtbaren, die lediglich auf einer optischen Metapher beruht, widerspricht Pape einer solchen Haltung (vgl. Pape 1997, 139 ff.). Dafür, dass das ›Sehen‹ der Monaden mit realem Sehen nichts zu tun hat, würde sprechen, dass das Problem der Orientierung eines beweglichen Leibes dort keinen sinnvollen Platz hat. Es wäre entsprechend kein Zufall, dass die visuelle Thematik der Monadologie vor allem Medientheorien inspiriert hat, die es mit einem künstlich stillgestellten Körper, etwa im Kino, zu tun haben. Diese Frage muss hier allerdings offen bleiben, weil sie außerhalb des Rahmens dieser Studie fällt. 132 Diese Überlegungen zur Bewegung ließen sich zu der Frage weiterführen, ob  – wie Hegel vermerkt – nicht auch bei Kant Raum und Zeit bloß als gleichursprüngliche Ab­straktionen aus der Bewegung verstanden werden müssten. Vgl. hierzu Stekeler-Weithofer 2010, 237. Eine zentrale Rolle käme dabei dem Bild des Linienzugs zu. Vgl. zur Auszeichnung von Bewegung »als Beschreibung eines Raumes« etwa KrV B 155 Fußnote. 133 Stekeler-Weithofer 2008, 29. 134 Wiesing 2008, 139.

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Beide Bemerkungen lassen sich auf dieselbe Unterscheidung zurückführen. Kant geht es nicht um ein Modell des rein optischen Sehens, sondern um ein Modell taktiler Operativität, in der die Leistung des Visuellen auf Fähigkeiten wie Synopsis beschränkt ist.135 Unterschieden werden muss also eine visuelle Logik der projektiven Geometrie und eine taktile Logik der euklidischen Geometrie.136 In diesem Sinne hat bereits Thomas Reid visuelle Phänomene (zweidimensional-nichteuklidisch) von tastbaren Phänomenen (dreidimensional-euklidisch) unterschieden.137 Im ersten Fall ist der entscheidende Bezugspunkt die sphärische Hohlform des Augapfels bzw. der Retina, der zu einer nichteuklidischen, projektiven Geometrie des Sehens führt. Diese macht etwa Pape zur Grundlage seiner visuellen Ontologie.138 Im zweiten Fall, bei Kant nämlich, ist der entscheidende Bezugspunkt das Körperschema mit seinen drei Achsen, das zur Grundlage einer euklidischen Beschreibung der Welt wird.139 Im Zen­ trum einer Theorie des Perspektivenwechsels stehen dabei im ersten Fall projektive Eigenschaften, nach denen die sichtbaren Dinge sich in spezifischer Weise verzerren (etwas erscheint einmal als Kreis, einmal als Ellipse)140. Bei Kant sind dies hingegen indexikalische Richtungs- und Lagebeziehungen wie rechts, links, oben, unten etc.141 Diese Debatte um die Euklidizität des Raums als Anschauungsform kann hier in ihrer Vielgestaltigkeit nicht wei135 Vgl. ebenfalls Krämer zur »Räumlichkeit epistemischer Aktion«: »Verknüpft ist diese Rolle mit der Visualität, doch sie geht in der Sichtbarkeit gerade nicht auf; vielmehr werden Bewegungsmöglichkeiten gestiftet.« Krämer 2016, 16. 136 Vgl. zum Folgenden Beck 2023. 137 Vgl. Hagar 2008, 92. Ein Beispiel: Wenn wir zu einer rechteckigen Zimmerdecke hochblicken, werden deren Winkel zusammen mehr als 360° haben. Wenn wir allerdings das Zimmer ausmessen, einen Plan des Zimmers zeichnen etc., wird dieses euklidisch sein. Wir haben es dann nicht mehr mit dem Sehen, sondern auch mit tastbaren Verhältnissen stabiler Körper zu tun. Zu denken ist hier auch an Humes Reflexion über den Tisch, der im Herumgehen das Aussehen verändere, seine Form aber behalten müsse, die den Empirismus Humes letztlich in den Skeptizismus führt. 138 Ebenfalls mit Thomas Reid als zentralem Kronzeugen. Vgl. Pape 1997, insbesondere Kapitel 5, 291 ff. 139 Vgl. Krämer, die darauf hinweist, dass der Matrix des Körperschemas »die physikalische Möglichkeit entspricht, einen materiellen Körper durch drei Achsen so zu schneiden, dass diese senkrecht zueinander stehen.« Krämer 2016, 201. 140 Vgl. Pape 1997, 45. 141 Zu Indexikalität als fundamentaler Eigenschaft von Kants Anschauungsbegriff vgl. Hanna 2001, 232. Papes visuelle Ontologie betrachtet projektive Eigenschaften von Formen, schließt aber zugleich Eigenschaften aus, wie etwa »die Farbe, die Helligkeit, der Glanz, die Form und der Schatten eines visuellen Gegenstandes«, die sich verändern können, »ohne daß wir deshalb sagen müssen, daß das visuelle Objekt selbst schon ein anderer Gegenstand geworden ist.« Pape 1997, 69.



Die Anschauungsform

ter diskutiert werden.142 Angedeutet werden soll allerdings, dass der scharfen Kantkritik in diesem Zusammenhang möglicherweise eine zu starre und metaphysische Deutung von Kants Idee des a priori zugrunde liegt: Dieser Deutung zufolge würde Kant behaupten, der Raum müsse immer und überall euklidisch sein. So ergibt die Debatte um die Euklidizität des Anschauungsraums etwa für Helmholtz nur dann Sinn, wenn ›Anschaubarkeit‹ bedeute: »unter allen denkbaren Bedingungen«. Definiere man stattdessen »als räumlich anschaulich gilt nur, wovon ich ein Modell thatsächlich mit wirklichen Körpern ausführen lassen kann«, so wäre die Frage der Apriorizität der eukli­ dischen Geometrie »müßig«.143 Durch die explizite Wahl eines bestimmten Modells werde die These von der Euklidizität dann zur bloßen Setzung. Dem wäre eine Interpretation von Kants a priori entgegenzuhalten, wonach dieses nicht im rationalistischen Sinne eines ›immer und überall‹ verstanden wird, sondern mit Bezug auf einen bestimmten pragmatischen Horizont, nämlich den des praktischen Objektbezugs im lokalen Anschauungsraum.144 In diesem Sinne soll im Folgenden betrachtet werden, wie Kant seine Raumauffassung aus einem bestimmten Problem (der Suche nach einem Identitätsprinzip) bzw. Szenario (der Unterscheidung räumlicher Gegenstände bzw. der Orientierung im Raum) entwickelt. Zwei Bemerkungen seien hier noch angefügt: Dass sich Kants Anschauungsbegriff nicht am optischen Sehen ausrichtet, bedeutet erstens nicht, dass er  – wie etwa Wiesing in Analogie zu Merleau-Pontys Descarteskritik behauptet – das Sehen auf Tasten zurückführt.145 Stattdessen scheinen beides, Auge und Hand, gleichermaßen darin einzugehen, insofern die zu Beginn beschriebene doppelte Relationalität des Weltbezugs nicht durch Tasten allein substituiert werden kann, sondern die Simultaneität oder Synopsis des Sehens voraussetzt.146 Die Erfassung des räumlichen Zugleichseins der Dinge setzt für Kant im empirischen Kontext stets die dynamische (physi142

Vgl. hierzu erneut Beck 2023. Helmholtz, Hermann von (1968): Über Geometrie, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 67. Siehe dazu Schirn, Matthias (1991): »Kant Theory on Geometrical Knowledge and Non-Euclidean Geometry«, Kant-Studien 82, 1–28, 23. 144 »Die Form der Anschauung als praktische Form dieses Umgangs bildet neben allen sprachlichen Repräsentationen eine wesentliche Grundlage für jeden realen Objektbezug.« Stekeler-Weithofer 2008, 29. 145 Wiesing 2008, 139 f. Vgl. zum Verhältnis von Sehen und Tasten bei Descartes und Berkeley auch Houlgate, Stephen (1993): »Vision, Reflection, Openness: The ›Hegemony of Vision‹ from an Hegelian Point of View«, in: David Michael Kleinberg-Levin (Hg.): Moder­ nity and the Hegemony of Vision, Berkeley: University of California Press, 87–123. 146 Zur entscheidenden Rolle von Simultaneität und Synopsis im Kontext des Diagrammatischen vgl. Krämer 2016, 62. 143

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kalische) Wechselwirkung zwischen Welt, Auge und Licht voraus.147 Gerade Kants Beispiele zur tastenden Orientierung in einem dunklen Raum zeigen, dass die Fähigkeit des Sehsinns, mehr als einen Gegenstand gleichzeitig zu erfassen, dort durch das Gedächtnis substituiert werden muss (indem das Tasten mir immer nur den Bezug zu einem Objekt gibt, ich die Relation der anderen Objekte dazu mittels Erinnerung bestimmen muss). Eine solche Position vertritt auch John Berger: »Close your eyes, move round the room and notice how the faculty of touch is like a static, limited form of sight.«148 Und zweitens: Eine am optischen Sehen ausgerichtete visuelle Ontologie (wie bei Reid und Pape) und eine an visuell-taktilen Erfahrungen ausgerichtete Theorie der Anschauungsform (bei Kant) sollten nicht als konkurrierende, sondern komplementäre Modelle betrachtet werden, insofern sie verschiedene Erfahrungsdimensionen extrapolieren.149 Hierbei haben sie einen gemeinsamen Gegner: jenen ontologischen Reduktionismus, der sich einerseits in Leibniz und seiner ›Ontologie des Unsichtbaren‹ (Pape) findet, andererseits in den reduktionistischen Programmen der analytischen Philosophie, von Autoren wie Moore, Russell, Carnap, Quine und Sellars. All diesen Programmen ist gemeinsam, dass sie die Subjektzentriertheit und Kontextbezogenheit unseres Weltbezugs zugunsten von rein internen und logischen Beschreibungen eliminieren wollen.150 Den perspektivischen und indexikalischen Weltbezug des Menschen gegen eine solche Theorie geltend zu machen, ist auch der Kern von Kants Kritik an Leibniz, wie nun gezeigt werden soll. An die Stelle einer dogmatisch vorausgesetzten Isomorphie zwischen einer 147 Die Wechselwirkung von Gegenständen, Licht und Auge ist »eine[] dynamische[] Gemeinschaft, ohne welche selbst die lokale (communio spatii) niemals empirisch erkannt werden könnte.« KrV B 260. »Unseren Erfahrungen ist es leicht anzumerken, daß nur die kontinuierlichen Einflüsse in allen Stellen des Raumes unsern Sinn von einem Gegenstande zum andern leiten können, daß das Licht, welches zwischen unserm Auge und den Weltkörpern spielt, eine mittelbare Gemeinschaft zwischen uns und diesen bewirk[t], und dadurch das Zugleichsein der letzteren beweis[t]«. Ebd. 148 Berger 2008, 8 f. 149 Vgl. Hierzu erneut Beck 2023. Dort wird argumentiert, dass hier zwei komplementäre Modelle der Welt vorliegen: ein an der Kugelform unseres Auges ausgerichtete nichteuklidische Welt des Sehens und eine an den drei Achsen des menschliche Körperschemas ausgerichtete euklidische Welt der festen Körper und Richtungsbeziehungen. 150 So etwa Sellars: »If an object is in a strict sense a system of objects, then every property of the object must consist in the fact that its constituents have such and such qualities and stand in such and such relations or, roughly, every property of a system of objects consists of properties of, and relations between, its constituents.« (Sellars zitiert aus Pape 1997, 44 f.) Ein anderes Reduktionsprogramm ist Quines Programm der Elimination singulärer Termini durch Umformung aller kontextabhängigen Aussagen in ›ewige Sätze‹. Vgl. ebd. 59. Vgl. zu den anderen genannten Autoren: Hanna 2001, 233.



Die Anschauungsform

Welt intelligibler Substanzen und einer Logik der Prädikation setzt Kant die transzendentale Verknüpfung zwischen Strukturen der sichtbaren Welt und einer Logik indexikalischen Zeigens.

3.2 Kants Kritik an Leibniz’ intellektuellem System der Welt 3.2.1 Leibniz: Prädikatenlogisches Identitätsprinzip und Stellenraum

Anschauungsformen sind Formen der Individuation von Gegenständen. Diese Funktion von Raum und Zeit als principia individuationis haben etwa auch Kants Nachfolger Schopenhauer oder Nietzsche betont. Kants Argumentation gegen ein reduktionistisches ontologisches Programm und für eine Theorie der subjekt- und körpergebundenen Anschauungsform lässt sich in zwei Schritten rekonstruieren: Die Individuation von Gegenständen der sichtbaren Welt gelingt erstens nicht allein durch das prädikatenlogische Identitätsprinzip. Und zweitens gelingt sie auch nicht durch das System eines subjektunabhängigen Stellenraums. Sie setzt stattdessen einen irreduziblen Bezug auf die verkörperte Perspektive des Menschen voraus.151 Betrachten wir erneut die Kritik am »intellektuelle[n] System der Welt«, das – zumindest in Kants Augen – die leibnizsche Position ist: »Er [Leibniz] verglich alle Dinge bloß durch Begriffe mit einander, und fand, wie natürlich, keine andere Verschiedenheiten, als die, durch welche der Verstand seine reinen Begriffe von einander unterscheidet. Die Bedingungen der sinnlichen Anschauung, die ihre eigene Unterschiede bei sich führen, sahe er nicht für ursprünglich an; denn die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorstellungsart, und kein besonderer Quell der Vorstellungen; Erscheinung war ihm die Vorstellung des Dinges an sich selbst, obgleich von der Erkenntnis durch den Verstand, der logischen Form nach, unterschieden, [/] da nämlich jene, bei ihrem gewöhnlichen Mangel der Zergliederung, eine gewisse Vermischung von Nebenvorstellung in den Begriff des Dinges zieht, die der Verstand davon abzusondern weiß.« (KrV B 237 f.)

Der zentrale Streitpunkt ist hier der »Grundsatz des Nichtzuunterscheidenden« (KrV B 328), wie Leibniz ihn etwa in § 9 der Monadologie formuliert: 151

Insofern die kantische Philosophie zugleich Kritik eines einseitigen Rationalismus und eines einseitigen Empirismus ist (vgl. zu dieser doppelten Stoßrichtung B 327), ließe sich zum Folgenden auch ein Gegenstück in Form einer Kritik am Empirismus entwickeln, wie dies etwa Hegel in seiner Kritik der sinnlichen Gewissheit in der Phänomeno­ logie des Geistes tut.

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»Es gibt niemals in der Natur zwei Seiende, die einander vollkommen gleich wären und bei denen es nicht möglich wäre, einen inneren oder auf einer inneren Bestimmung beruhenden Unterschied zu finden.«152 Dieses Prinzip nimmt neben dem Prinzip vom zureichenden Grund eine zentrale Stellung in der leibnizschen Metaphysik ein.153 Es handelt sich um eine Variante des prädikatenlogischen Identitätsprinzips und besagt: Jeder relevante Unterschied ist ein begrifflich bestimmbarer Unterschied; jedes Ding lässt sich durch monadische Prädikate vollständig individuieren.154 Dies hat eine individualitäts- und differenzphilosophische Pointe: Wir können durch dieses Prinzip antizipieren, dass wir bei den realen Substanzen überall unendlich feine, begrifflich benennbare Unterschiede finden werden, es also nie z. B. zwei ganz gleiche Blätter geben wird.155 Sofern ein solches Prinzip universell gilt, ist kein anderes Prinzip der Individuation nötig. Kant bestreitet nun die Universalität dieses Prinzips, indem er argumentiert, dass es eigentlich nur für Begriffe und formale Denkgegenstände (Dinge an sich) gelten könne, nicht aber für Anschauungen. Die falsche und verzerrende Prämisse, die der Anwendung dieses Prinzips durch Leibniz zugrunde liegt, besagt für ihn: »[W]enn in dem Begriffe von einem Dinge überhaupt eine gewisse Unterscheidung nicht angetroffen wird, so sei sie auch nicht in den Dingen selbst anzutreffen« (KrV B 337). Dies bedeutet: »Leibniz intellek­ tuierte die Erscheinungen« (KrV B327), insofern er glaubte, dass sich die Welt vollständig mittels begrifflicher Unterscheidungen beschreiben ließe. Demgegenüber beharrt Kant darauf, dass »in der Anschauung etwas enthalten [ist] […,] was im bloßen Begriffe von einem Dinge überhaupt gar nicht liegt, […] nämlich, ein Raum« (KrV B 340). Als Beispiel für derartige »eigene Unterschiede« (KrV B 327) der sinnlichen Anschauung nennt er unterschiedliche »Örter« und »entgegengesetzte Richtungen« (KrV B 338). Diese spezifischen Differenzierungs- und Individuierungsformen der Erscheinung unterschei152

Leibniz, Gottfried Wilhelm (1996a): »Monadologie [1714]«, in: ders.; Ernst Cassirer (Hg.): Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Teil 1, Hamburg: Meiner, 603–621, 608. 153 »Die gewaltigen Prinzipien des zureichenden Grundes und der Identität des Ununterscheidbaren geben der Metaphysik eine neue Gestalt, da sie durch sie reale Bedeutung und Beweiskraft gewinnt, während sie früher fast nur aus leeren Worten bestand.« Leibniz, Gottfried Wilhelm (1996b): »Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke«, in: ders.; Ernst Cassirer (Hg.): Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Teil 7, Hamburg: Meiner, 120–241, 146. 154 »Die klassische, strikte Identität ist jene, die auch dem Prinzip der Identität der Substanzen zugrunde liegt. Wie dieses Prinzip zeigt, gehorcht sie dem leibnizschen (prädikatenlogischen) Gesetz der Identität des Ununterscheidbaren: Zwei identische Gegenstände stimmen in allen ihren Prädikaten in allen Kontexten überein.« Pape 1997, 47. 155 Vgl. Höffe, Otfried (1983): Immanuel Kant, München: Beck, 88.



Die Anschauungsform

den sich vom Geltungsbereich des prädikatenlogischen Identitätsprinzips dadurch, dass es sich nicht um Akzidenzien von Substanzen handelt, sondern um Verhältnisse bzw. Relationen, die Kant – wie schon anfangs bemerkt – zweifach denkt: Ein Ding »als bloße Erscheinung« besteht erstens »ganz und gar aus Verhältnissen« und zweitens »besteht [es] selbst in dem bloßen Verhältnisse von etwas überhaupt zu den Sinnen« (KrV B 341).156 Muss für Leibniz‹ Metaphysik jede Differenz auf einem ›inneren‹ Unterschied beruhen, wie er durch ein monadisches Prädikat ausgedrückt werden kann, so ist für Kant das Individuationsprinzip der Anschauung rein relational. An die Stelle intrinsischer, begrifflicher Verschiedenheit tritt hier eine bloß äußerliche, numerische Verschiedenheit.157 Diese »eigene[n] Unterschiede« (KrV B 327) sind aber, wie später noch genauer erörtert wird, epistemisch nicht einfach eliminierbar. Sie bilden unter anderem eine entscheidende Voraussetzung des Verfahrens geometrischer Konstruktion, das von der topologischen Verschiedenheit des qualitativ Gleichen und der quantitativen Gleichheit des Verschiedenen als einer »equality of non-identicals«158 Gebrauch macht. Leibniz’ Fehler besteht dann in Kants Augen darin, diese Register nicht im Sinne des Prinzipiendualismus von Ästhetik und Logik zu trennen, sondern in einem Prinzipienmonismus das Ästhetische auf das Logische reduzieren zu wollen.159 Auch für Kant wäre eine Erkenntnis der Dinge an sich eine rein intellektuelle und metaphysische Erkenntnis, etwa in Form eines 156 Dazu Höffe: »Während nach Leibniz’ Rationalismus alle Individualität restlos von einem unendlich fein differenzierten begrifflichen Inhalt bestimmt wird (z. B. Discours de Métaphysique 8; Bemerkungen zu einem Brief Arnaulds, 14.7.1686), erkennt man nach Kant durch Begriffe zwar Merkmale. Deren auch noch so umfangreiche Aufzählung (ohne Eigennamen) erreicht aber nicht, was allein die raumzeitliche Lokalisierung vermag: die Individuation.« Höffe 1983, 88. 157 Gilt von den Gegenständen rationalen Erkennens der »Grundsatz des Nichtzuunterscheidenden« (KrV B 328), dass nicht zwei Dinge, die sich in allen Eigenschaften gleichen, existieren können, so gilt das für sinnliche Gegenstände nicht, insofern diese bereits durch den Unterschied der physischen Örter, der den inneren Bestimmungen der Gegenstände gegenüber gleichgültig ist, hinreichend individuiert sind: »Allein zwei Kubikfüße sind im Raum dennoch bloß durch ihre Örter unterschieden (numero diversa); diese sind Bedingungen der Anschauung, worin das Objekt dieses Begriffs gegeben wird, die nicht zum Begriffe, aber doch zur ganzen Sinnlichkeit gehören.« KrV B 338. 158 Anderson 2015, 232. Dies wird genauer betrachtet in Kapitel II.5. 159 »Also waren Raum und Zeit [für Leibniz] die intelligibele Form der Verknüpfung der Dinge (Substanzen und ihrer Zustände) an sich selbst. Die Dinge aber waren intelligibele Substanzen (substantiae noumena). Gleichwohl wollte er diese Begriffe für Erscheinungen geltend machen, wie er der Sinnlichkeit keine eigene Art der Anschauung zugestand, sondern alle, selbst die empirische Vorstellung der Gegenstände, im Verstande suchte, und den Sinnen nichts als das verächtliche Geschäfte ließ, die Vorstellungen des ersteren zu verwirren und zu verunstalten.« KrV B 332.

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Räsonnements wie: ›In der Welt sind zusammengesetzte Substanzen. Der Begriff der Zusammensetzung enthält die Vorstellung, dass die Teile dem Ganzen vorausgehen. Also muss die Welt aus einfachen, unteilbaren Sub­ stanzen bestehen‹.160 Im leibnizschen Modell stehen Erkenntnisse dieser Art für eine metaphysische Realität, auf die die sinnlichen Erscheinungsformen und Modelle der Welt letztlich wieder zurückgeführt werden müssen. Es muss de jure möglich sein, die endliche und sinnliche Erkenntnis auf dieses Niveau zu steigern, weil sie von dieser nur logisch – durch ihre Verworrenheit – verschieden ist.161 Kants transzendentalphilosophische Reflexion will diese Register auseinanderhalten, auch deshalb, weil jene theologische Instanz, die die universelle Geltung des logischen Prinzips verbürgen sollte, nicht mehr in Anspruch genommen werden kann.162 Dabei wird zugleich die Erscheinung unhintergehbar und die Dinge an sich – sofern wir diese nicht als bloß formale Denkgegenstände auffassen  – unerkennbar: »Wenn wir diese unsre Anschauung auch zum höchsten Grade der Deutlichkeit bringen könnten, so würden wir dadurch der Beschaffenheit der Gegenstände an sich selbst nicht näher kommen.« (KrV B 60) Der erste Schritt zu einer Theorie der Anschauungsform ist es also, gegenüber der umfassenden Anwendung des prädikatenlogischen Identitätsprinzips die Bedeutung von relationalen Individuierungs- und Differenzierungsformen anzuerkennen. Dies muss aber noch weiter präzisiert werden, insofern hier eine Zwischenposition möglich ist, die zwar Relationen zwischen den Dingen berücksichtigt, nicht aber die Relation des Dings zu einem Beobachter. Diese Position liegt im leibnizschen Konzept des Stellenraums vor. Leibniz lieferte sich mit Clarke (dem Anhänger Newtons) eine Debatte darüber, ob der Raum absolut oder relativ sei. Beiden Positionen gemeinsam ist allerdings die unbestrittene metaphysische Grundannahme der klassischen Ontologie: Nur Substanzen und Akzidenzen sind real, nicht aber Relatio­ nen. Für Newton ist der Raum daher metaphysisch real und absolut, weil er keine Relation ist, sondern Akzidenz Gottes. Leibniz weist die Argumente der Anhänger Newtons zurück und folgert, dass der Raum nicht absolut sein kann, sondern nur aus Relationen besteht. Damit folgt aber automatisch, dass 160

Vgl. etwa MAN A 51. »Das Eigentümliche [/] aber, und von Dingen Unabhängige, was [Raum und Zeit] an sich zu haben scheinen, schrieb er der Verworrenheit dieser Begriffe zu, welche machte, daß dasjenige, was eine bloße Form dynamischer Verhältnisse ist, für eine eigene vor sich bestehende, und vor den Dingen selbst vorhergehende Anschauung gehalten wird.« KrV B 332. 162 »Kant rejects Leibniz’s theological perspective by disavowing his conception of an (infinitary) complete concept as inaccessible to our (necessarily finite) human cognition; and it is for precisely this reason, in Kant’s view, that space must be a pure form of sensible intuition rather than any kind of conceptual representation.« Friedman 2012, 252. 161



Die Anschauungsform

der Raum nicht metaphysisch real sein kann.163 Insofern hat das leibnizsche Erkenntnissubjekt (im Sinne der bereits beschriebenen Dissoziation in zwei Subjekte) zwei Weltbilder. Einerseits kennt es eine reale Welt von Dingen an sich, Substanzen und ihrer Akzidenzen, die rein rational durch die Methode der philosophischen Erkenntnis erkannt werden können. Andererseits eine Welt der Erscheinungen bzw. der »idealen, d. i. bloß möglichen Dinge«, zu denen etwa der Raum als Stellenordnung, aber auch die Materie gehören. Es handelt sich dabei um symbolische Abstraktionen oder Modelle, die Produkte der Einbildungskraft sind und spezifisch zur Endlichkeit des Erkennens gehören.164 Dieser Bereich ist nicht chaotisch, sondern vielmehr eine Sphäre der »gleichsam exakte[n] und beharrliche[n] Träume«.165 Indem er dabei etwa das Mathematische mit Erscheinung und Einbildungskraft verbindet, scheinen hierbei auch wesentliche Punkte von Kants nichtreduktionistischem Erscheinungsbegriff vorbereitet.166 Dennoch bleibt dieser Bereich für Leibniz ontologisch sekundär.167 Das grundlegende Problem des Stellenraumes ist für Kant die Tatsache, dass darin Raumrelationen immer noch »als eine gewisse Ordnung in der Gemeinschaft der Substanzen« (KrV B 331) begriffen würden:168 Der Raum fungiert dabei als eine Art Dublette oder Abstraktion von der ontologischen Substanzordnung, insofern als Raumrelationen nur Relationen zwischen Objekten (bzw. deren Teilen) gelten. Bezogen auf die Frage des Individuations- bzw. Identitätsprinzips würde das bedeuten, dass ein räumliches Objekt vollständig durch die Relationen zu anderen räumlichen Objekten (Lagebeziehungen und Abstände) individuiert wäre. Was hier allerdings übersehen wird, ist die zweite relationale Eigenschaft, die, wie schon oben festgestellt 163 Vgl. Kaulbach, Friedrich (1960): Die Metaphysik des Raumes bei Leibniz und Kant, Köln: Kölner Universitäts-Verlag, 30. Koriako 1999, 113. 164 Kaulbach 1960, 30. 165 Für letztere gilt: »Die Bewegungen und die Zusammenstöße der Körper sind nichts als Erscheinung: aber eine wohl gegründete Erscheinung, welche sich niemals widerspricht. Sie sind gleichsam exakte und beharrliche Träume«. Leibniz’ Briefentwurf an Remond, zitiert aus ebd. 31. 166 Obgleich (der kritische) Kant die Charakterisierung des Raums als ideal von Leibniz übernimmt, beharrt er darauf, dass sein eigener transzendentaler Idealismus zugleich ein empirischer Realismus sein soll. 167 Zu einem ›platonic gap‹ bei Leibniz vgl. Friedman 2012, 251. 168 Damit werden die Anschauungsformen von Raum und Zeit mit der dynamischen Kategorie der Wechselwirkung vermischt. Vgl. auch: »Also waren [für Leibniz, MB] Raum und Zeit die intelligibele Form der Verknüpfung der Dinge (Substanzen und ihrer Zustände) an sich selbst.« KrV B 332. Oder auch »von der Erfahrung abstrahierte, obzwar [/] in der Absonderung verworren vorgestellte Verhältnisse der Erscheinungen (neben oder nach einander)«. KrV B 56 f.

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wurde, für jede räumliche-anschauliche Erfahrung eines Gegenstandes von entscheidender Bedeutung ist: seine singuläre, indexikalische, perspektivische Relation auf den Körper eines Beobachtenden. In der sinnlichen Erfahrung ist der Raum immer auf einen Beobachtenden orientiert, d. h., sie enthält nie nur Objekt-Objekt-Relationen, sondern immer auch Objekt-Subjekt-Relationen.169 Für die Irreduzibilität dieser Art von Relation, die zugleich zentral für die Entdeckung der nichtempirischen Sinnlichkeit ist, argumentiert Kant am berühmten Beispiel der inkongruenten Gegenstücke.

3.2.2 Kant: Körperschema und Körpergefühl als Identitätsprinzip

Das Argument zu den inkongruenten Gegenstücken findet sich erstmals im Essay ›Vom ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume‹ (1768), wo es noch der Sache nach für die newtonsche Raumauffassung vorgebracht wird.170 Zur Begründung des Prinzipiendualismus von Anschauung und Begriff bzw. der These vom transzendentalen Idealismus verwendet Kant es in De mundi (1770), den Prolegomena (1783) und den späten Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786). In der Kritik der reinen Vernunft (in beiden Auflagen 1781 und 1787) gibt es lediglich einen knappen Hinweis im Rahmen der Leibnizkritik in der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, die nicht nur Unterschiede der »Örter«, sondern auch »entgegengesetzte Richtungen« (KrV B 338) nennt. Dies, sowie die konstante Verwendung dieses Arguments bis mindestens 1786 widerspricht der Einschätzung Koriakos, dass das Argument in der KrV fehle, weil Kant dessen Unsinnigkeit inzwischen eingesehen habe.171 Dies widerspricht aber auch der Ansicht Kaulbachs, der diesen frühen Text als eine Art phänomenologische Episode der kantischen Philosophie betrachtet, deren Entdeckungen in der KrV zum Teil wieder zurückgenommen werden.172 Für die Auslegungsgeschichte kann sein Fehlen in der 169 Vgl. oben, sowie z. B. Pape 1997, 45: »Die visuellen Eigenschaften eines Gegenstandes in unserer Erfahrung sind das Produkt der Beziehung zwischen dem sichtbaren Objekt und dem Blickfeld und Blickpunkt des Sehenden. Das Objekt hat deshalb visuelle Eigenschaften, die nicht auf Eigenschaften des Objekts, unabhängig von dieser Relation, reduzierbar sind.« 170 Vgl. zu diesem Argument im Kontext von Kants Philosophie generell Ruckgaber 2009. Zur Verbindung mit der Frage des Diagrammatischen: Krämer 2016, 200 ff. 171 »In der ersten Kritik werden die inkongruenten Gegenstücke jedoch nicht mehr erwähnt  – ein deutliches Zeichen dafür, daß Kant nach 1770 diesem Argument keine begründende, sondern höchstens eine motivierende Funktion zuweisen wollte.« Koriako 1999, 111. 172 Zentral ist diese These für die klassische Studie Kaulbachs. Vgl. Kaulbach 1960.



Die Anschauungsform

trans­zendentalen Ästhetik aber durchaus als fatal gelten. Denn zum einen wird so die konstitutive Rolle des menschlichen Körpers in der Prinzipienarchitektur der KrV übersehen. Zum anderen fällt ein gewichtiges Argument für Kants These weg, dass es neben formalen Prinzipien des Verstandes auch formale Prinzipien der Sinnlichkeit gibt.173 Denn, wie das schon Hanna und insbesondere Nuzzo und Ruckgaber gezeigt haben, macht die die Argumentation zu den inkongruenten Gegenstücken deutlich, dass Körperschema und Körpergefühl irreduzible und nichtbegriffliche Ressourcen der Transzendentalphilosophie sind.174 In einem ersten Schritt soll nun gezeigt werden, wie die Kritik am intellektuellen System der Welt und am beobachterunabhängigen Stellenraum zur Unverzichtbarkeit des Körpers führt, der als letztes Identitätsprinzip fungiert. Im folgenden Abschnitt zeigt sich dann, inwiefern diese Entdeckung eine klassische Urteils- und Begriffstheorie sprengt, die am Schema der Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine orientiert ist. Dies führt wiederum zu einer interessanten Parallele der Urteile über Richtungen zu den ästhetischen Urteilen aus der KU und der Konzeption des sensus communis als einer Theorie von Perspektivenwechseln. Inwiefern spricht das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke also gegen die Auffassung Leibniz’ ? Die Konzeption des leibnizschen Stellenraums (als abstraktes, ideales Relationengefüge) bietet ein System, das es erlaubt, die räumlichen Eigenschaften eines Dings durch zwei elementare räumliche Eigenschaften zu bestimmen, die dabei als Identitätsprinzipien fungieren. Dies ist zum einen die »Figur eines Körpers«175, d. h. die geometrischen oder stereometrischen Verhältnisse von Punkten, die einen Körper begrenzen. Zum anderen die »Größe der Ausdehnung«176, quantitative Relationen 173 Wie bereits gesagt, lässt sich  – mit Ruckgaber  – das erste Raumargument der KrV zwar als extrem abgekürzte Version des Arguments aus der Inkongruenz begreifen. Explizit bleibt dort aber nur das Argument aus der Geometrie: dass die Apriorität der Geometrie nicht anders zu erklären sei als aus dem subjektiven Charakter der Raumvorstellung. Angesichts der ebenso umstrittenen Geometrietheorie erscheint die Charakterisierung der transzendentalen Anschauungsform als subjektiv dann nur als relativ haltloses ad-hoc-Argument, wie etwa wiederum für Koriako: »Die entscheidende Prämisse der transzendentalen Ästhetik […] wurde durch eine doppelte Dihärese (Verstand/ Sinnlichkeit, Form der Anschauung/Materie der Anschauung) gewonnen, die zu dem Ergebnis führe, daß, was immer als genuines Formelement der Sinnlichkeit zu gelten hat, nicht empirischer, sondern apriorischer und daher subjektiver Herkunft sein muß.« Koriako 1999, 215. Die ›Subjektivität‹ der Raumvorstellung wird demnach aus der geforderten Apriorität, nicht aber aus der Perspektivität der Raumvorstellung gefolgert, was sich als Argument sehr schwer verteidigen lässt. 174 Hanna 2001; Nuzzo 2009; Ruckgaber 2010. 175 Vom ersten Grunde 999. 176 Ebd.

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zwischen derartigen Punkten, d. h. deren Abstände.177 Zusammengenommen verfügen wir also über ein System von Punkten und dessen intrinsische Relationen. Innerhalb eines solchen Systems ist es nicht sinnvoll, zwischen einem ›Raum im Ganzen‹ und darin enthaltenen ›Raumabschnitten‹ zu unterscheiden, insofern sich Räumlichkeit durch derartige Relationen allererst konstituiert. Kant will nun dagegen zeigen, »daß der vollständige Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt nicht lediglich auf dem Verhältnis und [der] Lage seiner Teile gegeneinander beruhe«178. Er identifiziert neben Figur und Größe noch eine dritte elementare Determination des Raums: die ›Gerichtetheit‹ oder ›Orientierung‹, die Figuren und Bewegungen in Relation auf einen bestimmten Beobachter aufweisen. Besonders deutliche Beispiele hierfür sind die Leserichtung der Schrift, die Himmelsrichtungen, der Drehsinn von Haarwirbeln, Hopfen, Bohnen und Schnecken oder Wirbelwinden, und sprachliche Beschreibungen wie ›gegen oder mit dem Uhrzeigersinn‹, oder »wider die Sonne« oder »mit der Sonne«179. Diese Determination kann nun zwar »nicht unmittelbar […] wahrgenommen werden«, wird aber evident an solchen »Unterschiede[n] der Körper, die einzig und allein auf diesem Grunde beruhen«.180 Dies ist der Fall bei den sogenannten inkongruenten Gegenstücken. Hierbei handelt es sich z. B. auf der zweidimensionalen Ebene um zwei metrisch gleiche, aber inkongruente Dreiecke oder, im dreidimensionalen Raum, um die rechte oder linke Hand eines Menschen. Generell gesprochen: um zwei Gebilde, die hinsichtlich Figur und Größe identisch sind, sich aber nicht in dieselben Grenzen bringen lassen.181 Hier will ich zwei Versionen des entsprechenden Arguments kurz darstellen. Diese beruhen alle auf einer reductio ad absurdum, die zeigt, dass die Identifikation von Raumgegenständen durch die Bestimmungen von Figur und Größe immer dann offensichtlich scheitert, wenn wir mit inkongruenten Gegenstücken konfrontiert sind. Die erste Version dieses Arguments findet sich in dem Aufsatz von 1768. Sie argumentiert noch im theologischen Rahmen der leibniz-clarkeschen Debatte: 177 Mühlhölzer, Felix (1992): »Das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke«, KantStudien 83, 436–453, 440. Wie Mühlhölzer mit Verweis auf Blumenthal anmerkt, ist es sogar möglich, die euklidische Geometrie unter »alleiniger Verwendung des Abstandsbegriffs vollständig« zu axiomatisieren, eine Beschreibung, die zugleich »ganz der relationalen leibnizschen Auffassung« entspräche. 178 Vom ersten Grunde 998. 179 MAN A 9. 180 Vom ersten Grunde 998. 181 Zumindest nicht in ihrer eigenen Dimension. Dreiecke können durch Herumschieben auf der zweidimensionalen Fläche nicht deckungsgleich gemacht werden, durch Klappen im dreidimensionalen Raum aber schon. Vgl. Krämer 2016, 204 ff.



Die Anschauungsform

Das Argument geht von zwei Annahmen aus: (i) Das erste Schöpfungsstück ist eine menschliche Hand. (ii) Das zweite Schöpfungsstück ist ein menschlicher Körper ohne Hände. Gälte nun: (iii) Alle räumlichen Determinationen erschöpfen sich in Figur und Größe. Dann gälte auch: (iv) Die Hand passt auf beide Seiten, was absurd ist. Klar wird hier also, dass die Existenz inkongruenter Gegenstücke zeigt, dass eine Raumtheorie eine dritte räumliche Eigenschaft, die Orientierung oder Gerichtetheit, berücksichtigen muss, um Gegenstände voneinander zu unterscheiden und zu individuieren. Ein in der menschlichen Lebenswelt fundiertes Szenario entwirft Kant in seinem Essay über die Orientierung. Thema ist die von Kant sogenannte ›mathematische‹ Orientierung in einem dunklen, aber mir bekannten Raum. Diese beruht darauf, dass ich, sobald ich die Position eines Gegenstandes kenne, aus der Erinnerung auch die Position aller anderen Gegenstände bestimmten kann: »Im Finstern orientiere ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann. Aber hier hilft mir offenbar nichts als das Bestimmungsvermögen der Lagen nach einem [/] subjektiven Unterscheidungsgrunde: denn die Objekte, deren Stelle ich finden soll, sehe ich gar nicht; und, hätte jemand mir zum Spaße alle Gegenstände zwar in derselben Ordnung unter einander, aber links gesetzt, was vorher rechts war, so würde ich mich in einem Zimmer, wo sonst alle Wände ganz gleich wären, gar nicht finden können. So aber orientiere ich mich bald durch das bloße Gefühl eines Unterschiedes meiner zwei Seiten, der rechten und der linken.«182

Die hier von Kant geschilderte Szene ist schwer nachvollziehbar, vermutlich deshalb, weil sie auch der Struktur einer reductio ad absurdum folgt. In der Idee eines täuschenden Akteurs, durch den die Dinge abwechselnd eine jeweils spiegelverkehrte Anordnung einnehmen können, kehrt die Idee der inkongruenten Gegenstücke klar wieder. Für einen Beobachter, der allein über das Instrumentarium des Stellenraums verfügt, wäre eine Orientierung hier unmöglich. Es bedarf einer weiteren Ressource, auf die Kant mit der Bemerkung verweist, dass die Unterscheidung zwischen diesen Anordnungen jeweils durch den Bezug auf Körper und Körpergefühl passiert. 182

Orientieren A 308 f.

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Dieses für die Orientierung im Raum entscheidende dritte Kriterium hat zwei Elemente: Zum einen ist es der axiale Aufbau des menschlichen Körpers mit seinen drei Achsen – oben/unten, vorne/hinten, rechts/links – der hier die Unterschiede der Richtungen begründet. Kant argumentiert entsprechend, dass »wir von dem Verhältnis dieser Durchschnittsflächen zu unserem Körper den ersten Grund hernehmen, den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen.«183 In seiner Argumentation konzentriert sich Kant dabei in der Regel von auf den Unterschied von rechts und links, wohl da der menschliche Körper in dieser Beziehung selbst aus zwei inkongruenten Gegenstücken zusammengesetzt ist. Dieser Unterschied der zwei Seiten des eigenen Körpers – dessen orientierte Asymmetrie184 – kann, so seine These, selbst letztlich nur gefühlt werden und bildet damit ein – in einem genauer zu bestimmenden Sinne – subjektives Unterscheidungskriterium. Was das genau bedeutet, soll im nächsten Kapitel betrachtet werden. Die Chronologie dieser Beispiele, die das Problem zuerst aus der Perspektive des göttlichen Schöpfersubjekts darstellen, dann aus der des endlichen, geschaffenen Subjekts, macht deutlich, wie sich die Rechts-Links-Problematik mit der ›kopernikanischen Wende‹ verbindet. Beiden Perspektiven ist gegenüber dem leibnizschen Stellenraum gemeinsam, dass die extrinsische Beziehung auf ein Subjekt für das Raumverständnis konstitutiv ist. Insofern spricht Kant in dem Essay von 1764 noch von einer »Beziehung gegen den allgemeinen absoluten Raum«185 – mit Newton verstanden als ›Sensorium Gottes‹, für das der körperliche Richtungssinn des Menschen nur stellvertretend steht. Dies nimmt bereits die spätere erkenntniskritische Position vorweg, die das Sensorium Gottes durch das Sensorium des Menschen ersetzt.

3.3 Orientierung als Krise propositionalen Urteilens

Körperschema und Körpergefühl bilden nicht bloß eine weitere Determinante, die zu den objektiven Verhältnissen im Stellenraum bloß hinzu­addiert werden müsste. Stattdessen markiert diese Entdeckung eine epistemologische Krise, die für Kant eine urteilslogische Problematik aufwirft186: Zur adäqua183

Vom ersten Grunde 995. Nuzzo 2009, 23. Vgl. dazu insgesamt die ausführlichere Argumentation ab Nuzzo 2009, 21. 185 Vom ersten Grunde 998. 186 Dass die Inkongruenzproblematik letztlich eine Urteilsproblematik ist, zeigt die mögliche Paraphrase des Titels Vom ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume zu: Vom ersten Bestimmungsgrund des Urteils über die Gegenden im Raum. In eine sol184



Die Anschauungsform

ten Beschreibung der sichtbaren Welt (zur Orientierung und zur Identifikation von Gegenständen darin) ist ein Kriterium notwendig, das nicht begrifflich objektivierbar ist, sondern ein »Gefühl«187, ein »subjektive[r] Unterscheidungsgrund[]« sein soll.188 Die darauf basierende Fähigkeit der Unterscheidung von Richtungen kann somit als eine gleichermaßen apriorische wie nicht begrifflich einholbare Erkenntnisressource identifiziert werden, weshalb die Inauguraldissertation von einer »Art von reiner Anschauung« spricht.189 Dort heißt es von der Unterscheidung der Gegenden, dass diese »durch keinen Scharfsinn diskursiv beschrieben oder auf Verstandesmerkmale zurückgeführt werden« könne.190 Von den inkongruenten Gegenstücken gelte, dass »durch alles, was sich mit Merkmalen ausdrücken läßt, die für die Erkenntniskraft durch die Sprache verständlich sind«, eine Gleichheit bestehen müsse, die aber eben offenkundig nicht besteht.191 Die Prolegomena sprechen von einem »Para­ doxon«192 . Noch im Jahr 1786, in den MAN schreibt Kant: Der Begriff der »Seite, nach der die Bewegung gerichtet ist«, sei »ein Begriff, der sich zwar konstruieren, aber, als Begriff, für sich durch allgemeine Merkmale und in der diskursiven Erkenntnisart gar nicht deutlich machen läßt«193. Mit Krämer zusammengefasst ist es also Kants These, dass »diese Orientierung nicht gesagt, sondern nur gezeigt werden kann«.194 Ist Kant hier wirklich auf ein Phänomen gestoßen, dass ein elementares Problem für Sprache, Urteil und Begriff darstellt ? In der Forschung gilt diese Behauptung Kants oft als widerlegt. Koriako, dessen Kant-Interpretation von einer durchgehenden Skepsis an Kants Anschauungstheorie gekennzeichnet ist, vermerkt im Geiste der Kompensationsthese195, diese Behauptung sei »offensichtlich nur unter Voraussetzung einer sehr begrenzten Begriffstheoche Richtung geht auch Stekeler-Weithofers Aussage, die Anschauungsformen bei Kant hätten »eine sprachtechnische Konstruktion im Rücken«. Stekeler-Weithofer 2008, 372. 187 Vom ersten Grunde 997. 188 Orientieren A 309. 189 De mundi A19. In der transzendentalen Ästhetik werden auch die Bestimmungen des leibnizschen Stellenraums in die reine Anschauung hineingenommen. 190 Ebd. 191 Ebd. 192 Prolegomena 57. Das »Paradoxon« besteht in der Existenz »eine[r] innere[n] Verschiedenheit [zweier] Triangel, die kein Verstand als innerlich angeben kann, und die sich nur durch das äußere Verhältnis im Raume offenbart.« Ebd. 57 f. »The puzzle of incongruence shows that the spatial features ›internal‹ to or constitutive of figures, which individuate them from another, are relative to their orientation in the whole of space.« Ruckgaber 2009, 174. 193 MAN A 7 f. 194 Krämer 2016, 207. 195 Der etwa von Russell und heute von Friedman vertretenen These, dass Kants

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rie gültig«.196 Er bezieht sich dabei auf die Widerlegungsversuche von Weyl und im Anschluss Mühlhölzer, die zeigen wollen, »daß unsere begrifflichen Ressourcen zur Erfassung des Phänomens der inkongruenten Gegenstücke tatsächlich reicher sind, als Kant dachte.«197 Dieser Widerlegungsversuch soll hier mit einem Verteidigungsversuch beantwortet werden, wobei zugleich konkretisiert wird, welches Problem Kant genau im Auge haben könnte. Diese Ressourcen, um Kants epistemologische Krisendiagnose zu widerlegen, soll die moderne Gruppentheorie bieten, womit das Rechts-Links-Phänomen durch zwei kombinatorisch-arithmetische Konzepte »auf den Begriff gebracht« werden könne: den »Begriff der geraden und ungeraden Isometrie«198 sowie den »Begriff der geraden oder ungeraden Permutation einer Orientierungsfolge«199. Da beide Konzeptionen strukturanalog sind, soll hier nur die erste diskutiert werden: »Betrachten wir z. B. eine rechte Hand und fassen wir sie als Menge von Punkten im euklidischen Raum auf. Wir können auf diese Punktmenge eine Isometrie anwenden und erhalten dadurch eine neue Menge. Diese neue Menge hat die Gestalt einer Hand mit denselben inneren Abmessungen wie die ursprüngliche Hand. Wenn nun die Isometrie gerade ist, so ist diese neue Hand wieder, wie die alte, eine rechte, wenn die Isometrie dagegen ungerade ist, so ist die neue Hand eine linke. Das heißt, gerade Isometrien bewahren die Orientierung, ungerade Isometrien ändern die Orientierung. Das Rechts-Links-Phänomen ist damit auf den Begriff gebracht: auf den Begriff der geraden und ungeraden Isometrie.«200

Was ist hiermit gewonnen ? Mühlhölzer geht davon aus, dasjenige, was sich Kant zufolge »nicht verständlich erklären […] läßt«201 seien die Begriffe ›inkongruente Gegenstücke‹ bzw. ›spiegelsymmetrisch‹ selbst. Kants Behauptung würde dann lauten: Es ist unmöglich, eine klare und deutliche Antwort auf die Frage zu geben: Was bedeutet es, dass zwei Gegenstände inkongruente Gegenstücke sind ? Dies ist in der Tat widerlegt, insofern der Isometrie­ begriff eine klare mathematische Beschreibung dieses Verhältnisses enthält, sowie eine Konstruktionsanweisung, wie eine Figur an einer Achse gespiegelt Rekurs auf anschauliche Erkenntnisse bloß Mängel in der damaligen Logik kompensiert, die durch eine moderne Logik behoben sind. Vgl. Kapitel II.1 u. II.4.1 196 Koriako 1999, 111, Fußnote 12: »Heute können wir mit den Mitteln der Gruppentheorie diese Sachverhalte exakter erfassen, wie Weyl bemerkt.« Auf Weyl bezieht sich auch Mühlhölzer, dessen Darstellung im Folgenden verwendet wird. 197 Mühlhölzer 1992, 449. 198 Ebd. 450. 199 Ebd. 452. 200 Ebd. 450. 201 MAN A 8.



Die Anschauungsform

werden kann, um zwei inkongruente Gegenstücke zu erhalten. Es ist aber unplausibel, dass Kant diese These vertritt. Denn obwohl Kant keine geome­ trisch-formale Definition dieses Verhältnisses gibt, ist bei ihm das Verständnis der Begriffe der inkongruenten Gegenstücke und der spiegelsymmetrischen Beziehung vorausgesetzt und auch hinreichend klar.202 Der Begriff der geraden und ungeraden Isometrie stellt lediglich eine formalisierte Fassung der entsprechenden Sachverhalte dar. Ein Blick auf Kants Beispiele kann deutlich machen, dass es Kant um ein anderes Problem geht. Die Frage ist nicht: Wie verhält sich grundsätzlich der Zustand (A) der Gegenstände im Zimmer zum spiegelverkehrten Zustand (B) ? Stattdessen ist die Frage: Wie kann der Orientierungssuchende in einem bestimmten Moment wissen, welches die rechte und die linke Seite ist ? Kants Antwort lautet: Er weiß dies nicht durch ein allgemein beschreibbares Verhältnis zwischen Objekten, sondern durch den singulären Bezug eines Gegenstandes auf das Körpergefühl. Dieses Wissen, was es heißt, wenn etwas rechts oder links ist, ist – so hier die These – das, was sich »als Begriff, für sich durch allgemeine Merkmale und in der diskursiven Erkenntnisart gar nicht deutlich machen läßt«203. Es ist darum kein Zufall, dass die Frage ›Wo ist rechts ?‹ im Alltag als alberne Frage angesehen wird, auf die nur mit einer Quasi-Tautologie geantwortet werden kann: ›Rechts ist da, wo der Daumen links ist‹. Kant wäre demnach dann widerlegt, wenn es möglich wäre, einen sinnvollen Satz zu formulieren, der mit ›Rechts ist …‹ beginnt und dann eine Definition enthält, wie sie z. B. für den Begriff ›viereckig‹ möglich wäre. Die gruppentheoretische Reformulierung erlaubt dagegen nur im Sinne von ›Rechts ist da, wo der Daumen links ist‹ elaborierter zu formulieren: ›Ungerade ist eine Isometrie, die nicht gerade ist‹.204 Die Ursache der von Kant festgestellten Krise des Verständnisses von Urteil und Begriff ist die Tatsache, dass wir es bei den Begriffen ›rechts‹ und ›links‹ 202

Das Verhältnis der inkongruenten Gegenstücke wird bei Kant auf zwei Weisen beschrieben: Einerseits im Begriff der Inkongruenz, nämlich dadurch, dass ein Körper »einem andern völlig gleich und ähnlich ist, ob er gleich nicht in ebendenselben Grenzen kann beschlossen werden« (Vom ersten Grunde 998). Dies ist bei geometrischen Figuren durch eine Operation des Übereinanderlegens evident, in anderen Fällen pragmatisch dadurch, dass linke Handschuhe nicht auf die rechte Hand passen, Schrauben mit Rechtsgewinde nicht in Muttern mit Linksgewinde etc. Andererseits durch den Begriff der Spiegelsymmetrie: »Die Abbildung eines Objekts im Spiegel beruhet auf ebendenselben Gründen. Denn es erscheinet jederzeit ebensoweit hinter demselben, als es vor seiner Fläche stehet, und daher ist das Bild einer rechten Hand in demselben jederzeit eine linke.« Vom ersten Grunde 999. 203 MAN A 8. 204 Oder: Rechts verhält sich zu links wie eine ungerade Isometrie zu einer geraden.

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(wie auch bei ›hier‹, ›jetzt‹, ›oben‹, ›unten‹, ›früher‹, ›später‹) mit singulären, indexikalischen Termini zu tun haben, die nur situationsbezogen funktionieren. Kants Aussage, dass sich der Unterschied von rechts und links »zwar in der Anschauung geben, aber gar nicht auf deutliche Begriffe bringen, mithin nicht verständlich erklären (dari, non intellegi) läßt«205, bedeutet: das Problem singulärer Termini sprengt ein reduktionistisches Verständnis von Welt, das diese nur aufgrund beobachterunabhängiger Prinzipien beschreiben will. Die Orientierung eines Gegenstands (einer Hand, einer Schnecke, einer Zimmereinrichtung etc.) kann weder – im Sinne des prädikatenlogischen Identitätsprinzips – als allgemeine, objektive Eigenschaft bestimmt werden. Noch kann sie – im Sinne des Stellenraums – aus den figuralen und quantitativen Eigenschaften des Objekts allein abgeleitet werden. Welche epistemische Struktur dieses Kriterium stattdessen hat, wird im Lichte eines zweiten Widerlegungsarguments deutlich: Mühlhölzer argumentiert, dass der Anhänger der leibnizschen Raumauffassung das Problem auch durch Einführung eines »Standardkörper[s]« lösen kann, »mit dessen Hilfe wir Rechtsorientiertheit und Linksorientiertheit unterscheiden«206. Dass ein solcher Standardkörper unerlässlich ist, wird bereits an Mühlhölzers eigener Argumentation deutlich, die als Anfangspunkt »z. B. eine rechte Hand«207 einführt, um auf dieser Basis sagen zu können: Alle Hände, die gerade Isometrien zu dieser Hand sind, sind rechte, alle Hände, die ungerade Isometrien dazu sind, sind linke Hände.208 Dieses Argument spricht aber gar nicht für die Auffassung Leibniz’, sondern für diejenige Kants: Ein derartiger Standardkörper ist ja nichts anderes als eine Anschauung, d. h. etwas Singuläres. Wie schon bemerkt, ist es ja gerade die Pointe von Kants Überlegungen, dass die Orientierung im Raum stets das unmittelbare, d. h. über Anschauung bestehende Verhältnis zu mindestens einem bekannten Gegenstand voraussetzt.209 205

MAN A 8. Mühlhölzer 1992, 441. 207 Ebd. 208 Die Ursache dafür erkennt Mühlhölzer schon an anderer Stelle selbst, zieht aber nicht den richtigen Schluss daraus: »Man kann fragen, ob die beiden Hände, aus denen das Universum dann besteht, gleich oder ungleich orientiert sind. Dies ist nun auch für Leibniz eine sinnvolle Frage. Nicht sinnvoll ist für ihn jedoch weiter die Frage, wie die Hände orientiert sind: im Falle des Gleichorientiertseins, ob beide rechte oder linke sind, und im Falle des Ungleichorientiertseins, welche die rechte und welche die linke ist.« Ebd. 443, Hervorhebung MB. Er übersieht, dass genau dies – so hier die These – die Problematik ist, um die es Kant geht. 209 »Wir können daher auch den Unterschied ähnlicher und gleicher, aber doch inkongruenter Dinge (z. B. widersinnig gewundener Schnecken) durch keinen einzigen Begriff verständlich machen, sondern nur durch das Verhältnis zur rechten und linken Hand, welches unmittelbar auf Anschauung geht.« Prolegomena 59. Auch: »Im Finstern 206



Die Anschauungsform

In Bezug auf die Gerichtetheit bedienen wir uns offenkundig verschiedener solcher Standardkörper oder Standardrelationen, Kant nennt hier etwa Sonnenlauf und Uhrzeigersinn.210 Diese verbindet allerdings keine allgemeine Regel, sondern nur jeweils die Substituierbarkeit durch einen anderen singulären Standard. Insofern in solchen Substitutionen ein endloser Regress angelegt ist, muss man sich jeweils in einer konkreten Situation auf einen bestimmten Standard einigen. Als einen letzten Standard und Regress-Stopper führt dies auf den achsensymmetrischen Aufbau des menschlichen Körpers, der uns allen gemeinsam ist. Wir nehmen vom »Verhältnis der Durchschnittsflächen zu unserem Körper den ersten Grund her[], den Begriff der Gegenden im Raume zu erzeugen.«211 Der eigene Körper bildet also zuletzt jenen Standardkörper, mit dem wir über Richtungen urteilen. Dieses Kriterium ist allerdings, und darin besteht das epistemologische Krisenmoment, ein ›subjektives‹, und dies in zwei Hinsichten: zum einen ist das axiale Körperschema an den individuellen Standpunkt im Raum gebunden, dessen Verhältnis zur Umwelt sich durch Bewegung ständig verändert. Zum anderen ist das Kriterium subjektiv im Sinne eines Gefühls, dessen Inhalt sich nicht auf Begriffe bringen lässt – wo rechts oder links ist, kann nicht gesagt, sondern nur gezeigt werden. Der Körper fungiert dann auch als Zeigzeug, durch den ich jemand anderem den Unterschied (d. h. den ›Begriff‹) von rechts und links zeigen kann.212 Bereits diese Formulierungen machen deutlich, dass es nicht befriedigend wäre, die Orientierung im Raum vollständig als subjektiv-private Angelegenheit eines Indiorientiere ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtnis habe, anfassen kann.« Orientieren A 308. Vgl. hier auch Heideggers Kritik an Kant in Bezug auf diesen Punkt, die allerdings etwas über das Ziel hinausschießt: »Soll ich mich orientieren, dann hilft das ›bloße Gefühl des Unterschieds‹ meiner zwei Seiten gar nichts, solange nicht ein bestimmter Gegenstand erfaßt ist, von dem Kant beiläufig sagt, ›dessen Stelle ich im Gedächtnis habe‹. Was bedeutet das aber anderes als: ich orientiere mich notwendig in und aus einem je schon Sein bei einer ›bekannten‹ Welt.« Heidegger, Martin (1957): Sein und Zeit, Frankfurt/M.: Klostermann, 109. Diese Unmöglichkeit der Elimination singulärer Termini gilt auch für Messsysteme, wie Pape gegen Quine bemerkt: »Jedes Meßsystem gestattet aber nur deshalb eindeutige Beschreibungen wirklicher Objekte, weil der Ursprung des Meßsystems direkt und unabhängig von diesem System, nämlich durch demonstrative Bezugnahme, identifiziert werden kann.« Pape 1997, 60. 210 MAN A 9. 211 Vom ersten Grunde 995. 212 Vgl. hierzu Wiesing 2013, 120: »Ein gerichteter Zeigefinger wird vom Betrachter auf die gezeigte Richtung bezogen – und beides teilt dieselbe lineare Orientierung. Deshalb lässt sich eine Richtung auch nur mit etwas zeigen, dem selbst eine Richtung als Eigenschaft zugeschrieben werden kann.«

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viduums zu begreifen. Das krisenhafte Moment besteht darin, wie dennoch eine intersubjektive Übereinstimmung herrschen kann. Diese soziale Problematik ist in Kants Überlegungen zu Inkongruenz und Orientierung nur implizit vorhanden, wir aber – so die These – in seinen Überlegungen zum ästhetischen Urteil und zum sensus communis wieder aufgenommen. 3.4 Die soziale Logik der Anschauung: transzendentale Ästhetik und ­sensus communis

Eine zentrale Einsicht im Zusammenhang des Essays über die Raumgegenden ist also die Einsicht in die perspektivische Strukturiertheit unserer Welterfahrung, dass »wir alles, was außer uns ist, durch die Sinnen nur insoferne kennen, als es in Beziehung auf uns selbst stehet«213. Dies führt in der Inauguraldissertation und der KrV zum Theorem des transzendentalen Idealismus von Raum und Zeit.214 Kants Rede von »dem Subjekt ursprünglich anhängenden Bedingungen« (KrV B 60) kann gegen den Mentalismusvorwurf mit dem Hinweis auf die körperliche Dimension der Problematik verteidigt werden. Wie ist dies aber mit einer sozialen Dimension ? Für Stekeler-Weit­hofer ist Kants Anschauungstheorie »bloß aus der Sicht eines generisch-transzendentalen Ichs formuliert«215, der Raum erscheine »bei Kant als Form je meiner Anschauung statt als Form unserer gemeinsamen Bezugnahme auf eine einzige Welt.« Um den »vollen Sinn« der Anschauungsproblematik zu fassen, müsse die entsprechende Subjekt-Objekt-Dichotomie zu einer Subjekt-Subjekt-Objekt-Trichotomie erweitert werden.216 Dies leistet für Stekeler-Weit­ hofer erst Hegels Phänomenologie des Geistes, die somit auch die Einsicht nachliefert, dass das von Kant gemeinte Subjekt eigentlich »ein Ich im Modus des Wir« ist.217 Hier soll nun für die These argumentiert werden, dass sich die von 213

Vom ersten Grunde 995. Vgl. MAN: Mit der Inkongruenz gebe es »einen guten bestätigenden Beweisgrund zu dem Satze: daß der Raum überhaupt nicht zu den Eigenschaften oder Verhältnissen der Dinge an sich selbst, die sich notwendig auf objektive Begriffe müßten bringen lassen, sondern bloß zu der subjektiven Form unserer sinnlichen Anschauung von Dingen oder Verhältnissen, die uns, nach dem, was sie an sich sein mögen, völlig unbekannt bleiben, gehöre.« MAN A 8 f. 215 Stekeler-Weithofer 2008, 415. 216 Ebd. 416. 217 Stekeler-Weithofer 2010, 236. »Raum und Zeit als Formen der Anschauung, d. h. des Angeschauten, erweisen sich damit insgesamt als notwendige Bedingungen dafür, dass wir das Angeschaute überhaupt als substanzielles Ding und Träger sich ändernder Eigenschaften verstehen können, wobei wir zu den Eigenschaften immer auch gleich 214



Die Anschauungsform

Stekeler-Weithofer – in Anlehnung an Tomasellos ›gemeinsame Anschauung‹ – entworfene ›soziale Logik der Anschauung‹ bereits mit kantischen Ressourcen andeutungsweise fassen lässt. Mit der Hinzunahme der sozialen Dimension zeigt sich auch das von Kant avisierte epistemologische Problem erst in seiner vollen Schärfe. Wenn nämlich die Individuation der Raumdinge stets auch auf einer singulären Relation zum anschauenden Subjekt beruht und diese Perspektivität nicht durch ein übergeordnetes Prinzip oder einen übergeordneten Standpunkt eliminiert werden kann: wie ist es dann möglich, sie mit den singulären Perspektiven anderer Subjekte so zu koordinieren, dass wir gemeinsam auf Objekte in der Anschauung Bezug nehmen können ? Der Weg zu einer sozialen Logik der Anschauung bei Kant kann hier nur skizzenhaft angedeutet werden. Er eröffnet sich über die durchgängige Analogie, die zwischen Kants Analyse der Rechts-Links-Problematik und der Analyse des ästhetischen Urteils in der Kritik der Urteilskraft besteht. Die KU entwickelt eine Theorie von Urteilen, die aufgrund eines subjektiven Gefühls gefällt werden, aber dennoch überprivate Geltung haben können. Ihr Fundament ist ein geteilter Weltbezug und ein sensus communis. Obwohl hier zwei sehr verschiedene Fragestellungen den Ausgangspunkt bilden, teilt die Beurteilung, d. h. die soziale Kommunikation über Gerichtetheit entscheidende logische Voraussetzungen mit der Kommunikation über Schönheit:218 (i) Paradoxie: Kant formuliert die wesentlichen Eigenschaften des ästhetischen Urteils als Paradoxien, als ›interesseloses Wohlgefallen‹, ›Allgemeingültigkeit ohne Begriff‹, ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ etc.219 Auch Gerichtetheit enthält ein »Paradoxon«, nämlich das einer »inne[/]re[n] Verschiedenheit […], die kein Verstand als innerlich angeben kann.«220 (ii) Reflexivität: Im ästhetischen Urteil beziehen wir »die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt«, sondern »auf das Subjekt und das Gefühl«221. Auch die Urteile über Richtungen sind in diesem Sinne reflexiv, weil sie keine unabhängige Eigenschaft des Objekts, sondern seine Beziehung Relationen erstens zu uns selbst und zweitens zu anderen Personen und Dingen zu rechnen haben.« Ebd. 237. Stekeler-Weithofer liest Kant in entscheidenden Punkten von Hegel her (bzw. will Kants ›mystifizierende Ausdrucksweise‹ mit Rekurs auf Hegel klären), nämlich von einer an Hegels Kritik der sinnlichen Gewissheit entwickelten Theorie der Rolle indexikalischer Ausdrücke und koordinierter Perspektivenwechsel. 218 In der KU wird der soziale Aspekt des Urteilens ausführlich zum Problem, vgl. dazu auch Prolegomena § 19. 219 Vgl. KU § 1 ff. 220 Prolegomena 57 f. 221 KU B 4.

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auf das Subjekt und dessen »verschiedene[s] Gefühl der rechten und linken Seite«222 betreffen.223 (iii) subjektiver Bestimmungsgrund und Fehlen einer allgemeinen Regel: Ästhetisch ist ein Urteil »dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann«224. D. h. es gibt kein objektives Merkmal oder Kriterium, unter das wir den Gegenstand subsumieren können (x ist schön, genau dann, wenn …). Für die Beurteilung von Richtungen gilt dasselbe: »[H]ier hilft mir offenbar nichts als das Bestimmungsvermögen der Lagen nach einem [/] subjektiven Unterscheidungsgrunde«225, der »durch keinen Scharfsinn diskursiv beschrieben oder auf Verstandesmerkmale zurückgeführt werden« kann.226 (iv) der logischen Quantität nach einzeln: Ästhetische Urteile beruhen immer auf einer singulären Beziehung zu einem in der Anschauung gegebenen Objekt. Ich muss »den Gegenstand unmittelbar an mein Gefühl […] halten«227, man muss »das Objekt seinen eignen Augen unterwerfen«.228 Aussagen wie ›alle x sind schön‹ sind im Rahmen ästhetischen Urteilens nicht möglich. Auch jede Aussage wie ›Der Stuhl ist dort rechts‹ ist einzeln in diesem Sinne, und die indexikalischen Prädikate (links, rechts, oben, unten etc.) lassen nur einen situationsbezogenen Gebrauch zu. (v) Normativität und Allgemeinheit: Trotz der bisher beschriebenen Eigenschaften werden diese Urteile mit normativem, überindividuellem Geltungsanspruch gefällt. Sie besitzen eine »ästhetische Quantität der Allgemeinheit, d. i. der Gültigkeit für jedermann«.229 Dies ist ein anderer Typus von Allgemeinheit, der nicht auf die klassische Allgemeinheit der Prädikation zurückzuführen ist und den Kant auch ›subjektive Allgemeinheit‹ nennt.230 Die Rolle 222

Vom ersten Grunde 997. Vgl. zur Evasivität und Subjektivität des Selbstbezugs bei Kant insgesamt und dessen Charakteristik als ›Gefühl‹: Emundts, Dina (2013): »Kant über Selbstbewusstsein«, in: dies. (Hg.): Self, World, and Art: Metaphysical Topics in Kant and Hegel, Berlin [u. a.]: de Gruyter, 51–78, 72. Dies lässt sich auf den hier infragestehenden Kontext übertragen: Die stets auf das Subjekt und sein Gefühl bezogene Unterscheidung von rechts und links ist etwas, das – mit Emundts gesprochen – »sich trotz seiner Präsenz nicht fixieren lässt«, weil es »die Bedingung der Fixierung von etwas darstellt«. Ebd. 224 KU B 4. 225 Orientieren A 380. 226 De mundi 59. 227 KU B 24 f. 228 KU B 25. 229 Ebd. 230 »Aber von einer subjektiven Allgemeingültigkeit, d. i. der ästhetischen, die [/] auf keinem Begriffe beruht, läßt sich nicht auf die logische schließen; weil jene Art Urteile gar nicht auf das Objekt geht. Eben darum aber muß auch die ästhetische Allgemeinheit, die einem Urteile beigelegt wird, von besonderer Art sein, weil sich das Prädikat der 223



Die Anschauungsform

von Richtungen bei der Individuation von Objekten und der Orientierung verlangt ebenfalls eine überprivate Geltung. (vi) eine allen Menschen gemeinsame subjektive Disposition: Die Lösung Kants für die geschilderte Paradoxie der ›subjektiven Allgemeinheit‹ ist, dass wir die subjektive Disposition (hier das ›freie Spiel der Erkenntnisvermögen‹), die als Urteilsgrund fungiert, mit allen anderen Subjekten teilen, wie einen sensus communis.231 Im Falle der Richtungen ist dies die Chiralität unseres eigenen Körpers bzw. insgesamt das dreidimensionale Körperschema. Dieser Körper ist aber – dies zeigt auch schon Kants Wortwahl – immer schon ein Körper im Modus des Wir, nämlich »unser[] Körper«232, der als eine standardisierte ›Leerform‹ gelten kann, die den Weltbezug jedes Menschen strukturiert. Entsprechend gilt aber auch, dass wir »demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden« können.233 (vii) Fähigkeit zum Perspektivenwechsel: Der singuläre und unmittelbare, d. h. anschauliche Objektbezug, der die ästhetischen und indexikalischen Urteile auszeichnet, lässt sich nicht durch allgemeine begriffliche Kriterien eliminieren. Die intersubjektive Gültigkeit solcher Urteile muss dann anders als durch Allgemeinbegriffe begründet werden. Es muss dem standpunktgebundenen Charakter derartiger Urteile Rechnung getragen werden. Entsprechend nennt Kant die »Maxime […] der Urteilskraft«234: »An der Stelle jedes andern denken«235. Dies impliziert eine »erweiterte[] Denkungsart«, die jemand dann zeigt, »wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andre wie eingeklammert sind, wegsetzen, und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil Schönheit nicht mit dem Begriffe des Objekts, in seiner ganzen logischen Sphäre betrachtet, verknüpft, und doch eben dasselbe über die ganze Sphäre der Urteilenden ausdehnt.« KU B 24 f. 231 »Wenn man Objekte bloß nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren. Also kann es auch keine Regel geben, nach der jemand genötigt werden sollte, etwas für schön anzuerkennen. Ob ein Kleid, ein Haus, eine Blume schön sei: dazu läßt man sich sein Urteil durch keine Gründe oder Grundsätze beschwatzen. Man will das Objekt seinen eignen Augen unterwerfen, gleich als ob sein Wohlgefallen von der Empfindung abhinge; und dennoch, wenn man den Gegenstand alsdann schön nennt, glaubt man eine allgemeine Stimme für sich zu haben, und macht Anspruch auf den Beitritt von jedermann, da hingegen jede Privatempfindung nur für ihn allein und sein Wohlgefallen entscheiden würde.« KU B 25. 232 Vom ersten Grunde 995. 233 KrV B 42. 234 KU B 160. 235 KU B 158.

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reflektiert.«236 Die Allgemeinheit des ›allgemeinen Standpunkts‹ ergibt sich nicht durch die Subsumtion der Einzelfälle unter ein allgemeines situationsabhängiges Kriterium, sondern durch die Fähigkeit zum kontrollierten Per­ spektivenwechsel. Im Falle unserer indexikalischen Bezugnahmen setzt dies voraus, dass wir unsere je singuläre Perspektive durch Regeln in eine andere Perspektive transformieren können (»von mir aus gesehen rechts, von dir aus gesehen links«). Diese Übersetzungsleistung geschieht durch ein normiertes System von indexikalischen Ausdrücken und der Beschreibung von RaumRelationen, dem andererseits bestimmte Bewegungsabläufe entsprechen (»gehe an das rechte Fenster und blicke links über die Häusergruppe«).237, 238 236

KU B 159. Dies betrifft selbstverständlich nicht nur Perspektiven im Sinne räumlicher Verhältnisse, sondern generell eine Reflexion auf die Standpunktgebundenheit des Erkennens (auch in Bezug auf Relevanz von Informationen und Hintergrundwissen). Vgl. Tomasello 2014, 71 ff und 144 ff. Diese ist in Tomasellos evolutionärem Modell des menschlichen Denkens wesentlich mit der Erkenntnis der Perspektivenabhängigkeit verbunden: »Aufgrund ihrer Fähigkeit, Handlungen und die Aufmerksamkeit mit anderen auf gemeinsame Ziele hin zu koordinieren, gelangten die Frühmenschen zu dem Verständnis, daß verschiedene Individuen verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe Situation oder Entität haben können.« Ebd. 74. Auf dieser Ebene der Entwicklung, die nur die Gestik aber noch nicht die Sprache kennt, ist dies aber noch streng zweipersonal und präsentisch gedacht. Erst mit der Sprache und größeren Verbänden werden allgemeine Formen indexikalischer Regeln der Identifikation von Gegenständen relevant. 238 Inwiefern Kants Lösung revolutionär ist, lässt sich in einem letzten Vergleich mit Leibniz zeigen: Das Problem der ästhetischen Urteile (das strukturanalog mit dem der Richtungen ist) wurde bereits in den Geschmackstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts als dasjenige eines ›je ne sais quoi‹ formuliert. Auch Leibniz bezieht sich auf diese Kategorie in Leibniz, Gottfried Wilhelm (1985): »Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen [1684]«, in: ders.; Hans Heinz Holz (Hg.): Kleine Schriften zur Metaphysik, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 32–47. Das Wissen der Maler und Künstler von einem »ich weiß nicht was« (Ebd. 35) aber auch »Farben, Gerüche, Geschmacksempfindungen« (Ebd. 33) sind Beispiele für eine bestimmte Klasse von Erkenntnissen, die Leibniz eine cognition clara et confusa nennt. Dies sind Erkenntnisse »auf Grund des einfachen Zeugnisses der Sinne, nicht jedoch auf Grund aussagbarer Kennzeichen« (Ebd. 35). Bereits hier ist Kants Konzept des ästhetischen Urteils angedeutet, insofern der Urteilsgrund nicht allgemein offenzulegen ist, weil »ich freilich nicht genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden«. Stattdessen ist der Rekurs auf gemeinsame Anschauung notwendig, weil derartige Inhalte anderen nur verdeutlicht werden können, »wenn wir sie […] vor die gegenwärtige Sache führen und bewirken, daß sie dasselbe sehen …« (Ebd. 35). Leibniz stellt hier also fest, dass es für endliche Wesen relevante Unterschiede zwischen Sachen gibt, die nur im Rekurs auf eine gemeinsame Anschauung zu klären sind. Warum gibt es bei Leibniz trotzdem keine soziale Logik der Anschauung ? Aus der Idee, das prädikatenlogische Identitätsprinzip zum universellen metaphysischen Prinzip zu machen, folgt, dass trotzdem jede Sache »solche Kennzeichen und Merkmale tatsächlich besitzt, in welche ihr Begriff aufgelöst werden kann« (Ebd. 33). 237



Die Anschauungsform

In diesen Übereinstimmungen, die hier nur in ihren Grundzügen angedeutet werden können, deutet sich an, dass es zwischen den Fragestellungen der transzendentalen Ästhetik und der Kritik der Urteilskraft einen Bezug gibt, der nach Kenntnis des Verfassers bisher so nicht beschrieben wurde: Die nach Maßgabe der klassischen Urteilstheorie paradoxe Logik des ästhetischen Geschmacksurteils ist für Kant bereits in der Problematik der paradoxen indexikalischen Urteile über rechts und links angelegt. Und die Überlegungen zu einer sozialen Logik des Perspektivenwechsels in der KU liefern sozusagen die fehlende Reflexion der Intersubjektivität in der transzendentalen Ästhetik nach. Das Bindeglied zwischen den beiden Ästhetiken Kants besteht also darin, dass schon der transzendentalen Ästhetik wie später der Kritik der Urteilskraft eine urteilslogische Problematik zu Grunde liegt: die Frage nach dem Bestimmungsgrund der Urteile über Raumgegenden. Dabei wird die Raumproblematik in verschiedener Weise nicht intellektualistisch, sondern als eine Art Sensorium interpretiert: mit Newton als Sensorium Gottes, im Sinne der kopernikanischen Wende zunächst als Sensorium des Menschen (des Körpergefühls) und dann ergänzend als sensus commu­ nis, d. h. geteiltes Sensorium einer menschlichen Kommunikationsgemeinschaft.

3.5 Fazit und Überleitung: von der Anschauungsform zum Diagramm

Das Konzept des Raums als Anschauungsform konnte in einem doppelten Schritt gefüllt werden: Gegen die Idee einer universalen Geltung des prädikatenlogischen Identitätsprinzips wurde die Rolle des Raums in der Identifikation und Differenzierung von Gegenständen geltend gemacht. Gegen die Idee der erschöpfenden Erfassung des Raums durch ein System aus Raumstellen wurde die Gerichtetheit geltend gemacht, als räumliche Eigenschaft, die sich erst aus der singulären Beziehung auf das Körperschema eines Subjekts ergibt. Hiermit wurde die Idee einer doppelten Relationalität der Raumerfahrung, die zu Anfang mit Pape und Berger beschrieben wurde, auch als Hintergrund von Kants Leibnizkritik identifiziert. An den indexikalischen Urteilen zeigte sich eine mediale Eigenlogik des verkörperten Weltverhältnisses, die als eine paradoxe reflexive Logik letztlich nicht auf objektivierbaren Kriterien, sondern auf einem sensus communis beruht. Für Kant zwingt uns die Philosophie Das Zeugnis der Sinne ist also zumindest de jure wieder begrifflich eliminierbar. Die universale Geltung prädikativer Logik sichert dabei das göttliche Subjekt und dessen übergeordnete Perspektive.

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des Raums also dazu, mit der Logik exklusiv begrifflicher Unterschiede und dem Modell des Denkens als einer Subsumtion unter allgemeine Merkmale zu brechen, und neue Arten epistemischer Prinzipien anzunehmen. Dies ist die Grundlage seiner Theorie der transzendentalen Ästhetik. Im Übergang zum Verfahren der geometrischen Konstruktion muss nun die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem bisher diskutierten phänomenalen Raum oder Wahrnehmungsraum und dem geometrischen Raum gestellt werden. In Bezug auf letzteren muss wiederum zwischen den in den geometrischen Definitionen thematisierten Figuren und Verhältnissen und dem realen Bildraum des diagrammatischen Konstruktionshandelns unterschieden werden. Für Kant besteht dieser Zusammenhang so, dass allein die in der Ästhetik entworfene Theorie des Raums als Anschauung a priori »die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori begreiflich« mache.239 Wie ist dies aber zu verstehen, ohne in die Falle der eingangs geschilderten abstraktionstheoretischen Lesart zu tappen ? Einige Punkte sollen – mit Vorgriff auf das Kommende – hier skizzenhaft umrissen werden. Zunächst lässt sich eine Äquivalenz bestimmter struktureller Eigenschaften von phänomenalem Raum und geometrischer Konstruktion feststellen. Die »eigene[n] Unterschiede«240 des Raums, die Kant herausarbeitet, erscheinen auch als Bedingung der Möglichkeit geometrischen Denkens. Dieses setzt voraus, dass Gleiches als Verschiedenes und Verschiedenes als Äquivalent dargestellt werden kann: etwa zwei gleiche Dreiecke, die an verschiedenen Orten sind bzw. eine unterschiedliche Ausrichtung haben; oder die quantitative Gleichheit zweier Strecken, die sich an unterschiedlichen Stellen befinden.241 Die Parallele zwischen der Orientierung im phänomenalen Raum und dem Operieren im geometrischen Kalkül lässt sich aber auch über die ent239 KrV B 41. »Geometrie ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raums synthetisch und doch a priori bestimmt. Was muß die Vorstellung des Raumes denn sein, damit eine solche Erkenntnis von ihm möglich sei ? Er muß ursprünglich Anschauung sein; denn aus einem [/] bloßen Begriffe lassen sich keine Sätze, die über den Begriff hinausgehen, ziehen, welches doch in der Geometrie geschieht (…). Aber diese Anschauung muß a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes, in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht empirische Anschauung sein.« KrV B 40 f. 240 KrV B 327. 241 Vgl. Kapitel II.5.1 sowie Anderson 2015, 232, der die Leistung der Spatialität darin sieht, eine »equality of non-identicals« zeigen zu können. In einem vergleichbaren Sinne argumentiert auch Carson dafür, dass die Raumargumente nicht als Argumente über den von der Geometrie beschreibbaren Raum (Friedmans Auffassung), sondern einen vorausliegenden phänomenalen Raum zu verstehen sind, dessen Eigenschaften aber zugleich Bedingungen der Möglichkeit geometrischer Konstruktionen sind. Friedman hat allerdings seine frühere Position nach der Kritik von Carson z. T. relativiert. Vgl. Friedman 2012; Carson 1997, 490 ff.; Anderson 2015, 220.



Die Anschauungsform

sprechenden Denkoperationen ziehen. Friedman beschreibt dies als Differenz von Subsumtion und Substitution: Begriffliches Denken basiert für Kant auf der Operation der Subsumtion, wo entweder etwas Einzelnes unter einen Allgemeinbegriff oder ein niedrigerer unter einen höheren Begriff subsumiert wird. Demgegenüber bestehe das Wesen mathematischen Denkens für Kant in der Substitution: Die Ausführung einer allgemeinen Konstruktionsanweisung erzeugt eine individuelle Figur, die wiederum durch allgemeingültige Funktionen in eine andere individuelle Figur transformiert wird, etc.242 Eine derartige Logik der Substitution ist es auch, die es möglich macht, innerhalb einer sozialen Theorie perspektivischer Welterfahrung unsere jeweiligen Beobachterstandpunkte ineinander zu übersetzen, insofern derartige Per­ spektivenwechsel als »a group of (Euclidean) motions or transformations«243 verstanden werden können; d. h. als Translationen und Rotationen, wie sie auch dem Operieren mit Zirkel und Lineal zugrunde liegen. Charakteristisch ist in allen diesen Fällen, dass die Operationen bzw. Transformationen zwar allgemein und beliebig anwendbar sind, die Singularität des eingefügten Elements damit aber nicht verloren geht. Hierdurch unterscheidet sich eine solche Logik der operativen Substitution erneut von der prädikativen Subsumtion, die zu einer – paradigmatisch von Baumgarten beklagten – Entleerung führt, d. h. einem bei steigender Allgemeinheit einsetzenden Verlust von Information und Spezifizität.244 Umgekehrt erweisen sich bestimmte individuelle Eigenschaften dabei als widerständig, nämlich begrifflich nicht eliminierbar. Dies zeigen etwa die gruppentheoretischen Überlegungen von Weyl und Mühlhölzer: Mathematische Transformationsregeln bieten uns die Möglichkeit, durch das Befolgen allgemeiner Regeln oder Funktionen etwa zu einem linken Handschuh ein exaktes rechtes Gegenstück herzustellen. Dies bedeutet aber – wie gezeigt wurde – gerade nicht, dass die Singularität der Ausrichtung (die sich in der Relation zu unserem singulären Körperschema ergibt) durch allgemeine mathematische Regeln irgendwie aufgelöst werden könnte. Auch für die geometrische Konstruktion gilt, wie Nuzzo betont, dass 242

Friedman 2012, 237 f. Ebd. 243 f. Kant spricht in diesem Kontext davon, es sei »dieselbe bildende Synthesis, wodurch wir in der Einbildungskraft einen Triangel konstruieren, mit derjenigen gänzlich einerlei […], welche wir in der Apprehension einer Erscheinung ausüben«. KrV B 271. 244 »Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust«, Baumgarten, Alexander Gottlieb (1983): Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthe­ tica« (1750/58), Hamburg: Meiner, § 560, 145. Zum Problem der Leere der Allgemeinbegriffe und der »Aufhebung der besonderen Fälle« und der »Vernichtung ihrer Eigenart« vgl. auch Cassirer 1969, 8. 243

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die Konstruktion inkongruenter Gegenstücke letztlich den verkörperten Orientierungssinn voraussetzt.245 Zu betonen sind allerdings auch die Unterschiede zwischen phänomenalem und geometrischem Raum: Zentral ist dabei der »Sonderraum der inskribierten Fläche«, durch den die »umgebungsräumliche Dreidimensionalität in artifizielle Zweidimensionalität« umgewandelt wird.246 Zum anderen sind in unseren lebensweltlichen Praktiken (wie der Orientierung und der indexikalischen Identifikation von Gegenständen) entsprechende Transformationsregeln häufig nur implizit vorhanden. Geometrische Gegenstände existieren hingegen erst durch Akte sprachlicher Normierung, was sich an Kants Definitionstheorie zeigen wird. Es gibt also einen doppelten Hiatus zwischen einer transzendentalen Raumvorstellung, wie sie – so die These dieses Kapitels – einem intersubjektiv geteilten Weltbezug zugrunde liegt, und einem diagrammatischen Kalkül. Hierdurch kann Kants Theorie zum Verhältnis von Welt und Geometrie nicht im Sinne eines abstrahierenden Herausschauens oder mimetischen Abbildens gedeutet werden. Stattdessen lässt sich dieser Hiatus im Sinne einer Reflexivität deuten, die Implizites erst explizit und dadurch thematisierbar macht, mit Krämer: »Was eine Relation ist, erhält im Diagramm einen sinnlich wahrnehmbaren und auch explorierbaren Ort.«247 Entsprechend unterscheidet auch Stekeler-Weithofer »Formen, die sich im Handeln oder in einer Praxis zeigen und Formen, die Gegenstand explizit reflektierter Rede sind«.248 So lässt sich argumentierten: Die Geometrie bildet für Kant eine reflektierte Praxis jener Regeln, die unserer Praxis von indexikalischem Gegenstandsbezug und Orientierung zugrunde liegen, ohne diese in irgendeinem Sinne unmittelbar abzubilden.

245

Nuzzo 2009, 40. Krämer 2016, 14. 247 Ebd. 59. 248 Stekeler-Weithofer 2008, 63. Er nennt diese Dimension impliziter Wirksamkeit ›empraktisch‹. 246

4. Anschauliches Denken: Konstruktion

In diesem Kapitel geht es um das spezifische Modell eines anschaulichen Denkens, das Kant in seiner Theorie der Konstruktion entwickelt. Dieser Theorie zufolge ist die Mathematik als ein intuitiver Vernunftgebrauch auf Anschauung angewiesen, was hier erneut exemplarisch an der Geometrie betrachtet wird. Dabei geht es gleichermaßen darum, wie dieses Modell anschaulichen Denkens sich von einem diskursiven Denken unterscheidet, wie auch darum, das Verhältnis des operativen Konzepts Kants zum performativen Konzept Hegels und energetischen Modellen zu bestimmen. Im ersten Schritt zeigt sich hierbei erneut die Verbindung der epistemischen Aufwertung der Anschauung zur Metaphysik- und Intellektualismuskritik. Kants These vom methodischen Anschauungsbezug der Mathematik ist mit der Kritik eines logistischen Erkenntnisprogramms verbunden. Sie richtet sich gegen die Reduktion aller relevanten Unterschiede auf begriffliche Unterschiede und die Universalisierung des sprachlogischen Modells klassifikatorischer Allgemeinbegriffe. Dabei zeigen sich Analogien zwischen der Position des Rationalismus, gegen die sich Kant richtet, und der Position des Logizismus, die Kants Idee eines synthetischen Apriori der Anschauung aus der Epistemologie eliminieren will (II.4.1). Ein zweiter Schritt betrachtet die Konstruktion als Verfahren. Geometrische Erkenntnis ist nicht auf begriffsanalytischem Weg zu gewinnen, sondern durch ein operatives Handeln in der Anschauung, das sich in vier Eckpunkten skizzieren lässt (II.4.2): Grundbedingungen der Anschaulichkeit sind Externalisierung und Figürlichkeit (II.4.2.1). Der Denkprozess kombiniert basale Tätigkeiten der Hand, die Überwachung mit dem Auge und ein kodifiziertes Regelwissen. Wirksam ist hierbei nicht eine Logik der Subsumtion, sondern eine Logik der Substitution und Transformation (II.4.2.2). Inhalt dieses Wissens sind Anschauungsformen: räumliche Machbarkeiten und Unmöglichkeiten, die sich nicht im Medium sprachlicher Beschreibungen, sondern erst im Medium diagrammatischen Denkens zeigen. Hierin wird eine elementar ›technisch-praktische‹ Verfasstheit des geometrischen Wissens offenbar (II.4.2.3). Ziel ist die Erzeugung neuer Erkenntnisse durch ein Explizitmachen von Implizitem (II.4.2.4). In einem dritten Schritt werden die historischen und systematischen Hintergründe des Paradigmas ›Konstruktion‹ bei Kant beleuchtet. Die antike geometrische Konstruktionspraxis ist für Kant das Initial einer Reihe wissenschaftlicher Revolutionen, in denen sich jeweils die Einsicht in den hervorbringenden und normierenden Charakter menschlichen Handelns und Erkennens durchsetzt. Hierbei zeigt



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sich, wie eng das Paradigma der Kon­struktion mit dem kantischen Projekt insgesamt verknüpft ist, insofern es die Basis eines erkenntnistheoretischen Konstruktivismus bildet. Kants Umgang mit dem Konstruktionsbegriff enthält aber auch eine spezifisch neuzeitliche Tendenz, die im Übergang von einem Erkenntnisparadigma der Mimesis zu einem der Darstellung besteht. Insofern es auf einem operativen Machenkönnen (›Regeln Setzen und Operieren‹) beruht, kann Kants Konstruktionsparadigma von einem energetischen Bildparadigma (›Spontaneität des Objekts‹) und Hegels Entäußerungsparadigma (›Selbstbewusstsein durch Externalisierung‹) unterschieden werden. Zu betrachten ist schließlich aber auch die Ambivalenz eines operativen Bildkonzepts zwischen menschlicher Spontaneität und der Eingebundenheit in einen vorgängigen Raum (II.4.3).

4.1 Kants Mathematiktheorie als Kritik logizistischer ­Erkenntnisprogramme

Kant entwickelt seine Theorie anschaulichen Denkens in seiner Theorie der Mathematik, deren Verfahrensweise er in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft beschreibt (KrV B 740 ff.). Zentral ist hierbei die Unterscheidung zwischen dem »diskursiven Vernunftgebrauch nach Begriffen und dem intuitiven [Vernunftgebrauch] durch die Konstruktion der Begriffe« (KrV B 747). Während Kant sich über die Struktur des diskursiven Vernunftgebrauchs, den er auch als »philosophische Erkenntnis« (KrV B 741) bezeichnet, mit seinen rationalistischen Vorgängern in weitgehender Übereinstimmung befindet, schert seine Theorie mathematischer Erkenntnis radikal aus dieser Linie aus. Kant wendet sich damit gegen die Verallgemeinerung eines begriffsanalytischen Erkenntnisideals auf sämtliche Denkgegenstände. Teil des intellektuellen Systems der Welt der Leibniz-Wolff’schen Schulphilosophie ist das Versprechen eines vollständigen Systems der Metaphysik auf der Grundlage begrifflicher Wahrheit. Als zentrales Erkenntnisprinzip fungiert hierbei der Satz vom Widerspruch.249 Die gegenständliche Dimension dieses Wissens liegt in Beziehungen des Enthaltenseins von Begriffen untereinander. Diesem Erkenntnisideal zufolge wäre es möglich, jeden möglichen Erkenntnisgegenstand in der von der aristotelischen Logik entworfenen Form prädikativer Sätze zu rekon­struieren.250 In der Anwendung dieser These auf die Mathematik entsteht so eine Art logizistisches Erkenntnisprogramm, für 249

250

Anderson 2015, 5. Ebd. 232.



Anschauliches Denken: Konstruktion

das die Mathematik allein auf der Beziehung zwischen Begriffen beruht.251 In diesem Sinne vertritt etwa Mendelssohn die These »die Geometrie sei nichts anderes als eine Entwicklung des Begriffs des Raumes nach dem Satz des Widerspruchs«.252 Gegen die Idee einer uneingeschränkten Leistungsfähigkeit begrifflicher Erkenntnis wendet sich Kant mit Hinweis auf die inhärenten Mängel, vor allem die eingeschränkte expressive Kraft dieses begrifflich-prädikativen Erkenntnismodells.253 Dies bildet die Grundlage seiner Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Erkenntnis, zwischen einem rein begrifflich verfahrenden analytischen Denken und einem synthetischen Denken, das vom Begriff zur Anschauung übergeht.254 Kant will in der Folge die analytische Methode der Begriffsanalyse als diskursiven Vernunft­ gebrauch für die Philosophie reservieren.255 Die Geometrie hingegen setzt die synthetische Methode der Konstruktion als intuitiven Vernunftgebrauch voraus: Die Geometrie ist nicht analytisch a priori, sondern synthetisch a priori. Kant operiert dabei, wie Stekeler-Weithofer feststellt, mit einer doppelten Bedeutung des Wortes ›synthetisch‹.256 Dies steht zum einen für ›konstruktiv‹, insofern es bei Kant um eine Theorie der synthetischen Geometrie geht, 251 Diese Idee beruht für Kant auf dem Fehlschluss, von der Notwendigkeit der formalen Logik für die mathematische Erkenntnis auf ihren hinreichenden Charakter zu schließen: »Denn weil man fand, daß die Schlüsse der Mathematiker alle nach dem Satze des Widerspruchs fortgehen (welches die Natur einer jeden apodiktischen Gewißheit erfodert), so überredete man sich, daß auch die Grundsätze aus dem Satze des Widerspruchs erkannt würden; worin sie sich irreten«. KrV B 14. 252 Koriako 1999, 99. 253 »expressive power«. Anderson 2015, 5. 254 Anderson 2015, 3. 255 »Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen« (KrV B 741). Kant nennt diese analytische und apriorische Form der Erkenntnis auch ›diskursiver Vernunftgebrauch‹. Gemeint ist hiermit nicht die »eigentümliche[] Methode der Transzendentalphilosophie« (KrV B 766), die sich Kants Meinung nach offenbar nicht im Rahmen seiner Methodenlehre explizieren lässt. Gemeint ist stattdessen eine Konzeption der Begriffsanalyse, die einerseits auf der aristotelischen Logik, andererseits auf der leibnizschen Theorie der Vorstellungsarten fußt. In solchen »Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben« besteht für Kant ein »großer … und vielleicht der größte« Teil »von dem Geschäfte unserer Vernunft« (KrV B 9). Sie sind insofern analytisch, als sie die Menge an Informationen zu einem Begriff nicht »erweitern, sondern nur aus einander setzen.« (ebd.) Ihre Produktivität besteht demnach bloß in einer »logische[n] Verbesserung« (KrV B 749), einem Zuwachs an Bewusstsein und Deutlichkeit, das sich mit dem Projekt philosophischer Aufklärung verbindet. Paradigmatisch ist hierbei ein Begriff wie ›Recht‹, ein intellektuelles Konzept, das im Alltagsverstand nur verworren gedacht wird, und durch die Rechtslehre analytisch geklärt wird. vgl. KrV B 60 f. 256 Stekeler-Weithofer 2008, 22.

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die auf der Lösung diagrammatischer Konstruktionsaufgaben beruht, und nicht etwa um die analytische oder algebraische Geometrie.257 Zum anderen steht es für ›nicht-analytisch‹ im Sinne der genannten Kritik logizistischer Erkenntnisprogramme. Die Eigenschaft synthetisch zu sein, findet sich dabei auf mehreren Ebenen: So kann mit Nuzzo schon die gerichtete Relation einer Figur auf einen Beobachter als nicht-analytische, synthetische Relation verstanden werden – das Prinzip der Bestimmung der Gegenden im Raum ist somit ein synthetisches Prinzip.258 Wie später gezeigt werden soll, ist für Kant auch die Idee entscheidend, dass sich die Definitionen der Geometrie sich von denen der Philosophie dadurch unterscheiden, dass es sich um synthetische Definitionen (als Konstruktionsanweisungen) handelt.259 Und schließlich ist es für Kant eine entscheidende Eigenschaft der geometrischen Konstruktion, Überschüsse zu erzeugen, die in den Konstruktionsanweisungen selbst nicht enthalten waren. Kants Idee der Geometrie als synthetischer Erkenntnis ist somit, wie man modern sagen könnte, in ihrem Grundzug medienkritisch motiviert: Zum einen als Kritik an der intellektualistischen These, dass nur begriffliche Unterschiede für das Denken relevante Unterschiede sind. Zum anderen aber auch gegen die falsche Übertragung eines sprachlogischen Modells auf die Mathematik: Die im logizistischen und reduktionistischen Programm der Schulphilosophie zugrunde gelegte aristotelische Logik ist essentiell Sprachlogik, nämlich eine Logik von einstelligen Prädikaten bzw. klassifikatorischen Allgemeinbegriffen wie ›Mensch‹, ›sterblich‹ etc. Es ist daher ein zentrales Projekt Kants zu zeigen, dass eine derartige Logik zur Rekonstruktion geometrischer Erkenntnis überhaupt nicht angemessen ist. Stattdessen interagiert das begriffliche Erkennen in der Mathematik mit einer Logik von Raumrelationen, die nicht auf einen intellektuellen oder sprachlichen Bestand reduzierbar ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht als Zufall, dass die Standardkritik an Kant ebenfalls im Rahmen eines logizistischen und reduktionistischen Erkenntnisprogramms der Mathematik formuliert wurde. Hanna bezeichnet die Ablehnung von Kants synthetischem Apriori der Mathematik als Wittgenstein-Carnap-Schlick-Ayer-These260, die als »third dogma of empiricism«261 für die Vertreter des logischen Empirismus und der frühen sprachanalytischen Philosophie den Status einer zentralen Übereinkunft hatte. Der von diesen Strömungen zu Beginn des 20. Jahr257

Ebd. 3. Nuzzo 2009, 34. 259 vgl. Kapitel II.5.1.3. 260 Hanna 2001, 237. 261 Ebd. 238. 258



Anschauliches Denken: Konstruktion

hunderts vollzogene – logizistisch aufgefasste – linguistic turn könnte so auch als Rollback einer von Kant vollzogenen Wendung zu Anschauung und Bild und der damit verbundenen Intellektualismuskritik verstanden werden.262 Entsprechend erscheint es konsequent, dass eine praxeologische Kritik am Logizismus und der Versuch der Rehabilitierung diagrammatischer Visualisierung in der Mathematik mit einem Revival von Kants Anschauungstheorie einhergeht.263 Wie ist aber ein solches Revival zu verstehen ? Schließlich ist es unbestreitbar, dass spätestens Hilberts Axiomatisierungs- und Russels Logifizierungsprogramm den Rekurs auf anschauliche Konstruktionen in der Geometrie methodisch obsolet gemacht haben. Hier ergeben sich zwei Optionen einer Verteidigung Kants: Den Vertretern der logischen Lesart und der sogenannten Kompensationsthese geht es allein um eine historische Rehabilitierung: Kant habe mit dem Rekurs auf Anschauung die Mängel der traditionellen Prädikatenlogik kompensiert.264 Stekeler-Weithofer geht als Vertreter einer diagrammatischen und praxeologischen Lesart weiter, wobei sich im Sinne eines Paradigmenwechsels auch das Bild von Mathematik ändert. Kritisiert wird ein Verständnis von Mathematik als abstrakter Strukturwissenschaft, wie es exemplarisch vom Hilbert-Russel-Programm vertreten wird. Diesem Verständnis zufolge beruht Mathematik auf formaler Logik, Arithmetik und Mengenlehre, ist axiomatisch verfasst und unanschaulich.265 Stekeler-Weithofer geht es hingegen darum, Mathematik als eine »praktische Form oder geformte Praxis«266 zu verstehen, d. h. als eine menschliche Aktivität, die durch soziale, mediale und körperliche Bedingungen mitgeformt wird. Seine Variante eines practical turn ist dabei vor allem eine Wende zur vergessenen Semantik bzw. einem semantischen Fundament der Mathematik. Das Bild der abstrakten Strukturwissenschaft reduziert Mathematik auf syntak262 Selbstverständlich unterscheiden sich derartige Programme in ihren begrifflichen Mitteln wesentlich von den logischen Rekonstruktionsprogrammen der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts. Sie profitieren von Innovationen der Logik, die zugleich von Kant vorbereitet wurden. 263 Vgl. zu diesem Thema und dem folgenden Absatz ausführlich Beck 2023. 264 Die Kompensationsthese besagt, dass die moderne polyadische Relationenlogik das leisten kann, was die monadische Prädikatenlogik zu Zeiten Kants nicht leisten konnte, weshalb Kant dies durch Rekurs auf Eigenschaften der Anschauung kompensieren musste. Vgl. hierzu Friedman 1992 sowie Friedman 2012. 265 Als »inzwischen allgemein verbreitete[n] Meinung«, wonach »die formale Logik, Arithmetik und Mengenlehre den Kern der Mathematik als abstrakter und deswegen angeblich ›unanschaulicher‹ (axiomatisch verfasster) ›Strukturtheorie‹ aus[machten], die als solche einer ›anschaulichen‹ Geometrie in ähnlicher Weise gegenübergestellt wird wie eine ›digitale‹ Repräsentation von Daten einer ›analogen Abbildung‹.« Ebd. 2. 266 Stekeler-Weithofer 2008, 21.

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tische Beziehungen (formale Inferenzregeln, mengentheoretische Axiome). Die kantische Theorie des synthetischen Apriori kann dann als eine Theorie verstanden werden, wie rein syntaktischen Aussagen durch Anschauungen Bedeutungen zugeordnet werden können. Hier geht es also nicht allein um eine historische Rehabilitierung Kants. Stattdessen wird der Idee der abstrakten, syntaktischer Strukturwissenschaft eine Idee von Mathematik als menschlicher Aktivität gegenübergestellt, die eines semantischen Fundaments bedarf.267 Dieses liegt in einer gemeinsamen Praxis in der Anschauung, für die Kants Konstruktionstheorie als Modell dienen kann.268

4.2 Konstruktion: vier Eckpunkte

Eine zentrale Unterscheidung der Methodenlehre lautet: »Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Konstruktion der Begriffe« (KrV B 741). Der Spezifik eines solchen anschaulichen Denkens oder intuitiven Vernunftgebrauchs gegenüber dem diskursiven Vernunftgebrauch besteht, wie in Kapitel II.2 betont, nicht im begriffslosen Anschauen, sondern in der unterschiedlichen Konstellation von anschaulichen und begrifflichen Elementen.269 Die eingängigste Charakteristik der als Konstruktion bezeichneten Methode gibt Kant anhand der Frage nach dem Beweis des Winkelsummensatzes (Euklid 1.32):270 267 Stekeler-Weithofer formuliert das so, dass man durch Diagramme »die Wahrheit für elementargeometrische Aussagen … allererst fest[]legt« (Stekeler-Weithofer 2008, 34). Insgesamt kann festgestellt werden, dass Kants Deutung der euklidischen Geometrie eher mit einer Genese von Erkentnissen in Zusammenhang gebracht wird. Giaquinto vertritt dementsprechend die These, dass ein illustrierendes Diagramm zwar für den Beweis eines Theorems weggelassen werden könne, ohne, dass dieser aufhört evident zu sein. Dies gelte aber nicht für den »process of discovery«, der »essentially visual« sei. Giaquinto 2007, 67. Koriako wirft Kant vor, deduktive Beweisstrukturen zugunsten der Frage nach der Genese von Erkenntnissen zu vernachlässigen. Shabel argumentiert mit Bezug auf Euklid, »that Euclid’s project is not a foundational one: he was not seeking to ground or rigorize the pre-existing elements of plane geometry, as is commonly supposed, but rather was developing the original objects and methods of elementary geometry.« Shabel 2003, 5 268 Vgl. zu diesen Themen und zum practical turn ebenfalls Beck 2023. 269 Vgl. Kapitel II.2 270 Euklid 1.32: Die Summe der Winkel im Dreieck ist gleich zwei rechter. Vgl. Euklid (1962): Die Elemente. Buch 1–13, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 23. Dieses Theorem war bereits das bevorzugte Beispiel des Aristoteles. Vgl. Heath, Euclid, 1956, p. 320, zitiert aus Shabel 2003, 183. In der KrV dominiert ebenfalls die Elementargeometrie des Dreiecks, vgl. dazu Friedman 2012, 234. Dies betrifft Euklid I.5 (dass im gleichschenkligen



Anschauliches Denken: Konstruktion

»Man gebe einem Philosophen den Begriff eines Triangels, und lasse ihn nach seiner Art ausfündig machen, wie sich wohl die Summer seiner Winkel zum rechten verhalten möge. Er hat nun nichts als den Begriff von einer Figur, die in drei geraden Linien eingeschlossen ist, und an ihr den Begriff von eben so viel Winkeln. Nun mag er diesem Begriffe nachdenken, so lange er will, er wird nichts Neues herausbringen. Er kann den Begriff der geraden Linie, oder eines Winkels, oder der Zahl drei, zergliedern und deutlich machen, aber nicht auf anderen Eigenschaften kommen, die in diesen Begriffen gar nicht liegen.« (KrV B 744)

Der Philosoph ist methodisch auf die Analyse des Begriffs ›Dreieck‹ und dessen unmittelbar darin enthaltenen Eigenschaften nach dem Satz vom Widerspruch angewiesen. Daher kann er den Winkelsummensatz nicht herausfinden. Dies gelingt allein der geometrischen Methode durch Konstruktion in der Anschauung:

Abb. 1: Euklid Proposition 1.32

»Allein der Geometer nehme diese Frage vor. Er fängt sofort davon an, einen Triangel zu konstruieren. Weil er weiß, daß zwei rechte Winkel zusammen gerade so viel austragen, als alle berührende Winkel, die aus einem Punkte auf einer geraden Linie gezogen werden können, zusammen, so verlängert er eine Seite seines Triangels [CD, M.B.], und bekommt zwei berührende Winkel, die zweien rechten zusammen gleich sind. Nun teilet er den äußeren von diesen Winkeln, indem er eine Linie mit der gegenüberstehenden Seite des Triangels parallel zieht [CE, M.B.], und sieht, daß hier ein äußerer berührender Winkel entspringe, der einem inneren gleich ist, u. s. w. Er gelangt auf eine solche Weise Dreieck die beiden Winkel auf der Grundfläche gleich sind, Vorrede B XI f.); Euklid I.20 (Seitensummensatz: Zwei Seiten zusammengenommen sind immer länger als die Dritte; transzendentale Ästhetik, B 39); Euklid I.22 (Aus drei Linien, von denen jeweils zwei größer als die dritte sind, lässt sich ein Dreieck konstruieren; Axiome der Anschauung, B 205); Euklid 1.32 (Winkelsummensatz; Methodenlehre, B 744 f.).

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durch eine [/] Kette von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuchtenden und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage.« (KrV B 744 f. Anmerkung und Hervorhebung MB)

An die Stelle eines begriffsanalytischen Verfahrens (des Philosophen) tritt so das operative Verfahren des Mathematikers. An diesem sollen im Folgenden vier zentrale Eigenschaften beschrieben werden: Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit (4.2.1); das Verfahren: iterative Transformationen (4.2.2); der Inhalt: Anschauungsformen (4.2.3); das Ziel: Explizitmachen des Impliziten (4.2.4)

4.2.1 Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit

Die zitierten Passagen machen zunächst deutlich, dass Kant keine abstraktionstheoretische oder auf Introspektion beruhende Auffassung mathematischer Methode vertritt, wie dies einige Stellen der transzendentalen Ästhetik nahezulegen scheinen: Einer solchen extrem problematischen Position zufolge bestünde reine Anschauung in der Fähigkeit zum introspektiven, abstrahierenden ›Herausschauen‹ geometrischer Prinzipien aus einer Raumvorstellung, die uns wie eine Art innermentale Brille aufgesetzt ist.271 Die Methodenlehre zeigt dagegen deutlich: Es geht Kant nicht um das introspektive Haben von Intuitionen, sondern um das Operieren mit diagrammatischen Kalkülen.272 Die Idee einer synthetischen Erkenntnis ist für Kant verbunden mit einer Externalisierung und Konkretisierung: »Wenn man von einem Begriffe synthetisch urteilen soll, so muß man aus diesem Begriffe hinausgehen, und zwar zur Anschauung, in welcher er gegeben ist.«273 Dies kann als Medienwechsel von der Ebene sprachlicher Beschreibungen in die Ebene diagrammatischer Darstellungen verstanden werden. Dem begrifflichen Denken in abstracto wird so das anschaulichen Denken in concreto gegenüber-

271 Zur Kritik des Verständnisses von Anschauung als ›Intuition‹ vgl. Stekeler-Weithofer 2008, 3. Zur Kritik an einer »Abstraktionslehre des Weglasssens« generell vgl. ebd. 372. Vgl. zur Kritik einer solchen Auffassung (allerdings mit der Annahme, dass Kant diese vertrete) Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin, Boston: de Gruyter, 131 ff. 272 Koriakos These, dass Kant in der transzendentalen Ästhetik und Methodenlehre zwei inkompatible Theorien vorlegt, im Sinne von zwei Versuchen, dasselbe Problem zu lösen, soll später genauer diskutiert und zurückgewiesen werden. Vgl. Koriako 1999, 263 ff., sowie Kapitel II.5.2.3. 273 KrV B 749.



Anschauliches Denken: Konstruktion

gestellt.274 Diese Eigenschaft des kantischen Anschauungsbegriffs haben vor allem Vertreter der sogenannten logischen Lesart stark gemacht: Hintikka identifiziert den von Kant geforderten Schritt in die Anschauung mit der euklidischen Ekthesis: der Herstellung einer singulären Repräsentation oder Instanziierung,275 die als Platzhalter eines Allgemeinen fungiert.276 Wie das oben zitierte Beispiel vom Winkelsummensatz zeigt, bildet diese erste Konkretisierung in einer figürlichen Darstellung aber erst den Ausgangspunkt für weitere Manipulationen und Transformationen, etwa durch die Einfügung von Hilfskonstruktionen.277 Entgegen der Vorstellung einer unmittelbaren Intuition gehört für Kant zur Externalität des geometrischen Denkens also auch eine temporale Dimension, die sich einer bestimmten, einzuhaltenden Reihenfolge von Schritten realisiert.278

4.2.2 Das Verfahren: iterative Transformationen

Das Operieren im geometrischen Kalkül, wie es Kant beschreibt, beruht auf drei Elementen: (i) Erstens der Normierung von zwei elementaren Arten von Bewegungen, nämlich Translationen und Rotationen. In der Elementar274 KrV B 749. Vgl. auch: Sie »eilt sogleich zur Anschauung, in welcher sie den Begriff in concreto betrachtet«. KrV B 744. 275 Hintikka 1992, 28 f. Diese ist für Hintikka allerdings analog zu verstehen mit der existenziellen Instanziierung im quantorenlogischen Kalkül. vgl. Anderson 2015, 216. Vgl. zur Rolle der Ekthesis auch Krämer 2016, 232. 276 Diese Anschauung soll also eine sein, »in welcher dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten muß.« KrV B 744. Zur Interpretation dieser Allgemeinheit vgl. Kapitel II.5.2. 277 For Kant »a mathematical argument is synthetic if it involves the use of ›auxiliary constructions,‹ i.e. the introduction of new particulars over and above those given in the conditions of the argument.« Hintikka zitiert aus Webb, Judson (1987): »Immanuel Kant and the Greater Glory of Geometry«, in: Abner Shimony; Debra Nails (Hg.): Naturalistic Epistemology: A Symposium of Two Decades, Dordrecht: Springer, 17–70, 26. Hintikka macht dies zum zentralen Kriterium seiner Interpretation diagrammatischen Denkens als theorematischem Schlussfolgern. Dieses unterscheidet sich von corollorialem Schlussfolgern, wo man ohne weitere Erkenntnisschritte etwas unmittelbar ablesen kann. Im Sinne einer analytischen Erkenntnis könnten wir so z. B. über das Dreieck eine ganze Reihe trivialer Sachverhalte sagen: dass es mehr als zwei Ecken hat, dass sein Umfang die Summe der Länge seiner Seiten ist etc. vgl. hierzu Stjernfelt, Frederik (2014): Natural Propositions. The Actuality of Peirce’s Doctrine of Dicisigns, Boston, Mass.: Docent Press, 263 ff. 278 Vgl. auch Bogen zu Peirce: »Mit dem Begriff ›Diagramm‹ bezeichnet er nicht das abgeschlossene Ergebnis der Formgebung, sondern den Prozess der kontrollierten (Re-) Konstruktion, bei dem nicht nur Relationen der Formen in der Fläche, sondern auch Relationen der Formgebung in der Zeit relevant werden.« Bogen 2005, 165.

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geometrie können alle Figuren und Hilfskonstruktionen mit zwei basalen »Werkzeuge[n]«, nämlich »Zirkel und … Lineal«279 ausgeführt werden. Hierbei geht es, wie Kant betont, nicht um wirkliche Instrumente im Sinne einer mechanischen Herstellungspraxis, sondern um allgemeine Funktionen der Einbildungskraft, die auf beliebige Weise realisiert werden können.280 Die universelle Anwendbarkeit dieser Operationen begründet Euklid durch drei Postulate: zwischen zwei Punkten eine gerade Linie ziehen; eine gerade Linie verlängern; durch zwei Punkte einen Kreis konstruieren.281 Hierdurch ist das bildliche Ausdruckspotential der geometrischen Figuren definiert: Linienstücke und Kreisbögen.282 (ii) Dem entspricht – in einem Wechselverhältnis von Tun und Beobachten – zweitens die kontrollierende Tätigkeit des Auges (»verlängert er … bekommt … Nun teilet er … und sieht, daß hier … entspringe«). Kants Rede, dieser Prozess sei »immer von der Anschauung geleitet« kann so gedeutet werden, dass die Identität einer Figur im Zuge von Transformationen mit dem Auge überwacht werden kann.283 (iii) Ein drittes essentielles Element bildet ein Regelwissen: Das Operieren in der Anschauung beruht auf einem etablierten und kodifizierten Kalkül.284 Wie Kants Beschreibung zeigt, baut die Konstruktion auf einem Vorwissen zuvor schon aufgezeigter Theoreme auf (»Weil er weiß, daß zwei rechte Winkel zusammen …«). Hieraus erst ergibt sich ein eine »Kette von Schlüssen«, d. h. die »implikative Struktur«, die für mathematisches Denken entscheidend ist.285 Wie Friedman zeigt, unterscheiden sich diese Operationen vom Verfahren der Begriffsanalyse nach dem Schema der aristotelischen Logik. In dessen Logik der Subsumtion geht es darum, Singuläres unter ein allgemeines Merkmal zu bringen (»Sokrates ist sterblich.«). Demgegenüber hat es die Kon­ struktion mit einer Logik der Substitution zu tun, Singuläres wird in anderes Singuläres transformiert: Das Verlängern einer Linie, das Einfügen einer Parallele etc. transformiert eine gegebene individuelle Figur in eine neue individuelle Figur, an der zugleich neue interne Relationen sichtbar werden. Die Allgemeingültigkeit liegt nicht in einem gemeinsamen Merkmal, sondern in 279

EEKU 12 Fußnote. Ebd. Dies wird in Kapitel II.5.4.1 noch genauer erörtert: Es ist prinzipiell gleichgültig, ob wir diese Operationen imaginieren, mit dem Finger in die Luft, mit dem Stock in den Sand zeichnen. 281 Vgl. zur Herkunft dieser Operationen Stekeler-Weithofer 2008, 24. 282 Vgl. auch Bogen 2005, 158. 283 Anderson verwendet hierfür den Begriff ›tracking‹. Anderson 2015, 216. 284 Vgl. etwa Bogen: Das diagrammatische Operieren ist »in einen Diskurs eingebettet, der Konstruktionsvorschriften macht und zur Verallgemeinerung der Beobachtungen anhält.« Bogen 2005, 165. 285 Koriako 1999, 278. 280



Anschauliches Denken: Konstruktion

der Widerholbarkeit der Operationen mit gleichem Ergebnis, d. h. der Anwendung eines Schemas.286 Daher lassen sich die diagrammatischen Operationen vom Prinzip her beliebig iterieren und kombinieren. Es gilt – wie Krämer für alle formale Verfahren feststellt – »die unbegrenzte Wiederholbarkeit der zu beschreibenden Handlungsabläufe«.287 Hierdurch unterscheidet sich die Konstruktion vom poetischen Wissen der Kunst, wie es Hegel entwirft. Letzteres hat mit quasi-organischen Ganzheiten zu tun, die in einem gewissen Sinne immer schon abgeschlossen sind. Auch darin, dass die Regeln des Verfahrens in expliziten sprachlichen Beschreibungen angebbar sind, liegt ein großer Unterscheid zum anschaulichen Denken der Kunst bei Hegel. Dadurch ist die diagrammatische Konstruktion nicht wie die Kunstproduktion an nichtobjektivierbare Fähigkeiten gebunden, sondern kann prinzipiell von jedem durchgeführt und wiederholt werden. Dies geht so weit, dass sich der Rezipient dieses Wissens eigentlich notwendig zum Ko-Autor machen muss. Es reicht nicht, einfach das ein Ergebnis abzulesen. Der operative Zusammenhang muss als solcher nachvollzogen werden, idealerweise durch Anfertigung einer eigenen Zeichnung.288 286 »Such constructive operations have all the generality or universality of the corresponding concepts. Unlike general concepts themselves, however, the outputs of a schema are indeed singular or individual representations – particular instances, or what Kant calls images, which fall under the concept in question. The outputs of a schema, therefore, are not conceptual or logical entities like propositions or truth-values.« Friedman 2012, 237. 287 Krämer, Sybille (1988): Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in ge­ schichtlichem Abriss, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 2. Auf die iterative Natur der mathematischen Operationen weist ebenfalls Friedman hin: »Reasoning by substitution is therefore essentially iterative, and it is precisely such iterative thinking, for Kant, that underlies both pure geometry (in the guise of Euclidean proof)  and the more general calculative manipulation of magnitudes in algebra and arithmetic.« Friedman 2012, 237 f. Dies gilt auch für die Möglichkeit der unendlichen Wiederholung, die ebenfalls exklusiv in Raum und der quantitativen Synthesis der Mathematik möglich ist: So sagt das 4. Raumargument in der A-Version der KrV: »Wäre es nicht die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung, so würde kein Begriff von Verhältnissen ein Principium der Unendlichkeit derselben bei sich führen.« KrV A 25. Stekeler-Weithofer formuliert diese »zentrale These Kants« so: »Nur in der Mathematik und über die rekursiven Definitionen mathematischer Ausdrücke gibt es Unendlichkeiten«. Stekeler-Weithofer 2008, 6. Auf einer metaphorischen Ebene gesprochen geht es hier also gerade nicht um die profundi­ tas, d. h. ›Tiefe‹ der Erkenntnis, wie im rationalistischen Erkenntnisparadigma, sondern um ›Oberflächlichkeit‹ (Krämer). 288 Um diese Demonstration des Winkelsummensatzes nachzuvollziehen, wird man typischerweise, auch dann, wenn eine Abbildung vorhanden ist, eine eigene Zeichnung anfertigen, und somit als »Rezipient zugleich KoAutor« (Bogen 2005, 165) sein. »Es wird wahrscheinlich in dem Buch eine Zeichnung eines solchen Diagramms geben. Kopieren

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Teil II · Kant: Konstruktion

4.2.3 Der Inhalt: Anschauungsformen

Kann epistemischer Diagrammgebrauch generell als ›intelligent use of space‹289 bezeichnet werden, so kommt den geometrischen Diagrammen eine Sonderstellung zu: Raumrelationen dienen hier nicht dem Nachdenken über Nichträumliches, sondern dem Nachdenken über Gesetzmäßigkeiten des Raumes selbst. Für Kant bedeutet dies zunächst: über den Raum als transzendentaler Anschauungsform. Damit ist, wie in Kapitel II.3 gezeigt, nicht eine innermentale Struktur oder ein visueller Raum gemeint, sondern Räumlichkeit, wie wir sie in der Interaktion visueller, haptischer und motorischer Fähigkeiten erfahren. Diese bildet die Bedingung räumlicher Orientierung, ebenso der indexikalischen Identifikation von Gegenständen und ist zudem mit einer intersubjektiven Dimension indexikalischen Zeigens verbunden. Es scheint daher sinnvoll, mit Stekeler-Weithofer, Anschauungsformen im kantischen Sinne als Praxisformen zu begreifen, als eingebundenen, notwendigen Bestandteil einer gemeinsamen menschlichen Lebensform. Wie im nachfolgenden in Kapitel II.5 gezeigt werden soll, unterscheidet sich die Form des Wissens über Raumrelationen in den alltäglichen Praktiken und im diagrammatischen Operieren allerdings deutlich. Dies gilt etwa für die Ebene expliziter Definitionen und formalisierter Regeln,290 aber auch den medialen Status des diagrammatischen Bildraums als Sonderraum. Erkenntnis von Raumrelationen bedeutet in der euklidischen Geometrie: Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten von Translationen und Rotationen auf einer euklidischen Ebene.291 Trotz diesem Hiatus zwischen alltäglichem und geometrischen Raumverständnis ist auch die geometrische Konstruktion mit Kant nicht als abstrakte Theorie, sondern ebenfalls als praktische Tätigkeit zu betrachten: Die Geometrie handelt von der Frage wie (räumliche) Erscheinungen »ihrer Anschauung … nach, nach Regeln einer mathematischen Synthesis erzeugt werden können«.292 Mit Krämer geht es für Kant also weniger um ein ›knowing that‹, als um ein ›knowing how‹293; mit Stekeler gesprochen, um ein Wissen über Sie sie nicht, sondern machen Sie Ihre eigene Zeichnung, indem sie genau der allgemeinen Beschreibung folgen.« Peirce Bd. II, 218, MS 593 (1904), zitiert aus Bogen ebd. 289 Vgl. Kirsh, David (1995): »The Intelligent Use of Space«, Artificial Intelligence 73, 31–68. 290 Vgl. Kapitel II.5.1.3 291 Zur entscheidenden Rolle der Verflachung für raumbasierte Erkenntnisformen vgl. Krämer 2016, 56. 292 KrV B 221. Der Inhalt ist wesentlich Machbarkeit, das kann etwa auch in Formulierungen Kants festgemacht werden, dass die Geometrie nicht, wie etwa die experimentelle Physik mit einem realen materiellen Dasein zu tun hat, sondern bloß mit »Erscheinungen ihrer bloßen Möglichkeit nach« (KrV B 221) Vgl. hierzu auch KrV B 271. 293 Vgl. Krämer 2016, 236.



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»technische Möglichkeiten (…) und über absolute Unmöglichkeiten«.294 Der Unterschied zwischen einem theoretischen und einem derart operativen Wissen wird an Kants Unterscheidung zweier Typen von Notwendigkeit deutlich, die Hanna als modalen Dualismus bezeichnet.295 Ursache der Allgemeinheit und Apriorität geometrischer Erkenntnisse ist für Kant nicht logische Notwendigkeit, wie sie nach dem Satz des Widerspruchs festgestellt werden kann, sondern anschauliche Notwendigkeit296: »So ist in dem Begriffe einer Figur, die in zwei geraden Linien eingeschlossen ist, kein Widerspruch, denn die Begriffe von zwei geraden Linien und deren Zusammenstoßung enthalten keine Verneinung einer Figur; sondern die Unmöglichkeit beruht nicht auf dem Begriffe an sich selbst, sondern der Konstruktion desselben im Raume, d. i. den Bedingungen des Raumes und der Bestimmung desselben …«297

Der Begriff des geradseitigen Zweiecks ist für Kant also logisch denkbar, d.h. syntaktisch möglich. Daher kann die Geometrie für ihn nicht der Methode einer rein logischen Erkenntnis auf der Grundlage des Satzes vom Widerspruch folgen.298 Die Unmöglichkeit des geradseitigen Zweiecks liegt nicht darin, dass wir es nicht denken, sondern darin, dass wir es nicht zeichnen können. Erst durch den Medienwechsel von der sprachlichen Beschreibung zur anschaulichen Konstruktion wird die Unmöglichkeit einer solchen Figur erkannt.299 Die Idee einer von der logischen getrennten anschaulichen Not294

Stekeler-Weithofer 2008, 54. Er nennt dies auch »eine allgemein funktionstüchtige Praxis bzw. ein allgemeines Wissen über Unmöglichkeiten«. Ebd. 53. 295 Hanna 2001, 234 ff., insbesondere 264 ff. vgl. hierzu auch Gomez 1986, Carson 1997. 296 Vgl. hierzu etwa Friedman: »Kant takes pure mathematics essentially to involve non-discursive or non-conceptual cognitive resources, which, nonetheless, possess the universality and necessity of purely conceptual thought.« Friedman 2012, 237. 297 KrV B 268. Vgl. auch eine andere Stelle: »Nehmet nur den Satz: daß durch zwei gerade Linien sich gar kein Raum einschließen lasse, mithin keine Figur möglich sei, und versucht ihn aus dem Begriff von geraden Linien und der Zahl zwei abzuleiten; oder auch, daß aus dreien geraden Linien eine Figur möglich sei, und versucht es eben so bloß aus diesen Begriffen. Alle eure Bemühung ist vergeblich, und ihr sehet euch genötigt, zur Anschauung eure Zuflucht zu nehmen, wie es die Geometrie auch jederzeit tut.« KrV B 65. 298 Für Leibniz folgt die Unmöglichkeit einer solchen Konstruktion hingegen unmittelbar aus der Widersprüchlichkeit des Begriffs. Vgl. Ende, Helga (1973): Der Konstruk­ tionsbegriff im Umkreis des deutschen Idealismus, Meisenheim/Glan: Hain, 15. 299 Hierin liegt auch eine zentrale Strategie, um Kant gegen jenen Einwand zu verteidigen, der aus der Entdeckung der Konsistenz nichteuklidischer Geometrien entsteht: Nichteuklidische Geometrien wären auch für Kant denkbar, aber gerade nicht konstruierbar. Der entsprechende Einwand, dass das geradseitige Zweieck in der sphärischen Geometrie möglich ist, lässt sich damit zurückweisen, dass zur Veranschaulichung

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wendigkeit macht klar, wie die (euklidische) Geometrie in der Anschauung nicht nur methodisch (im Sinne eines Operierens in conreto), sondern auch inhaltlich determiniert ist.300 Diese Eigenschaft kann mit dem Begriff der »[a]uto-consistency« erklärt werden, wie ihn die moderne Diagrammtheorie kennt. Hierunter versteht Shimojima die »incapacity of the system to express a certain range of inconsistent sets of information«.301 ›Geradseitiges Zweieck‹ lässt sich demnach zwar sagen, ohne dass gegen die syntaktischen Regeln der Sprache verstoßen wird. Das diagrammatische Kalkül enthält hingegen keine Möglichkeit diesen Sachverhalt auszudrücken, weil er nach dessen Bedingungen inkonsistent ist. Diese Autokonsistenz diagrammatischer Verfahren lässt sich mit der bildepistemologischen These einer Unfähigkeit der Bilder zur Negation zusammenführen. Die Unmöglichkeit der Figur zeigt sich daran, dass sie nicht konstruiert werden kann, nicht aber etwa so, dass man die Figur zunächst zeichnet und dann durchstreicht.302 Die Unfähigkeit der Bilder zur Negation erweist sich hier also als Kehrseite ihrer Evidenz.303 ein Wechsel in die dritte Dimension nötig ist, dass solche Veranschaulichungen selbst euklidisch funktionieren, und die entsprechenden Parameter nur durch sprachliche Beschreibungen umgedeutet werden. Vgl. Carson 1997, Hanna 2001, 270 ff.; zur Kritik solcher Lesarten: Friedman 1992, 55. Die nicht-euklidischen Geometrien sind gerade nicht auf dem Wege der Konstruktion, sondern im Rahmen einer diskursiven Argumentation gewonnen worden, die sich des Prinzips der reductio ad absurdum bediente: Ziel war es ursprünglich, die Abhängigkeit des Parallelenaxioms von einem der anderen euklidischen Axiome zu zeigen. Hiermit liegt aber gerade – mit Wildgruber gesprochen – eine Erscheinungsform des ›Schließens der Augen in der Mathematik‹ vor, die den Bereich des Konstruierbaren verlässt. Wildgruber, Gerald (2007): »Das Schließen der Augen in der Mathematik«, in: Gottfried Boehm; Gabriele Brandstetter; Achatz von Müller (Hg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München: Fink, 205–235. Vgl. hierzu ebenfalls erneut Beck 2023. 300 An »realen Figuren oder Diagramme[n] auf hinreichend ebenen Flächen« lassen sich »die reinen geometrischen Wahrheiten zeigen.« Die geometrisch wahren Aussagen sind somit abhängig von solchen »beliebig wiederholbaren Demonstrationen«. StekelerWeithofer 2008, 22. 301 Shimojima, Atsushi (2004): »Inferential and Expressive Capacities of Graphical Representations: Survey and Some Generalizations«, in: Alan Blackwell; Kim Marriott; ders. (Hg.): Diagrammatic Representation and Inference, Berlin [u. a.]: Springer, 18–21, 18. 302 In der Imagination wird man vermutlich typischerweise zwischen einer Figur, in der eine Seite nicht gerade ist, und einer Vorstellung zweier deckungsgleicher Linien hinund herspringen. 303 Zur Unfähigkeit der Bilder zur Negation vgl. Heßler, Martina; Mersch, Dieter (2008): »Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken ?«, in: Martina Heßler; Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld: Transcript, 8–49, 21 ff. Es gibt selbstverständlich auch Bilder, deren besondere Eigenschaft darin besteht, kontrafaktisches und widersprüchliches auszudrücken, vgl. dazu Krämer 2016, 43 ff. Im Zentrum stehen bei Krämer mechanische Paradoxien, d. h. unmögliche Maschinen, und



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Dass Kant von einer elementar praktischen und technischen Verfasstheit des geometrischen Wissens ausgeht, zeigt sich an folgender Argumentation aus der ersten Einleitung in die KU: Es gibt, so Kant, weder eine von der Konstruktionspraxis unabhängige theoretische Geometrie, noch eine »praktische Geometrie, als abgesonderte Wissenschaft«304: »Die Aufgabe: mit einer gegebenen Linie und einem gegebenen rechten Winkel ein Quadrat zu konstruieren, ist ein praktischer Satz, aber reine Folgerung aus der Theorie.«305 Umgekehrt gilt, dass »viel praktische Sätze in dieser reinen Wissenschaft enthalten sind, deren die meisten als Probleme einer besonderen Anweisung zur Auflösung bedürfen.«306 Derartige praktische Sätze betreffen »die Möglichkeit eines vorgestellten Objekts (durch willkürliche Handlung)«307, können daher zur besseren Unterscheidung auch »statt praktischer technische Sätze heißen.«308 Als Technik oder techné versteht Kant hierbei die »Kunst, das zu stande zu bringen, wovon man will, daß es sein soll«.309 Als solche technische Möglichkeiten oder Machbarkeiten kann man etwa Postulate anführen, die die Möglichkeit einfacher Operationen betreffen310, Konstruktionsanweisungen für komplexere Figuren, Regeln für das Einziehen von Hilfskonstruktionen, bis hin zu ganzen Anweisungen, wie etwa der Winkelsummensatz Fälle, wo in der Darstellung dreidimensionaler Gegenstände auf der zweidimensionalen Fläche Paradoxien erzeugt werden, wie etwa bei M.C. Escher. Zu betonen ist allerdings, dass nie gegen die – euklidische – Gesetzmäßigkeit der zweidimensionalen Fläche selbst verstoßen werden kann. Dies bedeutet aber nicht, dass für Kant jede Figur unmöglich wäre, die sich faktisch nicht zeichnen oder vorstellen lässt. Genau diesen Einwand hatte Eberhard gegen Kant erhoben, insofern er auf die Schwierigkeit verwies, ein Tausendeck (Chiliagon) tatsächlich anschaulich darzustellen (sei es in der Zeichnung oder der Imagination). Kant weist diesen Einwand als unbegründet zurück, solange es möglich ist, ein Verfahren anzugeben, nach dem eine solche Figur konstruiert werden kann. Vgl. Shabel 2003, 203 ff. Ebenso kann für Kant die unendliche Teilbarkeit des Raums aus der wiederholten Anwendung eines Teilungsverfahrens begründet werden, ohne dass dies realiter eingelöst wird. Von dieser Einsicht aus gälte es, die sogenannten ›Monster‹ wie die Weierstraß-Funktion erneut zu betrachten. 304 EEKU 12. 305 Ebd. 306 Ebd. 307 Ebd. 308 Ebd. 13. 309 Ebd. 310 »Nun heißt ein Postulat in der Mathematik der praktische Satz, der nichts als die Synthesis enthält, wodurch wir einen Gegenstand uns zuerst geben, und dessen Begriff erzeugen, z. B. mit einer gegebenen Linie, aus einem gegebenen Punkt auf einer Ebene einen Zirkel zu beschreiben, und ein dergleichen Satz kann darum nicht bewiesen werden, weil das Verfahren, was er fordert, gerade das ist, wodurch wir den Begriff von einer solchen Figur zuerst erzeugen.« KrV B 287.

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gezeigt werden kann. Zur Unterscheidung von der moralisch-praktischen Vernunft bezeichnet Kant diese Verfasstheit als eine Form »technisch-praktischer Vernunft«.311 Die Geometrie bei Kant ist demnach als operative Praxis gedacht, in der Wissen und technisches Machenkönnen untrennbar verbunden sind.312 Eine derartige Dimension der Praxis wird auch in der Betrachtung von Hegels Ästhetik wieder auftauchen. Ihr lebensweltlicher Bezugspunkt ist allerdings nicht die Frage nach der Orientierung im Raum, sondern nach Handlungsorientierungen und damit der Kontext, den Kant als moralisch-praktisch bezeichnet.

4.2.4 Das Ziel: Explizitmachen des Impliziten

Kernthese von Kants analytisch-synthetisch-Unterscheidung ist es, dass die Konstruktion eines Begriffs einen epistemischen Überschuss enthalten soll, etwas »Neues« (B 744), das die bloße Analyse dieses Begriffs nicht ergeben kann. Innerhalb der kantischen Epistemologie kann dieses Neue zunächst von zwei anderen Arten des Überschusses unterschieden werden. Zum Register des analytischen Apriori gehört die »logische Verbesserung« (KrV B 749), ein Zuwachs an Bewusstsein und Deutlichkeit, der durch Begriffsklärungen entsteht. Zum Register des synthetischen Aposteriori gehört die Produktivität empirischen Experimentierens. Dessen Überschüsse entspringen einer – an die experimentierende Aktivität des Subjekts gekoppelten – Rezeptivität, wobei die Vernunft die »Natur nötig[t] […] auf ihre Fragen zu antworten« (KrV B XIII). Im Register des synthetischen Apriori der Mathematik sollen epistemische Überschüsse hingegen weder bloß aus Begriffen noch aus einer subjektunabhängigen, empirischen Natur erwachsen. Ihre Quelle soll hingegen ein Drittes, die reine Anschauung sein, die den Ort oder das Verfahren einer Konstruktion der Begriffe bildet. In Kapitel II.5.4 soll gezeigt werden, sich der Begriff der reinen Anschauung konsistent als eine Theorie des diagrammatischen Bildmediums lesen lässt. An dieser Stelle soll präliminarisch die Frage nach dem Ursprung der epistemischen Überschüsse im diagrammatischen Denken betrachtet werden. Entscheidend ist hierbei, dass die Mathematik-Konzeption Kants zwei Elemente hat: eine Theorie mathematischer Begriffe, wonach diese ihren Ursprung in schöpferischen Definitionen haben. Mathematische Kalküle sind 311

MST A 9. »Auf solche Weise gehören alle Vorschriften der Geschicklichkeit zur Technik und mithin zur theoretischen Kenntnis der Natur als Folgerungen derselben.« EEKU 13 f. 312



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in elementarer Weise von uns selbst hervorgebrachte Regelwerke. Zum anderen muss – so sagt es die Idee einer synthetischen Erkenntnis a priori – die Mathematik über die Begriffe zu einer Anschauung hinausgehen, um etwas Neues herauszubringen. In diesem Sinne kann festgestellt werden, dass hierzu weder rein begriffliches Erkennen noch begriffsloses Anschauen ausreichen. Aus diagrammtheoretischer Sicht kann betont werden, dass es erst die Kombination aus Begriff und Bild ist, die diese Überschüsse hervorbringt. Die begriffliche Seite des diagrammatischen Kalküls besteht darin, ein von Menschen gemachtes formales Verfahren zu sein.313 Die Fähigkeit eines solchen Systems, dennoch Neues und Überraschendes enthalten zu können, liegt mit Azzouni darin, dass derartige Verfahren zwar von uns geschaffen und algorithmisch transparent sind, insofern festgelegt ist, welche Operationen erlaubt sind. Sie sind allerdings »epistemically opaque«,314 enthalten Implizites, das erst durch das Konstruktionshandeln im diagrammatischen Bild explizit wird. Bei derartigen Überschüssen handelt es sich um sogenannte »[f]ree ride properties«: »expressing a certain set of information in the system always results in the expression of another, consequential piece of information.«315 Peirce macht, wie Stjernfelt zeigt, diese Fähigkeit zur Erzeugung neuer Informationen sogar zum definierenden Kriterium von Bildlichkeit.316 Zentral ist es dabei, dass es einen Latenzbereich von »un­noticed and hidden relations among the parts« gibt, die beim Experimentieren mit dem Bild entdeckt werden können.317 Eine entscheidende Rolle nehmen hierbei Aspektwechsel ein, wodurch etwa eine Linie einmal als Radius eines Kreises und einmal als Seite eines Dreiecks gesehen werden kann.318 Hierbei spielen aber auch die Eigenschaften des operativen Bildraums selbst eine entscheidende Rolle. Wie dies der Fall ist, wird im Kapitel II.5 zur Bildlogik zusammen mit verschiedenen Dimensionen von Kants Konstruktionsmodell noch einmal genauer betrach313 Es gilt hierbei allerdings, wie Koriako richtigerweise bemerkt: »Euklids Geometrie ist kein vollformalisierter Kalkül, sondern eine Beweismethode, deren richtiger Gebrauch erlernt werden muss.« Koriako 1999, 278. 314 Azzouni, Jody (2004): »Proof and Ontology in Euclidean Mathematics«, in: Tinne Hoff Kjeldsen; Stig Andur Pedersen; Lise Mariane Sonne-Hansen (Hg.): New Trends in the History and Philosophy of Mathematics, Odense: Syddansk Universitetsforlag, 117–133, 119. 315 Shimojima 2004, 18. 316 »[T]he decisive test for its iconicity rests in whether it is possible to manipulate the sign so that new information as to its object appears.« Stjernfelt 2007, 90. Peirce zufolge ist es »a great distinguishing property of the icon … that by the direct observation of it other truths concerning its object can be discovered than those which suffice to determine its construction«. Peirce 2.279, zitiert aus Stjernfelt ebd. 317 Peirce W5, 164: 3–363, zitiert aus Stjernfelt 2007, 91. 318 Vgl. Wöpking 2016, 110 ff.; Krämer 2016, 33.

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tet. Eine abschließende Diskussion der epistemologischen Grundlagen dieses Modells folgt im Schlussteil der Studie.

4.3 Konstruktion: eine geistesgeschichtliche Verortung

An dieser Stelle soll nun in Grundzügen eine geistesgeschichtliche Verortung des kantischen Konstruktionsparadigmas erfolgen. Hiermit wird erneut das Ziel verfolgt, die Eigenschaften des operativen Konzepts Kants gegenüber dem performativen Konzept Hegels und dem energetischen Konzept trennscharf herauszustellen. Will man diese Paradigmen auf Formeln bringen, könnte das kantische Paradigma heißen: ›Regeln setzen und Operieren‹. Das hegelsche wäre hingegen: ›Selbstbewusstsein durch Externalisierung‹ oder ›Sich selbst im anderen Wiederfinden‹. Grundformel des energetischen Paradigmas wäre ›Spontaneität des Objekts‹. Dass Kants Bild mathematischer Erkenntnis, ja sein Bild des Erkennens überhaupt, stark von der Konstruktionspraxis der euklidischen Elemente geprägt ist, zeigt die Dominanz geometrischer Beispiele, insonderheit der Elementargeometrie des Dreiecks in der KrV.319 Die von Euklid systematisierte griechische Mathematikpraxis ist für Kant eine epistemische »Revolution der Denkart« (KrV B XI). Diese ersetzt ein »Herumtappen« der Mathematik »vornehmlich noch unter den Ägyptern« (ebd.) durch »den sichern Gang einer Wissenschaft« (KrV B X): »Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demon­strierte (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß [/] er nicht dem, was er in der Figur sahe, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellete (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.« (KrV B XI f.)

Historisch spielt Kant hier auf den Übergang von einem altorientalischen anwendungsbezogenen »Rezeptewissen« hin zu einem »Begründungswissen 319

Friedman 2012, 234. Die Methode der Konstruktion selbst ist nicht auf die Geome­ trie beschränkt. Kant unterscheidet das Verfahren der Geometrie als ›ostensive oder geometrische Konstruktion‹ und von Arithmetik und Algebra als ›symbolische Konstruktion‹ (KrV B 745). Vgl. zur Deutung der Algebra im Sinne von Kants Anschauungstheorie exemplarisch Shabel 2003 sowie Kapitel II.5.1.2.



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der Griechen« an, dessen Paradigma Euklids Elemente sind.320 Dessen Impetus liegt in der Normierung und Systematisierung dessen, was als mathematische Erkenntnis gelten kann. Wie eine verwandte Stelle zu Beginn der JäscheLogik klarmacht, versteht Kant dies auch als einen Ausstieg aus einer bloß am Sehen und einem naiven Bilddenken orientierten Praxis.321 Die These vom Anschauungsbezug der Mathematik meint bei Kant also nicht eine proto-wissenschaftliche, phänomenale Erfahrungsdimension, sondern die von Euklid begründete Methode. Die Entdeckung der Methode der Konstruktion bei den Griechen bildet hierbei für Kant nur den Auftakt einer Reihe von epistemologischen Revolutionen. Eine zweite ›Revolution der Denkart‹ findet in der neuzeitlichen Physik bei Galilei statt. Sie besteht in dem Programm der Gewinnung physikalischen Wissens aus kontrollierten Experimentalanordnungen. Und eine dritte Revolution – die sogenannte kopernikanische Wende – will Kant selbst in der Philosophie vollziehen. Als eine Kritik der reinen Vernunft soll sie nun auch der Philosophie eine wissenschaftliche Form geben, indem die Bedingungen menschlichen Wissens aus den Ressourcen menschlicher Subjektivität erklärt werden.322 Die entscheidende Einsicht hierbei ist, »daß wir nämlich von den Dingen a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« bzw. »daß die 320

Krämer 1988, 27. Es sind die Griechen, die als erste »versucht haben, nicht an dem Leitfaden der Bilder die Vernunfterkenntnisse zu kultivieren, sondern in abstracto; statt daß die andern Völker sich die Begriffe immer nur durch Bilder in concreto verständlich zu machen suchten. […] Wie in der Philosophie sind auch in Ansehung der Mathematik die Griechen die ersten gewesen, welche diesen Teil des Vernunfterkenntnisses nach einer spekulativen, wissenschaftlichen Methode kultivierten, indem sie jeden Lehrsatz aus Elementen demonstriert haben.« Logik A 29 f. 322 Als eine vierte derartige Revolution kann man die Selbstbegründungsbestrebungen der ästhetischen Moderne des 20. Jahrhunderts interpretieren. Greenberg nennt hier Kant den ›first modernist‹. Moderne Malerei übernehme das kantische Modell der Vernunftkritik »in order to entrench itself more fully in its area of competence«, and to give itself »a more rational justification«. Greenberg, Clement (1993): »Modernist Painting [1960]« in: John O’Brian (Hg.): Clement Greenberg. The Collected Essays and Criticism. Vol. 4. Modernism with a Vengeance. 1957–1969, Chicago: University of Chicago Press, 85–93, 85. Es scheint nahezuliegen, dass auch bei den beiden anderen Revolutionen die diagrammatische Bildlichkeit eine zentrale Rolle spielt. Im Falle der neuzeitlichen Revolution der Naturwissenschaften wäre der Diagrammgebrauch bei Oresme und Galilei zu nennen. Vgl. dazu Wöpking 2016, 136 ff. Die Rolle von mathematischen Konstruktionen in der Physik ist auch ein zentrales Thema der Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissen­ schaft (MAN). Eine Anwendung der Konstruktionslehre auf die Naturwissenschaft findet sich in Kants MAN, die ihre prominente Grundthese, dass nämlich »Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft enthalten [wird], als Mathematik in ihr angewandt werden kann.« (A IX), von Kant durch eine diagrammatische Konstruktion der Bewegungsgesetze exemplifiziert wird. (vgl. etwa MAN A 20 ff.) Im Falle der KrV selbst ist dies die 321

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Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (KrV B XIII). Insofern die geometrische Konstruktion als erste die Einsicht in die epistemische Bedeutung menschlichen Entwerfens und Handelns enthält, bildet sie also für Kant ein Paradigma für den epistemischen Konstruktivismus überhaupt. Dabei ist der epistemologische Gebrauch, den Kant von diesem Konzept macht, aber trotz des Bezugs auf eine antike Praxis wesentlich neuzeitlich. Der Begriff constructio hat im Lateinischen (als Nachfolger von griechisch syntaxis bzw. syntagma) zunächst architektonische, rhetorische und grammatikalische Bedeutung.323 Seine geometrische Bedeutung setzt sich erst im Laufe des 16. Jahrhunderts als Folge der Euklid-Renaissance durch. Während die Idee von Konstruktion als Existenzbeweis für mathematische Gegenstände schon bei Platons Zeitgenosse Eudoxus und dann Euklids nachweisbar ist,324 ändert sich in der Neuzeit ihre Bewertung radikal. Die Geometrie erlebt, wie Lachterman an Euklids Elementen und Descartes Geometrie zeigt, »a transfiguration of a theoretical into a productive or poietic science. At the core of this new understanding of mathematics as poiesis is the technique of construction.«325 Der Begriff des Poetischen soll hier zwar später mit Bezug auf Hegels Ästhetik in einer etwas anderen Bedeutung verwendet werden. Lachterman dient er hier dazu, die Konstruktion in der neuzeitlichen Wende der epistemologischen Grundausrichtung von der Mimesis zur Darstellung zu verorten. Mit Mersch bedeutet diese: »Das Vor-Bild der Natur wechselt zum Vor-Bild der Vernunft.«326 Es geht im Erkennen nicht mehr um theoretisches Schauen, sondern um ein projektierendes und normierendes Hervorbringen. Am deutlichsten wird dieser produktive, hervorbringende Zug in Kants Theorie schöpferischer Definitionen, wie sie in Kapitel II.5.1.3 beschrieben wird. Die Verbindung von anschaulicher Konstruktion und epistemologischem Konstruktivismus ist aufschlussreich für die philosophischen Implikationen einer am Konstruktionsbegriff ausgerichteten Bildtheorie. Mit seiner energetischen Bildakttheorie, die sich an einer Spontaneität des Objekts orientiert, Urteilstafel, die zur Kategorientafel wird und generell, bis hin zur KU, ein allgemeines wiederkehrendes Schema von Kants Philosophie bildet. 323 Zu einer Übersicht über Geschichte und Etymologie des Konstruktionsbegriffs vgl. Ende 1973, 1 ff., 5 ff. 324 Mainzer, Klaus: »Konstruktion«, in: Joachim Ritter; Karlfried Gründer; Gottfried Gabriel: (op. 1971–2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel, Stuttgart: Schwabe, 1009–1019, 1019, sowie Ende 1973, 9. 325 Lachterman, David Rapport (1989): The Ethics of Geometry. A Genealogy of Moder­ nity, New York: Routledge, 26. 326 Mersch, Dieter (2002b): Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Per­ formativen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 176.



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will Bredekamp »jenen Sphärenverlust ungeheuren Ausmaßes […] überwinden, den die Moderne mit ihrer Privilegierung des Subjekts als Erzeuger und Halter der Welt produziert hat.«327 Das Konstruktionsparadigma ist dem, wie eben gezeigt, diametral entgegengesetzt: eine kantische Bildtheorie steht für jene Kraft des Konstruktivismus, die den von Bredekamp beklagten Sphärenverlust zunächst einmal hervorzubringen hat.328 Das ›Licht‹, das dem ersten Konstrukteur aufging, besteht in der Einsicht in den normativen und normierenden Charakter menschlichen Tuns: Konstruktion unterscheidet sich somit, wie die zuvor zitierte Stelle deutlich macht, einerseits von einem Sehen, einer sich auf das Empirische und Denkfremde hin öffnenden Wahrnehmung. Und andererseits von einem kontemplativen Nachspüren und Ablernen dessen, was in Begriffen gegeben ist. Betont ist stattdessen der Tätigkeitscharakter eines Hineindenkens, Darstellens, Hervorbringens, Beilegens und Hineinlegens. In den Konstruktionen ist der Mensch handelndes Subjekt und bezieht sich in seinem Produkt zugleich in nachdrücklicher Weise auf sich selbst und seine eigenen technischen Möglichkeiten. Wie bereits im vorigen Abschnitt betrachtet, ist die Geometrie für Kant Technik, in der Wissen und technisches Machenkönnen untrennbar verbunden sind.329 Durch diesen grundlegend operativen Zug seiner Bildauffassung ist Kant aber nicht nur Vorläufer der Diagrammtheorie, sondern ebenfalls der formalen Ästhetiktradition: Bilder – etwa in der Malerei – können dort »konstruierte Sichtbarkeiten« sein, die »mit den immanenten Relationen ihrer Infrastruktur als […] ›Anleitungen, zu sehen‹ dienen, sozusagen als Konstruktionspläne von Zuständlichkeiten, die […] ›das Spiegelbild der Welt in den Köpfen der Menschen umgestalten‹. Die Kunst erhält so die Aufgabe, neue Weisen des Sehens zu konstruieren und zu lehren.«330 Von einer Macht der Bilder, die den Menschen gefangen nehmen, oder sich ihm als Widerfahrnis aufzwingen könnte, kann also auch in diesem Kontext nicht die Rede sein. Ebenso wenig von einem Ereignischarakter im Sinne von Derridas Begriff einer ›unmöglichen Möglichkeit‹ – die Konstruktion kennt nur machbare oder mögliche Möglichkeiten.331 Hierin begründet sich die Entscheidung, die kantische Konstruk327

Bredekamp 2010, 328. Vgl. auch Heideggers Aufsatz zur ›Zeit des Weltbilds‹, Heidegger 1977. Hierbei ist allerdings zu betonen, dass es hier um die Perspektive der KrV geht, die von Kant selbst in der KU noch einmal kritisch ergänzt und gewendet wird. Vgl. dazu und, wie Hegel daran anknüpft: Kapitel III.2. 329 vgl. Kapitel II.4.2. 330 Wiesing 2008, 153. Kronzeugen sind hier Dilthey und Fiedler. Vgl. auch Wiesing 2013, 109 ff. 331 Derrida, Jacques (2003): Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu spre­ chen, Berlin: Merve. 328

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tionstheorie als Paradigma einer operativen Bildepisteme zu bezeichnen, die einer energetischen Bildepisteme diametral entgegengesetzt ist.332 Zugleich unterscheidet sie sich damit aber auch von der performativen Bildepisteme, wie sie an Hegels Ästhetik rekonstruiert werden soll. Kants Konstruktionstheorie betrifft eine ›technisch-praktische Vernunft‹, deren Urszene in diesem Fall das Problem einer Orientierung im Raum bildet, Hegels Ästhetik betrifft hingegen eine Dimension ›moralisch-praktischer Vernunft‹ und zwar in Form eines Orientierungswissens über geteilte Lebensformen. In Kants Konstruktionstheorie geht es um eine Praxis des Operierens nach formalen Regeln zur Gewinnung von Erkenntnissen über den Raum. In Hegels Ästhetik darum, dass der Mensch durch Externalisierung ein Wissen über sich selbst und seine soziale Welt gewinnt. Diese Einordnung von Kants operativem Diagrammkonzept in den epistemologischen Horizont menschlicher Spontaneität muss allerdings mit Bezug auf ihre Verankerung in der Aisthesis eingeschränkt werden. Die diagrammatische Spontaneität ist keine Spontaneität des reinen Denkens, sondern eine nichtdiskursive Spontaneität des Linienziehens, die im menschlichen Leib ihren Ort hat und sich im Rahmen seiner spezifischen Eigenlogiken wie etwa dem Gefühl für die rechte und linke Seite artikuliert. Diese Ambivalenz wird in der folgenden Auseinandersetzung mit einer kantischen Bildlogik noch einmal deutlich werden. Die Betrachtung diagrammatischer Bildräume als epistemischer Sonderräume zeigt hier erneut den besonderen Bezug eines solchen Bildkonzepts zur menschlichen Spontaneität. Dagegen zeigt die Auseinandersetzung mit der Logik von Figur und Grund, wie die Spontaneität figürlicher Synthesis stets auf eine vorgängige, asemiotische Logik des Raums angewiesen ist. Die Spontaneität diagrammatischer Praxis ist demnach in fundamentaler Weise als eine eingebundene Spontaneität zu verstehen, der etwa Gegebenes, sie Umfassendes vorausgeht.

332 Eine besondere Zwischenstellung nimmt hier Adorno ein, der den Begriff der Konstruktion als ein zentrales produktionsästhetisches Paradigma der Moderne begreift. Konstruktion hat ihm zufolge ihre Pointe darin »daß das künstlerische Subjekt Methoden praktiziert, deren sachliches Ergebnis es nicht absehen kann«. Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 43. bzw. »daß die Gebilde Züge enthalten sollen, die im Produktionsprozeß nicht absehbar sind; daß, subjektiv, der Künstler von seinen Gebilden überrascht werde.« Ebd. 63.

5. Bildlogik und Medialität Kants Theorie des geometrischen Diagramms In diesem abschließenden und längsten Kapitel geht es nun um eine kantische Theorie der Logik und Medialität des Bildes, deren Gegenstand das diagrammatische Bildmedium ist. Den Leitfaden der folgenden Rekonstruktion einer kantischen Theorie des Bildmediums bilden drei verschiede Dimensionen einer bildlichen Medienspezifik, die jeweils als Dimensionen einer ikonischen Differenz zusammengefasst werden können. Dies ist erstens die Differenz von Figur und Grund, mit der zugleich die zentralen Begriffe Relationalität und Operativität betrachtet werden (II.5.1); zweitens die Differenz von Schema und Bild, die das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem betrifft (II.5.2); und drittens die Differenz von Form und Materie, die das Verhältnis von immateriellem Bildraum und materiellem Bildträger betrifft (II.5.3). An diesen Differenzen zeigt sich die Angewiesenheit figürlicher Spontaneität auf einen vorgängigen Grund, die spezifische Partikularität bildlicher Figuration, sowie der Status von Bildräumen als epistemischen Sonderräumen.

5.1  Die Differenz von Figur und Grund: Relationalität und Operativität

Als erste Dimension ikonischer Differenz soll jene von Figur und Grund betrachtet werden. Anknüpfend an Kapitel II.3 zeigt sich hierbei, dass für Kant die grundlegende Relationalität des Raums nicht nur entscheidend für unseren Weltbezug ist, sondern auch entscheidende epistemologische Funktionen für die euklidische Geometriepraxis hat. Dies ist in zwei Weisen der Fall: Da der Raum als Bildgrund gegenüber begrifflichen Unterschieden ›gleichgültig‹ ist, kann darin das begrifflich Identische als dennoch verschieden erscheinen (z. B. zwei Punkte an unterschiedlichen Orten). Die quantitative, d. h. ›gleichartige‹ Synthesis als Prinzip der geometrischen Figur erlaubt es wiederum, das Verschiedene als äquivalent darzustellen (II.5.1.1). Damit können auch zwei Verständnisse von Anschaulichkeit und Diagrammatizität bei Kant unterschieden werden: Die Ausnutzung von räumlichen Äquivalenzbeziehungen in der konstruierenden Geometrie ist im engeren Sinne anschaulich, die Ausnutzung eines topologischen Differenzierungsprinzips in der Algebra bloß im weiteren Sinne (II.5.1.2). Dass Kants Diagrammverständnis ein entschieden operatives Verständnis ist, zeigt sich in seiner Grundierung des figuralen Prinzips der Geometrie. Geometrische Formen und Figuren sind für



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Teil II · Kant: Konstruktion

Kant nicht aus der Wahrnehmung herausabstrahiert, haben ihren Ursprung in schöpferischen Definitionen, die als Konstruktionsanweisungen fungieren. Dieser Setzungscharakter mathematischer Begriffe erlaubt es, das geometrische Denken – im Gegensatz zu Empirie und Philosophie – auf ein operatives Verfahren zu gründen (II.5.1.3). Als Kern der Figur-Grund-Differenz bei Kant können schließlich zwei entgegengesetzte Logiken identifiziert werden: Die Logik der Figur ist eine Logik der Synthesis, ausgezeichnet durch Spontaneität, Regelhaftigkeit und kontinuierliche Bewegung. Die Logik des Grundes ist hingegen eine Logik der Einschränkung, mit den Eigenschaften von Rezep­ tivität, Unbegrifflichkeit, Rahmung und Grenzziehung (II.5.1.4). Zu betonen ist hierbei die Kontinuität dieser Überlegungen zu der zuvor betrachteten Theorie des phänomenalen Raums. Bereits in Kapitel II.3 wurde darauf hingewiesen, dass mit Kants Differenzierung von Lage und Gegend (bzw. intrinsischen und extrinsischen Relationen) eine Theorie dessen vorliegt, was Merleau-Ponty als die für die menschliche Wahrnehmung fundamentale Figur-Grund-Differenz benennt. Kant entdeckt demnach: Jede von intrinsischen Relationen gebildete Figur setzt zugleich die extrinsische Relation auf einen Grund voraus.333 Figur kann dabei etwa die Konfiguration einer Zimmereinrichtung, eines Sternbildes oder einer menschlichen Hand sein. Als Grund 334 fungiert das vom Körperschema her erzeugte System der Gegenden, das zunächst noch mit dem Newtonschen Behälterraum assoziiert wird. Das Problem am Leibniz’schen Relationenraum ist dann, dass dieser so etwas wie ein Konglomerat grundloser Figuren ist. Was für die Wahrnehmung generell gilt, muss nun offenkundig ebenso für die Wahrnehmung jedes gezeichneten, gemalten oder fotografierten Bildobjekts gelten, wie etwa Kants Beispiel der Gerichtetheit des Schriftbilds zeigt.335 Das Figur-Grund-Verhältnis hat bei Kant aber noch eine andere Ausprägung, die sich entlang der zentralen Begriffe ›Koordination‹ und ›Synthe333

Merleau-Ponty schreibt: »Stets liegt das ›Etwas‹ der Wahrnehmung im Umkreis von Anderem, stets ist es Teil eines ›Feldes‹. Nie vermöchte eine schlechthin homogene Fläche, auf der durchaus nichts wahrzunehmen wäre, Gegenstand einer Wahrnehmung zu werden.« Merleau-Ponty 1966, 22. Vgl. hierzu Kant: »Denn die Lagen der Teile des Raums in Beziehung aufeinander setzen die Gegend voraus, nach welcher sie in solchem Verhältnis geordnet sind, und im abgezogensten Verstande besteht die Gegend nicht in der Beziehung eines Dinges im Raume auf das andere, welches eigentlich der Begriff der Lage ist, sondern in dem Verhältnisse des Systems dieser Lagen zu dem absoluten Weltraume.« Vom ersten Grunde 993. Zu dieser Lektüre und dem Verweis auf Merleau-Ponty siehe Ruckgaber 2009, 171. 334 Vgl. hierzu den Titel der Abhandlung von 1768: »Vom ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume«. 335 Zu diesem Zusammenhang: Krämer 2016, 238.



Bildlogik und Medialität

sis‹ verfolgen lässt. Bereits in der Inauguraldissertation zeigt sich, dass die Koordination des Sinnlichen zwei verschiedene Aspekte enthalten muss: Der alleinige »Grund der Form« der Sinnenwelt besteht in einem »Gesetz des Gemüts« wodurch das Sinnliche »notwendig zu demselben Ganzen zu gehören [pertinere] scheint.«336 Im ›pertinere‹ ist mit dem ›Gehören zu‹ auch das ›Stoßen an‹ mitgedacht, ein Umschließendes und Rahmendes. Dem stellt Kant etwas gegenüber, »was die Form heißen kann, nämlich die Gestalt [species] des Sensiblen, die hervortritt [prodit]«, wenn das Sinnliche von einem »natürlichem Gesetz des Gemüts« koordiniert wird. Im ›prodire‹ (dem Hervortreten, zum Vorschein Kommen, Erscheinen, sich Zeigen) ist also zuerst ein figurales oder figurierendes Prinzip angesprochen.337 Diese noch eher vagen Assoziationen konkretisieren sich in der KrV zu zwei gegenläufigen und komplementären Polen: der figürlichen Synthesis der Einbildungskraft (als Thema der transzendentalen Logik) und dem Raum als unendlicher Einschränkbarkeit (als Thema der transzendentalen Ästhetik). Auf diese Weise wird die FigurGrund-Differenz an der mereologischen Thematik von Teil und Ganzem entfaltet, die zugleich die Basis einer Theorie der Raumgrößen ist. Auch wenn Kant hierbei nicht expressis verbis eine Theorie der Figur-Grund-Differenz vertritt, lässt sich diese doch aus den genannten Themenbereichen, und spezifisch mit Blick auf eine diagrammatische Praxis rekon­struieren, was im Folgenden geschehen soll. Im Zentrum von Kants Auffassung von Figur und Grund stehen zwei Eigenschaften diagrammatischer Bilder: ihre Relationalität und ihre Operativität. Hiermit hängt die Auffassung der Figur als sukzessiv erzeugte Raumgröße zusammen. Hegels Theorie der Malerei hingegen findet ihr figurales Prinzip in der expressiven menschlichen Gestalt. Die Relationali­ tät des Bildmediums wird hierbei mit einer Performativität zusammengedacht, was zu einer deutlich anderen Auffassung der epistemischen Potentiale des Bildes führt.

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De mundi § 13. Ebd. Letzteres wird schon in der Inauguraldissertation mit dem Schemabegriff, allerdings in einem nur uneigentlichen und negativen Sinne, zusammengebracht, und führt auf die Theorie der Einbildungskraft und des Schematismus: »so bezeugt freilich auch die Form ebendieser Vorstellung eine gewisse Beziehjung oder ein Verhältnis des Empfundenen, ist aber eigentlich nicht ein Schattenriß oder eine Art Schema des Gegenstandes, sondern nur ein gewisses Gesetz, das der Erkenntniskraft eingepflanzt ist, das Empfundene, das von der Gegenwart des Gegenstandes herrührt, einander beizuordnen.« De mundi § 4. 337

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Teil II · Kant: Konstruktion

5.1.1 Relationalität: Räumliche Differenzen und Äquivalenzen

Die methodische Rolle der Anschauung für die Mathematik gründet, wie gezeigt werden soll, in der Relationalität des Raums. Kant wendet sich damit gegen die Auffassung von Denkgegenständen nach dem prädikativen Schema von Ding und Eigenschaft, das dem intellektualistischen Substanzdenken zugrunde liegt. Als alternatives Ordnungsprinzip der Welt als Erscheinung identifiziert er das relationale Nebeneinander des Raums. An den inkongruenten Gegenstücken und der Orientierung im Raum zeigt sich, dass dabei zugleich die Relation auf das dreidimensionale Körperschema unverzichtbar ist. Die Geometrie ist für Kant nun einerseits eine Weise der Thematisierung solcher Relationen des Raums als Anschauungsform. Raumrelationen sollen aber nicht nur Erkenntnisinhalt, sondern zugleich Erkenntnismedium der Konstruktion sein. Damit setzt das Denken über Raumrelationen auch ein anderes Erkenntnisverfahren voraus als die sprachlich-prädikativ ausgerichtete philosophische Erkenntnis (vgl. Kapitel II.4.1). An die Stelle prädikativer Beziehungen treten mit der euklidischen Geometrie zweidimensional-flächige Diagramme.338 Zur Medienspezifik mathematischer Erkenntnis gehört damit zugleich, dass diese Erkenntnisform umgekehrt nur für bestimmte Inhalte geeignet ist: »Die Form der mathematischen Erkenntnis ist die Ursache, daß diese lediglich auf Quanta gehen kann. Denn nur der Begriff von Größen läßt sich konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung darlegen.« (KrV B 742) Es geht in der Mathematik also nicht nur um ein anderes Verhältnis von Anschauung und Begriff, sondern zugleich um andere Begriffe bzw. Inhalte: nicht um prädikative, sondern um quantitative Beziehungen, die ihrerseits in anderer Weise mit Anschauungen zusammenhängen. Hiervon ausgehend lassen sich nun zwei Eigenschaften des räumlichen Nebeneinanders identifizieren, die für Kants Modell geometrischen Denkens zentral sind: die topologische ›Gleichgültigkeit‹ verschiedener Raumstellen als Eigenschaft des Bildgrundes und die Fähigkeit zur Bildung quantitativer Äquivalenzen innerhalb von Figuren. Dies entwickelt Kant ausgehend von der Kritik am Substanz- oder Prädikationsmodell der leibniz-wolffschen Schulphilosophie. Deren zentrale Insuffizienz liegt in ihrem Umgang mit dem Begriffspaar »Einerleiheit und 338 Mit Sybille Krämer lässt sich anmerken, dass der Übergang vom dreidimensionalen Körperschema der Raumerfahrung zur Darstellung auf der zweidimensionalen Fläche hier von entscheidender Funktion ist. Vgl. Krämer 2016, 14. Die Idee, dass das Denken über Relationen und Relationalität (im Gegensatz zu Substanzialität) gerade spezifisch nach dem Medium einer zweidimensional-flächigen Bildlichkeit verlangt, wird – unter ganz anderen Umständen – auch Hegel in seiner Malereitheorie feststellen.



Bildlogik und Medialität

Verschiedenheit« (KrV B 319) bzw. Identität und Differenz. Hierbei werden von den Gegenständen »lediglich ihre Begriffe, und nicht ihre Stelle in der Anschauung« (KrV B 327) berücksichtigt. Wie Anderson mit Kant feststellt, kennt dieses Modell daher nur zwei Modi von Identität und Differenz:339 Zwei Entitäten sind entweder different, d. h. schlechthin verschieden; ii) oder sie sind äquivalent, d. h. schlechthin identisch. Wie in Kapitel II.3 betrachtet wurde, erkennt Kant am Problem der inkongruenten Gegenstücke, dass Raumrelationen von diesem prädikatenlogischen Identitätsprinzip nicht adäquat erfasst werden können. Sie begründen stattdessen »eigene Unterschiede[]« und gehören zu den »Bedingungen der sinnlichen Anschauung« (KrV B 326). Als Alternative zur begrifflichen Identität tritt so die numerische Identität: Man kann, so Kant, »bei zwei Tropfen Wasser von aller innern Verschiedenheit (der Qualität und Quantität) völlig abstrahieren, und es ist genug, daß sie in verschiedenen Örtern zugleich angeschaut werden, um sie für numerisch verschieden zu halten.« (KrV B 320 f.) In den topologischen, nicht-begrifflichen Unterschieden des Raumes liegt also ein eigenständiges Unterscheidungs– und Identitätsprinzip. Dieses bildet die Grundlage für ein ganz anderes Register von Beziehungen, das unabhängig und parallel zu dem Register begrifflicher Beziehungen besteht. Diese Unabhängigkeit des Raums von begrifflichen Unterschieden zeigt sich zunächst darin, dass der Raum diesen gegenüber vollkommen »gleichgültig« ist: »ein Ort = b kann ein Ding, welches einem andern in dem Orte = a völlig ähnlich und gleich ist, eben sowohl aufnehmen, als wenn es von diesem noch so sehr innerlich verschieden wäre.« (KrV B 328)340 Nur ein räumlich-topologisches Kalkül ist also in der Lage, das begrifflich Gleichartige als doch verschieden (nämlich räumlich-topologisch verschieden) darzustellen. Dies zeigt sich z. B. in der Anforderung, dass jeder euklidische Beweise mindestens zwei gegebene Punkte voraussetzt, d. h. zweimal dasselbe, aber an verschiedenen Orten.341 Dies ist also eine erste Hinsicht, in der das räumliche Nebeneinander für das diagrammatische Verfahren unerlässlich ist. In dieser ›Gleichgültigkeit‹ liegt aber auch die Möglichkeitsbedingung für eine eigene Art von gedanklicher Verknüpfung. Die quantitative Synthesis ist eine »Synthesis des Gleichartigen«, die (gleichermaßen wie der topologi339 Vgl. Anderson 2015, 233. Die folgende Argumentation stützt sich zum großen Teil auf Anderson 2015, 232 ff. 340 Hegel nennt, wie es scheint Kants Rede in KrV B 328 aufnehmend, den Raum in dieser Eigenschaft auch eingängig eine »vermittlungslose Gleichgültigkeit« (EpW II, § 254 Zus., 41), die »absolut weich« sei und »durchaus keinen Widerstand« (Ebd. 43) leiste. 341 Vgl. Hierzu Friedman 2012, 237, Fußnote.

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sche Raum) nicht auf ein prädikatives Schema reduziert werden kann.342 Um diese quantitativen Verhältnisse dem Denken überhaupt zu erschließen, wird ein spatiales Kalkül benötigt, das von den »eigene[n] Unterschiede[n]«343 des Raumes einen epistemischen Gebrauch macht. Kants medienspezifisches Argument, das die Geometrie als Erkenntnis der Raumgrößen wiederum an den Raum als Erkenntnismedium bindet, lässt sich mit Koriako dann auch so formulieren: Gerade weil die in den mathematischen Begriffen gedachte Koordination von Elementen das »begrifflich Nichtunterscheidbare« betrifft, ist sie auf ein »anschauliche[s] Substrat« angewiesen.344 Mit Anderson lässt sich ergänzen: Mathematische Erkenntnis ist auf ein Medium angewiesen, in dem sich nicht nur die Verschiedenheit des Identischen, sondern auch die »equality of non-identicals«345, die Äquivalenz des Nichtidentischen ausdrücken lässt. Wie Anderson – dabei auch die Positionen von Manders und Shabel zusammenfassend – zeigt, ist die Anschauung für Kant so nicht nur ein Medium einer eigenen Art von Unterschieden; sondern auch einer eigenen Art von Identitäten und Äquivalenzen: Das (numerisch und/oder begrifflich) Unterschiedene kann doch als identisch oder äquivalent, nämlich quantitativ-gleichartig, dargestellt werden.346 Beispiel wäre etwa die quantitative Äquivalenz zweier numerisch verschiedener Strecken. Diese realisiert sich im geometrischen Kalkül nicht in Zahlverhältnissen, sondern mereologischen Beziehungen: Zwei Strecken können als äquivalent oder austauschbar gelten, weil sie etwa gleiche Teile derselben Ganzheit, oder komplementäre Teile gleicher Ganzheiten sind.347 Dies lässt sich in den ersten Beweisen der Ele­ mente nachvollziehen: Der Beweis, wie sich über einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck erreichten lässt, setzt zunächst die Möglichkeit eines Aspektwechsels voraus: Notwendig ist es, die Strecken AB, BC und AC jeweils unter zwei 342 KrV B 201 Anm. Kant spricht auch von einer »Synthesis des Mannigfaltigen, was nicht notwendig zu einander gehört«, eine Bestimmung, die später, bei der Abgrenzung der Konstruktion von der Logik physikalischer Experimente, noch eine wichtige Rolle spielen wird. 343 KrV B 326. 344 Koriako 1999, 212. Koriako gesteht dies Kant zwar zu, wird sich – wie später deutlich werden wird – insgesamt gegen den kantischen Ansatz aussprechen. Vgl. dazu Kapitel II.5.2.2. 345 Anderson 2015, 232. 346 »Of course, Kant holds that the mathematical arguments do succeed to represent non-identical quantities as perfectly equal, despite their non-identity. Since concepts cannot do that work, the water must be carried instead by intuition …« Anderson 2015, 235. 347 »In short, the proofs establish the equivalence of non-identicals by identifying magnitudes as equal parts of the same whole, or as complementary parts of equal wholes.« Anderson 2015, 235.



Bildlogik und Medialität

verschiedenen Gesichtspunkten zu begreifen: als Radius eines Kreises oder Seite eines Dreiecks.348 In einem nächsten Schritt ist es zentral, zu sehen, dass die – voneinander unterschiedenen – Strecken AB und AC, sowie die Strecken AB und BC äquivalent sind, weil sie jeweils Radii desselben Kreises sind: Als Radii sind sie gleiche Teile desselben Ganzen. Der zweite Beweis der Elemente handelt Abb. 2: Euklid Proposition 1.1 davon, wie an einem gegebenen Punkt eine Strecke angelegt werden kann, die einer gegebenen Strecke gleich ist. Der Beweis, dass die Strecken BC und AL gleich sind, verwendet – neben den bisher genannten – noch ein weiteres Prinzip: Wenn die Strecken DG und DL gleich sind (als Radien desselben Kreises) und die Strecken AD und BD (als Seiten eines gleichseitigen Dreiecks), dann sind auch AL und BG gleich, sowie (als Radien desselben Kreises) BG und BC. Daher ist AL = BC. Die Relationen des anschaulich gegebenen Nebeneinanders und der Überlappung innerhalb einer Figur (als Teil eines Ganzen) bilden hier die Grundlage, um die quantitative Äquivalenz verschiedener Teilfiguren festzustellen.349 Die entsprechenden Schlussfolgerungen basieren also auf zwei Prinzipien: (i)  auf einem räumlichen Differenzprinzip: der topologischen Unterscheidung verschiedener Örter; (ii) einem räumlichen Äquivalenzprinzip: der quantitativen Äquivalenzbildung innerhalb einer Figur: Nur durch die Anschauung können zwei äquivalente Abb. 3: Euklid Proposition 1.2 348 Diesen Aspekt erwähnt Anderson nur sehr beiläufig in Anderson 2015, 237. Vergleiche zur Logik des Aspektwechsels im Diagramm mit Bezug auf Wittgenstein Wöpking 2016, 110 ff. sowie Krämer 2016, 33. 349 »The intuitively given spatial overlap among these figures was what permitted the comparisons underwriting the key inference to the equality of the newly constructed line AE with the given BC …« Anderson 2015, 237. Vgl. hierzu ebenfalls die Argumentationen in Shabel 2003 und Manders, Kenneth (2008b): »The Euclidean Diagram [1995]«, in: Paolo Mancosu (Hg.): The Philosophy of Mathematical Practice, Oxford: Oxford University Press, 80–133, für die dieser Punkt zentral ist.

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Dinge (z. B. zwei gleiche Strecken) an verschiedenen Orten repräsentiert werden, und zwei verschiedene Dinge (eine Strecke AB und eine Strecke AC) als äquivalent. Mit Anderson ist es diese Leistung der Anschauung, die Kants Einschätzung begründet, dass die Mathematik synthetisch ist: An die Stelle der Beziehung analytischen, begrifflichen Enthaltenseins treten dann Beziehungen, die sich nicht aus dem Begriff selbst, sondern nur seiner Repräsentation in der Anschauung entnehmen lassen.350 Die beiden Funktionen lassen sich dabei innerhalb von Kants Raumkonzept zwei verschiedenen Ebenen zuordnen, die später (II.5.1.4) noch genauer als Logiken von Grund und Figur betrachtet werden: Die numerische Verschiedenheit von Örtern ist eine Eigenschaft des Bildgrundes, d. h. des Raums als einer »gegebene[n] Größe« (KrV B 39). Die Äquivalenz verschiedener Größen basiert auf dem Prinzip der Figuration, d. h. der Synthese des Raums nach der Kategorie der Quantität, die auf einer »Zusammensetzung des Gleichartigen« (KrV B 202) beruht. Grund der Äquivalenzbeziehungen ist diese Synthesis, insofern es sich jeweils um Teile derselben größeren Figur handelt.351 Bei Hegel werden sich mutatis mutandis ähnliche Überlegungen finden: Der flächige Bildraum der Malerei ist die Möglichkeitsbedingung der ‚Entfaltung‘ menschlicher Handlungen.

5.1.2 Zwei Dimensionen diagrammatischer Bildlichkeit

Das anschauliche Denken der euklidischen Geometrie beruht für Kant also in zweifacher Weise auf Raumrelationen: zum einen auf Differenzen verschiedener Örter im Bildgrund; zum anderen auf Äquivalenzen und quantitativen Teil-Ganzes-Beziehungen innerhalb von anschaulichen Figuren. Die Unterscheidung dieser zwei Dimensionen von Räumlichkeit kann erklären, dass es in Kants Theorie des intuitiven Vernunftgebrauchs Platz für zwei verschiedene Begriffe von Anschaulichkeit bzw. diagrammatischer Bildlichkeit gibt.352 Ein erster, weiter Begriff von Anschaulichkeit umfasst nicht nur die 350 Der Beweis von 1.1. »rests on their distinctness«, beruht also auf der Unterschiedenheit zweier begrifflich vollständig äquivalenten Elemente; »the mathematical result does not depend on what the concepts contain. Thus, it is synthetic.« Anderson 2015, 236 f. Vgl. Zur Spezifik dieser Weise für die Synthetizität der Mathematik zu argumentieren im Vergleich zu anderen vgl. ebd. 225. 351 In diesem Sinne sichert der Satz: »Alle Anschauungen sind extensive Größen.« für Kant die Anwendbarkeit der Mathematik auf die Erscheinungen. KrV B 202. 352 Bekanntermaßen wird die Begründung der Geometrie im Raum von der Begründung der Arithmetik in der Zeit flankiert, was allerdings nicht zur Theorie eines ›zeitlichen‹ Kalküls führt – was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Spatialität auch hier vorausgesetzt wird.



Bildlogik und Medialität

Geometrie, sondern auch die Algebra. Auch diese beruht für Kant darauf, dass man »an den Zeichen die Begriffe […] in der Anschauung darlegt« und »alle Schlüsse vor Fehlern dadurch sichert, daß jeder derselben vor Augen gestellt ist«353. In diesem Sinne ist die »charateristische«354 oder »symbolische Konstruktion« der »ostensiven oder geometrischen« Konstruktion gleichwertig, die Algebra gelangt »eben so gut, wie die Geometrie« zu dem entsprechenden Ergebnis.355 In dieser Gleichstellung unterläuft Kants Idee vom Anschauungsbezug der Mathematik eine ad-hoc-Unterscheidung von symbolischem und anschaulichen Denken: Auch eine algebraisch betriebene Geometrie würde für ihn nicht aufhören, anschaulich und synthetisch zu sein.356 Die Basis für einen solchen weit gefassten Anschaulichkeitsbegriff wäre das räumliche Differenzprinzip verschiedener Örter. In diesem Sinne stellt auch Giaquinto fest: »Symbolic thinking typical of algebra, to wit, rule-governed manipulation of symbols, is just as spatial as geometrical thinking.«357 Auch eine alge­ braische Formel setzt etwa voraus, dass Identisches an verschiedenen Orten (z. B. der Buchstabe a rechts oder links des Gleichheitszeichens) dargestellt werden kann. Zum anderen läge eine »extension of the icon category«358 im Sinne von Peirce’ operativem Bildlichkeits- bzw. Ähnlichkeitskriterium vor: Bild bzw. icon ist das, dem wir – ganz im Sinne Kants – durch Manipulation mehr Informationen entnehmen konnten, als in seine Konstruktion eingeflossen sind.359 Dementsprechend ist dann nicht mehr zwischen ikonischen 353

KrV B 762. Ebd. 355 Nämlich »dahin, wohin die diskursive Erkenntnis vermittelst bloßer Begriffe niemals gelangen könnte.« KrV B 745. 356 Vgl. entsprechend Stekeler-Weithofers – auf die Rehabilitierung Kants zielende – Kritik am »tief verwurzelte[n] Dogma« in Mathematikpraxis und -philosophie, demzufolge »die formale Logik, Arithmetik, Mengenlehre den Kern der Mathematik als abstrakter und deswegen angeblich ›unanschaulicher‹ (axiomatisch verfasster) ›Strukturtheorie‹ aus[mache], die als solche einer ›anschaulichen‹ Geometrie in ähnlicher Weise gegenübergestellt wird wie eine ›digitale‹ Repräsentation von Daten einer ›analogen‹ Abbildung.« Stekeler-Weithofer 2008, 2. 357 Giaquinto 2007, 241. Giaquinto kritisiert so die »common response … that algebraic thinking is essentially symbolic, while geometric thinking is essentially spatial« (ebd.) Allerdings stellt Giaquinto fest: »Within the scope of spatial thinking, however, there does seem to be a contrast between thinking with diagrams and thinking with sym­ bols, i. e. formulas, terms, and their constituents.« (ebd.) Hierbei handle es sich hier allerdings um ein Spektrum, denn im Zweifelsfall fehle ein »criterion for deciding in which of the two categories this or that example of mathematical thinking belongs; instead we go by subjective impression.« Ebd. 240. 358 Stjernfelt 2007, 91. 359 Mit der Rede von einem »non-trivial because operational account of similarity« bezieht sich Stjernfelt auf Peirce’ Feststelllung es sei »a great distinguishing property 354

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und symbolischen Zeichensystemen zu unterscheiden: Wenn es möglich sei, dasselbe Kalkül auf zwei Weisen zu repräsentieren, dann erweise sich bereits daraus, dass auch die ›symbolische‹ Repräsentation ikonisch ist.360 Wird der kantische Begriff des intuitiven Vernunftgebrauchs dergestalt an den Eigenschaften von Spatialität und operativer Ähnlichkeit festgemacht ist die interessanteste Konsequenz – die etwa auch Hintikka zieht – den synthetischen Charakter moderner algebraischer Logik zu behaupten.361 Mit der Methodenlehre lässt sich aber auch ein enger Begriff von Anschaulichkeit formulieren, der sich spezifisch auf die geometrische Konstruktion bezieht. Während Geometrie und Algebra beide quantitativen Inhalt haben, betont Kant aber auch Unterschiede: Geometrische Konstruktion ist Kon­ struktion der »Gegenstände selbst«, nämlich von »Größen (quanta)«. Demgegenüber beruht die symbolische Konstruktion »wie in der Buchstabenrechnung« auf »eine[r] gewisse[n] Bezeichnung aller Konstruktionen von Größen überhaupt (Zahlen, als der Addition, Subtraktion u. s. w.)«, »wobei sie von der Beschaffenheit des Gegenstandes, der nach einem solchen Größenbegriff gedacht werden soll, gänzlich abstrahiert.«362 Der entsprechende Größenbegriff betrifft »bloße Größe (quantitatem)« im Sinne eines bloßen arithmetisch angebbaren Verhältnisses.363 Im Falle der geometrischen Konstruktion ist also – neben dem operativen Ähnlichkeitskritierum – noch ein stärkeres Ähnlichkeits- oder Ikonizitätskriterium wirksam, das darin liegt, dass Räumliches selbst räumlich dargestellt wird, d. h. analog und nicht symbolisch.364 of the icon … that by the direct observation of it other truths concerning its object can be discovered than those which suffice to determine its construction«. Collected Papers 2.279, zitiert aus Stjernfelt 2007, 90. 360 »Using Peirce’s sign concepts, namely, it is no longer possible to speak about iconicty and synbolicity as two concurrent modes of representation of the same content: if the same logical calculus may be represented in two ways, this indicates that the ›symbolic‹ representation did, in fact, already possess an iconic content: the possibility of experimentation on the calculus resulting in new insight grants – due to the operational icon criterion – that it is in fact an iconic calculus. Thus, when [/] the operational criterion is adopted, icons become everything that can be manipulated in order to reveal more information about its object, and algebra, syntax, formalizations of all kinds must be recognized as icons«. Stjernfelt 2007, 91 f. In der Folge gehe es darum, fruchtbarere von weniger fruchtbaren Formalisierungen zu unterscheiden. 361 Vgl. hierzu Anderson 2015, 216. Innerhalb der logischen Lesart Kants korrespondiert dem die Diagnose, dass die Analytizität, von der sich Kant abgrenzen will, ein sehr begrenztes Bild begrifflichen Denkens – das der aristotelischen Logik – bezeichnet. 362 KrV B 745. 363 KrV B 765. 364 Vgl. zu einer derartigen Differenzierung zweier Begriffe von Ähnlichkeit und diagrammatischer Ikonizität: Stjernfelt, Frederik (2006): »Two Iconicity Notions in Peirce’s



Bildlogik und Medialität

Erst hier kommen die beschriebenen räumlichen Äquivalenzen, wie sie für die euklidische Beweispraxis charakteristisch sind, zum Tragen. Diese Eigenschaft scheint dann wichtig zu werden, wenn man den geometrischen Diagrammen – über die logische Lesart Kants hinaus – eine transzendentale oder fundierende Rolle zuschreibt, wie dies etwa Stekeler-Weithofer tut.365 In der Preisschrift zumindest sieht Kant, bei gleicher »Gewißheit« beider Verfahren einen Vorteil in der größeren »Evidenz« der geometrischen Konstruktion, »wo die Zeichen mit den bezeichneten Sachen überdem eine Ähnlichkeit haben«.366 Im Fazit: Das geometrische Diagramm – wie es im Folgenden betrachtet wird – ist also in zwei Hinsichten als Bild zu verstehen: Im Sinne eines weiten Bildbegriffs, mit Eigenschaften von Spatialität und operativer Ähnlichkeit, die es mit algebraischen Repräsentationen teilt. Im Sinne eines engen Bildbegriffs, der besagt, dass räumliche Beziehungen selbst räumlich dargestellt werden. Die interessante und wichtige Frage nach der Bildlichkeit und Synthetizität der Algebra soll im Folgenden allerdings keine weitere Rolle mehr spielen, da sie nicht in den Fokus dieser Studie fällt.367

5.1.3 Operativität: schöpferische und genetische Definitionen

Dass ein Kapitel über die ikonische Differenz eine Theorie der Definition betrachtet, mag zunächst befremden. Allerdings kann, wie die Auseinandersetzung mit dem Mythos des Gegebenen in Kapitel II.2 zeigte, anschauliches Denken nicht begriffsloses Anschauen heißen, sondern impliziert alternative Konstellationen von Anschauung und Begriff. Dies ist auch vom Gegenstand her überzeugend; diagrammatische Kalküle – allen voran Euklids Elemente – existieren immer nur im Zusammenhang mit textuellen oder mündlichen Anweisungen und setzen eine definitorische Festlegung ihres Inhalts, der erlaubten Regeln etc. voraus. Wie wir gesehen haben, geht es Kant darüber hinaus auch um einen anderen Typ von Begriffen. Dem klassifikatorisch-prädikativen Substanzbegriff stellt er den mathematisch-quantitatiDiagrammatology«, in: Henrik Schärfe; Pascal Hitzler; Peter Øhrstrøm (Hg.): Conceptual Structures: Inspiration and Application, Berlin, Heidelberg: Springer, 70–86. 365 »Die Wahrheitsbedingungen der Aussagen in der (Euklidischen) Elementargeometrie werden im Rahmen der Anschauung von benannten Diagrammen bestimmt. Auf dieser Grundlage wird ein formallogisches Beweisen in der Geometrie erst sinnvoll. Algebraisierung, Arithmetisierung, mengentheoretische Logisierung und Axiomatisierung erweitern dann systematisch den Rede- und Beweisrahmen.« Stekeler-Weithofer 2008, 1. 366 Preisschrift A 89. 367 Vgl. zur Diskussion und Verteidigung dieser Auffassung Kants: Shabel 2003, 221 ff.

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ven Funk­tionsbegriff entgegen. Letzterer erlaubt einen von der klassischen Begriffs­theo­rie nicht vorgesehenen neuen Typus der Definition: die zugleich willkürliche und genetische Definition. Als Konstruktionsanweisungen und Herstellungsprogramme für Figuren begründen diese Definitionen den operativen Handlungscharakter geometrischer Konstruktion und die Spontaneität geometrischer Synthesis.368 Sie stehen für den Bruch mit dem ontologischen System der Repräsentation, weil sie nicht aus dem Besonderen abstrahieren, sondern spontane Verknüpfungen herstellen. Den entsprechenden Unterschied zwischen philosophisch-analytischer und mathematisch-synthetischer Methode, entwirft Kant zum ersten Mal am Thema der Definition, nämlich bereits in der Preisschrift von 1764:369 »Man kann zu einem jeden allgemeinen Begriffe auf zweierlei Wege kommen, entweder durch die willkürliche Verbindung der Begriffe, oder durch Absonderung von demjenigen Erkenntnisse, welche durch Zergliederung ist deutlich gemacht worden. Die Mathematik fasset niemals anders Definitionen als auf die erstere Art. Man gedenket sich z. E. willkürlich vier gerade Linien, die eine Ebene einschließen, so daß die entstehende Seiten nicht parallel sein, und nennet diese Figur ein Trapezium. Der Begriff, den ich erkläre, ist nicht vor der Definition gegeben, sondern er entspringt allererst durch dieselbe. Ein Kegel mag sonst bedeuten was er wolle: in der Mathematik entstehet er aus der willkürlichen Vorstellung eines rechtwinkligen Triangels, der sich um eine Seite dreht. Die Erklärung entspringet hier und in allen andern Fällen offenbar durch die Syn­ thesin.«370

Philosophische Definitionen beginnen also beim Besonderen, das sie durch Vorstellungsanalyse und Abstraktion in ein Allgemeines transformieren. Sie folgen einer Logik von Abbildung und Repräsentation. Demgegenüber sind 368 In der modernen Mathematik stehen am ›Anfang‹ des mathematischen Denkens als Deduktionsgrundlage nicht Definitionen, sondern Axiome. Kants Ausrichtung am Konzept der Definition gehört allgemein zur epistemologischen und mathematiktheoretischen Perspektive der Zeit, die durch die Leibniz-Wolff’sche Schulphilosophie geprägt ist. Zur Definition als Erkenntnisparadigma im 18. Jahrhundert vgl. Koriako 1999, 28 f. u. 40 ff. 369 Neben der Entdeckung von Inkongruenz und Körperschema findet sich damit beim vorkritischen Kant ein zweites entscheidendes Moment für das spätere kritische Projekt. Hatte die Theorie der inkongruenten Gegenstücke auf die Irreduzibilität von Anschauung geführt, so führt die Theorie der schöpferischen Definition auf den Gedanken einer spontanen synthetischen Aktivität des Subjekts. Dazu, dass die Theorie schöpferischer Definition in der Tat ein Eigentum von Kants Theorie ist, vgl. Koriako 1999, 137, Fußnote 54. 370 Preisschrift A 91. Koriako weist darauf hin, dass es sich bei der ersten genannten Definition eigentlich um eine Nominaldefinition handelt.



Bildlogik und Medialität

mathematische Definitionen Akte einer spontanen Synthesis, und dies auf zwei Ebenen: (i) Als schöpferische Definitionen sind sie willkürlich: Sie erklären nicht »durch Zergliederung einen gegebenen Begriff, sondern durch willkürliche Verbindung ein Objekt, dessen Gedanke eben dadurch erst möglich wird.«371 Der Begriff des Kreises ist demnach nicht aus seinen empirischen Instanziierungen wie Tellern herausabstrahiert, sondern das Produkt einer Setzung.372 Kant spricht daher in der KrV auch davon, dass wir über die geometrischen Formen (Kreise, Dreiecke etc.) verfügen, »ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben« (KrV B 741). Dies hat zum einen damit zu tun, dass diese Formen zunächst nur definitorische Setzungen sind. So ist beispielsweise die Linie als Länge ohne Breite in der Wahrnehmung nicht zu finden.373 Es liegt aber auch an der Art der Begriffsbildung:374 Die ontologischen Begriffe sind Bündel von qualitativen Merkmalen (Gold ist ein Metall, ist glänzend, ist schwer, etc.). Demgegenüber ist für Kant die »genuine Form der mathematischen Begriffsbildung die rekursive und iterative Definition, die ›Wiederholung‹ gleichartiger Elemente.«375 Aus den basalen Operationen von Zirkel und Lineal ergeben sich Geradenstücke und Kreisbögen. Aus diesen einfachen Grundbausteinen kann nun jeder elementargeometrische Gegenstand durch Iteration und Kombination zusammengesetzt werden: Dreieck, Viereck, Tausendeck etc. Auch diese ersten Elemente sind nicht von einem passiven Wahrnehmen abgeleitet, sondern stehen für grundlegende Formen der Spontaneität, d. h. einem Vermögen des Subjekts, in gemeinsamer Anschauung bestimmte Bewegungen bzw. Operationen durchzuführen.376 Diese Möglichkeit, neue Begriffe nicht durch prädikative Unterscheidungen, sondern durch Addition, Iteration und Kombination zu schaffen, liegt in dem Bezug geometrischer Begriffe auf die zwei Arten räumlicher Relationen. Inso371

Preisschrift A 75. Als ›reiner sinnlicher Begriff‹ ist er so von den ›empirischen Begriffen‹ durch einen Hiatus getrennt. Vgl. KrV B 176 ff. 373 Mit Stekeler-Weithofer gesprochen existieren die geometrischen Formen also, im Gegensatz zu empirischen kreisartigen Gestalten, »nur in der mathematischen Geometrie aufgrund eines streng normierten Gebrauchs von entsprechenden Redeformen.« Stekeler-Weithofer 2008, 22. 374 Zu diesen und weiteren Unterschieden zwischen den geometrischen Begriffen Kants und den ontologischen Begriffen der aristotelischen Logik vgl. auch Cassirer 1969, 24. 375 Koriako 1999, 212. Die entsprechenden Eigenschaften, z. B. dass eine Figur n-viele Seiten und Ecken hat, nennt Koriako auch »morphologische Eigenschaften« (ebd. 136). 376 Koriako 1999, 135. Vgl. Kant, EEKU 12 Fußnote, sowie Kästner-Rezension 411. Vgl. ebenfalls Stekeler 2008, 24. 372

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fern der Raum ein nicht-begriffliches Differenzprinzip enthält, seine Örter gegenüber ihrem Inhalt »gleichgültig« sind (KrV B 328), erlaubt er die kombinatorische Wiederholung von Elementen. Diese beruht ja im Grunde darauf, Gleiches an verschiedenen Stellen zu instantiieren.377 Zum anderen haben wir es auf der Ebene quantitativ-figuraler Verhältnisse mit einer »Synthesis des Mannigfaltigen, was nicht notwendig zu einander gehört« (KrV B 201 Anm.), zu tun. Diese Homogenität und Indifferenz des Raums als einer ›tabula rasa‹ ermöglicht also umgekehrt die spontane, schöpferische Begriffsbildung.378 (Eine weitere Dimension des Raums als ›tabula rasa‹ wird später in Kapitel 5.3 noch als Eigenschaft der Physiklosigkeit von Bildmedien betrachtet.) (ii) Es gibt aber noch eine zweite Dimension der Spontaneität. Die mathematischen Definitionen sind für Kant zugleich genetische Definitionen, und als solche Realdefinitionen. Im Gegensatz zu Nominaldefinitionen, die die Referenz eines Begriffs konventionell festlegen, geben Realdefinitionen den Grund der Möglichkeit einer Sache an – hier der Entstehung und Hervorbringung: »So denken wir uns einen Triangel als Gegenstand, indem wir uns der Zusammensetzung von drei geraden Linien nach einer Regel bewußt sind, nach welcher eine solche Anschauung jederzeit dargestellt werden kann.« (KrV A 105)379

Ihrem Inhalt nach sind die geometrischen Begriffe also Konstruktionsanweisungen, Schemata oder Programme, nach denen eine Figur in der Anschau377

Wie Koriako anmerkt, ist die iterative Kombination von Elementen (Dreieck, Viereck … Tausendeck … n-Eck) im Falle qualitativer Merkmale nicht sinnvoll: Zum Begriff des Goldes zweimal die Eigenschaft ›Metall‹ hinzufügen zu wollen, ist sinnlos. Dagegen gilt: »Die Iteration der quantitativen Synthesis ist möglich, weil ihr ein anschauliches Substrat zugrundeliegt: zwei Dreiecke, die sich an verschiedenen Raumstellen befinden, sind eo ipso unterschiedene Dreiecke.« Koriako 1999, 136. 378 »Also bleiben keine anderen Begriffe übrig, als solche, die eine willkürliche Synthesis enthalten, welche a priori konstruiert werden kann, mithin hat nur die Mathematik Definitionen. Denn, den Gegenstand, den sie denkt, stellt sie auch a priori in der Anschauung dar, und diese kann sicher nicht [/] mehr noch weniger enthalten, als der Begriff, weil durch die Erklärung der Begriff von dem Gegenstande ursprünglich, d. i. ohne Erklärung irgend wovon abzuleiten, gegeben wurde.« KrV B 757 f. Im Gebiet von Physik oder Metaphysik verbietet sich für Kant die Idee einer begriffskombinatorischen Erschließung neuer Gegenstandsbereiche. Der Versuch hier durch »willkürliche Gedankenverbindung« Begriffe erzeugen, die Kant »gedichtete Begriffe« nennt, z. B. »neue Begriffe von Substanzen, von Kräften, von Wechselwirkungen«, führt nur »in lauter Hirngespinste« (KrV B 269 f.). Gemeint ist etwa die Annahme immaterieller geistiger Substanzen im Raum oder eines Vermögens zu Wahrsagekunst und Telepathie. Dies liegt daran, dass es die Mathematik für Kant nicht mit Materialität und Realität zu tun hat, sondern bloß mit Form und Möglichkeit (KrV B 270). 379 Vgl. auch Preisschrift A 71.



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ung hergestellt werden kann.380 An der Wurzel der geometrischen Figur steht für Kant somit gleich eine doppelte Spontaneität, wie sie Stekeler-Weithofer folgendermaßen differenziert: Erstens ist das geometrische Denken spontan, weil es durch verbale Definitionen und nach iterativen und kombinatorischen Prinzipien »reine[] geometrische Formen«381 entwickelt. Zum anderen fungieren diese wieder als Anweisungen, wie entsprechende »reale[] Figuren oder Diagramme«382 hergestellt werden können: »In der Geometrie produzieren und reproduzieren wir spontan, also willentlich, geometrische Formgestalten.«383 Deutet man Kant – wie etwa auch Stekeler-Weithofer – im Sinne des modalen Dualismus (vgl. Kapitel II.4.2.3), dann ist es allerdings erst die tatsächliche Konstruierbarkeit, d. h. die Ausführbarkeit einer solchen Anweisung, in der sich die Möglichkeit einer geometrischen Figur zeigt.384 Indem die schöpferische, genetische Definition zum ursprünglichen Hervorbringungsprinzip geometrischer Figuren gemacht wird, zeigt sich deren geistiganschaulicher Doppelcharakter: Figuren sind gleichermaßen Produkt einer begrifflichen wie einer anschaulichen Syntheseleistung. Die Bedeutung dieser Definitionstheorie für die Theorie bildlichen Denkens liegt auch darin, dass die ästhetische Spontaneität, die die Metaphysikkritik hier freilegt, nicht als Negativität oder Unverfügbarkeit verstanden werden will. Neben der Einsicht in die Irreduzibilität aisthetischer Raumrelationen geht es hier um die Entdeckung der Operativität, des Motivs von Konstruktion und Konstruktivismus. Kants Definitionstheorie kann in dieser Hinsicht als eine ästhetisch-technische Theorie des Entwurfs, von Herstellungsprogrammen für diagrammatische Figuren gelesen werden. Mit diesem verlässt Kant jenes Modell, für das das Erkennen bloß isomorphe Abbildung 380 Kant nennt das Schema eines mathematischen Begriffs daher »eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raume«. KrV B 180. 381 Stekeler-Weithofer 2008, 22. 382 Ebd. 383 Ebd. 384 Stekeler-Weithofer dazu: »Es werden dazu zunächst beliebige Konstruktionsanwei­ sungen t für ›mögliche‹ und ›unmögliche‹ planimetrische Konstruktionen auf normierte Weise, d. h. rein syntaktisch, definiert. […] Daher ist aus den bloß formalen Konstruktions­ termen t, die zunächst nur abstrakt sagen, was getan werden sollte, die Teilklasse der mög­ lichen bzw. der im Prinzip ausführbaren, Konstruktionen auszusondern, und zwar gerade durch eine Betrachtung hinreichend guter Diagramme, welche diese Konstruierbarkeit von t, also die Ausführbarkeit von t demonstrativ zeigen.« Stekeler-Weithofer 2008, 34. Vgl. auch die hiervon abweichende Darstellung dieses Zusammenhangs in Carson 1997: Die zwei Dimensionen eines modalen Dualismus betreffen dort den Unterschied von Nominaldefinitionen als bloße Begriffskombinationen, wonach etwa auch nicht-euklidische Geometrien gedacht werden können, und Realdefinitionen, die die wirklichen Konstruktionsanweisungen enthalten.

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einer existierenden Ordnung von Substanzen ist. An dessen Stelle tritt Cassirer zufolge »ein eigener Akt des Denkens, eine freie Produktion bestimmter Relationszusammenhänge«, die »gedankliche Feststellung eines konstrukti­ ven Zusammenhangs«.385 Diese Spontaneität, die am Anfang der mathematischen Konstruktion steht, wird von Schelling und Bäumler mit dem Konzept einer intellektuellen Anschauung in Verbindung gebracht.386 Kants Theorie der schöpferischen Definition kann also als zentraler Teil jenes Paradigmenwechsels von der Nachahmung zur Darstellung begriffen werden, der in der Ästhetik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts stattfindet und auch in Hegels Ästhetik zu finden ist.387 Auch in der Idee einer schöpferischen Realdefinition findet sich dabei das Element des Paradoxen, Hybriden oder der contradictio in adjecto, das Kants Überlegungen zur Ästhetik insgesamt prägt.388 Denn nach der – vor Kant gültigen – klassischen Begriffstheorie kann keine Definition zugleich willkürlich und sachhaltig sein.389

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Cassirer 1969, 11. Die Theorie der genetischen Definition wird für Cassirer zum Katalysator, der die Idee vom Denken als Analysieren und Vergleichen von Gegebenem durch das neue Paradigma eines schöpferischen, synthetisierenden Denkens ersetzt. 386 Bäumler bemerkt zur genetischen Definition, dass das endliche Subjekt darin bei Kant einer ›intellektuellen Anschauung‹ am nächsten komme, d. h. einem Erkennen, das nicht diskursiv und auf Gegebenes angewiesen ist, weil es seinen Gegenstand zugleich mit dem Erkennen selbst hervorbringt. Bäumler 1967, 327. Was in Bezug auf reales, physisches Dasein für den Menschen unmöglich ist, wird also im Bereich rein formaler Gegenstandsbereiche und anschaulicher Konstruktionen realisierbar. Dieser Modellcharakter der kantischen Theorie mathematischer Konstruktion für eine ›intel­lektuelle Anschauung‹ wird auch für Schelling zu einem entscheidenden Punkt seiner Lektüre der kantischen Mathematiktheorie. Vgl. hierzu Düsing, Klaus (1993): »Die Ent­stehung des spekulativen Idealismus. Schellings und Hegels Wandlungen zwischen 1800 und 1801«, in: Walter Jaeschke (Hg.): Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer ersten Philosophie (1799–1807), Hamburg: Meiner, 144–163. Mit Blick auf die von Kant vollzogene Metaphysikkritik lässt sich hier auch auf die spezifisch menschliche Natur dieser Kreativität verweisen, die sich in der Fähigkeit zur Erzeugung formaler Gegenstände an die Stelle der göttlichen Kreativität setzt. 387 Vgl. etwa Mülder-Bach, Inka (1998): Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der "Darstellung" im 18. Jahrhundert, München: Fink. Zu Hegel in diesem Kontext vgl. Mersch 2002b, 176. 388 Etwa in der Allgemeingültigkeit ohne Begriff, der nichtempirischen Anschauung etc. 389 Willkürlich sind nur Nominaldefinitionen, als Begriffsklärungen zum Zweck der Bedeutungsfestlegung. Sie enthalten Attribute, durch die wir Gegenstände wiedererkennen, aber »keine ontologischen Verpflichtungen« (Koriako 1999, 42), und können demnach aber auch »nicht dazu verwendet werden, weitere sachhaltige Folgerungen zu ziehen« (Ebd. 45). Genetische Realdefinitionen hingegen sind gerade nicht willkürlich, weil sie der Bezugnahme auf die Sache selbst bedürfen (Ebd. 44). Die mathematischen Definitionen sollen nun zugleich willkürlich und sachhaltig sein – eine Paradoxie, die



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Kant geht hier noch einen Schritt weiter: Diese Verschränkung von Aisthesis und instrumenteller Vernunft in der Operativität der anschaulichen Kon­ struktion soll sich dem begriffsanalytischen Verfahren zugleich als spezifisch überlegen erweisen. Und diese Überlegenheit beruht gerade auf der Fähigkeit der Mathematik, ihre Gegenstände durch schöpferische Definitionen selbst hervorzubringen: Gerade weil sie »eine willkürliche Synthesis enthalten« bzw. von uns »selbst vorsätzlich gemacht« (KrV B 757) wurden, können mathematische Definitionen »niemals irren« (KrV B 759).390 D. h., die Begriffe der Mathematik sind bedeutungsdefinite Begriffe.391 Von diesen ›gemachten‹ Begriffen der Mathematik unterscheiden sich die ›gegebenen‹, d. h. natürlichsprachlichen Begriffe im empirischen und philosophischen Denken. Diese können nicht bedeutungsdefinit sein, weil eine vollständige Begriffsklärung nicht möglich ist. Empirische Begriffe stehen »niemals zwischen sicheren Grenzen« (KrV B 756), weil wir – je nach Kontext – mit einem Begriff wie ›Gold‹ immer nur eine begrenzte Anzahl von Merkmalen verbinden, die in diesem Kontext zur Unterscheidung hinreichend sind. Bei philosophischen Begriffen wiederum bleibt »die Ausführlichkeit der Zergliederung meines Begriffs immer zweifelhaft« (KrV B 756). Begriffe wie ›Substanz‹ oder ›Recht‹ haben immer mehr Ressourcen an Sinn, als wir präsent haben, sie können »viele dunkele Vorstellungen enthalten, die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen« (KrV B 755).392 nur dann denkbar wird, wenn man ein Vermögen des Subjekts annimmt, Gegenstände durch Definitionen selbst hervorzubringen. 390 Vgl. auch Preisschrift A 80 sowie A 88. Dementsprechend ist in der Mathematik »die Bedeutung der Zeichen sicher, weil man sich leichtlich bewußt werden kann, welche man ihnen hat erteilen wollen.« (Preisschrift A 80) In der Philosophie »haben die Worte ihre Bedeutung durch den Redegebrauch« (ebd.). Die »Worte, als die Zeichen der philosophischen Erkenntnis« dienen hier »zu nichts, als der Erinnerung der bezeichneten allgemeinen Begriffe«. Preisschrift A 88. 391 »Denn, weil der Begriff durch die Definition zuerst gegeben wird, so enthält er gerade nur das, was die Definition durch ihn gedacht haben will.« (KrV B 759) In Stekeler-Weithofers Worten: Die entsprechenden Gegenstandsbereiche sind »wahrheitswertsemantisch eindeutig«. Stekeler-Weithofer 2008, 22 392 Es könne »kein a priori gegebener Begriff definiert werden, z. B. Substanz, Ursache, Recht, Billigkeit etc. Denn ich kann niemals sicher sein, daß die deutliche Vorstellung eines (noch verworren) gegebenen Begriffs ausführlich entwickelt worden, als wenn ich weiß, daß dieselbe dem Gegenstande adäquat sei. Da der Begriff desselben aber, so wie er gegeben ist, viele dunkele Vorstellungen enthalten kann, die wir in der Zergliederung übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen: so ist die Ausführlichkeit der Zergliederung meines Begriffs immer zweifelhaft, und kann nur durch viel[/] fältig zutreffende Beispiele vermutlich, niemals aber apodiktisch gewiß gemacht werden.« KrV B756 f.

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In beiden Domänen kann es daher niemals sichere Definitionen geben, sondern nur nachträgliche und stets vorläufige – wie Kant sie nennt – Expositionen (KrV B 757). Dies ist Anlass für Kants Absage an die Hoffnungen auf eine axiomatisch-deduktive Philosophie more geometrico (weil adäquate Definition als Deduktionsgrundlage fehlen). Empirisches und philosophisches Denken sind für Kant also an Prozesse gebunden, wie sie etwa Derrida – selbstverständlich deutlich radikaler – als wesentlich für die differenzielle und polysemische Struktur der Sprache ausweist: Die Bedeutungsverschiebung der Worte durch Kontextwechsel oder die stets nur beschränkt einholbaren Sinnschichten philosophischer Begriffe, die eine bleibende Quelle für Irrtümer bilden. Die mathematische Erkenntnis erweist sich hier als überlegen. Sie erlaubt ein Operieren in concreto, wobei sie »alle Schlüsse vor Fehlern dadurch sichert, daß jeder derselben vor Augen gestellt wird«.393 Dagegen muss »das philosophische Erkenntnis dieses Vorteils entbehren […], indem es das Allgemeine jederzeit in abstracto (durch Begriffe) betrachten muss.« (KrV B 762) In der Philosophie ist es demnach nötig, »öfters zurück zu sehen und Acht zu haben, ob sich nicht etwa im Fortgange der Schlüsse Fehler entdecken, die in den Prinzipien [/] übersehen worden, und es nötig machen, sie entweder mehr zu bestimmen, oder ganz abzuändern.« (KrV B 763 f.)394 Insofern das, was eine mathematische Definition enthält, ihren Gegenstand vollständig adäquat erfasst (die Begriffe also ›transparent‹ und ›überschaubar‹ sind, keine ›dunkle Vorstellungen‹ enthalten), wird es möglich, die Mathematik konkret und präsentisch an einzelnen Repräsentationen zu operieren, die als Platzhalter an die Stelle der Gegenstände treten395: Der Mathematiker muss der Sache nichts beilegen als das, was »er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat« (KrV B XII), wobei gilt, dass »dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten muß.« (KrV B 744) Als Fazit dieses kurzen Exkurses kann festgehalten werden: Nur die Mathematik kann für Kant konstruktiv, d. h. operativ vorgehen. Die Ursache dafür ist die Fähigkeit zur willkürlichen Begriffsbildung, 393

Vgl. hier auch Wittgensteins Begriff der übersichtlichen Darstellung. Die »dogmatische Methode« in der Philosophie »verbirgt nur die Fehler und Irrtümer, und täuscht die Philosophie«. KrV B 765. 395 Zu denken ist hier an eine zentrale Eigenschaft formaler Sprachen: »deren Spezifik ist es, das Operieren mit Gegenständen, Begriffen, Gedanken zu ersetzen durch das Operieren mit Zeichen, welche an die Stelle dieser Gegenstände, Begriffe und Gedanken treten. Die Pointe eines solchen Verfahrens ist es, daß die Regeln, nach denen sich die Operationen in einer formalen Sprache vollziehen, Bezug nehmen auf die Zeichen, nicht aber auf das, wofür diese stehen.« Krämer 1988, 57. 394



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die ein sicheres Ausgangsmaterial zur Verfügung stellt, mit dem in concreto operiert werden kann. Damit erweist sich dieses technisch-operative Verfahren als »gepanzert« gegen jene differenziellen Potentiale der Bedeutungsverschiebung, die zur Lebendigkeit natürlicher und philosophischer Sprachen gehören.396 Anders gesagt: Zum operativen Charakter des diagrammatischen Denkens gehört, dass es nicht in derselben Weise wie letztere einer différance unterworfen ist.

5.1.4 Zwei Prinzipien: figürliche Synthesis und räumliche Einschränkung

Wie bereits angedeutet, lässt sich die Differenz von Figur und Grund bei Kant auf der Basis zweier zugleich konträrer und komplementärer Prinzipien verstehen. Diese sollen nun abschließend genauer betrachtet werden: Die transzendentale Logik beschreibt anhand der ›figürlichen Synthesis‹ eine Logik der Figur, zu der Spontaneität, Regelhaftigkeit und kontinuierliche Bewegung gehören. Die transzendentale Ästhetik beschreibt eine Logik von Grund und Rahmung als Logik der ›Einschränkung‹ mit den hierzu konträren und komplementären Eigenschaften von Rezeptivität, Nichtbegrifflichkeit und Grenzziehung.397 Die Logik der Figuration ist durch drei Eigenschaften bestimmt: (i) Spontaneität: Eine zentrale Rolle im erkenntnistheoretischen Modell Kants spielt »die figürliche Synthesis«, die Kant als eine »transzendentale Handlung der Einbildungskraft« (KrV B 154) beschreibt. Das wiederkehrende Beispiel hierfür ist der Linienzug: »So ist die bloße Form der äußeren sinnlichen Anschauung, der Raum, noch gar keine Erkenntnis; er gibt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori zu einer möglichen Erkenntnis. Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des 396 Vgl. Vorrede zur zweiten Auflage der KrV: »An einzelnen Stellen lässt sich jeder philosophische Vortrag zwacken (denn er kann nicht so gepanzert auftreten, als der mathematische)« (KrV B XLIV). Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Preisschrift A 74, A 80 f., A 88. 397 Mersch unterscheidet entsprechend zwischen »zwei medialen Konstituenten des Bildes […] zum einen […] der Rahmung als ›Ur-Differenz‹, die das Bild als Bild instantiiert, sowie zum zweiten […] dem aus seiner Multiplizität hervorgehenden ›ikonischen Als‹, das die Erscheinung, das Gezeigte, sowie die spezifische Gegenständlichkeit erzeugt.« Mersch, Dieter (2014b): »Sichtbarkeit/Sichtbarmachung. Was heißt ›Denken im Visuellen‹«?«, in: Martin Beck; Fabian Goppelsröder (Hg.): Präsentifizieren. Zeigen zwischen Kör­ per, Bild und Sprache, Zürich, Berlin: Diaphanes, 17–69, 32.

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gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so, daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird.« (KrV B 137 f.)398

Der Raum als solcher ist also zunächst bloß bestimmungslose Mannigfaltigkeit. Ein bestimmter Raum als Objekt des Erkennens setzt eine Handlung, d. h. einen Akt der Spontaneität voraus. Erst durch einen solchen Akt kann etwas (ein bestimmter Raum)399 als etwas (eine Linie, eine Größe) aufgefasst werden. Diesen Handlungscharakter des Erkennens formuliert Kant auch im allgemeinen Prinzip, »daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (KrV B XIII), womit er sich von der empiristischen Idee eines Erkennens durch rezeptive Eindrücke maximal abgrenzt. Der figürlichen Synthesis, exemplarisch gemacht am Linienzug, kommt hierbei eine doppelte Funktion zu: Das Denken kann sich nur durch einen Akt der Spontaneität auf die Anschauung beziehen und so zur Erkenntnis werden. Andererseits kann sich das Denken seine eigene Tätigkeit wieder nur in der Herstellung eines solchen räumlichen Bildes (in Gedanken oder auf dem Papier) vergegenwärtigen.400 Der Linienzug ist an dieser Stelle aber bloß ein Beispiel für figürliche Synthesis: An einer bestimmten Erkenntnispraxis (der Bildpraxis der Geometrie) und einem bestimmten Kategorienbereich (Quantität) soll exemplarisch erklärt werden, was generell für Wahrnehmung, Erkennen und Verstand gilt. Figürliche Synthesis ist in der Wahrnehmung der Welt oder beim Imaginieren räumlicher Gebilde ebenso am Werk wie beim Zeichnen von Diagrammen. Das bedeutet wiederum nicht, dass es sich um ein zufälliges Beispiel handelt: Wie etwa die Rede von einer ›Handschrift der konstruierenden Vernunft‹401 nahelegt, ist dieses Beispiel eng mit der kantischen Konzeption des Denkens überhaupt verbunden, was man so ausdrücken könnte: Die Spontaneität in der konkreten Bildpraxis der geometrischen Konstruktion dient als Paradigma oder Folie für die Bedeutung der Spontaneität in der erkenntnistheoretischen Haltung des Konstruktivismus. 398

Vgl. auch KrV B 154, B 292. ›Bestimmt‹ im doppelten Sinn von ›ein gewisser Raum‹ und ›ein Raum, der be­ stimmt worden ist‹. 400 Begründet Kant die Einheit des Denkens in dessen kontinuierlicher Verknüpfungstätigkeit in der Zeit, so kann sich das Ich die Zeit und die Zeitlichkeit seines Denkens wiederum nur »im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll)« (KrV B 154) vorstellen. 401 Kaulbach 1965, 466, zentral aufgenommen von Krämer 2016, 235. 399



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(ii) Regelhaftigkeit: Jede auf diese Weise gezogene Linie ist nicht ein beliebiger Strich, sondern das Produkt eines Bestimmens der Sinnlichkeit durch den Verstand. Sie ist Darstellung eines Begriffs, d. h. einer allgemeinen Regel oder Funktion. In diesem Falle ist dies die erste Trias von Kategorien: ›Einheit, Allheit, Vielheit‹, die zusammen den Titel ›Quantität‹ bilden (KrV B 106). Der entsprechende Verstandesgrundsatz in der Anwendung auf die Sinnlichkeit lautet: »Alle Anschauungen sind extensive Größen« (KrV B 202). Die Linie (als Gerade oder Kreisbogen) ist, wie Kants entsprechender Beweis deutlich macht, zugleich das einfachste Raumquantum, das gemäß diesen Kategorien gedacht werden kann: als Ganzes, das zugleich eine Vielheit von Teilen enthält. Insofern sie, wie es der Punkt nicht tut, über eine Ausdehnung und Relationalität verfügt, ist sie basales figurales Element der Geometrie als »Mathematik der Ausdehnung«.402 Von der kognitiven Seite ist dabei die ›Bewusstseinseinheit nach Regeln‹ entscheidend. Fällt diese konstante Aufmerksamkeit, die die Handlung an eine Regel bindet, weg, schlägt die entsprechende Synthesis fehl: Es gibt keinen Gegenstand und keine Erkenntnis. Kant illustriert das in der KrV mit dem alltäglichen Beispiel, beim Zählen die Stelle zu vergessen, an der man gerade ist.403 Die KU thematisiert den Fehlschlag einer solchen Synthesis sogar als Anlass für die ästhetische Erfahrung des Erhabenen.404 Deutlich wird daher, dass als Figur im Sinne der kantischen Bildtheorie niemals das Produkt eines bloßen Kritzelns, eines mechanischen oder unbewussten Handelns gelten kann.405 Und dies gilt nicht nur für die Herstellung, sondern auch die Inter-

402 »Auf diese sukzessive Synthesis der produktiven Einbildungskraft, in der Erzeugung der Gestalten, gründet sich die Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) mit ihren Axiomen, welche die Bedingungen der sinnlichen Anschauung a priori ausdrücken, unter denen alleine das Schema eines reinen Begriffs der äußeren Erscheinung zu Stande kommen kann; z. E. zwischen zwei Punkten ist nur eine gerade Linie möglich; zwei gerade Linien schließen keinen Raum ein etc. Dies sind die Axiomen, welche eigentlich nur Größen (quanta) als solche betreffen.« KrV B 204. 403 »Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein. […] Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis.« KrV A 103. 404 Vgl. KU § 26. 405 Hierdurch unterscheidet sich ein Kantianischer Ansatz der Diagrammatik von dem Diagrammbegriff in Deleuze’ Bacon-Interpretation, der gerade ein solches unbewusstes Erzeugen meint. Vgl. dazu Beck, Martin (2016): »Die objektive Seite des Unvor-

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pretation von Diagrammen: Jeder geometrischen Figur entspricht eine Regel, die explizit gekannt werden muss, um sie richtig zu interpretieren. (iii) Kontinuierliche Bewegung: Die zentrale Pointe der Theorie der figürlichen Synthesis ist diejenige, dass jedes Denken seinen Gegenstandsbezug erst dann erhält, wenn es den Weg durch die Bedingungen sinnlicher Konkretion nimmt. Dies impliziert, dass die entsprechende Spontaneität nicht abstrakt ist, sondern eine reale oder imaginierte Bewegung in Raum und Zeit involviert. Gegenbild ist hierbei der »dogmatische Metaphysiker«,406 der Größen in ›armchair‹-hafter Manier als intelligible Substanzen behandelt. Der Unterschied wird erneut am Begriff der extensiven Größe deutlich, der für Kant bedeutet, dass »die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht (und also notwendig vor dieser vorhergeht).« (KrV B 203) Der Metaphysiker schließt hieraus etwa, dass jede Substanz aus einfachen Substanzen zusammengesetzt ist, der Raum demnach nicht unendlich teilbar sein kann u. dgl. mehr. Kant fordert dagegen die Konkretisierung des Größenbegriffs gemäß den Bedingungen der Anschauung, Raum und Zeit. Insofern kann als Linie (bzw. Größe) nur gedacht werden, was Produkt einer »sukzessive Synthesis (von Teil zu Teil)« (KrV B 204) war.407 Das figurale Bildelement der Linie ist also weder simultan gegeben noch durch Abgrenzung, Abtrennung oder Einschließung hervorgebracht. Zum Denken oder kognitiven Erfassen einer Linie reicht es nicht, einen vorhandenen Raumteil rezeptiv wahrzunehmen. Erforderlich ist der Linienzug als sukzessive und notwendigerweise gerichtete Bewegung: »Der bestimmte Begriff von einer Größe ist der Begriff der Erzeugung der Vorstellung eines Gegenstandes durch die Zusammensetzung des Gleichartigen.«408 Insofern ist auch das Verstehen jeder Linie als Linie, oder auch jeder komplexeren Figur oder Beweises, nie simultan da, sondern stets als ein Nachvollziehen oder Nacherzeugen zu begreifen: Ich verstehe es, wenn ich eine bestimmte Sukzession von Schritten selbst vollziehen kann, wenn ich in der Lage bin, die Konstruktion zu rekonstruieren. hergesehenen. Diagrammatische Konstruktion in Kants Mathematiktheorie und Adornos Ästhetik«, Figurationen 17, 73–92. 406 MAN A 48. 407 Vgl. auch: Das »reine Schema der Größe« nennt Kant etwas kryptisch »die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefasst.« (KrV B 182) 408 MAN A 18. Insofern dabei die Bedingungen von Raum und Zeit berücksichtigt werden (die nicht aus einfachen Teilen bestehen, sondern kontinuierlich sind), hat die entsprechende sukzessive Synthesis auch an deren Kontinuität teil. Für Kant geht es hier auch darum zu zeigen, wie – gegen den Metaphysiker – der Begriff der Zusammensetzung auf kontinuierliche Größen appliziert werden kann.



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Dass hier die räumliche Extension an die zeitliche Sukzession gebunden wird, bedeutet nicht notwendigerweise die Aufhebung des Raumes in der Zeit. Es lassen sich eine ganze Reihe von Argumenten dafür finden, dass Kant  – spätestens in der B-Auflage der KrV  – eine transzendentale Rolle des Raums berücksichtigt.409 Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auch die zeitliche Sukzession des Denkens nur in der räumlichen Extension der Linie vergegenwärtigt werden kann. Zumindest was die figürliche Synthesis betrifft, scheint es geboten, von einer Gleichursprünglichkeit beider Dimensionen in der Bezogenheit auf die Bewegung auszugehen. Dies legt etwa der bereits im vorigen Kapitel diskutierte transzendentale Bewegungsbegriff Kants nahe.410 In diesem Sinne verweist Stekeler-Weithofer auch auf Hegels Auffassung, wonach Raum und Zeit nicht als isolierbare Formen, sondern nur als Momente und Abstraktionen aus der Bewegung zu begreifen seien.411 An einem solchen ausgezeichneten Bewegungsbegriff wird zudem erneut klar, warum es für Kant eine Verbindung zwischen der verkörperten Perspektive auf die Welt und dem Verfahren der euklidischen Geometrie gibt. Sie ist gleichermaßen Grundlage eines Perspektivenwechsels im Anschauungsraum wie der Figuren, die man im diagrammatischen Bildraum zeichnen kann. Die Logik von Grund und Rahmung wird dagegen von drei hierzu kon­trä­ ren Eigenschaften bestimmt: (i) Rezeptivität: Den Bezug der geometrischen Figuren auf einen Bildgrund erörtert Kant am deutlichsten in der sogenannten Kästner-Rezension: »[D]er Raum, in welchem ich die Linie beschreibe, ist größer als eine jede Linie, dich ich in ihm beschreiben mag«.412 Jeder räumlichen Figur geht also ein Grund voraus, in den sie sich einschreibt. Dies fasst Kant durch die Unterscheidung zwischen einem geometrischen und einem metaphysischen Raum413: Demnach lehre die Geometrie, wie man »einen [Raum] beschreiben« kann, in ihr 409 Vgl. die ›Wiederlegung des Idealismus‹ (KrV B 274 f.) sowie exemplarisch dazu Ruck­gaber 2009 sowie Krämer 2016, 259 ff. 410 »Aber Bewegung, als Beschreibung eines Raumes, ist ein reiner Actus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft, und gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie.« KrV B 155 Anm. 411 »Diese Relationen gehören, wie Hegel sieht, schon zur Kategorie der Bewegung. Denn Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind aus der Beweglichkeit abstrahiert. Damit widerspricht Hegel mit vollem Recht Kant, welcher mit der Behauptung, dass Bewegung immer im Raum und in der Zeit stattfinde, so dass Bewegung Raum und Zeit voraussetze, einfach einer Metapher aufsitzt.« Stekeler-Weithofer 2010, 237. Zu fragen wäre, ob dadurch das alogische Moment des Raumes, das die transzendentale Ästhetik entfaltet, schon befriedigend eingeholt ist. 412 Kästner-Rezension 420. 413 Gemeint ist hiermit wohl weniger ein dogmatisch-metaphysisches Raumkonzept,

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werde »einer gemacht« – erinnert sei hier an den Handlungscharakter der figürlichen Synthesis. Demgegenüber lehrt die Metaphysik, »wie man die Vorstellung des Raumes haben« kann, d. h. wie der Raum »vor aller Bestimmung desselben … gegeben ist«.414 Schon oben wurde festgestellt, dass der Raum als solcher für Kant nur eine bestimmungslose Mannigfaltigkeit ist und es erst durch figürliche Synthesis bestimmte Raumquanten im Sinne eines gegenständlichen Etwas gibt (vgl. KrV B 137 f.). Hier wird nun deutlich, wie der unbestimmte Raum zugleich als Voraussetzung bestimmter Räume fungiert, und zwar als gegebener, rezeptiv erfahrener, nicht als gemachter, spontan hergestellter Raum. Die Rolle eines solchen »›horizon‹ of surrounding space«415 wurde hierbei insbesondere von den Vertretern der phänomenologischen Lesart von Kants Geometrietheorie betont. Das Verhältnis dieser Räume ergibt sich aus der Differenz zwischen der faktischen Endlichkeit und der potentiellen Unendlichkeit des menschlichen Erkennens. So sind geometrische Figuren zwar immer endlich, lassen sich aber de jure stetig weiter vergrößern, z. B. eine Linie, die sich in infinitum verlängern lassen soll.416 Dies impliziert eine Bewegung, in der gleichsam konstant unbestimmter Raum in bestimmten Raum verwandelt wird.417 Hierbei gilt, dass der Raum der Figur, nämlich der »geometrisch und objektiv gegebene Raum jederzeit endlich sey; denn er wird gemacht«418. Demgegenüber soll der philosophische Raum unendlich sein, nur subjektiv gegeben,419 sondern eines, wie es die ›metaphysische Exposition des Raums‹ in der transzendentalen Ästhetik enthält. So Friedman 2012, 241 f. 414 Kästner-Rezension 419. »Die Metaphysik muß zeigen, wie man die Vorstellung des Raumes haben, die Geometrie aber lehrt, wie man einen beschreiben, d. i. in der Vorstellung a priori (nicht durch Zeichnung) darstellen könne. In jener wird der Raum, wie er, vor aller Bestimmung desselben, einem gewissen Begriffe vom Objecte gemäß, gegeben ist, betrachtet; in dieser wird einer gemacht.« Ebd. 415 Parsons, Charles (1992): »Kant’s Philosophy of Arithmetic«, in: Carl J. Posy (Hg.): Kant’s Philosophy of Mathematics. Modern Essays, Dordrecht, Boston: Kluwer Academic Publishers, 43–79, 70. 416 Friedman beschreibt, dass es die iterative Natur geometrischer Funktionen erlaubt, ausgehend von einem beliebigen Punktepaar, eine Figur prinzipiell unendlich weit auszudehnen. Friedman 2012, 241 f. 417 »[D]er Raum, in welchem ich die Linie beschreibe, ist größer als eine jede Linie, dich ich in ihm beschreiben mag; und so gründet der Geometer die Möglichkeit seiner Aufgabe, einen Raum (deren es viel gibt) ins Unendliche zu vergrößern, auf der ursprünglichen Vorstellung eines einigen unendlichen, subjectiv gegebenen Raumes.« KästnerRezension 420. 418 Ebd. 419 Die zunächst paradox anmutende Rede davon, dass der vom Subjekt konstruierte Raum ›objektiv‹, der gegebene Raum aber ›subjektiv‹ sein soll, kann mit der bereits in Kap. II.3 diskutierten Problematik des Urteils erklärt werden. Objektiv ist das, was durch



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nicht unter einen Begriff gebracht werden können, aber »doch den Grund der Construction aller möglichen geometrischen Begriffe ent[halten]«.420 Das menschliche Machen setzt – gerade aufgrund seiner Kombination aus faktischer Endlichkeit und potentieller Unendlichkeit – ein diesem Machen vorausliegendes Medium voraus. Oder anders gesagt: Das relationale Netz unendlich erweiterbarer Konstruktionen bedarf eines Grunds, worin sie sich einschreiben und entfalten kann.421 (ii) Unbegrifflichkeit: Der Raum als »bloße Form der äußeren sinnlichen Anschauung«, sofern er eben »noch gar keine Erkenntnis« (KrV B 137) ist, ist das Thema der transzendentalen Ästhetik. Beruhte die figürliche Synthesis als Akt der Raumbestimmung auf der Anwendung von begrifflichen Regeln oder Funktionen, so geht es hier um eine nichtbegriffliche Logik der Ais­ thesis. Dies macht Kant im dritten und vierten Raumargument der KrV sowie den entsprechenden Passagen der Dissertation deutlich. Diese besagen, dass der Raum kein Begriff, sondern ursprünglich eine Anschauung ist, weil sich seine Gesetzmäßigkeiten nicht durch begriffslogische Modelle erklären lassen.422 Für diesen nichtbegrifflichen Charakter argumentiert Kant in zwei Schritten: Zunächst weist Kant das logische Modell der Quantität zurück: »Der Begriff des Raumes ist eine einzelne Vorstellung, die alles in sich begreift, kein abgesonderter und gemeinsamer Begriff, der alles unter sich enthält.«423 Gemeint ist damit die Eigenschaft der »Allgemeinheit oder Allgemeingültigkeit« von Begriffen, die darin besteht, dass sie andere Vorstellungen ›unter sich‹ enthalten, die sie durch gemeinsame Merkmale denotieren.424 Im Sinne solcher Subsumierbarkeit enthält etwa der allgemeinere Begriff ›Metall‹ die Begriffe bestimmt ist; subjektiv ist dasjenige, was nicht auf objektive Begriffe gebracht werden kann, wie etwa das Körperschema, aus dem das Gefühl der Gegenden hervorgeht. 420 Kästner-Rezension 420. 421 Insofern ist auch die Auffassung Günzels zu relativieren, derzufolge »[w]ie kein Anderer … Immanuel Kant die Auffassung vertreten« hat, dass der Raum »mit der Geometrie entsteht« bzw. »aus der Konstruktion hervorgeht oder vielmehr deren notwendige Begleiterscheinung ist.« Günzel, Stephan (2012): Raum | Bild. Zur Logik des Medialen, Berlin: Kadmos, 9. 422 Unbegrifflichkeit bedeutet nicht Unbegreiflichkeit. Kant argumentiert dafür, dass der Raum als solcher keine Kategorie, d. h. intellektuellen Ursprungs ist. Diese kann aber nachträglich begrifflich analysiert werden. Jeder Begriff vom Raum bzw. »der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt« (KrV B 39) bezieht sich auf die reine Anschauung Raum: »Hieraus folgt, daß in Ansehung seiner eine Anschauung a priori (die nicht empirisch ist) allen Begriffen von demselben zu Grunde liegt.« Und: »Also ist die ursprüngliche Vorstellung vom Raume Anschauung a priori, und nicht Begriff.« KrV B 40. 423 De mundi A 19. 424 De mundi A 148. Hiermit sind auf begriffslogischer Ebene diejenigen Verhältnisse

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konkreteren Begriffe ›Gold‹, ›Silber‹, ›Kupfer‹ sowie deren empirische Instanzen unter sich. Wäre der Raum ein solcher Begriff im Sinne eines allgemeinen Merkmals ›räumlich‹, dann müssten wir uns darunter eine Eigenschaft vorstellen, die aus der Erfahrung verschiedener einzelner Räume (Wohnraum, Stadtraum, Weltraum) oder auch Raummaße (Meter, Elle, Fuß) gleichermaßen herausabstrahiert ist und sie gemeinsam denotiert. Der Raum ist – so Kant allerdings – keine allgemeine, sondern eine singuläre Vorstellung (d. h. eine Anschauung), denn man könne sich »nur einen einigen Raum vorstellen.« (KrV B 39)425 Zweitens verhalten sich »viele Räume« nicht wie Instanzen zu einem Allgemeinbegriff, sondern man »verstehet … darunter nur Teile eines und desselben alleinigen Raumes.« (KrV B 39)426 An die Stelle der Subsumtion tritt hier also Koordination: ein Verhältnis von Ganzem und Teil.427 In einem zweiten Schritt zeigt Kant, dass die Raumvorstellung auch nicht auf den kategorialen und mathematischen Begriff der Quantität zurückzuführen ist. Dieser besagt, dass »die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht (und also notwendig vor dieser vorhergeht).« (KrV B 203) Für die Raumvorstellung als Thema der transzendentalen Ästhetik gilt aber gerade das Gegenteil. »Diese Teile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen überhaupt, beruht lediglich auf Einschränkungen.« (KrV B 39)

Während jede bestimmte Größe voraussetzt, dass sie sukzessiv als Summe von Teilen erzeugt werden kann, geht in der ästhetischen Raumvorstellung gedacht, die auf urteilslogischer Ebene die ›Quantität‹ heißen, nämlich: Einzelne Urteile (das/ein S ist p); Besondere Urteile (einige S sind p), Allgemeine Urteile (alle S sind p). 425 Zur Singularität von Raum und Zeit als Anschauung vgl. auch KrV B 47. 426 »Denn was man mehrere Räume nennt, sind nur Teile desselben unermeßlichen Raumes, die sich durch eine bestimmte Lage aufeinander beziehen, und einen Kubikfuß kann man sich nur so denken, daß er von dem ihn umgebenden Raum nach allen Seiten hin begrenzt ist.« (De mundi A 19) 427 vgl. hierzu Patt: »Die Beziehung zwischen dem Begriff und diesen Vorstellungen ist eine indirekte, nämlich der Unterordnung. Diese Vorstellungen machen den Begriff nicht aus, sondern gehören zu seinem Umfang (vgl. B 39 f.). Die Beziehung zwischen den Vorstellungen des einen Raumes […] und den Vorstellungen von mannigfachen Räumen […] ist eine unmittelbare, nämlich die des Einschlusses. Raum und Zeit enthalten Räume und Zeiten unmittelbar. Begriffe haben gleichsam Fälle, auf die sie zutreffen; Raum und Zeit haben Teile.« Patt, Walter (1996): »Kants Raum- und Zeitargumente unter besonderer Rücksicht auf den Briefwechsel zwischen Leibniz und Clarke«, in: Hariolf Oberer (Hg.): Kant. Analysen, Probleme, Kritik, Würzburg: Königshausen & Neumann, 27–38, 35 f.



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das Ganze den Teilen voraus, ein Sachverhalt, den Onof und Schulting als »mereologische Inversion« bezeichnen.428 Erneut finden sich die deutlicheren Aussagen in der Inauguraldissertation: Im Raum enthalten »nicht, wie die Gesetze der Vernunft es vorschreiben, die Teile […] den Grund der Möglichkeit des Zusammengesetzen […], sondern, dem Urbild der sinnlichen Anschauung gemäß, das Unendliche den Grund eines jeden denkbaren und schließlich einfachen Teiles, oder vielmehr jeder Grenze, enthält.« Dementsprechend lägen »alle angestammten Eigenschaften dieser Begriffe außerhalb der Grenzlinien der Vernunft und können deshalb auch keine Weise intellektuell entwickelt werden.«429 Der Raum folgt also einer doppelten Logik der Grenze: Er enthält selbst nicht Synthesen, sondern bloß Grenzen, und markiert damit zugleich die Grenzen der Vernunft. (iii) Rahmung und Grenzziehung: Der Raum als Grund ist – wie gesehen – keine Synthesis aus perzipierten Raumabschnitten, sondern ein Kontinuum, in dem das Ganze den Teilen vorausgeht. Während der Raum hierbei die Möglichkeit zur Bewegung der figürlichen Synthesis enthält, so enthält er doch zugleich auch eine andere Logik, die in gewisser Weise eine Alogik ist. Deren Modell ist nicht die Linie (als Produkt einer Synthesis), sondern der Punkt, der nicht als einfacher Raumteil zu denken ist, sondern bloß als »Grenze[]«, die im Raum durch einen Akt der Grenzziehung oder Markierung eingetragen wird.430 Mit Mersch können in diesem Kontext zwei mögliche Perspektiven auf bildliche Medialität unterschieden werden: einer repräsentationalen Perspektive betrachtet die Bestimmung eines ›etwas als etwas‹, die die Schnittstelle zwischen dem Ikonischen und dem Semiotischen bildet. Dieser ist eine asemische oder asemiotische Perspektive gegenüberzustellen, die auf Rahmungen und Differenzbildungen beruht.431 Beide Perspektiven kommen hier in der Gegenüberstellung einer figuralen und einer rahmenden Logik zusammen. Gegenüber der figürlichen Synthesis, die im kontinuierlichen Durchlaufen des Mannigfaltigen ein bestimmtes Ganzes erzeugt, ist die Logik der Raumvorstellung eine Logik der Einschränkung oder Rahmung: Der Raum wird nicht als vollendete Synthesis von Teilen gedacht, sondern wird als Konti428

Onof/Schulting 2015, 14 f. De mundi A 22. 430 Ebd. Wie Kant es in der Dissertation ausdrückt: »einen Kubikfuß kann man sich nur so denken, daß er von dem ihn umgebenden Raum nach allen Seiten hin begrenzt ist.« De mundi A 19. 431 Mersch, Dieter (2014b): »Sichtbarkeit/Sichtbarmachung. Was heißt ›Denken im Visuellen‹ ?«, in: Martin Beck; Fabian Goppelsröder (Hg.): Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache, Zürich, Berlin: Diaphanes, 17–69. 429

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nuum angeschaut. Hier geht das Ganze den Teilen voraus und diese Teile beruhen auf Grenzziehung und Einschränkung. Insofern sind dann zum einen Raum und Zeit selbst Größen, und zwar die »einzigen ursprünglichen Quantis« (KrV B 753), die gegeben und unendlich sind. Alle anderen Größen müssen dann entweder durch Rahmung aus diesen herausgeschält oder durch Synthesis in sie eingetragen werden.432 Man kann sich hierbei vorstellen, dass die bestimmten Größen, also die Figuren oder Linien, durch einen Aspektwechsel im Sinne einer Kippfigur wiederum als Einschränkungen begriffen werden können. Die eigentliche Rahmung beschreibt Kant allerdings als Erzeugung einer einzelnen, unbestimmten Vorstellung eines Quantums durch Grenzsetzung: »Wir können ein unbestimmtes Quantum als ein Ganzes anschauen, wenn es in Grenzen eingeschlossen ist, ohne die Totalität desselben durch Messung, d. i. die sukzessive [/] Synthesis seiner Teile, konstruieren zu dürfen. Denn die Grenzen bestimmen schon die Vollständigkeit, indem sie alles Mehreres abschneiden.« (KrV B 455 f. Fußnote)

In Anbetracht dessen, was Kant über die figürliche Synthesis gesagt hat, wäre eine solche Grenzsetzung, die ohne Bestimmung auskommt, der Semiose und dem bestimmenden Denken vorgängig: eine rein aisthetische, alogische und asemiotische Differenzierung. Damit markiert sie – in verschiedenen Bedeutungen  – den absoluten Grenzfall einer kantischen Logik von Raum und Konstruktion.

432 Dieser Möglichkeit der Grenzziehung entspricht nun zugleich die Idee einer »Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung«. De mundi A 25, vgl. dazu auch MAN A 49 f. D. h., indem es uns dieses Kontinuum erlaubt, Grenzen zu ziehen, ist es aber selbst grenzenlos: »Räumliche und zeitliche Grenzen sind niemals Grenzen des Raumes oder der Zeit selbst.« Patt 1996, 35. Von den Vertretern der logischen Lesart bzw. der sogenannten Kompensationsthese wurde die Idee eines irreduzibel anschaulichen Charakters der Grenzenlosigkeit des Raums zurückgewiesen. So verweist Friedman darauf, dass die in den Raumargumenten angesprochenen Eigenschaften des Raumes wie Dichte und Kontinuität zwar nicht mit der aristotelischen Logik (und ihrer Begrenzung auf monadische Prädikate) beschrieben und erfasst werden können, aber wohl mit moderner Logik, nämlich »by the use of nested sequences of universal and existential quantifiers using poly­ adic logic«. Friedman 1992, 7. vgl. auch Posy, Carl J. (1992): »Introduction: Mathematics in Kant’s Critique of Pure Reason«, in: Carl J. Posy (Hg.): Kant’s Philosophy of Mathematics. Modern Essays, Dordrecht, Boston: Kluwer Academic Publishers, 1–17, 7.



Bildlogik und Medialität

5.2  D  ie Differenz von Schema und Bild: das Generalitätsproblem der ­Diagramme

Als zweite Dimension ikonischer Differenz soll die Differenz von Allgemeinem und Besonderem, allgemeinem Inhalt und partikulärer Form oder Schema und Bild betrachtet werden. Diese Begriffe sind vor allem durch das Schematismuskapitel aus der transzendentalen Logik bekannt, wo Kant allerdings einen relativ unbestimmten, repräsentations- und bewusstseinstheoretischen Bildbegriff verwendet. Als eigentümliches Problem des Ikonischen zeigt sich die Differenz von Schema und Bild erst im Rahmen der Theorie der Konstruktion. In der diagrammatischen Praxis erscheint sie als Generalitätsproblem, als ein Problem, das die stets unperfekten, kontingenten und partikulären Diagramme an die epistemische Praxis stellen (II.5.2.1). Wie in der jüngeren Forschung schon häufiger betont wurde, dient das Schema hierbei gleichermaßen als Konstruktionsanweisung wie als Kompensation metrischer Imperfektion und der Überspezifität individueller Figuren im Denkprozess. Dies leistet die Unterscheidung von exakten und ko-exakten Eigenschaften und die Fokusverschiebung von partikulären Eigenschaften zu wiederholbaren Operationen (II.5.2.2). In Überleitung zum nächsten Kapitel wird mit Blick auf aktuelle Forschungsdebatten gefragt, ob mit dem Schematismus die Medialität diagrammatischen Operierens bereits vollständig erfasst und wie mit Kants sperriger Rede von einer ›reinen Anschauung‹ umzugehen ist. Wie gezeigt werden soll, macht für Koriako das Theorem des Schematismus das vermeintliche Alternativtheorem einer ›reinen Anschauung‹ überflüssig, während für Shabel beide Theoreme letztlich dasselbe bedeuten. Allerdings hat Kant selbst im Kontext eines Plagiatsvorwurfs nicht den Schematismus, sondern die reine Anschauung als sein genuines Verdienst reklamiert. Friedman kritisiert zwar wiederum die Reduktion einer Kant-Lektüre auf die Frage des Schematismus, aber auch seine metaphysische Lesart der reinen Anschauung bleibt unbefriedigend. Demgegenüber wird eine medientheoretische bzw. diagrammatische Lesart der reinen Anschauung vorgeschlagen (II.5.2.3).

5.2.1 Der Bildbegriff zwischen transzendentaler Logik und Methodenlehre

Die explizite Verwendung des Begriffs ›Bild‹ findet sich bei Kant im sogenannten Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft. Die entsprechende Verknüpfung der Begriffe ›Bild‹ und ›Einbildungskraft‹ hat daher von Seiten der Bildphilosophie große Aufmerksamkeit erhalten. Thema ist hier, wie das Konkrete und das Allgemeine der zwei Erkenntnisquellen Anschau-

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ung und Begriff aufeinander bezogen sein muss, damit Erkenntnis möglich ist. Zentral ist hierbei das Schema, das als vermittelndes Drittes zwischen allgemeinem Begriff und konkretem Bild fungieren soll: Ein Bild ist das Resultat der Anwendung eines Schemas und kann deshalb zugleich die Darstellung eines Begriffs sein: »[D]as Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren.« (KrV B 181)

Obgleich hier Entscheidendes formuliert wird, eignet sich – so die These – das Schematismuskapitel als solches nicht als Ausgangspunkt einer kantischen Bildepistemologie. Dies hat zum einen mit der systematischen Stellung dieses Kapitels in einer Theorie des diskursiven Denkens mittels reiner Verstandesbegriffe zu tun. Zum anderen entwirft Kant an dieser Stelle vor allem eine Art Wahrnehmungs- und Bedeutungstheorie, keine Theorie des Umgangs mit realen Bildartefakten wie etwa Zeichnungen. Damit entstehen beim Leser eine Reihe von Fragen wie: Steht der Begriff ›Bild‹ hier nicht bloß für mentale oder innere Bilder ? Sind reale Hunde für Kant ›Bilder‹ des Begriffs Hund ? Wird die kantische Bildtheorie an diesem, wie man ihn nennen könnte, bewusstseinstheoretischen Bildbegriff festgemacht, bleibt sie aus medientheoretischer Sicht enttäuschend.433 Sicherer scheint es, sich einer kantischen Bildtheorie – wie bisher geschehen – zunächst über den Begriff der ›Konstruktion‹ aus der Methodenlehre zu nähern, der eine greifbare Bildpraxis bezeichnet. Zentral ist hierfür Kants Unterscheidung zwischen dem diskursiven Vernunftgebrauch der Philosophie in abstracto und dem intuitiven Vernunftgebrauch der Mathematik in concreto. Betrachtet »[d]ie philosophische Erkenntnis […] das Besondere nur im Allgemeinen«434, so betrachtet »die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen« (KrV B 742). Für Kant hat nun zwar jedes Allgemeine nur dann Bedeutung, wenn ihm etwas Besonderes entspricht 433 Zu einer solchen Schlussfolgerung gelangt Schubbach 2010, 103: »Unter den trans­ zendentalen Vorzeichen von Kants Argumentation wird das Bild daher allein auf das Bewusstsein bezogen und auf dessen Vorstellung reduziert.« 434 Z. B. im Rahmen von Sätzen wie »Sokrates ist ein Mensch«, »Sokrates ist sterblich« etc. geht es um die Beziehung des analytischen Enthaltenseins des Begriffs ›sterblich‹ im Begriff ›Mensch‹. Das Besondere wird hier mit Blick auf allgemeine Merkmale betrachtet und unter Begriffe subsumiert.



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(›Begriffe ohne Anschauungen sind leer‹). Der Anschauungsbezug des intuitiven Vernunftgebrauchs geht allerdings darüber hinaus. Anschauungen werden in der Mathematik nicht bloß unter Begriffe subsumiert und durch Merkmale klassifiziert, sondern dienen in Gestalt räumlicher Diagramme als Medium eines Denkprozesses. Damit konkretisiert sich die Differenz von Schema und Bild dann auch zu einer Frage, die sich als Problem ikonischer Differenz auffassen lässt: Wie sind auf der Basis von unperfekten, kontingenten und partikulären Bildern dennoch allgemeine und notwendige Schlussfolgerungen möglich ? Dies wurde oft als die zentrale Frage von Theorien diagrammatischen Denkens wie auch spezifisch der kantischen Mathematiktheorie identifiziert. So nennt der Eintrag ›diagrams‹ der Standford Encyclopedia of Philosophy eben dieses »generality problem« »[a] central issue, if not the central issue« bezüglich der Funktionsweise der Diagramme in Euklids Geometrie.435 Friedman nennt die Frage, wie Sinnliches und Einzelnes allgemeine Schlussfolgerungen zulassen kann, »[p]erhaps the most important problem facing interpretations of Kant’s philosophy of geometry«.436 Ursache dieses Problems ist, dass sich die Anschauung keineswegs unmittelbar als gefügiges Medium des Denkens anbietet. Es existiert eine doppelte Kluft zwischen den gezeichneten (oder in den Sand geritzten etc.), sichtbaren Gestalten und den idealen Formen, wie sie die geometrischen Definitionen beschreiben: Jedes Diagramm ist stets unperfekt und partikulär. Hiermit wird das Bild zum epistemischen Skandalon. Wie Mersch betont, ist es eben diese »Singularität« und »Irreduziblität des Erscheinens«, mit der sich die Diagramme »der logischen Konstruktion widersetz[en]« und Fehlschlüsse hervorbringen können.437 Zugleich stützt sich auf diese Problema435 Shin, Sun-Joo; Lemon, Oliver; Mumma, John (2001/2013): »Diagrams«, in: Zalta, Edward (Hg.): Stanford Encyclopaedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/diagrams (letzter Zugriff 11/2017). Das vollständige Zitat lautet: »A central issue, if not the central issue, was the  generality problem. The diagram that appears with a Euclidean proof provides a single instantiation of the type of geometric configurations the proof is about. Yet properties seen to hold in the diagram are taken to hold of all the configurations of the given type. What justifies this jump from the particular to the general ?« Eine andere Fassung dieser Frage, die Stekeler-Weithofer schon bei Leibniz am Werk sieht: »Wie können wir beurteilen, ob ein Diagramm hinreichend gut ist, so dass sich an ihm eine geometrische Aussage allgemein oder ›generisch‹ als wahr demonstrieren lässt, so also, dass uns die Anschauung des Bildes nicht etwa irreführt ?« Stekeler-Weithofer 2008, 3. 436 Nämlich »to explain, how, for Kant, sensibility and the imagination-faculties traditionally associated with the immediate apprehension of sensible particulars can possibly yield truly universal and necessary knowledge.« Friedman 2012, 232. 437 Mersch 2014b, 44.

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tik typischerweise die Kritik der Rationalisten und Logizisten: Die Diagnose einer Unverlässlichkeit der Anschauung bildet den Ausgangspunkt dazu, das mathematische Denken lieber allein auf der Seite von Begriff und Intellekt zu verorten.438 Kant und seine Verteidiger müssen also erklären, wie sich diese Widerständigkeit und Irrationalität der Anschauung kontrollieren und einhegen lässt. Eine Lösung hierzu bietet nun tatsächlich die Theorie des Schemas, das einen gleichsam virtuellen Modus von Bildlichkeit verkörpert. Es ist selbst nichts Sichtbares, sondern »kann niemals anderswo als in Gedanken existieren« und ist »eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raume« (KrV B 180).439 Bilder und Figuren werden »mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema[s], welches sie bezeichnen, verknüpft«, wobei sie »an sich demselben nicht völlig kongruieren« (KrV B 181). Das Schema überbrückt derartig die Kluft zwischen allgemeinen Begriffen und singulären Anschauungen, die hier spezifisch als Kluft zwischen den geometrischen Definitionen und den konkreten Zeichnungen erscheint.

5.2.2 Das Schema: Konstruktionsanweisung und Relevanzfilter

Die Funktion des Schematismus ist also die, zwischen einem allgemeinen Begriff (einem ›reinen sinnlichen Begriff‹) wie ›Dreieck‹ und seiner singulären Repräsentation (einer Anschauung) so zu vermitteln, dass trotzdem eine allgemeine und notwendige Erkenntnis möglich ist. Diese Vermittlungsleistung lässt sich in zwei Funktionen differenzieren: In Richtung vom Allgemeinen zum Besonderen fungiert das Schema als Konstruktionsanwei438 »Problems of precisely this kind underlie the contrary conviction, common to all traditional forms of rationalism, that mathematical knowledge must be conceptual or intellectual as opposed to sensible.« Friedman 2012, 233. 439 Die Theorie des Schemas dient dabei auch spezifisch der Verteidigung gegen den zeitgenössischen Einwand Eberhards, die Idee eines anschaulichen Denkens der Geometrie scheitere an der Nichtvorstellbarkeit eines Tausendecks: »Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. So, wenn ich fünf Punkte hinter einander setze . . . . . , ist dies ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z. E. Tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letztern Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können.« KrV B 179 f.; vgl. zu dieser Debatte Allison 1973, 126 sowie Shabel 2003, 203.



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sung.440 Das Verfahren, singuläre Instanzen für geometrische Begriffe zu schaffen, wurde oben bereits als Ekthesis angesprochen (Kapitel III.4.2.1), und anhand von Kants Definitionstheorie wurde betrachtet, wie diese als willkürliche Definitionen zwar ohne empirisches Vorbild entstehen, aber als genetische Definitionen zugleich Programme enthalten, wie bestimmte Gestalten in der Anschauung hervorgebracht werden können.441 Dies beschreibt Kant nun als Aufgabe des Schemas: Das Schema ist die »Vorstellung von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem [/] Begriff sein Bild zu verschaffen« (KrV B 179 f.). Als eine andere Bezeichnung für diese Leistung lässt sich auch Kants Rede vom Linienzug als einer »figürliche[n] Synthesis« (KrV B 154) identifizieren. Auch wenn Kant dieses Theorem im transzendentalphilosophischen Kontext diskutiert – übertragen auf den geometrietheoretischen Kontext kann das Schema wörtlich als Regel oder Anweisung zur synthetischen Herstellung von Figuren begriffen werden.442 Im Folgenden soll der Fokus auf der zweiten Rolle des Schemas als Rele­ vanzfilter liegen. Hierbei muss beachtet werden, dass dieser Begriff nicht im Sinne eines abstrahierenden ›Heraussehens‹ zu verstehen ist, sondern im Sinne von Restriktionen, die es möglich machen, in einem partikulären Fall zugleich alle anderen partikulären Fälle mitzubetrachten. Anders gesagt, der Darstellungsprozess, der von der allgemeinen Definition (z. B. des Dreiecks) in die Konkretion einer singulären Gestalt führt, soll reversibel sein: Die gezeichnete Figur ist »als Anschauung, ein einzelnes Objekt«, soll aber »nichts destoweniger, als die Konstruktion eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung), Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken« (KrV B 741). Der Geometer soll sich nicht in der ästhetischen Betrachtung einer einzelnen Anschauung verlieren, sondern eine Schlussfolgerung hervorbringen, die nicht nur für dieses singuläre, sondern für alle Dreiecke gilt.443 Daraus ergibt sich nun ein entscheidendes Problem. Der Rekurs auf die Anschauung hat zum Zweck, etwas »Neues heraus[zu]bringen«, d. h. »andere[] Eigenschaften«, die in den entsprechenden »Begriffen gar nicht liegen« (KrV B 744). Aber die Anschauung enthält verschiedene Arten von Überschüssen, zwischen denen sauber getrennt werden muss. Erwünscht sind Überschüsse im Sinne der synthetischen Erkenntnis, z. B. jene Zusammenhänge, die den Win440

Zum Schema als Konstruktionsvorschrift vgl. Krämer 2016, 217. Es wird insofern häufiger nahegelegt, dass es in Kants Geometrietheorie zwischen Schema und Begriff gar keinen Unterschied gibt: Die Begriffe sind die Schemata, insofern sie nichts anders als eine ›Regel der Synthesis‹ enthalten. 442 Vgl. hierzu Krämer 2016, 215. 443 Vgl. die oben zitierte Stelle aus KrV B 741. 441

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kelsummensatz einsichtig machen. Problematisch sind solche Eigenschaften, die nur kontingenterweise zur Singularität der gezeichneten Figur gehören, wie Farbe, exaktes Winkelmaß etc. Es bedarf also eines Verfahrens bzw. einer Erklärung dafür, wie die relevanten Überschüsse von den irrelevanten Überschüssen zu trennen sind. Zentral ist hier Kants Unterscheidung zwischen einem rezeptiven Sehen und einem konstruktiven Hineindenken. Die (griechische) Ur-Einsicht der konstruktiven Methode besteht darin, dass der Geometer »nicht dem, was er in der Figur sahe […,] nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hineindachte und darstellete (durch Konstruktion), hervorbringen müsse, und daß er [sic !], um sicher etwas a priori zu wissen, er [sic !] der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendige folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.« (KrV B XI)444 Eine geometrische Figur wird nicht in ihrer sinnlichen Fülle oder Irreduzibilität rezipiert, sondern als Darstellung, die einer bestimmten begrifflich-intentionalen Restriktion unterliegt. Diese restringierende Bestimmung von etwas als etwas, d. h. einer Figur als Dreieck, ist erneut die Leistung des Schemas. Die Tatsache, dass die Bilder dem allgemeinen Begriff und Schema »an sich … nicht völlig kongruieren« (KrV B 181), hat zwei Seiten: Gilt zum einen, dass die Bilder dem Schema bzw. Begriff als einer allgemeinen Regel nicht kongruieren können (weil sie unexakt und partikulär sind), so gilt zugleich, dass die dies auch nicht müssen. Diese zwei Dimensionen sollen nun genauer betrachtet werden. (i) Metrische Imperfektion: Die erste Dimension dieser Kluft oder Divergenz besteht darin, dass keine Zeichnung (oder andere Visualisierung) eine geometrische Form perfekt oder adäquat darstellen kann. Kant kann sich hier etwa auf den Mathematiker Hausen beziehen, der feststellt, dass »die sinnlich wahrnehmbaren Figuren ja nicht nach der Strenge der Definitionen gebildet werden können«.445 Euklid schreibt zwar von ›geradlinigen Stre444 Vgl. ebenfalls die Kästner-Rezension: Anschauung, die einem Begriff objektive Realität verschafft, ist »freylich kein Sehen, sondern Vorstellung des Einzelnen […], so fern es nicht bloß gedacht, sondern für das Denken gegeben ist«. Kästner-Rezension 413. Ebenso sieht er Kästner »mit der Critik d. r. V. vollkommen einstimmig«, wenn dieser schreibt: »Nie schließt man da aus dem Bilde, sondern aus dem, was der Verstand beym Bilde denkt.« Kästner-Rezension 422. 445 Hausen zitiert aus MSR AB VIII Fußnote. Genaueres zu Kant und Hausen vgl. unten, Kapitel II.5.2.3. Ebenso findet sich diese Einsicht schon bei Leibniz: »Ein vollkommen kugelförmiger Körper ist in der Natur nirgends vorhanden. Er wird vom Geiste gebildet, indem dieser auf die Abweichungen keine Rücksicht nimmt. Ebenso steht es mit jeder anderen Figur, die der endliche Geist begreifen kann: daß sich nämlich diese Figur nirgendwo genau vorfinden kann.« Leibniz an de Volder, zitiert aus Kaulbach 1960, 34.



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cken‹446, es ist aber unmöglich, in der Anschauung eben solche absolut geraden Liniensegmente zu zeichnen. Noch deutlicher wird das Problem im Falle der Linie, die nach Euklid eine »breitenlose Länge«447 ist. Bereits um sichtbar zu sein, muss jede gezeichnete Linie eine Breite haben.448 Die Tatsache, dass sich die in den Definitionen genannten Gegenstände weder in der Natur beobachten noch adäquat zeichnen lassen, bestätigt deren intellektuellen definitorischen Ursprung.449 Wie kann es nun sein, dass wir mit den imperfekten gezeichneten Figuren dennoch so operieren können, als ob sie diese Eigenschaften hätten ? Die Antwort, die die Forschung hierauf gibt, besteht in der Differenzierung verschiedener Arten von Eigenschaften, die das gezeichnete Dreieck hat. So unterscheidet etwa Schirn A-, B- und C-Eigenschaften.450 Manders entwickelt spezifisch mit Blick auf die euklidische Beweispraxis eine Unterscheidung von ›exakten‹ und ›ko-exakten‹ Eigenschaften.451 Grundsätzlich geht es in all diesen Fällen um dieselbe Unterscheidung zwischen den metrischen und topologischen Eigenschaften einer Figur.452 Dies kann noch einmal mit Shabel an der Unterscheidung von mechanischem und mathematischem Beweis deutlich gemacht werden, wie sie für 446 19. Definition: »Die Seiten gradliniger Figuren sind gerade Strecken«, bzw. »Geradlinige Figuren sind solche, die von Strecken umfaßt werden«. Euklid 1962, 2. 447 2. Definition: »Eine Linie [ist] breitenlose Länge«. Ebd. 1. 448 Vgl. zu dieser Paradoxie etwa Stetter, Christian (2005): »Bild, Diagramm, Schrift«, in: Gernot Grube; Werner Kogge; Sybille Krämer (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München: Fink, 115–135. 449 Vgl. Koriako: »Wenn die Erkenntnis idealer geometrischer Gegenstände so und nicht anders beschaffen sind, dann bleibt nur noch ein Weg gangbar: die Tatsache, daß die Tangente den Kreis nur in einem Punkt berührt, ist eine Folge unserer begrifflichen Festsetzung, wonach die Kreislinie in jedem ihrer Punkte ihrer Richtung ändert. Und daß wir in der Lage sind, empirische Zeichnungen als Projektionen solcher idealer Sachverhalte lesen zu können, würde dann daraus folgen, daß wir diese Zeichnungen im Lichte dieser begrifflichen Festsetzungen lesen.« Koriako 1999, 68. 450 A-Eigenschaften sind solche, die einem singulären Dreieck nur akzidentell zukommen; B-Eigenschaften solche, die im Begriff des Dreiecks bereits analytisch enthalten sind, also zu dessen Schema gehören; C-Eigenschaften solche, die mittels der Anschauung aus letzteren gefolgert werden können (Schirn 1991, 11 f.). »Die Möglichkeit, den Begriff des Dreiecks durch ein einzelnes gezeichnetes Dreieck in seiner Allgemeinheit angemessen darzustellen, kann nun im Sinne Kants wie folgt beschrieben werden. Der Geometer abstrahiert von den Eigenschaften dieser empirischen Figur, die den Begriff des Dreiecks unberührt lassen, und achtet nur auf seine durch allgemeine Regeln bestimmte Konstruktionshandlung.« Ebd. 12. Vgl. hier auch Friedmans Unterscheidung von R-, S- und A-Eigenschaften in Friedman, Michael (1985): »Kant’s Theory of Geometry«, Philosophical Review 94, 455–506. 451 Manders 2008b. 452 Vgl. Friedman 2012, 254.

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Wolff und Kant geläufig war. In beiden Fällen liegt eine mit Zirkel und Lineal konstruierte Figur vor. Der entscheidende Unterschied besteht aber in dem »type of observation«, d. h. der Art und Weise, wie diese Figur epistemisch ausgewertet wird.453 Im Falle des mechanischen Beweises von Euklid 1.32 (Winkelsummensatz) basiert das Urteil über die Gleichheit zweier Winkel auf einem Akt der Messung, spezifisch darauf, dass der Konstrukteur einen geöffneten Zirkel bewegt. Hier – wie auch bei anderen mechanischen Beweisen – kommt es tatsächlich darauf an, was ich in der Figur ›sehe‹, wenn die Übereinstimmung des Zirkels mit den jeweiligen Winkeln per ›Augenmaß‹ beurteilt wird. Die exakten metrischen Eigenschaften (in denen eine Figur aber stets die Definition verfehlen muss) spielen bei diesem Verfahren also durchaus eine zentrale Rolle. Im Falle des mathematischen Beweises wird die Gleichheit der Winkel nicht durch Messung, sondern auf der Basis bereits zuvor bewiesener bzw. festgelegter Operationen (Verlängern, Einzeichnen der Parallele) bestimmt.454 Es kommt nur darauf an, was der Konstrukteur »seinem Begriffe gemäß selbst in« die Figur »gelegt hat« (KrV B XI). Hierbei sind andere Formen von Information relevant: »We might say that the diagram, when considered mechanically, provides exact (though possible imprecise) information regarding the measures of magnitudes; when considered mathematically, the diagram provides inexact information regarding spatial containment of magnitudes.«455 Im ersten Fall kommt es auf die exakte metrische Übereinstimmung der Winkel an, im zweiten Fall lediglich auf die topologischen und mereologischen Verhältnisse: Teil-Ganzes, größer-kleiner, etc. Die ikonische Differenz zwischen den gezeichneten Gestalten und den allgemeinen Bedeutungen wird also dadurch überwunden, dass nicht auf die exakten metrischen Eigenschaften geachtet wird, die von den Definitionen abweichen können, sondern nur auf topologische Eigenschaften wie Parallelen, Schnittpunkte, Inklusionsverhältnisse, die gegenüber solchen exakten Verhältnissen indifferent sind. Das Fehlerpotential exakter metrischer Eigenschaften wird so ausgeschlossen. Wie Stekeler-Weithofer bemerkt, sind einem solchen Operieren mit unperfekten Figuren allerdings auch Grenzen gesetzt: »Über eine quadratische Figur lässt sich offenbar nicht so reden, als ob sie ein Kreis sei.« Erforderlich sei daher eine »gute Herstellungspraxis«.456 (ii) Überspezifizität: In den Anschauungen findet sich aber noch eine zweite Inkongruenz zu den Begriffen, die auch dann auftritt, wenn wir nur auf ko-exakte Eigenschaften achten. Die »Allgemeinheit des Begriffs« Dreieck 453

Shabel 2003, 189. Vgl. oben Kapitel II.4.2. 455 Shabel 2003, 190. 456 Stekeler-Weithofer 2008, 26. 454



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»macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklichte etc. gilt«, die singu­ läre Anschauung ist hingegen »immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt« (KrV B 180). Diese Eigenschaft, die nun im eigentlichen Sinne das sogenannte Generalitätsproblem betrifft, hat Shimojima als die Eigenschaft der Überspezifizität (over-specificity) von Diagrammen bezeichnet: »A situation cannot be represented as fulfilling a certain general condition by a diagram without also representing a specific way in which it is fulfilled.«457 Im Gegensatz zu dem Begriff ›Dreieck‹ ist jedes gezeichnete Dreieck eine Anschauung und als solche partikulär und vollständig spezifiziert. Weil sich der Begriff Dreieck in gleichseitige, gleichschenklige, rechtwinklige etc. einteilen lässt, muss für jede Anschauung eines Dreiecks festgelegt sein, dass sie entweder gleichseitig oder nicht, entweder rechtwinklig oder nicht etc. ist. Es gibt keine generische Anschauung eines ›allgemeinen Dreiecks‹. Wie aber sollen daran dennoch Schlussfolgerungen möglich sein, die für alle Figuren gelten, die unter dem Begriff ›Dreieck‹ gefasst werden können ? Auch hier kommt dem Schematismus die Vermittlungsrolle zu: Für die Konstruktion soll gelten, dass in derjenigen »Anschauung, in welcher sie [die Mathematik] den Begriff in concreto betrachtet […,] dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten muss.« (KrV B 743 f.) Solche ›allgemeinen Bedingungen der Konstruktion‹ lassen sich darin lokalisieren, dass zwar jedes Dreieck individuelle Eigenschaften hat, aber nach denselben Regeln gebildet wurde. Mit Friedman und Shabel lässt sich das Schema des Dreiecks als bloße Funktion oder Operation verstehen, die aus einem Input (drei beliebige Strecken, von denen zwei zusammen größer sind als die dritte) ein Output (Dreieck) generiert. Eine solche Funktion teilt – trotz der Anwendung auf Singuläres – die Universalität des Begriffs.458 Auch die Operationen des Verlängerns der Linie und des Einzeichnens der Parallele (im Beweis des Winkelsummensatzes) sind derartige allgemeine Funktionen, 457

Shimojima, zitiert aus Giaquinto 2007, 250. »We can understand the schema of the concept of triangle as a function or constructive operation which takes three arbitrary lines (such that two together are greater than the third) as input and yields the triangle constructed out of these three lines as output (in accordance with Proposition I.22) […] Such constructive operations have all the generality or universality of the corresponding concepts.« Friedman 2012, 237. »But since this individual triangle is the outcome of following a repeatable, rule-governed act (specified by the schema for ›triangle‹ rather than for, say, ›acute triangle‹ or ›right triangle‹), it has the capacity to represent ›triangle‹ universally: any individual triangle so constructed has the capacity to represent ›triangle‹ universally insofar as its central feature is its accord to the rule of construction specified by the schema for the concept of triangle.« Shabel 2003, 217. 458

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die für jede Linie bzw. jedes so konstruierte Dreieck möglich sein müssen.459 Indem die Konstrukteurin also nur auf diese Operationen, nicht aber auf individuelle Spezifikationen der Figur achtet, können die Ergebnisse wiederum allgemein für alle Dreiecke gelten. Es kommt hier lediglich auf einen wiederholbaren, regelgeleiteten Prozess an, dessen Allgemeingültigkeit aus der Wiederholbarkeit der verwendeten schematischen Funktionen resultiert. Eben in dieser Idee, das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem nicht mehr an klassifikatorischen Merkmalen (bzw. Gattung und Art), sondern an operativen Funktionen festzumachen, sieht Cassirer eine entscheidende Leistung Kants (wie auch von Vorgängern wie Lambert) in der Wende von Substanzbegriff zum Funktionsbegriff. In der partikularen Ausführung solcher Funktionen sind stets alle anderen partikulären Fälle mit enthalten.460 Dennoch bleibt die Überspezifizität gezeichneter Figuren eine potentielle Quelle für Fehler und Trugschlüsse. Ein Fehler, den Giaquinto als »perhaps one of the commonest types of error in visual thinking« bezeichnet,461 besteht darin, dass die Repräsentation eines Begriffs eine Schlussfolgerung nur durch eine spezifische Eigenschaft stützt, die allerdings von anderen Repräsentationen dieses Begriffs nicht geteilt wird.462 Ein Beispiel ist die Eigenschaft, dass sich jedes Dreieck durch Klappen zu einem Viereck verdoppeln lässt. Wird dies an einem rechtwinkligen Dreieck betrachtet, kann der Fehlschluss entstehen, dass sich jedes Dreieck durch Klappen zu einem Rechteck verdoppeln lässt. Grundlage dieser falschen Verallgemeinerung wäre die kontingente Tatsache, dass das als Beispiel verwendete Dreieck rechtwinklig ist. Die Spezifizität bzw. Überspezifizität des beispielhaft gewählten Dreiecks führt 459 Shabel nennt als solche Bedingungen: »the spatiality that dictates that two sides must together be longer than the third; the temporality that is required to enumerate both the number and lengths of the sides; and the procedure which, when followed, yields a constructed three-sided closed plane figure.« Ebd. 215 f. 460 In der klassifikatorischen ›Begriffspyramide‹ verhalten sich Umfang und Inhalt umgekehrt propositional zueinander. Es ergibt sich ein Nullsummenspiel von Allgemeinheit und Bestimmtheit, das dazu führt, »daß alle logische Arbeit, die wir an die gegebene Anschauung wenden, nur dazu dient, sie uns mehr und mehr zu entfremden.« Cassirer 1969, 24. Demgegenüber sieht Cassirer schon bei Lambert eine veränderte Situation: »In seiner Kritik der Logik der Wolffischen Schule bezeichnet es Lambert als den entscheidenden Vorzug der mathematischen ›Allgemeinbegriffe‹, daß in ihnen die Bestimmtheit der speziellen Fälle, für die sie angewendet werden sollen, nicht aufgehoben, sondern in aller Strenge aufrecht erhalten wird. Wenn der Mathematiker seine Formeln allgemeiner macht, so hat dies lediglich den Sinn und die Tendenz, die spezielleren Fälle nicht nur alle zu haben, sondern sie aus der allgemeinen Formel herleiten zu können.« Cassirer 1969, 24. 461 Giaquinto 2007, 66. 462 Der Fall, »when what is visualized illustrates the proposition only in virtue of some attribute not shared by all figures of the relevant sort.« Giaquinto 2007, 65



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uns so dazu, »to overlook possibilities that are unintentionally excluded.«463 Im Gegensatz zu den metrisch exakten Eigenschaften kann von derartigen Spezifikationen aber nicht generell abstrahiert werden, da eine Eigenschaft wie ›rechtwinklig‹ in anderen Zusammenhängen durchaus ein relevanter Teil von Schlussfolgerungen werden kann. Erneut ist auf Kants Aussage hinzuweisen, dass der Mathematiker, »um sicher etwas a priori zu wissen […,] der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendige folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat« (KrV B XI). Mit Koriako gesprochen ist dabei nicht allein Schematisierung überhaupt, sondern auch die »Konstanz der Schematisierung« entscheidend: Ich darf nur diejenigen Eigenschaften einer Figur verwerten, mit der ihr Begriff ursprünglich eingeführt wurde.464 Diese knappe Darstellung des Schematismus ist vermutlich wenig kontrovers. Sie ist allerdings eine wichtige Grundlage für die weitere Argumentation: Zum einen ist das Problem der Kontingenz und Partikularität bildlicher Darstellungen auch in Hegels Malereitheorie virulent, wobei Kants SchemaBild-Unterscheidung als Inhalt-Form-Unterscheidung wiederkehrt. Dabei wird sich zeigen, dass es für die Malerei als flächiges Bildmedium ebenfalls so etwas wie ein Generalitätsproblem gibt. Zum anderen bildet die Rekonstruktion des Schematismustheorems für den Interpreten Koriako die Grundlage, um zentrale Teile von Kants Theorie des synthetischen Apriori in Frage zu stellen. Dies – und weitere Positionen – gilt es jetzt in einem Exkurs zu betrachten.

5.2.3 Wozu dann noch ›reine Anschauung‹ ? – ein Desiderat

Über Rolle und Leistung des Schematismuskonzepts besteht in der jüngeren Forschung – wie gesehen – eine relative Einhelligkeit, zugleich macht es Kant anschlussfähig für zentrale Debatten der Diagrammatik. Demgegenüber hat die Rede von einer ›reinen Anschauung‹ Kant den Ruf eingebracht, die 463

Shimojima, zitiert aus Giaquinto 2007, 250. »Im Kontext mathematischer Erkenntnis hängt dagegen alles davon ab, wie der Begriff dieser Figur eingeführt wurde: ob es ein gleichschenkliges Dreieck ist, eine Menge von drei Objekten, zwischen denen eine (transitive, symmetrische …) Relation besteht, oder einfach eine zusammenhängende Fläche ohne Singularitäten. Man kann nicht in einem Beweis über Dreiecke spontan beschließen, die Gleichschenklichkeit des Beispiels zu verwerten; man kann nicht bei der Lösung des Königsberger Brückenproblems spontan beschließen, die Verbindungslinien zwischen den Punkten als Kreisbögen zu betrachten. Wer in diesem Sinne das Prinzip der Konstanz der Schematisierung verletzt, der wird nicht zu mathematischen Erkenntnissen gelangen.« Koriako 1999, 277 f. 464

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Mathematik in einer Art unmittelbarem, introspektiven Einsehen begründen zu wollen465 und damit letztlich – wie man hinzufügen kann – einer Form des Mythos des Gegebenen aufzusitzen. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, dass sich die folgende Frage ergeben hat: Wenn man eine Theorie des Schematismus hat – wozu braucht man dann noch die Rede von ›reiner Anschauung‹ ? Hier soll die These vertreten werden, dass mit dieser Frage ein Desiderat umrissen ist, das sich ausgehend von drei wichtigen Interpretationen jüngeren Datums aufzeigen lässt. Vorbereitend soll jene ebenso einschlägige wie konfuse Stelle der Methodenlehre betrachtet werden, die Grundlage der Kontroverse ist: Satz 1: »Zur Konstruktion eines Begriffs wird also eine nicht empirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Objekt ist, aber nichts destoweniger, als die Konstruktion eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung), Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß.« Satz 2: »So konstruiere ich einen Triangel, indem ich den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand, entweder durch bloße Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen Anschauung, beidemal aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle.« Satz 3: »Die einzelne hingezeichnete Figur ist [/] empirisch, und dient gleichwohl, den Begriff, unbeschadet seiner Allgemeinheit, auszudrücken, weil bei dieser empirischen Anschauung immer nur auf die Handlung der Konstruktion des Begriffs, welchem viele Bestimmungen, z. E. der Größe, der Seiten und der Winkel, ganz gleichgültig sind, gesehen, und also von diesen Verschiedenheiten, die den Begriff des Triangels nicht verändern, abstrahiert wird.« (KrV B 741 f.)

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Vgl. exemplarisch Stekeler-Weithofers Bemerkung, dass Kants Rede von der reinen Anschauung eine »vage Mischung zwischen realer Anschauung und subjektiver Vorstellung« suggeriere. Stekeler-Weithofer 2008, 4. Ein adäquat rekonstruierbarer Anschauungsbegriff könne gerade nicht bedeuten, dass wir »mathematische Prinzipien oder Axiome auf der Basis einer gewissen Intuition unmittelbar ›einsehen‹.« Ebd. 3.



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Zusammenfassung: – Satz 1 stellt fest, dass die Konstruktion eine nichtempirische Anschauung erfordert. – Satz 2 unterscheidet zwischen reiner Anschauung in der Einbildung und empirischer Anschauung in der Zeichnung, stellt zugleich fest, dass eine Konstruktion in beiden Fällen a priori sein kann. – Satz 3 beschreibt, wie eine empirische Anschauung allgemeingültig fungieren kann, weil es nur auf die ›Handlung der Konstruktion eines Begriffs‹ ankommt: Einbildungskraft fungiert hier als das Vermögen des Schematismus, im Besonderen das Allgemeine und Invariante zu erkennen.

(a) Koriako: Reine Anschauung ist obsolet. Koriakos Kant-Interpretation besteht in dem scharfsinnig ausgeführten Projekt, innerhalb von Kants Position selbst Widersprüche zu lokalisieren, die den Kantianer letztlich dazu zwingen sollen, die Konzeption einer Anschauung a priori aufzugeben und der Position des logischen Empirismus zuzustimmen: Es gibt nur empirische Anschauungen und reine Begriffe, synthetisches Aposteriori und analytisches Apriori. In unserem Kontext ist für Koriakos Interpretation der soeben zitierte Satz 2 entscheidend: Dort werde »explizit gesagt, daß die empirische Anschauung der Zeichenebene jeder ›reinen‹ Anschauung epistemisch äquivalent ist; denn auch die Konstruktion in der empirischen Anschauung wird hier als apriorische bezeichnet.«466 Die Erklärung für diese »Substituierbarkeit« der beiden Anschauungstypen (von imaginierter und gezeichneter Figur) gebe Kant im nächsten Satz: die Fähigkeit, die gezeichnete Figur »im Lichte des konstruierten Begriffs«467, d. h. des entsprechenden Schemas zu interpretieren und dabei von jenen Bestimmungen, die im Begriff nicht gedacht sind, zu abstrahieren. Die von Kant gesuchte Apriorität beruhe demnach in der vom Schema garantierten Allgemeinheit der Schlussfolgerung. Wenn dies aber  – wie Kant in Satz 2 zugebe  – auch mit einer empirischen Anschauung möglich sei, werde ein zusätzliches Theorem der reinen Anschauung schlichtweg obsolet. Die Apriorität geometrischen Schlussfolgerns sei allein durch den definitorischen Ursprung mathematischer Begriffe und die Interpretations- und Abstraktionsleistung des Schemas zu erklären.468 Hierauf allein beruhe die Idealität mathe466

Koriako 1999, 267. Ebd. 468 »Wir gehen in der Mathematik in ganz spezifischer Weise mit empirischen Anschauungen um – das scheint bei Licht besehen die schlichte und unspektakuläre Lösung des Reinheitsproblems zu sein. Und wir können das nicht deshalb, weil wir eine ›reine‹ Anschauung besitzen, sondern weil wir über Schemata verfügen.« Ebd. 269. 467

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matischer Gegenstände, nicht aber der »‹Reinheit‹ apriorischer Anschauungen«469. Wie erklärt sich dann aber die offenkundige Inkonsistenz im kantischen Text, der immer wieder auf der Rolle der reinen Anschauung beharrt ? Koriako stellt hierzu die These auf, dass Kant zwei Versuche unternehme, das synthetische Apriori der Mathematik philosophisch zu erklären: zuerst in einer Theorie reiner Anschauung, die zum ersten Mal in der Dissertation von 1770 als cognitio sensitiva entwickelt wird und in der transzendentalen Ästhetik der KrV weiterlebt; ein zweites Mal in der Theorie des Schematismus, die in der KrV neu hinzu komme und der ersten Theorie »eine zweite Schicht superponiert, die mit dieser basalen Schicht in Konflikt gerät«; »Beide Theorien wollen eigentlich dasselbe Phänomen erklären: die Möglichkeit einer synthetischen und apriorischen Erkenntnis mathematischer Sachverhalte. Aber sie erklären es mit Hilfe zweier disparater Strategien: zum einen mit einer Theorie, in welcher die ›Reinheit‹ der Anschauung‹ als Explikans fungiert, zum anderen mit einer Theorie, in welcher die ›Reinheit‹ der Begriffe diese Explikation leistet.«470

Durch letztere werde allerdings »die reine Anschauung als eine Entität mit genau umschriebener Explikationsleistung schlicht überflüssig. Was wir brauchen, ist lediglich irgendeine Anschauung.«471 Hierauf gründet Koriako nun seine weitreichende Kritik an Kant: In dem Moment, in dem Kant die Substituierbarkeit von reiner und empirischer Anschauung zugebe, fällt für Koriako auch die Theorie eines synthetischen Apriori der Anschauung. Eine von Inkonsistenzen befreite Position der KrV könne nicht anders, als die Sichtweise des logischen Empirismus Carnaps und Reichenbachs zu bestätigen. Die unbestrittene Tatsache, dass sich die Mathematik als apriorische Wissensform diagrammatischer (oder symbolischer) Repräsentationen bedient, wäre dann nicht im Sinne einer ›reinen Anschauung‹ zu deuten. Stattdessen folge die Apriorität ihrer Schlussfolgerungen allein aus der Reinheit der mathematischen Begriffe und der Tatsache schematischer Restriktion.472

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Ebd. 267. Ebd. 265. 471 Ebd. 270. 472 Es lasse sich zeigen, »[d]aß nicht die Reinheit der Anschauung, sondern die Reinheit des Begriffs (seine Apriorität qua Willkürlichkeit) die Apriorität dieser Erkenntnisart induziert.« Ebd. 288. »Was die ›Reinheit‹ mathematischer Anschauungen bedingt, ist die Reinheit dieses Begriffs vom Kreis, der sich zwar auf Anschauliches bezieht, der aber dennoch ein Begriff ist und keine Anschauung.« Ebd. 269. 470



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Aus der Perspektive dieser Studie ist es die Leistung dieser Interpretation Koriakos, die Messlatte für eine Rekonstruktion von Kants synthetischem Apriori höherzuhängen. Die Theorie des Schematismus allein scheint noch nicht dazu geeignet, Kant gegen die Kritik des logischen Empirismus zu verteidigen. Es drängt sich daher die Frage auf: Lässt sich das Theorem reine Anschauung, v. a. der damit verbundene Rekurs auf die Imagination irgendwie retten ? Ein Ansatzpunkt lässt sich innerhalb der Interpretation von Koriako selbst festmachen, in der sich etwas findet, was nach einer petitio principii aussieht. Die frühere Theorie der reinen Anschauung versuche – so Koriako – »das Moment des Apriorischen in der Mathematik ausschließlich durch die Apriorität der entsprechenden Erkenntnisquelle zu begründen.«473 Die Erklärungsleistung dieser Theorie sei – so Koriako – allerdings begrenzt, weil sie die Apriorität im Verhältnis von »Mathematik und Wirklichkeit« betrachte, aber noch gar nicht erkläre, »ob dieser Beweis hier für gleichschenklige, gleichseitige, oder für alle Dreiecke gilt«.474 Hier ist Koriako zuzustimmen, denn der Rekurs auf die Imagination ist bestimmt keine Lösung des Generalitäts- bzw. Überspezifizitätsproblems: »[A]uch das ›eingebildete‹ Dreieck ist ein mögliches empirisches Dreieck«,475 d. h. eines, dessen Linien als sichtbar, d. h. mit einer Breite vorgestellt werden, das eine Farbe hat, das eine bestimmte Metrik hat, das gleichschenklig oder nicht gleichschenklig ist etc. Zuzustimmen ist Koriako auch darin, dass das genannte Problem erst dadurch gelöst wird, »daß wir uns im anschaulichen Räsonnement einer schematischen Restriktion unterwerfen.«476 Problematisch ist allerdings Koriakos Schlussfolgerung, dass »die zweite Theorie das leistet, was die erste nicht leisten kann« und, dass »der Rekurs auf reine Anschauung in Kants Mathematiktheorie streng genommen überflüssig ist.«477 Hatte Koriako nicht selbst zunächst festgestellt, dass die Erklärungsleistung ›reiner Anschauung‹ eine ganz andere Dimension betrifft ? Die petitio principii besteht in der Unterstellung, dass die reine Anschauung das leisten soll, was das Schematismustheorem leistet.478 Zu fragen wäre, ob hier statt zwei Versuchen, dasselbe zu 473

Ebd. 265. Ebd. 475 Ebd. 274. 476 Ebd. 265. 477 Ebd. 478 Eine Inkonsistenz kann in der Position Koriakos darin gesehen werden, dass er zunächst feststellt, dass das Theorem ›reine Anschauung‹ eingeführt wird, um das Verhältnis von Mathematik und Wirklichkeit zu erklären, es dann aber für obsolet erklärt, weil es einen bestimmten anderen Sachverhalt (das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinen) nicht erklärt. Koriako diskutiert noch zwei andere mögliche Deutungen von ›reiner Anschauung‹, die er aber ebenso zurückweist: (i) Der Weg, diese als platonische 474

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erklären, nicht zwei verschiedene Aspekte von Apriorität gemeint sind, die sich als komplementär erweisen könnten. Worin besteht diese dann ? Und warum beharrt Kant in diesem Zusammenhang auf einer Sonderrolle der Imagination vor der Zeichnung ? (b) Shabel: Reine Anschauung ist schematisierte Anschauung. Auch Shabel stellt in ihrer Kant-Lektüre zunächst fest, dass Kants Aussage in Satz 2 (»Auch mit einer empirischen Anschauung kann apriorisches Wissen gewonnen werden.«) erklärungsbedürftig ist: »[W]e have no explanation for why Kant insists that a ›pure‹ intuition is required to construct a mathematical concept.«479 Sie wendet sich dann allerdings explizit gegen die Folgerung der Obsoleszenz ›reiner Anschauung‹, wie sie Koriako zieht.480 Stattdessen schlägt sie vor, »to illustrate Kant’s distinction between pure and empirical intuitions« mittels der bereits erwähnten Unterscheidung von mathematischen und mechanischen Demonstrationen.481 Ihre zentrale These: Eine identische Zeichnung kann in der mechanischen Konstruktion »a case of empirical intuition« sein, in der mathematischen Konstruktion hingegen ein Fall von »pure intuition«. Der Unterschied liegt lediglich in »their function in the demonstration«.482 In diesem Sinne spricht sie auch von einer »empirical intuition that functions purely« – einer empirischen Anschauung, die ›rein fungiert‹.483 Vielversprechend scheint an Shabels Ansatz, dass sie den Unterscheid von empirischer und reiner Anschauung nicht an Vorstellungstypen (gezeichnetes oder imaginiertes Dreieck) festmacht, sondern an bestimmten Kontextbedingungen. In diesem Sinne besagt die Unterscheidung, dass von derselben Zeichnung im Kontext verschiedener Erkenntnispraktiken jeweils ein unterschiedlicher Gebrauch gemacht werden kann. Deutlich wird dies »universalia ante rem« zu deuten, ist durch Kants Betonung der Subjektivität der reinen Anschauung, ihrer Gebundenheit an die endliche menschliche Perspektive, versperrt. Ebd. 268 (ii) Der Weg, die reine Anschauung (des Philosophen) einfach als transzendentale ›Dublette‹ der empirischen Anschauung (des Mathematikers) aufzufassen, scheint versperrt, weil der Inhalt der transzendentalen Ästhetik vom Mathematiker nicht epi­ stemisch verwertet werden könne. Was in den vier Raumargumenten entfaltet wird, ist höchstens »eine basale topologische Charakterisierung eines möglichen Erfahrungsraums« (ebd. 273). Diese Form des ›Zugrundeliegens‹ (etwa, dass jede Vorstellung eines endlichen Raums die eines unendlichen Raumes involviert) begründet aber noch nicht »die reine Anschauung als Rechtfertigungsquelle etwa des euklidischen Parallelen­ axioms zu bestimmen.« Ebd. 479 Shabel 2003, 177. 480 Beide Arbeiten sind etwa zeitgleich erschienen und verweisen nicht aufeinander. 481 Ebd. 174. 482 Ebd. 194. 483 Ebd., Fußnote 160.



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an einer anderen Stelle der Methodenlehre, die etwas klarer ist als die eingangs zitierte. Kant spricht dort davon, dass »ich meinen Gegenstand nach den Bedingungen, entweder der empirischen Anschauung, oder der reinen Anschauung bestimme« (KrV B 746). Ersteres meint die mechanische Kon­ struktion, die »nur einen empirischen Satz (durch Messen seiner Winkel)« (ebd.) ergeben könne, letzteres »die geometrische Konstruktion« (ebd.). Und hier wiederholt Kant seine Aussage, dass die geometrische Konstruktion »in einer reinen Anschauung, eben so wie in der empirischen« (ebd.) verfahren könne. Es ist nun offenbar wieder der Unterschied von Imagination und Zeichnung gemeint, der für das mathematische Verfahren indifferent ist. Was bedeuten nun allerdings jene ›Bedingungen der reinen Anschauung‹, nach denen auch eine empirische Anschauung ›rein fungieren‹ kann ? Shabels Antwort darauf ist das Schema: »I claim that the schema of a pure sensible concept is that aspect of the pure intuition of a mathematical concept that distinguishes it from an empirical intuition of the same concept, namely the procedure for constructing that concept according to a rule.«484 Shabels zunächst vielversprechender Ansatz kommt daher über Umwege doch zu einem analogen Ergebnis wie Koriako. Dieser hatte geschlossen: mathematische Erkennt­ nis = irgendeine Anschauung + Schema, und somit ist reine Anschauung obsolet. Shabel ersetzt dies (in ihrer etwa zeitgleich erschienenen Studie) durch die Formel: mathematische Erkenntnis = irgendeine Anschauung + Schema = reine Anschauung. Wird somit ›reine Anschauung‹ als Term nicht ebenfalls obsolet ? Shabel kommt zwar nicht zu denselben negativen Schlussfolgerungen bezüglich des synthetischen Apriori wie Koriako, sie klärt aber auch nicht die Rolle auf, die die Unterscheidung von Imagination und Zeichnung für Kant spielt. Nach den bisherigen Ausführungen kann festgestellt werden, dass diese Unterscheidung zwar pragmatisch keinen Unterschied macht, für Kant aber dennoch irgendeinen systematischen Sinn zu haben scheint. (c) Kants Geometrietheorie – ein Plagiat ? Dass Interpretationen, die den Schematismus zum Mittelpunkt der kantischen Konstruktionstheorie machen, in einem gewissen Sinne beschränkt sind, zeigt eine Episode der späten 1790er Jahre. In der Vorrede zur Metaphy­ sik der Sitten (1797) ergreift Kant die Gelegenheit, auf einen Plagiatsvorwurf 484 Ebd. 215. Vgl. auch später: »Thus, in the same way that pure intuitions confer syntheticity and a priority on demonstrated mathematical judgments, so do mathematical schemata confer universality on mathematical concepts. Indeed, it is because mathematical schemata confer universality on constructed mathematical concepts that a pure mathematical intuition can be distinguished form an empirical mathematical intuition.« Ebd. 219.

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zu reagieren, der in der sogenannten ›Hausen-Rezension‹ formuliert wurde.485 Dort wird Kant bezichtigt, mit seiner Mathematiktheorie lediglich die Elemente der Mathematik (1734) von C. A. Hausen plagiiert zu haben. Dieser habe bereits von einer »gleichsam durch den Verstand gemachte[n] Darstellung« gesprochen, »da die sinnlich wahrnehmbaren Figuren ja nicht nach der Strenge der Definitionen gebildet werden können.«486 Offensichtlich ist in einer solchen Formulierung die Idee des Schematismus bereits vorhanden. Interessanterweise hat Kant gerade in dieser Hinsicht kein Problem, die Nichtoriginalität seines Ansatzes zuzugeben: »Die gleichsam durch den Verstand gemacht Darstellung bedeutete dem scharfsinnigen Mathematiker nichts weiter, als die einem Begriffe korrespondierende (empirische) Verzeichnung einer Linie, bei der bloß auf die Regel Acht gegeben, von den in der Ausführung unvermeidlichen Abweichungen aber abstrahiert wird; wie man es in der Geometrie auch an der Konstruktion der Gleichungen wahrnehmen kann.« (MSR AB IX)

Das Theorem des geometrischen Schematismus betrachtet Kant hier gewissermaßen als geschenkt.487 Stattdessen verteidigt er das innovative Potential seiner Position mit dem Hinweis auf den Unterschied von empirischer und apriorischer bzw. reiner Anschauung, mit einem spezifischen Blick auf seine Theorie des Raums: 485

MST AB VIII f. »Ferner wird hier nicht nach der wirklichen Darstellung gefragt, da die sinnlich wahrnehmbaren Figuren ja nicht nach der Strenge der Definitionen gebildet werden können; sondern gesucht wird eine Erkenntnis dessen, wodurch diejenige Gestaltung zustandekommt, die eine gleichsam durch den Verstand gemachte Darstellung ist.« (zitiert aus MS AB VIII FN) »Porro de actuali constructione hic non quaeritur, com ne possint quidem sensibiles figurae ad rigorem definitionum effingi; sed requiritur cognitio eorum, quibus absolvitur formatio, quae intellectualis quaedam constructio est.« (C.A. Hausen, Elem. Mathes. Pars. I. p. 86. A. 1734) 487 Vgl. hierzu auch schon Aristoteles in der zweiten Analytik: »Auch setzt der Geometer nichts falsches voraus, wie einige behauptet haben, indem sie sagen, daß man nicht das Falsche benutzen darf, daß aber der Geometer falsch redet, wenn er die Linie, die nicht einen Fuß lang ist, einen Fuß lang nennt, oder die gezeichnete Linie gerade, obgleich sie nicht gerade ist. Aber der Geometer folgert nicht daraus, daß diese Linie hier existiert, die er selbst beschrieben hat, sondern was durch diese Dinge klargemacht wird.« »Es ist auch nicht wahr, was gewisse Leute sagen, daß der Geometriker etwas Falsches voraussetzt. Denn sie geben vor, man dürfe nichts Falsches verwenden, der Geometriker behaupte aber Falsches, indem er eine Linie, die nicht einen Fuß lang ist, einen Fuß lang sein und die gezeichnete Linie, obwohl sie nicht gerade ist, gerade sein läßt. Aber der Geometriker schließt nicht darauf hin, daß das eine Linie ist, was er dafür ausgibt, sondern darauf hin, daß das ist, was er damit meint.« Aristoteles (1993): Analytica posteriora. Halbband 1, Berlin: Akademie, 76b 40f, 31. 486



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»Ich überlasse es einem jeden, zu beurteilen, ob die Worte: intellectualis quaedam constructio, den Gedanken der Darstellung eines gegebenen Begriffs in einer Anschauung a priori hätten hervorbringen können, wodurch auf einmal die Philosophie von der Mathematik ganz bestimmt geschieden wird. Ich bin gewiß: Hau­ sen selbst würde sich geweigert haben, diese Erklärung seines Ausdrucks anzuerkennen; denn die Möglichkeit einer Anschauung a priori, und, daß der Raum eine solche und nicht ein bloß der empirischen Anschauung (Wahrnehmung) gegebenes Nebeneinandersein des Mannigfaltigen außer einander sei (wie Wolff ihn erklärt), würde ihn schon aus dem Grunde abgeschreckt haben, weil er sich hiemit in weit [/] hinaussehende Untersuchungen verwickelt gefühlt hätte.488

Im Jahr 1797, sechzehn Jahre nach dem ersten Erscheinen der Kritik der rei­ nen Vernunft, nennt Kant den Kern seiner Mathematiktheorie die ›Möglichkeit einer Anschauung a priori‹, während er den Schematismus als eine philosophische Selbstverständlichkeit bezeichnet.489 Dies bringt die Les­a rten von Koriako und Shabel in Schwierigkeiten: Koriako hat keine andere Wahl als explizit jenem ›Tübinger Rezensenten‹ zuzustimmen, der Kant des Plagiats bezichtigt hatte.490 Hierdurch gerät aber Koriakos These von reiner Anschauung und Schematismus als zwei Versuchen, deren Verhältnis Kant nie abschließend durchdacht habe, in Probleme, weil deutlich wird, dass Kant die unterschiedliche Stoßrichtung der Theoreme reflektiert und diesen jeweils einen anderen Sinn zuweist. Und obgleich sie dies selbst nicht erwähnt, müsste auch Shabels Reduktion von reiner Anschauung auf den Schematismus dem Vorwurf des Plagiats zustimmen. (d) Friedman: diagrammatische vs. transzendentale Lesarten Eine Kritik an der Fokussierung auf das Generalitätsproblem und Schematismus findet sich bei Michael Friedman. Mit ihrem Versuch, Kants Aussagen spezifisch an der geometrischen Beweispraxis zu betrachten, ist Shabel für Friedman eine paradigmatische Vertreterin einer diagrammatischen Lesart 488

MSR AB VIII f. In diesem Punkt sieht er sich im Übrigen auch mit seinem Kritiker Kästner einig: »In allem findet Rec. Hrn. H. R. Kästner mit der Critik d. r. V. vollkommen einstimmig, auch da wo er S. 419 von geometrischen Lehren sagt: ›Nie schließt man da aus dem Bilde, sondern aus dem, was der Verstand beym Bilde denkt.‹ Er versteht ohne Zweifel unter dem ersteren die empirische Zeichnung, unter dem zweyten die einem Begriffe, d. i. einer Regel des Verstandes gemäße reine Anschauung, nämlich die Construction desselben, welche keine empirische Darstellung des Begriffs ist.« Kästner-Rezension 422. 490 »Ist es nicht so, daß diese Konstruktion nurmehr eine ›intellectualis quaedam constructio‹ im Sinne Hausens ist, oder, mit Kästner, eine ›Konstruktion für den Verstand‹ (…) ?« Koriako 1999, 266. 489

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Kants. Deren Ziel könne darin gesehen werden, die seit den 90er Jahren stattfindende Forschung zum diagrammatischen Denken – wie etwa von Manders paradigmatisch an Euklids Elementen geleistet – nun auch für das Verständnis von Kants Konstruktionstheorie fruchtbar zu machen. Er tritt dem allerdings mit der These entgegen, dass »recent work on diagrammatic reasoning can, at best, capture a part of what Kant’s conception of geometry involves.«491 Diese Debatte beschränke sich darauf, erklären zu wollen, »how reasoning with individual physical diagrams, actually produced on the blackboard or on paper, can underwrite the generality and necessity of Euclid’s geometry – despite the obvious fact that such diagrams are both particular and imprecise.«492 Kurz gesagt, sie beschränkt sich auf die Frage nach dem geometrischen Schematismus. Dagegen könne diese Perspektive nicht erklären, »why Kant took this conception crucially to involve a revolutionary new theory of space – the very (three-dimensional) space in which we, and all other physical objects, live and move and have our being.«493 Gegen die mehr auf die Methodenlehre fokussierte diagrammatische Lesart betont Friedman nun vor allem jene Motive, die die Mathematiktheorie mit transzendentaler Ästhetik und transzendentaler Logik verbinden. Einen wichtigen Einsatzpunkt bildet hier erneut jener Satz 2, demzufolge die Konstruktion ihren Gegenstand »entweder durch bloße Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen Anschauung, beidemal aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben« (KrV B 740), darstellt. Zentral ist hierbei für Friedmans Interpretation die Formulierung ›nach derselben‹ (Friedman übersetzt: »in accordance with this«): Worin besteht der Vorrang der reinen vor der empirischen Anschauung ? 491

Friedman 2012, 232. Ebd. 254. 493 Ebd. 232. Eine verwandte Kritik an der Begrenztheit dieser Perspektive findet sich bei Stekeler-Weithofer, dem dabei ebenfalls die transzendentalphilosophische Reflexion des Bezugs von Mathematik und Anschauungsraum fehlt. »Daher ist nicht etwa bloß die Rolle der durch Buchstaben benannten Diagramme in geometrischen Beweisen zu betrachten, wie das unter vielen anderen etwa auch Reviel Netz, Paolo Mancuso oder auch Ken Manders zun, sondern es ist ihre Rolle bei der Festlegung der Wahrheitswerte für ideal­ geometrische Sätze zu klären.« Stekeler-Weithofer 2008, 33. Auch für Stekeler-Weithofer erschöpft sich die Argumentation Kants nicht in der Antwort auf die Frage, wie Diagramme trotz ihrer Singularität und Kontingenz im Beweisverfahren methodisch korrekt verwendet werden können. Mit seiner praxeologischen Reformulierung von Kants Anschauungsbegriff zielt er auf den Beitrag der Anschauung zur Fundierung mathematischen Wissens. Die Diagramme sind demnach nicht Abbilder vorgängiger intellektueller Gegenstände, sondern erfüllen diese Fundierungsleistung als Teil einer Sphäre leiblicher und sozialer Praktiken. Vgl. hierzu auch Kapitel II.1.3 sowie Beck 2023. 492



Bildlogik und Medialität

Seine Kritik an der diagrammatischen Lesart betrifft hierbei zunächst die Richtung in der Auffassung des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem. Demnach vertreten Positionen wie die von Manders und Shabel eine Art Bottom-up-Ansatz.494 Sie begännen mit partikulären, konkreten Diagrammen, um dann eine Erklärung zu finden, wie von deren irrelevanten partikulären Eigenschaften abstrahiert werden könnte. Kant ginge es aber umgekehrt um einen Top-down-Ansatz: Er beginne mit allgemeinen Begriffen, um dann zu zeigen, wie diese durch die produktive Einbildungskraft versinnlicht werden können. Dies bedeutet für Friedman nicht lediglich den bereits festgestellten Sachverhalt, dass die Mathematik für Kant nicht mit Figuren, sondern Definitionen beginnt. Stattdessen verweist Friedman auf jene transzendentale Theorie der Vermögen, die Kant in der transzendentalen Deduktion entwickelt: Die transzendentale Apperzeption bestimme vermittelst der transzendentalen Einbildungskraft den Raum als reine Anschauungsform, und erst am Ende stünden – beinahe bloß zufällig – auch die konkreten Figuren des Mathematikers.495 Friedmans Kritik wendet sich entsprechend besonders gegen die Idee von Manders und Shabel, euklidische Diagramme im Sinne von »individual physical objects« bzw. »single, individual, sensible objects« (zitiert aus Shabel, Friedmans Hervorhebung) als kantische »pure intuitions« zu identifizieren.496 Es sei »very misleading, at best, to interpret a Kantian pure intuition as a certain kind of empirical intuition.«497 Gemeint seien mit reinen Anschauungen nie »particular spatial figures drawn on a paper or a blackboard«, sondern »space and time themselves, as pure rather than empirical intuitions.«498 Entscheidender Punkt ist die Frage, was Kant damit meint, dass die empirische Anschauung irgendwie ›nach‹ der reinen Anschauung komme. War es Shabels These, dass eine empirische Anschauung als reine Anschauung 494

Die Begriffe ›bottom-up‹ und ›top-down‹ verwendet Friedman selbst nicht. »Whereas diagrammatic accounts of the generality of geometrical propositions – following Manders – begin with particular concrete diagrams and then endeavor to explain how we can abstract from their irrelevant particular features (specific lengths of sides and angles, say), by relying only on their co-exact features, Kant begins with general concepts as conceived within the Leibnizean (logical) tradition and then shows how to ›schematize‹ them sensibly by means of an intellectual act or function of the pure productive imagination. Both the general concepts in question and their corresponding general schemata are pure rather than empirical representations, and a particular concrete figure occurs, as it were, only accidentally for Kant, at the end of a process of intellectual determination of pure (rather than empirical) sensibility.« Friedman 2012, 239; vgl. auch ebd. 248. 496 Ebd. 239, Fußnote 13. 497 Ebd. 240. 498 Ebd. 495

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fungieren kann, wenn wir sie nach bestimmten Regeln behandeln, so beharrt Friedman auf der Differenz zweier Register und einer Art des transzendentalen Vorbild-Nachbild-Verhältnisses: »The crucial point, once again, is that the activities of the productive imagination in pure intuition are a priori to actually drawing a figure on paper in empirical intuition.«499 Friedman kommt es also nicht auf das Verfahren an, nach dem wir empirische Anschauungen behandeln, sondern auf einen geltungsmäßigen Vorrang im transzendentalphilosophischen Sinne: »As we have seen, although an actual empirically drawn physical diagram (even if badly drawn) can function as a pure intuition in the context of an actually executed geometrical proof, this can only be the case for Kant himself if the empirical diagram in question is drawn in accordance with a priori construction in pure intuition by the pure productive imagination.«500 In einer früheren Version dieses Papers drückt Friedman dies auch so aus, dass die entsprechenden Konstruktionen vor jedem empirischen Zeichnen immer schon in der reinen Anschauung durch die reine Einbildungskraft vollzogen wurden.501 Friedman weist entsprechend auch darauf hin, dass diese Theorie Kants größere ›ontologische Verpflichtungen‹ mit sich führe als die Theorien von Manders und Shabel, nämlich die Behauptung einer allgemeinen Euklidizität des Anschauungsraums.502 Friedmans Verteidigung der reinen Anschauung geht es weniger um die systematische Rettung als um das historisch richtige Verständnis der kantischen Position. Sein Insistieren auf der transzendentalphilosophischen (und 499

Ebd. 241, Fußnote 15. Ebd. 254. 501 »Space acquires this structure [of Euclidean Geometry], for Kant, precisely from the pure acts or operations of the productive imagination (the application of general geometrical constructions or Kantian schemata), resulting in what he calls »[t]he synthesis of spaces and times, as the essential form of all intuition.« »All the constructive pro­cedures of Euclidean geometry must therefore have already taken place, in the space of pure intuition, in order for any perception of concrete physical objects in empirical intuition to be possible – including any perception of concrete physical diagrams.« https://pdfs.semanticscholar.org/35af/62894b5eda4cc41cf197 f93b43694b2335 f3.pdf, 11. (Zuletzt abgerufen: 24.01.2017) 502 »The discovery that, according to the general theory of relativity, the physical space around us is only approximately Euclidean therefore poses no threat at all to Mander’s program. Yet Kant’s theory of construction pure intuition, as we have seen, aims to explain how we know – and know a priori – that physical space is precisely Euclidean; and it aims to explain this, as we have also seen, by the very same activity of construction in pure intuition that underwrites the generality and necessity of Euclid’s Elements.« Friedman 2012, 254 f. Manders hat in der Tat kein Interesse daran Kants Euklidizitätsthese zu verteidigen, sondern will nur die interne Konsistenz des euklidischen Verfahrens aufzeigen. Vgl. Manders 2008a, 65, sowie zur Euklidizität Beck 2023. 500



Bildlogik und Medialität

nicht nur methodischen) Dimension von Kants Mathematiktheorie erscheint produktiv und wurde schon oben zitiert: Durch den Hinweis auf die Rolle der figürlichen Synthesis der produktiven Einbildungskraft schafft er eine Verbindung zwischen der jeweils basalen Rolle von Translation und Rotation in der geometrischen Konstruktion sowie als Prinzipien eines kontrollierten Perspektivenwechsels im Anschauungsraum. In beiden Dimensionen wird die Bedeutung spontan durchführbarer Handlungen betont. Sein striktes Festhalten an einer – schwer zu lokalisierenden – Ebene des Apriori ist aber aus bildtheoretischer bzw. bildepistemischer Sicht unbefriedigend, weil sie bewusstseinsphilosophische Motive mit einer Art platonischem Dualismus verknüpft. Die Differenzierung zwischen einer diagrammatischen Zeichenpraxis und jeder beliebigen empirischen Wahrnehmung wird verwischt, indem beide gleichermaßen zu Epiphänomenen bzw. ›Nachbildern‹ eben jenes immateriellen, mentalistischen Apriori erklärt werden: nämlich dem ›metaphysischen Raum‹ als »space of our pure form of outer sensible intuition«503, wie er ursprünglich von der Synthesis der produktiven Einbildungskraft bestimmt wird.504 Das Ziel der nun folgenden Interpretation des Theorems ›reine Anschauung‹ ist es, von beiden Positionen etwas miteinander zu verbinden: zum einen den Fokus auf die medialen Bedingungen von Bildpraktiken, wie er für diagrammatische Lesarten kennzeichnend ist; zum anderen die Würdigung von Kants Insistieren auf der Idee eines apriorischen Raums und einer systematischen Rolle der Imagination. Friedmans metaphysischer Lesart der reinen Anschauung soll daher eine diagrammatische, bildphilosophische Lesart entgegengestellt werden. Die zentrale These lautet: Die Idee eines apriorischen Raums bezieht sich nicht auf eine notwendigerweise innermentale Raumvorstellung, sondern auf die spezifische Eigenschaft von Bildmedien, ›physiklos‹ zu sein. Hierdurch unterscheidet sich der Operationsraum diagrammatischen Denkens vom Operationsraum empirischer Experimentalanordnungen. Der Imagination kommt dabei – wie argumentiert werden soll – die Rolle eines Prüfsteins zu. Hiermit soll der diagrammtheoretischen Interpretation Kants eine neue Dimension erschlossen werden. Wie angedeutet bildete bei der Interpretation von Kants Theorie der Konstruktion das Generalitätsproblem einen entscheidenden Leitfaden: So etwa schon bei Cassirer505 und ebenfalls in Peirces 503

Friedman 2012, 247. vgl. hierzu auch kritisch Schubbach: »Unter den transzendentalen Vorzeichen von Kants Argumentation wird das Bild daher allein auf das Bewusstsein bezogen und auf dessen Vorstellung reduziert.« Schubbach 2010, 103. 505 Vgl. Ihmig, Karl-Norbert (1993): »Reine Anschauung und Reihenbegriff. Zu Cassirers Rezeption von Kants Theorie der Geometrie«, in: Dialektik 1993 (1), 113–128. 504

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semiotischer Reformulierung der Konstruktionstheorie als ›diagrammatic thinking‹. Diese nimmt die kantische Schema-Bild-Unterscheidung als typetoken-Unterscheidung wieder auf, die in dieser Form wiederum zu einem zentralen Kategorienpaar gegenwärtiger Semiotik wird. Dieselbe Dominanz zeigt sich auch, wie exemplarisch an Koriako und Shabel gezeigt wurde, in gegenwärtigen Interpretationen Kants. Gerade aus bildtheoretischer Sicht erweist sich dies als Verengung, nämlich auf die Frage der Darstellung und Repräsentation: Was stellen gezeichnete Figuren dar ? Kants Theorie enthält aber, wie jetzt gezeigt werden soll, neben dem semiotischen Aspekt noch jenen phänomenologischen Aspekt von Bildern, uns mit artifiziellen Präsenzen zu konfrontieren. D. h. es kommt nicht nur auf das ›Was‹ der Darstellung an, sondern auch auf das mediale ›Wie‹. Dies soll nun im abschließenden Unterkapitel des Kantteils gezeigt werden.

5.3  D  ie Differenz von Form und Materie: die Physiklosigkeit operativer Bildmedien

Als eine dritte Dimension ikonischer Differenz wird im Folgenden die Differenz zwischen materiellem Bildträger und immateriellen Bildobjekt betrachtet, die bei Kant mit dem Begriffspaar von Form und Materie verbunden ist. Mit Bezug auf das im Kapitel zuvor herausgearbeitete Desiderat wird hierbei eine Neuinterpretation des Theorems ›reine Anschauung‹ in scharfer Abgrenzung zum Schematismus entwickelt: Die Frage nach reiner Anschauung betrifft nicht die Frage von Partikularität oder Imperfektion der Figuren, sondern kann als Vorläufer von Theoremen wie ›artifizielle Präsenz‹ und ›Physiklosigkeit‹ begriffen werden, wie sie im Zentrum formalästhetischer und phänomenologischer Bildtheorien stehen (III.5.3.1). Auf dieser Basis kann zunächst Kants Rekurs auf die Imagination verteidigt werden. Dieser ist nicht notwendigerweise als internalistisch und introspektiv zu verstehen, denn die prinzipielle Ausführbarkeit einer Operation in der Imagination stellt den Prüfstein dafür dar, dass ein entsprechendes Handeln als Bildhandeln verstanden werden kann (III.5.3.2). Weiter plausibilisiert wird dies, indem gezeigt wird, dass sich Kants zunächst schwierige These von der Abtrennbarkeit der Form von Materie in der reinen Anschauung letztlich auf den Unterschied von Kon­struktion und Experiment, von diagrammatischen Operationsräumen und physikalischen Experimenten zurückführen lässt (III.5.3.3). Die unterschiedliche Strukturierung dieser Erkenntnisbereiche zeigt sich an der Unterscheidung von (diagrammatischer) compositio und (physikalischem) nexus, der Nichtgeltung bzw. Geltung der Kategorien Substanz, Kausalität



Bildlogik und Medialität

und Wechselwirkung sowie an unterschiedlichen Modi von Präsenz, Berührung und Bewegung (III.5.3.4). In einem abschließenden Exkurs wird angedeutet, wie sich der dem Theorem ›Physiklosigkeit‹ inhärente Ausschluss der Materialität von Bildern zu energetischen Bildtheorien verhält, die gerade auf einer solchen Materialität und einer von dieser ausgehenden Spontaneität beharren (III.5.3.5).

5.3.1 Reine Anschauung als Physiklosigkeit

Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass es Kant in der Unterscheidung von reiner und empirischer Anschauung nicht darum geht, das Generalitätsproblem bzw. das Problem der Imperfektion und Partikularität gezeichneter Dreiecke zu lösen. Stattdessen zielt Kant auf die Unterscheidung zwischen dem Realraum des empirischen Experiments  – wie in der Physik – und dem Sonderraum der geometrischen Konstruktion ab. Dabei kann zum einen wieder an Stekeler-Weithofer angeknüpft werden, der in das Zentrum seiner diagrammatischen Lesart an Kants die »Unterscheidung zwischen apriorischen Urteilen über ein aktives Können und aposteriorischen Urteilen über passiv Erfahrenes« stellt.506 Dies besagt, dass wir im Kontext der Konstruktion nicht empirische Beobachtungen machen, sondern uns auf Handlungsformen beziehen, die wir in relativer Unabhängigkeit von den Bedingungen eines Kontexts spontan reproduzieren können. Ebenso kann an zwei Theoreme angeknüpft werden, die Krämer im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Diagrammatik formuliert. Dies ist zum einen die Eigenschaft der Diagramme, »hinsichtlich ihrer konkreten stofflichen Präsenz auswechselbar« zu sein.507 Zum anderen der Gedanke, dass sich das operative Handeln im »Sonderraum der inskribierten Fläche«, etwa von »den Gesetzen der Schwerkraft und der Unumkehrbarkeit der Zeitrichtung« emanzipiert.508 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie mit Kant, gleichsam als Korrelat zur operativen Spontaneität des diagrammatischen Handelns, auch eine Theorie des Bildmediums formuliert werden kann, die an bildtheoretische Konzepte

506

Stekeler-Weithofer 2008, 53. Krämer 2016, 52. 508 Ebd. 14. »Als körperliche Wesen sind wir der Macht der Zeit unterworfen; doch die inskribierte Fläche stiftet – jedenfalls ein kleines Stück weit – Macht über die Zeit.« Ebd. 14 f. Entgegen Wiesing betont sie dabei die Rolle der Verflachung, insbesondere die Transformation »umgebungsräumliche[r] Dreidimensionalität in artifizielle Zweidimensionalität« (Ebd. 14). 507

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wie ›artifizielle Präsenz‹ oder ›Physiklosigkeit‹ anknüpft.509 In dem Sinne, in dem etwa Hans Jonas davon spricht, Bildobjekte seien (im Gegensatz zu ihren physischen Trägern) »herausgehoben aus dem Kausalverkehr der Dinge«,510 gilt für Kant, dass die geometrische Konstruktion gleichsam in einem medialen Sonderraum stattfindet, der jenen Gesetzmäßigkeiten enthoben ist, die für empirische Ereignisfolgen gelten.511 Der zentrale Unterschied ist also der zwischen einem Operationsraum der mathematischen Konstruktion, in dem es der menschliche Geist mit den Produkten seiner eigenen Spontaneität zu tun hat, und dem Operationsraum des physikalischen Experiments, das sich stets der Widerständigkeit und Substanzialität der materiellen Welt aussetzt. Prototyp aller Bildmedien in dieser Hinsicht ist die menschliche Imagination, die es uns erlaubt, mit immateriellen Formen zu operieren. Schreibt etwa Schelling noch in Bezug auf Kants Konstruktionstheorie über die »völlige[] Aufhebung des Causalgesetzes« innerhalb des Erkenntnisprozesses,512 ist dieser Aspekt in späteren Interpretationen weitgehend unbeachtet geblieben. Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz von Webb aus dem Jahr 1986, der sich mit dem Verhältnis von Kants Konstruktionstheorie zu Newton auseinandersetzt: Hatte Newton behauptet, die geometrische Konstruktion müsse sich Postulate aus der Mechanik borgen, so ist, wie Webb bemerkt, »a general aim of the apriorism implicit in Kant’s view of geometry as a science of space […] to free it from physical concepts and make certain claims about space independent of physical laws.«513 Kants Unterscheidung zwischen mechanischer und geometrischer Konstruktion kann also nicht nur – wie Shabel dies tut – mit Bezug auf Wolff gelesen werden, sondern auch als 509 Wiesing macht diese Eigenschaft von Bildmedien zur Basis einer Theorie des Medialen überhaupt. Vgl. Wiesing, Lambert (2005): Artifizielle Präsenz. Studien zur Philo­ sophie des Bildes, Frankfurt/M.: Suhrkamp, insbes. 149 ff. 510 Jonas 1994, 111. 511 Dass hier der Begriff ›gleichsam‹ verwendet wird, soll auch als Indiz für eine grundlegende Problematik des Sprechens über diesen Bereich gelten: Das Sprechen über dieses Dritte einer ›nichtempirischen Sinnlichkeit‹ verfällt beinahe automatisch in das Paradoxe bzw. eine Redeweise des ›als ob‹. 512 Schelling, Friedrich Wilhelm Josef (1856): »Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie [1802]«, in: ders.; Karl Friedrich August Schelling (Hg.): Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke, Stuttgart/Augsburg: Cotta, 333–510, 345. Während bei Schelling die Zeitlosigkeit der mathematischen Konstruktion als wesentlicher Aspekt der kantischen Theorie wahrgenommen wird, rezipieren wir heute Kants Theorie des Schematismus häufig über deren verengte Brille bei Peirce und Peirce-Interpreten wie Stjernfelt, die diesen Aspekt ignorieren bzw. unter die type-token-Unterscheidung subsumieren. 513 Webb 1987, 18.



Bildlogik und Medialität

Reaktion auf die Position Newtons.514 Webb selbst liest diese Unterscheidung nun zwar wieder mit Blick auf ein Problem des Schematismus, spezifischer: die Imperfektion physikalischer Gestalten515; dennoch könnte der von ihm hergestellte Zusammenhang jene Eigentümlichkeit von Kants Position erklären, die bisher Rätsel aufgegeben hat: dass es zwar keinen pragmatischen Unterschied macht, ob der Geometer in der Imagination oder der Zeichnung operiert, dass es aber – in einem näher zu bestimmenden Sinn – doch eine Art Vorrang- oder Vorbildcharakter der Imagination geben soll. Hier soll die These vertreten werden, dass es Kant bei diesem Insistieren nicht darum geht, die Imagination oder Introspektion als das irgendwie verlässlichere, ›allgemeinere‹ oder ›prototypische‹ Medium der Mathematik zu empfehlen. Stattdessen dient die Imagination gewissermaßen als Test oder Prüfstein. Von einer Operation, die de jure auch in der bloßen Imagination durchführbar ist, gilt, dass sie im Gegensatz zu empirischen Experimenten unabhängig von einer spezifischen Materie und spezifischen physikalischen Wechselwirkungen ist. Wenn also basale geometrische Einsichten auch in der Imagination gewonnen werden können, zeigt dies, dass das geometrische Operieren (und das geometrische Wissen generell) in einem bestimmten Sinn unabhängig von physikalischen Gesetzmäßigkeiten ist und daher auch wesentlich unterschieden vom empirischen Experiment. Mit Bezug auf das im vorigen Kapitel herausgearbeitete Problem wäre dann Shabel insofern zu widersprechen, als dass es in der Tat nicht nur eine Bedingung der Apriorität gäbe, sondern zwei: Schematismus und reine Anschauung. Koriako wäre zu widersprechen, insofern diese nicht als alternative Versuche, sondern als komplementäre Bedingungen für das Funktionieren diagrammatischer Kalküle zu verstehen wären.516 Der Schematismus betrifft das Verhältnis von Begriff und Figur oder auch das von allgemeinem 514 Es gibt allerdings ein Caveat: Webb merkt an, dass Kant die entsprechende Schrift Newtons nicht kennen konnte, dass diese Position aber gewissermaßen in der Luft lag: »Since Kant never read these words, his remarks above about geometry’s apparent loss of honor in having to borrow its construction from mechanics may indicate that such talk was in the air.« Ebd. 25. 515 »Thus we see that for Kant the productive imagination not only bestows on geometrical construction an exactness unattainable by mechanical instruments, but also insures the cogency of geometrical proofs even when accompanied by inexact figures.« Ebd. 516 Vgl. auch Schirn 1991, 9 ff. Schirn unterscheidet ebenfalls zwei derartige Dimensionen: die Frage »Wie kann eine empirische Darstellung apriorisch fungieren ?«, die er allerdings im Sinne der im vorigen Kapitel geschilderten, bildtheoretisch unbefriedigenden Position Friedmans beantwortet, sowie die Frage nach der Allgemeinheit einer einzelnen Vorstellung, die er mittels einer Unterscheidung von A-, B- und C-Eigenschaften beantwortet, wie sie sich analog auch in den Arbeiten von Manders und Shabel findet.

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Teil II · Kant: Konstruktion

Formgesetz und partikulärer Form, Regel und Darstellung, type und token. Die Theorie reiner Anschauung betrifft hingegen das Verhältnis von rezeptiv gegebener Materie und spontan erzeugten Formgestalten, spezifisch: das Verhältnis zwischen der Materialität der physikalischen Welt und der Immaterialität von Bildgegenständen. Am prägnantesten lässt sich das Verhältnis dieser Dimensionen (Schematismus und reine Anschauung) in der gegenwärtigen Bilddebatte im Unterschied von semiotischen und phänomenologischen Bildtheorien fassen.517 Behandeln erstere – oft im Rückgriff auf Peirce – das Bild als Zeichen und Repräsentation, d. h. als Instantiierung oder token eines types, so sehen letztere die spezifische Eigenschaft von Bildern darin, eine bestimmte Art von Gegenständen hervorzubringen. Innerhalb dieser Richtung, mit Wiesing als gegenwärtig prominentestem Vertreter, gilt eine Darstellung (innerhalb einer dreistelligen Relation von Bildträger, Darstellung und Bildsujet) nicht »als eine Form von Sinn oder Inhalt, sondern als eine Art Objekt, eben als ein Bildobjekt«518. Wer das Bild eines Hauses herstellt, schafft »nicht ein Zeichen«, sondern »schafft ein nursichtbares Haus, einen Gegenstand aus reiner Sichtbarkeit.«519 In dieser »wahrnehmungstheoretischen Tradition« werden Bilder »als ein Medium verstanden, mit dem sich ein physikloser, aber doch sichtbarer Gegenstand sui generis herstellen läßt.«520 Die Kernidee der Schematismuskonzeption ist es, dass wir von den partikulären und imperfekten Eigenschaften in der Anwendung einer Regel abstrahieren können, d. h. die Dimension von Sinn und Inhalt. Hier ist nun eine andere Dimension von Bildlichkeit gemeint: die den Bildern eigentümliche Fähigkeit, Präsenz von Substanzialität abzulösen.521 Ein solcher nursichtbarer Gegenstand ist dann eine »artifizielle Präsenz« oder eine »reine Sichtbarkeit«.522 517 Eine andere prägnante Differenzierung dieser Positionen findet sich in Hegels Wesenslogik. Vgl. EPW I, §§ 128–133. 518 Wiesing 2005, 30. 519 Ebd. 31. 520 Ebd. 33. 521 »Die Implikation von Präsenz und Substanzialität löst sich im Bild auf.« Ebd. 32. 522 Hier drängt es sich eigentlich schon vom Wortlaut her auf, eine Beziehung zwischen Fiedlers Begriff der ›reinen Sichtbarkeit‹ und Kants Begriff der ›reinen Anschauung‹ herzustellen. Überraschenderweise tut Wiesing dies nicht. Statt zur einschlägigen Unterscheidung der KrV (›rein/empirisch‹) stellt er einen Bezug her zur Unterscheidung ›rein/anhängend‹ der KU: »Der Begriff ›rein‹ bedeutet hier soviel wie, daß das Bildobjekt ›ausschließlich‹ und ›nur‹ sichtbar ist. ›Rein‹ ist wie bei Kant das Gegenteil zu ›anhängend‹. Die Sichtbarkeit einer bildlich dargestellten Sache hängt nicht einer Substanz an, welche auch durch andere Sinne wahrgenommen werden könnte.« Wiesing 2008, 32. Ursache hierfür könnte die zusätzliche antipragmatisch-kontemplative Bedeutungsdimension von Fiedlers ›reiner Sichtbarkeit‹ sein. Kants Ziel sei es dagegen – so Wiesing – »die Berechenbarkeit der natürlichen Welt [zu] erklären und nicht eine emanzipierte



Bildlogik und Medialität

Der springende Punkt hieran ist eine spezifische Fähigkeit von Bildmedien: in einem materiellen, der Physik unterworfenen Kontext (Bildträger) zugleich einen immateriellen, physiklosen Gegenstand (Bildobjekt) erscheinen zu lassen. Während der Träger altert und verfällt, gilt dies nicht für das dargestellte Haus, fällt Licht auf den Träger, so fällt noch kein Licht auf das Haus … etc.523 Hiermit ist also deutlich ein anderes Verhältnis als dasjenige von Schema und Bild angesprochen. Wie Koriako richtig anmerkt, ist auch ein imaginiertes Dreieck immer noch spezifisch und nicht ›allgemeiner‹ oder ›prototypischer‹. Darauf kommt es aber auch nicht an, insofern ein ganz anderes Verhältnis gemeint ist. Die folgende Lektüre von Kant als Theoretiker von Schematismus und Physiklosigkeit kann auch zeigen, dass eine Rezeption seiner Diagrammkonzeption nur über deren semiotische Reformulierung bei Peirce eine Verengung darstellt. Schon bei Kant sind beide Traditionen, die semiotisch-schematische und die formalästhetisch-phänomenologische angelegt. Damit kann zugleich argumentiert werden, dass eine Theorie des Diagrammatischen auch auf Elemente formalästhetischer Bildtheorien zurückgreifen sollte.

5.3.2 Eine Verteidigung der Imagination

Das zentrale Problem der Interpretation des kantischen Textes an der genannten Stelle ist die folgende Konstellation: Kant behauptet (i) den epistemischen Vorrang einer ›reinen Anschauung‹ (bzw. ›bloßen Einbildung‹) vor einer ›empirischen Anschauung‹ (bzw. ›Zeichnung‹). Er gibt gleichzeitig zu, dass (ii) beide, Einbildung und Zeichnung, pragmatisch gesehen völlig äquivalent sind. Die Einbildung hat keinen praktischen Vorteil. Koriako hatte daraus auf die Überflüssigkeit der reinen Anschauung geschlossen, eine Position, der sich Shabel – nicht im Wort, aber im Geist – annäherte. Friedman hatte hingegen den Vorrang der Einbildung durch die Rolle der transzendentalen Einbildungskraft (aus der transzendentalen Logik) erklärt: Noch vor jeder empirischen Repräsentation habe die produktive Einbildungskraft jeden der euklidischen Beweise schon einmal vollzogen, so dass jede empirische Repräsentation als bloßes Nachbild fungiere.524 Die hier angestrebte dritte Lösung setzt zunächst eine Bedeutungsklärung der Begriffe Einbildung und Einbildungskraft voraus. Diese Termini bezeichAnschauung phänomenologisch [zu] beschreiben«. Wiesing 2008, 139. Diese kontempla­ tive, nicht operative Haltung zeigt sich auch in Wiesings Idee der Bilderfahrung als »Partizipationspause«. Wiesing 2013, 91. 523 Wiesing 2005, 28. Vgl. ebenfalls erneut Krämer 2016, 14. 524 Vgl. etwa Friedman 2012, 248 sowie das vorangegangene Kapitel II.5.2.3.

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Teil II · Kant: Konstruktion

nen im Kontext von Kants Geometrietheorie mindestens zwei unterschiedliche Funktionen: Im Kontext des Schematismus bezeichnet Einbildungskraft eine Fähigkeit von Regelanwendung und Synthese: In diesem Sinne spricht Kant vom Schema als »einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem [/] Begriff sein Bild zu verschaffen« (KrV B 179 f.).525 Hier kann man von der Darstellungsfunktion der Einbildungskraft sprechen; es geht darum, einen type in einem token zu instantiieren. Dies ist auch die Funktion der sogenannten produktiven Einbildungskraft in der transzendentalen Logik. Hiervon ist eine zweite Bedeutung zu unterscheiden: »Einbildungskraft ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen« (KrV B 151). Dies kann man die Vergegenwärtigungsfunktion der Einbildungskraft nennen (im Folgenden der Einfachheit halber auch ›Imagination‹). Dies scheint auch offenkundig der Sinn des Begriffs zu sein, wenn Kant die Darstellung »durch bloße Einbildung« von derjenigen »auf dem Papier« (KrV B 741) unterscheidet. Wie nämlich Koriako richtigerweise feststellt, verhält sich ein vergegenwärtigtes Dreieck zu einem gezeichneten Dreieck keinesfalls wie ein allgemeiner type zu einem individuellen token; es handelt sich in beiden Fällen um individuelle token, die spezifische Eigenschaften aufweisen etc. Friedmans Idee, dass Kant hier den Vorbildcharakter einer produktiven Einbildungskraft gegenüber beliebiger empirischer Instantiiierungen im Blick hat, wäre somit zu widersprechen. Die Darstellungsfunktion der Einbildungskraft ist von ihrer Vergegenwärtigungsfunktion unabhängig. Wie lässt sich aber die Spannung zwischen epistemischem Vorrang (der reinen vor der empirischen Anschauung) und pragmatischer Äquivalenz (von reiner und empirischer Anschauung) auflösen ? Kants zuweilen verwirrender Terminologie lässt sich mit einem Blick auf die folgende Stelle mehr Sinn abgewinnen: »Nun ist dieses [die Gewinnung eines synthetischen Satzes] nicht anders möglich, als daß ich meinen Gegenstand nach den Bedingungen, entweder der empirischen Anschauung, oder der reinen Anschauung bestimme. Das erstere würde nur einen empirischen Satz (durch Messen seiner Winkel), der keine Allgemeinheit, noch weniger Notwendigkeit enthielte, abgegeben, und von dergleichen ist gar nicht die Rede. Das zweite Verfahren aber ist die mathematische und zwar hier die geometrische Konstruktion, vermittelst deren ich in einer reinen Anschauung, eben so wie in der empirischen, das Mannigfaltige, was zu dem 525 Eine weitere Bedeutung von Einbildungskraft, die aber für Kant keine systematische Rolle mehr spielt, ist die rationalistische Auffassung (Spinoza, Leibniz, Wolff), wonach etwa Raumrelationen generell als imaginär oder zur Einbildungskraft gehörig zu verstehen sind, weil sie nicht ontologisch real sind.



Bildlogik und Medialität

Schema eines Triangels überhaupt, mithin zu seinem Begriffe gehöret, hinzusetze, wodurch allerdings allgemeine synthetische Sätze konstruiert [Zus. B] werden müssen.« (KrV B 746)

Reine und empirische Anschauung stehen zum einen für zwei Verfahren: ein Bestimmen »nach den Bedingungen, entweder der empirischen Anschauung, oder der reinen Anschauung« (ebd.). Hierauf gründet Kant den Unterschied zwischen einer empirischen und reinen Erkenntnis (bzw. zwischen mechanischer und geometrischer Konstruktion). Zum anderen stehen sie für zwei Medien – wie wir aus B 741 wissen, »bloße Einbildung« und »Papier«. Sofern wir auf der Ebene des Verfahrens »nach den Bedingungen […] der reinen Anschauung« (KrV B 746) operieren, ist es gleichgültig, ob wir dies im Medium reiner Anschauung (d. h. der Einbildung) oder im Medium der empirischen Anschauung (d. h. auf dem Papier) tun. In letzterem Fall werden empirische Anschauungen so behandelt, als ob sie reine Anschauungen wären. Kant spricht hier etwa auch von der »Konstruktion der Gestalt, welche eine den Sinnen gegenwärtige (obzwar a priori zu Stande gebrachte) Erscheinung ist« (KrV B 299). Was bedeutet das ? Die Idee, dass empirische Anschauung entweder ›als empirische‹ oder ›als reine‹ funktionieren könnte, findet sich – wie bereits gesehen – schon bei Shabel. Ihre Antwort ist allerdings: Reine Anschauung ist empirische Anschauung plus Schematismus. Mit dem Schematismus ist allerdings lediglich die Darstellungsfunktion der Einbildungskraft angesprochen, nicht aber die Vergegenwärtigungsfunktion, und Kants Rekurs auf die Unterscheidung zwischen Einbildung und Papier wird durch Shabels Prämissen, wie dann mit Koriako festgestellt werden kann, überflüssig. Hier soll dagegen vorgeschlagen werden, den Ansatz Shabels weiterzuführen, allerdings mit einer Fokusänderung auf die Vergegenwärtigungsfunktion der Einbildungskraft. Zentraler Einsatzpunkt bei Shabel war die Unterscheidung von mechanischer und mathematischer Konstruktion. Beide Verfahren unterscheiden sich aber nicht nur in der Weise, wie ein Schema verwendet wird (dem ›Was‹ der Darstellung), sondern auch in der Weise, wie das Konstruierte zum Gegenstand wird (dem medialen ›Wie‹). Im Falle der mechanischen Konstruktion (dem Feststellen der Gleichheit von Winkeln durch Messen) sind die Bedingungen des Operierens insgesamt andere. Ich benötige für dieses Verfahren ein wirkliches gezeichnetes Dreieck, eine singuläre physische Materialspur, die ich mit ebenso physischen Messinstrumenten behandle. Eine derartige Abhängigkeit der Geometrie von mechanischen Werkzeugen und Operationen gibt es auch in der Auffassung Newtons.526 In diesem Fall 526

Vgl. Webb 1987.

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Teil II · Kant: Konstruktion

folgt die Konstruktion den Bedingungen zum experimentellen Umgang mit realen physischen Gegenständen, die immer nur empirische Sätze im Sinne einer Induktion geben können. Das Verfahren der geometrischen Konstruktion unterscheidet sich – wie Shabel feststellt – hiervon zunächst durch die Rolle des Schemas, das als Relevanzfilter fungiert. Aber warum betont Kant immer wieder, dass die »mechanische Zeichnung« auch in der geometrischen Konstruktion die reine Anschauung, d. h. die Einbildung »als ihr Muster […] voraussetzt« ?527 Die hier vorgeschlagene Antwort: Die Imagination ist in einer gewissen Hinsicht das paradigmatische Bildmedium.528 Eine physische Zeichnung auf der Tafel oder auf dem Papier, die ›nach den Bedingungen der reinen Anschauung‹ betrachtet wird, fungiert nicht als physikalischer Gegenstand oder Materialspur, sondern lässt sich – in der Terminologie phänomenologischer Bildtheorien – aufteilen in ein immaterielles Bildobjekt und einen materiellen Bildträger, auf dem dieses erscheint. Kants Argumentation bezüglich einer reinen Anschauung würde demnach auf die Eigenschaft von Bildern zielen, Präsenz von Substanzialität abzulösen, die sich paradigmatisch in der menschlichen Imagination verwirklicht. Deren Rolle wäre dann nicht die eines primären Erkenntnis­medi­ ums, sondern eines Prüfsteins: Kann ein Vorgang in der Imagination, also unabhängig vom einem bestimmten Realnexus der materiellen Welt durchgeführt werden, erfüllt er die Kriterien für ein Bildhandeln. Basale geometrische Operationen müssen nicht auf dem Papier stattfinden, sondern können in der Imagination durchgeführt werden, ohne dass deren epistemischer Wert beeinträchtigt wäre.529 Für physikalische Experimente, wie etwa eine Demonstration des Fallgesetzes oder der Knallgasreaktion, gilt dies gerade nicht: Hier ist der Kontakt mit der Materialität und Widerständigkeit der Welt entscheidend. Wir benötigen stets eine bestimmte materielle Versuchsanordnung, die Teil einer Verkettung und Wechselwirkung empirischer Ereignisse

527

Kästner-Rezension 411. Physiklosigkeit ist für Kant generell eine Eigenschaft von Einbildungen, wozu auch Träume gehören, wie diese Stelle aus dem Kontext der Kausalitätstheorie zeigt: »Soll also meine Wahrnehmung die Erkenntnis einer Begebenheit enthalten, da nämlich etwas wirklich geschieht: so muß sie ein empirisches Urteil sein, in welchem man sich denkt, daß die Folge bestimmt sei, d. i. daß sie eine andere Erscheinung der Zeit [|] nach voraussetze, worauf sie notwendig, oder nach einer Regel folgt. Widrigenfalls, wenn ich das Vorhergehende setze, und die Begebenheit folgte nicht darauf notwendig, so würde ich sie nur für ein subjektives Spiel meiner Einbildungen halten müssen, und stellete ich mir darunter doch etwas Objektives vor, sie einen bloßen Traum nennen.« (KrV B 246 f.) 529 Ebenfalls zu nennen wäre die Eigenschaft der Diagramme, »hinsichtlich ihrer konkreten stofflichen Präsenz auswechselbar« zu sein. Krämer 2016, 52. 528



Bildlogik und Medialität

ist.530 Würde man solche Experimente lediglich in der Imagination vorstellen, so fehlte jede epistemische Relevanz. Zusammengefasst: Der diagrammatische Operationsraum ist ein medialer Sonderraum, in dem die Gesetzmäßigkeiten empirischer Ereignisfolgen oder Experimente außer Kraft gesetzt sind. Dies zeigt sich daran, dass (de jure) reales Handeln auf dem Papier durch ein Operieren in der Imagination ersetzt werden kann, ohne dass die epistemische Geltung dieses Operierens wegfällt. Gegen Friedman, für den jedes individuelle Diagramm zugleich ein physisches Diagramm ist, wäre somit einzuwenden, dass auch gezeichnete Diagramme für Kant im mathematischen Beweis nicht als physische Gegenstände fungieren, sondern als artifizielle Präsenzen.531 Und gegen Koriako wäre einzuwenden, dass die Apriorität der Mathematik bei Kant zwei Quellen hat: die Reinheit der Begriffe ebenso wie die Physiklosigkeit des Operationsraums. Mit der These von der Imagination als dem paradigmatischen Bildmedium lässt sich auch der häufige Vorwurf eines epistemischen Mentalismus und Internalismus in Kants Mathematiktheorie adressieren. So kritisiert Stekeler-Weithofer mystifizierende Untertöne im Begriff ›reine Anschauung‹, etwa die Idee eines »bloß intuitive[n] Vorstellen[s]« oder einer »reine[n] Imagination«, und beharrt dagegen auf einem »im konkreten Fall immer prä­ sentischen Umgang […] mit Zahlsymbolen in der realen Anschauung«.532 Diese Betonung einer nicht imaginierten, sondern realen Anschauung hat sicher auch damit zu tun, dass Stekeler-Weithofer die Anschauung richtigerweise stark als ›geteilte Anschauung‹, d. h. vom sozialen Aspekt einer gemeinsamen, simultanen Sichtbarkeit her denkt. Auch für ihn gehört die Ausführ­ arbeit in der Imagination allerdings zum spontanen Charakter unserer symbolischen und bildlichen Praktiken: »Wir denken, wenn wir denken, immer in anschaulichen Symbolen und Bildern, die wir spontan (re)produzieren und dann auch, wie beim stillen Lesen, in uns selbst imaginieren können.«533 Eine 530

Die metaphysische Abwertung der Mathematik im Rationalismus, dass diese nur der Einbildungskraft angehöre, d. h. von imaginären und nicht realen Beziehungen handele, kann so vom metaphysischen Kopf auf die bildtheoretischen Füße gestellt werden. 531 Vgl. Friedman 2012, 254. 532 Hier mit Blick auf die Arithmetik. Stekeler-Weithofer 2008, 23. 533 Ebd. 49. Stekeler-Weithofer ist hierbei die Kritik an einer Position wichtig, derzufolge wir »mathematische Prinzipien oder Axiome auf der Basis einer gewissen Intui­ tion unmittelbar ›einsehen‹.« Stekeler-Weithofer 2008, 3. In der Rede von ›Intuition‹ verberge sich eine »vage Mischung zwischen realer Anschauung und subjektiver Vorstellung«, der es nicht gelinge, »das problematische ›psychologische‹ Element aus dem Begriff des ›intuitiven Einsehens‹ und damit aus ihrem ›phänomenologischen‹ Zugang angemessen auszuschließen«. Es geht ihm dabei um den Unterschied zwischen »einer bloß vorgestell­ ten, möglicherweise kontrafaktischen, Erfüllung solcher Normen und einer vernünftigen

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Teil II · Kant: Konstruktion

Möglichkeit, Kant gegen den Vorwurf der Überbetonung der Imagination zu verteidigen, liegt somit darin, dass er der Imagination zwar einen bestimmten Vorbildcharakter gibt, zugleich aber klar macht, dass Imagination und Zeichnung pragmatisch und epistemisch äquivalent sind, wobei ein Operieren in der Imagination vermutlich immer ein vorangegangenes Operieren in der realen Anschauung voraussetzt. Kant lässt sich so lesen, dass es ihm gerade nicht darum geht, ganze Beweise vollständig in der Imagination stattfinden zu lassen. Es reicht, dass sie ›nach den Bedingungen‹ der Imagination stattfinden, die hier pars pro toto für die Sphäre einer operativen Spontaneität des Bildhandelns steht. Eben diese Idee Kants, dass Zeichnung und Einbildung in mathematischen Beweisen pragmatisch äquivalent fungieren, lässt sich umgekehrt auch gegen Giaquintos Überbetonung der Sonderrolle der Imagination anführen.534 Grundsätzlich kann vermutet werden, dass die Imagination (als Vergegenwärtigung) insgesamt an allen unseren Bildpraktiken einen gewissen Anteil hat. In diesem Sinne schreibt Belting, »dass unsere Körper mit Medien kooperieren, um Bilder zu produzieren. Deshalb lässt sich auch der Doppelsinn im Bildbegriff schwer auflösen. Mit dem Gegensatz von inneren (mentalen) und äußeren (medialen) Bildern verbauen wir uns den Zugang zu den Prozessen von Wahrnehmung und Vorstellung. […] Die interne Repräsentation, um einen Begriff der Neurowissenschaft zu verwenden, hat als körpereigene Bilderzeugung fließende Grenzen zur externen Repräsentation, mit der uns die aktuellen Bildmedien prägen.«535 Derart fließende Grenzen zeigen sich etwa darin, dass man ein Dreieck ebenso auf das Papier, in den Sand oder mit dem Finger in die Luft zeichnen kann. Selbst die Idee einer gemeinsamen Anschauung setzt nicht unbedingt eine reale hingezeichnete Figur voraus. So kann man auf zwei beliebige Punkte im gemeinsamen Sichtfeld zeigen und etwa folgenderExtrapolation realer Möglichkeiten des formenden Handelns«. Ebd. 4. Im Sinne der hier vorgeschlagenen Lesart könnte argumentiert weden, dass die Konzeption der Imagination als Prüfstein einem solchen Vorwurf entgeht. 534 Vgl. Giaquinto: »Visualizing is most readily compared with seeing; seeing, in its primary role of providing observational evidence, cannot deliver this kind of geometrical knowledge; and it is felt that visualizing is no better than seeing. But if the account given here is correct, the comparison is misleading. While the experience of visualizing is similar to the experience of seeing, the epistemic role of visualizing can be utterly different from the primary, evidence-providing role of seeing.« Giaquinto 2007, 67. Giaquinto zielt dem Anschein nach ebenfalls auf den hier relevanten Unterschied zwischen der empirischen Beobachtung von Experimentalsystemen und der Anschauung im Sinne eines spontanen Bildhandelns. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass nicht nur die Imagination, sondern – sofern man z. B. der Auffassung phänomenologischer Bildtheorien folgt – Bilder generell die Eigenschaft der Physiklosigkeit haben. 535 Belting 2007, 50.



Bildlogik und Medialität

maßen anfangen: ›Schau auf diese Punkte und stell dir zwischen ihnen eine Linie vor …‹536. Es kommt in diesen Fällen nicht auf die Anwesenheit einer bestimmten Materie oder die Wirkung einer bestimmten Kraft an (wie etwa dann, wenn man das Rieselverhalten von Sand erforschen will, o. ä.), sondern darauf, dass durch bestimmte Bewegungen und Handlungen ein Zusammenhang gezeigt wird, der von einem Adressaten nachvollzogen werden kann. Selbstverständlich scheint hierbei, dass komplexere Zusammenhänge ohne eine schriftliche Aufzeichnung nicht auskommen.

5.3.3 Die zentrale Unterscheidung: Konstruktion vs. Experiment

Im Folgenden soll diese Lesart weiter plausibilisiert und untermauert werden. Die These bleibt: Kants Idee reiner Anschauung zielt auf die Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen epistemischen Operationsräumen – dem Realraum des empirischen Experiments als einer Anschauung a posteriori und dem medialen Sonderraum des diagrammatischen Kalküls als einer Anschauung a priori. Diese Unterscheidung wäre insbesondere gegen Peirce in Stellung zu bringen, der eher die Analogien zwischen beiden Erkenntnisformen betont, etwa wenn er schreibt, das diagrammatic thinking bestehe darin, ›Experimente mit Diagrammen anzustellen und die Resultate dieser Experimente zu beobachten‹.537 Gegen Peirce geht es im Folgenden vor allem um die Unterschiede von Experiment und Konstruktion. Zwischen Experiment und Konstruktion, empirischer und reiner, mechanischer und mathematischer Erkenntnis gibt es für Kant zwar eine entscheidende Parallele, aber auch einen ebenso entscheidenden Unterschied: »Wenn man von einem Begriffe synthetisch urteilen soll, so muß man aus diesem Begriffe hinausgehen, und zwar zur Anschauung, in welcher er gegeben ist. […] Ich kann aber von dem Begriffe zu der ihm korrespondierenden reinen oder empirischen Anschauung gehen, und, was dem Gegenstande derselben zukommt, a priori oder a posteriori zu erkennen. Das erstere ist die rationale und mathematische Erkenntnis durch die Konstruktion des Begriffs, das zweite 536 Dazu, dass die Ausführbarkeit jeder euklidischen Operation zunächst lediglich zwei arbiträre, auseinanderliegende Punkte braucht, vgl. Friedman 2012, 237, Fußnote. 537 Vgl. hierzu die vielzitierte Beschreibung: »By diagrammatic reasoning, I mean reasoning which constructs a diagram according to a precept expressed in general terms, performs experiments upon this diagram, notes their results, assures itself that similar experiments performed upon any diagram constructed according to the same precept would have the same results, and expresses this in general terms.« Peirce, Charles S. (1976): The New Elements of Mathematics, Bd. 4, Berlin, Boston: de Gruyter, 47 f.

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Teil II · Kant: Konstruktion

die bloß empirische (mechanische) Erkenntnis, die niemals notwendige und apodiktische Sätze geben kann.« (KrV B 749)

Die Parallele beider Erkenntnisformen besteht darin, aus der Anschauung epistemische Überschüsse zu generieren, d. h. eine synthetische Erkenntnis hervorzubringen. Der Unterschied besteht zunächst in ihrer Geltung: die einen Erkenntnisse sollen rational und notwendig sein, die anderen empirisch und kontingent. Dies hängt, so Kant, von der jeweils verwendeten Art von Anschauung (rein oder empirisch) ab. Die Unterscheidung verschiedener Anschauungstypen findet sich innerhalb der KrV in der transzendentalen Ästhetik. Das zentrale Instrument bildet hierbei die Form-Materie-Unterscheidung: »In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung« (KrV B 34). Der Unterscheid zwischen reiner und empirischer Anschauung basiert entsprechend auf der Idee, dass die Form »abgesondert von aller Empfindung […] betrachtet werden kann« (ebd.). Derartige Stellen scheinen die abstraktionstheoretische Lesart zu stützen: Kant scheint hier behaupten zu wollen, die geometrische Erkenntnis beruhe auf der abstrahierenden Purifikation von Wahrnehmungen zu reinen Anschauungen. Andere Fragen schließen sich an: Liegt hier nicht einfach, wie Koriako ebenfalls feststellt, eine »Hypostasierung der Reflexionsbegriffe Form/Materie« vor ?538 Wie kann eine solche Abtrennbarkeit der Form von der Materie erreicht werden ?539 538 »Daß nämlich die Form der sinnlichen Erscheinung von ihrer Materie überhaupt abtrennbar ist und als solche sinnvoll gedacht werden kann, ist keineswegs gesichert.« Koriako 1999, 117. Dazu, wie Kant in diesem Kontext den metaphysischen Grundsatz ›forma dat esse rei‹ umdeute, Carl, Wolfgang (2013): »Kants kopernikanische Wende«, in: Margit Ruffing; Claudio La Rocca; Alfredo Ferrarin; Stefano Bacin (Hg.): Kant und die Phi­ losophie in weltbürgerlicher Absicht: Akten des XI. Kant-Kongresses 2010, Berlin: De Gruyter, 163–178, 167 f. Zentral ist hierbei aber auch die Frage, wie Kants Rede, dass die Gesetze des Raums in einer Anschauung »a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes in uns angetroffen werden« (KrV B 41) müssen, nicht automatisch in einen Internalismus und Subjektivismus führt. 539 Diese reine Anschauung ergibt sich durch eine doppelte Reduktion oder Isolation aus empirischer Anschauung: Erstens ist von der »Vorstellung eines Körpers« abzusondern »was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit etc.«, nämlich das­ jenige, was nur Gegenstand einer philosophischen Erkenntnis ist; und das, »was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc.« (KrV B 35); dann bleibt noch übrig: »Ausdehnung und Gestalt« (ebd.) und über diese verfügen wir auch a priori. Ausdehnung und Gestalt »gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.« (ebd.)



Bildlogik und Medialität

Zunächst gilt es, den Begriff ›Materie‹ zu klären. Eine Möglichkeit wäre es, Kants Form-Materie-Unterscheidung in der Nachfolge von Lockes Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten zu interpretieren: Form als apriorischer und ›objektiver‹, Materie oder Empfindung als ›subjektiver‹ Anteil. Dies legen etwa Formulierungen nahe wie: »Die Qualität der Empfindung ist jederzeit bloß empirisch, und kann a priori gar nicht vorgestellet werden (z. B. Farben, Geschmack etc.)« (KrV B 217). Ein analoges Schema findet sich auch in den kunsttheoretischen Überlegungen des § 14 der KU, wo die Privilegierung des Formaspekts einen deutlich klassizistischen Zug aufweist. In der bildenden Kunst sei »die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz […]«.540 Hier liegt der Gedanke an die Theorie des disegno als Inspirationsquelle nahe.541 Will man die reine Anschauung abstraktionstheoretisch lesen, könnte man sich auf diese Stellen beziehen: Kant würde dann die reine Anschauung als ein Vermögen entwerfen, das von partikulären ›materiellen‹ Eigenschaften, wie etwa der Farbe eines Dreiecks, zugunsten des epistemisch relevanten Formaspekts abstrahiert. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist hier allerdings Koriako zuzustimmen, dass eine solche Leistung allein durch schematische Restriktion zu erklären ist, nicht aber durch die Vergegenwärtigungsfunktion der Einbildungskraft. Die soeben skizzierte Lesart des Materiebegriffs kann deflationär genannt werden. Materie meint hier etwas in schlechter Weise Subjektives und daher zu Vernachlässigendes. Demgegenüber kann festgestellt werden, dass der Materiebegriff in der KrV einen emphatischen Sinn hat, nämlich den von sub­stanzieller Anwesenheit und Widerständigkeit. So schreibt Kant in der Methodenlehre, die transzendentale Ästhetik wieder aufnehmend, in der Erscheinung seien »zwei Stücke«: »die Form der Anschauung (Raum und Zeit), die völlig a priori erkannt und bestimmt werden kann, und die Materie (das Physische), oder der Gehalt, welcher ein Etwas bedeutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein enthält und der Empfindung korrespondiert« (KrV B 751). Die Begriffe des ›Physischen‹, des ›Etwas‹ 540 KU B 42. Hierbei werden ebenfalls die Termini ›Form‹ und ›rein‹ assoziiert: die Unterscheidung von reiner und anhängender Schönheit wird auf die von Form und Materie der Wahrnehmung zurückgeführt. Vgl. in diesem Kontext: »Die konische Gestalt wird man ohne alle empirische Beihülfe, bloß nach dem Begriffe, anschauend machen können, aber die Farbe dieses Kegels wird in einer oder anderer Erfahrung zuvor gegeben sein müssen.« KrV B 743. 541 Vgl. etwa Otto 2007, 92 ff. Dieser nennt Descartes’ ›simplex figurae conceptus‹ als eine vom Kupferstich abgelesenen Bildkonzeption.

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und des ›Daseins‹ zeigen an, dass der entsprechende Materiebegriff durch die Unterscheidung von disegno und colore nicht einzufangen ist. Entscheidend ist vielmehr die Differenz von Mathematik und Physik, wird doch der Begriff der Materie in Kants Theorie der Physik zum zentralen Thema und Problem.542 Bei der Materie handelt es sich um ein Dasein, das gerade nicht a priori konstruiert, sondern nur rezeptiv erfahren werden kann.543 Was in den sogenannten ›mathematischen‹ Grundsätzen zunächst als nicht axiomatisierbarer und nur begrenzt antizipierbarer Anteil der Erfahrung identifiziert wird, wird dann in den ›Analogien der Erfahrung‹ der KrV zentrales Thema und in den MAN in einer naturphilosophischen Theorie der Materie weiter ausgeführt. Wie Lyre hierzu zusammenfassend feststellt: »Im Materiebegriff zeigt sich das Kontingente der Natur.«544 Materie ist also der Inbegriff der aposteriorischen Anschauung, die prinzipiell denkfremd ist und auf Rezeptivität beruht. Damit unterscheidet sie sich von der auf Spontaneität beruhenden apriorischen Anschauung (vgl. Kapitel II.1.3). Genau diese Momente einer Rezeptivität, substanziellen Anwesenheit und Widerständigkeit sind zentral für die empirischen Experimentalwissenschaften, die Kant auch als »mechanische Erkenntnis« (KrV B 749) bezeichnet. Wie bei der Konstruktion beruht diese auf einer Exteriorisierung, einem »[H] inausgehen« über den Begriff »zu der Anschauung, die ihm korrespondiert« (KrV B 750).545 Der experimentierende Naturwissenschaftler (wie etwa Galilei oder Toricelli) wird hierbei zum Herausforderer der Natur, so Kants Bild eines »bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt« (KrV B XIII).546 Demgegenüber ist der Raum als Grundlage der 542 So versuchen die MAN eine apriorische Theorie der Materie am Leitfaden der Begriffe Beweglichkeit, Raumerfüllung, Kraft und Erscheinung. Zentrale Idee hierbei ist, dass sich die Materie als Daseiendes nicht mathematisch konstruieren lässt: »Eigent­ lich so zu nennende Naturwissenschaft setzt zuerst Metaphysik der Natur voraus; denn Gesetze, d. i. Prinzipien der Notwendigkeit dessen, was zum Dasein eines Dinges gehört, beschäftigen sich mit einem Begriffe, der sich nicht konstruieren läßt, weil das Dasein in keiner Anschauung a priori dargestellt werden kann.« (MAN A VII) 543 Diese ursprüngliche Denkfremdheit des materiellen Daseins der Welt drückt sich innerhalb des transzendentalphilosophischen Projekts unter anderem dadurch aus, dass ›Sein‹ kein reales Prädikat ist. 544 Lyre, Holger (2006): »Kants ›Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft‹: gestern und heute«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54, 401–416, 403. Zu Intention der MAN generell vgl. auch Friedman 1992. 545 »Ich kann aber von dem Begriffe zu der ihm korrespondierenden reinen oder empirischen Anschauung gehen, um ihn in derselben in concreto zu erwägen, und, was dem Gegenstande desselben zukommt, a priori oder a posteriori zu erkennen.« KrV B 749. 546 Auch hier ist kein bloßes Hinsehen gemeint, sondern ein ›konstruktives‹ oder konstruktivistisches Moment für die kantische Auffassung wesentlich. Ein solches Expe-



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geometrischen Erkenntnis »nicht eine Beschaffenheit der Dinge außer mir, sondern eine bloße Vorstellungsart in mir«.547 Auch wenn die geometrische Erkenntnisform, wie sich argumentieren lässt, dennoch auf Externalisierung beruht, so doch nicht im Sinne einer vom Subjekt unabhängigen Natur, sondern mit Blick auf die dem Subjekt selbst anhängende Anschauungsform.548 Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen empirischem Experiment und mathematischer Konstruktion besteht darin, dass ersteres immer an eine bestimmte Materialität gebunden ist, letztere hingegen in einem beliebigen Bildmedium spontan ausgeführt werden kann.549 Für das Experiment gilt: »Ich nehme aber die Materie […] und stelle mit ihr Wahrnehmungen an, welche mir verschiedene synthe[/]tische, aber empirische Sätze zur Hand geben werden« (KrV B 749 f.). Die Materie kann aber »niemals anders auf bestimmte Art, als empirisch gegeben werden« (KrV B 751): Kugeln, Luft, Wassersäulen, Kalk und Metalle.550 Gesucht wird dabei eben der ›Widerstand des Objekts‹ (Hegel), d. h. gerade der in den Objekten wirksame Nexus von materieller Beharrlichkeit, Kausalkraft und Verstricktheit. Kants Auffassung, dass die geometrischen Formen »a priori und ohne alle empirische Data in der reinen Anschauung bestimmt gegeben« (KrV B 752) werden können, bedeutet entsprechend nicht, dass sie in einem bestimmten höheren Grad der Purifizierung vorlägen oder dergleichen, sondern, wie Kants Beharren auf der pragmatischen Äquivalenz von Einbildung und Zeichnung zeigt, dass sie eben keine bestimmte Materie voraussetzen. Sie können in jedem geeigneten materiellen Medium – sogar der körpereigenen Imagination – ausgeführt werden. In der Sprache moderner Bildtheorie: Die Materialität des Mediums (Sand, Tafel, Körper) ist materieller Träger eines immateriellen Bildobjekts. rimentieren zielt auf nach einem »vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen«. KrV B XIII. 547 KU B 276. 548 In diesem Sinne kritisiert Kant die Idee, von der Zweckmäßigkeit, die sich im geometrischen Operieren zeigt, auf einen externen, zweckesetzenden Schöpfergott zu schließen. Derartige Vorstellungen von der Mathematik als Ausdruck einer Harmonie der Schöpfung können als Produkt einer Art des ›diagrammatischen Scheins‹ identifiziert werden: Weil die Mathematik synthetisch ist, verwechseln wir die von uns selbst hineingebrachte Zweckmäßigkeit mit einer empirisch vorgefundenen Zweckmäßigkeit, die nur mit Blick auf einen externen zweckesetzenden Verstand zu erklären wäre. Vgl. hierzu KU § 62 sowie Vornehmer Ton A 391 ff. 549 Vgl. zu diesem Punkt erneut Krämer 2016, 52. 550 »Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Toricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wieder[/]um in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab«. KrV B XII.

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Hiermit gehen eine ganze Reihe anderer Unterschiede von Experiment und Konstruktion einher. Bringt die Naturwissenschaft »die Erscheinungen dem realen Inhalte nach unter Begriffe« (KrV B 751), so handelt die Mathematik lediglich davon, wie »Erscheinungen ihrer bloßen Möglichkeit nach […] nach Regeln einer mathematischen Synthesis erzeugt werden können« (KrV B 221). Die Mathematik handelt also nicht von rezeptiv erfahrenem Dasein, sondern – so Stekeler-Weithofer Kant paraphrasierend – von »Möglichkeiten des formenden Handelns«.551 Das empirische Experiment erzeugt ein singuläres Ereignis, das stets auch anders ausfallen könnte und das in seiner Faktizität in einem Versuchsprotokoll festgehalten werden muss. In der Folge haben wir es stets nur mit einer Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen und damit bloß induktiver Gewissheit zu tun. Die diagrammatische Konstruktion beruht auf einem allgemeinen Verfahren, auf der Ausführung von Handlungen, die wir jederzeit in verschiedenen materiellen Medien, ohne auf eine bestimmte Materialität angewiesen zu sein, spontan hervorbringen können.552 Die oft festgestellte Zeit- und Geschichtslosigkeit geometrischer Konstruktionen kann daher auch so beschrieben werden, dass wir es hier nicht mit singulären, beobachtbaren Ereignissen zu tun haben, sondern mit wiederholbaren Routinen einer menschlichen Praxis.

5.3.4 Medienspezifik: Raumrelationen vs. physikalische Relationen

Im Zentrum der Betrachtung Kants stand bisher die Abgrenzung von intuitivem und diskursivem Vernunftgebrauch, d. h. der anschaulich-synthetischen Geometrie und der begrifflich-analytischen philosophischen Erkenntnis. Kapitel II.5.1.1 hat gezeigt, dass Raumrelationen im diagrammatischen Denken eine Funktion haben, die das Register begrifflicher Prädikation nicht erfüllen kann: Das topologische Außereinander verschiedener Orte erlaubt es, Gleiches mehrfach zu instantiieren. Hierauf beruhen wiederum jene mereolo551

Stekeler-Weithofer 2008, 4. Zu einer solchen Unterscheidung von Verfahren und empirischem Ereignis vgl. auch Krämer zum Handeln im Rahmen operativer Kalküle generell: »Eine Handlung in der Perspektive des Schemas, welches sie realisiert, zu beschreiben, heißt: diese Handlung konstituiert keinen Eigen-Sinn; sie gilt nicht als ein Ereignis, das den Charakter einer Geschichte hat, sondern entlehnt ihre Bedeutung der Einhaltung eines Schemas. Sie wird dadurch zu einem Verfahren.« Krämer 1988, 2. Auch Stekeler-Weithofer betont den Verfahrenscharakter, wodurch die Geometrie gerade nicht auf »empirisch durch Einzelbeobachtungen bestätigte[] oder widerlegbare[] Aussagen über den Raum« (Stekeler-Weithofer 2008, 24) reduzierbar ist bzw. auf bloß »induktive Verallgemeinerungen passiver Beobachtungen« (ebd. 22). 552



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gischen Teil-Ganzes-Verhältnisse und quantitativen Äquivalenzverhältnisse, die für das geometrische Denken entscheidend sind. Kants Bestimmung der Medienspezifik geometrischen Erkennens ist aber erst dann vollständig, wenn auch die Unterscheidung von Konstruktion und Experiment berücksichtigt wird. Ab 1775 gewinnt diese Differenz für Kant eine entscheidende systematische Bedeutung im Begriffspaar von Konstruktion und Exposi­ tion.553 Auch hier verläuft der Unterschied zwischen einem anschaulichen und einem diskursiven Denken: Die mathematische Synthesis ist zu »einer intuitiven«, die dynamische hingegen »einer bloß diskursiven […] Gewißheit fähig« (KrV B 201). Meint die erste Formulierung den ›intuitiven Vernunftgebrauch‹ der Mathematik, so haben wir es im zweiten Fall mit jenem in Kapitel II.2.2.1 besprochenen diskursiven Verstand zu tun, der die aposteriorische Anschauung unter allgemeine Begriffe bringt.554 Der Unterschied zwischen diesen Erkenntnisformen korrespondiert hierbei der unterschiedlichen Struktur ihrer Gegenstandsbereiche: »Die Form der mathematischen Erkenntnis ist die Ursache, daß diese lediglich auf Quanta gehen kann. Denn nur der Begriff von Größen läßt sich konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung darlegen« (KrV B 742). Grundlage für die Unterscheidung von mathematischer und empirischer Erkenntnis ist die Unterscheidung der transzendentalen Logik zwischen den mathematischen und den dynamischen Kategorien und Grundsätzen. Die mathematischen Grundsätze, die so heißen, weil sie »die Mathematik auf Erscheinungen anzuwenden berechtigten«, gehen »auf Erscheinungen ihrer bloßen Möglichkeit nach«, nämlich »wie sie […] nach Regeln einer mathematischen Synthesis erzeugt werden können« (KrV B 221). Die quantitativen Relationen von extensiver und intensiver Größe erlauben einen konstitutiven Gebrauch, weil ihr

553 Der Begriff der Konstruktion wird bedeutend um 1775 als Terminus für die mathematische Aktivität und »gewinnt […] seine systematische Relevanz als Gegenbegriff zum Begriff der Exposition: wie die Konstruktion eine genau umschriebene epistemische Funktion in bezug auf Erkenntnisse aus reiner Anschauung hat, so die Exposition in bezug auf Erkenntnisse aus empirischer Anschauung. Die Prinzipien der Exposition heißen nun ›reine Verstandesbegriffe‹ oder Kategorien, die Prinzipien der Konstruktion sind die mathematischen oder reinen sinnlichen Begriffe.« Koriako 1999, 212. Die physikalische Erkenntnis ist allerdings auch mit der philosophischen verknüpft: Die Theorie der Substanzen, die in der Inauguraldissertation noch im Sinne einer metaphysischen Ontologie als rein rationale, d. h. philosophische Erkenntnis verfasst ist, wird später zur Theorie reiner Verstandesbegriffe, genauer der sogenannten Relationskategorien, die für die Physik leitend sind. 554 Auch für Hegel ist die Abgrenzung von diesem Modell entscheidend. Vgl. Hegel Kapitel III.2.1.1.

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Gegenstand stets in einem beliebigen Medium mathematisch konstruiert, d. h. axiomatisiert und antizipiert werden kann. Die Physik hat es hingegen mit einem anderen Typus von Relationen zu tun, die Kant als sogenannte ›Relationskategorien‹ zusammenfasst: Substanz, Kausalität, Wechselwirkung. Diese Grundbegriffe der Physik betreffen die dynamische Verknüpfung von Ereignissen der empirischen Welt. Sie handeln nicht wie die Grundbegriffe der Mathematik von einer bloß möglichen Synthesis, sondern von einem »Dasein« bzw. sollen »das Dasein der Erscheinungen a priori unter Regeln bringen« (ebd.). Dieses lässt sich »nicht konstruieren« (ebd.), und insofern werden die entsprechenden Grundsätze »nur auf das Verhältnis des Daseins gehen, und keine andre als bloß regulative Prinzipien abgeben können« (KrV B 222). Kausale Verknüpfungen können nicht, wie etwa der Winkelsummensatz, in einem Bildmedium apriorisch-modellhaft antizipiert werden. Sie erlauben nur eine empirische Exposition, d. h., sie können nur anhand eines realen Ereignisses demonstriert werden, wie man es in der Natur vorfinden oder auch selbst z. B. mit Billardkugeln erzeugen kann. Hier ist nämlich vorausgesetzt, dass es in den Dingen eine wirkende Verknüpfung gibt, die nicht einer »unmittelbare[n] Evidenz« (KrV B 200) zugänglich ist, sondern in der Erfahrung, a posteriori beobachtet werden muss. Die dynamischen Grundsätze bzw. Relationskategorien erlauben entsprechend keine apriorische Konstruktion, sondern lediglich eine empirische Exposition. Kants Argumentation beruht hier offenbar durchgehend auf der Voraussetzung, dass die geometrische Erkenntnis nicht nur Wissenschaft von Raumrelationen ist, sondern diese auch als ihr Medium voraussetzt. Das bedeutet, dass nicht nur die mathematischen Relationen unabhängig von physikalischen Relationen sind, sondern auch das Denken über mathematische Relationen unabhängig davon ist. Anders gesagt ist das geometrische Denken zwar auf etwas im Raum angewiesen, aber nicht im Sinne des Daseins einer materiellen Präsenz, sondern im Sinne von Handlungsmöglichkeiten. In dieser Hinsicht beruht die Apriorität der mathematischen Erkenntnis nicht allein darauf, dass die mathematischen Begriffe reine Begriffe sind, denn dies gilt für Kant etwa auch für den reinen Verstandesbegriff der Kausalität. Stattdessen beruht die Apriorität zugleich darauf, dass die entsprechenden Raumrelationen nicht an Ereignissen beobachtet werden, sondern durch ein spontanes motorisches Handeln jederzeit und überall von uns hervorgebracht werden können.555 555 Vgl. hierzu erneut Stekeler-Weithofer zur »Unterscheidung zwischen apriorischen Urteilen über ein aktives Können und aposteriorischen Urteilen über passiv Erfahrenes«. Stekeler-Weithofer 2008, 53.



Bildlogik und Medialität

Die prägnanteste Unterscheidung von Konstruktion und Exposition gibt uns Kant in Bezug auf die Relationen, die sie zum Inhalt haben, und zwar im Begriffspaar von Zusammensetzung und Verknüpfung, lateinisch: com­ positio und nexus.556 Dies sind zwei grundsätzlich verschiedene Arten der Synthesis. Exemplarisch für ein Verhältnis der Komposition sind zwei Dreiecke, die entstehen, wenn ein Quadrat durch die Diagonale geteilt wird.557 Es handelt sich hierbei um die Synthesis des »Gleichartigen« das zugleich »nicht notwendig zu einander gehört« (KrV B 201 Anm.). Hiermit sind zwei Eigenschaften mathematischer Erkenntnis genannt, die für Kant entscheidend sind: zum einen die rein quantitative Perspektive einer ›Gleichgültigkeit‹, die alle qualitativen Unterschiede nivelliert, zum anderen die Austauschbarkeit und Verrechenbarkeit dessen, was nicht notwendig zueinander gehört. Die Beziehungen im Operationsraum der Komposition lassen sich daher »willkürlich« (ebd.) herstellen und wieder auflösen. Paradigmatisches Beispiel für den Nexus ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Diese Synthesis ist die zwischen etwas, was auch »ungleichartig« sein kann, zugleich aber »not­ wendig zu einander« gehört (ebd.).558 Ursache und Wirkung sind einerseits nicht Aspekte des einen, homogenen Selben. Zum anderen verbindet sie eine Art der Determination, die sich im bloß kompositorischen Zusammenhang der mathematischen Raumgebilde nicht findet. Eben dies scheint der Grund zu sein, weshalb sie kein freies Operieren erlauben: Nexus steht für diejenigen intransparenten Kräfteverhältnisse des Physikalischen, die nicht durch diagrammatisches Bildhandeln antizipiert werden können. Sie können lediglich diskursiv erkannt (im Sinne der Gewissheit reiner Verstandesbegriffe) und empirisch beobachtet (durch Experimente) werden.559 556 »Alle Verbindung (coniunctio) ist entweder Zusammensetzung (compositio) oder Verknüpfung (nexus).« KrV B 201 Anm. 557 Zusammensetzung oder compositio »ist die Synthesis des Mannigfaltigen, was nicht notwendig zu einander gehört, wie z. B. die zwei Triangel, darin ein Quadrat durch die Diagonale geteilt wird, für sich nicht notwendig zu einander gehören, und dergleichen ist die Synthesis des Gleichartigen in allem, was mathematisch erwogen werden kann«. Ebd. 558 Nexus ist »die Synthesis des Mannigfaltigen, so fern es notwendig zu einander gehört, wie z. B. das Akzidens zu irgendeiner Substanz, oder die Wirkung zu der Ursache,  – mithin auch als ungleichartig doch a priori verbunden vorgestellt wird, welche Verbindung, weil sie nicht willkürlich ist, ich darum dynamisch nenne, weil sie die Verbindung des Daseins des Mannigfaltigen betrifft (die [|] wiederum in die physische der Erscheinungen untereinander, und die metaphysische, ihre Verbindung im Erkenntnisvermögen a priori eingeteilt werden können).« Ebd. 559 Tabellarisch lässt sich dies nach Stichworten so zusammenfassen: Mathematische Relationen – notwendige Bedingungen der Anschauungen – compositio – gehört nicht notwendig zusammen, nur willkürlich  – Gleichartiges  – konstruierbar; Dynamische

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Genauer lassen sich die Eigenschaften des Nexus an den drei Relations­ kategorien Substanz, Kausalität, Wechselwirkung verdeutlichen, die für Ereignisfolgen der empirischen Welt immer gelten müssen und das Physikalische darin ausmachen.560 Dabei soll Kants Diskussion dieser Kategorien dazu dienen, einmal durchzuspielen, durch welche Eigenschaften sich physikalische Experimentalsysteme und physiklose Bildräume unterscheiden lassen. (a) Der Grundsatz der Substanz lautet: »Bei allem Wechsel der Erscheinun­ gen beharret die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert« (KrV B 224). Damit eine physikalische Erkenntnis möglich ist, muss gelten: ›ex nihilo nihil fit‹, es gibt keine Schöpfung aus dem Nichts. Für die physiklosen Bildobjekte kann man stattdessen feststellen: Um eine Figur zu erzeugen, muss ich nicht woanders eine Figur oder deren Bestandteile wegnehmen, jede Figur kann beliebig vergrößert, verkleinert oder wieder ausgelöscht werden etc. Es gibt kein Problem begrenzter materieller Ressourcen. (b) Der Grundsatz der Kausalität lautet: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung« (KrV B 232). Damit kausale Gesetzmäßigkeiten in der Natur erkannt werden können, sind Relationen  – zufällige Bedingungen des Daseins  – nexus  – gehört notwendig zusammen (nicht willkürlich) – Ungleichartiges – nicht konstruierbar, sondern nur empirisch aufsuchbar. Vgl. hierzu auch Koriako: »Kant führt daher […] zwei neue Stichworte ein: Vergleichung und Verknüpfung als die beiden Hauptklassen der Relationen überhaupt. Damit wird die Differenz zwischen realem und idealem Nexus erfaßt: Vergleichungen sind ideale Relationen, die sich auf dem Grund beliebiger Betrachtungsweisen ergeben, Verknüpfungen betreffen die Relata in ihrem Bestand. Daß Hans größer als Peter ist, ist eine ideale Relation, daß Hans Vater von Peter ist, eine reale.« Koriako 1999, 140. 560 Vgl. hierzu Krämer: »In der Lebenswelt vollzogene Handlungen unterliegen den Gesetzen der Schwerkraft und der Unumkehrbarkeit der Zeitrichtung. Ein Baum, der gefällt ist, kann nicht wieder zurückgepflanzt, das ausgesprochene Wort nicht wieder zurückgenommen werden. Doch ein soeben hingeschriebener Satz kann umgeformt, er kann gelöscht werden. Die bemalte und beschriftete Fläche ist im Akt des Schreibens und Malens der Irreversibilität der Zeit enthoben: Was eingezeichnet, was aufgezeichnet wird, ist im Entstehungsprozess korrigierbar. Als körperliche Wesen sind wir der Macht der Zeit unterworfen; doch die inskribierte Fläche stiftet – jedenfalls ein kleines Stück weit – Macht über die Zeit.« Krämer 2016, 14 f. Vgl. ebenfalls Koriako, der diesen Zusammenhang beschreibt, aber keine weiteren – vor allem keine bildtheoretischen – Schlussfolgerungen daraus zieht: »[D]ie genuin metaphyischen Begriffe wie Substanz, Kausalität etc. sind in Mathematik nicht applikabel, weil in dieser Wissenschaft die Erscheinungen nicht als wirkliche thematisiert werden, sondern nur als mögliche. Daraus folgt, daß die mathematischen Sachverhalte nur ›ideal‹ sind  – willkürliche Erdichtungen, deren Begriffe nicht vom erscheinenden Wirklichen abstrahiert werden müssen. Denn wir müssen nicht darauf warten, daß uns ein Dreieck erscheint, um den Begriff des Dreiecks bilden zu können.« Koriako 1999, 211.



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für Kant zwei Prinzipien entscheidend: einerseits die Unumkehrbarkeit der Zeitreihe, andererseits das notwendige Folgeverhältnis zwischen Ursache und Wirkung.561 Das erste Prinzip beschreibt Kant an der Bewegung eines Schiffes, das einen Strom hinabtreibt. Die Wahrnehmung dieses Ereignisses ist an eine bestimmte Zeitfolge gebunden, die es unmöglich macht, dass ich das Schiff zuerst stromabwärts, dann stromaufwärts sehe. Demgegenüber ist es, wie Kant feststellt, bereits bei der statischen Betrachtung der Gestalt eines Hauses egal, ob diese oben oder unten, rechts oder links anfängt (KrV B 237 f.). Dasselbe gilt wie hinzuzufügen wäre für das Handeln im Bild: Jede Operation oder Handlung (Verlängern, Klappen etc.) ist reversibel, und jede Relation lässt sich immer von zwei Seiten betrachten. Zugleich bestehen zwischen den Elementen der mathematischen Konstruktion nur Verhältnisse der Äquivalenz, nicht aber der kausalen Verursachung: »Die geometrische Konstruktion erfordert, daß eine Größe mit der andern, oder zwei Größen in der Zusammensetzung mit einer dritten einerlei sein, nicht daß sie als Ursachen die dritte hervorbringen, welches die mechanische Konstruktion sein ­w ürde«.562 (c) Der Grundsatz der Wechselwirkung schließlich lautet: »Alle Substanzen, so fern sie im Raume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung« (KrV B 256). Damit eine physikalische Erfahrungserkenntnis möglich ist, ist es erforderlich, dass alles materielle Dasein in »dynamischer Gemeinschaft (unmittelbar oder mittelbar)« (KrV B 260) steht, es also keine Brüche, abgekoppelten Blasen oder Sonderräume gibt: »Ohne Gemeinschaft ist jede Wahrnehmung (der Erscheinung im Raume) von der andern abgebrochen, und die Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung, würde bei einem neuen Objekt ganz von vorne anfangen, ohne daß die vorige damit im geringsten zusammenhängen, oder im Zeitverhältnisse stehen könnte« (KrV B 260 f.). Die Eigenschaft, diesen kontinuierlichen Nexus des Realen gerade zu durchbrechen (und auch beliebig von vorne anzufangen), wird von phänomenologischen Bildtheorien als eine zentrale Fähigkeit von Bildern bzw. des Imaginären überhaupt begriffen, etwa im Topos einer ›Freiheit des Bildens‹.563 Sie scheint aber auch für die epistemologische Leistungsfähigkeit diagrammatischer Kalküle entscheidend, weil hiermit Störungen und Fehlerquellen ausgeschlossen sind, die sich typi561 »[D]aß ich erstlich nicht die Reihe umkehren, und das, was geschieht, demjenigen voransetzen kann, worauf des folgt; zweitens daß, wenn der Zustand, der vor[/]hergeht, gesetzt wird, diese bestimmte Begebenheit unausbleiblich und notwendig folge.« KrV B 243 f. 562 MAN A 25. 563 Vgl. diese Formulierung im Titel von Jonas 1994.

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scherweise bei empirischen Experimentalanordnungen und Maschinen finden. Experimente können gestört werden, weil sie von empirischen Rahmenbedingungen abhängen, wie z. B. im Physikunterricht. Wenn dort ein Versuch nicht funktionierte, war typischerweise die Luftfeuchtigkeit schuld. Solche Interferenzen mit physikalischen Rahmenbedingungen sind im Tafelbild des Mathematikunterrichts ausgeschlossen. Auch Insekten können zwar in Rechenmaschinen hineinfliegen und dort Kurzschlüsse auslösen, nicht aber in den bildlichen Sonderraum des Diagramms.564 Dies ändert sich nicht dadurch, dass diese physikalischen Grundsätze für dasjenige gelten, was Kant die ›mechanische Zeichnung‹ nennt, also die Ebene der materiellen Manipulation eines Bildträgers. Wir können Striche auf dem Papier nur erzeugen, indem das Quantum Graphit im Bleistift kleiner wird (Substanz). Dies ist nur in eine Richtung möglich, denn wir können das Graphit vom Papier nicht in den Bleistift zurückbringen (Kausalität). Das Graphit haftet, weil sich Stift und Papier nicht nur mathematisch, sondern auch physikalisch berühren, d. h., auf das Papier wird mittels meiner Muskelkraft ein Druck ausgeübt, was wiederum nur mit einer Unterlage funktioniert; das Papier kann sich durch Feuchtigkeit wellen etc. (Wechselwirkung). Zentral ist aber, dass es möglich ist, die Zeichnung in zwei verschiedenen Hinsichten zu betrachten: zum einen nach den Bedingungen der empirischen Anschauung als materiellen Bildträger, zum anderen nach den Bedingungen der reinen Anschauung. Hier erscheint die physische Materialspur der Zeichnung als materieller Träger für ein immaterielles Bildobjekt, das diesen Grundsätzen selbst nicht unterliegt. Inwiefern sich jeweils die operativen Möglichkeiten in Experiment und Diagramm unterscheiden, zeigt schließlich Kants Diskussion der Begriffe ›Präsenz‹, ›Berührung‹ und ›Bewegung‹, die in den unterschiedlichen Kontexten von Geometrie und Physik, apriorischer und empirischer Anschauung jeweils einen anderen Sinn annehmen. Besonders aufschlussreich sind hierbei Kants Aussagen in Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. (a) Zu unterscheiden sind zunächst zwei Modi von »Gegenwart«565 oder Präsenz: das Einnehmen und das Erfüllen eines Raumes. Von der »geome­tri­ schen Figur« kann man, so Kant, sagen, »sie nimmt einen Raum ein (sie ist ausgedehnt)«.566 In ihrer Präsenz übt sie allerdings keine Wirkung auf den sie 564 Allenfalls kann sich ein Insekt auf das Papier als materiellen Bildträger setzen. Vgl. zum ›Bug‹ als Problem von Rechenmaschinen und generell zu einer Theorie störender Insekten: Rautzenberg, Markus (2009): Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, Zürich, Berlin: Diaphanes. 565 MAN A 32. 566 Ebd.



Bildlogik und Medialität

umgebenden Raum aus, denn sie befindet sich in einem »Raum ohne Materie«.567 Für ein empirisches, materielles Objekt gilt hingegen, dass es nicht nur einen Raum einnimmt, sondern diesen darüber hinaus auch erfüllt.568 Es entspringt »eine Wirkung aus dieser Gegenwart […] andern zu widerstehen, die hineinzudringen bestrebt sein«, oder auch durch Anziehungskraft »anderes Bewegliches« zu »nötig[en], tiefer in denselben einzudringen«.569 Die Präsenz des empirischen Objekts ist also verbunden mit Kräften der Abstoßung und Anziehung, während die Präsenz der geometrischen Figur – als immateriellem Bildobjekt – in keiner Wechselwirkung mit realen Gegenständen steht. Mit Wiesing gesprochen: »Die Implikation von Präsenz und Substanzialität löst sich im Bild auf.«570 (b) Einen analogen Unterschied macht Kant zwischen mathematischer und physikalischer Berührung: In »mathematischer Bedeutung« ist die »Berührung […] die gemeinschaftliche Grenze zweier Räume, die also weder innerhalb dem einen, noch dem anderen Raum ist«.571 Ein Beispiel ist etwa die Tangente, die den Kreis berührt. Für die »physische[]« Berührung kommt darüber hinaus »noch ein dynamisches Verhältnis und zwar nicht der Anziehungskräfte, sondern der zurückstoßenden, d. i. der Undurchdringlichkeit« hinzu: »Physische Berührung ist Wechselwirkung der repulsiven Kräfte in der gemeinschaftlichen Grenze zweier Materien«.572 (c) Und schließlich können auch zwei Modi der Bewegung unterschieden werden: »Bewegung, als Handlung des Subjekts« und »als Bestimmung eines Objekts« (KrV B 154 f.). Letztere ist die »Bewegung eines Objekts im Raume, die nur durch Erfahrung erkannt werden kann«. Eine solche Bewegung gehört »nicht in die Geometrie« (KrV B 155 Anm.).573 Kant stellt also zum einen fest, 567

Ebd. Ebd. »[E]inen Raum erfüllen [ist] eine nähere Bestimmung des Begriffs: einen Raum einnehmen.« Ebd. 569 »Weil aber in diesem Begriffe [einen Raum einnehmen] nicht bestimmt ist, welche Wirkung oder ob gar überall eine Wirkung aus dieser Gegenwart entspringe, ob andern zu widerstehen, die hineinzudringen bestrebt sein, oder ob es bloß einen Raum ohne Materie bedeute, so fern er ein Inbegriff mehrerer Räume ist, wie man von jeder geometrischen Figur sagen kann, sie nimmt einen Raum ein (sie ist ausgedehnt), oder ob wohl gar im Raume etwas sei, was ein anderes Bewegliches nötigt, tiefer in denselben einzudringen (andere anzieht), weil, sage ich, durch den Begriff des Einnehmens eines Raumes dieses alles unbestimmt ist, so ist: einen Raum erfüllen eine nähere Bestimmung des Begriffs: einen Raum einnehmen.« MAN A 32. 570 Wiesing 2005, 32. 571 MAN A 59 572 MAN A 60. Vgl. hierzu auch MAN A 63. 573 In der transzendentalen Ästhetik unterscheidet Kant entsprechend zwischen dem »Beweglichen«, »was im Raume nur durch Erfahrung gefunden wird, mithin ein empiri568

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Teil II · Kant: Konstruktion

dass es in der Konstruktion keine sich bewegenden Objekte gibt – und insofern gibt es auch keine mechanischen Bewegungen im Sinne Newtons. Dem stellt Kant aber eine andere Modalität der Bewegung entgegen: »Aber Bewegung, als Beschreibung eines Raumes, ist ein reiner Actus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft, und gehört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie.« (ebd.) Kant bezieht sich hier auf das Bild des Linienzugs, in dem die Spontaneität des Denkens unmittelbar in einer Spontaneität der Sinnlichkeit oder Anschauung zusammenfällt.574 Das Spezifische solcher Bewegung ist ihr Handlungscharakter, der sich zugleich von einem mechanischen Handeln unterscheidet: Das Operieren in diagrammatischen Kalkülen besteht nicht im Erzeugen von empirischen Ereignissen, die dann wieder rezeptiv beobachtet werden müssen. Es ist stattdessen ein Erzeugen, wo wir vom Mannigfaltigen »abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben« (KrV B 155). Im Linienzug bezieht sich das kantische Subjekt nicht auf eine Materialspur, sondern allein auf seine eigene Spontaneität. Inwiefern derartige Handlungen nicht Teil einer zeitlichen Verkettung von Ereignissen in Echtzeit sind, zeigt sich auch daran, dass es dort, im Gegensatz zum mechanischen Bewegungsbegriff, nicht »auf die Geschwindigkeit, womit ein Punkt den Raum beschreibt«, ankommt.575 Diese operative Spontaneität ist, wie an derartigen Passagen deutlich wird, aber keine rein intellektuelle Spontaneität, sondern verknüpft den Intellekt mit einer motorischen Spontaneität des Körpers (bzw. deren Vergegenwärtigung in der körpereigenen Imagination). Zu betonen ist, dass der Begriff der Physiklosigkeit gerade sches Datum« ist, und dem Raum selbst, der »an sich selbst betrachtet […] nichts Bewegliches« ist. (KrV B 58) Beweglichkeit ist auch die zentrale Bestimmung der Materie in den MAN, die mit dem Grundsatz beginnt: »Materie ist das Bewegliche im Raume.« MAN A 1. 574 Kant betont hierbei den Handlungscharakter des Erkennens: »Bewegung, als Handlung des Subjekts (nicht als Be[/]stimmung eines Objekts), folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt so gar den Begriff der Sukzession zuerst hervor.« (B 154 f.) Eine genauere Auseinandersetzung mit Kants Theorie des Linienzugs ist hier nicht zu leisten. Vgl. hierzu auch Krämer 2016, 237 f. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, »ob diese mathematischen Beispiele aus der transzendentalen Deduktion (des Linienziehens, der Apprehension von Dreiecken etc.) überhaupt als genuine Beiträge zur Philosophie der Mathematik verstanden sein wollen«, vgl. Koriako 1999, 227. 575 Im Gegensatz zur physikalischen Bewegungslehre: »In der Phoronomie […] kann die Bewegung nur als Beschreibung eines Raumes betrachtet werden, doch so, daß ich nicht bloß, wie in der Geometrie, auf den Raum, der beschrieben wird, sondern auch auf die Zeit darin, mithin auf die Geschwindigkeit, womit ein Punkt den Raum beschreibt, Acht habe.« MAN A 37.



Bildlogik und Medialität

nicht die Abwesenheit physikalischen und leiblichen Daseins bezeichnet, sondern die Feststellung, dass es Aspekte unseres leiblichen Daseins gibt, über die wir spontan in einer Weise verfügen, dass wir von diesen wissen, ohne uns selbst wieder empirisch beobachten zu müssen. Beschreiben ließe sich ein solcher leiblicher Selbstbezug etwa durch Krois’ Begriff der Propriozeption, den dieser in einer gewissen Nähe zu Kant dem intellektualistisch geprägten Begriff der Apperzeption gegenüberstellt.576 Insofern wäre dieser Aspekt, der hier aus den kantischen Überlegungen herauszuschälen versucht wurde, noch einmal mit derartigen Konzeptionen der Verkörperungstheorie gegenzulesen, was an dieser Stelle nicht mehr geleistet werden kann.577

5.3.5 Exkurs: Physiklosigkeit und energetische Bildtheorien

Mit dieser Deutung von Kants Terminus ›reine Anschauung‹ im Sinne des Konzepts der Physiklosigkeit des Bildraums waren mehrere Thesen verbunden. Zum einen kann festgestellt werden, dass Kant nicht nur, vermittelt über Peirces Wiederaufnahme der Schema-Bild-Unterscheidung in der typetoken-Unterscheidung, als Vorläufer semiotischer Bildtheorien zu lesen ist. Er lässt sich ebenfalls über das Konzept reiner Anschauung als Vorläufer formalästhetischer oder phänomenologischer Bildtheorien aber auch Theorien eines diagrammatischen Bildraums lesen, die spezifisch nach der Medialität des Bildlichen fragen. Das Nebeneinander dieser Aspekte in Kants Konstruktionstheorie zeigt, dass semiotische und mediale Bildauffassungen nicht nur miteinander kompatibel sind, sondern in einem komplementären Ergänzungsverhältnis gedacht werden können. Mit Blick auf interne Fragen der Kant-Interpretation sollte gezeigt werden, dass die reine Anschauung nicht obsolet ist, sondern einen anderen Aspekt der Apriorität der Konstruktion erklärt, als dies die Definitions- und Schematismustheorie tun. Letztere löst das Generalitätsproblem, d. h. die Frage »Wie können wir trotz der Imperfektion und Partikularität geometrischer Figuren zu allgemeinen Schlussfolgerungen gelangen ?« Die Theorie der reinen Anschauung erklärt hingegen einen anderen Aspekt, und zwar nicht das ›Was‹, den Sinn der Figuren oder den Inhalt der Darstellung, sondern das ›Wie‹, die Medialität oder Seinsweise der Figuren und des Operierens. 576

Krois 2012, 96. Hierbei wären auch Stekeler-Weithofers Überlegungen zur leiblichen Bedingtheit apriorischer Operationen zu berücksichtigen, die sich progressiv mit der Kritik des logischen Empirismus auseinandersetzen und dabei zudem die Leiblichkeit gegen einen intellektualistisch gedeuteten Kant in Stellung bringen. 577

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Teil II · Kant: Konstruktion

Im Gegensatz zum physikalischen Experiment, das stets den Nexus und die Widerständigkeit des Materiellen aufsucht, kann das Konstruktionshandeln in einem Bildraum stattfinden, der von derartigen Verstrickungen befreit ist. Diese Eigenschaft scheint allerdings im Gefüge der kantischen Theorie nicht zufällig zu sein, sondern ist bereits in der Theorie schöpferischer Definitionen vorausgesetzt. Die willkürliche und schöpferische Synthesis, die für Kant einem Begriff wie ›Dreieck‹ zu Grunde liegt, scheint nur dann möglich, wenn zugleich denkbar ist, dass wir die Anschauung, die diesem Begriff einen Sinn verleiht, nicht im Empirischen aufsuchen müssen, sondern diese a priori in einem beliebigen Medium selbst hervorbringen können.578 Wäre diese Möglichkeit einer spontanen Konstruierbarkeit (d. h. einem Begriff stets selbst ein Modell verschaffen zu können) nicht gegeben, müssten die mathematischen Begriffe als ebenso haltlose Spekulationen gelten wie etwa die ›gedichteten‹ Begriffe der Parawissenschaften über die Wechselwirkung immaterieller Substanzen, körperloser Seelen, Wahrsagerei und Telepathie.579 Bildhaft gesprochen ist es der qualitativ homogene und zugleich physiklose Imaginations- und Bildraum der reinen Anschauung, der als eine tabula rasa den schöpferischen Aspekt der mathematischen und insgesamt der diagrammatischen Tätigkeit ermöglicht.580 Aus dieser Gemengelage (der Unabhängigkeit von materieller Widerständigkeit) begründet sich die Opposition einer kantischen, am Begriff der Kon­ struktion ausgerichteten Bildkonzeption von solchen Konzepten, in denen in verschiedener Weise die Materialität des Bildes zum entscheidenden Faktor wird. Dies betrifft zunächst Bilder, sofern sie auf Spuren angewiesen sind. Der Nexus physikalischer Hervorbringung ist entscheidend für jedes Bild, das nicht schematisches Strukturbild, sondern physikalisches Spurbild ist, 578 Diese Eigenschaft der Konstruierbarkeit von Figuren stellt auch Koriako fest: »Nur in Mathematik können wir solche apodiktischen Verknüpfungen zwischen Prädikaten (›Triangel‹ und ›Winkelsumme von zwei Rechten‹) herstellen, die nicht auf die Erfüllung in empirischer Anschauung angewiesen sind, weil sie nur als ›ideale‹ Verknüpfungen gelten, also auf einer willkürlichen Synthesis gründen.« Koriako 1999, 213. Koriako sieht allerdings weder die mögliche Verbindung zum Theorem ›reine Anschauung‹ bzw. der Unterscheidung von Form und Materie noch zu einer möglichen bildtheoretischen Deutung desselben. 579 All diese Begriffe beziehen sich spekulativ auf eine Realität, die aber Kant zufolge nicht in concreto ohne Erfahrung gedacht werden kann. ›Metaphysik‹ ist in diesem Fall eine spekulative Physik, die reale Existenzen und Kräfte postuliert bzw. aus Begriffen erfindet, die aber mit den Bedingungen möglicher empirischer Erfahrung nicht konsistent sind. Vgl. KrV B 270. 580 Dies hat für Kant auch mit dem Erscheinungscharakter der Wirklichkeit zu tun: Wenn diese Formen die Formen von Dingen an sich wären, dann gäbe es nur eine empirische Erkenntnis von ihnen.



Bildlogik und Medialität

wie etwa Fotografien, sofern diese Bilder auch als Spurbilder betrachtet werden.581 Ein bildlicher oder sonstiger Gehalt ist hier nicht als physikloses Bildobjekt relevant, sondern als Produkt physikalischer Prozesse, die nicht beliebig reproduzierbar oder imaginierbar sind. Zum anderen betrifft dieser Bezug zur Materialität solche Bildtheorien, die in der Einleitung energetisch genannt wurden und in verschiedener Weise von bildinternen Kräften ausgehen und Bilder dabei zum Ort von Widerständigkeit, Ereignis, nichtmenschlicher Spontaneität, Wechselwirkung und dynamischer Verknüpfung machen. Die eben vorgestellte Rekonstruktion der kantischen Theorie des diagrammatischen Bild- und Operationsraums kann dabei verdeutlichen, wo die Bruchlinie zwischen einer operativen Bildepisteme im Sinne diagrammatischer und formalästhetischer Bildtheorien und einer energetischen Bildepisteme liegt. So führt Bredekamp die »Materialität« der Bilder als die Ursache dafür an, dass diese »mehr als nur die Summe verschiedener auf sie gerichteter Perspektiven« sein können und eben im Bildakt selbst Träger von Handlungen werden.582 Dass die Fähigkeit des Bildes, zum Akteur zu werden, an seine Materialität gebunden ist, ist dabei völlig konsistent mit den Prämissen Kants, für den gilt: »Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz« (KrV B 250)583. Demgegenüber entwirft Kant in seiner Theorie reiner Anschauung eine Konzeption des operativen Bildhandelns, in dem von dieser Materialität in einem gewissen Maße abgesehen wird und diese auf die Rolle eines austauschbaren Trägermediums reduziert wird.584 Daher fehlt den geometrischen Diagrammen bei Kant auch jene von Brede­kamp intendierte 581 Vgl. Mersch, Dieter (2006): »Visuelle Argumente. Zur Rolle der Bilder in den Naturwissenschaften«, in: Sabine Maasen; Torsten Mayerhauser; Cornelia Renggli (Hg.): Bilder als Diskurse – Bilddiskurse. Weilerswist: Velbrück, 95–116, 101 f. 582 Bredekamp 2010, 21.»[Es] soll unter dem Bildakt eine Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln verstanden werden, die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht.« Bredekamp 2010, 52. Vgl. auch die »[…] tiefverwurzelte Angst, im Bild einer Sphäre zu begegnen, die der Philosoph nicht zu kontrollieren vermag.« Ebd. 42. Vgl. auch Leeb, Susanne (Hg.) (2012): Materialität der Diagramme. Kunst und Theorie, Berlin: B-Books. 583 »Diese Kausalität [bezüglich der Zeitfolge als das einzige empirische Kriterium der Wirkung] führt auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz. […] Wo Handlung, mithin Tätigkeit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser allein muß der Sitz jener fruchtbaren Quelle der Erscheinungen gesucht werden. […] Weil nun alle Wirkung in dem besteht, was da geschieht, mithin im Wandelbaren, was die Zeit der Sukzession nach bezeichnet: so ist das letzte Subjekt desselben das Beharrliche, als das Substratum alles Wechselnden, d. i. die Substanz.« KrV B 249 f. 584 Entgegen z. B. der Partikularität der Figuren, die durchaus berücksichtigt werden muss.

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Teil II · Kant: Konstruktion

Eigenaktivität. Sie sind, mit Bredekamps Worten, tatsächlich nicht mehr als die Summe verschiedener auf sie gerichteter Per­spektiven, nämlich die Summe aller möglichen Aspektwechsel in Bezug auf Verhältnisse innerhalb einer geometrischen Figur. Sofern wir das Bild also als Konstruktion auffassen, fehlen jene Überschüsse, die wir mit Kräften der Widerständigkeit des Materiellen assoziieren.585 In diesem Sinne hat der diagrammatische Operationsraum auch keine unsichtbare Rückseite oder materielle Tiefendimension, aus der derartige Interferenzen auftauchen können, wie dies etwa mit dem ›Bug‹ im Computer der Fall sein kann.586

585 Ist für Wiesing das Kennzeichen der »neuen Bildmythologie« (Wiesing 2013, 88), eine »Vermenschlichung des Bildes« (ebd.) zu betreiben, wo es »schlicht um handelnde, weltliche Menschen geht« (ebd. 80), ist festzustellen, dass es auch in den von Wiesing zitierten Beispielen oft um eine Physikalisierung des Bildes geht: Etwa in Gottfried Boehms Satz: »Starke Bilder sind solche, die Stoffwechsel mit der Wirklichkeit betreiben« (ebd. 98, vgl. Boehm 2007a, 252), kommen dem Bild Eigenschaften zu, die dem Register der Physik und physischer Objekte angehören, indem Stoffwechselaktivität die kantischen Kategorien Substanz, Kausalität und Wechselwirkung voraussetzt. Zu denken ist hier auch an die zahlreichen bildphilosophischen Kategorien, die ursprünglich aus dem Bereich der Elektrizität stammen. Vgl. hierzu Rautzenberg 2014: Bildkonzepte (wie etwa von Warburg und Benjamin), die von ›Energien‹ der Bilder etc. reden und dabei auf vormoderne oder frühantike bildmagische Konzepte zurückgreifen, lassen sich zugleich als Anwendung von Theorien der Elektrizität auf Bilder begreifen. 586 Vgl. Rautzenberg 2009.

6. Zwischenfazit und Überleitung Leib und Bild bei Kant und Hegel Ziel dieses zweiten Teils war es, Grundlagen einer Theorie des anschaulichen Denkens und einer Bildlogik bei Kant zu rekonstruieren. Die Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse dieser Lektüre zu den zentralen Fragen der Studie folgt aber noch nicht an dieser Stelle, sondern, um Doppelungen zu vermeiden, im Schlussteil der Studie, wo sie mit den Ergebnissen der Hegellektüre zusammen diskutiert werden. Dort wird neben der Genese von Kants Anschauungstheorie aus der Metaphysikkritik und der Frage ihres Orts in der Ästhetiktradition insbesondere auch der epistemologische Status der Kon­struk­tionstheorie als Theorie eines anschaulichen Denkens diskutiert. Hierbei werden die Ergebnisse von Kapitel II.4 und II.5 miteinander verknüpft und auch die Frage beantwortet, wie auf der Basis neuerer Lesarten auf die Standardkritik des logischen Empirismus geantwortet werden kann. Ein abschließender Überblick über das Thema von Bildtheorie und Bild­ logik bei Kant wird dort auch den Zusammenhang zwischen der in Kapitel II.3 betrachteten Eigenlogik der Anschauung und der in II.5 rekonstruierten Bildlogik betrachten. An dieser Stelle sollen mit Blick auf die Themengebiete Leib und Bild einige methodische Voraussetzungen und Beschränkungen der Kantlektüre diskutiert werden, um zugleich aufzuzeigen, auf welche anderen Voraussetzungen die Rekonstruktion Hegels stößt. Die Reflexion von Leiblichkeit bleibt in der kritischen Philosophie Kants auf einen sehr engen Kontext beschränkt und an vielen Stellen lediglich implizit. Mit dem Gedanken der Irreduzibilität von Körperschema und Körpergefühl in der Raumerfahrung bricht der Leib zwar früh (1768) gleichsam mit seinem ganzen Gewicht in das philosophische Denken ein, wo er, wie gezeigt wurde, zu einem entscheidenden Ankerpunkt der Intellektualismuskritik und der späteren Theorie der Anschauungsform wird. Gegen die These, es handle sich nur um eine Verirrung oder vorläufige phänomenologische Episode Kants, macht die ausführliche Erwähnung der Rechts-Links-Problematik etwa in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) deutlich, dass dieses Thema auch für den kritischen Kant relevant bleibt. Gerade in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft (1781) wird die Rolle des Leibs für die Theorie der Anschauungsform fatalerweise nicht explizit erwähnt, was mentalistische Lesarten dieser Theorie begünstigt. Sie lässt sich allerdings, wie Rutter gezeigt hat, als impliziter Subtext des



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Teil II · Kant: Konstruktion

ersten Raumarguments identifizieren und aus einigen weiteren verstreuten Aussagen rekonstruieren. Mit Blick auf die von Kant an Beispielen diskutierten praktischen Probleme der Identifikation inkongruenter Gegenstücke und der Orientierung im Raum konnte der von Kant beschriebene Leib als situierter, perspektivisch eingeschränkter und zugleich beweglicher Leib rekonstruiert werden. Eigentlich sichtbar wird die Leiblichkeit im kritischen Projekt aber vor allem als Korrelat einer urteilstheoretischen Problematik, die in der Frage nach Gründen für die Unterscheidung von Raumgegenden besteht. Diese konnte zum Anlass genommen werden, um auf eine interessante Parallele hinzuweisen: Indexikalische Urteile über Richtungen und ästhetische Geschmacksurteile, wie sie in der Kritik der Urteilskraft analysiert werden, teilen dieselbe paradoxe logische Struktur einer subjektiven Allgemeinheit. Die Gemeinsamkeit zwischen transzendentaler Ästhetik und ästhetischer Urteilskraft liegt also in der Unmöglichkeit, bei Beurteilung eines Sachverhalts die Spezifik eines perspektivisch-leibbezogenen Standpunkts durch allgemeine begriffliche Kriterien zu ersetzen. Kants Theorie eines ästhetischen sensus communis, der auf der Fähigkeit beruhen soll, an der Stelle jedes anderen zu denken, kann aufgrund dieser Strukturgleichheit auch als eine Theorie intersubjektiver Per­ spektivenwechsel gelesen werden, die nachträglich deutlich macht, dass – mit Blick auf die zugrundeliegende Problematik – auch die Raumanschauung der transzendentalen Ästhetik eine soziale Logik hat. Während das kritische Projekt die Theorie des Leibs also auf die transzendentalen Ressourcen von Körperschema und Körpergefühl reduziert, ist die eigentliche Theorie des Leibs bei Kant in der Anthropologie in pragmati­ scher Hinsicht lokalisiert, die aber gerade keinen Beitrag zum kritischen Projekt leisten soll. Unter anderem weil sich die Studie auf den systematischen Zusammenhang von menschlichem Weltverhältnis und Diagrammatik innerhalb der kritischen Philosophie konzentriert hat, blieb Kants Anthropologie darin unberücksichtigt. Es bleibt insofern noch offen und wäre ein interessantes Unterfangen, die Ergebnisse dieser Studie mit der Anthropologie abzugleichen.587 Auch bei Hegel ist die Theorie der Leiblichkeit das Thema der Anthropologie, es ändert sich allerdings deren Status. Gemäß Hegels holistischem Anspruch wird die Anthropologie zum essentiellen Teil seiner Geistphilosophie und bildet in Gestalt der dort entwickelten Theorie von leiblichen Habitualisierungsprozessen eine wesentliche Ressource der Studie. Eine solche Theorie leiblicher Routinen könnte auch einen Ansatzpunkt bilden, um 587 Für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Bildlichkeit im Kontext von Kants Anthropologie vgl. Gasperoni 2016.



Zwischenfazit und Überleitung

den bei Kant rekonstruierten Gedanken der Operativität als Dimension einer spontanen Leiblichkeit genauer zu analysieren. Aber auch Hegels Ästhetik und insbesondere die Malereitheorie enthalten zahlreiche zugleich sehr konkrete wie systematische Überlegungen zur menschlichen Leiblichkeit. Vergleichbares lässt sich auch am Thema von Bild und Bildlichkeit feststellen. Der bei Kant relevante Bildbegriff der geometrischen Zeichnung wird von ihm selbst nicht zum Gegenstand einer expliziten und zusammenhängenden medienphilosophischen Reflexion. Eine differenzierte Betrachtung der Unterschiede medialer Formate zeigt sich etwa in der Unterscheidung der Konstruktion von der Begriffsanalyse, die allerdings die Rolle der Sprache für dieses Verfahren unterbelichtet lässt; oder in der Reflexion des Unterschieds von geometrischer und symbolischer (algebraischer) Konstruktion. Zentrale Aspekte von Kants Bildbegriff mussten daher, wie exemplarisch die Logik von Figur und Grund, aus Konzepten wie ›figürliche Synthesis‹ und ›Einschränkung‹ rekonstruiert werden, die Kant im Kontext transzendentalphilosophischer Überlegungen formuliert. Dieser Mangel an medienphilosophischer Reflexion ist sicher eine der Ursachen der Verwirrung um Kants Theorem einer ›reinen Anschauung‹. Eine der wichtigsten Thesen der Studie zur einem kantischen Bildbegriff war die These, dass sich das Theorem ›reine Anschauung‹ nicht nur metaphysisch oder mentalistisch, sondern auch bildtheoretisch verstehen lässt, und zwar als Vorläufertheorem zu Theorien der Physiklosigkeit von Bildern. Es bedeutet insofern nicht deren Existenzweise jenseits materieller Trägermedien, sondern die (weitgehend) kontextunabhängige Reproduzierbarkeit der geometrischen Figuren bzw. die Austauschbarkeit hinsichtlich ihrer konkreten Materialität. Die von Kant hergestellte Verbindung zwischen reiner Anschauung und Imagination wurde in diesem Zusammenhang so gedeutet, dass die Imagination dasjenige bildgebende Verfahren ist, an dem sich diese Eigenschaften am deutlichsten zeigen. Hegels Theorie der Malerei enthält dagegen eine explizite Theorie des Bildmediums und seiner medialen Spezifika, die er etwa in Abgrenzung von Architektur und Skulptur entwickelt. Themen wie Figur, Grund und Rahmung werden von Hegel in ihrer konkreten Realisation in Bildartefakten reflektiert. Zugleich bezieht er sich auf die wichtigen ästhetischen Debatten zur Malerei seiner Zeit, etwa den querelle des anciens et des modernes und die Unterscheidung von disegno und colore. Aus diesem Grund wird auch von einer eigenen, hegelschen Theorie der Medienspezifik der Malerei die Rede sein. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Hegel die Eigenschaften von Bildartefakten wie auch von menschlicher Leiblichkeit wesentlich expliziter und konkreter als Kant reflektiert. Ein Grund hierfür kann im zeitlichen

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Teil II · Kant: Konstruktion

Abstand zwischen der Geometrie- und der Malereitheorie gesehen werden, der es Hegel erlaubt, an eine wesentlich entwickeltere epistemologische und ästhetische Debatte anzuknüpfen. Ein anderer Grund liegt wohl in der Differenz zwischen dem transzendentalphilosophischen Verfahren Kants, das auf der Ebene formaler Allgemeinheiten operiert, und der dialektisch und historischen argumentierenden Philosophie Hegels, die sich viel stärker mit der Spezifik konkreter Phänomene auseinandersetzt.588 Die nachstehende Rekonstruktion Hegels im dritten Teil der Studie folgt weitgehend derselben Struktur und Abfolge wie die Rekonstruktion Kants. Bereits daran wird deutlich, was eine zentrale These dieser Hegellesart ist: dass sie die bei Kant rekonstruierten Motive einer Eigenlogik der Anschauung und eines anschaulichen Denkens nicht eliminiert, sondern unter veränderten Vorzeichen weiterführt. Dies geschieht mit Blick auf mindestens vier Themenbereiche: die Ersetzung einer Transzendentalphilosophie oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität durch eine holistische Geistphilosophie, die Neuverortung von Anschauung und anschaulichem Denken in einem neuen Modell von Tätigkeiten des Geistes, die thematische Verschiebung der Anschauungs-, Leiblichkeits- und Bildtheorie von der Ebene des Weltverhältnisses auf die Ebene des Sozialverhältnisses und nicht zuletzt die Verschiebung von einem an der Zeichnung und einem Bildverständnis des disegno orientierten Bilddenken hin zu einem Bilddenken der Malerei und seiner medienspezifischen Ausrichtung an einem Bildverständnis des colore.

588 Dass die Studie trotz dieses bedeutenden Unterschieds dennoch in beiden Fällen von impliziten Bildtheorien sprechen will, liegt daran, dass die Einbettung dieser Theorien in Mathematik- und Kunstphilosophie sie von einer explizit bildphilosophischen Reflexion im Stil gegenwärtiger Medienphilosophie unterscheidet.

TEIL III Hegel: Entäußerung

1. Hegels Malereitheorie: eine verkörperungstheoretische Lesart Dieser dritte Teil stellt nun auch an Hegels Malereitheorie die zwei zentralen Fragen der Studie: Wie lässt sich Hegels Malereitheorie als Theorie eines anschaulichen Denkens rekonstruieren ? Wie lässt sie sich als Bildtheorie lesen und welche Konzeption einer Bildlogik enthält sie ? Der erste Teil der Studie hat hierzu bereits zwei wichtige Prämissen entwickelt: Hegels genuiner Beitrag zur Bildepistemologie ist nicht in der Theorie von Erinnerungsbild und Einbildungskraft zu finden, sondern wie bei Kant in einer Theorie von Anschauung und anschaulichem Denken. Im Konzept einer pluralisierten Bildepistemologie wurde die These aufgestellt, dass sich Hegels Reflexion der epistemischen Rolle von Bildlichkeit im Horizont der Reflexion menschlicher Sozialverhältnisse positioniert. Die Malereitheorie wird daher im Folgenden als eine Theorie der Performativität von Bildern gedeutet, in der Bilder als Extensionen und Substitute menschlicher Leiblichkeit fungieren. Als anschauliche Denkform ist die Malerei für Hegel in der Lage, Bedingungen menschlicher Leiblichkeit zu reflektieren, insbesondere einer verkörperten Intersubjektivität, wie sie sich in Blickverhältnissen realisiert. Von besonderem Interesse ist dabei, dass Hegels Malereitheorie eine Theorie des colore ist, die somit noch in einer weiteren Hinsicht eine Alternative zu Kants Diagrammtheorie bildet, die als Theorie des disegno gedeutet werden kann. Die Rekonstruktion Kants im zweiten Teil der Studie hat ebenfalls wichtige Referenzpunkte für die folgende Hegellektüre gesetzt. Die weitgehende Parallelführung der beiden Teile beruht auf der These, dass sich die Malereitheorie trotz aller Differenzen innerhalb vergleichbarer Parameter wie Kants Geometrietheorie rekonstruieren lässt. Dabei soll gezeigt werden, dass sich Hegels Theorie der Anschauung als kritische Weiterentwicklung von Intentionen und Argumenten Kants verstehen lässt, und Hegel mit Kant vor allem jene Kritik an Metaphysik und Substanzdenken teilt, die der erste Teil der Studie als Bedingungen eines iconic turn avant la lettre identifiziert hat. Hierzu gehört aber auch eine dezidierte Kritik an Kant, insofern Hegels Reflexion der Rolle der Leiblichkeit im menschlichen Sozialverhältnis als Bestandteil seiner Kritik an einer kantischen Metaphysik der Subjektivität gedeutet wird. Vor dem eigentlichen Einstieg in die Hegellektüre widmet sich dieses Kapitel nun der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zu Hegel, den spezifischen Hürden, denen sich diese Hegeldeutung stellen muss, sowie jenen neueren kunsttheoretischen und verkörperungstheoretischen Lesarten, an



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Teil III · Hegel: Entäußerung

die diese Studie anknüpft. Zunächst folgt aber erneut ein Überblick über die Argumentation des Kapitels. Das nachstehende Kapitel klärt, wo eine bildepistemologische Rekon­ struk­tion Hegels in der Hegelforschung ansetzen kann. Es zeigt sich, dass die kunstgeschichtliche und bildwissenschaftliche Rezeption von Hegels Malereitheorie relativ knapp und weitgehend negativ ausfällt (III.1.1). In einem nächsten Schritt wird die philosophische Standardkritik an Hegels Ästhetik betrachtet, die sich an einer grundlegenden Ambivalenz entzündet: einerseits will Hegel das Ästhetische als Wissensform aufwerten, scheint dieses aber zugleich in einem logozentrischen Gestus zur vorläufigen und niedrigen Form zurückzustufen (III.1.2). Betrachtet wird zunächst der von Adorno und Derrida vorgebrachte Logozentrismusvorwurf. Dieser ist insofern zutreffend, als es Hegels Ästhetik nicht um die Alteritätsdimension der Natur, sondern die Verkörperung des Geistes geht. Dem Vorwurf Derridas, die Malerei werde von Hegel einem sprachlogischen Modell unterworfen, kann mit Blick auf Hegels Überlegungen zu expressiver Leiblichkeit und medienspezifischen Aspekten der Malerei widersprochen werden (III.1.2.1). Die zweite Dimension der Hegelkritik betrifft den doppelten Anachronismus, der in einem angenommenen Neoklassizismus Hegels und seiner These vom Ende der Kunst zu liegen scheint (III.1.2.2). Dies bildet den Anlass, noch einmal zwischen verschiedenen Lesarten Hegels zu differenzieren. Kunsttheoretische Lesarten versuchen den Anachronismusvorwurf zu relativieren oder umzuwenden, indem Hegel als Denker der Krisenhaftigkeit von Kunst in der Moderne betrachtet wird. Demgegenüber liegt mit der verkörperungstheoretischen Lesart ein Ansatz vor, der es erlaubt, Hegels Malereitheorie in den systematischen Kontext einer Theorie der Leiblichkeit zu stellen. Während dies bei Peters und Pippin letztlich wieder zur kunsttheoretischen Frage nach dem Schicksal der Kunst in der Moderne führt, nimmt die Studie eine andere Perspektive ein. Ihr Fokus auf Bildlogik und anschauliches Denken führt zu einer systematischen Lektüre von Hegels Malereitheorie, die die medienspezifischen Potenziale der Malerei zur Darstellung verkörperter sozialer Beziehungen in den Mittelpunkt stellt (III.1.3).

1.1  Die kunstgeschichtliche und bildwissenschaftliche Rezeption

Welche Spuren hat Hegel in der Kunstgeschichte und den Bildwissenschaften hinterlassen ? Hegel vertritt, wie gezeigt werden soll, eine hochinteressante Malereitheorie. Die Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, die Hegel von 1821 bis 1829 viermal hielt, wurden allerdings lange Zeit üblicher-



Hegels Malereitheorie

weise nur in der im Jahr 1835 von Hegels Schüler Hotho besorgten Edition rezipiert. Eine genaue Auseinandersetzung mit den erhaltenen Vorlesungsnachschriften bei Collenberg und Rutter hat gezeigt, dass die Hotho’sche Edition insbesondere von der Malereitheorie ein verzerrtes Bild zeichnet: Hegel wurde deutlich klassizistischer und traditioneller gedeutet, als dies die ursprünglichen Vorlesungsnachschriften nahelegen.1 Der Hegel der Vorlesungsnachschriften geht, ganz im Gegensatz zu philosophischen Kollegen wie Kant oder Schelling, nicht vom Primat von Linie und Form aus, sondern von dem der Farbe. Die Tradition des Vasari’schen disegno, der metaphysisch überhöhten Zeichnung, die unmittelbarer Ausdruck einer künstlerischen Erfindung ist, hatte das Kunstmittel der Farbe zum bloßen Beiwerk erklärt.2 Für Hegel wird hingegen colore zum definierenden Moment der Malerei, spezifisch ihrer Lebendigkeit. Und erst so kann im Rahmen des neuzeitlichen Diskurses von einer im emphatischen Sinne medienspezifischen Theorie der Malerei die Rede sein: insofern diese nicht als kolorierte Zeichnung, sondern als eine Schöpfung aus der Farbe gedacht wird. Hegel lässt sich somit als hochinteressanter Theoretiker des ›unklassischen Bildes‹ (Busch) lesen.3 So wie Hegel aber bei Werner Busch ungenannt bleibt, gibt es insgesamt in der kunstgeschichtlichen Forschung kaum Bezugnahmen auf ihn.4 Einflussreich in der Kunstgeschichte ist dagegen etwa Gombrichs Kritik: Mit dem Versuch, die ganze Kunstentwicklung aus einem Prinzip zu deduzieren, überforme Hegel die Kunst durch Metaphysik und immunisiere sich gegen die Falsifikation durch Empirie.5 Mit der Feststellung: »There really is no such thing as 1 Dies hat erstmals Collenberg gezeigt. Siehe: Collenberg, Bernadette (1992): »Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst«, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Phänomen versus System. Zum Verhältnis von phi­ losophischer Systematik und Kunsturteil in Hegels Berliner Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst, Bonn: Bouvier, 91–164. Zur Bedeutung der Farbe siehe auch Rutter, Benjamin (2010): Hegel on the Modern Arts, Cambridge, New York: Cambridge University Press. 2 Vgl. Exemplarisch die Darstellung in Busch, Werner (2009): Das unklassische Bild, München: Beck, 122 ff. 3 Zum Begriff des unklassischen Bildes vgl. Busch 2009. 4 Dies stellt Houlgate fest: »Svetlana Alpers makes one approving reference to Hegel’s account of Dutch painting in The Art of Describing but there is nothing whatsoever on Hegel in Kenneth Clark’s The Nude, Ernst Gombrich’s The Story of Art, or Marcia Hall’s Color and Meaning, even though Hegel has significant things to say on the depiction of the human body, the history of art, and the use of color in painting.« Houlgate, Stephen (2000): »Presidential Address: Hegel and the Art of Painting«, in: William Maker (Hg.): Hegel and Aesthetics. Albany: State University of New York Press, 61–82, 61. 5 Vgl. die Darstellung von Gombrichs Kritik in Gaiger, Jason (2011): »Hegel’s Contested Legacy: Rethinking the Relation between Art History and Philosophy.«, The Art

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Art. There are only artists«, impliziert Gombrichs Hegelkritik eine generelle Absage an eine Philosophie der Kunst zugunsten einer tendenziell nominalistisch operierenden Kunstgeschichte.6 Im bild- und medienwissenschaftlichen Kontext ist es ebenfalls schwer, einen affirmativen Hegelbezug auszumachen. Hegel dient im Herausgreifen einzelner Motive typischerweise als Negativfolie. So etwa bei Wiesing: Neben dem Übergewicht einer großen Erzählung über das singuläre Werk7 kritisiert dieser die von der idealistischen Ästhetik avisierte ›Tiefe‹.8 Er plädiert stattdessen im Sinne eines formalästhetischen Ansatzes dafür, das Interesse »ausschließlich [auf] die […] sichtbaren Formen auf der Oberfläche des Bildes« zu richten.9 Darin zeichnet sich vor allem eine Paradigmendifferenz zu Hegel ab. Diesem geht es um diese Formen nicht als solche, sondern als Träger von Expressivität und Lebendigkeit. Glaubitz und Schröter kritisieren Hegels Betonung der Verflachung als Prinzip der Malerei als Ausdruck einer »Furcht vor dem Raum«10. Hegels Idee, dass die Verflachung gerade einen epistemischen Zugewinn bedeuten kann, ist für sie lediglich Ausdruck eines Bulletin 93, 178–194, 178. Zum einen habe Hegel die systematische Ordnung, die er zu finden vorgebe, selbst zuerst in der Wissenschaft der Logik entwickelt, um sie dann der Kunst aufzuzwingen. Zum anderen erkläre er Kunst zum Symptom einer kollektiv-deterministischen Struktur. Ebd. 181. 6 Ebd. 182. Zur Verteidigung Houlgate: Insofern es richtig ist, dass Hegel, »with the possible exception of his astute analysis of Raphael’s Transfiguration (which he never actually saw at first hand)«, keine großen oder einflussreichen Interpretationen von Einzelwerken verantworte, liege seine Leistung gerade in einem »subtle account of the nature of painting as such.« Houlgate 2000, 61. Diese ist, wie Houlgate weiter zeigt, keinesfalls in einem Vakuum entstanden. Hegel »brought to the study of art an eye that was both schooled in, and sensitive to, the subleties of painting.« Ebd. 62. 7 Die Tradition formaler Ästhetik tritt Wiesing zufolge »Schlagworten« wie »›Gegen die spekulative Ästhetik‹ (Hettner) oder ›Ästhetik von unten‹ (Fechner) auf« und will »Alternativen zu den philosophischen Ästhetiken entwickel[n], die in ihren Erklärungen nicht von den Werken, sondern von vorhandenen Philosophien ausgehen.« Wiesing 2008, 14. »Sowohl gegen Kants Analyse des ästhetischen Urteils als auch gegen Hegels Bindung der Kunst an geistige Ideen entwickelt sich in der formalen Ästhetik die Forderung ›zurück zu den Sachen selbst‹ – und das heißt auch: zurück zum Sichtbaren.« Ebd. 15. 8 Wiesing spielt offensichtlich auf Hegels Begriff der ›geistdurchdrungenen Anschauung‹ an, wenn er schreibt, das von Boehm und Bredekamp vergeistigte und vermenschlichte Bild sei »für diejenigen die geistdurchdrungene Sichtbarkeit für bemerkenswerter als reine Sichtbarkeit halten, bemerkenswert.« Wiesing 2013, 93. 9 Wiesing 2008, 15. In diesem Zusammenhang wäre auch Hegels eigene Kritik an der formalen Ästhetik, die er auch in Nähe zur Mathematik sieht, und als ›äußere Schönheit der abstrakten Form‹ diskutiert. VÄ I 178–188. 10 Glaubitz, Nicola; Schröter, Jens (2004): »Quälende Kuben und beruhigende Tableaus. Fragmente einer Diskursgeschichte des Raum- und des Flächenbilds«, in: Sprache und Literatur 35, 33–63, 39.



Hegels Malereitheorie

neuzeitlichen Okularzentrismus, genauer: der »diskursive[n] Verzahnung des Dispositivs Fläche/Auge/Totalität mit bestimmten Modellen rationaler und entkörperlichter Subjektivität.«11 Dem soll im Sinne einer verkörperungstheoretischen Lektüre Hegels widersprochen werden. Die Verflachung erlaubt es der Malerei für Hegel, bestimmte Dimensionen von Körperlichkeit, die den Darstellungsmitteln der Skulptur verschlossen bleiben, überhaupt erst zur Geltung zu bringen. Eine ausführlichere positive Bezugnahme findet sich bei Bredekamp.12 Dieser beruft sich in seiner Bildakttheorie positiv auf Hegels Idee der niederländischen Malerei als einer ›Kunst des Scheins‹, in der sich die bildnerischen Mittel gegenüber den Inhalten verselbständigen. Hegels Bemerkungen zur ›Magie der Farbe‹ werden so zu »eine[r] begriffliche[n] Inkunabel des farbautonomen Bildakts«.13 Hier sei der »Ausdruck der Malerei […] nicht etwa gespiegelte Externalisierung des Gemüts im Medium der Materie, sondern eine lebendige Selbsttätigkeit des Werks.«14 Von der internen Spannung der Malereitheorie Hegels zwischen Ausdruck und verselbständigtem Kunstmittel, die Bredekamp damit anspricht, wird später noch die Rede sein. Insgesamt ist aber festzustellen, dass eine ausführliche Würdigung von Hegels Theorie der Malerei im Kontext der Bild- und Medienwissenschaft fehlt. Spezifischere Auseinandersetzungen gibt es in der Ästhetik und Kunstphilosophie. Auch hier soll zunächst die Kritik betrachtet werden, der sich ein Versuch der bildphilosophischen Aktivierung der hegelschen Position stellen muss.

1.2 Die philosophische Standardkritik an Hegels Ästhetik

Wie bei Kants transzendentaler Ästhetik existiert auch für Hegels Ästhetik so etwas wie eine Standardkritik,15 allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. An Kants Idee vom Anschauungsbezug der Mathematik wird zumeist eine falsche Ästhetisierung des Rationalen beklagt, an Hegels Kunsttheorie hingegen eine falsche Rationalisierung des Ästhetischen. Dies ist das Resultat 11

Ebd. 36. Mitchell erwähnt Hegel lediglich in einer Fußnote, wo Hegels Theorie des Kunstwerks als Verbindung von Materie und Geist als wichtige Instanz des Topos der ›Lebendigkeit‹ der Kunstwerke genannt wird. Mitchell 2005, 31 FN 9. 13 Bredekamp 2010, 272. 14 Ebd. 15 Vgl. etwa Gethmann-Siefert, Annemarie (2005): Einführung in Hegels Ästhetik, München: Fink, 9: »Die ›Aktualität‹ der idealistischen Ästhetik, insbesondere der hegelschen Philosophie der Kunst, wird generell in Zweifel gezogen.« 12

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einer grundlegenden Ambivalenz des Kerngedankens von Hegels Ästhetik, der mit Mersch darin besteht, »die Kunst in den Vollzug der Wahrheit einzuordnen«.16 Zum einen wird das Sinnliche aufgewertet: Dasjenige, was zuvor nur den Domänen von Empfindung oder Geschmacksurteil zugeordnet war, wird nun mit den Attributen von Wissen und Wahrheit versehen. Im selben Atemzug werde es aber, so die Kritiker, rational überformt. Kunstwerke werden zu einer Erscheinungsform jenes Geistes gemacht, den Hegel als die tragende Instanz abendländischer Rationalität identifiziert  – das Ringen eines kollektiven Subjekts um Freiheit und Selbstbewusstsein und seine von Widersprüchen und Konflikten gekennzeichnete Entwicklung hin zu immer rationaleren Lebensformen.17 In der Kunst wird die Sinnlichkeit so zum Teil dessen, was Lyotard als große Erzählung bezeichnet hat. Ihre Einordnung in ein System des absoluten Geistes bedeutet einerseits die strukturelle Gleichstellung der Kunst mit der Philosophie als eine Form des Wissens. Diese Aufwertung geht aber andererseits unmittelbar mit einer Zurückstufung und Abwertung einher, insofern die Kunst als niedrigere und frühere Gestalt dieses Wissens identifiziert wird. Hegel erscheint damit in verwirrender Personalunion zugleich als Protagonist der Aufwertung der Aisthesis sowie ihrer logizistischen Abwertung. Ein genaueres Verständnis dieser ambivalenten Position Hegels erfordert eine Betrachtung der zwei zentralen Kritikfelder: dem Problem des Logozentrismus und der Frage des Anachronismus in oder von Hegels Kunsttheorie.

1.2.1 Der doppelte Logozentrismusvorwurf (Adorno, Derrida)

Hegel gilt üblicherweise als Metaphysiker, der einen von der Sinnlichkeit so weit wie möglich entfernten Begriff an den Ursprung allen Seins setzen will. Dort, wo Hegel medienphilosophisch rehabilitiert werden soll, wird er in der Regel als Denker der Sprache rekonstruiert.18 Auch Hegels Ästhetik gilt daher häufig im zweifachen Sinn des Logozentrismus als Ausdruck 16 Mersch, Dieter (2005): »Gibt es Verstehen ?«, in: Juerg Albrecht; Jörg Huber; et. al. (Hg.): Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich, Wien, New York: Springer, 109–126, 109 Fußnote 2. 17 Hegel vertritt »the explanatory priority of the notion of spirit, Geist, a collective subjectivity, and its development.« Pippin, Robert B. (2002): »What Was Abstract Art ? (From the Point of View of Hegel)«, Critical Inquiry 29, 2002, 1–24, 6. 18 Vgl. zur Deutung als Sprachdenker exemplarisch Simon, Josef (1996): »Zeichenmachende Phantasie. Zum systematischen Zusammenhang von Zeichen und Denken bei Hegel«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 50, 254–270; Sánchez de León Serrano, José María (2013): Zeichen und Subjekt im logischen Diskurs Hegels, Hamburg: Meiner.



Hegels Malereitheorie

einer Unterordnung von Sinnlichkeit unter Begriffe und einer Unterordnung des Nichtsprachlichen unter Sprache. Ein Logozentrismusvorwurf im ersten Sinne findet sich in seiner prononciertesten Form in der dialektischen und differenzphilosophischen Rationalitätskritik von Adorno und Derrida. Logozentrismus bedeutet hierbei die Parteiname für den Geist gegen sein Anderes. Beide, Adorno und Derrida, setzen dafür an einem erklärten Ziel Hegels an. Er will das Problem der Versöhnung von Naturbegriff und Freiheitsbegriff, das Kant in seiner dritten Kritik aufgeworfen hatte, lösen, und zwar mittels einer spekulativen Philosophie. Adorno zufolge erweist sich Hegel hierbei als »Identitätsphilosoph«, der den Eigenwert von Natur und Naturschönem, und damit die »Spur des Nichtidentischen« übersehe. Dem »verbindenden Moment« von Geist und Natur werde bei Hegel nicht »weiter nachgefragt«, seine Ästhetik daher »zur krassen, nahezu unreflektierten Parteinahme für subjektiven Geist.«19 Indem Hegel »das Flüchtige des Naturschönen, wie tendenziell alles Unbegriffliche« verwerfe, mache er sich zugleich »borniert gleichgültig gegen das zentrale Motiv von Kunst, nach ihrer Wahrheit beim Entgleitenden, Hinfälligen zu tasten.«20 Hegels spekulativer Versuch einer Versöhnung von Geist und Natur scheitert also in Adornos Augen daran, dass diese sozusagen nur von oben, d. h. vom Geist her stattfindet und dabei das Moment eines Nichtidentischen ausblendet und verdrängt. Dem entspricht Adornos eigene Parteinahme für den Alteritätscharakter der Natur, der für ihn im Alteritätscharakter von Kunst wiederkehrt.21 Auch Derrida setzt bei Hegels Anknüpfung an Kants dritte Kritik an, betont allerdings im Vergleich zu Adorno eher epistemologische Probleme. Die beiden ersten Kritiken hätten »einen offenbar unendlichen Abgrund aufgetan«.22 Kant und Hegel hätten nun beide versucht, diesen »‹Gegensatz‹ von Geist und Natur‹« mit Hilfe der Kunst »aufzulösen«.23 Diese vermittelnde Funktion als »Mitte*, Drittes, Element und Mittelpunkt (milieu)« ist Derrida zufolge insgesamt die genuine Rolle, die die abendländische Philosophie der Kunst zuschreibt.24 Indem somit »das Philosophische […] die Kunst in seinen 19

Ebd. 116 f. Adorno 1970, 119. 21 Eine typische Formulierung Adornos: »Der idealistische Hochmut gegen das an der Natur, was nicht selber Geist ist, rächt sich an dem, was in Kunst mehr ist als deren subjektiver Geist.« Ebd. 118. 22 Derrida 1992, 54. 23 Ebd. 24 »Jedesmal wenn die Philosophie die Kunst bestimmt, sie bemeistert und in die Geschichte des Sinns oder in die ontologische Enzyklopädie einschließt, weist sie ihr eine Funktion als Medium zu.« Derrida 1992, 52 f. 20

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Kreis ein[schließe]«25, sei diese allerdings »vorherbestimmt oder vorwegverstanden«26. Während Adorno gegen den geistphilosophischen Übergriff das Nichtidentische der Natur in Stellung bringt, ist es für Derrida – wenn man das so sagen darf – das abstrakte Prinzip der différance, dass es dem philosophischen Diskurs verunmöglicht, den Abgrund mittels der Kunst zu schließen.27 Ein konstitutives Sprechen über die Kunst vermeidet Derrida.28 Wie ist diese logozentrische Parteinahme für den Geist zu verstehen ? Erstens ist der dekonstruktiven Kritik Derridas zuzustimmen. Die Struktur der entsprechenden Theorien macht es unmöglich, dass eine Versöhnung von Geist und Natur als gelungen oder vollendet behauptet werden kann. Dass Hegel ein eigenes Bewusstsein für diese Problematik hat, ist die These der in Kapitel III.2 eingehender betrachteten kritischen Hegelinterpretationen von Pippin und Sedgwick. Im Sinne der Formel ›Hegel hegelianischer machen‹ soll diese Einsicht dort gegen die Idee einer vorschnellen Versöhnung in Stellung gebracht werden. Zweitens ist es richtig, dass Hegel kein ausgeprägtes Organ für Phänomene der Alterität, Negativität und Widerständigkeit hat.29 Plakativ zeigt sich dies in Hegels Gedanken, dass die Kunst zwar einen Fuß in die Sinnlichkeit hineinsetze, diesen aber gleich wieder zurückziehe. Damit beschränke sie sich auf jene Aspekte der Sinnlichkeit, die als Ausdruck menschlicher Freiheit und Spontaneität gelten können.30 In der Tat ist mit Hegels Idee vom Ästhetischen als Medium des Geistes der Gedanke einer Emanzipation von der Natur, ja sogar der Naturbeherrschung eng verbunden.31 Die Perspektive 25

Ebd. 39. Ebd. 38. 27 »Die Antwort bannt den Abgrund, es sei denn, sie wird von vorneherein in ihn hineingerissen.« Derrida 1992, 45. Der Abgrund ruft nach der Analogie […,] aber die Analogie wird endlos abgründig, sobald es einer gewissen Kunst bedarf, um das Spiel der Analogie auf analogische Weise zu beschreiben.« Ebd. 55. 28 Zum Problem der Abstraktheit und Unsichtbarkeit der différance vgl. Mersch 2002a. 29 Diese bleiben aber auch nicht unerwähnt, vgl. Hegels Ausführungen zum cogito und seinen ›Kopfschmerzen‹, die hier in Kapitel III.3 noch eine Rolle spielen werden. 30 »Ebensosehr aber setzt das Ideal seinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgestalt hinein, doch zieht ihn wie das Bereich des Äußeren zugleich zu sich zurück, indem die Kunst den Apparat, dessen die äußere Erscheinung zu ihrer Selbsterhaltung bedarf, zu den Grenzen zurückzuführen weiß, innerhalb welcher das Äußere die Manifestation der geistigen Freiheit sein kann.« VÄ I 207. 31 »Die Kunst nun und ihre Werke, als aus dem Geiste entsprungen und erzeugt, sind selber geistiger Art, wenn auch ihre Darstellung den Schein der Sinnlichkeit in sich aufnimmt und das Sinnliche mit Geist durchdringt. In dieser Beziehung liegt die Kunst dem Geiste und seinem Denken schon näher als die nur äußere geistlose Natur; er hat es in den Kunstprodukten mit dem Seinigen zu tun.« VÄ I 27. Vgl. dazu Pippin 2002, 10: »In 26



Hegels Malereitheorie

Hegels ist damit von einer alteritätstheoretischen Perspektive zu unterscheiden, wie sie im Hintergrund der Kritik Adornos und Derridas steht und etwa von Bredekamp im gegenwärtigen Bilddiskurs vertreten wird.32 Wie lässt sich Hegel nun verteidigen ? Ein zentraler Gedanke einer verkörperungstheoretischen Lesart, den Peters formuliert, besagt, dass sich die Position Hegels nicht in Symptomen eines Zurückschreckens vor der Alterität der Natur erschöpft. Stattdessen verfolgt sie eine genuine, auch heute noch berechtigte Fragestellung, die sich von derjenigen Adornos und Derridas unterscheidet: die Frage nach menschlicher Leiblichkeit als Ort der Verkörperung des Geistes.33 Dies lässt sich einerseits kunsttheoretisch herleiten. Hegels Abgrenzung von der Naturästhetik vollendet die schon bei Goethe und Schelling angelegte Überwindung des antiken Mimesisgedankens.34 In der Zurückweisung der Vorstellung, dass Kunst vor allem die Natur nachzuahmen habe, wird erst ihre Wandlung vom repräsentationalen Abbild zur genuinen Denkform möglich. Hegel verpflichtet sich damit einer spezifischen, nämlich poetischen Auffassung des Wissens der Kunst bzw. der Bilder, im Sinne einer »spezifisch menschlichen Deutungsleistung.«35 Wo es Hegel um Natur geht, geht es ihm also vor allem um die zweite Natur, d. h. die menschliche Kultur.36 Wie nun aber Peters zeigt, involviert dies doch ein Element der ersten Natur, nämlich die spezifische organische Konstitution fact, fine art, and especially its history, Hegel claims, should be understood as a liberation from nature; not a rejection of its (or our) inherent inadequacy, but the achievement of a mode of self-understanding and self-determination no longer set or limited by nature as such, as well as a humanizing transformation of the natural into a human world.« 32 Zur Eigenspezifik der poetischen Auffassung vgl. etwa Mersch 2002b, 176. Zur Kritik am hegelschen Werkbegriff vgl. Menke 2013, 39 f. 33 Peters 2015, 54 ff. Peters formuliert dies so, dass Hegel zwar gegen die differenzphilosophische, externe Kritik Adornos nicht zu verteidigen ist, wohl aber gegen die interne Kritik, er vergesse generell die Leiblichkeit des Menschen. 34 Vgl. hierzu ausführlich Collenberg 1992. 35 Collenberg-Plotnikov (2005): »Die Funktion der Schönheit in Hegels Bestimmung der Malerei. Zum Stellenwert eines Grundbegriffs der hegelschen Ästhetik«, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, München: Fink, 257 f. FN 25. 36 Vgl. in diesem Sinne Collenberg-Plotnikov zur Funktion der Schönheit: »Die Kunst wiederholt nicht die Natur, sondern sie formuliert Deutungen, die das natürliche Leben zum menschlichen Leben machen.« Ebd. »Es ist die ›Aufgabe für die Kunstschönheit‹, nicht irgendein sichtbares Symptom des natürlichen Lebendigen aufzugreifen, sondern ›die Erscheinung der Lebendigkeit und vornehmlich die geistige Lebendigkeit auch äußerlich in ihrer Freiheit darzustellen, die sinnliche Erscheinung dem Begriff gemäß zu machen, die Bedürftigkeit der Natur, die Erscheinung zur Wahrheit, zum Begriff zurückzuführen‹. [Hotho 1823, Ms. 69 f. / S. 78 f.] Kunstschönheit ist also das Resultat einer spezifisch menschlichen Deutungsleistung.« Ebd. 257 f. FN 25.

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menschlicher Leiblichkeit.37 Daher lässt sich eine Verteidigung Hegels zweitens auch subjekt- bzw. verkörperungstheoretisch herleiten; diesbezüglich ist es die Ästhetik selbst, die, wie insbesondere in Kapitel III.3 und III.4.1 gezeigt werden soll, als Produkt einer Metaphysikkritik auftritt. Sie richtet sich gegen Kants intellektualistische Auffassung von menschlicher Freiheit, Subjektivität und Selbstbewusstsein. Diese Dimension bleibt bei Kant ein leerer Begriff.38 Für Hegel involviert ein vollständiger Begriff dieser Freiheit, sie mit ihrer aisthetischen Dimension zusammenzudenken, d. h. die spezifische Phänomenalität und Medialität menschlicher Leiblichkeit zu reflektieren, was zu einem zentralen Thema seiner Ästhetik wird. Zwischen Hegel und seinen Kritikern zeigt sich hier eine Paradigmendifferenz. Hegel geht es nicht darum, das Nichtidentische von Natur und Kunst in seiner Eigengesetzlichkeit zum Sprechen zu bringen. Stattdessen fragt er nach den aisthetischen Bedingungen des menschlichen Geistes – spezifischer: menschlicher Subjektivität und Freiheit – und findet sie in der Leiblichkeit. Die Logozentrismuskritik hat, wie schon im ersten Teil dieser Studie betrachtet, aber noch eine zweite Dimension. Sie soll Kritik an der Vorherrschaft eines bestimmten sprachlogischen Modells sein. Der Vorwurf betrifft hier nicht so sehr die Überformung der Natur durch den Geist, sondern die Überformung des Bildlichen durch die Sprache. Dieses Argument findet sich mit Blick auf Hegel wiederum in Derridas Die Wahrheit in der Malerei. Derrida behauptet dort, Hegel habe »den gesamten Raum den diskursiven Künsten, der Stimme und dem logos unterworfen.«39 Das »geschichtlich überkommene[…] Interpretationssystem« Hegels beruhe »in seiner rückhaltlosen Tautologie darauf, das Besagen-Wollen eines jeden Kunst genannten Werks zu hinterfragen, selbst wenn seine Form nicht die des Besagens ist.«40 Zu fragen, »was ein plastisches […] Werk besagen will«, hieße also, die Medienspezifik der Raumkünste zu verfehlen.41 Dafür, dass Hegel die Sprache in gewisser Weise für vollkommener hält als das Bild, lassen sich viele Hinweise finden. So etwa sein mediengeschichtliches Narrativ der fortschreitenden Befreiung der künstlerischen Produktivkräfte. Dieses führt vom räumlich-materiellen 37

Vgl. Peters 2015, 54 ff. Gemäß der Formel: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV B 75) 39 Derrida 1992, 39. Die Berufung auf das Poetische macht dabei trotz vieler Unterschiede für Derrida das Gemeinsame im ästhetischen Denken Hegels und Heideggers aus: »Wie kommt es, daß ihnen dennoch gemeinsam ist: alle Künste der Rede zu unterwerfen und, wenn nicht der Poesie, so doch wenigstens dem Gedichteten, dem Gesagten, der Sprache, der Rede, der Benennung (Sage*, Dichtung*, Sprache*, Nennen*) ?« Ebd. 40. 40 Ebd. 38. 41 Ebd. 38 f. 38



Hegels Malereitheorie

Dasein von Architektur und Skulptur über die ideelle Sichtbarkeit der Malerei zum ideellen musikalischen Ton bis zur Sprachkunst, die sich ganz in das innere Medium der Vorstellung zurückgezogen hat. Die Poesie wird damit zur letzten Kunstform, die in ihrer Sprachlichkeit zugleich zur Prosa der wissenschaftlichen Erfassung des Geistes überleiten soll. Schließlich erscheint die Poesie auch als umfassendste Kunst, die die medienspezifischen Einschränkungen anderer Kunstformen überwinde.42 Wie lässt sich Hegel gegen diesen zweiten Vorwurf verteidigen und als Theoretiker des Bildes ernstnehmen ? Die Antwort hierauf besteht zunächst in einem Blick in die Malereitheorie. Diese entwirft in der Tat ein Modell der Medienspezifik der Malerei, das Eigenschaften wie Verflachung, Färbung und Rahmung in den Mittelpunkt stellt, wie spezifisch in Kapitel III.5 zu betrachten sein wird. Orientiert man sich an diesen konkreten Ausführungen, fehlen einfach Hinweise dafür, dass Hegel die Medienspezifik des Visuellen durch ein aussagelogisches Modell verzerrt.43 Ein noch stärkeres Argument, Hegel als Denker des Visuellen erst zu nehmen, besteht darin, dass das zentrale Paradigma und Beispiel der Ästhetik kein sprachliches, sondern ein visuelles ist, nämlich dasjenige der sichtbaren Expressivität der menschlichen Gestalt, die spezifisch an Organen wie Haut und Augen festgemacht wird.44 Hierfür haben sich insbesondere verkörperungstheoretische Lesarten Hegels interessiert (etwa Hilmer, Pippin und Peters), die als eine Alternative zu den logozentrischen Lesarten gleich noch genauer betrachtet werden. Die zentrale Bedeutung von Leiblichkeit, Flächigkeit und Farbigkeit für Hegels Bildkonzept wird nicht nur von Derrida übersehen, sondern auch von Lyotard und Otto, die eine vergleichbare Logozentrismuskritik vorbringen.45 Alle drei Positionen einer logozentrischen Lesart Hegels scheinen die Vor­ 42 »Kunst der Rede, Poesie überhaupt […] ist die absolute, wahrhafte Kunst. Das Element [der Poesie] ist das Unendliche, Reiche der Rede, worin alles sich vorstellig machen kann, was der Geist konzipiert hat.« VÄ Kehler 1826, 156, MS 290. 43 Hier ist natürlich zu bemerken, dass die Frage der Medienspezifik durchaus unterschiedlich beantwortet werden kann. So ist Hegels Idee einer Medienspezifik der Malerei etwa deutlich von derjenigen Greenbergs unterschieden. Vgl. hierzu Kapitel III.5.1. 44 Zur Sonderstellung dieses Beispiels vgl. Pippin, der von einer »Beziehung, die enger als eine Analogie ist«, spricht: Pippin 2012, 37. Sowie Peters, die diese Beziehung ebenfalls »in a more literal sense« verstehen will. Peters, Julia (2015): Hegel on Beauty, New York: Routledge, 16. 45 Otto betrachtet die für die neuzeitliche Frage nach der Subjektivität entscheidende romantische Kunstform nur von der Poesie her und übergeht dabei die Malerei. »Die romantische Kunst findet demgegenüber ihre Ausprägung vornehmlich in der Poesie, die Hegel eine ›geistige Veranschaulichung selber‹ nennt, eine Kunst nämlich ›des in sich freigewordenen, nicht an das äußerlich-sinnliche Materal [sic] zur Realisation gebundenen Geistes‹.« Otto 2007, 209.

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lesungen über die Ästhetik vor allem vor der Folie der Theorie des subjektiven Geistes der Enzyklopädie zu lesen. Dort kommt es, wie in Kapitel III.2 gezeigt wird, tatsächlich zur völligen Aufhebung von äußerer Anschauung, Bild und Kunst in einem Denken in arbiträren Sprachzeichen. Die These einer »strukturgenau[en]« Entsprechung46 dieser Überlegungen mit jenen der Ästhetik übersieht allerdings, dass die zentralen zeichentheoretischen Überlegungen der Ästhetik in diesen Passagen der Enzyklopädie gar nicht vorkommen. Dort wird die Kunst allein unter dem Aspekt des Symbolischen, als einer Vorstufe des arbiträren Zeichens bzw. Namens, erwähnt.47 Auch in der Ästhetik ist das Symbolische lediglich Vorstufe, allerdings einer ganz anderen Zeichenkonzeption, die an der Expressivität der menschlichen Gestalt orientiert ist. Fazit: Der erste Logozentrismusvorwurf trifft Hegel, insofern er nicht nach dem Nichtidentischen der Natur, sondern nach der aisthetischen Dimension des Geistes fragt, die er in der menschlichen Leiblichkeit findet. Der zweite Logozentrismusvorwurf trifft ihn nicht, weil er, anders als seine Kritiker annehmen, durchaus eine Theorie der Medienspezifik des Bildlichen hat. Sein geistphilosophischer Fokus legt Hegel keineswegs auf eine allein sprachlogische oder sprachförmige Auffassung des Denkens oder Wissens fest. Hinzuzufügen ist, dass es mit Blick auf Hegel auch kein Widerspruch ist, von einer Poetik des Bildes zu sprechen. Mit Bezug auf Platons Symposium spricht Hegel vom Poiein als »Übersetzen[] aus dem Nichtgesehenwerden in das Gese­ henwerden«.48 Der Poiesis oder Poetik geht es also um ein Hervorbringen, das nicht nur sagbar, sondern auch sichtbar sein kann.49

1.2.2 Der doppelte Anachronismus in Hegels Kunsttheorie

Die philosophische Ambivalenz der Position Hegels hat auch eine historische Dimension. Zwar gesteht Hegel der Kunst die Fähigkeit zu, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine ›absolute‹ Form des Orientierungswissens zu stiften; diese Funktion wird allerdings in die Vergangenheit verlegt, nämlich in 46 Ottos These lautet: »das in den Vorlesungen über die Ästhetik konstatierte Ende der Kunst (mitsamt der ihr eigenen Anschaulichkeit, durch welche kein ›selbstgewisser‹ Geist ›hindurchscheint‹) entspricht strukturgenau der in der Enzyklopädie vorgenommenen Aufhebung bildlich-anschaulicher Erinnerung in ein abstraktes Gedächtnis, das der anschaulichen Bilder nicht mehr bedarf, weil es mit von der Intelligenz produzierten ›eigentlich‹ anschaulichen Zeichen arbeitet.« Otto 2007, 210. 47 Vgl. das unten Ende von Kapitel III.2. 48 PhG 293. 49 vgl. Kapitel III.4.3.



Hegels Malereitheorie

die klassische Antike. Entsprechend wird Hegel ein doppelter Anachronismus (aus moderner Sicht) vorgeworfen. Erstens sei seine Kunsttheorie rettungslos veraltet, weil sie in einem klassizistischen Ideal der Schönheit den unwiederbringlichen Höhepunkt der Kunst verorte: »In der klassischen Kunst ist der Begriff des Schönen realisiert; schöner kann nichts werden.«50 Zweitens führe ihn diese antiquierte und anachronistische ästhetische Haltung dazu, die Kunst selbst für antiquiert zu halten. Mit seiner These vom Ende der Kunst leugne Hegel, dass die Kunst für den modernen Menschen noch eine wesentliche Rolle als Erkenntnismedium spielen kann.51 Wie Henrich zusammenfassend feststellt: Aufgrund ihres reflexiven Charakters werde für Hegel in modernen Gesellschaften die Form rationaler Argumentation zur einzig angemessenen Weise der Beantwortung der grundlegenden Menschheitsfragen. Dies privilegiere das begriffliche und diskursive Medium der Philosophie, in dem zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Natur eine letztgültige befriedigende Antwort gefunden habe.52 Die Kunst erweise sich daher für Hegel in zwei Weisen als mangelhaft. Zum einen durch Redundanz: Der Kunst komme lediglich die Rolle einer illustrierenden Darstellung anderswo erreichter und begründeter Einsichten zu. Zum anderen durch Nichtadäquatheit: Die Inhalte modernen Lebens seien selbst zu abstrakt geworden, um im ästhetischen Medium der Kunst adäquat und vollständig dargestellt werden zu können. Die Kunst könne allenfalls Ausschnitte eines solchen Wissens bieten.53 Die Idee, dass ein anschauliches Denken bloß historisch-vorübergehende Funktion hat, wurde bereits mit Bezug auf Kant an der sogenannten Kompensationsthese Bertrand Russels diskutiert. Diese besagt, dass sich die Unverzichtbarkeit der Anschauung als Erkenntnisquelle nur vor dem Hintergrund unterentwickelter diskursiver Möglichkeiten ergibt. Während sie in der Vergangenheit die Mängel der traditionellen Logik kompensiert habe, erweise sich die Anschauung im Kontext der logifizierten und axiomatisierten Mathematik der Moderne als redundant und nichtadäquat. Eine analoge 50 VÄ Hotho 1823, 166 MS 179. Der Feststellung, dass die klassische Kunst den unwiederbringlichen Gipfel schöner Kunst darstellt, fügt Hegel hinzu: »Dennoch gibt es Höheres als die schöne Erscheinung des Geistes in seiner […] sinnlichen Gestalt.« Ebd. 51 Vgl. zu beiden Punkten die ausführlichen Darstellungen bei Peters 2015, 127 ff., und Rutter 2010, 6 ff. 52 Vgl. Henrich, Dieter (1966): »Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart. Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel«, in: Wolfgang Iser (Hg.): Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, München: Fink, 11–32. Ich beziehe mich auf die Darstellung von Peters. 53 Vgl. Peters 2015, 128.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Argumentation scheinen wir nun bei Hegel zu finden, allerdings mit dem Unterschied, dass Hegel sein eigener logizistischer Kritiker ist. Die Aufwertung der Ästhetik wird wieder im Sinne eines Logizismus zurückgenommen: Die Anschauung kompensiert in früheren Epochen lediglich dasjenige, was in der Moderne durch das diskursive Medium der Philosophie adäquater geleistet werden kann.54 Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass Hegel nicht notwendigerweise so gelesen werden muss. Hierbei werden zunächst eine kunsttheoretische, dann eine verkörperungstheoretische Lösung diskutiert, an die im Weiteren angeknüpft werden soll.

1.3 Verteidigungen und Modernisierungen Hegels 1.3.1 Kunsttheoretische Lesarten

Die Debatte zum Ende der Kunst ist so umfangreich, dass sie hier nur kursorisch angerissen werden kann, und zwar mit Blick auf die gängige Strategie, Hegel zu seiner Verteidigung als Theoretiker einer Krise der Kunst zu lesen. Eine subtilere Lesart seiner Skepsis an der Leistungsfähigkeit von Kunst lässt diese dann gerade als Stärke erscheinen. Hegel wird so etwa zum potenziellen Vorläufer der Postmoderne und der Diagnose, dass die ästhetische Moderne mit dem Ziel gescheitert ist, eine verbindliche Formensprache der Kunst und große Kunstwerke zu schaffen.55 In einem solchen Sinne schreibt etwa Bernstein: »Something of art has ended. The debate is not about the fact, but about its significance«.56 Ein zeitdiagnostisches Krisenbewusstsein lässt sich bei Hegel aber auch für seinen eigenen historischen Kontext attestieren. Er erscheint dann als Denker einer Krise des Klassizismus, und gerade 54 Für ein solches Konzept exemplarisch stünde die Interpretation Hilmers: Hilmer, Brigitte (1997): Scheinen des Begriffs. Hegels Logik der Kunst, Hamburg: Meiner. Dort liest sie letztlich die Ästhetik vollständig vor der Folie der Logik. Dies steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihrer Betonung des verkörperungstheoretischen Motivs in Hilmer, Brigitte (2005): »Kunst als verkörperte Bedeutung«, in: Annemarie Gethmann-Siefert (Hg.): Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, München: Fink, 53–65. 55 »There is an intense elective affinity between Hegel’s announcement of the end of art and the situation of twentieth century art, especially modernist art, as if the fate that Hegel had proclaimed was finally realized, or perhaps just realized again, with the social eclipse of the project of modernist painting that occurred sometime in the middle part of the twentieth century.« Bernstein, J. M. (2006): Against Voluptuous Bodies. Late Modernism and the Idea of Painting, Stanford, Calif.: Stanford University Press, 223. 56 Ebd. 223 f.



Hegels Malereitheorie

darin als modern. In diesem Sinne ist etwa für Peters Hegels These vom Gipfelpunkt der Kunst in der Antike, wenn überhaupt, »a peculiar version of neoclassicism indeed«.57 Hegel vertrete nämlich zwar die Unübertroffenheit der griechischen Kunst, lehne letztere aber zugleich als normativen Standard zukünftiger Kunstwerke ab. Die Leistungsfähigkeit von Hegels historischer Perspektive zeigt sich dabei etwa im Vergleich mit Schellings überzeitlichmetaphysischer Kunsttheorie. Schelling und Hegel stellen gleichermaßen fest, dass die antike Kunst unmittelbares Organ der Erzeugung von Sittlichkeit und zugleich Einheit von schöner Form und mythologischem Inhalt sei. Schellings Klassizismus überträgt diese Bestimmung nun, wie Collenberg feststellt, »ungebrochen auf die Gegenwart, indem er die antike durch die christliche Mythologie ersetzt«.58 Hegel kann dann genau als Gegner eine solch bruchlosen Übersetzung der Funktion und Gestalt antiker Kunst in die Moderne gelesen werden. D. h., er ist skeptisch, dass es der Kunst in der Moderne gelingen könne, ein geschlossenes und unhinterfragtes ästhetisch-mythologisches Weltbild zu schaffen.59 Denn die Kunst muss sich einerseits durch die Philosophie der Kunst die Frage ihrer Legitimität stellen lassen. Andererseits wird sie von der alleinigen Orientierungsform, zu einer Orientierungs- oder Wissensform unter anderen.60 Dabei wird zugleich die »unmittelbare affirmative Identifikation mit dem Kunstwerk und seinem Inhalt« zu einer »reflektierten, bis hin zur ironisch-kritischen Beziehung zur Kunst erweitert.«61 Das Ende der Kunst bedeutet in diesem Sinne also die kritische Einschränkung ihrer Funktion, totalitär-ästhetische Weltbilder zu schaffen, wie sie es in der Kunstreligion der Antike tut. Eine konkrete Ausprägung erhalten Hegels antiklassizistische Tendenzen in seiner Malereitheorie. Dies zeigen, spezifisch mit Blick auf die originalen Vorlesungsnachschriften, die zwei aktuellsten und ausführlichsten Untersuchungen zu Hegels Malereitheorie: Bernadette Collenbergs Aufsatz »Hegels Konzeption des Kolorits in den Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst« und Benjamin Rutters Kapitel »Painting Life« in seiner Monographie Hegel on the Modern Arts. Dies betrifft zum einen die Debatte um disegno und colore, die ein Thema der zentralen Ästhetikdebatte der Neuzeit, der Querelle des Anciens et Modernes gewesen war. Hegel knüpft hier, vermittelt auch über Goethes Farbenlehre, an die Position der Modernen an, spezifisch an Diderots 57

Peters 2015, 2. Collenberg 1992, 114. 59 Bzw. »unhinterfragt die Funktion der Gestaltung einer Gesellschaftsformation« übernehmen. Ebd. 115. 60 Ebd. 61 Gethmann-Siefert 2005, 275. 58

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Eintreten für das Kolorit gegen den klassizistisch geprägten französischen Akademismus. Auch innerhalb der deutschen Ästhetikdebatte ist es Hegel, der gegen das von Winckelmann, Kant und Schelling vertretene Primat von Form und Zeichnung die Bedeutung der Farbe in der Malerei betont. Seine Modernität zeigt sich hierbei nicht bloß im Lob Tizians, sondern spezifisch in der Wertschätzung der niederländischen Genremalerei, die vom Winckelmann’schen Klassizismus wie vom französischen Akademismus gleicher­ maßen abgelehnt wurde. Gerade diese niedrige Gattung, der ein substanziell bedeutsamer Gegenstand fehlt, erweist sich hierbei als Katalysator für eine neue Auffassung von Malerei, in der das Darstellungsmittel Farbe von der Verbildlichung hoher Inhalte freigesetzt wird. Das von Winckelmann diskreditierend und ironisch vorgetragene Lob ihrer ›Zauberey der Farben‹ macht Hegel wortwörtlich zum positiven Theoriebestand.62 Die niederländische Genremalerei erweist sich so als aussichtsreichster Kandidat für eine hegelianische Konzeption moderner Kunst: Dies leistet die niederländische Malerei als ›Kunst des Scheins‹ bzw. ›banale Kunst‹ (Rutter), die ihre Objektivität nicht mehr wie die antike oder christliche Kunst von der Legitimität ihrer Gegenstände bezieht, aber dennoch nicht ins bloß Gefällige und Sentimentale abgleitet.63 Ihre spezifische Leistung besteht stattdessen darin, die Äußerlichkeiten und Kontingenzen der Moderne, etwa die Subjektivität individueller Weltsichten in ihr ästhetisches Programm zu inkorporieren und so zu reflektieren.64 Hierbei kommt es, wie auch Hilmer feststellt, angesichts des Fehlens einer allgemeinverbindlichen inhaltlichen Bedeutung zu einem reflexiven Umgang mit Bedeutung, der auch potentielle Bedeutungslosigkeit einschließt.65 Zugleich hat diese Kunst aber trotzdem einen, wenn auch banalen, Inhalt: Sie ist zum einen Ausdruck der bürger­ lichen Identität der Niederländer, zum anderen eine Kunst des Humanus, der es um alles geht, worin der Mensch potentiell heimisch sein kann.66 Nicht das 62

Vgl. Collenberg 1992, 92 f. »Hegel kann die Freisetzung der Farbe vom Dienst am hohen Inhalt sowohl kon­ sta­tieren als auch akzeptieren, wo sie nicht bloß auf den Effekt, d. h. den rein empfindungsmäßigen Bezug des Rezipienten auf die Darstellung abhebt, sondern wo über die freigesetzte Farbe in einem Zusammenspiel von Sinnlichem und Geistigem noch eine Objektivität erzielt wird.« Ebd. 95. Dabei: »Dieser reflexive Umgang mit Bedeutung unterscheidet diese Darstellung des Bedeutungslosen von der irreflexiven Bedeutungslosigkeit des bloß Ästhetischen oder Dekorativen.« Hilmer 2005, 61. 64 Das Projekt einer banalen Kunst bestehe im »effort to acknowledge and thus to reincorporate the facts of externality.« Rutter 2010, 58. 65 Es gehe um eine »mit Bedeutungslosigkeit verschränkte Bedeutung.« Hilmer 2005, 60. 66 Vgl. Rutter 2010, 58. »In diesem Hinausgehen jedoch der Kunst über sich selber 63



Hegels Malereitheorie

Übermenschlich-Göttliche, sondern der Mensch in seiner diesseitigen Existenz bleibt so für Hegel der letzte – allerding durchaus unerschöpfliche – Inhalt der Kunst. An diese Verteidigung der kunsttheoretischen Modernität Hegels knüpft die Studie an, indem sie sich auf das dort gezeichnete antiklassische Bild von Hegels Ästhetik bezieht. Dies besteht in der Einsicht, dass die nachklassische Kunst für Hegel keineswegs bloß eine Verfallsform ist, sowie in der bereits zu Anfang erwähnten Erkenntnis von Collenberg und Rutter, dass Hegels Malereitheorie – wird von Hothos Zusätzen abgesehen – eine Theorie des colore ist. Allerdings entwickelt die Studie insgesamt eine andere Perspektive auf die Malereitheorie. Anstelle einer Anschlussfähigkeit an die Diskussionen der Kunsttheorie von der Querelle des Anciens et Modernes des 17. und 18. Jahrhunderts bis zum Konflikt zwischen Moderne und Postmoderne im 20. Jahrhundert geht es ihr um eine systematische Perspektive, deren Ausgangspunkt eine verkörperungstheoretische Lesart Hegels ist.

1.3.2 Verkörperungstheoretische Lesarten

Die hier vorgeschlagene Lesart von Hegels Ästhetik knüpft im Wesentlichen an drei Positionen an, die sich unter dem Titel einer verkörperungstheoretischen oder auch leiblichkeitstheoretischen Lesart zusammenfassen lassen. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie die Frage von Leiblichkeit und Verkörperung als ein zentrales Thema von Hegels Ästhetik identifizieren, spezifisch mit Blick darauf, dass für Hegel nicht etwa die organische Natur, sondern der menschliche Leib das zentrale Modell dafür ist, wie Kunstwerke Sinn erzeugen. In ihrem Aufsatz »Kunst als verkörperte Bedeutung« (2005) bestimmt Hilmer demzufolge als Medium und Inhalt der Kunst nach Hegel die »Genese von Bedeutung« im Rahmen der »Erfahrung und Herstellung ist sie ebensosehr ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht, die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchen, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schick­salen.« VÄ II 238. »Es ist dies ein Gehalt, der nicht an und für sich künstlerisch bestimmt bleibt, sondern die Bestimmtheit des Inhalts und des Ausgestaltens der willkürlichen Erfindung überläßt, doch kein Interesse ausschließt, da die Kunst nicht mehr das nur darzustellen braucht, was auf einer ihrer bestimmten Stufen absolut zu Hause ist, sondern alles, worin der Mensch überhaupt heimisch zu sein die Befähigung hat.« VÄ II 238.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

von imaginär-leiblichen Gestaltungs- und Entstaltungsprozessen«.67 Sie unterscheidet damit verschiedene Modelle von Leiblichkeit, die jeweils der symbolischen, klassischen und romantischen Kunstform zu Grunde liegen. Indem sie eine Beziehung zwischen Hegels Theorie der Leiblichkeit zu jüngeren verkörperungstheoretischen Positionen von Lakoff und Johnson oder Lacan herstellt68, ist sie vorbildhaft für die Weise, wie die vorliegende Studie Hegel etwa mit der verkörperungstheoretischen Position von Krois zusammenliest. Hilmers relativ knappe Ausführungen verbleiben allerdings in einem allgemeinen bedeutungstheoretischen Rahmen, der die Medienspezifik der Malerei, die in dieser Studie im Mittelpunkt steht, unberücksichtigt lässt. Die Monographie Hegel on Beauty (2015) von Peters ist in zwei Hinsichten für diese Studie wegweisend.69 Sie macht deutlich, wie eine verkörperungstheoretische Deutung als Verteidigungsstrategie gegen Adornos Vorwurf einer geistphilosophischen Überformung von Natur in Hegels Ästhetik dienen kann: Hegel ist zwar – wie Adorno richtigerweise kritisiert – nicht generell an Natur interessiert, aber doch mit einer signifikanten Ausnahme: der organischen Konstitution menschlicher Leiblichkeit. In der Folge stellt Peters eine Verbindung zwischen den leibtheoretischen Passagen der Anthropologie aus der Enzklopädie der philosophischen Wissenschaften mit jenen der Vorlesun­ gen über die Ästhetik her, woran die Studie ebenfalls anknüpft.70 Der Ansatz von Peters unterscheidet sich aber auch signifikant von den Zielen der vorliegenden Studie: Sie legt ihren Fokus auf eine Theorie der Schönheit und nicht auf eine Theorie des anschaulichen Denkens. Indem sie das klassische Drama als paradigmatische Kunstform auswählt, überträgt sie die Überlegungen zur ›schönen Gestalt‹ auf den ›schönen Charakter‹, wodurch mediale Spezifika der Leiblichkeit letztlich wieder aus dem Blick geraten. Und schließlich verfolgt sie damit wiederum ein kunsttheoretisches Interesse. Indem sie nach dem Schicksal von Schönheit in der Moderne fragt, identifiziert sie ebenfalls die niederländische Malerei (als ›Kunst des Scheins‹) als prototypische schöne Kunst der Moderne. Diese deutet sie im Sinne eines l’art pour l’art, in dem von der leiblichen Selbstbezüglichkeit des klassischen Ideals allein die Selbstbezüglichkeit übrigbleibt und die Leiblichkeit erneut aus dem Blick gerät. Die 67

Hilmer 2005, 63 f. Etwa mit Blick auf eine imaginäre Dimension von Körperlichkeit und den Beitrag eines »ichbezogene[n] Körperbild[s] als Einheit des Empfindungsleibes zum Selbstgefühl und zu Bewegungs-, Lebens- und Interaktionsfähigkeit einer inkarnierten Person«. Ebd. 63. 69 Peters 2015. 70 Ein Hinweis auf die Bedeutung der Anthropologie in diesem Zusammenhang findet sich auch in Hilmer 2005. 68



Hegels Malereitheorie

vorliegende Studie, die sich dagegen vor allem für die verkörperungs- und performativitätstheoretischen Implikationen der Malereitheorie interessiert, nimmt einen anderen Standpunkt ein: Sie sieht in der Wende von der klassischen zur romantischen Kunstform gerade einen Fortschritt in der Weise, wie Leiblichkeit konzipiert wird, und liest insofern die Passagen der Anthropologie gerade nicht mit der Theorie klassischer Schönheit zusammen, sondern mit der Theorie der zwar nicht mehr so schönen, dafür aber in Hegels Augen anthropomorpheren Malerei. Die Monografie Kunst als Philosophie (2012) von Robert Pippin kann aus mehreren Gründen einen hauptsächlichen Anknüpfungspunkt für diese Studie bilden. Dies betrifft insbesondere Pippins Interesse für die Malerei als Form eines anschaulichen Denkens, das in Analogie zur Philosophie »philoso­ phische Errungenschaften eigener Art« hervorbringen kann.71 Ebenso wegweisend für die vorliegende Studie ist Pippins dezidiert verkörperungstheoretische Lesart der figurativen Malerei als einer nichtklassischen, romantischen Kunstform. Als zentrales Thema der Malerei begreift er dabei die Verkörperungsproblematik selbst, die er in Anschluss an eine Wendung Hegels als das ›amphibische Problem‹ bezeichnet. Im Sinne eines konflikthaftem Aufbrechens von Differenzen ist es spezifisch die romantische Epoche, der die Malerei zugehört, in der diese geistig-sinnliche Doppelnatur des Menschen zum expliziten Thema der Kunst wird.72 Ebenfalls spezifisch für die Malerei ist für Pippin die Strategie, diese Frage innerhalb eines relationalen Modells sozialer Beziehungen zu verhandeln, insofern in der Weise, wie Gemälde sich an Betrachter*innen richten, eine »Hinwendung zum anderen«73 impliziert ist. Die für die Ästhetik leitende Frage nach den Gelingensbedingungen menschlichen Handelns wird so zu der Frage, wie sich Menschen als intentionale Subjekte leiblich begegnen können. Dabei stellt Pippin im Bild des Kunstwerks als ›tausendäugigem Argus‹ eine Beziehung zwischen den leibtheoretischen Passagen des allgemeinen Teils der Ästhetik und der Malereitheorie her. Pippin zufolge ist daher die »bildliche[…] Intelligibilität der Staffeleimalerei (und anderer Künste)« für Hegel spezifisch verbunden mit der »Intelligibilität menschlicher Handlungen und die Zuschreibung von Intentionen und Handlungsbeschreibungen durch andere«.74 Dieser Zusammen71

Ebd. 9. Ebd. 74. 73 Ebd. 39. 74 Pippin 2012, 126. Der wesentliche Kontaktpunkt ist die von ihm so genannte ›Logik‹ der ›Innen-Außen‹-Beziehung: »Körperbewegungen tragen als Taten in der gleichen Weise Bedeutung (sie haben eine ›innere‹ Bedeutung), in der sinnliche Objekte wie Bilder Bedeutung als Kunstwerke tragen – nicht aufgrund der subjektiven Projektion von 72

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Teil III · Hegel: Entäußerung

hang zwischen einer nichtdiskursiven Intelligibilität von Leiblichkeit und Malerei wird in der vorliegenden Studie im Begriff einer leiblichen und bildlichen Performativität eingefangen. Eine Einschränkung des wegweisenden Buchs von Pippin liegt allerdings darin, dass es sich nicht auf die Details von Hegels Malereitheorie bezieht75 und sein Modell einer Performativität der Malerei letztlich nicht bei Hegel, sondern bei Michael Fried findet.76 Und schließlich führt diese verkörperungstheoretische Lesart der Malereitheorie auch Pippin wieder auf ein kunsttheoretisches Gebiet zurück, insofern er zeigen will, wie »die moderne Malerei mittels ihrer besonderen Ästhetik der Intelligibilität das historisches Schicksal gesellschaftlicher Subjektivität in der Moderne herausarbeitet«.77 Auf die These vom Ende der Kunst antwortet Pippin, indem er sie im Sinne des Ansatzes, Hegel hegelianischer zu machen, für schlicht falsch erklärt. Diese These sei nicht intrinsisch aus der Erschöpfung der Möglichkeiten der Kunstproduktion hergeleitet, sondern beruhe auf der Annahme, dass die moderne Gesellschaft so versöhnt und rational sei, dass die historische Aufgabe von Kunst, die geistig-sinnliche Doppelnatur des Menschen zu reflektieren, darin einfach wegfalle, weil kein Inhalt übrigbliebe, der von der Kunst ›substanziell herausgearbeitet‹ werden müsse. Dies sei aber als These über die moderne Gesellschaft schlicht historisch falsch, weil entsprechende Konflikte offenkundig fortdauerten.78 Entsprechend stelle auch die These von der romantischen Kunst »als Beginn der Erkenntnis, dass der Geist keine materielle Verkörperung erfordert, um als Geist vollkommen verwirklicht zu sein«, einen »Fehltritt« dar.79 Diesem Umgang mit dem Problem des Anachronismus der Kunst bei Hegel kann die Studie den Gedanken entnehmen, dass es für Hegel keine notwendigen intrinsischen Gründe gibt, die die Malerei als Kunstform der Vergangenheit zuordnen. Dennoch unterscheidet sich der Ansatz der Studie von dem Beobachtern und Betrachtern und nicht durch mentale Zustände verursacht, auf die man sich beziehen muß, um die intentionale Bedeutung zu erklären.« Pippin 2012, 37. 75 Eine der wenigen Stellen, auf die sich Pippin konkret und wiederholt bezieht, ist das sogenannte »Bild des tausendäugigen Argus«, mit dem Hegel auf die mehr als metaphorische Beziehung zwischen menschlichem Leib und Kunstwerk hinweist. Pippin 2012, 126. 76 Pippin bezieht sich hierbei auf die Unterscheidung von Absorption und Theatralität. Die Absorption ist der Modus, in dem uns ein Kunstwerk wie ein lebendiges Gegenüber begegnet, die Theatralität ist derjenige, wo wir uns mittels eines Beobachtungswissens auf ein Objekt beziehen. 77 Ebd. 40. 78 Pippin 2012, 61. 79 Ebd. 41 f.



Hegels Malereitheorie

Versuch einer solchen kunsttheoretischen Modernisierung Hegels deutlich. Der Studie geht es nicht um eine Weiterverlängerung seines kunsttheoretischen Narrativs (wonach die Kunst ein Prozess historischer Selbsterkenntnis von Gesellschaften ist, der in der Moderne in eine Krise gerät) in die Gegenwart. Stattdessen wird behauptet, dass sich Hegel mit Blick auf die Fragestellung des iconic turn nach einer Bildlogik und einem anschaulichen Denken aktualisieren lässt. Dabei entwirft die Studie ein Fortschrittsnarrativ, das nicht mit Hegels eigenem zu verwechseln ist. Dieses besteht in der Auffassung, dass Hegels Malereitheorie als Produkt eines iconic turn avant la lettre gedeutet werden kann, d. h. im Sinne einer von Hegel vollzogenen philosophischen Wende, die aus der Kritik an Metaphysik und Substanzdenken jene philosophischen Einsichten und begrifflichen Werkzeuge entwickelt, die als systematische Grundlagen einer Bildepistemologie dienen können. Hieraus ergibt sich auch die Eigenart dieser Hegellektüre, dass sie die spezifischen historischen Inhalte, die die Malerei für Hegel hat, zugunsten einer Untersuchung ihrer medienspezifischen Möglichkeiten ein Stück weit vernachlässigt werden. Es geht also vor allem darum zu zeigen, dass Malerei qua ihrer Medienspezifik für Hegel in der Lage ist, Modelle performativer sozialer Beziehungen zu entwerfen, weniger um die Frage, in welcher spezifischen Weise und mit welchem Inhalt sie das jeweils in besonderen historischen Situationen tut. Mit dieser eher anthropologischen Perspektive stützt sich die Studie zum einen auf die vielfältigen Zusammenhänge, die sich bei Hegel zwischen Anthropologie, Leiblichkeitstheorie und Malereitheorie finden. Zum anderen versucht sie zu zeigen, dass Hegel – in Analogie zu Kants Theorie der Anschauungsform – im Kontext der Malereitheorie so etwas wie eine Theorie der Form leiblicher Intersubjektivität entwirft. Somit wird Hegels Malereitheorie letztlich als paradigmatische und systematische Ausformulierung einer Bildtheorie gelesen, die die Fähigkeit der Bilder, ein quasi-lebendiges Gegenüber zu schaffen, und eine soziale Logik von Blickbeziehungen in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt.80 Die folgenden vier Kapitel widmen sich ausgehend von diesen Weichenstellungen den Kernfragen der Studie. Dabei wird zunächst erneut betrachtet, wie Hegel die Anschauung in seine Philosophie integriert und welchen Status sie für ihn hat. Hierfür analysiert Kapitel III.2 Hegels Konzeption der 80 Vgl. zu diesem Programm und der Unterscheidung zwischen einer Modernisierung und einer Aktualisierung Hegels auch Beck, Martin (2019a): »Malerei als verkörpertes Denken der Verkörperung. Zur Aktualität von Hegels Malereitheorie«, in: Meret Kupczyk, Ludger Schwarte, Charlotte Warsen (Hg.): Kulturtechnik Malen. Die Welt aus Farbe erschaffen  – Zur Grundlegung graphischer und figurativer Operationen. Fink: Paderborn 2019, 151–172.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Anschauung mit Blick auf das Verhältnis von Anschauung und Begriff, insbesondere mit Blick auf die Frage ob und inwiefern Hegel Kants Gedanken eines Eigenrechts der Anschauung zurücknimmt oder weiterführt. Es folgt wie bei Kant die Unterscheidung zweier Dimensionen von Anschauung. Kapitel III.3 rekonstruiert eine Hegel’sche Theorie der Eigenlogik der Anschauung als eine Theorie verkörperter Intersubjektivität. Kapitel III.4 rekonstruiert allgemeine Parameter von Hegels Theorie der Kunst als Theorie eines anschaulichen Denkens. Hierbei ergeben sich bereits eine Reihe von Hinweisen auf eine Theorie der Bildlogik. Kapitel III.5 betrachtet zunächst die Spezifika von Hegels Malereiauffassung, um dann bei Hegel anhand verschiedener Dimensionen ikonischer Differenz eine Logik der performativen Bilder zu rekonstruieren.

2. Hegels Konzeption der Anschauung

Dieses Kapitel fragt nach dem Eigenrecht und Eigenlogik der Anschauung und dem Ort eines anschaulichen Denkens bei Hegel. Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst wird gefragt, was mit Kants Gedanken zum Eigenrecht der Anschauung im Kontext der hegelschen Philosophie passiert (III.2.1). Ausgangspunkt ist dabei Hegels Kritik an der kantischen Philosophie und deren Dualismus von Anschauung und Begriff. Die in Hegels Augen subjektivistische Einstellung Kants legt seine Philosophie auf die defizitären Formen eines diskursiven Verstandes und einer leeren Vernunft fest. Während Kants Theorie des intuitiven Vernunftgebrauchs in der Mathematik unbeachtet bleibt, sieht Hegel in dem – von Kant bloß hypothetisch angenommenen – Vermögen eines intuitiven Verstandes die Chance, andere Verhältnisse von Anschauung und Begriff zu denken (III.2.1.1). Dies lässt noch offen, wie für Hegel ein derartiges anderes Verhältnis aussieht. Waren Endlichkeit und Dualismus bei Kant die Grundlage des Eigenrechts der Anschauung, so finden sich in Hegels Kantkritik Anhaltspunkte für eine Rückkehr zum metaphysischen Monismus im Sinne Leibniz’. Dieser metaphysischen Hegel-Lesart kann eine kritische Lesart entgegengestellt werden, wonach Hegel Kants Metaphysikkritik metakritisch fortführt: Hegels Überlegungen zur Anschauung zielen auf eine Kritik an Kants ›Metaphysik der Subjektivität‹ (III.2.1.2). In einem zweiten Schritt wird die Frage nach der Eigenlogik der Anschauung gestellt, mit der auch die Frage nach dem Mythos des Gegebenen wiederkehrt (III.2.2). Hierzu wird zunächst die in der Geistphilosophie entworfene Anschauungstheorie Hegels betrachtet, deren Grundlage die These einer prinzipiellen Untrennbarkeit von Anschauung und Begriff ist – Hegels Reaktion auf den Mythos des Gegebenen. Dabei finden gegenüber Kants Anschauungsbegriff zwei entscheidende Veränderungen statt. Anschauung und Begriff markieren für Hegel erstens nicht Quellen oder Ursprünge heterogener Inhalte, sondern können, wie bei Leibniz, prinzipiell dieselben Inhalte haben. Zugleich behält Hegel aber den kantischen Gedanken einer medialen Eigenlogik von Formen, etwa von Anschauungsformen, bei. Zweitens sind Empfinden, Anschauen oder begriffliches Denken für Hegel nicht isolierte Vermögen, sondern Tätigkeiten des Erkennens. Das Modell eines ›geistdurchdrungenen Anschauens‹ erlaubt es hierbei im Unterschied zu Kants Mathematiktheorie nun auch, ein anschauliches Denken zu berücksichtigen, das intelligibel ist, ohne eine explizite Form von Begrifflichkeit zu involvieren (III.2.2.1). Zur Bestimmung des Orts des anschaulichen Denkens bei Hegel müssen, wie schon bei Kant, zwei Dimen­



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Teil III · Hegel: Entäußerung

sionen von Eigenrecht und Eigenlogik der Anschauung unterschieden werden. Kritisiert wird hierbei die logozentrische Lesart Hegels, die eine Eigenlogik der Anschauung bei Hegel negiert. Diese Auffassung, wie sie etwa Derrida, Lyotard oder Otto vertreten, beruht auf zwei Annahmen: dass eine Eigenlogik der Anschauung bei Hegel in Aspekten des Aposteriori zu suchen wäre und dass es die Philosophie des theoretischen Geistes ist, die hierauf eine Antwort geben müsste. Eine Anschauung a posteriori manifestiert sich innerhalb der Geistphilosophie in der Negativität und Intransparenz der Erinnerungsbilder und der Ambiguität und Unbestimmtheit des Symbolischen. Wie Lyotard und Otto richtigerweise feststellen, bleibt all dies in der Geistphilosophie aber bloß eine ungenügende und kontaminierte Vorstufe begrifflichen Denkens und arbiträrer Zeichen. Das Kapitel schließt mit der These, dass das eigentliche anschauliche Denken bei Hegel in der Kunstphilosophie zu finden ist, die – entgegen der Auffassung Lyotards und Ottos – nicht auf die Philosophie des theoretischen Geistes zu reduzieren ist und die Anschauung in einer ganz anderen Weise medial denkt. Dort beruht sie nicht auf Aspekten des Aposteriori wie Negativität und Alterität, sondern wie bei Kant auf einem Aspekt der Form, einer apriorischen oder spontanen Sinnlichkeit (III.2.2.2).

2.1 Hegels kritische Weiterentwicklung der Idee des Eigenrechts der Anschauung 2.1.1 Hegels Gegner: diskursiver Verstand und leere Vernunft bei Kant

Das Generalthema von Hegels Kantkritik besteht darin, innerhalb der kanti­ schen Philosophie Dualismen zu lokalisieren und auf deren sekundären Status gegenüber einer ursprünglichen Identität hinzuweisen. Der »Grundmangel« in »jedem dualistischen System, insbesondere aber im Kantischen«, sei die »Inkonsequenz«, »das zu vereinen, was einen Augenblick vorher als unver­ einbar erklärt worden ist«.81 Dem Modell einer funktionalen Beziehung des Gegensätzlichen (das er auch ›verständiges Denken‹ nennt) stellt Hegel das eines ›vernünftigen Denkens‹ gegenüber, welches »Entgegensetzungen als interne Aspekte einer jeweiligen Einheit« betrachtet.82 81

EpW I, § 60, 143. Horstmann, Rolf-Peter (2007): »Den Verstand zur Vernunft bringen ? Hegels Auseinandersetzung mit Kant in der Differenz-Schrift«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Das Inter­ esse des Denkens – Hegel aus heutiger Sicht. Paderborn, München: Fink, 89–108, 98. Zusammenfassend: »Verständig nennt er ein Denken, das über den Begriff der Einheit nur im Modus der Abstraktion von Entgegensetzung verfügt. […] Verständiges Denken ist dis82



Hegels Konzeption der Anschauung

Glauben und Wissen ist einer der ersten Texte, in denen Hegel sich kritisch mit Kant auseinandersetzt und in Abgrenzung zu dessen transzendentalem oder subjektivem Idealismus sein Programm eines absoluten Idealismus formuliert83: »Weil nun die Philosophie in der absoluten Identität weder das eine der Entgegengesetzten noch das andere in seiner Abstraktion von dem anderen für sich seiend anerkennt, sondern die höchste Idee indifferent gegen beides und jedes einzeln betrachtet [/] nichts ist, ist sie Idealismus, und die Kantische Philosophie hat das Verdienst, Idealismus zu sein, insofern sie erweist, daß weder der Begriff für sich allein noch die Anschauung für sich allein etwas, die Anschauung für sich blind und der Begriff für sich leer ist, und daß die endliche Identität beider im Bewußtsein, welche Erfahrung heißt, ebensowenig eine vernünftige Erkenntnis ist. Aber indem die Kantische Philosophie jene endliche Erkenntnis für die einzig mögliche erklärt und zu dem Ansichseienden, zum Positiven eben jene negative, rein idealistische Seite oder wieder eben jenen leeren Begriff als absolute, sowohl theoretische als praktische Vernunft macht, fällt sie zurück in absolute Endlichkeit und Subjektivität, und die ganze Aufgabe und Inhalt dieser Philosophie ist nicht das Erkennen des Absoluten, sondern das Erkennen dieser Subjektivität oder eine Kritik der Erkenntnisvermögen.«84

Zunächst enthält diese Stelle bereits einen wesentlichen Hinweis auf diejenige Interpretationslinie, der sich die vorliegende Studie anschließen wird: dass Hegel die sogenannte Kodependenzthese Kants (»Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« KrV B 75) nicht etwa zurückweist oder kassiert, sondern modifiziert und kritisch weiterführt.85 Zugleich kret und partikularisierend. Vernünftig dagegen ist ein Denken, für das Einheit wesentlich auf Entgegengesetztes bezogen ist und zwar so, dass jede Einheit als synthetisches Vereinigen von Entgegengesetztem aufgefasst wird. Vernünftiges Denken begreift Entgegensetzungen als interne Aspekte einer jeweiligen Einheit, in Isolation betrachtet, und muss ihnen insofern keine unabhängige Existenz außerhalb dieser Einheit zuschreiben. Es ist daher holistisch und integrativ.« Ebd. 83 Im Folgenden werden – hierin Sedgwick folgend – die Passagen des früheren mit denen des späteren Hegel zusammengelesen, ohne diesbezüglich weitere Differenzierungen einzuführen. Dies wäre aus philologischer Sicht sonst notwendig. Vgl. Sedgwick, Sally (2012): Hegel’s Critique of Kant. From Dichotomy to Identity, Oxford: Oxford University Press. 84 GuW 302 f. 85 Dies ist eine zentrale These von Sedgwick: »Hegel indeed praises Kant for insisting upon the separate contribution, in cognition, of our faculty of intuitions (receptivity) and our faculty of concepts (spontaneity). He endorses Kant’s insight that intuitions without concepts are blind, and concepts without intuitions are empty […]. Hegel nonetheless charges that, although Kant to some extent acknowledges the intimate relation of these

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Teil III · Hegel: Entäußerung

enthält sie auch die zentralen Kritikpunkte an Kant: Kant präsentiere eine Theorie der Erfahrungserkenntnis, die lediglich eine endliche Identität von Anschauung und Begriff involviere. Und indem er zugleich alle Erkenntnis auf die Reichweite dieses diskursiven Verstandes begrenzen wolle, gelinge es ihm nicht, Subjekt und Objekt des Erkennens in ein adäquates Verhältnis zu bringen, das Hegel als absolute Identität bezeichnet. Seine Philosophie führe stattdessen in eine Art des Skeptizismus und Subjektivismus.86 Wie im Folgenden zu zeigen ist, ist die Ursache für beides in Hegels Augen jene dualistische These Kants, die als 2-Quellen-These bezeichnet wurde.87 (i) Diskursiver Verstand: Vermittlung von Anschauung und Begriff als ­›Vermischung‹ Was bedeutet es, dass Kant lediglich die endliche Identität von Anschauung und Begriff im Bewusstsein denke, und welches Defizit sieht Hegel darin ? Für Hegel sind andere Philosophien nicht schlechthin falsch, sondern beschränkt: Sie besetzen Standpunkte oder Stufen innerhalb eines von Hegel entworfenen Entwicklungsmodells des Geistes. In der Enzyklopädie ordnet Hegel die Perspektive der kantischen Philosophie unter die Kategorien ›Bewusstsein‹ und ›Wahrnehmen‹.88 Kant artikuliert für Hegel damit zugleich ungefähr das Selbstverständnis unseres Alltagsverstandes und der empirischen Wissenschaften.89 Dies beschreibt Hegel so: »Es wird von sinnlichen Gewißheiten einzelner Apperzeptionen oder Beobachtungen ausgegangen, die dadurch zur Wahrheit erhoben werden sollen, daß sie in ihrer Beziehung betrachtet, über sie reflektiert [wird], überhaupt daß sie nach bestimmten Kategorien zugleich zu etwas Notwendigem und Allgemeinem, zu Erfahrungen werden.«90 two components of cognition, he fails to fully appreciate the respect in which the two components are identical rather than absolutely opposed or heterogeneous.« Sedgwick 2012, 11. 86 Sedgwick 2012, 1. 87 Zu den verschiedenen Dualismen als zentralen Schuldigen in Hegels Kantkritik, vgl. ebd. 7. 88 »Die Kantische Philosophie kann am bestimmtesten so betrachtet werden, daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat und ganz nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben enthält.« EpW III, § 415, 202. »Die nähere Stufe des Bewußtseins, auf welcher die Kantische Philosophie den Geist auffaßt, ist das Wahr­ nehmen, welches überhaupt der Standpunkt unseres gewöhnlichen Bewußtseins und mehr oder weniger der Wissenschaften ist.« EpW III, § 420, 209. 89 Vgl. vorige Fußnote. 90 EpW III, § 420, 209.



Hegels Konzeption der Anschauung

Innerhalb des Entwicklungsmodells der Enzyklopädie besteht der entscheidende Fortschritt des Wahrnehmens darin, die Singularität einer vermeintlichen sinnlichen Gewissheit auf etwas Allgemeines zu beziehen, und damit die »abstrakte« Identität der »Gewissheit« durch die »bestimmte« Identität, also ein »Wissen« zu ersetzen.91 Die Einsicht, dass eine qualifizierte epistemische Position eine Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem voraussetzt, kann als Kants Kodependenzthese wiedererkannt werden. Diese bestimmte Identität bleibt allerdings, wie Hegel schon in Glauben und Wissen formuliert, bloß endliche Identität. In der Enzyklopädie schreibt er, die »Verknüpfung von Einzelnem und Allgemeinem« sei lediglich »Vermischung«.92 Dies liegt daran, dass das Erkennen hier im Aufeinanderbeziehen zweier heterogener Relata besteht: Zum einen bleibt »das Einzelne zum Grunde liegendes Sein und fest gegen das Allgemeine […], auf welches es zugleich bezogen ist«93; zum anderen handelt es sich bei den »Beziehungen, Reflexionsbestimmungen und All­ gemeinheiten« um »logische Bestimmungen«, die »durch das Denkende, d. i. hier durch das Ich gesetzt« sind.94 Hegels Kritik der 2-Quellen-These basiert also zunächst darauf, dass diese mit einem beschränkten Modell des Erkennens assoziiert ist. Dieses Modell geht davon aus, dass zwei Vorstellungstypen existieren, die aus unterschiedlichen Quellen stammen und gewissermaßen getrennte Zutaten einer funktionalen Einheit bilden.95 (ii) Leere Vernunft: der endliche Standpunkt als ›Verzicht auf Wahrheit‹ Der zweite Kritikpunkt Hegels betrifft Kants Rückzug auf die epistemischen Ressourcen endlicher Subjektivität. Obgleich Kant feststelle, dass mit dieser noch keine »vernünftige Erkenntnis« erreicht sei, erkläre er dennoch »jene endliche Erkenntnis für die einzig mögliche«.96 Hegel bezeichnet die kantische Philosophie daher auch als »vollendete Verstandesphilosophie, die auf Vernunft Verzicht tut«.97 Dieser Verzicht auf ein »Erkennen des Absoluten« 91

EpW III, § 420, 208. EpW III, § 421, 210. 93 Ebd. 94 EpW III, § 419, 208. 95 Zugleich sei Kant allerdings unfähig, eine solche Einheit auch im Bereich der theo­ retischen und praktischen Vernunft zu denken. Diese hat es ja bekanntermaßen mit ›Ideen‹ oder ›Noumena‹ zu tun, also mit ›leeren Begriffen‹: Vom Gegenstand einer rationalen Erkenntnis, eines ›Noumenon‹, sagt Kant, es bleibe »diese Vorstellung doch für uns leer, und dient zu nichts, als die Grenzen unserer sinnlichen Erkenntnis zu bezeichnen, und einen Raum übrig zu lassen, den wir weder durch mögliche Erfahrung, noch durch den reinen Verstand ausfüllen können.« KrV B 345. 96 GuW 303. 97 VGPh III 385. 92

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führe Kant in einen Subjektivismus, indem er sich auf ein »Erkennen dieser Subjektivität oder eine Kritik der Erkenntnisvermögen« beschränke.98 Und dies hat auch gewisse skeptische Konsequenzen, insofern »die Frage nach dem, was an und für sich wahr ist, aufgegeben«99 werde. Auch hier geht es um die 2-Quellen-These Kants, allerdings mit Blick auf die tieferliegende Frage nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt (oder Geist und Natur) insgesamt. In dieser Hinsicht denke Kant das »Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes, das in seiner abstrakten Bestimmung das Ding-an-sich heißt«.100 Dieses Modell muss überwunden werden, wenn eine Vernunfterkenntnis im Sinne Hegels möglich sein soll. Wie ist dies zu verstehen ? Wie Sedgwick anmerkt, gibt es eine Standardinterpretation dieser Kritik Hegels an Kant, die diese auf ein Missverständnis zurückführt.101 Dies betrifft etwa Hegels Feststellung, dass Kant die Erkenntnisse des endlichen Verstandes »nicht für Wahrheiten, sondern nur für Erkenntnisse von Erscheinungen gelten lässt.«102 Hegel vertritt aus dieser Perspektive eine ›deflationäre‹ Interpretation von Kants Erscheinungsbegriff, wonach wir es nur mit bloß subjektiven Repräsentationen einer an sich bestehenden, aber für uns unerkennbaren Wahrheit zu tun hätten.103 Kants transzendentaler Idealismus wird hier also dem Idealismus Berkeleys gleichgesetzt. Ein derartiger Vorwurf Hegels lässt sich – etwa mit Blick auf Kants ›Widerlegung des Idealismus‹ und seine Auffassung eines empirischen Realismus – leicht zurückweisen. Wie auch schon im Kant-Teil dieser Studie betont, geht es Kant mit seinem Erscheinungsbegriff nicht um eine bloß subjektive Repräsentation der Welt, sondern um die Unhintergehbarkeit des Phänomenalen. Mit Sedgwick ist das von Hegel festgestellte Problem des Subjektivismus und seiner skeptischen Konsequenzen hingegen im Kontext derjenigen Unterscheidung zu lesen, die Kant in § 76 und § 77 der KU entwickelt: Dort wird – mit Hinblick auf die Frage einer systematischen Einheit unserer Naturerkenntnis – der diskursive Verstand des Menschen von einem hypothetischen 98

GuW 303. VGPh III 333. 100 EpW I, § 95, 202. 101 Vgl. hierzu Sedgwick 2012, 73 ff. 102 EpW I, § 40, 112. Gemeint ist also Kants Auffassung, dass der menschliche Verstand nicht »auf Dinge an sich selbst […,] sondern lediglich auf Erscheinungen« (KrV B 344) gehe. 103 »The charge, in effect, is that Hegel makes the mistake of interpreting appearances in the deflationary sense: he confuses Kant’s claim that we can know only appearances with the view that we can know only our contingent or merely subjective representations of the real.« Sedgwick 2012, 81. 99



Hegels Konzeption der Anschauung

intuitiven Verstand unterschieden. Zentral ist hierbei die »Zufälligkeit der Beschaffenheit« unseres Verstandes:104 »Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muß, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden, und das unter seine Begriffe gebracht werden kann.«105

Dieser diskursive Verstand hat es also im Sinne der 2-Quellen-These mit einer Rezeptivität der Eindrücke zu tun, die unter die Spontaneität der Begriffe subsumiert wird, in diesem Fall so, dass ausgehend von diesen Eindrücken empirische Begriffe und Klassifikationen gebildet werden. Eben diese Angewiesenheit auf ein gegebenes Material macht es aber in Kants Augen unmöglich zu wissen, ob die entsprechende Ordnung auch der Natur entspricht.106 Hierdurch erweist sich der concept-intuition gap, die Kluft zwischen Begriff und Anschauung, als sceptical gap (Sedgwick), eine skeptische Kluft.107 Demgegenüber postuliert Kant die Möglichkeit eines »intuitiven Verstand[es]«, welcher »nicht vom Allgemeinen zum Besonderen und so zum Einzelnen (durch Begriffe) geht, und für welchen jene Zufälligkeit der Zusammenstimmung der Natur in ihren Produkten nach besondern Gesetzen zum Verstande nicht angetroffen wird«.108 Dass die skeptische Kluft zwischen Geist und Natur dabei ausbleibt, liegt daran, dass dieser hypothetisch angenommene Verstand von »der Anschauung eines Ganzen«109 ausgehen und dabei zugleich die Gegenstände seines Denkens selbst hervorbringen würde. In eben diesem intuitiven Verstand findet Hegel bei Kant selbst den Ansatzpunkt für eine Überwindung des kantischen Dualismus: 104 KU B 346. Zu den verschiedenen Dimensionen dieser Zufälligkeit vgl. Sedgwick 2012, 22. Kant spricht auch davon, dass sich »Einheit des Erkenntnisses« im Falle unseres diskursiven Verstandes »nur durch Übereinstimmung der Naturmerkmale zu unserm Vermögen der Begriffe« realisiert, »welche sehr zufällig ist«. KU B 347. 105 KU B 347. 106 »As discursive, our form of understanding must subsume sensible particulars under concepts, and it does this by dividing the given material of knowledge into species and genera. Since our understanding cannot, however, determine how particulars will be given, we have no way of knowing that our classifications are in keeping with ›nature’s products‹.« Sedgwick 2012, 22. 107 Vgl. Sedgwick 2012, 151. Vgl. auch Derridas entsprechende Rede von einem ›Abgrund‹ in Bezug auf die KU, Derrida 1992, 39. Zum Problem von Kluft und Übergang in Bezug auf die KU generell vgl. Pries, Christine (1995): Übergänge ohne Brücken. Kants Er­ habenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin: Akademie. 108 KU B 347. 109 KU B 348.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

»Hier [beim intuitiven Verstand] ist der Gedanke eines anderen Verhältnisses vom Allgemeinen des Verstandes zum Besonderen der Anschauung aufgestellt, als in der Lehre von der theoretischen und praktischen Vernunft zugrunde liegt. Es verknüpft sich damit aber nicht die Einsicht, daß jenes das wahrhafte, ja die Wahrheit selbst ist.«110

Zuerst ist dieser Stelle ein Schlagwort zu entnehmen, das gewissermaßen programmatisch über Hegels Stellungnahme zu Anschauung und Begriff gestellt werden kann. Ist Kants Ausgangspunkt (gegen Leibniz) das Eigenrecht der Anschauung, so ist es bei Hegel die Idee eines anderen Verhältnisses.111 Hier wie auch anderswo, etwa in der Idee von der produktiven Einbildungskraft als gemeinsamer Wurzel der zwei Stämme der Erkenntnis, sieht Hegel seine eigene Konzeption antizipiert. Sein Vorwurf an Kant besteht dann in der Halbherzigkeit, mit der solche Konzeptionen immer noch innerhalb einer Theorie subjektiver Erkenntnisvermögen entworfen werden oder den Charakter des bloß Hypothetischen oder Regulativen haben.112 Zugleich zeigt für Hegel das offenkundige Bedürfnis nach solchen Regulativkonstruktionen, dass die kantische Position inkonsistent bzw. unbefriedigend ist. Der Verzicht auf Wahrheit führt zu einer ›Sehnsucht‹ nach ihr.113 Was macht Hegel nun aus diesem Modell des intuitiven Verstandes ?

2.1.2 Das Modell des intuitiven Verstands: Metaphysik oder ­Metaphysikkritik  ?

Hegel will also die Eigenschaften des intuitiven Verstandes, der für Kant letztlich bloß eine hypothetische Konstruktion war, zum Modell einer tatsäch110

EpW I, § 56, 140. Im Kant-Kapitel wurde an der Mathematiktheorie versucht zu zeigen, wie auch Kants Idee eines Eigenrechts der Anschauung letztlich zur Idee eines ›anderen Verhältnisses‹ gelangt. Dies kann auch für die Theorie des ›intuitiven Verstandes‹ gelten. Für Hegel ist diese Idee unmittelbarer Ausgangspunkt seiner Überlegungen. 112 »Die Kantische Philosophie kann am bestimmtesten so betrachtet werden, daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat und ganz nur Bestimmungen der Phänomenologie, nicht der Philosophie desselben enthält. Sie betrachtet Ich als Beziehung auf ein Jenseitsliegendes, das in seiner abstrakten Bestimmung das Ding-an-sich heißt; und nur nach dieser Endlichkeit faßt sie sowohl die Intelligenz als den Willen. Wenn sie im Begriffe der reflektierenden Urteilskraft zwar auf die Idee des Geistes, die Subjekt-Objektivität, einen anschauenden Verstand usf., wie auch auf die Idee der Natur kommt, so wird diese Idee selbst wieder zu einer Erscheinung, nämlich einer subjektiven Maxime herabgesetzt.« EpW I, § 95, 202, vgl. dort auch § 58 sowie die Einleitung. 113 VGPh III 386. 111



Hegels Konzeption der Anschauung

lichen Überwindung der Beschränkungen und Dualismen des diskursiven Verstandes machen. Dabei geht es ihm um die Schließung der Kluft zwischen Anschauung und Begriff (concept-intuition gap), die sich durch die 2-QuellenThese ergeben hatte. Insofern die Eigenschaften des kantischen Verstandes – Endlichkeit, Dualismus, Beschränkung auf Erscheinung etc. – gerade das Produkt von Kants Kritik an Leibniz sind, liegt zunächst die Vermutung nahe, dass Hegel in gewisser Weise die Uhr zurückdrehen will.114 Diese Auffassung kann als metaphysische Lesart bezeichnet werden, die Hegel als Restaurator von Kerndogmen vorkantischer Metaphysik sieht. Mit Blick auf deren fünf in Kapitel II.2.1.1 dargestellte Grundzüge würde das bedeuten: (i) Das unendliche theologische Subjekt der Metaphysik Leibniz‹, das zugleich absolutes Erkennen und absoluter Weltgrund war, kehrt wieder in Gestalt absoluter Subjektivität.115 (ii) Der Primat der Logik wird restauriert durch Hegels Wissenschaft der Logik, die die Struktur des logos bzw. des Begriffs gänzlich unabhängig von angeschauten und vorgestellten Substraten entwickeln will: »Die Logik stellt […] die Selbstbewegung der absoluten Idee […] dar, sie ist in dem reinen Gedanken[…].«116 (iii) Ein intellektuelles System der Welt kehrt wieder in dem Gedanken, dass die in der Logik entwickelten Denkbestimmungen zugleich die ontologischen Strukturen von Natur und Geist selbst sein sollen: Die Realität, auf die sich der Begriff bezieht, ist keine, die ihm von außen gegeben wird, sondern »seine eigene aus ihm selbst erzeugte Realität«.117 (iv) Für die Ästhetik bedeutet das die Wiederkehr der Idee von Sinnlichkeit als verworrener Begrifflichkeit, insofern Empfindung, Anschauung und Vorstellung keine genuin eigenen Inhalte haben, sondern die in der Logik entwickelten Denkbestimmungen.118 114

Vgl. Sedgwick 2012, 8. Aus Ottos Kritik scheint eine Nähe zu dieser Lesart hervor, wenn er Hegels Lösung der Probleme transzendentaler Subjektivität vor allem als Überbietung durch einen übergreifenden Begriff absoluter Subjektivität auffasst. 116 WdL II 550. Der »Begriff […] selbst […] wird nicht sinnlich angeschaut oder vorgestellt; er ist nur Gegenstand, Produkt und Inhalt des Denkens und die an und für sich seiende Sache, der Logos, die Vernunft dessen was ist, die Wahrheit dessen, was den Namen der Dinge führt«. WdL I 30. Zusammenfassend hierzu: Iber, Christian (2000): »Was will Hegel eigentlich mit seiner Wissenschaft der Logik ? Kleine Einführung in Hegels Logik«, in: Andreas Arndt; Christian Iber (Hg.): Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspekti­ ven. Berlin: Akademie, 13–32, 16. 117 WdL II 264. 118 Diese Denkbestimmungen sind zugleich »das grundsätzlich Gedachte in allem und jedem inhaltlichen Anschauen, Vorstellen oder Denken.« Iber 2000, 17. 115

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(v) Und schließlich kehrt in Hegels Teleologie die Idee einer Kontinuität des Rationalen und eines platonischen Aufstiegs zum reinen Denken wieder: im theoretischen Geist als Aufstieg von der Anschauung über die Vorstellung zum reinen Denken; im absoluten Geist als Aufstieg von Kunst über Religion zur Philosophie.119 Die Modalitäten ästhetischen Wissens gälten demnach wie bei Leibniz nur als mangelhafte Vorstufen. Verwandt ist dieser Lesart die eines ebenfalls problematischen hegelschen Superrationalismus, der davon ausginge, Menschen hätten tatsächlich das Vermögen eines intuitiven Verstandes, der sinnliche Anschauungen und materielle Objekte aus sich selbst erzeugt.120 Daneben gibt es (nach Sedgwick) noch zwei weitere Ansätze, denen gemeinsam ist, die Anschauung-BegriffKluft durch Reduktionismus zu schließen: Für die Lesart eines reduktiven Empirismus sind bei Hegel Begriffe auf Anschauungen zurückführbar, da der Geist und seine Formen letztlich als Produkte der Natur zu begreifen wären.121 Umgekehrt ist ein reduktiver Rationalismus in Form eines Internalismus denkbar, für den das einzig mögliche Objekt menschlicher Kognition das Denken selbst ist.122 Eine solche Position hätte nun allerdings die Schwäche, dass sie den von Hegel kritisierten Subjektivismus Kants gewissermaßen noch verstärken würde. Im Sinne von McDowells Mythos des Gegebenen hätten wir es erneut mit dem Oszillieren zwischen zwei gleichermaßen unbefriedigenden Positionen zu tun: Hegels Versuch, sich des philosophischen Ballasts eines Gegebenen (und des Affiziertwerdens davon) zu entledigen, hätte so nur das ebenso problematische Resultat eines frictionless spinning in a void.123 Während sich unbestreitbar für all diese Lesarten Anhaltspunkte finden, dient dieser Studie eine Lesart von Sedgwick und Pippin zur Orientierung, die als die produktivste und modernste erscheint: Demnach überwindet Hegel die Kluft zwischen Begriff und Anschauung nicht mit einem metaphy119 »[D]ie Philosophie hat mit Kunst und Religion denselben Inhalt und denselben Zweck; aber sie ist die höchste Weise, die absolute Idee zu erfassen, weil ihre Weise die höchste, der Begriff ist.« WdL II 549. 120 »[T]he view that human cognition possesses the productive capacity of the intuitive intellect to literally generate sensible intuitions and thereby bring material objects into being.« Sedgwick 2012, 129. 121 »On this reading, his strategy for overcoming dualism involves persuading us that the mind and its forms are simply products of nature.« Ebd. 128. 122 »[T]he only possible object of human cognition, for Hegel, is thought itself.« Ebd. 129. 123 Mc Dowell 1994, 11. Vgl. auch Sedgwick 2012, 13. Dies ist auch der Vorwurf Wildenauers gegen Pippin in Wildenauer, Miriam (2003): »The Epistemic Role of Intuitions and their Forms in Hegel’s Philosophy«, Hegel-Studien 38, 83–104. Pippin weist dies zurück in Pippin, Robert B. (2005): »Concept and Intuition. On Distinguishability and Separability«, Hegel-Studien 39, 25–39.



Hegels Konzeption der Anschauung

sischen oder reduktionistischen Monismus, sondern indem er (i) die Kritik Kants am Mythos des Gegebenen aufnimmt (Es gibt kein Objekt ohne Anteil des Subjekts), (ii) sie zugleich aber radikalisiert (Es gibt auch kein Subjekt ohne einen Anteil des Objekts). Kritisiert werden muss demnach die hierarchische Aufteilung, die Kant in der Folge der 2-Quellen-These entwickelt: die der Anschauung als passiver Materie und der Begriffe als spontaner Formgebung. Seinen paradigmatischen Ausdruck findet dies in Kants Theorie der reinen Verstandesbegriffe, die das transzendentale Subjekt als seine formalen Bedingungen in sich selbst vorfinden soll.124 Aus dieser Sicht geht es Hegel dann nicht um die Elimination der Unterscheidung von Anschauung und Begriff, sondern darum, »to challenge Kant’s particular conception of the nature and function of our concepts and sensible intuitions (and of the faculties responsible for them).«125 Es geht Hegel, wie schon festgestellt, um ›andere Verhältnisse‹, wie es im folgenden Abschnitt zunächst am theoretischen Geist betrachtet werden soll. Damit ist der metaphysischen Lesart eine kritische Lesart gegenübergestellt. Hegel betreibt demnach nicht die Restauration der leibnizschen OntoTheologie, sondern hat als Fortsetzer und Radikalisierer von Kants Metaphysikkritik zu gelten. Er erkennt dabei an, dass Kants Rückzug auf das endliche Subjekt als letzten Grund des Erkennens entscheidend für die Überwindung des »objektiven Dogmatismus« der »Verstandesmetaphysik« ist, damit aber zugleich in das andere Extrem eines »subjektiven Dogmatismus« führt.126 Durch Kant werde lediglich »der Dogmatismus des Seins in den Dogmatismus des Denkens, die Metaphysik der Objektivität in die Metaphysik der Subjektivität umgeschmolzen«.127 Für Hegel sind die resultierenden Probleme nicht durch mehr Metaphysik zu lösen (also durch eine Rückkehr zur Ontologie), sondern nur durch mehr Metaphysikkritik. In den folgenden Kapiteln soll deutlich werden, wie auch Hegels Ästhetik – so wie Kants transzendentale Ästhetik – spezifisch das Produkt einer solchen Metaphysikkritik ist. 124 Die zentrale These von Sedgwick, mit der sie über McDowell hinausgeht und die sie auch bei Pippin realisiert sieht: Es gehe darum, »Hegel’s strategy for closing the concept-intuition gap« so zu verstehen, dass diese »involve[s], not just a new account of receptivity (as already containing spontaneity), but also a new account of spontaneity.« Sedgwick 2012, 127, Fußnote 34. 125 Ebd. 56. Auf andere Weise sind Hegels Phänomenologie und Logik damit befasst, dass es kein voraussetzungsloses Erkennen im Sinne einer Unabhängigkeit der Vernunft gibt und es unmöglich ist, voraussetzungslos zu beginnen; dass aber das Denken jeweils wieder finden muss, dass es auf falschen Voraussetzungen beruht; Denken ist nicht nur spontan, sondern auch bedingt. 126 VGPh III 333. 127 GuW 430.

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Diese richtet sich dann nicht mehr gegen das rationalistische intellektuelle System der Welt, sondern gegen die Metaphysik der Subjektivität, die die kritische Philosophie in ihrer nur partiell vollzogenen Kritik errichtet hat. Hierbei wird man Hegel wohl am ehesten gerecht, wenn man ein Nebeneinander kritischer und metaphysischer Tendenzen in seiner Philosophie diagnostiziert, wie dies etwa auch Iber in seiner Lektüre von Hegels Logik tut.128 Wenn man dieses Nebeneinander widerstrebender Tendenzen anerkennt, dann kann sich daraus, wie noch in Bezug etwa auf Pippins Kritik der These vom Ende der Kunst zu sehen sein wird, die Idee ergeben, im Sinne einer internen Kritik ›Hegel hegelianischer zu machen‹, d. h. einen kritischen Hegel zu verwenden, um Elemente eines metaphysischen Hegel aufzubrechen.

2.2 Die Eigenlogik der Anschauung bei Hegel

Während Kants Modell des diskursiven Verstandes für Hegel in der Phänomenologie129 seinen Platz hatte, entwirft Hegel das für ihn selbst maßgebliche Modell in einer Psychologie oder Geisttheorie. Auf dieser Ebene soll eine isolierte Rezeptivität, wonach der Geist »Eindrücke von außen empfange, sie auf­ nehme, daß die Vorstellungen durch Einwirkungen äußerlicher Dinge als der Ursachen entstehen«,130 keine Rolle mehr spielen. Der von Hegel beschriebene Geist basiert nicht mehr auf einem Gegensatz von Subjekt und Objekt mit ihren entsprechenden Anteilen, die im Modus der ›Vermischung‹ im Sinne ›endlicher Identität‹ aufeinander bezogen werden. Er ist, wie Hegel sich ausdrückt, »die schlechthin allgemeine, durchaus gegensatzlose Gewißheit seiner selbst.«131 Der Geist bezieht sich auf ein Seiendes, das ein Seiniges ist.132 Inner128 Iber stellt im Sinne der hier vertreten Lesart fest, dass die Intention der Logik »in ihrer Basis keineswegs Restauration traditioneller Ontotheologie [ist], sondern Kritik moderner Subjektivitätsphilosophie, und zwar so, daß sie in Wahrheit deren Vollendung darstellt.« Sie schlage allerdings in »Restauration von Metaphysik um, insofern sie die Wirklichkeit, die sie in Wahrheit nur thetisch-objektivistisch aufgreift, sogar als praktische Zweckrealisierung und Objektivierung der reinen Innerlichkeit des subjektiven Begriffs auslegt.« Iber 2000, 29. 129 Hier in der entsprechenden Kurzfassung der Enzyklopädie. In komplexerer Weise auch in der PhG. 130 »Eine Menge sonstiger Formen, die von der Intelligenz gebraucht werden, daß sie Eindrücke von außen empfange, sie aufnehme, daß die Vorstellungen durch Einwirkungen äußerlicher Dinge als der Ursachen entstehen usf., gehören einem Standpunkt von Kategorien an, der nicht der Standpunkt des Geistes und der philosophischen Betrachtung ist.« EpW III, § 445, 241. 131 EpW III, § 440 Zus., 230. 132 »[I]ndem er in seinem Anfange bestimmt ist, ist diese Bestimmtheit die gedoppelte,



Hegels Konzeption der Anschauung

halb dieser Konzeption wird der Begriff der Anschauung gegenüber Kant in zwei Weisen transformiert.

2.2.1 Hegels Geistphilosophie: Anschauung als mediale Form

Bereits in den einleitenden Paragraphen der Enzyklopädie macht Hegel deutlich, inwiefern er Kants These von den zwei Quellen der Erkenntnis durch ein anderes Modell ersetzen will: Für Kant ist, wie schon gesehen, der »Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen« ein »transzendental[er]« Unterschied und betrifft »den Ursprung und den Inhalt« der Erkenntnisse.133 Für Hegel gilt stattdessen die Untrennbarkeit dieser Dimensionen: »Nichts ist im Verstand, was nicht in den Sinnen war,« soll gleichermaßen gelten wie: »Nichts ist den Sinnen, was nicht im Verstand war«.134 In der Folge verliert bei Hegel der Unterschied von Anschauungen und Begriffen den transzendentalen Sinn zweier verschiedener Ursprünge, denen zwei völlig heterogene Arten von Inhalten zugeordnet sind. Hegel unterscheidet stattdessen Formen, die sich auf denselben Inhalt beziehen können: »Gefühl, Anschauung, Bild usf. sind insofern die Formen solchen Inhalts, welcher ein und derselbe bleibt, ob er gefühlt, angeschaut, vorgestellt, gewollt, oder ob er nur gefühlt oder aber mit Vermischung von Gedanken gefühlt, angeschaut usf. oder ganz unvermischt gedacht wird. In irgendeiner dieser Formen oder in der Vermischung mehrerer ist der Inhalt Gegenstand des Bewußtseins.«135

Diese Formen können in Analogie zu grammatikalischen Flexions- oder Beugungsformen verstanden werden. So wie man durch Konjugation und Deklination verschiedene grammatische Formen eines Verbs oder Substantivs die des Seienden und die des seinigen; nach jener etwas als seiend in sich zu finden, nach dieser es nur als das Seinige zu setzen.« EpW III, § 443, 236. 133 KrV B 61 f. Beispiele waren der Vernunftbegriff des Rechts, der (wie etwa auch die Kategorien) rein intellektuellen Ursprungs ist, und die »Vorstellung eines Körpers in der Anschauung«, die zur Rezeptivität und Sinnlichkeit gehört. Ebd. 134 »›[N]ihil est in itellectu, quod non fuerit in sensu‹, – es ist nichts im Denken, was nicht im Sinne, in der Erfahrung gewesen. Es ist nur für einen Mißverstand zu achten, wenn die spekulative Philosophie diesen Satz nicht zugeben wollt. Aber umgekehrt wird sie ebenso behaupten: ›nihil est in sensu, quod non fuerit in intellectu‹ – in dem ganz allgemeinen Sinne, dass der nous und in tieferer Bestimmung der Geist die Ursache der Welt ist, und dem näheren, daß das rechtliche, sittliche, religiöse Gefühl ein Gefühl und damit eine Erfahrung von solchem Inhalte ist, der seine Wurzel und seinen Sitz im Denken hat.« EpW I, § 8, 51 f. 135 EpW I, § 3, 44.

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erhält, kann für Hegel derselbe Inhalt (z. B. ein moralischer Inhalt) einmal in Form des Gefühls, einmal in Form des expliziten Denkens oder Begriffs vorhanden sein. Ebenso könnte von verschiedenen Registern der Intentionalität die Rede sein. Zwar spricht Hegel auch hierbei von ›Vermischung‹, allerdings nicht im Sinne einer Vermischung von unterschiedlichen Inhalten, sondern von zugleich ablaufenden Tätigkeiten.136 Wichtig ist allerdings auch, dass diese Formen keinesfalls neutral sind: »In dieser Gegenständlichkeit schlagen sich aber auch die Bestimmtheiten dieser Formen zum Inhalte; so daß nach jeder dieser Formen ein besonderer Gegenstand zu entstehen scheint, und, was an sich dasselbe ist, als ein verschiedener Inhalt aussehen kann.«137

An Stellen wie diesen gibt es bei Hegel medientheoretische Überlegungen, in denen die mediale Eigenlogik dieser Formen oder Register reflektiert wird. Deren Macht geht für Hegel so weit, dass er sie für die Illusion verantwortlich macht, man habe es mit verschiedenen Inhalten zu tun. In einer vorläufigen Charakteristik könnte man sagen, dass Hegels Modell des subjektiven Geistes eine Synthese von Elementen der leibnizschen Theorie der Vorstellungsarten und der kantischen Theorie verschiedener Formen ist, woraus auch dessen Komplexität resultiert.138 Wie Leibniz geht er von einer grundsätzlichen Kontinuität kognitiver Inhalte innerhalb der verschiedenen Gegebenheitsweisen aus.139 Für Leibniz waren diese verschiedenen Stufen allerdings nur in logischen Termini differenziert: Ein und derselbe Inhalt 136 Dies wird etwa in Hegels Konzeption des Sehens deutlich, das für ihn eine habitualisierte Tätigkeit und dabei zugleich eine komplexe Überlagerung verschiedener sensueller und kognitiver Schichten ist: »Die Form der Gewohnheit umfaßt alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes […]. Ebenso Sehen und so fort ist die konkrete Gewohnheit, welche unmittelbar die vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseins, der Anschauung, des Verstandes usf. in einem einfachen Akt vereint.« EpW III, § 410, 186. Hierauf weist insbesondere Houlgate hin, um Hegel gegen den Vorwurf eines problematischen Okularzentrismus und eines vereinfachten Modells von Sehen zu verteidigen. Vgl. Houlgate 1993. 137 EpW I, § 3, 44. 138 Eine weitere Weise, in der Hegel die Positionen von Kant und Leibniz zusammenbringt: Wie Kant denkt Hegel eine grundlegende Korrespondenz (wenn auch verstanden als Untrennbarkeit) spontaner und rezeptiver Momente. Wie Leibniz macht er die Rolle der Zeichen bzw. der Sprache zentral. Es gibt bei Hegel also so etwas wie eine Grundspannung zwischen (inhaltlicher) Kontinuität und (medialer) Eigenständigkeit. 139 Kant hatte dies ja durch das Modell der verschiedenen Quellen und Inhalte abgelöst: Durch die Empfindung ist ein Inhalt gegeben, der in Anschauungsformen geordnet und materieller Bezugspunkt von Syntheseleistungen ist, die ihren Ursprung im reinen Verstand haben.



Hegels Konzeption der Anschauung

kann entweder klar oder dunkel, deutlich oder verworren, nichtadäquat oder adäquat vorliegen, was bedeutet, dass logische Operationen ausreichen, um Vorstellungsweisen ineinander zu konvertieren, und dass diese letztlich nur durch Grade logischer Vollkommenheit unterschieden sind. Für Hegel haben die verschieden Formen hingegen eigene Bestimmungen und Eigenschaften, womit er die kantische Idee der medialen Eigenlogik verschiedener Register aufnimmt.140 Exemplarisch zeigt sich das dort, wo Hegel Kants Theorie der Formen der Anschauung mit ihren Funktionen wie Individuation, Externalisierung und Objektivierung explizit in sein Modell des theoretischen Geistes integriert.141 Es kommt hierbei innerhalb seines Werks sogar zu einer Aufwertung der kantischen Theorie der Anschauungsform: Hatte Hegel diese in der Phänomenologie des Geistes noch im bewusstseinsphilosophischen Kontext situiert (genauer: der Überwindung der sinnlichen Gewissheit), so korrigiert er sich in der Enzyklopädie explizit und integriert sie in seine Theorie des Geistes. Mit der Begründung, dass darin schon die »vernünftige Bestimmung, das Andere seiner selbst zu sein«, verwirklicht sei.142 Die These, die im folgenden Kapitel (III.3) entwickelt werden wird, ist, dass Hegel nicht nur Kants Theorie der Anschauungsform würdigt, sondern auch ein eigenes Pendant dazu entwickelt. So wie sich Kants Theorie des Raums als Anschauungsform als mediale Form des verkörperten menschlichen Weltbezugs deuten lässt, lassen sich Hegels Gedanken zur verkörperten Subjekt-Subjekt-Beziehung als Theorie einer medialen Form rekonstruieren. Und danach (III.4) wird deutlich, dass das Spezifische der Kunst ebenfalls in einer solchen Form liegt. Sind die »drei Reiche des absoluten Geistes«, die bei »Gleichheit des Inhalts […] nur durch die Formen unterschieden« sind, »in welchen sie ihr Objekt, das Absolute, zum Bewußtsein bringen«, so gilt: Kunst ist die »erste Form […] dieses Erfassens«: »ein unmittelbares und eben darum sinnliches Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt.«143

140 »Gefühl, Anschauung, Vorstellung,  – Formen, die von dem Denken als Form zu unterscheiden sind.« EpW I, § 2, 42. 141 Vgl. EpW III, § 448. 142 Ebd., § 448, 249. 143 VÄ I 139. Den drei Stufen des theoretischen Geistes (Anschauen, Vorstellen, Denken) sind dann die drei Formen Kunst, Religion, Philosophie zugeordnet.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

2.2.2  Geistdurchdrungene Anschauung: intelligibel ohne expliziten Begriff

In seiner Geistphilosophie kritisiert Hegel Vermögens- oder Kräftelehren, die die menschliche Kognition auf einzelne Vermögen von Verstand, Sinnlichkeit, Einbildungskraft etc. zurückführen. Derartiges begreift Hegel als eine Verdinglichung, die den Geist zu einer »verknöcherten, mechanischen Sammlung« mache.144 Demgegenüber will Hegel die Einheit des menschlichen Geistes aus seinem Tätigkeitscharakter begründen: Das »Tun der Intelligenz als theoretischen Geistes« nennt Hegel »Erkennen«: »Anschauen, Vorstellen, Erinnern usf.« sollen nicht eigenständige, vom Erkennen unterschiedene Tätigkeiten sein, sondern sind »Momente seiner realisierenden Tätigkeit […]; diese Tätigkeiten haben keinen anderen immanenten Sinn; ihr Zweck ist allein der Begriff des Erkennens.«145 Hegels Kritik richtet sich hierbei nicht nur gegen die Isolierung eines Vermögens ›Anschauung‹ in der philosophischen Reflexion, sondern ebenfalls in einem normativen Sinne gegen ›isoliertes Anschauen‹ als reale Tätigkeit: »Auch isoliertes, d. i. geistloses Anschauen, Phantasieren usf. kann freilich Befriedigung gewähren […]. Die wahre Befriedigung aber, gibt man zu, gewähre nur ein von Verstand und Geist durchdrungenes Anschauen, vernünftiges Vorstellen, von Vernunft durchdrungene, Ideen darstellende Produktionen der Phantasie usf., d. i. erkennendes Anschauen, Vorstellen usf. Das Wahre, das solcher Befriedigung zugeschrieben wird, liegt darin, daß das Anschauen, Vorstellen usf. nicht isoliert, sondern nur als Moment der Totalität, des Erkennens selbst, vorhanden ist.«146

Hegels Konzeption einer Einheit des Geistes beruht also auch auf einer normativen Wertung: Ein autonomes oder unvermitteltes Anschauen ist gegenüber einem ›geistdurchdrungenen‹ Anschauen defizient und abkünftig.147 Derartige Aussagen Hegels werden typischerweise als Feindschaft gegenüber einer autonomen Dimension von Ästhetik und Aisthetik und als Ausdruck einer geistphilosophischen und heteronomen Überformung derselben gelesen.148

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EpW III, § 445, 241. EpW III, § 445, 242: Dies ist wiederum nicht so zu verstehen, »daß sie unter anderem auch erkenne, außerdem aber auch anschaue, vorstelle, sich erinnere, einbilde usf.« 146 EpW III, § 445, 243. 147 Vgl. auch § 455 Anm. zum »Fortgehen an Bildern und Vorstellungen nach der assoziierenden Einbildung« als »Spiel eines gedankenlosen Vorstellens«. Ebd. 263. 148 So etwa von Wiesing und Otto. Vgl. dazu Kapitel III.1, sowie III.4. 145



Hegels Konzeption der Anschauung

Diese Lesart hat ihre eigene Berechtigung; sie verstellt aber den Blick auf dasjenige, was Hegels genuiner Beitrag einer Theorie anschaulichen Denkens sein kann. Zu erinnern ist wieder an die vorher erwähnten Leitfiguren. Geht es Kant zunächst darum, gegen die intellektualistische Metaphysik vehement das Eigenrecht der Anschauung zu etablieren, so betont Hegel zugleich mit der Idee der Untrennbarkeit der beiden Dimension die eines »anderen Verhältnisses vom Allgemeinen des Verstandes zum Besonderen der Anschauung«.149 Hegels Kritik an einer isolierten Anschauung kann demzufolge in der Linie der Kritik am Mythos des Gegebenen gelesen werden. Wie oben gezeigt, ist es Hegels Ansicht, dass gerade Kants Festhalten an einem eigenständig gegebenen Gehalt der Anschauung dazu führt, dass die Vermittlung von Anschauung und Begriff nur als ein explizites Sub­sumieren von passiver Materie unter spontane Denkformen gedacht werden kann. Wie Pippin betont, erlaubt es Hegels Modell einer grundsätzlichen Untrennbarkeit von Anschauung und Begriff dagegen, andere Verhältnisse dieser Relata zu denken, d. h. auch eine Intelligibilität geistiger Inhalte, die nicht im Medium expliziter Begrifflichkeit stattfinden muss. In diesem Sinne lassen sich die Instanzen von ›erkennendem‹ oder ›geistdurchdrungenem‹ Anschauen deuten, die Hegel von dem ›isolierten‹ Anschauen als bloßer Rezeptivität abhebt.150 So kann die Dimension von Denken oder Erkennen mit Hegel wesentlich pluraler gefasst werden als nach dem Modell der Kritik der reinen Vernunft.151 In Kants Modell des diskursiven Verstandes ist das Einzelne der 149

EpW I, § 56, 140; meine Hervorhebung. Vgl. Pippin 2012, 29 f.: »Das heißt, die Fichte, Schelling und Hegel gemeinsame Behauptung von der Untrennbarkeit von Begriff und Anschauung, entweder als eine Revision Kants (als Versuch, den Geist und nicht den Buchstaben seines Textes einzufangen) oder als eine Ausweitung seiner (wahren oder tiefen) Position verstanden, veränderte den Status und die Bedeutung der Kunst in umfassender Weise. Sie bedeutete, dass Kunstwerke in der ihnen eigenen bestimmten Art und Weise als (begrifflich) gehaltvoll verstanden werden konnten und damit als Modi, den Geist für sich selbst intelligibel zu machen, auch wenn man sie nicht als Urteile irgendeiner Art oder als in Begriffe gefaßte Anschauungen, die als Objekte empirischer Erfahrung gelten, verstehen konnte.« In einer Fußnote hierzu: »Oder anders formuliert: Das Leugnen der Möglichkeit eines nichtbegrifflichen Gehalts in der bewussten Erfahrung und der nachfolgende Versuch, die besondere ästhetische Dimension einer solchen begrifflich vermittelten Intelligibilität davon zu unterscheiden, konnte jetzt auf die philosophische Agenda gesetzt werden.« Ebd. 151 Dass dieses reichere Bild mentaler Tätigkeiten auch für die Frage nach einem ›anschaulichen Denken‹ einen Vorteil hat, sieht Otto: Ging es Kant in seinem Modell der transzendentalen Logik lediglich darum, »die Differenz zwischen sinnlicher Wahrnehmung und begrifflichem Denken logisch und transzendental zu überbrücken«, sei es Ziel einer Theorie anschaulichen Denkens, »die Bewusstseinsdimension zwischen ›Anschau150

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Anschauung stets bloß Substrat, d. h.  – wie Hegel sich ausdrückt  – »zum Grunde liegendes Sein«, das »fest gegen das Allgemeine bleibt, auf welches es zugleich bezogen ist.«152 Etwas sinnlich Gegebenes trifft auf die Spontaneität des Begriffs, wodurch es unter allgemeine, abstrakte Merkmale subsumiert wird. Anders gesagt gibt es hier nur entweder ›blinde‹ oder ›unter Begriffe subsumierte‹ Anschauungen. Dieses Modell wird aus Sicht dieser Studie erst in der mathematischen Erkenntnis überschritten, wo ein anderes Verhältnis statthat und Anschauung nicht mehr bloßes Substrat oder passiv rezipierte Materie, sondern operatives Medium ist. Dadurch wird es möglich, statt von einem bloß ›auf Anschauung bezogenen Denken‹, von einem ›anschaulichen Denken‹ zu sprechen. Zugleich ist aber klar, dass das von Kant entworfene Modell diagrammatischen Denkens immer noch explizite Begrifflichkeit erfordert. Die Gegenstände werden durch Definitionen erzeugt, entscheidend für erfolgreiches Operieren ist die Konstanz der Schematisierung, d. h. ein ständiges Bewusstsein des begrifflichen Gehalts, der in die Figuren ›hineingelegt‹ wurde.153 Die Idee eines anderen Verhältnisses ohne explizite Begrifflichkeit entwickelt Kant erst in der KU, wie etwa in der Geschmackstheorie oder der Theorie des anschauenden Verstandes. Hieran knüpft Hegels Begriff eines geistdurchdrungenen Anschauens an, der Formen einer Intelligibilität ohne expliziten Begriff bezeichnet. Beispiele für Modalitäten geistdurchdrungener Anschauung sind für Hegel z. B. Staunen oder Verwunderung, etwa im Sinne des »Ausspruch[s] des Aris­ toteles, daß alle Erkenntnis von der Verwunderung anfange«,154 oder auch als »erste[s] Hervortreten«155 der Kunst. Das Staunen über die Natur und die Stellung des Menschen darin ist ein intellektuelles Gefühl, in dem sich die »Ahnung eines Höheren und das Bewußtsein von Äußerlichem […] noch ungetrennt«156 zueinander verhalten. Der geistige oder begriffliche Inhalt wird hierbei im Medium der Sinnlichkeit erfasst und geahnt. Ein anderes Beispiel ist die »Goethesche Beschauung und Darlegung der inneren Vernünftigkeit der Natur und ihrer Erscheinungen«.157 Diese Morphologie ist »sinnvolle Anschauung« der Naturgebilde.158 Denken und Anschauung sind ung‹ und ›Begriff‹, die der Transzendentalphilosoph nicht auszuschreiten vermochte, auszufüllen«. Otto 2007, 201. 152 EpW III, § 421, 210. 153 Insofern ist also auch Kants Konstruktionstheorie keine Theorie eines ›isolierten Anschauens‹. 154 EpW III, § 449 Zus., 255. 155 VÄ I 408. 156 VÄ I 409. 157 VÄ I 174. 158 VÄ I 173.



Hegels Konzeption der Anschauung

darin nicht getrennt, sondern ›Sinn‹ bezieht sich, gemäß seiner doppelten Bedeutung, »einerseits auf das unmittelbar Äußerliche der Existenz, andererseits auf das innere Wesen derselben. Eine sinnvolle Betrachtung scheidet die beiden Seiten nicht etwa, sondern in der einen Richtung enthält sie auch die entgegengesetzte und faßt im sinnlichen unmittelbaren Anschauen zugleich das Wesen und den Begriff auf.«159 Aristoteles’ Verwunderung und Goethes Morphologie sind Beispiele für andere Verhältnisse von Anschauung und Begriff, wie sie etwa mit dem Verstandesmodell der KrV nicht zu denken sind. Paradoxerweise kann dies anscheinend aber nur so gedacht werden, wenn diese Formen zugleich einen prekären Status haben, wenn sie also Vorstufen bleiben, ein bloßes Ahnen, dessen Telos ein explizit begriffliches Wissen ist. So fügt Hegel hinzu, dass sich das »philosophische Denken […] über den Standpunkt« bloßer Verwunderung »erheben« muss.160 Auch eine goethesche Morphologie bleibt in dieser Hinsicht beschränkt.161 Dasselbe gilt auch für die Kunst: Hegels Idee einer Untrennbarkeit von Anschauung und Begriff liegt, wie Pippin feststellt, seiner Aufwertung der Kunst als Erscheinungsform von Wahrheit zu Grunde. Die Kunst kann nun, obgleich sie nicht explizit Begriffe gebraucht, doch als intellektuell gehaltvoll gedacht werden.162 Zugleich ist ihr Status bei Hegel bekanntermaßen prekär, wie die These vom Ende der Kunst suggeriert. Dies kann als Ausdruck der bereits zuvor genannten internen Spannung zwischen einem metaphysischen und einem kritischen Hegel begriffen werden.

2.2.3 Bild, Name, Symbol: Wo ist das anschauliche Denken bei Hegel ?

Die bisherige Betrachtung hat ergeben, dass das anschauliche Denken für Hegel erstens in einem Moment der Form, d. h. der medialen Eigenlogik der Anschauung, fundiert ist, und dass es zweitens eine Art der Intelligibilität involviert, die ohne die explizite Form der Begrifflichkeit auskommt. Nun muss noch der Ort des anschaulichen Denkens innerhalb der hegelschen Philosophie bestimmt werden. Die Grundlage hierzu soll, wie schon bei Kant, die Unterscheidung zwischen einer aposteriorischen und einer apriorischen Dimension der Anschauung bilden. Hierbei wird folgende These aufgestellt: 159

Ebd. EpW III, § 449 Zus., 255. 161 »Da sie aber eben diese Bestimmungen in noch ungetrennter Einheit in sich trägt, so bringt sie den Begriff nicht als solchen ins Bewußtsein, sondern bleibt bei der Ahnung desselben stehen.« Ebd. 162 Vgl. Fußnote 138 oben. 160

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Die logozentrische Lesart Hegels, die einen Eigensinn der Anschauung bei Hegel negiert und etwa durch Derrida, Lyotard oder Otto vertreten wird, beruht auf zwei Annahmen. Erstens, dass eine Eigenlogik der Anschauung bei Hegel in Aspekten des Aposteriori zu suchen wäre, genauer einem naturhaften Anderen der Vernunft, das dem dialektischen Übergriff der hegelschen Geistphilosophie eine Art Widerständigkeit entgegensetzt; und zweitens, dass es die Philosophie des theoretischen Geistes ist, die hierauf eine Antwort geben müsste. So spricht etwa Otto von einer »strukturgenau[en]« Entsprechung163 zwischen dem Ort von Anschauung und Bild im theoretischen Geist und der Rolle der Ästhetik im Verhältnis zur Philosophie.164 Auch Derridas Behauptung, Hegel habe »den gesamten Raum den diskursiven Künsten, der Stimme und dem logos unterworfen«, verdankt sich möglicherweise eher seinen Lektüren der Zeichentheorie der Enzyklopädie der philosophischen Wissen­ schaften als einer genaueren Auseinandersetzung mit den Vorlesungen über die Ästhetik.165 Genau diese Lektüre der Ästhetik durch die Brille des theoretischen Geistes aus der Enzyklopädie verstellt aber den Blick auf deren ganz anderes Anschauungsmodell, wie es Gegenstand der verkörperungstheoretischen Lesart ist. An der hierarchischen und teleologischen Ausrichtung der Entwicklung des theoretischen Geistes ist wenig zu deuteln: Der Geist ist als Anschauung zunächst in einem Zustand, in dem er »sich selbst so bestimmt findet, ist sein dumpfes Weben in sich, worin er sich stoffartig ist und den ganzen Stoff seines Wissens hat.«166 In diesem Modus der »Unmittelbarkeit« ist der Geist bloß fühlend, partikulär und in einem schlechten Sinne subjektiv. Endzweck und Ziel der Tätigkeit des Erkennens ist es, »die Form der Unmittelbarkeit oder der Subjektivität aufzuheben, sich zu erreichen und zu fassen, sich zu sich selbst zu 163 Das »Ende der Kunst (mitsamt der ihr eigenen Anschaulichkeit, durch welche noch kein ›selbstgewisser‹ Geist ›hindurchscheint‹) entspricht strukturgenau der in der Enzyklopädie vorgenommenen Aufhebung bildlich-anschaulicher Erinnerung in ein ab­ straktes Gedächtnis, das der anschaulichen Bilder nicht mehr bedarf, weil es mit von der Intelligenz produzierten ›eigentlich‹ anschaulichen Zeichen arbeitet.« Otto 2007, 210. 164 Diese Analogisierung stützt sich darauf, dass Hegel den drei Formen des absoluten Geistes jeweils Anschauung, Vorstellung und Denken als Medium zuweist, übersieht aber nähere Spezifika. 165 Derrida 1992, 39. Zu Derridas Auseinandersetzung mit der Enzyklopädie siehe Derrida, Jacques (1999a): »Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die hegelsche Semiologie«, in: Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen, 93–132. Vgl. hierzu erhellend und kritisch Schülein, Johannes-Georg (2015): »Hegel und die Stimme der Metaphysik. Zu Derridas Hegel-Lektüre in Der Schacht und die Pyramide«, Hegel-Jahrbuch 2015, 334–340; sowie Ders. (2016): Metaphysik und ihre Kritik bei Hegel und Derrida, Hamburg: Meiner. 166 EpW III, § 446, 246.



Hegels Konzeption der Anschauung

befreien.«167 Anschauen, Erinnern, Vorstellen etc. sind »nur als Stufen dieser Befreiung zu betrachten.«168 Das Ziel ist das »Denken, als der freie Begriff«.169 So wie bei Kant der diskursive Verstand gewissermaßen das Standardmodell des Denkens war, legt Hegel hier sein eigenes Standardmodell in Form des theoretischen Geistes dar, wobei sich zwei wesentliche Unterschiede finden: Zum einen ersetzt Hegel Kants bipolares Modell einer funktionalen Komplementarität durch ein Konzept von dialektischer Aufhebung und Übergriff.170 Zum anderen spielt die Anschauung eine doppelte Rolle: einmal steht sie wie bei Kant als objektivierte Empfindung am Anfang des Denkens, ein andermal ist sie objektivierter geistiger Gehalt, nämlich Zeichen. So ergeben sich hier zunächst zwei potentielle Kandidaten für das, was im Kontrast als bildliches Denken und dessen anschauliche Eigenlogik gelten könnte: Erinnerungsbild und Symbol. Der erste Kandidat findet sich an der Schwelle von der Anschauung zur Vorstellung: ›Anschauung‹ nennt Hegel eine Empfindung, die durch Aufmerksamkeit fixiert und – wie bei Kant – mit raum-zeitlichen Indizes versehen, d. h. externalisiert und objektiviert wurde.171 Die Vorstellung als »Mitte« zwischen Anschauen und Denken beginnt dort, wo diese Anschauungen erneut internalisiert werden; der »gefundene […] Stoff«172 dieser Anschauungen wird dabei zum ›Bild‹. So ist der Gehalt von den Bedingungen raumzeitlichen Daseins befreit, er ist »in die Allgemeinheit des Ich überhaupt aufgenommen.« Das Bild hat allerdings immer noch »Individualität«173 und unterscheidet sich von allgemeinen Vorstellungen dadurch, dass es »die sinnlich-konkretere Vorstellung ist«.174 Diese singulären Erinnerungsbilder liegen 167

EpW III, § 442, 235. Ebd. vgl. hierzu die Interpretation von Wildenauer, die diese Entwicklung des Geistes als Hegels Widerlegung des ›Mythos des Gegebenen‹ interpretiert, in Wildenauer, Miriam (2009): Epistemologie freien Denkens. Die logische Idee in Hegels Philosophie des endlichen Geistes, Hamburg: Meiner. 169 EpW III, § 468, 287. Eine solche ›Geschichte‹ scheint auch an manchen Stellen bei Kant auf, z. B.: »So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen und endigt mit Ideen.« KrV B 730. 170 »Der logisch-bipolaren Denkweise Kants stellt Hegel eine dialektische entgegen, welche die Unmittelbarkeit des Anschauens in die Vorstellung aufhebt und einem denkenden Erkennen vermittelt, das jetzt die Vorstellung und das Anschauen übergreift.« Otto 2007, 202. 171 EpW III, § 448, 249: »Die Intelligenz bestimmt hiermit den Inhalt der Empfindung als außer sich Seiendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist.«; vgl. hierzu Kants erstes Raumargument. 172 EpW III, § 451, 257. 173 EpW III, § 455, 262. 174 EpW III, § 455, 263. 168

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zunächst in einem »nächtlichen Schacht« vor, in dem sie »bewußtlos aufbe­ wahrt« sind, und werden dann durch die Fähigkeit aktiver Erinnerung verfügbar gemacht.175 Solche Bilder wären also der erste Kandidat. Der zweite Kandidat findet sich dort, wo die Vorstellungen vom Geist wieder veranschaulicht werden. Aus den singulären Erinnerungsbildern erzeugt die Einbildungskraft durch Assoziation und Abstraktion »allgemeine Vorstellungen«176. An dieser Stelle geht Hegel nun deutlich über das kantische Modell hinaus, insofern er die entscheidende Rolle von Zeichen und Sprache für das Denken reflektiert. Die allgemeinen Vorstellungen werden durch die »Zeichen machende Phanta­ sie«177 wieder in äußeren Anschauungen objektiviert, die nun allerdings Zeichenanschauungen sind. In diesem Prozess spielen auch die eben genannten Bilder eine Rolle, die allerdings zum völligen Verlust ihres Eigensinns führen soll: »Die Anschauung gilt aber in dieser Identität [als Zeichen] nicht als positiv und sich selbst, sondern etwas anderes vorstellend. Sie ist ein Bild, das eine selbständige Vorstellung der Intelligenz als Seele in sich empfangen hat, seine Bedeutung. Diese Anschauung ist das Zeichen.«178 An der Gewaltsamkeit dieses Vorgangs lässt Hegel keinen Zweifel, indem er etwa von ›Macht‹ und ›Unterwerfung‹ spricht.179 Ein Kandidat für eine Eigenlogik des Bildlichen findet sich hier allerdings in der Vorstufe des eigentlichen Zeichens, dem Symbol. Dieses ist eine »Anschauung, deren eigene Bestimmtheit ihrem Wesen und Begriffe nach mehr oder weniger der Inhalt ist, den sie als Symbol ausdrückt«180, also etwa der Adler als Symbol der Stärke Jupiters. Auch dieses bleibt aber Vorstufe. Die – mit Blick auf das Entwicklungsmodell des Geistes – fortschrittlicheren Zeichen wie Flagge oder Grabstein sind arbiträr. Telos dieser Zeichenkonzeption ist die Sprache, und darin der Name: »Bei dem Namen Löwe bedürfen wir weder der Anschauung eines solchen Tieres noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wir ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist in Namen, daß wir denken.«181 Der175

EpW III, § 453, 260. EpW III, § 455, 263. 177 EpW III, § 457, 268. 178 EpW III, § 458, 270. 179 EpW III, § 456 Zus., 257: »Diese Einheit, die Verbildlichung des Allgemeinen und die Verallgemeinerung des Bildes, kommt näher dadurch zustande, daß die allgemeine Vorstellung sich nicht zu einem neutralen, sozusagen chemischen Produkte mit dem Bild vereinigt, sondern sich als die substantielle Macht über das Bild betätigt und bewährt, dasselbe als ein Akzidentelles sich unterwirft, sich zu dessen Seele macht, in ihm für sich wird, sich erinnert, sich selber manifestiert.« 180 EpW III, § 458, 270. 181 EpW III, § 462, 278. Im Übergang zum abstrakten Namen liegt für Hegel, so Sandkaulen, »der eigentliche fundamentale Befreiungsschritt hin zum reinen, den logischen 176



Hegels Konzeption der Anschauung

artige Namen bilden den Ausgangspunkt philosophischen Denkens in einer Wissenschaft der Logik.182 Festzustellen ist zunächst, dass das zuletzt genannte Denken in Namen keinesfalls das gesuchte anschauliche Denken sein kann; es handelt sich, wie schon in Kants Modell des diskursiven Verstandes, nur um ein auf Anschauungen bezogenes Denken.183 Wo läge aber der Punkt in diesem Modell, an dem – so Otto – »die Stoßrichtung des ›anschaulichen Denkens‹« aus der hegelschen Teleologie »ausscheren muß« ?184 Für Otto ist dies das singuläre Erinnerungsbild: »[D]ie memoria mit ihren Erinnerungbildern […] birgt durchaus einen ihr ›immanenten Sinn‹: gerade unsere Unfreiheit ist ihr abzulesen, unsere Verstrickung in Schicksal und Geschichte – unser Einbehaltensein in Kontingenz, in jene ›Nichtigkeit‹, der Hegel stets aus dem Wege ging.«185 Die »philosophische ›Pointe‹« der hegelschen Zeichenkonzeption sei ein Zurückschrecken, eine »Flucht vor der ›nichtigen‹ Zeitlichkeit der Erinne­ rungsbilder.«186 Dies schlage sich gerade in Hegels Sprachkonzeption nieder, die, wie gesehen, den Eigensinn der Erinnerungsbilder zugunsten ihrer Funktion als transparente Signifikanten eliminiert. Der Inhalt des theoretischen Denkens besteht für Hegel letzten Endes aus Gedanken, die es aber mittels Begriff erfassenden Denken.« Sandkaulen, Birgit (2010): »›Bilder sind‹. Zur Ontologie des Bildes im Diskurs um 1800«, in: Johannes Grave; Arno Schubbach (Hg.): Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel, Paderborn, München: Fink, 131–151, 483. Vgl. zu dieser Konzeption vertiefend ebenfalls: Sandkaulen, Birgit (2004): »›Esel ist ein Ton‹. Das Bewusstsein und die Namen in Hegels Jenaer Systementwürfen von 1803/04 und 1805/06«, in: Heinz Kimmerle (Hg.): Die Eigenbedeutung der Jenaer Systemkonzeptionen Hegels: Gemeinsame Tagung der Internationalen Hegel-Gesell­ schaft und der Internationalen Hegel-Vereinigung, 10.-12.04.2003, Erasmus Universität Rotter­ dam, Berlin: de Gruyter, 149–164; Schülein 2015, spezifisch mit Blick auf die Logik Sánchez de León Serrano 2013. 182 »Die Logik stellt daher die Selbstbewegung der absoluten Idee nur als das ursprüngliche Wort dar, das eine Äußerung ist, aber eine solche, die als Äußeres unmittelbar wieder verschwunden ist, indem sie ist; die Idee ist also nur in dieser Selbstbestimmung, sich zu vernehmen, sie ist in dem reinen Gedanken, worin der Unterschied noch kein Anderssein, sondern sich vollkommen durchsichtig ist und bleibt.« WL II 550. 183 In diesem Sinne ist Otto zuzustimmen, wenn er feststellt, Hegel bilde somit zusammen mit Kant »bei all ihrer Differenz […] eine Frontlinie des herrscherlichen Nach-Denkens über Anschauungen«. Otto 2007, 209. 184 Ebd. 185 Ebd. 44. 186 Ebd.: »›Aufhebung‹ der Erinnerungsbilder in vom vorstellungsfreien Denken gesetzte Zeichen, Ersetzung dieser Bilder durch Wörter und Namen, Übersetzung bildlicher Anschaulichkeit in rein sprachliche Signifikanz, das ist tatsächlich die Option Hegels, das ist die semantische Binnenstruktur seiner spekulativen Philosophie eines In-sich-gehens des Geistes […].«

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Anschauungen (Namen) darstellen muss. In diesen beziehe sich der Geist allein auf sich selbst.187 Entgegen Humboldts Auffassung von Sprache als »energeia«, die Dimensionen der Verstricktheit und des Unbewussten berücksichtige, hebe Hegel die »Sprache in das ergon des Zeichens auf«188. Dieses sei als »›Produkt der Intelligenz‹«189 darauf beschränkt, »hin[zu]zeigen auf den unanschaulichen ›Begriff‹, das ›Resultat‹ des hegelschen Philosophierens.«190 Der immanente Sinn einer Dimension von Bildlichkeit und Anschaulichkeit des Denkens liegt für Otto also in dem, was im ersten Teil der Studie als Kernelement energetischer Bildkonzepte identifiziert wurde: in einer »Unfreiheit«191, d. h. der Einschränkung kognitiver Spontaneität des Menschen zugunsten einer eigentümlichen Spontaneität des Objekts.192 Otto hat in diesem Sinne zwar Recht, dass Hegel eine energetische Bildepisteme in seiner Konzeption des theoretischen Geistes ausschließt; es scheint aber falsch, dieses Ergebnis auf die Ästhetik zu übertragen, als These, dass diese überhaupt keine valide Konzeption anschaulichen Denkens enthalten könne. Letzterer geht es zwar ebenfalls nicht um Negativität und Unfreiheit, allerdings um eine aisthetische Dimension menschlicher Freiheit, die auf der medialen Eigenspezifik des menschlichen Körpers beruht. Dies wird in den Passagen zum theoretischen Geist überhaupt nicht erwähnt. Eine ähnlich gelagerte Kritik an Hegel findet sich in Lyotards Dissertationsschrift Discours, Figure. Lyotard wendet sich dem zweiten Kandidaten für bildlichen Eigensinn im theoretischen Geist zu, nämlich dem Symbol. Dieses ist Vorstufe des eigentlichen Zeichens, so wie es als Vorstufe der »Zeichen machende[n] Phantasie«193 auch eine »Phantasie, symbolisierende, allegorisie­ rende oder dichtende Einbildungskraft« gibt.194 Im Register der peirceschen Semiotik kann das Symbol als ikonisches Zeichen begriffen werden, das auf der Ähnlichkeit von Signifikat und Signifikant beruht: Der Adler steht qua 187 EpW III, § 465, 283: »So ist die Intelligenz für sich an ihr selbst erkennend; – an ihr selbst das Allgemeine; ihr Produkt, der Gedanke ist die Sache; einfache Identität des Subjektiven und Objektiven.« 188 Otto 2007, 207. 189 Hegel aus ebd. 206. »Der subjektive Geist ist hervorbringend […]. Nach außen, indem der subjektive Geist Einheit der Seele und des Bewußtseins, hiermit auch seiende, in einem anthropologische und dem Bewußtsein gemäße Realität ist, sind seine Produkte im theoretischen das Wort.« EpW III, § 444, 238. 190 Otto 2007, 207. 191 Ebd. 44. 192 »[D]ie plötzlich auftauchenden und versinkenden Bilder im Erinnerungsbewußtsein sind es zumal, die jene ›Signatur‹ der Subjektivität zu verwischen scheinen, die den Titel ›Selbstbewußtsein‹ trägt.« Ebd. 193 EpW III, § 457, 268. 194 EpW III, § 456, 266.



Hegels Konzeption der Anschauung

Stärke für die Stärke Jupiters. Auch hierin liegt für Hegel noch ein Moment der ›Äußerlichkeit‹, die in der fortschrittlicheren Form des arbiträren Zeichens eliminiert wird.195 So wie Otto Hegels Zurückschrecken vor dem Eigensinn, d. h. der Endlichkeit des Erinnerungsbildes beschreibt, so beschreibt Lyotard Hegels Abneigung gegenüber dem Eigensinn des Symbolischen, der in bedeutungsmäßiger Ambiguität, Überschuss und Schwanken liege. Hegel, so Lyotard, »accuses the symbol of being ambiguous, equivocal, for containing at the same time an excessive measure of signifier over signified […] as well as a primary uncertainty […] one cannot, on the face of it, know if it is a symbol or only a figure, since it does not carry with it the index of its function or the formula of its usage.«196 Diese Abneigung führe auch zu Hegels Skepsis gegenüber der Kunst und dem Dogma von ihrem Ende: »This is why Hegel considers art, which is the order of symbols, as fundamentally unstable and doomed to disappear.«197 Lyotard ist hier zwar insoweit zuzustimmen, dass für Hegel das Symbolische – gerade aufgrund seiner Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit – ein defizitärer Modus des Medialen ist; diese Einschätzung vertritt Hegel aber auch in seiner Ästhetik, die gerade keine Theorie des Symbolischen ist, wie Lyotard unterstellt.198 Das zentrale mediale Modell von Hegels Kunsttheorie ist stattdessen eine Theorie der »sinnliche[n] Gestalt des Menschen« als Ort eines Sich-Zeigens, wo die Gestalt gerade »nicht mehr symbolisch« ist, sondern »an ihr selbst bedeutsam«.199 Dass diese für die Ästhetik so zentrale Konzeption in den Passagen der Enzyklopädie über den theoretischen Geist nicht vorkommt (sondern früher in der Anthropologie und später im Kapitel zum absoluten Geist), lässt sich damit erklären, dass es Hegel an dieser Stelle gar nicht um den Status seiner Ästhetik geht. Ein expliziter Bezug zur Kunst findet sich lediglich in den nachträglich einge195 »Von der im Symbol vorhandenen subjektiven, durch das Bild vermittelten Bewährung schreitet aber die Intelligenz notwendig zur objektiven, an und für sich seienden Bewährung der allgemeinen Vorstellung fort.« EpW III, § 457 Zus., 269. 196 Lyotard, Jean-François (2011): Discourse, figure, Minneapolis: University of Minnesota Press, 46. 197 Lyotard 2011, 47. Weiter schreibt Lyotard, dies sei auch Ursache dafür, »why the hierarchy as well as the chronology of the arts partake of an increasing abstraction, that is, of an increasing freedom vis-a-vis the figure and an increasingly rigid closure of language upon itself; and why the fate of art is its already quasi-realized disappearance; why the beautiful figural, sensory, Greek totality is lost and can be restored only as Wissenschaft, only as real discursive, linguistic, modern (and obviously clerical-bureaucratic) totality.« Ebd. 198 Lyotard sieht das Ziel seiner »reading of the Aesthetics« in einer Theorie des Symbolischen, nämlich »showing that interiority and the immanence of meaning in the signifier, in the symbol, is in fact the exteriority of two semantic subsystems«. Ebd. 199 VÄ Hotho 1823, 157, MS 144.

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fügten, nicht von Hegel selbst stammenden Zusätzen.200 Wenn Lyotard also nahelegt, Hegels Ästhetik sei in ihrem Ganzen als Theorie von Metaphern und Allegorien zu lesen, die Hegel durch ein eigentliches Sprechen ersetzen wolle, erscheint dies als das Resultat einer Lektüre, die sich einseitig auf wenige Passagen der Enzyklopädie konzentriert und so das medienphilosophische Potential der Vorlesungen über die Ästhetik unterschätzt. Otto misst Hegel zu Recht an Rudolf Arnheims Definition eines anschaulichen Denkens, derzufolge »die Wahrnehmungs- und Bildformen nicht bloße Übersetzungen von Denkergebnissen, sondern das Fleisch und Blut des Denkens selbst« sein sollen.201 Dies interpretiert er aber im Sinne eines aposteriorischen Moments, wie es durch die Negativität von Erinnerungsbildern oder die Unbestimmtheit von Symbolen im Denken wirksam werden kann. Beides sind für Hegel tatsächlich keine relevanten Instanzen einer Eigenlogik der Anschauung. Es gibt aber, wie im Folgenden zu zeigen ist, eine weitere Option – die der hegelschen Ästhetik. Die Anschaulichkeit und Bildlichkeit des ästhetischen Denkens der Kunst liegt für Hegel darin, dass sie gegenüber dem philosophischen Denken in arbiträren Namen eine andere Form der anschaulichen und bildlichen Medialität geltend macht: die Expressivität des menschlichen Körpers, die Hegel zugleich als Inhalt und Medium ästhetischen Denkens identifiziert. Auch in dieser sucht Hegel aber nicht die Negativität, Unfreiheit oder Passivität des Subjekts, also die im weitesten Sinne aposteriorische Anschauung. Sondern gerade ein Vermögen oder Können, eine Form anschauungsbezogener, verkörperter Spontaneität, die als eine nichtempirische Sinnlichkeit begriffen werden kann. Im folgenden Kapitel soll zunächst gezeigt werden, in welchem Kontext für Hegel eine solche Dimension von Leiblichkeit relevant wird, um dann seine Theorie vom medialen Sonderstatus menschlicher Leiblichkeit genauer in den Blick zu nehmen. Dies verweist letztlich auf einen Formaspekt unserer leiblichen Existenz, in dessen Rahmen sich die gesuchte Eigenlogik der Sinnlichkeit rekonstruieren lässt: die verkörperte Subjekt-Subjekt-Beziehung als Keimzelle menschlicher Sozialität. 200 Auch dort finden sich nur sehr spärliche Anmerkungen zur Kunst; Erstens in Bezug auf die »produktive Einbildungskraft«, die »das Formelle der Kunst« bilde, insofern »die Kunst […] das wahrhaft Allgemeine oder die Idee in der Form des sinnlichen Daseins, des Bildes, dar[stelle]«. EpW III, § 456 Zus., 267. Zweitens mit Bezug auf die symbolisierende Phantasie als eine Eigenheit der Künste, die »zum Ausdruck ihrer allgemeinen Vorstellungen keinen anderen sinnlichen Stoff als denjenigen [wähle], dessen selbststän­ dige Bedeutung dem bestimmten Inhalt des zu verbildlichenden Allgemeinen entspricht.« EpW III, § 457, Zus. 269. 201 Arnheim aus Otto 2007, 201.

3. Lebensform und Anschauungsform Expressive Leiblichkeit und visuelle Reziprozität Diesem Kapitel geht es darum, so etwas wie eine hegelsche Theorie der Anschauungsform zu rekonstruieren. Ausgangspunkt ist hierbei die im vorigen Kapitel erarbeitete Feststellung, dass die verschiedenen Formen geistiger Tätigkeit für Hegel durchaus eine mediale Eigenlogik haben. Der entscheidende Unterschied zu Kant ist, dass – wie in der Einleitung beschrieben – bei Hegel ein anderes ›Grundverhältnis‹ des Menschen im Mittelpunkt steht: Thematisiert die transzendentale Ästhetik die unhintergehbare Rolle der Anschauung im Subjekt-Objekt-Verhältnis, so leistet Hegels Ästhetik etwas Analoges für das Subjekt-Subjekt-Verhältnis. Die Frage verschiebt sich also von der theoretischen zur praktischen Philosophie. Wie schon bei Kant greifen in Hegels Argumentation die Kritik intellektualistischer Metaphysik und die Entdeckung der Verkörperungsdimension des menschlichen Geistes ineinander. Hintergrund für Hegels Überlegungen zur Anschauung ist wie schon im Kapitel zuvor die Kritik an Kants Metaphysik der Subjektivität. Letztere hat für Hegel zwei Ursachen. Zum einen ist es Kants Kritik des ontologischen Reduktionismus, die ihn in das andere Extrem eines Subjektivismus führt. Zum anderen ist es Kants Versuch, die Unabhängigkeit der Vernunft zu verteidigen, die aus dieser einen ›leeren Begriff‹ macht (III.3.1). Dies zeigt sich in Kants intellektualistischer und internalistischer Freiheitskonzeption: Weil Freiheit und Vernunft in Antithese zur Sinnlichkeit entworfen werden, kann sich das kantische Subjekt als freies zwar denken, nicht aber anschauen und empfinden (III.3.1.1). Diese Situation wird in Hegels expressiver Freiheitskonzeption kritisch revidiert. Freiheit kann für Hegel nur im Rahmen der Teilnahme an Lebensformen gedacht werden: Anstelle eines internalistischen Selbstbezugs betont Hegel die Notwendigkeit der Externalisierung im Handeln, anstelle des vereinzelten Selbstbezugs die Notwendigkeit der Anerkennung durch andere Subjekte und anstelle von praktischer Vernunft als diskursiv-formaler Methode die Teilnahme an historisch gewordenen sozialen Praktiken (III.3.1.2). Als Gegenstück zur Metaphysik der Subjektivität wird bei Hegel eine Reflexion menschlicher Verkörperung im Sinne einer Theorie der Anschauungsform identifiziert. Diese kann als Ästhetik der Subjektivität bezeichnet werden und stellt die Frage: Wie manifestiert und konkretisiert sich menschliche Subjektivität in einer Sphäre gemeinsamer Anschauung ? Die Antwort



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darauf ist eine Theorie expressiver Leiblichkeit, die sich in Hegels Ästhetik und Anthropologie findet (III.3.2). Zunächst kann Hegels Gedanke eines performativen Sich-Zeigens menschlicher Leiblichkeit in drei Dimensionen skizziert werden: Erstens ist der Leib für Hegel nicht Antithese, sondern Medium des Geistes; zweitens ist er eine Grenzform des Zeichens, das nicht auf anderes verweist, sondern ›sich selbst bedeutet‹; drittens begegnet uns das leibliche Handeln anderer nicht als empirisches Naturereignis, sondern als unmittelbare Manifestation einer geistigen Spontaneität und Intentionalität. In allen drei Dimensionen liegt die spezifische Performativität des Leibes gerade in der Untrennbarkeit von Wesen und Erscheinung, Zeichen und Bedeutung, Phänomen und Ursache (III.3.2.1). Dies wird in zwei Weisen weiter mit Inhalt gefüllt: Hegels Anthropologie enthält eine Theorie des leiblichen Selbstgefühls und der Bildung und Habitualisierung des Leibes durch Gewohnheiten. Dabei zeigt sich nicht nur, wie für Hegel selbst das abstrakte Denken an den Leib zurückgebunden ist. Es wird auch deutlich, wie das Sich-selbst-im-Leib-Fühlen für Hegel zudem die Basis für die Weise ist, wie uns andere wahrnehmen: Die Performativität menschlicher Leiber ergibt sich daraus, dass diese schon immer durch Habitualisierungen geformte Leiber sind (III.3.2.2). Eine zweite Dimension des Leibes enthalten die Überlegungen der Ästhetik zur Intelligibilität des Kunstwerks. Im spezifischen Ganzheitscharakter tierischer Organismen zeigt sich zunächst für Hegel eine Qualität der ›Beseelung‹. Gegenüber den Tieren verfügt der Mensch allerdings über die Fähigkeit, sich ›für andere zu manifestieren‹. Grund hierfür ist zunächst das Organ der Haut, in dem sich Lebendigkeit und Empfindungsfähigkeit für andere manifestiert. Weiterer Grund ist das menschliche Auge, in dem sich ›Seelenhaftigkeit‹ zeigt und die Blickbeziehung als ursprüngliche Form menschlicher Sozialität (III.3.2.3). Abschließend wird der Weg von der expressiven Leiblichkeit zur Theorie der Kunst skizziert. Für Hegel existiert eine grundlegende Kontinuität zwischen den verkörperten Bedeutungen der menschlichen Lebenswelt und den verkörperten Bedeutungen der Kunst. Auf diese Weise gibt Hegel auch eine philosophische Erklärung für den Topos der ›lebendigen Bilder‹ als Analogieund Austauschbeziehung zwischen dem expressiven Potential des menschlichen Körpers und der Weise, wie Bilder Sinn erzeugen. (III.3.3)



Lebensform und Anschauungsform

3.1 Hegels Kritik an Kants Metaphysik der Subjektivität

Es ist eine zentrale These dieser Studie, dass es zwischen den typischerweise als völlig disjunkt gedachten Theoriegebieten von Kants transzendentaler Ästhetik und Hegels Ästhetik einen Parallelismus gibt. Ansatzpunkt hierfür ist, dass beide – auf verschiedenen Gebieten – als Metaphysikkritiker auftreten. Wendet sich Kant gegen Leibniz’ ›intellektuelles System der Welt‹, so kritisiert Hegel Kants ›Metaphysik der Subjektivität‹. Aus Hegels Sicht ist eine solche Konstellation keinesfalls zufällig. Von Kant und seinen unmittelbaren Nachfolgern wurde »der Dogmatismus des Seins in den Dogmatismus des Denkens, die Metaphysik der Objektivität in die Metaphysik der Subjektivität umgeschmolzen«202. Die Kritik der alten Ontologie ist bei Kant in das andere Extrem des Subjektivismus umgeschlagen. Die Kritik des ontologischen Reduktionismus führt in den subjektivistischen Reduktionismus.203 Was ist aber die Metaphysik der Subjektivität ? Als Ausgangspunkt kann erneut ein längeres Zitat betrachtet werden: »Die Kantische Philosophie stellt diesem Empirismus das Prinzip des Denkens und der Freiheit schlechthin gegenüber. […] Die eine Seite ihres Dualismus bleibt die Welt der Wahrnehmung und des über sie reflektierenden Verstandes. […] Die andere Seite ist dagegen die Selbständigkeit des sich erfassenden Denkens, das Prinzip der Freiheit, welches sie mit der vormaligen, gewöhnlichen Metaphysik gemein hat, aber alles Inhaltes entleert [ist] und ihm keinen wieder zu verschaffen vermag. Dies Denken, hier Vernunft genannt, wird, als aller Bestimmung beraubt, aller Autorität enthoben. Die Hauptwirkung, welche die Kantische Philosophie gehabt hat, ist gewesen, das Bewußtsein dieser absoluten Innerlichkeit erweckt zu haben, die, ob sie um ihrer Abstraktion willen zwar aus sich zu nichts sich entwickeln und keine Bestimmungen, weder Erkenntnisse noch moralische Gesetze, hervorbringen kann, doch schlechthin sich weigert, etwas, das den Charakter einer Äußerlichkeit hat, in sich gewähren und gelten zu lassen. Das Prinzip der Unabhängigkeit der Vernunft, ihrer absoluten Selbständigkeit in sich, ist von nun an als allgemeines Prinzip der Philosophie wie als eines der Vorurteile der Zeit anzusehen.«204

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GuW 430. Vgl. ebenfalls VGPh III 333. Gleichermaßen im Sinne einer Reduktion auf die Ressourcen des einzelnen Subjekts und seiner ›Innerlichkeit‹, wie im Sinne einer reduzierten, unvollständigen Auffassung dieses Subjekts. 204 EpW I, § 60, 146. 203

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Diese Passage der Enzyklopädie überschneidet sich stark mit der bereits zuvor betrachteten aus Glauben und Wissen.205 Ihr lassen sich folgende Aussagen entnehmen: (i) Ein Impetus von Kants Philosophie ist es, gegen den Empirismus die intellektuellen Kapazitäten des Subjekts zu verteidigen. (ii) Kant entwickelt einen Dualismus der Vermögen oder Sphären von Verstand und Vernunft. (iii) Der diskursive Verstand hat es mit der ›Welt der Wahrnehmung‹ zu tun, wo, wie im Kapitel zuvor gesehen, eine ›endliche Identität‹ von Anschauung und Begriff realisiert ist. (iv) In Differenz hierzu gibt es für Kant ein vernünftiges Denken, in dem sich einerseits die ›Selbständigkeit des sich erfassenden Denkens‹ oder Freiheit zeigen soll, welches für ihn aber andererseits ein »leere[r] Begriff« bleibt.206 Hiermit assoziiert sind für Hegel Autoritätsverlust, Abstraktion und die Unfähigkeit, spezifische Bestimmungen hervorzubringen. Will man auf dieser Basis ein zentrales Charakteristikum von Kants Metaphysik der Subjektivität ausmachen, so liegt es in Folgendem: Das Ziel der Verteidigung der Selbständigkeit der Vernunft und das Resultat ihrer Entleerung hängen für Hegel intrikat zusammen. Gerade Kants Versuch, die Unabhängigkeit der Vernunft zu verteidigen, führt in eine abstrakte Auffassung von Vernunft, die aus dieser einen leeren Begriff macht. Das Problem der Metaphysik der Subjektivität ist das Dogma der ›Unabhängigkeit der Vernunft‹ als einer ›absoluten Innerlichkeit‹, die sich gegen alle Äußerlichkeit abschottet. Während die kantische Verstandeskonzeption die Identität von Anschauung und Begriff enthält, fehlt der kantischen Vernunftkonzeption das Bewusstsein für die Exteriorität menschlicher Vernunft, d. h. eine Dimension der Anschauung und Verkörperung. Obzwar dies für Hegel gleichermaßen theoretische und praktische Vernunft betrifft, soll im Folgenden der Fokus auf der praktischen Vernunft liegen.207 Skizziert werden soll, wie Kants intellektualistische Freiheitskonzeption von Hegels expressivistischer Konzeption um diese Dimension der Exteriorität erweitert wird. Zunächst soll aber betrachtet werden, wie Kants dies in seinen eigenen Worten darstellt.

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Siehe das vorangehende Kapitel. GuW 343. 207 In der theoretischen Philosophie besteht das Problem der ›leeren Vernunft‹ darin, dass allein ein diskursiver Verstand konstitutiv ist, während die Vernunftideen (wie etwa das Weltganze) bloß hypothetischen und regulativen Status haben. Auch hier ist die Ursache dafür also die Differenz und Unvereinbarkeit zwischen verständig-mechanistischer und vernünftig-systematischer Naturauffassung. Wie Sedgwick zeigt, liegen der Kritik an Kants theoretischer und praktischer Philosophie dieselben Prinzipien zu Grunde. Vgl. Sedgwick 2012, 1 ff. 206



Lebensform und Anschauungsform

3.1.1 Kants intellektualistische Freiheitskonzeption

Kants intellektualistische Konzeption praktischer Vernunft kann als Resultat eines zentralen Problems seiner Philosophie begriffen werden: Wie kann (ohne Rekurs auf religiöse Dogmatik) begründet werden, dass der Mensch einerseits ein freies Wesen ist, dessen Handeln allerdings andererseits unter allgemeinen Gesetzen steht ? Diese Idee einer gesetzesförmigen Freiheit nennt Pinkard das ›kantianische Paradox‹.208 Für Kant scheinen beide Eigenschaften nur dann begründbar zu sein, wenn der Zwei-Welten-Dualismus, den die KrV (zumindest partiell) überwunden hatte, wieder in einer konstitutiven Rolle eingeführt wird, und dies aus zwei Gründen: (i) Wenn gemäß der KrV alle Erscheinungen unter Verstandesgesetzen stehen, kann für die Freiheit nur in einer radikal davon abgetrennten Sphäre Platz sein. Für Kant gilt entsprechend, »daß wir den Menschen in einem andern Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn, als Stück der Natur, dieser [/] ihren Gesetzen für unterworfen halten«.209 (ii) Dass ein Handeln zugleich frei und gesetzmäßig sein kann, setzt voraus, dass »jene Gesetze« den Handelnden »unmittelbar und kategorisch angehen, so daß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz, keinen Abbruch tun können, so gar, daß er die erstere« – also die Sinnlichkeit – »seinem eigentlichen Selbst, d. i. seinem Willen nicht zuschreibt«.210 Die Eigenständigkeit menschlicher Subjektivität ergibt sich also aus dem strikt negativen Verhältnis einer »reine[n], von Sinnlichkeit unabhängige[n] Vernunft«211 zu einer Welt der Erscheinung oder Sinnlichkeit, die eine Welt der kausalen Determination, der Affektionen, Neigungen und Antriebe ist. Entsprechend ist das menschliche Selbstbewusstsein für Kant radikal gespalten: Der Handelnde ist »nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst)«212. Dies hat zunächst jene skeptischen und deflationären Konsequenzen, die Hegel als Entleerung und Autoritätsverlust bezeichnet (oder auch als ›Verzicht auf Vernunft‹). Menschliche Autonomie soll nach Kant bloß »ihrer formalen Bedingung nach« gedacht werden, aber nicht als »auf ein Objekt 208 Pinkard, Terry (2007): »Symbolic, Classical, and Romantic Art«, in: Stephen Houlgate (Hg.): Hegel and the Arts. Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 3–28, 6 ff. 209 GMS B 115 f. 210 GMS B 118. 211 Ebd. Vgl. Hegels Rede von der »Unabhängigkeit der Vernunft« in EpW I, § 60, 146. 212 GMS B 118.

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bestimmt«213. Gemäß der Kodependenzformel (Begriffe ohne Anschauungen sind leer …) haben wir es hier also, wie Hegel feststellt, mit einem »leeren Begriff«214 zu tun. Zugleich kann Kants Kritik der praktischen Vernunft nach eigener Aussage nicht erklären, »wie Freiheit möglich sei«215. Menschliche Freiheit bleibt somit für die KpV ein Postulat,216 »nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist.«217 Entscheidend ist nun die Frage, mittels welcher Vermögen oder Tätigkeiten der Mensch ein Verständnis seiner selbst gewinnen kann. Kants Antwort ist hier entschieden intellektualistisch: Um »sich selbst als praktisch zu denken«, sieht »die Vernunft sich genötigt«, einen »Standpunkt […] außer den Erscheinungen zu nehmen«.218 Die am Rationalismus kritisierte Idee einer »intelligiblen Welt« kehrt wieder als »das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst«, dem sich das Individuum so zurechnet.219 Das heißt, dass sich jedes Selbstbewusstsein des Menschen nur im Modus eines abstrakten ›reinen Denkens‹ vollziehen kann: »Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte.«220 Der Topos einer Metaphysik der Subjektivität kann also folgendermaßen gedeutet werden: Als Subjekte der kritischen Philosophie könnten wir unsere eigene Natur als freie Wesen zwar denken, nicht aber anschauen oder empfinden221. Vom Wissen über unsere Freiheit bleibt somit »nichts, als die Form übrig, nämlich das praktische Gesetz der Allgemeingültigkeit der Maximen«.222

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GMS B 120. GuW 303. 215 »Aber alsdenn würde die Vernunft alle ihre Grenze überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge, wie reine Vernunft praktisch sein könne, welches völlig einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, wie Freiheit möglich sei.« GMS B 120. 216 Freiheit als »Kausalität eines Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört« (KpV A 238), ist somit gemäß der Postulatenlehre der KpV lediglich ein Postulat der reinen praktischen Vernunft: »Wie aber auch nur die Freiheit möglich sei, und wie man sich diese Art von Kausalität theoretisch und positiv vorzustellen habe, wird dadurch nicht eingesehen, sondern nur, daß eine solche sei, durchs moralische Gesetz und zu dessen Behuf postuliert.« KpV A 241. 217 »Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß.« GMS B 114. 218 GMS B 119. 219 Ebd. 220 GMS B 118. 221 Gemeint ist eine weder sinnliche noch intellektuelle Anschauung. 222 GMS B 126. 214



Lebensform und Anschauungsform

Jenes Wissen ist »nur ein negativer [/] Gedanke, in Ansehung der Sinnenwelt.«223 Mit anderen Worten: Es beruht gerade auf dem Absehen von der Sinnenwelt. So entsteht eine intellektualistische und internalistische Auffassung dessen, was der Mensch als praktisches, freies und handelndes Subjekt ist: Gegenüber der Exteriorität, Sozialität und Historizität menschlichen Handelns wird ein »eigentliches Selbst«224 postuliert, das sich durch einen Akt reinen, übersinnlichen Erfassens vor jeder Erfahrung konstituiert. Eine Selbsterkenntnis dieses Subjekts findet allein im Medium formaler Begrifflichkeit statt, nicht aber in Anschauung oder Empfindung.225 Anders gesagt: Leibniz (bzw. ein intellektualistisch rekonstruierter Leibniz) vertritt eine ›Ontologie des Unsichtbaren‹ (Pape) in Bezug auf die Gegenstände in der Welt. Diese können bloß nach Prinzipien einer diskursiven Logik erfasst werden. Kant vertritt analog dazu die Theorie eines ›unsichtbaren Subjekts‹: Das moralische Subjekt kann allenfalls gedacht werden, aber es zeigt sich nicht. Ihm fehlt das Element von Sinnlichkeit, Konkretion und Verkörperung.226 Kants metaphysische oder intellektualistische Konzeption von menschlicher Freiheit und Subjektivität sagt also: Frei sind wir gerade dort, wo wir nicht sinnlich sind. Der Grundtenor von Hegels expressivistischer Konzeption ist dagegen: Frei sind wir nur dort, wo diese Freiheit auch im Sinnlichen verwirklicht wird. Oder auch: Frei sind wir nur im Kontext von konkreten Lebensformen.

223 »Denn, daß ein Ding in der Erscheinung (das zur Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder Wesen an sich selbst, unabhängig ist, enthält nicht den mindesten Widerspruch; daß er [der Mensch, MB] sich selbst aber auf diese zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewußtsein seiner selbst als durch Sinne affizierten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken (mithin als zur Verstandeswelt gehörig).« GMS B 117. 224 GMS B 118. 225 Vgl. hierzu auch Kants Überlegungen zu moralischen Begriffen wie ›Recht‹, die »durch den reinen Verstand selber erkannt werden«. De mundi 37; oder auch KrV B 61, wo dies ein Argument gegen die leibnizsche Begriffstheorie darstellt. 226 Erneut ist zu betonen, dass Kant die Vermittlung dieser Kluft zwischen Naturbegriff und Freiheitsbegriff in der KU selbst angegangen ist, so etwa in der Konzeption einer Zweckmäßigkeit schöner oder erhabenen Natur, oder der symbolischen Hypotypose, die moralische Autonomie an ästhetischer Autonomie veranschaulicht. Für Hegel sind dies die Momente, in denen Kant seine eigene kritische Position überschreitet, und woran Hegel mit seiner eigenen Konzeption anknüpft. Zugleich beharrt Hegel darauf, dass Kant selbst im Rahmen dieser Lösungen immer wieder in einen Subjektivismus o. ä. zurückfällt.

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3.1.2 Hegels expressive Freiheitskonzeption

Konnte Kants Theorie der Freiheit und des menschlichen Selbst als internalistisch, formal und intellektualistisch bezeichnet werden, so nennen die gängigen Etiketten Hegels Theorie »eine ›expressive‹, eine ›soziale‹ und eine ›Selbstverwirklichungs‹-Theorie der Freiheit.«227 In den für Hegel typischen allgemeinen Formeln lässt sich dies so ausdrücken: Kant denkt die Subjektivität als eine bloß formale ›Identität mit sich selbst‹. Hegel denkt sie als dialektische ›Identität von Identität und Differenz‹. Konkret bedeutet das: In Hegels Theorie von Selbst und Freiheit fließen Elemente ein, die für Kant in einem dualistischen Gegensatz davon ausgeschlossen waren. Nur so gelangt man in Hegels Augen von einem leeren Postulat der Freiheit zur Chance ihrer Wirklichkeit. Hegels Konzeption der Freiheit des Subjekts stellt der Metaphysik der Subjektivität, der absoluten Innerlichkeit des leeren Begriffs und der reinen, unabhängigen Vernunft eine Theorie historisch gewordener sozialer Praktiken gegenüber. Entscheidend sind dabei drei Schritte (i) von der Innerlichkeit zur Entäußerung bzw. Externalisierung; (ii) von der Vereinzelung zur Sozialität; (iii) von formaler Universalität zur Historizität. Diese sollen nun skizzenartig betrachtet werden. (i) Von der Innerlichkeit zur Entäußerung bzw. Externalisierung Während er Kants Freiheitsbegriff mit einer »absoluten Innerlichkeit«228 identifiziert, ist für Hegel eine Dimension der Entäußerung oder Externalisierung von Freiheit entscheidend.229 In der Rechtsphilosophie findet sich dieses Verhältnis in der Gegenüberstellung von abstraktem und konkretem Freiheitsbegriff. Hier bemerkt Hegel, dass man zwar vom Willen »schon als vorausgesetzte[m] Subjekt oder Substrat« spreche, dass aber strenggenommen vom Willen nur als eine in der Praxis »in sich vermittelnde Tätigkeit und Rückkehr in sich« zu reden sei.230 Dies impliziert, dass es für ein Verständnis von Freiheit nicht reicht, bloß eine Möglichkeit oder ein Potential zu denken, sondern dass Freiheit, um im vollen Sinne als Freiheit gelten zu können, in 227

Pippin 2012, 35. EpW I, § 60, 146. 229 Zum Begriff der Entäußerung, der auf Luthers Übersetzung von griechisch ›Kenosis‹ Bezug nimmt, vgl. Pippin 2011, Endnote 119 f., sowie Kapitel III.4.3. 230 GPR 20. Die ganze Passage: »Es kann hier nur noch bemerklich gemacht werden, daß, wenn man so spricht: der Wille ist allgemein, der Wille bestimmt sich, man den Willen schon als vorausgesetztes Subjekt oder Substrat ausdrückt, aber er ist nicht ein Ferti­ ges und Allgemeines vor seinem Bestimmen und vor dem Aufheben und der Idealität dieses Bestimmens, sondern er ist erst Wille als diese sich in sich vermittelnde Tätigkeit und Rückkehr in sich.« 228



Lebensform und Anschauungsform

der empirischen Welt verwirklicht werden muss. Zum Kriterium für Freiheit wird nicht die Negation von äußeren Zwängen und Bedingungen im Handeln, sondern die Frage, inwieweit der Handelnde innerhalb einer solchen Verstricktheit »dennoch bei sich bleibe«.231 Parallele Überlegungen stellt Hegel in den Passagen der Phänomenologie zu Tun und Werk her. Dort expliziert Hegel dies genauer als eine ursprüngliche Verbindung von Wissen mit Selbstverwirklichung und einem Sichtbarmachen. Zentral ist dabei die Formulierung: »Das Individuum kann daher nicht wissen, was es ist, ehe es sich durch sein Tun zur Wirklichkeit gebracht hat.«232 (Man denke etwa an so etwas: Dass jemand ein guter Klavierspieler ist, zeigt sich beim Klavierspielen und nirgendwo anders.) Dieses Tun oder Hervorbringen von Werken gibt der Freiheit und dem Selbstverständnis zugleich, wie Hegel hier nahelegt, eine externalistische und aisthetische Dimension: Es ist »reine Form des Übersetzens aus dem Nichtgesehenwerden in das Gesehenwerden«233 oder »reines Übersetzen aus der Form des noch nicht dargestellten in die des dargestellten Seins«234. Für Kant kann das eigentliche Selbst nur über einen innerlichen Selbstbezug im reinen Denken erfasst werden. Für Hegel gilt, dass ich nur weiß, wer ich selbst bin, wenn ich mich verwirkliche, d. h. mich in meinem Tun und meinen Werken zugleich sehen oder anschauen kann.235 231 Die hierzu vielzitierte Stelle aus Rechtsphilosophie § 7 Zusatz lautet: »Das, was wir eigentlich Willen nennen, enthält die beiden vorigen Momente in sich. Ich ist zuvörderst als solches reine Tätigkeit, das Allgemeine, das bei sich ist; aber dieses Allgemeine bestimmt sich, und insofern ist es nicht mehr bei sich, sondern setzt sich als ein Anderes und hört auf, das Allgemeine zu sein. Das Dritte ist nun, daß es in seiner Beschränkung, in diesem Anderen bei sich selbst sei, daß, indem es sich bestimmt, es dennoch bei sich bleibe und nicht aufhöre, das Allgemeine festzuhalten: dieses ist dann der konkrete Begriff der Freiheit, während die beiden vorigen Momente durchaus abstrakt und einseitig befunden worden sind.« (GPR § 7, Zus., 20) Vgl. hierzu etwa zusammenfassend Pippin: »Im allgemeinsten Sinn ist eine freie Handlung eine solche, die mich vollkommen so ausdrückt, wie ich mich selbst verstehe, so daß ich mich in den Taten, die ich ausführe, vollkommen wiedererkennen kann, und damit stellt sie die Verwirklichung einer Intention in meinen Körperbewegungen in der Zeit dar und letztlich die Verwirklichung des Geistes, der sich in der Zeit selbst herausbildet. (Negativ ausgedrückt: Ich bin frei, wenn ich in einer nicht entfremdeten Beziehung zu dem stehe, was ich bewirkt habe; ein Maßstab, der großes Gewicht auf das Erreichen des richtigen Verständnisses der Frage, ›wer ich wirklich bin‹, legt.)« Pippin 2012, 35. 232 PhG 297. 233 PhG 293. 234 PhG 296. 235 Hegel bringt diese Notwendigkeit einer Externalisierung auch auf die Formel: »Was daher nur ein Innerliches ist, ist auch damit nur ein Äußerliches; und was nur ein

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Teil III · Hegel: Entäußerung

(ii) Von der Vereinzelung zur Sozialität Ein zweites Charakteristikum der kantischen Metaphysik der Subjektivität besteht darin, dass diese »die Seele […] als praktische Vernunft in Absolutheit der Persönlichkeit und der Einzelheit des Subjekts […] umgewandelt« hat.236 Das kantische Subjekt ist vereinzelt, weil es die Bedingungen seiner Freiheit allein in sich selbst vorfinden soll. Hegel setzt dem eine konstitutive Sozialität menschlicher Praktiken gegenüber. Dass ich mich, wie eben beschrieben, in meinem Tun und meinen Werken wiederfinde, ist noch nicht allein hinreichend dafür, dass ich mich darin tatsächlich verwirkliche. Es kommt auch auf die Anerkennung durch andere Subjekte an. Wie ebenfalls die Phänomenologie im berühmten Kapitel über das Selbstbewusstsein zeigt, existiert für Hegel jedes Wissen des Menschen von sich selbst nur innerhalb einer Relation der Anerkennung: »Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.«237 Mit Pinkard wird damit das ›kantische Paradox‹ (wie das Handeln zugleich frei und von Normen abhängig sein kann) aus der Alternative, entweder ein empirisches oder metaphysisches Faktum sein zu müssen, herausgelöst. Stattdessen gründet unser Status als Handelnde für Hegel in einem davon unterschiedenen dritten Sinne auf einer sozialen Relation. Er ist ein »socially conferred, normative status«.238 Mit Pippin formuliert: »Die Körperbewegungen zählen nur dann als von mir intendierte Tat, wenn die Beschreibung der Tat für das Gemeinwesen, in dem ich mich ›ausdrücke‹ und ›verwirkliche‹, auch als eine solche erkennbar ist. (Ich kann X nicht tun, wenn das Gemeinwesen, in dem ich agiere, das, was ich tue, für Y hält.)«239 Wenn daher gilt: »Das Individuum kann daher nicht wissen, was es ist, ehe es sich durch sein Tun zur Wirklichkeit gebracht hat«,240 dann gilt somit zugleich: Mein Wissen über mich selbst kann von der Perspektive anderer nicht mehr abgetrennt werden. Auch hier findet sich die visuelle Äußerliches ist, ist auch nur erst ein Innerliches.« EpW I, § 140, 274. Vgl. ebenfalls EpW I, § 112 Zus., 234. 236 GuW 430. 237 PhG 145. Vgl. auch: »Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein«, es »ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein.« Ebd. 144. 238 »In his 1807 Phenomenology of Spirit, Hegel argued that the ›paradox‹ is best expressed in terms of a certain sociality of agency, of our being and becoming agents only in and through reciprocal recognition. That is, the status of ›being an agent‹ is not a metaphysical or empirical fact about us; it is a socially conferred, normative status, and becoming an agent is to be construed as an achievement, not as a metaphysical or empirical property we suddenly come to possess.« Pinkard 2007, 7. 239 Pippin 2012, 35. 240 PhG 297.



Lebensform und Anschauungsform

Terminologie der Sichtbarmachung. Erst in der Anerkennungsrelation des Selbstbewusstseins schreite das Bewusstsein »aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart«.241 (iii) Von formaler Universalität zu Historizität Diese Anerkennung durch Andere setzt allerdings noch etwas Drittes voraus, nämlich die Existenz bestimmter kollektiver Normen bzw. eines kollektiven Selbstverständnisses.242 Anders gesagt: einer geteilten Lebensform. Hegels Kritik an Kant lautet diesbezüglich, dass zum einen »das Bewusstsein dieser absoluten Innerlichkeit […] aus sich […] keine Bestimmungen, weder Erkenntnisse noch moralische Gesetze hervorbringen kann.«243 Er bezweifelt also einerseits, dass aus einem formalen, intellektuellen Selbstbezug, wie er Kants Überlegungen zum kategorischen Imperativ bestimmt, so etwas wie inhaltliche Normen resultieren können. Zum anderen kann im Sinne der hier (in Anlehnung an Pippin und Sedgwick) vertretenen metakritischen Hegelauffassung ein weiterer Beweggrund für Hegels Kritik an Kants Metaphysik der Subjektivität identifiziert werden: eine generelle Skepsis Hegels, ob es überhaupt gelingen könne, denjenigen überzeitlichen, übersinnlichen Standpunkt einzunehmen, den Kant postuliert.244 Handelnde in einem emphati241 PhG 145. Hegel beschreibt so seine eigene Konzeption gegenüber den Alternativen von Empirismus und (kantischem) Intellektualismus. Das Erste steht für die Sinnengläubigkeit des Empirismus, das Zweite für die Innerlichkeit der Verstandesphilosophie, das Dritte für Hegels eigene Position. 242 »Nur in einer sozialen Welt, die eine ›Wechselseitigkeit‹ der Anerkennung oder eine Wechselseitigkeit in Form eines institutionalisierten Anerkennungsstatus erreicht hat, kann die Verwirklichung gesellschaftlicher Normen die angemessene konstitutive Rolle spielen, die sie bei den eigenen Versuchen spielt, eine Tat für eine bestimmte Tat zu halten, in der das eigene Selbstverständnis das zu einer bestimmten Zeit erreichte kollektive Selbstverständnis wiederspiegelt.« Pippin 2012, 36. In der Phänomenologie formuliert Hegel die Abhängigkeit vom Kollektiv so: »Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« PhG 145. 243 EpW I, § 60, 146. 244 »Kant […] assumes that critique affords him access to eternal truths about the conditions, not just of human knowledge, but also of morality, right, and aesthetic judgment. He supposes that in performing critique, he can successfully abstract away assumptions that are merely contingent, including assumptions that reflect his own ties to a particular historical reality. Kant is in other words confident that he can access a vantage point that is wholly ›external.‹ Because Hegel denies that we can ever succeed in performing this kind of abstraction, he challenges Kant’s understanding of what critique can achieve.« Sedgwick 2012, 11.

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schen Sinne sind wir für Hegel nicht aufgrund einer metaphysischen oder empirischen Eigenschaft, über die wir von selbst verfügen, sondern indem wir in soziale Praktiken initiiert werden. Derartige Praktiken sind allerdings immer historisch gewordene. Und ihre Geltung ist für Hegel immer nur vor dem Hintergrund ihrer historischen Gewordenheit zu verstehen, indem sie jeweils auf das Scheitern früherer Konzeptionen antworten.245 Mit Pippin: »Praktische Vernunft in diesem Sinn wird von Hegel als eine historische soziale Praxis verstanden, nicht als eine formale Methode, als reine Entscheidungstheorie, als Kalkulation oder, wie bei Kant, als ›die Form der reinen praktischen Vernunft‹.«246 Das Herausarbeiten von derartigen normativen Handlungsorientierungen oder kollektiven Selbstverständnissen ist für Hegel dasjenige, was er ›absoluten Geist‹ oder ›absolutes Wissen‹ nennt – das Projekt menschlicher Selbsterkenntnis in der Geschichte. Dies ist immer auch eine Erkenntnis über eine spezifische Lebensform. Ein derartiges Wissen produziert in Form anschaulichen Denkens, wie zu zeigen sein wird, auch die Kunst. Jetzt gilt es zu klären, wie diese expressivistische Konzeption von Selbst und Freiheit für Hegel in der menschlichen Leiblichkeit einen Ort bzw. eine mediale Form findet, die in Analogie zu Kants Intellektualismuskritik als Anschauungsform bezeichnet werden kann.

245 In diesem Sinne spricht Pinkard über Hegels »social and developmental conception of agency in which, on his account, we are agents by virtue of being socially recognized as having that status, we become agents by being initiated into social practices, and whatever legitimate binding force those practices de facto seem to have for us can be comprehended only historically, in terms of a complex narrative about how what is required came to be required by virtue of the very determinate failures of past collective attempts at determining what it means to be human.« Pinkard 2007, 8. 246 Pippin 2012, 45. Vgl. zur Idee sozialer Wissenspraktiken auch Stekeler-Weithofers Überlegungen im Anschluss an Kants Mathematiktheorie: »Handlungs- und Praxisformen werden kulturell ›vererbt‹. Sie sind wesentlich durch ihre jeweiligen Erfüllungsbedingungen bestimmt. Das sind diejenigen Bedingungen, denen eine Handlung x (qua token) genügen muss, um als Aktualisierung bzw. Realisierung einer Handlungsform X (qua type) zu zählen.« Stekeler 2010, 244. Die euklidische Geometrie ist entsprechend selbst eine Praxisform, die wiederum eine Reflexion auf ›empraktische Formen‹ der Anschauung beinhaltet.



Lebensform und Anschauungsform

3.2 Die Ästhetik der Subjektivität: Hegels Theorie expressiver ­Leiblichkeit

Soeben wurde skizziert, wie Kant eine internalistische, individualistische und ahistorische Auffassung des menschlichen Selbst vertritt, die Hegel als Metaphysik der Subjektivität kritisiert. Er selbst stellt dem eine Auffassung von Subjektivität und Selbstbewusstsein gegenüber, die man externalistisch, sozial und historisch nennen kann. Eine Grundthese dieser Studie ist, dass diese Kritik an Kants Metaphysik der Subjektivität begleitet ist von einer Reflexion der aisthetischen Bedingungen einer solchen Subjektauffassung. Hegel entwickelt so eine Ästhetik der Subjektivität, die im Folgenden in Analogie zu Kants transzendentaler Ästhetik als eine Theorie der leiblichen und relationalen Form menschlicher Intersubjektivität gedeutet wird.247 Die Frage ist also: Wie manifestiert und konstituiert sich für Hegel menschliche Subjektivität in einer Sphäre gemeinsamer Anschauung ?248 Die bisher betrachteten Stellen aus GW, PhG oder GPR sollen nun durch solche aus den Vorlesungen über die Ästhetik und aus der Anthropologie der Enzyklopädie ergänzt werden. Letztere zeigen, dass der hegelschen Metaphysikkritik eine Konzeption expressiver menschlicher Leiblichkeit korrespondiert. Anschauung und Empfindung erhalten so eine fundamentale mediale Rolle für die Beziehung eines Subjekts zu sich selbst und anderen.249 Damit ist diese Konzeption zugleich das Paradigma einer geistdurchdrungenen Anschauung, ein medialer Sonder247 Diese Perspektive impliziert für die vorliegende Arbeit, dass Hegels Ästhetik nicht als eine Theorie autonomer Schönheit in Nachfolge von Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft gelesen werden soll, sondern als eine Art ›transzendentale Ästhetik‹ zur Kri­ tik der praktischen Vernunft. Dass Hegel die Frage nach der Verwirklichung menschlicher Freiheit als zentralen Inhalt von Kunst betrachtet, wurde ihm oft vorgeworfen: als Überformung des Ästhetischen und der Autonomie der Kunst mit Fragestellungen von Ethik und Selbstverwirklichung. Die hier vorgeschlagene Lektüre kehrt diese Kritik um und legt sie als Hegels Stärke aus: Hegel wird als Medientheoretiker der anschaulichen und leiblichen Grundlagen praktischer Vernunft rekonstruiert. 248 Diese Frage bildet die Parallele zur Frage nach der Orientierung und indexikalischen Identifikation von Gegenständen bei Kant. Dort war die wesentliche Rolle des Körpers verbunden mit dem dreidimensionalen Körperschema, das letztlich im Körpergefühl begründet ist. Bei der dort betrachteten sozialen Dimension ging es allerdings um eine theoretische oder ontologische Frage: Wie können die Perspektiven verschiedener Subjekte auf die Welt miteinander verschränkt werden ? Hier bei Hegel geht es nun um eine ethische oder praktische Subjekt-Subjekt-Beziehung, in der mir der Andere als sozialer Anderer erscheint. 249 So wie Kant den Leib als dreidimensionales Körperschema als entscheidende mediale Bedingung für den Zugang des Subjekts zu den Objekten seiner Welt identifiziert hat.

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modus von Sinnlichkeit, der als ein hegelsches Gegenstück zur kantischen reinen Anschauung begriffen werden kann. Dieser Ansatz impliziert, wie bereits in Kapitel III.1 dargestellt, Hegels Ästhetik nicht primär als Theorie des Kunstschönen, sondern als Beitrag zur Verkörperungstheorie zu lesen.250 Eine solche Stoßrichtung ist in der jüngeren Forschung in verschiedener, auch verschieden expliziter Weise bei Hilmer, Pippin und Peters realisiert. Der vereinigende Punkt dieser Lesarten betrifft den ausgezeichneten Status des menschlichen Leibes: zum einen als Gegenstand der Darstellung etwa in griechischer Skulptur und figurativer Malerei, noch entscheidender aber als mediales Modell für die Intelligibilität von Kunstwerken insgesamt. Wie etwa Peters herausstellt, ist das menschliche Individuum, dessen Seele im Äußeren des Körpers erscheint, in der Tat das einzige Modell, an dem Hegel den Begriff des Kunstschönen bzw. die spezifisch ästhetische Intelligibilität von Kunstwerken erklärt.251 Die systematische und nicht bloß akzidentelle Beziehung von Ästhetik und Verkörperungstheorie zeigt sich auch in seiner Theorie des Leibes aus der Anthropologie, die die Leiblichkeit als ›Kunstwerk der Seele‹ bezeichnet. Dieser Bezug soll aber zunächst zurückgestellt werden, um Hegels Konzeption der Leiblichkeit als solche genauer zu betrachten.

3.2.1  Menschliche Leiblichkeit als Sich-Zeigen

Zur Annäherung an Hegels Leibkonzeption können drei Passagen dienen: »Die Seele ist in ihrer durchgebildeten, sich zu eigen gemachten Leiblichkeit als einzelnes Subjekt für sich, und die Leiblichkeit ist so die Äußerlichkeit als Prädikat, in welchem das Subjekt sich nur auf sich bezieht. Diese Äußerlichkeit stellt nicht sich vor, sondern die Seele, und ist deren Zeichen. Die Seele ist als diese Identität des Inneren mit dem Äußeren, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als das Kunstwerk der Seele menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat.«252 »Unter den Gestaltungen ist die menschliche die höchste und wahrhafte, weil nur in ihr der Geist seine Leiblichkeit und hiermit anschaubaren Ausdruck haben kann.«253 250

D. h. zugleich weniger in Nachfolge der KU, sondern eher der KpV. Vgl. VÄ I 203; VÄ Hotho 1823, 79, MS 70; sowie Peters 2015, 17. 252 EpW III, § 411, 192. 253 EpW III, § 558. 251



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»Die subjektive Geistigkeit ist das, was wir bisher die Bedeutung nannten, die hier die Macht hat, in ihrer Erscheinung sich selbst zu zeigen. Das nähere dieser Erscheinung bestimmt sich dann so, daß die Gestalt nur kann die menschliche sein, weil in ihr allein sich das Geistige offenbaren kann. Sie ist hier nicht mehr symbolisch, sondern Erscheinung des Geistes, die Bestimmung des Geistes, sein Hinaustreten ins Dasein. Die sinnliche Gestalt des Menschen ist allein die, in welcher der Geist zu erscheinen vermag. Sie ist an ihr selbst bedeutsam; was sie bedeutet, ist der Geist, der in ihr heraustritt. Sie ist ein Körperliches, Materielles und nach dieser Seite vom Geist unterschieden; aber diese Form des Materiellen ist Erscheinung des Geistigen.«254

Diesen Passagen ist, trotz ihrer unterschiedlichen Kontexte, grundsätzlich dasselbe zu entnehmen: Zunächst ist die Externalität des Leibes bei Hegel nicht, wie etwa in der Moralphilosophie Kants, im strikten Gegensatz zu einem geistigen Inneren gedacht, sondern als Medium. Diese Rolle als Medium erfüllt die Leiblichkeit gleichermaßen im reflexiven Selbstbezug wie im kommunikativen Bezug auf andere Subjekte (»in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt«). Der menschliche Leib ist dabei einzigartig, er ist das expressive Medium des Geistes. Dieser Gedanke hat drei Dimensionen: (i) Leiblichkeit als Erscheinung des Geistes Für Kants Metaphysik der Subjektivität ergab sich die Eigenständigkeit menschlicher Subjektivität aus der Trennung, dem strikt negativen Verhältnis zur Sinnlichkeit in Form einer »reine[n], von Sinnlichkeit unabhängige[n] Vernunft«.255 Dies implizierte einen reduktionistischen Begriff von Erscheinung, insofern das praktische Subjekt »nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst)« sei.256 Wenn nun auch Hegel den Erscheinungsbegriff auf die Leiblichkeit des Menschen anwendet, so ist darin zwar deutlich eine idealistische Signatur erkennbar. Der Erscheinungsbegriff aus Hegels Anthropologie und Ästhetik ist aber nicht mehr negativ und reduktionistisch gedacht, sondern affirmativ und medial: Die Wirklichkeit menschlichen Lebens (›wirkliche Seele‹) ist Erscheinen, SichZeigen, Sich-Entäußern im Sinnlichen. Erinnert sei hier an den Grundsatz von Hegels Wesenslogik, dass das Wesen nicht als das »bloß Innere« gefasst werden kann, sondern erst durch das Erscheinen vollständig wird.257 254

VÄ Hotho 1823, 157, MS 144. GMS B 118. Vgl. erneut Hegels Rede von der »Unabhängigkeit der Vernunft«. EpW I, § 60, 146. 256 GMS B 118. 257 EpW I, § 140, 274. Hegel setzt fort: »Was […] nur ein Innerliches ist, ist auch damit nur ein Äußerliches, und was nur ein Äußerliches ist, ist auch nur erst ein Innerliches.« 255

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(ii) Leiblichkeit als Zeichen Aufgrund dieser Expressivität bezeichnet Hegel den Leib auch als spezifische Form des Zeichens, die allerdings zugleich ein Grenzphänomen von Zeichenhaftigkeit bildet. Hegel spricht von der Fähigkeit des Geistigen, im menschlichen Leib »sich selbst zu zeigen«, bzw. davon, dass die »sinnliche Gestalt des Menschen […] an ihr selbst bedeutsam« sei.258 Wie Peters hervorhebt, stellt diese Art des Zeichens, als »self-signifying sign«259, ein eigentümliches Theorem dar, das sich deutlich von jenen beiden Zeichenkonzeptionen unterscheidet, die Hegel an der folgenden, wohl mit bekanntesten Stelle der Philosophie des theoretischen Geistes diskutiert: »Das Zeichen ist irgendeine unmittelbare Anschauung, die einen ganz anderen Inhalt vorstellt, als den sie für sich hat; – die Pyramide, in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist. Das Zeichen ist vom Symbol verschieden, einer Anschauung, deren eigene Bestimmtheit ihrem Wesen und Begriffe nach mehr oder weniger der Inhalt ist, den sie als Symbol ausdrückt; beim Zeichen als solchen hingegen geht der eigene Inhalt der Anschauung und der, dessen Zeichen sie ist, einander nichts an.«260

Deutlich ist zunächst, dass der menschliche Leib in einem anderen Sinne Zeichen ist als nach der hier zugrunde gelegten Definition. Bereits das Bild der Bestattung des toten Körpers in der Pyramide ist der Idee expressiver menschlicher Leiblichkeit diametral entgegengesetzt. Zugleich liegt das Wesen des Zeichens an dieser Stelle in seiner Arbitrarität: Arbiträre Zeichen zeigen stets etwas Anderes als sie selbst und gerade nicht ›sich selbst‹  – Zeichen und Bezeichnetes sind völlig disjunkt. Sie beruhen auf Konvention, sind nicht ›an sich selbst bedeutsam‹, sondern haben eine »fremde Bedeutung zur Seele«.261 Ebd. Diese Einsicht macht Hegel auch in dem berühmten Zitat der Ästhetik geltend, wo es zum ›sinnlichen Scheinen der Idee‹ im Kunstwerk heißt: »der Schein selbst ist dem Wesen wesentlich, die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene.« VÄ I, 21. Hegel knüpft hier an die Kritik von Aristoteles an Platon an: »Die Polemik des Aristoteles gegen Platon besteht dann näher darin, daß die platonische Idee als bloße [dynamis] bezeichnet und dagegen geltend gemacht wird, daß die Idee, welche von beiden gleicherweise als das allein Wahre anerkannt wird, wesentlich als [energeia], d. h. als das Innere, welches schlechthin heraus ist, somit als die Einheit des Inneren und Äußeren oder als die Wirklichkeit in dem hier besprochenen emphatischen Sinne des Wortes zu betrachten sei.« EpW I, § 142 Zus., 281. 258 VÄ Hotho 1823, 157, MS 144. 259 Peters 2015, 34. 260 EpW III, § 458, 270. 261 »Wenn die Intelligenz etwas bezeichnet hat, so ist sie mit dem Inhalte der Anschauung fertig geworden und hat dem sinnlichen Stoff eine ihm fremde Bedeutung zur Seele gegeben.« EpW III, § 457 Zus., 269.



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Ist der zeichenhafte Leib stattdessen als Symbol zu verstehen ? Hierfür könnte zunächst sprechen, dass beim Symbol eine Art unmittelbarer Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Bezeichnetem bestehen soll, wie etwa zwischen dem Adler, der durch seine Stärke zum Symbol Jupiters (und seiner Stärke) wird. Wie aber bereits Lyotard und dann auch Peters feststellen, ist diese Beziehung prekär, von Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit geprägt.262 Und auch beim Symbol bleiben Zeichen und Bezeichnetes disjunkt, insbesondere im Falle der ›bewussten Symbolik‹ von Fabeln, Gleichnissen und Allegorien. Demgegenüber soll für Hegel der menschliche Leib als Medium der klassischen und romantischen Kunst gerade »nicht mehr symbolisch« fungieren: Der »Leib [ist] also nicht nur Symbol des Geistes, sondern der Geist ist im Leib unmittelbar für andere«.263 Mit Peters gesprochen liegt die Pointe des Leibes als »peculiar kind of sign« gerade darin, dass »the sign and its content are in fact unified and cannot be separated from each other.«264 In seinem Leib manifestiert sich der Mensch unmittelbar für andere, wobei Zeichen und Bezeichnetes in gewissem Sinne untrennbar sind. Die menschliche Gestalt ist also, sofern von ihr als Zeichen gesprochen wird, ein eigenständiges Drittes neben arbi­ trärem Zeichen und Symbol.265 In der Rede vom Leib als Sich-Selbst-bedeutendem Zeichen (als Sich-Zeigen oder Sich-Selbst-Zeigen) wird damit zugleich die tradierte Fassung des Zeichenbegriffs an ihre Grenze getrieben. Wie Hilmer 262 Zur Prekarität des Symbolischen vgl. Peters: »Dow Magnus distinguishes between three aspects of the symbol that are potential sources of confusion and misinterpretation: the symbol cannot express the whole of its meaning; the symbol expresses too much, because it expresses qualities that are indifferent to its intended meaning; and the symbol is not necessarily recognized as a symbol. All of these possibilities of misinterpretation are grounded in the fact, as Magnus sums up nicely, that ›the symbol works on the basis of both an identity with and a difference from its meaning‹.« Peters 2015, 37, Endnote 44; vgl. auch ebd. 32. 263 VÄ Hotho 1823, 157, MS 144. 264 Peters 2005, 40. Demgegenüber gilt, dass »both the symbol and the sign in the more narrow sense lack the identity of the sign and what it signifies that is characteristic of the actual soul. They both operate under the presupposition of a difference and distinction between the sign and its meaning.« Ebd. 34. 265 Hier zeigt sich erneut die Schwierigkeit der Lektüren Ottos oder Lyotards, die die Zeichenkonzeption der Enzyklopädie als Folie über die Ästhetik legen wollen. Die für die Ästhetik entscheidende expressive Medialität des Leibes kommt in den Passagen der Enzyklopädie über den theoretischen Geist gar nicht vor. Wie Hilmer schreibt, »fällt auf, daß die Kennzeichnung semiotischer Vorstufen oder Ingredienzien der Sprache« in der Enzyklopädie stattdessen »die symbolische Kunstform herbeizitiert« (Hilmer 2005, 61, Fußnote 15). Ist für Hegels Sprachtheorie außerdem das akustische Register entscheidend (»Esel ist ein Ton«), so tritt in Bezug auf die Reflexion der Leiblichkeit ein visuelles Register in den Vordergrund, das sich auch nicht in die Differenzen von Tonsprache und Schriftsprache bzw. Buchstabenschrift und Hieroglyphenschrift einordnen lässt.

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allerdings anmerkt, ist die »Idee vom menschlichen Leib als ›universellem bedeutendem natürlichen Zeichen‹ […] Gemeingut der Zeit Hegels«.266 (iii) Leiblichkeit als Phänomen bzw. Naturform Einen solchen ausgezeichneten Charakter hat der Leib aber nicht nur als Zeichen, sondern auch als Naturform und Wahrnehmungsgegenstand. In diesem Sinne macht Pippin geltend, dass die Pointe von Hegels Auffassung von Leiblichkeit so rekonstruiert werden kann, dass wir »Körperbewegungen als Taten, nicht als bloße Ereignisse« verstehen.267 Das heißt, dass wir das gestische Agieren menschlicher Körper nicht nach dem Schema empirischer Wahrnehmung und mechanistischer Naturerklärung begreifen. Stattdessen manifestieren sich darin die Spontaneität und die Intentionen eines Subjekts. Als zentrales Moment dieser Theorie identifiziert Pippin hierbei die »›Logik‹ der ›Innen-Außen-Beziehung‹«, womit gemeint ist, dass »Körperbewegungen« eine »›innere‹ Bedeutung« haben.268 Hiermit liegt zugleich ein Modus der Intelligibilität vor, der nicht auf einer dualistischen Trennung von Anschauung und Begriff beruht.269 Pippin macht dies vor allem an den systematischen Intentionen der Ästhetik fest. Wir finden bei Hegel aber auch ein deutliches Beispiel, und zwar mit Blick auf den unterschiedlichen Zugang zu tierischem und menschlichem Bewusstsein. Hegel geht davon aus, dass den Tieren die Fähigkeit fehlt, ihr Inneres auch leiblich, aisthetisch zu manifestieren, so wie dies bei Menschen der Fall ist. Damit unterscheidet Hegel letztlich zwei Arten der epistemologischen Einstellung auf lebendige Wesen. Bei Tieren sei nur ein »Erfassen« der »Seele durch das Denken ihrem Begriff nach« möglich. Die Auffassung der tierischen Seele zerfällt für Hegel daher in »zweierlei: die Anschauung der Gestalt und den gedachten Begriff der Seele als Seele.«270 Hier finden wir also jene dualistische Trennung von Sinnlichkeit 266

Hilmer 2005, 62. Für Pippin ist das verbunden mit dem »Begreifen von Kunstwerken als Kunstwerke und nicht als rein empirische Objekte«. Pippin 2012, 37. 268 Ebd. 269 Hegels »großes Projekt« sei es, auf der Basis der Untrennbarkeit von Anschauung und Begriff »eine umfassende nochmalige Überprüfung der Möglichkeit von Intelligibilität in Erfahrung und Handlung« vorzunehmen. Die zentrale Behauptung Hegels von der gleichzeitigen Unterscheidbarkeit und Untrennbarkeit von Begriff und Anschauung spiegelt sich im Bereich der praktischen Philosophie in der Untrennbarkeit »von Intentionen und körperlicher Bewegung im Handeln«. Ebd. 63. 270 VÄ I 173. Sollen Tiere dennoch ästhetisch, d. h. in einer nicht-dualistischen Intelligibilität erfasst werden, bleibt die »sinnvolle Anschauung der Naturgebilde«, die »im sinnlichen unmittelbaren Anschauen zugleich das Wesen und den Begriff« auffasst, dabei aber »bei der Ahnung [des Begriffs] stehen[bleibt].« Ebd. Dies ist für Hegel in Goethes Naturbetrachtung realisiert. Vgl. VÄ I 174. 267



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und Begriff, die für Kant und Hegel das Kennzeichen des diskursiven Verstandes ist. In diesem Sinne deutet die Einstellung einer empirischen Verhaltensforschung Körperbewegungen als Ereignisse, die Gegenstand von Einzelbeobachtungen sind. Der innere Zusammenhang eines solchen Verhaltens ist »nur durch das Denken und Begreifen« zu erfassen, durch Verallgemeinerungen und Schlussfolgerungen aufgrund dieser Beobachtungen.271 Während diese indirekte Bezugnahme für Hegel der einzige Weg zu sein scheint, sich ein Bild von der ›Innerlichkeit‹ tierischen Bewusstseins zu machen,272 gibt es in der Interaktion mit Menschen eine andere Art des Zugangs: In menschlichen Handlungen sind uns, wie Pippin betont, Intentionen in anderen, direkteren und unmittelbaren Weisen präsent. In dieser Hinsicht fällt für Hegel der menschliche Leib aus dem Register empirischer Naturbeobachtung heraus. Er beruht auf einen anderen, eigentümlichen epistemischen Modus, der gleich noch genauer untersucht werden wird.273 Diese drei Eigenschaften des menschlichen Leibes als Erscheinung, Zeichen oder Phänomen sollen hier als sein performativer Charakter oder seine Performativität bezeichnet werden. In jeder dieser Hinsichten beruht sie für Hegel auf der Untrennbarkeit von begrifflich-intentionalem Gehalt und konkreter Anschauung, von Wesen und Erscheinung, Signifikat und Signifikant, Innen und Außen.274 Hierdurch wird zum einen deutlich, wie der Leib nicht als Hindernis, sondern als Medium praktischer Vernunft gedacht werden kann. Zugleich wird der Leib zum exemplarischen Ort einer Intelligibilität, die nicht auf der Trennbarkeit von Anschauung und Begriff beruht, die ein diskursives Denken kennzeichnet. Eine solche Trennung macht etwa der 271 VÄ I 173. »[D]enn im Natürlichen kann sich die Seele als solche nicht erkennbar machen, da sie noch nicht für [/] sich ist; soll sie für uns werden, kann sie es nur durch den Begriff.« VÄ Hotho 1823, 59, MS 51 f. 272 Dieser Gedanke Hegels müsste sich heute einer Kritik der Animal Studies stellen. Schon Adorno stellt fest, es fehle Hegels Ästhetik und Sprachtheorie mit Blick auf die Natur »das Organ für alles Sprechende, das nicht signifikativ wäre«. Adorno 1970, 116. 273 Den Gedanken, dass uns andere Menschen anders begegnen als nach einem Schema von empirischer Beobachtung und abstrakt-gedanklicher Schlussfolgerung vertritt auch etwa Lauer. Ihm zufolge sind  – in Bezug auf andere Menschen  – zwei Formen des Wissens zu unterscheiden: »knowledge by interaction« und »knowledge by acquaintance, i. e. knowledge acquired by way of the senses« Lauer 2014, 322. Während wir andere zwar durchaus aufgrund bloßer Beobachtung ihres Aussehens und Gebarens kennen können, ist für ein Wissen aus Interaktion wesentlich, dass dieses, als sogenanntes »second person knowledge«, dieselbe Form annimmt wie »first person knowledge«, das ein »knowledge from spontaneity« ist. Ebd. 323. Vgl. hierzu auch Kapitel III.5.2. 274 Vgl. hierzu Krämer: »Fluchtpunkt der Konzeptualisierungen des Performativen […] ist die Unterminierung eben dieser kategorischen Trennung zwischen Zeichen und Bezeichnetem.« Krämer 2011, 66.

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diskursive Verstand, der auf Basis von empirischen Einzelbeobachtungen zu begrifflichen Verallgemeinerungen gelangt. Eine solche Trennung liegt aber gleichermaßen Hegels Idee eines theoretischen Geistes zu Grunde, der als Denken in arbiträren Sprachzeichen begriffen wird, in dem eine Bedeutung stets von einem spezifischen Zeichen abgetrennt werden kann. Der menschliche Leib kann so als Paradigma der in Kapitel III.2 besprochenen Idee eines anderen Verhältnisses von Anschauung und Begriff, wie auch als spezifische Instanz einer geistdurchdrungenen Anschauung gedeutet werden. In der leiblichen Präsenz des Menschen ist Intellektuelles und Intentionales in einer Weise verkörpert, die ohne eine Trennung von Wesen und Erscheinung, und auch ohne explizite Form des Begriffs auskommt. Diese Leibkonzeption soll nun näher betrachtet werden, wobei sich Äquivalente zu Kants Ideen zu Körpergefühl und Körperschema finden: Hegels Anthropologie entwirft eine Theorie von Körpergefühl, Habitualisierung und Habitus des Menschen (III.3.2.2). In der Ästhetik findet sich wiederum eine Reflexion des menschlichen Leibes als beseelter Organismus, spezifisch der Medialität von Haut und Auge (III.3.2.3).

3.2.2 Die Anthropologie: Selbstgefühl, Habitus und Einfühlung

Hegels Anthropologie ist Teil seiner Enzyklopädie, die aus den drei Teilen von Logik, Naturphilosophie und Geistphilosophie besteht. Innerhalb der Geistphilosophie nimmt sie eine Stelle vor der Bewusstseins- und eigentlichen Geistphilosophie ein und ist diesen als eine Theorie von Empfindung und Leiblichkeit vorangestellt. Sie behandelt somit ähnliche Themen wie Kants Anthropologie. Kant hatte seine Anthropologie allerdings als Anthropologie in pragmatischer Hinsicht verfasst, und den drei Kritiken bloß als eine Art Zusatz hintangestellt.275 Hegel hingegen gibt dieser Thematik eine systematische Stellung als dem ersten Teil der Geistphilosophie. Diese systematische Position ist in zwei Hinsichten interessant: Zum einen zeigt sie an, dass die darin entwickelte Theorie von Seele und Selbstgefühl noch vor jener Reflexivität des Bewusstseins und der Subjekt-Objekt-Trennung anzusiedeln sind, die für Hegel zur Phänomenologie gehören und zugleich die Grundlage von Kants diskursivem Verstand bilden. Diese anti- bzw. vordualistische Perspektive auf den Leib macht Hegels Anthropologie sehr modern und interessant für eine gegenwärtige Verkörperungstheorie. Zweitens kann diese Stellung als Hin275 In der Verknüpfung der Anthropologie mit einer pragmatischen Perspektive liegt seinerseits schon ein Hinweis auf die Bedeutung der Praxis.



Lebensform und Anschauungsform

weis dafür dienen, dass Hegels Theorie der Leiblichkeit für seine Theo­rie der handelnden Subjektivität einen ähnlichen Stellenwert hat wie Kants transzendentale Ästhetik für dessen Theorie des menschlichen Weltverhältnisses. Steht am Beginn der Naturphilosophie wie in Kants transzendentaler Ästhetik 276 die Theorie von Raum und Zeit, so beginnt die Geistphilosophie mit der Theorie des Leibes. Hegel selbst stellt hierbei die Verbindung zwischen Raum und Zeit als »reine[m] Anschauen« und einer reflexiven Leiblichkeit her. So wie Raum und Zeit aisthetische ›Leerformen‹ der erscheinenden Natur sind, kann der menschliche Leib zunächst – in abstrakter Form – als eine aisthetische ›Leerform‹ des erscheinenden Selbst gelten.277 Bei dieser Leerform leiblicher Existenz, einer »unmittelbaren Einheit mit ihrem Leibe«, kann es aber nicht bleiben. Insofern der Leib »die Mitte« ist, »durch welche ich mit der Außenwelt überhaupt zusammenkomme,«278 bildet er die Bedingung für die Verwirklichung menschlicher Zwecke. Hierfür ist der »Leib« des Menschen allerdings »nicht von Natur geschickt«, sondern erweist sich zunächst als »ungefügig«.279 Ist das Tier durch ein instinkthaftes, d. h. unproblematisches und unmittelbares Verhältnis zu seinen leiblichen Fähigkeiten gekennzeichnet, muss, so Hegel, der menschliche Leib hierzu erst bewusst trainiert werden. So hat der »Mensch sich durch seine eigene 276

Vgl. zu diesem Zusammenhang: Wildenauer 2003. »Dies besondere Sein der Seele ist das Moment ihrer Leiblichkeit, mit welcher sie hier bricht, sich davon als deren einfaches Sein unterscheidet und als ideelle, subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit ist.« EpW III, § 409, 183. »Es ist die auf ihre reine Idea­ lität zurückgesetzte Leiblichkeit, welche so der Seele als solcher zukommt; das ist: wie Raum und Zeit als das abstrakte Außereinander, also als leerer Raum und leere Zeit nur subjektive Formen, reines Anschauen sind, so ist jenes reine Sein, das, indem in ihm die Besonderheit der Leiblichkeit, d. i. die unmittelbare Leiblichkeit als solche aufgehoben, Fürsichsein ist, das ganz reine bewußtlose Anschauen, aber die Grundlage des Bewußtseins, zu welchem es in sich geht, indem es die Leiblichkeit, deren subjektive Substanz es [ist] und welche für dasselbe noch als Schranke ist, in sich aufgehoben hat und so als Subjekt für sich gesetzt ist.« EPW III, § 409, 183. Ist mit der Leiblichkeit zunächst unbestimmtes Anschauen verknüpft, ist dann in der angeeigneten Leiblichkeit ein Punkt erreicht, an dem »das Selbst oder das Ich in seinem Anderen sich selber anschaut und dies Sichanschauen ist.« EpW III, § 412 Zus., 198. Dieser Zusammenhang kann hier nur angerissen werden. Es würde sich sicher lohnen, diesen systematischen Bezügen und vor allem dem Anschauungsbegriff in diesem Kontext weiter nachzugehen. Zu Raum und Zeit als Leerformen: »In der Anschauung findet sich allerhand Inhalt. […] Solcher Inhalt macht das eine Bestandstück aus, er gehört dem Gefühle an; diese sind alle Subjektives und nur subjektiv. In diesem Sinnlichen ist aber auch ein allgemeines Sinnliches selbst; dies Andere bei solchem Stoff ist die Bestimmung von Raum und Zeit, sie sind das Leere.« VGPh III 339. 278 EpW III, § 410 Zus., 190. 279 Ebd. 277

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Tätigkeit zum Herren seines Leibes erst zu machen«, was dessen »Bildung« erfordert.280 Dies bedeutet auch die immanente Trägheit und Widerständigkeit des natürlichen Leibes zu überwinden. Entscheidend für diese bildende Aneignung und Formierung ist für Hegel die Gewohnheit, die auf »Wieder­ holung« und »Übung« beruht.281 Hegel greift hierbei auch die Rede von der Gewohnheit als zweiter Natur auf: Natur sei sie als »unmittelbares Sein der Seele«, zweite Natur hingegen, weil sie »eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit« sei.282 Die Gewohnheit besteht in der Transformation passiver Empfindungen in spontane Routinen. Dieser »Mechanismus des Selbstgefühls«283 spielt, so Hegel, für »alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes« eine entscheidende Rolle. Beim Aufrechtstehen ermöglicht er das willentliche, aber zugleich unmittelbare und unbewusste kontinuierliche Fortsetzen einer Tätigkeit.284 Beim Sehen ermöglicht er die Vereinigung einer Fülle gleichzeitig ablaufender sensueller und kognitiver Tätigkeiten in »einem einfachen Akt«. Und schließlich betrifft die an den Leib gebundene Jemeinigkeit selbst das »abstrakte Denken«. Auch dieses ist für Hegel erst durch leibliche Routine ein »ungehindertes, durchgedrungenes Eigentum meines einzelnen Selbsts […]. Erst durch diese Gewohnheit existiere Ich als denkendes für mich.« Auch das abstrakte Denken findet für Hegel also nicht in einer wolkigen Sphäre des intellektualistischen cogito statt: »Selbst diese Unmittelbarkeit des denkenden Beisichseins enthält Leiblichkeit«, schreibt Hegel, und er fügt in Klammern hinzu: »Ungewohntheit und lange Fortsetzung des Denkens macht Kopfweh«.285 Nicht zuletzt in den Kopfschmerzen, die man von zu viel Denken bekommt, zeigt sich also für Hegel die leibliche Basis des Denkens. Der auf diese Weise erworbene Habitus ist nicht nur für den Selbstbezug entscheidend, sondern ebenfalls für den Fremdbezug. Genauer: die Weise, wie wir uns als verkörperte menschliche Wesen untereinander phänomenal 280

Ebd. Evolutionär gesehen ermöglicht gerade die nicht auf einen bestimmten Lebensraum festgelegte Ausstattung des menschlichen Körpers dessen Anpassung an andere Lebensräume ohne physiologische Veränderungen. 281 EpW III, § 410, 184. Vgl. zur Bedeutung der Gewohnheit für den Menschen auch Malabou, Catherine (2005): The Future of Hegel. Plasticity, Temporality, and Dialectic, New York: Routledge, 74: »Man is exemplary because the human formative power can translate the logical process into a sensuous form«. Das entscheidende Moment bleibt in Malabous Auffassung allerdings nicht der Leib, sondern die Sprache. 282 EpW III, § 410, 184. 283 Ebd. 284 Es handelt sich um die »unmittelbare, bewußtlose« Tätigkeit, »die immer Sache seines fortdauernden Willens bleibt«. Ebd. 186. 285 Ebd. 184.



Lebensform und Anschauungsform

begegnen. Diese Untrennbarkeit von Selbst- und Fremdbezug findet sich in Hegels Rede von der habitualisierten Leiblichkeit als »Zeichen« der Seele. Der habitualisierte Leib ist die »freie Gestalt«, in der die Seele »sich fühlt und sich zu fühlen gibt«. Als Resultat der Aneignung des Leibes wird dieser zum »Kunstwerk der Seele«, das einen »menschlichen […] Ausdruck« hat.286 An dieser Stelle kann an die zwei oben genannten zentralen Bestimmungen von Leiblichkeit erinnert werden: Der menschliche Leib ist demnach eine Art des Zeichens, das vor jeder metaphorischen oder arbiträren Zeichen­beziehung auf einem Sich-Zeigen und Sich-Zu-Fühlen-Geben beruht. Die Tatsache, dass Hegel den Leib ein Zeichen nennt, das allerdings paradoxerweise gerade nicht auf Konvention oder Ähnlichkeit beruhen soll, sondern gewisser­maßen ›sich selbst zeigt‹, kann mit Peters durch den Hinweis plausibel gemacht werden, dass der Leib hier nicht als bloße Naturform (erste Natur) in Frage kommt, sondern als zweite Natur, als Gemachtes.287 Menschliche Leiblichkeit hat somit immer schon einen ›schematischen‹ Charakter.288 Die für Zeichen grundlegende Bestimmung der Iterabilität, d. h. ihre immanente Wieder­ holungsstruktur, wird hierbei auf der Ebene von Übung und Gewohnheitsbildung realisiert.289 Die Überlegungen der Anthropologie machen aber auch klar, warum sich der Mensch als Naturphänomen auf andere Weise manifestiert, als dies etwa Tiere tun: Hegel nennt dies das dem Menschen »eigentümliche geistige Gepräge« und das »geistdurchdrungene Ansehen seines Leibes«, wodurch sich der habitualisierte Leib des Menschen von dem nicht-habitualisierten Leib der Tiere unterscheidet.290 Hierzu gehört, so Hegel, »z. B. die aufrechte 286

EpW III, § 411, 192. Mit diesem Gedanken beziehe ich mich auf Peters: »Hegel’s rationale for calling the appropriated human body a sign may ultimately be the more basic observation that it has one important feature in common with the sign in the narrow sense of the term: the actual soul as self-signifying sign can only come into being where there is ›spiritual labor‹, that is, deliberate, intentional activity involved«. Peters 2015, 34; sowie: »Thus, in a certain sense one can say that the self-signifying sign that is the actual soul is created by itself, that is, by the elements that constitute it, rather than receiving its signifying characteristics by external convention.« Ebd. 288 Vgl. zum Schemabegriff, den in dieser Bedeutung etwa Platon verwendet: Bredekamp 2010, 104. 289 Vgl. Derrida, Jacques (1999b): »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: Randgänge der Phi­ losophie. Wien: Passagen, 291–314. Diese Funktionen spielen auch in Hegels Theorie des arbiträren Sprachzeichens eine Rolle, nämlich als ›mechanisches Gedächtnis‹: »[D]ie Gewohnheit ist der Mechanismus des Selbstgefühls wie das Gedächtnis der Mechanismus der Intelligenz.« EpW III, § 410, 184. Vgl. zum mechanischen Gedächtnis EpW III, § 461 ff. 290 Die »mit Freiheit geschehenden Verleiblichungen […] erteilen dem menschlichen 287

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Gestalt überhaupt, die Bildung insbesondere der Hand, als des absoluten Werkzeugs, des Mundes, Lachen, Weinen usw. und der über das Ganze ausgegossene geistige Ton, welcher den Körper unmittelbar als Äußerlichkeit einer höheren Natur kundgibt.«291 Hegel scheint hier jene phänomenale Dimension intentionaler Beseeltheit im Blick zu haben, durch die sich andere Menschen für uns von Dingen oder Robotern und in gewissem Grade auch von Tieren unterscheiden.292 Grund für den Sonderstatus menschlicher Leiblichkeit als Medium des Geistigen ist also die Weise, wie sich in Haltungen, Handlungen, Gesten, Mimik etwas offenbart, das sich von der instinktgesteuerten Natürlichkeit eines tierischen Verhaltens oder gar bloß physikalischen Ereignissen mechanischer Prozesse unterscheidet. Ein besonders interessantes Beispiel Hegels für den gelingenden Erwerb einer Gewohnheit ist das Lernen von Musikinstrumenten: »Auf solche Weise ist dann in der Geschicklichkeit die Leiblichkeit durchgängig und zum Instrumente gemacht, daß, wie die Vorstellung (z. B. eine Reihe von Noten) in mir ist, auch widerstandslos und flüssig der Körper sie richtig geäußert hat.«293 Erst aufgrund einer erworbenen Virtuosität ist es dem Menschen also möglich, seine Intentionen unmittelbar – wie eine zweite Natur – in seinen Handlungen zu manifestieren. Um dies zu erreichen, ist es zunächst nötig, durch Übung die Widerständigkeit des Leibes (steife Finger, Ungeschicktheit etc.) zu überwinden. Ziel ist eine »durchgebildete[], sich zu eigen gemachte[] Leiblichkeit«, in der »das Subjekt sich nur auf sich bezieht«.294 Diese bleibt aber nicht bloße Selbstbeziehung. Wie Hegels oben zitierte Formulierung vom ›Sich-Fühlen‹ und ›Sich-zu-Fühlen-Geben‹ impliziert, hängt von dem Grad, wie ich mir selbst in meinem Tun gegenwärtig bin, auch unmittelbar ab, wie ich für andere gegenwärtig werden kann. Das Beispiel des musikalischen Leibe ein so eigentümliches geistiges Gepräge, daß er sich durch dasselbe weit mehr als durch irgendeine bloße Naturbestimmtheit von den Tieren unterscheidet. Nach seiner rein leiblichen Seite ist der Mensch nicht sehr vom Affen unterschieden; aber durch das geistdurchdrungene Ansehen seines Leibes unterscheidet er sich von jenem Tiere dermaßen, daß zwischen dessen Erscheinung und der eines Vogels eine geringere Verschiedenheit herrscht als zwischen dem Leibe des Menschen und dem des Affen.« EpW III, § 411, 193. 291 Ebd. Hegels Antwort auf diese Frage ist eine Theorie der »Leiblichkeit«, in der »der Geist […] anschaubaren Ausdruck« hat. EpW III, § 558, 368. 292 Mit Krois können wir ergänzen, dass es dieselben leiblich-kognitiven Ressourcen sind (nämlich im Sinne von Krois das Körperschema), mit denen wir andere Menschen als beseelte, intentionale Subjekte erkennen und den Sinn von Kunstwerken erfassen. Menschen und Kunstwerke haben eine nichtdiskursive Medialität des ›Sich-Zeigens‹, die sich spezifisch vom arbiträren Zeichen und vom Symbol unterscheidet. 293 EpW III, § 410, 186. 294 EpW III, § 411, 192.



Lebensform und Anschauungsform

Übens kann hierbei sehr gut erklären, warum Hegel immer wieder darauf hinweist, dass wir uns im Alltag nicht jederzeit vollständig für andere leiblich als ›wir selbst‹ manifestieren. Während sich ein ungeübter Musiker an der technischen Beherrschung von Leib und Instrument abarbeitet, setzt ein ausdrucksvolles Spiel voraus, dass diese technische Beherrschung zur zweiten Natur geworden ist.295 Die Expressivität des menschlichen Leibs ist für Hegel aber nicht nur in dem spezifisch menschlichen Habitus (im Vergleich zum tierischen Verhalten) begründet, sondern auch in organischen Spezifika der menschlichen Gestalt.

3.2.3  Die Ästhetik: Beseeltheit, Haut und Auge

Die Idee der Anthropologie vom expressiven Leib als Kunstwerk der Seele hat ihr Gegenstück in der Ästhetik. Auch diese enthält eine Theorie des Leibes: Im dialektischen Übergang vom Naturschönen zum Kunstschönen führt Hegel dort das expressive Potential des Kunstwerks auf das Paradigma des menschlichen Leibes zurück.296 Ausgangspunkt ist dabei nicht das Selbstgefühl und der Empfindungsleib, sondern das Phänomen des Organischen, wie auch ganz bestimmte Organe, die spezifisch mit dem Sehen verbunden sind. Die zentrale Stelle in der Version der Nachschrift Hothos (1823) lautet: »Fragen wir aber nach einem Organ, in welchem die Seele als solche erscheint, so wird uns sogleich das Auge einfallen, in dem der Geist als sichtbarer konzentriert ist. Wir sagten schon früher, daß an dem menschlichen Körper im Gegensatz des tierischen überall das pulsierende Herz sich zeige. Auf dieselbe Weise kann von der Kunst gesagt werden, daß sie das Erscheinende an allen Punkten der Oberfläche zum Auge zu erheben habe, welches der Sitz der Seele ist, den Geist erscheinen läßt.«297

295 Vgl. Peters 2015, 22 f., die dasselbe am Bild des Schreibenlernens erläutert: »By acquiring a bodily skill, a subject comes to perceive of her bodily movements as infused with, or as immediate embodiments of, the overall purposes she pursues, such as the purpose of writing.« Ebd. 23. »From her point of view, her particular bodily movements are no longer distinct from the pursuit of the overall purpose, to which they stand in an instrumental relation, but immediately identical with it. The pursuit of her complex, free purposes is immediately embodied.« Ebd. 296 Dies geschieht in den Passagen zur Idee des Schönen dort, wo Hegel im Übergang von Pflanzen, Tierkörpern, Menschenkörpern und Kunstwerken nach der spezifischen Logik fragt, durch die Kunstwerke ihren Sinn für einen Betrachter manifestieren. 297 VÄ Hotho 1823, 79, MS 70.

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Dieses etwas verschachtelte Denkbild kann in etwa folgendermaßen entwirrt werden:298 (i) In der menschlichen Haut zeigt sich überall das pulsierende Herz; (ii) im Auge manifestiert sich die Seele des Menschen; (iii) so wie der menschliche Körper von einer expressiven Haut bedeckt ist, so hat das Kunstwerk überall Augen. Diese Beziehung zum Kunstwerk soll zunächst zurückgestellt werden, um zu betrachten, worin genau für Hegel die phänomenale Auszeichnung der menschlichen Leiblichkeit liegt. Um das mediale Modell seiner Ästhetik zu entwickeln, orientiert sich Hegel zunächst am Modell organischer Naturgegenstände, wie es schon Kant in der KU thematisiert hat: Im Zentrum steht dabei der dialektisch verfasste »Prozeß des Lebens« als »Setzen und Auflösen des Widerspruchs von ideeller Einheit und realem Außereinander der Glieder«.299 Deutlich wird an dieser Stelle etwa die Abgrenzung von der Idee quantitativer Synthesis, die für Kants Konzept bildlicher Figuration entscheidend ist. Ist den Teilen einer diagrammatischen Konstruktion (etwa eines Dreiecks) wie Hegel feststellt, »die Gemeinschaft mit anderen […] gleichgültig«300, so sind tierische Organismen Ganzheiten, deren Relata »nicht […] Teile, sondern Glieder« sind. Organismen haben »nur in ihrer ideellen Einheit wahrhaft Existenz«, welche »ihr Träger und immanente Seele« ist. Der abgehackten Hand fehlt die Beseelung und höhere Existenz, weil sie nicht mehr als Hand im Sinne ihrer Funktionsbestimmung existiert.301 Bereits dieses Phänomen der Beseeltheit organischer Naturwesen ist für Hegel in den Termini eines medialen Erscheinungsbegriffs zu artikulieren: Die Realität der »natürliche[n] Lebendigkeit« ist stets »erscheinende Realität«. Diese bedeutet zum einen negativ die Aufhebung der Eigenständigkeit der äußeren Gestalt, insofern sich die Seele »als Macht gegen die selbständige Besonderung der Glieder kund[tut]«. In einem affirmativen Sinne ist es »die Seele […,] welche im Leibe erscheint«; diese ist 298 Das Bild vom ›tausendäugigen Argus‹, das in der Hotho’schen Edition vorkommt (VÄ I 203) sowie von Pippin emblematisch verwendet wird, findet sich in Hothos Nachschrift nicht. Stattdessen heißt es: »Platon spricht in seinem Distichon an seinen Stern aus: Er möge der Himmel sein, aus tausend Augen zu sehen. Umgekehrt können wir sagen, die Kunst gebe dem Gegenstand tausend Augen, um überall gesehen zu werden. Denn durch das Auge sieht die Seele nicht nur, sondern wird auch darin gesehen. Die Erscheinung ist mannigfach; die Kunst macht sie zu einem solchen, daß sie überall sei als Organ der Seele, als Manifestation derselben. Zur Erscheinung gehört alles Äußere, Rede, Figur etc.« VÄ Hotho 1823, 79, MS 70. 299 VÄ I 162. Hegel spricht hier auch vom »Idealismus der Lebendigkeit«, insofern »die Natur schon […] als Leben faktisch dasselbe [vollbringe], was die idealistische Philosophie in ihrem geistigen Felde vollbringt.« VÄ I 163. 300 Ebd. 301 VÄ I 160. Eine abgehauene Hand »verliert ihr selbständiges Bestehen; sie bleibt nicht, wie sie im Organismus war«. VÄ I 163.



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die »Bildnerin« der Glieder, »indem sie das als Inneres und Ideelles enthält, was sich äußerlich in den Formen und Gliedern ausprägt.«302 Dieses Modell der organischen Naturform ist aber als Prototyp des Kunstwerks noch nicht hinreichend. Hilmer betont diesbezüglich die Schwierigkeiten einer Hegellesart, die die Logik des Kunstwerks bei Hegel auf das Vorbild der organischen Naturwesen überhaupt zurückführen will.303 Die Alternative hierzu bildet, wie Hilmer selbst feststellt, eine verkörperungstheoretische Lesart, die die menschliche Leiblichkeit – gerade in ihrem Ausnahmecharakter, ihrer Spezifik – als zentrales Paradigma von Hegels Ästhetik betrachtet. Hiermit rückt der Unterschied von Tier und Mensch ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Für Hegel haben die Tiere zwar einen phänomenal ausgezeichneten Status, weil sie in geringerem oder größerem Maße über etwas »Seelenhafte[s]«304 verfügen.305 Sie können aber allenfalls als proto-ästhetische Phänomene im Sinne der Ästhetik gelten. Der tierische Leib bleibt für uns opak, zeigt nur den »trüben Schein einer Seele«, der uns das, was in ihrem Inneren vorgeht, allenfalls »Erahnen« lässt.306 Erst beim Mensch »sehen« wir 302

VÄ I 164. Wenn tatsächlich der natürliche Organismus das zentrale Paradigma von Hegels Ästhetik bildete, dann hätte, wie Hilmer feststellt, Hegels Ästhetik ein Problem: dann würde sich nämlich der besondere Status des Kunstwerks der Übereinstimmung mit einer Struktur verdanken, der dieser Status gerade selbst abgeht. »Hegels 1823 in mehreren Anläufen durchgeführte Untersuchung hat das paradoxe Ergebnis, daß das einzige Naturphänomen, das überhaupt Chancen hat, als schön zu gelten, allenfalls der Mensch ist. Genauer gesagt, es stellt sich heraus, daß die Natur keineswegs als selbst schöne, sondern nur im Ausgang von organischer Lebendigkeit und als Basis von Subjektivität das Kunstschöne erläutern kann. Das Kunstwerk, so könnte man zugespitzt sagen, verdankt die als Schönheit zu qualifizierende Übereinstimmung mit sich einer quasi organischen Struktur, obwohl  eine eben solche organische Verfassung das Lebendige selbst keineswegs schon zu etwas Schönem macht.« Hilmer 1997, 85. 304 VÄ I 160. 305 Zur »unity and subjectivity of the living animal organism« als »a kind of protoaesthetic phenomenon«, wodurch das Tier Mineralien und Pflanzen ästhetisch übertrifft, vgl. Peters 2015, 19. 306 »Diese Manifestation hat das Tier nicht, sondern seine Seele ist nur der Hauch, der das Ganze belebt, zeigt sich im habitus, in der Idealisierung der Teile; diese Idealität aber erscheint noch nicht frei für sich. Das Tier zeigt uns den trüben Schein einer Seele nur in besonderem Charakter; die Manifestation der Seele als solcher gehört dem Kunstschönen an.« VÄ Hotho 1823, 63, MS 55; Hegel sieht die Natürlichkeit der Naturwesen – wie Adorno – in dieser Opazität: »Es ist also das, worauf es hier ankommt, dieses, daß das Natürliche, Lebendige, wohl eine Seele ahnen läßt, aber nicht an ihm selbst offenbart; denn [für] das Natürliche ist dieses [bestimmend], daß seine Seele ein bloß Inneres ist. Die Seele des Tieres als Seele offenbart sich nicht an ihm, ist nicht für Andere, weil sie nicht für sich ist.« Ebd. Erst von Adorno wird diese Opazität allerdings positiv aufgefasst. Das Naturschöne »verhüllt sich im Augenblick der nächsten Nähe«. Adorno 1970, 115. 303

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auch den »Einheitspunkt des Lebens«, erst der Mensch soll sich »als einzelnes punktuelles Subjekt […] zur Erscheinung bringen […] können«.307 Der Mensch manifestiert sich unmittelbar als geistiges Wesen für andere Menschen. Anders gesagt: Auch Tiere haben zwar wie wir einen Empfindungsleib, sind also ein »fühlendes Eins«308, wir können uns in Tiere aber nicht wie in Menschen hineinversetzen. Alles, was wir über ihre Innerlichkeit wissen können, bleibt entweder ein ganz oberflächlicher ›Hauch‹, eine vage Ahnung oder ein bloß indirekt erschlossenes, diskursives Konstrukt. Ein erster Grund, den Hegel hierfür nennt, lautet, dass den Tieren das spezifische ›Für-sichsein‹ des Menschen fehlt. Erst dieses reflexive Selbstverhältnis erlaubt es den Menschen, sich als intentionale Wesen auch »für andere« zu »manifestie­ r[en]«.309 Dies bestätigt die Argumentation der Anthropologie310: Das Tier hat ein unproblematisches Verhältnis zu seinem Leib, muss sich diesen nicht in Form einer zweiten Natur aneignen. Erst der menschliche Habitus als leiblicher Selbstbezug wird zur Basis leiblicher Performativität, das Sich-Fühlen zur Basis eines Sich-zu-Fühlen-Gebens. Der zweite Grund findet sich in der spezifischen organischen Ausstattung des Menschen, genauer den zwei Organen des Menschen, die in besonderer Weise zum Medium intersubjektiver Beziehungen werden können: Haut und Auge. Argumentiert Hegel, dass bei den Tieren der »eigentliche Sitz der Tätigkeiten des organischen Lebens […] verhüllt« bleibe,311 so hat diese Opazität des tierischen Verhaltens bereits ganz konkrete organische Ursachen: Die leiblichen Körperoberflächen der Tiere sind opak, wir sehen »den ganzen Körper mit Federn, mit Schuppen überzogen […] oder mit Haaren, mit Pelz, mit Muschel.«312 In den entsprechenden Prozessen der Verhornung oder Verschalung sieht Hegel sogar einen Rückschritt hinter das Prinzip tierischen Lebens, nämlich ein Analogon zum unbeseelten Wachstum des Pflanzli307 VÄ I, 193. Vgl. auch: »[D]er Zusammenhang der Seele erscheint nur getrübt, nicht als gehaltvoller Einheitspunkt in sich, sondern nur als abstrakte, unbestimmte Seelenhaftigkeit.« VÄ Hotho 1823, 63, MS 55. 308 VÄ Hotho 1823, 76, MS 67. 309 »Erst das Bewußtsein ist das Ich, das für das Ich ist: der Begriff, der sich gegenübertritt, für sich ist, und so sich auch für Andere manifestiert.« Ebd. Für das Tier gilt: »Weil das Innere ein nur Inneres bleibt, erscheint auch das Äußere nur als ein Äußeres und nicht an jedem Teil von der Seele völlig durchdrungen.« VÄ I 194. 310 Diese ist allerdings in der zitierten Fassung späteren Datums als die Vorlesungen. 311 VÄ I 193. 312 »Die Seele des Tieres als Seele offenbart sich nicht an ihm, ist nicht für Andere, weil sie nicht für sich ist.« VÄ Hotho 1823, 63, MS 55. »Wir erblicken also am Tier ein Vegetabilisches, und deshalb nämlich, weil das Tier nur Insichsein ist, so sehen wir seine Lebendigkeit nicht überall an ihm.« Ebd. 75, MS 67.



Lebensform und Anschauungsform

chen.313 Gegenüber solchen opaken Körperoberflächen ist die menschliche Haut – so Hegel – durchscheinend und expressiv. Durch sie ist die Lebendigkeit und Empfindungsfähigkeit des Menschen auf »der ganzen Oberfläche […] gleichsam allgegenwärtig«. Dies liegt am Durchscheinen von Blutkreislauf und »Nervensystem«, wobei man nicht nur an eine statische Färbung, sondern etwa auch an Modulationen des Errötens, Erblassens, der Gänsehaut denken mag.314 Diese Überlegungen Hegels zur Haut stehen nun selbst bei den Vertreterinnen der verkörperungstheoretischen Lesart in schlechtem Ansehen. Hilmer spricht von einem »kuriosen Gedankengang«315, Peters findet: »[T]his argument is hardly convincing«.316 Dies liegt offenkundig daran, dass beide nicht den Zusammenhang zu den Wirkungen der Malerei herstellen, wie dies später noch ausführlicher geschehen soll. So ist für Hegel spezifisch das menschliche Inkarnat, die Farbgestaltung der Haut, der Grund der »Lebendigkeit«317 malerischer Darstellungen. Die Haut wird mit ihrem Erröten oder Erblassen, dem Anschwellen der Adern gleichermaßen zu einer Leinwand, auf der sich ein Innenleben des Fleisches darstellt, dessen malerische Darstellung ein lebendiges, menschliches Gegenüber evozieren kann. Hegel kann so eine phänomenologische These zugeschrieben werden: Es ist nicht nur der Blick, sondern auch die Sichtbarkeit der menschlichen Haut, die in entscheidender Weise zum Phänomen der leiblichen Anwesenheit menschlicher Subjekte beiträgt und es dabei erlaubt, in eine Einfühlungsbeziehung zum Gegenüber zu treten. Eine zweite Spezifik der menschlichen Gestalt liegt für Hegel im menschlichen Auge: »Fragen wir aber nach einem Organ, in welchem die Seele als solche erscheint, so wird uns sogleich das Auge einfallen, in dem der Geist als sichtbarer konzentriert ist.« Er fügt hinzu: »Denn durch das Auge sieht 313 Diese sind »animalische Produktionen in Form des Vegetabilischen« und »Formationen einer niedrigeren Stufe als die [/] eigentliche Lebendigkeit«. VÄ I 193 f. 314 Dies einerseits als »Herz« insofern »das Blut […] überall durch[scheint]«, andererseits als Hirn, insofern »das Nervensystem« überall erscheine. VÄ Hotho 1823, 76, MS 67. Der menschliche Körper ist also nicht nur lebendig und empfindend, sondern zeigt dies zugleich auf seiner physiologischen Oberfläche und unterscheidet sich damit von den anderen Gestalten der Natur: »Das höhere ist, daß die Seele, der Geist im menschlichen Körper ist. In der Naturgestalt als solcher ist es besonders die Notwendigkeit, die erscheint; im Menschlichen aber erscheint auch der Punkt der Individualität, die Empfindung.« Ebd. 76, MS 68. 315 Hilmer 1997, 84. 316 Peters 2015, 20. 317 Die Farbe »macht die Malerei zur Malerei. Zeichnung, Erfindung ist wesentlich [/], notwendig, doch die Farbe ist erst die Lebendigkeit, kein bloßes Kolorieren, sondern zugleich bezeichnender Ausdruck.« VÄ Hotho 1823, 258, MS 241 f.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

die Seele nicht nur, sondern wird auch darin gesehen.«318 Hiermit greift Hegel offenkundig den alten Topos vom Auge als Spiegel der Seele auf. Wie lässt sich das aber verstehen ? Wie Pippin hervorhebt, sehen wir ja nicht buchstäblich eine Seele im Auge.319 Allerdings ist dieser Topos schon bei Platon und Aristoteles nicht im Sinne eines simplen Spiegels oder transparenten Fensters gemeint. Die ›Seele‹ wird nicht einfach vom Auge repräsentiert, sondern konstituiert sich im Sinne einer reziproken Beziehung. Darin geht es vor allem auch darum, sich in der Blickbeziehung zum Anderen selbst zu erkennen.320 Dass auch Hegel die Blickbeziehung vor allem als soziale Beziehung denkt, wird insbesondere dort deutlich, wo Hegel die Wirkungen von Skulptur und Malerei vergleicht. Es gehört zu den spezifischen Vorzügen der Malerei, dass sie intersubjektive Blickbeziehungen herstellen kann, während die Skulptur ›blicklos‹ bleibt. In der Vorlesung von 1821 nennt Hegel das Auge entsprechend »den wesentlichen Punkt der Subjectivität […], diesen ersten Punkt der Identität zwischen den Menschen, diesen Punkt des ersten Auffassens.«321 In der von 1823 wird dies noch deutlicher: »Zuerst sieht man den Menschen in die Augen, wie durch Händedruck setzt man sich durch den Blick in Einheit; er ist die Konzentration der Innigkeit, der empfindenden Subjektivität. Der Blick ist das Seelenvollste.«322 Diese Passagen, die später noch genauer betrachtet werden, enthalten wichtige Hinweise darauf, warum es berechtigt sein könnte, bei Hegel von einem iconic turn avant la lettre zu sprechen. Hegel gelangt – spezifisch im Kontext der Malerei – zu einer Theorie der Blickbeziehung als einer Keimzelle menschlicher Sozialität und Intersubjektivität.323 Er befindet sich damit 318 VÄ Hotho 1823, 70. Die Edition der Vorlesungen zieht diese Stellen zusammen: »Fragen wir aber, in welchem besonderen Organe die ganze Seele als Seele erscheint, so werden wir sogleich das Auge angeben; denn in dem Auge konzentriert sich die Seele und sieht nicht nur durch dasselbe, sondern wird auch darin gesehen.« VÄ I 203. 319 »It is crucial to note that Hegel describes looking at art objects this way, as if each one had eyes (which, whatever it means, does not mean we are looking through the image to a source or original; a human soul is not literally visible inside the eye).« Pippin 2002, 5. 320 Bei Platon handelt es sich noch um eine Analogie: So wie das Auge, wenn es sich selbst sehen will, sich in einem anderen Auge spiegeln muss, so muss »die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in eine Seele sehen«. Platon (1991a): »Alkibiades«, in: Sämt­ liche Werke Bd. II. Frankfurt/M., Leipzig: Insel, 61–173, 132e–133c. »[W]ie wir nun, wenn wir unser eigenes Gesicht sehen wollen, durch einen Blick in den Spiegel den Anblick zustande bringen, so müssen wir auch, wenn wir unser eigenes Wesen erkennen wollen, auf den Freund blick: dann kommen wir zur Erkenntnis. Denn es ist ja, wie wir sagen, der Freund ein zweites Ich.« Aristoteles (1983): Magna moralia, Berlin: Akademie, 1213a 21, 88 f. 321 VÄ Ascheberg 1820/21, 209, MS 157. 322 VÄ Hotho 1823, 242, MS 225. 323 Vgl. hierzu und zum Konzept einer ›performativen Bildepisteme‹ Kapitel I.3.2.



Lebensform und Anschauungsform

in Vorläuferschaft zu Mitchell. Als eine entscheidende Grundlage seines pic­ torial turn begreift dieser den hier bereits von Hegel formulierten Gedanken visueller Reziprozität, nämlich, dass die »everyday processes of looking at others and being looked at« unsere soziale Realität einer Weise konstituieren, die auf Sprache und Diskursives nicht reduzierbar ist.324 Indem er diese kon­ sti­tutive Rolle von Blickverhältnissen anerkennt, ist Hegel zugleich Vorläufer moderner Verhaltenspsychologie325 und Phänomenologie. Sartre spricht vom Blickverhältnis als einem »fundamentale[n] Erfassen […], wo der andere sich mir nicht mehr als Gegenstand, sondern als ›leibhaftige Anwesenheit‹ entdecken wird.«326 Ganz im Sinne der Kantkritik Hegels stellt er hierbei fest, der Irrtum der »klassischen Theorien« bestehe »in dem Glauben, daß diese Verweisung eine getrennte Existenz anzeigt, ein Bewußtsein, das hinter seinen [/] wahrnehmbaren Manifestationen ist, wie das Noumenon hinter der Empfindung bei Kant.«327 Analog und mit einer weniger negativistischen Einstellung hat etwa auch Rainer Marten die entscheidende Rolle eines ›sich Treffens von Blicken‹ für die menschliche Sozialität betont.328 Pape bemerkt in diesem Sinne: »Der Blick in die Augen des Anderen macht den Blickenden und sein Gegenüber füreinander als Selbst erfahrbar.«329

324 Mitchell 2005, 47. »This complex field of visual reciprocity is not merely a byproduct of social reality but actively constitutive of it. Vision is as important as language in mediating social relations, and it is not reducible to language, to the ›sign‹, or to discourse.« 325 Vgl. hierzu klassisch: Argyle, Michael; Cook, Mark (1976): Gaze and Mutual Gaze, Cambridge, Eng., New York: Cambridge University Press. 326 Sartre 1994, 457. 327 Ebd. 457 f. 328 »Von ausgezeichneter lebenspraktischer Bedeutung ist das Verhältnis von Augein-Auge: der Wechselblick des Einen und Anderen. Der unverwandte Augen-Blick ineinander nämlich gibt Menschen ihre reine selbstoffene Gegenwart. Genau in diesem Blickund Selbstverhältnis des Menschen ist das ursprünglich inszenierte Einander zu sehen: die Urszene.« Marten 1988, 26. Geht es Sartre um die Erfahrung der Scham, des Erblicktwerdens, worin der Andere »die Grenze meiner Freiheit« (Sartre 1994, 472) wird, so betont Marten eher den positiven Sinn von »öffentliche[r] Selbstauslegung« (Marten 1998, 9) auf der »Bühne des Lebens« (ebd. 21). Auch Marten kritisiert die Idee einer Abtrennbarkeit des Wesens von der Erscheinung. Es gebe »keine Selbstdarstellung, bei der die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, Innen und Außen usw. praktisch trägt.« Weiter auch im Sinne der hegelschen Kantkritik: »Das sind theoretische Sichten auf das isolierte Subjekt, die Lebensteilung zu ihrem eigenen Schaden ausblenden, insofern sie sich allein am Menschen als Vernunftwesen und an Vernunft als einzig angemessener menschlicher Verkehrsform orientieren.« Ebd. 20. Vernunft muss hier dann aber im intellektualistischen, nicht in dem von Hegel um den Leib erweiterten Sinn verstanden werden. 329 Pape 2011, 119.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Mit Blick auf die in diesem Kapitel rekonstruierte Logik phänomenaler Leiblichkeit kann festgestellt werden, dass Hegel mit den soeben genannten Ansätzen vier entscheidende Argumente teilt. (i) Menschliche Subjektivität erschließt sich aus ihrer externen Verwirklichung und phänomenalen Anwesenheit im Leib. (ii) Diese Subjektivität ist nicht essentialistisch, sondern relational gedacht: Wer ich selbst bin, hängt von der Beziehung zum Anderen ab. (iii) Es gibt einen entscheidenden Unterscheid zwischen der leiblichen Präsenz des Menschen und der Vorhandenheit empirischer Gegenstände.330 (iv) Dies involviert visuelle oder gestaltmäßige Aspekte, die nicht auf ein kommunikatives Paradigma des Verstehens von Sprache, arbiträren Zeichen oder Symbolen reduziert werden können.

3.3 Fazit und Überleitung: von der expressiven Leiblichkeit zum ­Kunstwerk

Die Idee dieses Kapitels war, auf bestimmte Parallelen zwischen Kants trans­ zendentaler Ästhetik und Hegels Ästhetik hinzuweisen, die in der Verbindung von Metaphysikkritik und eine Theoretisierung von Leiblichkeit bestehen. Kants Kritik an Leibniz’ intellektuellem System der Welt führt zu der Einsicht, dass uns die Gegenstände der Welt nicht nach rein intellektuellen oder diskursiven Prinzipien zugänglich sind, sondern stets vermittelt durch das Körperschema und Körpergefühl des Menschen. Während Kant die Idee einer intelligiblen Welt im theoretischen Bereich also erfolgreich überwindet, kehrt sie vor allem in seiner praktischen Philosophie zurück: als intellektuelle und übersinnliche Natur des Menschen als Vernunftwesen. Dies ist der Ansatzpunkt von Hegels Kritik an Kants Metaphysik der Subjektivität, an deren Stelle er die Wirklichkeit, Sozialität und Historizität menschlicher Lebensformen einklagt. Als Medium oder Schema dieser Beziehungen kann eine Theorie der Expressivität oder Performativität des menschlichen Leibes identifiziert werden, die Hegel in seiner Anthropologie, vor allem aber auch in der Ästhetik entwickelt. Letztere kann daher nicht nur als Kunsttheorie 330 Vgl. etwa Sartre zu diesem Unterschied und dazu, dass sich diese zwei Modi des Visuellen gegenseitig ausschließen: »[W]ir können nicht die Welt wahrnehmen und gleichzeitig einen auf uns fixierten Blick erfassen; es muß entweder das eine oder das andere sein. Wahrnehmen ist nämlich anblicken, und einen Blick zu erfassen ist nicht ein Blick-Objekt in der Welt erfassen (außer, wenn dieser Blick nicht auf uns gerichtet ist), sondern Bewußtsein davon erlangen, angeblickt zu werden.« Sartre 1994, 457. »Nie können wir Augen, während sie uns ansehen, schön oder häßlich finden, ihre Farbe feststellen. Der Blick des Andern verbirgt seine Augen, scheint vor sie zu treten.« Sartre 1994, 466.



Lebensform und Anschauungsform

in Nachfolge der KU, sondern auch als eine Theorie verkörperter praktischer Vernunft gelesen werden. In der Reflexion einer verkörperten Subjekt-Subjekt-Beziehung findet sich so ein hegelsches Analogon zur kantischen Theorie der Anschauungsform. Zusammengefasst besagt eine solche Theorie: In der menschlichen Leiblichkeit realisiert sich ein anderes Verhältnis von Anschauung und Begriff, das auf der Untrennbarkeit von Wesen und Erscheinung, Signifikat und Signifikant, Ursache und Phänomen beruht. Intellektuelles und Intentionales ist darin in einer Weise verkörpert, die ohne die explizite (d. h. sprachlich-logische) Form des Begriffs auskommt. Dieses Konzept konnte in zwei Schritten gefüllt werden. In der Anthropologie beschreibt Hegel, wie der menschliche Empfindungsleib durch Gewohnheiten in eine zweite Natur transformiert wird, die als menschlicher Habitus einen intelligiblen Charakter für andere Menschen hat. In der Ästhetik beschreibt er als Basis der Expressivität menschlicher Leiblichkeit zum einen die menschliche Haut als Medium von Einfühlung, zum anderen das menschliche Auge – spezifischer: die Blickbeziehung – als ursprüngliches Medium von Sozialität. Bindet man dies an Hegels Überlegungen zur Lebensform zurück, dann erweisen sich solche Beziehungen als unhintergehbar für eine Theorie der praktischen Vernunft: Diese ist eben auf jene Dimension einer leiblichen Intersubjektivität angewiesen, die nicht auf sprachliche und begriffliche Verhältnisse reduziert werden kann. Von dieser Logik menschlicher Leiblichkeit gibt es für Hegel nun einen unmittelbaren Übergang zur Kunst. Dies zeigt die Rede vom Leib als ›Kunstwerk der Seele‹ in der Anthropologie sowie ihr Gegenstück in der Ästhetik, wonach das Kunstwerk wie ein menschlicher Leib zu sein hat, der überall Augen hat.331 Die Kernthese einer verkörperungstheoretischen Lesart von Hegels Ästhetik ist es, dass diese Passagen nicht im Sinne einer bloßen Analogie oder Metapher, sondern vielmehr wörtlich zu lesen sind332: Kunstwerke 331 »Fragen wir aber nach einem Organ, in welchem die Seele als solche erscheint, so wird uns sogleich das Auge einfallen, in dem der Geist als sichtbarer konzentriert ist. Wir sagten schon früher, daß an dem menschlichen Körper im Gegensatz des tierischen überall das pulsierende Herz sich zeige. Auf dieselbe Weise kann von der Kunst gesagt werden, daß sie das Erscheinende an allen Punkten der Oberfläche zum Auge zu erheben habe, welches der Sitz der Seele ist, den Geist erscheinen läßt.« VÄ Hotho 1823, 79, MS 70. 332 So schon Bungay: Die Verbindung sei »not simply a metaphor […] but constitutes a claim about how meaning is conveyed in art.« Zitiert aus Peters 2015, 49; Hilmer spricht vom Ideal als »Körperlichkeit in einem anderen als nur metaphorischen Sinne«. Hilmer 2005, 63 sowie »daß die Rede von der ›Verkörperung‹ von Bedeutung in der Kunst ziemlich geradezu wörtlich zu nehmen ist.« Ebd. 62. Pippin davon, »dass Hegel von einer tiefen Verbindung (einer Beziehung, die enger als eine Analogie ist) ausgeht«. Pippin 2012,

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Teil III · Hegel: Entäußerung

sind in der Lage, wie menschliche Körper aufzutreten und somit nichtdiskursive Sinnschichten des menschlichen Ausdrucks in materiellen Artefakten zu wiederholen, zu simulieren und sogar zu steigern.333 Es gibt somit eine grundlegende Kontinuität zwischen den Ausdrucksformen menschlicher Leiblichkeit und den Ausdrucksformen der Kunst. Hegels Rede, »die Kunst gebe dem Gegenstand tausend Augen, um überall gesehen zu werden«334, zieht hierbei die These (etwa von Derrida) in Zweifel, dass seine Ästhetik von einem sprachlichen Modell dominiert wird.335 Von besonderem Interesse ist hierbei für die bildphilosophische Hegellektüre, dass es Spezifika der Malerei sind, die Hegel dazu dienen, die Logik des menschlichen Leibes sowie damit auch des Kunstwerks generell zu erläutern. Mit der Idee einer solchen Kontinuität zwischen Leib und Kunstwerk nimmt Hegel den bildtheoretischen Topos von der Analogie- oder Austauschbeziehung von menschlichen Körpern und Bildern vorweg, wie er sich 37. Peters geht davon aus, dass dies mehr als bloß »analogy or metaphor« ist, sondern in einem »more literal sense« aufgefasst werden müsste. Peters 2015, 17. Vgl. zur Verkörperung auch Pinkard: »it strives for a kind of embodied norm, a kind of singular sensuous presentation in the form of beauty of what it means to be a ›minded,‹ geistig, spiritual agent in its most exemplary form.« Pinkard 2007, 11. 333 Pippin spricht insofern davon, dass eine »tiefe Verbindung zwischen dem Verstehen sinnvollen Verhaltens und Handelns sowie sinnvoller Äußerungen von Personen und dem Verstehen einer in Kunstwerken ausgedrückten Bedeutung besteht.« Pippin 2012, 81. Und »daß wir Hegel ernst nehmen sollten, wenn er die Intelligibilität menschlicher Handlungen und die Zuschreibung von Intentionen und Handlungsbeschreibungen durch andere mit der Frage nach einer bildlichen Intelligibilität der Staffeleimalerei (und anderer Künste) verbindet, und daß wir uns immer das Bild des tausendäugigen Argus in Erinnerung rufen sollten.« Ebd. 126. Pippin betont den phänomenologischen Unterschied »zwischen dem Sehen einer Person als eines Objekts oder des Gesichts einer Person als Gesicht«, nach dessen Muster wir ebenfalls »den Unterschied zwischen dem Sehen einer gemalten Oberfläche in einem Kunstwerk und dem Sehen des Objekts selbst« behandeln würden. Pippin 2005, 81. Während etwa Julia Peters diese Fähigkeit an der Darstellung von Personen festmacht, betont Brigitte Hilmer in diesem Kontext das Hineinversetzen, spricht von einer »bedeutungsgenerierende[n] imaginäre[n] Leiblichkeit« der Kunstwerke, die mit dem »ichbezogene[n] Körperbild […] einer inkarnierten Person« zusammenhängt. Hilmer 2005, 63. 334 VÄ Hotho 1823, 79, MS 70. 335 So ist Derrida der Auffassung, es sei Hegels (wie auch Heideggers) Fehler, »alle Künste der Rede zu unterwerfen und, wenn nicht der Poesie, so doch wenigstens dem Gedichteten, dem Gesagten, der Sprache, der Rede, der Benennung (Sage*, Dichtung*, Spra­ che*, Nennen*)«. Derrida 1992, 40. Dagegen spricht die Aussage der Ästhetik, dass die Kunst »nicht nur die leibliche Gestalt, die Miene des Gesichts, die Gebärde und Stellung, sondern ebenso auch die Handlungen und Begebnisse, Reden und Töne und die Reihe ihres Verlaufs durch [/] alle Bedingungen des Erscheinens hindurch […] allenthalben zum Auge werden zu lassen« habe. VÄ I 203 f.



Lebensform und Anschauungsform

exemplarisch bei Belting, Bredekamp und Krois findet.336 Insbesondere die Theorie von Krois erweist sich dabei als interessantes Pendant zu Hegels Überlegungen. Als zentrale Instanz seiner verkörperungstheoretischen Bildtheorie betrachtet Krois das menschliche Körperschema oder auch die Propriozeption. Er versteht darunter ein integrierendes Körpergefühl, das unsere Empfindungen und motorischen Fähigkeiten koordiniert und dabei unterhalb eines intellektualistisch gedachten ›Cogito‹ oder ›Ich denke‹ oder einer trans­zendentalen Apperzeption angesiedelt ist.337 Neben den mit der Bewegung im Raum verbundenen Fähigkeiten nennt Krois hier auch die Dimension einer »gefühlte[n] Gestik des eigenen Leibes«. Dies begründet ein Vermögen »sich in andere hineinzuversetzen«, das zugleich den Effekt mit sich bringt, dass habituell »auch in unbelebten Objekten dynamische Verhältnisse als lebendige Kräfte wahrgenommen werden.«338 Bilder können daher nicht allein als bloße Artefakte, sondern auch als verkörperte Gegenüber erscheinen.339 Hegel entwickelt in seiner Anthropologie – wie gezeigt wurde – eine ebensolche Theorie des leiblichen Selbstgefühls, die wiederum die Basis einer Ausdrucksbeziehung, eines ›Sich-zu-Fühlen-Gebens‹ ist. Diese Expressivität wird als ›Kunstwerk der Seele‹ unmittelbar mit der Weise analogisiert, wie Bilder Sinn erzeugen. Auch wenn das Argument gewissermaßen von umgekehrten Seiten herkommt: Diese Positionen vereint die Idee, dass leibliches Selbstgefühl und Habitus die Basis dafür bilden, wie wir uns selbst, andere Individuen und auch Bilder verstehen. Im Übergang von der Frage der verkörperten Intersubjektivität zur Theorie der Kunst (und dann spezifischer der Malerei) als Wissensform sind zwei Momente zu beachten. Erstens: So wie die Erkenntnis von Raumrelationen (der Anschauungsform) selbst ein räumlich-relationales Medium (des Dia336 Für Belting ist es der Schatten, der am Ursprung der »Erfahrung« stehe, »dass der eigene Körper medial und bildhaft agiert.« Belting 2007, 55. Bredekamp zeigt in seiner Theorie des schematischen Bildaktes, wie diese Bildhaftigkeit des Körpers in einer Austausch- und Wechselbeziehung zu Körperhaftigkeit und Lebendigkeit des Bildes stehen kann. Gemeint ist wohlgemerkt nicht der kantische, sondern der platonische Schemabegriff, der auf eine Art soziale Bedeutungstheorie der Körperbewegungen zielt. Der sche­ matische Bildakt umfasst für Bredekamp (mit Blick auf den platonischen Schemabegriff und dessen somaästhetische Aktualisierung) Bilder, »die darin musterhafte Wirkungen erzielen, daß sie auf unmittelbare Weise lebendig werden oder Lebendigkeit simulieren« (Bredekamp 2010, 104), etwa im Falle von tableaux vivants oder Automaten. 337 Das »kontinuierliche Erfassen des Körpers als ambulanten Standpunkt im Raum« liegt vor der »Bewusstseinseinheit des ›Ich denke‹«. Krois 2012, 96. 338 Ebd. 103. 339 Der Bildsinn speist sich demnach aus einem »Reservoir möglicher Bewegungsformen«, die Künstler und Betrachter, »vermittelt durch ihren eigenen Leib, kennen.« Krois 2012, 101. Vgl. auch Krois 2011b, 145.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

gramms) voraussetzte, lässt sich auch bei Hegel ein solcher Zusammenhang – zumindest als eine mögliche Interpretation – herstellen. Die Kunst ist für Hegel nicht nur eine Art Vorstufe praktischer Vernunft (bzw. des ›absoluten Geistes‹), die letztlich vollständig im philosophischen Wissen aufgeht. Weil die Kunst und insbesondere die Malerei selbst eine Form des verkörperten Wissens ist, eignet sie sich in besonderer Weise dazu, ein Wissen über die Verkörperungsdimension des Geistes herzustellen. Dies soll im Gedanken der Malerei als verkörperte Reflexion von Verkörperung erörtert werden (vgl. Kapitel III.3.5.1). Zweitens: Bei Kant wurde zwischen den Raumrelationen als Anschauungsform und ihrer expliziten Thematisierung im Diagramm einerseits eine Kontinuität festgestellt, andererseits ein Hiatus. Eben diese doppelte Beziehung gilt es auch bei Hegel zu verfolgen. Die Logik körperlicher Präsenz und Lebendigkeit, die die Basis des Ausdruckspotenzials der Malerei bildet, wird in einen artifiziellen Bildraum versetzt, der eigenen medialen Bedingungen gehorcht. Kunstwerke fungieren so als Substitute und Extensionen menschlicher Leiblichkeit, in denen ein geistig-leibliches Selbstverständnis auf nichtdiskursive Weise artikuliert werden kann. Wie dies genauer zu verstehen ist, wird Inhalt der folgenden Kapitel zur Kunst als anschaulicher Denkform und zur Medialität der Malerei sein.

4. Anschauliches Denken: Entäußerung

In diesem Kapitel sollen nun die allgemeinen Parameter betrachtet werden, mittels derer die Kunst bei Hegel als eine Form anschaulichen Denkens bestimmt wird. Damit rückt das Thema der Leiblichkeit zunächst etwas in den Hintergrund, um dann im darauffolgenden Kapitel spezifisch mit der Malereitheorie wieder auf der Bühne zu erscheinen. In einem ersten Schritt wird gezeigt, dass auch Hegels Konzeption eines anschaulichen Denkens mit der Kritik an den metaphysischen und intellektualistischen Elementen der kantischen Philosophie einhergeht. Ist das Wissen des kantischen Subjekts von sich selbst in einem übersinnlichen, intellektuellen Selbstbezug gegründet, so entdeckt Hegel die Kunst als Organ einer kollektiven Selbsterkenntnis im Modus von Anschauung und Empfindung. Hegel knüpft damit an zwei Projekte an: das bereits von Kant in der Kritik der Urteilskraft begonnene Projekt einer Versöhnung von Natur und Geist und die zeitgenössische Aufwertung der Kunst gegenüber ihrer rationalistischen Abwertung. Spezifisch für Hegel ist in beiden Hinsichten die Zuspitzung auf ein Wissen der Kunst. Mit Blick darauf kann auch Hegels Engführung von Kunst und Philosophie gegen den Logozentrismusvorwurf verteidigt werden: Für Hegel ist die Kunst nicht Medium einer Alterität der Natur, sondern einer ästhetischen Selbsterkenntnis des Menschen (III.4.1). In einem zweiten Schritt wird das spezifische Verfahren eines anschaulichen Denkens, das Hegel entwirft, genauer in den Blick genommen. Im Gegensatz zum operativen Verfahren der Konstruktion, handelt es sich um ein performatives oder poetisches Verfahren (III.4.2). Dieses wird, wie schon Kants Konstruktionsbegriff, hinsichtlich vier Parametern dargestellt: Grundbedingung von Denkprozessen ist für Hegel generell eine Externalisierung, in der Kunst spezifisch verbunden mit einer individuell-figürlichen Konkretisierung (III.4.2.1). Im poetischen Verfahren gibt es kein explizites Regelwissen. An dessen Stelle tritt die individuelle geistige Tätigkeit eines Künstlergenies, die in Begeisterung, Phantasie und Materialbeherrschung besteht (III.4.2.2). Inhalt des Wissens sind Lebensformen und Handlungsorientierungen. Dies nennt Hegel auch den ›Begriff‹, meint damit aber nicht Allgemeinbegriffe und Propositionen, sondern einen umfassenden Lebens- und Vernunft­zusammenhang (III.4.2.3). Ziel ist ein Explizitmachen des in diesen Lebensformen Impliziten. Dies geschieht nicht in begrifflich-propositionaler, sondern individuell-exemplarischer Form, deren Grundlage eine Logik der Steigerung von Expressivität ist (III.4.2.4). In einem dritten Schritt wird der



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Teil III · Hegel: Entäußerung

geistes- und begriffsgeschichtliche Kontext von Hegels Konzept der Entäußerung betrachtet. ›Entäußerung‹ ist zum einen Übersetzung des christlichtheologischen Konzepts der kenosis, zum anderen eng mit Hegels Begriff der poeisis verbunden. Dies lässt sich auf die Formel bringen: ›durch Externalisierung zu sich selbst kommen‹, was für Hegel eine Bestimmung des Geistes im Ganzen ist. Die spezifische Ausprägung dieses Prinzips im Rahmen einer Theorie von Kunst und Bild wird hier erneut mit Blick auf den Unterschied zu Konzepten einer Spontaneität der Natur diskutiert. Insbesondere mit Blick auf die folgende Auseinandersetzung mit der Malereitheorie ist aber auch im Kontext anschaulichen Denkens auf die leibliche und relationale Eingebundenheit dieser Spontaneität hinzuweisen (III.4.3).

4.1 Hegels Kunsttheorie als Kritik des intellektualistischen ­Selbstbewusstseins

Hegels Konzeption der Kunst als ästhetische Denkform kann erneut als Resultat seiner Kritik an einer defizitären und intellektualistischen Position Kants verstanden werden. Zentraler Gedanke von Kants Metaphysik der Subjektivität war die Idee, dass das menschliche Selbstbewusstsein in letzter Konsequenz ein intellektueller, übersinnlicher Selbstbezug ist: Das Subjekt der kritischen Philosophie kann sich als freies und praktisches Wesen zwar intellektuell denken, nicht aber anschauen oder empfinden.340 Ganz knapp gesagt ist es die Pointe von Hegels Ästhetik, gegen Kant zu behaupten, dass es ein derartiges Selbstbewusstsein auch im Modus der »Anschauung und Empfindung« gibt.341 Dies ist das Wissen der Kunst. Dieser Gedanke lässt sich aber auch etwas detaillierter rekonstruieren. Kants philosophische Position impliziert für Hegel einen Verzicht auf Wahrheit, weil die zwei Hauptformen der kantischen Erkenntniskonzeption defizitär bleiben: Der kantische Verstand bleibt in seiner epistemischen Reichweite endlich (beschränkt auf empirisches Faktenwissen und dessen transzendentale Grundlagen), die kantische Vernunft bleibt hinsichtlich ihrer Gegenstände leer (ohne korrespondierende Anschauung).342 Zusammengenommen erzeugen diese beiden Vermögen eine radikale Spaltung im Welt- und Selbstverhältnis des Subjekts – den Dualis340 »Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen, hinein­ empfinden wollte.« GMS B 118. 341 VÄ I 139. Die terminologische Nähe suggeriert an dieser und anderen Stellen einen direkten Bezug. 342 Die Insuffizienz des endlichen, diskursiven Verstandes besteht zudem im bloß



Anschauliches Denken: Entäußerung

mus von mechanistischer Naturauffassung und übersinnlicher Freiheitskonzeption. Kant versucht diesen Dualismus nun selbst zu überwinden, und zwar indem er in der dritten Kritik ein weiteres Vermögen einführt – die reflektierende Urteilskraft, deren Inhalt ein nichthierarchisches Passungsverhältnis von Begriff und Anschauung sein soll.343 Auch diese dritte Konzeption bleibt in Hegels Augen defizitär: Das ›andere Verhältnis‹ von Anschauung und Begriff, das die ästhetische Erfahrung realisieren soll, bleibt subjektiv und deutet sich lediglich durch Wohlgefallen an.344 Hegels Forderung ist dagegen, aufzuzeigen, dass der Mensch eine solche Versöhnung dualistischer Trennungen (das ›Absolute‹) im Modus eines Wissens erreichen kann.345 Für den frühen Hegel, wie auch für Schelling, ist der potenzielle Ort einer solchen absoluten Erkenntnis zunächst allein die Kunst. Wie auch in der Romantik werden Kunst, Phantasie und Genie damit »in eine Schlüsselposition im Hinblick auf Welt- und Lebensverständnis gebracht«346. Hingegen vertritt der spätere Hegel ein ausdifferenziertes Modell von drei Formen des absoluten Geistes: Kunst ist nur die erste Gestalt eines »Wissen der absoluten Idee«.347 funktionalen und hierarchischen Verhältnis von Anschauung und Begriff, das die ›bestimmende Urteilskraft‹ kennzeichnet. 343 Als Folgeproblem der ersten zwei Kritiken ergab sich eine »große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt« (KU B LIII), nämlich zwischen dem intellektuellen Selbstbewusstsein des Menschen von seiner übersinnlichen Freiheit und der sinnlichen Welt als Reich mechanistischer Verstandeserkenntnis. Kant selbst sucht in der KU mittels der Urteilskraft nach einem »vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe« bzw. dem »Übergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen« Gesetzmäßigkeit. KU B LV. 344 Urteilskraft ist ein Vermögen, das »für sich gar kein[e] Erkenntnis (weder theoretisches noch praktisches) hervorbringt und, unerachtet ihres Prinzips a priori dennoch keinen Teil zur Transzendentalphilosophie, als objektiver Lehre, liefert« (EEKU 57). Naturschönes, Kunstschönes und organisches Leben bilden hier nur den äußeren Anlass für eine reflexive Selbsterfahrung des Subjekts bzw. für eine Theorie des Geschmacksurteils. Im Gegensatz zu Hegel kennt Kant keine konstitutive Theorie ästhetischer Objekte oder eines ästhetischen Denkens der Kunst. Vgl. hierzu Pippin: »Für ihn [Kant] war ästhetische Erfahrung wesentlich lustbetont; seine Kriterien für empirisches oder apriorisches Wissen vorausgesetzt, bestand diese in Wohlgefallen und nicht in Wissen.« Pippin 2012, 18 f. Vgl. ebenfalls Surber, Jere (2000): »Art as A Mode of Thought. Hegel’s Aesthetics and the Origins of Modernism«, in: William Maker (Hg.): Hegel and Aesthetics, Albany: State University of New York Press, 45–59, 48. 345 Die hierbei zu wissende ›Wahrheit‹ des Geistes soll darin bestehen, dass der Geist »kein der Gegenständlichkeit abstrakt-jenseitiges Wesen« ist, »sondern innerhalb derselben im endlichen Geiste die Erinnerung des Wesens aller Dinge.« VÄ I 139. 346 Kamper, Dietmar (1981): Zur Geschichte der Einbildungskraft, München, Wien: Hanser, 215. Vgl. auch das erste Systemprogramm, für das der höchste Akt der Vernunft ein ästhetischer Akt ist. 347 EpW III, § 553, 366.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Sie hat dies im Modus der »Anschauung«, ist »das unmittelbare, an Sinnlichkeit gebundene Wissen«.348 Es folgt das repräsentativ-vorstellende Wissen der Religion, und das begrifflich-gedankenförmige Wissen der Philosophie.349 Eine zweite Motivation von Hegels Ästhetik ist die Aufwertung der Kunst gegenüber ihrer rationalistischen Abwertung. Musste Kant zwar für den Anschauungsbezug der Geometrie argumentieren, nicht aber für ihre epistemische Bedeutung, so ist die Idee der Kunst als »Form des Wissens«350 keinesfalls unumstritten. Mit seiner epistemischen Aufwertung der Kunst kann Hegel in gewisser Hinsicht als Vorläufer von Positionen und Debatten betrachtet werden, die heute unter Stichworten wie ›Wissen der Künste‹ oder ›ästhetisches Denken‹ verhandelt werden.351 Hegel selbst wendet sich mit dieser Aufwertung gegen jene Formen der Künstler- und Dichterkritik, die die Kunst als Frivolität oder Täuschung aus der Ratio ausgegrenzt hatten. Gegen diese verteidigt er die »Würdigkeit« der Kunst.352 Zugleich grenzt sich Hegel mit dem Begriff des ›Wissens‹ von jenen Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts ab, die die Kunst bzw. das Ästhetische unter Stichworten wie ›Vollkommenheit‹ (Rationalismus), ›Gefühl‹ (Sensualismus) oder ›Spiel‹ (Kant und Schiller) konzipiert hatten. Zentral neben dem Gedanken von Kunst als Wissensform ist dabei für Hegel ihre Bestimmung als soziale Praxis und Handlungsform.353 Was bedeutet es aber, dass der spätere Hegel in den VÄ nun die Kunst vom alleinigen Ort ›absoluten Wissens‹ zur bloß ersten Form neben Reli348

EpW III, § 563, 372. Hegel unterscheidet nun bekanntermaßen »drei Reiche des absoluten Geistes«, die bei »Gleichheit des Inhalts … nur durch die Formen unterschieden« sind »in welchen sie ihr Objekt, das Absolute, zum Bewußtsein bringen«. Den drei Stufen des theoretischen Geistes (Anschauen, Vorstellen, Denken) sind dann die drei Formen Kunst, Religion, Philosophie zugeordnet. Kunst ist die »erste Form … dieses Erfassens«: »ein unmittelbares und eben darum sinnliches Wissen, ein Wissen in Form und Gestalt des Sinnlichen und Objektiven selber, in welchem das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt.« VÄ I 139. Dieses Medium wird in der Religion abgelöst durch die Vorstellung, was den Wechsel von der »Gegenständlichkeit der Kunst in die Innerlichkeit des Subjekts« impliziert. VÄ I 142. Diese wiederum wird abgelöst durch das »freie Denken« der Philosophie, die »durch systematisches Denken dasjenige aneignet und das begreift, was sonst nur Inhalt subjektiver Empfindung und Vorstellung ist.« VÄ I 143. 350 VÄ I 365. 351 Vgl. hierzu die zahlreichen Publikationen zu künstlerischer Forschung; exemplarisch Dombois/Fliescher/Mersch 2014; Busch, Kathrin (Hg.) (2015): Anderes Wissen. Kunst­ formen der Theorie, Paderborn: Fink. 352 Wobei »den Erscheinungen der Kunst der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein zuzuschreiben« sei. VÄ I 22. 353 Typischerweise wird das auf die Formel gebracht, dass Hegel gegenüber der ›subjektiven‹ Erfahrungsästhetik Kants und Schillers eine ›objektive‹ Werkästhetik vertritt. 349



Anschauliches Denken: Entäußerung

gion und Philosophie zurückstuft ? Wird damit nicht seine Investition in das Ästhetische wieder aus intellektualistischer und logozentrischer Perspektive relativiert ? Dies ist die Auffassung Derridas, dem zufolge bei Hegel »das Philosophische … die Kunst in seinen Kreis ein[schließt]«.354 Die Kunst kann schließlich zum einen im Sinne eines Endes der Kunst von der Philosophie ersetzt werden, zum anderen sollen alle Inhalte der Kunst einer nachträglichen Philosophie der Kunst interpretativ zugänglich sein. Die Andersheit und Alterität der Kunst scheint durch diesen systematischen Übergriff vollständig nivelliert zu werden. Aber dieser Schritt kann auch positiv gedeutet werden; nicht die Erhebung der Kunst zu einem philosophisch unerreichbaren Ort absoluter Identität (wie bei Schelling), sondern erst die Parallelisierung mit der Philosophie macht die Kunst als Wissensform relevant. Erst so gerät eine Sphäre gemeinsamer Inhalte in den Blick.355 Die Idee eines Wissens der Kunst lässt sich mit Hegel also auf die Formel bringen: ›Kunst als Philosophie mit anderen Mitteln‹.356 Das sinnliche Wissen der Kunst steht in Kontinuität mit der Philosophie, sie kann das, wonach die Philosophie fragt, auf eigentümliche Art und Weise beantworten.357 Diese Idee vom »Kunstwerk, in welchem der Gedanke sich selbst entäußert«358, ist dabei stets in ihrer 354

Derrida 1992, 39. »Rather than appearing as the philosophically inaccessible locus of an absolute identity, Hegel came to view art as sharing with philosophy and religion an identical absolute content. It was the forms in which this content was expressed that constituted the differentiae of these three realms.« Surber 2000, 50. 356 Ästhetische Errungenschaften der Malerei sind für Hegel, wie Pippin feststellt, also »philosophische Errungenschaften eigener Art … auch wenn Bildwerke selbst weder diskursive Behauptungen sind noch philosophisch deshalb relevant wären, weil sie philosophische Behauptungen ›enthalten‹ oder ›implizieren‹ würden.« Pippin 2012, 9. »The most important historical result of Hegel’s own treatment of art was to open the way for art to become regarded as a vehicle for raising what were previously treated as distinctly ›philosophical‹ issues and as providing an important means for expressing specifically ›philo­ sophical‹ viewpoints.« Surber 2000, 46. Zur Eigenständigkeit dieser Auffassung Hegels – auch gegen Kant und Schelling vgl. Ebd. 48 ff. Insofern gilt aber auch die prinzipielle Zugänglichkeit der Kunst durch philosophische Reflexion: »Art, viewed as necessary systematic presupposition of philosophy, could and, in principle, must have immediate significance for philosophy, not just ideally and formally but historically and materially. Second, however, there could be nothing essential in art which, in principle, defied philosophical, that is, discursive articulation (this, of course, contra the romantics).« Surber 2000, 49 f. 357 Damit tritt auch hier an die Stelle von Kants strikter dualistischer Autonomisierung der mathematischen gegenüber der philosophischen Erkenntnis, die vor allem auf ihren verschiedenartigen Inhalten beruht, eine dialektische Relation: Kunst als Philosophie mit anderen Mitteln. 358 VÄ I 28. 355

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Ambivalenz zu begreifen. Zum einen erschließt sie der Kunst eine Dimension philosophisch relevanter Wissensbestände, zum anderen impliziert sie eine Nichtbeachtung, vielleicht auch Stillstellung derjenigen Potentiale der Kunst, die die Moderne als ihre anti-rationale und anti-hierarchische Kraft in den Vordergrund gestellt hat. Wie bereits in Kapitel III.1 beschrieben, verfehlt in Adornos Augen letztlich auch Hegel sein Ziel, das Versöhnungsprojekt der KU zu vollenden. Das Versprechen eines nichthierarchischen Verhältnisses von Geist und Natur löse sich nicht ein, weil Hegel die Nichtidentität von Natur (und das Naturhafte der Kunst) übersehe. Adornos Rede von der »krassen, nahezu unreflektierten Parteinahme für subjektiven Geist«359 kann aber auch als Ausdruck einer Paradigmendifferenz gelesen werden: Hegel geht es nicht um eine Naturästhetik, sondern um eine ästhetische Form menschlicher Selbsterkenntnis, die insbesondere die Dimension menschlicher Leiblichkeit betrifft. Spezifisch die Malerei ist für Hegel eine Weise, die leibliche Dimension menschlicher Intersubjektivität zum Thema zu machen, und dies selbst mittels expressiver und relationaler Logiken von Leiblichkeit zu tun (vgl. Kap. III.5). Die Motivation von Hegels Ästhetik ist nicht die Rettung einer verdrängten Alterität, sondern die Kritik der medialen Beschränktheit kantischer Vernunft, d. h. deren intellektualistischer Fassung als leerer und damit auch körperloser Begrifflichkeit. Die systematische Bedeutung des anschaulichen Denkens bei Hegel liegt nicht in einer Kritik der Ratio als solcher, sondern im Herausarbeiten ihrer verkörperten Grundlagen in der Modalität eines ästhetischen Selbstbewusstseins.

4.2 Entäußerung: vier Eckpunkte

Es ist schwer, eine einzelne Textstelle zu finden, die Hegels Position ebenso anschaulich und pointiert an einem Beispiel zusammenfasst, wie Kants Diskussion von Euklids Beweis 1.32. Zumindest kann die für Hegel kontinuierliche Funktion der Kunst an zwei historischen Extremen seiner Betrachtung markiert werden – der Poesie des Hesiod und der holländischen Genre­malerei: »[D]er Mensch aber existiert erst dem Gesetze seines Daseins gemäß, wenn er weiß, was er selbst und was um ihn her ist; er muß die Mächte kennen, die ihn treiben und lenken, und solch ein Wissen ist es, welches die Poesie in ihrer ersten substantiellen Form gibt.«360 359

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Adorno 1970, 116 f. VÄ III 240.



Anschauliches Denken: Entäußerung

»Das, was zu jedem Kunstwerk gehört, gehört auch zur Malerei: die Anschauung, was überhaupt am Menschen, am menschlichen Geist und Charakter, was der Mensch und was dieser Mensch ist. Diese Auffassung der inneren menschlichen Natur und ihrer äußeren lebendigen Formen und Erscheinungsweisen, diese unbefangene Lust und künstlerische Freiheit, diese Frische und Heiterkeit der Phantasie und sichere Keckheit der Ausführung macht hier den poetischen Grundzug aus, der durch die meisten holländischen Meister dieses Kreises geht. In ihren Kunstwerken kann man menschliche Natur und Menschen studieren und kennenlernen.«361

Der Kunst geht es für Hegel also um eine Selbsterkenntnis des Menschen im Rahmen seines umfassenden Lebenszusammenhangs. Soll praktische Vernunft für Hegel nicht »formale Methode« im kantischen Sinne, sondern als »historische soziale Praxis« verstanden werden,362 so ist die Aufgabe der Kunst das Herausarbeiten eines derartigen Wissens in anschaulich-ästhetischer Form.363 Als die Form dieses Wissens wurde qua Analogiebeziehung zum Leib im vorangegangenen Kapitel eine Logik der Intelligibilität menschlicher Leiblichkeit identifiziert. Nimmt man diesen Zusammenhang ernst, so liegt der spezifische Modus der Intelligibilität der Kunstwerke darin, dass sie als Extensionen menschlicher Leiblichkeit und deren performativer Potenziale fungieren. Dies wird aber erst in der Auseinandersetzung mit der Malereitheorie wieder genauer betrachtet. An dieser Stelle folgt eine Betrachtung allgemeiner Parameter der Verfahrensweise der Kunst, die Hegel auch mit dem Begriff des Poetischen oder der poiesis bezeichnet. Dabei werden insbesondere auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Kants Konstruktionsparadigma betrachtet. Wie schon bei Kant sollen vier wesentliche Parameter dieser Erkenntnisform betrachtet werden: Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit (4.2.1); das Verfahren: expressive Ganzheiten (4.2.2); der Inhalt: Lebensformen (4.2.3); das Ziel: Explizitmachen des Impliziten (4.2.4).

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VÄ III 130 f. Pippin 2012, 45. 363 Zu Hegels Bestimmung als sozialer Praxis vgl. die partiell kritische Auffassung Menkes; vgl. aber auch die positive Auffassung Gaigers, der Hegel gegen den Vorwurf (von Wyss) verteidigt, Hegel vertrete einen musealisierten Kunstbegriff: »Far from confining art within the walls of the museum, the lectures on aesthetics require that art be understood as a social practice – a practice that stands in an inherently dynamic and unstable relation to other practices and institutions.« Gaiger 2011, 189. 362

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Teil III · Hegel: Entäußerung

4.2.1 Anschaulichkeit: Externalisierung und Figürlichkeit

So wie in der kantischen Konstruktionstheorie die Idee eines Hinausgehens aus dem Begriff entscheidend war, so ist auch in Hegels Theorie der Kunst als Entäußerung der Gedanke einer Exteriorisierung zentral. Dies hängt zunächst mit dem allgemeinen Akzent zusammen, den Hegels Geistphilosophie auf das Moment von Verwirklichung oder Realisierung legt. Die menschliche Praxis der Herstellung von Kunstwerken beruht für Hegel auf dem »allgemeine[n] Bedürfnis« des Menschen, sich selbst zu verdoppeln, d. h. seine »innere und äußere Welt … als einen Gegenstand zu erheben …, in welchem er sein eigenes Selbst wiedererkennt.«364 Dies entspricht Hegels Verständnis von Denken überhaupt, insofern es genau dieses Bedürfnis ist, das den Menschen als »den­ kendes Bewusstsein« gegenüber den »Naturdinge[n]« auszeichnet.365 Wie in Kapitel III.3.1.2 gezeigt, artikuliert Hegel dies spezifischer in seiner Theorie des Werks, die die Selbstverwirklichung in Werken zur Grundbedingung für ein Wissen eines Individuums von sich selbst macht.366 Hiermit verbindet Hegel auch einen spezifischen, für ihn eigentümlichen Begriff der Wahrheit: Der – etwa für Kant selbstverständliche – korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff ist für Hegel lediglich Wahrheit im »subjektiven Sinne«367, d. h. im Sinne einer Übereinstimmung von Vorstellung und Welt. Dem stellt Hegel eine 364 VÄ I 52. »Die Naturdinge sind nur unmittelbar und einmal, doch der Mensch als Geist verdoppelt sich, indem er zunächst wie die Naturdinge ist, sodann aber ebensosehr für sich ist, sich anschaut, sich vorstellt, denkt und nur durch dies tätige Fürsichsein Geist ist.« VÄ I 50 f. 365 Das eingängige Bild, das Hegel für das Bedürfnis des Menschen als Geistwesen findet, ist dasjenige eines steinewerfenden Kindes: »der Knabe wirft Steine in den Strom und bewundert nun die Kreise, die im Wasser sich ziehen, als ein Werk, worin er die Anschauung des Seinigen gewinnt.« VÄ I 51. 366 »Das Individuum kann daher nicht wissen, was es ist, ehe es sich durch sein Tun zur Wirklichkeit gebracht hat.« PhG 297. Der Aussage Hegels, Kunst sei eine »Form des Wissens« (VÄ I 365), unterstellt selbstverständlich einen anderen Wissensbegriff, als ihn etwa die platonische Wissensdefinition als ›wahre, gerechtfertigte Meinung‹ voraussetzt. Im Gegensatz zu Tätigkeiten wie Fühlen, Wahrnehmen, Anschauen, Vorstellen etc. hat das Wissen allerdings in Hegels enzyklopädischem System keinen festgelegten Ort, sondern bezeichnet im allgemeinsten Sinne eine Übereinstimmungsrelation. Die erste Tätigkeit des Geistes, die Hegel als Wissen bezeichnen möchte, ist das Wahrnehmen (d. h. der kantische Verstand), das sich durch die bestimmte Identität von Bewusstsein und Gegenstand von der bloß abstrakten, sinnlichen Gewissheit unterscheidet (EpW, § 420, 208). Absolutes Wissen ist entsprechend ein solches, wo gar keine Trennung mehr vorliegen soll, im Sinne einer »Auflösung des höchsten Gegensatzes und Widerspruchs«. VÄ I 173. 367 Für Kant ist Wahrheit »die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande« (KrV B 82). Nach Hegel ist damit lediglich gemeint »daß eine Existenz meinen Vorstellungen sich gemäß zeige«. VÄ I 151.



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»objektive[] Bedeutung« des Wahrheitsbegriffs gegenüber: »daß das Ich oder ein äußerer Gegenstand, Handlung, Begebenheit, Zustand in seiner Wirklichkeit den Begriff selber realisiere.«368 Eine solche Wahrheit als maximale Realisierung eines Potentials wird von Hegel typischerweise als Externalisierung und Objektivierung von etwas gedacht, was zunächst nur innerlich oder subjektiv ist. Sie hat zum einen eine anschauliche Dimension: In diesem Sinne begreift Hegel Kants Anschauungsformen als Formen der expressiven Objektivierung des Geistes, die er als ein ›Hinauswerfen‹ von Inhalten in die Objektivität von Raum und Zeit beschreibt.369 Dass diese Anschauungsformen für Hegel soziale Formen sind, macht nicht zuletzt die Verknüpfung dieser Objektivierung zum Werkbegriff deutlich, der für Hegel auf eine Sphäre der intersubjektiven Externalität verweist370: »Das Werk ist, d. h. es ist für andere Individualitäten, und für sie eine fremde Wirklichkeit«.371 Diese Bestimmungen sind allerdings noch nicht für die Kunst spezifisch. So bringt die Philosophie »gleichfalls Werke« zustande,372 deren anschauliche, nämlich sprachliche Seite Hegel in seiner Konzeption eines Denkens in Namen bzw. arbiträren Zeichen reflektiert. Dennoch gibt es auch bei Hegel die Unterscheidung zwischen einem philosophischen Denken in abstracto und einem ästhetischen Denken in concreto: Die Philosophie sei »ein der Kunst in betreff auf die Form des Wissens gerade entgegengesetztes Geschäft«. Bediene sich die Philosophie der »Form allgemeiner Sätze und Vorstellungen«, so bediene sich die Kunst des Mediums »konkreter Gestalt und individueller Wirklichkeit«.373 Die Kunst ist also (wie die Geometrie) ein Denken in konkreten Figurationen. Das Paradigma solcher Figürlichkeit bildet, wie oben argumentiert wurde, der menschliche Leib, in dem Geistiges in sinnlicher, verkörperter Form existiert. Wie Hegel an einigen Stellen bemerkt, liegen in dieser anschaulichen Konkretion und Figürlichkeit des Wissens auch spezifische Vorteile der Kunst vor der Philosophie. So schaffe die Philosophie »der erscheinenden Welt gegenüber ein neues Reich, das wohl die Wahrheit des 368

VÄ I 151. »Die Intelligenz bestimmt den Inhalt der Empfindung als außer sich Seiendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist.« EpW, § 448, 259. Vgl. ebenfalls VGPh 340. Zur Funktion der Theorie von Raum und Zeit als Formen der Objektivierung des Geistes am Anfang der Naturphilosophie: Wildenauer 2003. 370 Hegel nennt diese auch »das Element der Allgemeinheit« oder »den bestimmtheitslosen Raum des Seins«. PhG 300. 371 PhG 301. Zu Werkcharakter, gemeinsamer Anschauung und Normativität bei Hegel vgl. Menke 2013, 17. 372 Die Werke der Philosophie sollen auch in ihrem Charakter der Einheit und Abgeschlossenheit den Kunstwerken ähneln. Vgl. VÄ III 255. 373 VÄ I 365. 369

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Wirklichen, aber eine Wahrheit ist, die nicht wieder im Wirklichen selbst als gestaltende Macht und eigene Seele desselben offenbar wird.« Demgegenüber zeige die Kunst diese Wahrheit in der »Form realer Erscheinung selber.«374

4.2.2 Das Verfahren: expressive Ganzheiten

Die Eigenheiten des poetischen Verfahrens der Kunst bei Hegel werden besonders deutlich, wenn man sie mit dem technisch-operativen Verfahren der Geometrie bei Kant vergleicht: (i) Iterativität vs. organische Ganzheit: Kants Theorie eines Denkens in geometrischen Konstruktionen lässt sich in zwei Phasen trennen: Zunächst geschieht die Ekthesis, Konstruktion einer singulären Figur in der Anschauung. Diese reicht allerdings nicht aus, es bedarf des Einzeichnens von Hilfskonstruktionen, woraus sich erst die gesuchten epistemischen Überschüsse ergeben. Alle Operationen (Verlängern einer Linie, Teilung einer Strecke etc.) sind hierbei wesentlich iterativ, lassen sich prinzipiell endlos wiederholen. Demgegenüber ist das Kunstwerk für Hegel ein in sich geschlossenes, quasi-organisches Ganzes, dessen Eigenschaften er explizit von denen geometrischer Diagramme abgrenzt. Konstruktionen haben Teile, Kunstwerke haben Glieder375, im mathematischen Beweis gibt es nur einen ›äußerlichen‹ Zusammenhang von Inhalt und Form, im Kunstwerk einen ›innerlichen‹ Zusammenhang.376 (ii) Regelwissen vs. Genie: Das Beweis374

VÄ III 244. Während das philosophische Denken zwar seinen »Inhalt in durchgreifender Allgemeinheit und notwendigerem Zusammenhang zum freien Selbstbewußtsein zu bringen vermag, als dies der Kunst überhaupt möglich« sei, sei es doch »mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem Elemente des Denkens als der bloß ideellen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß der konkrete Mensch sich nun auch gedrungen finden kann, den Inhalt und die Resultate seines philosophischen Bewußtseins in konkreter Weise, als durchdrungen von Gemüt und Anschauung, Phantasie und Empfindung, auszusprechen, um darin einen totalen Ausdruck des ganzen Inneren zu haben und zu geben.« VÄ III 437. Siehe zu dieser Frage des eigenständigen Werts einer anschaulichen Form des Wissens insbesondere auch Pippin 2012. 375 Vgl. Kapitel III.3.2. 376 »[D]ie Bewegung des mathematischen Beweises gehört nicht dem an, was Gegenstand ist, sondern ist ein der Sache äußerliches Tun.« Hegel PhG 42. Eine derartige Äußerlichkeit prägt für Hegel auch die formale Ästhetik, die mit der Mathematik verwandt ist und mathematische Prinzipien enthält. Statt für autonome Gesetzmäßigkeiten des Sinnlichen interessiert sich Hegel dafür, inwiefern das Sinnliche mit dem Geistigen ›versöhnt‹ werden kann. Die spezifische ›Wahrheit‹ der Kunst besteht in »Zusammenstimmung des Begriffs mit sich selber in seinem Dasein« (VÄ I 152). Diese tendenziell endlose iterative Ausbreitung formaler Verfahren steht im Gegensatz zu einem hegelschen Modell der ›Rückkehr zu sich selbst‹. Vgl. zur Äußerlichkeit der Arithmetik und der Auseinandersetzung mit Kant: WL I 234–249.



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verfahren der euklidischen Geometrie enthält einen Bestand an Regeln und Konstruktionsanweisungen, die – als schrittweise technische Anweisungen – von jedem beliebigen Individuum mit demselben Erfolg ausführbar sind. Das poetische »Produzieren« hat dagegen »die Form natürlicher Unmittelbarkeit«. Es kennt keine von jedermann ausführbare allgemeine Regeln 377, sondern kommt »dem Genie als diesem besonderen Subjekte zu«.378 Damit zerfällt der Geist der Kunst, wie Hegel sich ausdrückt, in die getrennten Instanzen von Werk, Schöpfer und Betrachter.379 (iii) Explizite vs. implizite Begrifflichkeit: Für das Verstehen der Diagramme sind explizite sprachliche und begriffliche Erklärungen unerlässlich. Zwar gibt es auch für Hegel in der Kunst (im weitesten Sinne) begriffliche Gehalte, diese bleiben aber implizit. Das Fehlen eines expliziten Regelwissens gilt auch für den Rezipienten: Kunstwerke sollen ohne den »Umweg weitläufiger entlegener Kenntnisse unmittelbar durch sich selber verständlich und genießbar sein«.380 Bezüglich der Details des ästhetischen Produktionsprozesses hält sich Hegel bewusst kurz. Was er darüber sagt, lässt sich grundsätzlich in drei Momente einteilen: (i) Ihre Welthaltigkeit erhält die Kunst dadurch, dass der Künstler seine Zeit bzw. eine bestimmte Lebensform durchlebt und dabei erfasst. Zu einem Inhalt gelangt er dabei durch die »subjektive[] Begeisterung, welche […] einen an und für sich vernünftigen Stoff ergreift«381. Sie liegt darin, »von der Vernünftigkeit des in sich selber wahren Gehalts beseelt zu sein,«382 aber nicht im Modus freien Denkens, sondern als »fremde Gewalt« oder »unfreies Pathos«.383 (ii) Die »produzierende[] subjektive[] Tätigkeit«, aus der das Kunstwerk hervorgeht, ist »die Phantasie des Künstlers«384. Hegel 377 Ein solcher Akt des Verknüpfens ist, wie Menke anmerkt, »nicht … im technischen Sinn« zu verstehen, was implizieren würde, »diejenige Tätigkeit, in und aus der die Dichtung besteht, in Einzeltätigkeiten auflösen zu können, deren schrittweise Ausführung dichterischen Erfolg garantieren können soll.« Menke 2013, 25. 378 EpW, § 560, 369. 379 »Die Gestalt dieses Wissens ist als unmittelbar … einerseits ein Zerfallen in ein Werk von äußerlichen gemeinen Dasein, in das dasselbe produzierende und in das anschauende und verehrende Subjekt«. EpW III, § 556, 367. 380 VÄ I 353. Kunstwerke sind also »nicht für das Studium oder die Gelehrsamkeit zu verfertigen« (ebd.). Die Fähigkeit zur unmittelbaren Rezeption gilt allerdings uneingeschränkt nur für die zeitgenössische Rezeption und ändert sich mit historischer Distanz. Hegel spricht in Bezug auf die Beziehung zum Betrachter auch von einem »Anklang und Wiederklang im Geiste« VÄ I 61. 381 VÄ I 380. 382 VÄ I 385. 383 EpW III, § 560, 369. 384 VÄ I 362.

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nennt sie auch »das Formelle der Kunst«385, eine »innere Werkstätte«: Die »Gebilde der Phantasie« seien »Vereinigungen des Eigenen oder Inneren des Geistes und des Anschaulichen«.386 Die Einbildungskraft hat hier also wie bei Kant die Rolle einer Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem.387 (iii) Zugleich ist die künstlerische Tätigkeit ein Abarbeiten am Material und »mit technischem Verstande und mechanischen Äußerlichkeiten« befasst.388 Die Beschäftigung mit den »Außenseiten der technischen Ausführung« involviert es, ein »Material so weit [zu bezwingen], daß es die inneren Gestalten der Phantasie in sich aufnehmen und darzustellen genötigt« wird.389 In der bildende Kunst wird dies zur Aufgabe, »eine adäquate räumliche Äußerlichkeit des Innern« zu schaffen.390 Dieser Beschreibung kann also zunächst entnommen werden, dass das anschauliche Denken der Kunst für Hegel über seine Inhalte nicht in derselben Weise verfügt wie das philosophische Denken. Es beruht auf einem Gestaltfindungsprozess der Einbildungskraft, während die Materialität des Kunstwerks als eine zu bezwingende begriffen wird. Diese im Grunde sehr allgemeine und wenig aussagekräftige Beschreibung wird sich in der Betrachtung der Malereitheorie spezifisch konkretisieren: hinsichtlich des Gebrauchs, den die Malerei von den Eigenschaften menschlicher Leiblichkeit und der Form leiblicher Intersubjektivität macht, ebenso wie ihrer Fähigkeit zur Erzeugung illusionärer Bildräume.

4.2.3 Der Inhalt: Lebensformen

Kunstwerke sind für Hegel nicht primär durch formale Qualitäten interessant, sondern durch ihren Inhalt. Diesen Inhalt bilden die jeweiligen historischen Lebensformen, in deren Kontext Kunstwerke entstehen. Insofern für Hegel die Philosophie »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«391 ist, gilt dies auch für die Kunst, die für ihn ja eine Art Philosophie mit anderen Mitteln ist. Für solche ästhetisch erarbeiteten Selbstverständnisse hat sich in der Forschungs385 Die »produktive Einbildungskraft […] [ist] das Formelle der Kunst; denn die Kunst stellt das wahrhaft Allgemeine oder die Idee in der Form des sinnlichen Daseins, des Bildes dar.« EpW III, § 456, 267. 386 EpW III, 457, 268. 387 Dabei müssen aber ferngehalten werden: »die scharfen Sonderungen und Relationen des Verstandes, die Kategorien des Denkens, wenn sie sich aller Anschaulichkeit entkleidet haben, die philosophischen Formen der Urteile und Schlüsse usf.« VÄ III 284. 388 EpW III, § 560, 369. 389 VÄ I 370. 390 VÄ III 274. 391 GPR, zitiert aus Pippin 2012, 31.



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literatur der Terminus ›Handlungsorientierung‹ etabliert.392 Konnte Kants Geometrietheorie also mit der Frage der Orientierung im Raum in Verbindung gebracht werden, so Hegels Kunsttheorie mit der Orientierung im Handeln, insofern das Handeln eine Art des Selbstwissens oder Selbstverständnisses voraussetzt. Die Parallele lässt sich noch fortsetzen: Nach Kant sind unsere Anschauungsformen schon immer implizit nach bestimmten (proto-)mathematischen Regeln strukturiert, die dann in der Geometrie explizit thematisiert werden. Hegels Idee ist wiederum, dass auch Lebensformen immer schon »nach bestimmten Deutungen [s]trukturiert« sind 393, denen eine »normative Kraft« zukommt.394 Solche Normen und Selbstverständnisse kann die Kunst explizit machen. Kunstwerke sind also Teil eines kollektiven Reflektierens einer Gemeinschaft darüber, was es heißt, Mensch oder Handelnder zu sein.395 Hegel lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Inhalt ein ›begrifflicher‹ Inhalt ist, ja, er nennt den Inhalt der Kunst auch den Begriff im Singular:396»die Kunst hat also den Zweck, den noch nicht gewußten Begriff zum Bewußtseyn zu bringen.«397 Hiermit meint Hegel aber gerade keinen klassifikatorischen Allgemeinbegriff oder einen problemlos definierbaren propositionalen Gehalt. Wie schon bei Kant impliziert das anschauliche Denken auch bei Hegel nicht nur andere Verhältnisse von Anschauung und Begriff, sondern steht auch im Kontext einer anderen Theorie des Begriffs.398 Hegel unterscheidet hierbei (analog seiner Unterscheidung von Verstand und Vernunft) zwei Modi des Begriffs: zum einen den Begriff als allgemeine Vor392 Collenberg-Plotnikov nennt die Kunst (nach Hegel) »eine Art und Weise, wie der Mensch sich Handlungsorientierung verschafft  – und zwar Handlungsorientierung über Anschauung und Empfindung.« Collenberg-Plotnikov 2005, 257. Sie spricht auch von der Kunst als »Orientierungsstifter« Ebd. 256. Diesen Begriff verwendet ebenfalls Gethmann-Siefert 2005, 33. 393 Collenberg-Plotnikov 2005, 256. 394 Pippin 2012, 45. Mit Pippin betrifft dies »das Wissen des Geistes um die Frage, was es heißt, Geist zu sein, und das heißt vor allem, was es heißt, auf Gründe zu reagieren, und also auch, in welchem Sinn und mit welcher rationalen Autorität wir Ansprüche aneinander stellen und Rechenschaft voneinander verlangen.« Ebd. 53; »Und zu einer gegebenen Zeit genügen den Beteiligten diese substanziellen Erwägungen als Rechtfertigung in der gesellschaftlichen Welt, in der ihnen eine bestimmte normative Kraft von welcher Art auch immer zukommt.« Ebd. 45. 395 Pinkard 2007, 8. 396 So sei Kunst »Entwicklung des Begriffs aus sich selber«, eine »Entfremdung« oder »Entäußerung« des Begriffs »zur Empfindung und Sinnlichkeit«. VÄ I 27 f. 397 VÄ Ascheberg 1820/21, 36, MS 19. Auf die Bedeutsamkeit dieser Stelle weist Hilmer hin. Hilmer 2005, 55. 398 Bei Kant war das der quantitative Funktionsbegriff, der sich vom klassifikatorischen Allgemeinbegriff der aristotelischen Logik unterscheidet.

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stellung399, wo »die abstrakte Einheit den Unterschieden der Realität gegenüber[steht]«.400 Dies ist der kantische Verstandesbegriff: Dem Begriff Hund stehen die unterschiedlichen Hunde gegenüber, dem Begriff Kausalität die verschiedenen Naturgesetze und Kausalereignisse etc. Von diesem unterscheidet sich der Begriff im emphatischen Sinne, der eine »Einheit unterschiedener Bestimmtheiten und damit konkrete Totalität« ist.401 Der Begriff ›Mensch‹ kann also einerseits als »abstrakt-allgemeine Vorstellung[]« eine bestimmte Gattung bezeichnen. Als emphatischer Begriff hingegen befasst »die Vorstellung ›Mensch‹ die Gegensätze von Sinnlichkeit und Vernunft, Körper und Geist«, wobei »der Mensch jedoch nicht nur aus diesen Seiten als gleichgültigen Bestandstücken zusammengesetzt ist, sondern dem Begriff nach dieselben in konkreter, vermittelter Einheit enthält.«402 In diesem Sinne bedeutet ›Begriff‹ einen »umfassenden Lebens- und Vernunftzusammenhang«403, ein holistisches Selbst- und Weltverständnis. Darin sollen die Dualismen der kantischen Prinzipienreflexion als Aspekte einer vorausliegenden Einheit gefasst werden.404 Obgleich also die Rede vom absoluten Wissen einen problematischen Überbietungsgestus zu enthalten scheint, liegt ihr argumentativer Kern in der Kritik an einer intellektualistischen und damit in Hegels Augen partiellen Auffassung menschlicher Vernunft. Bereits im vorigen Kapitel wurde rekonstruiert, dass ein derartiges vollständiges Verständnis des Menschen für Hegel drei Dimensionen enthalten muss: (i) das Verhältnis zur Sinnlichkeit, das sich im Status des Menschen als geistig-sinnlichem Doppelwesen zeigt405; (ii) das Verhältnis zu anderen Subjekten, das sich im Status des Menschen als sozialem Wesen zeigt, und (iii) die Historizität menschlicher Lebensformen und Selbstverständnisse. In Kapitel III.5.1 wird betrachtet, 399

Vgl. die Stufenleiter der Vorstellungen in KrV B 376 f. VÄ I 147. 401 VÄ I 147. 402 VÄ I 147. 403 Hilmer 2005, 59. 404 Während diese Idee einer Untrennbarkeit von Anschauung und Begriff, Sinnlichem und Geistigem in gewisser Weise schon seiner Theorie des ›theoretischen Geistes‹ zu Grunde lag (wie in Kapitel III.2 beschrieben), so gilt dies hier noch einmal in gesteigerter Form. Hegel spricht hier von »Region der Wahrheit an sich selbst« als »Auflösung des höchsten Gegensatzes und Widerspruchs«, wo »der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit, von Geist und Natur, von Wissen und Gegenstand, Gesetz und Trieb, der Gegensatz und Widerspruch überhaupt, welche Form er auch annehmen möge, als Gegensatz und Widerspruch keine Geltung und Macht mehr« hat. VÄ I 137. 405 Diese Frage: »Wie ist es möglich, daß der Geist zur selben Zeit einen natürlichen und einen ›geistigen‹ Status haben kann ?« stellt Pippin als ›amphibisches Problem‹ in den Mittelpunkt seiner Interpretation. Vgl. Pippin 2012, 13. 400



Anschauliches Denken: Entäußerung

wie für Hegel gerade die Malerei als romantische Kunst diese Dimensionen und ihren relationalen Charakter auf die Tagesordnung stellt.

4.2.4 Das Ziel: Explitmachen des Impliziten

Das Ziel der geometrischen Konstruktion ist es, in der Interaktion von mathematischen Begriffen und den Bedingungen des Raums neue Erkenntnisse zu erzeugen. Auch wenn die Konstruktion mit partikulären Gestalten in der Anschauung operiert, stehen doch am Anfang und am Ende des Verfahrens allgemeine begriffliche Gehalte wie die Definition des Dreiecks oder der Winkelsummensatz. Die Leistung der Kunst besteht für Hegel demgegenüber darin, dass sie »die Wahrheit in Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewußtsein hinstellt, … welche in dieser ihrer Erscheinung selbst einen höheren, tieferen Sinn und Bedeutung hat«, ohne jedoch durch »das sinnliche Medium hindurch den Begriff als solchen in seiner Allgemeinheit erfaßbar machen zu wollen.«406 Die Darstellungsweise der Kunst beruht auf der Untrennbarkeit bzw. »Einigkeit von Bedeutung und individueller Gestaltung derselben«.407 Hilmer schlägt zwei Weisen vor, dies zu fassen: Zum einen könne man mit Goodman von einer »Logik der Exemplifikation« sprechen, zum anderen mit Brandom von einem »Explizitmachen von Implizitem«, allerdings so, dass dieser Begriff als Begriff implizit bleibe.408 Wie lässt sich dies verstehen ? Zunächst ist festzustellen, dass die figürliche Logik der Kunst für Hegel nicht darin besteht, begriffliche Inhalte metaphorisch oder allegorisch einzukleiden. Dies ist etwa die Rolle der in der Enzyklopädie diskutierten »sym­ bolisierende[n] Phantasie«: »So wird zum Beispiel die Stärke Jupiters durch den Adler dargestellt, weil dieser dafür gilt, stark zu sein.«409 Diese Art der 406

VÄ I 140. Ebd. Umgekehrt gilt auch für das Kunstwerk als Sinnliches, dass es »nicht nur für die sinnliche Auffassung [ist], als sinnlicher Gegenstand, sondern seine Stellung ist von der Art, daß es als Sinnliches zugleich wesentlich für den Geist ist, der Geist davon affiziert werden und irgendeine Befriedigung darin finden soll.« VÄ I 57. Hegel spricht auch davon, es sei »das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige in ihr als versinnlicht erscheint.« VÄ I 61. 408 Hilmer 2005, 56, sowie 55. Vgl. Hegel: »Sie ist Kunst, kommt aus dem Begriff her und hält eine Stufe des Begriffs fest, ist nicht die Totalität der konkreten Wirklichkeit, sondern hebt Begriffsunterschiede heraus.« VÄ Hotho 1823, 250, MS 233, 409 Die »symbolisierende Phantasie […] wählt zum Ausdruck ihrer allgemeinen Vorstellungen keinen anderen sinnlichen Stoff als denjenigen, dessen selbständige Bedeutung dem bestimmten Inhalt des zu verbildlichenden Allgemeinen entspricht. So wird zum Beispiel die Stärke Jupiters durch den Adler dargestellt, weil dieser dafür gilt, stark zu sein.« EpW, § 457 Zus., 269. 407

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Verbildlichung, die Hegel in der Ästhetik als »bewußte Symbolik der vergleichenden Kunstform«410 diskutiert, bleibt für ihn nach allen Maßstäben defizitär.411 Dies liegt interessanterweise daran, dass die komplexen holistischen Inhalte, die Hegel den ›Begriff‹ oder das ›Absolute‹ nennt, sich gar nicht in diesem Modus abhandeln lassen. Der »Inhalt« einer solchen Illustration ist »nicht mehr das Absolute selbst, sondern irgendeine bestimmte und beschränkte Bedeutung«412. Dort also, wo Kunst Begriffliches symbolisiert, ist sie für Hegel gerade nicht mehr Ausdruck des ›Begriffs‹ im emphatischen Sinne, sondern lediglich Illustration allgemeiner Vorstellungen oder propositionale Gehalte der Art: ›Jupiter ist stark.‹413 Auch in seiner philosophischen Fassung entzieht sich das von der Kunst intendierte Wissen für Hegel der Möglichkeit einer einfachen Definition oder Auflistung. Dies zeigen seine sehr komplexen Überlegungen zur philosophischen Prinzipienreflexion und ihren Darstellungsbedingungen, wie etwa exemplarisch die Theorie des spekulativen Satzes. Auch das philosophische, begrifflich-propositionale Herausarbeiten solcher holistischen Selbst- und Weltverständnisse kann nicht einfach als Sammlung von Kategorien und prädikativen Sätzen auftreten, unterscheidet sich von Alltagsbewusstsein und diskursivem Verstand und steht somit in einem Verwandschaftsverhältnis zur Kunst.414 410

nis.

VÄ I 486. Hegel fasst darunter Fabel, Parabel, Allegorie, Metapher, Bild und Gleich-

411 Es handele sich »nicht etwa um eine höhere Kunstform, sondern vielmehr eine zwar klare, aber verflachte Auffassung, welche, in ihrem Inhalt begrenzt und in ihrer Form mehr oder weniger prosaisch, sich […] in das gewöhnliche Bewußtsein hinein verläuft.« VÄ I 488 f. 412 VÄ I 487. 413 Vgl. Hilmer: Die von Hegel anvisierte ›Bedeutung‹ muss also »mehr sein […] als nur Instantiierung eines Gattungsbegriffs.« Die »Entzifferungsstruktur« der bewussten Symbolik »muß hier das opfern, was eigentlich an dem intendierten Allgemeinen interessierte: seine Absolutheit, d. h. einen umfassenden Lebens- und Vernunftzusammenhang, der normative Dimensionen mit umfasst (und damit den Bedeutungsbegriff der Naturalisierung und definitorischen Schließung entzieht).« Hilmer 2005, 59. Grundsätzlich gilt für Hegel, dass die Kunst  – insbesondere auf dem Höhepunkt der Kunst im klassischen Altertum – keine bloße Illustration ist, wo »diese Vorstellungen und Lehren bereits vor der Poesie in abstrakter Weise des Bewußtseins als allgemeine religiöse Sätze und Bestimmungen des Denkens vorhanden gewesen und von den Künstlern sodann erst in Bilder eingekleidet und mit dem Schmuck der Dichtung äußerlich umgeben worden wären«. Stattdessen war »die Weise des künstlerischen Produzierens … die, daß jene Dichter, was in ihnen gärte, nur in dieser Form der Kunst und Poesie herauszuarbeiten vermochten.« VÄ I 141. 414 Vgl. hierzu die Aussagen Hegels zum »spekulative[n] Denken«, das »mit der poetischen Phantasie in Verwandtschaft« steht, weil es die »Mängel« anderer Wissens- und Bewusstseinsmodelle überwindet: Weder verliert es sich in der kontingenten und parti-



Anschauliches Denken: Entäußerung

An die Stelle metaphorischer Verbildlichung tritt für Hegel – wie im Kapitel zuvor gezeigt wurde – die figürliche Logik des menschlichen Leibs, in dem die Untrennbarkeit von Zeichen und Bedeutung, Wesen und Erscheinung etc. realisiert ist. Mittels dieser verkörperten Logik der menschlichen Leiblichkeit kann der holistisch verstandene Begriff des Menschen auf nichtpropositionale, verkörperte Weise thematisiert und gezeigt werden. (Inwiefern dieses Zeigen und das entsprechende Wissen spezifisch in der Malerei einen performativen Charakter hat, wird im folgenden Kapitel über die Malerei genauer untersucht.) Diese Leistung kann in drei Eigenschaften beschrieben werden. Erstens besteht sie darin, etwas sonst Unthematisches thematisch zu machen: Die normativen Gehalte von Lebensformen, wie sie im Abschnitt zuvor beschrieben wurden, bleiben im Alltag »unklar« und werden »nicht zum bewußten Motiv erhoben«.415 Entsprechend ist es die Aufgabe von Philosophie und Kunst, »diese Deutungen – in je unterschiedlicher Weise – explizit als solche sichtbar und damit verständlich werden zu lassen.«416 Zweitens leistet die Kunst eine Steigerung von Expressivität: Was eine bestimmte Lebensform ausmacht, »wird im Kunstwerke aufgefaßt und reiner und durchsichtiger hervorgehoben, als es auf dem Boden der sonstigen unkünstlerischen Wirklichkeit möglich ist.«417 Gemäß der oben geschilderten Auffassung von Wahrheit als maximaler Realisierung eines Potentials ist für Hegel der Schein der Kunst auch ›wahrer‹ als die phänomenale Welt der Erscheinung.418 Hegels Idee ist, dass sich die höchsten und letzten Fragen einer Lebensform in der konkreten Alltagsexistenz des Menschen immer nur beschränkt und partiell manifestieren, d. h. immer bestimmte Aspekte implizit bleiben.419 Die Aufgabe der Kunst besteht darin, derartige Aspekte explizit kularen Oberfläche der Dinge wie das Alltagsbewusstsein noch spaltet es die Totalität des Seins in ein abstraktes Dualitäts- und Korrespondenzmodell auf wie der kantische diskursive Verstand. Im Gegensatz zur poetischen Phantasie »verflüchtigt« die Philosophie die Form der Realität allerdings »zur Form des reinen Begriffs« (III, 244). Vgl. zum ›spekulativen Satz‹ PhG 59. Zu Hegels philosophischem Projekt als gebrochener Prinzipienreflexion in Vorläuferschaft etwa zu Derrida siehe Schülein 2016. 415 Collenberg-Plotnikov 2005, 256. 416 Ebd. 417 VÄ I 48. 418 Vgl. hierzu VÄ I 151. 419 Dies betrifft zum einen den menschlichen Körper, in dem »ein Teil der Organe und deren Gestalt nur animalischen Funktionen gewidmet ist, während ein anderer näher den Ausdruck des Seelenlebens, der Empfindungen und Leidenschaften in sich aufnimmt. Von dieser Seite scheint die Seele mit ihrem inneren Leben auch nicht durch die ganze Realität der leiblichen Gestalt hindurch.« VÄ I 194 f. Zum anderen bleibt auch die »unmittelbare endliche Wirklichkeit des Geistes in seinem Wissen, Wollen, seinen Begebenheiten, Handlungen und Schicksalen« auf dieselbe Weise »in sich«, wie das »natürliche

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zu machen. Dabei folgt sie aber nicht einer Logik begrifflicher Abstraktion und Subsumtion, sondern einer Logik der Steigerung: »Die Kunst hat nun das, was für das prosaische Bewußtsein nur als endlich vorhanden ist, überall durchsichtig zu machen, so daß es an allen Organen den Ton der Seele, das Geistige offenbare.«420 Schließlich sind solche Ergebnisse aber drittens an einen bestimmten historischen Standpunkt gebunden, verbinden immer partielles Gelingen mit ungelöst bleibenden Widersprüchen.421 So hat die klassische griechische Kunstreligion zwar ein angemesseneres Bild menschlicher Handlungsfähigkeit als ihre symbolischen Vorgängerkonzeptionen, weil sie den Leib als Ausgangspunkt menschlichen Handelns denkt. Die romantische Malerei wiederum reagiert auf Widersprüche dieser Konzeption, indem sie diesem Paradigma der substanziellen Leiblichkeit eines der relationalen Leiblichkeit gegenüberstellt.422

4.3 Entäußerung: eine geistesgeschichtliche Verortung

Auch Hegels Theorie eines ästhetischen Denkens steht in einem größeren geistes- und begriffsgeschichtlichen Kontext. Obgleich Hegel den Begriff der Entäußerung nur an wenigen Stellen verwendet,423 wurde er in dieser Studie als Oberbegriff verwendet, weil er in knapper Form die Grundformel von Hegels Ansatz eines ästhetischen Denkens auf den Punkt bringt: ›Selbstbewusstsein durch Externalisierung‹ bzw. ›sich selbst im Anderen wiederfinden‹. Begriffsgeschichtlich ist ›Entäußerung‹ Luthers Übersetzung des griechischen ›Kenosis‹. Dieses bezeichnet ein Bedürfnis Gottes, sich selbst in Leben«. Insofern es sich daher nicht »in seiner Totalität zu manifestieren« in der Lage ist, bleibt es »in dieser Weise nur ein Inneres« und ist »deshalb nur für das Innere der denkenden Erkenntnis […], statt als das volle Entsprechen selber in die äußere Realität sichtbar hinauszutreten«. VÄ I 201. Vgl. auch VÄ I 137, 151, sowie Peters 2015, 70. 420 VÄ Hotho 1823, 80, MS 70. 421 Hier mag man an die konstruktiven Machbarkeiten und Unmöglichkeiten denken, die den Inhalt des geometrischen Denkens bei Kant bilden. 422 Vgl. hierzu das folgende Kapitel III.5. 423 »Und wenn auch die Kunstwerke nicht Gedanken und Begriff, sondern eine Entwicklung des Begriffs aus sich selber, eine Entfremdung zum Sinnlichen hin sind, so liegt die Macht des denkenden Geistes darin, nicht etwa nur sich selbst in seiner eigentümlichen Form als Denken zu fassen, sondern ebensosehr sich in seiner Entäußerung zur Empfindung und Sinnlichkeit wiederzuerkennen, sich in seinem Anderen zu begreifen, indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt.« (VÄ I 28) »So gehört auch das Kunstwerk, in welchem der Gedanke sich selbst entäußert, zum Bereich des begreifenden Denkens, und der Geist, indem er es der wissenschaftlichen Betrachtung unterwirft, befriedigt darin nur das Bedürfnis seiner eigensten Natur.« Ebd.



Anschauliches Denken: Entäußerung

seiner Schöpfung zu äußern, zu verströmen und auszuleeren. Hegel knüpft hieran radikalisierend an, wenn er postuliert, dass Gott – in Schöpfung wie in der Menschwerdung – auf diese Entäußerung angewiesen sei, um wirklich er selbst, d. h. Gott zu sein.424 Letztlich zeigt sich auch in diesem spekulativtheologischen Gedankengang erneut der Kerngedanke von Hegels Theorie menschlicher Praxis: Erst durch Werke, verstanden als expressive Akte der Sichtbarmachung, kann der Mensch sich selbst erkennen: »Das Individuum kann […] nicht wissen, was es ist, ehe es sich durch sein Tun zur Wirklichkeit gebracht hat.«425 Eng verbunden mit dieser Theorie der Praxis ist für Hegel derjenige des Poetischen oder der Poiesis. Die Referenz für dessen Bedeutung als ›Hervorbringen‹ ist die Rede der Diotima aus Platons Symposion: »Denn was nur für irgend etwas Ursache wird aus dem Nichtsein in das Sein zu treten ist insgesamt Dichtung [poiesis].«426 Hegels greift dies auf, indem er vom Tun bzw. dem Hervorbringen von Werken als »reine Form des Übersetzens aus dem Nichtgesehenwerden in das Gesehenwerden« spricht.427 Dies zeigt, dass das Poetische für Hegel nicht notwendigerweise an die Form der Sprache oder Rede gebunden ist – wie dies etwa Derrida und Otto nahelegen –, sondern an die Idee der Hervorbringung von Werken und Handlungen.428 Ein weiterer 424 Siehe hierzu Pippin 2011, Endnote 5, 119 f. Einen Zusammenhang von ›Kenosis‹, ›Inkarnation‹ und der Frage der Verkörperung stellt auch knapp her: Baschera, Marco (2012): »Was heißt »Körper« in einer Verkörperung ?«, in: A. L. Blum; John Michael Krois; Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Verkörperungen. Berlin: Akademie, 215 f. 425 PhG 297. vgl. auch: »Doch der Schein selbst ist dem Wesen wesentlich, die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene, wenn sie nicht für Eines wäre, für sich selbst sowohl als auch für den Geist überhaupt.« VÄ I 21. 426 Vgl. Platon (1991b): »Symposion«, in: Sämtliche Werke Bd. IV. Frankfurt/M., Leipzig: Insel, 53–183, 205 b-c. 427 PhG 293. Die zweite Formulierung lautet: »reines Übersetzen aus der Form des noch nicht dargestellten in die des dargestellten Seins«. Ebd. 296. Innerhalb der neuzeitlichen Tradition teilt Hegel diese Orientierung mit Heidegger, der im Kontext der Frage nach techné und poiesis feststellt: »Jede Veranlassung für das, was immer aus dem NichtAnwesenden über- und vorgeht in das Anwesen, ist poiesis, ist Her-vor-bringen.« Heidegger, Martin (1954): »Die Frage nach der Technik«, in: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske, 13–44, 15. 428 Auf den Doppelsinn im Konzept des Poetischen weist schon die Figur der Diotima hin: »Daher liegt auch bei den Hervorbringungen [ergasiai] aller Künste [technais] Dichtung zum Grunde […] [V]on der gesamten Dichtung wird nur ein Teil ausgesondert, der es mit der Tonkunst und den Silbenmaßen zu tun hat, und dieser mit dem Namen des Ganzen benannt.« Symposion, 205b-c. Die Vertreter einer logozentrischen Lesart Hegels können sich darauf stützen, dass sich bei Hegel durchaus viele Stellen finden, die hieraus eine Privilegierung der Wort- und Sprachdichtung zu machen scheinen: So spricht Hegel davon, dass die »Natur des Poetischen« im Sinne der Poesie »im allgemeinen mit dem

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ideengeschichtlicher Bezug lässt sich zur Poetik des Aristoteles herstellen. Schon bei Aristoteles wird das Poetische in den Kontext einer Praxis gestellt, die gemachte Dinge so behandelt, als ob sie eine Seele (psyché) hätten – ein Gedanke, der auf das Modell eines lebendigen oder beseelten Bildes verweist und in diesem Zusammenhang auch von Mitchell genannt wird.429 Und wie auch Hegel identifiziert Aristoteles als zentralen Inhalt poetischen Denkens Handlungen und Lebensformen.430 Zur Spezifik der hegelschen Position gehört hier allerdings, die Theorie der Poiesis unter die Vorzeichen neuzeitlicher, idealistischer Philosophie zu stellen (so wie das auch schon für Kants Aktualisierung der euklidischen Konstruktionspraxis der Fall war).431 Während für die aristotelische Poetik der Begriff der mimesis zentral ist, »kehren sich«, wie Mersch anmerkt, mit der hegelschen Auffassung des Poetischen »die Prinzipien antiker Mimesis genau um: Das Vor-Bild der Natur wechselt zum Vor-Bild der Vernunft.«432 Diesen allgemeinen Paradigmenwechsel der Ästhetik von der Nachahmung zur Darstellung teilt Hegels also mit Kants Konstruktionskonzept. Auch gibt es eine enge Beziehung zwischen der Auszeichnung eines bestimmten Modells ästhetischen Denkens und einem vom jeweiligen PhiloBegriff des Kunstschönen und Kunstwerks überhaupt zusammen[fällt]«, die hier nicht durch zusätzliche materielle Aspekte wie bei der bildendenden Kunst eingeengt werde. VÄ III 238. An anderer Stelle sagt Hegel: Die »Kunst der Rede, Poesie überhaupt […] ist die absolute, wahrhafte Kunst. Das Element [der Poesie] ist das Unendliche, Reiche der Rede, worin alles sich vorstellig machen kann, was der Geist konzipiert hat.« VÄ Kehler 1826, 156, MS 290. Diesem zweifelsohne vorhandenen Strang in Hegels Denken soll in dieser Arbeit die ebenso präsente Bedeutung visuell-körperlicher Modelle gegenübergestellt werden. 429 »Prinzip [arché] und gleichsam die Seele [psyché] der Tragödie ist also die durchorgansierte Handlungsdarstellung [mythos].« Aristoteles (2008): Poetik, Berlin: Akademie, 1450a40 f., 11.) Dies hebt auch Mitchell hervor – »the analysis of the properties of a made thing, treated as if it had a soul« Mitchell 2005, 46. Vgl. »Die Poesie dagegen schreitet zu solche einem absichtlichen Aufzeigen nicht fort; die zusammenstimmende Einheit muß zwar vollständig in jedem ihrer Werke vorhanden und als das Beseelende des Ganzen auch in allem Einzelnen tätig sein, aber diese Gegenwärtigkeit bleibt das durch die Kunst nicht ausdrücklich hervorgehobene, sondern innerliche Ansich, wie die Seele unmittelbar in allen Gliedern lebendig ist, ohne denselben den Schein eines selbständigen Daseins zu nehmen.« VÄ III 255. 430 »Das wichtigste von diesen aber ist die Komposition einer einheitlichen Handlung [pragmatón]. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlungen und einer Lebensweise.« Aristoteles 2008, 1450a15 f., 10. Vgl. dazu auch Menke 2013, 88. Vgl. allerdings auch Hegels Kritik an der Regelpoetik bei Aristoteles und Horaz. VÄ I 31. 431 Vgl. Kap II.4.3. 432 Mersch 2002b, 176.



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sophen als Leitfaden verwendeten Modell des Denkens überhaupt: Ließ sich bei Kant eine Linie von der geometrischen Konstruktion zu einem generellen philosophischen Konstruktivismus ziehen, so gibt es auch bei Hegel einen engen Bezug zwischen seiner poetischen Auffassung der Kunst und seiner Bestimmung der Struktur von Geist und Denken generell. Hegels Philosophie kann »als der Versuch angesehen werden«, »die gesamte Wirklichkeit in allen ihren Erscheinungsformen als Selbstdarstellung der Vernunft zu begreifen.«433 Die spekulative Philosophie bringt dabei wie die Kunst »gleichfalls Werke zustande«.434 Gegenüber der Trennung von Inhalt und Form im kantischen Denken soll sie dabei »aus sich selber [ihre] Form hervorbring[en].«435 Adorno formuliert diesen Zusammenhang radikal so, dass die idealistische Philosophie »die Kunst zum Vorbild [habe], nicht umgekehrt«.436 Das Verhältnis von Kants Konstruktionsmodell und Hegels Entäußerungsmodell kann mit Heideggers Überlegungen zu techné als ›herausforderndem Entbergen‹ und poiesis als ›hervorbringendem Entbergen‹ weiter verdeutlicht werden.437 Kant orientiert sich am Verstand als einem theoretischen Vermögen, das formale Regeln für den konstruierenden oder experimentierenden Umgang mit der Sinnlichkeit setzt und dieser Überschüsse abringt, die er in sich selbst nicht vorfindet. Hegel orientiert sich an einer praktischen Vernunft, die durch ihre Externalisierung im Sinnlichen zu sich selbst kommt.438 433 Emundts, Dina; Horstmann, Rolf-Peter (2002): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Einführung, Ditzingen: Reclam, 32. Hervorhebung M.B. 434 »Die spekulative Philosophie bringt durch diese Betrachtungsweise gleichfalls Werke zustande, welche, hierin den poetischen ähnlich, eine durch den Inhalt selbst in sich abgeschlossene Identität und gegliederte Entfaltung haben«. VÄ III 255. 435 Daß im von Kant zentral gemachten »verständigen Denken der Inhalt gegen seine Form gleichgültig ist, während er im vernünftigen oder begreifenden Erkennen aus sich selber seine Form hervorbringt.« EpW III, § 467 Zus., 286. Vgl. auch: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.« PhG 24. 436 Adorno 1970, 120. 437 Die Beschreibung von techné, vor allem in ihrer neuzeitlichen Form, als ›herausforderndes Entbergen‹ erinnert stark an Kants Beschreibung des experimentellen Paradigmas neuzeitlicher Naturwissenschaft, wo die Natur zu einer Antwort gleichsam ›herausgefordert‹ wird. Die Konstruktion kann als eine Parallelform dieses Modells im diagrammatischen Bildmedium gesehen werden. In beiden Fällen geht es darum, über den Begriff hinauszugehen und ein synthetisches Wissen zu erzeugen. Demgegenüber ist poiesis ›hervorbringendes Entbergen‹: eine herstellende Aktivität des Menschen, in der er sich selbst wiederfindet und erkennt. 438 Zu einer alternativen Gegenüberstellung von Konstruktion und Poiesis, spezifisch mit Blick auf den Konstruktionsbegriff bei Valery vgl. Mersch 2002b, 176. Zum Verhältnis

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Es gibt aber auch Gemeinsamkeiten. Das operative Kalkül Kants und die poetische Phantasie Hegels eint ihr Status als bewusste menschliche Tätigkeit. Insofern betonen sie auch im bildlichen Denken die Rolle menschlicher spontaner Vermögen und situieren sich so im Subjektparadigma der Neuzeit. Beide Positionen trifft somit die Kritik energetischer Bildkonzepte, die sich mit Bredekamps Worten gegen die »Privilegierung des Subjekts als Erzeuger und Halter der Welt« richten.439 Gegen die Idee vom Denken der Kunst als rationaler Tätigkeit richtet sich auch die rationalitätskritische Hegelkritik, wie etwa Adornos ›Metakritik an Hegels Kritik des Naturschönen‹. Im Naturschönen »als unabhängig vom Subjekt, als schlechterdings nicht Gemachte[n]«440 sieht Adorno »die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität«441. Hegels Ästhetik verfehle daher ihr Ziel der Versöhnung von Geist und Natur durch »krasse[], nahezu unreflektierte[] Parteinahme für subjektiven Geist.«442 Adornos Konzept des Kunstwerks umfasst hingegen eine Naturseite, die nicht auf bewusstes oder nachvollziehbares Machen zurückgeht und dennoch als nichtsignifikatives Sprechen ausdruckhaft ist – ein Modell, auf das sich auch Bredekamp explizit bezieht.443 Auch wenn Hegel somit richtigerweise vorgeworfen werden kann, die Naturseite künstlerischen Produzierens zu verfehlen: Wie Kants transzendentale Ästhetik nicht von der Alterität der Natur handelt, sondern von den elementaren medialen Bedingungen menschlicher Orientierung im Raum, thematisiert, wie insbesondere im folgenden Abschnitt zur Malereitheorie gezeigt werden soll, auch Hegels Ästhetik elementare Bedingungen menschlicher Verkörperung.444 Die entsprechende poetische oder performative Theorie des Bildes kann einen genuinen Beitrag dazu leisten zu erklären, wie Bilder – auf nichtpropositionalem Wege – Sinn erzeugen.445 Das Kunstwerk ist dabei aber des Kantischen zu einem Adorno’schen bzw. modernistischen Konstruktionsbegriff vgl. Beck 2016. 439 Bredekamp 2010, 328. 440 Adorno 1970, 116. 441 Ebd. 114. 442 Ebd. 116 f. 443 »Adorno bezeichnet Kunstwerke allgemein als ›Artefakte‹, sowie er ihren Doppelcharakter betont, materiell gestaltet zu sein und zugleich über ein inneres Kraftfeld zu verfügen. In seiner Ästhetischen Theorie hat er in Gegenstellung zu Hegels Definition der Kunst als ›sinnliches Scheinen der Idee‹ gleichfalls betont, daß ›durch das Artefakt, seine Probleme, sein Material‹ selbst diese Kraft erzeugt wird. Wie sich gezeigt hat, gilt diese Grundbestimmung für alle Bilder.« Bredekamp 2010, 324. Zum nichtsignifikativen Sprechen vgl. Adorno 1970, 116. 444 Vgl. zu einem Versuch, Hegel zumindest partiell gegen die Kritik Adornos zu verteidigen, der für die hier gewählte Strategie vorbildhaft ist: Peters 2015, 54 f. 445 Wie steht es hier mit dem Wissen ? Ist Kunst  – nach dem modernen Kunstver-



Anschauliches Denken: Entäußerung

nicht Ausdruck von Natur, sondern Produkt »geistiger produzierender Tätigkeit«446, ist »eine gemachte, vom subjektiven Geist zustande gebrachte Verknüpfung«.447 Der große Unterschied zu Kants Konstruktionstheorie ist, dass hier jenes explizite Regelwissen der Konstruktionsanweisung fehlt, das es buchstäblich jedem erlaubt, eine Konstruktion schrittweise und regelgerecht aus Operationen mit Zirkel und Lineal hervorzubringen. Das Kunstwerk ist aber auch nicht Vehikel individueller Selbstdarstellung, weil der Künstler »nur der lebendige Durchgangspunkt für das in sich selber abgeschlossene Kunstwerk« ist.448 Der Unmittelbarkeits- und Natürlichkeitscharakter ästhetischen Denkens, könnte man sagen, besteht entsprechend auch nicht in einer naturhaft-nichtidentischen Kraft im Sinne Adornos, sondern in einer durch Habitualisierung erworbenen zweiten Natur, wie sie Hegels Anthropologie thematisiert.449 Das anschauliche Denken ist folglich auch hier von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet. Auch wenn Hegel hier vom Primat menschlicher Spontaneität ausgeht, unterscheidet sich diese doch von der Spontaneität reinen Denkens. Bereits oben wurde gezeigt, dass die nichtdiskursive expressive Funktion menschlicher Leiblichkeit in der Habitualisierung und bestimmten Organen wie Haut und Auge ihren Sitz hat und dass sie auf einer vorgängigen Beziehung zu Anderen beruht, wie sie sich durch das Blickverhältnis konstituiert. Die Malereitheorie bringt diese Beziehungs- und Abhängigkeitslogik leiblicher Entäußerung weiter zum Ausdruck. So ist die Malerei zwar in ihrer Fähigkeit zur Herstellung illusionärer Bildräume für Hegel in gesteigerter Form Ausdruck menschlicher Spontaneität. Sie hat aber auch als eine Kunst des ›In-Beziehung-Setzens‹ verschiedene Register einer Abhängigkeit zum Thema, die sie in Gestalt relationaler Verräumlichung umsetzt. Dies betrifft sowohl die Eingebundenheit menschlicher Leiblichkeit in eine ständnis  – bestimmt als »Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind« (Adorno 1970, 174), dann wird Hegels Idee von der Kunst als einem Medium des Geistes und Gestalt des Selbstbewusstseins mit ihrem Gegenteil konfrontiert: Kunst ist dann Medium eines naturhaften, unbewussten Produzierens, dem jedes Wissen und jedes Selbstbewusstsein fehlt: »Die Kunst ist sich selbst wesentlich entzogen: Ihr Machen oder Tun ist kein Gegenstand ihres Wissens.« Menke 2013, 67. 446 VÄ I 61. vgl. ebenfalls VÄ I 48. 447 VÄ II 27. 448 VÄ I 385. Das Kunstwerk ist »vom Künstler Gemachtes«, soll dabei allerdings »kein Zeichen von subjektiver Besonderheit darin« haben. EpW III, § 560, 369 449 »Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, – Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, – eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit …«. EpW III, § 410, 184.

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Umwelt, die für Hegel Grundlage des Figur-Grund-Verhältnisses der Malerei ist, wie auch das reziproke Verhältnis zu einem Gegenüber, das im Sinne einer ›geteilten Spontaneität‹ als eine Beziehung gedeutet werden kann, die ihren Relata vorausgeht.

5. Bildlogik und Medialität Hegels Theorie der figurativen Malerei Inhalt dieses abschließenden und längsten Kapitels ist Hegels Malereitheorie und die darin entworfene Auffassung der Logik und Medialität des Bildes. Im Teil über Kant konnte gleich mit der Rekonstruktion dreier Dimensionen einer ikonischen Differenz begonnen werden. Da es in diesem Teil bisher nur um Hegels Auffassung der Kunst als Wissensform generell ging, muss hier noch eine Einordnung von Hegels Malereikonzeption und ihrer Spezifika vorangeschickt werden (III.5.1). Erst dann folgt die entsprechende Erörterung einer hegelschen Bildlogik, die unter die drei Differenzen von Figur und Grund (III.5.2), Inhalt und Form (III.5.3) sowie Form und Materie (III.5.4) aufgeteilt ist. Damit reflektiert Hegel die Angewiesenheit von Figuration auf einen vorgängigen Grund ebenso wie auf ein Gegenüber, die spezifische Partikularität bildlicher Figuration sowie die Genese des illusionären Bildraums der Malerei aus Verflachung und Farbe.

5.1 Malerei als Kunst der Subjektivität

Was ist Hegels Zugriff auf die Malerei ? Wie kann die Malerei mit Hegel als Wissensform verstanden werden, und wie ordnet sie sich in Hegels geschichtsphilosophisches Panorama ein ? Im folgenden Abschnitt soll gezeigt werden, dass Hegels Konzept der figurativen Malerei nicht nur philosophisch satisfaktionsfähig, sondern aus verkörperungstheoretischer Sicht sogar besonders interessant ist. Hierzu wird zunächst Hegels Konzept der Medienspezifik der Malerei betrachtet, welches sich von der modernistischen Auffassung dieser Medienspezifik im 20. Jahrhundert deutlich unterscheidet: Zum einen bezieht sich Hegel neben formalen Charakteristika auf spezifische Leistungen der Malerei wie Inkarnation und Einfühlung, die seine Position – angesichts einer formalistisch geprägten Debatte im 20. Jahrhundert – aktuell und interessant machen. Zum anderen verknüpft er die medienspezifischen Leistungen der Malerei mit einem spezifischen Inhalt und dessen historischer Weiterentwicklung. Die Malerei ist für Hegel daher eine Art Leitmedium der Nachantike, die somit gleichzeitig Epoche der Subjektivität und Epoche der Malerei ist (III.5.1.1). In einem zweiten Schritt wird erörtert, inwiefern die Malerei – wie die romantische Kunstform insgesamt – für Hegel eine Art ›Anfang vom Ende der Kunst‹ bildet und was das bedeutet. Hierbei wird argumentiert, dass



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die Antwort auf das geistesgeschichtliche Scheitern der klassischen Kunst und ihres Verkörperungsmodells für Hegel nicht nur in einer diskursiven Philosophie liegt, sondern ebenfalls in einer anderen Kunst, d. h. einer neuen, adäquateren Form des verkörperten Wissens. Dies ist die romantische Malerei, die das gescheiterte Substanzprinzip der antiken, klassischen Kunst durch das christlich-neuzeitliche Prinzip der Subjektivität ersetzt. Sie erweist sich damit als ›anthropomorphere‹ Kunst, d. h. als eine dem Menschen angemessenere Wissensform, woraus sich die Affinität zwischen Anthropologie und Malereitheorie bei Hegel ergibt. Kern des ästhetischen Interesses der Malerei ist die ›Form der Lebendigkeit‹. Es spricht dabei einiges dafür, dass es spezifisch die Malerei ist, die jene Ästhetik der Subjektivität artikuliert, die in Kapitel III.3 als Gegenmodell zur kantischen Metaphysik der Subjektivität rekonstruiert wurde (III.5.1.2).

5.1.1 Hegels Theorie der Medienspezifik der Malerei

Sich bei der Frage nach einer hegelschen Theorie des Bilds als Denkmedium auf die Malerei zu fokussieren, hat zunächst deutliche Vorteile. Der Bildbegriff ist in der Malerei auf konkrete Artefakte mit bestimmten medialen Eigenschaften wie Zweidimensionalität und Visualität bezogen und somit greifbarer als bei den mentalen Erinnerungsbildern und Vorstellungen der Einbildungskraft. Zugleich ist die Malereitheorie komplexer und interessanter als die Metapherntheorie, die Hegel in der Theorie der ›bewussten Symbolik‹ verhandelt.450 Problematisch kann allerdings scheinen, dass Hegels Sicht auf die Malerei durch eine bestimmte historische Gruppe von Bildern determiniert ist – die Malerei des christlichen Mittelalters, der italienischen Renaissance und die niederländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts.451 Diesem geo450

Zu differenzieren wäre also (i) ein weiter Bildbegriff, der generell einzelne, konkrete Vorstellungen meint. Auch das »dichterische Vorstellen« ist für Hegel wesentlich »bildlich« (VÄ III 276) und unterscheidet sich von der »Form des Denkens und der bildlosen Allgemeinheit überhaupt« (VÄ III 277). Diese kann noch weiter differenziert werden zur »eigentlichen Verbildlichung« im Sinne bloßer Schilderung und (ii) einer »uneigentliche[n]« im Sinne von Metapher, Gleichnis etc. (VÄ III, 279). Deutlich ist aber, dass sich solche Bilder »an das Innere, an die geistige Anschauung« richten, während es bei der Malerei darauf ankommt, »einen Inhalt auch seiner äußeren Erscheinung nach vor die Anschauung zu bringen.« (VÄ III 225) Weiter wäre dann (iii) ein ebenfalls weiter gefasster Begriff bildender Kunst zu differenzieren, der die Gestaltung des Sichtbaren umfasst, sowie (iv) ein engerer Bildbegriff im Sinne des zweidimensional-flächigen Tafelbilds. Zur internalisierten Bildlichkeit der Poesie vgl. auch VÄ II 256. 451 Hinzu kommt die kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Künstlern



Bildlogik und Medialität

graphischen und zeitlichen Fokus entspricht auch eine bestimmte Auffassung Hegels davon, was für die Malerei als Medium spezifisch ist: Malerei lässt auf einer zweidimensionalen Fläche einen virtuellen dreidimensionalen Raum erscheinen, ist also illusionistische Tiefenmalerei.452 Dazu ist sie figurativ und gestisch, ihr Kern liegt in der »Darstellung einer bestimmten Situation«, der »zur Geste und Figurenkonstellation eines Bildes gefrorene[n] Handlung«.453 Dies hat zu der Auffassung geführt, die eigentliche Medienspezifik der Malerei sei bei Hegel überformt454, zum einen durch die literarisch-poetische Idee der Darstellung von Handlungen, zum anderen durch die skulpturale Modellierung von Gestalten.455 Eine solche Kritik beruht allerdings, wie argumentiert werden kann, auf dem von Greenberg formulierten modernistischen Begriff von Medienspezifik. Malerei hat sich demnach reflexiv ihren formalen Mitteln zuzuwenden, die in der Textur der Farbe, der Form des Bildträgers, der Flachheit der Oberfläche bestehen. Mit Houlgate kann dem entgegengehalten werden, dass Hegel einen anderen Begriff der Medien­spezifik hat.456 Hegel berücksichtigt ebenfalls die formalen Spezifika der Malerei, die er zunächst doppelt bestimmt: (i) Hinsichtlich der »Räumlichkeit« ist das Spezifische der Malerei das »Flächenhafte, die Zurückziehung und Beschränkung des Räumlichen auf zwei Dimensionen«.457 Hegel spricht hier auch explizit von der »Verflächung« als Wesenszug der Malerei.458 (ii) Hinsichtlich ihrer »Sichtbarkeit« geht es in der Malerei nicht um die »Bestimmung« von Umrissen, wie sie auch durch eine »allgemeine Sichtbarkeit oder Einwie der – den Nazarenern vergleichbaren – Düsseldorfer Malerschule. Dazu was Hegel kannte vgl. Houlgate 2000, 61 f., Collenberg 1992, Rutter 2010. 452 »the structure of painting itself – two-dimensional, colored illusion.« Rutter 2010, 67. vgl. Ebenfalls Houlgate 2000, 74. 453 Gethmann-Siefert 2005, 304. 454 Vgl. hiergegen: Hegels Theorie der Malerei sei – trotz ihrer weitgehenden Nichtbeachtung in der Kunstgeschichte – »one of the most profound philosophical meditations on the nature of painting we have«. Houlgate 2000, 61. 455 »Illusionist painting thus obscured what is distinctive about a painting – that it is a flat colored surface – and failed to focus specifically on producing effects that are uniquely painterly.« Houlgate 2000, 73. 456 Houlgate 2000, 74. 457 VÄ Kehler 1826, 181, MS 342. 458 VÄ Ascheberg 1820/21, 243, MS 188. Die »räumliche Totalität […] wird verlassen, eine Seite an ihr wird getilgt, und in Beziehung auf den Raum behält die Malerei nur eine Abstraktion des Raums, die Fläche. […] Die räumliche Totalität verflächt sich.« Hotho 250, 233. Diese Eigenschaft hängt für Hegel zugleich mit der Farbigkeit zusammen und ermöglicht sie; schließlich sind es auch die für sie entscheidenden Elemente von »Licht, Schatten und Farbe«, die »auf positive Weise herbei[bringen], daß die Malerei sich an die Fläche zu halten habe.« VÄ Hotho 1823, 250, MS 233 f.

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färbigkeit« erreicht werden kann, sondern »das Licht in seiner Besonderheit […] als Farbe«.459 Hierbei erweist sich Hegel zugleich in seiner eigenen Zeit fortschrittlich, indem er nicht die Zeichnung, sondern die Farbe zum zentralen Kunstmittel der Malerei erklärt. Gegen die einflussreichen Vertreter des disegno wie etwa Winckelmann und Kant stellt sich Hegel entschieden auf die Seite des colore (vgl. Kapitel III.1 und III.5.4). Auch die durch Rahmung erzeugte Grenze des Bildträgers reflektiert Hegel als eine intrinsische Eigenschaft der Malerei.460 Hegel ist also in dieser Hinsicht keineswegs Medienvergessenheit vorzuwerfen. Er geht dabei allerdings über den modernistischen Begriff der Medienspezifik hinaus, indem er in der Flächigkeit und Farbigkeit bestimmte expressive Potentiale lokalisiert, die für ihn ebenfalls zur Spezifik der Malerei gehören. Dies ist nicht nur der malerische Illusionismus, sondern ebenfalls die Fähigkeit figurativer Malerei zur Darstellung von Handlungen, der Inkarnation eines quasi-lebendigen Gegenübers, zur Herstellung einer Einfühlungs- und Interaktionsbeziehung. Aus der Farbe gehen nicht nur die Raumwirkungen der Malerei hervor, sondern sie ist auch Grundlage der Lebendigkeit, d. h. der Performativität der Malerei.461 Mit den Themen der Inkarnation und Einfühlung erweist sich Hegels Konzeption auch gegenwärtig als aktuell. Manuela Ammer argumentiert im Katalog der Ausstellung Painting 2.0. Malerei im Informationszeitalter gegen den modernistischen Fokus auf die Flächigkeit der Malerei für die »Körperlichkeit« als »eine ihrer Kernkompetenzen«.462 Freedberg und Gallese als aktuelle Theoretiker bildlicher Einfühlung stellen fest, dass diese Kategorie zwar im 19. Jahrhundert eine Konjunktur hatte; es sei dann aber in der Kunstkritik und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zu einem systematischen Ausschluss des leiblich vermittelten Emotionalen und Empathischen gekommen. Einflussreiche Theoretiker dieser Zeit wie Collingwood, Gombrich oder Goodman privilegierten in der Nachfolge Kants die Form als Träger kognitiver Gehalte.463 Mit seiner expliziten Anknüpfung an Kant lässt sich der 459

VÄ Kehler 1826, 181, MS 342. »Der Hintergrund tritt hinein, eine Beziehung die getrennt, abgeschnitten werden muß, das Herausschneiden aus dem Zusammenhang muß markiert sein (Rahmen).« VÄ Libelt 1828/29, MS 129. Zitiert aus Collenberg 1992, 122. 461 Die Farbe »macht die Malerei zur Malerei. Zeichnung, Erfindung ist wesentlich [/], notwendig, doch die Farbe ist erst die Lebendigkeit, kein bloßes Kolorieren, sondern zugleich bezeichnender Ausdruck.« VÄ Hotho 1823, 258, MS 241 f. 462 Ammer, Manuela (2015): »›How’s My Painting ?‹ (Judge Me, Please, Don’t Judge Me)«, in: Manuela Ammer; Achim Hochdörfer; David Joselit (Hg.): Painting 2.0. Malerei im Informationszeitalter: Geste und Spektakel, exzentrische Figuration, soziale Netzwerke. München: Prestel, 85–101, 88. 463 »This elimination of the emotional, the empathetic and the realm of non-cognitive 460



Bildlogik und Medialität

Greenberg’sche Formalismus hier ebenso einreihen.464 Hegels Malereitheorie stark zu machen, wie es im Folgenden geschehen soll, kann so auch als Beitrag zur Überwindung oder kritischen Einschränkung eines formalistischen Paradigmas gesehen werden, das den Bildbegriff der Kunstwissenschaft im 20. Jahrhundert geprägt hat. Hegels Begriff der Medienspezifik der Malerei unterscheidet sich von dem Greenbergs nicht nur in der Auffassung, was für die Malerei spezifisch ist, sondern auch in seiner geschichtsphilosophischen Dimension. Seine Ästhetik verknüpft formale Eigenschaften eines Mediums einerseits mit entsprechenden Inhalten, andererseits mit bestimmten historischen Situationen.465 Um dies genauer zu verstehen kann an Kapitel III.2 angeknüpft werden, wo gezeigt wurde, dass die verschiedenen Tätigkeiten und Medien des Geistes (Empfinden, Anschauen, Denken etc.) sich für Hegel zwar prinzipiell auf dieselben Inhalte richten können, dabei aber nicht indifferente Behälter sind. Die »Bestimmtheiten dieser Formen« gehen in den Inhalt und seine Darstellung mit ein.466 Die Ästhetik führt diesen Gedanken einer Form-Inhalt-Kopplung fort. Der Inhalt der Kunst (die Frage nach einem anschaulichen Orientierungswissen des Menschen) macht eine Entwicklung durch, die Hegel in drei historische Phasen einteilt. Hierbei erweisen sich bestimmte Medien als besonders angemessen, diesen Inhalt weiterzuentwickeln: Die Formsuche der symbolischen Kunstform findet ihr adäquates Medium etwa in den ägyptischen Monumentalarchitekturen, die Entdeckung der Expressivität des menschlichen Leibs in der klassischen Kunstform begünstigt die griechische Skulptur. In der Malerei findet die romantische Kunst ein erstes »Material […,] das mit ihrem Inhalt zusammenf[ällt]«, umgekehrt hat die Malerei im romantischen Prinzip der Innerlichkeit oder Subjektivität »einzig allein [ihren] schlechthin corporeal response remained typical for most of the 20th century.« Freedberg, David; Gallese, Vittorio (2007): »Motion, Emotion and Empathy in Esthetic Experience«, Trends in Cognitive Sciences 11, 197–203, 199. Eine Ausnahme bilde hierbei die phänomenologische Tradition. 464 Greenberg bezieht sich, wie bereits oben erwähnt, auf das Vorbild Kants als ›erstem Modernisten‹: Moderne Malerei übernehme das kantische Modell der Vernunftkritik »in order to entrench itself more fully in its area of competence«, and to give itself »a more rational justification«. Greenberg 1993, 85. Greenbergs Konzeption ist somit als keineswegs global und überzeitlich gültig, sondern einem inhaltlich und historisch partikulären Modell verpflichtet, dass sich einerseits aus der kantischen Philosophie, andererseits aus den ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts speist. 465 Vgl. Hegels Kritik der formalen Ästhetik, die auch antizipatorisch als eine Kritik an Formalismen des 20. Jahrhunderts gelesen werden kann. VÄ I 178 ff. 466 »In dieser Gegenständlichkeit schlagen sich aber auch die Bestimmtheiten dieser For­ men zum Inhalte«. WL I, § 3, 44. Vgl. Kapitel III.2. Vgl. zur »Bestimmtheit« der jeweiligen »Erscheinung« der Kunstformen etwa VÄ Hotho 1823, 205, MS 190.

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entsprechenden Gegenstand«.467 Die Malerei ist daher für Hegel in einer nicht zufälligen Weise mit der Nachantike und dem Thema der christlichen und neuzeitlichen Subjektivität verbunden. Sie ist damit zugleich eine Kunst der Moderne – sehr weit gefasst im Gegensatz zur klassischen Antike. Dies bedeutet nicht, dass sich Hegel der Existenz antiker Malerei nicht bewusst gewesen wäre. Hegel erwähnt und diskutiert die in Pompeii und Herkulaneum ausgegrabenen Fresken, betont aber, dass diese – gerade aufgrund der spezifischen Leistungen, die er mit der Malerei verbindet  – in ihrem historischen Kontext nicht dieselbe herausragende Rolle hätten spielen können, wie es die Malerei in späteren Epochen tat. Er ist also der Ansicht, dass die Malerei ihr Potential als Wissensform spezifisch erst in der Nachantike (d. h. Christentum und Neuzeit) ausspielen kann, in der sie gleichsam zu einem Leitmedium wird.468 Der Grund hierfür ist, wie gezeigt werden soll, die Relationalität des Mediums Malerei, deren epistemische Bedeutung dann auf den Plan tritt, wenn auch die Themen ›Mensch‹ und ›menschliches Selbstbewusstsein‹ als grundlegend relational aufgefasst und artikuliert werden sollen. Der moderne Inhalt ist für Hegel also gewissermaßen auf das Medium der Malerei und seine expressiven Fähigkeiten angewiesen. Umgekehrt ist auch die Denkform Malerei nicht unabhängig vom Denkinhalt ›Subjektivität‹ zu denken. Eine bestimmte Art der Malerei ist für Hegel nur in der romantischen Epoche möglich. Die Moderne kann folglich mit Hegel gleichermaßen als Epoche der Subjektivität wie als Epoche der Malerei verstanden werden. Innerhalb von Hegels geschichtsdialektischem Modell hat diese historisch verstandene Medienspezifik zwei Seiten. Zum einen ergibt sich die spezifische Aufgabe der Malerei aus dem partiellen Scheitern und den ungelösten Widersprüchen ihres Vorgängermodells, der klassischen Kunst. Dieses Scheitern betrifft die klassische Version eines menschlichen Selbstverständnisses (als ›Ideal‹) ebenso wie deren Leitmedium, die Skulptur. Grob gesagt besteht 467 VÄ III 23. Hegels Ästhetikvorlesung bezieht die »Stufenfolge bestimmter Welt­ anschauungen« (VÄ I 103), d. h. symbolischer, klassischer und romantischer Kunst auf »die besonderen Künste« (ebd.), also die zunächst die bildenden Künste (Architektur, Skulptur, Malerei), dann die Musik als Tonkunst und die Poesie als Wortkunst. Insofern für Hegels Konzeption der Kunst generell gilt, dass Inhalt und Form grundsätzlich aufeinander bezogen sind (vgl. VÄ I 200; VÄ I 132), sind nun auch für Hegel die besonderen Künste an eine bestimmte Entwicklungsform der Weltanschauung gebunden: Architektur – symbolisch; Skulptur – klassisch; Malerei und Musik – romantisch; Poesie – sämtliche historischen Stufen. 468 »Wenn es daher außer der christlichen Malerei auch eine orientalische, griechische und römische gibt, so bleibt dennoch die Ausbildung, welche diese Kunst innerhalb der Grenzen des Romantischen gewonnen hat, ihr eigentlicher Mittelpunkt.« VÄ III 23.



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der Übergang zum Medium der Malerei dann darin, die Probleme eines statischen Substanzparadigmas durch ein dynamisches Relationsparadigma zu ersetzen. Zum anderen bedeutet diese Historizität aber auch, dass die Lösungen, die die Malerei bieten kann, keineswegs immer ihre Gültigkeit behalten. Im Sinne der geschilderten Kopplung von Form und Inhalt kann gefragt werden, inwiefern eine vielzitierte Krise der Malerei im 20. Jahrhundert mit der gleichzeitigen Krise der Subjektivität zu tun hat.469 Wie Gombrichs Hegelkritik (vgl. III.1) zugestanden werden kann, haben derartige Thesen weniger mit einer an Einzelwerken interessierten Kunstgeschichte als mit einer philosophisch grundierten Mediengeschichte zu tun. Hier liegt das eigentlich Interessante von Hegels Position. Auch bezüglich der diagrammatischen Konstruktion ließe sich vergleichbar argumentieren. Zwar scheint das Diagrammatische einerseits eine anthro­ pologische Konstante. Andererseits erhält es im neuzeitlichen Projekt einer konstruktiven Erschließung und Mathematisierung der Natur eine Schlüsselstellung.470 Dies gilt auch für die (Euklidische) Geometrie, die trotz ihrer viel längeren Geschichte erst in der Neuzeit als eine – auch anwendungsbezogene – Wissenschaft vom Raum verstanden wurde.471 Verstanden als Teil der Wende vom Substanz- zum Funktionsbegriff, löst das Diagrammatische zugleich das auf einer aristotelischen, propositionalen Logik beruhende Wissensmodell von Antike und Mittelalter ab. Und auch diese Rolle der diagram469 Versuche, spätere Kunsterscheinungen  – wie die Moderne Malerei nach Manet, sowie die abstrakte Malerei – in Fortsetzung von Hegels Narrativ zu verstehen, finden sich bei Pippin. Ein erster Versuch betrifft, die Idee abstrakter Malerei – in Abgrenzung zu Greenberg Hegelianisch zu lesen: »This would provide the context for seeing abstraction as self-conscious, conceptual; not, as with Greenberg, reductionist and materialist.« Pippin 2002, 23. Zu einer kritischen Haltung gegenüber einem solchen Versuch  – mit Hinweis auf die Bedeutung der figurativ-gestischen Funktion menschlicher Gestalten vgl. Houlgate 2000. Einen zweiten diesbezüglichen Versuch unternimmt Pippin in Pippin 2012: Die moderne Malerei, begonnen mit Manet, könne analog zur attischen Tragödie als Krisenphänomen und Phänomen des zunehmenden Scheiterns der grundlegenden normativen Inhalte der Moderne gesehen werden. Die These ist, dass »die moderne Malerei mittels ihrer besonderen Ästhetik der Intelligibilität das historische Schicksal gesellschaftlicher Subjektivität in der Moderne herausarbeitet«. Pippin 2012, 40; vgl. hierzu auch ebd. 50 ff. Beides setzt voraus, dass das substanzielle Interesse an der Kunst in der romantischen Kunstform nicht einfach verebbt, sondern ungelöste Widersprüche fortbestehen – eine These, die Pippin zufolge aus Hegels irriger Ansicht von der Moderne als versöhntem Zeitalter hervorgeht. 470 Vgl. etwa exemplarisch zur Bedeutung des Diagramms in der frühen Neuzeit Wöpking 2016, 136 ff. 471 Zum ersten Mal findet sich der Begriff ›Raum‹ in einem geometrischen Traktat im 16. Jahrhundert. Erst im 18. Jahrhundert setzt sich diese Auffassung durch. Diesen Hinweis verdanke ich Vincenzo de Risi.

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matischen Wissensform könnte im Zeitalter der Digitalisierung wieder in Frage gestellt sein.

5.1.2 Romantische Kunst als innerästhetisches Fortschrittsmodell

Durch Hegels Zuordnung der Malerei zur nachantiken, romantischen Kunstepoche ist ihr Status aber auch prekär. Dies hat mit Hegels Auffassung zu tun, dass das Ästhetische in der klassischen Kunst eine Art unwiederbringlichen Höhepunkt erreicht, der sich zugleich aus philosophischer Perspektive als insuffizient erweist: »In der klassischen Kunst ist der Begriff des Schönen realisiert; schöner kann nichts werden. Aber das Reich des Schönen selbst ist für sich noch unvollkommen, weil der freie Begriff nur sinnlich in ihm vorhanden [ist] und keine geistige Realität in sich selbst hat. Diese Unangemessenheit fordert vom Geist, sie aufzuheben und in sich selbst zu leben und in keinem Anderen seiner. Der Geist muß sich selbst zum Boden seines Daseins haben, sich eine intellektuelle Welt erschaffen.«472

Die klassische Kunst erreicht für Hegel also einerseits als Kunst ein Maximum, denn »schöner kann nichts werden«.473 Andererseits scheitert sie aus globaler Perspektive als Form des Wissens. Wie ist dieses Scheitern zu verstehen ? Die spezifische Schönheit der klassischen Kunst besteht in ihrer Fähigkeit, einen bestimmen Modus der Einheit von Geist und Sinnlichkeit hervorzubringen, den Hegel ›Ideal‹ nennt. Dieser besteht in der unmittelbaren und vollständigen Präsenz des Geistigen in der menschlichen Gestalt. Das Ideal ist das Charaktermodell eines selbstgenügsamen, heroischen Individuums474, das bestimmte Handlungsorientierungen unmittelbar verkörpert, von diesen vollkommen beherrscht und durchdrungen ist. Die Widersprüchlichkeit dieses Modells zeigt exem­ pla­risch die tragische Gestalt Antigones. Antigone entscheidet sich gegen das 472 VÄ Hotho 1823, 166, MS 179. Der Feststellung, dass die klassische Kunst den unwiederbringlichen Gipfel schöner Kunst darstellt, fügt Hegel hinzu: »Dennoch gibt es Höheres als die schöne Erscheinung des Geistes in seiner […] sinnlichen Gestalt.« (ebd.) 473 VÄ Hotho 1823 166, MS 179. 474 »Freedom as self-sufficiency is thus the paradigmatic aesthetic interpretation of freedom; it sees the self-relation as complete in itself, not requiring any mediation by another. Thus, art inherently seeks to display the meaning of freedom in the ›shape‹ of individuals – that is, as a project of striving for the ›beautiful,‹ art inherently seeks to show that freedom means to be this or that type of individual.« Pinkard 2007, 14.



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Verbot ihres Vaters Kreon zur Bestattung ihres verfemten Bruders. Hierfür wird sie schließlich zum Tode verurteilt. Grund für ihr Handeln ist, dass Antigone sich vollständig mit ihrer familiären Verpflichtung identifiziert und diese zu der einzigen absolut mit ihrer Persönlichkeit verknüpften Sache macht. In einer solchen »unmittelbare[n] Einheit […] von Substantiellem und Individualität der Neigung, der Triebe, des Wollens«475 repräsentiert Antigone einerseits das ästhetische Ideal eines Maximums an Schönheit. Dieses Ideal scheitert aber als Handlungsorientierung. Es ist nicht in der Lage, der Komplexität menschlicher Sozialität Rechnung zu tragen, in der es zum Konflikt von gleichermaßen berechtigten aber entgegengesetzten Ansprüchen (dem familiären und dem staatlichen Gesetz) kommen kann.476 Die vollständige und einseitige Verkörperung eines Prinzips führt dazu, dass Antigone nur starrsinnig in den Untergang laufen kann. Das ästhetische bzw. schöne Modell menschlicher Freiheit ist demnach kein adäquates Modell menschlicher Freiheit, weil es das Individuum überfordert und in einen unvermittelten Gegensatz zu seiner Umgebung bringt.477 Anders gesagt ist das Verkörperungsmodell der klassischen Antike begrenzt, totalitär und unfähig zu reflexiver Distanzierung. Diese Reflexivität gibt es erst mit der philosophischen Entdeckung des Prinzips der Subjektivität, das für Hegel »den Wendeund Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit« ausmacht.478 Die Ursprünge der Reflexivität und Innerlichkeit liegen für ihn bereits im Stoizismus, spezifischer in der Erfahrung des stoischen Sklaven, 475 VÄ I 244. Vgl. dazu auch: »Heroen … sind Individuen, welche aus der Selbständigkeit ihres Charakters und ihrer Willkür heraus das Ganze einer Handlung auf sich nehmen und vollbringen und bei denen es daher als individuelle Gesinnung erscheint, wenn sie das ausführen, was das Rechte und Sittliche ist.« Ebd. 476 Vgl. Hierzu etwa die ausführliche Diskussion bei Peters 2015. 477 »Only classical art, Hegel argues, achieves and even can achieve the ›ideal,‹ which is to say that only classical art achieves a purely aesthetic representation of what it would mean to be free. However, this very achievement of classical art also proves to be its fundamental limitation, since a purely aesthetic presentation of freedom must inherently fail to be an adequate exhibition of the meaning of freedom.« Pinkard 2007, 14. 478 GPR, § 124, 120. Die ganze Stelle lautet: »Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. Dies Recht in seiner Unendlichkeit ist im Christentum ausgesprochen und zum allgemeinen wirklichen Prinzip einer neuen Form der Welt gemacht worden. Zu dessen nähern Gestaltungen gehören die Liebe, das Romantische, der Zweck der ewigen Seligkeit des Individuums usf., alsdann die Moralität und das Gewissen, ferner die andern Formen, die teils im folgenden als Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und als Momente der politischen Verfassung sich hervortun werden, teils aber überhaupt in der Geschichte der Kunst, der Wissenschaften und der Philosophie auftreten.« Ebd.

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der sich trotz seiner realen Gefangenschaft als innerlich freies Wesen weiß.479 Diese Entdeckung lebt in der christlich-mittelalterlichen und später der neuzeitlichen-cartesianischen Subjektivitätsauffassung fort.480 Als post-klassische und noch-ästhetische Wissensform steht die romantische Kunst nun gewissermaßen zwischen zwei Stühlen. Die klassische Kunst stellt den Gipfelpunkt des Ästhetischen im Sinne des Schönen dar; dieses Ästhetische erweist sich wiederum als insuffizient, insofern der Geist sich auch daraus zurückziehen und in seinem Unterschied zum Sinnlichen reflektieren soll. Die entscheidende Frage für das Verständnis der romantischen Malerei lautet daher: Sind die Probleme des klassischen Paradigmas nur ästhetikextern oder auch ästhetikintern zu lösen ? Der ersten Auffassung nach scheitert mit der klassischen Kunst auch die Kunst überhaupt, deren Funktion vollständig durch (Offenbarungs-)Religion und Philosophie ersetzt wird. Dieser Auffassung zufolge verträte Hegel mit Blick auf die Kunst einen Klassizismus, mit Blick auf das Wissen einen epistemischen Ikonoklasmus und Logozentrismus.481 Die Kunst der romantischen Epoche wäre entsprechend nur eine Art Auslaufmodell, in der das Obsolet-Werden der Kunst zeitverzögert auftritt.482 479

Vgl. PhG 157. Das reflexive Denken ist »characteristic of both Christian thought and its Enlightenment rebuff«. Rutter 2010, 65. 481 Anhaltspunkte für diese verbreitete Lesart sind Hegels Typologie von Formen des absoluten Geistes, die das unmittelbare und sinnliche Wissen der Kunst durch das vorstellende Wissen der Religion im »systematische[n] Denken« der Philosophie als »reinste[r] Form des Wissens« (VÄ I 143) kulminieren. Oder Hegels Rede von der »ungeheure[n] Macht des Negativen«, die die Überlegenheit des Verstands und seiner »Tätigkeit des Scheidens« gegenüber der Harmonie und dem Ganzheitscharakter schöner Kunst geltend macht: »Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag.« PhG 36. 482 Zum Ende der Kunst: »Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft.« VÄ I 141. »Bei fortgehender Bildung tritt überhaupt bei jedem Volke eine Zeit ein, in welcher die Kunst über sich selbst hinausweist.« VÄ I 142. In Einklang damit stehen die Momente von Negativität in der romantischen Kunst. In der Darstellung von Schmerz im Leiden Christi und der Märtyrer ist die Malerei nicht mehr im klassischen Sinne ›schön‹, sondern offenbart eine geradezu ikonoklastische Tendenz. Darin zeigt sich die Unangemessenheit der Sinnlichkeit für den Geist; es sind Modelle von Verkörperung, die sich in gewissem Sinne selbst durchstreichen. Ihr Fortschritt läge in der Befreiung vom Ästhetischen und Irdischen. Das Gegenstück hierzu bildet die niederländische bürgerliche Genremalerei als ›Kunst des Scheins‹ oder ›Kunst der Banalität‹ (Rutter). In der Genremalerei werden die banalsten, alltäglichsten Dinge dargestellt, an denen der menschliche Geist eigentlich kein Interesse mehr haben kann. In der christlichen und neuzeitlichen Malerei finden sich also mit Hegel also zwei Momente einer grundlegenden Negation der Ziele klassischer Kunst: die ikonoklastische Negation einer schönen bzw. ästhetischen Darstellung im Zeigen geschundener 480



Bildlogik und Medialität

Sind die Mängel des klassischen Verkörperungsparadigmas – die unmittelbare Verschmelzung des Geistes mit dem Sinnlichen – also nur durch eine Philosophie überwindbar, die das Sinnliche vollständig unter Begriffe subsumiert ? Hiergegen soll argumentiert werden, dass die romantische Malerei als ästhetikinterne Weiterentwicklung des klassischen Paradigmas verstanden werden kann.483 Damit steht sie für einen dritten Weg zwischen klassischem Ideal und philosophischem Begriff, d. h. nochmal für ein anderes Verhältnis von Sinnlichem und Intellektuellem. Hierfür muss zwischen einem klassischen und einem romantischen Paradigma der Leiblichkeit und des Wissens unterschieden werden.484 Die romantische Kunst, und spezifisch die Malerei, entwickelt ihrerseits ein Leiblichkeitsmodell, allerdings eines, das nicht am Konzept von Verschmelzung und Substanzialität, sondern an Reflexivität und Subjektivität ausgerichtet ist. Insofern bestimmt Hegel als entscheidendes Moment der romantischen Kunstform »das in den Inhalt und die künstlerische Darstellungsweise hineinbrechende Prinzip der Subjektivi­ tät«.485 Sie ist eine Ästhetik der Subjektivität.486 In diesem innerästhetischen Paradigmenwechsel wird ein neuer Maßstab an das ästhetische Wissen entscheidend: Das klassische Modell ist zwar Körper; und die Negation allgemeinverbindlicher Inhalte im Zeigen des Banalen. vgl. zu einer solchen Lektüre von Hegel als Klassizist auch etwa Donougho, Martin (2007): »Art and History: Hegel on the End, the Beginning, and the Future of Art«, in: Stephen Houlgate (Hg.): Hegel and the Arts. Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 179–215, 180 u. 191; Gaiger 2011, 187; Peters 2015, 2 ff. 483 Vgl. Peters: »Because of its inherent tension, the classical conception ultimately must be abandoned as an artistic paradigm and as a normative ideal more generally. […] In this sense, post-classical developments in art can be understood as rational, as guided by reason: they embody attempts at reacting appropriately to the deficiencies of classical beauty.« Peters 2015, 11. Vgl. auch Pippin 41 f. 484 Wie dies Collenberg an den Vorlesungsnachschriften zeigt, muss zwischen zwei Bedeutungen des Ideals unterschieden werden: Die allgemein-systematische Bedeutung von ›Ideal‹ als ›Wahrheit in sinnlicher Gestalt‹ bzw. verkörperter Bedeutung muss abgetrennt werden von der historisch-spezifischen Bedeutung von Ideal als Harmonie und vollständige ›Ineinsbildung‹ von Geist und Sinnlichkeit in der klassischen Kunst. Diese Trennung werde eigentlich nur aufgrund der Vorlesungsnachschriften deutlich. In der Hotho’schen Edition sei sie – aufgrund von Hothos Neigung zum Klassizismus – eingeebnet. Siehe Collenberg 2005, 248. 485 VÄ III 11. Subjektivität definiert Hegel als »Begriff des ideell für sich selbst seienden, aus der Äußerlichkeit sich in das innere Dasein zurückziehenden Geistes, der daher mit seiner Leiblichkeit nicht mehr zu einer trennungslosen Einheit zusammengeht.« Ebd. Hegel nennt dies auch das »Prinzip der Innerlichkeit als solcher«. VÄ III 23. 486 »Indem so die Kunst die subjective Individualität in sich enthält, so muß dies Prinzip auch der Anfang, die Seele einer andern Weise der Kunst werden, und diese ist die Malerei, die wir nach der Skulptur zu betrachten haben.« VÄ Ascheberg 1820/21, 240, MS 185.

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›schöner‹, aber das romantische Modell ist ›anthropomorpher‹.487 Die klassische Kunst scheitert, weil sie »nicht anthropomorphistisch genug ist«.488 Sie verfehlt (gerade, weil sie maximal ›ästhetisch‹ ist) das Ziel, das die Kunst für Hegel eigentlich hatte: Selbsterkenntnis des Menschen zu sein.489 Und während in der romantischen Kunst das Ästhetische im Sinne der Schönheit in eine Krise gerät, erzeugt sie zugleich ein angemesseneres (nämlich anthropomorpheres) ästhetisches Wissen des Menschen von sich selbst. Dieses neue ästhetische Selbstbewusstsein des Menschen lässt sich auf folgende Stichworte bringen: Differenzbewusstsein, Relationalität, Lebendigkeit, individuelles Leben und Intersubjektivität. Die romantische Entdeckung der Innerlichkeit impliziert nicht allein den Rückzug aus dem Äußerlichen. Ebenso wichtig ist (und dies scheint für Hegel eine anthropomorphe Qualität zu sein), dass sie ein »Bewußtsein des Gegensatzes« erzeugt.490 Das Durchdringungs- und Verschmelzungsparadigma klassischer Kunst war in dieser Hinsicht »mangelhaft« und geradezu naiv. Erst in dem vom Thema der Subjektivität geprägten Referenzrahmen von Christentum und neuzeitlicher Philosophie vertieft sich das Problembewusstsein. Es »entstehen zwei Reiche, die innere geistige Welt für sich, auf der anderen Seite die natürliche äußerliche Welt«, wobei Hegel entscheidend hinzufügt: »und es kommt dann [auf] das Verhältnis der beiden zueinander an.«491 In diesem Sinne spricht Hegel auch vom modernen Menschen als »Amphibie«, die »in zwei Welten zu leben hat, die sich widersprechen«.492 Gegenüber der

487 Bereits die klassische Kunst ist anthropomorphischer als die symbolische, weil sie den menschlichen Leib als Gestalt des Geistigen entdeckt. 488 VÄ Pfordten 1826, 146, MS 44. 489 Dementgegen ist mit Donougho darauf hinzuweisen: »the classical ’norm,‹ in both form and content, is not to be taken as normative for Hegel: the ›Ideal‹ is not his ideal.‹« Donougho 2007, 180. 490 »[D]ie klassische Kunst ist ›noch mangelhaft, weil diese Darstellung nicht anthropomorphistisch genug ist. Denn die Natur des Geists ist … die stete Bewegung, den Gegensatz, die Wirklichkeit sich anzupassen. In diese Bewegung fällt der Schmerz, das Bewußtsein des Gegensatzes.« Ascheberg 1920/21, 146, MS 101. vgl. auch: »Aber man kann gerade sagen: Die griechische Religion sei nicht für die Religion anthropomorphistisch genug, denn in der christlichen Religion ist der Gott ein ganz unmittelbar Einzelnes in allen Bedingungen des Daseins, kein bloßes Ideal. […] Bei den Griechen ist die Sinnlichkeit nicht gestorben und getötet, sondern ist geblieben, denn sie sind nicht bis zur freien Geistigkeit fortgegangen, haben den Gegensatz nicht bis zur Tiefe fortgetrieben und ausgesöhnt.« VÄ Hotho 1823, 158, MS 145. 491 VÄ Pfordten 1826, 157, MS 49. 492 VÄ I 80 f. Diesen Begriff des Amphibischen stellt Pippin ins Zentrum seiner Lesart der romantischen Malerei, vgl. Pippin 2012.



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»substantiellen, objektiven Einheit«493 der klassischen Antike ist der moderne Geist vom Differenzbewusstsein, d. h. vom Gefühl des Schmerzes geprägt: Geist und Seele empfinden einen Widerspruch zur äußeren Natur und zum eigenen Leib; das Individuum gerät in Differenz zur Welt gesellschaftlicher Normen und Institutionen.494 Die zentrale Aufgabe der romantischen Kunst ist es, dass »alle diese bisher in eins verschmolzenen Momente … nun auch in dieser Freiheit selbst von der Kunst herauszuarbeiten sind.«495 Dies leistet die Malerei, wie gezeigt werden soll, als relationale Kunst, als Kunst des InBeziehung-Setzens. An die Stelle des identitätslogisch konstruierten klassischen Ideals tritt ein neues Konzept der Verkörperung, das diesem differenzlogischen Modell folgt: Die »Form der Malerei« ist »eigentlich die Form der Lebendigkeit.«496 Diese Lebendigkeit ist Korrelat des Differenzbewusstseins im Sinne einer »in sich bewegten, lebendigen Einheit des Differenten«.497 Der komplexere Inhalt nachantiker Subjektivität kann nicht mehr einfach in einem Individuum substanziell verkörpert und vollständig ausgedrückt werden. Damit ist das Romantische, mit Hilmer gesprochen, aber zugleich »so etwas wie ein Heilschmerz der Enthysterisierung des Körpers«, der sich gegen den »Ausdruckszwang des Klassischen« richtet.498 Ersetzt wird dieser durch ein reflektiertes Verhältnis zur Leiblichkeit, in Form einer »Selbstüberschreitung des Leiblichen im empfindungsmäßig erweiterten Medium ebendieser Leiblichkeit«.499 Entsprechend wird ein neuer ästhetischer Modus relevant: Lebendige Subjektivität manifestiert sich nicht unmittelbar im Äußerlichen, sondern im reflexiven Modus einer Beseelung dieses Äußerlichen.500 Im Sinne der Freisetzung des Differenten wird nun auch das Äußerliche nicht mehr von statischen Idealtypen überformt, sondern in seiner Individualität und Partikularität freigesetzt. So wird die Frage des individuellen, parti-

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VÄ III 11. Zum einen steht »die in sich zurückgetretene Geistigkeit […] dem Äußeren überhaupt, der Natur, sowie der eigenen Leiblichkeit des Inneren [/] gegenüber«. VÄ III 11 f. Zugleich trennt sich das »Substanzielle und Objektive des Geistes … von der lebendigen subjektiven Einzelheit als solcher«. VÄ III 12. 495 VÄ III 12. 496 VÄ Ascheberg 1821/22, 248, MS 193. 497 Collenberg 1992, 160. 498 Hilmer 2005, 65. 499 Ebd. 500 »Die Idee, weil sie im Felde der Besonderheit erscheint, verbirgt so den ihr allgemein adäquaten Inhalt; aber in der Lebendigkeit stellt sie sich als Seele dar.« VÄ Ascheberg 1820/21, 248, MS 193. 494

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kulären und geschichtlichen Lebens auf die Tagesordnung gestellt. Gegenüber den idealisierten Götter- und Heroengestalten der klassischen Kunst (und den Naturformen der symbolischen) wird nun die individuelle Subjektivität zum Gegenstand der Kunst. Es ist »das wirkliche, einzelne Subjekt in seiner inneren Lebendigkeit […], das unendlichen Wert erhält«501 In der Malerei »bricht sich das Prinzip der endlichen und in sich unendlichen Subjektivität, das Prinzip unseres eigenen Daseins und Lebens, zum ersten Mal Bahn, und wir sehen in ihren Gebilden das, was in uns selber wirkt und tätig ist.«502 Hiermit begründet Hegel den bereits erwähnten anthropomorpheren Charakter der romantischen Kunst, wie er exemplarisch im Menschwerdungsparadigma des Christentums zum Ausdruck kommt. In diesem Kontext entsteht aber auch ein neues Problembewusstsein für intersubjektive soziale Beziehungen.503 Denn ›Subjekt‹ ist für Hegel gerade nicht etwas Selbstgenügsames (wie das klassische Ideal), sondern etwas, das ›sein Sein in einem Anderen hat‹. Ein entscheidendes Moment romantischer Ästhetik ist für Hegel daher – neben dem Schmerz als Gefühl der Trennung – das Gefühl der Liebe als wesentlich soziales Gefühl. Mit der romantischen Kunst entsteht die Frage einer leiblichen Intersubjektivität und wird zum Thema wie auch zum medialen Prinzip ästhetischen Wissens. Hegels Auffassung der romantischen Kunst (und spezifisch der Malerei, wie wir sehen werden) verbindet also zwei Topoi, die bereits in Kapitel III nebeneinander auftraten und schon dort in einem gewissen Spannungsverhältnis standen – der Topos der Subjektivität und der Topos des Anthropomorphen bzw. der Anthropologie. Der von Kants Kritik der Urteilskraft übernommene Ausgangspunkt von Hegels Ästhetik ist, wie oben gezeigt, die Lücke zwischen Naturbegriff und Freiheitsbegriff, der Gegensatz von Sinnlichkeit und Geist und das Problem seiner Versöhnung (vgl. Kapitel III.4.1).504 Wenn Hegel aber feststellt, dass erst die romantische Epoche der Subjektivität das Bewusstsein für das Auseinanderfallen ›zweier Reiche‹ hat und nach 501

VÄ II 131. VÄ III 17. 503 »Das göttliche Bild gehört selbst zur Gemeinde, steht auf der Seite derselben, ist selbst Mensch.« VÄ Hotho 1823, 207, MS 192. Zur Intersubjektivität als neuem Thema romantischer Kunst gegenüber der klassischen Schönheit und der Liebe als spezifischer Form dieser Intersubjektivität vgl. Hilmer 1997, 202, sowie, darauf bezugnehmend, Peters 2015, 116. 504 Diese Gegensätze sind allerdings nicht erst Produkte der kantischen Philosophie und ihrer Vorläufer, sondern haben »von jeher in mannigfacher Form das menschliche Bewußtsein beschäftigt und beunruhigt«, obwohl sie erst »am schärfsten durch die neuere Bildung erst ausgeführt und auf die Spitze des härtesten Widerspruchs hinaufgetrieben sind.« VÄ I 80. 502



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deren ›Verhältnis‹ fragt505, kann dies als Hinweis darauf gelesen werden, dass gerade die romantische Kunst hier eine systematische Rolle spielen kann. Das ›amphibische Problem‹ als Bewusstsein, in zwei Welten leben zu müssen, das mit Pippin als zentrales Problem eines ästhetischen Wissens von Kunst und Malerei identifiziert werden kann, ergibt sich explizit erst im Rahmen einer Epoche der Subjektivität.506 Insofern scheint auch die romantische Kunst eher geeignet, diese Probleme explizit in den Blick zu nehmen, als die klassische Kunst, die vor dem Bewusstsein dieses Gegensatzes agiert. In ihr kommt es zu einer gegensatzlosen Verschmelzung von Geist und Sinnlichkeit im substanzhaft aufgefassten Individuum. Erst ihr Scheitern trägt zur Erzeugung solchen Differenzbewusstseins bei. Und erst dann stehen jene verkörperungstheoretischen Fragen auf der Tagesordnung, die in Kapitel III.3 diskutiert wurden. Erst dann, so scheint es, ergibt es überhaupt Sinn, einen metaphysischen und einen verkörperungstheoretischen Umgang mit diesem ›Bewusstsein des Gegensatzes‹ zu unterscheiden: eine kantische Metaphysik der Subjektivität, im Sinne des »Bewußtsein[s]« der »absoluten Innerlichkeit«, die »schlechthin sich weigert, etwas, das den Charakter einer Äußerlichkeit hat, in sich gewähren und gelten zu lassen.«507 Oder eine Ästhetik der Subjektivität, wie sie die romantische Kunst impliziert und in der es angesichts der »zwei Reiche« von Geist und Natur nun »[auf] das Verhältnis der beiden zueinander an[kommt]«.508 Dass in diesem Kontext der Topos des Anthropomorphen und Anthropologischen wichtig wird, erklärt wiederum die Nähe, ja Koinzidenz zwischen Hegels Überlegungen zur Malerei und seinen anthropologischen Überlegungen zur menschlichen Leiblichkeit (etwa in der Thematisierung von Einfühlung, Haut oder Blick). Auch dies legt nahe, die Malereitheorie systematisch zu lesen, nämlich als eine Art der Bildanthropologie, deren Grundthese die 505

VÄ Pfordten 1826, 157, MS 49 Vgl. Pippin 2012, 74. 507 EpW I, § 60, 146. 508 VÄ Pfordten 1826, 157, MS 49. Vgl. zu dieser These auch Rutter: »The failure of sculpture, and the promise of painting, concerns the fundamental observation, present in both Kant and Fichte, that self-awareness requires for its possibility a relationship to something outside of it.« Rutter 2010, 69. Pippin 2002 sieht die repräsentative Malerei noch um eine dezidiert vorkantische Problematik kreisen: »[R]epresentational art cannot adequately express the full subjectivity of experience, the wholly self-legislating, self-authorizing status of the norms that constitute such subjectivity, or thus cannot adequately express who we (now) are.« Pippin 2002, 19. Die abstrakt-philosophische Lösung dieser Fragen bei Kant soll dann einen Ausgangspunkt für die Rolle abstrakter Malerei in der Moderne bieten, weil diese Fragen nicht mehr im Sinne von körperlicher und visueller Intelligibilität adressiert werden müssen. In Kunst als Philosophie, wo er das ›amphibische Problem‹ als spezifisch modernes und zugleich das Problem figurativer Malerei identifiziert, scheint er diese Auffassung in gewissem Maße zu revidieren. 506

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Verbindung zwischen unserer sozialen Beziehung zu anderen Menschen und unserer ästhetischen Beziehung zu Bildern ist. Den Grund für die Verschränkung der subjekttheoretischen mit der anthropologischen Problematik könnte man darin sehen, dass in einer Epoche der Subjektivität das Konzept individuellen menschlichen Lebens in besonderer Weise auf die Tagesordnung gestellt wird; dies gilt für das Christentum (mit dem Konzept der ›Menschwerdung‹), die italienische Renaissance und den niederländischen Frühkapitalismus. Der Fokus auf das lebendige, individuelle Menschsein koinzidiert also mit der historischen Einordnung der Malerei in die nachantike Epoche der Subjektivität. Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich die leitende These, dass spezifisch die Malerei das Medium für jene Ästhetik der Subjektivität bildet, die als Desiderat einer hegelschen Verkörperungstheorie in Kapitel III.3 rekonstruiert wurde.509 Allerdings gibt es für Hegel zwei Einschränkungen, die den Charakter der romantischen Kunst als Wissensform betreffen. Zum einen ist die Kunst im romantischen Zeitalter nicht mehr die einzige Form oder das einzige Medium, um Handlungsorientierungen und Selbstverständnisse des Menschen herauszuarbeiten. Als symbolische und als klassische Kunst (in ihrer »höchsten Vollendung«510) ist die ästhetische Wissensform eine mythopoetische Tätigkeit, die auf die ›großen Fragen der Menschheit‹ eine anschaulich-bildliche Antwort gibt.511 Zu diesem Modell kann die Moderne nicht zurückkehren. Während die griechischen Künstler das, »was in ihnen gärte, nur in dieser Form der Kunst und Poesie herauszuarbeiten vermochten«, hat die romantische Kunst hier »einen beschränkteren Spielraum«.512 Dies zeigt ihre teilweise thematische Bindung an die Inhalte der christlichen Offenbarung,513 509 Auf die Frage, welche Kunstgattung in Hegels Ästhetik die wichtigste, höchste oder interessanteste ist, sind verschiedene Antworten möglich. So gilt die klassische Skulptur als Höhepunkt ästhetischer Durchdringung, die Poesie als Gattung mit einem Maximum expressiver Möglichkeiten. Peters sieht mit Blick auf den Handlungscharakter des Ideals »the most likely candidate« im Drama. Peters 2015, 71. Zur Rolle der Tragödie als Ort ästhetischer Negativität vgl. Ebd. 75 ff. sowie die Arbeiten von Christoph Menke. Hier wird – in gewissem Anschluss an Pippin – eine besondere systematische Rolle der Malerei in den Vordergrund gerückt werden, was mit ihren thematischen Beziehungen zur Anthropologie (›sich-zu-fühlen-geben‹) und der Expressivität des Kunstwerks (›Haut und Auge‹) begründet wird. 510 VÄ I 141. 511 Es handelt sich bei dieser Leistung um die Schöpfung eines Weltbildes, um »[d]ie Fragen nach dem Woher, Wohin, und Worum der Welt und der Menschheit«. VÄ Hotho 1823, 183, MS 169. 512 VÄ I 141. 513 »So haben z. B. die historischen Elemente des Christentums, Christi Erscheinen, sein Leben und Sterben, der Kunst als Malerei vornehmlich mannigfaltige Gelegenheit



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aber auch die teilweise völlige Emanzipation von den in Hegels Ästhetik intendierten Inhalten. Die Kunst ist hier nicht mehr Kunstreligion, also einzige Form des Orientierungswissens, sondern wird zu einer Wissensform neben anderen.514 Dies bedeutet, wie etwa Gethmann-Siefert hervorhebt, zunächst noch nicht ihre Überflüssigkeit in der christlichen und modernen Kultur, allerdings eine eingeschränkte Wirksamkeit. Die Rolle der Kunst als Orientierungsstifter wandelt sich, sie ist nicht mehr affirmativ und identifikatorisch, sondern reflexiv zu verstehen.515 Eine zweite Einschränkung ist, dass der absolute Inhalt in der romantischen Epoche nicht mehr vollständig von der Kunst herausgearbeitet werden kann. Durch die Entdeckung der Innerlichkeit und einer intellektuellen Welt weist das Geistige über eine bestimmte Art sinnlich-exemplarischer Verkörperung oder anschaulicher Darstellbarkeit hinaus.516 Dies bedeutet wiederum nicht, dass die spezifischen Darstellungspotenziale der Kunst vollständig obsolet würden. Wie in Kapitel III.3 erörtert, bleibt eine derartige Innerlichkeit für Hegel insuffizient, wenn sie nicht zugleich in der Wirklichkeit entäußerte.517 Hierdurch »gewinnt« diese Form des Absoluten »eine Seite, nach welcher es auch für die Kunst erfaßbar und darstellbar wird.«518 Die Kunst sich auszubilden gegeben, und die Kirche selbst hat die Kunst großgezogen oder gewähren lassen«. VÄ I 142. 514 »Wenn die Kunstwerke aber nicht mehr in der Lage sind, durch die Anschauung des Göttlichen eine solche Gesamtorientierung zu vermitteln, dann muss man von einer eingeschränkten Bedeutung der Kunst, von ihrer ›Partialität‹ ausgehen.« Gethmann-Siefert 2005, 276. 515 In ihrem historischen Kontext stellt die klassisch-griechische Kunst für Hegel die alleinige Form eines Orientierungswissens dar. Diese vollumfängliche Einzelstellung geht in der Nachantike verloren, wie Gethmann-Siefert formuliert: »Die unmittelbare affirmative Identifikation mit dem Kunstwerk und seinem Inhalt wird zu einer reflektierten, bis hin zur ironisch-kritischen Beziehung zur Kunst erweitert. Diese Beziehung erlaubt nur eine partielle Identifikation von Rezipient und Kunstwerk, und sie beruht auf einer eingeschränkten geschichtlich-kulturellen Bedeutung der Kunst.« Ebd. 275 516 Vgl. »Bei fortgehender Bildung tritt überhaupt bei jedem Volke eine Zeit ein, in welcher die Kunst über sich selbst hinausweist.« VÄ I 142. 517 »Die absolute Subjektivität als solche jedoch würde der Kunst entfliehen und nur dem Denken zugänglich sein, wenn sie nicht, um wirkliche, ihrem Begriff gemäße Subjektivität zu sein, auch in das äußere Dasein hereinträte und aus dieser Realität sich in sich zusammennähme.« VÄ II 130. Der Gegensatz von Kants formalistisch-metaphysischer und Hegels expressiver Freiheitskonzeption wurde an den medialen Registern festgemacht: Galt für Kant, dass sich der Mensch, als freies Wesen nur denken, nicht aber anschauen und empfinden kann; so galt für Hegel, dass das Selbstbewusstsein des Menschen gerade den Weg durch die Verwirklichung, d. h. durch das Medium anschaulichen Daseins, nehmen muss. 518 Ebd.

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ist hier also nicht mehr eine verkörperte Form der Philosophie (oder Religion) überhaupt, sondern hat es spezifisch mit Fragen der Außenseite, der Externalisierung und Verkörperung des Geistes zu tun. Das heißt, dass ihr spezifisches epistemisches Potenzial in der Reflexion dieser Externalisierungs- und Verkörperungsbedingungen liegt. Der potentiellen Trennbarkeit von Geist und Sinnlichkeit entspricht der Status der romantischen Kunst als (in weiten Teilen) nichtschöne Kunst, die nicht die unmittelbare Synthese, sondern ein konfliktreiches Spannungsverhältnis von Geist und Sinnlichkeit verhandelt.519 Dies bedeutet zugleich ein komplexeres Verständnis von Leiblichkeit. Das Wissen der Malerei kann somit auf die Formel eines verkörperten Wissens über Verkörperung gebracht werden oder auch als ein Wissen über die Rolle der Leiblichkeit für individuelle und kollektive Subjektivität. Damit kann es als Antwort auf eine Metaphysik der Subjektivität begriffen werden, die diese Leiblichkeit ignoriert. Wie die Malerei für Hegel ein bestimmtes Wissen über verkörperte Subjektivität und Intersubjektivität herausarbeitet, soll nun im Folgenden an verschiedenen medialen Parametern bzw. Dimensionen ikonischer Differenz gezeigt werden. Entsprechend dem romantischen Paradigma eines Freiwerdens der Gegensätze kann die Malerei hierbei zunächst als eine Kunst der Relation, d. h. des In-Beziehung-Setzens rekonstruiert werden. Die Wende zur romantischen Malerei kann interessanterweise, wie die Wende zu Eigenlogik von Raum und Diagramm bei Kant, als die von einem Substanzparadigma zu einem Relationsparadigma rekonstruiert werden. Tritt bei Kant an die Stelle des Substanzmodells der aristotelischen Logik eine Logik der operativen und relationalen Diagramme, so tritt bei Hegel an die Stelle des Substanzmodells der klassischen Skulptur eine Theorie der performativen und relationalen figurativen Gemälde.

5.2  Die Differenz von Figur und Grund: Relationalität und Performativität

In der Folge sollen erneut drei Dimensionen ikonischer Differenz betrachtet werden. Auch bei Hegel ist dies erstens die Differenz von Figur und Grund, die zusammengefasst wie folgt rekonstruiert wird: Basis der Figur-Grund-Differenz ist für Hegel eine Dualität von zwei Prinzipien: Das figurative Prinzip der Skulptur und das rahmend-umschließende Prinzip der Architektur kommen in der Malerei durch Verflachung und Kadrierung auf einer zweidimen519 Mit der Ausnahme einer neuen Art der Harmonie, die nun aber intersubjektiv als ›Liebe‹ gedacht wird.



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sionalen Ebene zusammen. Ihre Wurzeln liegen in dem bereits in Kapitel III.3 betrachteten ausgezeichneten Status der menschlichen Gestalt, die sich als Bedeutungsträger phänomenal von ihrer Umwelt abhebt. Das Figur-GrundVerhältnis erscheint somit nicht wie im geometrischen Diagramm als Verhältnis quantitativer Raumgrößen, sondern orientiert sich an einem phänomenalen und praktischen Mensch-Umwelt-Verhältnis. An die Stelle von Kants Verknüpfung von Relationalität und Operativität geometrischer Figuren tritt hierbei die Verknüpfung von Relationalität mit der Performativität menschlicher Figuren (III.5.2.1). Zunächst wird betrachtet, wie Hegel die Relationalität des Bildmediums der Malerei auffasst. Wie in Kants Geometrietheorie ist auch für Hegels Malereitheorie die Wende vom Substanzbegriff zum Relationsbegriff mit den Eigenschaften eines flächigen Bildmediums verknüpft. Während das Substanzmodell der klassischen Skulptur menschliche Figuren als Träger von Eigenschaften und statisch-eigenständige Idealtypen inszeniert, erlaubt das Relationsmodell der flächigen Malerei die Entfaltung von Handlungen in Figurenkonstellationen und deren Bezogenheit auf geschichtliche Handlungsräume (III.5.2.2). Das Gegenstück zur Operativität des Diagramms bei Kant ist bei Hegel die Performativität des Mediums Malerei. Die intensivierte Relation zum Betrachter resultiert nicht nur aus der Perspektivität der Darstellung, sondern auch aus der Lebendigkeit als Prinzip malerischer Figuration. Während die Skulptur uns ›kalt lässt‹, erlaubt die Farbigkeit der Malerei – über die Darstellung empfindlicher Haut – die Inkarnation quasilebendiger Individuen, zu denen sich eine Einfühlungsbeziehung herstellt. Mit der Herstellung von Blickbeziehungen realisiert die Malerei zudem ein quasi-soziales Interaktionsverhältnis. In vier Abschlussüberlegungen wird skizziert, in welche Richtungen eine hegelsche Theorie der Bildperformanz weiterzuentwickeln wäre (III.5.2.3).

5.2.1 Zwei Prinzipien: expressive Figuren und rahmende Kontexte

Während die Bildlogik bei Kant aus verschiedenen Aussagen zur Geometrieund Raumtheorie als implizite Theorie zusammengesucht werden musste, hat Hegel eine explizite Theorie der Medienspezifik der Malerei und ihrer Bildlichkeit.520 Im Zentrum steht für Hegel hierbei – neben der Farbe – das 520

Interessant ist hierbei, dass die anderen beiden Dimensionen ikonischer Differenz, die im Folgenden noch diskutiert werden sollen (die Differenz von allgemeinem Inhalt und partikulärer Form und die Differenz von Form und Materie), als solche auch in Hegels Wissenschaft der Logik reflektiert werden. Demgegenüber kommt die Differenz von Figur und Grund dort nicht vor, sie scheint somit spezifisch der Ästhetik anzugehören.

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mit der »Verflächung«521 intrikat verbundene »Verhältnis« von »Figur« und »Hintergrund« als wesentliches Merkmal der Malerei. In der Edition Hothos, die einen Großteil der Rezeption dominiert hat, finden sich diese Begriffe nur der Sache nach, in Hothos Nachschrift von 1823 hingegen explizit: »Diese Subjektivität [als Prinzip der Malerei, MB] ist […] das Zusammenfassen der beiden Seiten, welche der Skulptur einerseits, der Architektur andererseits zufällt. Deshalb haben wir in der Malerei [die] Figur und deren Hintergrund. Die unorganische Natur umschließt hier die Figur oder wird für sich behandelt. In diesem Verhältnis liegt die nähere Bestimmung des Begriffs der Malerei.«522

Das Figur-Grund-Verhältnis der Malerei ergibt sich für Hegel also zunächst daraus, dass die Malerei als Synthese von Grundprinzipien zweier anderer Kunstformen begriffen werden kann: der Skulptur mit ihrem figurativen Prinzip und der Architektur, die in umschließender, rahmender Funktion auftritt. Durch Verflachung und Kadrierung kommen diese Prinzipien in der Malerei auf der zweidimensionalen Ebene zusammen. Allerdings hat das Verhältnis dieser beiden Prinzipien für Hegel auch eine Art Vorgeschichte im dreidimensionalen Raum. In der klassischen Kunst realisiert es sich im Zusammenspiel von Skulptur und Architektur. Die klassische Skulptur hat als ihr figürliches Prinzip die »sinnliche Gestalt des Menschen« und ist daher »an ihr selbst bedeutsam«.523 Dabei »bedarf« sie allerdings »eines Hintergrun­ des«: Sie hat »den Tempel zur Umhüllung, und die Wand zum Hintergrunde«.524 Die Architektur hat hier die Aufgabe, »das umschließende Gehäuse des Subjekts zu sein, Umgebung des individuellen Ideals«.525 Die noch frühere, symbolische Kunstepoche kennt das Verhältnis zwischen selbständiger und umschließender Architektur. In einzeln aufgestellten Säulen, Obelisken etc. erhält die Architektur eine skulpturale Qualität526, ist selbstzweckhaft und »symbolisch«.527 Aber auch bei solchen Objekten ergibt sich ein »Bedürfnis«, »das alles zu umschließen, geschlossene Bezirke zu machen«, also einzurah521 VÄ Ascheberg 1820/21, 243, MS 188. Die »räumliche Totalität […] wird verlassen, eine Seite an ihr wird getilgt, und in Beziehung auf den Raum behält die Malerei nur eine Abstraktion des Raums, die Fläche. […] Die räumliche Totalität verflächt sich.« VÄ Hotho 1823, 250, MS 233. 522 VÄ Hotho 1823, 248, MS 232. 523 VÄ Hotho 1823, 157, MS 144. 524 VÄ Ascheberg 1820/21, 233, MS 178. 525 VÄ Kehler 1826, 157, MS 293. 526 VÄ Hotho 1823, 207, MS 192. 527 Ebd. 210, MS. 195. Hier ist »die Teilung von einem umschließenden Werke und einem subjektiven Gebilde noch nicht vorhanden«. Ebd.



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men, einzuhüllen und abzugrenzen.528 Den Übergang von den quasi-skulpturalen Monumentalarchitekturen zur »eigentlichen Architektur« bildet schließlich die Pyramide. Ihr Zweck ist es, »die Hülle der abgeschiedenen Könige aufzubewahren, eine Umschließung des Leichnahms zu sein«.529 In unterschiedlichen Verschachtelungen zieht sich die Figur-Grund-Differenz in Hegels Ästhetik durch sämtliche Register der bildenden Kunst. Stets geht es dabei um etwas, das selbständig, zeichenhaft, expressiv und Bedeutungsträger ist, und um etwas anderes, das als »Wohnung« oder umschließender Kontext fungiert und daher »seine Bedeutung in einem anderen« hat.530 Den lebensweltlichen Ausgangspunkt und letzten Sinn dieser Dynamik bildet für Hegel das Verhältnis von »geistige[m] Subjekt« und »unorganischer Natur«.531 Hegel denkt das Figur-Grund-Verhältnis also vom Mensch-Umwelt-Verhältnis her, mit der menschlichen Figur als Träger oder Quelle von Bedeutung. Dies verweist zurück auf die Überlegungen aus Kapitel III.3. Dort wurde rekonstruiert, dass Hegel eine zentrale Idee der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt, nämlich dass uns menschliche Subjekte in einem anderen phänomenalen Modus begegnen als unbelebte Objekte. Dieser Charakter der Beseelung besteht, wie Pippin gezeigt hat, darin, dass wir Menschen als handelnde Figuren wahrnehmen, die sich durch ihre Intentionalität vom bloß mechanischen Kausalgeschehen der umgebenden Natur abheben. Zum Paradigma der Figur im Bild wird bei Hegel entsprechend die menschliche Gestalt mit ihrer phänomenologischen Auszeichnung, ›sich selbst zu bedeuten‹ bzw. Intentionen zu manifestieren. Zum Paradigma des Grundes wird die unorganische Natur darin, dass ihr zunächst (negativ) dieser beseelte Charakter fehlt, aber auch darin, dass sie (positiv) den räumlichen und lebensweltlichen Kontext menschlichen Handelns darstellt. Insofern die Kunst für Hegel insgesamt ein Wissen über menschliche Lebensformen ist, 528

VÄ Kehler 1826, 161 f., MS 301. VÄ Kehler 1826, 164, MS 206. Die Pyramide, die einen Leichnam enthält, bildet ebenfalls das zentrale Modell für Hegels Zeichenbegriff. Vgl. EPW III, § 458. Vgl. hierzu die Diskussion durch Derrida in Derrida 1999. Zur kritischen Diskussion von Derridas Hegellektüre vgl. Schülein 2015 u. Schülein 2016, 140 ff. 530 VÄ Kehler 1826, 159, MS 297. Ersteres ist »geistige Gestalt« und »bedeutet sich selbst«, letztere ist »die Architektur, die bloße Umgebung, das an sich Ungeistige, das bloß im Reflex des Geistigen ist, also bloß äußerlich verbunden.« VÄ Ascheberg 1820/21, 187, MS 135. vgl. auch: »nicht das In-sich-selbst-Seiende, sondern äußerliche Ordnung, äußeres Zusammenstimmen«. VÄ Hotho 1823, 206 f., MS 191. 531 VÄ Kehler 1826, 155, MS 288 f. »Der Mittelpunkt, die ganz einfache Totalität ist das Ideale überhaupt, dies ist das geistige Subjekt; dies in seiner unendlichen Selbständigkeit muß aber als Subjekt zuerst die unorganische Natur sich gegenüber haben.« 529

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bildet das Mensch-Umwelt-Verhältnis die Basis der Figur-Grund-Verhältnisse der bildenden Kunst. Es liegt nahe, hier die Parallele zu Kants Theorie von Figur und Grund zu ziehen, die zugleich interessante Unterschiede offenbart. (i) Die geometrische Figur erschien bei Kant als das Produkt einer figürlichen Synthesis, der Ausführung einer Regel, wodurch sie als expressiv, Bedeutung tragend, als etwas Bestimmtes (nämlich als extensive Größe) wahrgenommen wird. (ii) Dieser Akt der Erzeugung eines bestimmten, gemachten Raums setzt (negativ gesehen) einen unbestimmten, gegebenen Raum voraus, in den sie sich als Grund einschreiben kann. (iii) Dieser Grund (der aisthetisch gegebene Raum) folgt aber auch (positiv gesehen) einer Eigenlogik. Im konträren Gegensatz zur Logik der Synthesis (vom Teil zum Ganzen) folgt er einer Logik der Einschränkung (vom Ganzen zum Teil). Bei Hegel finden sich diese drei Elemente erneut: (i) Kants figürlicher Synthesis entspricht die Logik der Figur, wonach die menschliche Gestalt durch ihr beseeltes Handeln als expressiver Bedeutungsträger fungiert. (ii) Diese Figur steht im Verhältnis zum Grund oder umschließenden Kontext der anorganischen Natur, die (negativ gesehen) keine derartige Bedeutung hat. (iii) Auch dieser Grund hat aber wieder (positiv gesehen) eine Eigenlogik, und zwar die der Rahmung, Begrenzung und Einschränkung. Sie äußert sich in dem von Hegel identifizierten Drang, durch Architekturen den Kontext der organischen Natur zu transformieren, indem umfriedete Bezirke, Einfassungsmauern, Wände etc. eingezogen werden, um so etwas Abgegrenztes, Abgeschlossenes zu schaffen.532 In dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass die bildlogische Differenz von Figur und Grund für beide Philosophen zwar zunächst eine im weitesten Sinne mereologische Bedeutung hat, d. h. das Verhältnis von Teil und Ganzem betrifft. Dies wird bei Kant aber theoretisch-quantitativ im Sinne der Kategorie extensiver Größe spezifiziert. Bei Hegel spezifiziert es sich als praktisches und wohnendes Verhältnis des Menschen zur Natur. Gemeinsam ist beiden Positionen auch eine praxeologische oder handlungstheoretische Ausrichtung, die das Figurale im Handeln, in menschlicher Spontaneität verwurzelt. Bei Kant ist die Logik der Figuration in einem operativen Handeln der Synthesis begründet. Bei Hegel ist dies – spezifisch in der flächigen Malerei – ein performatives Handeln.533 Ihre medienspezifischen Eigenschaften erlauben es ihr, ein solches Handeln zum einen hinsichtlich der Relation auf 532

»Diese Umgebung, daß sie wirklich das Ideale sei, müßte selbst zum Ideal emporgehoben werden. […] Die erste Kunst ist deswegen die Architektur.« VÄ Kehler 1826, 155, MS 289. 533 Vgl. zum Verhältnis dieser beiden Begriffe erneut Krämer 2011. Die hier vorgeschlagene Verwendung weicht von derjenigen allerdings insofern ab, als die Performa-



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eine Umwelt in der Fläche zu entfalten; zum anderen hinsichtlich der performativen Relation auf ein Gegenüber, die sich in der gesteigerten und emotional erweiterten Relation auf einen Betrachter realisiert. Diese zwei Aspekte werden im Folgenden genauer betrachtet.

5.2.2 Relationalität: Entfaltung und In-Beziehung-Setzen

Das malerische Figur-Grund-Verhältnis ist für Hegel nicht nur eine Synthese ästhetischer Prinzipien, die zuvor auf die Medien von Skulptur und Architektur verteilt waren. Aus dieser Synthese resultiert zugleich eine Überlegenheit der Ausdruckspotenziale und möglichen Inhalte der Malerei. Hierfür nennt Hegel, spezifisch mit Blick auf ihr Verhältnis zur Skulptur, zwei Argumente: einen höheren Grad von Anthropomorphismus534 und einen Fortschritt von der »substanziellen Individualität«535 zur »subjective[n] Individualität«536. Die von Hegel beschriebene Wende von der klassischen (antiken) Skulptur zur romantischen (christlich-neuzeitlichen) Malerei kann somit in Parallele zur epistemologischen Großwende vom antiken Substanzparadigma zum neuzeitlichen Funktions- und Relationsparadigma gelesen werden. In Mathematik und Naturwissenschaft bedeutet dies, dass die aristotelische, monadische Prädikatenlogik (als Logik der Klassifikation von Dingen durch Eigenschaften) bei Oresme, Galilei, Descartes, Leibniz, Lambert und Kant von flächigen und relationalen Diagrammen und Kalkülen abgelöst wird, d. h. von einer Logik der Relation und Quantifikation. Analog ist für Hegel die Malerei dasjenige Medium, das sich durch Eigenschaften wie Verflachung, Rahmung und Färbung dafür eignet, das relationale oder korrelationistische Paradigma neuzeitlicher Subjektivität ästhetisch zu artikulieren.537 Wie bei Kant wird auch bei Hegel die Idee zweidimensional-flächiger Bildlichkeit spezifisch mit der Darstellung von Relationen und einem Denken in Relationen in Verbindung tivität nicht primär vom pathischen Betroffensein, sondern von der Spontaneität, auch einer ›geteilten Spontaneität‹ aus gedacht wird. Vgl. unten III.5.2.3. 534 Die klassische Kunst war »nicht genug anthropomorphistisch«. Ihr Inhalt war »der Mensch zwar, aber ganz abstract gehalten«. VÄ Ascheberg 1820/21, 240, MS 184. 535 VÄ Ascheberg 1820/21, 241, MS 185. Für die »heroische Individualität« gilt: »Das Substantielle ist in ihr unmittelbar individuell und das Individuum dadurch in sich selber substantiell.« VÄ I 248. 536 VÄ Ascheberg 1820/21, 240, MS 185. 537 »Indem so die Kunst die subjective Individualität in sich enthält, so muß dies Prinzip auch der Anfang, die Seele einer andern Weise der Kunst werden, und diese ist die Malerei, die wir nach der Skulptur zu betrachten haben.« VÄ Ascheberg 1820/21, 240, MS 185.

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gebracht. Diese Beobachtung liegt auch der im ersten Teil geäußerten These zu Grunde, dass der iconic turn im Kern eine Kritik von Substanz­para­d igmen impliziert.538 Der zentrale Unterschied verläuft hierbei nun nicht mehr zwischen einem intellektuellen und einem verkörperten Modell des menschlichen Selbst, sondern zwischen zwei Modellen der Verkörperung: einem Substanzmodell und einem relationalen Modell. Das Substanzmodell verkörperter Subjektivität wird von der klassischen Skulptur artikuliert.539 Diese realisiert ein Maximum an ästhetischer Selbstständigkeit und Harmonie, weshalb sie »Mittelpunkt der classischen Kunst« ist.540 Die klassische Skulptur »drückt den Geist« in der »Ruhe der Gestalt« aus, die »Geistigkeit« ist »in die 3 körperlichen Dimensionen ausgegossen«.541 Die menschliche Gestalt wird hierbei zum Medium oder »Ausdruck der Göttlichkeit« und zugleich »Ausdruck der besonderen Charaktere dieser Göttlichkeit«.542 Das Substanzmodell hat entsprechend zwei wesentliche Merkmale, in denen zugleich seine Beschränkung liegt: (i) Selbständigkeit: Die klassischen Göttergestalten bewohnen eine apollinische, überzeitliche Idealwelt, sie zeichnen sich aus durch »hohe Individualität«543, »Idealität« und »Heiterkeit«.544 Diese Idealität entsteht allerdings privativ durch den Rückzug aus den Partikularitäten und Verstrickungen der empirischen Lebenswelt, d. h. durch Statik und Abgeschlossenheit. Es handelt sich um übermenschliche Figuren in Menschengestalt, die gleichermaßen »ohne Empfindung« wie »ohne Verwicklung der äußern Umstände« sind.545 Wenn die ästhetische Figur-Grund-Beziehung, wie das oben rekonstruiert wurde, letztlich die phänomenale Mensch-Umwelt-Beziehung reproduziert, so bleibt die klassische Skulptur diesbezüglich defizitär. Zwar finden die Skulpturen einen Rahmen in entsprechenden Architekturen; der internen Logik ihrer Darstellung nach bleiben sie aber beziehungslos, sind gleichsam grundlose Figuren. Das Modell, das die Skulptur vom Menschen entwirft, 538

Mit Hegels Worten ist der Übergang von einer Ästhetik der Substanzialität zu einer Ästhetik der Subjektivität auch der von der Logik des Seins zur Logik des Wesens. 539 D. h., sie gehört einer Logik des Seins, und nicht des Wesens an: »Die Skulptur hat also geistige Individualität zum Gegenstand, und sie läßt den Geist in unmittelbarer Materialität erscheinen. […] Man kann also sagen, hier werde der Geist dargestellt, wie er ist.« VÄ Hotho 1823, 229, MS 213. 540 VÄ Ascheberg 1820/21, 210, MS 156. Spezifisch deshalb, weil sie »mehr als andere Künste auf das Ideale angewiesen ist«. Ebd. 541 VÄ Ascheberg 1820/21, 209, MS 155. 542 VÄ Hotho 1823, 235, MS 219. 543 Ebd. 237, MS 182. 544 Ebd. 237, MS 181. 545 Ebd. 210, MS 156.



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ist das einer »starre[n] Objektivität des Geistes«.546 Gerade darin, dass die klassische Figur »in ihrer Ruhe bleibt und ins thätige Leben hinauszutreten verschmäht«, ist sie für Hegel ein »Beschränktes«547: In ihr findet sich einfach nur die Antithese zum konkreten Dasein, sie erweist sich als ungeeignet, die Konflikt- und Bedürfnisstrukturen des konkreten Lebens darzustellen. (ii) Ausdruck von Eigenschaften. Neben der weltentrückten Idealität enthält die klassische Skulptur auch den »Ausdruck der besonderen Charaktere dieser Göttlichkeit«.548 Diese Differenziertheit ist aber nicht im Sinne historischer Individuen, sondern im Sinne von ›Abstraktionen‹, allgemeinen Charakteren zu verstehen. D. h. die klassische Skulptur verkörpert oder exem­ pli­f iziert nicht den Menschen in seiner lebendigen Konkretion, sondern nur »allgemeine Prädikate«549 oder »allgemeine Eigenschaften« des Menschen, wie Güte oder Gerechtigkeit.550 Diese »substanziellen Mächte« können nach dem Schema einer abstrahierenden Verallgemeinerung als ›Charakter‹ oder ›Typus‹ verstanden werden, der sich innerhalb eines partikulären Lebens als das durchgehende Moment zeigt.551 Der Mensch erscheint hier also unter dem Blickwinkel verallgemeinerter Charaktereigenschaften. Die spezifische ästhetische Leistung der klassischen Skulptur besteht darin, diese nicht sprachlich oder »allegorisch« zu repräsentieren, sondern »als Individualität, als geistige Objektivität« herauszuarbeiten.552 Sie stellt dar, wie sich sol546 Es handelt sich also um eine »starre Objektivität des Geistes, wo die Geistigkeit sich noch nicht gegen sich als das besondere Subjekt, gegen die allgemeine Subjektivität unterschieden hat. […] Die Materie ist nur erst, und in ihr ist der Geist erst.« VÄ Hotho 1823, 231, MS 216. 547 »Die hohe, strenge Substanzialität der idealen Kunstwerke, die in ihrer Ruhe bleibt, und ins thätige Leben hinauszutreten verschmäht, hat dies Leben sich gegenüber, und ist daher ein Beschränktes; denn in der strengen Substanzialität ist das Prinzip der Subjectivität als solcher nicht zur Darstellung gekommen.« VÄ Ascheberg 1820/21, 240 f., MS 185. 548 VÄ Hotho 1823, 235, MS 219. D. h. das »allgemeine Idealische« muss sich zugleich »in besondere Ideale« brechen, d. h. einen »Götterkreis«, VÄ Hotho 1823, 246, MS 229. wenn auch die einzelnen Gestalten oft nur an Attributen und sonstigen Äußerlichkeiten zu unterscheiden seien. VÄ Ascheberg 1820/21, 226, MS 171. 549 VÄ Hotho 1823, 232, MS 217. 550 »Solche allgemeinen Eigenschaften: Güte, Gerechtigkeit stellt [die Skulptur] nicht allegorisch vor, sondern als Individualität, als geistige Objektivität.« Ebd. 233, MS 217. 551 »Es ist die substanzielle Individualität, die dargestellt wird als seiende. Wenn wir eine Lebensbeschreibung eines Menschen lesen, seine Zufälle, seine Taten, so wird solcher Verlauf mannigfaltiger Willkür und Zufälligkeit mit einer Charakterschilderung geschlossen, die das Einzelne in allgemeine Prädikate zusammenfasst. Dies dann sind die substantiellen Mächte des Individuums und die Partikularität selbst nur akzidentelle Erscheinung dieser Substanzialität.« VÄ Hotho 1823, 232, MS 217. 552 VÄ Hotho 1823, 233, MS 217.

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che prototypischen Charaktereigenschaften in der menschlichen Physiologie unmittelbar zeigen, d. h. wie sich Geistiges in der Naturgestalt des Menschen manifestiert.553 Die ›Stärke Jupiters‹ wird nicht – wie etwa im Adler – metaphorisch symbolisiert, sondern darüber, wie sich menschliche Stärke in der menschlichen Gestalt unmittelbar äußert.554 Einerseits wird hier die menschliche Gestalt als natürliches Zeichen oder Bedeutungsträger erkannt  – worin ganz allgemein gesehen für Hegel die Leistung der klassischen Kunst liegt. Dadurch gibt es eine genuine Dimension ästhetischen Ausdrucks, der nicht symbolisch oder metaphorisch ist. Andererseits ist diese Ausdrucksdimension beschränkt und letztlich für Hegel irgendwie uninteressant. Dies liegt zum einen an dem statischen Modell, dass an der Logik von Ding und Eigenschaft, Substanz und Akzidenz orientiert ist. Zum anderen betrifft es das Wissen insgesamt, das dabei zum Ausdruck kommt: Das ästhetische Wissen der Skulptur verbindet grob gesagt die Kenntnis menschlicher Charaktere mit Kenntnissen über menschliche Physiologie. Hegel zitiert hier etwa Winckelmanns Überlegungen zum griechischen Profil oder Überlegungen des niederländischen Mediziners und Anatoms Peter Camper (1722–1789). So seien bei Tieren Mund- und Augenstellung an der Nahrungssuche ausgerichtet, was sich in einem spitz zulaufenden Profil vieler Tiere zeige. Der ›theoretische‹ Gebrauch dieser Organe beim Sprechen und Sehen schlage sich hingegen im rechteckigen Profil des Menschen nieder.555 Derartiges arbeitet also die Skulptur heraus. Das theoretische Pendant hierzu wäre eine Wissenschaft der »Physiognomik« als Ausdruckslehre der menschlichen Gestalt.556 Aus seiner Skepsis gegenüber einer solchen »Wissenschaft«557 macht Hegel allerdings keinen Hehl. Die »gebildete Freiheit des Geistes« mache »alle Physiognomik zu Schanden«558; in Hegels Augen ist der Mensch als freies Geistwesen nicht durch bestimmte bleibende körperliche Merkmale determiniert. Zugleich sei die Physiognomik »mehr Sache des Gefühls, etwas Unbestimmtes«559; sie gehöre »mehr dem Sinn an 553 »Die lebendige Gestalt hat der Mensch nicht erfunden, sondern gefunden. Sie gehört der Natur an …« VÄ Hotho 1823, 234, MS 218. 554 In dieser Hinsicht ist »[j]edes Organ … aus zwei Gesichtspunkten« zu betrachten: »nach dem physikalischen und wie dieses ein Geistiges auszudrücken fähig sei.« Ebd. 236, MS 219. 555 VÄ Ascheberg 1820/21, 218, MS 163. Sowie VÄ Hotho 1823, 240, MS 224. 556 VÄ Ascheberg 1820/21, 215, MS 160. Hegel verweist hier etwa auf den Phrenologen Franz Josef Gall (1758–1828), einen Nachfolger Johann Caspar Lavaters (1741–1801), dessen Werke er »ungeschickt« nennt. Vgl. auch VÄ Hotho 1823, 235, MS 219. 557 VÄ Ascheberg 1820/21, 215, MS 160. 558 Ebd. 559 Ebd. 215, MS 161.



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und ist auf bestimmte Gedankenbestimmungen nicht zurückzuführen«.560 Der klassischen Skulptur liegt also zwar ein genuin ästhetisches Denken zu Grunde, die Frage ist aber zugleich, warum uns dieses interessieren sollte. Es scheinen im Wesentlichen die »alten Werke« selbst zu sein, die uns zu »solchem Studium … veranla[ssen]«.561 Das ästhetische Wissen der Antike wird zum Bildungsinhalt, der dem modernen Menschen in einem existenziellen Sinne wenig zu sagen hat. Es lässt sich folgendes Fazit ziehen: Die klassische Skulptur stellt dreidimensionale Figuren her, die sich durch entrückte Abgeschlossenheit auszeichnen und allgemeine Charaktereigenschaften des Menschen exemplifizieren. Sie sind defizitär, weil sie ohne Bezug auf einen Kontext bleiben und bloß allgemeine Eigenschaften darstellen. Die Malerei ersetzt dieses Substanzparadigma durch ein Subjektparadigma, das zugleich anthropomorpher, d. h. dem realen Dasein des Menschen angemessener sein soll. Das Modell statischer Eigenschaften wird dabei durch ein Modell dynamischer Relationen ersetzt, das der neuen expressiven Fähigkeiten der Malerei bedarf. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich auf zwei Merkmale bringen: (i) Externalisierung statt Selbständigkeit: Den Übergang vom figuralen Prinzip der Skulptur zum figuralen Prinzip der Malerei beschreibt Hegel doppelsinnig als ›Hinausgehen‹ bzw. ›Heraustreten‹ aus der Selbstbezüglichkeit und Abgeschlossenheit der Skulptur: »Das Heraustreten der selbständigen Gestalt des Skulpturbildes in die Besonderheit und Mannigfaltigkeit des Daseins ist der Gegenstand der Malerei. Das Skulpturwerk ist die ewige Ruhe bei sich selbst, die tiefste Innerlichkeit des Wesens. In der Malerei tritt das Subjekt mehr handelnd heraus, es enthält innerlichen Zweck und Interesse, es findet eine Entzweiung mit seiner Innerlichkeit statt. Der Inhalt [der Malerei] ist Inhalt der Innerlichkeit, zugleich aber der Besonderheit, der [/] Erscheinung des Innern.«562 560

VÄ Hotho 1823, 234 f., MS 218. In gewisser Hinsicht ist man hier an Hegels Einschätzung von Goethes Morphologie erinnert. Andererseits läge hier auch ein ästhetisches Wissen der antiken Künstler vor, das nicht durch ein wissenschaftliches Wissen ersetzt werden kann. Man könnte sagen, dass für Hegel ein physiognomischer Diskus nicht als autonom-wissenschaftlicher Diskurs möglich ist, sondern nur auf der Basis der antiken Kunst geführt werden kann, die dieses Wissen ästhetisch hervorgebracht hat. Allenfalls der bereits angesprochene Unterschied zwischen Mensch und Tier gebe hier »einen Punkt der Vergleichung«. VÄ Ascheberg 1820/21, 215, MS 161. 561 »Zu solchem Studium werden wir durch die alten Werke veranlaßt.« VÄ Hotho 1823, 235, MS 219. 562 Kehler 1826, 181, MS 340 f. Die Malerei kann »nicht die Kunst des reinen Idealen seyn; ihr Gegenstand ist nicht die auf sich beruhende Gestalt, sondern die Gestalt, die in die Besonderheit der Empfindung, des Charakters, der Handlung hinausgeht, und dies

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Die Figuren der Malerei machen also den Schritt vom überzeitlich-ahistorischen Ideal ins konkrete lebendige Dasein. Mit der der Verinnerlichung als Prinzip der Subjektivität ist folglich zugleich eine Externalisierung, Entäußerung verbunden563: »[D]ie für-sich-seiende Subjektivität führt Beweglichkeit und Zufälligkeit mit sich, setzt sich als Besonderes, Willkürliches, das in bestimmte Tat und Handlung übergeht. Insofern die Zufälligkeit hereintritt, erscheint sie nach außen gerichtet, mit anderem verwickelt.«564

Hatte die Logik der Skulptur die Dynamik und Kontingenz der konkreten äußeren Lebenswelt einfach negativ aus sich ausgeschlossen, so tritt sie mit dem Paradigma der Subjektivität auf den Plan. Ihre grundlegenden Eigenschaften sind ›Besonderung‹565, Gegensätzlichkeit, Historizität, Dynamik und Kontingenz, die an die Stelle überzeitlicher Einheiten, von Verschmelzung und Harmonie treten. Die moderne Kunst der Subjektivität schließt die Dynamik, Widersprüchlichkeit und Abhängigkeit des konkreten Lebens nicht mehr aus sich aus, sondern inkorporiert sie. Dadurch hat sie eine Relationalität und einen Beziehungscharakter, den Hegel mit Begriffen wie »Verwicklung«566, »Abhängigkeit«567 und »Verflochtensein«568 fasst. Diese Abhängigkeit wiederum gehört in elementarer Weise zur Lebendigkeit des konkreten Individuums.569 macht andererseits ihre Abhängigkeit aus, die ganz von der hohen, idealen Skulptur ausgeschlossen ist.« VÄ Ascheberg 1820/21, 245, MS 190. 563 Vgl. Collenberg: »Über das ›Heraus der Handlung‹ kann die Malerei ›die Innerlichkeit gegen das Äußerliche und die Innerlichkeit im Äußerlichen‹ zeigen.« (Collenberg 1992, 123, zitiert wird VÄ Kehler 1826 MS 72) 564 VÄ Hotho 1823, 231 f., MS 216. 565 »Die Gegenstände also der sich besondernden Subjectivität, eben so die Gegenstände der sich besondernden Äußerlichkeit sind die für die Malerei eigenthümlichen Gegenstände.« VÄ Ascheberg 1820/21, 245, MS 190. 566 VÄ Ascheberg 1820/21, 210, MS 156. 567 Ebd. 245, MS 190. 568 »Die freie Subjektivität läßt einerseits der gesamten Breite der Naturdinge und allen Sphären der menschlichen Wirklichkeit ihr selbständiges Dasein, andererseits aber kann sie sich in alles Besondere hineinbegeben und es zum Inhalt des [/] Inneren machen; ja erst in diesem Verflochtensein mit der konkreten Wirklichkeit erweist sie sich selbst als konkret und lebendig.« VÄ III 24 f. Houlgate betont hier den ersten Punkt: »If painting is the visual expression of inner subjectivity, it must give visual expression to the fact that subjectivity releases the sphere of the external as independent of itself. It is for this reason that Hegel claims that painting has to depict natural objects, buildings and the landscape next to, indeed at times independently of, human figures.« Houlgate 2000, 67. Demgegenüber soll hier auch der zweite Punkt des ›Verflochtenseins‹ betont werden. 569 »Das Individuum erscheint also als Abhängigkeit, nicht als frei für sich.« VÄ



Bildlogik und Medialität

(ii) Handlungen statt Eigenschaften: Das Programm der Malerei besteht darin, »das Scheinen des Innerlichen in Handlungen, Situationen« darzustellen.570 Es geht nun nicht mehr darum, wie im Medium der Skulptur statische Eigenschaften der menschlichen Physiologie dafür zu nutzen, um bestimmte Eigenschaften menschlicher Charaktere zu exemplifizieren. Bedeutungsträger sind diese Figuren stattdessen als Handelnde, begriffen in Handlungen und Handlungskonstellationen, in denen sich ein ›inneres Leben‹ verwirklicht. Hiermit meint Hegel spezifische Emotionen, Zwecke und Interessen, wie sie Teil eines konkreten Lebens der Individuen sind. Diese Entäußerung in Handlungen, das »Heraus der Handlung«571 soll hier mit dem Begriff der Performativität bezeichnet werden. Dies bezieht sich nicht einfach auf den Handlungscharakter als solchen, sondern auch auf den phänomenalen Aspekt solcher Handlungen. Erst die Malerei kann menschliche Leiblichkeit so darstellen, wie sie auch Basis unserer leiblichen Interaktion im Realraum ist. Pippin beschreibt dies als die Auffassung von »Körperbewegungen als Taten«, die eine »›innere‹ Bedeutung« haben.572 Spezifisch im Handeln, im Verwirklichen von Intentionen etc. begegnen uns Andere als ›beseelt‹ – und Hegel weist immer wieder darauf hin, dass eine derartige Beseelung erst zum Ausdrucksrepertoire der romantischen Kunst, spezifisch der Malerei gehört. Die spezifische Relation zum Betrachter, die dieser phänomenale Modus impliziert, soll unter den Stichworten von Performativität, Lebendigkeit und visueller Reziprozität in Kapitel III.5.2.3 noch genauer diskutiert werden. An dieser Stelle soll hingegen die spezifische Bedeutung der Verflachung betont werden, die die Malerei als relationales Medium auszeichnet. Die Flächigkeit der Malerei ermöglicht erstens die Entfaltung figuraler Dynamiken: Hotho 1823, 77, MS 68. »Die Lebendigkeit ist in diesem Widerspruch, als sie selbst – die Eins  – von anderem abzuhängen, und ist der stete Kampf, diesen Widerspruch aufzuheben. Es ist dies das Bild der Endlichkeit, des steten Bekriegens. Es ist die erscheinende Welt.« Ebd. 78, MS 69.Vgl. auch: »Die wesentliche Verschiedenheit einer malerischen von einer skulpturmäßigen Situation liegt, wie wir bereits oben gesehen haben, darin, daß die Skulptur hauptsächlich das selbständig in sich Beruhende, Konfliktlose in harmlosen Zuständen […] berufen ist, […] [/] die Malerei dagegen bei ihrer eigentlichen Aufgabe erst dann anfängt, wenn sie aus der beziehungslosen Selbständigkeit ihrer Figuren und dem Mangel an Bestimmtheit der Situation herausgeht, um in die lebendige Bewegung menschlicher Zustände, Leidenschaften, Konflikte, Handlungen in stetem Verhältnis zu der äußeren Umgebung eintreten und selbst bei Auffassung der landschaftlichen Natur dieselbe Bestimmtheit einer besonderen Situation und deren lebendigster Individualität festhalten zu können.« VÄ III 88 f. 570 VÄ Pfordten 1826, 205, MS 72. Dagegen zur Skulptur: »Taten, Handlungen und Empfindungen sind daraus verbannt«. VÄ Kehler 1826, 172, MS 322. 571 VÄ Pfordten 1826, 205, MS 72. 572 Pippin 2012, 37.

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Die Tatsache, dass in der Malerei die »Gegenstände auf einer Ebene dargestellt werden«, erlaubt es der Malerei mehr als der Skulptur ihren »Inhalt« zu »entfalte[n]«. Diese »Entfaltung« bildet erst die Grundlage dafür, Handlungen darzustellen, etwa durch »mehrere Figuren in einer Verbindung«.573 Erst so können ›Situationen‹ im Sinne von Konstellationen des sozialen Zusammenlebens dargestellt werden. Während die spatiale Logik der dreidimensionalen Skulptur auf Abgeschlossenheit drängt, erlaubt es das ›Außereinander‹ der Fläche, dynamische Konstellationen zu schaffen, indem solche Figuren aufeinander bezogen werden.574 Zweitens erlaubt es die Verflachung, durch Rahmung ihre Figuren auf Handlungskontexte zu beziehen, d. h. auf einen Grund. Entscheidend für die handelnde Subjektivität ist für Hegel die Verstrickung mit realen Handlungskontexten: «Die freie Subjektivität läßt einerseits der gesamten Breite der Naturdinge und allen Sphären der menschlichen Wirklichkeit ihr selbständiges Dasein, andererseits aber kann sie sich in alles Besondere hineinbegeben und es zum Inhalt des [/] Inneren machen; ja erst in diesem Verflochtensein mit der konkreten Wirklichkeit erweist sie sich selbst als konkret und lebendig.«575

Wie bereits in Kapitel III.3 diskutiert, hängt ein wirkliches Handeln nicht bloß von inneren Intentionen ab, sondern setzt stets reale und oft widersprüchliche Kontexte voraus, in denen sich diese Intentionen bewähren müssen. Eben diese Dynamik stellt die Malerei mit der Figur-Grund-Beziehung her; dem ›Heraustreten‹ der Figur in die Handlung entspricht hierbei ein ›Hineintreten‹ des Hintergrundes: »Diese Beziehung ist Zusammenhang nach allen Seiten hin, Totalität des Erscheinens. Der Hintergrund tritt hinein, eine Beziehung die getrennt, abgeschnitten werden muss, das Herausschneiden aus dem Zusammenhang muß markiert sein. Der Charakter des Statuarischen fällt hinweg.«576

Gegenüber der freistehenden Figur wird in der Malerei das Subjekt in seiner konkreten Umgebung dargestellt. Dies wird erreicht, indem der Hintergrund einerseits auf derselben Fläche mit der Figur zusammentritt. Anderer573

VÄ Hotho 1823, 257, MS 240. Zu erinnern ist hier an das geometrische Diagramm, wo die Figuren ebenfalls stets durch Hilfskonstruktionen erweitert, neu aufeinander bezogen etc. werden können und das somit als operativer Handlungsraum das Gegenstück zum performativen Handlungsraum der Malerei bildet. 575 VÄ III 24 f. 576 VÄ Libelt 1828/29, MS 129, zitiert aus Collenberg 1992, 122. 574



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seits muss dieser Bildgrund nun von der sonstigen Umgebung abgeschnitten werden, was durch Rahmung oder Kadrierung geschieht. Damit findet der kantische Gedanke des Raums als ›Einschränkbarkeit‹ sein hegelsches Pendant. Hierbei gehören Rahmen und Figur-Grund-Dynamik für Hegel intrikat zusammen. Er betont, dass der Rahmen oder Bildausschnitt nicht einfach den Konturen einer Figur folgen kann, wie es etwa bei nach dem ›Cut-out‹-Verfahren hergestellten Aufstellern von Filmstars der Fall ist. Eine »ausgeschnittene, menschliche, gemalte Figur« habe »etwas Widriges für uns«.577 Zentral bei der Rahmung ist die Erzeugung eines negativen Um-Raums, der sich auf derselben Fläche, d. h. im selben gestalterischen Kontext wie die Figur findet. Innerhalb der Geschichte der Malerei wird dieser Um-Raum freilich zunächst, wie in der byzantinischen Malerei, mit Gold gefüllt, erst später als historischer Raum mit partikulären, empirischen Kontexten entfaltet.578 Fazit: Die Verflachung erlaubt der Malerei den Übergang vom epistemologischen Paradigma der Substanz zum Paradigma der Relation. Die Fläche ermöglicht die Entfaltung performativer Handlungen in einem relationalen Bildraum ebenso wie die Bezogenheit von Figuren auf Handlungskontexte in Gestalt von Bildgründen. Zum spezifisch performativen, beseelten und lebendigen Charakter der Malerei ist noch eine zweite Haupteigenschaft der Malerei erfordert, ihre Farbigkeit, die nun näher betrachtet wird.

5.2.3 Performativität: Inkarnation und Blickbeziehung

Ein Subjekt ist für Hegel keine selbständige Entität, sondern etwas, das in seinem Selbstbezug erst durch Beziehungen zu Anderem vollständig wird. Die Malerei als Kunst der Subjektivität ist daher zugleich eine relationale Kunst, eine Kunst des In-Beziehung-Setzens. Dies leistet sie aber nicht nur innerhalb des relationalen Bildraums, den die zweidimensionale Fläche erzeugt, sondern auch in der nach außen gerichteten Beziehung zum Betrachter. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Hegels Überlegungen zur Medienspezifik 577 »Betrachten wir dies von Seiten der Fläche, so bedarf die Gestalt unmittelbar eines Hintergrundes, und einer Erfüllung dieses Hintergrundes mit mehreren Figuren. Deshalb hat ja eine ausgeschnittene, menschliche, gemalte Figur etwas Widriges für uns.« VÄ Ascheberg 1820/21, 245, MS 190. Dies ist auch dort der Fall, wo der Hintergrund nicht der Schilderung bestimmter Handlungskontexte dient: »Selbst das Portrait bedarf des Hintergrundes von Farbe, von Helligkeit oder Dunkelheit, damit die Farben besser hervorgehoben werden.« Ebd. 246, MS 190. vgl. dazu auch Houlgate 2000, 67 f. 578 Vgl. Rutter 2010, 69 f. Rutter macht diese Rolle der beiwerkhaften Besonderheit in diesen Kontexten, des »ancillary detail« (ebd. 71) stark.

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der Malerei dabei zwei Topoi der modernen Bildtheorie vorwegnehmen. Dies ist zum einen die »Lebendigkeit«579, die Hegel als das elementare Prinzip der Figuren der Malerei begreift wie auch als potentiellen Aspekt der malerischen Darstellung selbst. Insofern die Empfindung für Hegel bestimmendes Merkmal romantischer Kunst ist, wird die Beziehung zwischen Figur und Betrachter – über ein bloßes Sehen hinaus – als emotionale Einfühlungsbeziehung konzipiert. Der andere Topos ist jener der ›Innigkeit‹, die sich über die Blickbeziehung realisiert und – noch über solche Einfühlung hinausgehend – den Betrachter in eine Art der quasi-sozialen Beziehung mit der Darstellung involviert. Beide Weisen, sich auf einen Betrachter hin zu öffnen, sollen unter dem Begriff einer Performativität der Malerei zusammengefasst werden.580 Auch hier bildet die Kontrastfolie für das Relationsparadigma der Malerei wieder das Substanzparadigma der Skulptur, die sich durch Abgeschlossenheit, Selbständigkeit und Nicht-Bezüglichkeit auszeichnet. Der relationale Charakter der Malerei zeigt sich in ihrer gesteigerten Beziehung zum Betrachter: »Das was vorgestellt wird, wird gemacht für den Standpunkt des Zuschauers, sodaß es ihm erscheinen soll. Das Skulpturbild ist unbekümmert um den Zuschauer.«581 Solche Charakteristiken der Zuschauerbeziehung der Malerei, die auf die Perspektivität malerischer Darstellungen abheben, sind typischerweise Anlass zur einer okularzentrischen Lesart von Hegels Malereitheorie geworden: Hegel wiederhole damit einfach die ideologische Verknüpfung von Malerei, Linearperspektive und unkörperlichem Punktsubjekt im neuzeitlichen Denken.582 Diese Lesart ist aber schon deshalb problematisch, weil die Passagen zur Linearperspektive als spätere Zutat der Edition Hothos gelten können.583 Grundlage für die gesteigerte Betrachterbeziehung der Malerei ist für Hegel hingegen die Farbe, die – wie etwa auch bei Kant – mit der Kategorie der Empfindung verknüpft wird. Hierbei wird 579 Die »Form der Malerei« ist »eigentlich die Form der Lebendigkeit«. VÄ Ascheberg 1820/21, 248, MS 193 Auch: »Die Lebendigkeit ist das Seelenvolle, die Hauptsache in der Malerei.« Ebd. 249, MS 193. Allerdings nicht als »Animalität« im Sinne der »Dürftigkeit« im Sinne der »täuschende[n] Nachahmung der Häärchen, Runzeln, ETC.«, sondern im Sinne »Lebendigkeit des menschlichen Wesens« die eine »geistige Lebendigkeit« ist. Ebd. 249 MS. 194. Die Farbe »macht die Malerei zur Malerei. Zeichnung, Erfindung ist wesentlich [/], notwendig, doch die Farbe ist erst die Lebendigkeit, kein bloßes Kolorieren, sondern zugleich bezeichnender Ausdruck.« VÄ Hotho 1823, 258, MS 241 f. 580 Vgl. zu diesem Begriff paradigmatisch Krämer 2011. 581 VÄ Libelt 1828/23, MS 128, zitiert aus Collenberg 1992, 121. 582 Paradigmatisch bei Glaubitz/Schröter 2004 und Glaubitz, Nicola; Schröter, Jens (2009): »Zur Diskursgeschichte des Flächen- und des Raumbildes«, in: Gundolf Winter; Jens Schröter; Joanna Barck (Hg.): Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen. Paderborn: Fink, 283–314. vgl. hierzu Kapitel II.5.4. 583 Vgl. Collenberg 1992, 122, sowie ebenfalls ausführlich Kapitel II.5.4.



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die Farbempfindung aber nicht im Sinne Kants als bloß sekundärer, passiver Reiz begriffen, sondern erhält eine mediale Dimension: Die Farbempfindung wird zum Medium »empfindende[r] Subjektivität«.584 Diese Verknüpfung von Subjektivität, Farbe und Empfindung hat mehrere Dimensionen. In einer kunsttheoretischen Dimension erweist sich die Gestaltung des Kolorits als die subjektive Charakteristik eines Malers, in der sich ein individueller Stil, eine individuelle Weltsicht und das ›Einleben‹ in seine Gegenstände am deutlichsten offenbart (vgl. Kapitel III.5.3). Eine weitere Dimension ist wahrnehmungstheoretisch: Gerade in der Farbwahrnehmung, die aus bloß farblichen Differenzen und Übergängen einen illusionären Tiefenraum erzeugt, zeigt sich der aktive Anteil des Subjekts an der Konstitution einer sichtbaren Welt (vgl. Kapitel III.5.4). Wie Rutter argumentiert, kann Hegel hierbei so gelesen werden, dass die Investition von Aufmerksamkeit (attention), die dies dem Betrachter abverlangt, zugleich eine emotional-ethische Beziehung der Verbundenheit (attachment) begünstigt.585 Im Folgenden soll der Fokus auf einen dritten, vielleicht den bedeutsamsten Zusammenhang dieser Elemente gelegt werden. Dieser kann – im Sinne der von dieser Studie insgesamt vorgeschlagenen Lesart – verkörperungstheoretisch genannt werden und weist erneut auf die Argumentation von Kapitel III.3 zurück, die Hegels Überlegungen zur Expressivität menschlicher Leiblichkeit betraf. Gegen die an sich wegweisende Interpretation von Peters, die diese Passagen auf die Schönheit im klassischen Drama bezieht, soll dabei argumentiert werden: Die verkörperungstheoretischen Überlegungen Hegels finden ihr eigentliches Pendant erst in der Kunstform der romantischen Malerei.586 Denn wie bereits mehrfach betont, geht der Übergang von der der substanziellen Eigenständigkeit des Klassischen zur relationalen Bezüglichkeit des Romantischen mit einer größeren anthropologischen Valenz einher: Weil der klassischen Skulptur die Darstellung von »Reflexion« und »Subjektivität« fehle, trete erst mit der Malerei »der vollendete Anthropomorphismus 584 VÄ Hotho 1823, 249, MS 232. vgl. zu diesem Komplex Collenberg 1992, 122: »Dementsprechend charakterisiert Hegel die Farbe als das Materielle, das fähig ist, in die sinnliche Empfindung einzugehen.« 585 »[I]t appears that the investment of attention in the work generates a sort of attach­ ment to ist objects. […] The idea that participation breeds attachment means that paintings are well suited to evoking feeling [/] in their spectators.« Rutter 2010, 71 f. 586 Vgl. Peters 2015, 17. Man kann argumentieren, dass sich die Unbezüglichkeit der Skulptur, ihre fehlende Resonanzbeziehung zu einem Gegenüber, auch an der dramatischen Figur Antigones zeigt: Sie verkörpert ein Handlungsmuster, ist aber keine ethische, fühlende Subjektivität. Zu einer solchen wird sie – auch in den Augen von Peters – erst in der schmerzvollen Erfahrung ihres Scheiterns, in der sich aber bereits der Übergang vom Klassischen zum Romantischen vollzieht.

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ein.«587 Zwei entscheidende mediale Mängel der Skulptur sind aus dieser Sicht die ›Kälte‹ des Materials und die ›Blindheit‹ der Augen: »Das Leben der strengen, hohen Individualität ist nur in dem kalten Marmor, in diesem blicklosen Sein ergossen.«588 Demgegenüber ist die romantische Kunst eine Kunst der Beseelung und Empfindung, und damit der Wärme und des Blicks. Hiermit lässt sich begründen, warum – anders als Peters dies tut – die Überlegungen von Hegels Anthropologie zu Selbstgefühl und Einfühlung nicht auf die klassische, sondern auf die romantische Kunst bezogen werden sollten: Sie finden ihre Parallele erst in der empfindungsmäßig erweiterten Leiblichkeit des Romantischen. Zugleich sind auch die Organe menschlicher Lebendigkeit und Performativität, die Hegel in den allgemeinen, anthropologisch ausgerichteten Passagen der Ästhetik diskutiert, nämlich Haut und Auge, spezifisch für die Wirkungen der Malerei. Im Gegensatz zur Selbstständigkeit und Unbezüglichkeit der klassischen Individuen tritt erst im Kontext des Romantischen die Frage verkörperter Intersubjektivität auf den Plan. Das ›Heraustreten‹, die für das Romantische typische Externalisierung, erhält hierbei einen elementar sozialen Sinn. Hegel beschreibt dies am Paradigmenwechsel von der antiken zur christlichen Religion: Durch seine Menschwerdung ist das Göttliche nicht mehr in einer Dimension apollinischer Übermenschen verortet, sondern im konkreten Dasein. Dies impliziert nicht nur ein neues Verhältnis zur Natur,589 sondern auch eine neue Art der sozialen Beziehung. Mit Hilmer kann festgestellt werden, dass das Problem einer ethischen Intersubjektiviät mit der romantischen Kunst überhaupt erst auf den Plan tritt und dabei das zentrale Problem der klassischen Kunst, die Frage nach der Schönheit, ablöst.590 Die erste Erscheinungsform einer solchen Intersubjektivität ist die christliche Gemeinde, die in ein neues Interaktionsverhältnis zum Gottesbild tritt. Dies entsteht zum einen durch die Menschwerdung des Gottes: »Das göttliche Bild gehört selbst zur Gemeinde, steht auf der Seite derselben, ist selbst Mensch.«591 Zum anderen findet das Göttliche in den Mitgliedern der Gemeinde erst seine eigentliche Bestätigung: »Es ist die Gemeinde, die im Tempel dem Gott gegenübertritt und seine Substantialität in sich hinüberträgt und beson587

VÄ Ascheberg 1820/21, 241, MS. 185. Ebd. 589 »Indem die partikularisierte Subjektivität ein Verhältnis nach außen hat und dieses erscheinen muß, so wird das Unorganische gleichsam der umgebende Tempel der in sich besonderten Göttlichkeit.« VÄ Hotho 1823 Zwischenüberschrift/Gliederungsnotiz, 248, MS 232. 590 Hilmer 1997, 202. 591 VÄ Hotho 1823, 207, MS 192. 588



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dert.«592 D. h. im Unterschied zum antiken Gott »konstituiert« sich, wie Collenberg feststellt, der christliche Gott »erst über den Vollzug durch die Gemeinde«. Verkörpert der griechische Gott ein typisiertes, eindimensionales »Handlungsmuster«, so steht Christus »für die Entwicklung einer Handlung im Zusammenspiel mit seiner Gemeinde«.593 Mit dem Konzept der Subjektivität ist für Hegel also schon in seinen christlichen Ursprüngen die Idee einer handlungsbezogenen Interaktivität oder Intersubjektivität untrennbar verknüpft. Stehen die apollinischen Göttergestalten der klassischen Antike in einem von der Welt der Menschen abgetrennten Idealraum, so steht in Christus das Göttliche in einer Art der personalen, sozialen Beziehung zum Menschen. Dies erfordert auch ein neues Modell von Leiblichkeit, genauer ein Modell, in dem der Leib zum Medium eines neuen Sozialen oder Gemeinsamen werden kann, das an die Stelle der statischen, normativen Idealtypen des klassischen Zeitalters tritt. Dies leistet die Malerei für Hegel, indem sie den Leib nicht mehr als Träger sichtbarer Eigenschaften inszeniert, sondern als Medium affektiver Intersubjektivität: Der Leib ›schließt sich auf‹, wird etwas, »worin eine Mitteilung, eine Gemeinschaftlichkeit mit einem dritten liegt.«594 Das Prinzip dieser neuen Form der Intersubjektivität nennt Hegel »Innigkeit«. Dieser im Deutschen etwas sperrige Begriff mag zunächst an die ›absolute Innerlichkeit‹ des metaphysischen Subjekts bei Kant erinnern, hat aber für Hegel eine ästhetische und soziale Bedeutung. Diese wird etwa in der gängigen englischen Übersetzung ›intimacy‹ – Intimität – deutlicher.595 Deutlich wird sie aber auch in der Bestimmung der Innigkeit als Liebe: Die Innigkeit als das »Leben in sich in einem Anderen aber ist das Verhältnis der Liebe.«596 Mit dieser Ausrichtung auf die Liebe als elementarem sozialen Gefühl steht Hegel in deutlichem Gegensatz etwa zur Ausrichtung an der Scham bei Sartre. Die Malerei kennt für Hegel nun ein ganzes Spektrum von Formen von Innigkeit und Liebe, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen diskutiert wer592 »Die Malerei jedoch geht zur Subjektivität fort, denn der Geist ist wesentlich Subjektivität als für-sich-seiend, [/] wodurch sie jener substanziellen [Kunst] gegenübertritt und in die Besonderheit der Geistigkeit tritt. Es ist die Gemeinde, die im Tempel dem Gott gegenübertritt und seine Substantialität in sich hinüberträgt und besondert.« VÄ Hotho 1823, 248, MS 231 f. 593 Collenberg 1992, 150. 594 VÄ Hotho 1823, 185, MS 171. »Somit ist das Äußerliche preisgegeben, es gibt sich für einen dritten, den Zuschauer; es ist das, worin eine Mitteilung, eine Gemeinschaftlichkeit mit einem dritten liegt. Das Dasein ist ein aufgegebenes.« 595 Vgl. zu dieser Übersetzung aber auch ihrer Problematik Rutter 2010, 74, Fußnote 21. 596 VÄ Hotho 1823, 185 f., MS 171 f.

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den können.597 Stattdessen sollen drei Aspekte betrachtet werden, die diese Bestimmungen zu einer Theorie der Performativität von Bildern beitragen können: (i) Wenn, wie Hegel behauptet, das wesentliche semiotische Prinzip der Malerei die Darstellung oder Herstellung von ›Innigkeit‹ ist, dann bedeutet dies, dass die Figuren der Gemälde nicht einfach Eigenschaften exemplifizieren, sondern durch das Verhältnis einer Figur zum Betrachter Beziehun­ gen exemplifizieren. Liebe und Innigkeit bezeichnen hierbei einen Typus der Beziehung, in der die Selbstbeziehung nur über die Beziehung zu einem anderen gelingt, ein »Leben in sich in einem Anderen«.598 (ii) Die Beschreibung der Malerei im Horizont der Liebe ist daher interessant, weil es sich zugleich um eine Empfindung wie um eine ethische Beziehung handelt.599 Gehörte in Kants KU die Empfindung noch zum Reiz eines Gemäldes und stellte eine Art frivoles Beiwerk zur Form als eigentlichem Gegenstand des Interesses dar, so wird für Hegel die Empfindung hingegen zu einem medialen, bedeutungstragenden Element, das sich nicht auf Bestimmungen der Form reduzieren lässt. (iii) Die Aufwertung der Empfindung in der Malerei impliziert wiederum einen neuen Modus der Sichtbarkeit, der sich spezifisch von dem der klassischen Skulptur unterscheidet: Dort ist das Geistige, so Hegel, vollständig im Sinnlichen präsent und wird in dreidimensionalen, äußeren Körperformen sichtbar, von denen es in gewisser Weise visuell abgelesen werden kann. Der romantische Inhalt der Malerei weist nun über die Sinnlichkeit im Sinne solcher unmittelbarer, ›substanzieller‹ Verkörperung hinaus, eine derartige »vollkommene Selbstaussprache«600 ist nicht mehr möglich.601 Wie Rutter feststellt, muss das bloße Sehen daher durch ein Fühlen angereichert werden.602 Das Bildverstehen kann sich daher für Hegel nicht auf eine reine oder bloße Sichtbarkeit beschränken, sondern setzt eine über das Sehen vermittelte bzw. mit diesem verschränkte Einfühlungsbeziehung voraus.603 Als 597 Z. B. die religiöse Liebe, die emotionale Resonanzbeziehung zur Natur, das Versenktsein in einer Tätigkeit etc. Vgl. Rutter 2010, 75 f. Oder auch: die Mutterliebe, Agape, Eros. Ebd. 74. 598 VÄ Hotho 1823, 185 f., MS 171 f. 599 Dies stellt Rutter fest. Rutter 2010, 74. 600 Collenberg 1992, 135. 601 Zur dieser Medialität der Malerei, die nicht mehr vollständig im Externen aufgeht, heißt es: »ihr Inhalt ist die geistige Innerlichkeit, die nur im Äußeren kann zum Vorschein kommen, als aus demselben in sich hineingehend.« VÄ III 27. 602 »In romantic art, this inwardness has been deepened by an awareness of the limitations of corporeal form. The reconciliation of soul and body cannot be seen, read off the body itself, but must be felt in the expressive nuance of the eyes and mouth.« Rutter 2010, 74. 603 Anders gesagt: Das Paradigma der Skulptur enthält das Versprechen, dass sich alles, was geistig relevant ist, auch vollständig sichtbar machen lässt. Mit dem romantischen Paradigma der Subjektivität wird deutlich, dass zum Geist auch z. B. zwischen-



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Theoretiker einer solchen Verschränkung von Sehen und Einfühlung erweist sich Hegel als durchaus aktuell – nämlich als Vorläufer von modernen Ansätzen wie denen von Krois und Freedberg/Gallese, aber auch etwa Panofskys Konzept der Ausdrucksbedeutung.604 Die soeben skizzierten drei Aspekte sollen nun genauer entfaltet werden. In Kapitel III.3 wurde festgestellt, dass es für Hegel spezifisch zwei Organe sind, auf denen der ausgezeichnete phänomenale Charakter des Menschen beruht: Haut und Auge.605 Diese kehren als entscheidende Themen der Malereitheorie wieder. Diese Bindung an die Malerei hat ihren offensichtlichen Grund darin, dass es sich um zwei Aspekte des menschlichen Leibs handelt, die für Hegel nicht in den dreidimensionalen Umrissformen aufgehen, die das Medium der Skulptur ausmachen. Stattdessen ist die Realisierung ihrer phänomenalen Wirkungen für Hegel elementar auf die farblich-flächige Darstellung angewiesen. menschliche Beziehungen gehören, die nicht unmittelbar als Eigenschaften leiblicher Gestalten visualisiert werden können. Die Malerei gleicht diesen Mangel aus, indem sie im Sichtbaren Beziehungen inszeniert, die über das bloß Sichtbare hinausweisen – über die Anreicherung des Sichtbaren mit Empfindungen. 604 Vgl. Krois, der gegen die Fokussierung von formalästhetischen Theorien auf die »Sichtbarkeit des Bildes« (vgl. den Buchtitel von Lambert Wiesing) auf die Wurzel des Bildverstehens in den motorischen und affektiven Dimensionen unserer Leiblichkeit hingewiesen hat. Krois 2012, 101. Diese Fähigkeit leiblicher Einfühlung (»sich in andere hineinzuversetzen«) führt zugleich in natürlicher Weise dazu, dass »auch in unbelebten Objekten dynamische Verhältnisse als lebendige Kräfte wahrgenommen werden.« Ebd. 103. Vgl. auch die Betonung der Aktualität von Einfühlungstheorien, die in Kunstkritik und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zugunsten eines kantischen Paradigmas der Form eliminiert wurden. Freedberg/Gallese 2007, 199. Eine Ausnahme bildet etwa Panofskys Konzept der Ausdrucksbedeutung in der menschlichen Begegnung, die zugleich Grundlage eines Moments im Bildverstehen ist: »Aus der Art und Weise, wie mein Bekannter seine Handlung vollzieht, kann ich vielleicht erkennen, ob er guter oder schlechter Stimmung ist und ob seine Gefühle mir gegenüber gleichgültig, freundlich oder feindselig sind. Diese psychologischen Nuancen werden die Gebärden meines Bekannten mit einer [/] weiteren Bedeutung füllen, die wir ausdruckshaft nennen können. Sie unterscheidet sich dadurch von der Tatsachenbedeutung, daß sie nicht durch einfache Identifikation, sondern durch ›Einfühlung‹ erfaßt wird. Um sie zu verstehen, benötige ich eine gewisse Sensibilität, doch diese Sensibilität ist noch immer ein Bestandteil meiner praktischen Erfahrung, nämlich meines alltäglichen Vertrautseins mit Gegenständen und Ereignissen.« Panofsky 1975, 36 f. 605 »Fragen wir aber nach einem Organ, in welchem die Seele als solche erscheint, so wird uns sogleich das Auge einfallen, in dem der Geist als sichtbarer konzentriert ist. Wir sagten schon früher, daß an dem menschlichen Körper im Gegensatz des tierischen überall das pulsierende Herz sich zeige. Auf dieselbe Weise kann von der Kunst gesagt werden, daß sie das Erscheinende an allen Punkten der Oberfläche zum Auge zu erheben habe, welches der Sitz der Seele ist, den Geist erscheinen läßt.« VÄ Hotho 1823, 79, MS 70.

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Zunächst zur Haut. Wie in Kapitel III.3.2.3 gezeigt, argumentiert Hegel, dass die Seelenhaftigkeit des Tiers für uns auch daher phänomenal opak bleibt, weil der tierische Körper mit opaken, unlebendigen Hüllen wie Schuppen, Federn oder Fell bedeckt ist. Hiergegen habe der menschliche Leib einen ausgezeichneten Status, der in seiner durchscheinenden Haut liege. Durch diese sei am »menschliche[n] Körper […] durchgehend vergegenwärtigt, daß der Mensch ein beseeltes, empfindendes Eins ist«.606 Wie bereits dort bemerkt, werden diese Überlegungen auch von den Vertreterinnen der verkörperungstheoretischen Lesart, die sie zur Kenntnis nehmen, zurückgewiesen: Hilmer bezeichnet sie als »kurios[]«607, Peters als »hardly convincing«.608 Hier soll dagegen gezeigt werden, dass diese anthropologischen Überlegungen Hegels ihre Signifikanz dann offenbaren, wenn man sie mit seinen Überlegungen zu den Wirkungen der Malerei zusammenliest. Spezifisch die Farbe ist für Hegel der Grund der »Lebendigkeit«609 malerischer Darstellungen, die sie wiederum vor allem im lasierenden »Durch-einander-Scheinen« der Farben erreichen soll, wie es insbesondere die Ölmalerei hervorbringen kann.610 Dessen Gipfelpunkt bildet das menschliche Inkarnat: »beim schönen Inkarnat muß die Farbe das Aussehen haben, ein Durchscheinendes zu sein, nicht als einfache Fläche, sondern als ein von innen Herauskommendes, ein Durchsichtiges.«611 Diese Theorie des Inkarnats hat zum einen kunsttheoretische Vorbilder. Hegels Rede vom ›schönen Inkarnat‹ greift einen Topos auf, der sich bereits bei Diderot, Goethe und Schelling findet. Diesem Topos zufolge bildet die menschliche Hautfarbe den »Höhepunkt der Farbharmonie«, d. h. farblicher Schönheit, was aus farbtheoretischen Überlegungen zu den Grundfarben und deren Mischungen begründet wird.612 Neben einem solchen kunsttheoretischen Interesse am Inkarnat gibt es aber auch noch eine andere Traditionslinie. Diese verknüpft das Inkarnat mit der Fähigkeit der Malerei zur Inkar606

VÄ I 194. Hilmer 1997, 84. 608 Peters 2015, 20. 609 Die Farbe »macht die Malerei zur Malerei. Zeichnung, Erfindung ist wesentlich [/], notwendig, doch die Farbe ist erst die Lebendigkeit, kein bloßes Kolorieren, sondern zugleich bezeichnender Ausdruck.« VÄ Hotho 1823, 258, MS 241 f. 610 Vgl. zu dieser Spezifik Houlgate 2000, 66 f. Am wenigsten ist eine solche Wirkung dem Mosaik möglich, das Hegel zumindest zum weiteren Umkreis der Malerei zählt. 611 »Am meisten ist dies Durch-einander-Scheinen in der menschlichen Haut. Sie zeigt die Tiefe des Himmelsblau [etc.]; beim schönen Inkarnat muß die Farbe das Aussehen haben, ein Durchscheinendes zu sein, nicht als einfache Fläche, sondern als ein von innen Herauskommendes, ein Durchsichtiges.« Ebd. 261, MS 245. 612 Dies zeigt Collenberg. Vgl. spezifisch zum Inkarnat Collenberg 1992, 132 ff. 607



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nation, d. h. zur Evokation eines quasi-lebendigen Gegenübers. Vorbilder einer solchen verkörperungstheoretische Lesart des Inkarnats findet sich etwa in Caravaggios Diktum von der Malerei als vera incarnazione oder Cennino Cenninis Malereitraktat, der zu den zentralen Texten der Frührenaissance zählt.613 Letzterer überträgt, wie Christiane Kruse zeigt, den christlichen Topos der Inkarnation oder Fleischwerdung auf die Malerei und spezifisch auf »das Malen von Haut, … der lebendigen Oberfläche des Körpers«.614 Dies basiert auf Techniken der lasierenden Farbschichtung, die bei der Darstellung von Verstorbenen weggelassen werden.615 Hier soll vorgeschlagen werden, dass sich Hegels Überlegungen auch in dem letzteren, verkörperungstheoretischen Sinne interpretieren lassen. Hegels Rede von der ›Lebendigkeit‹ kann hier nicht nur in übertragenem Sinne perfekter Farbharmonie, sondern auch im wörtlichen Sinne der Inkarnation als Fleischwerdung gelesen werden. Die Überlegungen zur phänomenalen Bedeutung der Haut für die intersubjektive Einfühlung finden in den malereitheoretischen Überlegungen ihre unmittelbare Fortsetzung: Aufgabe des Malers bei der Behandlung des Inkarnats ist es – so Hegel –, »das Fleisch als ein in sich Innerliches darzustellen«.616 So heißt es im allgemeinen Teil der Ästhetik zur menschlichen Gestalt: »Die Haut ist nicht mit pflanzenhaft unlebendigen Hüllen verdeckt, das Pulsieren des Blutes scheint an der ganzen Oberfläche, das klopfende Herz der Lebendigkeit ist gleichsam allgegenwärtig und tritt auch in die äußere Erscheinung als eigentümliche Belebtheit, als turgor vitae, als dieses schwellende Leben 613 Christiane Kruse zufolge wird »Incarnazione« bei Cennini »eine metapikturale Metapher, die das Malen als medialen Prozess der Verkörperung umschreibt.« Kruse, Christiane (2000): »Fleisch werden — Fleisch malen. Malerei als ›incarnazione‹«, Zeit­ schrift für Kunstgeschichte 63, 305–326, 323. 614 Ebd. 322 f. 615 Vgl. ebd. 323. Diese Themen kehren wieder in Daniela Bohdes Studie »Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians«. Bohde, Daniela (2002): Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten/Berlin: Edition Emorde. Tizian wird in dieser Hinsicht auch spezifisch von Hegel hervorgehoben. 616 VÄ Hotho 1823, 260, MS 244. Diese zwei Motive verbinden sich: »In der Haut sind alle Farben vereinigt: das helle Rot, das Bläuliche der Venen, das Gelbliche der Haut verbindet sich, ist glanzlos; keine Farbe hebt sich heraus, alle sind wunderbar vereinigt. Um dies malend aufzufassen, gehört, allen Schein der Einfärbigkeit zu vermeiden und das Fleisch als ein in sich Innerliches darzustellen.« Ebd. Hegel führt hier eine ganze Reihe von Differenzierungen ein. Sie reicht von Gestirnen, Erde, Blumen, Blättern, wo die Farben »gleichsam auf der Oberfläche« (ebd.) liegen bis zu den Farben der Tierkörper, die näher am Inkarnat sind, weil sie Resultat »einer unendlichen Menge von Punkten und Linien« (Ebd. 261, MS 245) sind. Vgl. hierzu auch Collenberg 1992, 132 f.

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hinaus. Ebenso erweist sich die Haut als durchweg empfindlich und zeigt die morbidezza, die Fleisch- und Nervenfarbe des Teints«.617

Die durchscheinende menschliche Haut ist für Hegel also gleichsam Medium, Leinwand oder Membran, in dem das organische, leibliche Lebensgefühl des Menschen nach Außen tritt (während es bei Tieren opak bleibt).618 Der Sitz dieses Lebensgefühls ist einerseits das ›Herz‹, das mit seinem Pulsieren pars pro toto für den Blutkreislauf steht; zum anderen das Nervensystem, dass für die Empfindungsfähigkeit und Empfindlichkeit des Fleisches steht. Noch bevor die Ästhetik über Kunst oder die Medialität spezifischer Kunstgattungen spricht, d. h. in ihren anthropologischen Überlegungen, werden hierbei Termini der Malerei wie morbidezza relevant.619 Und auch die Überlegungen der Anthropologie finden hier einen Widerhall: Auch hier ist die ›Innerlichkeit‹ eines ›Sich-Fühlens‹ zugleich Grundlage einer Ausdrucksbeziehung, eines ›Sich-zu-Fühlen-Gebens‹. Im Lichte des Topos der Inkarnation lässt sich Hegels These vom besonderen Anthropomorphismus der Malerei also in zwei Richtungen lesen. Zum einen hat Hegel, wie schon in Kapitel III.3.2.3 beschrieben, eine anthropologische oder phänomenologische These: Weil die menschliche Haut nicht von Haaren, Schuppen etc. bedeckt ist, kann sie zu einem expressiven Medium von Lebendigkeit und Empfindungsfähigkeit werden. Als solche ist sie Bestandteil der spezifischen phänomenalen Anmutung menschlicher Leiblichkeit – ein Gedanke, mit dem Hegel in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts nicht alleine dasteht.620 Zugleich erinnert Hegels Rede von der ›Innerlichkeit‹, d. h. der Reflexivität des Fleisches nicht von ungefähr an den Begriff des Fleisches (chair) bei Merleau-Ponty. Auch Hegel verbindet damit eine im leiblichen Selbstgefühl fundierte Reflexivität (vgl. Kapitel III.3). Zum anderen hat Hegel ein Argument über die Medienspezifik der Malerei: Erst die Malerei kann mit der ihr eigenen Verbindung von Flächigkeit und Farbigkeit diesen Effekt der durchscheinenden Haut als ›Innerlichkeit 617

VÄ I 194. Vgl. VÄ Hotho 1823, 75 f., MS 66 f. 619 Der Terminus bezeichnet die ›Weichheit‹ oder ›Zartheit‹ der Farben im Inkarnat. 620 Eine andere Verbindung von Anthropologie, Malerei und Haut findet sich in der (evolutionären) Anthropologie des 19. Jahrhunderts. Die evolutionäre Sonderstellung des Menschen in der sexuellen Selektion dadurch, »daß durch die Einschränkung des dichten Haarbewuchses auf wenige auf wenige Körperstellen die Haut zu einem großflächigen Bildträger werden konnte.« Bredekamp 2010, 313, zur sexuellen Selektion: ebd. 311 ff. Darwin hätte insofern wie auch Alexander von Humboldt »die Verwandlung der menschlichen Haut von einer Schutzmembran in eine Gestaltfläche als Bedingung dafür gesehen, daß Humanoiden potentiell Maler werden konnten.« Ebd. 313 618



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des Fleisches‹ hervorbringen. Dies macht es möglich, dass die von ihr dargestellten Figuren als gleichsam lebendig aufgefasst werden können. In diesem Effekt der Darstellung von lebendigem und empfindungsfähigem Fleisch geht die Wirkung der Malerei zugleich über ein bloßes Sehen hinaus. Die ›Innerlichkeit des Fleisches‹ – sowohl die menschliche wie auch ihr malerisches Äquivalent – bildet für Hegel das sichtbare Medium, um sich in die Lebendigkeit und Empfindungsfähigkeit eines Gegenübers (im Sinne einer vordiskursiven Zeichenhaftigkeit) ebenso wie in eine malerische Darstellung einfühlen zu können. Dies erreicht das in Hegels Augen einfarbige, am dreidimensionalen Umriss orientierte Medium der Skulptur nicht; sie bleibt in diesem Sinne opak, ihr fehlt die Lebendigkeit, weshalb Hegel sie als ›kalt‹ bezeichnet.621 Das zweite Organ, das für Hegel den phänomenalen Status der menschlichen Gestalt entscheidend prägt, ist das Auge bzw. genauer: das blickende Auge. So wie es eine Verbindung von Haut und Lebendigkeit gab, so zwischen Blick und Innigkeit. In der Vorlesung von 1823 sagt Hegel: »Zuerst sieht man den Menschen in die Augen, wie durch Händedruck setzt man sich durch den Blick in Einheit; er ist die Konzentration der Innigkeit, der empfindenden Subjektivität.«622 1821 spricht Hegel vom Auge als dem »ersten Punkt der Identität zwischen den Menschen«.623 Diese Passagen wurden bereits im Kapitel III.3 zitiert, um zu zeigen, wie Hegel eine wesentliche Einsicht der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts (ebenso wie von Mitchells pictorial turn) vorwegnimmt: dass sich menschliche Sozialität und Intersubjektivität noch vor oder neben der Sprache in der Blickbeziehung konstituiert.624 Im Rahmen der These vom Anthropomorphismus der Malerei korrespondiert dieser anthropologische Einsicht wieder ein medienspezifisches Argument zum Unterschied von klassischer Skulptur und romantischer Malerei. Zu konstatieren ist zunächst ein Mangel der Skulptur: »In der Skulptur ist die Individualität in die Gestalt ausgegossen; der Blick des Auges fehlt ihr.«625 Die medialen Ursachen der Blicklosigkeit liegen in der Bindung der Skulptur an die »3 körperlichen Dimensionen«626 bzw. »die Umgrenzung, an die körperliche Form«.627 Genauer unterscheidet Hegel zwischen der »äußerliche[n]

621 Allerdings stellt in Hegels Augen das Durchscheinen des Marmors eine Art Protophänomen zum Durchscheinen des malerischen Inkarnats dar. 622 VÄ Hotho 1823, 242, MS 225. 623 VÄ Ascheberg 1820/21, 209, MS 157. 624 vgl. die Worte ›Zuerst‹ und ›erste‹ in den eben zitierten Stellen. 625 VÄ Hotho 1823, 248, MS 232. 626 VÄ Ascheberg 1820/21, 209, MS 155. 627 Ebd. 219, MS 164.

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Gestalt des Auges« und dem »belebte[n] Auge«.628 Die Skulptur könne mit dieser äußeren räumlichen Umrissform zwar etwa Blickrichtungen andeuten, aber »ohne daß … das Auge sehend ist.«629 Wie bei der durchscheinenden Haut ist die Darstellung des Auges als blickendem Auge nicht von der Skulptur als einer dreidimensionalen Raumkunst zu leisten. Der »Glanz des Auges«630, durch den es blickend und lebendig erscheint, ist ein Effekt der Farbe, des Lichts und ihrer Sichtbarkeit, d. h. von Wirkungen, die über den räumlichen Umriss hinausgehen und daher des zweidimensionalen malerischen Tableaus bedürfen. An diesen Beispielen von Auge und Haut wird also zunächst deutlich, warum Hegel die Effekte von Licht, Schatten und Farbe, generell das colore als wesentliche Leistung der Malerei begreift und warum dies nicht nur kunsttheoretische, sondern auch verkörperungstheoretische Implikationen hat. Das disegno der Zeichnung, das es, wie die Skulptur, bloß mit dem räumlichen Umriss zu tun hat, teilt deren expressive Beschränkungen: Es kann, will man Hegel glauben, weder lebendige Haut noch ›innige‹ Blicke darstellen. Wie lassen sich diese Aussagen Hegels zur Blickbeziehung in der Malerei nun im Sinne einer Theorie der Performativität deuten ? Hierzu sollen zum Abschluss des Kapitels vier tentative Überlegungen angestellt werden: (i) Das blickende Auge ist für Hegel der »eigentliche Ausdruck« des »Prinzip[s] der Subjectivität«. Dieses ist gegenüber der »Ruhe« der Skulptur ein »unendliche[s] Prinzip der Bewegung«.631 Die Figuren der Malerei sind nicht statische Umrisslinien, sondern besitzen einen dynamischen Charakter, der auf ›innerlicher Bewegtheit‹ beruht. An derartige Aussagen Hegels anknüpfend stellt etwa Collenberg fest, dass die »Malerei […] den Menschen unter dem Geschichtspunkt der Innerlichkeit und Beseeltheit« zeigt.632 Sollen Hegels Aussagen über die Blickbeziehung als elementare soziale Beziehung ernstgenommen werden, reicht es aber nicht, bei einer derartigen Feststellung stehen zu bleiben. Die Pointe der Darstellung lebendiger und beseelter Figuren in der Malerei kann dann nicht bloß darin bestehen, dass etwa Lebendigkeit und Reflexivität als zusätzliche Aspekte oder Eigenschaften an einer Figur sichtbar werden. Stattdessen muss sich die Beziehung zu diesen Figuren verändern. Thematisiert die Skulptur menschliches Handeln durch die Darstellung statischer Charaktere, geht es der Malerei dann nicht um die Darstellung ‚von etwas‘, sondern um die Herstellung einer Beziehung. Wenn 628

Ebd. 209, MS 155. VÄ Hotho 1823, 242, MS 226. 630 VÄ Pfordten 1826, 195, 66. 631 VÄ Ascheberg 1820/21, 163 f., MS 115. 632 Collenberg 1992, 135. 629



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Hegel im unmittelbaren Kontext der medialen Wirkungen der Malerei feststellt, dass »man sich durch den Blick in Einheit«633 setzt, d. h. ein soziales Verhältnis zu einem Gegenüber eingeht, so impliziert dies, dass die Malerei, weil sie Blicke und Beseelung darstellen kann, eben diesen Effekt erzeugen kann – quasi-lebendige Gegenüber inkarnieren, die uns durch Blicke in eine quasi-soziale Beziehung implizieren. Sybille Krämer hat vorgeschlagen, im Rahmen einer solchen Deutung der Performativität von Bildern nicht von ›Bildakten‹, sondern, in Betonung des relationalen Charakters, von ›Blickakten‹ zu sprechen.634 (ii) In diesem Gedanken geht Hegels Malereitheorie über eine Theorie verkörperter Einfühlung hinaus und wird zu einer über den Leib vermittelten Sozialtheorie oder sozialen Epistemologie. Eben diese »sozialen Dimensionen ästhetischer Bedeutung« stellt Pippin in das Zentrum seiner an Hegel angelehnten Malereitheorie.635 Sein zentraler – und fast einziger – Bezugspunkt ist dabei Hegels Bild vom ›tausendäugigen Argus‹, des Kunstwerks als Leib, der überall Augen hat.636 Den rationalen Kern der darin angelegten These von der Austauschbarkeit von lebendigen Leibern und Gemälden sieht Pippin darin, dass »Körperbewegungen […] als Taten in der gleichen Weise Bedeutung [tragen] (sie haben eine ›innere‹ Bedeutung), in der sinnliche Objekte wie Bilder Bedeutung als Kunstwerke tragen«.637 ›Innigkeit‹ oder ›Innerlichkeit‹ wird auf diese Weise mit dem Konzept der Intentionalität in Verbindung gebracht. Dem entspricht, dass Hegel als »allgemeine Bestimmung« der Malerei »das Scheinen des Innerlichen in Handlungen, Situationen« bezeichnet.638 Auch dafür, dass hierbei nicht allein von Blicken, sondern von Körperbewegungen generell die Rede ist, finden sich bei Hegel Ressourcen. In diesem Sinne nennt Hegel das Auge daher auch einen »Keim«, dessen »Entwicklung« die »lebendige Formation der Gestaltung sei«.639 Dies lässt sich so verstehen, dass 633 VÄ Hotho 1823, 242, MS 225. Dies erinnert an das Grüßen als Urszene von Bildbedeutung sowie spezifisch die ›Ausdrucksbedeutung‹ bei Panofsky. Vgl. Panofsky 1975, 36 f. 634 Krämer 2010, 68. 635 Pippin 2012, 62. Meine Hervorhebung, MB. 636 VÄ I 203. Dieses Bild kommt sinngemäß ebenso in Hothos Nachschrift vor, allerdings ohne Bezug auf die mythische Gestalt des Argus. Siehe VÄ Hotho 1823, 79, MS 70. 637 Pippin 2012, 37. Der wesentliche Kontaktpunkt ist die von ihm so genannte »›Logik‹ der ›Innen-Außen‹-Beziehung, die für beide Möglichkeiten entscheidend ist, oder genauer, die identische ›Logik‹ in den beiden Fällen.« Ebd. 638 VÄ Pfordten 1826, 205, MS 72. 639 »Die menschliche Gestalt ist nicht nur lebendig wie das Tier, sondern der Spiegel des Geistes. Das Auge sieht nicht nur aus sich, sondern durch dasselbe sieht man in die einfache Seele. Die Entwicklung dieses Keimes ist die lebendige Formation der Gestal-

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sich die Blickbeziehung nicht in einem Sich-Gegenseitig-in-die-Augen-Sehen erschöpft, sondern als Keimzelle einer generellen leiblich-sozialen Interaktion des Menschen fungiert.640 Die Blickbeziehung bildet demnach zugleich Ursprungspunkt und Rahmen dafür, dass menschliche Intentionen auf nichtsprachliche Weise mitteilbar sind. (iii) Wenn die Malerei zugleich mit Hegel als Form des Wissens ernstgenommen werden soll, hat das eben Gesagte auch Konsequenzen für den Begriff eines solchen Wissens. Mit der Betonung der Beziehung zur Malerei als quasi-sozialer Beziehung vollzieht Hegel hier offenbar etwas, was auch Mitchell programmatisch für seinen pictorial turn in Anspruch nimmt: Auf den Gedanken einer ›visuellen Reziprozität‹ als Urszene menschlicher Sozialität gründet er den Übergang der Bildtheorie von einer epistemologischen, kognitiven Ebene des Wissens der Subjekte von Objekten zu der ethischen, politischen und hermeneutischen Ebene eines Wissens der Subjekte von anderen Subjekten.641 Dem entspricht in der relativ jungen Disziplin der sozialen Epistemologie die Unterscheidung von ›knowledge by acquaintance‹, d. h. Wissen durch Beobachtung, und ›knowledge by interaction‹, das auch ›second person knowledge‹ genannt wird. Solches Interaktionswissen (oder zweitpersonales Wissen) hat, wie David Lauer schreibt, seinen Grund in einem Akt ›geteilter Spontaneität‹, wo zwei Akteure A und B einen einzigen Akt gemeinsam vollziehen, in einem zweipersonalen Nexus von ›address and response‹ bzw. Anruf und Antwort.642 Den Gedanken vom Wissen der Maletung und der Leib also nicht nur Symbol des Geistes, sondern der Geist ist im Leib unmittelbar für andere.« VÄ Hotho 1823, 157, MS 144. 640 Erinnert sei an dieser Stelle etwa noch einmal an Rainer Marten. Dieser spricht von der ursprünglichen Beziehung reziproker Blicke als der »Szene […], die für den sehenden Menschen die Grundmöglichkeit ist, sich überhaupt szenisch zu entfalten. Sie stellt das praktische Urverhältnis seiner leibhaftigen Lebendigkeit dar.« Marten 1988, 26. 641 Mitchell unterscheidet einen »epistemological ›cognitive‹ ground (the knowledge of objects by subjects)« und einen »ethical, political, and hermeneutic ground (the knowledge of subjects by subjects …)«. Mitchell 1994, 33. 642 Kern ist der oben bereits an Hegel rekonstruierte Gedanke, dass uns andere Menschen anders begegnen als nach einem Schema von empirischer Beobachtung und ab­ strakt-gedanklicher Schlussfolgerung. Es sind dann – in Bezug auf andere Menschen – zwei Formen des Wissens zu unterscheiden: »knowledge by interaction« und »knowledge by acquaintance, i.e. knowledge acquired by way of the senses«. Lauer 2014, 322. Während wir andere zwar durchaus aufgrund bloßer Beobachtung ihres Aussehens und Gebarens kennen können, ist für ein Wissen aus Interaktion wesentlich, dass dieses als sogenanntes »second person knowledge« dieselbe Form annimmt wie »first person knowledge«, das ein »knowledge from spontaneity« ist. Ebd. 323. Spontan wäre dieses Wissen, weil es eben nicht – wie empirisches Wissen – auf Beobachtung beruht, sondern auf einem zweipersonalen Nexus, einem »act of joint spontaneity, of two self-conscious agents A and B performing one act together with a second-personal nexus of address and response.«



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rei als sozialem Interaktionswissens formuliert – ohne Verwendung dieser Terminologie – auch Robert Pippin. Das Wissen der Malerei habe nach Hegel »die Gestalt von Behauptungen über uns selbst und andere wie etwa: ›Ich hätte nicht gedacht, daß mich das beschämen würde‹, oder: ›Ich sah, daß er das nicht tun würde, obwohl er eindeutig daran glaubte‹, oder: ›Ich war überrascht festzustellen, daß ich ihm nicht vertraute‹, oder: ›Das alles bedeutete ihr sehr viel mehr, als sie sich eingestehen konnte‹.«643 (iv) Es handelt sich um eine Beziehung, die gelingen oder scheitern kann. Für Hegel steht im Zentrum romantischer Kunst die Emotion der Liebe, die »in der neueren Kunst eine überragende Rolle« spielt.644 Dies hat seine Gründe nicht etwa in einem Hang zum bloß Gefühlvollen. Stattdessen erscheint die Liebe deshalb so wichtig, weil sie eine elementare zwischenmenschliche Beziehung ist, die als solche identitätsbildend wirkt: »Sie enthält die Hingebung der Individuen an das Bewußtsein des Anderen, so daß in dieser Hingebung erst das Individuum sein eigenes Selbstbewußtsein habe.«645 Am Modell der Liebe wird deutlich, dass es im Blickakt einer Erwiderung bedarf bzw. dass dieser nicht auf Automatismen beruht. Diese Prekarität der Blickbeziehung nehmen auch Rutter und Pippin in den Blick, wenn sie die ›Innigkeit‹ und ›Lebendigkeit‹ der Malerei bei Hegel mit Blick auf Michael Frieds Begriff der Absorption deuten. Absorption wäre dann – bei Menschen und Gemälden  – der zweitpersonale Nexus, in den uns Bilder verwickeln können, wenn sie uns als Quasi-Subjekte begegnen. Dies impliziert einen phänomenalen Charakter der Unmittelbarkeit, für den gilt: »at every moment the work itself is wholly manifest.«646 Das Gelingen eines Kunstwerks hängt dementsprechend davon ab, inwiefern es nicht als bloßes Objekt erscheint, sondern sich für den Betrachter als Quasi-Subjekt und Gegenüber manifestiert.647 Diese Art der Wirkung, die in der niederländischen Genremalerei zu einem Höhepunkt kommt, steht aber immer in Gefahr, in ihr Gegenteil, die Ebd. 322. Mit der hier entwickelten Hegel-Interpretation wäre dem noch die spezifisch anschaulich-visuelle Dimension leiblicher Interaktion hinzuzufügen. Zur Bedeutung der Spontaneität im Blickverhältnis vgl. etwa auch Pape: »Was Menschen nur gemeinsam sehen können, ist der Blick eines Menschen, der den Blick eines anderen Menschen sieht: Das offene Erblicken des Blicks eines anderen Menschen. Entscheidend ist die Erfahrung von Wechselseitigkeit und Spontaneität der Blicke.« Pape 2011, 118. 643 Pippin 2012, 11. 644 VÄ Hotho 1823, 192, MS 178. 645 Ebd. 646 Fried, Michael (1968): »Art and Objecthood«, in: Gregory Battcock (Hg.): Minimal Art. A Critical Anthology. New York, NY: Dutton, 116–147, 145. 647 Gelingen hat »etwas mit der sinnlichen oder unmittelbaren Glaubwürdigkeit, Stärke, Überzeugungskraft, der Vereitelung von Theatralität zu tun«. Pippin 2012, 39.

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Theatralität, umzuschlagen. Dem entspricht der Übergang von einem Interaktionswissen in ein Beobachtungswissen, die distanzierte Erfahrung von Ding- und Objekthaftigkeit. Eine genauere Auseinandersetzung mit der Frage der Performativität von Bildern in Blickakten bei Hegel muss hier ein Desiderat bleiben. Dies würde eine eigenständige, ausführlichere Untersuchung erfordern. An dieser Stelle bleibt festzustellen, dass in der Performativität der Malerei und ihrer Figuren ein Gegenstück zur Operativität geometrischer Figuren liegt. Diese verknüpft sich in beiden Fällen mit der Relationalität flächiger Bildmedien, deren epistemische Anerkennung wiederum die Kritik von Sub­stanzparadigmen involvierte. Kants Kritik des Substanzparadigmas betrifft die sprachlogische Form einer Begriffspyramide, die als Abbild einer ontologischen Dingordnung gedacht wird. Relationen, wie sie in der räumlichen Orientierung eine Rolle spielen, werden durch dieses Modell nicht adäquat erfasst.648 Weil die geometrische Erkenntnis nicht propositional, sondern relational ist, setzt sie das räumliche Diagramm voraus, in dem an die Stelle begrifflich-prädikativer Unterschiede eigene Unterschiede des räumlichen Nebeneinander treten. Hegels Kritik des Substanzparadigmas betrifft das expressive Potential der klassischen Skulptur. Ihr Modell menschlicher Verkörperung, das an individueller Abgeschlossenheit und der Exemplifizierung von Eigenschaften orientiert ist, erweist sich als zu statisch und unflexibel, um die für Hegel zentrale Einsicht menschlicher Subjektivität thematisieren zu können: Wer Ich als Subjekt bin, konstituiert sich erst in der Relation zu einem Anderen.649 Die Leistung der Malerei besteht für Hegel nun darin, ein neues Modell, d. h. ein ›anderes Verhältnis‹ menschlicher Leiblichkeit und der Verkörperung des Geistigen herauszuarbeiten, das mit dieser Prämisse vereinbar ist, und daher nicht mehr identitär und substantiell, sondern reflexiv und relational fungiert. In Hegels Malereitheorie, sofern diese als Ästhetik der Subjektivität gelesen wird, zeigt sich, dass diese Logik der Relation zu ihrem angemessenen Verständnis Raumrelationen voraussetzt. Dies ist zum einen die gerahmte Fläche, in denen sich Figuren handlungsmäßig entfalten und darin auf geschichtliche Kontexte bezogen sind. Dies ist zum anderen die ebenfalls 648 Wie Cassirer feststellt, ist es »[v]or allem […] die Kategorie der Relation, die durch diese metaphysische Grundlehre des Aristoteles zu einer abhängigen und untergeordneten Stellung herabgedrückt wird.« Cassirer 1969, 10. 649 Einem Leib, einer Umwelt, anderen Subjekten. Die Entdeckung der Subjektivität impliziert eine Reflexivität und die Fähigkeit zum Rückzug aus der Sinnlichkeit ins Innerliche. Zugleich wird die Äußerlichkeit des Leibes von den normativen Ansprüchen des Ideals befreit und erhält ihr Eigenrecht als individuelle, historische Lebendigkeit. vgl. hierzu auch Rutter 2010, 69.



Bildlogik und Medialität

räumliche Relation von Bild und Betrachter, die nach dem Modell einer verkörperten Subjekt-Subjekt-Beziehung gedacht wird. Dies gelingt der Malerei auch darum, weil erst ihre Flächigkeit einen adäquaten Umgang mit Farbe erlaubt, die Hegel als einen entscheidenden Träger von Lebendigkeit und intersubjektiven Einfühlungsbeziehungen identifiziert.

5.3  Die Differenz von Inhalt und Form: die Partikularität der Malerei

Als zweite Dimension ikonischer Differenz soll nun die Differenz von Inhalt und Form, Allgemeinem und Besonderem betrachtet werden, die als Parallele zur kantischen Schema-Bild-Differenz verstanden werden kann. Dabei soll Folgendes gezeigt werden: Auch bei Hegel wird der Begriff ›Bild‹ in einer allgemeinen Geisttheorie prominent. Wie schon bei Kant bleibt der entsprechende bewusstseinstheoretische Bildbegriff aus bildphilosophischer Sicht unterbestimmt und uninteressant. Als Ort einer hegelschen Bildtheorie erscheint stattdessen der zunächst weitgefasste hegelsche Zeichenbegriff und dessen medienspezifische Konkretion in Ästhetik und Malereitheorie (III.5.3.1). In der Malereitheorie findet sich ein Gegenstück zum Generalitätsproblem und der Überspezifizität der geometrischen Diagramme. Sollen sich im Ideal, wie es die klassische Kunst realisiert, Inhalt und Form vollständig durchdringen und verschmolzen sein, kommt es in der romantischen Kunst zu einem reflexiven Aufbrechen und Freiwerden von Differenzen. Hierzu gehört das individuelle, geschichtliche Leben mit seiner Partikularität und Kontingenz, dem die Malerei mit ihrer Flächigkeit und Farbigkeit Ausdruck verschaffen kann. Durch diese naturalistische Tendenz der Malerei, partiku­ läre und zufällige Äußerlichkeiten einzufangen, markiert sie innerhalb der Bedeutungs- und Kunsttheorie der Ästhetik einen Krisenmoment, der sich als Gegenstück zum Generalitätsproblem der Diagramme verstehen lässt. Die Malerei reagiert hiermit zum einen mit einer Dynamisierung: Es geht nicht mehr um Eigenschaften, sondern das ›Scheinen des Inneren in Handlungen‹; statische Schönheit wird durch differenzielle Lebendigkeit ersetzt. Zum anderen artikuliert sich im Korpus der Malerei eine Spannung zwischen dem Interesse an der Darstellung von ›wahren‹ Inhalten und der Darstellung von Äußerlichkeiten und einer partikularen Darstellungsweise. Indem für Hegel die Malerei die Spannung von ›Inhaltismus‹ und ›Formalismus‹ gleichsam als ihre innere Problematik reflexiv bearbeitet, erweist er selbst sich als moderner, nicht-klassizistischer Denker (III.5.3.2).

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5.3.1  Der Bildbegriff zwischen Geistphilosophie und Ästhetik

Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist für Kant ein zentrales Thema der Theorie des Schematismus. Obgleich der Begriff ›Bild‹ in diesem Zusammenhang vorkommt, steht dieser nicht für eine konkrete Bildpraxis, sondern für eine viel weiter gefasste bewusstseins- bzw. geisttheoretische Problematik: die Einbildungskraft und ihre Schemata werden zu den Instanzen, die zwischen allgemeinen Begriffen und einzelnen ›Bildern‹, Intellektuellem und Sinnlichem, Abstraktem und Konkretem vermitteln sollen. Auch Hegel bringt den Terminus ›Bild‹ ins Spiel, wenn es in der Geistphilosophie bzw. Psychologie um die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem geht (vgl. Kapitel III.2.2). Dabei geht es (wie auch schon in Kants Schematismus­kapitel) nicht um eine Theorie ›anschaulichen‹ oder ›bildlichen‹ Denkens, sondern letztlich darum, wie ein diskursives Denken auf Anschauungen bezogen ist. Hegels Psychologie entwirft ein Entwicklungsmodell des Geistes von der Anschauung über die Vorstellung zu einem begrifflichen, reinen Denken, in dem Anschauungen nur noch als abstrakte Namen vorkommen. ›Bild‹ ist hierbei zunächst ein mentales Erinnerungsbild: eine Anschauung, die durch Ver-Innerlichung bestimmte Attribute der Anschauung (Äußerlichkeit, raumzeitliche Präsenz, vollständige Bestimmtheit) verloren hat und damit in den Bereich der ›Vorstellung‹ übergetreten ist.650 Die lokalisierte und datierte Begegnung mit einem konkreten Hund wird so als Erinnerungsbild gespeichert. Die singulären Erinnerungsbilder sind dann etwa Ausgangspunkt zur Bildung allgemeiner Vorstellungen, etwa dem empirischen Begriff ›Hund‹.651 Dieser Prozess der Internalisierung schlägt im Übergang von der Vorstellung zum Denken in einen Prozess der Darstellung, d. h. der erneuten Externalisierung um, in dem die Bilder erneut eine Rolle spielen. Die Intelligenz macht den »Vorrat der ihr angehörigen Bilder und Vorstellungen«652 zum Ausdrucksmedium für einen »ihr eigentümlichen Inhalt«,653 dessen spezifische Natur an dieser Stelle offenbleibt.654 Zu denken wäre etwa an das Bild 650 »Das Bild hat nicht mehr die vollständige Bestimmtheit, welche die Anschauung hat, und ist willkürlich oder zufällig, überhaupt isoliert von dem äußerlichen Orte, der Zeit und dem unmittelbaren Zusammenhang, in dem sie stand.« EpW III, § 452, 258 f. 651 Beides sind für Hegel ›Vorstellungen‹. Von den allgemeinen Vorstellungen unterscheidet sich das mentale Bild eines Hundes als die »sinnlich-konkretere Vorstellung«. EpW III, § 455, 263. 652 EpW III, § 456, 265 f. 653 Ebd. 266. 654 »[A]ntizipierend« schreibt Hegel, dass er »aus irgendeinem Interesse, ansichseiendem Begriffe oder Idee« stamme; es handle sich um eben irgendetwas, das eine »in sich bestimmte, konkrete Subjektivität« sich zum Inhalt oder Interesse machen kann. Ebd.



Bildlogik und Medialität

des konkreten Hundes, das zum Symbol für Treue wird. Kants Schematismus als »Vorstellung von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem [/] Begriff sein Bild zu verschaffen« (KrV B 179 f.), findet sein hegelsches Pendant in der »Phantasie« als »innere[r] Werkstätte«.655 ›Bild‹ wird dabei auch bei Hegel zum Überbegriff für den konkreten, singulären Part innerhalb einer Ausdrucks- oder Darstellungsbeziehung, in etwa analog zu ›Signifikant‹.656 Deutlicher als Kant reflektiert Hegel allerdings den Unterschied von inneren, mentalen Bildern und externen Zeichen.657 Durch die Phantasie erhält ein Inhalt zunächst eine konkretisierte »bildliche Existenz«, die allerdings zunächst nur »subjektiv« und innermental zu verstehen ist.658 Die Externalisierung geschieht erst durch »Zeichen machende Phanta­ sie«. Diese ist »sich äußernd, Anschauung produzierend« und gibt dem singulären Bild erst die »eigentliche Anschaulichkeit« im Sinne einer raumzeitlich bestimmten Präsenz.659 Im geistphilosophischen Kontext ist ›Bild‹ also für Hegel entweder das subjektive Erinnerungsbild, die internalisierte Anschauung oder die noch subjektive, innermentale Vorstufe zum externen Zeichen. Bildphilosophisch ist dieser bewusstseinstheoretische Bildbegriff kaum interessant, weil er einerseits sehr weit, andererseits internalistisch gedacht ist. Konkrete Bildartefakte, etwa der Malerei, lassen sich damit nur sehr unbestimmt fassen. Hinsichtlich ihres externen Charakters handelt es sich bei diesen für Hegel zunächst um »konkrete Anschauung[en]« und »Zeichen«.660 Eine bildtheoretische Hegellektüre muss also vom hegelschen Zeichenbegriff ausgehen, der allerdings deutlich mehr umfasst als etwa strukturalistische Zeichenkonzepte. Wie in Kapitel III.3.2 gezeigt, fungiert auch der menschliche Leib als eine Art Zeichen, das aber neben arbiträren Sprachzeichen und metaphorischen Symbolen eine eigene dritte Kategorie bildet. Bildartefakte wie etwa Gemälde sind also zunächst Zeichen, die durch eine ganze Reihe von Eigen655

EpW III, § 457, 268. Vgl. VÄ Hotho 1823, 119, MS 107: »Das zweite beim Symbol ist aber, daß das Symbol seiner Bedeutung noch nicht ganz adäquat ist. Das Bild enthält in sich noch mehreres als das, dessen Bedeutung es vorstellen soll.« 657 »Für solche Vereinigungen des Eigenen oder Inneren des Geistes und des Anschau­ lichen werden die Gebilde der Phantasie allenthalben anerkannt«. EpW III, § 457, 268. 658 Ebd. 267. 659 Ebd. 268. »Das von der Phantasie produzierte Bild ist nur subjektiv anschaulich; im Zeichen fügt sie eigentliche Anschaulichkeit hinzu«. Ebd. Die Phantasie sofern sie bloß derartige subjektiver Bilder produziert nennt Hegel im Unterschied zur zeichenmachenden Phantasie »Phantasie, symbolisierende, allegorisierende oder dichtende Einbildungskraft.« EpW III, § 456, 266. 660 EpW III, § 556, 367. 656

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schaften – Kunstwerkcharakter, Verflachung etc. – weiter spezifiziert sind. Auch die Ausführungen zur Darstellungsfunktion bleiben in der Philosophie des theoretischen Geistes viel zu unterbestimmt für eine bildtheoretische Auswertung.661 Hegel spricht dort von den »Gebilde[n] der Phantasie« nur in ihren ganz »abstrakten Momenten«: dass es sich um »Vereinigungen des Eigenen oder Inneren des Geistes und des Anschaulichen« handelt.662 Dies umfasst gleichermaßen das Denken der Philosophie in arbiträren Namen wie das Denken der Kunst in Bildartefakten oder jede beliebige Form menschlicher Kommunikation.663 Hier bestätigt sich, was bereits thesenhaft im ersten Teil der Studie (Kapitel I.4) dargestellt wurde: Wie der bewusstseinstheoretische Bildbegriff enthält auch die Theorie der Einbildungskraft bei Kant und Hegel als solche zunächst gar keine genuin bildtheoretischen Ressourcen, sondern bezeichnet ubiquitäre Vermittlungsvorgänge jeder Wahrnehmung und Semiose. Erst im Kontext von Ästhetik und der Frage nach einem anschaulichen Denken, konkretisieren und spezifizieren sich die entsprechenden Fragestellungen. Erst wo es wirklich um bildliche Darstellungen, d. h. zweidimensional-flächige Artefakte geht, wird aus dem Unterschied von Allgemeinem und Besonderem eine Frage ikonischer Differenz. Dies soll im Rest dieses Unterkapitels gezeigt werden.

661 Vgl. auch Kapitel I.4 sowie III.2.2.3 zu einer Kritik an Ottos Vorhaben, eine Philosophie des Bildes am ›singulären Erinnerungsbild‹ festzumachen. 662 EpW III, § 457, 268. 663 Eine weitere Parallele zur Frage des Schematismus bei Kant findet sich auch in der Wesenslogik. Konstituiert sich die ›Welt der Erscheinung‹ durch eine Privilegierung der Form über die Materie, so entsteht die Inhalt-Form-Differenz als Resultat einer »Verdopplung der Form« (EpW I, § 133, 265), d. h. einer Ausdifferenzierung dieses Formaspekts. Die Form ist einerseits »das Gesetz der Erscheinung« und wird dann auch »Inhalt« genannt; andererseits enthält sie »das Negative der Erscheinung, das Unselbständige und Veränderliche«, als »gleichgültige, Äußerliche Form.« Ebd. 264. Dass dies im Kontext der ›Welt der Erscheinung‹ diskutiert wird, erinnert an Kants Trennung von Verstandesgesetzen und sinnlicher Mannigfaltigkeit, zwischen denen der Schematismus vermitteln soll. Ziel Hegels ist es hier – wie überall in der Wesenslogik – zu zeigen, dass solche Oppositionen nur scheinbar ursprünglich sind und stattdessen als nachträglich trennbare Aspekte einer ursprünglichen Einheit begriffen werden müssen. Diese Einsicht kann zu gewissem Grade auch schon bei Kant lokalisiert werden: Entsprechend war ja auch bei Kant das Bild (genauer: das geometrische Diagramm) als Konkretion eines Schemas zu denken, und umgekehrt das Schema als nichts anderes als eine Konstruktionsanweisung zu Bildern. Mit Hegel kann dies so paraphrasiert werden: Das Schema muss erscheinen (verbildlicht werden), und dieses Erscheinen ist dem Schema wesentlich.



Bildlogik und Medialität

5.3.2 Das Generalitätsproblem der Malerei

Wie in Kants Diagrammtheorie gibt es auch in Hegels Malereitheorie etwas, das als Generalitätsproblem oder auch Problem der Überspezifizität bezeichnet werden kann. In beiden Fällen ist dieses verbunden mit einer eigentümlichen Dimension ikonischer Differenz, die als Spannungsverhältnis von allgemeinem Inhalt und partikularer Form beschrieben werden kann. Dabei müssen die unterschiedlichen epistemischen Kontexte berücksichtig werden: Im Falle der geometrischen Diagramme geht es um die Frage, wie an partikulären Figuren allgemeine Schlussfolgerungen möglich sind. Demgegenüber geht es Hegels Ästhetik um die Idee eine Steigerung von Ausdrucksverhältnissen, mit der die Frage einer expressiven Angemessenheit von Inhalt und Form, intentionalem Gehalt und externer Ausführung ins Zentrum rückt.664 Gerade wegen seines Generalitätsproblems bildet das geometrische Diagramm für Hegel zunächst die Negativfolie für jene organische Logik des Kunstwerks, die er als Ideal bezeichnet, und die insbesondere für die klassische Kunst verbindlich sein soll. In der romantischen Malerei bricht allerdings die Problematik der Partikularität, Überspezifizität und Kontingenz bildlicher Darstellungen wieder in die Kunst ein. Dies legt die Vermutung nahe, dass dieses Problem in besonderer Weise mit flächigen Bildmedien zu tun hat. Diese Eigenschaft der Malerei und einige Implikationen sollen im Folgenden betrachtet werden. An einer zentralen Stelle der Hotho’schen Edition wird gesagt: In der Kunst, spezifisch im schönen Ideal, sollten Inhalt und Form gerade »nicht die Bestimmung [haben], gleichgültig und äußerlich nebeneinander zu bleiben – wie z. B. bei einer mathematischen Figur, Dreieck, Ellipse, als dem in sich einfachen Inhalt, in der äußeren Erscheinung die bestimmte Größe,

664

Vgl. zum generality problem erneut: »A central issue, if not the central issue, was the generality problem. The diagram that appears with a Euclidean proof provides a single instantiation of the type of geometric configurations the proof is about. Yet properties seen to hold in the diagram are taken to hold of all the configurations of the given type. What justifies this jump from the particular to the general ?« Shin, Sun-Joo; Lemon, Oliver; Mumma, John (2001/2013). In Hegels Ästhetik entspricht dem die Frage einer Angemessenheit von Form und Inhalt. Im Begriff des Schönen und der Kunst findet sich »Gedoppeltes: erstens einen Inhalt, einen Zweck, eine Bedeutung, sodann den Ausdruck, die Erscheinung und Realität des Inhalts« VÄ I 132. »Der Inhalt ist der Gedanke, die Form das Sinnliche, die bildliche Gestalt. Das Abstrakte soll bildlich sich darstellen, der Inhalt also für sich selbst muß nach seiner eigenen Bestimmung zu dieser Darstellung fähig sein, sonst erhalten wir nur eine schlechte Amalgamation, indem ein prosaischer Inhalt, für sich gesetzt, bildlich soll gefaßt werden.« VÄ Hotho 1823, 32, MS 27.

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Farbe usf. gleichgültig ist«.665 In dieser Formulierung lässt sich unschwer der geometrische Schematismus wiedererkennen: Der ›einfache Inhalt‹ der geometrischen Definitionen (›Dreieck‹) wird externalisiert und konkretisiert, was einen Überschuss an kontingenten und partikulären Bestimmungen der Farbe, Größe oder exakten Winkelmaße erzeugt. Die zentrale mit dem Schematismus verbundene Einsicht bestand darin, dass es reicht, irgendein Dreieck zu verwenden, solange die entsprechenden Operationen von derartigen partikulären Eigenschaften unabhängig ausgeführt werden können.666 Eine wesentliche Charakteristik diagrammatischen Denkens ist daher eine ›Gleichgültigkeit‹ in Fragen ästhetischer Gestaltung: Die Diagramme müssen nicht perfekt oder schön sein, um wahr zu sein, sondern, etwa mit Stekeler gesprochen, lediglich hinreichend gut bzw. gut genug, um die Begriffe, die wir ja explizit daneben geschrieben oder dazu gesagt haben, darin wiederzuerkennen.667 Von solcher Gleichgültigkeit muss die Kunst für Hegel an dieser Stelle scharf abgegrenzt werden. Hegels ästhetischer Wahrheitsbegriff impliziert, dass es nicht um die Verbildlichung von Begriffen geht, die vor und unabhängig von der Darstellung definitorisch vorlägen, sondern darum, etwas Geistiges im Medium des Sinnlichen zuallererst herauszuarbeiten.668 Das Prinzip ist dabei die Steigerung der Expressivität einer individuellen Gestalt (vgl. Kapitel III.4.2.4). Inhalt und Ausführung sollen »so voneinander durchdrungen« sein, »daß das Äußere, Besondere ausschließlich als Darstellung des Inneren erscheint.«669 Da der Inhalt also allein über die konkrete Dar665 VÄ I 132 f. In den Nachschriften habe ich hierfür bisher keine Parallelstelle gefunden. Es gibt bei Hegel allerdings zahlreiche solche Stellen. So nennt Hegel etwa das »Prinzip« der geometrischen »Zeichnungen … die Verstandesidentität, welche die Figurationen zur Regelmäßigkeit bestimmt und damit die Verhältnisse begründet, welche dadurch zu erkennen möglich wird.« EPW II, § 256, 45. 666 Gemeint ist die Tatsache, dass die Bilder dem allgemeinen Begriff und Schema »an sich … nicht völlig kongruieren« (KrV B 181). Die »Allgemeinheit des Begriffs« Dreieck »macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklichte etc. gilt«, die singuläre Anschauung ist hingegen »immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt«. KrV B 180. 667 Vgl. Kapitel II.5.2. 668 »Der Inhalt ist der Gedanke, die Form das Sinnliche, die bildliche Gestalt. Das Abstrakte soll bildlich sich darstellen, der Inhalt also für sich selbst muß nach seiner eigenen Bestimmung zu dieser Darstellung fähig sein, sonst erhalten wir nur eine schlechte Amalgamation, indem ein prosaischer Inhalt, für sich gesetzt, bildlich soll gefaßt werden.« VÄ Hotho 1823, 32, MS 27. 669 VÄ I 132. Vgl. auch: »Ein Kunstwerk, welchem die rechte Form fehlt, ist eben darum kein rechtes, d. h. kein wahres Kunstwerk, und es ist für einen Künstler als solchen eine schlechte Entschuldigung, wenn gesagt wird, der Inhalt seiner Werke sei zwar gut (ja,



Bildlogik und Medialität

stellung selbst gegeben sein soll, muss sich die Überspezifizität von Darstellungen (d. h. ein kontingenter Überschuss der Darstellungen über den Inhalt) deutlich fataler auswirken als in der stets von expliziten Regeln geleiteten Konstruktionspraxis. Dennoch muss mit Blick auf das Inhalt-Form-Verhältnis bei Hegel differenziert werden. Wie schon oben in Anschluss an Collenberg bemerkt, muss der allgemein gefasste Kunstbegriff vom spezifischen ›Ideal‹ der klassischen Kunst unterschieden werden. Spezifisch dort und in der Skulptur soll ein Maximum an Schönheit und Idealität, d. h. Durchdringung von Inhalt und Form erreicht sein. Im singulären Zusammentreffen zwischen dem antiken Inhalt und den medienspezifischen Fähigkeiten der Skulptur entsteht so ein Maximum des ästhetischen Ausdrucks.670 Wie oben gesehen besteht dieser Inhalt in menschlichen Charaktereigenschaften wie Güte oder Stärke, insofern sie exemplarisch in der menschlichen Physiologie erscheinen. Dabei geht es um einen Typus – semiotisch gesprochen – einen type. Die antiken Marmorskulpturen stehen in den Augen Hegels für den Versuch, derartige Typen zu perfektionieren und ästhetisch so umzusetzen, dass kein Verlust an Allgemeinheit, Typizität oder Idealität eintritt. Hierfür bietet die farblose Marmorskulptur die medienspezifischen Mittel: Durch ihre Statik, Selbständigkeit und Abgeschlossenheit stellt sie den menschlichen Leib ohne Verwicklung in alltägliche Situationen, partikuläre Bedürfnisse und Gemüts­regungen etc. dar. Dies wird durch die zurückgenommenen Darstellungsmittel, die Beschränkung auf den räumlichen Umriss, und die Verwendung des weißen, quasi farblosen Marmors akzentuiert. Die ›ideale‹ Allgemeinheit des Typus bzw. seiner Darstellung basiert auf dem Ausschluss von fühlender, lebendiger und individueller Personalität. Die klassische Skulptur erreicht so eine einmalige Durchdringung von Inhalt und Form. Es gelingt ihr in Hegels Augen, eine Art singulären token (Form) zu schaffen, in dem ein allgemeiner type (Inhalt) gleichsam ohne Abstriche an seine Allgemeinheit und ohne partikuläre Überschüsse zu erscheinen vermag. Wie ebenfalls gesehen, wird dieses klassische Modell in der romantischen Kunstform der Malerei in charakteristischer Weise transformiert. Ein Generalitätsproblem ist bereits dem neuen Inhalt eingeschrieben, der romantischen Existenz- und Lebensform der Subjektivität. Die Subjektivität basiert auf der Fähigkeit zur »Reflexion«, d. h. der Distanzierung von der eigenen wohl gar vortrefflich), aber es fehle denselben die rechte Form. Wahrhafte Kunstwerke sind eben nur solche, deren Inhalt und Form sich als durchaus identisch erweisen.« EpW I, § 133 Zus., 265 f. 670 Vgl. zur diesbezüglichen Überlegenheit der Skulptur über das Drama: Rutter 2010, 88.

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Körperlichkeit und Sinnlichkeit im Sinne eines »Gleichgültige[n]«.671 Hierdurch wird zugleich »die Sinnlichkeit, die [/] Besonderheit, für sich frei, und wird dadurch zu einem eigentlich Zufälligen.«672 Eben diese Situation spiegelt sich für Hegel in der Medienspezifik der Malerei und macht sie zu einer ausgezeichneten ›Kunst der Subjektivität‹, die insbesondere auch der Partikularität und Kontingenz individuellen Daseins Raum gibt und Ausdruck verleiht: »[I]n der Malerei gewinnt alles Besondere Platz […]. Eine unendlich bestimmbare Eigentümlichkeit tritt hier ein.«673 Dies ist zum einen Resultat von Verflachung und Rahmung. Es entsteht um die Figur ein negativer Raum, der ganz wörtlich gefüllt werden muss, ein geschichtlicher, d. h. partikulärer Handlungs- und Lebenskontext tritt in das Bild hinein. Das romantische Subjekt ist stets ein situiertes Subjekt.674 Zum anderen wird die räumliche Umrissform der klassischen Skulptur durch Licht, Helldunkel und Farbe erweitert und ersetzt. An die Stelle »Idealität« tritt »das Licht […,] welches sich in sich partikularisiert, sich verdunkelt, färbt«.675 Neben der Flächigkeit sind es also vor allem Licht und Farbe, durch die die Malerei zum Medium sinnlicher Besonderheiten wird. Diese erweisen sich gleich auf verschiedenen Ebenen als Differenzierungs- und Individuationsprinzipien: Erstens ergibt sich bereits auf der Ebene der Lokalfärbungen – man denke etwa an Augenfarben, Zustände der Haut, Gewänder, Architektur, Natur – ein viel höherer Individualisierungsgrad als durch den räumlichen Umriss. Zweitens ist, wie im folgenden Kapitel betrachtet wird, die perspektivische Darstellung für Hegel von einer individuellen und häufig temporär flüchtigen Beleuchtungssituation abhängig, durch die sich wiederum Abschattungen in den ebengenannten Lokalfarben ergeben. Und drittens ist das Arbeiten mit der Farbe für Hegel wesentlich stärker als bei der Skulptur von einer eigentümlichen Auffassungsweise, einer Manier des Künstlers geprägt.676 Insgesamt verbindet sich mit der Malerei für Hegel eine anti-ideale, naturalistische Tendenz. Die Malerei »nähert […] sich, statt zu idealisieren, vielmehr dem Portrait« und lässt das Äußere, wie sie es »in zufälliger Weise unmittelbar vorfindet«.677 671

VÄ Ascheberg 1820/21, 241, MS 185. Ebd. 241, MS 185 f. 673 VÄ Hotho 1823, 252, MS 235. »Die Gegenstände also der sich besondernden Subjectivität, eben so die Gegenstände der sich besondernden Äußerlichkeit sind die für die Malerei eigenthümlichen Gegenstände.« VÄ Ascheberg 1820/21, 245, MS 190. 674 Vgl. dazu Rutter 2010, 69 und 76. 675 VÄ Hotho 1823, 207, MS 192. 676 »[D]ie Malerei ist auf das Bestimmteste mit dem Sinnlichen, Äußerlichen beschäftigt. Manier ist dies besonders: eine Geläufigkeit des Künstlers, diese äußeren Seiten vorzutragen.« VÄ Pfordten 1826, 109, MS 25a. 677 »Denn hier bildet sich in dem Romantischen jetzt die Seele nicht mehr dem Leibe 672



Bildlogik und Medialität

Inhalt und Form, Allgemeines und Besonderes, die im Substanzparadigma der klassischen Skulptur in gleichermaßen ästhetisch einmaliger und maximaler wie epistemologisch defizitärer Weise verschmolzen sind, treten in der Malerei auseinander, was als eine spezifische Dimension ikonischer Differenz verstanden werden kann. Der Überschuss individueller äußerlicher Details, d. h. die Überspezifität, die sich aus den naturalistischen Tendenzen der Malerei ergibt, wird aber auch bei Hegel zu einem bedeutungs- und kunsttheoretischen Problem: Wie kann in der singulären, partikulären Darstellung dennoch ein allgemeinverbindlicher Inhalt erscheinen ? Für Hegel lässt sich die Geschichte der Malerei immer auch als eine Auseinandersetzung mit dieser ihr intern eingeschriebenen Problematik lesen. Eine erste Strategie, mit der die Malerei dieses Problem angeht, liegt in einer Dynamisierung, der es nicht mehr um Eigenschaften, sondern Vollzüge und Handlungsformen geht. Zwar haben die Figuren, wie auch die diagrammatischen Figuren, stets solche partikulären Eigenschaften; das Inhalt-FormVerhältnis wird aber nun auf einer anderen Ebene angesiedelt: An die Stelle von Charaktereigenschaften, die an der menschlichen Gestalt erscheinen, tritt das performative ›Scheinen des Inneren‹ in Handlungen und Situationen. Hiermit verschiebt sich auch das Darstellungsinteresse von der Schönheit und Idealität der Gestalt hin zu Lebendigkeit und Beseelung: Ist »die Bestimmung der Malerei die abstracte Bestimmung der Besonderheit […], […] so ist die Form der Malerei eigentlich die Form der Lebendigkeit. Die Idee, weil sie im Felde der Besonderheit erscheint, verbirgt so den ihr allgemein adäquaten Inhalt; aber in der Lebendigkeit stellt sie sich als Seele dar.«678

In der Lebendigkeit als zentralem Prinzip der Malerei ist also zunächst der Partikularität des individuellen subjektiven Daseins Rechnung getragen. Zugleich wird die Tatsache abgefangen, dass sich die relationalen und komplexen Lebensformen in einem Zeitalter der Subjektivität nicht mehr vollständig in ästhetischen Idealtypen versinnlichen lassen. Diese Lebendigkeit bezeichnet weiterhin die Widersprüchlichkeit, Konflikthaftigkeit zwischen

ein, sie idealisiert ihn nicht, sondern läßt ihn, da sie in sich selbst ihr wahrhaftes Dasein hat, wie er unmittelbar ist. Damit nähert sie sich, statt zu idealisieren, vielmehr dem Portrait, denn das Interesse der klassischen Kunst, ganz in der Leiblichkeit zu erscheinen, ist verloren, und somit [ist] die Äußerlichkeit ein mehr gleichgültig Äußerliches, das zu idealisieren die Seele nicht mehr nötig hat, und es daher, wie sie es in zufälliger Weise unmittelbar vorfindet, läßt.« VÄ Hotho 1823, 185, MS 171. 678 VÄ Ascheberg 1820/21, 248, MS 193. Diese Überlegungen zur Lebendigkeit beziehen sich vor allem auf die Darstellung von Rutter 2010, 87 ff., insbesondere auch 91.

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Individuum und Lebenswelt, die in der Malerei ausgetragen wird.679 Und sie bedeutet eine Emotionalisierung, denn an die Stelle von »bestimmte[n] Anschauungen des Göttlichen« treten in der Malerei »unbestimmtere Vorstellungen, die in die Empfindung fallen«.680 Diese Auflösung von Umrissen zugunsten von Differenzen und Emotionen führt letztlich zu einer Musikalisierung der Malerei, die ihre »gleichgültiger« werdenden Gegenstände zur Hervorbringung eines »allgemeine[n] Klangs« gebraucht.681 Eine zweite Hinsicht, in der dieses Problem die geschichtliche Entwicklung der Malerei informiert, besteht für Hegel darin, dass sich die Malerei wie keine andere Kunstform in »zwei Extreme« aufgespaltet hat: »das Interesse des Gegenstands und das der subjektiven Kunst«.682 In der ersten Dimension sind es insbesondere die christlichen Inhalte, an denen ein derartiges gesteigertes Interesse besteht. Diese bringen ihre eigenen Darstellungsprobleme und malerischen Lösungen für das Problem der Überspezifizität mit sich – etwa in der fast ikonoklastischen Negativität in der Darstellung von Christus als Leidendem oder in der unbestimmten Potentialität der Darstellung von Christus als Kind.683 Letztlich treten in diesem Kontext aber die malerischen Darstellungsmittel hinter den Inhalt zurück. Das »andere Extrem« hingegen ist »die technische Geschicklichkeit, deren Gegenstand wenig Interesse hat.«684 Dies ist vor allem die niederländische Kunst, die als eine ›Kunst des Scheins‹ eben die naturalistische Darstellung äußerer Natur (wie etwa in Genremalerei und Stilleben), die Darstellungsmittel und die Manier des Künstlers als »eigenthümliche[] Behandlung des Zufälligen« in den Mittelpunkt rückt.685 Hiermit kommt es zu einer Emanzipation der Darstellungsmittel von allgemeinverbindlichen ›hohen‹ Inhalten und einem Exzess der Form, Außenseite und Oberfläche – insbesondere des Kolorits – gegenüber dem inhaltlichen Interesse (vgl. hierzu genauer das folgende Kapitel). 679 »Die Lebendigkeit ist in diesem Widerspruch, als sie selbst – die Eins – von anderem abzuhängen, und ist der stete Kampf, diesen Widerspruch aufzuheben. Es ist dies das Bild der Endlichkeit, des steten Bekriegens. Es ist die erscheinende Welt.« Hotho 78 Ms. 69. Eine solche Lebendigkeit, die an die statische klassische Schönheit tritt, involviert, wie Rutter bemerkt »a looser and more dynamic fit between the two related elemetns (body and soul, inner and outer, content and form, and so on).« Rutter 2010, 87. 680 VÄ Hotho 1823, 249, MS 232. 681 Hotho 1823, 249, MS 243. 682 VÄ Hotho 1823, 251, MS 234 f. 683 Vgl. hierzu Gethmann-Siefert 2005, 280 ff.; Collenberg 1992, 145 ff. 684 VÄ Hotho 1823, 252, MS 235. 685 VÄ Ascheberg 1820/21, 106 f., MS 70. Die Manier bestehe »in oft wiederkehrenden Eigentümlichkeiten und in einer besonderen, sich immer wiederholenden Art, Effect hervorzubringen«. Ebd. »Bei den verschiedensten Künstlern zeigt sich auch die Manier verschieden; am schärfsten gesondert zeigt sich die Manier bei den Niederländern.« Ebd.



Bildlogik und Medialität

Hegels Interesse an diesem Auseinanderfallen von Inhalt und Form, das – gemessen am Ideal klassischer Kunst – als krisenhaft erscheint, lässt unterschiedliche Lesarten zu. Zum einen lassen sich kunstexterne Gründe geltend machen: Die Inhalte der christlichen Religion seien über die Darstellbarkeit durch die Kunst hinaus, ließen sich nicht mehr adäquat und vollständig im Medium der Sinnlichkeit darstellen. Es lässt sich aber genauso gut und mit interessanterem Ergebnis feststellen, dass Hegel damit eine kunstinterne Problematik reflektiert, die sich gerade zu seiner eigenen Zeit in besonderer Weise zuspitzt. Dies haben Collenberg und Rutter (von denen jeweils die detailliertesten Interpretationen von Hegels Malereitheorie stammen) in einer Weise geltend gemacht, mit der zugleich der Auffassung von Hegel als konservativem Klassizisten widersprochen werden kann. Collenberg beschreibt das »künstlerische Grunderlebnis« der Zeit um 1800 als »Erfahrung einer radikalen Heterogenität innerhalb der Kunst«, nämlich »einer Heterogenität von antiker und moderner Kunst.«686 Der moderne Klassizismus etwa Winckelmanns oder Goethes beruhe nun auf dem »Grundwiderspruch«, diese Idee der »Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit« von Kunstepochen zwar würdigen zu wollen, gleichzeitig aber an der »Grundvorstellung einer einzigen ›wahren‹ Kunst« festzuhalten.687 Hegel suche angesichts dieser Problematik in seiner Ästhetik einen »Weg zwischen Normativität und Rela­ tivismus«688 bzw. »Varianz und Identität in der Kunst«.689 Dieser ist, wie Collenberg argumentiert, gerade angesichts »unklassischer Kunstphänomene« vonnöten, zu denen spezifisch die niederländische Genremalerei mit ihrem schon von Diderot erkannten Akzent auf den Darstellungsmitteln gehöre.690 Rutter deutet Hegels Malereitheorie als dialektischen Vermittlungsversuch zwischen zwei Positionen: der Position der Winckelmann-Schüler, die sich am Ideal als Perfektionierung eines Typus orientiert; und dem MimesisGedanken des Naturalismus, der die Nachahmung der Natur fordert und etwa von Hegels Zeitgenossen Carl Philipp von Rumohr vertreten wird.691 Hieraus resultiere bei Hegel eine Dialektik von Kunstwerk und Kunststück bzw. inhaltsbezogener Wahrheit der Kunst und virtuosem Illusionismus.692 686

Collenberg 1992, 245 f. Ebd. 246. Vgl. hierzu auch die analoge Einschätzung Peters’ von einem ›very peculiar kind of classicism‹, den Hegel, wenn überhaupt, vertrete. 688 Ebd. 249. 689 Ebd. 253. 690 Ebd. 249. Vgl. auch Rutter 2010, 63 f. Mit dieser Wertschätzung stelle sich Hegel gleichermaßen gegen die Winckelmannschüler wie den französischen Akademismus, die den Diskurs seiner Zeit dominierten. 691 Rutter 2010, 64. (»perfection of a type«) 692 Ebd. 67. (»truth« vs. »skill«) 687

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Hilmer bringt dieses Kernproblem romantischer Kunst auf die Formel einer »mit Bedeutungslosigkeit verschränkten Bedeutung«.693 Damit wird das Problem der Überspezifizität bildlicher Darstellungen bzw. die ikonische Differenz von Inhalt und Form für Hegel zum gleichsam inneren Problem der Kunstform Malerei, das innerhalb ihres Korpus stets reflexiv neu verhandelt und gelöst werden muss. Mit diesem Gedanken erweist sich Hegel als modern. Das Problem, nicht alles haben zu können, sich zwischen Strategien des ›Inhaltismus‹ oder des ›Formalismus‹ entscheiden zu müssen bzw. in diese Bereiche auseinanderzufallen, wird immer wieder auch für die Gegenwartskunst konstatiert.694 Wie es die zentrale These dieses Kapitels ist, liegt im geometrischen Diagramm und der figürlichen Malerei ein vergleichbares, wenn auch keineswegs identisches Problem der Überspezifität oder sinnlichen Überbestimmtheit flächiger Bildartefakte vor. Mit diesem Pro­ blem wird in ihren unterschiedlichen epistemischen Kontexten zugleich sehr unterschiedlichen umgegangen: Das geometrische Verfahren lässt sich vom Schematismus leiten, wie er sich gleichermaßen an Kant wie der modernen Diagrammtheorie rekonstruieren lässt. Es beharrt auf der Gleichgültigkeit der überschüssigen Differenzen, Partikularitäten und Kontingenzen, weil es immer darum geht, die Figuren im Lichte einer allgemeinen Regel interpretieren zu können. In der Malerei, wie sie sich mit Hegel als ästhetische Form des menschlichen Selbstbewusstseins verstehen lässt, wird diese Gleichgültigkeit nicht im Lichte des Allgemeinbegriffs affirmiert, sondern reflexiv zum Pro­ blem gemacht, weil sie zugleich ein zentrales Problem der modernen Lebensform der Subjektivität ist.

693 Hilmer 2005, 60. »Die Komplexität der romantischen Bedeutungsstruktur ergibt sich aber daraus, daß das Werk, bzw. sein Gegenstand, weder ein externes Allgemeines [symbolisch] noch sich selbst [klassisch] exemplifiziert oder expliziert, aber gleichwohl die Logik der Exemplifikation nicht einfach aufgegeben wird. Wir haben es gleichsam mit einem Muster von etwas zu [/] tun, das sich nicht exemplifizieren läßt. Die Bedeutungslosigkeit des Musters ist nicht mit einem sich-selbst-Bedeuten zu verwechseln: es ist gewissermaßen nicht bedeutend, nicht allgemein genug, um abschließend auf sich verweisen zu können.« Ebd. 60 f. 694 Vgl. hierzu etwa Dziewior, Yilmaz (Hg.) (2004): Formalismus: moderne Kunst, heute. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz.



Bildlogik und Medialität

5.4  Die Differenz von Schein und Materie: Sichtbarkeit, Flächigkeit, ­Farbigkeit

Als eine dritte Dimension ikonischer Differenz soll auch bei Hegel die mediale Leistung des Bildlichen betrachtet werden, Präsenz von materieller Substanz abzulösen. Auch hier folgt zunächst ein kurzer Überblick über die Argumentation des Kapitels: In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, dass in dieser Hinsicht an die Stelle des Begriffs der Form bei Kant für Hegel die Begriffe Schein und Oberflächlichkeit treten. Zunächst ist es die Kunst insgesamt, die mit ihrem Scheincharakter als Drittes zwischen dem Realnexus materiellen Konsums und dem auf diskursive Allgemeinheit gerichteten Interesse der Theorie bestimmt wird. In der Malerei wird dieser Scheincharakter durch die Verflachung in potenzierter Weise wirksam: Die Malerei zieht sich aus dem dreidimensionalen Umgebungsraum von Architektur und Skulptur zurück, um ihn auf einer zweidimensionalen Fläche artifiziell und illusionär wiedererscheinen zu lassen (III.5.4.1). In einem zweiten Schritt geht es darum zu zeigen, wie diese Dematerialisierung, Subjektivierung und Verfügbarmachung bei Hegel aber nicht in Zeichnung und Zentralperspektive begründet ist, wie das eine okularzentrische Lesart Hegels vermutet. Stattdessen kommt es, wie die originalen Vorlesungsnachschriften zeigen, bei Hegel zu einer radikalen Aufwertung von Farbe und Kolorit. Wurde diese vom Klassizismus ebenso wie von Kant als materieller Reiz abgewertet, so nimmt sie Hegel in ihren medialen, relationalen und reflexiven Qualitäten ernst. Hierin wurzelt eine hegelsche Theorie des ›nichtklassischen Bildes‹: An die Stelle räumlicher Umrisse der dreidimensionalen Gestalt tritt eine Differenzialität der Farbwirkungen, die je nach Betrachterposition auch als Kontinuität erscheinen kann. Statt der geometrisch konstruierten Zentralperspektive fokussiert sich Hegel auf die Luftperspektive, die die räumlich-haptischen Wirkungen der Farbvaleurs ausnutzt. Eine besondere Stellung haben diese Effekte der Farbe in der niederländischen Genremalerei und dem Stillleben, wo das Interesse vom dargestellten Gegenstand zu einer ›Magie des Scheinens‹ übergeht. Hier zeigt sich die Malerei als Medium, das in einzigartiger Weise dazu in der Lage ist, die weltkonstituierende Rolle der Farbempfindungen herauszuarbeiten. Damit kann Hegels Ästhetik Kants transzendentale Ästhetik von Raum und Zeit um die transzendentale Rolle von Licht und Farbe erweitern (III.5.4.2).

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Teil III · Hegel: Entäußerung

5.4.1 Verflachung als Prinzip der Malerei

Kunstwerke gehören für Hegel einem Sondertypus von Sinnlichkeit an, der mit dem Begriff vom Medialen als einer ›Figur des Dritten‹ gefasst werden kann. Die Kunst steht, so Hegel, »in der Mitte […] zwischen dem Sinnlichen als solchen und dem reinen Gedanken«.695 Das spezifische Interesse der Kunst an der Sinnlichkeit ist hierbei einerseits von der Begierde, andererseits von dem der Theorie abzugrenzen. ›Begierde‹ nennt Hegel die Dimension von Ökonomie, Konsum und Kulinarik, in der sich ein individuelles Interesse »auf die Dinge als einzelne, widerstandleistende«696, auf ein »konkret Materielles«697 bezieht und dieses durch Gebrauch und Verzehr »vernichtet«.698 Demgegenüber lässt das Interesse der Theorie »die Dinge frei und verhält sich demnach selbst gegen sie frei.«699 Sie zählen allerdings nicht als sinnlich Einzelne, sondern nur Ausgangspunkt dazu, »das Wesen, das Allgemeine der Dinge zu erfassen, den Begriff des Gegenstandes.«700 Wie auch schon Kants ›reine Anschauung‹ vom materiellen Aposteriori des Experiments und diskursiven Apriori der Philosophie unterschieden war, stellt auch der Modus des Sinnlichen in der Kunst für Hegel ein Drittes, Mediales dar. Wie dies Hegel versteht, zeigt ein ausführlicherer Blick auf die oben schon zitierte Stelle: In der Kunst »…will der Geist nicht den Gedanken, das Allgemeine, die Gestaltung des Sinnlichen, sondern er will das sinnliche Einzelne, abstrahiert vom Gerüst der Materiatur. Der Geist will nur die Oberfläche des Sinnlichen. Das Sinnliche somit ist in der Kunst zum Schein erhoben, und die Kunst steht in der Mitte somit zwischen dem Sinnlichen als solchen und dem reinen Gedanken; das Sinnliche in ihr ist nicht das Unmittelbare, in sich selbständige des Materiellen, wie Stein, Pflanze und organisches Leben, sondern das Sinnliche ist für ein Ideelles, aber nicht das abstrakt Ideelle des Gedankens.«701

Idealität, Schein und Oberflächlichkeit sind also die Namen für den Sondermodus der Sinnlichkeit. Vergeistigung, Idealisierung und Abstrahierung wird hierbei nicht wie im theoretischen Interesse der Philosophie durch Verallge695

VÄ Hotho 1823, 20, MS 17. Ebd. 206, MS 191. 697 Ebd. 19, MS 16. 698 Ebd. 206, MS 191. »Wir gebrauchen die äußerlichen Dinge, verzehren sie, verhalten uns negativ gegen sie.« Ebd. 18, MS 16. 699 Ebd. 19, MS 17. 700 Ebd. 20, MS 17. 701 Ebd. 696



Bildlogik und Medialität

meinerung und Diskursivierung erreicht, sondern durch Dematerialisierung. Kunst »will das sinnliche Einzelne, abstrahiert vom Gerüst der Materiatur.«702 »Material« der Kunst ist nicht die empirische oder »unmittelbare Sinnlichkeit«, sondern »vergeistigtes Sinnliches sowie versinnlichtes Geistiges« bzw. ein »ideelles, … abstraktiv Sinnliches«.703 Wie Kants Theorie des diagrammatischen Bildraums basiert auch Hegels Theorie der Kunst auf der Annahme einer nichtempirischen oder spontanen Sinnlichkeit. Während Kant dies auf einer Unterscheidung von idealen Raumrelationen und einem realen physikalischen Kausalnexus begründete, findet Hegel eine analoge Unterscheidung zunächst in einer Theorie der Sinne, spezifischer, einer Unterscheidung der »theoretischen Sinne« von den »praktische[n] Sinne[n]«704: Die Nahsinne (Geruch, Geschmack, Gefühl) sind verzehrend, haben es mit »den materiellen sinnlichen Dingen zu tun«.705 Demgegenüber haben es die Fernsinne (Gehör und Gesicht) mit dem »rein sinnliche[n] Schein« bzw. der »Gestalt« zu tun. Diese »bezieht sich einerseits äußerlich auf das Gesicht, andererseits auf das Gehör; es ist das bloße Aussehen und Klingen der Dinge.«706 Das materielle Werk bleibt durch das Sehen »in seiner Integrität unangefochten«.707 Und: »Das Sinnliche der Kunst […] ist sichtbar und hörbar.«708 Für die idealistische Ästhetik Hegels besteht die eigentümliche Leistung der Kunst in der Idealisierung oder Virtualisierung, darin, nur einen ›Schein‹ bzw. dematerialisierte Oberflächen zu produzieren. Der schon zuvor zitierte bildtheoretische Topos, wonach Bildmedien die »Implikation von Präsenz und Substanzialität« auflösen,709 kehrt also in hegelschen Formulierungen fast wortgleich wieder.710 Interessant ist hierbei die Rede davon, dass die Kunst »innerhalb der sinnlichen Sphäre zugleich 702 Ebd. Vgl. auch die zusammenfassende Feststellung, »daß die sinnliche Oberfläche, das Erscheinen des Sinnlichen als solchen, der Gegenstand der Kunst sei, während die äußerlich empirische Ausbreitung der konkreten Materiatur für die Begierde ist.« Ebd. 703 Ebd. 21, MS 18. 704 Ebd. 206, MS 191. 705 Ebd. 21, MS 18. 706 Ebd. 707 »Das Gesicht dagegen hat zu den Gegenständen ein rein theoretisches Verhältnis vermittels des Lichtes, dieser gleichsam immateriellen Materie, welche nun auch ihrerseits die Objekte frei für sich bestehen läßt, sie scheinen und erscheinen macht, sie aber nicht praktisch, wie Luft und Feuer, unvermerkt oder offen verzehrt. Für das begierdelose Sehen nun ist alles, was materiell im Raume als ein Außereinander existiert, das aber, insofern es in seiner Integrität unangefochten bleibt, sich nur in seiner Gestalt und Farbe nach kundtut.« VÄ II, 255. 708 VÄ Hotho 1823, 206, MS 191. 709 Wiesing 2005, 32. 710 Die Hotho’sche Edition spricht noch deutlicher davon, die Sinnlichkeit des Kunst-

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Teil III · Hegel: Entäußerung

von der Macht der Sinnlichkeit« befreie.711 Als eine solche Macht der Sinnlichkeit wäre wohl nicht nur die materielle Begierde im Sinne genießerischer und aufzehrender Kulinarik zu verstehen. Hinzugezählt werden kann sicher auch jeder andere Eigensinn der materiellen, aposteriorischen Natur: die Widerständigkeit des Kausalnexus bei Kant, die Nichtidentität der Natur bei Adorno oder die bildinternen ›Kräfte‹ der energetischen Bildtheorien. Die Kunst hat es für Hegel mit »bloß Oberflächlichem, bloß Gemachtem«712 zu tun, ist also Produkt menschlicher Spontaneität (vgl. Kapitel III.4.3.). Durch diesen Scheincharakter unterscheiden sich die Produkte der Kunst von den gegebenen Naturdingen.713 Dennoch ist dieser Scheincharakter in den verschiedenen Kunstgattungen in unterschiedlichem Maße realisiert, worin für Hegel ein teleologischer Zuwachs von ›Vergeistigung‹ auf dem Weg von Architektur, Skulptur, Malerei, Musik zur Poesie liegt.714 Die bildenden Künste sind generell Künste des »Sichtbare[n]«.715 Das Spezifische der Malerei gegenüber Architektur und Skulptur liegt wiederum in der »Verflächung«:716 Die »räumliche Totalität […] wird verlassen, eine Seite an ihr wird getilgt, und in Beziehung auf den Raum behält die Malerei nur eine Abstraktion des Raums, die Fläche. […] werks sei »sinnliche Gegenwart, die zwar sinnlich blieben, aber ebensosehr von dem Gerüste der Materialität befreit werden soll.« VÄ I 60. 711 Auch: »Die Kunst durch ihre Darstellungen befreit innerhalb der sinnlichen Sphäre zugleich von der Macht der Sinnlichkeit.« VÄ I 74 f. 712 VÄ Hotho 1823, 19, MS 16. 713 Der Begriff des ›Scheins‹ ist bei Hegel insgesamt überdeterminiert, insofern die gesamte Wesenslogik ihr Prinzip in einem »Scheinen in ihm selbst« (WL II, 17) finden soll. Mit Blick auf die Welt als ›Erscheinung‹ lehnt Hegel einen mit Kant verknüpften reduktionistischen oder deflationären Erscheinungsbegriff ab: »Hegel gebraucht ›Erscheinung‹ in einem Sinn, der Kants Gebrauch dieses Wortes genau entgegengesetzt ist. Anstatt – wie Kant – den Gegengensatz zwischen der nur subjektiv aufgefaßten Erscheinung und dem im Verborgenen bleibenden abstrakten Wesen, d. h. der transzendenten Realität, herauszustellen (§§ 44, 45, 131), drückt Hegels ›Erscheinungs‹-Begriff das wesentliche Manifestiertsein aller Wirklichkeit aus.« Taylor, Charles (1997): Hegel, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 358. Die »Wirklichkeit als Erscheinung zu betrachten«, bedeute dann, sie als das »Erscheinen der inneren Notwendigkeit zu verstehen« (ebd.). Im Ästhetischen, spezifisch in der Malerei nimmt die Rede vom Schein eine ganze Reihe von Bedeutungen an. Diese lassen sich im weitesten Sinne in zwei Aspekte differenzieren: der Schein als Erscheinen von Etwas (Darstellungsaspekt) bzw. der Schein als ästhetische Oberfläche (Medialitätsaspekt). Beide Aspekte finden sich sowohl im Kunstwerk generell als auch in besonders zugespitzter Form in der Malerei. Zu den verschiedenen Dimensionen des Scheinbegriffs vgl. etwa Rutter 2010, 65 ff. 714 Dies gehört zur jeweiligen »Bestimmtheit« ihrer »Erscheinung« oder Medienspezifik. VÄ Hotho 1823, 205, MS 190. 715 Ebd. 206, MS 191. 716 VÄ Ascheberg 1820/21, 243, MS 188.



Bildlogik und Medialität

Die räumliche Totalität verflächt sich.«717 Stellen Architektur und Skulptur dreidimensionale materielle Gebilde in die unmittelbare Lebenswelt einer Gesellschaft, so beschränkt sich die Sichtbarkeit der Malerei auf die zweidimensionale Fläche. Für Hegel ist dies eindeutig mit einer erweiterten epistemologischen und expressiven Leistungsfähigkeit verbunden. Die Malerei teilt damit ein allgemeines Prinzip von Bildmedien, das Krämer die Transformation »umgebungsräumliche[r] Dreidimensionalität in artifizielle Zweidimensionalität« nennt.718 In Kapitel III.5.2 wurden bereits zwei Leistungen dieser Verflachung betrachtet: Die artifizielle Zweidimensionalität verändert zum einen die Bedeutung von Figürlichkeit: Gegenüber der Eigenständigkeit der klassischen Skulptur, die nur einen Typus oder ein allgemeines Muster zeigen kann, ist nun eine Entfaltung von Handlungskonstellationen möglich. Zum anderen impliziert die Fläche, indem sie – in Kombination mit dem Rahmen als Grenze – einen negativen Raum um die Figur erzeugt, ein gesteigertes Abhängigkeitsverhältnis von Figur und Grund. Dies erlaubt es, das Verhältnis von handelnden Menschen und historisch-lebensweltlichen Kontexten in den Blick zu nehmen, das im Falle der ›selbständigen‹ Skulptur nicht explizit gestaltet werden konnte. Nun soll eine weitere Leistung dieser Flächigkeit betrachtet werden, die bisher nur stillschweigend vorausgesetzt wurde: Die Flächigkeit erlaubt es der Malerei durch Farbe die Illusion von Raumtiefe zu schaffen. Die Verflachung ist also für Hegel auch diesbezüglich nicht Selbstzweck. Dies wäre sie etwa im modernistischen Gedanken, wonach Malerei nun eben diese Flächigkeit als solche zu thematisieren habe. Bei Hegel wird sie dagegen als Bedingung für die Erzeugung eines illusionären Tiefenraums gedacht. Der dreidimensionale Raum von Architektur und Skulptur ist also in gewisser Weise im zweidimensionalen Raum ›aufgehoben‹, da seine Elemente (Figur und Hintergrund) im Modus des ›Scheins‹ reproduziert werden. Das allgemeine Prinzip der Kunst, die Sinnlichkeit nicht als »widerstandleistende«,719 sondern nur als Schein und Oberfläche zu betrachten, wird durch den malerischen Illusionismus also noch einmal gesteigert und potenziert. 717

VÄ Hotho 1823, 250, MS 233. Krämer 2016, 14. Ebenso kann hierbei angeknüpft werden an Sybille Krämers Theo­ rem vom »Sonderraum der inskribierten Fläche«, in dem sich das menschliche Handeln etwa von »den Gesetzen der Schwerkraft und der Unumkehrbarkeit der Zeitrichtung« emanzipiert. »Als körperliche Wesen sind wir der Macht der Zeit unterworfen; doch die inskribierte Fläche stiftet – jedenfalls ein kleines Stück weit – Macht über die Zeit.« Ebd., 14 f. vgl. Hegel: Die Malerei »verläßt … die objektive Bestimmung der Materie, die totale Räumlichkeit und Äußerlichkeit, und ist das Abstrahieren von derselben.« VÄ Hotho 1823, 250, MS 233. 719 Ebd. 206, MS 191. 718

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Auch mit dieser Eigenschaft erweist sich die Malerei für Hegel als Kunst der Subjektivität: In der Verflachung gewinne, so Hegel, das Prinzip der »Subjektivität« die Überhand gegen die »räumliche Totalität«.720 Die medienspezifischen Eigenschaften der Malerei (Verflachung, Illusionismus) werden also von Hegel an die Prämissen der Subjektphilosophie gebunden, die ja nicht nur die stoisch-christliche Entdeckung der Innerlichkeit umfasst, sondern auch den sogenannten neuzeitlichen Korrelationismus. Die Welt wird nicht mehr als fraglos vorhandene Schöpfung begriffen, sondern als Erscheinung für ein perzipierendes und perspektivisches Subjekt, das sich in diesem Weltbezug als aktive, spontane, ordnende Instanz erweist.721 In diesem Kontext kann die Auflösung der Substanzialität, Solidität und Materialität des Realraums in der malerischen Illusion also als Vehikel eines philosophischen Idealismus begriffen werden.722 Im romantischen Zeitalter der Subjektivität wird menschliche Spontaneität daher nicht mehr in Verschmelzung mit der körperlichen Welt (als vollendete Durchdringung von Geistigkeit und Natur) gezeigt, sondern als dieser überlegen und ›über sie hinaus‹. Das Prinzip der romantischen Kunst ist es, wie Rutter formuliert, »to demonstrate the elevation of spontaneity over receptivity within the terrain of receptivity itself«.723 Anders gesagt ist, mit Mersch, die Malerei für Hegel eine »Inszenierung, die die Welt nach der Maßgabe ihrer Verfügbarkeit konstruiert.«724 Dabei »überblenden« sich »zwei Territorien neuzeitlichen Denkens: Primat des Subjekts sowie Primat des Auges«.725 So wie die geometrische Konstruktion bei Kant 720

Ebd. 250, MS 233. Bereits im Kant-Kapitel wurde deutlich, dass ein solcher Korrelationismus den Körper nicht ausblenden kann bzw. erst aufgrund einer körperlichen oder verkörperten Erfahrung (dort ›doppelte Relationalität des Sehens‹ genannt) verständlich wird. Vgl. Kapitel II.3. 722 Malerei »replaces the solidity and materiality of sculpture with the Schein of natural space, and so explicitly dissolves the idea that what we behold is irreducibly material.« Houlgate 2000, 64. 723 Rutter 2010, 59. Mit Houlgate: »For Hegel, therefore, it is precisely because the space presented in a painting is not real, natural space itself, but the mere Schein of natural space, produced by human activity, that it can be interpreted as nothing but the Widerschein or ›reflection‹ of the human spirit.« Houlgate 2000, 64. 724 Mersch 2002b, 178. Diese Verfügbarkeit ist auch die Pointe der Operativität des Diagramms. Eine singuläre Figur wird im geometrischen Beweis nicht als physische Materialspur aufgefasst (wie in einem empirischen Experiment), sondern als immaterielles Bildobjekt, das der Undurchschaubarkeit und Widerständigkeit des Materiellen enthoben ist. Diese Ablösung der Präsenz von der Substanz, deren Urmodell die menschliche Imagination ist, garantiert die beliebige Erzeugbarkeit und Verfügbarkeit geometrischer Zusammenhänge in der Anschauung. 725 Ebd. 177. Dieser Einschätzung ist mit Blick auf Hegel uneingestanden zuzustimmen. Die Frage ist hierbei, wie diese zwei Themen jeweils konkret ausgestaltet werden. 721



Bildlogik und Medialität

zum Modell eines neuzeitlichen Konstruktivismus werden konnte, so das illusionäre Tafelbild bei Hegel zum Modell einer neuzeitlichen Subjektivität. Während die Verknüpfung von Malerei und Subjektivität bei Hegel unstrittig ist, bleibt doch zu fragen, woran sie spezifisch festgemacht wird und was dies letztlich bedeutet, erweist sich Hegel doch selbst als Kritiker metaphysischer Konzepte von Subjektivität. Zu einer entschieden negativen Beurteilung Hegels kommen diesbezüglich Glaubitz und Schröter. Sie deuten Hegels Interesse an der Verflachung als entscheidender Operation der Malerei als Ausdruck einer »Furcht vor dem Raum« und, generell, einer Furcht vor der Äußerlichkeit und Exteriorität des Geistes.726 Damit positioniere sich Hegel innerhalb einer von Descartes begonnenen okularzentrischen Tradition. Diese beruhe auf einer »diskursive[n] Verzahnung des Dispositivs Fläche/ Auge/Totalität mit bestimmten Modellen rationaler und entkörperlichter Subjektivität.«727 Demgegenüber würde das Dispositiv »Raum/Körper/Variabilität« d. h. »räumliche Bildformen – wie vor allem die Skulptur – bisweilen marginalisiert.«728 Hegels Idee, dass die Kunst der Malerei eine »engere Beziehung auf den Zuschauer« als die Skulptur hat, wird dabei so gedeutet, dass der »verkörperte[] Betrachter« der Skulptur durch eine »rein geistige Betrachterposition«, einen »›Punkt des Subjekts‹ (oder Punktsubjekt)« ersetzt werde.729 726 »Hegel bevorzugt offenkundig die Fläche vor dem Raumkörper, weil sie abstrakter ist und so eine stabile, distanzierte und rein geistige Betrachterposition erlaubt. Das räumliche, einen verkörperten Betrachter implizierende Medium Skulptur wird tendenziell gegenüber der Fläche und dem ihr entsprechenden ›Punkt des Subjekts‹ (oder Punktsubjekt) abgewertet …« Glaubitz/Schröter 2004, 40. 727 Glaubitz/Schröter 2004, 36. 728 Ebd. Diskursive Stützen des Dispositivs Fläche/Auge/Totalität seien das sinnenfeindliche, jenseitsbezogene Christentum, die Subjekt-Objekt-Trennung neuzeitlicher Epistemologie, sowie an Kontemplation ausgerichtete Ästhetikpositionen. Hegels Zugehörigkeit zum Okularzentrismus impliziere einerseits die problematische Anbindung der Erkenntnistheorie »an eine zwangsläufig anthropomorph konstruierte Wahrnehmungstheorie«, wobei mit Luhmann »sowohl Kants als auch Hegels Philosophie als letzte Überbietungsformen einer vormodern-anthropologischen Denkweise« aufgefasst werden müssten. Umgekehrt werde gerade in der Ästhetik das eigentlich Anthropologische überformt und durch eine »Wertaxiomatik … eher in Richtung einer Vergeistigung und Rationalisierung als in Richtung anthropologieaffiner Theoriebestände« (ebd. 39) ausgelegt. Dieser letzteren Einschätzung will diese Arbeit mit ihrer anthropologischen, anti-metaphysischen Kant- und Hegellektüre entschieden widersprechen. 729 Ebd. 39. Tatsächlich setzt sich für Hegel die Verflachung vom dreidimensionalen in den zweidimensionalen Raum im Übergang zum Punkt fort, allerdings ist dieser erst im Zeitpunkt der Musik erreicht. In den romantischen Künsten fängt »der abstrakte Raum, das Subjektivwerden der Äußerlicheit an. Die Malerei hat es bloß mit der Fläche zu tun und ihren Figurationen. Dieser abstrakte Raum geht dann vollends zum Punkt, dem Zeit-

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Teil III · Hegel: Entäußerung

Dieser okularzentrischen Lesart (und spezifisch dem darin entworfenen Verhältnis von Malerei und Subjektivität) soll hier im Sinne einer verkörperungstheoretischen Lesart Hegels widersprochen werden. Zum einen ist gegenüber der These von der ›Furcht vor dem Raum‹ auf den positiven Sinn hinzuweisen, den die Wende von der klassischen Skulptur zur Malerei für Hegel hat, womit er sich zugleich gegen eine klassizistische Malereiauffassung stellt: Die Abwendung von der Skulptur dient der Kritik einer beschränkten Verkörperungslogik der Substanzialität zugunsten einer Verkörperungslogik der Relation, die auf einer gesteigerten Differenzialität und Bezüglichkeit beruht. In völliger Umkehrung von dem bei Glaubitz und Schröter nahegelegten Wertschema von malerischer Totalität und skulpturaler Variabilität, ist für Hegel gerade die Skulptur ein Paradigma der Totalität und Substanzialität.730 Die Malerei hingegen zeigt, wie Collenberg schreibt, »das Geistige am Flüchtigsten der Erscheinung«.731 Zum anderen ist das sehende Subjekt bei Hegel kein unkörperliches Subjekt, wie es im Narrativ des Okularzentrismus etwa der Fiktion eines reinen geometrischen Sehens korrespondiert. Wie gezeigt werden soll, sind für Hegel körperliche Momente nicht nur in der Einfühlungsbeziehung in die dargestellten Figuren relevant, sondern auch in der Wahrnehmung eines illusionären Bildraums. So wie in der verkörperungstheoretischen Bildtheorie von Krois ist das Sehen von Bildern also auch bei Hegel mit Momenten der Körperlichkeit verschränkt. Das Hauptargument gegen die okularzentrische Lesart Hegels besteht hierbei darin, dass in den originalen Vorlesungsnachschriften jene Momente überhaupt nicht vorkommen, die als typische Elemente des modernen Okularzentrismus gelten: Zeichnung und Zentralperspektive. Die entsprechenden Passagen sind, wie Collenberg gezeigt hat, Zutaten der Edition durch Hotho, der Hegels Auszeichnung der Farbe klassizistisch-traditionell abschwächt. Für Hegel entsteht die bildnerische Illusion hingegen aus der Farbe, die er in radikaler Weise zum Prinzip der Malerei macht und in ihrer reflexiven und medialen Funktion ernst nimmt. Wie der Bildraum der Malerei für Hegel aus der Farbe entsteht, soll im Folgenden beschrieben werden. punkt zurück, zur negativen Sinnlichkeit, zum Außereinander, das ebenso das Negieren dieses Außereinanders ist.« VÄ Hotho 1823, 45, MS 40. Wohlgemerkt wird der eindimensionale Punkt hier mit der Musik erreicht, während die Malerei noch beim zweidimensionalen Außereinander stehen bleibt. 730 Im Hintergrund ihrer Einschätzung steht offenkundig der Skulpturbegriff der Minimal Art des 20. Jahrhunderts. Dies ist anachronistisch und wird Hegels Skulptur- und Malereiauffassung nicht gerecht. Damit übersehen sie Hegels zeitgenössische Modernität und seinen Antiklassizismus. 731 Collenberg 1992, 135.



Bildlogik und Medialität

5.4.2 Die Genese des Bildraums aus der Farbe

Kants Theorie des diagrammatischen Bildraums stellt Raumrelationen in den Mittelpunkt, deren figurale Matrix von geraden und gebogenen Linien gebildet wird. Diese können entweder als Produkt einer synthetischen Beschreibung des Raums oder aber als in das Kontinuum des Raums eingetragene Grenze aufgefasst werden. Diese Fokussierung der Geometrie auf Zeichnung, Form und Umriss hat in der Malerei ihr Gegenstück in einer klassizistischakademischen Bildauffassung der Neuzeit. Diese erklärt das disegno, den Entwurf oder die metaphysisch überhöhte Zeichnung zum bestimmenden Element der Malerei. Kants epistemologisches Interesse am Formaspekt der Sinnlichkeit, den er quantitativ-räumlich auffasst, prägt dann auch seine wenigen Bemerkungen zur Malerei: Die Zeichnung sei in der Malerei qua Form das Wesentliche, während die Farbe qua Materialität und Empfindung bloß zum Reiz gehöre.732 Eine weitere Erklärung hierfür ist, dass seine Kenntnis der Malerei wohl vor allem auf Kupferstiche zurückging. Während Schelling in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst die Farbe als spezifisches Merkmal der Malerei identifiziert, bleibt ihr Kunstcharakter – ihre epistemische Valenz – auch dort in der Form, d. h. der Zeichnung, begründet.733 Im Gegensatz hierzu ist Hegel der radikale Apologet der Farbe bzw. des Kolorits innerhalb der idealistischen Tradition: »Der Maler muß malen können, Skizzen und Zeichnungen machen ihn noch nicht aus.«734 Wie Collenberg gezeigt hat, wird diese Radikalität in ihrem vollen Sinne erst dann ersichtlich, wenn, wie dies lange nicht geschehen ist, die originalen Vorlesungsnachschriften berücksichtig werden. Die 1835 nachträglich nach Hegels Tod gestaltete Edition Hothos (nicht zu verwechseln mit der Nachschrift Hothos von 1823) verfälscht diese Modernität Hegels, indem sie diese mit traditionelleren, klassizistisch-akademischen Auffassungen in Einklang bringen will. Am deutlichsten geschieht dies durch die Einfügung von zwei Kapiteln zur Zeichnung und zur Zentralperspektive, die in den Vorlesungsnachschriften ohne Vorbild sind. Hierdurch verwische Hotho »das Charakteristikum der Malereikonzeption«, nämlich »die radikale Auszeichnung des 732 »In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten […] ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön machen«. KU B 42. 733 Diesen Zusammenhang zeigt Houlgate 2000, 66 mit Verweis auf Collenberg 1992. 734 VÄ Pfordten 1826, 213, MS 75a.

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Kolorits gegenüber allen anderen Gestaltungsprinzipien« bzw. »die radikale Unterbewertung der Zeichnung«.735 Blickt man also auf die originalen Nachschriften, lässt sich Hegels Malereitheorie als Theorie des ›nichtklassischen Bildes‹ (Busch) lesen.736 In Hegels Malereitheorie werden dabei aber auch die epistemologischen Prämissen verändert, die etwa Kants Abwertung der Farbe gegenüber der räumlichen Form zugrunde liegen. Für Kant gehört die Farbe allein zum Empfindungsaspekt der Wahrnehmung und damit zur Rezeptivität, dem materiellen Aposteriori, dem was dem Denken schlechthin von anderswo gegeben ist. Eine mediale Funktion in Bezug auf die Erscheinung haben nur Raum und Zeit, die den Formaspekt repräsentieren. Für Hegel ist die Farbe zwar ebenfalls mit der Empfindung verbunden, sie wird aber als solche epistemologisch aufgewertet.737 Die Empfindung wird nicht mehr als bloß rezeptiv, sondern zugleich als medial aufgefasst – etwa als Medium von Lebendigkeit, empfindender Subjektivität und der Einfühlung in andere Subjekte, wie in Kapitel III.5.2.2 beschrieben. Dort wurde betrachtet, wie es die Farbwirkungen von Inkarnat und farbigen Augen der Malerei für Hegel ermöglichen, im Gegensatz zur ›kalten‹ Beziehungslosigkeit der Skulptur, in eine Resonanzbeziehung zum Betrachter zu treten. Wie nun gezeigt werden soll, hat sie diese mediale Funktion für Hegel aber nicht nur in der Konstitution von SubjektSubjekt-Beziehungen, sondern auch in der Konstitution der Beziehung des Subjekts zur Welt. In dieser Perspektive zeigt sich, dass Licht, Hell-DunkelKontraste und Farben uns die Welt in fundamentaler Weise erschließen. Aus735 Collenberg 1992, 140. So spricht sie von »Hothos traditionalistischem Beharren auf dem Primat der Linie vor der Farbe« (Collenberg 2005, 264 FN 46) Und dazu, dass das Kolorit in der edierten Fassung »anders als in den Vorlesungszeugnissen – traditionalistisch dem Imitatio-Prinzip unterstellt« werde (ebd.): »In der edierten Ästhetik wird aus der in Mitschrift dokumentierten Rede vom Kolorit als Moment der ›produktiven Einbildungskraft des Künstlers‹. [VÄ Hotho 1823, 260, MS 243] der ›Farbensinn‹ als eine wesentliche Seite der ›reproduktiven Einbildungskraft und Erfindung‹ [VÄ III, 82].« (Ebd. 264 FN 46). Das Motiv als solches wird allerdings auch in Hothos Edition schon deutlich. So ist die Rede dort von der »Unvollständigkeit …, in welcher z. B. eine bloße Zeichnung die Gemälde großer Koloristen ersetzen soll.« VÄ III, 321. Houlgate will die Einschätzung Collenbergs mit Blick auf einige Stellen aus der Nachschrift relativieren. In der Tat heißt es dort mit Bezug auf das Charakteristische im Portrait auch einmal, die Zeichnung müsse »schon das Charakteristische enthalten, vollendet seyn, und die Farbe soll nur das Charakteristische der Zeichnung weiter ausführen«. VÄ Ascheberg 1820/21, 266, MS 209. Hegel scheint hier – wie fast immer – sehr differenziert und gegenstandsbezogen zu argumentieren. Diese Gemengelage kann an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden. 736 Vgl. das gleichnamige Buch: Busch 2009. 737 Wie etwa Collenberg bemerkt, ist für Hegel die Farbe »das Materielle, das fähig ist, in die sinnliche Empfindung einzugehen.« Collenberg 1992, 122.



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gehend von der Einsicht in den transzendentalen Charakter von Licht und Farbe lässt sich dann auch die spezifische Leistungsfähigkeit des malerischen Illusionismus bei Hegel verstehen. Die spezifische Bedeutung der Farbe in der Malerei zeigt sich in der Abgrenzung von den anderen Raumkünsten: Architektur, Skulptur und Malerei sind für Hegel als bildende Künste alle dem Sinn des »Gesichts« zuzuordnen, der es, im Gegensatz zum Gehör, mit dem zu tun hat, was »materiell im Raume als ein Außereinander existiert«.738 Dieses sichtbare Außereinander der Materie im Raum wird aber in unterschiedlicher Weise umgesetzt. Die Architektur nimmt »den Raum in seinen drei Dimensionen zum Material der Darstellung«.739 Dabei hat sie es mit dem »abstrakt mechanischen Massenunterschied[]«740 zu tun, dessen gestalterisch-formale Umsetzung in den »abstrakten Verstandesverhältnisse[n] des Symmetrischen« besteht.741 Die Skulptur arbeitet mit dem Unterschied »der Figur als des räumlich Materiellen in der Bestimmtheit seiner drei Dimensionen«.742 Die geometrischen Formen der Architektur und die organischen Formen der Skulptur teilen hierbei die dreidimensionale Bestimmtheit. In der Beschränkung der Malerei auf die zweidimensionale Fläche »befreit sich« die Kunst »von dem VollständigMateriellen und wird so für den abstrakt-ideellen Sinn des Gesichts.«743 Ist nun das »Material der Skulptur und Architektur […] gleichsam das Sichtbare«, so ist das der Malerei die »abstrakte Sichtbarkeit«.744 Die Ablösung von der Sphäre substanzieller Anwesenheit wird hier schon grammatikalisch deutlich (Sichtbares – Sichtbarkeit). Analog spricht Hegel auch von der »Sichtbarkeit überhaupt« bzw. der »Sichtbarkeit als solche[r]« – Formulierungen 738

VÄ II, 255. VÄ Hotho 1823, 44, MS 40. 740 VÄ Hotho 1823, 42, MS 37. 741 VÄ Hotho 1823, 40, MS 35. 742 Vgl. auch zum jeweiligen Umgang mit der Dreidimensionalität: »Nach dieser Seite nimmt die Architektur den Raum in seinen drei Dimensionen zum Material der Darstellung, so, daß die Grenzbestimmungen dieses Raums – Winkel, Flächen, Linien – dem Verstande angehören und regelmäßig sind. Die einfachen Kristallisationen sind hier die Formen des Geistes, die Seele selbst lebt in diesen Formen noch nicht; die Pyramide hat nur [/] einen abgeschiedenen Geist in sich.« Ebd. 44 f., MS 40. »Was die Skulptur anbetrifft, so hat sie den ganzen Raum in organischer Figuration von Innen heraus bestimmt.« Ebd. 45, MS 40. »Die Skulptur gebraucht die drei Dimensionen in organischer Figuration, der eine Seele einwohnt, die sie bestimmt.« Ebd. 743 Ebd. 42, MS 37. 744 Ebd. Vgl. auch: In den romantischen Künsten fängt »der abstrakte Raum, das Subjektivwerden der Äußerlicheit an. Die Malerei hat es bloß mit der Fläche zu tun und ihren Figurationen.« Ebd. 45, MS 40. 739

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die an die ›reine Sichtbarkeit‹ Fiedlers denken lassen, aber auch an die ›reine Anschauung‹ Kants.745 Diese ›abstrakte Sichtbarkeit‹ ist aber nicht Selbstzweck, sondern wird zum Mittel, um in illusionärer Weise auf der Fläche ein Analogon des dreidimensionalen Raums von Architektur und Skulptur zu erzeugen. Entscheidend ist nun die Frage, wie das passiert: Für die klassizistisch-akademische, am disegno orientierte Auffassung sind es die linearen Grenzen und Umrisslinien von Architektur und Skulptur, die die Zeichnung auf die Fläche überträgt. Die linearperspektivische Projektion erzeugt hierbei den Eindruck von Tiefe, indem sie die perspektivische Verzerrung dieser Umrisslinien in Entfernung konstruiert. Diese Logik von Zeichnung und Linearperspektive stellt die Malerei in die Kontinuität zu den haptisch-tastbaren Umrissen von Architektur und Skulptur. Für Hegel kommt es in der Malerei hingegen zu einem Bruch mit dieser Logik746: Die Malerei hat »ihren ideellen Unterschied an ihr selbst, als die Besonderheit der Farben«.747 Das zentrale »Element der Malerei« sind also nicht gezeichnete Umrisse, die nachträglich koloriert werden, sondern »das Licht, wie es an der Dunkelheit sich zur Farbe spezifiziert«748 bzw. schlicht »die Farbe«.749 Kennzeichnend für die Malerei ist es also, dass sie gegen die zeichnerische Umsetzung von Umrisslinien gegenständlicher Gebilde den Primat einer farblichen Differenz setzt. Diese Farbigkeit wird dabei nicht an der Materialität der Pigmente festgemacht, wie dies etwa eine alchimistische Auffassung der Malerei im Sinne von Elkins tut.750 Stattdessen wird die Farbe im Sinne neuzeitlicher Optik und Farbenlehre vom Licht her gedacht, spezifischer vom »Licht«, »welches in sich partikularisiert, sich verdunkelt, färbt.«751 Es ist also das Licht, das hier eine neue Art von Differenzen hervorruft. Und daher ist die »abstrakte Sichtbarkeit« der Malerei zugleich eine »subjektiv an ihr selbst besonderte Sichtbarkeit«:752 Aus dem Licht gehen die Differenzen von Licht 745

Ebd. 42, MS 37. Vgl. Collenberg: »Gemälde zeigen nicht auf die Fläche reduzierte Skulpturen, sondern der eigentümlich reflexive Charakter der Farbe erlaubt der Malerei die Konstitution einer Bildwelt, die sich von der Erscheinungsweise der Skulptur grundlegend unterscheidet.« Collenberg 1992, 126. 747 VÄ Hotho 1823, 42, MS 27. 748 Ebd. 249, MS 233. 749 Ebd. 250, MS 233. 750 Vgl. zu einer solchen Auffassung Elkins, James (2000): What Painting Is. How to Think About Oil Painting, Using the Language of Alchemy, New York: Routledge. 751 VÄ Hotho 1823, 207, MS 192. Zur Situierung von Hegels Theorie des Kolorits in der Nachfolge von Goethes Farbenlehre vgl. Collenberg 1992. 752 Die »abstrakte Sichtbarkeit« ist »hier das Mittel der Darstellung, und zwar nicht 746



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und Schatten sowie die Differenzen der verschiedenen Farben erst hervor. Diese Differenzen, Verhältnisse und Nachbarschaften bilden das Artikulationspotenzial der Malerei.753 Die Verflachung in der Malerei beruht für Hegel daher nicht auf »menschliche[r] Beschränktheit«, sondern hat ihren positiven Sinn in der Erschließung von Licht, Helldunkel und Farbigkeit als Ausdrucksmedium: »Licht, Schatten und Farbe […] bringen auf positive Weise herbei, daß die Malerei sich an die Fläche zu halten habe. Nämlich das Natürliche des Lichts und Schattens als Unterschied von dunkel und hell in Folge der Gestalt überhaupt, oder näher, von meiner Stellung gegen die Gegenstände und von meiner Entfernung von ihnen. Es gibt zwar auch für sich Helles und Dunkles, aber die Haupterscheinung des Lichts und Schattens beruht vornehmlich auf meiner Stellung gegen die Beleuchtung.«754

Hieran sind zwei wichtige Aspekte festzuhalten. Erstens: Indem Hegel das Helldunkel zum zentralen bildgebenden Prinzip der Malerei macht, richtet sich diese nicht an die Fiktion eines unkörperlichen Betrachters. Wie diese Stelle zeigt, ist für Hegel darin stattdessen stets eine körperliche Situation oder Konstellation festgehalten, die sich aus Lichtquelle, Gegenstand und Stellung und Entfernung eines möglichen Betrachters ergibt. Diese körperliche Situation des Sehens, bildet in gewisser Weise ein visuelles Pendant zur Orientierung im Raum durch das Körperschema bei Kant, die sich auf quantitative Lage- und Richtungsbeziehungen bezieht. Zweitens: Das Spiel von Licht, Schatten und Farbigkeit zum Kunstmittel zu machen, ergibt erst dort Sinn, wo die Kunst nicht mehr gegenständliche Objekte produziert; d. h. erst dort, wo sie auf der zweidimensionalen Fläche einen illusionären Raum erzeugt, der die Welt zeigt, wie sie für einen bestimmten Betrachter aussieht. als abstrakte Sichtbarkeit bleibend, sondern insofern sie ist: Dasein der Besonderheit, subjektiv an ihr selbst besonderte Sichtbarkeit werdend; d. h. näher: sich zur Farbe bestimmend; als Licht nämlich, das an ihm selbst die Bestimmung des Dunkels hat, und sich mit diesem spezifisch eint und besondert.« Hotho 1823, 42, MS 37. 753 Zur Differenzialität der Farbe, die Hegel als eine Art der ›Musikalität‹ beschreibt: »In der Musik galt ein Ton nur d[ur]ch sein Verhältniß zu einem andern, so in der niederländischen Schule; die Geschicklichkeit erscheint hier rein subjectiv, die Kunst wird so zuletzt ganz zum Scheinen.« Ascheberg 1820/21, 180, MS 129. Hierzu Rutter: »At close range, a passage of painting or of melody can appear utterly unorganized – a jumble of colored flecks. At a distance, hues and contours, like chords and harmonies, ›magically‹ emerge.« Rutter 2010, 114. Vgl. auch: »Die Farbe wirkt durch ihre Nachbarschaft, z. B. der Glanz des Atlasses, der Metalle, Steine wird dadurch hervorgebracht.« VÄ Libelt 1828/29, MS 136, aus Collenberg 1992, 131. 754 VÄ Hotho 1823, 250, MS 234.

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Auch hierin zeigt sich der subjektive und reflexive Charakter der Malerei. An die Stelle der materiellen Vorhandenheit tritt so eine Dimension per­ spektivischer Erscheinung. Als deren Hauptcharakteristikum (das eigentlich Malerische) sieht Hegel aber nicht die Wiedergabe der Umrisse und ihrer linear-perspektivischen Verzerrung, sondern eine Modellierung von Lichtwirkungen. Die Illusion von dreidimensionaler Tiefe entsteht dabei durch farbliche Abschattung: »Licht und Schatten« erzeugen die »drei Dimen­sio­ nen«755 bzw. die »Rundung der Gestalt«.756 Die Bestimmung der »Gestalten als Umrisse« gehört in Hegels Augen nur zur »Kindheit der Malerei«.757 Dagegen gilt: »Die vollkommene Kunst bringt die Bestimmung der Gestalt durch unmerkliche Übergänge eines Kolorits in das andere zuwege, so daß die Umrisse keine bestimmten Linien sind und sich obgleich bestimmt, doch nirgends hervor­heben.«758 Die Malerei entspricht ihren eigentlichen Möglichkeiten also gerade dort am meisten, wo sie diskrete Umrisslinien durch kontinuierliche Abschattungen ersetzt. Hegels Auffassung, dass das Material der klassischen Skulptur (primär der Marmor) »rein und einfärbig« sei759, gilt typischerweise als von Winckelmann übernommenes klassizistisches Vorurteil – heute wissen wir ja, dass etwa die Friese des Parthenon grell farbig bemalt waren. Interessanterweise vertritt Hegel diese Konzeption aber, obwohl er bereits von den aufgefundenen Farbresten wusste.760 Dass die Farbe (bzw. das Helle oder Dunkle) erst mit der Malerei zum eigentlichen Medium werden kann, lässt sich hier auch damit erklären, dass Hegel sie nicht als Eigenschaft von Dingen – etwa ihrem roten oder grünen Bemalt- oder Gefärtbtsein – fasst, sondern als Relationen oder relationale Lichtwirkungen und Abschattungen, die sich in der 755

Ebd.

Ebd. 251, MS 234. In der Malerei sind »Licht und Schatten ein von ihr gemachtes«.

756 Ebd. 250, MS 234. Vgl. auch: »Gestalt, Entfernung, Abgrenzung, Rundung, kurz, alle Raumverhältnisse und Unterschiede des Erscheinens im Raum werden in der Malerei nur durch die Farbe hervorgebracht, deren ideelleres Prinzip nun auch einen ideelleren Inhalt darzustellen befähigt ist …« VÄ III, 33. 757 VÄ Hotho 1823, 261, MS 244. 758 Ebd. 759 Ebd. 40, MS 35. 760 Hier allerdings mit dem Argument, dass die Skulptur nicht in der Lage ist, Seelenhaftigkeit auszudrücken: »Es ist gleichgültig, ob nachgewiesen wird, daß die Alten bei einigen Bildern [gemeint sind Bildwerke, Skulpturen, MB] auch die Augen dargestellt haben, und daß man noch jetzt Spuren von Farben in den Augen zeigt. Bei den wahrhaft klassischen Gebilden fehlt das Auge, wenigstens der Augenstern.« VÄ Ascheberg 1823, 209, MS 156. »Hegel appears to accept that ancient sculptures were in fact colored, but he argues that color is not intrinsic to sculptural representation because the purpose of sculpture is to embody spirit in material shape.« Houlgate 2000, 65.



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Interaktion zwischen den Dingen, einer Lichtquelle und einem Betrachter ergeben. Für solche höchst subjektiven und flüchtigen Lichtwirkungen interessiert sich Hegel immer wieder: »Allein in [der] Natur selbst ist das Kolorit unendlich verschieden. Jeder Tag, jede Stunde bringt [ein] anderes Kolorit in die Natur, der Maler muß solche Färbung festhalten.«761 D. h. es geht in der Malerei gerade nicht darum, die Lokalfarben der Gegenstände als diesen gleichsam unabhängig zukommende Eigenschaften wieder abzumalen (dies versuchen etwa Kinder – der rote Stift für den roten Mund etc.), sondern der Maler hat die Aufgabe, zwischen dem die Raumwirkung erzeugenden Helldunkel und der »Lokalfarbe« der Gegenstände und deren eigener Helligkeit und Dunkelheit zu vermitteln.762 In Medium der Skulptur sind solche Wirkungen nicht denkbar: Sie kann lediglich im Sinne einer Lokalfarbe bemalt sein. Die relationalen Abschattungen einer solchen Bemalung ergeben sich in der vom Bildhauer oder Bemaler nur begrenzt steuerbaren Interaktion mit den Lichtquellen ihrer Umgebung. Erst mit der Verflachung wird die Sphäre illusionistischer Farbwirkungen erschlossen, können Licht, Helldunkel und Farbe in ihrer Relationalität zum primären Gestaltungsmittel werden. Auch die Farbigkeit der Malerei wird für Hegel also nicht im Sinne von einzeln benennbaren Farbeigenschaften begriffen, sondern im Sinne der relationalen Konstitution eines Lichteindrucks, in dem stets verschiedene Parameter miteinander verschränkt und voneinander abhängig sind. Diese Rolle der Farbe zeigt sich auch mit Blick auf die Herstellung der Illusion von Raumtiefe, wo Hegel statt der Linearperspektive die sogenannte Luftperspektive diskutiert, die räumliche Entfernung mittels Farbwirkungen durch Verblauung darstellt.763 Hieran zeigt sich, dass die ›abstrakte Sichtbarkeit‹ der Malerei für Hegel zwar einerseits von der körperlichen Erfahrung materieller Dinge im Realraum, etwa von Architektur und Skulptur verschieden und abgetrennt ist. Dennoch ist sie damit keine ›bloße Sichtbarkeit‹ im Sinne eines körperlosen Auges oder einer »entkörperlichten Subjektivität.«764 Die Farbe ist hier Medium einer subjektiven, aber auch verkörperten Erfahrung von Welt, wie 761

VÄ Libelt 1828/29, MS 136 f., zitiert aus Collenberg 1992, 136. »Zu diesem Gegensatz des Hell und Dunkel tritt die Lokalfärbung hinzu, die auch hell und dunkel ist, wodurch bestimmte Teile ein anderes Verhältnis haben als ihnen durch das Verhältnis der Gestalt zukommen würde.« VÄ Hotho 1823, 259, MS 242. Vgl. zu diesem Punkt Collenberg 1992, 127. 763 Er bezieht sich dabei auf die schon von Goethe beschriebenen haptisch-räumlichen Wirkungen von Farbwerten: »Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen.« Goethe: Farbenlehre. Didaktischer Teil. § 780. 229, zitiert aus Collenberg 1992, 127. 764 Glaubitz/Schröter 2004, 36. 762

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sie nur in der Malerei eingefangen werden kann.765 An die Stelle der Orientierung an den haptischen, tastbaren Umrissen treten Abschattungen von Farbe und Licht, die sich aus der Interkation von Lichtquelle, Gegenstand und Beweglichkeit des Betrachters ergeben. Diese verkörperte Erfahrung von Farbwirkungen reflektiert Hegel nicht nur in Bezug auf das ›Was‹ der malerischen Darstellung, sondern auch das ›Wie‹ ihrer Rezeption: »Bei Gemälden von Albrecht Dürer, von Raffael sieht man die höchsten Wirkungen durch ganz einfache Unterschiede hervorgebracht. Tritt man nahe, scheint die Fläche einfärbig, tritt man in den rechten Punkt, sieht man, wie die Tinten in ihren kleinen Verschiedenheiten die beseeltesten Gestalten hervorbringen.«766 Auch hier ist das Sehen der Malerei mit dem Körper und seiner Motorik verschränkt. Wie auch die ›individuelle Manier‹ der Künstler erreicht die Auseinandersetzung mit solchen Licht- und Farbeffekten ihren spezifischen Höhepunkt in der niederländischen Genremalerei. Die Wertschätzung dieser Werke und ihres spezifischen Umgangs mit der Farbigkeit macht die Modernität der hegelschen Position innerhalb der kunsttheoretischen Debatten seiner Zeit aus. Das von Winckelmann ironisch-pejorativ vorgetragen Lob ihrer ›Zauberey der Farben‹ wird von Hegel schließlich wörtlich-affirmativ vertreten.767 Was aber kann für Hegel das Interesse an solchen Darstellungen sein, die sich oft in alltäglichen und banalsten Szenen ergehen ? Aus der Perspektive seiner Kunsttheorie stellt Hegel ein zweifaches Interesse an der Malerei fest. Zum einen ist es das Interesse an der »Lebendigkeit« der »Idee«, die hier dargestellt wird, wie sie in individuellen historischen Gestalten und ihrem Handeln als ›Beseelung‹ wirksam ist.768 Daneben gibt es aber auch noch ein zweites Moment »wodurch die Malerei uns interessiert […] Es ist dies das besondere Scheinen der Werke der Malerei.«769 Diese »Magie des Scheinens« als »Sphäre von Lichtwirkungen« tritt dort in den Vordergrund, wo die Gegenstände der Malerei banal werden und nicht mehr, wie etwa die christliche Heilsgeschichte, von substanziellem Interesse sind – spezifisch 765 Zu weiteren haptischen Ausdrucksqualitäten der Farbe vgl. Collenberg 1992, 129: »das Dunkle ist das Widerstandslose, das Helle das [W]iderstehende, das Rote das Herrschende, das Grüne das Anmutige« etc. 766 VÄ Hotho 1823, 261, MS 244. Meine Hervorhebung. 767 Vgl. Collenberg 1992, 92 f. 768 »Wir haben gesagt, daß die Bestimmung der Malerei die abstracte Bestimmung der Besonderheit ist, und so ist die Form der Malerei eigentlich die Form der Lebendig­ keit. Die Idee, weil sie im Felde der Besonderheit erscheint, verbirgt so den ihr allgemein adäquaten Inhalt; aber in der Lebendigkeit stellt sie sich als Seele dar.« VÄ Ascheberg 1820/21, 248, MS 193. 769 Ebd. 251, MS 195.



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in der niederländischen Genremalerei und im Stillleben.770 Hiermit emanzipieren sich die Kunstmittel vom Zweck der poetischen Darstellung menschlicher Selbstverständnisse und werden in gewissem Sinne autonom. Zugleich sagt Hegel, dass uns die Malerei auch in dieser Hinsicht angeht, wobei sie uns »zwar bewußtlos« interessiert, »aber doch mit Bewußtsein interessieren soll.«771 Worin besteht nun jenes Interesse ? Mit Collenberg lässt sich dies als autonomes Interesse am naturalistischen Dargestelltsein per se identifizieren.772 Das Dargestellte interessiert dann »nicht wegen des Sujets oder dessen Naturgestalt […] sondern als gestaltete Anschauung«.773 D. h. während uns banale Gegenstände wie eine »Frau mit Nudeln« im Alltag nicht interessieren, gibt es im Kontext der Malerei ein Interesse an der »Sichtbarkeit« per se bzw. der »vortreffliche[n] Auffassung« durch den Maler.774 Mit Houlgate lässt sich dies als das Interesse des Geistes an der Darstellung seiner eigenen Spontaneität betrachten, die eines der wesentlichen Merkmale subjektiver Innerlichkeit ist.775 Mit Rutter lassen sich Hegels diesbezügliche Ausführungen aber auch im Sinne der Idee von Malerei als angewandter Wahrnehmungstheorie deuten. In ihrer Erforschung von Licht und Farbe gebe die Malerei uns eine Art des quasi-epistemologischen Einblicks in jene Mechanismen, durch die sich auch die Welt als Erscheinung, d. h. als phänomenale Welt für uns als Betrachter konstituiert. Indem die Malerei in der Lage ist, die Geheimnisse visueller Wahrnehmung herauszuarbeiten, befriedigt sie ein ›formelles Bedürfnis nach Kunst‹.776 Hierzu gehört die Einsicht, dass das Sehen eine Spontaneität des Betrachters involviert, die – wie oben deutlich gemacht – 770 »In dem Stilleben ist es vornehmlich diese Magie des Scheinens, die das Haupt­ interesse ausmacht, da der Gegenstand selbst kein Interesse hat.« Ebd. 251, MS 196. 771 Ebd. 251, MS 195. 772 »Diese Magie des Scheinens (nicht die Farben als solche verstanden, sondern Schatten und Licht) ist es eben, welche uns die Gegenstände als natürlich erscheinen läßt, und das Hauptverdienst ausmacht.« Ebd. 251, MS 196. 773 Collenberg 1992, 156. 774 »Das Gemählde giebt uns ein rein theoretisches Verhältnis zum Gegenstande, bringt die Erscheinung als eine sichtbare vor uns, so daß diese Sichtbarkeit uns nur interessiert. Vor einer Frau mit Nudeln gehen wir vorbei, stellt aber ein Gerhard Dow sie dar, so ist die Erscheinung durch die vortreffliche Auffassung uns interessant und zwar noch mehr als durch die bloße Sichtbarkeit.« VÄ Griesheim 1826, MS 286, zitiert aus Collenberg 1992, 156. 775 Houlgate 2000, 64. 776 »The idea seems to be that works of art can in some sense teach us about the mechanisms of appearance itself.« Spezifischer: »visual apperance« Rutter 2010, 114. Vgl. Hegel: Die Kunst der Niederländer ist »die Meisterschaft in der Darstellung aller Geheimnisse des sich in sich vertiefenden Scheinens der äußeren Erscheinungen.« VÄ II 227.

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Teil III · Hegel: Entäußerung

mit dem Körper verschränkt ist. Indem sie die Licht- und Farbempfindung in ihrer Medialität und weltkonstituierenden Rolle ernst nimmt, erscheint Hegels Theorie der Malerei zugleich als Ergänzung und Erweiterung zur transzendentalen Ästhetik Kants. Kants Idee des Zusammenhangs von Welterfahrung und Bildlichkeit orientierte sich einerseits am relationalen Körperschema, andererseits am Raumkalkül der euklidischen Geometrie. Diesem Fokus der transzendentalen Ästhetik auf »Gestalt, Größe und Verhältnis« (KrV B 37) stellt Hegel eine an der Malerei geschulte Weltsicht aus den Prinzipien von »Gestalt und Farbe«777 gegenüber. Damit könnte man ihn als Vorläufer Wittgensteins betrachten. Auch diesem scheint es um eine kritische Ergänzung zu Kants Auffassung der transzendentalen Ästhetik als Theorie von Raum und Zeit zu gehen, wenn er schreibt: »2.0251 Raum, Zeit und Farbe (Färbigkeit) sind Formen der Gegenstände.«778 Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung mit Hegel werden nun gemeinsam mit denen der Kantlektüre im Schlusskapitel zusammengefasst und diskutiert.

777 VÄ II 255. »Das Gesicht dagegen hat zu den Gegenständen ein rein theoretisches Verhältnis vermittels des Lichtes, dieser gleichsam immateriellen Materie, welche nun auch ihrerseits die Objekte frei für sich bestehen läßt, sie scheinen und erscheinen macht, sie aber nicht praktisch, wie Luft und Feuer, unvermerkt oder offen verzehrt. Für das begierdelose Sehen nun ist alles, was materiell im Raume als ein Außereinander existiert, das aber, insofern es in seiner Integrität unangefochten bleibt, sich nur in seiner Gestalt und Farbe nach kundtut.« Vgl. zur weltkonstituierenden Bedeutung der Farbe auch EpW § 320, Zus. 268, sowie hierzu Collenberg 1992, 122. Dieser Aspekt würde eine eigenständige Auseinandersetzung lohnen, die hier nicht geleistet werden kann. 778 Wittgenstein, Ludwig (1984): Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916; philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 14.

TEIL IV Zusammenfassung und Diskussion

A 

bschließend werden nun die wichtigsten Ergebnisse, Thesen und Argumente der Studie mit Blick auf die in der Einleitung formulierten vier Forschungsfragen zusammengefasst. Diese betrafen die Positionierung einer bildepistemologischen Lektüre innerhalb der Forschungsdebatten zu Kant und Hegel, den Status der Theorie anschaulichen Denkens zwischen Metaphysikkritik, Epistemologie und Ästhetik, den Beitrag der Geometrie- und Malereitheorie zu einer Theorie der Bildlogik und die Frage einer möglichen Neuinterpretation des iconic turn. Die folgenden Ausführungen enthalten auch die Zusammenfassung der jeweiligen Einzelergebnisse zu Kant und Hegel, die zu Zwecken der Gegenüberstellung erst an dieser Stelle erfolgt. Eine alternative, lineare Übersicht über den Argumentationsverlauf ergibt sich, wenn man die kurzen Kapiteleinleitungen chronologisch zusammenliest.

1.  Kant und Hegel als Bildphilosophen

Am Anfang der Studie stand die Frage, wie sich eine bildphilosophische Lektüre Kants und Hegels innerhalb der existierenden Forschungsdebatte positionieren kann. Ein erster Ertrag war die These, dass die kantische und hegelsche Bildepistemologie nicht in der Theorie der Einbildungskraft zu finden ist. Forschungsansätze zur Repräsentations- und Vermittlungstätigkeit von Einbildungskraft und Schematismus erklären zwar, wie Denken generell auf Anschauungen bezogen ist. Es fehlt ihnen aber ein Bezug zur Medienspezifik konkreter Bildpraktiken. Zugleich bleibt im philosophischen Epochenkontext um 1800 systematisch unklar, was Einbildungskraft als solche, jenseits ihrer zahlreichen Tätigkeiten und Funktionen, eigentlich sein sollte. Heideggers Diagnose, wonach der logozentrische Diskurs der Kritik der reinen Vernunft vor der Einbildungskraft als einem beunruhigenden Unbekannten zurückweiche, kehrt in der Bildphilosophie im Topos eines dynamischen Machtund Kräfteverhältnisses von Bild und Logos wieder. Wo etwa Mitchell und Bredekamp von einer Angst der Philosophie vor dem Bild sprechen1, orientiert sich auch Stephan Ottos wegweisende Studie zur Bildlichkeit bei Kant

1 Vgl. Bredekamp 2010, 77, sowie zur»fear of images« als unhintergehbarer Voraussetzung von Bildtheorie Mitchell 1986, 3 ff.



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und Hegel am Gedanken einer »Flucht«2 der Philosophie vor dem Bild und gelangt so zu der negativen Diagnose, dass Kant und Hegel das Bildliche logozentrisch verkennen und überformen würden. Dieser Einschätzung liegen drei Prämissen zu Grunde, die die Studie infrage stellen wollte. Dies ist erstens die Annahme, dass sich das Verhältnis von diskursiver Logik und Bildlichkeit in den Philosophien Kants und Hegels als innertextuelles Kräfteverhältnis zeigen muss und nicht in der dort geleisteten Begriffsarbeit selbst; zweitens die alleinige Fokussierung auf ein alteritätstheoretisches, energetisches Bildkonzept, welches die in dieser Studie betrachteten alternativen Optionen unberücksichtigt lässt; und drittens die Lokalisierung des Themas Bildlichkeit im Kontext von Einbildungskraft und Erinnerungsbild, und damit im Rahmen von transzendentaler Logik (Kant) und Geistphilosophie (Hegel). Diese letztgenannte Tendenz der Interpretation Ottos teilen mit Blick auf Hegel auch Derrida und Lyotard. Wie gezeigt wurde, sind transzendentale Logik und Geistphilosophie allerdings der Ort, um die Rolle von Anschauung und Bildlichkeit für das diskursive Denken zu klären. Die Reflexion alternativer, anschaulicher und bildlicher Denkformen findet sich in Mathematik- und Kunstphilosophie. Sie beziehen sich nicht auf ein Vermögen der Einbildungskraft oder bewusstseinstheoretische Bildbegriffe, sondern auf konkrete Bildpraktiken von Malerei und Geometrie. Die dort vorhandenen greifbare Konzepte eines anschaulichen Denkens und einer Bildlogik standen insofern im Zentrum der Studie. Das zweite Ergebnis war die Einsicht, dass sich Kants Mathematiktheorie und Hegels Kunsttheorie bild-, verkörperungs- und medienphilosophisch aktualisieren und so gegen die im 20. Jahrhundert formulierten Standardkritiken verteidigen lassen. Die Standardkritik des logischen Empirismus und der klassischen analytischen Philosophie löste Kants Idee der synthetischen Anschauung in einen Dualismus von formaler mathematischer Logik und empirischer Physik auf. Zugleich wurde Kants Anschauungsbegriff häufig mentalistisch im Sinne von Introspektion oder Intuition gedeutet. Dagegen deutet eine verkörperungstheoretische Lesart (Hanna, Ruckgaber, Nuzzo) Kants transzendentale Ästhetik als Theorie verkörperter Raumerfahrung; eine diagrammatische Lesart von Kants Geometrietheorie (Manders, Shabel, Krämer, Stekeler-Weithofer) deutet seinen Begriff der geometrischen Anschauung im Sinne eines diagrammatischen Operationsraums. Unter entgegengesetzten Vorzeichen fand sich auch bei Hegel eine solche Standardkritik: Dies ist zunächst die exemplarisch von Derrida geäußerte Diagnose einer sprachlogische Überformung der Medienspezifik der Malerei. Jüngere kunst2

Otto 2007, 48.



Kant und Hegel als Bildphilosophen

theoretische Lesarten (Collenberg, Rutter) haben dagegen gezeigt, dass Hegel eine satisfaktionsfähige Malereitheorie vertritt, die sich an medialen Spezifika wie Farbe und Lebendigkeit orientiert. Umfassender ist der von Adorno und Derrida geäußerte Vorwurf, wonach Hegels Ästhetik das Nichtidentische von Kunst und Natur geistphilosophisch überforme. Verkörperungstheoretische Lesarten von Hegels Kunst- und Malereitheorie (Hilmer, Pippin, Peters) widersprechen dieser alteritäts- und differenztheoretischen Standardkritik an Hegel im Grundsatz nicht. Sie zeigen aber, dass im Zentrum von Hegels Ästhetik eine alternative ästhetische Perspektive steht, die ihren Ausgangspunkt in der nichtdiskursiven Intelligibilität menschlicher Leiblichkeit hat. Für die Ziele der Studie ist bemerkenswert, dass diese neueren Tendenzen der Kant- und Hegelauslegung klare Affinitäten zu den Intentionen der medienphilosophischen turns der 1990er Jahre aufweisen, wozu nicht nur ico­ nic turn und pictorial turn, sondern auch etwa spatial, practical, performative, embodied turn gehören. Das neuere Interesse an Leib und Bild bei Kant und Hegel kann insofern als Teil eines Paradigmenwechsels verstanden werden, der sich gegen zwei Hauptstränge der Philosophie des 20. Jahrhunderts richtet: gegen jenen Teil der analytischen Tradition, der im logischen Empirismus wurzelt und für den die Kritik an Kants Konzeption der mathematischen Anschauung die Rolle einer paradigmatischen Übereinkunft hatte; sowie gegen die poststrukturalistische Rationalitätskritik, für die exemplarisch die Kritik von Derrida an Hegel stehen kann. Jenseits aller Unterschiede scheint das Verbindende dieser Positionen in ihrer Orientierung am Primat einer logischen, formalen oder sprachlichen Struktur zu liegen, wie sie für zahlreiche Positionen des linguistic turn charakteristisch war. Vom Logizismus und seinen Nachfolgern wird die Mathematik als abstrakte Strukturwissenschaft begriffen, in der Leiblichkeit und diagrammatische Anschauung überflüssig werden. Derridas Logozentrismuskritik identifiziert ein bestimmtes Modell von Sprache und Sprechen als unentrinnbares Apriori der westlichen Philosophietradition und lässt vielleicht auch daher Hegels Überlegungen zu Leib und Bild unberücksichtigt. Die epistemologischen und medienphilosophischen turns der 1990er Jahre erweitern die sprachzentrierte Medienreflexion des linguistic turn um Dimensionen leiblicher Situiertheit, anschaulicher Praktiken und nichtsprachlicher medialer Weltzugänge. So scheint es plausibel, dass sie einen Kontext dafür bilden, die epistemische Bedeutung von Leib und Bild auch bei Kant und Hegel wiederzuentdecken.3 3 Dabei geht es insbesondere auch darum gegenüber dualistischen Modellen wie der Opposition von Logischem und Empirischem eine dritte, mediale Sphäre einzuführen. Vgl. zu einer solchen Argumentation mit Blick auf practical, diagrammatic und embodied turn Beck 2023, wo dies im Ausgang von der in dieser Studie nicht ausführlich diskutier-

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2.  Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und­ Ästhetik

Eine zentrale Forschungsperspektive der Studie zielte darauf, Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie als zwei Varianten einer Theorie eines anschaulichen Denkens zu rekonstruieren, die sich in Verfahren und Inhalt unterscheiden. Formelhaft lassen sie sich folgt gegenüberstellen: Kants Theorie der geometrischen Konstruktion entwirft ein operatives Konzept eines anschaulichen Denkens, das auf der Basis von mittels Zirkel und Lineal gezeichneten Figuren mit Raumrelationen operiert. Der Inhalt dieses Denkens ist der Raum als Anschauungsform, es antwortet auf das Pro­ blem der Orientierung im Raum. Hegels Theorie der figurativen Malerei entwirft ein performatives Konzept eines anschaulichen Denkens, das auf der Basis gemalter, lebendiger Figuren soziale Relationen darstellt. Sein Inhalt sind soziale Lebensformen und das Problem einer Orientierung im Handeln. Die Vergleichbarkeit dieser Theorien ergab sich durch den Schritt über ihren jeweiligen mathematik- und kunsttheoretischen Fragehorizont hinaus, der zu den Begriffen der Anschauung, des anschaulichen Denkens und der Ästhetik führte. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie mit Hinblick auf diese drei Begriffe dargestellt. Zunächst wird die Rekonstruktion der Anschauungskonzeptionen Kants und Hegels in ihren Grundlinien rekapituliert und gezeigt, wie die Integration der Anschauung in ihre Philosophien mit einer fortschreitenden Metaphysikkritik einhergeht. Es folgt die Zusammenfassung der Ergebnisse zur Epistemologie anschaulichen Denkens bei Kant und Hegel, die mit einer abschließenden Diskussion der Frage verbunden ist, wie sie diese Konzeptionen jeweils gegen die Standardkritiken verteidigen lassen und was das Spezifische der hier vorgeschlagenen Deutungen ist. Im Anschluss werden vier Ergebnisse zu der Frage zusammengefasst, welche Stellung diese Theorien einer operativen und performativen Anschauung innerhalb des Forschungsgebiets der philosophischen Ästhetik einnehmen könnten.

2.1 Anschauungstheorie und Metaphysikkritik

Ein wesentliches Ziel der Rekonstruktion von Kant und Hegel war es, bei beiden Autoren vier zentrale Gedanken nachzuzeichnen. Dies sind (i) die Integration der Anschauung in die Erkenntnis- bzw. Geisttheorie, die zu verschieten Euklidizätsthese Kants, sowie einer praxeologischen Wende der Mathematikphilosophie zu zeigen versucht wird. Vgl. auch die Argumentation zu Konjunkturen des Bilddenkens in Beck 2021a.



Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und­ Ästhetik

denen Konzeptionen des Verhältnisses von Anschauung und Begriff führt; (ii) die Abgrenzung eines Sonderbereichs der Sinnlichkeit im Rahmen einer Unterscheidung von empirischer und nichtempirischer Anschauung; (iii) die Beschreibung einer Eigenlogik dieser nichtempirischen Anschauung, die mit der Entdeckung einer irreduziblen Körperlichkeit menschlicher Welt- und Sozialverhältnisse verbunden ist; (iv) die Konzeption eines anschaulichen Denkens, das medial und inhaltlich auf diese Eigenlogiken bezogen ist. Dabei sollte ebenfalls gezeigt werden, dass diese Gedanken eng mit der Kritik an einer intellektualistischen Metaphysik verbunden sind, die diese Dimensionen einer medialen Eigenlogik der Anschauung unberücksichtigt lässt oder systematisch verstellt. Unter diesem Gesichtspunkt werden nun die wichtigsten Argumentationsschritte und Ergebnisse dieser Rekonstruktion rekapi­ tuliert.4 Kants Auffassung von Anschauung und Begriff ist das Produkt seiner Kritik am intellektuellen System der Welt der rationalistischen Schulphilosophie, für die die Welt eine Ordnung von Substanzen ist. Innerhalb dieses Systems ist jede denkbare Erkenntnis prädikatenlogisch strukturiert und sinnliche Vorstellungen sind nur begriffliche Vorstellungen im Modus der Verworrenheit. Während das endliche menschliche Erkenntnissubjekt solche sinnlichen Vorstellungen nicht immer in Begriffe auflösen kann, soll das von der Metaphysik postulierte unendliche theologische Subjekt deren prinzipielle Kontinuität zur Sphäre des Begrifflichen garantieren. Der als kopernikanische Wende betitelte Rückzug der kantischen Philosophie auf die epistemischen Ressourcen endlicher Subjektivität eliminiert diese Instanz. Es zeigt sich, dass der sinnliche und perspektivische Weltbezug durch Anschauung und Erscheinung für das endliche Subjekt unhintergehbar ist. Kant unterscheidet daher Anschauung und Begriff als heterogene Erkenntnisquellen, stellt aber zugleich mit seiner Kodependenzthese fest, dass in Erkenntnissen beides zusammenkommen muss. In der Folge unterscheidet Kant allerdings eine empirische und eine nichtempirische Dimension von Sinnlichkeit und weist der Sinnlichkeit so einen eigenen Typus von Prinzipien zu. Die empirische oder aposteriorische Anschauung, die auch als das Gegebene bezeichnet wird, steht für das Alogische und Denkfremde der Natur. Im Modell des diskursiven Verstands, das die Kritik der reinen Vernunft entwirft, ist diese empirische Sinnlichkeit dem Begriff hierarchisch untergeordnet. Sie wird als materielles Substrat begriffen, dem der Verstand seine Regeln aufprägt. Ob und inwiefern diese denk4 Vgl. hierzu auch die etwas ausführlicheren Überblicke zu Beginn der einzelnen Kapitel.

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fremde Natur auch einer Eigenlogik folgen könnte, wird erst in der Kritik der Urteilskraft tentativ zum Thema. Allerdings beschreibt Kant in seiner Theorie der Anschauungsformen von Raum und Zeit noch eine zweite Dimension der Sinnlichkeit, die er als transzendentale oder reine Anschauung bezeichnet. Sie bezieht sich auf einen Strukturaspekt menschlicher Sinnlichkeit, der einer neuentdeckten Logik der Koordination folgt. Diese nichtempirische Sinnlichkeit und ihre Eigenlogik bilden das Zentrum seiner Raum- und Geometrietheorie. Die Idee einer Eigenlogik der Anschauung entwickelt Kant in der Auseinandersetzung mit der Epistemologie des menschlichen Weltverhältnisses. Er entdeckt, dass der perspektivische, verkörperte Weltzugang des Menschen bei der Orientierung im Raum und der Identifikation räumlicher Gegenstände unhintergehbar ist. Versuche des Rationalismus, die Welt beobachterunabhängig zu beschreiben, wie das intellektuelle System der Welt und die Konzeption eines Stellenraums, sind daher nicht in der Lage, die epistemologische Natur des Raums befriedigend einzuholen: Räumliche Verschiedenheit ist nicht auf begriffliche Verschiedenheit zurückführen. Ein relationales Raumverständnis bleibt ohne die singuläre, indexikalische Relation auf den Standpunkt eines erkennenden Subjekts unvollständig. Als ersten Grund unserer Raumerfahrung identifiziert der vorkritische Kant daher das menschliche Körperschema und das Gefühl für den Unterschied der rechten und linken Hand, die sich nicht durch begrifflich-prädikative Aussagestrukturen ersetzen lassen. Die Kritik der reinen Vernunft entwickelt daraus die These, dass der Raum eine nicht auf begriffliche Strukturen reduzierbare, subjektive Anschauungsform ist. Zu dieser neuen Logik des Raums gehört, dass singuläre Standpunkte nicht unter Allgemeinbegriffe subsumiert, sondern nur durch geregelte Perspektivenwechsel in andere singuläre Standpunkte transformiert werden können. Die Strukturgleichheit dieser Problematik zur späteren Konzeption des sensus communis in der Kritik der Urteilskraft zeigt, wie die Theorie der Anschauungsform mit den eigenen Mitteln der Philosophie Kants um eine soziale Logik der Anschauung im Sinne einer intersubjektiven Logik von Perspektivenwechseln erweitert werden kann. Seine Konzeption eines anschaulichen Denkens entwickelt Kant in der Theorie eines intuitiven Vernunftgebrauchs der Mathematik. Die Studie hat sich hierbei auf die Geometrie fokussiert und Kants Theorie der euklidischen Konstruktionspraxis als Theorie der diagrammatischen Erkenntnis rekonstruiert. Während rationalistische Erkenntnismodelle die Geometrie begriffsanalytisch rekonstruieren wollen, bedarf sie für Kant eines Kon­struk­ tionshandelns in der Anschauung und ist daher synthetisch. Die euklidische Konstruktionspraxis exemplifiziert die definierten Begriffe in konkre-



Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und­ Ästhetik

ten und singulären diagrammatischen Figuren. Im Zusammenspiel von Auge und Hand transformiert sie diese durch regelhafte Operationen mit Zirkel und Lineal in andere singuläre Figuren. Dabei macht sie von der Eigenlogik des Raums Gebrauch, dies es erlaubt, das begrifflich Identische als verschieden und das begrifflich Verschiedene als äquivalent darzustellen. Hierdurch entstehen epistemische Überschüsse, die in neuen, bisher nicht beobachteten Relationen zwischen den Elementen einer Figur bestehen. Der Inhalt der Geometrie ist ein Typus anschaulicher Notwendigkeit in Gestalt räumlicher Machbarkeiten und Unmöglichkeiten, die sich nicht auf logische Notwendigkeit zurückführen lassen, sondern erst unter den Bedingungen anschaulicher Konstruktion zeigen. Damit soll die Elementargeometrie für Kant in der Lage sein, die implizite Struktur des Raums als menschliche Anschauungsform explizit zu machen. Die Rekonstruktion der Anschauungskonzeption Hegels folgte denselben Parametern wie bei Kant, woran deutlich wird, dass die Lesart Hegels stark von kantischen Motiven geprägt ist. Dies betrifft insbesondere Kants Gedanken zu Eigenrecht und Eigenlogik der Anschauung, die Hegel – so die These der hier vorgeschlagenen Lesart – unter mehrfach veränderten Vorzeichen weiterführt. War bei Kant die Kritik am Rationalismus entscheidend, wurde Hegels Anschauungskonzeption vor dem Hintergrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit Kant rekonstruiert. Dies betraf insbesondere zwei Dimensionen von Hegels Kantkritik, die beide als kritische Fortsetzung der Intentionen Kants gelesen wurden. Mit seiner Auffassung zu Anschauung und Begriff wendet sich Hegel gegen Kants Reflexionsphilosophie der Subjektivität. Damit bezeichnet er Kants Philosophieren vom Standpunkt des endlichen menschlichen Subjekts, das Dualismen, Oppositionen, Grenzen und Trennungen erzeugt, die in der Folge nur schwer wieder überbrückt werden können. Exemplarisch hierfür ist die Trennung von Intellekt und Sinnlichkeit in Kants Theorie des diskursiven Verstandes. Hegel will diese Trennungen durch das Philosophieren von einem unendlichen Standpunkt überwinden und entwirft ein holistisches Verständnis des Geistes, der sich in seiner erkennenden Aktivität nicht auf etwas anderes oder Abgetrenntes, sondern nur auf sich selbst beziehen soll. Das Vorbild hierfür bildet Kants in der Kritik der Urteilskraft entwickelte spekulative Konzeption eines intuitiven Verstandes. Den Dualismen der kantischen Philosophie setzt Hegel so den Gedanken von Identität, Kontinuität und Untrennbarkeit gegenüber, und scheint so zu Grundprämissen des Rationalismus zurückzukehren. Die Studie hat allerdings im Sinne einer kritischen Hegellesart (mit Sedgwick und Pippin) argumentiert, dass dies nicht so verstanden werden muss, dass Hegel den

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Gedanken der Sinnlichkeit als autonomer Sphäre wieder aufgibt. Seine Argumente für die Untrennbarkeit von Anschauung und Begriff können auch als innovative Fortsetzung und Radikalisierung von Kants Kodependenzthese gelesen werden. Hegel ersetzt so Kants statische Typologie von Vermögen und Vorstellungstypen durch ein Modell von Tätigkeiten des Geistes (Empfinden, Anschauen, Erinnern, Denken etc.), in denen Sinnliches und Begriffliches je stets gemeinsam vorkommen. Dieses Modell greift einerseits Leibniz’ Gedanken einer Kontinuität der Vorstellungsarten auf, weil sich diese Tätigkeiten prinzipiell auf dieselben Inhalte beziehen können. So wird der für diese Hegellesart zentrale Gedanke möglich, dass es für Hegel Anschauungen gibt, die ohne explizite Begrifflichkeit intelligibel sind. Andererseits schreibt es diesen Tätigkeiten auch einen Formaspekt und eine mediale Eigenlogik zu, womit er an Kants Gedanken einer Eigenlogik von Anschauungsformen anknüpft. Auch Hegel unterscheidet verschiedene Dimensionen der Sinnlichkeit. Hegels Geistphilosophie ist nach dem Modell einer teleologischen Entwicklung konzipiert, die Rezeptivität und Sinnlichkeit zunehmend in Spontaneität und Begrifflichkeit transformiert. Ihr Telos ist ein reines Denken, dessen Bezug zur Anschauung lediglich darin besteht, dass es seine reinen Begriffe in arbiträren Sprachzeichen manifestieren muss. Im Rahmen dieses Aufstiegs erscheinen immer wieder potenzielle Instanzen eines widerständigen, denkfremden Aposteriori, wie die Negativität und Intransparenz der Erinnerungsbilder, oder die Ambiguität und Unbestimmtheit des Symbols. Diese Negativität des Sinnlichen und ihre potenzielle Eigenlogik spielen im Entwicklungsmodell der Geistphilosophie aber letztlich keine Rolle, weil sie als bloße Vorstufe der Selbsttransparenz begrifflichen Denkens zurückgelassen werden. Neben dieser empirischen oder aposteriorischen Dimension der Sinnlichkeit beschreibt Hegel aber wie schon Kant noch eine zweite, nichtempirische Dimension der Sinnlichkeit. Exemplarisch hierfür ist die Konzeption der geistdurchdrungenen Anschauung als einem sinnlichen Vollzug, in dem geistige Gehalte ohne explizite Begrifflichkeit intelligibel werden. Einen besonders interessanten Modus einer solchen nicht negativen oder rezeptiven, sondern spontanen Sinnlichkeit beschreibt Hegel in seiner Anthropologie und Ästhetik als das expressive Vermögen des Menschen, sich in seinem Leib für andere als beseeltes und intentionales Wesen zu manifestieren. Hier setzte die Studie mit der Rekonstruktion einer hegelschen Theorie der Eigenlogik der Anschauung und eines anschaulichen Denkens an. Hegels Beitrag zu einer Theorie der Eigenlogik der Anschauung hat die Studie im Rahmen einer zweiten Kantkritik rekonstruiert, die nun dezidiert als Metaphysikkritik zu verstehen ist. Hegel stellt fest, dass Kants Kritik an



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der Metaphysik der Objektivität in das andere Extrem einer Metaphysik der Subjektivität umgeschlagen ist. Dies wurde wie folgt gelesen: Kant überwindet zwar innerhalb der theoretischen Philosophie das intellektuelle System der Welt des Rationalismus, dem er seine Theorie der Anschauungsform als Form des verkörperten Weltbezugs gegenüberstellt. Im Bereich der praktischen Philosophie schlägt Kants Projekt allerdings erneut in eine körpervergessene Metaphysik um. Hier entwirft Kant die Theorie eines intellektualistischen Subjekts, das seine eigene Freiheit zwar denken, aber nicht aber anschauen und empfinden kann. Diesem Subjekt fehlt also eine sinnliche Beziehung zu sich selbst und zu anderen Subjekten. Hegel stellt dieser leeren Vernunft eine expressive Freiheitskonzeption gegenüber, die auf der Externalisierung im Handeln, der Anerkennung durch andere Subjekte und der Teilnahme an gemeinsamen Lebensformen beruht. Weil das praktische Subjekt für Hegel also auf Sinnlichkeit angewiesen ist, entsteht die Frage, wie es seine Freiheit im Sinnlichen manifestieren und zeigen kann. In dieser Studie wurde in Anknüpfung an die verkörperungstheoretische Lesart vorgeschlagen, bestimmte Passagen von Hegels Anthropologie und Ästhetik so zu lesen, dass er, analog zu Kants Theorie der Anschauungsform, eine Theorie der Form des verkörperten menschlichen Sozialverhältnisses entwickelt. Im Kern dieser Theorie steht die Idee einer zeichenhaften Performanz des menschlichen Leibes, durch die Menschen sich als handelnde Wesen in einer Weise manifestieren, die sich von empirischen Naturereignissen und arbiträren Zeichen unterscheidet. Diese zeichenhafte Performanz hat der menschliche Leib zum einen als ein durch Selbstgefühl und Gewohnheiten angeeigneter Leib, durch den das Subjekt in eine Resonanzbeziehung zu anderen Subjekten treten kann. Zum anderen durch expressive Organe der Körperoberfläche wie Haut und Auge. Hieran wird deutlich, dass sich Hegels Überlegungen zur leiblichen Intersubjektivität vor allem an visuellen Eigenschaften orientieren, was insbesondere die Auszeichnung der Blickbeziehung als Urszene menschlicher Sozialverhältnisse zeigt. Eine Theorie anschaulichen Denkens entwickelt Hegel im Rahmen einer Theorie der Kunst, die ebenfalls eine kritische Weiterentwicklung kantischer Gedanken enthält: Die Kritik an Kants Konzeptionen von endlichem Verstand, leerer Vernunft und einer bloß subjektiven Urteilskraft führt Hegel zu einem Modell des spekulativen Denkens, das sich unter anderem im ästhetischen Denken der Kunst verwirklichen soll. Damit wird das bereits von Kant in der Kritik der Urteilskraft begonnene Projekt einer Versöhnung von Natur und Geist im Ästhetischen weitergedacht, allerdings nicht wie bei Kant in Form einer Erfahrungsästhetik und einer Theorie ästhetischer Urteile, sondern in einem Modell des ästhetischen Wissens. Dessen Kern besteht darin,

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in Form einer Tätigkeit der poiesis ein ästhetisches Selbstbewusstsein des Menschen herauszuarbeiten. Diese Tätigkeit besteht in der Externalisierung des Geistes in konkreten Produktionen, die nicht nach Regeln hergestellt werden können, aber trotzdem implizite begriffliche Gehalte haben. War der Inhalt des anschaulichen Denkens bei Kant Anschauungsformen, so sind es für Hegel Lebensformen: statt um die Orientierung im Raum geht es um die Orientierung im praktischen Handeln. Dabei wurde versucht zu zeigen, dass der Malerei für Hegel mit Blick auf die Frage verkörperter Intersubjektivität eine Schlüsselstellung innerhalb der Kunstformen zukommt. An der Querverbindung seiner Theorie expressiver Leiblichkeit zur Theorie der Kunst wird zunächst deutlich, dass es für Hegel eine grundlegende Kontinuität zwischen den verkörperten Bedeutungen der menschlichen Lebenswelt und den verkörperten Bedeutungen der Kunst gibt. Das Verkörperungsmodell der klassischen Skulptur erweist sich aber als viel zu starr, um die relationale Konstitution und Lebendigkeit menschlicher Subjektivität zum Ausdruck zu bringen. Dies gelingt erst in der romantischen Malerei, die das gescheiterte Substanzprinzip der antiken, klassischen Kunst durch das christlich-neuzeitliche Prinzip der Subjektivität ersetzt. Damit ist die Malerei für Hegel die anthropomorphere, d. h. die dem Menschen angemessenere Wissensform, was sich in der Affinität von Hegels Malereitheorie zu seiner Anthropologie spiegelt. Zugleich kann sie mit Blick auf die Kritik an einer Metaphysik der Subjektivität als Modell einer Ästhetik der Subjektivität betrachtet werden, die die leibliche Eingebundenheit und relationale Abhängigkeit menschlichen Handelns zum Ausdruck bringt. Die Studie hat also versucht, bei Kant und Hegel jeweils einen analogen Zusammenhang zu rekonstruieren, der von der Integration der Anschauung in ihre Epistemologien, über die Differenzierung von Dimensionen der Sinnlichkeit und die Entdeckung einer Eigenlogik der Anschauung zu Konzeptionen eines anschaulichen Denkens führt. Dabei sollte zugleich gezeigt werden, dass der Grundimpetus dieses Gedankengangs eine Kritik intellektualistischkörperloser Modelle von Welt und Subjektivität ist, denen Kant und Hegel die leibliche Eingebundenheit und relationale Abhängigkeit menschlicher Praxis gegenüberstellen.

2.2 Die Epistemologie anschaulichen Denkens bei Kant und Hegel

Auf der Grundlage dieser Rekapitulation kann nun aus systematischer Perspektive betrachtet werden, was für Kant und Hegel jeweils spezifische Verfahren und Inhalte eines anschaulichen Denkens sind. In diesem Zusam-



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menhang soll auch abschließend reflektiert werden, was der systematische Stellenwert dieser Theorien sein kann, wie sie gegen die Einwände der Standardkritiken verteidigt werden können und was das Spezifische der hier vorgeschlagenen Deutungen ist. Den Ausgangspunkt dieser Darstellung bildet eine Reflexion zur allgemeinen Problematik einer Epistemologie anschaulichen Denkens. Einen Schlüssel zur Frage, was ›anschaulichen Denken‹ aus epistemologischer Sicht bedeuten kann, und wie es sich von einem diskursiven Denken unterscheidet, hat die Studie in der Kritik am Mythos des Gegebenen gefunden. Der Mythos des Gegebenen ist eine fehlerhafte philosophische Position, die postuliert, dass wir durch Anschauungen einen von Begriffen unabhängigen epistemischen Zugang zu Objekten haben. Diese Position scheitert allerdings daran, zu zeigen, wie ein rein intuitives Erkennen in ein Kontinuum epistemischer Vollzüge integriert werden kann, und schlägt so in eine Art des Skeptizismus um.5 Die Studie hat zunächst nachgezeichnet, dass Kant und Hegel dieses Problem bei der Integration der Anschauung in ihre epistemologischen Standardmodelle vermeiden, indem sie Anschauungen so konzipieren, dass sie stets auf Begriffe bezogen sind. Kants Unterscheidung von zwei distinkten Erkenntnisquellen geht mit der Einsicht einher, dass Erkenntnis eine Verbindung von Anschauung und Begriff voraussetzt und unsere Wahrnehmungen stets begrifflich vorstrukturiert sind. Hegel radikalisiert diese Einsicht mit einem holistischen Modell geistiger Tätigkeiten, in denen Sinnliches und Begriffliches stets untrennbar verbunden ist. Der Einbildungskraft kommt hierbei eine Vermittlungsrolle zu: In Kants Konzeption des diskursiven Verstands verknüpft sie die Wahrnehmungen mit Begriffen, für Hegel ist es darüber hinaus ihre Funktion, die Sprachzeichen zu erzeugen, derer sich das reine Denken bedient.6 5 Vgl. McDowell 1994. Analog ließe sich mit der Kritik an Präsenzmetaphysik argumentieren. Letztere beruht ebenfalls auf der Annahme eines epistemischen Modus von Intuition, Evidenz oder Parousie, dessen Präsenz und Fülle nicht durch die Verweisungszusammenhänge von Begriff, Sprache oder Zeichen kontaminiert wird. 6 Hier ist allerdings zu betonen, dass auch das diskursive, logische oder sprachliche Denken keinen monolithischen Block bildet: So stehen dem intuitiven Vernunftgebrauch der konstruktiv verfahrenden Mathematik bei Kant gleichermaßen der diskursive Vernunftgebrauch einer begriffsanalytisch verfahrenden Philosophie, wie der diskursive Verstand der experimentierenden und beobachtenden Naturwissenschaften gegenüber. Hierdurch muss die Unterscheidung von diskursivem und anschaulichem Denken letztlich immer mehrdimensional gedacht werden. Hegel verkompliziert dies weiter, indem er dem diskursiven Verstand und der leeren Vernunft bei Kant zunächst dessen eigene hypothetische Konzeption eines intuitiven Verstandes gegenüberhält, die zur Basis einer neuen, spekulativen Geistkonzeption wird. In diesem Rahmen differenziert er neben dem diskursiven Verstand der empirischen Wissenschaften ein verkörpertes Wissen der

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Wie argumentiert wurde, kann angesichts dieser Integration von Anschauung und Einbildungskraft in Standardmodelle eines diskursiven Denkens noch nicht von einer Anschaulichkeit oder Bildlichkeit des Denkens selbst die Rede sein. Hier und nur hier ist stattdessen der Diagnose Ottos zuzustimmen, wonach Kant und Hegel »bei all ihrer Differenz […] eine Frontlinie des herrscherlichen Nach-Denkens über Anschauungen« bilden.7 Die Sinnlichkeit fungiert in diesem Kontext als passives Substrat begrifflicher Strukturierungsleistungen, als Negativität, die vom Begriff überwunden werden muss, oder als arbiträres Sprachzeichen, das zum Medium reinen Denkens werden kann, weil sein Eigensinn ausgelöscht wurde. Damit ergibt sich ein Dilemma: Ein gehaltvoller Begriff anschaulichen Denkens muss mehr bedeuten als einen Anschauungsbezug diskursiven Denkens. Umgekehrt verbietet es die Kritik am Mythos des Gegebenen, das anschauliche Denken als ein Anschauen jenseits des Begriffs zu konzipieren.8 Wie gezeigt werden sollte, bieten Kant und Hegel in ihrer Geometrieund Malereitheorie jeweils Lösungen für das geschilderte Dilemma an. Als Grundlage dieser Konzeptionen hat die Studie zwei Gedanken identifiziert. Der erste ist Kants Idee eines Eigenrechts und einer Eigenlogik der Anschau­ ung, die – so die These – von Hegel unter veränderten Vorzeichen fortgeführt wird. Gemeint ist damit ein epistemologischer Prinzipiendualismus, der neben diskursiven und logischen Prinzipien auch eigene Prinzipien der Anschauung anerkennt. Kants Theorie der Eigenlogik des Raums als verkörperter Anschauungsform wurde dabei eine Hegelsche Theorie der Eigenlogik der Form verkörperter sozialer Beziehungen gegenübergestellt. Der zweite Gedanke besagt, dass anschauliches Denken zwar wie diskursives Denken immer Anschauungen und Begriffe voraussetzt, allerdings in Form anderer Verhältnisse von Anschauung und Begriff. Diesen Gedanken entwickelt Kant im Kontext seiner Konzeption eines intuitiven Verstands, die für Hegel einen zentralen Ausgangspunkt seiner Geistphilosophie bildet. In dieser Studie wurde er – auch unabhängig von diesem spezifischen Kontext – als eine systematische Eigenschaft von Konzeptionen eines anschaulichen Denkens insgesamt identifiziert. Zusammengenommen besagen beide Gedanken, dass im anschaulichen Denken an die Stelle einer hierarchischen Unterordnung von Kunst im Modus von Anschauung und Empfindung und ein reines Denken der Wissenschaft der Logik in arbiträren Sprachzeichen. 7 Otto 2007, 209. 8 Ein solches anschauliches Denken müsste vollkommen disjunkt zu allen anderen Arten des Denkens oder Wissens sein. Es wäre interessant, über diese Option eines ganz anderen Denkens oder Wissens weiter nachzudenken, als ein epistemologischer Extremfall fiel sie allerdings nicht in den Fokus dieser Studie.



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Anschauungen unter Begriffe andere Konstellationen treten. Darin fungiert die Sinnlichkeit nicht mehr als passives Substrat, sondern kommt als sinnliche Spontaneität und Eigenlogik der Sinnlichkeit zur Geltung. Dies involviert allerdings auch, wie hinzuzufügen ist, alternative Konzepte von Begrifflichkeit. So wird also deutlich, warum anschauliches Denken mehr sein kann als ein auf Anschauungen bezogenes diskursives Denken, und wie zugleich die problematische Annahme eines begriffslosen Anschauens vermieden werden kann. Wie dies zu verstehen ist, und was jeweils ›anschauliches Denken‹ bedeutet, wird nun an beiden Konzeptionen abschließend dargestellt und diskutiert.

Kant – ein abschließendes Fazit

In Kants Theorie geometrischer Konstruktion wird das anschauliche Denken als ein Operieren mit Raumrelationen konzipiert, das in der Lage ist, transzendentale Bedingungen der verkörperten menschlichen Raumerfahrung zu artikulieren. Dabei kommen die Idee einer Eigenlogik der Anschauung und der Gedanke anderer Verhältnisse von Anschauung und Begriff in folgender Charakteristik zusammen: anschauliches Denken setzt zwar stets Begriffe (als explizit formulierte Definitionen und Regeln) voraus, durch das Operieren in der Anschauung entsteht allerdings ein spezifischer Überschuss, der den Begriffen selbst nicht entnommen werden kann. Im Sinne einer diagrammatischen Lesart wurde diese Produktivität der Anschauung nicht auf ein intuitives Einsehen, sondern auf das Operieren mit benannten Diagrammen zurückgeführt. Anschaulichkeit heißt hier zunächst Externalität und Figürlichkeit. Im Gegensatz zum Verfahren der Begriffsanalyse bedarf die Mathematik eines Medienwechsels, eines ›Hinausgehens aus dem Begriff‹ in die Anschauung. Dies involviert eine neue Art von Begriffen, die mit Kants Theorie schöpferischer und genetischer Definitionen als Herstellungsprogramme für Figuren verstanden werden können. Während die philosophische Methode ein Denken in Allgemeinbegriffen in abstracto ist, hat es das mathematische Denken mit Begriffen in concreto zu tun, d. h. mit singulären Figuren, die stets partikuläre Eigenschaften aufweisen. Wie zunächst in Kapitel II.4, dann aber insbesondere auch in Kapitel II.5 gezeigt wurde, involviert die Herstellung dieser Figuren und das Operieren mit ihnen eine spezifische Verfahrenslogik, die einen sinnlichen Handlungscharakter der Operativität mit einer relationalen Logik der Verknüpfung von Singulärem verbindet. Das Grundprinzip der Figuration sind normierte Operationen des Linienziehens mit Zirkel und Lineal, die in der Koordination von Auge und Hand nach Regeln

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vollzogen werden. Dieser Handlungscharakter informiert auch die Rezeption des Diagramms, insofern die Operationen zum Verständnis der Darstellung nachvollzogen werden müssen. Im Zentrum von Kants Gedanken einer operativen Anschauung steht also die Aktivität des Linienziehens, an der sich ihr spezifischer Charakter als spontane, aktive und nichtempirische Sinnlichkeit zeigt. Der diagrammatische Linienzug unterscheidet sich mit seinem Handlungscharakter als synthetische Beschreibung eines Raums in spezifischer Weise von der Wahrnehmung der physikalischen Bewegung eines Objekts. Im Linienziehen beobachten wir unser eigenes Handeln nicht als empirisches Ereignis, sondern beziehen uns darin auf unsere eigene Spontaneität, die wir kontextunabhängig in beliebigen materiellen Substraten oder sogar in der Imagination realisieren können. Eine relationale Logik unterscheidet dieses Verfahren von der Subsumtions- und Subordinationslogik des begriffsanalytischen Verfahrens. Diese rela­tionale Logik zeigt sich zum einen in der epistemischen Ausnutzung einer topologischen Verschiedenheit von Raumstellen, die es möglich macht, Gleiches an verschiedenen Orten darzustellen; zum anderen in einer neuen Logik quantitativer Verhältnisse, die es ermöglicht, Verschiedenes als äquivalent darzustellen. Mit Blick auf diese Relationalität folgt das Verfahren einer anderen Logik von Allgemeinem und Besonderem als die Begriffsanalyse. Singuläres wird hier nicht unter Allgemeinbegriffe subsumiert, sondern nach Regeln in anderes Singuläres transformiert, ohne dass seine Besonderheit aufgehoben wird. Die Allgemeingültigkeit der Schlussfolgerungen beruht daher auf der Wiederholbarkeit der Operationen und nicht auf der Subsumtion unter einen allgemeineren Begriff. Die Produktivität dieses Verfahrens basiert für Kant auf der Unterscheidung zwischen logischer und anschaulicher Notwendigkeit: ein geradseitiges Zweieck ist zwar logisch denkbar, aber auf einer euklidischen Fläche nicht konstruierbar. Auf diese Weise wird in diesen Operationen etwas Implizites explizit gemacht, insofern der diagrammatischen Anschauung etwas entnommen werden kann, was aus den Definitionen nicht abgeleitet werden konnte. Diese Ergebnisse werden allerdings wieder in Theoremen festgehalten und lassen sich, wie dies die Geschichte der Mathematik gezeigt hat, in der Folge auch syntaktisch und axiomatisch reformulieren. Mit dieser diagrammatischen Rekonstruktion von Kants Theorie der eukli­ dischen Konstruktionspraxis lassen sich zwei unterschiedliche epistemologische Projekte verbinden. Das erste, im engeren Sinne bildepistemologische Projekt gründet sich auf die These, dass es sich bei dieser Theorie nicht, wie häufig unterstellt wurde, um eine epistemologische Fehlleistung, sondern um die konsistente Ausformulierung einer Theorie diagrammatischen Denkens



Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und­ Ästhetik

handelt. Zu einer derartigen Theorie gehören die in dieser Studie rekonstruierten Eigenschaften von Externalität, Figürlichkeit, Operativität und Relationalität, sowie die Konzeption des Schematismus und die als Theorie eines diagrammatischen Bildraums interpretierte Konzeption reiner Anschauung. Mit diesen Eigenschaften lässt sich erklären, wie sich das anschauliche Denken der Diagrammatik von einem diskursiven und begrifflichen Denken unterscheidet, und welche strukturellen Eigenschaften es mit der leiblichen Erfahrung im Anschauungsraum verbinden.9 Diese Eigenschaften, wie insbesondere die unhintergehbare Eingebundenheit und Partikularität figürlichen Denkens, werden mit Blick auf Kants Beitrag zu einer Bildlogik in Abschnitt IV.3 noch einmal genauer diskutiert. Ein umfassenderes Projekt ist die Verteidigung Kants gegen die Standardkritik des logischen Empirismus. Hierbei wird insbesondere die Tatsache relevant, dass die euklidische Konstruktionspraxis kein beliebiges Beispiel für epistemischen Diagrammgebrauch ist. Ihr Sonderstatus besteht darin, dass ihre Diagramme nicht externe Inhalte repräsentieren, sondern in reflexiver Weise die strukturellen Eigenschaften des zweidimensional-flächigen diagrammatischen Operationsraums selbst zum Thema machen. Dies verbindet Kant mit einer transzendentalen These, wonach die so erkannten Gesetzmäßigkeiten der euklidischen Geometrie zugleich als transzendentale Struktur des dreidimensionalen Anschauungsraums gelten sollen. Wie in Kapitel II.1 gezeigt, wurde dieses Modell von der modernen Standardkritik vernichtend kritisiert: Durch die Axiomatisierung und Logifizierung der Geometrie wird der methodische Rekurs auf die Anschauung obsolet, die Geometrie erscheint nur noch als Exploration logischer Möglichkeiten. Durch die Entdeckung der 9 Die Anschlussfähigkeit dieser Konzeption für Theorien des diagrammatischen Denkens zeigt sich bereits darin, dass Peirce‹ mit seiner Theorie von Diagrammen als relationalen Strukturbildern, an denen durch Operationen neue Relationen erkannt werden können, explizit an sie angeknüpft hat. Eine These der Studie war aber, dass sich Peirce dabei vor allem auf semiotische Aspekte konzentriert hat, und eine ebenso interessante Theorie des diagrammatischen Bildraums bei Kant unberücksichtigt gelassen hat. Eine Vermutung der Studie war es, dass Kants Theorie auch in einen paradigmatischen Zusammenhang zu formalästhetischen Bildtheorien gestellt werden kann. Dies betrifft neben der Eigenschaft der Physiklosigkeit von Bildern auch das Konzept eines anschaulichen Denkens. Das gemeinsame einer diagrammatischen Erforschung der Gesetze einer operativen Anschauung und einer künstlerischen Erforschung der Strukturen des optischen Sehens liegt in der Idee, dass Bilder zur Explikation struktureller Bedingungen des menschlichen Weltverhältnisses dienen können. Inwiefern dies genau der Fall sein könnte, fiel nicht mehr in den eigentlichen Fokus der Studie und wäre im Anschluss weiterzuverfolgen. Eine These dabei wäre, dass sich Kants Modell auch auf Kontexte übertragen lässt, die nicht in demselben Maße explizite begriffliche Definitionen und Regeln involvieren wie die Diagramme der euklidischen Geometrie es tun.

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logischen Konsistenz und physikalischen Anwendbarkeit nichteuklidischer Geometrien wird so der transzendentale Sonderstatus der euklidischen Geometrie für den Erfahrungsraum in Frage gestellt. Diese Kritik war konstitutiv für das epistemologische Paradigma des logischen Empirismus. Durch die Aufteilung der Geometrie in einen reinen, logischen und einen angewandten, empirischen Teil sollte zugleich Kants Idee einer hybriden, dritten Sphäre der nichtempirischen Anschauung in einen epistemologischen Dualismus von Logik und Empirie aufgelöst werden. Eine systematische Rehabilitation der Position Kants verbindet zwei Strategien: sie entwirft eine neue Rekonstruktion von Kants Anschauungsbegriff und hinterfragt zugleich die epistemologischen Prämissen des logischen Empirismus. In dieser Hinsicht hat sich die Studie an Stekeler-Weithofers Projekt einer Rehabilitation von Kants Anschauungsbegriff im Rahmen einer Philosophie mathematischer Praxis angeschlossen.10 Als die Fluchtlinie diagrammatischer und verkörperungstheoretischer Lesarten Kants kann damit eine praxeologische Rekonstruktion von Kants Anschauungsbegriff identifiziert werden, die Kants Konzeption der nichtempirischen Anschauung als eine Theorie verkörperter sozialer Praktiken aktualisiert. Indem sie sich innerhalb der Prämissen dieser Deutung verortet hat, hat die Studie insbesondere die praxeologische Dimension von Kants Theorie des Raums als Anschauungsform in den Blick genommen. Es ließ sich dabei zeigen, dass an der Wurzel dieser Theorie für Kant zwei praktische Probleme stehen, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten: Das Problem der Unterscheidung inkongruenter Gegenstücke und das Problem der Orientierung als Bestimmung des eigenen Standpunkts im Raum. Dabei wurde deutlich, dass die für Kant relevante Dimension von Räumlichkeit nicht in Relationen eines optischen Sehens besteht, sondern zwei anderen Dimensionen: einem taktil erfahrbaren Strukturaspekt, der die Grenzen, Passungseigenschaften und Lagebeziehungen fester Körper und den axialen Aufbau des menschlichen Körpers betrifft, und einem motorischen Handlungsaspekt, der sich in der linearen Bewegung des Körpers entlang der Achsen des Körperschemas ebenso wie im Linienziehen zeigt. Damit wird zum einen der mentalistischen Lesart widerspro10 Siehe Stekeler-Weithofer 2008 und Stekeler-Weithofer 2010. In dieser Studie konnte die genaue Auseinandersetzung mit den mathematikphilosophischen Debatten nicht geleistet werden. Eine detailliertere Auseinandersetzung des Verfassers mit der systematischen Rehabilitation Kants mit Blick auf verschiedene Optionen eines practical turn in der Philosophie der Mathematik und die Debatte um den transzendentalen Status der euklidischen Geometrie bei Kant findet sich in Beck 2023. Auf die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung wird an dieser Stelle sowie ebenfalls schon in Teilen der Studie zuvor verwiesen.



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chen, die Kants Theorie Anschauungsform im Sinne einer innermentalen Gesetzmäßigkeit interpretiert, aber auch der phänomenologischen Lesart von Hanna, die diese als Theorie des Wahrnehmungsraums deutet, die auch die nichteuklidischen Gesetzmäßigkeiten des optischen Sehens miteinbegreifen müsste.11 Mit Blick auf die Frage, wie sich Kants These von der Euklidizität des Anschauungsraums systematisch retten lässt, müssen dann in Anschluss an Stekeler-Weithofer zwei verschiedene Auffassungen Kants unterschieden werden: Eine explizite Auffassung Kants, wonach die transzendentale Ästhetik eine Theorie des Raums im Ganzen enthält, und eine implizite Auffassung, der es um die Strukturen taktiler und motorischer Operativität geht. Durch die Restriktion auf diese implizite Auffassung verliert die These von der euklidischen Struktur des Anschauungsraums ihren kontroversen Status. So kann auch Kants These, dass die diagrammatische Konstruktionspraxis der euklidischen Geometrie die Eigenschaften unseres Anschauungsraums artikuliert, systematisch verteidigt werden.12 Dem Einwand, dass der Rekurs auf eine diagrammatische Praxis in der Anschauung durch Logifizierung und Axiomatisierung überflüssig geworden ist, begegnet diese praxeologische Lesart, indem sie die epistemologischen Prämissen des logischen Empirismus und dessen Bild von Mathematik in Frage stellt. Dies unterscheidet sie von der logischen Lesart, die sich selbst innerhalb der Prämissen des Logizismus verortet. Für diese Lesart hat Kants Anschauungstheorie allein historische Berechtigung, insofern Kant durch den Rekurs auf die Anschauung das Fehlen einer ausgearbeiteten polyadischen Relationenlogik kompensieren müsse. Stekeler-Weithofers praxeologische Mathematikphilosophie greift dagegen das dem Logizismus zugrundeliegende Bild von Mathematik als abstrakter, logisch-axiomatischer Strukturwissenschaft an und identifiziert die Leistung von Kants Anschauungstheorie in einer semantischen Fundierungsleistung, die den syntaktischen Aussagen der Mathematik Wahrheitswerte zuordnet. Die euklidische Konstruktionspraxis steht in diesem Sinne für eine gemeinsame, leibliche Praxis in der Anschauung, die auf der Basis wiederholbarer taktiler und motorischer Erfahrungen semantische Grundlagen eines Sprechens über den Raum entwickelt. Dieses erlaubt in Alltagssituationen die Verständigung über indexikalische Relationen und Regeln für Perspektivenwechsel. Aus mathematikphilosophischer Sicht bildet es zugleich eine semantische und praxeo­ logische Grundierung der Mathematik, die im Bild der abstrakten Struk-

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Vgl. Hanna 2001, 277 ff. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung dieser Argumentation in Beck 2023.

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turwissenschaft nicht vorgesehen ist.13 Diese Idee, dass diagrammatische Praktiken in besonderer Weise mit der Klärung von Beziehungen zwischen möglichen Positionen im Anschauungsraums zusammenhängen, lässt sich auch mit Krämers Gedanken formulieren, wonach eine zentrale epistemologische Bedeutung der Diagrammatik in ihrer Rolle als einer »kartographischen Orientierungstechnik« liegt.14 Ein spezifisches Ergebnis der Studie in diesem Kontext ist ein Vorschlag, wie sich Kants Konzept der Anschauungsform als geteilte oder soziale Anschauungsform deuten lässt. Stekeler-Weithofer lokalisiert diesen für eine praxeologische Rekonstruktion der Anschauung zentralen Gedanken noch nicht bei Kant, sondern erst in Hegels Kritik der sinnlichen Gewissheit.15 Die Studie versuchte dagegen zu zeigen, dass dies bereits mit den Mitteln von Kants Philosophie formuliert werden kann, wenn die Parallelen zwischen der Raumtheorie und der Theorie des sensus communis in der Kritik der Urteils­ kraft in Betracht gezogen werden. Es wurde gezeigt, dass es für Kant eine Strukturgleichheit zwischen der Theorie der Orientierung im Raum und der Theorie des ästhetischen Urteils gibt, die etwa in der paradoxen logischen Struktur der Urteile, ihrer Standpunktgebundenheit und ihrem Rekurs auf ein nichtobjektivierbares Gefühl besteht. Das Prinzip des sensus communis, das Kant als die Fähigkeit beschreibt, sich an die Stelle eines jeden anderen versetzen zu können, lässt sich auf Basis dieser Parallele auch auf die Problematik der intersubjektiven Verständigung über räumliche Perspektivenwechsel anwenden.16 So kann das individuelle Körpergefühl für die rechte und linke Seite, das am Ursprung von Kants Raumtheorie steht, auch als ein allgemein geteiltes oder kollektives Gefühl rekonstruiert werden. Eine soziale Logik des Raums ergibt sich dann zum einen aus diesem jeweils individuellen, aber bei allen gleichermaßen vorhandenen Gefühl für das eigene Körperschema und den jeweils eigenen Standpunkt im Raum. Zum anderen aus den Regeln der euklidischen Geometrie, mit denen gezeigt werden kann, wie diese Punkte mit allen anderen möglichen Punkten zusammenhängen, und durch welche motorischen Operationen ein Standpunkt in einen anderen Standpunkt transformiert werden kann. 13 In diesem Sinne sind kantische Anschauungsformen für Stekeler-Weithofer »von uns Menschen konstruierte modellhafte, insofern dann auch mathematische Ordnungs­ schemata der Erfahrung.« Stekeler-Weithofer 2008, 360. 14 Krämer 2016, 87. 15 Es handelt sich um die Einsicht, dass Anschauung stets geteilte Anschauung und das Subjekt von Anschauungsformen eigentlich »ein Ich im Modus des Wir« ist. StekelerWeithofer 2010, 236. 16 Vgl. Kapitel II.3.4.



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Die Rehabilitierung und Aktualisierung von Kants Anschauungstheorie durch diagrammatische, verkörperungstheoretische und praxeologische Lesarten zielt also im Kern auf eine neue Deutung von Kants Ideen einer Eigenlogik der Anschauung und eines anschaulichen Denkens im Lichte einer Theo­rie verkörperter und medialer Praktiken. Als deren Zentrum konnte das Konzept einer nichtempirischen Anschauung identifiziert werden. Dieses ist zum einen das Resultat einer Metaphysikkritik, die die universale Geltung diskursiver Logiken kritisch einschränkt. Die nichtempirische Anschauung steht für den verkörperten Weltbezug endlicher Subjektivität und die unüberwindbare Perspektivität, Situiertheit und Eingebundenheit menschlichen Erkennens. Zum anderen steht sie für einen eigenen Bereich nichtdiskursiver epistemischer Ressourcen und Logiken, der sich nicht auf den Dualismus von begrifflichem und empirischem Erkennen reduzieren lässt. Indem sie Kants Idee der nichtempirischen Anschauung als eine dritte epistemische Ressource neben Begriff und empirischer Anschauung rehabilitiert, widerspricht diese Aktualisierung Kants dem dualistischen Erkenntnismodell des logischen Empirismus, das in verschiedener Weise auch die Positionen des linguistic turn beeinflusst hat. Sie leistet somit zugleich einen Beitrag zum Projekt der zweiten Welle der turns, nun auch die nichtdiskursiven räumlichen, leiblichen oder bildlichen Ressourcen unseres Selbst- und Weltverhältnisses freizulegen.17

Hegel – ein abschließendes Fazit

Die Rekonstruktion von Hegels Malereitheorie hatte zum Ergebnis, dass die Malerei für Hegel eine Praxis der Herstellung von figuralen Darstellungen fühlender und handelnder Personen ist, die die leiblichen Bedingungen menschlichen Handelns und menschlicher Intersubjektivität in exemplarischen Konstellationen artikuliert und reflektiert. Auch diese Form eines anschaulichen Denkens involviert ein spezifisches anderes Verhältnis von Anschauung und Begriff, das sie gleichermaßen von Modellen eines diskursiven Denkens wie von Kants Konstruktionsmodell unterscheidet. Ist das bildliche Denken bei Kant noch an den Horizont expliziter Begriffe gebunden, schafft die Malerei nach Hegel geistdurchdrungene Anschauungen, die ohne die explizite Form von Begrifflichkeit intelligibel sind. Diese Konzeption wird möglich, weil Hegel Kants Idee getrennter Erkenntnisvermögen durch ein Modell geistiger 17 Vgl. zu diesem Status der nichtempirischen Anschauung und ihrer Verbindung zur Konzeption der epistemologischen turns erneut ausführlich Beck 2023.

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Tätigkeiten ersetzt, in denen jeweils eine untrennbare Verbindung sinnlicher und begrifflicher Elemente vorliegt. Darin liegt allerdings auch eine Tendenz zur Entwertung sinnlicher Tätigkeiten zu bloßen Vorstufen reinen Denkens, worin die rationalistische Idee von Sinnlichkeit als verworrener Begrifflichkeit wiederzukehren scheint. Gegen diese rein logozentrische Deutung hat die Studie bei Hegel zwei Dimensionen einer nichtdiskursiven Eigenlogik der Anschauung rekonstruiert: zum einen die Formen expressiver Leiblichkeit und leiblicher Intersubjektivität, für die exemplarisch die Blickbeziehung steht; zum anderen die medienspezifischen Eigenschaften und expressiven Potenziale der Malerei, die mit ihrer Flächigkeit und Farbigkeit in der Lage ist, quasi-lebendige Figuren zu inkarnieren und artifizielle soziale Beziehungen herzustellen. Diese sinnlichen Strukturen sind einerseits distinkte und eigenständige mediale Register, weil sie sich nicht auf diskursive, aussagenlogische oder prädikative Strukturen zurückzuführen lassen. Sie bilden aber keinen abgetrennten, autonomen oder unabhängigen Bereich, sondern stehen – so die zentrale Idee von Hegels holistischer Geistkonzeption – in einer untrennbaren Kontinuität zu Geistigem. Hegel interessiert sich für die Eigenschaften der Sinnlichkeit daher nicht im Sinne eines geistlosen Anschauens oder ihrer autonomen Eigengesetzlichkeit, sondern insoweit sie die Möglichkeitsbedingungen einer Externalisierung des Geistes bilden, der seinerseits nicht ohne sinnliche Bedingungen seiner Externalisierung denkbar ist. Die Anschaulichkeit der Malerei kann zunächst erneut als Kombination der Eigenschaften von Externalität und Figürlichkeit bestimmt werden. Für Hegel ist Externalisierung eine Kernbestimmung des Geistes insgesamt, und dies nicht im Sinne einer vorgängigen Existenz, sondern so, dass der Geist selbst in dieser Dynamik der Selbstrealisierung und Objektivierung besteht. Indem Hegel diese Externalisierung als ein ›Hinauswerfen‹ zuvor bloß subjektiver Inhalte in die Anschauungsformen Raum und Zeit konzipiert, knüpft er an Kant Anschauungstheorie an. In der Bestimmung solcher Externalisierungen als Werke, die stets für andere da sind, zeigt sich der für Hegel von Beginn an intersubjektiv gedachte Charakter dieser Anschauungsformen. Aufgrund der universalen Bedeutung der Externalisierung für Hegels Geistkonzeption wird die Figürlichkeit zum entscheidenden Abgrenzungskriterium: das begrifflich verfasste Denken der Philosophie vollzieht sich in allgemeinen Sätzen und Vorstellungen, deren Außenseite arbiträre Sprachzeichen bilden. Das an Anschauung und Empfindung gebundene Denken der Kunst vollzieht sich für Hegel dagegen in der Form ›konkreter Gestalt und individueller Wirklichkeit‹. Um diesen Modus figuraler Anschaulichkeit genauer zu verstehen, hat die Studie verschiedene Ebenen von Hegels Ästhetik betrachtet.



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Allgemeine Hinweise zur Struktur anschaulichen Denkens hat Kapitel III.4 herausgearbeitet. Hegels knappe Ausführungen zur Produktionsästhetik machen klar, dass ein Kunstwerk eine singuläre Verknüpfung von Elementen sein soll, die eine quasi-organische Ganzheit bildet und dabei einem inneren Zusammenhang, aber keinem expliziten oder objektivierbaren Regelwissen folgt. Die poetische Tätigkeit beschreibt er als eine Kombination aus der pathischen Ergriffenheit von Inhalten, einer subjektiven Tätigkeit der Phantasie und einem materialbezogenen Herstellungswissen. Zentral ist die Feststellung, dass die Aussage, wonach Kunst ›den Begriff‹ intelligibel macht, nicht im Sinne einer Illustration oder Übersetzung propositionaler begrifflicher Inhalte zu verstehen ist. Im Gegensatz zu abstrakten Allgemeinbegriffen wie ›Stärke‹, die sich für Hegel auch illustrativ, symbolisch oder allegorisch darstellen lassen, steht die in der Kunst relevante Dimension ›des Begriffs‹ (im Singular) für ein holistisches Orientierungswissen, das Gegensätze wie Sinnlichkeit und Vernunft, Körper und Geist in einer vorgängigen Einheit umfasst. Dieser ›absolute‹ Inhalt ist kein einfach greifbarer propositionaler Gehalt und bedarf auch in der Philosophie komplexer Darstellungsstrategien. Zum epistemischen Potenzial der Kunst konnte an dieser Stelle festgestellt werden, dass Kunstwerke zuvor Unthematisches thematisch machen, sich durch eine gesteigerte Expressivität von der konkreten Wirklichkeit unterscheiden, und in dialektischer Weise auf die Beschränktheit und immanenten Widersprüche anderer Kunstwerke reagieren. Im Anschluss an verkörperungstheoretische Lesarten der Vorlesungen über die Ästhetik hat die Studie die These vertreten, dass das Modell für die Sinnerzeugung der Kunst für Hegel im performativen Charakter menschlicher Leiblichkeit liegt.18 Kapitel III.3 hat gezeigt, dass der menschliche Leib für Hegel eine mediale Sonderstellung hat, die sich in drei Hinsichten beschreiben lässt: Er ist erstens Medium eines Sich-Zeigens und Sich-Entäußerns des Geistes, zweitens im Unterschied zu Symbolen und arbiträren Zeichen ein ›sich-selbstbedeutendes‹ Zeichen, und drittens eine Naturform, deren Äußerungen wir nicht als empirische Ereignisse, sondern als beseelte, intentionale Handlungen auffassen. Sein medialer Charakter involviert für Hegel somit keine manifeste Trennung von Wesen und Erscheinung, Zeichen und Bedeutung oder Phänomen und Ursache. Die anthropologische Leiblichkeitstheorie der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften erklärt dies als Resultat einer Aneignung des Leibs durch Habitualisierung, die die Grundlage eines performativen ›Sich-zu-fühlen-Gebens‹ für Andere bildet. Der allgemeine Teil der Vorlesungen über die Ästhetik führt diesen Sonderstatus auf Haut und Auge als 18

Gemeint sind Hilmer 2005, Pippin 2010 und Peters 2015. Vgl. Kapitel III.I.

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expressive Organe der menschlichen Körperoberfläche zurück. Auf der Basis der von Hegel hergestellten Analogiebeziehung zwischen der Expressivität des menschlichen Leibs und der Expressivität von Kunstwerken, kann das Denken der Kunst daher als ein verkörpertes Denken verstanden werden. Kunstwerke sind demnach Extensionen des menschlichen Leibes und seiner performativen Fähigkeiten und sind in der Lage, uns in derselben Weise zu begegnen wie ein leibliches Gegenüber. Die Auseinandersetzung mit der Malereitheorie in Kapitel III.5 hat gezeigt, dass Hegel mit klassischer und romantischer Kunstform zwei Modelle eines Wissens der Kunst und zwei Modelle von Leiblichkeit differenziert. Die klassische Kunst stellt für Hegel den Versuch dar, Geist und Sinnlichkeit in der Form einer substanziellen Einheit zu vereinen. Das klassische ›Ideal‹ ist ein Modell ästhetischen Wissens, das an Attributen wie Einheit, Harmonie und Schönheit ausgerichtet ist. Für Hegel scheitert dieses Modell allerdings, weil es in sich seiner Funktion als Handlungsorientierung als beschränkt, totalitär und unfähig zur reflexiven Distanzierung erweist. Die nachfolgende romantische Epoche ersetzt dieses Substanzprinzip durch das neuartige Prinzip der Subjektivität. Dieses ist mit einem reflexiven Aufbrechen der substanziellen Einheit von Geist und Sinnlichkeit in Gegensätze verbunden, ermöglicht einen Rückzugs aus dem Sinnlichen in die Innerlichkeit, rückt aber auch eine potenzielle Eigengesetzlichkeit der Externalität in den Blick. Wie argumentiert wurde, scheitert im Rahmen dieses Übergangs für Hegel nicht die Idee der Kunst als verkörperter Wissensform insgesamt, sondern lediglich die statische und unterkomplexe Fassung des klassischen Ideals. Diese wird durch ein komplexeres Modell des Zusammenhangs von Handeln und menschlicher Leiblichkeit ersetzt. Dies involviert ein neues Bewusstsein für den Status des Menschen als geistig-sinnliches Doppelwesen, und das neue Thema ethischer Intersubjektivität und die damit verbundene Frage, in welcher Weise leibliche Subjekte miteinander in Beziehung treten könnten. An die Stelle der Statik, Abgehobenheit und Autarkie des klassischen Ideals tritt so ein dynamisches Modell lebendiger Subjektivität als in sich bewegter Einheit des Differenten; eine Verwicklung in Handlungskontexte und die Angewiesenheit auf ein Gegenüber. In einer Einschränkung des Geltungsbereichs eines ästhetischen Wissens versucht die romantische Kunst dabei nicht mehr, wie die klassische Kunst, ein vollständiges ästhetisches Modell des Menschen zu entwerfen, sondern wendet sich reflexiv dem Teilaspekt der sinnlichen Außenseite zu. Malerei als romantische Kunst kann daher als ein verkörpertes Denken über Fragen des Verkörperung begriffen werden. Die anschauliche Eigenlogik der Malerei konnte in der Gegenüberstellung ihrer medienspezifischen Eigenschaften zu denen der klassischen Skulptur



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herausgearbeitet werden. Als zentrale Eigenschaften einer Logik der Malerei wurde dabei – neben Externalität und Figürlichkeit – ein sinnlicher Hand­ lungscharakter der Performativität und eine relationale Logik der Verknüpfung von Singulärem in Gestalt einer verräumlichten sozialen Interaktionslogik identifiziert. Die Logik der klassischen Skulptur ist für Hegel die eines in sich abgeschlossenen, statischen und beziehungslosen Substanzmodells. Sie bedient sich der dreidimensionalen Umrisse der menschlichen Gestalt, um Eigenschaften wie Kraft und Weisheit in allgemeinen Idealtypen zu exemplifizieren. Demgegenüber folgt die Malerei für Hegel einer Logik dynamischer Handlungen und relationaler Beziehungen, was eine spezifische Leistung ihrer verflachten Zweidimensionalität ist. Erst der flächige Bildraum der Malerei erlaubt es, nicht nur Eigenschaften zu verkörpern, sondern im Sinne eines ›Heraustretens‹ der Figuren in die Fläche eine performative Externalisierung der Figuren in Handlungen darzustellen und Beziehungen zu exemplifizieren. Die Basis hierfür ist eine Matrix von räumlichen Verhältnissen: Figur-Grund-Verhältnisse, die eine handelnde Figur auf eine gegenständliche Umwelt und einen geschichtlichen Handlungsraum beziehen, Figur-FigurVerhältnisse, die es ermöglichen, intersubjektive Handlungskontexte darzustellen und Figur-Betrachter-Verhältnisse, die Betrachter*innen in ein quasisoziales Verhältnis involvieren. Folgen die Idealtypen der Skulptur einer Logik der abstrahierenden Verallgemeinerung, beruht die Logik der Malerei auf einer relationalen Verknüpfung von lebendigen Personen, die fühlende und handelnde historische Individuen sind. Die Fähigkeit zur Inkarnation singulärer, historischer und lebendiger Figuren führt Hegel auf ihre medienspezifische Farbigkeit zurück. Sie ermöglicht es, etwa durch die durchscheinende Farbwirkung des Inkarnats, Haut als empfindungsfähiges Fleisch darzustellen und Blicke lebendig zu erscheinen lassen. Durch diese von der Farbigkeit bedingte Lebendigkeit und ihre ›sich-aufschließende‹ Leiblichkeit treten die gemalten Figuren in eine Resonanzbeziehung zur Betrachterin, die als Einfühlungsbeziehung und als quasi-soziale Interaktionsbeziehung gedeutet werden kann. In Anschluss an Pippin wurde somit auch das für die Malerei spezifische Wissen als ein performatives, intersubjektives oder soziales Interaktionswissen gedeutet. Neben Pippins These wonach das Wissen der Malerei für Hegel »die Gestalt von Behauptungen über uns selbst und andere«19 hat, wurden in diesem Zusammenhang auch Krämers Konzept eines Blickakts, Mitchells Konzept von Bildwissen als einem Wissen von Subjekten über Subjekte und Lau19 Pippin 2012, 11. Exemplarisch für eine solche Behauptung sind für Pippin Sätze wie: »Ich hätte nicht gedacht, daß mich das beschämen würde«. Ebd.

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ers Konzept einer geteilten Spontaneität diskutiert. Der im Zentrum dieser Rekonstruktion der Malereitheorie stehende Topos einer performativen Spontaneität ist so letztlich nicht in der Spontaneität eines individuellen Subjekts, sondern in einer geteilten und reziproken Beziehung zwischen Subjekten fundiert. Neben Externalität, Figürlichkeit, Performativität und Relationalität hat die Studie schließlich als zwei weitere Eigenschaften der Malerei ihr intrinsisches Spannungsverhältnis zwischen Partikularität und Allgemeinheit und die Illusionskraft malerischer Darstellungen identifiziert. Letztere werden in der zusammenfassenden Darstellung der Ergebnisse zur Bildlogik noch genauer thematisiert. Hier folgt nun die abschließende Diskussion der Relevanz dieser Rekonstruktion mit Blick auf die Frage, wie sie der Standardkritik an Hegel begegnet und was die Spezifik der hier vorgeschlagenen Deutung ausmacht. Ein wichtiges Ergebnis der Rekonstruktion von Hegels Malereitheorie ist zunächst, dass sich mit ihr ein gängiges Narrativ in Frage stellen lässt: Dieses Narrativ besagt, dass die europäische Malereitradition in ihrer Gestalt als figurative, illusionäre Tiefenmalerei in einem defizitären Modus von Repräsentation und Abbildlichkeit gefangen sei. Erst in den selbstreflexiven und abstrakten Tendenzen der Moderne gelange sie zu einem adäquaten Verständnis ihrer Medienspezifik und Bildlichkeit. Mit Hegel kann argumentiert werden, dass auch die figurative Malerei einen adäquaten Gebrauch von diesen medienspezifischen Möglichkeiten macht, indem sie quasi-lebendige Gegenüber inkarniert und quasi-soziale Beziehungen herstellt. Hegels Malereitheorie entwickelt in diesem Zuge systematische Grundlagen einer performativen Bildtheorie, die mit Themen wie Inkarnation und Inkarnat eine Theorie der Lebendigkeit, mit Themen wie Einfühlung und Blickbeziehung eine Theorie der sozialen Logik der Bilder ist. Ein weiteres wichtiges Ergebnis dieser Rekonstruktion ist, dass sie es, wie bereits in Kapitel III.1 erwähnt, erlaubt, die Logozentrismusvorwürfe zu adressieren, die zur Standardkritik an Hegels Ästhetik gehören. Derridas Vorwurf, dass Hegel eine begriffs- und sprachlogisch überformte Malereiauffassung vertrete, hat sich mit Blick auf Hegels differenzierte Überlegungen zu Farbigkeit und Flächigkeit als einfach falsch erwiesen. Der Vorwurf Adornos und Derridas, dass Hegels geistphilosophische Ästhetik die Nichtidentität und Alterität von Natur und Kunst unberücksichtigt lasse, ist zwar korrekt. In Anschluss an Peters konnte aber argumentiert werden, dass Hegels Ästhetik dennoch eine genuine Auseinandersetzung mit den Eigenstrukturen der Sinnlichkeit darstellt und zwar mit denen menschliche Leiblichkeit. Im Unterschied zu Peters wurde die systematisch interessante Leiblichkeits-



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konzeption aber nicht innerhalb der klassischen, sondern der romantischen Kunst verortet. Der wichtigste Unterschied der hier vorgeschlagenen Lesart zu anderen Deutungen besteht darin, dass sie Hegel nicht kunstphilosophisch, sondern bildphilosophisch gelesen hat.20 Am deutlichsten wird dies mit Blick darauf, wie angesichts der Anachronismen in Hegels Kunsttheorie – der scheinbaren Privilegierung klassischer Kunst und der These vom Ende der Kunst – für eine gegenwärtige Relevanz dieser Theorie argumentiert wird. Kunstphilosophische Modernisierungen betonen zum einen, dass Hegel auch spezifisch moderne Kunstphänomene reflektiert, wofür insbesondere die Deutung der niederländischen Genremalerei als paradigmatische moderne Kunst steht. Radikaler ist das Projekt von Pippin, die These vom Ende der Kunst mit Hegels eigenen Argumenten zu falsifizieren und Hegels Narrativ der Kunst als Vehikel unabgeschlossener gesellschaftlicher Reflexionsprozesse in die Kunstentwicklung nach Hegel weiter zu verlängern. So deutet er die Malerei Cezannes und Manets als Reflexion einer Krise ›öffentlich geteilter Bedeutung‹ im Kontext einer politischen Krise der Moderne.21 Diese Studie hat das Problem des Endes der Kunst bei Hegel gleichsam umgangen, indem sie Hegels Malereitheorie als einen systematischen Beitrag zu Bildepistemologie und Bildanthropologie gelesen hat. Die Aktualität von Hegels Malereitheorie wurde dabei in ihrem Beitrag zur Frage des iconic turn nach der Rolle von Bildern als Medien nichtdiskursiver Sinnerzeugung identifiziert. Dies ist mit einem eigenen Entwicklungsnarrativ verbunden, das von Hegels dialektischem Entwicklungsmodell des Geistes abweicht, und das als iconic turn avant la lettre bezeichnet wurde. Dieses besagt zusammengefasst, dass Hegel in seiner Malereitheorie im Ausgang von einer Kritik an Metaphysik und Substanzdenken ein bestimmtes anthropologisch relevantes Modell von leiblicher Intersubjektivität und bildlicher Sinnerzeugung formuliert. Damit hat die Studie eine externe Interpretationsperspektive an Hegel herangetragen, konnte sich aber auch auf Deutungsmöglichkeiten und Querverbindungen zu anderen Themen der hegelschen Philosophie stützen, die über das Kernnarrativ der Ästhetik hinausgehen. Zentral war hierbei der Gedanke, dass das von der Malerei artikulierte Modell menschlicher Leiblichkeit für Hegel nicht nur einen transitorischen Moment der Kunstentwicklung darstellt, sondern mit anthropologischen Ein20

Vgl. zu diesem Unterschied und zu der Unterscheidung einer Modernität und Aktualität von Hegels Ästhetik auch Beck 2019a. 21 Ebd. 88. Die Studie hat nahegelegt, dass die von Hegel festgestellte Kompetenz der Malerei für Verkörperungsfragen auch im Kontext der Reflexion digitaler Technologien relevant werden kann. Vgl. hierzu erneut Ammer/Hochdörfer/Joselit 2015.

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sichten in allgemeine Bedingungen menschlicher Leiblichkeit einhergeht. Für diese anthropologische Lesart der Malereitheorie hat die Studie vier Argumente gefunden. Ein erstes Argument ist Hegels Bestimmung der Malerei als gegenüber ihren Vorgängermodellen ›anthropomorpher‹ oder ›anthropomorpherer‹ Kunst, so etwa in der Aussage, dass erst in der Malerei »der vollendete Anthropomorphismus«22 eintrete. Mit dem Anthropomorphen als Eigenschaft romantischer Kunst führt Hegel in die Ästhetik ein alternatives Kriterium zur Schönheit ein, deren Maximum in der Kunst des klassischen Ideals erreicht sein soll. Ein zweites sind die Verbindungen zu anthropologischen Themen innerhalb der Malereitheorie, etwa, dass die Blickbeziehung als ein zentrales Thema der Malerei zugleich der »erste[] Punkt der Identität zwischen den Menschen«23 sei. Ein drittes Argument ist die Beziehung der Leiblichkeitskonzeption der Malereitheorie zu den Passagen der Anthro­ pologie aus der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Mit ihrer Theorie eines ›Sich-zu-Fühlen-Gebens‹ hat die Studie diese – alternativ zu der von Peters hergestellten Verbindung zur klassischen Kunst – als Gegenstück zu der Einfühlungs- und Intersubjektivitätsthematik der Malereitheorie gelesen. Eine viertes Argument ist schließlich die Nähe der Malereitheorie zu den Erörterungen zum phänomenalen Charakter von Menschen und anderen Naturwesen im allgemeinen Teil der Vorlesungen über die Ästhetik, deren Überlegungen zur Expressivität von Haut und Auge erneut ihr exaktes Gegenstück in der Malereitheorie finden.24 Auf Grundlage dieser Aussagen und Querverbindungen wurde vorgeschlagen, dass Hegels Malereitheorie auch als eine Bildanthropologie gelesen werden kann, die den Zusammenhang zwischen den expressiven Potenzialen von Bildern und einer vorsprachlichen, leiblich-visuellen Sozialität des Menschen untersucht.25 Ein zweites Element dieser Lesart war die Beobachtung, dass Hegel die Wende von der klassischen zur romantischen Kunst als exemplarischen Fall einer epistemologischen Wende vom antiken Substanzbegriff zum neuzeitlichen Funktions- und Relationsbegriff inszeniert. Diese theoriestrategische Entscheidung kann zunächst als eine Kritik an zeitgenössischen klassizistischen Malereiauffassungen gedeutet werden. Diese orientieren sich am disegno als der Umrisslinie des Körpers, die für Hegel und seine Zeitgenossen übereinstimmend das medienspezifische Mittel der antiken Skulptur bildet. 22

VÄ Ascheberg 1820/21, 241, MS. 185. VÄ Ascheberg 1820/21, 209, MS 157. 24 Vgl. zu dieser Dimensionen des Anthropomorphen Kapitel III.5.1.2. 25 Ein erneute Historisierung dieses anthropologischen Modells bestände darin, es als Ausdruck einer Epoche des Humanismus zu lesen, die unter anderem durch technologische Entwicklungen in eine Krise geraten ist. 23



Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und­ Ästhetik

Durch sein Fortschrittsnarrativ kann Hegel die Antiquiertheit der klassizistischen Malereiauffassung und die Modernität seiner nichtklassischen Auffassung, die sich an Farbe und Lebendigkeit orientiert, unterstreichen. Wichtig ist, dass dieser Unterschied für Hegel aber auch eine subjekt- und handlungstheoretische Komponente hat: diese besteht in der kritischen Überwindung einer am Substanzmodell ausgerichteten verkörperten ethischen Orientierung, die die klassische Kunst in Gestalt des statischen und beziehungslosen Ideals entwirft. Eine zentrale epistemische Leistung der Malerei als Wissensform besteht insofern darin, dass sie dieses Modell innerhalb eine Wende zur Funktions- und Relationslogik durch ein dynamisches und relationales Modell verkörperter Intersubjektivität ersetzt, und dessen Facetten in unterschiedlichen Konstellationen herausarbeitet. Wie gezeigt wurde, ist dieses Modell für Hegel intrinsisch mit den medienspezifischen Eigenschaften der Malerei wie Flächigkeit und Farbigkeit verbunden. Ein drittes Element war die These, dass das von der Malerei artikulierte Leiblichkeitsmodell als Teil von Hegels Gegenentwurf zu einer Metaphysik der Subjektivität interpretiert werden kann. Hierbei geht es um zwei verschiedene Varianten, wie das neuzeitlich-romantische Thema der Subjektivität konzipiert werden kann. Als Metaphysik der Subjektivität wurde Kants Idee eines praktischen Subjekts identifiziert, das sich selbst zwar diskursiv denken, aber nicht anschauen und empfinden kann. Hegel stellt diesem Modell und seinem ›Bewusstsein einer absoluten Innerlichkeit‹ eine expressive Freiheitskonzeption gegenüber, für die die Sinnlichkeit nicht mehr einen Gegensatz, sondern ein notwendiges Medium ihrer Externalisierung bildet. Dies bedeutet letztlich, dass es nicht sinnvoll ist, eine vorgängige Innerlichkeit anzunehmen, die unabhängig von einer solcher Externalisierung, Realisierung und Objektivierung im Sinnlichen existiert. Es wurde argumentiert, dass dies eine Konzeption der Leiblichkeit voraussetzt, die die leiblichen Möglichkeitsbedingungen einer Externalisierung in Handlungen, der Anerkennung durch ein soziales Gegenüber und die Einbettung in spezifische Lebensformen und Kontexte klärt. Diese Reflexion der sinnlichen Außenseite von Subjektivität im Sinne der Reflexion von Externalisierungsbedingungen des Geistes wurde als eine spezifische Funktion der romantischen Kunst identifiziert. Sie artikuliert damit im Gegensatz zur metaphysischen Auffassung von Subjektivität im Sinne eines unsinnlichen und rein diskursiven Selbstbezugs das Modell einer lebendigen und handelnden, in Kontexte eingebetteten und reziprok auf andere Subjekte angewiesenen verkörperten Subjektivität. In diesem Sinne eines Gegenentwurfs zur Metaphysik der Subjektivität wurden Malerei und Malereitheorie als Beitrag zu einer (transzendentalen) Ästhetik der Subjektivität gedeutet.

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Diese bildphilosophische und bildanthropologische Lesart von Hegels Malereitheorie ist also auch eine kantianische Hegel-Lesart, die strukturelle Analogien zu Kants Projekt einer transzendentalen Ästhetik und seiner eigenen Theorie eines anschaulichen Denkens hergestellt hat. Ihre These ist, das Kant mit Blick auf das menschliche Weltverhältnis etwas leistet, was Hegel mit Blick auf das menschliche Sozialverhältnis vollzieht: Kant legt in der Kritik von Metaphysik und Substanzdenken frei, dass sich die menschliche Raumerfahrung adäquat nur auf der Basis einer Theorie von Leiblichkeit und Relationenlogik einholen lässt, und dass es die Leistung einer körperbezogenen und relationalen diagrammatischen Erkenntnisform ist, die Strukturen dieser Raumerfahrung zu artikulieren. Analog wurde vorgeschlagen, Hegel so zu deuten, dass er in der Kritik von Metaphysik und Substanzdenken zeigt, dass menschliches Handeln und menschliche Intersubjektivität nur auf Grundlage einer Theorie verkörperter sozialer Relationen adäquat erfasst sind, und, dass die Malerei mit ihren medienspezifischen Mitteln in der Lage ist, ein solches Modell zu artikulieren. In beiden Fällen ist die Freilegung nichtdiskursiver Eigenlogiken der Anschauung mit dem Gedanken einer anschaulichen Denkform verbunden, die diese Eigenlogiken im Medium der Bildlichkeit artikuliert. In beiden Fällen bildet dies den Bereich einer nichtempirischen Anschauung, der neben Begriff und Natur einen eigenen Bereich von Prinzipien bildet und, wie hier vorgeschlagen wurde, als eine Sphäre verkörperter, medialer Praktiken begriffen werden kann.

2.3 Epistemologische Ästhetiken und Ästhetiken der Kraft

Eine dritte Frageperspektive betraf die Stellung dieser Konzeptionen eines anschaulichen Denkens innerhalb der philosophischen Ästhetik. Mit dem Fokus auf ein Denken und Wissen unterscheiden sich die rekonstruierten Konzeptionen insbesondere von Ästhetiken der Kraft und Negativität. Die Studie versuchte zu zeigen, dass diese Theorien trotz ihrer Nähe zur Epistemologie einen eigentümlichen Platz im Bereich der philosophischen Ästhetik haben, der mit dem Begriff der epistemologischen Ästhetik oder ästhetischen Epistemologie bezeichnet werden kann. Im Folgenden werden vier Gedankengänge der Studie rekapituliert, die zeigen, wie diese Stellung näher zu fassen ist. Eine erste Einordnung dieser epistemologischen Ästhetiken wird mit Blick auf ihre kategoriale Abgrenzung vom Register des Logischen möglich. Ist das diskursive und begriffliche Denken bei Kant und Hegel einer transzendentalen oder spekulativen Logik zugeordnet, haben die Alternativkonzeptionen



Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und­ Ästhetik

eines anschaulichen Denkens ihren Ort im Kontext der Ästhetik.26 Wie an Kants transzendentaler Ästhetik betrachtet wurde, entstehen die Grundbegriffe dieser Ästhetiken nicht als reine Gegenbegriffe zu den Bestimmungen eines begrifflichen Denkens (spontan vs. rezeptiv, rein vs. empirisch), sondern in einer Kombination aus Differenz und Ähnlichkeit. So entstehen hy­bride Terme, die in einer Art contradictio in adjecto Attribute zuvor disjunkter Bereiche verbinden und die traditionelle Opposition von spontanem Denken und rezeptiver Sinnlichkeit sprengen:27 ›reine Anschauung‹, ›Anschauungsform‹, ›intuitiver Vernunftgebrauch‹, ›intuitiver Verstand‹, ›geistdurchdrungene Anschauung‹, ›abstrakte Sichtbarkeit‹ und ›Wissen in Form der Anschauung und Empfindung‹. Die von der Studie verwendeten Oberbegriffe ›nichtempirische Anschauung‹, ›Eigenlogik der Anschauung‹ und ›anschauliches Denken‹ folgen diesem Schema ebenfalls.28 Gerade aufgrund dieser hybriden Natur wurden solche Konzepte häufig als Ausdruck einer falschen Ästhetisierung des Rationalen (so die Kritik des logischen Empirismus an Kant) oder umgekehrt einer falschen Rationalisierung des Ästhetischen (so die Kritik Adornos und Derridas an Hegel) aufgefasst. Grundprinzip der dabei entstehenden paradoxen und hybriden Begriffsbildungen ist ein Denken der Analogie, das das Ästhetische gleichermaßen in Abgrenzung wie in Ähnlichkeit zur Logik bestimmt. Ein entscheidender Punkt ist nun die Frage, wie dieses Verfahren, als dessen Begründer Baumgarten gelten kann, bewertet wird. Für Menke (wie auch für Derrida) ist Baumgartens Denken der Analogie ein Manöver des Logozentrismus, das die eigentümliche Kraft des Sinnlichen stillstellt, indem es sie in den Bereich des Denkens integriert.29 Diese Studie will die Analogisierung dagegen als legitime Strategie der epistemischen 26 Eine entscheidende Weichenstellung der Studie war es, bei Kant nicht die Kritik der Urteilskraft zu betrachten, sondern der transzendentalen Ästhetik und der ihr zugeordneten Mathematiktheorie die Ästhetik und Kunstphilosophie Hegels gegenüberzustellen. 27 Vgl. dazu v. a. Kapitel II.2.2.2. 28 Vergleichbares gilt auch für Terminologien wie ›anderes Denken‹, ›künstlerische Forschung‹ oder ›Wissen der Künste‹ – ohne dass damit jeweils schon gesagt oder antizipiert wäre, welcher spezifische sachliche Kern sich dahinter verbirgt. 29 Baumgarten versuche das Ästhetische in den Bereich des Rationalen zu reintegrieren und ihm kognitive Funktionen zuzuweisen. Der »Grundzug in Baumgartens Systematisierung« bestehe »in dem Versuch, das spannungsvolle Verhältnis von ästhetisch reformulierter Sinnlichkeit und rationalistischer ›Logik‹ des Verstandes im Begriff der ›Analogie‹ zu entschärfen: das sinnliche ›Denken‹, um das es der Ästhetik geht, ist ›der Vernunft analog‹ (Ästhetik, § 1).« Menke 2002, 29. An die Stelle einer Alterität des Ästhetischen trete somit die Analogie, die Eingemeindung und Beschreibung des Ästhetischen nach dem Vorbild des Logischen. Spezifisch für Baumgarten gelte daher, dass seine »Systematisierung des Ästhetischen ebensosehr eine anti-rationalistische Aufwertung wie eine para-rationalistische Stillstellung des Sinnlichen« (ebd. 31) ist.

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Aufwertung der Sinnlichkeit verstehen, die es möglich macht, Sachverhalte einzuholen, die mit den Dualismen der klassischen Epistemologie nicht zu fassen sind. Exemplarisch zeigt dies Kants Entdeckung, dass das Phänomen der inkongruenten Gegenstücke die überlieferte Begriffs- und Urteilstheorie sprengt, weil es nach deren Maßgabe ein unauflösliches Paradox darstellt. Die Unterscheidung von rechts und links ist gleichermaßen epistemisch relevant wie irreduzibel an die Sinnlichkeit gebunden. Sie kann nicht durch Allgemeinbegriffe artikuliert, sondern nur standpunktgebunden und singulär durch das Körperschema gefühlt und gezeigt werden. Diese Einsicht steht, wie gezeigt wurde, am Ursprung der Begriffe ›reine Anschauung‹ und ›Anschauungsform‹, die so für einen dritten Bereich zwischen dem Logischen und dem Empirischen stehen.30 Zur Abgrenzung dieser epistemologischen Ästhetiken von Ästhetiken der Kraft eignet sich in diesem Kontext insbesondere das Thema der sinnlichen Aktivität oder aktiven Sinnlichkeit. Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie folgen hierbei jener Grundbestimmung der Genese des Ästhetischen, die Menke mit Ritter als »Gegnerschaft der Ästhetik gegenüber der rationalistischen Philosophie« identifiziert.31 Während die »rationalistische Philosophie« die sinnlichen Vollzüge des Menschen »als passiv verstanden und abgewertet hatte«32 liegt der Kern der Ästhetik demzufolge in einer »neue[n] Auffassung des Sinnlichen als Tätigkeit«.33 Diese Beschreibung passt genau auf die operative und performative Anschauung, wie sie bei Kant und Hegel rekonstruiert wurde. Hier wird die Sinnlichkeit in Gestalt menschlicher Leiblichkeit nicht als passives Objekt von Wahrnehmung und empirischer Beobachtung begriffen, sondern als Ort und Ausgangspunkt einer eigentümlichen Aktivität oder Spontaneität. Hierfür können an dieser Stelle noch einmal zwei zentrale Gewährsleute dieser Studie hinzugezogen werden. Grundlage der geometrischen Anschauung bei Kant ist mit StekelerWeithofer unsere leibliche Fähigkeit zur Reproduktion von Mustern, spezifisch dem Ziehen von Linien, in denen wir Instanzen geometrischer Formen wiedererkennen. Der Gedanke der Apriorizität der Geometrie beruht hierbei darauf, dass etwas »allgemein aktiv hergestellt werden kann«, und sich insofern vom Empirischen als dem Bereich dessen unterscheidet, »was von uns nur 30 Wie dies auch noch in die Kritik der Urteilskraft hineinwirkt, wurde versucht zu zeigen an der Strukturanalogie zwischen der standpunktgebundenen Logik der rechtslinks-Unterscheidung und dem sensus communis in der Kritik der Urteilskraft. Vgl. dazu Kapitel II.3.4. 31 Menke 2002, 31. 32 Ebd. 28. 33 Ebd. 31.



Anschauliches Denken: Metaphysikkritik, Epistemologie und­ Ästhetik

passiv und einzeln beobachtet werden kann«.34 Mit Pippin ist Hegels Malereitheorie als Teil einer »sozialen Theorie der Bedeutung«35 zu verstehen, deren Grundlage die Einsicht ist, dass wir »Körperbewegungen als Taten, nicht als bloße[] Ereignisse[]« verstehen, und insofern auch »Kunstwerke[] als Kunstwerke und nicht als rein empirische Objekte«.36 Leib und Kunstwerk fungieren demnach nicht als passive Objekte empirischer Beobachtung, sondern als Träger einer expressiven Fähigkeit, sich für andere als lebendiges und beseeltes Wesen zu manifestieren, die, wie argumentiert wurde, letztlich auf eine Sphäre der zwischenleiblichen Interaktion im Sinne einer geteilten Spontaneität verweist. Ästhetische Theorien eines anschaulichen Denkens, das in den operativen oder performativen Möglichkeiten des menschlichen Leibs fundiert ist, unterscheiden sich von Ästhetiken der Kraft und Negativität allerdings mit Blick darauf, wo diese aktive Sinnlichkeit verortet wird. Für Menke impliziert die Aufwertung des Sinnlichen zugleich »eine Neubestimmung von Tätigkeit, […] die sie auf gründende Subjektivität irreduzibel macht«.37 Die sinnliche Spontaneität des Ästhetischen soll gerade kein menschliches Vermögen sein, sondern eine naturhafte Kraft, die den Strukturen methodischen Erkennens und praktischen Handelns entgegengesetzt ist. In Kants Theorie diagrammatischer Konstruktion und Hegels Theorie leiblicher Entäußerung geht es dagegen um leibliche Vermögen und Praktiken, die nichtdiskursive Grundlagen menschlicher Welt- und Sozialverhältnisse bilden. Eine dritte Bestimmung des Verhältnisses dieser Konzeptionen ergibt sich aus einer näheren Betrachtung wie Kant und Hegel die Anschauung in ihre Philosophien integrieren. Wie gezeigt wurde, bringt Kants Rationalismuskritik zwei Dimensionen der Anschauung in den Blick: Die aposteri­ orische Anschauung steht für die Natur als ein denkfremdes Gegebenes und rezeptiv Empfundenes, das keine rational antizipierbaren Eigenstrukturen hat. Die apriorische Anschauung umfasst dagegen den körpergebunden Formaspekt unseres anschaulichen Weltbezugs und die operative Spontaneität des geometrischen Denkens. Während die Theorie der apriorischen Anschauung zum zentralen Teil der theoretischen Philosophie Kants wird, wird die Frage nach einer möglichen Eigengesetzlichkeit der aposteriorischen Anschauung (im Sinne einer Selbstdetermination der Natur) erst in 34 Stekeler-Weithofer 2008, 41. Dabei ist diese Aktivität nicht schon darum empirisch zu nennen, weil sie von Tatsachen der Welt abhängt. Vgl. hierzu auch Nuzzos Rede von »pure und active dimensions of sensibility« bei Kant. Nuzzo 2008, 3. 35 Pippin 2012, 62. 36 Ebd. 37. 37 Menke 2002, 33.

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der Kritik der Urteilskraft wieder aufgegriffen. Von dort aus nimmt sie auch Hegel auf und kritisiert zugleich Kants bloß subjektive Lösung der Problematik einer Versöhnung von Geist und Natur. Auch Hegels Projekt einer solchen Versöhnung ist aber einseitig vom Geist her konzipiert. Dies schlägt sich der Argumentation dieser Studie zufolge erneut in einer Unterscheidung zweier Dimensionen oder Arten von Sinnlichkeit nieder: der Sinnlichkeit als Aposteriori, Rezeptivität und Negativität und der Sinnlichkeit als Medium einer geistdurchdrungenen Anschauung. Hegels Kunst- und Anschauungstheorie interessiert sich also ebenfalls nicht für aposteriorische Sinnlichkeit oder nichtmenschliche Natur, sondern für die performative Spontaneität von menschlichen Leibern und Kunstwerken. Die Fragestellung der Kritik der Urteilskraft nach dem Eigenrecht und der Eigengesetzlichkeit der Natur wird so, wie auch Adorno und Derrida übereinstimmend feststellen, letztlich bei beiden Denkern nicht befriedigend adressiert, weil das Spannungsverhältnis von Geist und Natur zugunsten des Subjekts und seiner spontanen Vermögen aufgelöst wird. Die Eigengesetzlichkeit, Alterität und Widerständigkeit der Natur wird insofern erst etwa in Schellings Gedanken einer Spontaneität des Objekts und Adornos Konzeption des Nichtidentischen zur Geltung gebracht. Eine vierte Bestimmung kann an der Einsicht ansetzen, dass das anschauliche Denken bei Kant und Hegel jeweils in klarer Kontinuität zu dem steht, was für beide Philosophen jeweils global als Denken und Wissen gelten kann. Die euklidische Konstruktionspraxis ist für Kant modellhaftes Beispiel für einen generellen epistemischen Konstruktivismus, der eine menschliche Spontaneität an den Ursprung des Erkennens stellt. Hegels Modell eines Wissens der Malerei ist exemplarischer Teil der dialektischen Konzeption eines Selbstbewusstseins, das sich selbst intelligibel werden soll, indem es sich externalisiert und in seinem Anderen wiederfindet. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese Konzepte hier in Gestalt einer operativen und performativen Spontaneität des menschlichen Leibs wirksam werden. Die Spontaneität anschaulichen Denkens ist keine rein begriffliche, geistige und unkörperliche Spontaneität, sondern eine im Leib verankerte und situierte Spontaneität, die sich durch die Eigenlogiken menschlicher Leiblichkeit hindurch artikuliert. Sie ist, wie im folgenden Abschnitt über die Bildlogik noch einmal genauer gezeigt wird, nicht nur an den menschlichen Leib und sein Selbstgefühl, sondern zugleich stets an vorgängige Kontexte und unhintergehbare singuläre Standpunkte gebunden. Dies kann als ein weiteres Argument für die Zugehörigkeit dieser Konzeptionen zum Feld der Ästhetik geltend gemacht werden. Das impliziert, dass die Grenzen zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Spontaneität nicht nur zwischen einem unsinnlichen Logos und einer



Bildlogik: die operative und performative Logik der Bilder

naturhaften Sinnlichkeit verlaufen, sondern innerhalb der Ästhetik und zwischen verschiedenen Dimensionen der Sinnlichkeit selbst: zwischen einer operativen und performativen Spontaneität menschlicher Leiblichkeit und einer nicht vom Menschen kontrollierbaren energetischen Spontaneität und Alterität der Natur. Letztere steht bei Kant und Hegel für jenen Anteil der Sinnlichkeit, der nicht mathematisch operationalisiert oder performativ zum Medium des Geistes gemacht werden kann. Sein Eigenrecht erhält er erst in Theorien ästhetischer Kraft und Negativität.

3.  Bildlogik: die operative und performative Logik der Bilder

Eine weitere zentrale Forschungsfrage der Studie betraf den systematischen Beitrag von Kants Geometrie- und Hegels Malereitheorie zu einer Logik der Bilder. Dies führte die Studie von Einbildungskraft und bewusstseinstheoretischen Bildbegriffen weg zu den konkreten Bildartefakten und -praktiken von Geometrie und Malerei. Auf dieser Grundlage wurden bei Kant und Hegel Theorien der operativen und performativen Bildlichkeit rekonstruiert. Zunächst war hier allerdings zu zeigen, ob und wie sich diese Theorien überhaupt plausibel als Bildtheorien lesen lassen. Im Falle Kants war die größte Hürde das Theorem reiner Anschauung, das ein intuitives Einsehen, innermentales Evidenzerleben oder ein abstrahierendes Herausschauen von Erkenntnissen suggeriert. Ein zentraler Ertrag der Studie war der Vorschlag einer bild- und medientheoretischen Rekon­struk­ tion dieses Theorems, das dabei zugleich als eigenständig und komplementär zum Schematismustheorem unterschieden wurde. Bezieht sich der Schematismus auf das ›Was‹ der bildlichen Darstellung und die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderen, so geht es bei der reinen Anschauung um das mediale ›Wie‹, in Gestalt der Eigenschaften diagrammatischer Bildräume, die sie von den Realräumen empirischer Experimente unterscheiden. Eine zentrale These war es dabei, dass sich mit Blick auf eine solche Deutung von Bildern als artifizieller Präsenzen auch Kants Aussagen zur geometrischen Imagination bildtheoretisch einholen lassen. Hegel gilt, obgleich er die Medialität des Bildlichen mit Themen wie Inkarnat, Rahmung, Figur und Grund viel expliziter reflektiert als Kant, gemeinhin als Denker, der das Bild in geradezu exemplarischer Weise verfehlt. Hierzu gehört Derridas Vorwurf einer sprachlogischen Überformung des Bildlichen durch die Orientierung am Poetischen, der Vorwurf, dass Hegel durch die Orientierung am disegno das Malerische verfehle, oder, dass er durch Privilegierung der Zentralperspektive eine Theorie des körperlosen Sehens vertrete.

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Diesen Argumenten hat die Studie mit ihrer Rekonstruktion Hegels widersprochen. Hegels poetische Bildauffassung wurde im Sinne einer Theorie der Performativität gedeutet, die nicht auf Sprachlogik, sondern auf nichtdiskursiven Körperlogiken beruht. Die Vorlesungsnachschriften zeigen, wie Collenberg und Rutter herausgearbeitet haben, Hegel als Vertreter einer nichtklassischen Malereiauffassung des colore. Hegels Ausführungen zur Konstitution des Bildraums aus Licht, Schatten und Farbe, die unter anderem das Positionsverhältnis von Objekt, Lichtquelle und Betrachterin berücksichtigen, widersprechen der Idee unkörperlichen Sehens. Insgesamt hat Hegel also eine sehr eigenständige und interessante Theorie der bildlichen Medienspezifik der Malerei. Diese steht allerdings in deutlichem Kontrast zur modernistischen und formalistischen Auffassung, wie sie von Greenberg formuliert wird. Geht es für Greenberg in der Malerei vor allem um die reflexive Thematisierung von Farbigkeit und Flächigkeit selbst, interessiert sich Hegel im Sinne eines inhaltlich angereicherten Konzepts von Medienspezifik dafür, wie Farbe und Fläche die Darstellung von lebendigen Figuren und sozialen Beziehungen ermöglichen. Zur Rekonstruktion einer kantischen und hegelschen Bildlogik hat die Studie aus dem Bestand aktueller Bildtheorie den Begriff einer ikonischen Differenz aufgegriffen, um drei zentrale Spannungsverhältnisse zu beschreiben: die Verhältnisse (i) von Figur und Grund, (ii) von singulärer Figur und allgemeiner Bedeutung und (iii) von materiellem Bildträger und immateriellem Bildraum. Diese prägen sich mit Blick auf die Unterschiede von Geometrie und Malerei, von operativem und performativem Bildbegriff sowie von disegno und colore jeweils anders aus. In ihnen zeigen sich aber auch fundamentale Gemeinsamkeiten, die die Studie insofern als allgemeine Charakteristika von Bildlogiken aufgefasst hat. Eine solche Grundeinsicht ist, dass es eine enge Verbindung zwischen der Logik von Bildern als zweidimensionalen, flächigen Artefakten und den Eigenlogiken unserer leiblichen Erfahrung im dreidimensionalen Anschauungsraum gibt. In diesem Sinne zeigen Kant und Hegel, dass Bildlogik essentiell Körperlogik, Relationenlogik und sinnliche Handlungslogik ist. In den Bildern kehrt so die unhintergehbare Eingebundenheit menschlicher Praxis und eine Unaufhebbarkeit singulärer Standpunkte wieder, die für die leibliche Existenz des Menschen charakteristisch ist. Zugleich erscheint es als das spezifische Potenzial zweidimensionaler Bildflächen, die relationalen Logiken des menschlichen Anschauungsraums zu artikulieren und zum Gegenstand epistemischer Reflexion zu machen.38 38 Vgl. zu dieser besonderen epistemischen Leistung von Flächigkeit und Verflachung Krämer 2016.



Bildlogik: die operative und performative Logik der Bilder

Eine erste Dimension ikonischer Differenz ist die Differenz von Figur und Grund. In den Bildern ist Handlung und Bedeutung stets auf etwas Vorgängiges angewiesen, das gegeben und bedeutungslos ist. So lassen sich mit Blick auf dieses Verhältnis stets auch zwei entgegengesetzte Logiken unterscheiden: eine ›positive‹ Logik der Figuration als Darstellung eines ›Etwas‹ und eine ›negative‹ Logik von Rahmung, Begrenzung oder Umschließung. In Kants Theorie des geometrischen Diagramms steht den geometrischen Figuren, also den durch figürliche Synthesis ›gemachten Größen‹, der Raum als ›gegebene Größe‹ gegenüber, der das gleichgültige Außereinander, die topologische Verschiedenheit von Raumstellen enthält. Wie gezeigt wurde, benötigt die Darstellung der bedeutungstragenden (quantitativen, figurativen, gemachten, bestimmten) Raumrelationen den Grund der ›gleichgültigen‹ (topologischen, gründenden, gegebenen, unbestimmten) Raumrelationen, um sich darin zu entfalten. Der semiotischen Logik der quantitativen Synthese, die vom Teil zum Ganzen verläuft, steht die asemiotische Differenzierungund Rahmungslogik des Raums als unbeschränkte Einschränkbarkeit gegenüber, die umgekehrt vom Ganzen zum Teil verläuft. In Hegels Theorie figurativer Malerei sind die Figuren inkarnierte, handelnde und fühlende menschlicher Gestalten. Diese fungieren als Bedeutungsträger, weil sie einer Betrachterin als beseelt, empfindungsfähig und intentional handelnd erscheinen. Als Grund fungiert dagegen die organische und anorganische Natur, die nicht auf dieselbe Weise bedeutsam ist, und die die Umwelt und den geschichtlichen Handlungsraum der Figuren bildet. Hegel erklärt die bildlogische Differenz von Figur und Grund als Produkt einer dialektischen Synthese des figuralen Prinzips der Skulptur und der Umschließungslogik der Architektur, deren Wesen es ist, Rahmen und Kontexte für menschliche Figuren zu schaffen. Durch die Verflachung und Rahmung kommen in der Malerei beide Prinzipien zusammen. Es entsteht ein negativer Raum, der die Figuren umgibt und es ihnen ermöglicht, sich in Handlungen zu entfalten. Der performativen Handlungslogik der Figuren steht so erneut die negative Logik der Begrenzung, Rahmung und Einschließung gegenüber. Diese Logik der Einbettung teilen die Bilder mit den phänomenalen Verhältnissen im dreidimensionalen Anschauungsraum: Dies zeigen etwa Hegel Gedanken zur relationalen Konstitution von Subjektivität innerhalb und außerhalb des Bildraums. Insbesondere macht dies aber Kants Raumtheorie deutlich. Kant kritisiert Leibniz’ beobachterunabhängige Konzeption eines Stellenraums als Theorie grundloser Figuren und hält ihr die fundamentale Perspektivität und Einbettung menschlicher Raumerfahrung entgegen. Dabei wird zunächst der Newtonsche Behälterraum als Sensorium Gottes, dann

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mit Körperschema und Körpergefühl ein Sensorium des Menschen an die Wurzel der Raumkonzeption gestellt, und der menschliche Körper in seinem sich-orientierenden Verhältnis zur Welt zum unüberschreitbaren Horizont der Welterfahrung gemacht.39 Indem sie stets der Logik von Figur-GrundVerhältnissen folgen, zeigt sich an Bildern in besonderer Weise die unhintergehbare Abhängigkeit menschlicher Praxis und ihre Eingebundenheit in vorgängige Kontexte. Als eine zweite Form der ikonischen Differenz hat die Studie ein Spannungsverhältnis zwischen der Singularität, Kontingenz und Partikularität bildlicher Darstellungen und ihren potentiell allgemeinen Inhalten identifiziert. Damit ist gemeint, dass der Deutung bildlicher Figuren als Darstellungen ›von etwas‹ in diesen Darstellungen stets ein überschüssiger Bestand an Singularität und Kontingenz entgegensteht. Damit hängt zusammen, dass Bildlogik eine relationale Logik ist, in der Singularität nicht durch die Subsumtion unter Allgemeines aufgehoben wird, sondern Singuläres relational in Beziehung zu anderem Singulären gesetzt wird. Im Kontext der Epistemologie diagrammatischen Denkens wird dieses Spannungsverhältnis als generality problem bezeichnet. Kant adressiert es mit seinem Schematismustheorem. Wie gezeigt wurde, ergibt sich in diagrammatischen Darstellungen zum einen das Problem, dass die gezeichneten Figuren immer metrisch imperfekt sind und den mathematischen Definitionen nie genau entsprechen können, zum anderen das Problem der Überspezifität der Figuren, die kontingenterweise mehr Informationen enthalten als die Definitionen vorgeben. Die Unmöglichkeit zu generalisierender Darstellung erscheint so als eine zentrale Eigenschaft von Diagrammen. Die Theorie des geometrischen Schematismus zeigt, warum diagrammatisches Denken trotz dieses Spannungsverhältnisses funktionieren kann: zum einen mit Blick auf Relevanzfilter, die zwischen exakten, metrischen Verhältnissen und sogenannten koexakten, mereologischen und topologischen Verhältnissen unterscheiden. Zum anderen mit einer Verfahrenslogik, in der es nicht um das Ablesen partikulärer Eigenschaften, sondern um die Wiederholbarkeit operativer Funktionen geht. Allgemein sind in diesem Fall die Funktionen, die Singuläres in anderes Singuläres transformieren. Diese unhintergehbare Singularität bildlicher Darstellungen hat ihr Gegenstück in der Entdeckung von Kants Raumtheorie, dass leibliche Eingebundenheit, Perspektivität und Endlichkeit irreduzible Faktoren unseres Weltverhältnisses sind, die nicht in einer übergeordneten Perspektive transzendiert oder eliminiert werden kön39 Hiermit nimmt Kant, wie Ruckgaber feststellt, Merleau-Pontys Einsicht zum FigurGrund-Verhältnis der Wahrnehmung vorweg. Vgl. Ruckgaber 2009.



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nen. Der Unmöglichkeit eines ›allgemeinen Dreiecks‹ entspricht hier mutatis mutandis die Unmöglichkeit eines ›allgemeinen Standpunkts‹. Die Perspektivität oder Standpunktgebundenheit der Raumerfahrung lässt sich nicht in allgemeinen, beobachterunabhängigen Beschreibungen aufheben. Sie folgt stattdessen einer intersubjektiven Logik von Perspektivenwechseln im Sinne eines sensus communis, durch den wir in der Lage sind, uns an die Stelle von anderen zu versetzen. Statt einer Logik der Subsumtion des Singulären unter Allgemeinbegriffe gilt auch hier eine Logik der Substitution und Transformation, in der ein singulärer Standpunkt mittels wiederholbarer Operationen in einen anderen singulären Standpunkt transformiert werden kann. Für Hegel ist die Spannung zwischen einer partikulären Darstellung und ihren potenziell allgemeinen Inhalten ein besonderes Kennzeichen der Malerei und das Resultat ihrer medienspezifischen Eigenschaften von Flächigkeit und Farbigkeit. Die Malerei als romantische Kunst wird so zum Schauplatz eines differenziellen Aufbrechens der Dimensionen von Form und Inhalt, die in den Idealgestalten der klassischen Skulptur noch miteinander verschmolzen waren. Versucht die klassische Skulptur durch die Reduktion der Ausdrucksmittel auf den räumlichen Umriss apollinisch überhöhte allgemeine Typen darzustellen, wird die Malerei durch Flächigkeit und Farbigkeit zum Schauplatz partikulärer, historischer Subjektivität. Insbesondere Licht und Farbe begreift Hegel als genuine Medien der Besonderung. Dies zeigt sich in der Tendenz der Malerei zur naturalistischen, nicht-idealisierenden Darstellung einer zufälligen Realität, ebenso wie darin, dass sie wie keine andere Kunst einer individuellen Manier der Maler Raum gibt. In dieser Partikularität, Äußerlichkeit und Kontingenz liegt das für Hegel mit der Malerei verbundene Krisenmoment von Ästhetik in der Moderne. Bedeutungstheoretisch wird dieses Problem von Hegel – analog zu Kants Schematheorie – dadurch gelöst, dass es in der Malerei nicht mehr (wie bei den allgemeinen Typen der Skulptur) um das Ablesen von Eigenschaften, sondern um das ›Scheinen des Inneren‹ in Handlungen geht. Dabei steht – wie etwa im Betrachterinnenverhältnis – die relationale Interaktion von Individuen etwa in Blickverhältnissen im Mittelpunkt, nicht deren Subsumtion unter allgemeine Typen. Die Lebendigkeit als Grundprinzip der Malerei äußert sich für Hegel also gleichermaßen in der Darstellung einer konkreten, partikulären, historischen Realität wie darin, dass das ›Was‹ der Darstellung nicht in dieser Konkretion aufgeht, sondern als situative Äußerung eines dynamischen Prinzips verstanden wird. Kunsttheoretisch reflektiert Hegel die Kluft zwischen Inhalt und Form, die sich in der Malerei auftut, als spezifisch modernes Kunstphänomen der Ausdifferenzierung ästhetischer Strategien: in einen Inhaltismus, der sich – etwa in der christlichen Malerei – auf die Darstellung von Inhalten

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fokussiert, und einen Formalismus, der sich – wie in der niederländischen Genremalerei mit ihrer ›Zauberey der Farben‹ – auf deren Auffassungsweise konzentriert. Für die Studie war hier noch eine dritte Hinsicht entscheidend: Das in Hegels Malereitheorie entworfenen Subjektivierungsmodell zeigt menschliche Figuren stets in konkreter, partikularer Lebendigkeit, sowie ihrer relationalen Abhängigkeit von anderen Subjekten und vorgängigen Handlungskontexten. Es wurde daher argumentiert, dass Hegel in seiner Malereitheorie einer Metaphysik der Subjektivität, die auf Abstraktion, Innerlichkeit und Selbständigkeit beruht, eine Ästhetik der Subjektivität gegenüberstellt, die sich an den Eigenschaften von Konkretion, Externalisierung und relationaler Abhängigkeit orientiert. Diese wurde als Äquivalent zu Kants transzendentaler Ästhetik des Raums verstanden, die gegen ein intellektuelles System der Welt die Singularität konkreter, im Körpergefühl fundierter Standpunkte geltend macht, die in einem Gefüge relationaler Abhängigkeit aufeinander bezogen sind. In beiden Fällen lässt sich daran erneut die enge Verbindung der Logik flächiger Bildmedien zur Logik unserer verkörperten Existenz im dreidimensionalen Anschauungsraum feststellen. Eine dritte zentrale Eigenschaft von Bildern ist für Kant und Hegel ihre Fähigkeit, im oder am Materiellen etwas Immaterielles anwesend, verfügbar oder erscheinend zu machen. Bilder schaffen so epistemische und ästhetische Sonderräume, die sich mit ihren Gesetzmäßigkeiten von ihrer materiellen Umwelt unterscheiden. Diese dritte Dimension einer ikonischen Differenz betrifft also die Differenz von materiellem Bildträger und immateriellem Bildobjekt. Die Rekonstruktion dieser Dimension des Bildlichen nahm bei Kant ihren Ausgangspunkt vom Theorem der reinen Anschauung. Dieses wurde vom Schematismus und der bedeutungstheoretischen Frage nach dem ›Was‹ der bildlichen Darstellung unterschieden und als Ausdruck einer Reflexion Kants über das ›Wie‹ der bildlichen Darstellung gedeutet. Zentral war dabei der Unterschied zwischen diagrammatischem Kalkül und empirischen Experiment: im Gegensatz zum physikalischen Experiment ist das diagrammatische Operieren mit Raumrelationen im Kern unabhängig vom kausalen Realnexus, der Widerständigkeit und den unsichtbaren Wechselwirkungen der materiellen Welt. Es gehört zum Wesen der diagrammatischen Operationen, dass sie nicht auf ein bestimmtes materielles Substrat angewiesen, sondern weitgehend kontextunabhängige reproduzierbar sind und sich mit potenziell gleichem Erfolg auf Schiefertafeln, Papier, im Sand oder sogar in der körpereigenen Imagination herstellen lassen. Die Imagination erscheint hierbei als dasjenige Bildmedium, das diese Unabhängigkeit diagrammati-



Bildlogik: die operative und performative Logik der Bilder

scher Operationen von einem bestimmten materiellen Kontext in besonderer Weise illu­strieren kann. Wenn für Kant also eine Zeichnung ›nach den Bedingungen der reinen Anschauung‹ und damit nach den Bedingungen, die für die Imagination gelten, angeschaut wird, bedeutet dies, dass sie nicht als empirisch vorhandene Materialspur, sondern als Bildobjekt betrachtet wird. Die prinzipielle Durchführbarkeit eines Prozesses in der Imagination kann insofern als Kriterium dienen, das klar macht, dass es sich um einen Akt diagrammatischen Denkens und nicht um ein physisches Experiment handelt. Für Hegel sind Kunstwerke durch ihren Scheincharakter vom materiellen Realnexus der Welt entkoppelt. In der Malereitheorie spezifiziert sich die Theorie des ästhetischen Scheins zu einer Theorie der malerischen Illusion, die Hegel erneut aus den medienspezifischen Eigenschaften der Malerei von Flächigkeit und Farbigkeit herleitet. Diese erlauben es der Malerei, sich aus dem dreidimensionalen Umgebungsraum von Architektur und Skulptur zurückzuziehen und diesen auf der zweidimensionalen Fläche artifiziell wieder erscheinen zu lassen. Dieser illusionäre Bildraum mit seiner ›abstrakten Sichtbarkeit‹ ist für Hegel das Produkt einer Dematerialisierung, Subjektivierung und Verfügbarmachung der sinnlichen Welt. Bemerkenswert ist allerdings, dass Hegel diese Leistung nicht dem diagrammatischen Instrument der Zentralperspektive zuschreibt, sondern dem Darstellungsmittel der Farbe. Hegel degradiert die Farbempfindung also nicht wie Kant zum bloß akzidentellen Reiz, sondern reflektiert sie in ihrem medialen Charakter. Neben der zentralen Rolle der Farbwirkung des Inkarnats bei der Inkarnation lebendiger Figuren erscheint die Farbe auch als konstitutiv für die Illusion eines dreidimensionalen Tiefenraums. Die Malerei modelliert auf diese Weise die Entstehung der visuellen Welt aus perspektivischen Relationen und Abschattungen von Licht und Farbigkeit, wie sie sich für einen verkörperten Betrachter im Raum ergeben würden. Kants Idee eines von der Materie abgetrennten Formaspekts der Anschauung und Hegels Idee eines die Materialität der Welt transzendierenden illusio­ nären Scheins gelten typischerweise als idealistisch überformte Auffassungen von Sinnlichkeit. In dieser Studie wurden sie als Theoreme gedeutet, die den Status von Bildräumen als artifiziellen Sonderräumen reflektieren, die sich von ihren materiellen Bildträgern und physischen Umgebungsräumen abheben. In solchen Bildtheorien bleibt die potenzielle Widerständigkeit und Eigenlogik des Materiellen unberücksichtigt. Für Kant gibt es daher keine Materialität der Diagramme.40 Hegel wäre eine alchimistische Auffassung der 40

Vgl. Leeb 2012, sowie Beck 2016.

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Teil IV  ·  Zusammenfassung und Diskussion

Malerei, die die Farbe von der Materialität des Pigments her denkt, fremd.41 Kant und Hegel folgen stattdessen einer Bildauffassung wonach Bildmedien durch die Schaffung artifizieller Präsenzen in der Lage sind, die »Implikation von Präsenz und Substanzialität« auflösen.42 Die Idee einer Verfügbarmachung der sinnlichen Welt im Bild kann dabei als spezifisches Korrelat einer Operativität und Performativität von Bildpraktiken gedacht werden. Dabei wird die Sinnlichkeit nicht unter dem Gesichtspunkt von Rezeptivität und Materialität, sondern als eine in der menschlichen Leiblichkeit fundierte aktive Sinnlichkeit gedacht. Im Gegenzug ist eine energetische Bildauffassung, die den Bildern selbst eine Spontaneität zuschreibt, wie gezeigt wurde, nur ausgehend von der Materialität der Bilder denkbar.43 Die mit Kant und Hegel rekonstruierte Bildlogik weist so ein konstitutives Spannungsverhältnis auf, das ihre Stellung zwischen Epistemologie und Ästhetik widerspiegelt: zum einen basiert sie auf der Auszeichnung menschlicher Spontaneität und einer Verfügbarmachung der sinnlichen Natur, der keine eigene Kraft oder Spontaneität zugeschrieben wird. Diese menschliche Spontaneität ist aber dennoch eine verkörperte, leibliche Spontaneität, die sich durch die Eigenlogiken der Leiblichkeit wie Körperschema, Körpergefühl und Taktilität, eine habituell angeeignete Leiblichkeit, die Organe von Haut und Auge und die Blickbeziehung hindurch artikuliert. An der Logik von Figur und Grund wird deutlich, dass diese Spontaneität nur in Abhängigkeit von einem Kontext denkbar ist, der sie mit einer vorgängigen Logik von topologischer Differenzierung, Einbettung, Rahmung und Einschränkung fundiert. Ebenso steht diese Bildlogik, wie auch die Logik der Anschauung insgesamt, für die Singularität von Figuren und Standpunkten. Diese wird im bildlichen Denken nicht durch Subsumtion in einem abstrakten Allgemeinen aufgehoben. Der Sinn bildlicher Figuren entfaltet sich stattdessen in einem Geflecht von Relationen zwischen Singulärem, das deren Singularität bestehen lässt.

41

Vgl. Elkins 2000. Wiesing 2005, 32. 43 Vgl. Kapitel II.5.3.5. Im Sinne eines komplementären Modells von Dimensionen von Bildlichkeit ließe sich ein solcher von der Materialität des Bildes ausgehender Bildakt – etwa im Sinne Bredekamps – so beschreiben, dass die menschliche Freiheit für die der operative Handlungskontext des Diagramms und die geteilte Spontaneität der reziproken Blickbeziehung stehen, in einen Moment der Unfreiheit umschlägt. 42



Bildphilosophische Schlussfolgerungen

4.  Bildphilosophische Schlussfolgerungen

Die vierte Forschungsfrage betraf das Verhältnis der Rekonstruktion von Kant und Hegel als Bildtheoretikern zum medienphilosophischen Bilddiskurs seit den 1990er Jahren. Die eingangs zitierte These Boehms, wonach die »abendländische[] Theoriegeschichte […] bis anhin nie wirklich dahin gelangte, dem Logos einen präverbalen, insbesondere ikonischen Sinn zuzugestehen«44, ist im Lichte der Ergebnisse dieser Studie falsch. Wie argumentiert wurde, basiert diese These darauf, dass iconic turn und pictorial turn zwei theoriestrategische Zielsetzungen miteinander verschliffen haben: Das erste Ziel bestand darin, in kritischer Erweiterung des linguistic turn nun auch die konstitutive Rolle der Bilder für das menschliche Selbst- und Weltverhältnis zu erforschen. Durch das zweite Ziel einer Fortsetzung der Rationalitätskritik des 20. Jahrhunderts wurde das Bild zugleich zur Repräsentation dessen, was die Philosophietradition als Ganze stets ausgeschlossen, verdrängt und überformt hatte. Dem Changieren des Logozentrismusbegriffs zwischen Sprachfixierung und Rationalitätsfixierung entsprach so die Gleichsetzung des Bilds als nichtsprachlicher Form der Sinnerzeugung mit dem Bild als Antipoden begründender Rationalität. Die Studie wollte zeigen, dass Kant und Hegel einen Beitrag zu dem ersten Ziel leisten und hat in diesem Zusammenhang die These entwickelt, dass in Kants Geometrietheorie und Hegels Malereitheorie ein iconic turn avant la lettre vollzogen wird. ›Avant la lettre‹, weil es sich um implizite Bildtheorien handelt, die der Mathematik- und Kunsttheorie entnommen sind, und nicht um explizite, wie sie im Kontext der Medientheorie und Medienphilosophie seit den 1990er Jahren formuliert werden. Von einem iconic turn sollte die Rede sein, weil diese impliziten Bildtheorien zwei epistemologische Wenden vollziehen, die es aus Sicht der Studie überhaupt möglich machen, zentrale Eigenschaften eines bildlichen Denkens philosophisch einzufangen. Die erste Wende ist eine Intellektualismuskritik. Kants Kritik am intellektuellen System der Welt und Hegels Kritik an der Metaphysik der Subjektivität wenden sich beide gegen eine intellektualistische Rekonstruktion von Welt und Subjektivität und legen die unhintergehbare Rolle der Leiblichkeit in menschlichen Welt- und Sozialverhältnissen frei. Sie entdecken so die Perspektivität und Eingebundenheit verkörperter Existenz ebenso wie spontane Fähigkeiten des Leibes, der nicht auf einen passiven Gegenstand reduzierbar ist. Die zweite Wende ist die Kritik des Substanzdenkens. Sie beschränkt den Geltungsbereich einer Logik von Ding und Eigenschaft und entdeckt so neue Logiken der Relation, die in besonderer Weise 44

Boehm 2011, 172.

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Teil IV  ·  Zusammenfassung und Diskussion

mit unserer verkörperten Erfahrung im Raum und den epistemischen Potenzialen flächiger Bildmedien zusammenhängen. Kant gelangt zu der Einsicht, dass die aristotelische Prädikatenlogik weder geeignet ist, unsere verkörperte Raumerfahrung noch die Rolle der Raumrelationen im geometrischen Beweis zu erklären. Hegel macht diese Wende in seiner Ästhetik reflexiv zum Thema. Die kritische Überwindung des defizitären substanzlogischen Verkörperungsmodells der antiken Skulptur durch ein relationales Modell verkörperter Beziehungen ist für ihn die zentrale Leistung der Malerei als romantischer Kunstform. Erst auf der Basis dieser doppelten Kritik wird es möglich, zwei in den Augen der Studie zentrale Eigenschaften von Bildern philosophisch einzufangen: ihren Bezug zur menschlichen Leiblichkeit und zu Logiken der Relation. Diese Kritik an Intellektualismus und Substanzdenken um 1800 unterscheidet sich klar von der Rationalitätskritik des 20. Jahrhunderts und ersetzt diese nicht. Vertreter dieser Tradition wie Adorno und Derrida kritisieren Autoren wie Kant und Hegel berechtigterweise dafür, dass ihre Philosophien Natur und Alterität zugunsten einer menschlichen Spontaneität vernachlässigen. Gegen diese Verdrängung zielt etwa Bredekamps Theorie des Bildakts darauf, den Impetus »in die Außenwelt der Artefakte zu verlagern«,45 und Bilder als Ausgangspunkte einer eigentümlichen Kraft und Spontaneität zu beschreiben, mit denen sie menschlicher Freiheit beschränkend gegenübertreten. Das Gegenstück zu dieser Kraft der Bilder ist, wie die Studie zeigen wollte, aber nicht ein abstraktes, sprachliches und bilderfeindliches Denken, sondern andere Bildpraktiken, in denen Diagramme und Gemälde als Werkzeuge und Extensionen menschlicher Spontaneität fungieren. Die Studie hat daher versucht, verschiedenen Ansätze einer Bildtheorie nicht im Sinne eines Kampfs um die Deutungshoheit über den Gegenstand ›Bild‹, sondern in einer systematischen Differenzierung verschiedener Dimensionen menschlicher Bildpraktiken einzufangen. Hierfür hat die Studie den Begriff einer pluralen Bildepistemologie gewählt. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die Gegenüberstellung von Ratio und ihrem Anderen nicht nur dazu gedient hat, den Bilddiskurs von der philosophischen Tradi­ tion abzugrenzen, sondern auch als internes Differenzierungsprinzip im Bilddiskurs zu Frontstellungen und hierarchischen Abwertungen geführt hat. In einer alternativen Kartierung des Bilddiskurses wurde daher vorgeschlagen an die Stelle der Argumentationsschemata der Rationalitätskritik einen anthropologischen Ansatz zu setzten, der Bildpraktiken und Bilddiskurse mit Blick auf verschiedene Grundfragestellungen differenziert: Weltverhältnis, 45

Bredekamp 2010, 52.



Bildphilosophische Schlussfolgerungen

Sozialverhältnis, Alteritätsverhältnis. Diesen hat die Studie jeweils ein operatives, performatives und energetisches Paradigma der Bildepistemologie zugeordnet.46 Statt von einer Bildepistemologie im Singulär sollte insofern von Bildepistemologien im Plural die Rede sein. Kants Geometrietheorie ist in diesem Sinne eine Theorie der operativen Bilder, die ihren Ausgang im verkörperten Weltverhältnis des Menschen und seiner Raumerfahrung nimmt. Sie steht paradigmatisch für Bildtheorien, die Bilder als Werkzeuge und operative Medien der Welterschließung verstehen. Hegels Malereitheorie ist eine Theorie der performativen Bilder. Bilder sind hier Extensionen menschlicher Leiblichkeit und artifizielle Gegenüber, in denen Menschen ihre Rolle als soziale und handelnde Wesen zum Ausdruck bringen und reflektieren. Das energetische Bildparadigma entwirft dagegen eine Theorie der Spontaneität der Bilder, die der Spontaneität menschlichen Wissens und Handelns durch Negativität und Entzug entgegentritt. Die Konzepte eines iconic turn avant la lettre und einer pluralen Bildepisteme sind als Vorschläge zu betrachten, wie sich die expliziten und impliziten Gedanken der Bildphilosophie um 2000 mit dem Diskurs von Epistemologie und Ästhetik um 1800 in ein Verhältnis setzen lassen, das jeweils ein erhellendes Licht auf beide Diskurse werfen kann. Sie haben einen Modellcharakter, der mit Blick auf andere Verständnisse einer Bildepistemologie zu ergänzen und kritisch abzugleichen wäre.

46

Dies ist, wie zu betonen ist, nicht im Sinne einer Subsumtion unter monolithische Blöcke gedacht, sondern im zweifachen Sinn des Begriffs ›Paradigma‹: zum einen im Sinne des Initialen, Vorbildhaften und Exemplarischen, zum anderen im Sinne einer Familienähnlichkeit, die zwischen diesen und anderen Positionen der Bildepistemologie besteht.

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Siglen und Abkürzungen

Kants Schriften

Kants Schriften werden nach der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen zwölfbändigen Werkausgabe zitiert, mit Ausnahme der Kästner-Rezension, die nach der Akademie-Ausgabe zitiert wird. Zitiert wird im Regelfall die B-Auflage. Kant wird also zitiert mit Kürzel, A oder B, und Seitenzahl: GMS B 119. Quellenangaben stehen in den Fußnoten außer jenen zur Kritik der rei­ nen Vernunft, die in Klammern im Fließtext stehen. Die folgende Auflistung ist chronologisch nach Erscheinungsdatum angeordnet. In eckigen Klammern wird der Ort des Werks in der Akademie-Ausgabe angegeben. Preisschrift (1764) | »Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral«, in: ders.: Vorkritische Schriften bis 1768 2, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. II, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 991–1000. [AA II, 273–301] Vom ersten Grunde (1768) | »Vom ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume«, in: ders.: Vorkritische Schriften bis 1768 2, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. II, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 991–1000. [AA II, 375–383.] De mundi (1770) | »De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Von der Form der Sinnen- und Verstandeswelt und ihren Gründen«, in: ders.: Schrif­ ten zur Metaphysik und Logik 1, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1–107. [AA II, 385–420] KrV (1781) | Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. III/IV, Frankfurt/M.: Suhrkamp. [AA III] Prolegomena (1783) | »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 1, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 107–264. [AA IV, 253–383] GMS (1785) | »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders.: Kritik der prakti­ schen Vernunft [u. a.], Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VII, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 11–102. [AA IV, 385–463] Orientieren (1786) | »Was heißt: sich im Denken orientieren ?«, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 1, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 267–283. [AA VIII, 131–148]



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Siglen und Abkürzungen

MAN (1786) | »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft«, in: ders.: Schriften zur Naturphilosophie, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IX, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 7–135. [AA IV, 465–565] KpV (1788) | »Kritik der praktischen Vernunft«, in: ders.: Kritik der praktischen Ver­ nunft [u. a.], Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VII, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 103–302. [AA V, 1–163] KU (1790) | »Kritik der Urteilskraft«, in: ders.: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. X, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 69–457. [AA V, 165–485] EEKU (1790) | »Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft«, in: ders.: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. X, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 7–68. [AA XX, 193–251] Kästner-Rezension (1790) | »Über Kästners Abhandlungen«, in: Akademieausgabe, Bd. XX, 410–423. Vornehmer Ton (1796) | »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie«, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 377– 397. [AA VIII, 387–406] MSR (1797) | »Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre«, in: ders.: Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 309–499. [AA VI, 203–372] MST (1797) | »Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre«, in: ders.: Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe in zwölf Bänden,, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 503–879. [AA VI, 373–493] Anthropologie (1798) | »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: ders.: Schrif­ ten zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. XII, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 395–690. [AA VII, 117–333] Logik (1800) | »Logik«, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 417–582. [AA IX, 1–150] Fortschritte (1791/1804) | »Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat ?«, in: ders.: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 585–676. [AA XX, 253–332]



Siglen und Abkürzungen

Hegels Schriften

Hegels Schriften werden nach der von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel herausgegebenen zwanzigbändigen Werkausgabe zitiert. Zitiert wird mit Kürzel und eventuell Bandangabe: GuW 303, VÄ I 78 Bei der Enzyklopädie werden zusätzlich Paragraphen angegeben. Dabei markiert »Zus.« die philologisch nicht einwandfreien, von den Herausgebern der Freundeskreisausgabe aus anderen Materialien zusammengestellten mündlichen Zusätze: EpW, § 410 Zus., 256 Die Vorlesungen über die Ästhetik werden zum Teil nach der von Hotho besorgten Ausgabe zitiert, zum Teil nach den publizierten Vorlesungsnachschriften. Letztere werden zitiert nach dem Schema: Kürzel, Ersteller der Nachschrift, Jahreszahl, Seitenzahl und Manuskriptseite: VÄ Hotho 1823, 157, MS 144. GuW (1802) | »Glauben und Wissen«, in: ders: Jenaer Schriften 1801–1807, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp. PhG (1807) | Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 3, Frankfurt/M.: Suhrkamp. WL I–II (1812–1816) | Wissenschaft der Logik, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 5–6, Frankfurt/M.: Suhrkamp. GPR (1820) | Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp. EpW I–III (1830) | Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 8–10, Frankfurt/M.: Suhrkamp. VÄ I–III | Vorlesungen über die Ästhetik, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 13–15, Frankfurt/M.: Suhrkamp. VGPh I–III | Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 18–20, Frankfurt/M.: Suhrkamp. VÄ Ascheberg 1820/21 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1995): Vorlesung über Ästhetik. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. I. Textband, Frankfurt/M. u. a.: Lang. VÄ Hotho 1823 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2003): Vorlesungen über die Philo­ sophie der Kunst, Hamburg: Meiner.

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Siglen und Abkürzungen

VÄ Pfordten 1826 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Gethmann-Siefert, Annemarie; Kwon, Jeong-Im; Berr, Karsten (2005): Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, Frankfurt/M.: Suhrkamp. VÄ Kehler 1826 | Hegel, Georg Wilhelm Friedrich; Kehler, Friedrich Carl Hermann Victor von; Gethmann-Siefert, Annemarie; Collenberg-Plotnikov, Bernadette (2004): Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826, München: Fink.

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