Konstruierte (Fremd-?)Bilder: Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts 9783110499797, 9783110500127

This volume examines images of Eastern Europe in 18th century discourse in the context of post-colonialism and the picto

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German Pages 238 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Das östliche Europa: (Fremd-?)Bilder im Diskurs des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus. Eine Keynote
Teil I: Polyforme Langfristigkeiten
Zur Perzeption von Sigismund Herbersteins Moscovia im 18. Jahrhundert: Kontinuitäten und Brüche
Kulturen in Begegnung: Reisende im Reich Peters des Großen
Das Russlandbild in Polen – eine Rezeption auf westlichen Umwegen
Eine Aristokratie für Russland? – Bewertungen des Regierungsantritts Zarin Annas 1730 durch den Wiener Kaiserhof
Teil II: Funktionale Inszenierungen
Russländisch-imperiale Image-Produktionen im ausgehenden 18. Jahrhundert: Visualisierungen der Reise Katharinas II. in den „russischen Süden“
Polen als Vorbild in Irland im späten 18. Jahrhundert
Das koloniale Verständnis von Osteuropa in der Zeit der Aufklärung – ein theoretischer und empirischer Erklärungsversuch
Terra Incognita Polonia? Die Wahrnehmung Polen-Litauens aus Sicht der Danziger Naturwissenschaftler im 18. Jahrhundert
Teil III: Multidimensionale Transfers
Nördlich, westlich oder östlich? – St. Petersburg als Forschungsobjekt und Wissenschaftsstandort deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler Ende des 18. Jahrhunderts
Kulturelle Vorstellungswelten der Politischen Ökonomie: Bilder des habsburgischen Ostens im kameralistischen Diskurs zwischen den Wendejahren 1683 und 1815
Das Leben und Werk von Leopold Johann Scherschnik (1747–1814) als ein Beispiel schlesischer Hybridität
Bildproduktionen an der Peripherie. Der Fall der kleinpolnischen Stadt Sandomierz
Abbildungsverzeichnis
Autorenverzeichnis
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Konstruierte (Fremd-?)Bilder: Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts
 9783110499797, 9783110500127

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Christoph Augustynowicz, Agnieszka Pufelska (Hrsg.) Konstruierte (Fremd-?)Bilder

Konstruierte (Fremd-?)Bilder | Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Christoph Augustynowicz und Agnieszka Pufelska

Gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung

ISBN 978-3-11-050012-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-049979-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-049747-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Darstellung Katharinas II. im Tafelaufsatz aus dem Dessert-Service, Geschenk Friedrichs des Großen, KPM-Porzellan, akg-images AKG139982 Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Einleitung | 1 Wolfgang Schmale Das östliche Europa: (Fremd-?)Bilder im Diskurs des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus. Eine Keynote | 11

Teil I: Polyforme Langfristigkeiten Marija Wakounig Zur Perzeption von Sigismund Herbersteins Moscovia im 18. Jahrhundert: Kontinuitäten und Brüche | 30 Magdalena Andrae Kulturen in Begegnung: Reisende im Reich Peters des Großen | 42 Dariusz Dolański Das Russlandbild in Polen – eine Rezeption auf westlichen Umwegen | 57 Steven Müller Eine Aristokratie für Russland? – Bewertungen des Regierungsantritts Zarin Annas 1730 durch den Wiener Kaiserhof | 71

Teil II: Funktionale Inszenierungen Kerstin S. Jobst Russländisch-imperiale Image-Produktionen im ausgehenden 18. Jahrhundert: Visualisierungen der Reise Katharinas II. in den „russischen Süden“ | 94 Róisín Healy Polen als Vorbild in Irland im späten 18. Jahrhundert | 108 Agnieszka Pufelska Das koloniale Verständnis von Osteuropa in der Zeit der Aufklärung – ein theoretischer und empirischer Erklärungsversuch | 121

VI | Inhalt

Marc Banditt Terra Incognita Polonia? Die Wahrnehmung Polen-Litauens aus Sicht der Danziger Naturwissenschaftler im 18. Jahrhundert | 143

Teil III: Multidimensionale Transfers Tilman Plath Nördlich, westlich oder östlich? – St. Petersburg als Forschungsobjekt und Wissenschaftsstandort deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler Ende des 18. Jahrhunderts | 164 Klemens Kaps Kulturelle Vorstellungswelten der Politischen Ökonomie: Bilder des habsburgischen Ostens im kameralistischen Diskurs zwischen den Wendejahren 1683 und 1815 | 179 Agnieszka Dudek Das Leben und Werk von Leopold Johann Scherschnik (1747–1814) als ein Beispiel schlesischer Hybridität | 200 Christoph Augustynowicz Bildproduktionen an der Peripherie. Der Fall der kleinpolnischen Stadt Sandomierz | 211 Abbildungsverzeichnis | 229 Autorenverzeichnis | 230

Einleitung Osteuropa ist derzeit vor dem Hintergrund politischer Entwicklungen und der wirtschaftlichen Krise in Europa in mancherlei Munde: Permanent und latent werden über die Medien Vorstellungen von der Rückständigkeit „des Ostens“, von unausgebildeten Arbeitskräften und der zivilisatorischen Kraft des westeuropäi­ schen Kapitals transportiert; auf der Ebene der Ereignisse wird diese Diskussion im aktuellen Zusammenhang laufend von Eindrücken imperialer Expansion auf der Krim und in der Ukraine, sowie von der Flüchtlingsdebatte überlagert, Fragen nach Zuständigkeiten und Verantwortungen werden damit nicht nur aufgeworfen, sondern auch nachhaltig emotionalisiert. Vor diesem Hintergrund sind integra­ tive Perspektiven auf gesamteuropäische Motive in den letzten Jahren rar, ihre Kolportage und Diskussion verhalten bis leise geworden. Als ein derartig genuin gesamteuropäisches Projekt gilt zumindest in der ein­ schlägigen Fachwelt die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Faktisch wird sie aber noch immer vorwiegend als westeuropäische Geistesströmung und im Kontext westeuropäischer Entwicklungen der Frühen Neuzeit untersucht. In der jüngeren synthetischen Historiographie wurden die Aufklärung und das 18. Jahrhundert als wesentliche Schritte hin zu einer Globalgeschichte wahrgenommen¹ – die Revo­ lutionen von 1776 und 1789 gar als „ideologische Konsequenzen von weltweiter Bedeutung“². Umso signifikanter ist die Diskrepanz, dass die Forschung zum östli­ chen Europa im 18. Jahrhundert trotz hervorragender Leistungen in den jeweiligen Historiographien auf synthetischer Ebene nach wie vor auf veraltetem Stand wahr­ genommen wird. So bezieht sich Barbara Stollberg-Rilinger in einer aktuellen und breitenwirksamen Synthese zur Aufklärung hinsichtlich Russland auf Literatur von 1984, hinsichtlich Mittel- und Osteuropa gar von 1979.³ Hinsichtlich der in den Transmitter-Sprachen (deutsch, englisch) erschienenen Publikationen mag dies sogar der tatsächliche Stand der Dinge sein – umso deutlicher wird aber somit das Desiderat einer umfassenden, aber auch kritischen Heranführung moderner methodisch-theoretischer Instrumentarien und Erwägungen an die Wahrnehmung der Aufklärung von West und Ost. Den daraus entstehenden Desideraten der Geschichtsschreibung kam eine von 16. bis 18. Mai 2013 in Wien unter dem Titel „Das östliche Europa. (Fremd-?)Bilder

1 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998. 2 Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 110. 3 Barbara Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2 2011, S. 291. DOI 10.1515/9783110499797-001

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im Diskurs des 18. Jahrhunderts“ abgehaltene Konferenz⁴ nach, im Rahmen derer die meisten der in diesem Band veröffentlichten Beiträge entstanden. Angesichts der vielfachen turns, die während der letzten Jahr(zehnt)e in den historisch ausge­ richteten Kulturwissenschaften postuliert wurden, sollten hier zwei in näheren Augenschein genommen werden, der postkoloniale zum einen und der piktorale zum anderen.⁵ Vor diesem Hintergrund veränderter geopolitischer Imaginationen sollen die Denknester postkolonial und Aufklärung zusammengeführt werden, wur­ de ihnen doch jüngst eine Reihe grundlegender Gemeinsamkeiten zugestanden: Beide bezeichnen eine Periode, eine politische Ordnung, einen cluster von Ideen mit dem Potential zum theoretischen Ansatzpunkt, mithin eine Art zu denken, bei­ de sind letztlich in nationalen Paradigmen verhaftet.⁶ (Bild-)Sprache und Ort bzw. ihre Konnotation zueinander sind im polylingualen und -konfessionellen Kontext des östlichen Europa zentral; Ort und örtliche Unangebrachtheit werden auch hier zu zentralen Bestimmungsmerkmalen (post)kolonialer Narrative. Jedenfalls liegt dem sprachlichen und bildlichen Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie in Bezug auf das östliche Europa eine grundlegende definitorische Grundlage zugrunde, nämlich die der Differenz, die ihrerseits Identität konstituiert.⁷ Fremdes wurde dabei häufig stereotyp disqualifiziert, das Eigene überhöht und so als System bestätigt. Weiter gedacht ist das Zusammentreffen (West-)Europas mit dem Anderen als dialektischer Prozess (Othering) im Sinne einer Beziehung zwischen dominierend und dominiert somit ein grundlegender postkolonialer, aber auch piktoraler Ansatz. Vor allem die Idee des Orientalismus als kulturelles Untersuchungsfeld⁸ kann hier methodisch weiterführend anregen: Ebenso wie die sprachliche Zuordnung von stereotypen Attributen das Bild des Orient⁹ präg­ te, prägte auch ein fixer Bildbestand die Wahrnehmung des östlichen Europa;

4 Vgl. den Konferenzbericht von Elisabeth Haid in http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index. asp?id=4891&view=pdf&pn=tagungsberichte&type=tagungsberichte (Zugriff: 29.01.2016), der auch für die vorliegende Einleitung verarbeitet wurde. 5 Vgl. dazu grundlegend: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2 2007, S. 184–237 und 329–380, zum Forschungs­ stand vgl. Margaret Dikovitskaya, Visual Culture. The Study of the Visual after the Cultural Turn. Cambridge/London 2006, S. 6–45. 6 Lynn Festa-Daniel Carey, Introduction: Some Answers to the Question: „What is Postcolonial Enlightenment“. In: Daniel Carey/Lynn Festa (Hg.), The Postcolonial Enlightenment. EighteenthCentury Colonialisms and Postcolonial Theory. Oxford 2009, S. 1–33, hier S. 7 f. 7 Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London/New York 2 2002, S. 23–25. 8 Ebenda, S. 30 f. und 164–166. 9 Vgl. Edward W. Said, Orientalismus. Frankfurt am Main 2009, S. 88 f. und 142 f.

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ebenso wie im Orient erfanden, adaptierten und importierten vor allem Reisende spezifische Bilder des östlichen Europa. Derart entworfene und entstandene Denkfiguren haben somit das Potential, via Fremdwahrnehmung Eigenes wahrzunehmen und zu thematisieren. Ihre Erfor­ schung erfordert gleichzeitig die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Feind- und Freundbildern, der durch die technisch-medialen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts zur Bildproduktion und -distribution dynamisiert wurde,¹⁰ die ihrerseits wiederum eine breitere kulturelle Definition des Begriffes erforderte und nach wie vor erfordert: Spiegelbilder, Traumbilder, Vorstellungsbilder, Feindbilder, all sie waren in ein neues, von den Umbrüchen des 18. und 19. Jahrhunderts gepräg­ tes Bildverständnis und den daraus resultierenden forcierten „Verschränkungen zwischen Bild- und Textkulturen“¹¹ eingeschrieben. Das Zustandekommen von Feindbildern ist besser untersucht als der für sich selbst schon ungewöhnliche Ausdruck eines „Freundbildes“. Dennoch bleiben beide aufeinander bezogen: Das „Feindbild“ macht den unsichtbaren Gegner sichtbar; das Freundbild, d. h. die gestalthafte Selbstzuschreibung von Identität in Rückgriff auf eine Tradition, dient als Kraftverstärkung.¹² Die Suche nach kollektiven „Kraftverstärkern“ fun­ gierte im Dynamisierungsprozess des 18. Jahrhunderts sozusagen als eine Insel der Macht im Umfeld einer ansteigenden Unverfügbarkeit und Ohnmacht. Diese Ohnmacht-Machtverschiebung ist typisch für die Herausbildung von Freund- und Feindbildern, die ihrerseits eine – zumeist religiös konnotierte – Tradition haben, die auf die aktuelle Situation zugeschnitten wird. Insofern haben wir spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit einer stets steigenden religiösen und politischen Überhöhung von Fremd- und Selbstzuschreibungen zu tun, die aggressives gesellschaftliches Handeln in einer Ausnahmesituation vorbereiteten und im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre ganze Kraft – gerade im Ost-West-Verhält­ nis – entwickeln konnten. Vor diesem methodischen Hintergrund werden im vorliegenden Band Bilder vom östlichen Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts freigelegt und der Frage nachgegangen, ob hier ein standardisiertes Repertoire von Bildern existierte und ob die jeweiligen Bilder kolonialen Mustern von Zentrum-Peripherie zuzuordnen sind. In diesem Sinne sollte Larry Wolff’s These eines von der Aufklärung „erfun­

10 Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen. Berlin 2003, S. 93 f. 11 Birgit Mersmann-Martin Schulz, Kulturen des Bildes – zur Einleitung. In: Birgit Mersmann/ Martin Schulz (Hg.), Kulturen des Bildes. München 2006, S. 9–17, hier S. 15. 12 Heinz-Dieter Kittsteiner, ‚Iconic turn‘ und ‚innere Bilder‘ in der Kulturgeschichte. In: Heinz-Die­ ter Kittsteiner (Hg.), Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. Paderborn 2004, S. 153–183.

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denen Osteuropa“¹³ neu reflektiert und überprüft werden. Konkret ging es auf der Tagung in Wien im Mai 2013 um die Frage nach der negativen (Bild-)Kodierung der osteuropäischen Länder im Zuge des aufgeklärten Rationalisierungsprozesses und der damit eng verbundenen und durch die europäischen Machtstrukturen kultura­ listisch definierten Aufteilung in das westliche Zentrum und östliche Peripherie. Gleichzeitig war die Tagung bestrebt, die methodischen oder theoretischen Ansätze aus der westeuropäischen oder globalen Geschichte dezidiert auf Osteuropa zu­ zuschneiden und sie anhand von osteuropäischen Beispielen zu überprüfen. Ziel dieser methodischen Verifikation war der Versuch, eigene Theoreme zu etablieren, die auf die Notwendigkeit eines gesamteuropäischen Fachhorizontes hinweisen sollen. Die Szene der BeiträgerInnen, die sich dieser Aufgabe im vorliegenden Band in Detailstudien stellen, setzt sich nicht nur international und interdisziplinär zusammen, sondern zeichnet sich auch durch eine gezielt und bewusst große Bandbreite an akademischen Generationen von Doktorandinnen und Doktoranden bis hin zu Habilitierten aus; Nachwuchsförderung wird damit ebenso betrieben wie thematische und disziplinäre Neuvernetzung. Alle Beiträge verfolgen vor allem folgende beide Forschungsfragen –



Gibt es ein standardisiertes, kanonisiertes Repertoire von Bildern im weiteren Sinne zur Darstellung der West-Ost-Dichotomie? Wie sieht dieses aus, mit welchen Mitteln wird es wie effizient eingesetzt? Sind die verwendeten Bilder einem kolonialen Muster von Zentrum und Peri­ pherie einzuschreiben? Welche Phasenverschiebungen und Langzeitwirkun­ gen sind in diesem Sinn feststellbar?

Zwar wurde der Raum des östlichen Europa im 18. Jahrhundert nicht zuletzt durch Reiseberichte diskursiv erschlossen, es existierte jedoch noch keine einheitliche Wahrnehmung von Osteuropa, wie Wolfgang Schmale in seiner Keynote beton­ te und im Laufe der Konferenz in einer Reihe von Fallbeispielen gezeigt werden konnte. Osteuropa war keine Bezeichnung des 18. Jahrhunderts, auch bezogen sich die von Wolff angeführten Argumentationsmuster nicht ausschließlich auf den osteuropäischen Raum. Ähnliche hierarchische Sichtweisen konnten auch auf das eigene Land angewendet werden, Feinde wurden als Barbaren klassifiziert, unabhängig von ihrer geographischen Verortung. Pejorative Stereotype in Bezug auf osteuropäische Länder wären in diesem Sinne nicht absolut zu sehen, sondern

13 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlighten­ ment. Stanford 1994.

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vom jeweiligen Kontext abhängig. Der These Wolffs von der Erfindung Osteuropas zur Konstituierung Westeuropas setzt Schmale die im 18. Jahrhundert entwickelte Vorstellung einer gesamteuropäischen Kultur entgegen, welche etwa in der Ikono­ graphie Ausdruck fand. Der Rückgriff auf die Antike als Wahrnehmungsmuster und die Einbeziehung Griechenlands in die Kultur Europas bildeten hier ein wichtiges Element. Schmale zeigt etwa am Beispiel Polens, dass auch andere Regionen des östlichen Europa daran teilhatten. Die in der Aufklärungsforschung dominieren­ den Ost-West-Gefälle wurden somit zwar als Vergleichseinheiten angenommen, aber grundlegend und konzeptionell in Frage gestellt und für obsolet erklärt. Sehr wohl ging es dabei um die Betonung der besonderen Entwicklungen im östlichen Europa und ihre gleichzeitige Verankerung in den gesamteuropäischen Tendenzen und Entwicklungen. Damit hinterfragt Schmale die These von Wolff und schlägt gleichzeitig vor, verstärkt auf die methodischen Ansätzen wie Postcolonial- und Genderstudies, Transfer- und Verflechtungsgeschichte oder Hybridität der Räu­ me zurückzugreifen, um hierarchisierenden Interpretationsmustern jeder Art zu entkommen. Dass chronologische Eingrenzungen auf das 18. Jahrhundert kaum die Dyna­ mik von bestimmten Wahrnehmungsbildern fassen können, haben die Beiträge von Marija Wakouning, Magdalena Andrae, Dariusz Dolanski und Steven Peter Müller plastisch verdeutlicht. Gleichzeitig aber haben sie bekräftigt, dass diese zeitübergreifenden Bildproduktionen von Widersprüchen und Ambivalenzen be­ herrscht sind und keine lineare Entwicklung erkennen lassen. Marija Wakounig befasst sich im Speziellen mit der Rezeption der „Rerum Moscoviticarum Commen­ tarii“ (1549) von Sigismund von Herberstein im 18. Jahrhundert. Herbersteins breit angelegte Beschreibung des als terra incognita geltenden Moskauer Staates basierte auf zwei diplomatischen Reisen in österreichischen Diensten und brachte ihm den Ruf als „Entdecker Russlands“ ein. Das Werk erfuhr rasch große Popularität und beeinflusste eine Reihe späterer Werke. Mit dem neu erwachten Interesse an Russ­ land zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfuhr auch Herbersteins „Moscovia“ neue Beachtung. Neben Kontinuitäten in der Rezeption wie Zuschreibungen von Despo­ tismus und Sklaverei zeigt Wakounig die Wiederbelebung und Neuinterpretation ausgewählter Themen am Beispiel der Warägerfrage. Während Herberstein noch zwei Interpretationen für die in der Nestorchronik als Staatsgründer genannten Waräger angeboten hatte (als Skandinavier oder als der slawische Stamm der Wag­ rier), entwickelte sich im 18. Jahrhundert die Frage zu einer heftigen Kontroverse unter oft politischen Vorzeichen (Normannistenstreit). Magdalena Andrae widmet sich den Reiseberichten von Johann Georg Korb und Friedrich Christian Weber aus dem frühen 18. Jahrhundert. Beiden Berichten lagen diplomatische Reisen nach Russland zugrunde: Korb im Dienste Kaiser Leopolds I. 1698/99 und Weber im Dienste des Kurfürstentums Hannover 1714–19. Vor dem Hintergrund des Modells

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der 4 Modi des Fremderlebens nach Ortfried Schäffter vergleicht Andrae den Blick der beiden Autoren auf das petrinische Reich anhand von drei unterschiedlichen Bereichen: Tischkultur, Religion und Körperlichkeit. Sie veranschaulicht dabei die Bedeutung, welche Korb und Weber der Disziplinierung des Volkes durch den Herr­ scher zuschrieben. Dass Fremdbilder teilweise auch auf indirektem Wege rezipiert wurden, verdeutlicht Dariusz Dolański anhand polnischer Schriften zu Russland. Anders als im 16. und 17. Jahrhundert hätten polnische Studien zu Russland im 18. Jahrhundert kaum auf ruthenische und russische Materialen zurückgriffen. Exemplarisch zeigt er, dass sie sich vorwiegend auf ältere polnische und insbeson­ dere auf westliche Schriften stützten. Kenntnisse der russischen Historiographie scheinen praktisch nicht vorhanden. Dolański spricht in diesem Sinne von einer Rezeption auf westlichen Umwegen. Steven Peter Müller nimmt sich der Thron­ folge der ehemaligen Regentin von Kurland Anna nach dem plötzlichen Tod Zar Peters II., ihrer Perzeption durch die Vertreter des Wiener Kaiserhofes und der gleichzeitigen Diskussionen um eine Umgestaltung des politischen Systems im Jahr 1730 an; anlässlich der unerwarteten und ungeplanten Thronübernahme planten nämlich unterschiedliche und zueinander kaum koordinierte Adelsmilieus an der Spitze des Russländischen Reiches die Veränderung der Verfassung zugunsten gesteigerter adeliger Partizipation bis hin zur Herrscherwahl. Wichtigster Akteur ist der in Moskau gut integrierte und informierte kaiserliche Gesandte in Moskau Franz Karl Wratislaw von Mitrowitz. Zentral ist sowohl für das Russländische Reich als auch für das Habsburgerreich die Wahrung des Status Quo im Sinne politischer Interessen (Militärbündnis); hinsichtlich Antagonismen stehen andere Bruchlini­ en im Vordergrund, etwa die Konkurrenz zu Spanien für den kaiserlichen Vertreter oder die Zurückdrängung der Familien Dolgorukij und Golicyn für die Zarin. Mül­ ler macht klar, dass neben diesen innen- und außenpolitischen Konstellationen stereotype Russland-Bilder in Wratislaws Korrespondenz keine Rolle spielen. Transnational agierende Wahrnehmungsbilder vom östlichen Europa sind häufig Produkte von bewusster Inszenierung, die eingesetzt werden, um bestimm­ te Ziele zu erreichen, wie die Beiträge von Kerstin Jobst, Róisín Healy, Agnieszka Pufelska oder Marc Banditt hervorgehoben haben. Es sind immer mentale und historische Vorgänge bzw. Wertesysteme der Gesellschaft oder der dominieren­ den Machtstrukturen, die zur Etablierung und Funktionalisierung bestimmter Osteuropawahrnehmungen führten. Den Faktor der Selbstdarstellung nimmt der Beitrag von Kerstin Jobst (Wien) in den Blick. Sie zeigt die sogenannte Taurische Reise Katharinas II. im Jahr 1787 als legitimistische Performance zur Sicherung des russischen Neuerwerbs der Krim. Jobst fokussiert dabei im Speziellen die an die eu­ ropäische Öffentlichkeit gerichtete Botschaft: Entgegen einer oft angenommenen Rückständigkeit sollte insbesondere die russische Aufbaukraft auf der Krim gezeigt werden. Unter Rückgriff auf das antike Taurien wollte man hier westliche Kultur

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re-implementieren. Russland positionierte sich mit dieser Zivilisierungsmission als Teil Europas und handelndes Subjekt. Die Inszenierung, so Jobst, zeigte im Hin­ blick auf die europäische Öffentlichkeit im Großen und Ganzen Erfolg, wenngleich sie bei manchen Kritik und Zweifel, aber auch eine gewisse Furcht angesichts der Erfolge Russlands aufkommen ließ. Róisín Healy beleuchtet die politische Bedingtheit des Polenbildes in Irland im Sinne einer gemeinsamen Erfahrung von Fremdherrschaft. Nicht eine Grenze zwischen Ost und West, sondern eine Grenze zwischen Unterdrückern und Unterdrückten erscheint hier entscheidend. Während bis ins späte 18. Jahrhundert auch in Irland negative Vorstellungen von Polen, von chaotischen Zuständen und Leibeigenschaft, vorherrschten, änderte sich die Einstellung mit den Teilungen Polens: Polen wurde – sowohl von konser­ vativer als auch von radikaler Seite – zum Objekt des Mitleids und zum Vorbild. Zu der Polenbegeisterung liberaler Kreise in Bezug auf die Verfassung kam in Irland als wesentliches Element die Behauptung der Souveränität hinzu und erzeugte Vorstellungen von geistiger Verwandtschaft. So wurden etwa Parallelen zwischen Kościuszko-Aufstand und irischer Rebellion, zwischen Einigungsakt und dritter Teilung Polens gezogen. Agnieszka Pufelska zeigt etwa anhand von preußischen Polen- und Russlandbildern die Inhomogenität und Brüche im Osteuropabild des 18. Jahrhunderts. Zum einen nahmen hier Polen und Russland oft unterschiedliche oder gar gegensätzliche Rollen ein, zum anderen wechselten die Bilder im Kontext der politischen Verhältnisse. Hatte sich mit der Regierung Peters I. das Bild von Russland in positivem Sinne von einem barbarischen Land zur ernstzunehmenden Großmacht gewandelt, änderte sich dies in Preußen wiederum mit den steigenden politischen Konflikten und machte während des Siebenjährigen Krieges Feindbil­ dern der Kriegspropaganda Platz. Nach Friedensschluss knüpfte man jedoch an die früheren positiven Assoziationen an, welche nun durch die aufgeklärte Stilisierung von Katharina II. gestärkt wurden. Im Kontext der Absolutismuskritik Ende des 18. Jahrhunderts nahm dagegen Russland wiederum die Rolle eines Despotenstaa­ tes mit asiatischer Konnotation ein. Eine ganz andere Entwicklung nahm das Bild von Polen, welches sich vom Bollwerk der Christenheit zum Inbegriff von Anarchie und sozialer Ausbeutung wandelte und Ende des 18. Jahrhunderts in liberalen Kreisen wiederum Anerkennung in Bezug auf die polnische Verfassung fand. Marc Banditt beleuchtet vor dem Hintergrund pragmatischer, von den Zeitgenossen vor allem historisch argumentierter Verflechtungen der Stadt Danzig mit der Republik Polen-Litauen grundlegende zivilgesellschaftliche Impulse bürgerlicher Danzi­ ger naturwissenschaftlicher Sozietäten. Die Mitglieder der „Naturforschenden Gesellschaft“ waren hauptsächlich gebürtige Danziger, ihre Interesse hinsichtlich Forschung und gemeinnützige Tätigkeit (Spitalswesen, Landschaftsregulierung) lokal fokussiert. Banditt kanalisiert seine Gedanken hin zur seit 1754 fassbaren und letztlich gescheiterten Idee einer Danziger Akademie: Diese sei gemäß der

8 | Einleitung Intention ihres spiritus rector Daniel Gralath ein Abbild der Herrschaftsverhältnisse gewesen, da sie nicht der Republik, sondern dem König unterstellt war. Eingebettet werden ferner die Bemühungen Józef Aleksander Jabłonowskis um Nutzung der Danziger Expertise, sowie das Verhältnis der Gesellschaft zu König Stanisław Au­ gust Poniatowski, dem es erstmals gelang, Danziger wissenschaftliche Kapazitäten dauerhaft nach Warschau zu ziehen und damit auch eine Öffnung der Gesellschaft zumindest einzuleiten. Somit blieb die Perspektive der Danziger Gelehrtenwelt des 18. Jahrhunderts lokal gebunden. Die in der Historiographie nach wie vor dominierenden traditionellen An­ nahmen, angefangen von clash of civilizations-Vorstellungen bis hin zu einem vektoriellen Verständnis von Kulturtransferprozessen, die angeblich immer nur in einer Richtung verlaufen, haben die Beiträge von Tilman Plath, Klemens Kaps, Agnieszka Dudek und Christoph Augustynowicz sehr aufschlussreich hinterfragt. Vermeintlich bekannte Wahrnehmungsvorgänge erscheinen in neuem Licht, wenn man sie auf eine bestimmte Ortsebene verschiebt, aus der Perspektive einer einzel­ nen Person betrachtet oder wenn man sie im konkreten Rahmen wie z. B. dem der Statistik analysiert. Tilman Plath behandelt Wahrnehmungen zur Veränderung Russlands unter Peter I. in wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten. Dabei zeigt er St. Petersburg zugleich als wissenschaftlichen Standort und als Forschungsobjekt. Nach einer Kontextualisierung in der Entwicklung der Statistik vom älteren Modell der Stadtbeschreibung zur neuen Statistik im Bereich des Außenhandels geht Plath näher auf die Werke dreier Wissenschaftler vom Ende des 18. Jahrhunderts ein: Wilhelm Christian Friebe als Vertreter der neuen Statistik, Johann Gottlieb Georg in der Tradition der Stadtbeschreibung und Heinrich Friedrich von Storch als Zu­ sammenführung dieser beiden Traditionen. Plath zeigt den zentralen Stellenwert, welchen alle drei Autoren der Triade Peter I. – St. Petersburg – Handel bei ihrer Kontrastierung des neuen mit dem „alten Russland“ beimaßen. Auf wirtschaftliche Diskurse in einem anderen Bezugsrahmen geht Klemens Kaps ein. Er zeichnet dis­ kursive Verortungen der Habsburgermonarchie und ihrer internen Trennlinien im Kontext des Kameralismus nach, welcher auf die wirtschaftliche Hebung des Lan­ des zielte. Die scharf gezeichneten Gegensätze, etwa arbeitsam und träge, wurden dabei häufig auf institutionelle Ursachen wie das Untertanenwesen zurückgeführt. Im Lauf des 18. Jahrhunderts sei eine zunehmend räumliche Codierung festzustel­ len, wie Kaps am Beispiel der amtlichen Berichte des Hofkriegsrats von 1771/72 vor Augen führt. Allerdings waren hier negative Zuschreibung auch in Bezug auf Kernländer der Habsburgermonarchie zu finden und zudem oft lokal differenziert. Eine Ost-West-Linie lasse sich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts anhand der ne­ gativen Bewertung Galiziens und Ungarns zeichnen. Während der Kameralismus die Verhältnisse als Ergebnis sozipolitischer Prozesse betrachtete und deren Re­ formierung anstrebte, gewann mit dem Scheitern der josephinischen Reformen

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ein Diskursstrang an Einfluss, welcher die Faulheit der slawischen Bauern als anthropologische Konstante betrachtete. Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert markiere somit die Wende von Reformierungsdiskursen zu einer Essentialisierung ethnischer und kulturelle Kategorien. Agnieszka Dudek fokussiert Schlesien in seiner kulturellen, sprachlichen und religiösen Vielfalt und zeigt in Anlehnung an Homi Bhabha den vielseitigen Gelehrten, Pädagogen und Kommunalpolitiker Johann Leopold Scherschnik aus Teschen als Beispiel für Hybridität. Scherschnik, so Dudek, vereinte schon als Jesuit und Aufklärer Widersprüche in sich. Zudem vereinte er die unterschiedlichen Sprachen und Kulturen Schlesiens, wie sie etwa unter Verweis auf seine Sprachkenntnisse und anhand des von Scherschnik ver­ fassten Biographischen Lexikons zu Teschener Persönlichkeiten unterschiedlicher Konfession und Herkunft zeigte. Scherschnik stehe somit nicht nur für die Auf­ hebung von Dichotomien und Grenzüberschreitung, sondern rückte zudem die Peripherie in den Brennpunkt. Christoph Augustynowicz thematisiert am Beispiel der kleinpolnischen Stadt Sandomierz, wie Bildproduktionen an der Peripherie gesamteuropäische Diskurse mitprägten. Dabei lasse sich keine ausdrückliche Ost-West-Dichotomie feststellen, jedoch durchaus West-Ost oder Ost-West-Bewe­ gungen der jeweiligen Ideen. Zum einen führte er die Ritualmord-Vorstellungen an, welche von England ausgehend im 16. Jahrhundert auch Polen-Litauen erreichten. Zu den spektakulärsten Fällen im 18. Jahrhundert zählten auch die Ritualmord­ beschuldigungen in Sandomierz. Die Vatikanische Politik des 18. Jahrhunderts lehnte dagegen Ritualmordvorstellungen ab und betrachtete sie als Symptome der Peripherie. Die umgekehrte Richtung nahm die Idee des Vampirismus, wel­ che zu Beginn des 18. Jahrhunderts von der Grenze zum Osmanischen Reich in deutschsprachige Gebiete und in die wissenschaftlichen Debatten Europas drang. In diesem Fall stand Sandomierz mit einer Publikation des Jesuiten Gabriel Rząc­ zyński aus dem Jahr 1721 am Anfang des Diskurses, welcher von prominenten Vertretern der Aufklärung perpetuiert wurde. Zunehmend stand das Bild des Blut­ saugers allerdings auch als Metapher für sozio-ökonomische Abhängigkeiten und konnte Vorstellungen von Rückständigkeit zusätzlich aufladen. Insgesamt zeigt der Band eindrücklich die Vielfalt der Bilder vom östlichen Europa im 18. Jahrhundert und ihre Dynamik und konnte Vorstellungen von einer linearen Entwicklung oder teleologischen Kontinuität stereotyper Wahrnehmun­ gen aufbrechen und verfestigte Wissensordnungen des Faches Geschichte vor allem hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Aufklärungsprozess in Frage stellen. Auch lassen sich die unterschiedlichen Bilder nicht auf eindimensionale Wahrnehmungen von Zentrum und Peripherie beschränken, geschweige denn die in der Aufklärungsforschung stets präsente und erkenntnishemmend wirkende Ost-West-Dichotomie. Vielmehr wurde in manchem Kontext das Konzept des Netz­ werks nahegelegt, um die unterschiedlichen Informations- und Diskursströme zu

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beschreiben. Alle Beiträge lassen somit erkennen, dass die zeit- und grenzüber­ greifenden Wahrnehmungen, Projektionen, Interpretationen und (Feind-)Bilder von östlichen Ländern keine homogenen oder objektiven, sondern grundsätzlich polyvalente und kontextualisierte Phänomene bezeichnen, auch wenn überra­ schende Gleichklänge festzustellen sind. Obgleich die Ergebnisse der Konferenz somit die Existenz einer Einheit „Osteuropa“ im 18. Jahrhundert in Frage stellten, führten sie vor Augen, welch essenziellen und integralen Beitrag die Osteuropäi­ sche Geschichte für die europäische und die Globalgeschichte leistet. Unser abschließender Dank gilt allen, die zum Gelingen der Konferenz und des Bandes beigetragen haben, insbesondere der Fritz Thyssen-Stiftung für die finanzielle Ermöglichung der Abhaltung der Konferenz und der Drucklegung des vorliegenden Bandes. Die Herausgeber, Januar 2016

Wolfgang Schmale

Das östliche Europa: (Fremd-?)Bilder im Diskurs des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus. Eine Keynote

Erbe-Kultur als Kultur der Restitution

Abb. 1: Sofia, Rotunde Sveti Georgi (Foto: W. S.).

Sofia – inmitten der kleinen römischen Ausgrabungsstätte an der Rotunde Sveti Georgi: Die römischen Reste von Serdica stammen aus dem 2. Jahrhundert nach Chr., die Kirche ursprünglich aus dem 6. Jahrhundert, sie steht am Platz eines noch älteren Tempels. Später wurde sie als Moschee genutzt, dann als Mausoleum und schließlich wieder als Kirche. Das Ensemble wurde im letzten Jahrhundert umbaut, sodass ein Innenhof entstand, der sich mitten im Stadtzentrum wie eine Oase ausnimmt. Die freigelegten römischen Reste, die sich abschnittsweise bis zur Banja BašiMoschee von 1576, die kein Museum ist, sondern als Moschee genutzt wird, ziehen

DOI 10.1515/9783110499797-002

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und auch ein Stück von Cardo und Decumanus umfassen, evozieren ähnliche Reste in ganz anderen Städten – z. B. Jerusalem oder Köln oder Paris. Es überwiegt bei diesem oberflächlichen historischen und aktuellen Augen­ schein das, was visuelle Brücken in Europa baut, und zwar deshalb, weil es so oder ganz ähnlich auch anderswo vorkommt: Gemeint ist die Anlage und Pflege von Ausgrabungsstätten mitten in Städten, die Pflege von historischen Gebäuden, deren ausgesuchte Aufnahme in das UNESCO Welterbe und so fort. Diese ErbeKultur hebt – wie das Web – die „Zeiten dazwischen“ in gewissem Sinn auf. Es lässt das, was zu gewissen Zeiten als fremd empfunden und daher verändert und angeeignet wurde, nicht mehr als Fremdes zu. „Fremdes“, vermeintlich Fremdes, kann man ablehnen, ihm feindlich begegnen, es bekämpfen, es nicht mögen, es beseitigen wollen. In der Erbe-Kultur entfällt das alles. In der Erbe-Kultur wird deutlich gemacht, dass eine Kirche zur Moschee wurde, eine Moschee zur Kir­ che, oder mehrfach wechselnd. Allfällige noch ältere inkorporierte römische oder andere Heiligtümer werden sichtbar gemacht und erhalten, z. T. rekonstruiert. So steht das, was man unter anderen Umständen und in anderen Zeiten als fremd ansah und möglichst verschwinden ließ, nun sich visuell simultan-synchron behauptend im Raum und hat das gleiche Recht wie das, was man gemeinhin nicht als fremd empfindet oder aus irgendwelchen ideologischen Gründen in die Kategorien nicht fremd bzw. fremd einordnet. Der Umstand, dass die Erbe-Kultur der Gegenwart eine enge Verbindung zur Tourismuswirtschaft eingegangen ist, verleiht dieser Kultur, die kein Fremdes kennt, Wirkmacht. Es ist diese Verbindung zwischen Ökonomie und Kultur, die erstmals in der Geschichte zu einem mächtigen Gegner des Denk- und Wahrnehmungsmusters des Fremden geworden ist. Eine Erbe-Kultur unterscheidet sich von der Nationalkultur, für die abzuleh­ nendes Fremdes zentral war (und z. T. noch ist), die das feindliche Fremde zur Selbstbestätigung benötigte. Ebenso unterscheidet sich die Erbe-Kultur von religiös oder gar national-religiös bestimmten räumlich radizierten Kulturen, sie ist in die­ ser Hinsicht wertneutral. Die Erbe-Kultur ist eine Kultur der Restitution, was man sich gerade an jenen Regionen des östlichen, des südöstlichen Europas vor Augen führen kann, die länger oder kürzer zum Osmanischen Reich gehört hatten und die besonders im 19. Jahrhundert im Zuge der Staatsbildungen eine Entosmanisierung betrieben. Das heißt, sie führten visuell zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des Raums, die vom osmanisch-islamischen Erbe kaum mehr sichtbare Spuren übrig ließ. Während die Erbe-Kultur bewusst die visuellen Zeichen womöglich sehr un­ terschiedlicher Kulturen am selben Ort wieder erkennbar macht, herrschte gerade im östlichen Europa rund 250 Jahre lang ein gegenteiliger Prozess vor, dessen Beginn im 18. Jahrhundert vermutet wird. Bestimmten Forschungsthesen folgend, die in Wahrheit aber nicht mehr als Hypothesen darstellen, wurde das östliche Europa seit dem 18. Jahrhundert in der mental map Europas zu einem Raum mit

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eigener, also nicht einfach mit „europäischer“, Identität gemacht. Teilweise wird eine Ausdifferenzierung in mindestens zwei Räume – Osteuropa und Balkan –, teilweise eine Ausdifferenzierung in drei Räume – Ostmitteleuropa, Osteuropa und Balkan bzw. Südosteuropa vorgenommen.¹

Auseinandersetzung mit Larry Wolff Nach Larry Wolff wurde „Eastern Europe“ im 18. Jahrhundert erfunden.² Man kann sein 1994 erschienenes Buch in eine Reihe mit anderen Publikationen wie Edward Saids „Orientalism“ (1978)³, Benedict Andersons „Imagined Communities“ (1983⁴), (deutsch: „Erfindung der Nation“, 1988), Stephen Greenblatts „Marvelous Possessi­ ons“ (1992)⁵ oder Maria Todorovas „Imagining the Balkans“ (1997, 1999 „Erfindung des Balkans“)⁶ stellen. Es geht jeweils um die vereinheitlichende Imagination eines Raumes oder eines historischen Akteurs. Die Motive dieser vereinheitlichenden Imagination sind sehr unterschiedlich. Teils geht es um die Konstruktion eines „An­ deren“ und/oder „Fremden“, das zur Konstruktion eines „Eigenen“, eines Selbst oder einer Identität eingesetzt wird. Der Begriff der „Erfindung“ zeigt an, dass es sich um nicht-objektive intellektuelle und mentale Operationen handelt, mittels derer ein Objekt für bestimmte Zwecke und Instrumentalisierungen konstruiert wird. In diesem Ansatz schlägt sich die grundsätzliche erkenntnistheoretische Pro­ blematik der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Objektivität und Wahrheit eben­ so nieder wie der epistemologische Ansatz von Michel Foucault, wie er ihn 1966

1 Präzise Kriterien bei Christoph Augustynowicz, Geschichte Ostmitteleuropas – Ein Abriss. Wien 2 2014. Die weiteren Abschnitte des vorliegenden Buchbeitrages sind in einer englischen Fassung Teil meines Buches „Gender and Eurocentrism. A conceptual approach to European History“ (Steiner Verlag Stuttgart, 2016). Ich danke dem Steiner Verlag für sein Einverständnis, die deutsche Fassung hier veröffentlichen zu können. 2 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994. 3 Edward Said, Orientalism. New York 1978. 4 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationa­ lism. London 1983. 5 Stephen Greenblatt, Marvelous Possessions. The Wonder of the New World. Oxford 1992; deutsch: Wunderbare Besitztümer. Berlin 1994. 6 Maria Todorova, Imagining the Balkans. Oxford 1997; deutsch: Maria Todorova, Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt 1999.

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in „Les mots et les choses“ und 1969 in „L’archéologie du savoir“ entfaltete.⁷ In dieselbe Zeit gehört das Referenzwerk von Peter L. Berger und Thomas Luckmann über „The social construction of reality“/„Gesellschaftliche Konstruktion der Wirk­ lichkeit“⁸. Die Attraktivität dieser Ansätze für die Geistes- und insbesondere die Ge­ schichtswissenschaften liegt auf der Hand, gleichwohl hat die Kritik z. B. an Saids „Orientalism“ die Frage aufgeworfen, ob dieser Ansatz tatsächlich forschungstaug­ lich ist. Jürgen Osterhammel versuchte, mit dem Begriff der „Entzauberung“ einen anderen Weg zu gehen. In seinem Buch „Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert“⁹, das viel zu Russland und zum Osmani­ schen Reich enthält und insoweit inhaltlich an dieser Stelle ebenfalls einschlägig ist, will er doch unter „Entzauberung“ (eigentlich ein Max Weber’scher Begriff) „einen doppelsinnigen Prozeß von widersprüchlicher Wertigkeit“ verstehen. Ge­ meint ist damit einerseits ein „Verlust von Sinnschätzen vormoderner Vielfalt“ und andererseits ein „Rationalitätsgewinn“.¹⁰ An Larry Wolffs Buch, so verdienstvoll es gewesen war, lässt sich zeigen, wie schwer es in der Praxis ist, zu repräsentativen Aussagen zu gelangen. Die meisten Studien über „Erfindungen“ im Sinne von Konstruktion und Imagination sind weit davon entfernt, gesellschaftliche Konstruktionen darzulegen. Diese sind viel zu komplex, als dass ein einzelner Autor oder eine einzelne Autorin sie forschend bewältigen könnte; hierzu bedürfte es sehr großer Forschungsteams – in einer Größenordnung, die in den Geisteswissenschaften nach wie vor unüblich ist; auch müsste der individualistische Habitus geisteswissenschaftlicher Erkennt­ nis weitgehend zurückgestellt werden. Die meisten dieser Studien halten sich an hochkulturelle Quellen, die eine eng begrenzte soziale Elite repräsentieren; und nicht einmal diese repräsentieren sie umfassend, weil zumeist auf Archivforschung verzichtet wird. Verzichtet wird zumeist auch auf Quantifizierungen, weil selbst bei den hochkulturellen Quellen nicht in die Breite, sondern nur in die Spitze gegangen wird. Oder weil man sich auf einen Quellentypus beschränkt, der nur in der Spitze, aber nicht in der Breite vorkommt. Diese Verfahrensweisen sind immer dann legitim, wenn es darum geht, ein Forschungsfeld aufzumachen, zu umreißen und eine Debatte anzustoßen. Das ist

7 Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris 1966; ders., L’archéologie du savoir. Paris 1969. 8 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality: A Treatise in the Socio­ logy of Knowledge. Garden City, New York 1967. 9 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998. 10 Ebenda, S. 12.

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verdienstvoll genug, wenn es funktioniert, aber man muss sich davor hüten, mit die­ sem Zugang dauerhaft belastbare Ergebnisse produzieren zu wollen. Wie man trotz eines hochkulturellen Zugriffs in die Breite der Quellen gehen kann, zeigen viele Ar­ tikel der von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebenen „Geschichtlichen Grundbegriffe“. Und wie man diesbezüglich sehr viel mehr tun kann, indem man ein Forschungsteam darauf ansetzt, zeigt das federführend von Rolf Reichardt (seit) 1985 herausgegebene „Handbuch politisch-sozialer Grund­ begriffe in Frankreich 1680–1820“¹¹, das den seriellen Charakter vieler Quellen in diesem Zeitraum nutzt, um mittels diversifizierter Methoden und Quantifizierun­ gen zu Ergebnissen zu gelangen, die einen relativ hohen Grad an Repräsentativität beanspruchen können. Diese begriffsgeschichtlichen Exempla an dieser Stelle zu zitieren bedeutet keine Abschweifung, stecken doch in vielen der untersuchten Begriffe Konstruktionen und Imaginationen aus unterschiedlichen Epochen. Wolff nutzte im Wesentlichen knapp zwei Dutzend hochkultureller gedruck­ ter Quellen, für die es in seinem Buch nicht einmal ein eigenes Verzeichnis gibt: Reiseberichte und philosophisch-historiographische Werke. Dazu kommen einige Karten und Atlanten.¹² Das Gros der hochkulturellen Quellen stammt aus Frank­ reich und England, dazu kommen für den deutschsprachigen Bereich Lessing, Fichte und ein wenig Herder. Casanova wird breitgewalzt, Linné und Strahlenberg werden beachtet. Quellen aus der Habsburgermonarchie fehlen. Serielle Quellen wie Zeitungen und Zeitschriften, wie sie dann 2008 Ivan Parvev heranzieht (s. u.), werden nicht genutzt, sieht man von gelegentlich zitierten einzelnen Nummern ab. Archivalische Quellen spielen keine Rolle. Dieser unterm Strich einseitige Zugriff bedingt das Ergebnis, ein Ergebnis, das in der formulierten Form nicht haltbar ist. Als Ergebnis schreibt Wolff: „Inven­ ting Eastern Europe was a project of philosophical and geographical synthesis carried out by the men and women of the Enlightenment.“¹³ Das Hauptproblem seiner Schlussfolgerung ist und bleibt, dass auch die von ihm herangezogenen Autoren und Autorinnen keineswegs zu so einhelligen Formulierungen kommen,

11 Rolf Reichardt (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820. München 1985 ff. 12 Wolff misst den Kolorierungen der Karten große Bedeutung zu, was im Grundsatz richtig ist; allerdings ist jeweils zu klären, ob die Kolorierung, die ein konkretes Exemplar einer Karte oder eines Atlanten aufweist, im Verlag/für den Verlag nach einem vorgeschriebenen Schema erfolgte oder ob es sich um ein individuell für den Besitzer/einen Besitzer handelt. Generell ist in jedem Fall zu klären, ob man es mit einem individualisierten Exemplar oder mit einem unveränderten Verlags- bzw. Druckereiprodukt zu tun hat. Davon hängt die Repräsentativität der konkrete Karte oder des Atlanten ab. 13 Wolff, Inventing, S. 356.

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dass man diese mit „Inventing Eastern Europe“ zusammenfassen kann. „Eastern Europe“ ist keine Namensgebung, kein performativer Akt des 18. Jahrhunderts. Wolff schreibt, dass es ein „Projekt“ gewesen sei, aber einen Mastermind eines Projekts benennt auch er nicht. Hätte er sich einer konkreten Methode bedient – eine Diskursanalyse nach den Regeln der Kunst wäre die beste Lösung gewesen, es hätte aber auch eine sozialhistorische Semantik nach Reichardt sein können –, so könnte man einen kollektiven Akteur, den Wolff mit „the men and women of the Enlightenment“ unterstellt, annehmen, in dessen Diskurs ein Projekt ent­ steht. Dazu ist die quantitative Grundlage aber zu schmal und eine strenge Me­ thode, außer dass inhaltlich gleiche oder sehr ähnliche Aussagen ohne Beach­ tung einer Chronologie zu angeblichen „patterns“ verdichtet werden, ist nicht auszumachen. Aufgrund der politischen Veränderungen seit dem späteren 17. Jahrhundert wird das östliche und südöstliche Europa wieder stärker in den europäischen Kommunikationsraum einbezogen, der gesamte Raum wird auch zugänglicher. Zunächst und vor allem für Menschen, die der höfischen und der Aufklärungs-Kul­ tur und ihrem breiteren sozialen Umfeld zuzurechnen sind. Schon dies bedingt eine sehr spezielle hierarchisch-asymmetrische Sichtweise, die sich nicht nur als Muster in Bezug auf Beschreibungen des östlichen Europas, sondern (z. B. bei französischen Autoren) auch des eigenen Landes, seiner Dörfer und seiner Land­ bevölkerung erkennen lässt. Der Aufklärungsdiskurs bemächtigt sich dieser terra incognita, um daraus eine terra cognita zu machen. Die Argumentationsmuster, die sich dabei abzeichnen, werden keineswegs für diesen speziellen Zweck neu entwickelt. Beschreibungen von Sklaverei, Unfreiheit, Unzivilisiertheit etc., die Wolff zitiert, finden sich im auf West- und Mitteleuropa bezogenen Aufklärungs­ diskurs genauso. Unterscheidet sich der Begriff „Volk“, der auf diesen Teil Europas bezogen wird und wie er sich beispielsweise im Diskurs über „Volksaufklärung“ entfaltet, substanziell von jenem, der in der Beschreibung östlicher und südöstli­ cher Regionen Anwendung findet? Finden sich in der Historiographie bezüglich West- und Mitteleuropa niemals Barbaren? Wie war das mit der Gleichsetzung von französischem „peuple“ und Abstammung von den Galliern einerseits und französischem Adel und Abstammung von den edlen Franken andererseits? Und so weiter. Dass im Aufklärungsdiskurs bezüglich des östlichen Europas mit ganz anderen spezifischen Mustern gearbeitet würde, wäre erst nachzuweisen. Gleichwohl steht fest, dass hier ein großer Raum im 18. Jahrhundert diskursiv erschlossen wurde, dass vieles fremd erschien bzw. mit Beobachtungen zu anderen Kulturen in einem bestimmten Entwicklungsstand übereinzustimmen schien. Wolff verweist auf Vergleiche z. B. mit Afrika oder mit Indianern in Amerika. Dass vieles, was auf den Reisen durch Polen-Litauen nach St. Petersburg oder nach Südosten ans Schwarze Meer bzw. nach Konstantinopel beobachtet wurde, Autorinnen und

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Autoren zu Charakterisierungen wie asiatisch oder orientalisch veranlasste, bedarf einer vorsichtigen Interpretation, denn diese sind nicht automatisch pejorativ. Noch der auch von Wolff zitierte Linné ging bei seiner Klassifizierung der Men­ schen, die den Anfang seiner Schrift Systema naturae von 1735 darstellt¹⁴, von dem traditionellen Schema der vier Kontinente aus: So führt er den homo europaeus, den homo asiaticus, den homo afer (d. i. africanus) und den homo americanus an; außerdem kennt er noch den homo ferus, den „Wilden“, und den homo monstrosus. Selbst den homo troglodytus zählt er mit auf. Das war noch sehr frühneuzeitlich. Das Schema der vier Kontinente mit vier unterschiedlichen Menschenklassen blieb das ganze 18. Jahrhundert über relevant und wurde in den bildenden Künsten mas­ senhaft reproduziert. Die historiographische Gattung der Menschheitsgeschichte hielt sich im Wesentlichen ebenfalls an das Schema und setzte die europäische Kultur im Singular an die Spitze der Zivilisationsgeschichte. Es wundert überhaupt nicht, dass die östliche und südöstliche terra incognita oftmals mit Asien identi­ fiziert wurde, denn das Schema kannte keine kulturellen Übergangsräume. Die teilweise Zuordnung zum „Orient“ widerspricht dem nicht; Wolff bringt Zitate, denen zufolge auch in Bezug auf manche Beobachtungen in Russland vom Orient geschrieben wurde. Orient und Asien sind keine verschiedenen Schemata, denn auch in der Ikonographie der Erdteile wurde die Asia manchmal eher orientalisch, manchmal eher „asiatisch“ ausgestattet. Und noch etwas lehrt die Ikonographie der Erdteilallegorien, wie sie im 18. Jahrhundert gepflegt wurde: Die vier Erdteile und die vier Kulturen sind unterschiedlich und dies wird verdeutlicht, aber in den größeren und detaillierteren Darstellungen wie in der Würzburger Residenz (Tie­ polo, 1752–1753) stehen sie in einem Erzählzusammenhang und in den einfacheren emblematisch verkürzenden Darstellungen bleibt immer noch die Gewissheit, dass bei allen Unterschieden nur alle vier zusammen die Welt ausmachen.¹⁵ Die empirischen Befunde, die in den von Wolff untersuchten Texten mitgeteilt werden, sowie die historiographischen Erkundungen lassen sich als Versuch lesen, das starre Viererschema der Kontinente und Zivilisationen aufzulockern und kul­ turelle Übergangsräume zu denken. Im Allgemeinen misst Wolff auffälligerweise der Chronologie und dem Umstand, dass sich seine Quellen praktisch über das ge­ samte 18. Jahrhundert verteilen, nicht allzu viel Bedeutung bei, gleichwohl kommt er nicht umhin festzustellen, dass zu Beginn des Jahrhunderts Polen und Russland im Prinzip dem Norden, Nordeuropa, zugeordnet werden. Das entspricht noch

14 Carl von Linné, Systema Naturae. Holmiae 1758. 15 Zu den Erdteilallegorien siehe das Forschungsprojekt unter Leitung von Wolfgang Schmale: „Diskurs- und kunstgeschichtliche Untersuchung von Erdteilallegorien im Süden des Heiligen Römischen Reiches und ihre Erschließung in einer Hypermediaumgebung“ (FWF P 23980): http: //erdteilallegorien.univie.ac.at/datenbank.

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dem teils antiken, teils mittelalterlichen Schema.¹⁶ Die Niederlage des schwedi­ schen Königs Karls XII., insbesondere in der Schlacht von Poltava 1709, und die Politik Peters des Großen führten mittelfristig zu einer Veränderung der mental map: Russland wurde sozusagen eine eigene Sache mit einem europäischen und einem asiatischen Anteil. Die Definition Europas wurde damit komplettiert und mehr als jemals zuvor fixiert, auch wenn der Ural als östliche Grenze Europas und als Grenze zwischen dem europäischen und asiatischen Teil Russlands keinen uneingeschränkten Konsens begründete. Larry Wolff erweckt den Eindruck, „Eastern Europe“ sei ein performativer Akt des 18. Jahrhunderts, muss aber den Beweis schuldig bleiben; es ist er selber, und nur er, der dies aus den untersuchten Quellen ableitet, während die Quellen selbst mit sehr unterschiedlichen Bezeichnungen und Benamungen arbeiten.

Todorova und Parvev Werfen wir einen Blick in Maria Todorovas Buch über die „Erfindung des Balkans“. Methodisch geht sie viel stringenter als Wolff vor und nicht ohne Grund stellt sie an den Anfang eine Dekonstruktion von Saids Weg zur Annahme eines westlichen Konstrukts namens Orientalismus. Sie geht der Geschichte des Namens Balkan akribisch nach und sie zeigt, wie aus der Benennung eines Berges bzw. einer Bergkette erst nach 1800 erste Schritte zur Konstruktion eines großen Raumes namens Balkan gesetzt wurden. Sie zitiert August Zeune, der 1808 erstmals vom „Balkanhalbeiland“ gesprochen haben soll. Die Bergkette trenne das südlich davon gelegene Land, das zwischen Schwarzmeer und Mittelmeer eine Halbinsel ähnlich der Iberischen Halbinsel bilde, vom Rest Europas. Ein britischer Reisender namens Walsh habe 1827 dann die Halbinsel insgesamt als „Balkan“ beschrieben.¹⁷ Damit war allerdings der sprichwörtliche Balkan noch längst nicht auskonstruiert, dies erfolgte deutlich später und umfasste mehr als den in diesen frühen Quellen so genannten Balkan. Gehen wir in einem dritten Schritt zu Ivan Parvevs Buch „Land in Sicht.¹⁸ Südosteuropa in den deutschen politischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts“ (2008). „Südosteuropa“ ist natürlich kein Quellenbegriff, wie der Autor klarstellt.

16 Piotr Kochanek, Die Vorstellung vom Norden und der Eurozentrismus. Eine Auswertung der patristischen und mittelalterlichen Literatur. Mainz 2004. 17 Todorova, Erfindung, S. 46 f. 18 Ivan Parvev, Land in Sicht. Südosteuropa in den deutschen politischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts. Mainz 2008.

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Insoweit stellt sich die Frage der Zweckmäßigkeit dieser eher gegenwärtigen Zu­ sammenfassung eines Raums unter einen geographischen Namen genauso wie im Fall von L. Wolff. Mit den Zeitschriften greift Parvev eine serielle Quelle auf, die gerade im Alten Reich im 18. Jahrhundert besonders häufig war und die gut geeignet erscheint, ein Meinungs- und Argumentationsspektrum zu bestimmten Fragen im 18. Jahrhundert zu erheben. Er nimmt eine inhaltliche Gliederung vor, die sich zuerst auf eine Zusammenstellung von Quellenbemerkungen zu acht süd­ osteuropäischen Völkern bezieht, sodann auf „Südosteuropa als außenpolitisches Problem“, was im Wesentlichen die Auseinandersetzungen zwischen dem Reich bzw. der Habsburgermonarchie einerseits und dem Osmanischen Reich anderseits meint, aber immer wieder auch Russland einschließt. Er koppelt die Inhalte zurück an das Lesepublikum, an den homo politicus als Adressat und Leser der politischen Zeitschriften. Damit ist eine brauchbare soziale Anbindung der Untersuchung gegeben. Dem von Parvev benutzten Quellentyp sind durchaus andere Schlussfolge­ rungen zum östlichen Europa zu entnehmen als den von Wolff zitierten Texten. Russland erscheint in den Zeitschriften unter dem Gesichtspunkt einer Großmacht und gilt als zivilisiertes Land, das vor Peter dem Großen zweifellos rückständig gewesen sei, aber längst aufgeholt habe. Die Urteile über die Osmanen oder Türken, die Albaner, Serben, Walachen, Montenegriner, Bulgaren, Moldauer und Manioten können nicht über einen Kamm geschoren werden. Es wird deutlich, dass die positive oder negative Qualität der Urteile sehr davon abhängt, auf wessen Seite wer im Krieg steht und wie zuverlässig von jemandem Abkommen und Friedens­ verträge eingehalten werden. Wiederholte Bezeichnungen als Räuber und/oder Barbaren werden oftmals relativiert, weil dieselben Charakterisierungen auch auf west- und mitteleuropäische Gruppen und Völker angewendet werden können, insbesondere, wenn diese gerade Krieg gegen das Reich bzw. die Habsburger füh­ ren. Die Glaubenszugehörigkeit spielt noch lange die Rolle eines entscheidenden Wahrnehmungsfilters. Der Umstand, dass für negative Beobachtungen und Bewertungen in Bezug auf den Südosten Europas vergleichende negative Beobachtungen und Bewertungen für west- und mitteleuropäische Fälle ergänzend hinzugezogen werden, muss auf­ horchen lassen, weil vermeintliche Unterschiede nivelliert werden. Parvev zitiert im Buchanhang eine schöne Quelle aus dem „Historisches und geographisches Journal“ (Halle, Leipzig, Jena) von 1789, in der unter dem fragenden Titel „Soll man die Türken aus Europa jagen?“ auf der Grundlage einer sehr rationalen Ab­ wägung von Vor- und Nachteilen die Einebnung vermeintlicher zivilisatorischer Ungleichheiten geradezu modellhaft vor Augen geführt wird. Und: Man soll die Türken im wohlverstandenen Eigeninteresse nicht verjagen. . . !

20 | Wolfgang Schmale Parvev fragt sich, ob es für den homo politicus, also den Leser der politischen Zeitschriften im Alten Reich, so etwas wie eine Südosteuropa-Diskussion gegeben habe. Eine eindeutige Antwort hält er nicht für möglich, aber immerhin lässt sich ei­ ne mitunter ausführliche Berichterstattung festhalten, die über das Nachvollziehen von Kriegserklärungen, Schlachten, Belagerungen, Niederlagen, Friedensschlüs­ sen und Gesandtschaften hinausgeht und cum grano salis Einblicke in Menschen und Lebenswelten im südöstlichen Europa gibt. Im Übrigen verdient ein bestimmter Umstand benannt zu werden: Jene Mäch­ te, die im östlichen Europa Geopolitik betrieben, fragten wenig nach dem Stand der Zivilisation. Für die Sicherung und Erweiterung der Macht spielte er keine Rolle und es hat auch nicht den Anschein, als habe man sich um die in manchen Quellen als Barbaren titulierten potenziellen oder neu gewonnenen Untertanen mehr Sorgen gemacht als um die bisherigen, die man schon hatte: Das universal anwendbare Stereotyp vom potenziell jederzeit unbotmäßigen und aufsässigen Untertanen stach andere allfällige Stereotype aus. Anders ausgedrückt: Selbst eindeutig pejorative Äußerungen zur Rückständigkeit von Regionen oder Völkern des östlichen Europas können nicht so absolut gesetzt werden, dass sich dar­ aus die „Erfindung“ eines Raumes in einer asymmetrischen Perspektive ableiten ließe. Die aufmerksame und kritische Lektüre allein dieser drei Bücher, die in­ nerhalb von rund 15 Jahren Wegmarken setzten, lässt nur einen Schluss zu: Im 18. Jahrhundert wurde weder ein Osteuropa oder Eastern Europe, noch ein Südosteuropa noch ein Balkan erfunden oder konstruiert. Dazu waren die Beob­ achtungen, Meinungen und Auswertungen von Materialien wie Reiseberichten zu vielschichtig, zu stark von kontextabhängigen Standpunkten und auch ei­ ner gewissen Wechselhaftigkeit der Anschauungen geprägt. Das hängt ohne Zweifel damit zusammen, dass die Dinge im östlichen Europa im Fluss waren. Die gebildeten Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts wollten dies beobachtend und urteilend begreifen, aber sie waren einigermaßen weit davon entfernt, eindi­ mensionale Wahrnehmungsmuster zu entwickeln. Sie nutzten tradierte wie die vier Kontinente im Sinne von vier Großkulturen; entscheidend war und blieb die Religions- und Konfessionszugehörigkeit als Filter und Identifizierungsmerkmal, hinzu kamen Versuche der Ausdifferenzierung auf der Grundlage mitgeteil­ ter empirischer Beobachtungen. Man muss sich auch fragen, was Motiv und Zweck von gewissen „Erfindungen“ hätte sein sollen? Die Gefahr, solche in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisbaren Motive in der Zeit vorzuverlegen, ist gegeben. Je mehr das verfügbare Spektrum an Quellen ganz ins Auge gefasst wird, desto geringer wird die Bereitschaft, Autoren wie L. Wolff zu folgen. Statt nach dem

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„Inventing of Eastern Europe“ zu fragen, sei hier angeregt, nach der Europäizität¹⁹ Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas zu fragen.

Die Europäizität des östlichen Europa: Bildwelten Grundsätzlich macht es einen Unterschied, ob Quellen aus dem Bereich des atlanti­ schen Europa herangezogen werden oder aus dem Alten Reich und der Habsburger­ monarchie. Auch ist die deutschsprachige Aufklärung sehr viel enger mit großen Teilen des nördlichen und mittleren Osteuropa vom Baltikum bis zur Militärgrenze der Habsburgermonarchie verbunden als die französisch- oder englischsprachige. Für die deutschsprachige Aufklärung handelt es sich dabei um einen Entfaltungs­ raum, der zugleich von deutschsprachigen Eliten getragen wird, für die anderen sehr viel mehr um einen Raum, der vielleicht tatsächlich entfernter wirkt als das englische und französische Nordamerika. Angesichts des Umstands, dass sich die aufklärerische res publica litteraria bis ins Osmanische Reich erstreckte, bedarf es auch der Untersuchung reziproker Quellen wie Korrespondenzen und Übersetzungstätigkeiten. Konzentriert man sich auf Vernetzungen und Verflechtungen, auf die Schaffung Europas als großen Kommunikationsraum von Frankreich bis in die Ukraine in der Aufklärung, mithin auf realhistorische Entwicklungen, fällt es schwer, so etwas wie „invention projects“ zu erkennen – es fehlt das Motiv. Nun dreht es sich hier nicht um realhistorische Entwicklungen, sondern um Wahrnehmungen, aber diese sind nicht von realhistorischen Entwicklungen abzu­ trennen. Es stellt sich daher die Frage nach der Europäizität des östlichen Europas. Zuerst ist festzuhalten, dass im Lauf des 18. Jahrhunderts ein Begriff von Europa als Kultur im Singular entwickelt wurde. Diese Kultur im Singular bezog sich auf den geographisch als Europa definierten Raum. Bezüglich der östlichen Grenze darf dabei nicht nur auf die Diskussion um den Ural geachtet werden, die Diskussion war vielschichtiger und es spielte darin auch die Ukraine eine wichtige Rolle.²⁰ Sie wurde im 18. Jahrhundert unterschiedlich definiert. Geographisch deckte der

19 Wolfgang Schmale, Die Europäizität Ostmitteleuropas, in: Jahrbuch für Europäische Geschich­ te, 4 (2003), S. 189–214. 20 Zum Folgenden vgl. Wolfgang Schmale, Das 18. Jahrhundert. Wien 2012, Kap. 6.4. (wo wörtlich übernommen, siehe im Text die Anführungszeichen). Zur Geschichte der Ukraine vgl. mehrere Publikationen von Andreas Kappeler, u. a.: Andreas Kappeler, Die Ukraine: Prozesse der Nations­ bildung. Köln/Weimar/Wien 2011.

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Name sich im Wesentlichen mit der heutigen Ukraine und galt insoweit unabhän­ gig von der Staatlichkeit. Lediglich das Hetmanat (ca. ein Sechstel der heutigen Ukraine) stellte die eigentliche Kosakenrepublik dar; es war autonom unter russi­ scher Oberhoheit. Ihre Bezeichnung als Grenze oder Grenzraum war gängig und bezog sich auf ihre Funktion für Polen und Russland, auf die sie aufgeteilt war. „Als Grenz- und Verteidigungsraum war die „Kosakenprovinz“ oder „Kosakenre­ publik“ zwischen das zivilisierte Europa und das unzivilisierte Fremde und Andere platziert: „Les Cosaques sont ainsi les protecteurs réels et efficaces de l’Europe contre toutes sortes d’invasions. Quant à l’Ukraine, elle devient l’avant-garde de la civilisation occidentale en se trouvant pertinemment au centre même de ces événements“, schreibt Tatiana Sirotchouk.²¹ Eine der wichtigsten Persönlichkeiten der ukrainischen Aufklärung, Gregor Skovoroda, drückte die Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa so aus: „Nous sommes Européens!“²²“ Gelegentlich stellt sich der Eindruck ein, dass die ältere und früher von meh­ reren Regionen bzw. Ländern für sich beanspruchte Funktion des antemurale christianitatis im 18. Jahrhundert durch die modernere Funktion eines Bollwerks der europäischen Zivilisation ersetzt wird – eine Funktion, die sehr wohl auch Russ­ land seit seiner von den Zeitgenossen als solche empfundenen und akzeptierten Europäisierung übernehmen konnte. Da es sich bei sogenannten Erfindungs-Prozessen um Konstruktionen und Ima­ ginationen handelt, ist nach den Bildwelten zu fragen. Die im 18. Jahrhundert euro­ päisch wirkmächtigste und eigentlich so recht erst geschaffene Bildwelt dürfte die des antiken Griechenland sein. Diese Bildwelt war, trotz eines im 18. Jahrhundert durchaus vorhandenen Wissens über die Farbigkeit der antiken Architektur und Skulpturen, eine Bildwelt des weißen Marmors, auf den alle Idealvorstellungen von Zivilisation projiziert wurden.²³ Nicht in der Farbe Weiß, aber in der Idealisierung liegen viele Verbindungsstränge zum Alexanderstoff und seiner Aktivierung für Europa – darauf ist etwas später kurz zurückzukommen. Es wurde keineswegs nur Griechenland, das heißt ein Stück osmanisch beherrschten südöstlichen Europas, in die Kultur Europa (im Singular!) hereingeholt, sondern – über die Verwertung dieser Imaginationen – ein großes und weites Europa. Europa als Kultur im Singular wird durch eine weitgehend ähnliche Bildspra­ che visualisiert. Russland übernimmt sie für sich, im mittleren und südlichen Osten Europas folgt sie der Spur der Expansion der Habsburgermonarchie. Als Bei­ spiele kann man das ikonographische Programm der Festung Alba Iulia (1715–1738) 21 Tatiana Sirotchouk, La vie intellectuelle et littéraire en Ukraine au siècle des Lumières. Paris/ Genève 2010, S. 33. 22 Ebenda, S. 9. Wolfgang Schmale, Das 18. Jahrhundert. Wien 2012, S. 322. 23 Philippe Jockey, Le mythe de la Grèce blanche. Histoire d’un rêve occidental. Paris 2013.

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nehmen²⁴ oder sich die Umgestaltung von Temeswar ansehen, die bald nach der Er­ oberung 1716 einsetzte.²⁵ Innerhalb der sich im 18. Jahrhundert stetig erweiternden Monarchie fand eine ikonographische Normierung statt, die mehr als anderes die Zugehörigkeit zur selben Monarchie ausdrückte und die bis heute vielfach sichtbar geblieben ist. Die Baumeister, Künstler, Fachleute, Ingenieure etc., denen diese insbesondere von Josef II. betriebene Normierung²⁶ in der Praxis zu verdanken ist, kamen aus einer Vielzahl europäischer Länder, rein praktisch betrachtet handelte es sich dabei um ein europäisches Projekt. Übliche Praxis im 18. Jahrhundert waren multiple ikonographische Referen­ zen, die die Welt, je nach Zahl der Goldstücke, die jemand im Beutel hatte und für so etwas ausgeben konnte, auf engstem Raum bequem zuhause vor Augen stellten. Potsdam ist dafür ein schönes Beispiel, das im 18. Jahrhundert einsetzt und bis um 1900 immer weiter gebaut wird²⁷: Die holländischen, französischen, böhmischen und russischen kulturellen Referenzen verweisen auf konkrete Menschen und So­ zialgruppen, die nach Potsdam kamen bzw. dorthin geholt wurden. Französisches versteht sich praktisch von selbst, etwa im Neuen Palais (1763–69) des Architekten Gontard (und weiterer) und in Gestalt der Französischen Kirche für die Französi­ sche Kolonie (Hugenotten).²⁸ 1768 wurde für den Park Sanssouci eine Kopie des römischen Pantheons im verkleinerten Maßstab geschaffen, in dem die hohen­ zollernsche Antikensammlung ausgestellt wurde. Im Park von Sanssouci stößt man außerdem auf ein „chinesisches Teehaus“. Das für Friedrich Wilhelm II. 1787 bis 1791 geschaffene Marmorpalais am Heiligen See enthält ein „orientalisches“ Zeltzimmer. In Babelsberg sind einige bauliche Zeugen ehemals böhmischer Weber erhalten geblieben. Mit dem Holländischen Viertel in der Stadt korrespondiert das Holländische Etablissement (1789–90) im Neuen Garten, wo sich außerdem das Imi­ tat einer ägyptischen Pyramide (1791–92) befindet. Neuer Garten und Babelsberger

24 Nicolae Sabău, Le programme iconographique de la citadelle d’Alba Iulia (1715–1738). In: Harald Heppner/Wolfgang Schmale (Hg.), Festung und Innovation. Bochum 2005. S. 73–92, Abb. S. 236–266. 25 Horst Fassel, Strukturierung des Kulturlebens in der ehemaligen türkischen Festung Temeswar im 18. Jahrhundert (Schwerpunkt Theater). In: Heppner/Schmale, Festung, S. 93–104. 26 Christian Benedik, Die Normierung der Idee – Der Verlust der graphischen Individualität im habsburgisch-staatlichen Bauwesen des 18. Jahrhunderts. In: Wolfgang Schmale/Renate Zedinger/ Jean Mondot (Hg.), Josephinismus – eine Bilanz/Échecs et réussites du Joséphisme. Bochum 2008, S. 175–185. 27 Vgl. im Detail und zum Teil hier wörtlich übernommen: Wolfgang Schmale, Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Wien 2013, Kapitel „Die Mitte. Europa zwischen Berlin und Wien“. 28 Näheres zu den Hugenotten in Potsdam bei Silke Kamp, Die verspätete Kolonie. Hugenotten in Potsdam 1685–1809. Berlin 2011.

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Park folgen dem Modell des englischen Landschaftsparks. Die Russische Kolonie (1827) brachte, ausgehend von 1812 gefangenen russischen Soldaten, die im Land festgehalten wurden und dann verblieben, ein Stück Russland nach Potsdam. Werfen wir einen Blick auf eine andere Bildwelt: Die Jahrzehnte der sächsischpolnischen Union waren Anlass einer reichhaltigen Bildproduktion. Die vielseitige ikonographische Repräsentation Sachsens und Polens half der Vorstellungskraft auf die Sprünge; sie reicht von der Veduttenmalerei über die Druckgraphik bis hin zu Münzen, Porzellanfiguren, Modellen, Gebrauchsgegenständen, Textilien und so fort. Ein Teil dieser Produktion bildete sächsisch-polnisches Gemeinsames ab. Ein Ölgemälde von Johann Alexander Thiele aus dem Jahr 1731 zeigt das „Zeithainer Lager“ von 1730, auf dem August der Starke „den europäischen Mächten“ seine mittlerweile reformierte und „prächtige Armee“ vorführte.²⁹ Es wurden dabei unter anderem polnische Ulanen, Heiducken, Janitscharen und „Truppenteile mit ‚tür­ kischen Abzeichen‘“ vor mehreren Hundert Gästen gezeigt. Thiele fertigte selbst Repliken in kleinerem Maßstab von diesem ca. 2x3m großen Gemälde an, auch eine Medaille und weitere bildliche Zeugnisse und Artefakte sind überliefert.³⁰ Das sächsisch-polnische/polnisch-sächsische Beispiel verweist im Kontext der Bildwelten auf Kulturtransfer und Kulturaustausch als kulturelle Praxis. August III. ließ sich 1737 als König von Polen in der „orientalisch wirkenden Adelskleidung“ des polnischen Adels von Louis de Silvestre malen. Das Porträt fand dann mehrfach Eingang in die Druckgraphik und wurde so weiter verbreitet, es scheint sogar der polnischen wie männlichen Adelstracht den Weg nicht nur an den sächsischen Hof, sondern auch nach Frankreich geöffnet zu haben. Pöllnitz zeichnete 1732 ein überaus positives Bild polnischer adliger Damen am Hof und bescheinigte ihnen eine direkte Vergleichbarkeit mit Französinnen in Paris.³¹ Die am Dresdner Hof installierte polnische Entourage – jedenfalls Teile davon – begleiteten unter anderem den Kurprinzen Friedrich August nach Italien und Frankreich und den Prinzen und Thronfolger Friedrich Christian z. B. nach Venedig. Überall war dies Anlass für die Herstellung von Abbildungen, auf denen Polen mit dargestellt sind.

29 Johann Alexander Thiele, Das Zeithainer Lager, 1731, Öl auf Leinwand, 195 × 312 cm. (Dresden, Gemäldegalerie Alter Meister, Gal.-Nr. 3723); vgl. Werner Schmidt/Dirk Syndram (Hg.), Unter einer Krone. Kunst und Kultur der sächsisch-polnischen Union. [Leipzig] 1997. Katalognummer 329. 30 Schmidt/Syndram, Unter einer Krone, S. 208, Katalognummern 329–332. 31 Jerzy Kowalczyk, Die Bedeutung des wettinischen Königshofes für den kulturellen und künst­ lerischen Austausch – Polen in Sachsen, Sachsen in Polen. In: Rex Rexheuser (Hg.), Die Personal­ unionen von Sachsen-Polen 1697–1763 und Hannover-England 1714–1837. Ein Vergleich. Wiesbaden 2005, S. 201–219, hier S. 203 f. Grundsätzliche Probleme untersucht Krystyna Moisan-Jabłońska, Poskie przygody grafiki zachodnioeuropejskiej XVII–XVIII w. Ciche 2013.

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Polnische Maler lernten wie andere Maler auch in Rom, polnische Architekten wirkten an den Neubauten der Unionszeit mit. Am Dresdner Hof wurde Polnisch gelernt, an der Leipziger Universität wurde offenbar ab 1722 Polnisch angeboten; zwischen 1695 und 1800 immatrikulierten sich ebenda rund 350 polnische Studenten, meist aus adligen Familien – keine gewaltige Zahl, aber doch. . . Leipziger Verlage begannen 1729, Drucke in Polnisch herauszubringen, u. a. ein französisch-polnisch-deutsches Wörterbuch.³² 1762 schuf Canaletto ein allegorisches Bild, das die Allegorie der Saxonia zu­ sammen mit einem polnischen Adligen in seiner Tracht zeigt.³³ Zwischen den beiden ist der Kopf eines weiteren polnischen Adligen zu sehen. Die Inschrift „In­ clinata Resurgit“ spricht die Hoffnung auf die Wiederaufrichtung Sachsens, das im noch andauernden Siebenjährigen Krieg schwer litt, aus und scheint diese gewisse Hoffnung als Botschaft an Polen zu richten. Mit der Deutung der Allegorie kann man sich lange aufhalten, was man aber nicht findet, ist irgendeine fremdbildliche Aussage über Polen. In den 1770er Jahren porträtierte Canaletto Warschau:³⁴ Eine Radierung von 1774 zeigt im Vordergrund kleinere und größere Holzhäuser, im Hintergrund meh­ rere Palais, das Königsschloss, Alt- und Neustadt. Die direkte Nachbarschaft einfa­ cher Häuser und der Palais scheint einige Reisende, die Larry Wolff zitiert, negativ frappiert zu haben, Canaletto zeichnet jedoch keine heruntergekommen Hütten, sondern solide Holzhäuser, die einen sinnvollen Übergang von der erhabenen repräsentativen Stadt zur ländlichen Idylle vorne links herstellen. Das Bild arbeitet mit positiven Klischees wie viele andere Vedutten Canalettos auch.³⁵ Als polnische-litauische Könige/Größfürsten in Personalunion hatten die säch­ sischen Kurfürsten August II. und Friedrich August III. sowie Friedrich August I. als König von Sachsen und als Großherzog von Warschau ein besonderes Inter­ esse an der positiven Darstellung Polens. Der Sarmatismus, der gewöhnlich als Argument für eine gewisse Fremdartigkeit ins Feld geführt wird, erfüllte diese Funktion in der Bildwelt des 18. Jahrhunderts kaum. Orientalismen, wie sie sich in 32 Siegfried Hoyer, Polnische Studenten an der Universität Leipzig im 18. Jahrhundert. In: Verein für sächsische Landesgeschichte e. V. (Hg.), Sachsen und Polen zwischen 1697 und 1765. Dresden 1998, S. 328–337. 33 Schmidt/Syndram, Unter einer Krone, S. 232, Katalognummer 393. Ein zweites allegorisches Bild (beide dürften zusammengehört haben) zeigt eine junge männliche Allegorie, deren Deutung unsicher ist, und eine zweite alte männliche Allegorie: Vielleicht handelt es sich, so der Katalog, um Österreich und Russland (S. 233, Katalognummer 394). 34 Bernardo Bellotto (Canaletto), Vue de Varsovie prise depuis le palais dit de l’Ordinat. . . , 1774. Radierung 49,6 × 62 cm. Dresden Kupferstich-Kabinett, Inv.-Nr. 127948. Schmidt/Syndram, Unter einer Krone, Katalognummer 35. 35 Ebenda, S. 93, Katalognummer 35.

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der Visualisierung des Sarmatismus zeigten, waren längst Bestandteil der europäi­ schen Ikonographie. In der repräsentativen Architektur griff man auf dieselben Modelle, Zeichen und Bedeutungselemente wie sonst wo in Europa zurück.³⁶ Die Sarmaten wurden historiographisch eng in die Geschichte Roms eingebunden, heilsgeschichtlich gab man ihnen wie den anderen großen europäischen Völkern auch einen Sohn Jafets zum Stammvater. Diese beiden Einschlüsse gehörten zu den üblichen Techniken der Selbstsituierung in der europäischen Geschichte. Man wird nicht bestreiten, dass es im Falle Sachsens spezielle Motive gab, sich konstruktiv mit Polen auseinanderzusetzen; es bestand ein großes Interesse, den polnisch-litauischen Staatsverband langfristig für die Wettiner zu sichern. Die Staatsräson, so könnte man sagen, bestimmte das Bild von Polen-Litauen mit. Dasselbe gilt sinngemäß für die Habsburgermonarchie und ihr Verhältnis zum Osmanischen Reich.

Der integrative Antike-Bezug Sicher verlassen wir mit all diesen Beispielen nicht das Feld der höfischen und Aufklärungs-Kultur, aber alle in der zitierten Forschung genutzten hochkulturellen Quellen gehören ebenfalls in dieses Feld. Mit den sehr kurzen Bemerkungen an Hand des sächsisch-polnischen und polnisch-sächsischen Beispiels einer Bildwelt soll nicht pauschal behauptet werden, Larry Wolff habe, soweit es in seinem Buch um Polen geht, im Wesentlichen geirrt, aber es kommt eben auf die Quellen an: Unterschiedliche Quellentypen lassen unterschiedliche Schlüsse zu; führt man sie zusammen, entfaltet sich eine differenzierte und alles andere als einheitliche Sicht im 18. Jahrhundert auf die östlichen Regionen Europas. Der Bezug auf die Sarmaten stellte nicht weniger einen Bezug auf die römi­ sche Antike dar als der Bezug auf die Gallier, auf die Franken, auf die Bataver, auf Germanen und so weiter. Solche Bezüge wurden auch mit Blick auf das anti­ ke Thrakien und die zeitgenössischen Bulgaren aktiviert – Parvev zitiert hierzu eine Reihe von Zeitschriftenartikeln aus dem 18. Jahrhundert. Dem Sarmatismus Polen-Litauens wird in der Forschung für das mittelsüdöstliche Europa oft ein

36 Isabella Woldt, Sobieskis Königsresidenz in Wilanów und Krasińskis Palais in Warschau. Ar­ chitektur im Spannungsfeld von Antikenrezeption und Sarmatismus im Barock. In: Ulrich Heinen (Hg.), Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock, Bd. 1. Wiesbaden 2011, S. 397–429.

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sogenannter Illyrismus zur Seite gestellt, in dem ganz ähnlich heilsgeschichtliche, antike und eigenständige Elemente miteinander verbunden wurden.³⁷ Zu den für das 18. Jahrhundert bemerkenswerten historiographischen Kon­ struktionen gehört der Alexanderstoff. Zu diesem Thema liegt erst seit 2012 eine umfassende Synthese von Pierre Briant vor: „Alexandre des Lumières. Fragments d’histoire européenne“.³⁸ Der Alexanderstoff diente der Konstruktion einer nicht nur vergangenen, sondern auch künftigen wahrhaft europäischen Geschichte. Mit Alexander und seiner erfolgreichen Reichsgründung sei das Heft des Handelns an die Europäer übergegangen, der Besitz der Herrschaft sei erstmals von den Persern, also vom Orient auf Europa übergegangen. Meistens wird dies als weltge­ schichtliche(s) Wende und Ereignis interpretiert. Für das 18. Jahrhundert und die nähere Zukunft wird gewissermaßen eine Wiederholung als notwendig erachtet, die Vertreibung des Osmanischen Reiches aus Europa. Hierbei wird Russland ei­ ne führende Rolle zugedacht. Anders ausgedrückt: Im Alexanderstoff und seiner Adaptierung an politische Ziele der Gegenwart im 18. Jahrhundert ist für jeden in Europa Platz, der Stoff und die Art seiner Auslegung trägt seinen Teil zur Definition Europas als Kultur im Singular bei. Dafür, das östliche Europa oder Teile davon als ausgesprochenes Fremdbild zu entwerfen, fehlten im 18. Jahrhundert die Motive und wohl auch die Kategorien. Zwischen der eingangs skizzierten, nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Erbe-Kultur und den Kulturdiskursen des 18. Jahrhunderts besteht wohl mehr als nur eine Wahlverwandtschaft. Allerdings war es damals keine machtvolle Touris­ muswirtschaft, die dem Fremden seine Fremdheit nahm, sondern ein komplizier­ tes Flechtwerk von objektivierten Erzählsträngen mit ihren jeweiligen Kategorien der Welterfassung und Parametern, die sich mit subjektiven Erzählungen über­ kreuzten: Noch heilsgeschichtlich fundierte Erzählungen, Antikenerzählungen, Europäisierungserzählungen, menschheitsgeschichtliche Erzählungen und so wei­ ter. Medien hierfür waren nicht nur Texte, sondern ganze Ikonographien mit ihrer Medienvielfalt, sowie symbolische Handlungen. Der homo politicus machte einen Unterschied zwischen den Prägungen aus der Antike in einem bestimmten Raum und dem, was er im 18. Jahrhundert davon noch oder wieder beobachten konnte, aber die Antike und ihre Überreste in Form von Artefakten und Sprache stellten ein Wahrnehmungs- und Deutungsmuster dar, dessen Bedeutung neben der religiös-konfessionellen und der machtpoliti­ schen Gliederung des Raums und darin gründenden Wahrnehmungen wuchs. Die 37 Zrinka Blažević, Ilirizam prije ilirizma [Illyrismus vor dem Illyrismus]. Zagreb 2008; Kurzfas­ sung: Zrinka Blažević, How to revive Illyricum? Political Institution of the ‚Illyrian Emperors‘ in Early Modern Illyrism. In: Heinen, Welche Antike?, Bd. 1, S. 431–444. 38 Pierre Briant, Alexandre des Lumières. Fragments d’histoire européenne. Paris 2012.

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Antike half bei der Re-Inkorporierung noch osmanisch beherrschter Regionen in die Vorstellung von Europa im Singular. Die Hauptfolge dieser Konstellation erwies sich erst in der Kombination mit der Freiheitsthematik der Französischen Revolu­ tion, die der Unterstützung der Freiheitsbestrebungen angeblich oder tatsächlich unterdrückter Völker in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts vorausging. Der eindeutigste Fall ist Griechenland. Nicht unähnlich gelagert waren der polnische und serbische Fall, für die allerdings keine ideale Antike herangezogen wurde, sondern grundsätzlich das Thema der Freiheit und der Volkssouveränität, das noch geraume Zeit die Auswirkungen divergierender Entwicklungen im 19. Jahrhundert, wie sie die unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Industrialisierung und ande­ rer Modernisierungsfaktoren zeitigten, überlagern, ja verdecken konnte. Osteuropa, Balkan und anderes als Fremdbild zu imaginieren macht erst Sinn, wenn eine andere Konstruktion konsolidiert ist – die von Westeuropa, zu der die von „Mitteleuropa“ hinzutritt. Im 19. Jahrhundert werden die sozialen, ökonomi­ schen, staatlichen und politischen sowie rechtlichen Entwicklungen innerhalb Europas ungleichmäßiger, z. T. driften sie auseinander. Dies greifen die genannten Teilraumkonstruktionen auf. Alles in allem scheint Osterhammels Begriff der „Entzauberung“ das Phä­ nomen auch in Bezug auf das östliche Europa ganz gut zu beschreiben, wenn man ihn mit der Ikonographie der Erdteilallegorien und deren zwischenzeitlichem Beinahe-Verschwinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbindet: Diese Ikonographie setzte ins Bild, was Osterhammel „Sinnschätze vormoderner Vielfalt“ nannte, während die politisch-ökonomische Rationalisierung der europäischen Welt diese obsolet und dafür Platz für Schematisierungen machte: Westeuropa, Mitteleuropa, Balkan, Osteuropa.

| Teil I: Polyforme Langfristigkeiten

Marija Wakounig

Zur Perzeption von Sigismund Herbersteins Moscovia im 18. Jahrhundert: Kontinuitäten und Brüche Das vorliegende Thema stammt aus der wissenschaftlichen Werkstatt der Verfasse­ rin, die mit ihren Forschungen an die seit den 1970er Jahren mit unterschiedlicher Intensität am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien betriebe­ nen Herbersteiniana anknüpfen und diese auch zu einem (vorläufigen) Abschluss bringen möchte. Während sich deren Begründer, Walter Leitsch (1926–2010, Uni­ versitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte ebendort 1965–1996), vorwiegend der ersten wissenschaftlichen Edition des bekanntesten Werkes von Sigismund Herberstein, der Rerum Moscoviticarum Commentarii (RMC) oder kurz Mosco­ via widmete¹, und (rund um diese) gemeinsam mit nationalen und internationa­ len Herberstein-Forscher/innen deren Entstehung und Verbreitung im 16. und 17. Jahrhundert untersuchte², blieben die Rezeption und Perzeption der nachfol­ genden Jahrhunderte davon nahezu unberührt. Um den leitmotivischen Aspekten „Kontinuitäten und Brüche“ folgen zu kön­ nen, die den Nachweis einer Perzeption der Moscovia im 18. Jahrhundert ermögli­ chen, ist es notwendig, kurz die Titelperson samt ihrem Oeuvre vorzustellen.

1 Walter Leitsch hat am Institut für Osteuropäische Geschichte u. a. gemeinsam mit Andreas Moritsch (1936–2001) über Sigismund Herberstein und seine Schriften geforscht. Stellvertretend für andere wissenschaftliche Beiträge vgl. Walter Leitsch, Herbersteiniana, in: Jahrbücher für Geschichter Osteuropas, 38/4(1990), S. 548–559; ders., La Moscovia di Sigismund von Herberstein. La scoperta della Russia nel Cinquecento, in: I viaggi di Erodoto, 11/33 (1997), S. 60–69; ders., O rannich perevodach „Moskovii“ Sigizmunda Gerberštejna. In: Istočnnikovedenie i kraevedenie v kul’ture Rossii. Moskva 2000, S. 76–79. 2 Es handelt sich dabei in erster Linie um Anna Leonidovna Choroškevič (Hg.), Sigizmund Gerberš­ tejn, Zapiski o Moskovii. Moskva 2008 sowie um Frank Kämpfer/Eva Maurer/Andreas Fülberth/ Hermann Beyer-Thoma (Hg.), Sigismund von Herbstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii. Synoptische Edition der lateinischen und der detuschen Fassung letzter Hand Basel 1556 und Wien 1557. München 2007. DOI 10.1515/9783110499797-003

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Sigismund Herberstein: Person und Oeuvre Sigismund Herberstein (geboren 1486 in Vipava/Vippacco/Wippach, gestorben 1566 in Wien)³ hat zwischen 1516 und 1553 insgesamt 69 diplomatische Missionen im Dienste der Habsburger absolviert, die ihn u. a. nach Dänemark, Polen, Böh­ men, Ungarn, Siebenbürgen, in die Niederlande, an die verschiedenen Höfe im Heiligen Römischen Reich und last not least zweimal, 1516/1518 sowie 1526/1527, in die Moskauer Rus’ führten, wo er einen Frieden zwischen dem polnisch-litaui­ schen König und dem russischen Großfürsten verhandeln sollte. Von der zweiten Moskau-Reise 1526/1527 bis zum Erscheinen der Moscovia im Jahr 1549 vergingen 22 Jahre: Diese Zeitspanne nützte der vielbeschäftigte Diplomat und umsichtige Präsi­ dent der niederösterreichischen Raitkammer für die Vorbereitung der Drucklegung seiner diplomatischen Finalrelation. Diese sollte in jeder Hinsicht dem Genre der Commentarii-Literatur entsprechen⁴, um ihm den Olymp einer damals modernen und begehrten Gelehrtengesellschaft, nämlich der Humanisten, zugänglich zu machen. Herberstein scheute offenbar keine Mühen und Kosten für die Beschäfti­ gung eines Sekretärs, der seinen lateinischen Bericht sprachlich polierte, ihn mit antiker Literatur anreicherte und das Geschriebene vorab in einer europaweiten Korrespondenz mit Ethnographen, Kartographen und Kosmographen⁵ sicherte und abklärte.⁶ Wie aus den drei (Auto-)Biographien ersichtlich, hat den kinderlosen und sehr eitlen Diplomaten neben seinem Streben nach Anerkennung und Un­ 3 Zur Herkunft und Sozialisierung von Herberstein vgl. Marija Wakounig, Sigismund von Her­ berstein. In: Silvano Cavazza (Hg.), „Divus Maximilianus“. Una Contea per i Goriziani 1500–1619. Gorizia/Mariano del Friuli 2002, S. 175–181 sowie dies., „ . . . hab ich teutsch und windisch ge­ lernnet . . . “ Zur Herkunft und zu den kulturellen Wurzeln von Sigismund von Herberstein. In: Christoph Augustynowicz/Andreas Kappeler/Max Demeter Peyfuss/Iskra Schwarcz/Marija Wak­ ounig (Hg.), Rußland, Polen und Österreich in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Walter Leitsch zum 75. Geburtstag (Wiener Archiv für die Geschichte des Slawentums und Osteuropas 19). Wien/ Köln/Weimar 2003, S. 15–29. 4 Siehe dazu: Christine Harrauer, Die zeitgenössischen lateinischen Drucke der Moscovia Herber­ steins und ihre Entstehungsgeschichte (Ein Beitrag zur Editionstechnik im 16. Jh.), in: Humanistica Lovaniensia/Journal of Neo-Latin Studies, 31 (1982), S. 141–163. 5 Zur Korrespondenz mit der gelehrten Welt vgl. Christiane Harrauer, Sigismund von Herber­ stein als Humanist. Mit der Erstpublikation eines Briefes an Herberstein aus dem Jahr 1535 über die neuen astronomischen Erkenntnisse des Nicolaus Copernicus. In: Frank Kämpfer/Reinhard Frötschner (Hg.), 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii 1549–1999, (Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa 24). Wiesbaden 2002, S. 11–26. 6 Zum Ghostwriter vgl. Marija Wakounig, Lukas Drinak alias iz Dobrepolj alias Gutenfelder alias Bonicampius alias Agathopedius. In: Kurt Mühlberger/Meta Niederkorn-Bruck (Hg.), Die Uni­ versität Wien im Konzert europäischer Bildungszentren 14.–16. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 56). Wien/München 2010, S. 235–244 sowie

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sterblichkeit die moralische Vorbildwirkung für seine Neffen zur Veröffentlichung seines diplomatischen Reiseberichtes getrieben. Die 22-jährige Entstehungszeit mutet angesichts dieser Ambitionen nahezu lässlich an.⁷ Herberstein hat mit der Moscovia, die 1549 erstmalig in lateinischer Sprache in Wien erschien, seinen Ruhm als Entdecker Russlands nachhaltig begründet⁸ und mit der erweiterten sowie publizierten Version seines diplomatischen Berichtes (Finalrelation) über die ferne Terra incognita einen regelrechten Rummel ausgelöst. Dies veranschaulichen die folgenden Auflagen bzw. Übersetzungen und mehr oder weniger offensichtlichen, allerdings selten belegten Entlehnungen seiner Rezipi­ enten: Zwischen 1549 und 1611 wurde die Moscovia 22 Mal in neun europäischen Städten (Wien, Basel, Antwerpen, Frankfurt am Main, Venedig, Prag, Krakau, Lon­ don und Utrecht) und sieben Sprachen (Latein, Deutsch, Italienisch, Czechisch, Polnisch, Englisch und Niederländisch) gedruckt.⁹ Was machte Herberstein zum Entdecker der Terra incognita, oder anders ge­ fragt, was enthielt die Moscovia, das dazu animierte, sie heranzuziehen und zu plagiieren? Der Reisebericht samt Reisemotivation, also die Mission samt Gesandt­ schaftswesen, waren für die Leserschaft vorhersehbar, interessant machten das Werk jedoch die Geschichte Russlands, der Herrscherfamilie und seiner Bewohner/ Ethnien¹⁰, die Religion sowie die Chorographie, mit der erstmals eine Beschreibung der Geographie des Moskauer Staates und seiner Nachbarländer im Uhrzeigersinn

dies., Lukas Gutenfelder: ein Humanist als Universitätslehrer und akademischer Multifunktionär, In: Friedrich Edelmayer (Hg.), Plus ultra. Die Welt der Neuzeit, Festschrift für Alfred Kohler zu 65. Geburtstag. Münster 2008, S. 279–288. 7 Vgl. Harald Tersch, Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (1400–1650). Eine Darstellung in Einzelbeiträgen. Wien/Köln/Weimar 1998, S. 193–213 sowie Karl A. Enenkel, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius. Berlin/New York 2008. 8 Der deutsch-russische Jurist, Friedrich Adelung (1768–1843) hat 1818 Herberstein als „zweite[n] Entdecker Russlands“ bezeichnet; den ersten Rang wies er Maciej z Miechowita (1457–1523), einem Krakauer Renaissancegelehrten zu, der 1517 den Tractatus de duabus Sarmatis Europiana et Asiana, publizierte und zu einem Belegwerk für Herbersteins Moscovia avancierte. Siehe dazu: Friedrich Adelung, Sigismund Freiherr von Herberstein. Mit besonderer Ruecksicht auf seine Reisen in Russland. St. Petersburg 1818, S. 368. 9 Walter Leitsch, Herberstein’s Impact on the Reports about Muscovy in the 16th and 17th Centu­ ries: Some Observations on the Technique of Borrowing, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 24 (1978), S. 163–177; Marschall Poe, Herberstein and the Origin of the European Image of Muscovite Government. In: Kämpfer/Frötschner, 450 Jahre Sigismund Herbertseins, S. 131–172, hier S. 145; vgl. dazu auch: Choroškevič, Gerberštejn, S. 389–391. 10 Siehe dazu: Andreas Kappeler, Herberstein als Ethnograph: Die Nichtrussen des Moskauer Rei­ ches und an dessen Grenzen in der „Moscovia“. In: Ausgustynowicz/Kappeler/Peyfuss/Schwarcz/ Wakounig, Russland, Polen und Österreich in der Frühen Neuzeit, S. 61–74.

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von Moskau ausgehend vorlag. Ein Drittel des Buches ist somit geographischen Inhalts.¹¹ Zur europaweiten Verbreitung der Moscovia trug u. a. auch der britische Po­ et George Turberville (Turbervile, 1540/43–vor 1597) bei, der 1568 den Gesand­ ten Thomas Randolph (1523–1590) nach Moskau begleitete,¹² im Zuge dessen mit Herbersteins Werk in Berührung kam und den euphemistischen Referenz-Vers dichtete: If you list to know the Russes well, To Sigismundus’ book repair, who all the truth can tell.¹³

Diesen Ratschlag beherzigten etliche Moskau-Reisende (wie Diplomaten, Seefah­ rer, Literaten, Soldaten und Händler). Deren Berichte, zwischen 1578 und 1702 ver­ fasst, können – sehr positiv formuliert – eine „Beeinflussung“ durch Herberstein nicht verbergen.¹⁴ Bemerkenswert dabei ist zum einen, dass es sich mehrheitlich um Diplomaten bzw. um Personal aus dem Umfeld des diplomatischen Diens­ tes handelt und zum anderen, dass sich die Verfasser ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwar verdichtet anderer Reiseberichte bedienten, für eventuelle Überprüfungen jedoch auf solche aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück­ griffen.¹⁵ Dies könnte bereits ein Hinweis auf die in Mode kommende Beschäftigung mit den Historischen Hilfswissenschaften sein.¹⁶ Die Frage, was von Herbersteins Moscovia im 18. Jahrhundert blieb, ist le­ gitim, zumal sie als Reisebericht wenn schon nicht überholt, so doch nicht mehr aktuell und/oder interessant war. Sie diente ab ihrem Erscheinen Mitte des 16. Jahrhunderts bis etwa 1700 als willkommene Quelle und Nachschlagewerk

11 Zur Auffächerung der Themenbereiche und Schwerpunkte vgl. u. a. Leitsch, Reiseberichte, S. 160 f. 12 Zu Turberville und Randolph siehe u. a.: Lloyd E. Berry/Robert O. Crummey, Rude and Barba­ rous Kingdom. Russia in the Accounts of Sixteenth-Century English Voyagers. Wisconsin 1968. Ferner: Jane Farnsworth, To Russia without Love. George Turberville as Resistant Traveller.In: Helen Ostovich/Mary V. Silcox/Graham Roebuck (Hg.), The Misterious and the Foreign in Early Modern England. Cranbury 2008, S. 75–88. 13 http://special.lib.gla.ac.uk/exhibns/month/aug2007.html, (Zugriff: 03.05.2013). Siehe dazu auch: Poe, Herberstein, S. 146; Daryl W. Palmer, Writing Russia in the Age of Shakespeare (Studies in European Cultural Transmission Series 204). Michigan 2004. 14 Vgl. dazu: Leitsch, Impact, S. 166; ders., Reiseberichte, S. 163; Poe, Herberstein, S. 146–148 insb. die Tabellen 3 und 4. 15 Zu den Berufen und Verdichtung von Berichten im 17. Jahrhundert vgl. Leitsch, Reiseberichte, S. 163 sowie Poe, Herberstein, S. 148. 16 Siehe dazu: Eckart Henning, Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaf­ ten und ihren Wechselbeziehungen. Köln/Weimar/Wien 2 2004, S. 28–40.

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für Erzählungen, Argumente und Nachweise über Russland, vor allem aber als eine Art Leitfaden für den diplomatischen Dienst. Das Vertrauen in die Moscovia wuchs mit den Jahren proportional zur schwindenden Rezeption und daraus resultierenden Perzeption.¹⁷ Denn mittlerweile (um 1650) waren andere, mo­ dernere und sensationellere Berichte entstanden, die den vielfach aufgelegten und mehrfach übersetzten Bestseller aus dem 16. Jahrhundert teilweise vom Markt der Wahrnehmung verdrängt hatten. Herberstein wurde in Europa vor allem durch die Linse seiner Rezipienten wahrgenommen: Im deutschsprachi­ gen Raum in erster Linie durch Adam Olearius (1603–1671)¹⁸, dessen Werk „Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Rejse“¹⁹ aus dem Jahr 1647 dank der spannenden Erzählkunst, der reichen Illustrationen und der Deutsch­ sprachigkeit sehr verbreitet war, bereits 1656 seine zweite Auflage erlebte und somit für die Moscovia eine ernsthafte Konkurrenz bedeutete.²⁰ Im angelsäch­ sischen Raum waren es die Bücher von Giles Fletcher (1546–1611)²¹ und Jerome Horsey (1573–1627)²², die die Leserschaft fesselten – auch dank der plagiierten Moscovia. Allerdings transportierte die Moscovia sowohl zeitlose (= Kontinuitäten), als auch revitalisierungstaugliche (= Brüche) Inhalte²³; letztere wurden von den Rezipienten erst am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert als solche wahrgenommen.

17 Leitsch ist generell der Meinung, dass Etliches aus der Moscovia bis ins 17. Jahrhundert aktuell blieb. Leitsch, Impact, S. 169. 18 Siehe dazu: Claus Priesner, Olearius, Adam. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19: NauwachPagel. Berlin 1999, S. 517–519. 19 Adam Olearius, Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Rejse So durcd Gelegne­ heit einer Holsteinischen Legation an den König in Persien geschehen [. . . ]. Schleßwig 1647; ders., Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse [. . . ]. Schleßwig 1656. 20 Siehe dazu u. a.: Astrid Blome, Das deutsche Rußlandbild im frühen 18. Jahrhundert. Untersu­ chungen zur zeitgenössischen Presseberichterstattung über Russland unter Peter I. (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 57). Wiesbaden 2000, S. 71 f. Zur Verdrängung von Herberbert­ seins Moscovia ab 1650 vgl. Leitsch, Impact, S. 171. Diese Meinung vertrat Leitsch später nicht mehr mit Vehemenz, bzw. korrigiert sie und meinte, dass viele auf Herbersteins Moscovia dann zurückgriffen, wenn diese von Olearius zitiert wurde. Ebenda, S. 175. 21 Giles Fletcher, Of the Russe Commen Wealth or Mann of Gouernement of the Russe Emperour, [. . . ]. London 1591. 22 Jerome Horsey, Travels (written 1573–1621). In: Lloyd E. Berry/Robert O. Crummey (Hg.), Rude and Barbarous Kingdom. Russia in Accounts of the Sixteenth-Century English Voyagers. Winscon­ sin 1968, S. 262–372. 23 Zur Vertrauenswürdigkeit der Inhalte vgl. Leitsch, Impact, S. 167.

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Zu den Kontinuitäten oder zur Zeitlosigkeit der Moscovia Absolutismus, Despotismus, Sklaverei und Quasi-Gottheitsstatus des russischen Herrschers – diese vier Attribute können gleichsam als roter Faden durch alle Berichte über Russland und dessen Herrscher bis zum 18. Jahrhundert und dar­ über hinaus ausgemacht werden.²⁴ Die zeitlosen Charakteristika bahnten sich über die Moscovia via Rezipienten ihren Weg an die Öffentlichkeit und generierten die Stereotypen über die ferne Macht und ihre Machthaber im Nordosten Europas. Hinzu gesellten sich (Vor-)Urteile über angeblich speziell russische Eigenschaften wie Rohheit, wenn nicht geradezu Unzivilisiertheit und Trunksucht. Man kann zwar Herberstein nicht freisprechen und behaupten, erst seine Rezipienten hätten insbesondere durch die semantische und piktoral ausschmückende suggestive Darstellung (wie beispielsweise Olearius) zur Entstehung einer stereotypen Erin­ nerungskultur beigetragen, doch man kann ihn auch nicht als Schuldigen an der raschen Verbreitung dieser Vor-Urteile und Verunglimpfungen Russlands ausma­ chen, wie es seit dem 18. Jahrhundert bis heute immer wieder geschieht.²⁵ Zu den Evergreens der Moscovia gehören auch Passagen über die Orthodoxie und den diplomatischen Dienst. Erstere deswegen, weil es Herberstein gelungen war, einige Fehlinterpretationen auszuräumen, vor allem aber das Bild von den tiefreligiösen Russen nachhaltig zu prägen²⁶; letztere, weil er aus Erfahrung ei­ ne praktische Anleitung darüber verfasste, „Wie [in Russland] die Botschafter empfangen und gehalten werden“²⁷. Wiewohl empirisch noch nicht vollständig nachgewiesen, darf angenommen werden, dass die Ausführungen Herbersteins

24 Siehe dazu: Poe, Herberstein, S. 152 f. 25 Blome macht zurecht darauf aufmerksam, dass sowohl Herberstein als auch Olearius in der Forschung häufig mit zeitbedingten Vorurteilen interpretiert wurden. Vgl. Blome, Deutsches Rußlandbild, S. 14. 26 Die Schildungen über die Religion bei den Russen nehmen bei Herbersteins etwa 14 Prozent ein und gehören zu den führenden Themen. Zur prozentuellen Verteilung der Themen in der Moscovia vgl. u. a. Leitsch, Reiseberichte, S. 161; ders., Impact, S. 170; Frank Kämpfer, Sigismund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ als religionsgeschichtliche Quelle. In: Gerhard Pferschy (Hg.), Siegmund von Herberstein. Kaiserlicher Gesandter und Begründer der Rußlandkunde und die europäische Diplomatie (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Archivs 17). Graz 1989, S. 147–164; Blome, Deutsches Rußlandbild, S. 25, 71 und 92. 27 Siehe dazu: Walter Leitsch, Nachwort. In: Sigmund von Herberstein, Das alte Rußland. In Anlehung an die älteste deutsche Ausgabe aus dem Latenischen übertragen von Wolfram von den Steinen; mit einem Nachwort von Walter Leitsch, Zürich 2 1985, S. 345–372. Seiten 293–341 sind dem diplomatischen Dienst gewidmet.

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bis etwa Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts für Gesandtschaftsmissionen nach Russland herangezogen wurden.²⁸ Ebenfalls noch untersucht wird, inwieweit die Herberstein’sche Betriebsanleitung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Eingang in die Entwicklung der Zeremonialwissenschaft²⁹ gefunden hat.³⁰

Zu den Brüchen oder Zur Herkunft der Russen Die Theorie über die Herkunft der Russen bzw. die Waräger- oder Normannen­ theorie erlebte am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert ein brüchiges Revival und mutierte zu jenen Inhalten der Moscovia, die (Fremd-)Bilder zu evozieren im Stande war und auch zu einer folgenreichen Auseinandersetzung innerhalb der Gelehrtenwelt führte. Als Indikatoren für die zwar schwache, aber immerhin wieder zunehmende Perzeption der Moscovia in den ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts sind in gegenseitiger Wechselwirkung die Kartographie, die Ethnographie, die Histori­ schen Hilfswissenschaften, die Zeremonialwissenschaft und das neu erwachte Interesse Europas an Russland zu sehen. Im Zuge des Siegs Peters I. (des Großen, 1672–1725) gegen die Osmanen bei Azov 1696 wurde beispielsweise der Russland­ bericht von Olearius neu aufgelegt.³¹ Die erste Westeuropareise (die sogenannte Große Gesandtschaft) des russischen Herrschers (1697/98) holte sprichwörtlich auch Herbersteins Moscovia aus der Versenkung, denn der Gelehrte Christian Stieff (1675–1751) musste sich mangels anderer verfügbarer Quellen im Jahr 1706 in seiner

28 Iskra Schwarcz, Die kaiserlichen Gesandten und das diplomatische Zeremoniell am Moskauer Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Ralph Kauz/Georgio Rota/Jan Paul Niederkorn (Hg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit (Archiv für österreichische Geschichte 141). Wien 2009, S. 265–286. 29 Abraham von Wicquefort, L’Ambassadeur oder Staatsbothschafter und dessen Fonctions und Staatsverrichtungen. Frankfurt am Main 1682; Johann Christian Lünig, Theatrum ceremoniale his­ torico-politicum [. . . ] 1. Leipzig 1719; Gottfried Stieve, Europäisches Hof=Ceremoniel [. . . ]. Leipzig 2 1723. 30 Siehe dazu u. a.: Christian Steppan, Kaiserliche Gesandte und ihre Annäherungspolitik durch die Kraft der Gesten. Der symbolische Startschuss zum österreichisch-russischen Büdnis von 1726. In: Gunda Barth-Scalmani/Joachim Bürgschwentner/Matthias König/Christian Steppan (Hg.), Forschungswerkstatt: Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert/Research Workshop: The Habsburg Monarchy in the 18th Century. Bochum 2012, S. 27–41, hier S. 30. 31 Blome, Deutsches Rußlandbild, S. 16. Olearius scheint, wohl auch wegen der zeitlichen Nähe im 18. Jahrhundert weit mehr rezipiert worden zu sein als Herberstein. Vgl. Ebenda, S. 71.

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„Relation von dem gegenwärtigen Zustande des Moscowitischen Reichs“ u. a. auf Herberstein und auch Olearius stützen.³² Tatsächlich wahrnehmend auswirken sollte sich jedoch die so genannte Nor­ mannen- oder Waräger-Theorie, d. h. die Frage, ob die Russen normannischer (skandinavischer) oder slawischer Herkunft gewesen seien.³³ Die Diskussionen darüber entbrannten nicht erst mit der konzipierten und nie gehaltenen Rede des an der Petersburger Akademie tätigen deutschen Ethnographen Gerhard Friedrich Müller (Fedor Ivanovič Miller, 1705–1783) über De origine genetis et nominis Rus­ sorum aus dem Jahr 1749, sondern längst davor. Müller setzte praktisch – bewusst oder unbewusst³⁴ – nur das wissenschaftlich-trockene Zuckerstreusel auf einen schwelenden Konflikt. Bereits Herberstein hatte in seiner Moscovia überlegt, ob die Russen nicht von Warägern oder Wagrieren abstammen würden.³⁵ Seine Überlegungen hinsicht­ lich der Herkunft der Waräger können als interessanter Verschnitt verschiedener schriftlicher und mündlicher Quellen mit letztlich eigenwilliger Interpretation ausgelegt bzw. gesehen werden. Der Diplomat hatte wahrscheinlich bei seinem zweiten Aufenthalt in Moskau Zugang zu Abschriften der Nestorchronik aus dem

32 Näheres dazu bei Emmy Moepps, Stieffs „Relation von dem gegenwärtigen zustande des Moscowitischen Reichs“ und ihr Platz im Umfeld von Presse und propaganda. In: Mechthild Keller/Lev Kopelev (Hg.), Rußen und Rußland aus deutscher Sicht und Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert, Bd. 2: 18. Jahrhundert: Aufklärung. München 1987, S. 59–83, hier S. 82 f. 33 Gudrun Bucher, „Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Völker.“ Die Instruktion Ger­ hard Friedrich Müllers und ihre Bedeutung für die Geschichte der Ethnologie und der Geschichts­ wissenschaft (Quellen und Studien zur Geschichte der östlichen Europa 63). Stuttgart 2002, S. 133. Zu weiteren Gründen siehe Konstantin Kaminskij, Der Normannenstreit als Gründungsschlacht der russischen Geschichtsschreibung. Zur Poetik wissenschaftlicher Anfangserzählungen. In: Thomas Wallnig/Thomas Stockinger/Ines Peper/Patrick Fiska (Hg.), Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession. Berlin/New York 2012, S. 553–581, hier S. 555 f. 34 Zu den möglichen Intentionen vgl. die interessanten Ausführungen von Kaminskij, Norman­ nenstreit, S. 571–578. 35 Siehe dazu: Sigismundus Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii [. . . ]. Basileae 1571, unveränd. Nachdruck. Frankfurt am Main 1964, S. 3. Vgl. dazu auch die selbst besorgte Übersetzung von Birgit Scholz, Die Warägerfrage in der deutschen Historiographie um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Dittmar Dahlmann (Hg.), Die Kenntnis Russlands im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert (Internationale Beziehungen – Theorie und Geschichte 2). Bonn 2006, S. 201–228, hier S. 209 f. sowie die diesbezügliche Übersetzung von Wolfram von den Steinen, die dieser nach den RMC-Ausgaben von 1549 (Wien) und 1556 (Basel), beide lateinisch, sowie der von Herberstein selbst besorgten Übersetzung ins Deutsche aus dem Jahr 1557 (Wien) publiziert hat: Herberstein, Das alte Rußland, S. 28–31. Auf diese Übersetzung bezieht sich auch Bucher. Vgl. Bucher, Beschreibung, S. 48.

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12. Jahrhundert³⁶, die eine skandinavische Herkunft der Waräger und somit auch deren wesentliche Beteiligung an der Ethnogenese der Russen und der herrschen­ den Dynastie im 9. Jahrhundert nahelegte.³⁷ Bezüglich der Lokalisierung der Warä­ ger erwies sich Herberstein nach eingehendem Abwägen und der Adaption der damals herrschenden Meinung als kreativ und präsentierte zwei Möglichkeiten, die er mit der Gleichsetzung der Ostsee und des Baltischen Meeres auch als Warägersee bzw. Varetskoe more (Vuaretzokoie morie) argumentierte: Die feinen Unterschiede lagen dabei in der Reihenfolge und in der Benennung, die Auskunft darüber ge­ ben, dass er zunächst der Normannentheorie (Schweden, Dänen oder Preußen), also den skandinavischen Warägern, den Vorzug vor der Vandalen- bzw. Wenden­ theorie, den holsteinisch-slavischen Wagriern, gab.³⁸ Die anderssprachigen und andersgläubigen warägischen Rurikiden seien laut Herberstein als Dynastie zeit­ verzögert – nach einem internen Streit der Russen – ins Land und zur Herrschaft „berufen“ worden.³⁹

36 Zur Nestorchronik, die nach dem Mönch der Kiever Höhlenklosters aus dem 12. Jahrhundert benannt ist, vgl. die kommentierte, nach verschiedenen Handschriften rekonstruierte und ins Deutsche übersetzte Nestorchronik von Ludolf Müller (Hg.), Handbuch zur Nestorchronik. Die altrussische Chronik [. . . ](Forum Slavicum 56/4). München 2001, S. 19 f. Hier wird auch Bezug auf die Waräger genommen. Als Vergleich siehe die Auslegungen von Scholz, Warägerfrage, S. 203. Zum möglichen Entstehungsgrund der Nestorchronik siehe Dmitrij Lichačev, The Legend of the Calling-in of the Varangians and Political Purposes in Russian Chronicle-Writing from the Second Half of the 11th to the Beginning of the 12th Century. In: Knud Hannestad (Hg.), Varangian Problems. Report on the First International Symposion on the Theme „The Eastern Connections of the Nordic Peoples in the Viking Period and Early Middle Ages“, Moesgaard-University of Aarhus, 7–11th October, 1968 (Scando-Slavica 1). Kobenhavn 1970, S. 170–187. 37 Es ist schon aus chronologischen Gründen auszuschließen, wie Scholz spekulativ nahelegen möchte, dass Herberstein die Überlegungen, die zum „Stufenbuch der zarischen Genealogie“ (Kni­ ga stepennaja carskogo rodoslovija, in: Polnoe sobranie russkich letopisej, Bd. 21. St. Petersburg 1908–1913, S. 1 f., Nachdruck Düsseldorf/Vaduz 1970) aus der Zeit Ivans IV. Groznyj, führten, in seiner Moscovia verarbeitet hätte. Das „Stufenbuch“ deutete ebenso wie die „Synopsis“ aus dem Jahr 1674 bzw. 1681 die Geschichte um: Im Stufenbuch wurde die Verwandtschaft der Rurikiden mit dem römischen Kaiser Augustus behauptet, in der Synopsis eine biblisch-slavische Herkunft der Waräger konstruiert. Vgl. dazu: Scholz, Warägerfrage, S. 206–209. Rezentes zum Stufenbuch bei Gail Lenhoff, The Construction of Russian History in Stepennaja kniga, in: Revue des études slaves, 75/1 (2005), S. 31–50. 38 Sowohl Bucher als auch Scholz haben den Satz über die Herkunft (Herberstein, Rerum Mosco­ viticarum Commentarii, 3) zu eng interpretiert; die nachvollziehbaren Schlüsse hat Bucher gezo­ gen. Bucher, Beschreibung, S. 48 f.; Scholz, Warägerfrage, S. 209 f. 39 „[A]d haec, quod Vuandali ea tempestate potentes erant, Rhutenorum denique lingua, moribus atque religione utebantur: videntur itaque mihi Rutheni ex Vuagriis, seu Vuaregis potius, princi­ pes suos evocasse, quam externis, et a religione sua, moribus, idiomateque diversis, imperium detulisse.“ Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii, S. 3.

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Im 17. Jahrhundert hatte der schwedische Gesandte Peter Petrejus de Erlesun­ da (Peer Peersson, 1570–1622) für seinen Bericht Regni Muschowitici Sciographia (1615) Nachforschungen aufgenommen und die bei Herberstein erwähnte Norman­ nentheorie mit Angaben aus skandinavischen Chroniken erhärtet.⁴⁰ Die zweite Auslegung von Herberstein, die holsteinischen Wagrier- oder Vandalen-WendenTheorie zum einen, und die Schweden-Theorie von Petrejus zum anderen gerieten zu Beginn des 18. Jahrhunderts somit in den Fokus der politisch motivierten Ge­ schichtsschreibung im Nordosten Europas. Zwischen der russischen Zaren-Dynastie und den fürstlichen Familien Hol­ stein-Gottorp, Braunschweig-Wolfenbüttel sowie Mecklenburg-Schwerin war es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu mehreren Heiratsverbindungen (1711, 1716 und 1725) gekommen, infolge deren man Genealogien verfasste, die eine Verwandt­ schaft zwischen diesen zu beweisen trachteten.⁴¹ Bei den Recherchen stieß man auch auf die in diesem Zusammenhang hoch willkommene holsteinisch-slavische Wagrier-Theorie von Herberstein. Was lag näher, als diese aus politisch-dynasti­ schen Gründen zu propagieren und in verschiedenen Schriften zu determinieren? Eine ähnliche politische Instrumentalisierung widerfuhr der petrejischen Warä­ ger-Theorie in Schweden, wo man im 17. Jahrhundert nach dem Frieden von Oliva 1660 die Vormachtstellung im Ostseeraum mit einer verherrlichenden, weit in die Vergangenheit zurückreichenden Geschichtsschreibung historisch zu beweisen versuchte und argumentierte, dass Russland Teil „des schwedischen Großreiches gewesen [. . . ] und von einer schwedischen Dynastie beherrscht worden sei“.⁴² Der Ausgang des Nordischen Krieges (Frieden von Nystadt 1721) brachte einen Übergang der Vormachtstellung im Ostseeraum von Schweden auf Russland und im Zuge dessen auch eine Verfestigung der vorgefassten Theorien. Für Russland als Siegermacht war die holsteinisch-slavische⁴³ Wagrier-Theorie viel angenehmer als die Waräger-Theorie, die eine skandinavisch-normannische Wiege des Imperiums und seiner ersten Dynastie nahelegte. Allerdings schlug sich dies mit den Erkenntnissen der kritischen Geschichts­ wissenschaft, die mit der Methode der Quellenkritik die vorhandenen schriftlichen

40 Scholz, Warägerfrage, S. 211. Siehe dazu: Petrus Petreius de Erlesunda, Historien und Bericht. Von dem Großfürstenthumb Muschkow [. . . ]. Lipsiae [Leipzig] 1670, S. 139–141. 41 Im Jahr 1711 ehelichte Aleksej Petrovič Charlotte Christine Sophie von Braunschweig-Lüneburg, 1716 folgte die Heirat zwischen Katarina Ivanovna (Nichte von Peter I.) mit Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin und 1725 schließlich fand die Eheschließung zwischen der Tochter Peters I., Ana Petrovna mit Karl Friedrich von Holstein-Gottorp statt. Scholz, Warägerfrage, S. 212 f. 42 Ebenda, S. 215, auch Anm. 38. 43 Zur slavisch dominierten Herkunftstheorie, die von der St. Petersburger Akademie der Wissen­ schaften um 1740/1760 favorisiert wurde, vgl. Bucher, Beschreibung, S. 134.

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Quellen überprüfte und auch linguistische Forschungen anstellte.⁴⁴ Bereitgestellt wurden die Quellencorpora den deutschsprachigen Wissenschaftlern Gottlieb Siegfried Bayer (1694–1738), seinem bereits erwähnten Schüler, Gerhard Friedrich Müller (1705–1783)⁴⁵, und später auch dem wissenschaftlichen Ziehsohn von Mül­ ler, August Ludwig Schlözer (1735–1809, Editor der Nestorchronik)⁴⁶, just durch die 1725 gegründete St. Petersburger Akademie der Wissenschaften.⁴⁷ Anlässlich eines Festaktes der Akademie für Zarin Elisabeth im Jahr 1750 plante Müller eine Rede über die „denkwürdigsten Ereignisse der russischen Geschichte“. Warum er sich letztlich wenig diplomatisch auf die „origines gentis et nominis Russorum“ (Ursprünge der Russen und ihres Namens) beschränkte, ist nicht eru­ ierbar.⁴⁸ Seine Ausführungen über die warägische Herkunft, d. h. die Erklärung des russischen Namens mit dem finnischen „ruotsi“⁴⁹ für Schweden, seine An­ nahme „von einer gewaltsamen Eroberung und planmäßigen Kolonisierung des russischen Gebietes durch warägische Siedler“, seine Erwähnung der skandinavi­ schen Quellen und schließlich seine Herleitung des Ethnonyms „Waräger“ vom skandinavischen Wort war für Krieg löste bei den vorab begutachtenden Akademie­ mitgliedern fast möchte man sagen einen (nationalen) Federkrieg innerhalb der res publica litteraria aus.⁵⁰ Der rhetorisch geschulte berühmte russische Gelehrte, Michail Vasil’evič Lomonosov (1711–1756), nützte die Gelegenheit geschickt aus, dem ausländischen, an der Akademie tätigen Ethnographen Müller⁵¹ unlautere Motive zu unterstellen und bei der argumentativen Verwerfung der normannischen

44 Zur Entwicklung der Wagrier-Waräger-These vgl. Scholz, Warägerfrage, S. 217–222. 45 Müller war seit 1725 an der Petersburger Akademie der Wissenschaften beschäftigt. Ebenda, S. 203. 46 Vgl. dazu die in jeder Hinsicht gewichtige Biographie von Schlözer, verfasst von Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809) (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit, Marburger Beiträge 6). Münster-HamburgLondon 2003; ferner: Martin Peters/Dirk Winkelmann, Netzwerk aus Kalkül. Die Karriere August Ludwig Schlözers in St. Petersburg. In: Dahlmann, Die Kenntnis Russlands, S. 125–138. 47 Scholz, Warägerfrage, S. 222 f. 48 Kaminskij, Normannenstreit, S. 573, 576 f. 49 Tatiščev zum Beispiel schlug vor, die Waräger als Finnen zu sehen. Siehe dazu: Bucher, Beschreibung, S. 134. 50 Kaminskij, Normannenstreit, S. 565–570. 51 Zur Feindschaft zwischen Müller und Lomonosov siehe die kurze Erwähnung bei Gudrun Bucher, Auf verschlungenen Pfaden. Die Aufnahme von Gerhard Friedrich Müllers Schriften in Europa. In: Dahlmann, Die Kenntnis Russlands, S. 111–123, hier S. 114. Ausführlicher dazu: Kaminskij, Normannenstreit, S. 572–579.

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Abstammung der Russen das Ansehen Russlands in die Waagschale zu legen⁵²: „Hierbei gebe ich denen, die der Politik kundig sind, zu bedenken, ob es dem Ruhme des russischen Volkes nicht abträglich ist, wenn sein Auftreten und sein Name auf einen so späten Zeitpunkt festgelegt werden und die ferne Vergangen­ heit verworfen wird, in der andere Völker für sich Ehre und Ruhm suchen.“ Müller verstand die politische Botschaft von Lomonosov nicht, die vor „dem Hintergrund der Behandlung der Warägerfrage im Ausland, vor allem in Schweden“ nachvoll­ ziehbar erschien und meinte, ob dieser denke, „dass es vom Willen des Historikers abhängt, zu schreiben, was er möchte? Woher nimmt er diese Regel, dass man das verschweigen soll, was nicht zum Ruhm beiträgt?“⁵³ Herbersteins Herkunftstheorien der Russen, erstmals dargelegt in der Erst­ ausgabe der lateinischen Moscovia Mitte des 16. Jahrhunderts, wurden zwei Jahr­ hunderte später zum Gegenstand akademisch-politischer Kontroversen darüber, ob und welche Fremd-Bilder man über eine Ethnie, sowie deren Ethnogenese und Staatswerdung konstruieren darf oder nicht. Sie trugen dem Wirkenden, also Müller, Feindlichkeiten ein, und (noch) nicht dem Verursacher Herberstein, der so geschickt gewesen war, der Nachwelt zwei Alternativen über die Herkunft der Russen präsentiert zu haben. Kurz zusammenfassend ist folgendes festzuhalten: Sigismund Herberstein hat mit seinen Rerum Moscoviticarum Commentarii ein einzigartiges und informa­ tives Nachschlagewerk über die bis dahin als Terra incognita wahrgenommene Moskauer Rus’ – sozusagen mit den Augen eines Fremden für interessierte Frem­ de – geschaffen. Bis etwa 1670 plagiierten seine Rezipienten europaweit teilweise schamlos aus den verschiedenen Auflagen und Übersetzungen der Moscovia vor allem bei den Abschnitten über den Absolutismus, den Despotismus, die Sklaverei oder den Quasi-Gottheitsstatus des russischen Herrschers. Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts geriet das Herberstein’sche Werk wegen der erstarkten Wahr­ nehmung Russlands zunehmend in den Fokus von Kartographen, Ethnographen, Historiographen und Quellenkundlern, also Wissenschaftlern, die beispielsweise Angaben über die Landesbeschreibung der Moskauer Rus’, in erster Linie jedoch über die Ethnogenese der Russen kritisch zu hinterfragen begannen, somit aus­ gewählte Themen der Moscovia wieder belebten und dabei neue Fremd-Bilder und Fremd-Wahrnehmungen schufen. Der Gelehrtenstreit zwischen Müller und Lomonosov darf somit auch als Konfrontation zweier Wissens- und Wissenschafts­ traditionen gewertet werden. 52 Lomonosov fragte Müller: „[. . . ] ob aus der Annahme, dass Rjurik und seine Nachkommen, die in Russland herrschten, aus schwedischem Geschlecht waren, nicht eine gefährliche Folgerung gezogen werden könnte?“. Zit. nach Scholz, Warägerfrage, S. 225. 53 Zit. nach ebenda, S. 226.

Magdalena Andrae

Kulturen in Begegnung: Reisende im Reich Peters des Großen In den Jahren der Herrschaft Zar Peters I. vollzieht sich in einigen Bereichen ver­ stärkt eine Hinwendung zum westlichen Europa,¹ so auch auf der Ebene der kultu­ rellen Begegnung. Anhand zweier Reiseberichte, die die Jahre 1698–99 und 1714–19 abdecken und im Zuge diplomatischer Gesandtschaften entstanden sind, zeigt sich ein deutliches Wechselspiel von Angleichung und Abstand der Kulturbereiche „Russland“ und „Westen“. Innerhalb der fünfzehn Jahre, die zwischen Johann Ge­ org Korbs „Tagebuch der Reise nach Rußland“² (oder auch Diarium itineris in Mosco­ viam. . . , da das Werk 1701 tatsächlich noch in lateinischer Sprache herausgegeben wurde) und Friedrich Christian Webers „Das veränderte Rußland“ liegen, verrin­ gerte sich dieser wahrgenommene Abstand der beiden Kulturen teilweise noch weiter, teils bestätigen sich für den Reisenden Bilder, die bis ins 16. Jahrhundert zu­ rückgingen. Dabei sollte beachtet werden, dass im Vergleich zum Russländischen Reich nicht nur dieses, sondern auch Europa von den Reisenden als eine Kultur verstanden wurde, deren Heterogenität durch die markante Unterscheidung zum Fremden zu einer einheitlichen Identität verschmolz. Es ist nicht möglich, aus den Reiseberichten „den Russen“ oder „den Westeuropäer“ zu extrahieren, wenn es um die Beschreibungen von zwei spezifischen Personen, hier Johann Georg Korb und Friedrich Christian Weber, geht. Diese beobachteten auf ihren Reisen Ver­ haltensweisen einzelner Personen oder Situationen, interpretierten sie auf Basis ihres Wertesystems, das sich aus Weltanschauung und Hintergrundwissen zusam­ mensetzte und formulierten daraus einen für sie geschlossenen, anschaulichen Volkscharakter. Es soll nun im Folgenden gezeigt werden, mit welchen Mitteln ein Aufeinandertreffen von Teilnehmern verschiedener Kulturen beschrieben werden kann, wie stark der Blick vom Eigenen auf das Fremde in einer solchen Begegnung eine Distanzierung schafft und wie dynamisch sich dabei Fremdwahrnehmung gestalten kann. Als Referenzpunkt wurde die Petrinische Wende genommen, wel­

1 Diese Hinwendung war etwa durch den Bau von Petersburg, dem Fenster zum Westen, oder auch durch den Krieg gegen Schweden großteils strategisch geplant. 2 Teils stützte sich Korb in seinen Darstellungen auf eigene Erfahrungen, teils Erzählungen Patrick Gordons und anderer Ansässiger; teils entnahm er die Information aus der diplomatischen Korrespondenz, wobei er einige wichtige Informationen außen vor ließ, um der Wiener Diplomatie nicht zu schaden. DOI 10.1515/9783110499797-004

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che von den Außenstehenden fassbar zu machen versucht wurde. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die abendländische Norm vom Berichterstatter auf sein Gegenüber angewandt und immer als wahr und richtig empfunden wurde. Interessant waren damit für den Beobachter vor allem die Abweichungen von dieser Norm, die für die Leserschaft festgehalten wurde.

Zur Entstehung der Reiseberichte Sowohl Johann Georg Korb als auch Friedrich Christian Weber suchten das Russ­ ländische Reich im Zuge diplomatischer Missionen auf: Johann Georg Korb kam als Gesandtschaftssekretär 1698 nach Moskau, die diplomatische Reise wurde von Ignaz Christoph von Guarient im Auftrag Kaiser Leopolds I. geleitet. Er verweilte gesamt fünfzehn Monate in Moskau, hatte dabei die Korrespondenz mit Wien als Aufgabe und kehrte im September 1699 nach Wien zurück. Heute ist sein Bericht auch deswegen bekannt, da er die einzige Augenzeugenbeschreibung des Vor­ gehens Peters gegen die aufständischen Strelitzen eines westlichen Besuchers darstellt.³ Friedrich Christian Weber war ab 1714 im Russländischen Reich tätig; er verfüg­ te neben den Sprachkenntnissen auch über einiges Vorwissen über sein Zielland: neben Korbs Tagebuch und dem grundlegenden Werk Herbersteins aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts hatte er sich wohl auch eingehend mit der Lektüre von Adam Olearius (1633–39), Peter Petrejus, John Perry und Augustin Freiherr von Meyerberg (1675) auseinandergesetzt. In St. Petersburg hielt er sich, abgesehen von einigen Unterbrechungen, von 1714–19 auf, reiste jedoch auch in umliegende Ge­ biete. Allein angesichts der Reisedauer hatte er ein weitaus größeres Zeitfenster für seine Beobachtungen als Korb; auch hatte er dadurch mehr Möglichkeiten, sich mit Personen abseits des Hofes zu beschäftigen. Der Titel seines Werks „Das veränderte Rußland“ stand ganz in der Tradition des westeuropäischen Denkens über das Russländische Reich und kann als Weiterführung der Sichtweise eines durch Zar Peter den Großen veränderten Russlands angesehen werden: Die Berichterstattung über das Reich war ab Ende des 17. Jahrhunderts stark an die Person des Zaren selbst gekoppelt, welcher „in einer rhetorischen Polarisation als Veränderer und

3 Noch bekannter, doch im Text eigentlich nur marginal behandelt, ist heute das Bartabschnei­ den, welches von Peter I. nach Rückkehr seiner Großen Gesandtschaft an seinen Gefolgsleuten durchgeführt wurde und oftmals als Schlagwort der an Westeuropa angelehnten Veränderungen verwendet wird.

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Reformer im Gegensatz zu einem rückständigen, ‚barbarischen‘ russischen Volk“⁴ äußerst positiv wahrgenommen wurde. Webers Text fand im weiteren Verlauf Eingang in die westeuropäischen Beschreibungen Russlands im 18. Jahrhundert, Auszüge aus seinem Bericht wurden etwa für das Zedlersche Universallexikon (1742) und in die History of Russia von 1762 übernommen. Sowohl zu Johann Georg Korb als auch zu Friedrich Christian Weber ist an­ zumerken, dass beide einem bürgerlichen Hintergrund entstammen,⁵ sie somit aufgrund ihrer Fähigkeiten im diplomatischen Dienst eingesetzt wurden. Es gab zur Zeit Korbs noch keine ständige Vertretung des Wiener Hofes im Russländi­ schen Reich,⁶ während Weber 1713 für das Kurfürstentum Hannover als ständiger diplomatischer Vertreter eingesetzt wurde.⁷ Korb war römisch-katholischen Re­ ligionsbekenntnisses, während Weber Protestant war; dieser Unterschied tritt besonders bei den religiösen Beobachtungen der beiden zutage.

Vier Beschreibungsmodi der Fremdheit Um kulturelle Begegnungen methodisch fassbar zu machen, wurde ein Modell von Ortfried Schäffter, welches das Fremderleben anhand von vier Modi beschreibt, aufgegriffen, ein Modell also, das der Literaturwissenschaft entstammt. In Folge wurde das Modell auf historische Quellen umgelegt, um den westeuropäischen Blick auf eine fremde Kultur zu hinterfragen. Dies soll bei der Offenlegung von Erzählmustern, die aus einem eurozentristischen Verständnis heraus die Kultur

4 Astrid Blome, Die „Civilisirung“ Rußlands unter Peter I. In: Astrid Blome/Volker Depkat (Hg.), Von der „Civilisirung“ Rußlands und dem „Aufblühen“ Nordamerikas im 18. Jahrhundert. Leitmo­ tive der Aufklärung am Beispiel deutscher Rußland- und Amerikabilder, (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 2). Bremen 2002, S. 15–71, hier S. 52. 5 So wird jedenfalls bei Friedrich Christian Weber angenommen. Die wenigen biographischen Angaben, welche sich zu Weber finden lassen, hat Wolfgang Geier anschaulich zusammengetra­ gen in Wolfgang Geier, Russische Kulturgeschichte in diplomatischen Reiseberichten aus vier Jahrhunderten. Sigismund von Herberstein, Adam Olearius, Friedrich Christian Weber, August von Haxthausen, (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Band 37). Wiesbaden 2004. 6 Diese wurde erst 1703 eingerichtet, obwohl sich Otto Anton Pleyer schon ab 1692 als inoffizieller diplomatischer Vertreter des Kaisers im Moskauer Reich aufhielt. 7 Und da der Kurfürst Georg Ludwig von Hannover 1714 zu Georg I. von England gekrönt wurde, wurde Weber russischerseits auch immer als Vertreter Englands wie auch Hannovers gesehen, was tatsächlich nicht den Tatsachen entsprach. Weber hätte auch eigentlich nur eine temporäre Vertretung übernehmen sollen, doch der vorgesehene Minister wurde schließlich doch nicht nach St. Petersburg entsandt, sodass Weber permanent die diplomatische Vertretung übernahm.

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des Anderen anhand der eigenen Maßstäbe zu messen versuchen, behilflich sein. Die von Schäffter angenommenen vier Modi des Fremderlebens lauten wie folgt: 1. Die Fremdheit als Resonanzboden des Eigenen: hier geht man „von einer ur­ sprünglichen Einheit aus, die durch eine kulturelle Entwicklung von einer Ausdifferenzierung von Verschiedenheiten aufgelöst wurde.“⁸ Notwendig da­ für ist eine gemeinsame Ebene, von welcher sich die Vergleichsobjekte auf unterschiedliche Weise wegbewegten, oder auf welche sich die Teilnehmer jeweils beziehen können. 2. Die Fremdheit als Gegenbild. Das Fremde kann als Gegenbild sowohl allgemein als auch konkret sein, es dient als Manifestation der unvereinbaren Gegensätz­ lichkeit. Das Gegenbild kann in klassischen Gegensätzen oder Widersprüchen auftreten: „Das Fremde ist das Unding, das Nicht-Eigene.“⁹ 3. Die Fremdheit als Ergänzung: hier ist die Integration des Fremden notwen­ dig, welche entweder ins Eigene aufgenommen wird oder als Impulsgeber dient. Die Fremdheit kann eine Akkomodationswirkung auslösen und als Mit­ tel der Selbsterfahrung genutzt werden, welche durch das Andere ausgelöst wird und welches das Aufdecken von Lücken, Fehlstellungen oder auch Feh­ lern ermöglicht.¹⁰ In den untersuchten Reiseberichten kommt diese Art der Fremderfahrung am seltensten zum Ausdruck. 4. Der vierte Modus beschreibt die Fremdheit als Komplementarität, welche an die Grenzen des Verstehens des erfahrenden Subjekts geht. Das Verständnis dem Anderen gegenüber wird unwahrscheinlich, denn es gibt kein gemeinsa­ mes System mehr, auf welches man sich beziehen kann, sondern im vorliegen­ den Fall etwa nur noch ein individuell russländisches oder westeuropäisches. Gerade dieser Modus widerspricht dem eigentlichen Drang, alles, und somit auch das Fremde, logisch erklären zu können und zu wollen. Das Bedürfnis, Erfahrungen und Erlebnisse einer universellen Vernunft¹¹ zu unterwerfen, wird ausgehebelt. Das Besondere an diesem Modus – im deutlichen Unterschied zu den anderen Modi – ist, dass das erlebende Subjekt seine Erfahrungen eben nicht auf das eigene System rückführen kann, es muss in seiner Fremdheit stehen gelassen werden.

8 Michael Hofmann, Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn 2006, S. 20. 9 Ortfried Schäffter, Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit. In: Ortfried Schäffter (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedro­ hung. Opladen 1991, S. 11–42, hier S. 19. 10 Vgl. Schäffter, Modi des Fremderlebens, S. 23. 11 Vgl. Andrea Leskovec, Fremdheit in der Literatur: alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft. Münster 2009, S. 14.

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Die vier Modi sollen nun im Anschluss als Analysewerkzeug dienen, um sich dem Thema kulturellen Aufeinandertreffens zu nähern. Dabei soll zunächst die höfische Ebene betrachtet und sich sukzessive der einfachen Bevölkerung ge­ nähert werden. Einerseits wird die herrschaftliche Seite durch Betrachtung der Hofetikette und Essenskultur zum Beschreibungsobjekt, andererseits werden eini­ ge Aspekte zum Thema der persönlichen Begegnung und den religiösen Bräuchen herausgenommen; schließlich wird der Bereich der westlichen Körperlichkeitsund Sexualitätsvorstellung beschrieben.

Am höfischen Tisch Anhand der Quellen kann in Betrachtung des Auftretens und der Etikette bei Hof wie der Essensriten ein Übergang von Fremdheit als Gegenbild hin zu einer wahrgenommenen Anpassung nachgezeichnet werden, die sich zunächst rein auf höfischer Ebene abspielt und der allgemeinen Bevölkerung gegenüber vorgelebtes Ideal sein sollte, also auch eine zivilisatorische Intention nach innen hatte. Für die Reisenden besonders lobenswert ist dabei die allmähliche Zivilisierung im westeuropäischen Sinn: Der Herrscher, welcher sich immer weiter an westlichen Lebensweisen orientiert, beeinflusst dadurch seine Untertanen und bereitet damit den Übergang zu einem abendländischen Ideal vor. Korb spricht in seinem Bericht von 1698/99 immer wieder von der Notwendigkeit der Disziplinierung des Volkes durch Peter I., obgleich die Vermutung anklingt, dass viele der Neuerungen Pe­ ters des Großen nach dessen Tod vermutlich nicht haltbar sein würden. Es findet sich also ein starker Zusammenhang zwischen einem spezifischen Herrscher und höfischem Verhalten, die Anpassung erfolgt demnach dynamisch entsprechend dem unmittelbaren Bedürfnis des Regierenden. So legt Peter I. weniger Wert auf höfische Prachtentfaltung als seine Vorgänger – besonders bezogen auf die Beklei­ dung –, wie er auch wenig Wert auf die Umgangsformen seiner Bediensteten legt. Ungeschliffen sei deren Verhalten, merkt Korb an, der Unterschied zu „den anderen europäischen Höfen“¹² sei groß. Wenn auch das Moskauer bzw. Petrinische Reich von westlicher Seite noch nicht als ebenbürtiger Verbündeter wahrgenommen wurde, zeigt sich schon in Korbs Wortwahl (also noch vor 1700), dass man den Moskauer als einen europäischen Hof betrachtete. Die mentale Eingliederung der Residenzstadt des Zaren hatte sich somit bereits vollzogen, man kann anhand der

12 Johann Georg Korb, Tagebuch der Reise nach Rußland. Neuübersetzung der lateinischen Aus­ gabe Diarium itineris in Moscoviam, erschienen um 1700 bei Leopold Voigt, Wien. Herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Korb. Graz 1968, S. 178.

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Einstellung der Beobachter von einem „Spannungsverhältnis auf der Grundlage basaler Gemeinsamkeit“¹³ im Sinne Schäffters sprechen. Im Bereich der Essenskultur ist Korb – wie einige seiner Vorgänger¹⁴ – scho­ ckiert von den schlechten Tischmanieren und dem schmutzigen Geschirr, wie er auch kein Zeremoniell bei der Bewirtung zu Hof erkennen kann: So wurden alle Speisen ohne eine erkennbare Reihenfolge an den Tisch gebracht. Gerade in die­ sem Bereich ist ein Bruch zur Berichterstattung zu Friedrich Christian Weber rund zwanzig Jahre später erkennbar. Weber beschreibt, dass sich beim Essen gewisse Rituale festgesetzt hatten, etwa eine Begrüßung sowie eine festgesetzte Abfolge der Speisen mit einer spezifischen zeitlichen Länge. Die Annäherung, welche in den Jahren zwischen Korb und Weber stattfindet, stellt dabei keinen Bruch an sich dar, sondern eine Verschiebung der Grenzlinie nach Schäffter,¹⁵ gemäß der es immer einer gemeinsamen Allgemeinheit bedarf. Wenn Korb anmerkt, dass nicht durch Trompeteneinsatz, sondern durch den Stimmgebrauch eines Beamten zur Tafel gerufen wird, oder die vorgesetzten Speisen „zerrissen, nicht geteilt“¹⁶ werden, wirkt diese Verhaltensweise zwar ungewohnt, wird jedoch in seinen Ausformungen dem aus abendländischem Kulturkreis bereits Bekannten angepasst und nur noch in der angeprangerten Rohheit unterschieden. Der Zar wird von Korb in seiner Rolle als notwendiger Modernisierer gesehen, ohne ihn ist das technische und gesellschaftliche Vorwärtskommen seines Reiches nicht möglich. Die Reformierung der Traditionen, die sich in vielen Formen äußert (eben etwa dem Verzicht auf Prunk und Pomp zu Tisch), wird von den Moskowi­ tern nicht positiv aufgenommen. Korb erkennt hier schon früh den Druck, den der Zar auf den Einzelnen ausüben kann: „Mag dies auch den Russen missfallen, so müssen sie doch unter dem Zwang des Gehorchens diese Lebensart und ein leutseliges Wesen nachahmen, mag dabei auch ihre Stirne oft gerunzelt sein.“¹⁷ Deutlich zeigt sich für den ausländischen Betrachter, dass sich der Machtbereich des Zaren nicht nur auf die sozialen und ökonomischen, sondern auch auf die kul­ turellen Güter und Sitten erstreckt.¹⁸ Dass der Hof im unmittelbaren Machtbereich 13 Schäffter, Modi des Fremderlebens, S. 16. 14 Schmutziges Geschirr wird in Berichten über das Russländische Reich öfters thematisiert, so etwa bei den schwedischen Diplomaten von 1673, in Johann Struys Les voyages de Jean Struys, en Moscovie, en Tartarie, en Perse. . . oder auch bei Engelbert Kämpfer. Vgl. Gabriele Scheidegger, Perverses Abendland – barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse. Zürich 1993, S. 47. 15 Vgl. Schäffter, Modi des Fremderlebens, S. 16. 16 Korb, Tagebuch, S. 179. 17 Ebenda. 18 Dass die Reformen keinen grundlegenden Widerhall bei der Lebensweise oder Kultur der Bevölkerung finden, vermuten bereits Zeitgenossen wie Christian Wolff oder Gottfried Wilhelm

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liegt und damit am stärksten betroffen ist, ergibt sich von selbst. Die von Peter I. durchgeführten Reformen waren jedoch nicht zwingend von Erfolg gekrönt, wie auch einige weitere Beispiele zeigen sollen.

Möglichkeiten interkultureller Erfahrungen Die Möglichkeiten der Reisenden, direkt mit Personen in Kontakt zu treten, welche als Teil der einfachen Bevölkerung gesehen werden, waren beschränkt: Die Gäste des Zaren und seines Hofes waren im 17. Jahrhundert größtenteils abgeschirmt und die Kontaktaufnahme zur Bevölkerung war ihnen nicht erlaubt. Von der Grenze an wurde ihnen Personal des Zaren zur Seite gestellt, beim Verlassen ihrer Un­ terkünfte in der Stadt standen sie ständig unter Beobachtung. Direkter Kontakt ließ sich dadurch kaum bis gar nicht herstellen und gesamt war das Leben am zaristischen Hof für die Gesandten „a kind of political theater played out during everyday contact.“¹⁹ Aber nicht nur diese Umstände erschwerten das Erleben des tatsächlichen Alltags der Bevölkerung, sondern auch Ressentiments seitens der Beobachteten. Weber spricht bereits in seinem Vorwort von einer weit verbreiteten Xenophobie, welche sich besonders gegen Deutsche wende.²⁰ In Fällen, in denen es zu einer Begegnung kommt, sind vor allem Erschütterung und Beunruhigung der Anderen aus den Texten herauszulesen. Korb berichtet von überraschten Reaktionen beim Anblick der Fremden bis hin zu extremer Furcht. Diese Reaktion wird in den Reiseberichten als kurios dargestellt, die Verwunderung über Fremde, mit denen der Großteil der Bevölkerung, wie gesagt, in den seltens­ ten Fällen (Sicht-)Kontakt hatte, wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Das von vornherein als fremd angesehene Gegenüber wird durch seine Verhaltensweisen noch einer weiteren Verfremdung unterworfen. So schreibt Korb beispielsweise: „Die [Bewohner des Russländischen Reiches] sind ungebildet, schwerfällig, geistig stumpf, vollends dann, wenn sie sich im Anblick von Fremden verfangen, [. . . ] sodaß sie mit aufgesperrten Mäulern und Augen auf ihre eigenen Angelegenheiten

Leibniz. Mehr zur Wahrnehmung der Europäisierung des Russländischen Reiches in Wolfgang Geier, Rußland und Europa. Skizzen zu einem schwierigen Verhältnis. Wiesbaden 1996, S. 83 ff. 19 Marshall Poe, „A People Born to Slavery“. Russia in Early Modern European Ethnography, 1476–1748. Ithaca (u. a.) 2000, S. 49. 20 Vgl. Friedrich Christian Weber, Das veränderte Rußland. Neu-Verbesserte Auflage. Frankfurt am Main (u. a.) 1744, S. 3. Eine so prominente Platzierung im Text setzt für die Leserschaft ab der ersten Seite gewisse Akzente, sodass die Ausländerfeindlichkeit – welche in den Abhandlungen eigentlich keine übergeordnete Rolle spielt – eine starke Gewichtung erfährt.

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vergessen.“²¹ Und Weber schreibt, dass „die Bauren keiner reisenden Personen gewohnet waren, und mit ihren Kindern und Pferden vor uns in die Wälder flo­ hen.“²² Verwunderlich mag die Reaktion für die beiden Westeuropäer sein, die Textstellen lassen gleichzeitig Rückschluss auf die Wahrnehmung von Korb und Weber durch einzelne Vertreter der einfachen Bevölkerung zu: Im Text werden die Beobachter zu den beobachteten Objekten. Und hier lässt sich deutlich erkennen, dass es die Untertanen des Zaren sind, die im Modus der Komplementarität die Fremden erleben. Für sie stellen die Ausländer durch ihr Auftreten, ihre Gesten, ihre Verhaltensweisen, ihre Kleidung und ihre Frisuren etwas so Absonderliches dar, dass sie mit diesen Eindrücken nichts anzufangen wissen und entweder mit misstrauischer Beobachtung oder mit Abwehr- und Fluchtinstinkt reagieren.

(Un-)Vertrautheit religiöser Riten Im religiösen Bereich zeugt die Wahrnehmung des Anderen von der Ansicht, dass das Gegenüber eine Schnittmenge aus pervertiertem Eigenen und Komplemen­ tarität bildet. Hart wird mit der russischen Orthodoxie grundsätzlich ins Gericht gegangen, sowohl bei Korb als auch bei Weber. Die Religion als wichtiger Teil der Wertevorstellung wird dem Leser stärker als andere Themenbereiche durch die Akzentuierung von Unterschieden vorgeführt. Korb als beobachtender Katholik spricht von der Oberflächlichkeit der religiösen Gesten – weniger in Bezug auf das Volk an sich, das keinen anderen Ausdruck kenne, sondern er prangert die Sittenlosigkeit der „Popen“ an.²³ Die Frömmigkeit sei nur eine leere Hülle, in der alltäglichen Lebensweise würde sie sich demnach nicht finden. Neben dieser sehr offenen Abneigung gegenüber den religiösen Bräuchen zeigt sich aber auch ein deutliches Interesse, fast schon eine Faszination. Korb und Weber beschreiben Kuriositäten der Orthodoxie (besonders in der Vermischung mit dem Volksglauben bei Korb oder der übertriebenen Frömmigkeit bei Weber) wie auch Parallelen zur eigenen Religion. Und während besonders die Kritik am Anderen im Zentrum der Berichte steht, zeugen sie aber auch – besonders im Fall von Weber – von einer tie­ fergehenden Auseinandersetzung. Dieser suchte aktiv Kontakt zu den Gläubigen, indem er ein Nonnenkloster aufsuchte. Im Gespräch mit den ansässigen Nonnen wird ersichtlich, dass beide Seiten dem jeweiligen Gegenüber die Frömmigkeit seiner religiösen Praktiken absprechen. Trotz des gegenseitigen Respekts sind

21 Korb, Tagebuch, S. 191. 22 Weber, Das veränderte Rußland, S. 255. 23 Vgl. Korb, Tagebuch, S. 187.

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sowohl die Nonnen als auch Weber davon überzeugt, dass es der/die Andere ist, welcheR irrige, als abergläubisch markierte Ansichten vertritt. Für beide Seiten hat eine solche Ansicht den Charakter einer Hervorhebung des eigenen Glaubens. Oder in Schäffters Worten: „[E]s [erfüllt] die Funktion eines signifikanten Kontrasts, der als Gegenbild gerade die Identität des Eigenen verstärken kann.“²⁴ Im Nonnen­ kloster empfindet man Webers Person sogar als unrein – diesem Umstand sollte der verstärkte Einsatz von Weihrauch und Salz Abhilfe schaffen.²⁵ Korbs Ansichten zu einigen religiösen Riten der einfachen Bevölkerung stehen in der Tradition der Fremdheit als Resonanzboden und als Ergänzung des Eigenen. Er vermeint teilweise Anpassungen an westeuropäische Bräuche zu sehen – in Form der gesteigerten Bedeutung des Predigeramts etwa –, auch auf die Marien­ verehrung kommt er positiv zu sprechen. Weitaus interessanter ist, dass Korb bei der Verehrung von Heiligenbildern die Parallelen zur römisch-katholischen Kir­ che akzentuiert und den abergläubischen Zügen dieser Verehrung Akzeptanz und Verständnis gegenüber aufbringt, da diese aus einer in seinem Verständnis rich­ tigen (also nicht heidnischen) Tradition entspringen.²⁶ Situationsabhängig wird der Hang zum Aberglaube dadurch legitimiert, dass einzelne Personen gewissen einschlägigen Bräuchen Beachtung schenken, das „gemeine [. . . ] Volk“ wird nach Korbs Ansicht jedoch „in Rußland einzig vom Aberglauben geleitet“²⁷ und erfährt dafür keinerlei Anerkennung. Schön ist hier also zu sehen, wie die Verschiebung der Grenzen der Toleranz auf der interkulturellen Ebene funktionieren kann. Grundsätzlich werden im „Tagebuch der Reise nach Rußland“ und im „Ver­ änderten Rußland“ die tiefe Gläubigkeit und die Art, in welcher die Bevölkerung strikt ihren Geboten folgt, zwiespältig gesehen. Abseits der heidnischen Elemente 24 Schäffter, Modi des Fremderlebens, S. 19. 25 Vgl. Weber, Das veränderte Rußland, S. 140: „Die eine hielt mich aber beständig am Ermel, und wie ich aus Neugierigkeit ein uhraltes schönes Gemählde auf dem Altare zu besehen, mich von ihr loß machte, wurde so fort an den Orten, wo ich gewesen war, geräuchert.“ 26 „Die griechische und russische Kirche verehrt mit einer der römischen nicht unähnlichen Frömmigkeit die Bilder der Heiligen, auf deren Fürbitten man, wie es an sich der Fall ist, viel zuver­ sichtliches Vertrauen setzt, wenn auch kein solches, wie es die höchste Majestät des Allmächtigen Gottes, als des Schöpfers aller Dinge, mit höchster gottesdienstlicher Verehrung für sich fordert, sondern ein ganz anderes, das wir mit Fug und Recht den Freunden Gottes und unseren Fürbittern zollen. Daher darf man jene einzigartige Verehrung nicht mißbilligen, die die Russen einmütig den Heiligen und deren Bildern widmen. Verwickelter ist die Frage, ob die besondere andächtige Verehrung abergläubisch ist (. . . ). Wenn aber einer nach der tieferen Ursache forscht, warum der zurückgelassene Mantel des Elias wundertätig gewesen ist, so wird es alsogleich offenbar werden, daß der wunderbare Finger der Rechten Gottes, auf den als letztes Ziel all unsere Frömmigkeit, alle Verehrung und Andacht hinlenkt, auf wunderbare Art in seinen Werken wirksam ist.“ Korb, Tagebuch, S. 122. 27 Vgl. Ebenda, S. 73.

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wird den Riten und Praktiken der russisch-orthodoxen Kirche eine Oberflächlich­ keit attestiert: Die Scheinheiligkeit der Gesten wird hervorgearbeitet, indem etwa von umso zügelloserem Verhalten nach einer überwundenen Fastenzeit erzählt wird, das besonders auch von religiösen Würdenträgern an den Tag gelegt wird. Die Hingabe und der blinde Gehorsam der einfachen Bevölkerung, wenn es etwa um die Kasteiung während der Fastenzeit geht, lösen ähnliche Reaktionen aus: Beide Beobachter, Korb und Weber, vermerken, dass eine solche Aufopferungsgabe rückbezüglich auf das eigene Umfeld fehlt; im nächsten Schritt wird jedoch der Kritik am Eigenen die Kritik am Fremden angehängt, indem sogleich von den Ge­ fahren der blinden Treue gesprochen wird, welche die russisch-orthodoxe Kirche von ihren Gläubigen verlangt. Weber spricht von der Pervertierung, zu welcher zu strikte Regeln führen: Er erzählt von Freikäufen, wenn sich ein Gläubiger aufgrund einer Krankheit nicht an das Fasten halten kann,²⁸ während Korb schreibt: „Aus dieser Härte und unterschiedslosen Beachtung des Fastengebotes [welches auch ältere und kranke Personen betrifft, Anm.] ziehe ich den berechtigten Schluß, daß die russische Kirche keine wahre und echte Mutter, sondern eine Stiefmutter und Verfälscherin der Lehre ist.“²⁹ Religiosität erhält bei Korb einen bedrohlichen Charakter, der positiven Seite der Bereitschaft zur Kasteiung wird die negative, irrationale, ja krankhafte Seite des Glaubens gegenübergestellt.

Das tabubesetzte Unheimliche innerhalb der Begräbniskultur In der Beschäftigung mit der Begräbniskultur treten besonders zwei Elemente zutage. Gegenstand der Beobachtung ist das Absurd-Groteske der bezahlten Kla­ gefrauen wie auch das Unverständliche des Umgangs mit den Toten an sich. Das Andere der Religion wird – wie bereits gezeigt – in den beiden Reiseberichten oftmals abgewertet, wobei sich besonders in den Beschreibungen des Protestanten Weber eine gewisse Toleranz zeigt. Bei ihm endet das Verständnis beim Umgang mit den Toten, der sich aus seiner protestantischen Sicht als respektlos gestaltet: Der nicht-höfische Tote wird dabei zur Schau gestellt und der Totenträger durch Vor­ übergehende oder Freunde des Toten bezahlt. Weber berichtet von einem Erlebnis, bei dem der Tote erst einen Tag später beerdigt wurde als eigentlich vorgesehen,

28 Vgl. Weber, Das veränderte Rußland, S. 310. Der Brauch wurde von zaristischer Seite versucht einzustellen, was wohl vor allem bei der älteren Generation keine Akzeptanz fand. 29 Korb, Tagebuch, S. 188.

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nachdem sich die Träger nicht ausreichend entlohnt fühlten und diesen über Nacht unter einer Brücke liegen ließen: (. . . ) weil sie aber nichts bekamen, und die Nacht einfiel, wolten sie ihn nicht ganz hinbringen, sondern den folgenden Tag noch auf einen kleinen Vortheil hoffen, sahen deswegen unter einer Brücke einen engen Platz aus, stekten den Todten darunter, und als kein Raum vor das Haupt war, bogen und handthierten sie denselben so lange, bis er hinunter passete, gaben ihm den Segen und gingen ihres Weges. Den folgenden Tag hatten sie ihn auf den Kirchhof gebracht.³⁰

Im Weltbild Webers stellt ein solcher Umgang mit einem Toten einen Tabubruch dar, da dieser nach seinem Verständnis sofort in geweihter Erde ruhen muss. Dieses Erlebnis lässt Weber als fassungslosen Beobachter zurück, der gar nicht erst versucht, das Erlebte ins eigene Wertesystem zu übertragen, sondern die Distanz zum Fremden offen stehen lässt. Korb, der Vergleichbares wohl nicht erlebte, empfindet dagegen die Vermen­ gung der religiösen Bräuche mit in seinen Augen abergläubischen und unheiligen Riten als unangebracht und stellt diese anhand eines weiteren Merkmals der russ­ ländischen Begräbniskultur dar, nämlich der Klagelieder, welche von bezahlten Frauen vorgetragen werden. Korb berichtet von dem Brauch, die Frauen zu en­ gagieren, die „mit lautem Geheul Klage erheben und den Toten unter gewaltigen Jammerlauten nach Art der Heiden fragen, warum er hätte sterben müssen, warum er so schnell seine holde Gattin verlassen habe“³¹ etc. Es vermischen sich hier also religiöse mit vorchristlichen und im Volksglauben verwurzelte Vorstellungen. Als Marfa Matvejevna Apraksina, die Witwe Fedor III., 1716 stirbt, lässt Peter I. im Zuge ihres Begräbnisses diese Sitte – die Weber als „verstelltes lamentieren“³² be­ zeichnet – verbieten. Das Verbot hat jedoch außerhalb St. Petersburgs nur geringe Wirkung: „In Petersburg mäßigen sie sich zwar etwas darin, weilen, wie ich oben erwehnet, es ausdrüklich verbothen worden, in abgelegenen Oertern aber lassen sie es noch bey dem alten“³³ weiß Weber zu berichten. Das Bedürfnis, für den Toten Trauernde zu engagieren, befremdet Korb besonders durch die emotionale Leere: Die Zusammenhanglosigkeit mit der Person des Toten selbst, die Art, wie die Trauer zur Schau gestellt wird und Abgeltung der klagenden Frauen für ihre Mühen mit Geld finden in seiner Weltanschauung keinen Platz. 30 Weber, Das veränderte Rußland, S. 131. 31 Korb, Tagebuch, S. 187. 32 Weber, Das veränderte Rußland, S. 123. Der Rückgriff auf den lateinischen Terminus „lamenti­ ren“ (von lamentare) als Umschreibung kann als Schutzfunktion gesehen werden, um in einer anderen Sprache etwas nach dem moralischen Verständnis des Autors Unbeschreibbares zu dokumentieren. 33 Ebenda, S. 130.

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Verwerfliche Körperlichkeit: das Unheimliche und das Unverständliche Der russländischen Bevölkerung wurde in den westeuropäischen Berichten bis Korb und Weber – und darüber hinaus – Sitten- und Zügellosigkeit sowie Rohheit zur Last gelegt, besonders gepaart mit einem starken Hang zu Alkoholismus und einer dadurch verstärkten sexuellen Freizügigkeit. Dazu sollte gesagt werden, dass besonders der Alkoholkonsum der fremden Kultur als Ausdruck eigener Ängste verstanden werden kann, denn ab dem 16. Jahrhundert wurde der Alkohol in west­ europäischen Gebieten immer wieder staatlichen Reglementierungen unterworfen. Als Folge wird die höhere Gewaltbereitschaft erwähnt, die auch nicht vor geistli­ chen Personen halt macht, welche in den Texten sowohl als Opfer als auch als Täter auftreten. Damit widerspricht das Bild des Geistlichen im russisch-orthodoxen Zusammenhang einer westeuropäischen Norm, die Alkohol und Gewalt als klaren Widerspruch zum religiösen Rahmen sieht. Geschlechterspezifische Zuschreibungen sind im „Tagebuch“ und im „Verän­ derten Rußland“ vorhanden, die russische Frau präsentiert sich als Anomalie, wel­ che auf den Besucher ob dieses Umstands fast bedrohlich wirkt. Zu ihren Lastern werden Eitelkeit, sexuelle Freizügigkeit und Schamlosigkeit gezählt. Gleichzeitig hat sie eine auch für Außenstehende unmissverständlich untergeordnete Rolle im patriarchalen System und ihr werden masochistische Züge zugeschrieben. Die Am­ bivalenz ihres Wesens lässt sich mit der gesellschaftlichen Position begründen – es sind besonders die Teilnehmerinnen der untergeordneten Gesellschaftsschicht, welche als wild und ungezügelt auftreten. Die Rohheit dieser Frauen wirkt ab­ schreckend auf den Besucher und stellt ein Gegenbild zu den bekannten – oder zugeschriebenen – Verhaltensweisen der Westeuropäerinnen dar. Wenn Korb oder Weber von Trunkenheit und daraus resultierenden sexuellen Ausschweifungen berichten, eröffnet sich dadurch die Möglichkeit zur Betrachtung des Eigenen über das Fremde: Das Fremde wird zur Projektionsfläche abendländischer Ängste.³⁴ Besonders erstaunte den westlichen Berichterstatter der Besuch im öffentli­ chen Bad. Die Vorzüge eines solchen Bades für die weiblichen Besucher arbeitet Korb heraus, der es als willkommene Abwechslung in deren Leben, als Ausbruch aus der Monotonie ihres Alltags ansieht. Anstoß an der Banja nahmen Korb und

34 Vgl. Ekkehard Witthoff, Grenzen der Kultur. Differenzwahrnehmung in Randbereichen (Irland, Rußland) und europäische Identität in der Frühen Neuzeit. In: Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999, S. 267–284, hier S. 281. Gemeint ist hier die zusehende Reglemen­ tierung des Alkoholkonsums wie auch die stetige Verschiebung der Schamhaftigkeitsgrenze in Westeuropa.

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Weber trotzdem, war doch die Nacktheit im Westen zusehends mit Tabus belegt; das Verhalten der Menschen im öffentlichen Bad wurde demnach als schamlos empfunden. Bei Weber wird nicht nur auf die scheinbare Sittenlosigkeit durch die Freizügigkeit der Besucher eingegangen, sondern er weist auch auf die tiefe Verankerung des Bades im Heilglauben hin. Das Bad diente demnach nicht nur zur äußerlichen Reinigung, sondern es war auch stark mit religiösen Bräuchen verbunden.³⁵ In der Regel waren im Westen solche Badehäuser als lasterhafte Orte verrufen, sodass Peter I. schließlich eine Eindämmung versuchte. Er wollte in den herrschaftlichen Häusern in St. Petersburg den Bau von westlichen Bädern voran­ treiben; die traditionellen Badehäuser hingegen wurden mit hohen Steuern belegt. Diese Schritte konnten jedoch der Popularität der Badehäuser auch im weiteren Verlauf wenig entgegensetzen.³⁶ Die herrschaftlich intendierte Anpassung an die westlichen Sitten scheiterte in diesem Bereich somit. Weber räumt den Badehäusern weitaus mehr Platz ein als Korb, indem er eine Analyse des Badeverhaltens bietet. Sowohl Korb als auch Weber beschäftigen sich mit dem Thema der Nacktheit, welche im Badehaus sowie im Sommer an den Flüssen anderen Regeln zu unterliegen scheint als im übrigen Alltag: Ohne Scham würden sich Personen beiderlei Geschlechter – von jung bis alt – gänzlich nackt zeigen.³⁷ Zum Problem wird für die Beobachter dabei nicht, dass sich das Gegenüber prinzipiell nackt zeigt, sondern der Umstand, dass dies in der Öffent­ lichkeit geschieht und somit mit den westeuropäischen Gepflogenheiten nicht in Einklang gebracht werden kann. Die zunehmende Tabuisierung des Körpers und das stetige gesellschaftliche Vordringen des Schamverständnisses führen dazu, dass die aktive Reinigung des Körpers, welche im Badehaus vorgenommen wird, in diesem Zusammenhang für den Beobachter entsprechend fremd und unwirklich erscheint. Korbs Urteil, dass die Warm- und Schwitzbäder der Entfernung „der durch den Beischlaf zugezogenen Befleckung“³⁸ dienen, führt vor Augen, dass der Gang ins Badehaus – wenn auch an und für sich ohne Hintergedanken – für Korb seinen Ausgang in gänzlich unlauteren Motiven nimmt.

35 Vgl. Orlando Figes, Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands. Berlin 2003, S. 72. Zu bestimmten fixen Zeitpunkten, wie etwa dem Beginn der Fastenzeit, war es demnach üblich seinen Körper im Bad zu reinigen. 36 Vgl. Figes, Nataschas Tanz, S. 71. 37 Vgl. Korb, Tagebuch, S. 193: „Mit der gleichen Unschamhaftigkeit, ohne sich mit einem Hemd zu bedecken, springen [die Männer] aus dem Wasser auf die Wiesen, niemands Blick scheuend. Ja, sogar auch die Mädchen bieten ohne Verlegenheit den Vorübergehenden ihren nackten Körper zur Schau, ein nicht geringer Anreiz für die Begierlichkeit.“ 38 Ebenda.

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Resümee In der Betrachtung von Fremderfahrung sind Reiseberichte weniger Abbild der Wirklichkeit als vor allem Ausdruck der Wahrnehmung der Realität der Schreiben­ den. Die Reisenden bringen bereits ein großes Ausmaß an Vorwissen, aber auch Stereotypen und das ihnen eigene Wertesystem mit, und erst durch dieses kann das Andere überhaupt erst zum Fremden werden. Von Interesse bis Geringschätzigkeit kann diesem Fremden ein breites Spektrum an Gefühlen entgegengebracht werden, wie auch politische oder religiös-missionarische Absichten die Ausrichtung der Beschreibungen maßgeblich beeinflussen können. Unter Beachtung dieser Voraus­ setzungen wurde in dieser Abhandlung der Frage nachgegangen, inwiefern sich Vertreter zweier unterschiedlicher Kulturen um 1700 – inmitten der Veränderun­ gen, welche die Figur Zar Peters des Großen versinnbildlicht – begegnen können und auf welche Art diese Begegnung aufgenommen und verarbeitet werden kann. Gegenstand der Untersuchung waren die Reiseberichte Johann Georg Korbs und Friedrich Christian Webers, anhand derer über zwei Jahrzehnte die Annäherung und Abgrenzung des Anderen nachgezeichnet wurden. In den Reiseberichten ist erkennbar, dass trotz der Reformversuche Peters des Großen nach westlichem Vorbild viele Grundeinstellungen sowie Sitten und Bräuche bestehen bleiben. So kann die eher weltoffene Haltung des Petrinischen Hofes etwa hinsichtlich der Toleranz gegenüber unterschiedlichen Religionen keine Widerspiegelung in der Bevölkerung finden, die Haltung des Einzelnen bleibt dem westlichen Beobachter oder dem Andersartigen gegenüber ablehnend. Für den Reisenden stellt sich die Petrinische Wende als ein hauptsächlich höfisches und hauptstädtisches Phänomen dar. Doch in vielen Beobachtungen und Urteilen finden sich sowohl Korb als auch Weber aufgrund ihres Vorwissens aus der Lektüre vergangener Reiseberichte bestätigt, es besteht gewissermaßen eine erwartete Fremdheit.³⁹ Dem westlichen Leser der Reiseberichte wird vor Augen geführt, dass das Fremde zwar zur Koexistenz legitimiert ist, jedoch eine (Weiter-)Entwicklung hin zur westeuropäischen Tradition trotzdem vorzuziehen wäre. Die abendländische Kultur tritt durch die Augen der Reisenden als die höherstehende auf. Vergessen

39 Johann Georg Korb gibt Bilder John Barclays oder auch Herbersteins wieder und Friedrich Christian Weber soll, wie schon erwähnt, Korbs Tagebuch und Werke Herbersteins, Olearius’, Meyerbergs, Perrys und Petrejus’ gekannt haben. Vgl. Geier, Russische Kulturgeschichte, S. 206. Die Wahrnehmung des Anderen entstand somit in beiden Fällen nicht allein aufgrund von eigenen Beobachtungen des Objekts, sondern basierten auf bereits vorhandenem Wissen sowohl auf kultureller wie auch historischer Ebene.

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werden darf jedoch nicht, dass die den Reisenden widerfahrenen Situationen oder von ihnen gemachten Beobachtungen nur einen Ausschnitt ihrer tatsächlichen Erlebnisse darstellen, welche auch zur Unterhaltung der Leserschaft festgehal­ ten wurden. Das Thema der Religion wird besonders heterogen dargestellt: Die Protagonisten befinden sich in einem Spannungsverhältnis zu ihren Beobachtungs­ objekten, es findet ein Wechselspiel zwischen Annäherung und Abstand statt. Und mehr noch wird vor allem Befremdliches und nicht Bekanntes niedergeschrieben: Gerade der von Schäffter beschriebene Modus der Fremdheit als Gegenbild sticht in den Beschreibungen hervor, wie auch der Modus der Komplementarität, des gänzlich Unverständlichen, ein zentrales Motiv generell der Reiseliteratur und auch der hier untersuchten Beispiele ist.

Dariusz Dolański

Das Russlandbild in Polen – eine Rezeption auf westlichen Umwegen Seit den 1730er Jahren war in Polen ein wachsendes Interesse für die Außen­ welt zu beobachten. Nach einer Pause von fast einem Jahrhundert erschienen auf dem polnischen Verlagsmarkt universelle historisch-geographische Kompendien verschiedener Art. Von den wichtigsten Autoren dieser Veröffentlichungen sind Władysław Łubieński, Benedykt Chmielowski und Karol Wyrwicz zu nennen. Erstere beide waren Vertreter eines traditionellen theologischen Modells der Wissenschaft, geprägt durch die Idee des sarmatischen Geistes, der sich in der Überzeugung einer besonderen Mission Polens im Gottes Plan äusserte. Władysław Aleksander Łubieński (1703–1767) war Autor der Weltgeographie mit dem Titel „Die Welt in allen ihrer Teile [. . . ] beschrieben“ (Świat we wszystkich swoich częściach [. . . ] określony).¹ Dieses umfassende, zweibändige Werk mit zahlreichen Karten lieferte neben historisch realen Angaben, die sich auf eigene Reisen des Autors und fremdsprachige Literatur stützten, auch eine Menge zweifelhafter, oder sogar märchenhafter Informationen. Łubieński gehörte zur polnischen politischen Eli­ te; er war Primas von Polen. Seine Position begünstigten zahlreiche Reisen, von denen er in seinem Tagebuch detailliert berichtete. Besonders viel Platz widmete er der Beschreibung der Kirchen, Reliquien und religiösen Feste. Eine ähnliche Perspektive prägte auch seine Geographie.² Den Namen eines großen Gelehrten seiner Zeit gewann ein anderer Priester, Benedykt Chmielowski (1700–1763) aus Firlejów. In der kirchlichen Hierarchie nahm er jedoch keinen hohen Platz ein und im Gegensatz zu Łubieński lern­ te er die Welt außerhalb seiner Pfarrgemeine nicht kennen. Er war Autor der

1 Władysław A. Łubieński, Świat we wszystkich swoich częściach większych i mniejszych to jest: w Europie, Azji, Affryce y Ameryce, w monarchiach, królestwach, xięstwach, prowincjach, wyspach y miastach geograficznie, chronologicznie y historycznie określony. Opisaniem religii, Rządów, rewolucji, praw, zwyczajów, skarbów, ciekawości y granic każdego kraju z autorów francuskich, włoskich, niemieckich y polskich zebranym przyozdobiony. Wrocław 1740. 2 Emanuel Rostworowski, Łubieński Władysław Aleksander. In: Polski Słownik Biograficzny (im Folgenden: PSB), t. 18. Wrocław (u. a.) 1972, S. 505; Juljan Bartoszewicz, Xiążę Władysław Aleksander Łubieński, prymas, arcybiskup gnieźnieński. In: Ders.: Znakomici mężowie polscy w XVIII wieku, t. 2. Petersburg 1856, S. 4. DOI 10.1515/9783110499797-005

58 | Dariusz Dolański ersten polnischen Enzyklopädie „Neues Athen“ (Nowe Ateny).³ Dieses Werk wird in der wissenschaftlichen Literatur meistens herangezogen, um den kulturellen Niedergang der sächsischen Zeiten zu demonstrieren.⁴ Einer der Vertreter der polnischen Aufklärung war Jusuit Karol Wyrwicz (1717–1793).⁵ Seine Arbeit als Hauslehrer ermöglichte ihm u. a. Reisen nach Frank­ reich, sowie ins heutige Belgien, Deutschland und Italien. Sie waren für ihn eine gute Gelegenheit, sich mit dem Zustand der Wissenschaften in Westeuropa vertraut zu machen. Nachdem Stanisław August Poniatowski den Thron bestiegen hatte, wurde Karol Wyrwicz einer der Mitarbeiter des Königs und als solcher Autor geographischer Kompendien.⁶ Bemerkenswert ist auch sein Kommentar zur „Geschichte der Staatsveränderungen des russischen Reichs“ von Jacques Lacombe,⁷ wo er europäische wissenschaftliche Literatur und Reiseliteratur über Russland charakterisiert und die Fehler des französischen Gelehrten korrigiert und kommentiert hatte. Wenn es um Russland geht, so berufen sich die Gelehrten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Kapiteln, die Russland betreffen, auf ältere polnische Autoren. An erster Stelle wäre hier Maciej aus Miechów (1457–1523), Autor des Trac­ tatus de duabus Sarmatiis⁸ zu nennen. Während die Veröffentlichung dieses Werks in Polen zuerst verboten war, war es in Westeuropa schon populär und galt als die 3 Benedykt Chmielowski, Nowe Ateny albo akademia wszelkiej sciencji pełna, na różne tytuły jak na classes podzielona, mądrym dla memoriału, idiotom dla nauki, politykom dla praktyki, melancholikom dla rozrywki erygowana, t. 1–4. Lwów 1745–1756. 4 Stanisław Grzybowski, Z dziejów popularyzacji nauki w czasach saskich. In: Studia i Materiały z Dziejów Nauki Polskiej, Seria A: Historia nauk społecznych, 7 (1965) S. 11–112; Wincenty Ogrod­ ziński, Chmielowski Joachim Benedykt. In: PSB, t. 3. Warszawa (u. a.), 1937, S. 341. Vgl. Zygmunt Gloger, Encyklopedia staropolska, t. 1. Warszawa 1958, S. 131; Aleksander Brückner, Dzieje kultury polskiej, t. 3. Warszawa 1958, S. 107; Ryszard W. Wołoszyński, Pokolenia oświeconych. Szkice z dziejów kultury polskiej XVIII w. Warszawa 1967, S. 42–47; Halina Rybicka-Nowacka, Nowe Ateny Benedykta Chmielowskiego. Metoda, styl, język. Warszawa 1974; Maria Wichowa, Ks. Benedykt Chmielowski – twórca „Nowych Aten“ jako „scriptor rerum mirabilium“. In: Mirosława Hanusie­ wicz/Justyna Dąbkowska/Adam Karpiński (Hg.), Świt i zmierzch baroku. Lublin 2002, S. 475–487; dies., Ksiądz Benedykt Chmielowski jako uczony barokowy, in: Napis, 5 (1999), S. 45–56. 5 Kazimiera Augustowska, Karol Wyrwicz jako geograf, in: Zeszyty Geograficzne WSP w Gdańsku, 9 (1967), S. 77–136; dies., Karol Wyrwicz. In: Bolesław Olszewicz (Hg.), Dziewięć wieków geografii polskiej. Wybitni geografowie polscy. Warszawa 1967, S. 117–137. 6 Karol Wyrwicz, Geografia czasów teraźniejszych, t. 1. Warszawa 1768; ders., Geografia powsze­ chna czasów teraźniejszych albo opisanie krótkie całego świata [. . . ] zebrana ku pożytkowi młodzi narodowej na szkoły publiczne wydana. Warszawa 1770 (3. Auflage: 1794). 7 Jacques Lacombe, Histoire des révolutions de l’empire de Russie. Paris 1760; ders., Geschichte der Staatsveränderungen des russischen Reichs, Bd. 1–3. Halle 1761–1764; ders., Historia odmian zaszłych w państwie rosyjskim. Warszawa 1766. 8 Maciej z Miechowa, Tractatus de duabus Sarmatiis Asiana et Europianan et de contentis in eis. Kraków 1517.

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grundlegende Kenntnisquelle zur Geographie des östlichen Ostteils des Kontinents. Im Laufe des 16. Jahrhunderts erreichte das Werk 18 Ausgaben und wurde in meh­ rere europäische Sprachen übersetzt. Es enthielt jedoch viele Willkürlichkeiten, Flüchtigkeiten und Unverständlichkeiten, denn die Informationen über die groß­ russischen Gebiete stützten sich höchstwahrscheinlich auf Mitteilungen russischer Soldaten, die in der Schlacht bei Orsza (1514)⁹ gefangengenommen wurden. Miechowita war der einzige Autor, auf den sich Łubieński in seinem Teil über Russland berief. Bei Benedykt Chmielowski sind außer Maciej aus Miechów auch andere frühere Geographen, Historiker und Theologen genannt. Interessant ist, dass Chmielowski in den der Geographie gewidmeten Teilen des „Neues Athen“ nur vier polnische und ausländische Autoren nannte, im Kapitel über die russischorthodoxe Kirche hingegen 28. Der zentrale polnische Geschichtsschreiber, auf den sich Chmielowski in Be­ zug auf Russland und polnisch-russische Beziehungen berief, war Jan Długosz (1415–1480), der bei der Arbeit an seinen Annales Poloniae auch russische Quellen berücksichtigte und viele Informationen über Russland¹⁰ lieferte. Neben Długosz tritt bei Chmielowski immer Marcin Kromer (1512–1589) auf; auch in seiner Ge­ schichte und Geographie Polens sind nämlich viele Informationen über Russland¹¹ enthalten. Von den polnischen Historikern des 16. Jahrhunderts berief sich Chmielowski neben Maciej aus Miechów und Marcin Kromer noch auf zwei andere. Besonders oft erscheint in seiner Enzyklopädie der Name Aleksander Gwagnin/Alessandro Guagnini (1534–1614), dem Autor der Sarmatiae Europeae descriptio, in der er einen Abriss der Geographie und Geschichte Polens, Litauens, Preußens, Livlands, Mos­ kaus und der Goldenen Horde der Tataren¹² im Überblick darstellte. Seine Arbeit enthält ziemlich wichtige Informationen über die russischen Gebiete, obwohl die Originalität dieser Informationen von einem anderen Historiker bestritten wur­ de, nämlich von Maciej Stryjkowski (1547–1586 bis 1593), der Gwagnin gegenüber Plagiatsvorwürfe erhob.¹³

9 Ludwik Bazylow, Historia Rosji, t. 1. Warszawa 1985, S. 42; Henryk Barycz, Szlakami dziejopi­ sarstwa staropolskiego. Studia nad historiografią w. XVI–XVIII. Wrocław (u. a.) 1981, S. 34–35. 10 Ebenda, S. 42. 11 Marcin Kromer, De origine et rebus gestis Polonorum librii XXX. Bazylea 1555; ders., Polonia, sive de situ, populis, moribus, magistratibus et republika Regni Polonici, Frankfurt am Main 1575. 12 Aleksander Gwagnin, Sarmatiae Europeae descriptio, quae Regnym Poloniae, Lithuaniam, Sa­ mogitiam, Russiam, Masoviam, Prussami, Livonia et Moschoviae, Tatariasque partem complecitur. (a.O.) 1587. 13 Bazylow, Historia Rosji, t. 1. S. 43; Jerzy Serczyk, 25 wieków historii. Historycy i ich dzieła. Toruń 1994, S. 165; Włodzimierz Budka, Gwagnin Aleksander. In: PSB, t. 9. Wrocław (u. a.) 1960–1961, S. 202–204.

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Chmielowski berief sich auch auf die 1582 herausgegebene „Chronik von Po­ len, Litauen und ganz Russlands“ von Stryjkowski.¹⁴ In diesem fast 1000 Seiten umfassenden Werk schrieb der Autor über gewisse Angelegenheiten nicht ohne Sympathie und Bewunderung für Russland. Stryjkowskis Werk, der die Chroni­ ken wirklich gut kannte, beinhaltet viele Informationen über das alte Russland und über die polnisch-moskauischen Kriege im 16. Jahrhundert. Es ist die erste weltliche (nicht kirchenslawische) Studie zur Geschichte der russischen Länder. Interessanterweise war Stryjkowski Gwagnin in der Festung zu Witebsk dienstlich unterstellt.¹⁵ Aufgrund eigener Erfahrung entstand auch das im 17. Jahrhundert ver­ fasste Werk von Szymon Okolski (1580–1653), der während der Kriegszüge Mikołaj Potockis gegen die Kosaken Tagebuch führte.¹⁶ Chmielowski berief sich in seinem Werk auch auf Piotr Skarga (1536–1612) und Jan Kwiatkiewicz (1629–1703). Es geht um die berühmte Synthese von Cesare Baro­ nio (1538–1607) Annales Ecclesiastici a Christo nato ad annum 1198. Das Werk war in Polen dank der daraus vorgenommenen Auszüge von Piotr Skarga (1536–1612)¹⁷ und dessen Fortführung durch Jan Kwiatkiewicz (1630–1703)¹⁸ bekannt. Die in Polen bekannte Bearbeitung von Piotr Skarga unterschied sich von der Urfassung des Baronius. Aus den aufeinander folgenden Bänden machte Skarga Auszüge, die ihm später bei der Übersetzung, die eigentlich als freie Adaption des Werkes von Boronius anzusehen ist, behilflich waren. So verkürzte er zehn ursprüngliche Bände zu einem Band, indem er die Fragmente, die er für weniger nützlich oder nicht so interessant hielt, wegließ. Seine Abkürzungen und Kurzfassungen formu­ lierte er so, dass er die Geschichte der Kirche als ständigen Kampf gegen Ketzerei zeigen konnte.¹⁹

14 Maciej Stryjkowski, Która przed tym świata nie widziała Kronika Polska, Litewska, Żmudzka i wszystkiej Rusi Kijowskiej, Moskiewskiej, Siewierskiej, Wołyńskiej, Podolskiej, podlaskiej etc. Królewiec 1582. 15 Bazylow, Historia Rosji, t. 1. S. 43; Serczyk, 25 wieków historii, S. 164 f. 16 Szymon Okolski, Diariusz transakcyjej wojennej między wojskiem koronnym i zaporskim w r. 1637. Zamość 1638; ders., Kontynuacja diariusza wojennego. . . nad swawolnymi kozakami w r. 1638. Kraków 1639, siehe dazu: Włodzimierz Dworzaczek/Robert Świętochowski, Okolski Szymon. In: PSB, t. 23. Wrocław (u. a.) 1978, S. 67–681. 17 Roczne dzieje kościelne od narodzenia Pana i Boga naszego Jezusa Chrystusa wybrane z Rocz­ nych dziejów kościelnych Cesara Baroniusza, Cardinała S.R.K. nazwanych Annales Ecclesiastici przez X. Piotra Skargę. Kraków 1603. 18 Jan Kwiatkiewicz, Roczne dzieje kościelne od Roku Pańskiego 1198 aż do lat naszych. Kalisz 1695. 19 Janusz Tazbir, Piotr Skarga. Szermierz kontrreformacji. Warszawa 1978, S. 115–117; Bronisław Natoński, Kwiatkiewicz Jan. In: PSB, t. 16. Wrocław (u. a.) 1971, S. 351 f.

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Chmielowski berief sich auch auf Samuel Węsławski († 1690), einen Historiker und Diplomaten im Dienste der Könige Johann II. Kasimir und Johann III. Sobieski, der sich mehrmals als Gesandter nach Moskau, zu den Kosaken und ins Osmani­ sche Reich begeben hatte. Węsławski war der Autor der Beschreibung der Taten des litauischen Truchsessen und Hetmans Wincenty Gosiewski, der in Schamaiten und Livland kämpfte; in den Jahren 1658–1662 war er (zusammen mit Węsławski) in Moskauer Gefangenschaft und wurde während der Verhandlungen mit der als „Geweihter Bund“ (Związek Święcony) bekannten Konföderation²⁰ umgebracht. Unter den genannten polnischen Autoren war auch Paweł Potocki († 1675) wegen seiner sehr guten Studie über Religion, Verfassung, Recht und Militär Moskaus.²¹ Benedykt Chmielowski griff gerne zu den Werken des historischen Dichters Samuel Twardowski (ca.1600–1661), der in seinen Dichtungen die Geschichte, spe­ ziell die Ereignisse und Kriege seiner Epoche mit der Genauigkeit eines Historikers beschrieben hatte. Viele seiner Gedichte betrafen Ereignisse aus der polnisch-rus­ sischen Geschichte.²² Eine wichtige Gruppe von Autoren, auf die sich Chmielowski in dem Teil über orthodoxe Religion berief oder sie zumindest erwähnte, waren griechische und lateinische Theologen bzw. religiöse Polemiker verschiedener Herkunft. Er nennt vor allem jene Autoren, die ihre Meinung über eine Union zwischen der grie­ chischen und lateinischen Kirche äußerten: Aeneas aus Paris († 870)²³, Petrus Damiani (1007–1071)²⁴, Nikephorus Blemmydes (1191–1269/71)²⁵, Theodor Balsa­

20 Samuel Węsławski, Victor et victis Vincentius Corvinus Gosiewski [. . . ] 1664 atque inter suas revolutiones victricia et victa Regna Poloniae, Lituaniae, Moschoviae. . . Wilno 1691, siehe dazu: Jan Pankiewicz, Węsławski (Samuel). In: Encyklopedia powszechna Orgelbranda (im Folgenden: Enc. Org.), t. 26. Warszawa 1867, S. 803. 21 Paweł Potocki, Moschovia sive brevis narratio de moribus Magnae Russorum Monarchiae. Gdańsk 1670, siehe dazu: Mirosław Nagielski, Potocki Paweł. In: PSB, t. 28. Wrocław (u. a.) 1984, S. 119–121. 22 Samuel Twardowski, Władysław IV. król polski i szwedzki. Leszno 1649; ders., Wojna kozacka późniejsza przez najjaśniejszego króla polskiego i szwedzkiego poparta i ukończona szczęśliwie r. 1651. Leszno 1657; ders., Szczęśliwa moskiewska ekspedycja Władysława IV. opisana roku 1634. Warszawa 1634, siehe dazu: Franciszek M. Sobieszczański, Twardowski (Samuel ze Skrzypny). In: Enc. Org., t. 25. Warszawa 1867, S. 788 f. 23 Er gilt als Autor des Werkes „Adversus Graecos“, siehe dazu: Stanisław Wielgus, Eneasz z Paryża. In: Encyklopedia katolicka (im Folgenden: EKat.), t. 4. Lublin 1985, S. 997. 24 Bischof von Ostia, seine Schriften wurden 1606–1640 in Rom veröffentlicht, siehe dazu: Jan Nadratowski, Damiani Piotr. In: Encyklopedia kościelna podług Teologicznej Encyklopedii Wetzera i Weltego z licznymi jej dopełnieniami, (im Folgenden: Enc. Nowodw.), t. 4. Warszawa 1874, S. 17–19. 25 Nicefor. In: Enc. Org., t. 19. Warszawa 1865, S. 316.

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mon (13. Jh.)²⁶, Johannes Duns Scotus (ca. 1266–1308), Barlaam von Kalabrien (ca. 1290–1348/50)²⁷, Antonius († 1391)²⁸, Georgios Trapezuntios (1395–1472/73)²⁹, Manuel Kalekas († 1410)³⁰, Basillius Bessarion (1403–1472)³¹, Georgius Scholarius (XV w.)³², Laonikos Chalkokondyles (ca. 1423–1490)³³, Gennadios II. Scholarius (ca. 1405–1472)³⁴, Joannes Sacrarius († 1527)³⁵, Marcin Białobrzeski (1522–1586)³⁶, Gilbert Génébrard (1537–1597)³⁷, Kassian Sakowicz (1578–1647)³⁸, Mikołaj Cichow­ ski (Cichovius, 1598–1669)³⁹; der orthodoxe Bischof der Republik Polen-Litauen

26 Patriarch von Antiochien, Gelehrter der griechischen Kirche, seine Schriften wurden oft in der Neuzeit veröffentlicht, siehe dazu: Władysław Krynicki, Balsemon Teodor. In: Enc. Nowodw., t. l. Warszawa 1873, S. 620. 27 Süditalienischer Kleriker und Gelehrter aus dem 14. Jahrhundert. Kurzzeitig spielte er eine bedeutende Rolle in der Kirchenpolitik des Byzantinischen Reiches sowie in der orthodoxen Theologie, fiel jedoch während des Streits um die Hesychasten bei dem byzantinischen Kaiser in Ungnade. Später wurde er Bischof von Gerace in Süditalien, siehe dazu: Alice-Mary Talbot, Barlaam of Calabria, in: Oxford Dictionary of Byzantium, vol. l. New York/Oxford 1991, S. 257; Wacław Hryniewicz, Barlaam z Kalabrii. In: EKat., t. 2. Lublin 1985, S. 34 f. 28 Orthodoxer Metropolit von Halytsch, siehe dazu: Janina Stręciwilk, Antonius. In: EKat., t. l. Lublin 1985, S. 665. 29 Griechischer Theologe, Teilnehmer des Konzils von Florenz und Gegner von Bessarion, siehe dazu: Jonathan Harris, George of Trebizond. In: Encyclopedia of Grece and the Hellenic Tradition, vol. l. London/Chicago 2000, S. 664 f. 30 Sprachwissenschaftler, Rhetoriker und Theologe, Verfechter des Dialogs mit den Katholiken, siehe dazu: Alice-Mary Talbot, Kalekas Manuel. In: Oxford Dictionary of Byzantium, vol. 2, S. 1092. 31 Theologe und Humanist, Kardinal und Titularpatriarch von Konstantinopel, siehe dazu: Zofia Włodek, Bessarion. In: EKat., t. 2. Lublin 1985, S. 330. 32 Griechischer Gelehrte, während des Konzils von Florenz Unterstützer der Kircheneinheit, siehe dazu: Leon Rogalski, Scholarius (Jerzy). In: Enc. Org., t. 23. Warszawa 1866, S. 121. 33 Griechischer Historiker und Verfasser der Geschichtsbücher über das Osmanische Reich und über den Untergang des Griechischen Reiches in den Jahren 1298–1462, siehe dazu: Oktawiusz Jur­ ewicz, Historia literatury bizantyńskiej: Zarys. Wrocław/Warszawa/Kraków/Łódź 1984, S. 194–195. 34 Gelehrter, Theologe, Patriarch von Konstantinopel, siehe dazu: John Walton Barker, Gennadi­ os II. Scholarios. In: Encyclopedia of Grece, vol. l. S. 650–652. 35 Joannes Sacrarius, Elucidarium errorum ritus Ruthenici. Kraków 1507. 36 Marcin Białobrzeski, Orthodoxa confessio De uno Deo, quem Christiani catholici credunt [. . . ] ex S. Literis descripta. Adversus omnes Samosateni, Arrij, Eunoij, Nestorij, et similium haereses [. . . ] hoc. . . saeculo [. . . ] revocatas. Kraków 1577. 37 Französischer Theologe, Orientalist und Bibelinterpret, siehe dazu: Czesław Krakowiak, Géné­ brard Gilbert. In: EKat., t. 5. Lublin 1989, S. 942. 38 Kassian Sakowicz, Επανδρΰωστξ abo perspectiva i objaśnienie błędów herezjej i zabobonów w Grekoruskiej Cerkwi Disunitskiej. Kraków 1642, mehr dazu: Franciszak Maksymilian Sobiesz­ czański, Sakowicz Kassian. In: Enc. Org., Bd. 22. Warszawa 1866, S. 821 f. 39 Mikołaj Cichowski, Tribunal [. . . ] patrum orientalium et occidentalium [. . . ] ad quod duas De processione Spiritus Sancti a Patre et Filio et De praeeminentia romanorum pontificum [. . . ] graeci

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und Metropolit von Kiew Sylwester Kossow († 1657)⁴⁰, Maksymilian Smotrycki († 1633)⁴¹, Wojciech Wijuk Kojałowicz (1609–1677)⁴², Ostafi Kisiel († 1653)⁴³, Piotr Pruszcz († 1668)⁴⁴, Teofil Rutka (1622–1700)⁴⁵, Alojzy Jan Kulesza (1660–1706)⁴⁶ oder Maksymilian Wietrowski (18. Jahrhundert)⁴⁷. Der erwähnte Gilbert Génébrard war nicht der einzige westeuropäische Verfas­ ser, auf den sich Chmielowski bei der Beschreibung Russlands stützte. Er berief sich mehrmals auf den schon genannten Cesare Baronio und seine Annales ecclesiastici (1588–1607), die ein Versuch waren, zum einen die Lehre der römisch-katholischen Kirche zu begründen und zum anderen zugleich eine Antwort auf die „Magde­ burger Centuries“ (Centurie magdeburskie) zu geben, eine allgemein bekannte protestantische Kirchengeschichte. Ein anderer Historiker, den Chmielowski in Bezug auf Russland anführte, war Jacques-Auguste de Thou (1553–1617), der eine Historia sui temporis verfasste (Frankfurt am Main 1618). Ein weiterer Gelehrter war Geograph Philipp Cluvier. Gern verwertet wurden die Kenntnisse von Athana­ sius Kircher. Chmielowski schätzte diesen deutschen Geographen sehr hoch und schrieb über ihn: „ein Mann großen und interessanten Verstandes, ein compendi­ um aller antiken Philosophen“⁴⁸. Die Liste schließt das seit dem 17. Jahrhundert in Jesuitenkollegien verwendete Handbuch von Philip Brettius (1601–1668) Par­

schismatis propugnatoribus proponit. Kraków 1658, mehr dazu: Stanisław Bednarski, Cichowski (Cichovius) Mikołaj. In: PSB, t. 4. Kraków 1938, S. 29. ´ 40 Сильвестръ Косiв, Дыдаскалiя, або Навука для святароў, [Орша] 1637, mehr dazu: Алек­ ´ ´ сандр Никольский, Сильвестръ (Коссовъ). In: Русский биографический словарь, т. 18. Санкт-Петербург 1904, S. 433–237. 41 Maksymilian Smotrycki, Apologia peregrinatiey do kraiów wschodnych. Lwów 1628. 42 Wojciech Wijuk Kołajowicz, Miscellanea rerum, ad statum ecclesisticum in Magno Lithuaniae Ducatu pertinentia. Wilno 1650, mehr dazu: Włodzimierz Dworzaczek, Kojałowicz Wijuk Wojciech. In: PSB, t. 13. Wrocław (u. a.) 1968, S. 270–272. 43 Ostafi Kisiel, Antapologia albo Apologia, którą do przezacnego narodu Ruskiego przewieleb­ ny ojciec Melecjusz Smotrzycki rzeczony Archepiskop Połocki etc. napisał, 1632, mehr dazu in: Kazimierz W. Wójcicki, Kisiel Ostafi. In: Enc. Org., t. 14. Warszawa 1863, S. 708 f. 44 Piotr Pruszcz, Forteca duchowna Królestwa Polskiego, Kraków 1662, mehr dazu: Hans-Jürgen Bömelburg, Polska myśl historyczna a humanistyczna historia narodowa (1500–1700). Kraków 2011, S. 465–467. 45 Teofil Rutka, Defensio Sanctae Ortodoxae Orientalis Ecclesiae contra Haereticos, Processionem Spiritus sancti a Filio negnantes. Poznań 1678. 46 Alojzy Jan Kulesza, Wiara prawosławna Pismem Świętym, oycami świętymi, mianowicie greckiemi y Historyą kościelną przez [. . . ] obiasniona. Wilno 1704, mehr dazu: Bronisław Natoński, Kulesza Jan Alojzy. In: PSB, t. 16. Wrocław (u. a.) 1971, S. 145–146. 47 Maksymilian Wietrowski, Historia de schismatibus, ąuibus Ecclesia Dei praesertim Saeculo nono affligebatur. Praga 1731. 48 Benedykt Chmielowski, Nowe Ateny, t. 3. Lwów 1754, S. 652.

64 | Dariusz Dolański alella geographiae veteris et novae (1646) und die ebenfalls von ihm verfassten Annales mundi, sive chronicon ab orbe condito ad annum 1633 (1662). Die Par­ alella ist eine präzise, mit guten Karten versehene Arbeit über die Geographie Europas. Durch ideologische Ausgewogenheit gekennzeichnet, genoss sie einen guten Ruf auch in evangelischen Schulen.⁴⁹ Chmielowski kannte auch die Arbeit von Antonio Possevino (1534–1611), einem sowohl in Polen als auch in Moskau bekannten italienischen Jesuiten und Diplomaten, dem Verfasser der Respublica Moscoviae (1633)⁵⁰, obwohl er sich darauf in den Kapiteln über Russland nicht beruft. Dazu stützte er sich auch auf einen Niderndorff, wahrscheinlich den Autor einer Universal-Geographie Heinrich Niderndorff (1680–1744).⁵¹ Allerdings bleibt die Frage, warum unter diesen Autoren Sigismund Herberstein (1486–1566)⁵² fehlt; eine ähnliche Situation haben wir bei Łubieński in Bezug auf Baronio, Cluvier und Bretti. Neben diesen relativ modernen Arbeiten berief sich Chmielowski auch auf die westlichen Chronisten: Thietmar von Merseburg († 1018) und Siegebert von Gemblours (1030–1112). Es ist bemerkenswert, dass polnische Autoren ruthenische und russische Studien – abgesehen von theologischen Fragen – nicht nutzten. Die wichtigste Kenntnisquelle über Russland waren für Chmielowski und Łubieński die Werke polnischer Autoren, die im 17. Jahrhundert als Ergebnis der Kontakte während der polnisch-russischen Kriege entstanden, sowie die wichtigsten, vor allem älteren westeuropäischen geographischen Kompendien. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Karol Wyrwicz von ihnen. Für seine Geographie-Lehrbücher stellte er zwar kein Verzeichnis von angeführten Autoren auf, bewies aber bei anderer Gelegenheit, dass ihm die westeuropäische Literatur über Russland gut bekannt war. 1766 erschien in Polen eine Übersetzung des Werkes von Jacques Lacombe (1742–1811) Histoire des revolutions de l’empire de Russie (1760) mit einem kritischen

49 Kazimierz Puchowski, Edukacja historyczna w jezuickich kolegiach Rzeczypospolitej 1565–1773. Gdańsk 1999, S. 104–105, hier S. 121. 50 Giovanna Brogi Bercoff, Królestwo Słowian. Historiografia renesansu i baroku w krajach słowiańskich. Warszawa 1998. 51 Heinrich Niderndorff, Geographia generalis, Bd. 1–4. Wirceburgum 1739. Siehe dazu auch: Peter M. Daly/G. Richard Dimler (Hg.), The Jesuit Series part 4: Heinrich Niderndorff, Toronto/ Buffalo/London 2005, S. 203. 52 Sigismund von Herberstein, Moscovia. Basileae 1555, mehr dazu: Ludwig Geiger, Herber­ stein Sigismund. In: Allgemeine Deutsche Biographie (im Folgenden: ADB), Bd. 12. Leipzig 1880, S. 35–39; Wolfgang Geier, Russische Kulturgeschichte in diplomatischen Reiseberichten aus vier Jahrhunderten: Sigmund von Herberstein, Adam Olearius, Friedrich Christian Weber, August von Haxthausen. Wiesbaden 2004, S. 27–62.

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Nachwort von Karol Wyrwicz.⁵³ Dieser unternahm die Aufgabe, ein vollständi­ ges Verzeichnis der europäischen Literatur über Russland anzulegen. Selbst ein flüchtiger Blick darauf zeigt jedoch, dass die Liste nicht vollständig ist. Allerdings präsentierte Wyrwicz eine beeindruckende Auflistung von deutschen, französi­ schen, italienischen, schwedischen, dänischen, polnischen und russischen Auto­ ren, deren Werke – soweit die Beschreibungen bezeugen – ihm mehr oder weniger bekannt waren. Wyrwicz stellte den Inhalt seiner Auswahl von Schriften über Russland also ziemlich genau dar. Darunter waren Jacques Bongard (1554–1612)⁵⁴, ein im Reich ausgebildeter Franzose, der Magni Moscoviae Ducis genealogiae brevis epitome ex ipsorum manuscriptis annalibus excerpta veröffentlichte, sowie die Schriften des ita­ lienischen Humanisten Paulo Giovio, des Humanisten Johann Fabri (1478–1541)⁵⁵, des deutschen Historikers Marward Freher (1565–1614)⁵⁶, des deutschen katholi­ schen Theologen Tilmann Bredenbach (1535–1587)⁵⁷, oder von Joannis Basilides⁵⁸, Alexsander Gwagnin, Maciej von Miechów, Reinhold Heidenstein (1553–1620), Sigmund von Herberstein und Salomon Neugebauer. Von den deutschsprachigen Gelehrten erwähnt Wyrwicz den evangelischen Theologen und Historiker Paul Oderborn (ca. 1555–1604)⁵⁹, weiter Lorenz Müller (1563–1630)⁶⁰, den Schweizer Kupferstecher Jost Amman (1539–1591)⁶¹, der Au­ tor eines Buches über Frauenkleidung in Europa mit Sittenbeschreibung war, ferner Johannes Justus Martius⁶², Balthasar Sigismund von Stosch (1635–1677)

53 Karol Wyrwicz, Uwagi nad „Historią odmian w państwie rosyjskim“. In: Jacques Lacombe, Historia odmian zaszłych w państwie rosyjskim. Warszawa 1766, S. 121–172. 54 Jacques Bongars, Rerum Moscoviticarum Auctores varii: unum in corpus nunc primum conge­ sti. Quibus et gentis historia continetur: et regionum accurata descriptio. Additus est index rerum et verborum inprimis notabilium copiosus. Francofurti 1600, mehr darüber in: Grand Larousse encyklopédique en dix volumes, t. 2. Paris 1960, S. 227. 55 Adalbert Horawitz, Johannes Faber. In: ADB, Bd. 14. Leipzig 1881, S. 435–441. 56 Franz Xavier von Wegele, Freher Marquard. In: ADB, Bd. 7. Leipzig 1877, S. 334 f. 57 Carl Ruland, Bredenbach Tilmann. In: ADB, Bd. 3. Leipzig 1876, S. 279. 58 Jan Basilides, Dux Moscoviae apologia pro illo. Viennae 1711. Es bleibt nicht ausgeschlossen, dass „Basilides“ ein Pseudonym ist, unter dem sich kein anderer als Ivan der Schreckliche verbirgt. Vgl. auch Bazylow, Historia Rosji, t. 1. S. 26 und 28. 59 Paul Oderbrorn, Ioannis Basilidis Magni Moscoviae Ducis vita. Witebergae 1585, mehr dazu: I. u., Oderborn Paul. In: ADB, Bd. 24. Leipzig 1887, S. 149. 60 Lorenz Müller, Polnische, Liffländische, Moschowiterische, Schwedische und andere Historien, so sich unter diesem jetzigen König zu Polen zugetragen. Franckfort am Mayn 1595. 61 Jost Amman, Gynaeceum sive theatrum mulierum. Francofurtum 1586, mehr dazu: Wilhelm Schmidt, Amman Jost. In: ADB, Bd. 1. Leipzig 1875, S. 401. 62 Johannes Justus Martius, Stephanus Razin Donicus Cosacus perduellis. Wittenbergae 1674.

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und seine Arbeit über Vererbung, in der er die Titel des Moskauer Monarchen⁶³ ausführlich beschrieben, Augustin Meyerberg (1612–1688)⁶⁴, Johann Christoph Becmann (1641–1717)⁶⁵, Daniel Printz (1563–1630)⁶⁶, Samuel Puffendorf, weiter die Historiker und Juristen Gottlieb Samuel Treuer (1683–1743)⁶⁷ und Martin Schmeizel (1679–1747)⁶⁸ sowie den lutherischen Theologen Johann Franz Buddeus (1667–1729)⁶⁹. Eine große Gruppe von Wissenschaftlern vertreten in dieser Liste waren Skan­ dinavier, nämlich Schweden und Dänen wie: Petrus Petreius (1570–1622)⁷⁰, schwe­ discher Diplomat und Reisender, sowie Autor der mehrmals in Schwedisch und Deutsch herausgegebenen Moskauer Chronik, der schwedische Historiker Johan Widekindi (1618/20–1675)⁷¹, der Superintendent der evangelischen Kirche in Rewal Nicolaus Berg († 1706)⁷², der schwedische Offizier und Geograph Johan von Strah­

63 Balthasar Sigismund Stosch, Von dem Praecedentz- Oder Vorder-Recht, aller Potentaten und Respubliquen in Europa Samt einer sonderbaren Zugabe von der Hoheit des Ertz-Hertzoglichen Hauses Oesterreich. Jena 1678. 64 Augustin Meyerberg, Voyage En Moscovie D’U Ambassadeur, Conseiller de la chambre Impré­ riale, Envoyé par L’Empereur Léopold Au Czar Alexis Mihalowics, Grand Duc de Moscovie. Leyden 1688. 65 Johann Christoph Beckmann, Historia Orbis Terrarum Geographica Et Civilis, De Variis Negotiis Nostri potiss. & Superioris Seculi, Aliisve Rebus Selectioribus. Francofurtum ad Oderam 1680, mehr dazu: Franz Xavier Wegele, Becmann Johann Christoph. In: ADB, Bd. 2. Leipzig 1875, S. 240 f. 66 Daniel Printz, Moscoviae ortus et progressus. Nissae 1668. 67 Gottlieb Samuel Treuer, Apologia pro Joanne Basilide II., magno duce Moscoviae, tyrannidis vulgo falsoqve insimulato. Viennae 1711, mehr dazu: Paul Zimmermann, Treuer Gottlieb Samuel. In: ADB, Bd. 38. Leipzig 1894, S. 582 f. 68 Martin Schmeizel, Oratio inauguralis de titulo Imperatoris, quem Tzaarus Russorum sibi dari praetendit. Jena 1722, mehr dazu: Gustav F. Hertzberg, Schmeitzel Martin. In: ADB, Bd. 31. Leipzig 1890, S. 633 f. 69 Johann Franz Buddeus, Ecclesia Romana Cum Ruthenica Irreconciabilis. Jena 1719, mehr dazu: Kurt Aland, Buddeus Johann Franz. In: Neue Deutsche Biographie (im Folgendem: NDB), Bd. 2. Berlin 1955, S. 715. 70 Petrus Petreius, Historien und Bericht von dem Großfürstenthum Muschkow. Lipsia 1620, mehr dazu: Kari Tarkiainen, Petrus Petrejus. In: Svenskt biografiskt lexicon (im Folgendem: SBL), vol. 29. Stockholm 1995–1997, S. 226. 71 Johan Widekindi, Historia belli sveco-moscovitici decennalis sub Carlo IX et Gustavo Adolpho de la Gardie, Stokholm 1672, siehe dazu: Widekindi Johannes. In: Svenskt biografiskt handlexikon (im Folgendem: SBHL), vol. 2. Stockholm 1906, S. 722. 72 Nicolaus Berg, Exercitatio historico-theologica de statu Ecclisiae et religionis Moscovitae. Lubecae 1709, siehe dazu: Bergius Nicalaus. In: SBHL, vol. 1. Stockhom 1906, S. 78.

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lenberg (1676–1747)⁷³, der Russland als Gefangener kennen lernte, und Erik Julius Björner (1696–1750)⁷⁴. Von französischen Autoren kannte Wyrwicz Adrien Baillet (1649–1706)⁷⁵, Jean Rousset de Missy (1686–1762), dessen Buch über Peter I. er kannte, seine an­ dere Arbeit über Katharina die Große⁷⁶ jedoch nicht erwähnte, ferner den im 18. Jahrhundert lebenden Hubert le Blanc, der den Besuch von Peter I. in Paris⁷⁷ beschrieben hatte und natürlich die von Voltaire (1694–1778)⁷⁸ geschriebene Ge­ schichte Russlands unter dessen Herrschaft. Eine andere Autorengruppe waren Italiener: Antonio Possevino, Maiolino Bisaccioni (1582–1663)⁷⁹ und Antonio Cati­ foro (1685–1763)⁸⁰. Auf der Liste von Wyrwicz waren ferner der Holländer Markus Zuerius von Boxhorn (1612–1653)⁸¹, der Grieche Christophori Angeli († 1639)⁸² und der Brite John Milton (1608–1674), dessen Geschichte Russlands⁸³ der polnische Gelehrte hoch schätzte. Eine große Gruppe von Publikationen über Russland, die Karol Wyrwicz an­ führte, waren Reiseberichte. Als erste wäre hier die populäre Moscovia von Sieg­ mund von Herberstein zu nennen, die für den Anfang der westeuropäischen Russ­

73 Philip Johan von Strahlenberg, Das Nord-und Ostliche Theil von Europa und Asia. Stockholm 1730; ders., Description historique de l’Empire russien. Amsterdam 1757, siehe dazu: Stralenberg Filip Johan, in: SBHL, vol. 2. Stockholm 1906, S. 541. 74 Erik Julius Björner, Schediasma historico-geographicum de varegis, heroibus Scandianis et pri­ mis Russiae dynasatis. Stockholm 1743, siehe dazu: Björner Erik Julius, in: SBHL, vol. 1. Stockholm 1906, S. 103. 75 Adrien Baillet, Relation curieuse et nouvelle de Moscovie, Paris 1698, siehe dazu: Baillet Adrien. In: The Encyclopaedia Britannica. Eleventh edition, vol. 3. New York 1911, S. 219. 76 Jean Rousset de Missy, Mémoires du règne de Pierre le Grand, empereur de Russie. Amsterdam 1725; ders., Mémoires du règne de Catherine, impératrice et souveraine de toute la Russie. Ams­ terdam 1728, mehr darüber: Wihelm Pieter Cornelis Knuttel, Rousset de Missy (Jean). In: Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, deel 1. Leiden 1911, S. 1446 f. 77 Hubert le Blanc, Le Czar Pierre premier en France. Amsterdam 1741. 78 Voltaire, Histoire De L’Empire De Russie Sous Pierre Le Grand, vol. 1–2. Genf 1759–1763. 79 Maiolino Bissacioni, Il Demetrio. Moscovita historia tragica, una parte, Roma 1643, secon­ da parte. Venetia 1649, mehr darüber: Valerio Castronovo, Bisaccioni Maiolino. In: Dizionario Biografico degli Italiani, vol. 10. Roma 1968, S. 639–643. 80 Antonio Catiforo, Vita di Pietro il Grande, imperador della Russia. Venezia 1739. 81 Markus S. Boxhorn, Respublica Moscoviae et urbes. Amsterdam 1630, mehr darüber: Franz Xavier Wegele, Boxhorn Marcus Suerius. In: ADB, Bd. 3. Leipzig 1876, S. 218 f. 82 Christohori Angeli, Enchiridion de statu religionis Russicae. Gedani 1595. 83 John Milton, A brief of History of Moscovy. In: Ders., A complete collection of the historical, political, and miscellaneous works, vol. 1. Amsterdam 1698.

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land-Kunde gehalten wird. Dann kommen Berichte: Von Jakob Ulfeld (1567–1630)⁸⁴, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als dänischer Diplomat tätig war, vom deutschen Diplomaten Adam Olearius (1599–1671)⁸⁵, vom in Kurland geborenen Jacob Reutenfels, der in Moskau als Diplomat⁸⁶ weilte, des deutschen Reisenden Georg Adam Schleussing (ca.1660–1694)⁸⁷, eines Briten Thomas Allison⁸⁸ und schließlich die Beschreibung der Reise einer Moskauer Gesandtschaft zum chine­ sischen Kaiser⁸⁹, herausgegeben von Adam Brandt, der an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert lebte. Außer den älteren Berichten führt Wyrwicz auch Diarien der Botschaft Kaiser Leopolds an Peter I.⁹⁰ an, in denen die Veränderungen im Russ­ land des 18. Jahrhunderts angedeutet waren, sowie Tagebücher des holländischen Malers Cornelis de Bruijn (1652–1726/7)⁹¹, Berichte des englischen, von Peter I. eingeladenen Ingenieurs John Perry⁹² und des deutschen Diplomaten Friedrich Christian Werber († 1739)⁹³. Darüber hinaus berief sich Wyrwicz in weiteren Tei­

84 Jakob Ulfeld, Legatio Moscovita sive Hodoeporicon Ruthenicum. Francofurti 1627, mehr dar­ über: Laurs Laursen, Ulfeldt Jacob. In: Salmonsens konversationsleksikon, Bd. 24. København 1928, S. 217 f. 85 Adam Olearius, Moskowitische und persische Reise: die holsteinische Gesandtschaft 1633–1639. Schleswig 1656, mehr darüber: Friedrich Ratzel, Olearius Adam. In: ADB, Bd. 24. Leipzig 1887, S. 269–276; vgl. dazu auch: Geier, Russische Kulturgeschichte, S. 63–86. 86 Jacob Reutenfels, De rebus Moschoviticis ad Serenissimum Magnum Hetruriae Ducem Cosmum ´ ´ ´ советская ´ Tertium. Padua 1680, mehr drüber: Рейтенфельс (Reutenfels) Яков. In: Большая ´ энциклопедия, т. 21. Москва 1975, S. 605. 87 Georg Adam Schleissing, Anatomia Russiae Deformatae oder Historische Beschreibung Des Moscowiter oder Reusslandes. [Breslau] 1688, mehr darüber: Шлейссинг Георг Адам. In: ´ советская ´ ´ Большая энциклопедия, т. 29. Mocква 1978, S. 432. 88 Thomas Allison, An account of a voyage from Archangel in Russia in 1697. London 1699, mehr darüber: Charles Henry Coote, Allison Thomas. In: Dictionary of National Biography, vol. 1. New York/London 1885, S. 333 f. 89 Adam Brand, Beschreibung Der Chinesischen Reise welche vermittelst einer Zaaris Gesand­ schaft durch dero Ambassadeur, Herrn Isbrand, Ao. 1693, 94 und 95 von Moscau über Groß-Ustiga. . . und durch die Mongolische Tartarey verrichtet worden: und was sich dabey begeben, aus selbst erfahrner Nachricht mitgetheilet. Hamburg 1698, mehr darüber: Julius Löwenberg, Brand Adam. In: ADB, Bd, 3. Leipzig 1876, S. 236. 90 Johann Georg Korb, Diarium itineris in Moscoviam. Vienna 1700. 91 Cornelis Bruijn, Reizen over Moskovie, door Persie en Indie. Amsterdam 1714, mehr darüber: Jan de Hond, Cornelis de Bruijn (1652–1726/27). A Dutch Painter in the East. In: Geert Jan van Gelder/Ed de Moor (Hg.), Eastward Bound. Dutch Ventures and Adventures in the Middle East. London/Atlanta 1994, S. 51–81. 92 John Perry, Der jetzige Staat von Rußland. Leipzig 1717. 93 Friedrich Christian Weber, Das Veränderte Russland, in welchem die ietzige Verfassung Des Geist- und Weltlichen Regiments; der Krieges-Staat zu Lande und zu Wasser; Wahre Zustand der Rußischen Finantzen; die geöffneten Berg-Wercke; die eingeführte Academien, Künste, Manu­

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len seiner Argumentation, wo er die Fehler von Lacombe korrigiert, auf Johann Hübner und das historische Wörterbuch des französischen Priesters Louis Morérie (1643–1680)⁹⁴. All diese westlichen Materialien wurden durch die Arbeiten der polnischen Autoren ergänzt. Wyrwicz erwähnte Odorico Raynaldim (1595–1671) folgend auch die Handschrift von Jan Łaski (1456–1531) Delatio de erroribus Moschorum fac­ ta in Consilio Lateranensi, sowie die Arbeiten von Jan Łasicki (1534–1599)⁹⁵ und Wespazjan Kochowski (1633–1700). Vor diesem Hintergrund präsentierten sich ruthenische und russische Quel­ len und Materialien eher bescheiden. Wyrwicz stellte übrigens fest, dass keine andere Nation in Europa so wenig eigene und fremde Geschichtsschreiber wie Moskau⁹⁶ gehabt habe. In seiner Liste nannte Wyrwicz den Abt des Klosters St. Michael in Kiew Theodosius (* 1034)⁹⁷, den Bischof von Suzdal’ Simon, der das Leben der in den Klosterhöhlen lebenden Mönche beschrieben hatte und die sog. Nestorchronik (Beginn des 12. Jh.). Aus der Neuzeit erwähnt Wyrwicz das etwa Mitte des 16. Jahrhunderts entstandene Buch Stepennaja kniga⁹⁸, an russischen Autoren den in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einer Höhle lebenden Mönch Athanasios Kalnofojski, der die Wunder der Heiligen des Kiever Höhlenklos­ ters⁹⁹ auch auf Polnisch herausgegeben hatte und Sylvester Kossow. Dann folgen die im 18. Jahrhundert nach Russland eingeladenen Ausländer: Siegfried Bayer (1694–1738), der aus Königsberg stammte und das erste Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften wie auch Autor verschiedener Werke über Russ­

facturen, ergangene Verordnungen, Geschäfte mit denen Asiatischen Nachbahren und Vasallen, nebst der allerneuesten Nachricht von diesen Völckern, Die Begebenheiten des Czarewitzen, und was sich sonst merckwürdiges in Rußland zugetragen, Nebst verschiedenen andern bißher unbekannten Nachrichten In einem Biß 1720. gehenden journal vorgestellet werden, Mit einer ac­ curaten Land-Carte und Kupfferstichen versehen. Frankfurt 1721, siehe dazu auch: Geier, Russische Kulturgeschichte, S. 87–132. 94 Louis Moréri, Le grand Dictionaire historique, ou le mélange curieux de l’histoire sacrée et profane. Lyon 1674. 95 Jan Łasicki, Russorum, Moscovitarum et Tartarorum religione, sacrificiis, nuptiarum funerum ritu. Spirae 1582. 96 Wyrwicz, Uwagi nad „Historią odmian w państwie rosyjskim“, S. 123. 97 Ebenda, S. 124, ausführlich darüber in: Gerhard Podskalsky, Chrześcijaństwo i literatura teologiczna na Rusi Kijowskiej (988–1237). Kraków 2000, S. 131–133 und 255–257. 98 Bazylow, Historia Rosji, t. 1. S. 30. 99 Athanasios Kalnofojski, ΤερατούρΥημα, lubo Cuda, ktore były tak w samym świętocudotwor­ nym monastyru Pieczarskim Kiiowskim, iako y w obudwu świętych pieczarach, w których po woli Bożey błogosławieni oycowie pieczarscy, pożywszy, ciężary ciał swoich złożyli. Kiiow 1638, mehr darüber: Кальнофойскiй Афанасий. In: Энциклопедический словарь Брокгауза и Ефрона, т. 14. Санкт-Петербург 1895, S. 115.

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land¹⁰⁰ war, dann Gerhard Friedrich Müller (1705–1783)¹⁰¹, Historiker, Abgänger der Leipziger Universität, sowie der Atlas Russlands¹⁰², der unter der Leitung des französischen Gelehrten Joseph-Nicolas de l’Isle (1688–1768) an der Petersburger Akademie vorbereitet wurde. Bei Wyrwicz waren die Kenntnisse der russischen Quelle zwar viel besser als bei Chmielowski, aber gemessen an der Kenntnis der westeuropäische Literatur ist die Liste derjenigen, die fehlen, signifikant. Unerwähnt bleiben der bedeutendste Vertreter der frühen Phase der modernen russischen Geschichtsschreibung Vasily Tatiščev (1686–1750)¹⁰³ wie auch Avraamij Palicyn († 1626), Ivan Katyrev-Rostovskij († 1640), Fedor Griboedov († 1673)¹⁰⁴ und andere. Die hier vorgenommene Bewertung zeigt deutlich, dass in Polen-Litauen das Buch­ wissen über Russland des 18. Jahrhunderts vor allem aus indirekten Quellen ge­ schöpft wurde, nämlich aus solchen, die mit der Kultur des Westens verbunden wa­ ren. Kenntnisse russischer Quellen und Studien waren praktisch nicht vorhanden. Das 17. Jahrhundert brachte mehrere originelle, aus militärischen Expeditionen resultierende, polnische Studien über Russland hervor, die auch Informationsquel­ len für die Wissenschaftler des Westens waren, im 18. Jahrhundert schöpfte man dann nur mehr aus diesem Ertrag. Als Hauptquelle des enzyklopädischen Wissens über Russland in Polen fungierten also die im Westen entstandenen Studien.

100 Пётр Пекарский, История императорской Академии наук в Петербурге, т. 1. Санкт-­ Петербург 1870, S. 180–196. 101 Ebenda, S. 308–430. 102 Joseph Nicolas de l’Isle, Atlas Russicus, Mappa una Generali et Undeviginti Specialibus Vastissimum Imperium Russicum. Sankt Petersburg 1745, mehr darüber: Делиль (Delisle) Жозеф ´ советская ´ ´ Никола. In: Большая энциклопедия, т. 8. Москва 1972, S. 60. 103 Bazylow, Historia nowożytnej kultury, S. 13; Władysław A. Serczyk, Kultura rosyjska XVIII wieku. Wrocław (u. a.) 1984, S. 55–58. 104 Władysław Andrzej Serczyk, Piotr I Wielki. Wrocław (u. a.) 1990, S. 11.

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Eine Aristokratie für Russland? – Bewertungen des Regierungsantritts Zarin Annas 1730 durch den Wiener Kaiserhof Es sei den Großen des russischen Reiches ernst, eine „ganz neue Regierungsform aufzurichten, die mehr einer Aristokratie als [einer] Monarchie“ gleichkomme, meldete im Frühjahr 1730 ein diplomatischer Vertreter des römisch-deutschen Kaisers aus Moskau an den Wiener Hof.¹ Kaiser Karl VI. und seine Diplomaten rich­ teten daraufhin ihre Aufmerksamkeit nach Moskau und versuchten, die Vorgänge im Russländischen Reich, der neuen Großmacht im Osten Europas, zu verstehen. An seinem geplanten Hochzeitstag war der nur 14-jährige Zar Peter II. an einer besonders schweren Form der Pocken vollkommen unerwartet innerhalb von nur zwölf Tagen am 29. Januar 1730² verstorben. Die Thronfolge im Zarenreich war ungewiss, da die männliche Linie der Romanovs mit seinem Tod erloschen war. In dieser unklaren Situation formulierte der Oberste Geheime Rat, das mächtigste institutionalisierte Gremium des Zarenreichs, Konditionen und erklärte deren An­ erkennung zur Voraussetzung der Thronvergabe. Der Kaiser war über den Verlauf der Dinge im mit ihm verbündeten Russländischen Reich alarmiert, denn das oh­ nehin labile Kräftegleichgewicht Europas und seine Interessen im Russländischen Reich schienen durch den Tod seines Neffen Peters II. und die damit ausgelöste Thronfolgekrise ernsthaft gefährdet. Der Große Nordische Krieg (1700–1721) und der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1714) wirkten bis weit in das 18. Jahrhundert hinein, denn sie hatten das europäische Mächtegleichgewicht entscheidend verschoben.³ Der Vertrag von Sevilla vom November 1729 zwischen den bourbonischen Staaten Spanien und 1 Nomen nominandum (N. n.) an N. n., Moskau, 1730 Februar 16, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (im Folgenden HHStA) Wien, Russland II, Karton 32, Konvolut 2, fol. 39r . Es ist zu vermuten, dass der unbekannte Schreiber der kaiserliche Sekretär Lorenz Caramé ist. Eine Autorenschaft des kaiserlichen Gesandten Wratislaws kann hingegen ausgeschlossen werden. 2 Da die Korrespondenz zwischen dem Kaiserhof in Wien und dem Zarenhof in Moskau nach dem Gregorianischen Kalender datiert ist, folgen die Datumsangaben im Fließtext sowie den Fußnoten dem Gregorianischen Kalender. Falls davon abgewichen wird, ist dies mit einem hochgestellten Jul (DatumJul ) kenntlich gemacht. 3 Klaus Zernack, Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994, S. 232–244 sowie 254; Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Bezie­ hungen 1700–1885. Paderborn/München/Wien/Zürich 1997, S. XIV; Walter Demel, Europäische DOI 10.1515/9783110499797-006

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Frankreich sowie den Seemächten provozierte mit der Stationierung spanischer Soldaten in italienischen Fürstentümern den Kaiser, der Zeit seines Lebens auf territoriale Revisionen auf der italienischen Halbinsel drängte.⁴ Vor diesem Hin­ tergrund und angesichts der Reaktionen der anderen europäischen Mächte schien ein Krieg zwischen Spanien und dem Kaiser zum Zeitpunkt des Todes Peters II. beziehungsweise der Erhebung Annas zur Zarin als wahrscheinlich; dies hielt die europäischen Diplomaten in Atem.⁵ Die im August 1726 zwischen dem Kaiser und dem Russländischen Reich ge­ schlossene Allianz, der das Königreich Preußen 1728 beitrat, galt es nun von der designierten Zarin Anna umgehend bestätigen zu lassen. Mit diesem Bündnis­ schluss ging die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion einher, die die weib­ liche Thronfolge in den habsburgischen Erblanden der österreichischen Linie ermöglichte.⁶ Die Bestätigung der Pragmatischen Sanktion spielte bis in die 1730er Jahre eine große Rolle in der Politik Karls VI., für deren Erlangung der Wiener Hof zu Gegenleistungen bereit war.⁷ Dieses Bündnis und die daran geknüpften gesamt­ europäischen Verflechtungen bedingten das gesteigerte Interesse des Kaiserhauses an der neuen Großmacht im Osten Europas. Die zentrale Forschungsfrage dieses Aufsatzes beschäftigt sich damit, wie die diplomatischen Vertreter des Wiener Hofs in Moskau – namentlich der Gesandte Graf Franz Karl Wratislaw von Mitrowitz⁸, der Resident Nikolaus Sebastian Edler

Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ständische Gesellschaft und europäisches Mächtesystem im beschleunigten Wandel (1689/1700–1789/1800). Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 223–238. 4 Duchhardt, Balance, S. 280 f.; Demel, Geschichte, S. 237. 5 Duchhardt, Balance, S. 280. 6 Ausführlich zum Zustandekommen des Bündnisses und dessen Hintergründe siehe: Duch­ hardt, Balance, S. 275 f.; Michael Erbe, Die Habsburger 1493–1918: eine Dynastie im Reich und in Europa. Stuttgart/Berlin/Köln 2000, S. 137; Harm Klueting, Ausländer in Rußland im 17. und 18. Jahrhundert: Der Fall Ostermann. In: Johannes Volker Wagner/Bernd Bonwetsch/Wolfram Eggling (Hg.), Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687–1747. Essen 2001, S. 143–153, hier S. 151. 7 Duchhardt, Balance, S. 265 sowie S. 271–273; Demel, Geschichte, S. 235; Erbe, Habsburger, S. 137. 8 Graf Franz Karl Wratislaw von Mitrowitz, kaiserlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister am russischen Hof, Ankunft am 26. 06. 1728, belegt, siehe: Friedrich Hausmann (Hg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648). Band 2: 1716–1763. Zürich 1950, S. 78. Das Geschlecht der Grafen Wartislaw von Mitrowitz gehörte zu einem der ältesten und vornehmsten im Königreich Böhmen. Franz Karl Wartislaw von Mitrowitz war Reichsgraf des Heiligen Römischen Reiches, Obrister Erbkuchelmeister des Königreichs Böhmen, Träger des Alexander-Nevskij- und des Andreas-Ordens sowie des polnischen Weißen-Adler-Ordens. Er stand seit 1699 in kaiserlichen Diensten und war Gesandter auf dem Reichstag zu Regensburg. Ab 1722 war er Wirklicher Geheimer Rat und wirkte als kaiserlicher Gesandter am polnisch-sächsischen Hof, wo er zugleich seit 1725 Oberhofmeister der polnischen Königin war. Am 3. August 1727 erhielt

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von Hochholzer⁹ und der Sekretär Lorenz Caramé¹⁰ – sowie der Kaiser und seine Be­ rater in Wien die Veränderungen beim Regierungsantritt Zarin Annas wahrnahmen und beurteilten. Es werden hierbei die Designation Annas zur Nachfolgerin, die damit verbundenen Einschränkungen ihrer Macht durch Konditionen des Obersten Geheimen Rates sowie die (Gegen-)Reaktionen und das letztendliche Scheitern dieser Machteinschränkung analysiert. Es geht hierbei explizit um die Beurteilung der Geschehnisse aus Sicht des Wiener Hofes und nicht um eine Rekonstruktion der Vorgänge. Es gilt zu klären, ob sich in den Berichten des kaiserlichen Gesandten Wra­ tislaw abwertende Stereotype über die neue Zarin Anna und über Russland finden lassen, wie sie für den Reise- und Gesandtschaftsbericht Adam Olearius’ aus dem 17. Jahrhundert, der das Russlandbild lange prägte, charakteristisch sind. Die ge­ nannten Ereignisse im Frühjahr 1730 werden dabei anhand von zwei Leitfragen erörtert: – Stützt der kaiserliche Gesandte in seinen Berichten zu den Ereignissen 1730 die Annahme einer Andersartigkeit des Russländischen Reiches?¹¹ – Lässt sich eine Ost-West-Dichotomie feststellen und zeigen, dass Russland sich fünf Jahre nach dem Tod Peters I. dem petrinischen Kurs der Westausrichtung entzog und aus Verflechtungen mit anderen Staaten Europas zurückzog? Der hier relevante Betrachtungszeitraum erstreckt sich vom Zeitpunkt der Erkran­ kung Peters II. (18. Januar 1730) bis zur Ausrufung Anna Ivanovnas zur Autokratin (8. März 1730). Da deren unmittelbare Auswirkungen mit in den Blick genommen werden, erstreckt sich der Betrachtungszeitraum faktisch bis Mitte März 1730. Die er den polnischen Weißen-Adlerorden. Am Hof der Zarin Anna erwarb er sich hohes Ansehen. Über Wien gelangte er abermals an den polnisch-sächsischen Hof. Im gleichen Jahr wurde er kaiserlicher Gesandter in Schweden. 1734 gelangte er abermals als kaiserlicher Gesandter an den polnischen-sächsischen Hof und wurde auch erneut Obersthofmeister der Königin. 1747 zog er sich auf Grund seines Alters in den Ruhestand zurück. Er vermählte sich 1727 mit Marie Elisabeth, der Tochter des Obersten Hofkanzlers in Böhmen, Graf Wenzel Norbert Kinsky, siehe: Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universal-Lexikon. Halle/Leipzig 1732–1754, Band 59, Sp. 626 sowie Sp. 633–634. 9 Nikolaus Sebastian Edler von Hochholzer, Legationssekretär, seit dem 11. 10. 1727 Resident, Ankunft am 23. 06. 1721, siehe: Hausmann, Repertorium, S. 78. 10 Lorenz von Caramé kam 1726 mit dem kaiserlichen Gesandten Rabutin als Sekretär an den russischen Hof. Er war sowohl unter Wratislaw als auch unter dessen Nachfolger Heinrich Karl Graf von Ostein tätig, siehe: Christian Steppan, Akteure am fremden Hof. Politische Kommuni­ kation und Repräsentation kaiserlicher Gesandter im Jahrzehnt des Wandels am russischen Hof (1720–1730). Innsbruck 2014 [Hochschulschrift], S. 385. 11 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994, S. 5–7 sowie S. 10–13.

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ausgeführten Betrachtungen erfolgen anhand von bisher nicht ausgewerteten, ge­ schweige denn edierten kaiserlichen Gesandtschaftsberichten, die sich im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv befinden.¹²

Das „Doppelband“ des russländisch-kaiserlichen Bündnisses ist zerrissen – Betrachtungen der Designation Annas Die Beurteilung der Situation am russischen Hof durch den kaiserlichen Gesandten Wratislaw beim unerwarteten Tod des jungen Zaren Peters II. zeigt bereits, dass dieser über verschiedene Kontakte zum innersten Machtzirkel am Moskauer Hof verfügte. Er hatte sowohl gute Kontakte zur damals am Hof dominierenden Adelsfa­ milie Dolgorukij als auch zum leitenden Minister Baron Heinrich Johann Friedrich von Ostermann¹³, was sich an seinem guten Informationsstand über die Erkran­ kung des Zaren deutlich zeigt.¹⁴ Er erwies sich als guter Kenner der Machtgefüge am Moskauer Hof und schätzte die Machtverhältnisse treffend ein. Die kaiserlichen Akteure sowie der Kaiser selbst reagierten sofort auf den Tod Zar Peters II. und das damit einhergehende Aussterben der männlichen Linie der russischen Dy­ nastie, da sie eine Auseinandersetzung auf Grund der unklaren Thronfolge nicht ausschließen konnten und daher befürchteten.¹⁵

12 Zum Forschungsstand ausführlich siehe: Steven Müller, Der Versuch der Etablierung einer aristokratischen Regierungsform in Russland 1730 aus der Wahrnehmung des Wiener Hofes. Wien 2014 [Hochschulschrift], S. 18–24; Igor V. Kurukin, Anna Ioannovna. Moskva 2014, S. 5–15; Aleksej Plotnikov/Igor Kurukin, 19 janvarja – 25 fevralja 1730 goda. Sobytija, ljudi, dokumenty. Moskva 2010, S. 7–30. 13 Heinrich Johann Friedrich von Ostermann (1687–1747), Diplomat und Staatsmann. Er erreichte unter der Herrschaft der Zarin Anna Ivanovna den Höhepunkt seiner außergewöhnlichen Karriere und gehörte zwischen 1725 und 1740 zu den bedeutendsten Staatsmännern sowohl in Russland als auch in Europa, siehe: Johannes Volker Wagner, Ein Deutscher am Zarenhof. Heinrich Graf Oster­ mann und seine Zeit. Lebensbilder und Spurensuche. In: Ein Deutscher am Zarenhof, S. 19–47, hier S. 40; Klueting, Ausländer, S. 143–153. Die Schreibweise Ostermanns folgt der in deutschsprachiger Literatur üblichen deutschen Schreibweise. 14 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 5, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 16r–v ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 19, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 96v ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 23, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 40r ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 26, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 43r –44r . 15 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 58r ; Oberster Hofkanzler Sinzendorf an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 22,

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Dem Wiener Hof waren durch seinen Gesandten die relevanten Kandidatinnen und der Thronkandidat bekannt und es gab deutliche Anti- und Sympathien.¹⁶ Es wird dabei deutlich, wie gut der kaiserliche Gesandte auch über die Erbfolgere­ gelungen und somit über mögliche Thronansprüche verschiedener europäischer Häuser informiert war.¹⁷ Nachdem jedoch Anna Ivanovna, verwitwete Herzogin von Kurland, bereits am Morgen nach dem Tod Zar Peters II. zur designierten Za­ rin ausgerufen wurde und die kaiserliche Seite sie in ihrer Korrespondenz auch als solche bezeichnete, befürchtete Wratislaw vorerst keine Destabilisierung des Russischen Reiches.¹⁸ Dennoch: Mit dem Tod Peters II. habe der Kaiser nicht nur einen nahen Ver­ wandten verloren, sondern das wechselseitige Bündnis sei auch nicht mehr durch „ein doppeltes Band“ gesichert.¹⁹ Der Gesandte betonte hier die dynastische Ver­ bundenheit des verstorbenen Zaren mit dem Kaiser. Um deutlich werden zu lassen, dass der Kaiser die Erhebung Annas positiv vernehme, bat der kaiserliche Ge­ sandte explizit um eine öffentliche Reskription zur Vorlage am russischen Hof.²⁰ Wratislaw bezeichnete es gegenüber dem Kaiser noch am Todestag des Zaren als sehr wichtig, dass die Lage in Moskau ruhig bleibe und von allen Seiten auf Gewalt verzichtet werde.²¹ Diese Einschätzung macht deutlich, dass Wratislaw auf Grund

HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 65r ; Prinz Eugen von Savoyen an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 22, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 16r . 16 Es standen folgende Personen zur Auswahl: Die Tochter Peters I., Prinzessin Elisabeth Petrovna, der zweijährige Herzog von Holstein, Karl Peter Ulrich, als Enkel Peters I. und Sohn Anna Petrovnas sowie die weiblichen Nachkommen des älteren Bruders Peters I., Ivan V. Hierzu zählten Katharina Ivanovna, verheiratete Herzogin von Mecklenburg, Anna Ivanovna, verwitwete Herzogin von Kurland, sowie deren jüngere Schwester Praskov’ja Ivanovna. Die mächtige Familie Dolgorukij, die zu einem der vornehmsten und ältesten Geschlechter Russlands zählte und unter Zar Peter II. Schlüsselpositionen am Hof innehatte, versuchte zudem, die Verlobte Peters II., eine Dolgorukij, als künftige Zarin durchzusetzen. Auch Evdokija Lopuchina, die erste Gattin Peters I., war im Gespräch. Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 18, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 61v –62r ; Resident Hochholzer an den Obersten Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 1730 Februar 2, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 59r ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 73v (zweiter Brief). 17 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 59r . 18 Graf Wratislaw an Prinz Eugen von Savoyen, Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 8r . 19 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 77/2v . 20 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 9, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 92v . 21 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 30, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 47v .

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der anfechtbaren Legitimation Annas gewaltsame Zusammenstöße zwischen den unterschiedlichen Hofparteien für möglich hielt. Am 3. Februar 1730 ließ der Ge­ sandte verlauten, dass niemand mit einer solchen Ruhe nach dem Tod Peters II. gerechnet habe, aber vernünftige Leute hätten sich durchgesetzt.²² Der Oberste Ge­ heime Rat, der durch die beiden Adelsfamilien Dolgorukij und Golicyn dominiert war und während des Interregnums die Macht übernommen hatte, ließ Wratislaw die Designation Annas umgehend wissen, da die Mitglieder auf das Wohlwollen des Kaisers hofften, und bestätigte umgehend die Weiterführung der Bündnisse zwischen den beiden Höfen.²³ Auch Feldmarschall Michail Michajlovič Golicyn²⁴, der als geschickt und erfahren galt sowie allgemein hohes Vertrauen und Ansehen genoss, bat, dem Kaiser auszurichten, dass die gute Verbindung zwischen beiden Reichen bestehen bleiben solle.²⁵ Wratislaw kannte die zukünftige Zarin bisher nicht persönlich, wie er selbst schrieb, teilte aber mit, dass sie als eine große Re­ gentin geboren worden sei: Nach dem Tod ihres Mannes sei sie in Kurland eine geachtete Regentin unter einer fremden Nation, die sie respektiert habe, gewe­ sen. Ihr sei es trotz widriger Bedingungen gelungen, einen ordentlichen Hofstaat einzurichten, sie sei ohne Tadel und sparsam.²⁶ Wratislaw nannte ihre wohlbe­ gabte Vernunft eine gute Voraussetzung für eine künftige glückliche Regierung.²⁷ Prinz Eugen von Savoyen schrieb aus Wien ähnlich positiv über die Designation Anna Ivanovnas. Die neue Zarin wisse, einer so großen Regierung gebührend vorzustehen und die Thronerhebung würde nur ganz kleine Veränderungen zwi­ schen beiden Höfen nach sich ziehen. Der Kaiser wünsche, die freundschaftlichen Beziehungen und das Bündnis mit Russland aufrecht zu erhalten.²⁸ Die positiven Bewertungen Wratislaws und Prinz Eugens erscheinen in ei­ nem anderen Licht, wenn sie mit biographischen Details der designierten Zarin kontrastiert werden. Anna Ivanovna war als vierte Tochter Ivans V., des Halb­ bruders Peters I., nicht zur Thronfolge bestimmt.²⁹ Peter I. verheiratete sie aus

22 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 61/1v . 23 Ebenda, fol. 70r (zweiter Brief). 24 Michail Michajlovič Golicyn (1675–1730) Fürst, Generalfeldmarschall, bedeutender Feldherr und Bruder D. M. Golizyns. 1728–1730 Präsident des Militärkollegiums und Mitglied des Obersten Geheimen Rats, siehe: Jewgenij Anissimow, Frauen auf dem russischen Thron. Wien 2008, S. 418. 25 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 70v –71r (zweiter Brief). 26 Ebenda, fol. 74/2v (zweiter Brief). 27 Ebenda, fol. 75r (zweiter Brief). 28 Prinz Eugen von Savoyen an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 22, HHStA Wien, Russland II, Karton 218, Konvolut 3, fol. 16v . 29 Aristide Fenster, Anna Ivanovna. In: Hans-Joachim Torke (Hg.), Die russischen Zaren 1547–1917. München 1995, S. 191–201, hier S. 191.

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politischem Kalkül im Oktober 1710 mit dem Herzog Friedrich von Kurland.³⁰ Da der Herzog bereits im Januar 1711 verstarb, lebte Anna am Petersburger Hof, bis sie 1717 auf Geheiß Peters I. in ihre Residenz nach Mitau³¹ geschickt wurde.³² Sie vertrat als Herzoginnenwitwe die Ansprüche Russlands auf Kurland, da sowohl Polen-Litauen als auch Preußen versucht hatten, sich das kleine Herzogtum einzu­ verleiben. In außenpolitischen Angelegenheiten war sie vollkommen vom Willen des regierenden Zaren beziehungsweise der regierenden Zarin abhängig.³³ Der kurländische Adel war Anna gegenüber feindlich gesinnt.³⁴ Verwüstungen wäh­ rend des Großen Nordischen Krieges und Epidemien bedingten die Armut des Herzogtums Kurland.³⁵ Die fast dreihundert Bittschriften Annas aus Kurland an den Zarenhof zeichnen das Bild einer völlig schutzlosen und gedemütigten Frau und einer mittellosen, vereinsamten Witwe, die ein Spielball der Mächtigen zu sein schien.³⁶ Dieses Bild Annas, das der Historiker Evgenij Anisimov zeichnete, muss jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, da es sich bei den Quellen um Bitt­ schriften handelt. Ihre Anwesenheit bei wichtigen Ereignissen am Hof sowie der Briefkontakt zu Peter I, Katharina I. sowie Peter II. und den hohen Würdenträgern am Hof wie zum Beispiel zu Baron von Ostermann relativieren diese angebliche völlige Abgeschiedenheit Annas von den Angelegenheiten des russländischen Hofes deutlich.³⁷ Wratislaw betonte weiterhin, es sei auch eines der vordringlichsten Interessen der designierten Zarin, ein enges Bündnis mit dem Kaiser zu erhalten.³⁸ Anhand der

30 Klauspeter Strohm, Die kurländische Frage (1700–1763): eine Studie zur Mächtepolitik im Ançien Régime. Berlin 1999, S. 48–54; Evgenij V. Anisimov, Rossija bez Petra. St. Peterburg 1994, S. 208–210. 31 Mitau ist das heutige Jelgava und befindet sich auf dem Staatsgebiet Lettlands. 32 Evgenij V. Anisimov, Anna Ioannovna. Moskva 2002, S. 63; Matthias Stadelmann, Die Roma­ novs. Stuttgart 2008, S. 95. 33 Evgenij V. Anisimov, Anna Ivanovna, in: Voprosy Istorii, 4 (1993), S. 19–33, hier S. 20 (Kurztitel: Anisimov: Anna2 ); Kurukin, Anna, S. 28; Strohm, Frage, S. 57–93. 34 Anissimow, Frauen, S. 86; Stadelmann, Romanovs, S. 95. 35 Anissimow, Frauen, S. 86; Kurukin, Anna, S. 26 f. 36 Anissimow, Frauen, S. 88; Aussagen werden durch die Auswertung der Briefe Annas an Peter I., Katharina I., Menšikov und Ostermann getroffen: u. a. Archiv C. Peterburgskogo Filiala Instituta rossijskoj istorii RAN, f. 270, d 107, l. 268, zitiert nach: Anisimov, Anna2 , S. 20. 37 Kurukin, Anna, S. 25–47; Annas kurze Anwesenheit in St. Petersburg 1718 ist belegt (ebenda, S. 26), ebenso bei der Krönung Katherinas I. 1724 (ebenda, S. 28) und Peters II. 1727 in Moskau; Steppan, Akteure, S. 397; Hochholzer an Kaiser Karl VI., Moskau, 1727 April 1, HHStA Wien, Russland II, Karton 4, Konvolut 1, fol. 100r –102r . Des Weiteren besuchte Katherina Ivanovna 1719 ihre Schwester in Mitau, Kurukin, Anna, S. 29; Cywja Wojdyslawska, Andrej Ivanovič Ostermann, sein Leben und Wirken. Wien 1930 [Hochschulschrift], S. 78. 38 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 75r (zweiter Brief).

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Bewertungen Wratislaws zeigt sich deutlich, dass die positive Bewertung der Zarin vor allem an ihre Legitimation zweckgebunden war: Sie war zum einen den kaiser­ lichen Interessen der Bündnisbewahrung wohlgesonnen und wollte zum anderen die wichtigsten außenpolitischen Akteure in ihren bisherigen Schlüsselpositionen beibehalten. Der Kaiser antwortete seinem Gesandten in Moskau, dass die im Namen der Za­ rin und des Obersten Geheimen Rats gegebenen Versicherungen, Russland werde den Bündnissen mit Wien treu bleiben und die beschriebenen positiven Eigen­ schaften der neuen Zarin die Schmerzen über den Tod des Zaren verringerten.³⁹ Ein Bündnis zwischen Preußen, Russland und dem Kaiser könne nur zum allsei­ tigen Wohl und zur Erhaltung des allgemeinen Friedens sein. Er begrüße, dass Ostermann und Dmitrij Michajlovič Golicyn⁴⁰ in Schlüsselpositionen blieben, was für den Wiener Hof von größtem Interesse war. Ostermann hatte sich nicht nur 1726 für dieses außenpolitische Bündnis stark gemacht, sondern galt auch jetzt als Garant für die Weiterführung. Karl VI. bevorzugte Anna als zukünftige Zarin vor ihrer älteren Schwester Ka­ tharina Ivanovna, der Herzogin von Mecklenburg.⁴¹ Er hatte deren Mann, Karl Leopold von Mecklenburg, 1728 wegen Ungehorsam von dessen Landesherrschaft suspendiert.⁴² Obwohl Katharina Ivanovna im Sommer 1722 mit ihrer Tochter nach Russland zurückkehrte und ab da getrennt von ihrem Mann lebte, wurde die Ehe nie offiziell aufgelöst.⁴³ Thronansprüche von Seiten des mecklenburgi­ schen Herzogs über seine Frau wurden daher sowohl vom kaiserlichen Gesand­ ten als auch vom Kaiser befürchtet.⁴⁴ Bei deren Abwehr stützte sich der Wie­ ner Hof auf die völlige Übereinstimmung in dieser Sache mit den Königen von

39 Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 28, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 77r–v (zweiter Brief). 40 Dmitrij Michajlovič Golicyn (1665–1737), ab 1701 außerordentlicher Botschafter in Istanbul, 1711–1718 Gouverneur in Kiew, ab 1718 Präsident des Kammerkollegiums, Senator und Mitglied des Obersten Geheimen Rats (1726–1730) sowie Initiator der Einschränkung der Selbstherrschaft. Er wurde 1736 verurteilt und starb in der Festung Schlüsselburg, siehe: Anissimow, Frauen, S. 417. 41 Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 28, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 92r –93r (zweiter Brief). 42 Johannes Arendt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750. Göttingen 2013, S. 436–447. 43 Kurukin, Anna, S. 29. 44 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 61/2r–v (zweiter Brief, verschlüsselt); Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 28, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 92r –93r (zweiter Brief).

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Preußen und Polen-Litauen und hoffte am russischen Hof auf den Einfluss Oster­ manns.⁴⁵ Der Kaiser befahl seinem Gesandten, er solle einen guten Eindruck bei der Zarin machen, wenn sie in Moskau ankomme und ein wachsames Auge darauf haben, ob und welche Vorschläge es hinsichtlich ihrer zukünftigen Vermählung gebe.⁴⁶ Wratislaw solle sich so verhalten, dass er sowohl das Vertrauen Annas als auch anderer Entscheidungsträger gewinne, um alle Handlungsoptionen bei einer möglichen Hochzeit Annas zu behalten. Der Kaiser ging von einer zügigen Ver­ mählung im Sinne baldiger Nachkommenschaft aus. Darüber konnte aber nichts Bestimmtes geschrieben werden, da dem Wiener Hof unbekannt war, ob es dazu bereits Absprachen zwischen der Zarin und den Hochadeligen des Russländi­ schen Reiches gab. Deshalb sollte Wratislaw deren Absichten erkunden, ob eine Vermählung vorgesehen sei und ob gegebenenfalls eine inländische oder auslän­ dische Partie vorgezogen werde.⁴⁷ Er sollte sich ausdrücklich nicht öffentlich in das Vermählungsgeschäft einmischen, insbesondere nicht zu erkennen geben, ob Wien eine ausländische oder inländische Partei bevorzuge und die Situation genau erforschen. Vor allem galt es zu verhindern, dass ein möglicher russischer Heiratskandidat den Interessen des Kaisers schadete.⁴⁸ Als den kaiserlichen In­ teressen besonders schädlich wurden die Prinzen Georg von Hessen-Kassel⁴⁹ und Moritz von Sachsen⁵⁰ angesehen, ohne dafür genauere Gründe zu nennen.⁵¹ Die beiden waren bereits früher als Heiratskandidaten für Anna gehandelt worden.⁵² Falls Wratislaw über mögliche Hochzeitskandidaten sprechen müsse, solle er den

45 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 61/2r–v (zweiter Brief, verschlüsselt); Oberster Hofkanzler Graf Sinzendorf an N.n., Wien, 1730 Februar 28, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 86r–v . 46 Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 28, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 80v (zweiter Brief). 47 Ebenda, fol. 81r–v (zweier Brief). 48 Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 März 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 110r . 49 Georg von Hessen-Kassel (1691–1755), älterer Bruder des schwedischen Königs und Enkel des Herzogs Jakob Kettler von Kurland, siehe: Hans Philippi, Die Landgrafschaft Hessen-Kassel 1648 – 1806. Marburg 2007, S. 44. 50 Graf Moritz von Sachsen (1696–1750), illegitimer Sohn Friedrich Augusts I. Er wurde 1726 von den kurländischen Ständen zum Nachfolger des kinderlosen Herzogs Ferdinand Kettler von Kurland bestimmt, um eine Vereinigung Polens mit Kurland zu ermöglichen. Er musste 1727 aus Kurland fliehen. Außerdem war er der Liebhaber Anna Ivanovnas, siehe: Rudolf Vierhaus, Deutsche Biographische Enzyklopädie, Band 7. München 2007, S. 199. 51 Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 März 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 110r (verschlüsselt). 52 Kurukin, Anna, S. 34 sowie S. 36–39.

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Infanten von Portugal ins Gespräch bringen. Vor allem hatte er zu verhindern, dass der spanische Gesandte Duc de Liria⁵³ sowohl bei der Zarin als auch am russischen Hof zu viel Eingang fand.⁵⁴ In der Tat gab es bereits während der Witwenschaft Anna Ivanovnas unzählige Versuche, sie in ihrer Funktion als Herzogin von Kurland wieder zu verheiraten. Diese Heiratspläne scheiterten jedoch, da die vorhandenen Heiratskandidaten den Status quo zwischen Polen-Litauen, Preußen und Russland in Bezug auf Kurland gefährdet hätten.⁵⁵ Ernst Johann Biron, der 1718 an den kurländischen Hof gelangte und Anna im Sommer 1730 nach Moskau folgte, wurde ab 1727 ihr Liebhaber.⁵⁶ Als Zarin dachte Anna jedoch niemals daran, sich erneut zu verheiraten. Es war in Russland durchaus üblich, dass eine regierende Zarin nicht mehr heiratete, um die eigene Freiheit zu bewahren, die mögliche Beteiligung eines Mannes an der Herr­ schaft zu umgehen, sowie innen- und außenpolitische Verwerfungen zu vermeiden. Diese Problematik war bei einer herrschenden Frau deutlich stärker ausgeprägt als bei einem herrschenden Mann.⁵⁷ Dies zeigt sich auch am Engagement des Kai­ sers, der bei den möglichen Ehemännern sehr genau auf die strategischen und bündnispolitischen Vor- und Nachteile für sich in Europa achtete. Eine Heirat mit einem Vertreter aus einem gegnerischen Bündnis galt es zu verhindern. Es wird jedoch auch deutlich, wie vorsichtig der Gesandte in Moskau agieren sollte, um nicht in den Verdacht der direkten Einflussnahme zu gelangen, obwohl er diese de facto anstrebte. Die Bündniswahrung hatte jedenfalls absolute Priorität bei der Beurteilung der Heiratskandidaten. Die Spannungen zwischen Wien und Madrid hatten bedeutende Auswirkun­ gen auf die Beurteilung der Geschehnisse in Moskau. Das Haus Bourbon, das in Frankreich und Spanien regierte, trat dominant auf der italienischen Halbinsel auf. Der Kaiser ging daher auf die Lage der Höfe in Parma, Florenz und der Toskana ein; die kaiserlichen Truppen waren für ein Eingreifen auf der italienischen Halbinsel mobilisiert worden. Wratislaw sollte dem Baron von Ostermann die komplexe Lage in Europa mit bescheidenem Nachdruck beibringen und auf das Verhalten

53 Duc de Liria war von Mai 1727 bis November 1730 der erste spanische Gesandte in Russland, siehe: Karl Stählin, Aus Russischen Archiven, in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte, 2 (1912), S. 399–425, hier S. 419. 54 Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 März 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 110r . 55 Strohm, Frage, S. 74–117; Anisimov, Anna, S. 68–71; Stadelmann, Romanovs, S. 95; Fenster, Anna, S. 192; Kurukin, Anna, S. 28. 56 Anissimow, Frauen, S. 92 f.; Anisimov, Anna2 , S. 21. 57 František Stellner, Die dynastische Politik des russischen Imperiums im 18. Jahrhundert, in: Prague Papers on History of International Relations, 7 (2004), S. 33–55, hier S. 37–39.

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des Duc de Liria Acht geben, sodass dieser kein Gehör erhalte.⁵⁸ In der gesam­ ten Korrespondenz nehmen das Verhalten und die Handlungen des spanischen Gesandten, sowie die Bewertungen durch den Wiener Hof und dessen Vertreter viel Raum ein. Während es zu Beginn der Gesandtschaftsmission Wratislaws 1728 zu persönlichen Animositäten vor allem ausgehend von Duc de Liria gekommen war, verfolgten die beiden Gesandten zwischenzeitlich gemeinsame Ziele.⁵⁹ Daher ist es stark anzunehmen, dass die Negativbeurteilung des spanischen Gesandten vor allem darauf zurückzuführen ist, dass er mittlerweile eine gegnerische Macht vertrat. Die Interaktionen des Duc de Liria am russischen Hof und mit anderen Gesandten wurden nun genauestens beobachtet und stets direkt an den Kaiser gemeldet:⁶⁰ Duc de Liria versuche etwa nach Meinung Wratislaws, bei der Familie Dolgorukij durch ungebührende Selbsterniedrigungen deren Gunst zu erhalten.⁶¹ Die russischen Würdenträger am Hof bemühten sich stets, Gerüchten über eine mögliche Annährung an die spanische Krone oder die Einflussnahme des spani­ schen Gesandten entschieden entgegenzutreten und betonten die Bündnistreue zum Kaiser.⁶² Obwohl der Duc de Liria „nachtheilige argumenta“ vorbrachte, be­ stätigte der russische Hof bekanntlich das Bündnis mit dem Kaiser schriftlich und mündlich bereits vor dem Einzug Annas.⁶³ Den Vorrang Wratislaws bei Audienzen beäugte wiederum der spanische Gesandte stets kritisch und versuchte, mit ihm gleichzuziehen, was ihm zum Wohlfallen Wratislaws nicht gelang.⁶⁴ Betrachtet man die Argumentation des Obersten Geheimen Rats, warum er Anna Ivanovna als künftige Zarin aus dem Kreis möglicher Prätendentinnen und eines Prätendenten auswählte, zeigen sich jedoch primär andere Kriterien als relevant. Die Designation

58 Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Januar 31, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 28r –32v ; Kaiser Karl VI. an Graf Wratislaw, Wien, 1730 Februar 28, HHStA Wien, Russland II, Karton 116, Konvolut 1, fol. 82v –91r (zweiter Brief). 59 Steppan, Akteure, S. 405–407 und 419–429. 60 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 9, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 22r–v ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 16, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 30v –31r (verschlüsselt); Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Januar 26, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 43r–v . 61 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 9, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 91r . 62 Ebenda, fol. 86v –91r ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 13, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 96v –98r . 63 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, undatiert [wahrscheinlich 1730 Februar 23], HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 267r –268v [Fragment] (verschlüsselt). 64 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 27, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 138v /194r ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 2, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 143v –144r .

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Annas zur Zarin geschah auf Grund der Annahme, dass ihre Wahl förderlich für die Machtausweitung des Obersten Geheimen Rates sei.⁶⁵ Dessen Kalkül war, dass sie diesem loyal ergeben sein werde, da sie ihm ihre Ernennung verdankte und ihre Legitimation anfechtbar war.⁶⁶ Die in der Literatur häufig zu findende Annahme, dass Anna während ihres Aufenthalts in ihrer kurländischen Residenz keinerlei Verbindungen zum Moskauer Hof hatte⁶⁷ und deswegen auch in diplomatischen Kreisen unbekannt war⁶⁸, trifft nicht zu.⁶⁹ Auch für Ostermann war die Wahl An­ nas die beste Lösung des Thronstreits.⁷⁰ Er hatte mit ihr bereits während ihrer Zeit in Mitau regelmäßig korrespondiert und genoss ihr volles Vertrauen und ihre Sympathie.⁷¹

Sie sollen verbannt und ihre Seelen verflucht sein – Die Machteinschränkung Annas durch die Konditionen des Obersten Geheimen Rates Da es Gerüchte um die Machtbeschränkung der zukünftigen Zarin gab, sahen sowohl der Kaiser als auch Wratislaw trotz der günstigen Vorzeichen für eine Thronfolge Annas die Gefahr möglicher Unruhen und Anfechtungen. Der Versuch der Etablierung einer aristokratischen Regierungsform kam in der diplomatischen Korrespondenz an den Wiener Hof früh und ausführlich zur Sprache.⁷² Die verschie­ denen kaiserlichen Akteure kamen mitunter bei der Betrachtung der Vorgänge in

65 Fenster, Anna, S. 193; Anissimow, Frauen, S. 74; Cynthia Hyla Wittaker, Russian Monarchy: Eighteen-Century Rulers and Writers in Political Dialogue. DeKalb 2003, S. 70; Walther Recke, Die Verfassungspläne der russischen Oligarchen im Jahre 1730 und die Thronbesteigung der Kaiserin Anna Ivanovna, in: Zeitschrift für Osteuropäische Geschichte, 2 (1912), S. 11–64, hier S. 20. 66 Ebenda, S. 21; Fenster, Anna, S. 193; Anisimov, Anna2 , S. 19. 67 Fenster, Anna, S. 193; Stadelmann, Romanovs, S. 95; Gerd Steinwascher, Die Oldenburger: Die Geschichte einer europäischen Dynastie. Stuttgart 2011, S. 189. 68 Anisimov, Anna, S. 50; Anisimov, Rossija, S. 201. 69 Siehe Fußnote 38 sowie Strohm, Frage, S. 93 f. und 103–105. 70 Wojdyslawska, Andrej, S. 77 f.; Recke, Verfassungspläne, S. 19. 71 Wojdyslawska, Andrej, S. 78. 72 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 69r–v (zweiter Brief). Resident Hochholzer an den Obersten Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 1730 Februar 3, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 58v .

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Moskau zu unterschiedlichen Beurteilungen.⁷³ Die Konditionen der Mitglieder des Obersten Geheimen Rats wurden spätestens am 23. Februar 1730 an den Kaiser übermittelt, nachdem dieser sich lange Zeit trotz größten Bemühens mit unklaren Meldungen hatte zufrieden geben müssen.⁷⁴ Diese Konditionen des Obersten Geheimen Rats beschnitten die absolutistische Macht der Zarin und schufen de jure eine Wahlmonarchie mit einem aristokratischoligarchischen Machtzentrum. Der Herrscherin war es ohne die Zustimmung des Obersten Geheimen Rats nicht gestattet, Frieden zu schließen, Krieg zu erklären sowie über das Militär zu verfügen. Auch in ihren dynastischen Rechten betreffend Heirat und Nachfolgeregelung war die Zarin nicht mehr allein handlungsfähig. Der Oberste Geheime Rat behielt sich auch vor, vakant gewordene wichtige Staatsämter selbst neu zu besetzen. Beim einseitigen Versuch, diese Konditionen zu verändern oder beim Verstoß dagegen sollte der Zarin die Krone entzogen werden.⁷⁵ Die Befürworter und Gegner dieser Maßnahmen waren dem Gesandten zu­ meist bekannt.⁷⁶ Als Taktiker der Macht täuschte Baron von Ostermann, der als wichtigster Vertreter der Autokratie galt, eine Krankheit vor, um sich einer direkten Stellungnahme zu entziehen.⁷⁷ Der Wiener Hof ging davon aus, dass die Kondi­ tionen von Anna angenommen würden.⁷⁸ Dies relativierte sich jedoch dadurch, dass auch innerhalb des Obersten Geheimen Rats, des Adels und der Generali­

73 N. n. an N. n., Moskau, 1730 Februar 16, HHStA Wien, Russland II, Karton 32, Konvolut 2, fol. 41r–v . Es ist zu vermuten, dass der unbekannte Schreiber der Sekretär Lorenz Caramé ist. Eine Autorenschaft Wratislaws kann ausgeschlossen werden. 74 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 23, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 129r–v (verschlüsselt). 75 Ebenda, fol. 129r–v (verschlüsselt); Articul, undatiert, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 198r ; Dmitrij Aleksandrovič Korsakov: Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny. ˙ Istoričeskij etjud, 1 Ausgabe. Kazan’ 1880, S. 8 f. und 17 f. 76 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 9, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 92v sowie fol. 89r–v ; N. n. an N. n., Moskau, 1730 Februar 16, HHStA Wien, Russ­ land II, Karton 32, Konvolut 2, fol. 39r ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 20, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 175v (verschlüsselt). 77 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 6, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 89r–v (verschlüsselt); Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 13, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 98v –99r (verschlüsselt); Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 23, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 128r (verschlüsselt). 78 N. n. an N. n., Moskau, 1730 Februar 16, HHStA Wien, Russland II, Karton 32, Konvolut 2, fol. 40v . Es ist zu vermuten, dass der unbekannte Schreiber der Sekretär Lorenz Caramé ist. Eine Autorenschaft Wratislaws kann ausgeschlossen werden.

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tät gegensätzliche oder doch zumindest divergente Positionen wahrgenommen wurden. Diejenigen, die die russischen Verhältnisse kannten, waren der Ansicht, die Zarin werde die Machtbeschränkung auf lange Sicht rückgängig machen.⁷⁹ Eine Autokratie sei die empfehlenswerteste Option für eine große Monarchie wie Russland, urteilte Wratislaw mit Bezugnahme auf die Verhältnisse der letzten Jah­ re, obwohl er warnte, dass der gesamte Adel bald durch einen zu strengen Herrn oder einen geistig trägen Monarchen, durch die Anmaßungen eines Favoriten oder durch einen Minderjährigen übermächtig regiert würde.⁸⁰ Er beobachtete die Si­ tuation besorgt und entsprechend sorgfältig: Ostermann befand sich immer noch im Krankenbett, aber Wratislaw prognostizierte, dass er sich nach der Ankunft Annas wieder zeigen werde.⁸¹ Wieder und wieder repetierten die Vertreter des Kaisers in Moskau ihre strikte Befürwortung der autokratischen Herrschaft. Diejenigen Personen, die auf die verschiedenen Reformprogramme geschworen hatten, sollten verbannt und ihre Seelen verflucht sein, urteilte Wratislaw.⁸² Der Adel und die Generalität initiierten und diskutierten vor Ort verschiedene Reformprogramme und versuchten somit, die Vorschläge des Obersten Geheimen Rats in Form der Konditionen zu ihren Gunsten zu verändern. Diese Diskussionen waren sowohl in ganz Moskau als auch in diplomatischen Kreisen bekannt, wie die Überlieferung dreier Reformprojek­ te durch den kaiserlichen Gesandten belegen.⁸³ Bei der Bewertung wird anhand

79 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 20, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 176v (verschlüsselt). 80 Ebenda, fol. 176v und 168r (verschlüsselt). 81 Ebenda, fol. 168r (verschlüsselt). 82 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 23, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 127v (verschlüsselt). 83 Reformprojekt 1, Moskau, unbekannt, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 200r –201r . Das „Projekt der Dreizehn“ ist im originalen Wortlaut publiziert, siehe: Dmitrij ˙ Aleksandrovič Korsakov, Vocarenie imperatricy Anny Ioannovny. Istoričeskij etjud, 2. Ausgabe. Kazan ’ 1880, S. 5. Reformprojekt 2, Moskau, unbekannt, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 202r –203v . Das Projekt findet sich in publizierter Form bei Korsakov, Vocarenie (zweite Ausgabe), S. 9–11 sowie bei Marc Raeff, Plans for Political Reform in Imperial Russia, 1730–1905. Englewood Cliffs 1966, S. 46–48 (in englischer Übersetzung). Reformprojekt 3, Mos­ kau, unbekannt, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 204r . Das Projekt wird in der Forschung nach seinen Unterzeichnern auch als Čerkasskij-, Grekov- oder Sekiotov-Projekt bezeichnet. Auch der Name „Projekt der 361“, der sich nach der Anzahl der Unterzeichner richtete, ist gebräuchlich, siehe: Brenda Meehan-Waters, Autocracy and Aristocracy. The Russian Service Elite of 1730. New Brunswick 1982, S. 140; Der Historiker S. N. Dudkin fand in seiner Diplomarbeit, die an der Staatlichen Universität Petersburg erschien, heraus, dass das Projekt Alaberdeeva ebenfalls das gleiche Projekt ist, siehe: S.N. Dudkin, Istočnikovedenie dvorjanskich nakazov 1730

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der zum Teil unspezifischen und fehlerhaften Äußerungen Wratislaws, sowie der nicht immer klaren Unterscheidung zwischen den Reformprojekten des Adel und Generalität und den Konditionen des Obersten Geheimen Rat deutlich, dass der Gesandte offensichtlich keine validen Verbindungen außerhalb des Hofes hatte. Seine Beobachtungen sind hier also durchaus problematisch, da sie teilweise auf falschen Annahmen beruhen; seine Vernetzung mit dem engsten Machtzirkel um Peter II. und auch um Anna ist jedoch bemerkenswert. Die Auswertung der ver­ schiedenen Reformprojekte, die hier nicht erfolgen kann, leistet einen Beitrag zur weiterführenden Diskussion über die Motivationen und Partizipationsmöglichkei­ ten des Adels und stellt den bisherigen Forschungsstand zur Diskussion. In aller Kürze kann gesagt werden, dass die Interessen des Adels deutlich heterogener waren als bisher angenommen.⁸⁴

Gottlob – Der Einzug der Zarin in Moskau und das Scheitern der Verfassungsreform Am 26. Februar 1730 gelangte Anna aus ihrer Residenz Mitau kommend nach Vses­ vjatskoe vor Moskau.⁸⁵ Dort empfingen sie die Mitglieder des Obersten Geheimen Rats und sie wartete darauf, dass die Vorbereitungen für ihren feierlichen Einzug abgeschlossen wurden.⁸⁶ Der kaiserliche Gesandte hatte die Ehre, die künftige Zarin vor ihrem Einzug zu treffen, wozu ihm der russische Adlige Vasilij Lukič Dolgorukij, ein Freund Wratislaws, die Möglichkeit verschaffte. Er machte der Za­ rin gemeinsam mit dem kaiserlichen Residenten und dem Sekretär, sowie dem blankenburgischen Gesandten und dem holsteinischen Oberkämmerer Graf Nils Bonde die private Aufwartung.⁸⁷ Da Vasilij Lukič Dolgorukij den Zugang zu Anna bis zu ihrem Einzug beaufsichtigte, um sie über die Geschehnisse in Moskau im Unklaren zu lassen, war sie hinsichtlich Informationen über die Stimmung in der Hauptstadt auf ihre Schwester Katharina von Mecklenburg und die Frauen der

g. St. Peterburg 1995, S. 118 f., zitiert nach: Aleksandr V. Kamenskij, Ot Petra II. do Pavla I. Reformy v Rossii XVIII. veka. Moskva 1999, S. 215. 84 Dazu ausführlicher siehe: Müller, Versuch, S. 66–78. 85 Anisimov, Anna, S. 42; Anissimow, Frauen, S. 94. 86 Philip Longworth, The three Empresses: Catherine I, Anna and Elizabeth of Russia. London 1972, S. 98. 87 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 27, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 138r–v .

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Autokratie-Anhänger angewiesen.⁸⁸ Anna erkannte dabei, dass die Konditionen keine geschlossene Forderung der staatstragenden Elite waren, wie ihr dies bei der Unterzeichnung der Konditionen in Mitau suggeriert worden war und, dass es auch keine Einigkeit über das Ausmaß der Beschränkungen ihrer Macht gab.⁸⁹ Nach Abschluss der Vorbereitungen für ihren Empfang zog Anna feierlich in Moskau ein.⁹⁰ Sie erschien mit dem blauen Andreas-Orden⁹¹, der ihr Großkanz­ ler Gavrijl Ivanovič Golovkin⁹² am Tag zuvor verliehen hatte. Ohne Antrag hatte sie sich an demselben Tag unter den Freudenbezeugungen der drei betroffenen Korps selbst zum Obristen der Preobraženskij-Garde, zum Hauptmann einer Rei­ tergarde und einer Artillerieeinheit ernannt.⁹³ Wratislaw konnte nicht einschätzen, wie diese Aktion von denjenigen aufgenommen wurde, die die Macht der Zarin beschränken wollten, da sie bereits einen Bruch der am 5. Februar unterschrie­ benen Konditionen darstellte. Andere Urteile schätzten die Aktion als männliche Willensäußerung und Artikulation ihres Rechtsanspruches ein.⁹⁴ Anna wurde in diesem Zusammenhang als „Soldatesca“ bezeichnet.⁹⁵ Es ist bemerkenswert, dass ihr und ihren Handlungen männliche Attribute zugesprochen wurden und sie den Andreasorden, der Männern vorbehalten war, verliehen bekam und nicht den für Frauen äquivalenten Katharinen-Orden. Der Adel in Russland sei blinden Gehorsam gewohnt und werde sich bald wieder in seinem natürlichen Zustand befinden, urteilte Wratislaw in dieser Pha­ se über die Situation in Moskau. Wie die in Opposition zum Obersten Geheimen Rat stehende Garde die Vorgänge bewertete, wusste er nicht.⁹⁶ Er konnte noch

88 Anisimov, Anna, S. 42; Wittaker, Monarchy, S. 74; Wojdyslawska, Andrej, S. 88, V. Tret´jakova, Vremja imperatora Petra, Petra II i imperatricy Anny Ioannovny. Perevorot 1762 goda. Moskva 1997, S. 49–50. 89 Anissimow, Frauen, S. 97; David M. Griffits, Anna Ivanovna. In: Joseph L. Wieczynski (Hg.), The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History, Vol. 2. Gulf Breeze 1978, S. 10. 90 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 27, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 135r–v . 91 Die ersten beiden russischen Orden, der Andreas-Orden (für Männer) und der KatharinenOrden (für Frauen), wurden in Russland für hohe Verdienste gegenüber dem Staat verliehen, siehe: Juri M. Lotmann, Rußlands Adel: Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I. Köln/ Weimar/Wien 1997, S. 34. Anna Ivanovna bekam den Männerorden, obwohl sie eine Frau war. 92 Gavrijl Ivanovič Golovkin (1660–1734) Graf, Kanzler seit 1709, Vorsteher der Botschaftsabteilung und der Kanzlei, Präsident des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten und Mitglied des Obersten Geheimen Rats, siehe: Anissimow, Frauen, S. 418. 93 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 27, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 136r . 94 Ebenda, fol. 136r (verschlüsselt). 95 Ebenda, fol. 137r (verschlüsselt). 96 Ebenda, fol. 137r (verschlüsselt).

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nicht beurteilen, wer Einfluss auf Anna ausübte. Wratislaw hatte in Moskau jedoch einen Stimmungsumschwung zu Gunsten der Gegner der Machtbeschränkung wahrgenommen.⁹⁷ Anna dachte vielleicht, je länger sie abwesend sei, desto stär­ ker würden die Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern der Machtbeschränkung sowie über deren genaues Ausmaß, mutmaßte Wratislaw.⁹⁸ Gegenüber den in Moskau anwesenden Mitgliedern des Obersten Geheimen Rats äußerte sich Anna in dieser Phase ausweichend und zweideutig.⁹⁹ Wratislaw warn­ te jetzt ausdrücklich vor einer Unterschätzung der Gegenseite und schätzte die Situation als ungünstig ein, zumal die als vorgetäuscht angenommene Krankheit Ostermanns nun doch ernster zu sein schien.¹⁰⁰ Dessen möglichen Verlust schätzte Wratislaw als ungemein schwerwiegend ein.¹⁰¹ Ihm blieb Ostermanns Rolle bei der Wiederherstellung der Autokratie nicht verborgen; Ostermanns Korrespondenz mit Anna in dieser Phase ist belegt.¹⁰² Wratislaw gelang es, sowohl schnellen Zugang zur Zarin zu bekommen als auch Verbindungen zum Obersten Geheimen Rat zu pflegen. Die für den Kaiser so wichtige Bündnisfrage konnte er zu dessen Gunsten lösen, wobei sich noch einmal eine enge Verbundenheit zwischen Preußen, Holstein und dem Kaiserhof offen­ barte. Es zeigt sich deutlich, dass er die Garde und Ostermann als sehr bedeutend wahrnahm, womit er letztendlich Recht behalten sollte. Nach dem öffentlichen Einzug in Moskau begann die Zarin ihre Regierung mit großem Elan.¹⁰³ Am 1. März hielt sie eine erste Audienz für die diplomatischen Ver­ treter ausländischer Mächte.¹⁰⁴ Wratislaw durfte mit dem kaiserlichen Residenten Hochholzer, seinem Sekretär Caramé und seinem Gefolge vor allen anderen Ge­ sandten zur Audienz.¹⁰⁵ Er trug Anna in Anwesenheit vor dem Obersten Geheimen Rat, den Feldmarschällen und den Hofdamen vor, dass ihre wohlaufgenommene Thronfolge und ihre löblichen Eigenschaften den Schmerz über den Verlust des jungen Zaren Peter II. gelindert hätten.¹⁰⁶ Die Zarin bestätigte das Bündnis mit

97 Ebenda, fol. 137v (verschlüsselt). 98 Ebenda, fol. 138r (verschlüsselt). 99 Ebenda, fol. 194r–v (verschlüsselt). 100 Ebenda, fol. 194v (verschlüsselt). 101 Ebenda, fol. 194v und 139r . 102 Nikolaj N. Petruchincev, Formirovanie vnutripolitičeskogo kursa i sud ’by armii i flota. 1730–1735 g. St. Petersburg 2001, S. 42 f. 103 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 2, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 141r . 104 Ebenda, fol. 141v . 105 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 2, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 141r . Ebenda, fol. 142r . 106 Ebenda, fol.142v –143r .

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dem Kaiser. Nach der Beendigung der Audienz folgten der spanische Gesandte Duc de Liria, ferner dänische, schwedische, sächsisch-polnische und preußische Abgesandte, sowie der mecklenburgische, blankenburgische und holsteinische Gesandte.¹⁰⁷ Nachdem Graf Wratislaw auch die Mitglieder des Obersten Geheimen Rats aufgesucht hatte, berichtete er, dass die innenpolitischen Angelegenheiten des Russländischen Reiches noch nicht gänzlich geklärt seien. Er war aber zuver­ sichtlich hinsichtlich friedlicher Lösungen und wurde von der Zarin aufgefordert, nach dem gemeinsamen Kirchgang bei ihr an der Tafel zu bleiben. Wratislaw be­ schrieb den noch nicht umgebildeten Hofstaat als sehr geordnet und berichtete von Personen aus Kurland, die übernommen werden sollten.¹⁰⁸ Dass diese Übernahme von kurländischen Personen am russischen Hof als Verwestlichung oder Moderni­ sierung wahrgenommen wurde, ist anhand der Auswertung der Korrespondenz nicht zu belegen. Die Wiederherstellung der autokratischen Macht und die damit verbundenen Vorgänge waren dem Kaiser in Wien bestens bekannt.¹⁰⁹ Anna nutzte die Gegen­ sätze innerhalb des Adels, um die Macht mittels der ihr wohlgesonnenen Garde wiederzugewinnen.¹¹⁰ Da es zu Auseinandersetzungen zwischen den Befürwortern und Gegnern der Konditionen kam, war Anna plötzlich Schiedsrichterin zwischen den beiden Gruppierungen.¹¹¹ Damit hatte sie ihre volle Handlungsfähigkeit zu­ rückgewonnen, denn die Mehrheit des Adels erkannte ihre Souveränität gegenüber dem Obersten Geheimen Rat an.¹¹² Die Ablehnung einer oligarchischen Herrschaft der Familien Dolgorukij und Golicyn war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Betreiber einer Beschränkung der Autokratie aus ganz unterschiedli­ chen Gründen einigen konnten. Letztendlicher Auslöser für die Wiederherstellung der Autokratie war die Rebellion der Garde gegen die Machtbeschränkung. Als unmittelbare Auswirkung wurde der sich ankündigende, aber nun sehr rapide voranschreitende Machtverlust der Dolgorukij gesehen. Durch einen vom 4. März

107 Ebenda, fol. 143v . 108 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 6, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 150r . 109 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 9, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 155r–v ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 151/3r–v ; Bittschrift der Generalität und des Adels an die Zarin, Moskau, 1730 Februar 25Jul , HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 206r ; Bittschrift von N. n. an die Zarin, Moskau, ohne Datum, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 208r . Es handelt sich hierbei um die zweite Bittschrift des 8. März 1730. 110 Zernack, Polen, S. 247. 111 Anisimov, Anna, S. 45; Anissimow, Frauen, S. 98. 112 David L. Ransel, The Government of Crisis of 1730. In: Robert. O. Crummey (Hg.), Reform in Russia and the U.S.S.R. Chicago 1989, S. 45–69, hier S. 56; Recke, Verfassungspläne, S. 50.

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datierten Erlass löste Anna den Obersten Geheimen Rat und den Hohen Senat auf und richtete an deren Stelle einen neuen Regierenden Senat nach petrinischem Vorbild ein,¹¹³ wovon Wratislaw in einer besonderen Audienz bei ihr erfuhr.¹¹⁴ Auch die genaue personelle Zusammensetzung dieses Gremiums für innenpolitische Angelegenheiten war dem Gesandten bekannt.¹¹⁵ Dieser Umstand bestätigt noch einmal, dass sich innerhalb kürzester Zeit eine sehr enge Verbindung zwischen den beiden entwickelt hatte. Die Hauptinitiatoren der Konditionen, die Fürsten Dol­ gorukij und Golicyn, hatten deutlich an Macht verloren.¹¹⁶ Die außenpolitischen Kompetenzen befanden sich weiter in Händen Ostermanns, wodurch gewährleis­ tet war, dass die personellen und institutionellen Umstrukturierungen bei Annas Regierungsantritt die kaiserlichen Interessen nicht betrafen. Die Auflösung des Obersten Geheimen Rats und die Etablierung eines Senats nach petrinischem Vor­ bild zeigten Machtverschiebungen, die man in Wien wohlwollend aufnahm. Durch die Sicherung des Kriegsbündnisses und dessen Umsetzung, sowie die gewahrte Stabilität im Land blieben die kaiserlichen Interessen gewährleistet. Die Mehrheit der Akteure, die sich in der Frage der Machtbeschränkung exponiert hatten, wurde nicht oder erst Jahre später bestraft und fanden sich im neugebildeten Senat wie­ der. Die Vertreter der ausländischen Mächte erschienen am Vormittag des 9. März zur Artikulation ihrer Glückwünsche an die Zarin Anna.¹¹⁷ Die Verhandlungen zwischen Wien und Moskau würden künftig einfacher, da die Zarin vernünftig und ambitioniert sei und der Zuritt zu ihr immer offenstehe,¹¹⁸ fasste der kaiserliche Resident Hochholzer seine Einschätzung des Thronwechsels zusammen. Zur Bekräftigung ihrer Bündniszusage leitete die Zarin unverzüglich 113 Erlass Anna Ivanovnas, Moskau, 1730 März 4, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 258r ; Resident Hochholzer an den Obersten Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 1730 März 15, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 162r . 114 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 16, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 163r . 115 Ebenda, fol. 163v ; Resident Hochholzer an den Obersten Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 1730 März 16, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 165r ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 151/1v ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 120v (zweiter Brief); Resident Hochholzer an den Obersten Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 1730 März 15, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 162v . 116 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 151/1v . 117 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 9, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 153r ; Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 151/3v . 118 Resident Hochholzer an den Obersten Hofkanzler Sinzendorf, Moskau, 1730 März 16, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 165r–v .

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Kriegsvorbereitungen zur Unterstützung des Kaisers ein.¹¹⁹ Wratislaw fasste die hinderlichen Ereignisse, die auf den unerwarteten Tod Peters II. gefolgt waren, noch einmal zusammen: Die großen angedachten Verfassungsveränderungen und die darauffolgenden Unruhen, die Krankheit des Barons von Ostermann sowie gro­ ße Veränderungen in der Besetzung wichtiger Ämter. Aber alle diese Hindernisse sah er zu diesem Zeitpunkt „soweit gott lob!“ überwunden.¹²⁰ König Friedrich Wilhelm von Preußen hoffte nun nicht nur auf eine Weiter­ führung des Bündnisses mit dem Russländischen Reich und dem Kaiser, sondern war sogar bereit, ein noch engeres Bündnis einzugehen, wie sein Gesandter auch Ostermann mitteilte.¹²¹ Ein Bruch des kaiserlich-russischen Bündnisses wurde nun nicht mehr befürchtet, da die Entscheidungsträger – Großkanzler Graf Golovkin, Vizekanzler Baron Ostermann und die meisten Mitglieder des Senats – dem Kaiser geneigt waren.¹²² In den letzten sieben Wochen vor dem 17. März 1730 hatte sich das Blatt bezüglich der höchsten Ämter laut Wratislaws Zählung dreimal komplett gewendet:¹²³ Zuerst standen die Dolgorukijs unter Peter II. ganz oben, danach schien es, als ob Golicyn an die Spitze des Machtgefüges gelangen würde, nun sah es schließlich so aus, dass der Baron von Ostermann die wichtigste Person werde.¹²⁴ Zarin Anna hatte dem Kaiser bereits am 11. März 1730 die Nachricht ihrer Inthronisierung übermittelt.¹²⁵ Wratislaw bekräftigte gegenüber dem Kaiser einige Tage später ihre dynastische Legitimität.¹²⁶ Anna verfasste nach ihrer Ankunft in Moskau ein Manifest, indem es hieß, sie habe vom weltlichen und geistlichen Stand die Souveränität, die schon ihre Vor­ fahren innegehabt hatten, einstimmig angetragen bekommen und angenommen. In einem anderen, am 17. März 1730 verfassten Manifest nannte sich Anna „Von Gottes Gnaden Wir Anna Kayßerin und Selbsthalterin von allen Reußen“. Sie berief sich auf die gottgegebene Legitimation ihrer Person und ihrer Vorfahren sowie auf die Abstammung von einer großen und berühmten Monarchie. Die Krönung wurde

119 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 109r –115r und 117v –120r (zweiter Brief). 120 Ebenda, fol. 115v (zweiter Brief). 121 Ebenda, fol. 177r –178r (zweiter Brief). 122 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 121r–v (zweiter Brief). 123 Ebenda, fol. 122v und 177r (zweiter Brief). 124 Ebenda, fol. 177r (zweiter Brief). 125 Zarin Anna Ivanovna an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 Februar 28Jul , HHStA Wien, Russland II, Karton 212, Konvolut 1, fol. 24r sowie im russischen Original fol. 26v –28r . 126 Graf Wratislaw an Kaiser Karl VI., Moskau, 1730 März 17, HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 151/2r .

Bewertungen des Regierungsantritts Zarin Annas durch den Wiener Kaiserhof | 91

für April anberaumt.¹²⁷ Wie überlieferte Manifeste und Berichte zeigen, legitimierte sich Anna dem Kaiser gegenüber somit nach ihrem Herrschaftsantritt, indem sie sowohl ihre herrschaftliche Abstammung als auch den Konsens innerhalb des Reiches betonte. Über die bei Ihrem Machtantritt diskutierten Konditionen und die damit einhergehenden Ereignisse verlor sie aus verständlichen Gründen kein Wort.

Zusammenfassung: Russland 1730 – andersartig und auf dem Rückzug aus den europäischen Angelegenheiten? Bei der Analyse der Gesandtschaftsakten wird klar, dass der kaiserliche Gesandte in den hier untersuchten Zusammenhängen kaum abwertende Stereotype verwen­ dete. Es wird auch deutlich, dass die Bewertung Annas in kaiserlichen Kreisen bewusst positiv erfolgte. Bei ihrer Beurteilung zeigt sich, dass es weniger um Cha­ rakteristika ihrer Person ging, sondern vielmehr die stabil bleibende Lage des russischen Bündnispartners im Vordergrund stand. Ergänzt sei, dass Anna Iva­ novna dem kaiserlichen Gesandten bis zu diesem Zeitpunkt persönlich überhaupt nicht bekannt war. Allein die Vermeidung von Thronstreitigkeiten und einer damit einhergehenden Schwächung des Bündnispartners oder sogar eines Bruchs des Bündnisses schienen ausschlaggebend für die Beurteilung Annas zu sein. Die Verhinderung der Thronbesteigung ihrer Schwester, Katharina Ivanovna, war für den Kaiser zentral, um deren Mann, Karl Leopold von Mecklenburg, vom russi­ schen Thron fernzuhalten. Auch die sofortigen Anweisungen des Kaisers bezüglich möglicher Hochzeitskandidaten Annas bestätigen diesen Befund. Die Etablierung einer aristokratischen Herrschaftsform durch den Obersten Geheimen Rat, die die monarchisch-autokratische Machtstellung der Zarin be­ schnitten hätte, lehnten der Kaiser und seine Vertreter vehement ab. Dies hätte aus der Sicht Wiens eine Differenzierung der außenpolitischen Akteure bedeutet und die diplomatische Praxis erschwert. Außerdem waren Veränderungen in der Ver­ fassung aus bündnispolitischen Erwägungen nicht in kaiserlichem Interesse; eine Gefährdung des kaiserlich-russisch-preußischen Bündnisses galt es unbedingt zu vermeiden. Die Bewertung Ostermanns in der kaiserlichen Korrespondenz ist

127 Erlass Anna Ivanovnas, Moskau, 1730 März 4Jul , HHStA Wien, Russland II, Karton 5, Konvolut 4, fol. 287r .

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außerordentlich positiv, da er als Schlüsselfigur und Garant des Kriegsbündnisses galt. Wahrnehmungen einer Andersartigkeit des Russländischen Reiches im Ver­ gleich zu den anderen europäischen Monarchien lassen sich in der diplomatischen Korrespondenz nicht finden. Russland wird darin als wichtiger Bündnispartner gegen Spanien auf der italienischen Halbinsel gesehen und geschätzt. Die aus­ führliche Darstellung der Ereignisse in der diplomatischen Korrespondenz und die mitunter deutlichen Wertungen und Befürchtungen weisen auf die hohe Be­ deutung des Zarenreichs für den Kaiser hin. Dieses Resultat lässt sich mit der Situation des Kaisers und des Russländischen Reiches innerhalb der europäischen Bündnissysteme begründen. Anhand der heutigen Forschungsergebnisse zeigt sich, dass die Sorgen um eine mögliche Gefährdung des Bündnisses begründet waren: Frankreich versuchte während der turbulenten Ereignisse um den Thron­ wechsel, dessen Bestätigung zu verhindern; der französische Gesandte versuchte dahin zu wirken, dass Ostermann als wichtigster Fürsprecher des Bündnisses seine Machtstellung verlor.¹²⁸ Dies verdeutlicht einmal mehr, wie stark Russland 1730 in die europäischen Verflechtungen eingebunden war. Ein Rückzug aus europäischen Angelegenheiten war weder von den verschiedenen russischen Adelsparteien noch von Zarin Anna gewünscht. Eine Ost-West-Dichotomie lässt sich ebenso wenig feststellen. Nega­ tive Bewertungen der kaiserlichen Vertreter in Moskau richten sich nicht gegen das Russländische Reich oder die Zarin, sondern vornehmlich gegen die adligen Unterstützer einer Beschränkung der Autokratie, sowie gegen den Einfluss diplo­ matischer Vertreter, die dem russisch-kaiserlichen Bündnis entgegenwirkten, vor allem gegen den spanischen Gesandten Duc de Liria.

128 Anisimov, Rossija, S. 390.

| Teil II: Funktionale Inszenierungen

Kerstin S. Jobst

Russländisch-imperiale Image-Produktionen im ausgehenden 18. Jahrhundert: Visualisierungen der Reise Katharinas II. in den „russischen Süden“

Vorrede und Fragestellung Im Frühjahr 2014 löste die Entschlossenheit, mit der die Führung der Russlän­ dischen Föderation unter Vladimir Putin die Krim an das russische Mutterland „rückgliederte“, in der sog. westlichen Welt großes Erstaunen aus.¹ Die Halbinsel am nördlichen Schwarzmeerufer hatte bekanntlich formal seit 1954 zur Ukraini­ schen Sozialistischen Sowjetrepublik gehört und war bis dahin Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) innerhalb der UdSSR gewesen. Und auch wenn diese sog. Chruščevsche Schenkung bereits unter Zeitgenossen einigermaßen umstritten war, so war die praktische Relevanz des Umstandes, dass die Krim „ukrainisch“ war, in sowjetischer Zeit recht gering, galt doch ein Ende der UdSSR wenige Jahre nach dem siegreichen „Großen Vaterländischen Krieg“ als undenkbar. Dies änderte sich erst 1991, als die Ukraine im Zuge der Auflösung der Supermacht unabhängig geworden war und russischerseits vielstimmige Kla­ gen erklangen, welche die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine als unannehmbar verurteilten, sei die Krim doch unbedingt und auf ewig russisch.² Außerhalb des ehemaligen Ostblock indes wurde im Zuge der sog. Krim-Krise des Jahres 2014 die völlige Unkenntnis über die immense Relevanz deutlich, welche die Halbinsel im russischen kollektiven emotionalen „Haushalt“ einnimmt und die mit den Sergej V. Lavrov, dem russischen Außenminister, zugesprochenen Worten, die Krim sei für die russische Nation wichtiger als Pearl Harbor für die US-Amerikaner, nur unvollständig beschrieben ist. Kenner des im 16. Jahrhundert beginnenden und im

1 Die Verschriftlichung dieses ursprünglich im Mai 2013 gehaltenen Vortrages erfolgt unter dem Eindruck der sog. Krim-Krise im Frühjahr 2014. Deren Ende ist gegenwärtig noch nicht abzusehen; dass die Krim aber vorerst für die Ukraine verloren ist, steht im Moment außer Zweifel. 2 Hier sei nur auf Aleksandr I. Solženicyn verwiesen, Ja serdečno, vsej dušoj s krymčanami [Ich bin innig, mit ganzer Seele mit den Krimbewohnern], in: Krymskij Al’bom, Bd. 4. Feodosia/Moskva 2000, S. 128–131, hier S. 130 f. DOI 10.1515/9783110499797-007

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18. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichenden russischen Expansionsprozesses sind sich nämlich einig, dass mit der 1783 erfolgten Annexion der Krim ein für St. Petersburg (und später dann auch für die gedachte russische Nation) ganz beson­ ders wichtiger kolonialer Erwerb gelungen war. Kennzeichnend dafür ist u. a. die sich in zahlreichen Kommunikationsakten russischer Provenienz ausdrückende diskursive Anverwandlung eines anfänglich fremden, weitgehend unbekannten Terrains – wie es die Halbinsel in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ohne Zweifel war – in ein russisches, höchst vertrautes Gebiet. Bei aller Vertrautheit bewahrte es dennoch über die Zeitläufte sein besonderes, einzigartiges Gepräge. Auch dadurch wurde es so wertvoll für Russland und seine Bevölkerung.³ Die Gründe allerdings, aus denen die Krim aus russischer Sicht als wertvoll angesehen wird, haben sich über die Zeit verändert. Im Folgenden wird ein mit dem sog. Russischen Süden, welcher heutzutage ukrainisches Staatsgebiet ist, und vor allen Dingen mit der Krim verbundenes Ereignis betrachtet, das beispielhaft zeigt, welches Bild russisch-imperialer Herr­ schaft unmittelbar nach der Annexion von 1783 popularisiert werden sollte. Dieses wird im Folgenden als Image-Produktion bezeichnet und stellt die Taurische Reise der Zarin Katharina II. von 1787 in den Mittelpunkt. Selbst in dem an Herrscherrei­ sen nicht armen 18. Jahrhundert war diese Reise eine präzedenzlose Bewegung von Mensch und Material.⁴ Bekanntlich führte sie die Zarin in Begleitung einer in­ ternationalen Entourage, zu der neben Diplomaten aus ganz Europa auch gekrönte Häupter wie der letzte polnische König, Stanisław August Poniatowski (1732–1798)⁵, und vor allen Dingen der römisch-deutsche Kaiser Joseph II. (1741–1790) gehörten, vom Norden des Imperiums bis an das Schwarze Meer. Diese bestens geplante Expedition in den neuerworbenen russischen Süden – das Krim-Chanat hatte zu diesem Zeitpunkt vier Jahre aufgehört zu bestehen und war „russisch“ geworden⁶ –

3 Zu den diskursiven Strategien der mentalen Aneignung vgl. ausführlich: Kerstin S. Jobst, Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich (=Historische Kulturwissenschaft, 11). Konstanz 2007. 4 Ein Höhepunkt für Zarin Katharina II. vor 1787 war ohne Zweifel der Besuch der Volga-Region im Jahr 1767. Vgl. hierzu: Pochody Ekateriny II po Volge i Dnepru [Die Fahrten Katharinas II. auf der Volga und dem Dnepr], in: Russkaja Starina, 27 (1896), Bd. 88, Heft 10–12, S. 423–445. Zur modernen Interpretation: Guido Hausmann, Mütterchen Wolga. Ein Fluss als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert (=Historische Studien, 50). Frankfurt am Main/New York 2009, S. 163–186. 5 Dieser reiste nur einen Teil der Strecke mit. Auf der Krim war der polnische König nicht mehr anwesend. 6 Zu den politischen Begleitumständen der Annexion vgl. Alan W. Fisher, The Russian Annexation of the Crimea 1772–1783. Cambridge 1970.

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war seinerzeit ein europäisches Medienereignis⁷ und wurde auch von der aktuellen Forschung wiederholt gewürdigt.⁸ Insbesondere die angeblich während der Reise inszenierten Trugbilder der Organisatoren unter der Verantwortung des Fürsten Potemkin sind als „Potemkinsche Dörfer“ sprichwörtlich für die Vorspiegelung falscher Tatsachen geworden und wurden bereits eingehend untersucht. Dieser „Neumythos“ besagt bekanntlich, dass die der adligen Reisegruppe um Joseph II. präsentierten Erfolge russischer Herrschaft allein mit Hilfe von Attrappen und Täu­ schung bewerkstelligt worden seien, was allerdings mittlerweile als weitgehend widerlegt gilt.⁹ Unter Einbeziehung der vorliegenden Ergebnisse werden demge­ genüber im vorliegenden Beitrag die Perspektiven auf diese so wirkungsmächtige Herrscherreise erweitert, indem mit ihr in Zusammenhang stehende russländischimperiale Image-Produktionen auf der Basis bildlicher Darstellungen vorgestellt und interpretiert werden.¹⁰ Dabei werden eng miteinander verquickte Diskursele­ mente, welche die Choreographen der Taurischen Reise kommunizierten, genauer betrachtet. Im Mittelpunkt stehen zwei Darstellungen, die in der zeitgenössischen

7 Genannt seien hier folgende Werke in Auswahl: Anonymus (Weikard?), Die Taurische Reise der Kaiserinn [sic!] von Rußland Katharina II. Aus dem Englischen. Koblenz 1799 und vor allen Dingen der Bericht des sächsischen Gesandten Georg Adolf Wilhelm von Helbig, Potomkin [sic!]. Ein interessanter Beitrag zur Regierungsgeschichte Katharinas der Zweiten. Leipzig 1804. 8 Vgl. u. a. Sara Dickinson, Russia’s First „Orient“. Characterizing the Crimea in 1787, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History, 3/1 (2002), S. 3–25; Kerstin S. Jobst, Die Taurische Reise von 1787 als Beginn der Mythisierung der Krim. Bemerkungen zum europäischen Krim-Dis­ kurs des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Kulturgeschichte, 83 (2001), S. 121–144; Andrej Zorin, Kormja dvuglavogo orla. . . Literatura i gosudarstvennaja ideologija v Rossii v poslednej treti XVIII – pervoj treti XIX veka [Den zweiköpfigen Adler nährend. . . Literatur und Staatsideologie in Russland im letzten Drittel des 18. bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts]. Moskva 2001, S. 95–122. 9 Hierzu u. a. Aleksandr M. Pančenko, Potemkinskie derevni kak kul’turnyj mif [Die Potemkin­ schen Dörfer als kultureller Mythos], in: XVIII vek, 14 (1983), S. 93–104; Emmanuel Waegemans, Un Belge dans les villages de Potemkine. Le prince de Ligne dans la Russie de la Grande Catherine, in: Nouvelles Annales Prince de Ligne, Bd. 7. Bruxelles 1992, S. 119–157; ders., Knjaz’ de Lin’ kak svidetel’ potemkinskich dereven’ [Fürst de Ligne als Augenzeuge der Potemkinschen Dörfer]. In: Lindsey Hughes/Maria di Salvo (Hg.), A Window on Russia. Papers from the V International Conference of the Study Group on 18th-Century Russia in Gargnano 1994. Milan/Rome 1996, S. 91–97. Die Forschung kommt übrigens recht übereinstimmend zu dem Urteil, dass die während der Taurischen Reise durchgeführten Inszenierungen von Prosperität und positivem Wirken der Kolonialmacht in den neuerworbenen Gebieten ein bei Herrscherreisen durchaus übliches Maß nicht überschritten haben. 10 Zum Spannungsfeld von russischer Krim-Politik und imperialen Vorstellungen vgl. Kerstin S. Jobst, Vision und Regime. Die ersten Jahrzehnte russischer Krim-Herrschaft. In: Denise Klein (Hg.), The Crimean Khanate between East and West (15th–18th Century), (=Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 78). Wiesbaden 2012, S. 211–227.

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europäischen Befassung mit der Taurischen Reise große Popularität erlangten und in verschiedenen Varianten kursierten: Es geht zum einen um Ferdinand de Meys Gemälde „Katharina II. auf Ihrer Reise durch Ihr Reich im Jahr 1787“ sowie zum anderen um den Kupferstich „Eine Amazoneneinheit begrüßt Katharina II. auf der Krim“, dessen Autorenschaft ungeklärt ist.¹¹ Letztlich trug die Reise in den Süden, welcher, wie sich zeigen sollte, nun dauerhaft keine Bedrohung durch das Osmani­ sche Reich mehr zu vergegenwärtigen hatte, wesentlich zur Kreierung der bis heute innerrussisch populären Denkgewohnheit vom Russländischen Reiches als Kul­ turträger bei.¹² Dies gilt umso mehr hinsichtlich des ehemaligen antiken Gestades Tauriens und der Vorstellung, die Krim sei nach Jahrhunderten der Dunkelheit und der Degeneration, welche die Herrschaft der muslimischen Krimtataren bedeutet habe, 1783 neu erweckt worden. Mit der Übernahme der Macht durch Katharina II., darüber waren sich viele Zeitgenossen nicht nur im Russländischen Reich einig, stünde der Halbinsel eine neue Ära des Aufstiegs und der Prosperität bevor. Die Reise der Zarin 1787 sollte dies unterstreichen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine jede Herrscherreise eine ganze Reihe von Funktionen erfüllen sollte – und dies gilt auch für die Taurische Reise. Unter dem titelgebenden Begriff der Image-Produktion wird im Folgenden das Bestreben der Organisatoren verstanden, das Bild des Russländischen Reiches durch diese generalsstabmäßig geplante Unternehmung positiv zu beeinflussen. Die mehrmonatige Expedition Katharinas II. in den Süden, deren Höhepunkt der etwa dreiwöchige Aufenthalt auf der Halbinsel am Schwarzen Meer darstellte, wird vornehmlich unter der Annahme betrachtet, dass die Taurische Reise nicht zuletzt eine antizipierte europäische Öffentlichkeit von russischer Aufbaukraft und Innovationsfähigkeit überzeugen sollte. Unter Aufbaukraft wird dabei nicht allein die Schaffung einer materiell greifbaren Infrastruktur, wie die Errichtung von Sied­ lungen oder Transfers von Menschen und Material im großen Stil verstanden. Im Folgenden wird es vielmehr auch um Aufbaukraft im übertragenen Sinne gehen, sollte die Taurische Reise doch suggerieren, das vermeintlich so rückständige Russ­ land sei zur Zivilisierungsmission gegenüber der muslimischen Bevölkerung in seinem Neuerwerb fähig und Teil des als Hort des Fortschritts gedachten Europa.¹³

11 Ausgangspunkt meiner Recherchen bildete folgende Website: http://crimea-tour.ru/kr_vojazh_ E2/kr_vojazh_E2.html (Zugriff: 03.05.2014). 12 Das deutsche Wort Kulturträger fand als kul’turtreger Eingang in die russische Sprache. 13 Damit breche ich eine Lanze für die in letzter Zeit nicht zuletzt auch in diesem Band (vgl. z. B. im Beitrag Wolfgang Schmales) hinterfragten Thesen Larry Wolffs über die im 18. Jahrhundert erfolgte Essentialisierung des östlichen Europas in westeuropäischen Elitendiskursen: Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994.

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Die These, die Organisatoren der Taurischen Expedition wollten nicht zuletzt die Handlungsfähigkeit des russländischen Imperiums demonstrieren, wird hier nicht das erste Mal diskutiert.¹⁴ Neu ist im Folgenden allerdings die verschränkte Betrachtung rhetorischer Strategien mit bildlichen Darstellungen, die im zeitlichen Zusammenhang mit der Taurischen Reise entstanden sind. Mit den gewählten Motiven werden zumindest implizit stimulierte Denkgewohnheiten (wie die der Krim als griechisch-klassisches, von der Zarin beherrschtes Taurien) sowie Felder womöglich realer, jedenfalls praktischer Politik (etwa die gewünschte Eroberung Konstantinopels, das sog. Griechische Projekt) angesprochen. Einführend wird jedoch die Reise der Zarin Katharina II. in den neuerworbenen russischen Süden konzis als Ereignis betrachtet und dargestellt.

Dimension und Zielsetzung der Taurischen Reise Wie bereits eingangs erwähnt, war die Taurische Reise eine für die damalige Zeit wohl präzedenzlose Bewegung von Menschen und Material, deren Dimensionen sich bereits an nüchternen Zahlen erschließen mag: Sie dauerte länger als ein halbes Jahr, nämlich von Jänner bis Juli 1787. In dieser Zeit wurden über 6000 Kilo­ meter zurückgelegt, davon etwa 500 auf dem Wasserwege und zwar überwiegend auf dem Dnepr. Die Route führte von dem bei St. Petersburg gelegenen Luga über Smolensk, Kiev und Ekaterinoslav auf die Krim. Der Rückweg erfolgte über Tagan­ rog, Kursk und Moskau in das ehemalige bedeutende Zentrum des Nordwestens, Novgorod, und endete in St. Petersburg. Mehr als 3000 Teilnehmer, primär aus dem Bereich der Dienerschaft, des Militärs und sonstigen Unterstützungspersonals, nahmen an dieser Expedition teil. Ausgeklügelt und gewaltig muten auch sonstige Vorbereitungen an: Bereits der Plan, über eine längere Strecke einen Wasserweg zu benützen, war durchdacht, gehörten Flussreisen doch seit der Frühen Neuzeit zu einem beliebten Ritual von Herrschaftsrepräsentationen und garantierten zugleich eine moderne und schnelle Art der Fortbewegung.¹⁵ Über die sich an antiken Vorbil­ dern orientierende Gestaltung der Schiffe als römische Galeeren zerbrach man sich genauso den Kopf wie über die auf der Reise zu reichenden Speisen und Getränke, sowie eine entsprechende Möblierung der hochherrschaftlichen Unterkünfte.¹⁶ Auch die Natur wurde nach Maßgabe „benützt“, wurde der Ablauf der Reise doch so geplant, dass die Zarin pünktlich mit dem Erwachen der Natur im Frühling ihr

14 Dickinson, Russia’s, S. 4 f.; Jobst, Reise, S. 12. 15 Vgl. u. a. Simon Schama, Landscape and Memory. New York/London 1995, S. 329–333. 16 Vgl. dazu: Jobst, Perle, S. 7 f.

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neues Kleinod, die Krim, in Augenschein nehmen durfte, damit sie einen besonders positiven Eindruck gewänne.¹⁷ Trotz ausgeklügelter Choreographie, welche mit ei­ niger Berechtigung auch als Teil der russländisch-imperialen „Szenarios of Power“ bezeichnet worden ist¹⁸, fürchtete der nachmalige „Fürst von Taurien“ und seiner­ zeit für die militärische Eroberung der Krim-Chanats verantwortlich zeichnende Grigorij A. Potemkin anscheinend (und letztlich unbegründet), dass Katharina mit den Verhältnissen in ihren neuen Gebieten unzufrieden sein könnte: „Gebe Gott, dass dieses Land [die Krim] das Glück hat, Dir zu gefallen, oh meine Ernährerin!“¹⁹ Wie bereits erwähnt, sind die Gründe für die Durchführung von Herrscher­ reisen vielgestaltig. Das offizielle Motto der Taurischen Reise lautete, eine „Reise zum Nutzen“ (put´ na pol´zu) zu sein, womit man sich eines zentralen Paradigmas der europäischen Aufklärung bediente. Im Mittelpunkt stand die Vorstellung über die Fähigkeit und die Verpflichtung des zivilisierten Menschen zur Gestaltung und Verbesserung seiner Lebenszusammenhänge. Damit einher ging die Vorliebe für eine kultivierte, „verbesserte“ Natur.²⁰ Über den Neuerwerb im Schwarzen Meer wussten die neuen Besitzer wenig, bekannt war aber immerhin, dass die Krim zumindest partiell über ein mediterranes Klima und eine üppige Natur verfügte. Die Hoffnung, die Halbinsel würde den Ruhm des Imperiums mehren, war somit nicht unbegründet.²¹ Dass im Unterschied zu heute dieser Naturbegriff nicht nur Flora und Fauna inkludierte, sondern auch die Bewohner der neuerworbenen Gebiete, welche gleichsam „verbessert“ werden sollten, sei an dieser Stelle zumin­ dest erwähnt. Mit dem im Aufklärungskonzept angelegten Vorstellungskomplex des Nutzens korrespondierte das in den Krim-Debatten der Zeit häufig verwandte Garten-Motiv. Zeittypisch drückte es Macht aus, sollten doch Untertanen und Natur gleichermaßen durch „treusorgende“ Gärtner (= Herrscher) gehegt werden.²² In

17 Siehe dazu: Zorin, Kormja dvuglavogo orla, S. 8. 18 So auch der Titel der grundlegenden Untersuchung von Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, 2 Bde. Princeton 1995 f. 19 Potemkin an Katharina, 1787 (o.D.), in: Ekaterina II i G.A. Potemkin. Ličnaja perepiska 1769–1791 [Der persönliche Briefwechsel 1769–1791]. Izdanie podgotovil Vjačeslav S. Lopatin. Moskva 1997, Brief 754, S. 214. 20 Vgl. u. a. Jacek Woźniakowski, Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäi­ schen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, S. 25. 21 Vgl. hierzu beispielweise Potemkin an Katharina II., 29.07.1783, in: Ekaterina II i G.A. Potemkin, Brief 672 (Lob des Klimas), S. 178; Potemkin an Katharina II., 05.08.1783, in: Ebenda, Brief 674 (über die agrarischen Möglichkeiten), S. 180. 22 Mark Francis/Randolph Hester, The Garden as Idea, Place and Action. In: Dies. (Hg.), The Meanings of Garden. London 1994, S. 2–31, hier S. 10. Zum Garten-Motiv im Kontext der Krim vgl. Andreas Schönle, Garden of the Empire. Catherine’s Appropriation of the Crimea, in: Slavic Review, 60 (2001), S. 1–23. Vgl. auch Potemkin an Katharina II., 01.08.1787, in: Ekaterina II i G.A.

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diesem Motiv war – und anders als etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als ethnische, religiöse und sprachliche Homogenisierung ein wichtiges Movens zarischer Politik geworden war – eine im Aufklärungsdiskurs alles in allem positiv konnotierte Vielgestaltigkeit angelegt: Ein Garten beherbergt nämlich in aller Re­ gel (anders als die heutzutage vielfach dominierenden Monokulturen) doch ganz verschiedene Blumen, Pflanzen – und eben Menschen. Und diese Vielgestaltigkeit galt im besonderen Maß für das ehemalige Krim-Chanat, wo neben den Tataren noch zahlreiche andere Ethnien – u. a. Griechen, Armenier und Karäer – siedelten. Das durch die südlichen Eroberungen noch verstärkte multiethnische Gepräge des Zarenreichs und die von der Zarin huldvoll gewährte religiöse Toleranz sollten auch mittels der unter den Auspizien der europäischen Öffentlichkeit stattfinden­ den Taurischen Reise kommuniziert werden.²³ Dazu kamen weitere naheliegende Gründe für die Reise: Die Zarin sollte ihre alsbald als „Neurussland“ titulierten neuerworbenen Gebiete persönlich in Augenschein nehmen und ihre neuen Un­ tertanen kennenlernen.²⁴ Denen wurde ihrerseits die Möglichkeit gegeben, ihrer neuen Herrscherin zu huldigen und ihre Loyalität auszudrücken.²⁵ Dass die Reise zudem mit dem 25-jährigem Thronjubiläum der Zarin zusammenfiel, war nicht von Schaden, rechtfertigte dies doch den auch finanziell hohen Aufwand. Nicht zuletzt sollte auf der Reise auch ganz konventionelle Politik gemacht werden, führte die Zarin mit Kaiser Joseph II. auch recht konkrete Gespräche über das gemeinsame weitere Vorgehen gegenüber dem Osmanischen Reich. Und tat­ sächlich zogen beide Imperien wenige Wochen nach Beendigung der Taurischen Reise gegen die Hohe Pforte in den Krieg, da der anfänglich zögernde, aber von seinen Beratern gedrängte Sultan Abdülhamid I. Kampfhandlungen einleiten ließ. Einflussreiche Kräfte an der Pforte wollten den Verlust weiter Teile des Nordufers

Potemkin, Brief 774, S. 220: Die Zarin wird hier als treusorgende Gärtnerin ihres imperialen Gartens bezeichnet. 23 In der Tat wurde das mit der Übernahme der russischen Herrschaft postulierte Missionsverbot auf der Krim bis zum Auseinanderbrechen des Zarenreichs weitgehend umgesetzt. Vgl. dazu: Kers­ tin S. Jobst, Gefährliche Fremde und Titularnation? Partizipation der Krimtataren im Zarenreich und in der frühen Sowjetunion. In: Katrin Boeckh u. a. (Hg.), Staatsbürgerschaft und Teilhabe. Bürgerliche, politische und soziale Rechte in Osteuropa. München 2014, S. 179–198. 24 Wohl in bewusster Übernahme dieses historisch konnotierten Begriffs bezeichnen im Jahr 2014 prorussische Separatisten im Osten der Ukraine ihren „Staat“ als „Föderativen Staat Neurussland“ (russ.: Federativnoe Gosudarstvo Novorossija). Dieser von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannter „Staat“ besteht aus einer im Mai des Jahres gegründeten Föderation zwischen der sog. Volksrepublik Doneck und der sog. Volksrepublik Lugansk. 25 Vgl. hierzu z. B. die Beschreibung A. Itimovas, Putešestvie Imperatricy Ekateriny II v Krym [Die Reise der Kaiserin Katharina II. auf die Krim], in: Sovremennik, 3 (1838), Heft 6, 5. Abt., Smes’, S. 39–56, hier S. 51 f.

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des Schwarzen Meeres nicht einfach hinnehmen, zogen aber den Kürzeren: Der 1792 mit dem Vertrag von Jassy/Iaşi endende russisch-österreichische Waffengang brachte dem Russländischen Reich nämlich weitere Gebietsgewinne am Schwarzen Meer und die endgültige Anerkennung des Krim-Erwerbs durch die Hohe Pforte. Der Krieg führte aber nicht, wie wohl ursprünglich in St. Petersburger Kreisen geplant, zur Zerschlagung des Osmanischen Reichs. Das erstmals bereits einige Jahrzehnte vor der Annexion der Krim vom russischen Politiker und Militär Chris­ tofor A. Minich (1683–1767) formulierte sog. Griechische Projekt zur ‚Befreiung Konstantinopels von den Türken‘ und Errichtung eines unter russischem Einfluss stehenden Kaisertums²⁶, konnte nicht umgesetzt werden. Dies lag nicht zuletzt am Widerstand der anderen europäischen Mächte, welche den wachsenden Einfluss Russlands fürchteten. In jedem Fall wurde während der Taurischen Reise nicht nur gefeiert, sondern auch reale Politik gemacht. Nicht zuletzt galt es, die nunmehr auf der Krim lozierte russische militärische Präsenz und Macht zu kommunizieren.

Die Taurische Reise als „epische Freiluft-Veranstaltung“²⁷ Richard Wortman stellte bereits vor Jahren fest, dass die Repräsentation imperialer Macht im Zarenreich auch in nach-katharinischer Zeit im Wesentlichen durch die Nachahmung heroischer und legendärer Archetypen erfolgte.²⁸ Die Taurische Reise kann als Initialzündung für die Entwicklung dieser performativen Strategie be­ zeichnet werden, wurden damals doch Muster entwickelt, welche in den folgenden Jahrzehnten wiederholt und optimiert wurden. Sie begründete somit eine nach innen, also sowohl gegenüber den Eliten und später auch der eigenen breiteren Bevölkerung, als auch gegenüber anderen Mächten wirksame interkulturelle und transsoziale Kommunikationsstruktur. Es ist davon auszugehen, dass bei der Pla­ nung, der Durchführung und der medialen Nachbereitung der Taurischen-Reise die russischen Akteure überdies eine weitere Partei, nämlich die europäische Öf­ fentlichkeit, fest im Blick hatten. Zeittypisch war diesen lesenden Oberschichten

26 Nach Alan Fisher markiert das Jahr 1783 den Anfang der Umsetzung dieser bereits länger disku­ tierten Pläne. Die Annexion selbst habe damit nicht in Verbindung gestanden. Fisher, The Russian Annexation, S. 153. Vgl. hierzu auch Edgar Hösch, Das sog. „Griechische Projekt“ Katharinas II., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 12 (1964), S. 168–206. 27 Nach Wolff sei die Taurische Reise „an epic open-air performance“ gewesen. Wolff, Inventing, S. 127. 28 Wortman, Scenarios of Power, Bd. 1, S. 7.

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in Europa die Antike besonders vertraut. Mit der Krim war nun ein Territorium in russische Hände geraten, welches sich vorzüglich zur diskursiven Antikisierung eignete, handelte es sich dabei doch wohl offensichtlich um das ehemalige Taurien. Und gerade das damit verbundene „Iphigenie“-Thema war durch einige künstle­ rische Bearbeitungen damals höchst populär: Christoph Willibald Glucks Oper „Iphigénie en Tauride“ (1779) und eine frühe Version von Johann Wolfgang von Goethes „Iphigenia in Tauris“²⁹ waren nicht nur der Zarin bekannt; desgleichen die antike Verarbeitung des Themas durch Euripides, an dessen Werk Katharina II. ohnehin ein starkes Interesse hatte.³⁰ Diese, oberflächlich betrachtet, rein intellektuelle Vorliebe für die Kunst und Kultur des Altertums zeitigte auch spürbare politische Folgen: Alsbald nach der Annexion ging die russische Macht aktiv an die kreative Stilisierung eines anti­ kisierten Zauberlandes, welches die über die Zeit gewachsenen krimtatarischen Spuren eliminieren sollte. Die Hellenisierung der krimtatarisch-sprachigen Ortsna­ men war dafür ein augenfälliges Zeichen.³¹ Während der Reise in den Süden sind dann weniger direkte schriftliche Bezugnahmen auf die Antike von der Zarin selbst überliefert als vielmehr von einigen ihrer intellektuell ebenfalls hochstehenden Reisebegleiter. Diese machten sich daran, auf der Krim Spuren des klassischen Taurien aufzuspüren. Besonders der in österreichischen und später auch in russi­ schen Diensten stehende Diplomat Fürst Charles Joseph de Ligne (1735–1814) sowie der französische Gesandte in St. Petersburg, Louis Philippe de Ségur (1753–1830), befassten sich während ihrer Aufenthalte intensiv mit dem Iphigenie-Thema. Bei­ spielsweise suchten sie auf der Halbinsel nach dem Ort, an dem sich Iphigeniens Diana-Tempel befunden habe soll.³² Sie verwendeten überdies in ihren zu Papier gebrachten Eindrücken die von der Zarin gewünschten hellenisierten Topony­

29 Die erste Prosafassung Goethes von 1779 war der Zarin vermutlich bekannt, die Ausarbeitung der Bühnenfassung erfolgte dann 1786, und die Uraufführung in Weimar zwei Jahre nach der Taurischen Reise. 30 Vgl. dazu: Zorin, Kormja dvuglavogo orla, S. 111. 31 Beispielsweise wünschte die Zarin, dass die Halbinsel im offiziellen Kontext „Taurien“ statt „Qırım“/„Krim“ genannt werden sollte. Diese Bezeichnung setzte sich – anders als z. B. „Sevas­ topol“ [Die Erhabene Stadt] statt „Achtiar“ – nicht durch. Vgl. hierzu ausführlicher Jobst, Perle, S. 110–112. 32 Vgl. Jobst, Perle, S. 168–170. Darüber hinaus: Vasilij A. Bil’basov, Knjaz’ de-Lin’ v Rossii 1780 i 1787–1788 gg. [Prinz de Ligne in Russland in den Jahren 1780 und 1787 bis 1788], in: Russkaja Starina, 23 (1892), Bd. 73, Heft 1–3, S. 275–299 und 541–573; Fortsetzung in: Ebenda, Bd. 74, Heft 4–6, S. 1–43. Philip Mansel, Der Prinz Europas. Prince Charles-Joseph de Ligne 1735–1814. Stuttgart 2006. Emmanuel Waegemans, Un Belge dans les villages de Potemkine. Le prince de Ligne dans la Russie de la Grande Catherine, in: Nouvelles Annales Prince de Ligne, Bd. 7. Bruxelles 1992, S. 119–157; Louis-Philippe de Ségur, Mémoires ou souvenirs et anecdotes, 3. vol. Paris 2 1926.

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me anstelle der vordem krimtatarischen Ortsbezeichnungen. Beide gehörten zu denjenigen Teilnehmern der Taurischen Reise, welche positiv, begeistert und buch­ händlerisch erfolgreich über die Unternehmung berichten.³³

Visuelle Verstärkungen der antiken Einschreibungen der Taurischen Reise Bedingt durch die Fortschritte in der Drucktechnik, die Formierung einer europäi­ schen Öffentlichkeit und deren starkes Interesse an transeuropäischen Mediener­ eignissen³⁴ geriet die Taurische Reise zu einem Ereignis von großer publizistischer Wirkung. Nicht nur in Wort und Schrift wurde darüber kommuniziert, sondern das Wissen darum auch mittels visueller Verarbeitungen verbreitet. Während viele dieser bildlichen Darstellungen heute verschollen sind oder nicht mehr in Zusam­ menhang mit den Ereignissen von 1787 gebracht werden, sind das oben genannte Gemälde von de Meys sowie der Stich „Eine Amazoneneinheit“ auch gegenwär­ tig noch populäre Visualisierungen der Reise Katharinas II. in den Süden ihres Imperiums. In beiden Bildern spielen antike Referenzen eine zentrale Rolle. Über den französischen Künstler Ferdinand de Meys ist nicht viel in Erfah­ rung zu bringen³⁵: Vermutlich wirkte er zwischen 1783 und 1805 oder 1808 mit Unterbrechungen in Russland, wo er sich vor allem durch Miniaturgemälde der zarischen Familie bekannt machte. Wohl auch deshalb erhielt er den Auftrag, die Expedition in den Süden zu begleiten.³⁶ Das sich heute im Staatlichen Russischen

33 Zu den kritischen Stimmen gehörte etwa der bereits genannte Anonymus, Die Taurische Reise der Kaiserinn [sic!]. Dahinter verbarg sich dem Vernehmen nach der Leibarzt der Zarin, Melchior Adam Weikard (1742–1803). Der russische Historiker Vasilij A. Bil´basov behauptet, Weikard habe selbst nicht an der Reise teilgenommen (Vgl. B. [sic!] von Billbassof, Katharina II. Kaiserin von Rußland im Urtheile der Weltliteratur, 2 Bde. Berlin 1897, hier Bd. 1 (Die Literatur bis zu Katharina’s Tode), S. 65. Auch Joseph II. zeigte sich in seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten Korrespondenz nicht wirklich von dem im Süden des russländischen Imperiums Gesehenen beeindruckt. Vgl. auch: Jobst, Perle, S. 274. 34 Vgl. dazu grundsätzlich Christine Vogel/Herbert Schneider/Horst Carl (Hg.), Medienereignisse im 18. und 19. Jahrhundert. München 2008. Die Taurische Reise wird in diesem Band aber nicht behandelt. 35 Selbst der französischen Kunstgeschichte gilt er als einer der „vergessenen Künstler“. Vgl. Raymond Fournier-Sarlovèze, Artistes oubliés: Claude Lulier, Sofonisba Anguissola, Pierre de Franqueville, Lebrun et Michel Anguier à Vaux-le-Vicomte, Lampi, Ferdinand de Meÿs, Costa de Beauregard, le général Lejeune, Massimo d’Azeglio. Paris 1902. 36 Vgl. http://www.tez-rus.net/ViewGood33716.html (Zugriff: 27.06.2014).

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Museum in St. Petersburg befindliche Gemälde „Katharina II. auf Ihrer Reise durch ihr Reich im Jahr 1787“ von 1787 bildete die Grundlage zahlreicher, sehr populärer Drucke und sonstiger weiterer Verarbeitungen, welche bei der russisch-imperialen Image-Produktion helfen sollten.³⁷ Es stellt Katharina II. als Göttin Eos/Aurora dar: Die Fackel des Lichts, welches in der Diktion der Aufklärung das Wissen und die Erkenntnis symbolisierte, trägt die Herrscherin hocherhoben Hauptes vor sich. Auf einem vierspännigen Triumphwagen durcheilt sie das neuerworbene, südlich anmutende Land. Ein zum Zeitpunkt der Reise tatsächlich übrigens nicht sehr zahl­ reiches Volk säumt begeistert den Weg der Zarin. Dieses ist durchaus differenziert dargestellt, sind doch Männer, Frauen und Kinder sowie Repräsentanten verschie­ dener sozialer Gruppen erkennbar, nicht aber Menschen, welche als Muslime zu identifizieren wären. Die wäre insofern zu erwarten gewesen, als der Endpunkt der Reise, nämlich die Halbinsel Krim, ein multiethnisches Gebilde mit damals muslimischer, also „fremder“ Mehrheit war. Gleichwohl: Auf dem Gemälde wird die Dankbarkeit für die Errungenschaften der Zarin durch dargereichte Geschenke wie Obst und Blumen sowie durch Demuts- und Ehrerbietungsgesten ausgedrückt. Die Botschaft war offenkundig und für die gebildeten Eliten leicht verständlich: 1. Katharina bringt als Titanin und Göttin der Morgenröte nach Jahren der muslimi­ schen Düsternis den Geist der Antike und des Neuanfangs in die neuerworbenen Gebiete.³⁸ 2. Das Volk hängt an ihrer Herrscherin. Solche Stilisierungen von Huldi­ gungsgesten im antiken Dekor waren zeittypisch; das Bild de Meys unterstreicht die Vertrautheit und Partizipation der russischen Organisatoren der Reise mit und an diesem gesamteuropäischen Diskurs. Welcher Anspruch russischer Politik drückt sich in dieser visuellen Erzählung aus? Zum einen: Das Zarenreich verstand sich als Teil eines positiv konnotierten Europas, das bekanntlich seit der Renaissance seine kulturellen Ursprünge und Legitimationen in der griechisch-römischen Welt suchte. Zum anderen wurde for­ muliert, dass Russland sich zu Recht für einen Teil eben dieses Europas hielt, fähig und willens, im Süden westliche Kultur zu (re-)implementieren. Ausländische Zeit­

37 Vgl. dazu: Gosudarstvennyj Russkij Muzej, Živopis’. 18 vek. [Staatliches Russisches Museum, Malerei. 18. Jh.] Katalog, Bd. 1, Redaktion Grigorij Goldovskij u. a. S-Peterburg 1998 (=Palace Edition), S. 127. 38 Nach einer anderen Interpretation (vgl. Katharina die Große. Ausstellungskatalog der Staatli­ chen Museen Kassel u. a., Museum Fridericianum Kassel, 13.12.1997 bis 08.03.1998. Kassel 1997, S. 194), auf der Grundlage eines auf dem Gemälde basierenden Stiches wird Katharina II. als Minerva/Athene auf einem Streitwagen mit Zepter und Fackel bezeichnet. Der dort ausgestaltete Himmel zeigt eine weitere Facette möglicher Deutungen: Rechts oben ist ein Porträt Peters I. („der Große“) sichtbar, was die Kontinuität der zarischen Politik unterstreichen sollte. Es wird zudem davon ausgegangen, dass de Meys nicht an der Reise teilgenommen hatte.

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genossen zeigten sich alles in allem übrigens davon überzeugt, dass die Russen ihre zivilisatorische Aufgabe dort unten im Süden gegen die ‚wilden Tataren‘ durch­ aus zu bewältigen wussten. Zwar gab es, insbesondere aus englischer Feder, schon vor dem Krim-Krieg immer wieder Eroberungsphantasien, weil die Krim zuweilen als viel zu schön und strategisch zu wertvoll angesehen wurde, um in russischen Händen zu verbleiben. Insgesamt waren die europäischen Eliten jedoch davon überzeugt, dass das Zarenreich am Schwarzen Meer gute Arbeit leistete³⁹, zumal man sich bei der insgesamt abschätzigen Haltung gegenüber „den Orientalen“ trotz zeitweiser politischer Bündnisse mit dem Osmanischen Reich letztlich einig war.⁴⁰ Während de Meys’ Gemälde inklusive seiner Variationen eine Allegorie dar­ stellt, in der Katharina die europäische Aufklärung versinnbildlicht und damit genre-immanent nicht in den Anspruch erhebt, Abbild eines realen Ereignisses zu sein, stellt der Stich „Eine Amazoneneinheit begrüßt Katharina II. auf der Krim“ eine tatsächlich so oder ähnlich stattgefundene Begebenheit dar. Er ist zugleich ein antikes Zitat: Auf Geheiß des Fürsten Potemkin war nämlich anlässlich der Taurischen Reise kurzfristig eine Militäreinheit aufgestellt worden, die mit Krim­ griechinnen besetzt wurde, die aus sozial hochstehenden Familien der im Süd­ westen gelegenen Stadt Balaklava stammten. Diese Einheit begrüßte die Zarin und ihre Entourage. Die Krimgriechen, Nachfahren der Pontusgriechen, hatten die russische Machtübernahme aktiv unterstützt. Nicht zuletzt als orthodoxe Glau­ bensbrüder wurde diese ethnische Gruppe von der russischen Administration seit der Machtübernahme besonders bevorzugt.⁴¹ Es ging also zum einen darum, die­ se während der kaiserlichen Expedition auszuzeichnen, aber zum anderen auch um ein bewusstes, allerdings den aktuellen Erfordernissen angepasstes antikes

39 An dieser Stellen können nur zwei konträre Positionen genannt werden: Vgl. z. B. den sehr er­ folgreichen und wohlwollenden Reisebericht der englischen Adligen Elizabeth Craven, A Journey through the Crimea and to Constantinople in a Series of Letters from the Right Honourable Eliza­ beth Lady Craven, to his Serene Highness the Margrave of Brandebourg, Anspach, and Bareith. Written in the Year 1786. New York 1970 (=Russia Observed, Neudruck der Ausgabe Dublin 1789), der 1795 auch in russischer Sprache erschien. Zum Hintergrund dieser Reise vgl. auch Susanne Franke, Die Reise der Lady Craven durch Europa und die Türkei 1785/1786. Text, Kontext und Ideologien (=Grenzüberschreitung, 4). Trier 1995. Dezidiert antirussisch eingestellt war hingegen ihr Landsmann, der Naturforscher Edward Daniel Clarke, Travels in Various Countries of Europe, Asia, and Africa, Bd. 1 (Russia Tahtary and Turkey). London 1816, 4. Auflage. 40 Vgl. Kerstin S. Jobst, Where the Orient Ends? Orientalism and Its Function for Imperial Rule in the Russian Empire. In: James Hodkinson u. a. (Hg.), Deploying Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester 2013, S. 190–208. 41 Zu den politisch-ideologischen Voraussetzungen dieser positiven Griechen-Wahrnehmung im 18. Jahrhundert vgl. Zorin, Kormja dvuglavogo orla, S. 31–64.

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Zitat.⁴² Einem einige Jahrzehnte später veröffentlichten Bericht zufolge traf die Reisegruppe unweit eines in der Nähe von Balaklava gelegenen griechischen Dor­ fes erstmalig auf die Amazoneneinheit (russ. Amazonskaja rota), welche sie dann eine Weile während der Reise über die Krim begleitete. Eine von Lorbeerbäumen gesäumte Allee war mit Zitronen und Orangen geschmückt, in einem Zelt waren die traditionellen Begrüßungsgeschenke, u. a. Salz und Brot, bereitgestellt wor­ den. Zudem waren Würdenträger der orthodoxen Kirche anwesend. Die in einer Kutsche anreisende Zarin zeigte sich mit dem Arrangement sehr zufrieden und soll der Kommandeurin später einen Ring im Wert von 1800 Rubeln geschenkt haben.⁴³ Dass es den Arrangeuren der Taurischen Reise nicht um die (in der Zeit nicht regelhaft angelegte) Wehrhaftigkeit von Frauen ging, sondern allein um ein antikes Zitat, mag der Umstand beleuchten, dass die Amazoneneinheit noch im selben Jahr aufgelöst wurde. Sie war eigens und ausschließlich für die Taurische Reise ins Leben gerufen worden. Der überlieferte Stich stützt die Erzählung: Vor einer bergigen Landschaft, wie sie tatsächlich vor Balaklava anzutreffen ist, wird eine prächtige vierspännige Kut­ sche dargestellt. Diese wird von einer berittenen Einheit weiblicher Soldatinnen – erkennbar durch Gewehre – begrüßt, an deren Spitze offenbar die Kommandeu­ rin Sardanova steht. Links im Bild stehen zwei christliche Würdenträger. In der Kutsche sind eine Frau – vermutlich Katharina II. – sowie ein Mann zu erkennen, dessen Identität nicht zu klären ist. Aufgrund des Ranges wäre es am plausibelsten, dass es sich dabei um Joseph II. als den neben der Zarin höchstrangigen Teilneh­ mer handelt. Dies widerspricht allerdings dem erwähnten Bericht, in dem es heißt, der Kaiser sei zu Pferde voraus geritten. Ganz links am Bildrand ist vermutlich das bereits erwähnte Zelt sichtbar. In jedem Fall hatte diese Inszenierung einen hohen Wiedererkennungswert, war den gebildeten europäischen Eliten doch das u. a. durch Herodots „Historien“ bekannte Amazonen-Motiv vertraut.⁴⁴ Die Verbindung von Erzählung und Visualisierung kann im Sinne der in diesem Beitrag zentralen Frage nach der Image-Produktion also als konsistent bezeichnet werden. 42 Interessanterweise wird hier die eigentliche altgriechische Deutung umgekehrt: Denn die Amazonen waren im antiken Mythos ja ausdrücklich keine Griechinnen, sondern eher besonders exotische Gegnerinnen der Hellenen. Dies belegt den recht beachtlichen Spielraum, welchen die neuzeitlichen Interpreten antiker Mythen für sich beanspruchten. 43 Ich folge hier G. Dusi, Zapiska ob amazonskoj rote [Notiz über die Amazoneneinheit], in: Moskvitjanin, 1844 (1), S. 266–268. Danach erzeugte der dem Reisezug vorausreitende Kaiser Joseph II. für erhebliche Unruhe unter den Dorfbewohnern: Er soll nämlich der Kommandeurin, Elena Sardanova, vor Begeisterung ob der prächtig gewandeten jungen Damen zu Pferde einen Kuss auf die Lippen gedrückt haben, was bei der einheimischen Bevölkerung für Aufruhr gesorgt haben soll. 44 Herodot, Geschichten und Geschichte, Buch 1–4, übersetzt von Walter Marg. Zürich/München 1973. Für die Beschreibung Tauriens und der Amazonen ist das 3. Buch relevant.

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Schlussbetrachtung Die Taurische Reise war in damaliger Zeit ein Medienereignis erster Güte, welches den Anspruch des Russländischen Imperiums unterstrich, Teil Europas zu sein. Sie diente als höchst modernes Mittel der Image-Produktion, indem im europäischen Oberschichtendiskurs der Zeit eingeschriebene antike, hellenisierte Motive aufge­ griffen wurden, welche die Eliten unschwer erkennen und decodieren konnten. Diese Motive wurden wiederholt und an die spezifischen Bedürfnisse des Russlän­ dischen Imperiums angepasst. Diese Image-Produktion sollte durchaus in einem größeren, auch außenpolitischen Zusammenhang verortet werden: Das Zarenreich hatte seinerzeit u. a. durch die erste Teilung Polen-Litauens – die zweite und dritte folgten bekanntlich erst noch 1793 und 1795 – die Kritik der europäischen Öffent­ lichkeit auf sich gezogen, da dieser Akt schon Zeitgenossen als nur partiell zu legitimierende Machtpolitik galt. Die Zurückdrängung des Osmanischen Reiches und die Eliminierung des damit eng verbundenen Krim-Chanats konnte hingegen auf die allgemeine Zustimmung der europäischen Mächte hoffen. Bis zum zweiten Russisch-Osmanischen Krieg der Jahre 1787 bis 1792, der dem Russländischen Reich mit dem Vertrag von Jassy/Iaşi weitere Gebietsgewinne am Schwarzen Meer und die endgültige Anerkennung des Krim-Erwerbs durch die Hohe Pforte bringen würde, war Russland zumindest zeitweilig außenpolitisch entlastet. Katharinas Fahrt in den Süden sollte diesen Waffengang propagandistisch vorbereiten, indem die An­ nexion der Krim mittels politischer und publizistischer Arrangements als legitim betont wurde. Die Stilisierung der südlichen Gebiete als klassisches Taurien auch mittels visueller Artefakte sollte dazu beitragen. Hinzu kam eine, freilich in diesem Beitrag nicht behandelte zweite Schiene der zarischen Politik, nämlich den Neu­ erwerb in die Reichsstruktur einzubinden und u. a. dadurch langfristig zu sichern: Die dazu dienenden Maßnahmen waren pragmatisch, denn das ultimative Ziel war die Schaffung der größtmöglichen „strukturelle[n] Gleichförmigkeit zwischen diesen neuen Territorien und den Kerngebieten Rußlands“.⁴⁵ Langfristig, lange nach der Taurischen Reise, ist dies tatsächlich gelungen, denn die Krim gilt heute der ganz überwältigen Mehrheit aller Russen als unveräußerliches Territorium. Dies ist allerdings ein anderes Thema.

45 Stephan Conermann, Expansionspolitik im Zeichen des Aufgeklärten Absolutismus? Katha­ rina und die Krimtataren. In: Eckhard Hübner/Jan Kusber/Peter Nitsche (Hg.), Rußland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus – Aufklärung – Pragmatismus. Köln/Weimar/Wien 1998, S. 337–359, hier S. 355. Vgl. zu diesen Maßnahmen insgesamt auch die Ausführungen bei Jobst, Vision.

Róisín Healy

Polen als Vorbild in Irland im späten 18. Jahrhundert Wie in diesem Band und anderswo gezeigt wird, reicht die von Larry Wolff avan­ cierte Darstellung der Entstehung einer allgemeinen westlichen Vorstellung des europäischen Ostens im 18. Jahrhundert als rückständig und minderwertig nicht aus.¹ Schon vor dem 18. Jahrhundert gibt es Andeutungen von negativen Einstel­ lungen zu Osteuropa unter Reisenden aus dem Westen. Solche Meinungen kamen dann und später aber nicht unbedingt aus einem Überlegenheitskomplex des Westens, sondern aus der Erfahrung von eigentlichen Unterschieden zwischen Westen und Osten, vor allem in Verkehrsverhältnissen, in der Reichweite des La­ tein, in der Urbanisierung und im Universitätswesen.² Andererseits blieben bis zum 18. Jahrhundert positive Einschätzungen des Ostens in Quellen bestehen, die Wolff in seiner Vorliebe für Reiseberichte übersah. Die Hochachtung der Antike wirkte beispielsweise der Herabsetzung des Ostens entgegen, indem sie die alter­ tümlichen Wurzeln der politischen und adeligen Kultur in vielen Teilen Osteuropas akzentuierte.³ Am Ende des 18. Jahrhunderts waren Teile des Ostens wirtschaftlich auch dermaßen vorangekommen, dass zivilisatorische Unterschiede zwischen Paris, Berlin und St. Petersburg kaum zu erkennen waren. Auch in Irland lässt eine positive Einstellung zu Osteuropa erkennen. Diese beruht allerdings weder auf konkreten Erfahrungen mit dem Osten noch einer ausgeprägten Vorliebe für die Antike, sondern fast ausschließlich auf innerpoli­ tischen Verhältnissen. Sie ist auch vor der frühen Neuzeit entstanden: Schon im 9. Jahrhundert behaupteten Iren, dass ihr Volk ursprünglich aus Asien kam, um sich eine möglichst lange Vorgeschichte und damit Ansehen zu geben. Als Beweis wurde auf angebliche Ähnlichkeiten in der Musik, Religion, Kleidung und Charak­ ter verwiesen.⁴ Der Glaube an eine tatsächliche Verwandtschaft zum Osten blieb bis zur Moderne bestehen. Bedeutender für eine bejahende Perspektive auf den Osten

1 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994. 2 Alena Kliuchnik, Western Representations of Poland, Lithuania and Moscovia in the 15th and Early 16th Centuries, Unveröffentlichter Konferenz-Beitrag, Writing Central and Eastern Europe. Kraków 2010. 3 Ulrich Heinen (Hg.), Welche Antike? Rezeption des Altertums im Barock. Wiesbaden 2011. 4 Joseph Lennon, Irish Orientalism. A Literary and Intellectual History. Syracuse 2004, S. XV–XX. DOI 10.1515/9783110499797-008

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war jedoch die Erfahrung des Verlusts der Souveränität durch fremde Herrschaft. Der Einmarsch der Anglo-Normannen im Jahr 1169 führte zum Zusammenbruch des alten irischen Königreichs und zur Anglisierung des Gebietes um Dublin. Die soge­ nannte Wiedereroberung Irlands durch Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert dehnte die Autorität Englands über die ganze Insel aus und verstärkte die Bindung an das englische Königreich. Für die gälische Elite war der Vorgang traumatisch. Sie wurde enteignet und ins Exil gesetzt, ihre Gutshöfe wurden an Engländer und Schotten vergeben. Letztere bildeten nun eine neue ethnische und konfessionelle Elite – die Neuankömmlinge waren evangelisch –, die politische und wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten der katholischen Bevölkerung erheblich einschränkte. Die Erfahrung der Eroberung sorgte unter den Verlierern für eine Sensibilität gegenüber Anderen, die ebenfalls den Ansprüchen ihrer jeweiligen Nachbarstaa­ ten ausgesetzt wurden, auch in Osteuropa. Die irische Affinität für Osteuropa beschränkte sich also auf Länder, die in angeblich ähnlicher Weise unter frem­ der Herrschaft litten, hauptsächlich Ungarn und Polen, und schloss Großmächte wie das Russländische und das Osmanische Reich aus. Im Fall der Ersteren aber stieg die Wertschätzung dermaßen, dass diese Länder einen Vorbild-Charakter für Kritiker der englischen Herrschaft in Irland gewannen und damit oft mehr Unter­ stützung in Irland fanden als in liberalen Kreisen Englands. Diese Iren lehnten das kanonisierte Bild des Ostens ab und stellten sich eine neue Ordnung des Konti­ nents vor, gemäß der die Moral und nicht die Zivilisation die Grenzen innerhalb Europas bestimmten. Aus dieser Sichtweise lag die zentrale Grenze in Europa nicht zwischen einem fortschrittlichen Westen und einem rückständigen Osten, sondern zwischen den Großmächten und ihren Opfern, egal ob im Osten oder im Westen. Diese Solidarität mit osteuropäischen Ländern erreichte ihren Höhepunkt mit dem Aufschwung des Nationalismus und dem Trauma des großen Hungers im 19. Jahrhundert, entstand aber im 18. Jahrhundert. Ungarn und Polen wechselten einander als Hauptvorbild der irischen Patrioten ab, je nachdem, welches Land gerade am eifrigsten die Fremdherrschaft bekämpfte. Mit dem Aufstand 1848/49 gewann Ungarn beispielsweise eine bedeutende Vorbildfunktion für irische Na­ tionalisten. Im späten 18. Jahrhundert liefen hingegen die Beziehungen zwischen Ungarn und Österreich relativ einträchtig, so dass es unter den Iren kaum Auf­ merksamkeit erweckte. Eigentlich schauten eher ungarische Patrioten neidisch auf Irland, das doch immerhin über ein eigenes Parlament verfügte.⁵ Im Gegensatz dazu lenkte Polen-Litauen in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wegen der Teilungen die Aufmerksamkeit ganz Europas und

5 William O’Reilly/Andrea Penz, Freiheit und Unabhängigkeit als imperative Postulate. Nationale Bewegung in Irland und Ungarn im Vergleich (1780–1870). Graz 2006.

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damit auch Irlands auf sich. In diesem Kapitel will ich der Entstehung der eher positiven Einstellung zum Osten im 18. Jahrhundert an diesem Beispiel nachgehen. Wie generell von Osteuropa gingen die Vorstellungen der Iren von Polen-Litauen nicht auf eigene Erfahrung zurück. In der frühen Neuzeit reisten sehr wenige Iren nach Polen-Litauen. Im frühen 17. Jahrhundert machten ein paar Hunderte hier kurze Aufenthalte, um im Militär zu dienen, hinterließen aber keine auf­ gezeichneten Erinnerungen. Der Weg nach Polen war den meisten Iren zu weit und umständlich und die Gelegenheiten in anderen katholischen Ländern viel attraktiver. 1694 verbrachte der gebürtige Ire Bernard Connor als Leibarzt von Jan Sobieski ein Jahr in Polen und schrieb die erste große englischsprachige Ge­ schichte Polens, The History of Poland.⁶ Obwohl er von Larry Wolff nicht beachtet wurde, stimmte Connor in mehreren Hinsichten mit dem von ihm beschriebenen westeuropäischen Blick auf den Osten überein. Er stellte England im Vergleich zu Polen als politisch fortgeschritten dar und deutete beispielweise auf die kon­ fessionelle Intoleranz in Polen hin. Ironisch ist aber, dass von England in Irland eine ähnliche Politik zugunsten der anglikanischen Kirche ausgeübt wurde, die ihn auch als einheimischen Katholik betraf. Übrigens ähnelten einige seiner Vorurteile gegen die Polen dem Diskurs der Engländer über die Iren, die ihn und seinesgleichen scharf zurückgewiesen hatten. Giraldus Cambrensis schuf schon im späten Mittelalter ein Leitmotiv für englische Darstellungen von Irland, wenn er die Iren als ein Naturvolk darstellte.⁷ Im 17. Jahrhundert führte der Dichter und Staatsdiener Edmund Spenser die Iren auf einen gemeinsamen Stamm mit den Skythen zurück, angeblichen Vorfahren der Slaven, und charakterisierte sie als eines der primitivsten Völker.⁸ Diese parallele Verurteilung von Völkern an beiden Peripherien Europas war für die frühe Neuzeit nicht ungewöhnlich.⁹ Letztlich kann Connors Kommentar zu Polen-Litauen aber nur aufgrund seines persönlichen Ehrgeizes verstanden werden.¹⁰

6 Bernard Connor, History of Poland in Several Letters to Persons of Quality, 2 Bände. London 1698. 7 Hier ist Topographica Hibernica gemeint. Siehe dazu: Thomas Wright, The Historical Works of Giraldus Cambrensis. London 1894. 8 Edmund Spenser, A View of the Present State of Ireland. London 1934, S. 47, (1598 verfasst und 1633 erstmals veröffentlicht). Zu Spenser siehe: Nicholas Canny, Making Ireland British, 1580–1650. Oxford 2001, S. 48. 9 Ekkehard Witthoff, Grenzen der Kultur: Differenzwahrnehmung in Randbereichen (Irland, Russland) und europäische Identität in der Frühen Neuzeit. In: Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999, S. 267–84. 10 Zu Bernard Connor siehe: Róisín Healy, The View from the Margins: Ireland and Poland-Lithua­ nia, 1698–1798. In: Richard Unger (Hg.), Britain and Poland-Lithuania: Contacts and Comparisons. Leiden 2008, S. 355–374.

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Die meisten Iren erfuhren von Polen-Litauen durch Ausländer – Engländer, Franzosen und Deutsche –, deren Texte ins Englische übersetzt wurden. Sie lasen Reiseberichte, die auch anderswo beliebt waren, zum Beispiel von den Engländern John Marshall und William Coxe, sowie auch die Texte der Aufklärer zu Polen, vor allem Voltaires und Montesquieus.¹¹ In den irischen Zeitungen und Zeitschriften fanden sie Artikel zu wichtigen Ereignissen des 18. Jahrhunderts – Königswahlen, Kriege und Konfessionspolitik. Für diejenigen, die nur der gälischen Sprache mäch­ tig waren (etwa die Hälfte der Bevölkerung) war Polen-Litauen kaum ein Thema – neben ein paar Hinweisen in der Dichtung gab es auf Gälisch zu Polen nur einige Seiten in einer Art Weltatlas, die aus dem Englischen übersetzt wurden.¹² Die räum­ liche Distanz führte zu einer relativen Gleichgültigkeit gegenüber Polen in Irland; im Vergleich hatten Schottland oder England viel engere Handelsbeziehungen und Migrationserfahrung mit Polen und dienten den polnischen Intellektuellen als politisches Vorbild.¹³ Bis zum späten 18. Jahrhundert war das Polenbild der Iren vorwiegend nega­ tiv. Polen galt als politisch chaotisch, die Leibeigenschaft als Sklaverei und als Merkmal der Unzivilisiertheit der szlachta, das Land als höchst intolerant gegen­ über Nichtkatholiken. Insofern unterschied sich der irische Blick auf Polen kaum vom englischen.¹⁴ Die besonderen konfessionellen Verhältnisse in Irland führten aber zu einem ausgeprägten Interesse an der religiösen Frage in Polen. Irische Protestanten rissen Beispiele von Angriffen auf polnische Protestanten an sich,

11 William Coxe, Travels into Poland, Russia, Sweden and Denmark interspersed with historical relations and political inquiries. Dublin 1784; Joseph Marshall, Travels through Holland, Flanders, Germany, Denmark, Sweden, Lapland, Russia, the Ukraine, and Poland, in the years 1768, 1769, and 1770. In which is particularly minuted, the present state of those countries, respecting their agriculture, population, manufactures, commerce, the arts, and useful undertakings. London 1772. Marshall fälschte seinen Bericht. Siehe dazu: Wolff, Inventing, S. 81. Graham Gargett, Voltaire’s Lettres Philosophiques, in: Eighteenth-Century Ireland/Iris an dá Chultúr, 14 (1999), S. 77–98. Montesquieu, Charles de Secondat, baron de. The spirit of laws. With corrections and additions communicated by the author. . . . Dublin 1751, Bd. 1, S. 18 und S. 118. 12 Tadhg Ó Neachtain/Eolas ar an Domhain (Hg.), Maebh Ní Cléirigh. Dublin 1944, S. 87–90. Ausführlich darüber in: Laurence Eachard, A most compleat compendium of geography. London 1691; Patrick Gordon, Geography anatomized. London 1700. Zu Ó Neachtains Werk siehe: Brian Ó Cuiv, Irish Language and Literature. In: Theodore W. Moody/William E. Vaughan (Hg.), New History of Ireland, Bd. 4: Eighteenth-Century Ireland, 1691–1800. Oxford 1986, S. 395. Die Beschreibungen von Polen bei Gordon und Ó Neachtain sind in mancher Hinsicht unterschiedlich, so dass Eachard höchstwahrscheinlich die Quelle für diesen Eintrag war. 13 Benedict Wagner-Rundell, Liberty, Virtue and the Chosen People: Britain and Poland Republi­ canism in the Early Eighteenth Century. In: Britain and Poland-Lithuania, S. 197–214. 14 Richard Butterwick, Poland’s Last King and English Culture: Stanisław August Poniatowski, 1732–98. Oxford 1998, S. 33.

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da sie zu ihrem Selbstbild als verfolgte Minderheit gut passten. Mit Hinblick auf Angriffe auf irische Protestanten im Jahr 1641 ordneten sie Angriffe in Polen und die Hinrichtung von 10 protestantischen Bürgern in Thorn 1724 einer europaweit antiprotestantischen Welle ein.¹⁵ Aber ab dem späten 18. Jahrhundert ließen Entwicklungen in Polen-Litauen wie auch in Irland das irische Polenbild positivere Aspekte gewinnen. Die Teilun­ gen Polen-Litauens durch die Nachbarmächte zwischen 1772 und 1795 machten das Land zum Objekt des Mitleids in Westeuropa. Thomas Babington Macaulay verurteilte die erste Teilung als ein schändliches Verbrechen. Mirabeau sprach von den Teilungsmächten als Despoten, die die Gepflogenheiten der Diplomatie verachteten.¹⁶ In Irland erweckte Polen-Litauen großes Interesse und erfuhr zum ersten Mal auch Beistand von Protestanten. Die Aufklärung hatte eine kritische Einstellung zur Benachteiligung der Katholiken unter der Elite begünstigt, die nun ihr protestantisches Vorurteil gegenüber Polen abbaute.¹⁷ Durch Reisen in katholische Länder auf der Grand Tour und das Ende des päpstlichen Rückhalts für die jakobitische Linie ließen die Vorurteile irischer Protestanten gegen Katholiken nach.¹⁸ Der Unabhängigkeitskampf in Amerika und verschiedene Handelskon­ flikte verstärkten das Unbehagen gegenüber der britischen Regierung in Irland, sowohl unter der protestantischen Elite, die schon lange die Aufteilung der Macht zwischen Dublin und London in Frage stellte, als auch unter der katholischen Mehrheit. Vor diesem Hintergrund gewannen die Bemühungen der Polen, ihre Unabhängigkeit gegenüber ihren Nachbarn zu verteidigen, einen heldenhaften und vorbildlichen Charakter. Diese Strömungen trugen zu einem verstärkten Solidaritätsgefühl mit den Po­ len in Irland bei, das über das Entsetzen der Politiker und Schriftsteller in England oder Frankreich hinausging. Die besonderen politischen Verhältnisse in Irland ermöglichten eine Verbundenheit zu Polen-Litauen, sowohl unter Konservativen wie auch Radikalen. Als Beispiel für eine konservative Verteidigung der Polen dient Edmund Burke, der in Irland geboren und aufgezogen wurde und später am Trinity College Dublin studierte, bevor er 1750 mit 21 Jahren nach England umzog, um dort

15 Thomas Wight, A history of the rise and progress of the people called Quakers in Ireland, from the year 1653 to 1700. Dublin 1751, S. 19. Die eigentliche Zahl liegt viel niedriger. 16 Zur europäischen Stellungnahme zu den Teilungen siehe: Norman Davies, God’s Playground: A History of Poland, Bd. 1. Oxford 1981, S. 525; Zu Englands Position, in: David Bayne Horn, British Opinion and the First Partition of Poland. Edinburgh 1945. 17 Michael P. Brown, Was there an Irish Enlightenment?: The Case of the Anglicans, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 1 (2008), S. 49–64. 18 Thomas Bartlett, The Fall and Rise of the Irish Nation: The Catholic Question, 1690–1839. London 1992, S. 67.

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Karriere zu machen. Er wurde der berühmteste Kritiker der Teilungen und sein Entsetzen über die Teilung ist aus dem oft zitierten Satz wohl bekannt: „Poland was but a breakfast; and there are not many Polands to be found – Where will they di­ ne?“¹⁹ In seinem ersten veröffentlichten Kommentar zur polnischen Frage äußerte er sich kritisch über die dortigen Verhältnisse, indem er die polnische Bevölkerung als politische und persönliche Slaven bedauerte.²⁰ Sein Unbehagen galt aber nur dem politischen System. Im Gegensatz zu Ségur, der nach seinem ersten Schritt in Polen glaubte, Europa verlassen zu haben und zehn Jahrhunderte zurückzugehen, verstand Burke Polen-Litauen als wichtigen Bestandteil Europas.²¹ Er behauptete, die Verhaltensweise der Teilungsmächte gehöre einer Zeit der Barbarei an und Europa sei auf dem Weg zivilisatorischer Herabsetzung: Die aktuelle Zerstückelung und Teilung von Polen ohne den Vorschein eines Krieges sollte als der erste große Bruch im modernen politischen System Europas betrachtet werden. Es handelt sich nicht (wie die Politiker auf dem Kontinent meinen) um eine allmähliche Erschöpfung der Verfassung einer großen westlichen Republik, sondern um einen Axtschlag gegen die Wurzel in einer Art, durch welche der komplette Sturz des Ganzen droht.²²

Er erklärte sich über die Trägheit der anderen Großmächte entsetzt: Wir betrachten nun die Zerstörung eines großen Königreichs, mitsamt der darauffolgenden Verwirrung von Macht, Herrschaft und Handel, mit derselben Gleichgültigkeit und Sorglosig­ keit, wie wir einen Bericht über die Ausrottung einer Horde von Tartaren durch eine andere, wie in den Tagen von Dschingis Khan oder Tamerlan lesen könnten.²³

Der Bezug auf die Mongolen bedeutete kein Vorurteil gegenüber Asien. Eher wollte Burke die Unangemessenheit der Teilung zum Ausdruck bringen, indem er sie weit in die Vergangenheit, in die Zeit vor der Aufklärung einordnete. In seinen sonstigen Reden verteidigte er die Bevölkerung Asiens gegen ihre Ausbeutung durch ihre neuen Herrscher, die Europäer. In seinem 2010 erschienenen Buch Die europäische Expansion und ihre Feinde hebt Benedikt Stuchtey Burke als einen der konsequentesten Kritiker des Kolonialismus im späten 18. Jahrhundert hervor. Stuchtey zeigt, wie Burke von 1767 bis 1795 das Verhalten der East India Company wie auch die ganze Expansionspolitik Englands verurteilte. Seine Erregung über die Teilungen Polen-Litauens, die von Stuchtey nicht beachtet wird, passte sehr

19 Brief an A.H. von Borcke vom 17. Januar 1774, zit. nach: Davies, God’s Playground, Bd. 1, S. 524. 20 Edmund Burke, Vindication of Natural Society, 1756. In: Timothy O. McLoughlin/James T. Boulton (Hg.), Writing and Speeches of Edmund Burke, Bd. 1. Oxford 1997, S. 160. 21 Wolff, Inventing, S. 6. 22 Auszug aus dem Annual Register, in: Belfast Newsletter, 27.–30. Juli 1773. 23 Political History of Europe, in: Hibernian Magazine, August 1773, S. 417–18.

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gut zu dieser antikolonialen Haltung, die wiederum ihre Wurzeln in der beson­ deren politischen Lage Irlands hatte. Stuchtey nimmt zur Kenntnis, dass Burke, wie auch David Hume und Adam Smith, zur celtic fringe gehörten.²⁴ Burke war zwar Protestant, seine Mutter war aber katholisch und ihre Familie wurde des­ wegen enteignet, sodass Burke die Kehrseite des britischen Imperialismus aus persönlicher Erfahrung kannte. Er verurteilte die Politik Englands in Irland wie auch in Indien als Tyrannei. Die erste Teilung beschrieb er in ähnlicher Weise als die Zerstörung von Freiheit durch Bestechung und Korruption.²⁵ Er wehrte sich nicht prinzipiell gegen das Empire, setzte aber voraus, dass es die Freiheit aller Untertanen, egal welchen Menschengruppen sie zugehörten, respektierte. Ihm war aber bewusst, dass Empire in der Praxis oft Krieg, Korruption und Misshandlung der einheimischen Bevölkerung mit sich brachte.²⁶ Burkes Entsetzen über die erste Teilung fand in seiner Heimat auch außerhalb konservativer Kreise Widerhall. 1773 verurteilte der Belfast Newsletter, eine liberale Zeitung der zweitgrößten Stadt Irlands, die Teilung als die Folge von Bestechung und Korruption. Sie verehrte den polnischen König Stanislas Augustus als attraktiv, gebildet und aufgeklärt und sprach ihn von jeder Schuld an der Katastrophe frei.²⁷ Der preußische König Friedrich II. wurde demgegenüber in Irland als Heuchler missbilligt: „Da der König von Preußen ebenso sehr als königlicher Philosoph und Schriftsteller wie auch als Krieger gilt, hätte man eine deutlichere und belesene Auslegung seiner Rechte erwartet als von den anderen Teilungsmächten.“²⁸ Auch seine Kriegsführung rief Kritik hervor. Die preußische Armee hätte gehandelt, als ob sie unerhörten Schäden zu rächen hätte, und nicht an den Normen zivili­ sierter Länder festgehalten, hieß es in einer aufgeklärten Zeitschrift.²⁹ Trotz der mehrheitlich protestantischen Bevölkerung Belfasts wies der Belfast Newsletter Friedrichs Verteidigung der Rechte der polnischen Protestanten als einen Vorwand zur Förderung seiner eigenen territorialen Ansprüche zurück.³⁰ Bei der zweiten und dritten Teilung war die Unterstützung für Polen-Litauen in Irland noch stärker. Eine radikale Bewegung hatte in Irland Fuß gefasst, die in der Verteidigung der Souveränität Polen-Litauens ein Vorbild für Irland sah. 1778

24 Benedikt Stuchtey, Die europäische Expansion und ihre Feinde: Kolonialismuskritik vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. München 2010, S. 91. 25 Belfast Newsletter, 8. Juni 1773. 26 Stuchtey, Die europäische Expansion, S. 88–94. 27 Description and Character of the King of Poland, in: Belfast Newsletter, 30. April 1773. 28 Retrospective view of the conduct of the court of Vienna with respect to Poland, from the commencement of the troubles in that kingdom, in: Hibernian Magazine, September 1773, S. 468. 29 Ebenda, S. 468; Political History of Europe, in: Ebenda, S. 458–60. 30 Belfast Newsletter, 2. Februar 1773.

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wurde von der protestantischen Mittelschicht im Norden des Landes ein Verband gegründet, die Volunteers, um mehr Unabhängigkeit von England zu fordern. Der Ausbruch der französischen Revolution führte zu einer Radikalisierung dieses Ver­ bandes wie auch zur Gründung eines neuen Geheimverbandes von Republikanern, der United Irishmen, im Oktober 1791 in Dublin und Belfast. Während Burke die Gewalt der Französischen Revolutionäre völlig zurückwies, sahen diese die Gewalt als legitimes Mittel im Kampf gegen die englische Herrschaft. Mit der Verfassung vom 3. Mai 1791 stieg die Polenbegeisterung aller Iren offen­ sichtlich. In einem Umzug am 14. Juli 1791, dem zweiten Jahrestag der französischen Revolution, trugen die Volunteers eine beleuchtete Folie durch die Straßen von Dublin, worauf eine Erdkugel mit Polen neben Frankreich als Empfänger von Son­ nenstrahlen aus Amerika abgebildet war. Als Gegner der britischen Regierung wollten die Volunteers den Einfluss Amerikas auf die polnische Verfassung be­ tonen – auch wenn der englische Einfluss vielleicht größer war.³¹ Der Leiter der United Irishmen Theobald Wolfe Tone bewunderte die Zusage konfessioneller To­ leranz in einem Aufruf zur Gleichberechtigung der Katholiken.³² Burke hob die Verfassung ebenso hervor, aber als Gegensatz zu Entwicklungen in Frankreich, die ihn so bewegte: Er lobte die Artikel, die die Gleichheit der Untertanen förderten und vor allem das gewaltlose Vorgehen der Polen.³³ In den folgenden Jahren dauerte die Rücksicht auf Polen an, dem in einem Um­ zug von 5000 Volunteers am 14. Juli 1793 in Belfast wieder einen besonderen Platz eingeräumt wurde. Die Teilnehmer trugen die Fahnen „der fünf freien Nationen“, worunter sie Polen, Irland, Frankreich, Amerika und Großbritannien zählten. Im Fall Polens und Irlands war die Bezeichnung ‚frei‘ eher optimistisch. Die zweite Teilung wurde schon Anfang des Jahres durchgeführt und Irland blieb England un­ tergeordnet. Bei einer revolutionären Erinnerungsfeier in Ballymoney verlangten Volunteers, dass der König und Patrioten von Polen-Litauen die Fackel bewahrten und damit „die blutdürstige Kaiserin des Nordes“ verbrannten.³⁴ Die Vorgänge in Polen-Litauen wurden schon Mitte 1792 Anlass zu Gedichten in der United Irish­ man-Zeitung, Northern Star, also lange vor den berühmten Gedichten „Kościuszko“ von Coleridge und „The Pleasures of Hope“ von Thomas Campbell, die erst nach dem Kościuszko-Aufstand von 1794 erschienen. Der Verfasser von Dromore in Ulster ernannte sich zum „Freund des Friedens“ und äußerte sich optimistisch hinsicht­

31 Hibernian Magazine, Juli 1791, S. 94–95. Für diesen Hinweis danke ich Vincent Morley. 32 Wolfe Tone, An Argument on behalf of the Catholics of Ireland. Dublin 1791, S. 53. 33 Brief von Burke an Stanisław August vom 28. Februar 1792, in: Leslie G. Mitchell (Hg.), The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. 8: The French Revolution 1790–1794. Oxford 1989, S. 76. 34 Northern Star, 18.–21. Juli 1792.

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lich des Überdauerns der polnischen Verfassung trotz des jüngsten Einmarsches der Russen mit preußischer Beihilfe aufgrund der Gerechtigkeit der Sache: If the pray’r of each nation that longs to be free; And of those blest already by Liberty’s sway, Aught avail—Heaven yet will confirm the decree That drove discord and slav’ry from Poland away! Yet triumphant her King and her People shall rise, In spite of proud Russia’s insatiate, old Dame; In spite of her Ally’s perfidious disguise, Of each impious attempt to quench Freedom’s bright flame.³⁵

Das heißt nicht, dass es vor Coleridge und Campbell in Großbritannien an Unter­ stützung für Polen-Litauen gefehlt hätte. Die Radikalen um Charles Fox hatten auch Mitleid für die Polen. Sie verstanden genauso gut wie die Volunteers und die United Irishmen, dass Polen-Litauens als politisches Symbol zugenommen hatte, als Großbritannien und Irland 1793 in den Krieg gegen Frankreich eintraten und eine öffentliche Befürwortung Frankreichs strafbar wurde. Doch hatten die Iren einen zweiten Grund, um Polen zuzujubeln – im polnischen Fall hieß die Freiheit weniger eine Ablehnung des Absolutismus wie in Frankreich als vielmehr eine Behauptung der eigenen Souveränität wie in Irland. Ein Plädoyer für Polen konnte aber auch außenpolitische Folgen haben: Irische Anhänger von Fox wie Richard Brinsley Sheridan wehrten sich wegen dessen Polenpolitik gegen das Bündnis mit Preußen gegen Frankreich 1793.³⁶ Neben der politischen Bedeutung war die polnische Frage auch in konfessio­ neller Hinsicht von Belang. Die irischen Republikaner waren von der Anerkennung der konfessionellen Gleichheit in der polnischen Verfassung aufgrund ihrer ei­ genen Erfahrung konfessioneller Ungleichheit in Irland besonders beeindruckt. Infolge der Gesetzgebung nach der Glorious Revolution von 1690 hatten nur Mitglie­ der der Church of Ireland, das heißt der anglikanischen Kirche Irlands, vollständige Bürgerrechte. Viele Volunteers und United Irishmen gehörten aber zu anderen pro­ testantischen Kirchen wie der presbyterianischen oder methodistischen. Viele Protestanten der republikanischen Bewegung waren auch zu der Erkenntnis ge­ langt, dass die Ausschließung der Katholiken, die drei Viertel der Bevölkerung ausmachten, vom Recht auf Grundbesitz und aus dem politischen Leben das Land nur lähmte. Dass sie selber berechtigt waren, für alle zu kämpfen, fanden sie im

35 Poem: An Effusion, By a Friend of Freedom, for the People of Poland, in: Northern Star, 21.–25. Juli 1792. 36 British Parliamentary Intelligence, in: Hibernian Magazine, Juli 1793.

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polnischen Kampf bestätigt. Der Northern Star prahlte, dass die Protestanten von Warschau, ebenfalls eine konfessionelle Minderheit, ihre Glocken für den Kampf gegen Russland gespendet hatten.³⁷ Der Kościuszko-Aufstand von 1794 wurde in Irland als Ermutigung zum ei­ genen Kampf für mehr Unabhängigkeit von England begrüßt. Der Northern Star sah im Aufstand ein Beispiel für die unvermeidbare Durchsetzung der Volkssou­ veränität: „Lassen sie [die Polen] ihre Ketten auf den Köpfen ihrer Unterdrücker zerbrechen – und lassen sie der Welt die wichtige Wahrheit verkünden, dass die Majestät eines Volkes nicht lange ungestraft beleidigt werden kann.“³⁸ Der dau­ ernde Optimismus der irischen Dichter und ihrer Werke über Irlands Befreiung von der Fremdherrschaft wurde den Polen angeboten. Auch wenn die Aussichten auf Erfolg in der Gegenwart gering waren, bestand noch die Hoffnung auf eine Befreiung in der Zukunft. Schon vor der Niederlage der Polen am Ende 1794 schrieb ein Dichter in der Anthologica Hibernica mit Blick auf die Zukunft: Thy Poles resisted- and what more could man? And still a day, more happy, might arrive, And see thy freedom and thy fame revive. . . ³⁹

Das Lob für Kościuszko war vollkommen. Der Northern Star erklärte ihn zu ei­ nem „Mann starken Urteilvermögens und tiefer Besonnenheit“.⁴⁰ Er betonte seine Bindung an das Volk und machte den Adeligen somit zum Volkshelden: Kości­ uszko benehme sich nicht wie ein hochmütiger Eroberer, sondern kleide sich wie ein normaler Mensch und mache den Mut der Bauern zum Vorbild für seine Mitkämpfer.⁴¹ Er feierte ihn als Washington von Polen, indem er auf seine Füh­ rungsqualitäten in zivilen und militärischen Angelegenheiten hindeutete.⁴² Mit dem Bezug auf Washington machte der Star Kościuszko, der die Souveränität eines bestehenden Staates verteidigte und nicht einen neuen begründen wollte, für das irische Publikum relevant. Dass Washington den gleichen Feind wie die irische Unabhängigkeitskämpfer hatte, machte die Parallele umso bedeutender. Insofern übertraf die irische Sympathie für Kościuszko die britische. Die Unterstützung für Polen-Litauen hielt sich sogar beispielsweise im „Pleasures of Hope“ von Thomas

37 Northern Star, 3.–7. Juli 1794. 38 Northern Star, 17.–21. April 1794. 39 Lines Addressed to Poland, in: Anthologica Hibernica, September 1794. Zum Befreiungsmotiv in der irischen Dichtung siehe: Breandán Ó Buachalla/Aisling Ghéar, Na Stíobartaigh agus an tAos Léinn 1603–1788. Dublin 1996. 40 The Illustrious Kościuszko, in: Northern Star, 8.–12. Mai 1794. 41 Northern Star, 2.–5. Juni 1794. 42 Northern Star, 19.–23. Juni 1794.

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Campbell in Grenzen. Wie Literaturkritiker Thomas McLean zeigte, stellte Campbell Polen-Litauen als ein fremdes und weit entferntes Land dar, dem kaum zu helfen war.⁴³ Obwohl die Niederlage von Kościuszko und die darauf folgende Teilung Enttäu­ schung auslöste, erwarb der Kościuszko-Aufstand eigentlich erst 1798 eine große politische Bedeutung in Irland. Wieder überwogen innerpolitische Beweggründe. In diesem Jahr führten die United Irishmen selbst einen Aufstand mit französischer Hilfe durch. Obwohl mehrere Zehntausende Iren daran teilnahmen, wurde der Aufstand rasch von den britischen Streitkräften niedergeschlagen. Der Gründer der United Irishmen, Theodore Wolfe Tone, der nach Paris gereist war, um französische Streitkräfte für die irische Sache zu gewinnen, wurde gefangen und zum Tode verurteilt. Mehr als jede andere Persönlichkeit war er für die Förderung einer iri­ schen-polnischen Verbindung zuständig. In seiner Rede vor Gericht verglich er sich mit Kościuszko als Leiter eines würdigen, wenn auch gescheiterten Aufstandes.⁴⁴ Die Rede wurde bald zu einem Grundtext des irischen Nationalismus und machte Kościuszko zu einer bekannten Figur. Die politischen Entwicklungen, die dem Tode Wolfe Tones folgte, trugen aber weiter zur Idee einer Verwandtschaft zwischen Irland und Polen bei. Das Dubliner Parlament wurde durch den Ei­ nigungsakt (Act of Union) 1800 geschlossen und das Land weiter ins politische System Englands eingegliedert. Der Vergleich mit der letzten Teilung Polens 1795 lag auf der Hand. In der Debatte um den Einigungsakt behauptete ein Gegner, Francis Hardy, die englische Regierung wäre genauso wenig berechtigt, das irische Parlament zu schließen wie Preußen und Russland, die Verfassung vom 3. Mai aufzuheben. Er verglich weiterhin die Anmaßung Englands mit der Russlands: „soll der englische Minister hier sitzen wie der russische Botschafter in Warschau, von unserer Unabhängigkeit redend, während er uns durch Einschüchterung und Einflussnahme dazu zwingt, den Einigungsakt zu akzeptieren.“⁴⁵ Polen hatte zwar einen viel größeren Verlust erlitten – Irland war seit langem nicht mehr souverän –, doch ermöglichte der Vergleich eine Ausdehnung der internationalen Sympathie von Polen nach Irland als Opfer anmaßender Nachbarstaaten. Die energische Publizistik der United Irishmen machte die Parallele von Irland und Polen zu einem Leitmotiv des irischen Nationalismus im 19. Jahrhundert. War Polen für die meisten Iren bis zu den 1790er kaum ein Begriff, verstanden sie, zu­

43 Thomas McLean, The Other East and Nineteenth-Century British Literature: Imagining Poland and the Russian Empire. London 2012, S. 74–79. 44 Marianne Elliott, Wolfe Tone: Prophet of Irish Independence. New Haven 1989, S. 393. Elliot zitiert die weniger provokante Originalfassung der Rede, die sich im Dubliner Schloss befindet. 45 A report of the debate in the House of Commons of Ireland, on Tues. and Wed., 22nd and 23rd Jan. 1799 on the subject of an union. Dublin 1799, S. 62.

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mindest ihre nationalistische Mehrheit, ab diesem Zeitpunkt Polen als ein Symbol der Freiheit. Dieses Polenbild blieb im folgenden Jahrhundert mehr oder weniger unberührt. Polen galt als ein Vorbild für Irland hinsichtlich der Bestrebungen, mehr Unabhängigkeit von Großbritannien zu gewinnen oder zumindest eine Rück­ kehr zum Zustand vor dem Einigungsakt zu erreichen. Für viele Protestanten war die Unabhängigkeit aber kein Ziel mehr. Die Wende zur Gewalt gegen Andersgläu­ bige, vor allem von Katholiken gegen Protestanten im Aufstand von 1798, zeigte die bestehenden konfessionellen Spannungen auf und veranlasste 1801 viele Pro­ testanten, von einem republikanischen Bündnis mit der katholischen Mehrheit zugunsten der Einigung mit Großbritannien abzusehen. Insofern hatte Polen für diesen Teil der irischen Bevölkerung keine große Relevanz mehr. Entwicklungen in der katholischen Kirche deuteten aber in die entgegengesetzte Richtung. Der Aufstieg des Ultramontanismus wie auch mehrere Vorfälle von Verfolgung von Katholiken, sowohl griechischen als auch römischen, auf den Gebieten des vorma­ ligen Polen-Litauen förderten die Identifizierung von irischen mit ausländischen Katholiken. Polen wurde zum Hauptthema dieses Diskurses, weil es sowohl histo­ risch streng an den Katholizismus gebunden als auch unter fremder Herrschaft war. Der führende Kleriker der katholischen Kirche in Irland im 19. Jahrhundert, Kardinal Paul Cullen, trug erheblich zu dieser Rekonfessionalisierung bei, indem er seine Herde mit diesen Gemeinsamkeiten konfrontierte.⁴⁶ Auch nach dem Errin­ gen der irischen Unabhängigkeit im 20. Jahrhundert erhielt der Kommunismus die Solidarität irischer Katholiken mit ihren polnischen Glaubensgenossen aufrecht. Das Beispiel von Irland bestätigt also die zunehmende Anerkennung einer vielfältigen und teilweise positiven Einstellung zu Osteuropa im 18. Jahrhundert. Irland war aber ungewöhnlich, da diese Einstellung aus innenpolitischen Bedürf­ nissen und nicht aus eigenen Erfahrungen mit dem Osten stammte. Die Solidarität mit Osteuropa beschränkte sich außerdem auf Länder, die sich in einer ähnli­ chen politischen Situation befanden, hauptsächlich Polen und Ungarn. Eigentlich ermöglichte das Nicht-Wissen ein sehr plastisches Bild von Polen, das internen Zwecken dienen konnte, ohne je von einem Experten angefochten zu werden. Es führte auch dazu, dass mögliche Vergleichspunkte mit Irland, wie zum Beispiel das Verhältnis von Litauen zu Polen oder die überlegene soziale Stellung von Polen gegenüber der ruthenischen Bevölkerung außer Acht blieben.⁴⁷ Die Unterstützung

46 Brief von Erzbischof Cullen an die Herausgeber, in: Irish Ecclesiastical Record, 4 (1865), S. 182–85. 47 Richard Butterwick deutet auch auf eine soziale Parallele. Er behauptet, die Stellung Irlands glich der Stellung der Rutheniens, da sich die Gutsherren auch sprachlich und konfessionell von der Mehrheit der Bauern unterschieden. Richard Butterwick, Foreword. In: Britain and PolandLithuania, S. XXXII.

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der polnischen Sache setzte sich erst relativ spät im 18. Jahrhundert durch. Bis zur ersten Teilung stand die irische Publizistik der englischen hinsichtlich Ver­ urteilung der Rzeczpospolita kaum nach. Nur die besonderen Bedingungen der folgenden Jahrzehnte, vor allem das Hervortreten eines republikanischen Milieus und die Koinzidenz des fast gleichzeitigen Scheiterns des Unabhängigkeitskamp­ fes führte zu einer breiten Identifizierung mit Polen, wenn auch langfristig nur auf katholischer Seite. Die überkonfessionelle Unterstützung der polnischen Sache blieb eine Besonderheit des späten 18. Jahrhunderts. Der postkoloniale Impuls, der zur Unterstützung der Polen führte, hielt sich in Grenzen und drückte sich bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert nur selten in Mitgefühl für Nichteuropäer aus. Insofern unterstützte das rhetorische Bündnis mit den Polen global gesehen einen irischen Anspruch auf einen Platz unter den privilegierten Völkern des Westens. Als Bürger von Großbritannien spielten die Iren eine wesentliche Rolle bei der Expansion und Administration des britischen Empires.⁴⁸ Dabei schloss das Mitleid für die einen Unterdrückten die Unterdrückung anderer nicht aus.

48 Kevin Kenny (Hg.), Ireland and the British Empire. Oxford 2004; siehe auch: Stephen Howe, Ireland and Empire: colonial legacies in Irish history and culture. Oxford, 2001.

Agnieszka Pufelska

Das koloniale Verständnis von Osteuropa in der Zeit der Aufklärung – ein theoretischer und empirischer Erklärungsversuch

Theoretische Ausgangsfrage Spätestens seit der Erscheinung des Buches „Public Opinion“ von Walter Lippmann im Jahr 1922 steht fest, dass Stereotype entscheidende Rollen bei der Selbst- und Fremdwahrnehmung spielen. Mit dem aus der Druckersprache übernommenen Begriff „stereotypes“ bezeichnet Lippmann die von der Kultur vorgefertigten, in der Sozialisation vermittelten Schemata, welche individuelle Wahrnehmung beein­ flussen.¹ Die seit Jahrzehnten florierende und methodisch zur gewissen Isoliertheit neigende Stereotypenforschung erhob die Analyse derartig schematisierter Bil­ der zum Gegenstand ihrer Beschäftigung. So unterschiedlich und vielfältig die Ansätze dieser Forschung auch sind, ist sie sich zumindest in der Frage nach der Funktion von Stereotypen weitgehend einig und verweist immer wieder auf ihre identitätsbildende Kraft, ihre Orientierungsrolle sowie ihre propagandistische und ökonomisierende Bedeutung.² Eine definitorische Stringenz ist dabei kaum erkennbar, im gleichen Atemzug werden Stereotype neben Bildern, Schemata, Wahrnehmungsmustern, Vorurteilen, Klischees oder auch Prototypen erwähnt, ohne die Spezifika und Eigendynamiken der einzelnen Termini hervorzuheben. Der Hinweis auf die fehlende begriffstheoretische Einigung soll die bisherige Ste­ reotypenforschung an dieser Stelle nicht diskreditieren, sondern vielmehr das utilitaristische Potenzial ihrer Ansätze für andere Themenbereiche hervorheben. In der Geschichtswissenschaft wurde die kommunikative Relevanz von Stereo­ typen längst erkannt. Immer mehr kulturgeschichtliche Forschungen greifen das Thema der Selbst- und Fremdwahrnehmung auf, ohne allerdings einen expliziten Bezug auf die Stereotypenforschung zu nehmen. Seit geraumer Zeit beziehen sie ihre Impulse verstärkt aus der postcolonial studies, die sich kritisch mit kolonia­ len Gesellschaftsstrukturen und Repräsentationen von Anderem bzw. Eigenem

1 Vgl. Walter Lippmann, Die öffentliche Meinung. Bochum 1960. 2 Ausführlich darüber in: Magda Telus, Gruppenspezifische Stereotype und Identität. In: FrankMichael Kirsch/Christine Frisch/Helmut Müssener (Hg.), Nachbarn im Ostseeraum über einander: Wandel der Bilder, Vorurteile und Stereotypen? Huddinge 2001, S. 113–123. DOI 10.1515/9783110499797-009

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auseinandersetzen. Eng mit den Namen Edward Saids und Homi Bhabhas verbun­ den, um nur zwei Vertreter dieses Theorienfeldes zu nennen, entwickelte sich das postkoloniale Paradigma zu einem festen Ansatz in der Literatur- und Geschichts­ wissenschaft. Zwar gib es zwischen einzelnen Diskursen der postcolonial studies gravierende Differenzierungen: Im Gegensatz zu Saids Vorstellung von einer zen­ tralen „totalen Herrschaft“ spricht Bhabha von einer kolonialen Subjektivität, die sich aus einer komplexen Reziprozität von Kolonisatoren und Kolonisierten ergibt.³ Vor diesem theoretischen Hintergrund haben auch die Historiker der Globali­ sierung den Versuch unternommen, sich von einem eurozentrischen Narrativ zu emanzipieren und die globalen Verflechtungen verstärkt aus der postkolonialen Perspektive wahrzunehmen. Die Frage, inwiefern der Globalgeschichte auf diese Weise ihre Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zurückgegeben wird – oder ob vielmehr der postkoloniale Blick den amerikanischen und europäischen Vorstel­ lungen von politischer Gerechtigkeit entspringt und weiter dazu beiträgt, diese als das einzige Deutungsmuster zu etablieren –, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Auch auf die berechtigte Kritik daran, dass die postkolonialen Konzepte selten eine übergreifende Perspektive wagen und die sozialstrukturelle und ökonomische Be­ dingungen des Kolonialismus zugunsten lokaler Identitäten vernachlässigen, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.⁴ Hier bleibt lediglich zu betonen, dass die postkoloniale Auseinandersetzung mit der Komplexität transkultureller Interaktionen „gegenüber makrohistorischen Entwürfen der Weltgeschichte, in denen kulturelle Transfers häufig im Modus von Diffusion und Adaptation ver­ standen werden“, als bereicherndes „Korrektiv“ fungieren kann.⁵ Vor allem der Vorsatz, die Verflechtungszusammenhänge zum Ausgangspunkt einer transna­ tionalen Geschichtsschreibung zu machen, verspricht die globalgeschichtliche Forschung um neue Blickwinkel und Konstellationen zu erweitern und dadurch einen umso kritischeren, zugleich aber differenzierteren Blick auf vermeintlich naturgegebene Einheiten wie Nation oder Zivilisation zu werfen. Der postkoloniale Ansatz hilft schließlich, diejenigen Regionen, Länder, Bevöl­ kerungsgruppen oder Minoritäten ins Zentrum der Untersuchung zu stellen, die das dominierende europäische Geschichtskonzept in den „Warteraum der Geschich­

3 Zur Bedeutung und Kritik der postcolonial studies siehe Castro Varela María do Mar/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld 2005. 4 Zu dieser Kritik vgl. Sebastian Conrad/Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, mul­ tiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt. In: Sebastian Conrad/Andreas Eckert/Ulrike Freitag (Hg.), Globalgeschichte – Theorien, Ansätze, Themen. Frankfurt am Main 2007, S. 22. 5 Ebenda, S. 23.

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te“ verwies, wie das Dipesh Chakrabarty formulierte.⁶ Seine Kritik richtet sich in erster Linie gegen die Hegemonie eines von Entwicklungslogik und Teleologie geprägten modernen Geschichtsverständnisses. Der Einwand gegen die Universa­ lisierung des europäischen Geschichtsdenkens und seines „Historizismus“, der auf Modellen des Fortschritts und der Abfolge von Entwicklungsstufen basiert, ist gleichzeitig auch ein Plädoyer dafür, Europa zu „provinzialisieren“. Durch das Her­ vorheben von alternativen bzw. marginalisierten Erfahrungen, Dimensionen und Historizitäten könnte es nach Chakrabarty endlich gelingen, die eurozentrische Meistererzählung zu überwinden und die außereuropäischen Vergangenheiten frei von europäischen Präfigurationen zu interpretieren.⁷ Die internationalen Vorschläge, die europäischen Kategorien und Annahmen in der Geschichtschreibung zu hinterfragen, wurden und werden auf dem alten Kontinent dankbar wahrgenommen und intensiv diskutiert. Die meisten Debatten über die Globalgeschichte und ihre postkoloniale Ausrichtung zielen darauf, ei­ nen globalen Problemhorizont zu etablieren, der dazu beiträgt, die europäische Erfahrung zu kontextualisieren und zu relativieren, d. h. sie nicht zum Modell einer universallen Entwicklung zu stilisieren.⁸ Es gehört allerdings zu den Spe­ zifika dieser theoretischen Selbstreflexion, dass hierbei immer wieder auf die außereuropäischen Entwicklungen zurückgegriffen wird, während Beziehungen und Interaktionen zwischen West- und Osteuropa kaum in den Blick geraten. Die seit Jahrhunderten praktizierte Vorherrschaft des westeuropäischen Diskurses in der Interpretation der gesamteuropäischen Geschichte ist eine Tatsache, die den Zusammenbruch des Ostblocks unerschüttert überlebt hat. Während andere Kontinente verstärkt in den Fokus der aktuellen (deutschsprachigen) Geschichts­ schreibung geraten, bleiben die Auseinandersetzungen mit den östlichen Ländern

6 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton 2000, S. 9. Vgl. dazu auch: B. Janet Abu-Lughod, Before European Hegemony: The World System A. D. 1250–1350. Oxford 1991; André Gunder Frank, Reorient: Global Economy in the Asian Age. Berkeley 1998; Kenneth Pomeranz, The Great Divergence: China, Europe and the Making of the World Modern Economy. Princeton 2000; Jack Goody, The Theft of History. Cambridge 2006. 7 Ebenda. Siehe dazu auch: Dipesh Chakrabarty, Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte. In: Sebastian Conrad/Randeria Shalini (Hg.), Jenseits des Eurozentris­ mus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S. 309. 8 Stellvertretend dafür: Jürgen Osterhamel, Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich. Zu künf­ tigen Möglichkeiten komparativer Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 143–164; ders., Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft. In: Heinz-Ger­ hard Haupt/Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse national vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1996, S. 271–313; Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich: eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1999.

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eine Seltenheit und vor allem immer noch weitestgehend der Osteuropaforschung überlassen. Die stets praktizierte Marginalisierung von Osteuropa in der europäischen His­ toriographie wird gerne auf dessen spezifischen Modernisierungsverlauf zurückge­ führt. Gerade weil die osteuropäischen Länder vordergründig keine entscheidende Rolle im Prozess der Globalisierung spielten und spielen (Schlagwort Zweite Welt), werden sie selten als Referenzpunkt des postkolonialen Ansatzes betrachtet. Dabei bietet die vorherrschende Annahme, dass Osteuropa lediglich ein Empfänger der Errungenschaften der westeuropäischen Zivilisation sei, genug Anlass, um über den nach innen gekehrten europäischen Kolonialismus nachzudenken. Der me­ thodische Vorstoß der postkolonialen Grundposition, die sich frohgemut das Ende des Entwicklungsdenkens in dem modernen Geschichtsverständnis auf die Fahne geschrieben hat, scheint an einer imaginierten östlichen Grenze Halt zu machen. Vor diesem Hintergrund bleiben die theoretischen Konzepte, die zur kritischen Selbstreflexion der Geschichtsschreibung lediglich in Bezug auf die Interaktionen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt aufrufen, eine Heuchelei, weil sie den postkolonialen Denkansatz einzig und alleine auf seine außereuropäische Dimension reduzieren und die traditionellen Gewissheiten und Entwicklungspara­ digmen bei der (Neu-)Interpretation der innereuropäischen Verflechtungen nicht in Frage stellen. Darüber hinaus, und das ist in diesem Zusammenhang der wichtigste Punkt, bietet die Einbeziehung der osteuropäischen Perspektive die Chance, die euro­ päische Historiographie von dem stets gepflegten Ost-West-Gegensatz zu emanzi­ pieren und den langsamen Abschied von einem Narrativ des „Rise of the West“ zu beschleunigen.⁹ Den dezentralen Charakter der europäischen Verflechtungen hervorzuheben bleibt allerdings ein nicht ganz leichtes Unterfangen, weil es Kri­ tik nicht nur am Essentialismus des westlichen Diskurses, sondern vor allem an tradierten Stereotypen und Vorurteilen voraussetzt.

Die vergeblichen Abschiede Die negative Stereotypisierung vom „Osten“ in der westlichen Geschichtschreibung lässt sich nach Lech Tyszkiewicz bereits im frühen Mittelalter erkennen. Die Aus­ dehnung des Fränkischen Reiches nach Osten intensivierte auch seine Kontakte zu den slawischen Nachbarn. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist

9 Das bekannteste Beispiel für diese Art der Geschichtschreibung: William H. McNeill, The Rise of the West: A History of the Human Community. Chicago 1991.

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die Chronik des sogenannten Fredegar aus dem 8. Jahrhundert, die eingehend die Beziehungen des Fränkischen Reichs mit den Ländern Ostmitteleuropa behandelt. Die slawischen Stämme werden darin als „gentilitas et superbia pravorum“ be­ schreiben und kurzerhand mit Hunden verglichen.¹⁰ Auch die Anwendung der seit Altertum gängigen Bezeichnung „barbari“ in Bezug auf die Slawen war keine Sel­ tenheit. Am deutlichsten kommt sie in der Sachsengeschichte von Widukind zum Vorschein. In der karolingischen und ottonischen Historiographie wurde die Palet­ te der Invektiven erweitert, viele frühmittelalterliche Annalen charakterisierten die Slawen als „rebellis“ und benutzten in diesem Kontext Begriffe wie „contumacia“ „perfidia“, „defecio a fide“ „tyrannia“ oder „superbia“.¹¹ Die zahlreichen Konflikte in den östlichen Grenzgebieten des Fränkischen Reiches führten letztendlich dazu, dass die Slawen im Generellen stark negativ wahrgenommen wurden und positive Meinungen nur vereinzelt auftraten. Das Bild von Osteuropa im Laufe der nächsten Jahrhunderte gestaltete sich differenziert und kann nicht auf ein pauschalisierendes Freund-Feind-Schema reduziert werden. Ohnehin ist es schwer, die östlichen Länder und Regionen als eine Einheit zu betrachten und sie unter einem homogenen Osteuropa-Begriff zu subsumieren. Hans Lemberg weist ausdrücklich darauf hin, dass bis ins frühe 19. Jahrhundert Polen, Russland, Litauen oder Ukraine nicht zum Osten, sondern zum Nordeuropa gezählt wurden.¹² Seit der Antike verlief die kognitive Kartierung und Einteilung Europas entlang der Nord-Süd-Achse, und man sprach von „Nor­ dischen Kriegen“, die „nordischen“ Mächte wie Schweden, Polen, Russland bzw. das Moskauer Reich um Territorien führten, die von der Ostsee bis in die Ukraine reichten. Darüber hinaus wurden Teile des heutigen „Osteuropa“ in den Raum der abendländischen Kultur einbezogen, weil sie als Territorien der böhmischen und polnischen Krone zur römisch-katholischen Zivilisation gezählt wurden. Dazu gehörten auch die (obwohl auch von orthodoxen Christen bewohnten) Westgebiete der heutigen Ukraine und Weißrusslands. Andere osteuropäische Gebiete, z. B. die Südukraine und die Krim, gehörten zum „Orient“ – aufgrund der damaligen Zugehörigkeit zum Krimkhanat bzw. Osmanischen Reich. Bis ins 18. Jahrhundert hinein galt häufig auch Russland als ein „orientalisches“ Land, was darauf zu­ rückzuführen ist, dass große Teile seines Territoriums jahrhundertelang unter

10 Zit. nach: Lech A. Tyszkiewicz, Z badań nad narodzinami stereotypów Słowian w historiografii zachodniej wczesnego średniowiecza, in: Acta Universitatis Wratislaviensis. Historia, 79 (1991), S. (1136) 34. 11 Ebenda, S. 42. 12 Hans Lemberg, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 33 (1985), S. 48–91.

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mongolischer Fremdherrschaft standen und dadurch aus dem Kreis der sogenann­ ten abendländischen Zivilisation ausgeschlossen wurden. Angesichts dieser differenzierten und differenten Raumwahrnehmung in der Frühen Neuzeit bleibt zu fragen, ob solch raumbezogene und deutlich später kon­ struierte Begriffe wie „Osteuropa“ eine brauchbare Kategorie in der Auseinander­ setzung mit der frühneuzeitlichen Geschichte darstellen. Eine mögliche Antwort liefert das Konzept der „mental maps“, das sich mit der Frage beschäftigt, „wie persönliche Raumvorstellungen durch kulturell vermittelte (Welt-)Bilder beein­ flusst werden und wie kollektiv geteilte Repräsentationen einer – erfahrenen oder imaginierten – räumlichen Umwelt auf Prozesse kultureller Gemeinschafts- und Identitätsbildung zurückwirken“.¹³ Wenn in historischen Studien, wie z. B. von Lar­ ry Wolff, über eine „Erfindung Osteuropas“ in der Zeit der Aufklärung gesprochen wird¹⁴, dann geht es vorrangig nicht darum, entsprechende Raumvorstellungen mit einer gegebenen Raumaufteilung abzugleichen. Vielmehr werden die in die­ sen Raumbildern „manifesten Repräsentationen der räumlichen Umwelt“¹⁵ als eigene historische Kategorie und nach ihrer Bedeutung für die Konstituierung von geographischen und kulturhistorischen Raumdarstellungen betrachtet. Das Konzept der „mental-maps“ ist letztlich eine geographisch-politisch moti­ vierte Antwort auf die stets diskutierte Frage, inwieweit die Geschichtswissenschaft eine zeitspezifische Verwendung von historisch gewachsenen Begriffen postulie­ ren kann. Dass ein Begriff eine Rezeptionsgeschichte hat und durch Jahrhunderte eine erhebliche Schubkraft entfalten kann, zeigt einschlägig Reinhart Koselleck. Begriffe stehen für die sprachliche Eigenleistung bei der Verbegrifflichung von Sachverhalten.¹⁶ Sie bilden sich am Horizont von Erfahrungen und Erwartungen. So gesehen ist Begriffsgeschichte keine vom sozial-historischen Kontext losgelöste Geistesgeschichte. Die Geschichte eines Begriffes impliziert daher alle ihm zugrun­ de liegenden Gedankengänge und Auffassungen, die erst im Laufe der Zeit zum Begriff gebracht werden. Gleichzeitig zeichnen sich ein Grundbegriff und seine Bestimmungen durch ihre Unersetzbarkeit aus; und eben weil sie nicht austausch­ bar sind, werden sie zum Kampfbegriff. Als sich der Begriff „Osteuropa“ nach dem

13 Frithjof Benjamin Schenk, Mental Maps: Die kognitive Kartierung des Kontinents als For­ schungsgegenstand der europäischen Geschichte, in: Europäische Geschichte Online, http: //www.ieg-ego.eu/de/threads/theorien-und-methoden (Zugriff: 17.02.2015). 14 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization on the Mind of the Enlighten­ ment. Stanford 1994. 15 Vgl. Schenk, Mental Maps. 16 Reinhart Koselleck, Einleitung. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1. Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII.

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Zusammenbruch des „Ostblocks“ erst einmal von seinem Entstehungskontext abgekoppelt hatte, begann die Debatte darüber, welche Regionen und Länder mit diesem Begriff charakterisiert werden können. Folge dieser Auseinandersetzung ist eine ständige Neuverortung des Grundbegriffes sowie seine individuelle und grup­ penspezifische Monopolisierung. Ohne eine Präzisierung des Osteuropabegriffes, vor allem ohne seine historische und geographische Kontextualisierung, können weder seine Reproduktionsbedingungen noch die Relevanz seiner Instrumentali­ sierung aufschlussreich erklärt werden. Kurz gefasst: „Osteuropa“ ist ein kognitives (kulturalistisches) und räumliches Konstrukt. Der geographischen Dimension die­ ses Konzeptes, das erst im 20. Jahrhundert begrifflich gefasst wurde, lagen jedoch viel ältere, mentale Repräsentationen zugrunde. Es kommt nun darauf an, diese zu untersuchen und zu fragen, welche Rolle sie in der kognitiven und geographischen Raumwahrnehmung spielten und spielen. Die Interpretation des imaginierten oder erfahrenen Osteuropabildes muss al­ lerdings immer aus dem Kontext seiner jeweiligen Zeit und nicht aus der Erfahrung des Kalten Krieges erfolgen. Dem historischen Verständnis von der „Erfindung“ Osteuropas ist wenig geholfen, wenn man sie mit teleologischer Zwangsläufigkeit vom Datum der Begriffsbildung rückwärts liest, d. h. die gegenwärtigen Raumvor­ stellungen in die Vergangenheit zurückprojiziert. Noch einmal: Die geschichtlichen Entwicklungswege der Länder, die heutzutage zum „Osten“ zählen und ihr Zu­ sammenhang mit dem Westeuropa gestalteten sich im Laufe der Jahrhunderte von Land zu Land sehr verschieden; sie lassen sich nicht nach undifferenzierten und offensichtlich als undifferenzierbar qualifizierten Gesichtspunkten einer fiktiven Gemeinsamkeit einreihen. Dieser heterogene Blick soll allerdings die postulierte (westliche) Konstruktion von Osteuropa nicht verwerfen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass dieses Raumkonstrukt eine dynamische Größe darstellt. Es ist als eine bunte Palette von Wahrnehmungen zu verstehen, die mehr durch sich stetig wandelnde Bildwelten und als durch statische Vorstellungen bedingt sind und neben vielen Unterschieden auch zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen. Im Sinne Aby Warburgs bleibt daher die „Ge-Schichte“ der Bilder auch in diesem Zusammenhang nicht ein gradliniges, allein von Besonnenheit und vorgefertigten Meinungen fortgeschriebenes Modell, sondern ist eher eines mit diskontinuierli­ chen, pendelnden und wiederkehrenden Bewegungen, durchzogen von Brüchen, Pausen, Sprüngen und Umkehrungen.¹⁷ Wie dynamisch sich die Wahrnehmung vom Osten Europas gerade in der Frü­ hen Neuzeit gestaltete, illustriert die wandelbare Einstellung von Leibniz zu Polen

17 Aby M. Warburg, Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff. Berlin 1988, S. 44–59.

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und Russland. In seiner früheren Schrift von 1669 mit dem Titel „Specimen demon­ startionum politicarum pro rege Polonorum“ bezeichnete Leibniz das russische Volk als „doppelte Türken“ und charakterisierte ihr Reich als einen brutalen Koloss, der imstande sei, Europa zu unterdrücken und die christliche Zivilisation mittels Barbarei zu vernichten.¹⁸ Damit perpetuierte er die althergebrachten Vorstellungen von Russland und war bemüht, das Bild eines unkultivierten, heidnischen und bar­ barischen Volkes zu beschwören, gegen dessen massive Ausweitung nach Westen man sich schützen muss. Nur die Verbindung Polen-Litauens mit dem „Heiligen Rö­ mischen Reich Deutscher Nation“ konnte seiner Ansicht nach die drohende Gefahr Russlands abwenden und die abendländische Kultur retten. Polen-Litauen und das Reich waren für Leibniz „naturgemäß“ auf ein enges Verhältnis zueinander angewiesen: Ihr Schutz läge im Interesse ganz Europas, denn sie bilden „ein Damm gegen alle Herrschaftsgelüste, mögen sich solche regen, woher sie kommen“.¹⁹ Die Eingliederung Polen-Litauens in die europäischen Interessen blieb beim jungen Leibniz ein stets präsenter Gedanke. Ohne das Motiv tiefer zu analysieren, cha­ rakterisierte er die polnisch-litauische Republik als Vormauer des Christentums (antemurale christianitatis) und griff dabei die spätestens seit dem 15. Jahrhundert etablierte Überzeugung auf, wonach Polen neben Ungarn und Österreich zu den Grenzfestungen des Christentums gehöre.²⁰ Mit diesem Anspruch stellte er die polnisch-litauische Republik nicht nur auf gleiche zivilisatorische Stufe wie den deutschen Sprachraum, sondern hob auch ihre traditionelle Zugehörigkeit zur abendländischen Kultur des Westens hervor. Mit dem Machtantritt von Zar Peter I. änderte sich allmählich die negative Ein­ stellung Leibniz’ zum russischen Reich. Wenn auch nicht ganz kritiklos, milderte er seine ablehnende Meinung über die Russen als Barbaren und zeigte sich nicht abgeneigt, sie in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker einzugliedern. Seit den 1690er Jahre taucht bei ihm der Gedanke der Europäisierung Russlands immer

18 Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen demonstrationum politicarum pro eligendo rege Polono­ rum, in: Ders., Politische Schriften, Bd. 1: (1667–1676). Darmstadt 1931, S. 10 f. 19 Ebenda, S. 38. 20 Ausführlich darüber in: Janusz Tazbir, Polskie przedmurze chreścijańskiej Europy, mity a rzeczywistość historyczna. Warszawa 1987, S. 32–55. Bis in das 17. Jahrhundert hinein kann man von einem Transfer des Gedankens der antemurale-Rolle der polnischen Republik sprechen. Es waren in erster Linie Rom, aber auch der Kaiser und die französischen und englischen Könige, die dieses Argument immer wieder in ihrer Außenpolitik einsetzten. Die Bereitschaft von König Jan III. Sobieski gegen das Osmanische Reich ins Feld zu ziehen sowie seine Siege bei Chotin (1673) und Wien (1683) verstärkten erneut das Bild Polens als Beschützers des christlichen Glaubens. Einen kurzen Überblick über die Geschichte dieses Mythos liefert Małgorzata Morawiec, Antem­ urale Christanitatis: Polen als Vormauer des christlichen Europa, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte, 2 (2001), S. 249–260.

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wieder auf; in seinen späteren Schriften ging er sogar so weit zu behaupten, dass das Zarenreich zu den Ländern zähle, die den zivilisatorischen Herausforderun­ gen der Gegenwart gewachsen seien und eine allgemeine Beförderung Europas anstreben. Im Allgemeinen sah Leibniz Russland als Bindeglied zwischen der Zivilisation des Westens und der des Ostens, zwischen den beiden „Vernunft­ reichen“ Europa und China.²¹ Gleichzeitig solle Russland die europäische Zivi­ lisation vor dem Osmanischen Reich retten und nach Aneignung europäischer Bildung die zentrale Mittlerrolle zur Verbreitung christlicher Kultur im Orient übernehmen.²² Der Machtanstieg Russlands und der Reformeifer seines Zaren veranlassten Leibniz dazu, seine positive Einstellung zu Polen-Litauen komplett zu revidieren. Während er das Land in der Schrift „Specimen“ uneingeschränkt zum christlichabendländischen Kulturkreis gezählt hatte, unterstellte er ihm später einige Ge­ meinsamkeiten mit den zu bekämpfenden Barbaren. Die ursprünglich postulierte „naturgemäße“ Verbindung der polnisch-litauischen Republik mit dem Reich griff er nicht mehr auf; stattdessen erging sich Leibniz nun in Kritik an der „natürlichen Inklination“ der Polen zu einem den Steppenvölkern verwandten wütenden Cha­ rakter und der daraus angeblich resultierenden Gefahr für das Christentum.²³ Die so hoch gepriesene Bedeutung der polnisch-litauischen Republik als Vormauer des Christentums reduzierte er auf ihre geographische Lage. Auch Polen-Litauens Zugehörigkeit zum Westen stellte er, wenn auch indirekt, in Frage und wollte sei­ nen Beitrag für die Sicherheit Europas nur in der politischen Verbindung zu Kaiser und Frankreich gesehen haben.²⁴ Dieses sinkende Interesse an Polen macht deutlich, dass Leibniz’ Meinung über die östlichen Nachbarn des Reiches im Laufe der Zeit immer schlechter wurde. Man könnte sogar die These riskieren, dass sich seine Einstellung zu Polen-Litau­ en diametral zu seinem Russlandbild entwickelte. Solange er das Zarenreich als zivilisatorische Bedrohung für Europa ansah und ihm kein Nützlichkeitspoten­ zial zubilligte, konzentrierte sich sein Interesse auf Polen-Litauen als eine letzte Bastion des bedrohten Abendlandes. In dem Moment aber, in dem Russland zum

21 Ausführlich darüber: Hans Poser, Leibnizens Novissima Sinica und das europäische Interesse an China. In: Wenchao Li/Hans Poser (Hg.), Das Neueste über China. G.W. Leibnizens Novissima Sinica von 1697. Stuttgart 2000, S. 11–29. 22 Vgl. Wladimir Iwanowitsch Guerrier, Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Großen, Bd. 2. St. Petersburg/Leipzig 1873, S. 3. 23 Gottfried Wilhelm Leibniz, Consilium Aegyptiacum. In: Ders., Politische Schriften, Bd. 1. S. 349–353. 24 Vgl. dazu auch: Konrad Bittner, Slavica bei G.W Leibniz, in: Germanoslavica, 1 (1931/32), S. 27–29.

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neuen Hoffnungsträger in Europa aufstieg und die Politik von Peter I. auf eine Verbindung mit dem Reich hoffen ließ, verlor Polen an Bedeutung für das inter­ nationale Mächtesystem. Von nun ab konzentrierte sich Leibniz stärker auf eine europäisch-russische Allianz. Der zum Teil selbstverschuldete Niedergang der polnisch-litauischen Republik erleichterte ihm dabei die Neuorientierung und bestätigte deren strategische Richtigkeit. Der Hinweis auf Leibniz soll an dieser Stelle auch deutlich machen, dass es ein homogenes Osteuropabild im 18. Jahrhundert, wie es Larry Wolff postuliert, zu keinem Zeitpunkt gab – schon alleine aus diesem Grund nicht, weil das petrinische Russland an Interesse und Macht gewann, was die Wahrnehmung Polen-Litauens diametral veränderte. Um Wolffs These zu paraphrasieren, es gab keine „Erfindung Osteuropas“, sondern eine Erfindung Russlands, die sich dann auf die Produktion und Projektion von negativen Bildern und Vorurteilen über Polen-Litauen aus­ wirkte. Spätestens seit dem Ende des Nordischen Krieges und der Machtfestigung Russlands an der Ostsee avancierte das Zarenreich nolens volens zu einem interes­ santen, wenn auch gefürchteten Partner auf der politischen Bühne. Die aufgeklärte Welt stellte sich nun die Frage nach der Möglichkeit des Anschlusses Russlands an Europa. Oder noch deutlicher ausgedrückt: Wie kann die russische Dominanz in Europa in zivilisierte Bahnen gelenkt werden, damit das Potenzial dieses Landes zugunsten des christlichen Abendlandes genutzt werden kann? Gemeint war hier vor allen die Rolle Russlands als Verteidiger Europas gegen die stets drohende „Türkengefahr“. Unterschwellig hing damit auch die Sorge zusammen, ob die An­ bindung Russlands an die abendländische Gemeinschaft überhaupt gelingen kann und ob diese wegen russischer Machtansprüche nicht um ihre zivilisatorischen Errungenschaften zittern müsse.²⁵ Länder wie Polen-Litauen oder durch die Os­ manen besetzte Teile Europas spielten in diesen Überlegungen kaum eine Rolle mehr; deren Funktion als Vormauer des Christentums wurde nur noch vereinzelt thematisiert.

25 In einem Brief an seinen Freund Ludolph vom 17./27. Januar 1696 stellt Leibniz kritisch fest: „Man muss hoffen, dass sie [die Russen, A.P.] allmählich freundlicher werden. Wenn doch jemand wäre, der das bei ihnen ausrichtete, was Du bei den Aethiopen. Wenn die so mächtige Wucht jenes Reiches nach den Sitten des civilisierten Europas würde regiert werden, so würde das Christentum größeren Nutzen daraus ziehen. Doch es ist Hoffnung da, dass die Russen allmählich erwachen. Es ist gewiss, dass der Czar Peter die Mängel der Seinigen einsieht; möchte er ihre Rohheit allmählich tilgen. Er soll lebhaften Geistes sein, aber etwas zu hitzig.“ Zit. nach: Guerrier, Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland, S. 10.

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Polen und Russland im preußischen Aufklärungsdiskurs Im Preußen des 18. Jahrhunderts war die unterschiedliche Wahrnehmung von Polen-Litauen und Russland besonders auffällig, was zum großen Teil aus der politischen Konstellation zwischen diesen drei Mächten resultierte. Um die territo­ riale Expansion auf Kosten Polen-Litauens zu legitimieren, wurde im preußischen Aufklärungsdiskurs ein Erklärungsmodell entwickelt, das im aggressiven Vorge­ hen des Hohenzollernstaates gegen die Nachbarrepublik eine Zivilisierungsmissi­ on sah. Diese Argumentationslinie ließ sich hervorragend mit dem allgemeinen abwertenden Polenbild verbinden und Preußen, allen voran den preußischen König Friedrich II., als großzügigen und aufgeklärten Kulturträger bestätigen.²⁶ Besonders gerne wurde dabei der gängige Vorwurf des sogenannten Barbarentums aufgegriffen, um die Annahme von der Unnützlichkeit und Unzivilisiertheit des polnisch-litauischen Staatsverbandes zu festigen und seine politische Bedeutungs­ losigkeit zu kulturalisieren. Die bereits von Leibniz postulierte Geltungslosigkeit Polen-Litauens wurde dadurch bestärkt und avancierte schnell zum festen Bestand­ teil des europaweiten Aufklärungsdiskurses bzw. der aufgeklärten Rationalität. Barbara Stollberg Rilingner definiert Aufklärung über den Anspruch, alle Le­ bensbereiche auf der Basis von als rational geltenden Methoden und Praktiken planmäßig zu vervollkommnen. Diese wurden schon im 17. Jahrhundert entwickelt, wie z. B. das Prinzip des methodischen Zweifels, der systematischen Kritik oder der Emanzipation der Wissenschaften von der Theologie.²⁷ Auch die aufgeklärte Wahrnehmung Russlands und Polen-Litauens basierte auf dem Versprechen der Rationalität in seinen vielfältigen Ausformungen. Das Zeitalter der Aufklärung war nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass Rationalität zu einem in höchstem Maße beachteten Ideal wurde, sondern dass hier ein ja kaum den tatsächlichen Umständen entsprechender Anspruch auf Erfüllung erhoben wurde, der sich durch alle lebensweltlichen Bereiche zog. Es ging um die fundamentale Wirkmächtigkeit, die unbegrenzte Durchdringung und die massiven Anforderungen des Rationa­ litätsideals. Genau diese Eigenschaften bestimmten die Perspektive, aus der die einzelnen Länder bzw. Staaten wahrgenommen wurden. Der einzige Unterschied bestand jedoch darin, dass im Gegensatz zu Polen-Litauen Russland die Umset­ zung eines solches Versprechens von Rationalität zugetraut wurde. Die westliche

26 Ausführlich darüber in: Hans-Jürgen Bömelburg, Friedrich II. zwischen Deutschland und Polen. Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. Stuttgart 2011, S. 78–99. 27 Barbara Stollberg-Rilinger, Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart 2000, S. 12.

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Aufklärung knüpfte an die optimistische Hoffnung an, dass sich dieses Land auf dem Weg zum Bessern befand. Das implizierte die Vorstellung eines rückständigen oder eben „barbarischen“ Zustandes, den es zu überwinden galt. Polen-Litauen wurde ein solcher Fortschritt dagegen nicht zugetraut. Der Niedergang der pol­ nisch-litauischen Republik seit dem 17. Jahrhundert bestätigte die herrschende Negativeinstellung und wurde verallgemeinernd auf alle Lebensbereiche übertra­ gen. Im Sinne von Montesquieus Staatstheorie und seiner Studie über den Aufstieg und Fall des Römischen Reiches wurde eine auf natürlichen Gesetzlichkeiten be­ ruhende Erklärung für die historischen Entwicklungen in Polen gesucht und nach den anthropologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen von dessen Niedergang gefragt.²⁸ Auf den Punkt brachte es Friedrich II. in einem Brief an Voltaire: „Mit jedem Tag macht in unserem Europa die Vernunft Fortschritte; die dümmsten Länder verspüren ihr Rütteln. Nur Polen nehme ich aus.“²⁹ Der Fortschrittsgedanke zieht sich auch anhaltend durch die preußische Be­ richterstattung über das petrinische Russland und wird dort zumeist als Verwand­ lung von „Wildnis“ in „Kultur“, als Entwicklung von Mensch und Umwelt zum normativ Besseren im Sinne der Aufklärung verstanden. Die territoriale Expan­ sion Russlands, die Integration des ehemaligen Randstaates in das europäische Staatengefüge und die Reformen Peters I. führten in kurzer Zeit zu einem „Ver­ änderten Russland“, wie Friederich Christian Weber sein dreiteiliges und einst sehr populäres Werk aus den Jahren 1721–1740 betitelte. Das allgemeine Interesse am reformfreudigen Zar und seinen Errungenschaften motivierten immer mehr preußische Intellektuelle, das unbekannte Land zu besuchen. In Halle, wo der berühmte Philosoph Christian Wolff lehrte, entstand um den Theologen August Hermann Francke ein pietistisch-aufklärerischer Zirkel, der im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts lebhafte Beziehungen zu Petersburger und Moskauer Aufklärern unterhielt.³⁰ Mehrere Hallenser Pietisten gingen als Prediger und Lehrer nach Russland und berichteten mit hoher Anerkennung über dessen Voranschreiten in der Erkenntnis der Aufklärung. Ihre Hoffnungen auf eine aufgeklärte Praxis im aufsteigenden Zarenreich waren sehr groß, wie eine Äußerung von Johann Gotthilf Vockerodt belegt: „Gewiss, wenn späterhin die weltliche und geistliche Literatur aus den Grenzen Preußens vertrieben werden sollte, dann mögen ihr jene, die ihr

28 Zur Montesquieus Staatstheorie siehe Stefan Schweizer, Staatstheorien der Aufklärung Theo­ rien der Demokratie Gesellschaftsanalyse. Bremen 2009, S. 36–41. 29 Schreiben Friedrichs II. an Voltaire, 18. Juni 1776. In: Hans Pleschinski (Hg.), Voltaire – Friedrich der Große: Briefwechsel. München 2004, S. 609. 30 Mechthild Keller, Von Halle nach Petersburg und Moskau. In: Dies. (Hg.), Russen und Russland aus deutscher Sicht- 18. Jahrhundert: Aufklärung. München 1987, S. 173–183.

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aufrichtig gewogen sind, nur befehlen, in die Verbannung zu gehen: die Russen werden ihr die Gastfreundschaft nicht verwehren.“³¹ Der hochgebildete und in Russland als Lehrer tätige Vockerodt veröffentliche 1737 seine „Erörterung einiger Fragen, die unter Petri I. Regierung in Russland vorgegangenen Veränderung betreffend“, mit der er bestrebt war, die „nützlichen Hauptveränderungen“ des Zaren ausführlich aufzuzählen und auf den hohen Fort­ schritt der Russen in den Wissenschaften hinzuweisen. Trotz Preisung der petrini­ schen Reformen zeichnete Vockerodt ein ambivalentes Russlandbild. Überwiegend negativ äußerte er sich über die mangelhafte Planung bei der Durchführung der Veränderungen. Es fehlte in seinem Bericht auch nicht an Invektiven gegen Peter. Die große Anerkennung für ihn im Westen Europas stellte er in Frage und warf ihm Grausamkeit, Despotie und Eitelkeit vor. Ähnlich kritisch betrachtete Vockerodt die russische Bevölkerung, die ihm nach wie vor „barbarisch“ vorkam. Für diesen gängigen Vorwurf entschuldigte er sich allerdings und erklärte, diese Lebensart sei ein Überbleibsel „von ihren alten Überwindern und Herren, den Tataren von der güldenen Horde“. Im Allgemeinen attestierte er den Russen „einen recht gesunden natürlichen Verstand und ein reines Urteil“.³² Vockerodts Denkschrift wurde mit großer Aufmerksamkeit vom preußischen Kronprinzen Friedrich gelesen. Er hielt dieses Werk für absolut glaubwürdig und empfahl es 1737 Voltaire, nachdem dieser beschlossen hatte, eine Biographie Pe­ ters I. zu schreiben.³³ Im Gegensatz zu Voltaire, der durchgehend ein positives Peters Bild pflegte, blieb Friedrichs Einstellung zu dem Zaren different. Die unter dem Eindruck der Lektüre von Vockerodt entstandene negative Einschätzung Pe­ ters revidierte Friedrich später und schilderte ihn in seiner „Historie de mon temps“ (1775) als genialen Gesetzgeber und Staatsgründer.³⁴ Deutlich weniger ambivalent zeigte sich Friedrich bei der Wahrnehmung der Russen. Er hielt sie für „faul, aber eigennützig, geschickt im Nachahmen, aber ohne Erfindungsgeist“ und je stärker der Antagonismus zwischen Preußen und Russländischem Reich eskalierte, desto negativer wurde sein Russlandbild.³⁵

31 Zit. nach: Pavel N. Berkov, Literarische Wechselbeziehungen zwischen Russland und Westeu­ ropa. Berlin, 1968, S. 14. 32 Ernst Herrmann (Hg.), Zeitgenössische Berichte zur Geschichte Russlands. Russland unter Peter dem Grossen, nach den handschriftlichen Berichten Johann Gotthilf Vockerodt’s und Otto Pleyer’s, Bd. 1. Leipzig 1872, S. 94–101. 33 Mehr über diesen Austausch in: Peter Brüne, Johann Gotthilf Vockerodts Einfluß auf das Russlandbild Voltaires und Friedrich II., in: Zeitschrift für Slawistik, 39 (1994), S. 393–404. 34 Friedrich II., Geschichte meiner Zeit. In: Gustav Berthold Volz (Hg.), Die Werke Friedrichs des Großen in der deutschen Übersetzung, Bd. 2. Berlin 1913, S. 33–35. 35 Ebenda, S. 35.

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Zu Beginn seiner Herrschaft sah Friedrich II. im Zarenreich noch keine direkte Bedrohung für Preußen. Im Politischen Testament von 1752 stellte er eindeutig fest: „Russland darf nicht unter die Zahl unserer wirklichen Feinde gerechnet werden. Zwischen ihm und Preußen gibt es keine Streitfragen. Nur der Zufall macht es zu unserem Feinde“.³⁶ Das änderte sich im Zuge des wachsenden Konfliktes um Schlesien und kulminierte im Siebenjährigen Krieg. In zahlreichen Briefen an seine Brüder, an Generäle, Diplomaten und Politiker äußerte er offene Verbitterung und Angst vor den Russen. Seine Feinde wollte der schreibgewandte König offenbar möglichst schlecht und verächtlich darstellen. In vielen Briefen und in besonde­ ren Erklärungen berichtete er zornig über die Gräueltaten der Russen, vor allem der „leichtern Reitertruppen“ der Kosaken und Kalmücken. Unterstützt wurde er dabei durch die eigene Propaganda, die die Schlachten des Preußenkönigs gegen Russland zum populären Thema der Gelegenheitsdichtungen erhob. Vor allem die gewonnenen Schlachten mobilisierten zumeist anonyme Dichter zur Lobpreisung Friedrichs und Verurteilung des russischen Gegners. In mehreren Lidern wurden die Russen als „Mordbrenner“, „Räuber“ und „Bärenhäuter“, als „Barbaren“ und Inkarnation der „Unmenschheit“ gebrandmarkt.³⁷ Die Propaganda gegen Russland verstummte nach dem Abschluss des preu­ ßisch-russischen Bündnisses von 1764, als Friedrich II. die Annäherung an das mittlerweile von Katharina II. regierte Russland zum dominierenden Element in seinem politischen Kalkül machte.³⁸ Die „polnische Frage“ avancierte dabei zum Garanten dieser Verbindung, die in der gemeinsam mit Österreich vollzogenen Teilung Polen-Litauens von 1772 den nötigen Rückhalt erhielt und bis zum Tode Friedrichs bestand. In dieser Phase der unausweichlichen Freundschaft erlebte das preußische Russlandbild eine neue Dimension und knüpfte zum Teil an die positive Wahrnehmung vor dem Siebenjährigen Krieg an. Katharina II. mit ihrer Selbststilisierung zur „aufgeklärten Herrscherin“ und unmittelbaren Erbin von Peters I. trug wesentlich selbst dazu bei, dass die aufgeklärten Intellektuellenkreise ihrem Reich verstärktes Interesse entgegenbrachten und ihre innenpolitischen Ak­

36 Friedrich II., Das politische Testament von 1752, in: Ebenda, Bd. 7. Berlin 1913, S. 157. 37 Vgl. Mechthild Keller, Geschichte in Reimen: Russland in Zeitgedichten und Kriegsliedern. In: Russen und Russland aus deutscher Sicht, S. 321. 38 Dieser Tonwechsel bedeutete jedoch nicht, dass sich Friedrich II. nur positiv über Katharina äußerte. In den inoffiziellen Schreiben spottete er gerne über ihre Vergnügungs- und Verschwen­ dungssucht, ihr Liebesleben und vor allem über ihre Eitelkeit. Mehr dazu in: Walther Mediger, Friedrich der Große und Russland. In: Oswald Hauser (Hg.), Friedrich der Große in seiner Zeit. Köln/Wien 1987, S. 125; Agnieszka Pufelska, Die vergessenen Frauen des unvergessenen Königs – ein Plädoyer für einen neuen Blick auf das alte Thema. In: Olga Kurilo (Hg.), Friedrich II. und das östliche Europa. Deutsch-polnisch-russische Reflexionen. Berlin 2013, S. 167–171.

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tivitäten hauptsächlich danach beurteilten, wie weit sie der Annäherung Russlands an europäische Verhältnisse dienten. Katharinas Aufrufe zu Toleranz, Beförderung der deutschen Kolonisation und schließlich ihre Erfolge in den Kriegen gegen die Osmanen festigten ein positives Bild der Zarin in der aufgeklärten Öffentlich­ keit. Gleichwohl wurde die zum Teil verherrlichende Wahrnehmung Katharinas nicht auf ganz Russland übertragen. Das Land galt nachwievor als „barbarisch“, „wild“ und „rückständig“, dennoch bestand erneut die Hoffnung, dass es sich dank Katharina auf dem Weg zum Besseren befinde. Die Darstellung Russlands in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ von Friedrich Nicolai, in den Reise­ berichten von Johann Bernoulli oder in den literarischen Werken von Theodor Gottlieb Hippel und Johann Gottlieb Willamov zeigen eine Herrscherin, die ihre straff geführte Regierung einsetzt, um den Zivilisationsrückstand des Landes zu verringern und damit die kindlich-unverbildete, aber auch ungebildete, oft rohe Natur seiner Bewohner zu beherrschen.³⁹ Die Verbreitung der liberalen Ideen im ausgehenden 18. Jahrhundert blieb nicht ohne Folgen auf Katharinas Image in Europa. Die direkte oder indirekte Mit­ wirkung Russlands an Schlüsselereignissen wie der Französischen Revolution, der Niederschlagung des polnischen Kościuszko-Aufstands (1794) und schließlich der Auflösung des polnisch-litauischen Staates wirkte sich entscheidend darauf aus, dass die Begeisterung für Katharinas Aufklärungseifer allmählich verstummte. Unter dem Einfluss von Rousseau und der steigenden Kritik an den Herrschafts­ methoden des Ancien Régime verschlechterte sich die Wahrnehmung der Zarin und ihres Hofstaates. Ähnlich wie die Regierung in Preußen wurden sie der Grau­ samkeit und der Ausbeutung ihrer treuen und demütigen Untertanen bezichtigt. Bei kaum einem anderen Anhänger Katharinas wird diese Meinungsänderung so deutlich wie bei Herder. Während er der Zarin in seinen früheren Schriften durchaus zugetraut hatte, „die Sonne der Aufklärung über Russland in den Zenit“ zu führen, warf er ihr bereits in den 80er Jahren Despotismus vor.⁴⁰ Nicht mehr die russische Herrscherin stand im Mittelpunkt seines Interesses, sondern das Land selbst und sein Volk. In der Nachfolge von Leibniz betrachtete Herder Russland als „ein stehendes Meer der verschiedensten Völker“, das zwischen Orient und Okzident steht. In dieser Brückenposition erblickte er die Chance für Russland, die

39 Zu dem ganzen Komplex vgl. B[asilij] von Bilbassoff, Katharina II. Kaiserin von Rußland im Urtheile der Weltliteratur. 2 Bde. Berlin 1897; Annelies Lauch, Russische Wissenschaft und Kultur im Spiegel der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, in: Zeitschrift für Slawistik, 10 (1965), S. 737–746; Mechthild Keller, Deutsche Lobliede auf das Zarenreich (T.G. Hippel, J.G. Willamov, H.L. Nicolay). In: Russen und Russland aus deutscher Sicht, S. 499–515. 40 Mechthild Keller, „Politische Seeträume“: Herder und Russland. In: Russen und Russland aus deutscher Sicht, S. 372–382.

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Rolle einer versöhnenden Kraft zwischen Ost und West zu übernehmen, nachdem es „seine Asiatischen sowohl als Europäischen Provinzen fruchtbar, nutzbar und urban gemacht und alle seine Völker, jedes nach seinem Mass, in seinen Sitten cultiviert hätte“.⁴¹ Diese Verlagerung der Begeisterung von den Herrschern auf das Volk, oder präziser formuliert, dieser Übergang der aufgeklärten Staats- in die universalis­ tische Volksidee ist in der europäischen Betrachtung Polen-Litauens im ausge­ henden 18. Jahrhundert kaum zu finden. Zwar erweckten die Polen eine starke Anerkennung in den liberalen Kreisen Europas nach der Verabschiedung der 3. Mai Verfassung (1791) und der Kościuszko-Erhebung, aber ihre Bemühungen, den ange­ schlagenen Staat zu reformieren und zu verteidigen, wurden zumeist als Initiativen gedeutet, die aus Frankreich ausgegangen waren. Der publizistisch tätige preußi­ sche Regierungsmedizinalrat Johann Josef Kausch konzentrierte sich bei seinem Lob der polnischen Reformen ganz auf die Parallelisierung der politischen und so­ zialen Wandlungen in Frankreich und Polen-Litauen.⁴² Fest davon überzeugt, dass die Zielsetzungen der Französischen Revolution und der polnischen Verfassungs­ reform identisch seien, ignorierte er komplett die Tatsache, dass in Frankreich die Monarchie abgeschafft und in Polen-Litauen die Macht des Königs gestärkt werden sollte.⁴³ Wie die meisten seiner Zeitgenossen interpretierte Kausch die Ereignisse in Polen-Litauen durch die französische Brille und instrumentalisierte sie als Projektionsfläche für seine antiständische Kritik. Die realen Umstände in der polnisch-litauischen Republik, ihre internen und außenpolitischen Probleme wurden von ihm nur partiell reflektiert und artikuliert.⁴⁴ Diese verkürzte Wahr­ nehmung, die man auch als positive Ignoranz bezeichnen könnte, darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass dank der liberalen Stellungnahmen zum polni­ schen Reformwillen auch ein positives Polenbild Verbreitung fand. Zum ersten Mal wurde die geschwächte Republik als ein Land mit Zukunftspotenzial begriffen, als fähig und bereit, die notwendigen Modernisierungsmaßnahmen aus eigener Kraft zu bewerkstelligen.

41 Johann Gottfried Herder, Adrastea, Bd. 3. Leipzig 1802, S. 79. 42 Johann Josef Kausch, Nachrichten über Polen. Salzburg [Breslau] 1793, S. 23–26. 43 Ebenda, S. 189. 44 Ähnlich argumentierte auch der ehemalige preußische Offizier Johann Wilhelm von Arschen­ holz in seiner Zeitschrift „Minerva“, wo er Polen im Zusammenhang mit Frankreich thematisierte und immer wieder evozierte, dass die polnische Verfassungsreform auf die Schwächung des Adels und die rechtliche Emanzipation der Bürger und Bauern ziele. Johann Wilhelm von Arschenholz, Bemerkungen über den Zustand Frankreichs am Ende des Jahres 1791, in: Minerva, 1 (1792), S. 18. Mehr Beispiele bei: Hermann Vahle, Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 im deutschen Urteil, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 3 (1971), S. 347–370.

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Nur selten konnte man solche optimistische Einschätzungen antreffen. Wenn­ gleich die preußischen Urteile über Polen-Litauen immer wieder deutliche Diffe­ renzen in Bezug auf einzelne Landesteile und Sachfragen aufwiesen, fielen sie im Ganzen stark pejorativ aus. Polen-Litauen – so das dominierende und das ganze 18. Jahrhundert anhaltende Bild – sei ein Land mit einer anarchistischen Verfassung und einer rückständigen Wirtschaft, sowie starken sozialen Unter­ schieden, die sich auf die wirtschaftliche Entwicklung hemmend auswirken.⁴⁵ Das Attribut „Adel“ schien die Zustände zu bestätigen, die aus preußischer Sicht den altpolnischen Staat völlig beherrschten und jeder Entwicklung des Bürger- und Bauerntums abträglich waren. Der polnische Adel galt als eine unproduktive, auf Konsum und Ausbeutung der niederen Stände eingestellte Gruppe.⁴⁶ Die preußi­ schen Autoren der Reiseberichte, Statistiken oder Geschichtsdarstellungen wiesen häufig auch auf die Disproportion zwischen der geringen Anzahl der Magnaten einerseits und der von ihnen abhängigen Masse des besitzlosen Adels andererseits hin, wodurch der Gedanke der Gleichheit des Adels fast völlig belanglos wurde.⁴⁷ Die negativen Berichte über Polen-Litauen nahmen wesentlich zu, als der Staatsverband infolge der Teilungen aufgelöst wurde (1795) und Preußen einen großen Teil seines Territoriums annektierte. Abgesehen von vereinzelten kritischen Stimmen wurde die Besetzung der polnischen Gebiete generell als eine Selbstlo­ sigkeit seitens der preußischen Regierung bewertet. Nur mit Hilfe Preußens, so der gängige Duktus, könnte es den Polen gelingen, ihre zivilisatorische Rückstän­ digkeit zu überwinden und auf dieser Grundlage die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern. Denn „im Ganzen ist die Nation ein volles Jahrhundert gegen die Einwohner der alten Provinzen“.⁴⁸ Um diese Kontrastierung hervorzuheben griff die preußische Propaganda auf asymmetrische Gegenbegriffe zurück, die einen axiologisch-zivilisatorischen Charakter hatten. Während Preußen als „vernünftig“, „zivilisiert“, „gebildet“ und „aufgeklärt“ galt, wurden die neuerworbenen, polni­ schen Provinzen immer wieder als „barbarisch“, „unzivilisiert“, „unvernünftig“ oder „rückständig“ beschrieben. „In solchen Fällen“, schließt Reinhart Koselleck 45 Eine ausführliche Darstellung dieser negativen Stellungnahmen über Polen liefert Dariusz Łukasiewicz, Czarna legenda Polski. Obraz Polski i Polaków w Prusach 1772–1815. Poznań 1995. 46 Exemplarisch dafür: Ludwig von Baczko, Nankes Wanderung durch Preußen. Hamburg-Altona 1800, S. 43 f.; Christian Gottlieb, Bemerkungen eines Reisenden über einen Teil von Ost und Westpreußen. In Briefen an seinen Freund. Berlin 1799, S. 12; Friedrich Hertzberg, Süd- und Neu-Ostpreußen. Berlin 1798, S. 123 f. 47 Vgl. dazu die Berichte von dem preußischen Beamten und Dichter Günther von Göckingk, zit. nach: Heinrich Pröhle, Der Dichter Günther von Göckingk über Berlin und Preußen unter Friedrich Wilhelm II und Friedrich Wilhelm III, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde, 14 (1877), S. 17. 48 Ebenda.

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in seiner Theorie der asymmetrischen Gegenbegriffe, „erhebt eine konkrete Grup­ pe einen exklusiven Anspruch auf Allgemeinheit, indem sie einen sprachlichen Universalbegriff nur auf sich bezieht und jede Vergleichbarkeit ablehnt.“⁴⁹ Die Etablierung solcher asymmetrischen Gegenbegriffe half, eine Trennlinie zwischen Fortschritt und Rückständigkeit zu ziehen und damit auch die Existenz­ berechtigung des polnisch-litauischen Staates gänzlich in Frage zu stellen. Aus dieser Perspektive konnte seine Geschichte nur kritisch betrachtet und als negati­ ves Beispiel angeführt werden. Polen-Litauen wurde als ein Land ohne Zukunft begriffen und aus der Gemeinschaft der aufgeklärten Staaten ausgeschlossen. Im Gegensatz zu Peter I. oder Katharina II. stieß auch der polnische König Stanisław August Poniatowski auf keine große Anerkennung. Seine Bemühungen, die Auf­ klärungsideen in Polen zu verbreiten, wurden selten gewürdigt. Auch die zunächst hochgelobte Verfassungsreform fand nach 1795 kaum noch lobende Worte, viel­ mehr wurde sie als eine verspätete Reaktion des längst im Untergang befindlichen Staates bewertet. Kurzum: In der preußischen Wahrnehmung Polen-Litauens gab es kaum Anhaltspunkte, die als positiv bewertet und hervorgehoben wurden. Am deutlichsten drückte es Immanuel Kant aus, als er ein Jahr nach der Auflösung des polnisch-litauischen Staatsverbandes erklärte, warum er in seiner „Anthropo­ logie“ Polen und Russland nicht zu behandeln beabsichtige: „Da Russland das noch nicht ist, was zu einem bestimmten Begriff der natürlichen Anlagen, welche sich zu entwickeln bereit liegen, erfordert wird, Polen aber es nicht mehr ist [. . . ]: so kann die Zeichnung derselben hier füglich übergangen werden.“⁵⁰ Über 20 Jahre später griff der preußische Staatsphilosoph Georg Wilhelm Fried­ rich Hegel dieses Motiv noch einmal auf und stellte unmissverständlich fest, dass Polen einen Zusammenhang mit Asien bilde und die Polen aus seinen Betrachtun­ gen ausgeschlossen bleiben, weil sie „bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten“ seien.⁵¹ Mit die­ sem Satz wies er den seit Jahrhunderten gepflegten Mythos von Polen-Litauen als Vormauer des Christentums zurück und erklärte dessen historische Entwicklung als „unvernünftig“.⁵²

49 Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeit. Frankfurt am Main 1989, S. 212. 50 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Königsberg 1820, S. 309. 51 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Berlin 1840, S. 425. 52 Mehr zum Verhältnis Hegels zu Polen in: Agnieszka Pufelska, Zwischen Ablehnung und Aner­ kennung. Das polnische Berlin im widerspruchsvollen 19. Jahrhundert. In: Roland Berbig/Iwan-M. D’Aprile/Helmut Peitsch (Hg.), Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium. Berlin 2011, S. 42 f.

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Der postkoloniale und postbinäre Ansatz in der Osteuropaforschung Mit dieser Zusammenstellung von Russland- und Polen-Wahrnehmungen im Preu­ ßen des 18. Jahrhunderts sollte hervorgehoben werden, dass in der Zeit der Aufklä­ rung kein einheitliches Osteuropabild herrschte. Die wissenschaftlichen Beiträge zur Ost-West-Geschichte, die explizit auf die Analyse von Stereotypen bzw. Feindbil­ dern abzielen, zeichnen aber häufig einen linearen, fast teleologisch anmutenden Verlauf eines negativen Osteuropadiskurses, der vom 18. bis ins 20. Jahrhundert wenig Spielraum für Abweichungen, Dynamiken und Widersprüchlichkeiten er­ laubt. Obschon die meisten Osteuropabilder eine generelle negative Botschaft enthalten, wurden und werden sie doch niemals isoliert und kontextfrei benutzt. Es sind einerseits immer konkrete Umstände und Zielsetzungen, unter denen die Erfahrungen der jeweiligen Akteure zu bestimmten Denkbildern von „Osteuropa“ verdichtet werden. Bei der Analyse des tradierten Osteuropabegriffes muss daher gefragt werden, welche historischen und mentalen Vorgänge bzw. Wertesysteme der jeweiligen Gesellschaft bzw. Sprach- und Kulturgemeinschaft zur Etablierung und Funktionalisierung bestimmter Osteuropavorstellungen führten und welchen Einfluss diese Bilder auf diese Vorgänge und Wertesysteme ausübten. Zum Verständnis des historischen Osteuropadiskurses trägt es jedenfalls we­ nig bei, wenn Historikerinnen und Historiker nachträglich entscheiden wollen, ob die Propagatoren von Osteuropabildern im 18. Jahrhundert mehr oder weniger wahrheitsgemäß berichteten. Subjektive Realität waren zweifellos ihre Erfahrun­ gen und ihre Urteile. Beide waren nicht nur mit der erlebten Wirklichkeit, sondern mit ihren Erwartungen und Interessen verbunden, die mit dem geistigen Klima der Zeit aufs engste verflochten waren. Die Denkfigur des Fortschritts muss daher immer mit im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Osteuropawahrneh­ mung in der Zeit der Aufklärung stehen. Gerade weil das aufklärerische Modell die Vergangenheit und Gegenwart des Westens zur Zukunft des Ostens erklärt hatte, ist es notwendig, die Hegemonie dieses Denkmodell zu hinterfragen. Dies setzt allerdings nicht nur die Kritik an den frühneuzeitlichen Fortschrittskategorien voraus, sondern vor allem an der stetigen Dominanz des Entwicklungsdenkens im Verständnis von Geschichte. Der zu Beginn angesprochene postkoloniale Ansatz bietet sich in diesem Zu­ sammenhang als geeigneter methodischer Ansatz an, weil er wie kaum ein and­ reres Konzept den singulär begriffenen Modernisierungsprozess kritisiert und die Verdichtung von Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen in den Vorder­ grund rückt. Shmuel N. Eisenstadt spricht in diesem Zusammenhang von „multiple modernities“ und sucht die Moderne nicht als einen ökonomischen Fortschritt,

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sondern nunmehr als Kultur zu begreifen.⁵³ Seine Versuche, den Eurozentrismus zu überwinden zielen auf eine Pluralisierung der Entwicklungslinie(n) der Moder­ ne. An die Stelle territorial fixierter Gesellschaften treten bei ihm Zivilisationen (evolutionäre Stufen) als geschlossene Einheiten, deren Modernisierungsverlauf von ihren jeweils internen und einzigartigen kulturellen Werten und institutionel­ len Dynamiken abhängt. In diesem Modell wird die kulturelle Eigenständigkeit der nichtwestlichen Welt ausdrücklich anerkannt; Modernität erscheint hier nicht ausschließlich als Produkt der Diffusion westlicher Ideen und Institutionen.⁵⁴ In der postulierten Pluralisierung der Modernen liegt allerdings auch ein Problem. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der osteuropäischen Länder macht deutlich, dass sie weder heute noch in der Vergangenheit singuläre und von den westlichen Modellen klar abgegrenzte Modernitäten entwickelten. Mit diesem Kritikpunkt setzt sich, wenn auch in anderen Zusammenhängen, auch die ak­ tuelle Forschung zu Varianten des Kapitalismus auseinander. Am Beispiel von globalen Beziehungen kann sie institutionelle Gemeinsamkeiten quer zu Zivilisati­ onsgrenzen feststellen und aufzeigen, dass Modernisierung ein Vorgang zwischen mehreren Ländern und Regionen ist, in dem es Vorreiter und Nachzügler gibt.⁵⁵ Die Moderne wird somit als eine globale Arena verstanden, in der ständig Bezug aufeinander genommen wird und die nicht automatisch zu konvergenten Entwick­ lungen und Ergebnissen führt. „Man kann also durchaus von einer Vielfalt der Moderne sprechen und gleichzeitig eine gemeinsame Weltgeschichte annehmen“, resümiert Thomas Schwinn.⁵⁶ Auf ein derartiges auf Einheit in der Vielfalt basierendes Konzept des Moderni­ sierungsprozesses wies der polnische Wirtschaftshistoriker Witold Kula bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hin. In seinem Buch über die Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte hebt Kula die wesentlichen Unterschie­

53 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus, 129 (2000), S. 1–29; ders., Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist 2000. 54 Zum Ansatz von Eisenstedt siehe Manussos Marangudakis, Multiple Modernities and the Theory of Indeterminacy – On the Development and Theoretical Foundations of the Historical Sociology of Shmuel N. Eisenstadt, in: Protosociology: An International Journal of Interdisciplinary, 29 (2012), S. 7–29. 55 Vgl. Markus Pohlmann, Der Kapitalismus in Ostasien. Südkoreas und Taiwans Wege ins Zen­ trum der Weltwirtschaft. Münster 2002; Max Miller (Hg.), Welten des Kapitalismus. Institutionelle Alternativen in der globalisierten Ökonomie. Frankfurt am Main 2005; Volker Berghahn/Sigurt Vi­ tols (Hg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft. Frankfurt am Main 2006. 56 Thomas Schwinn, Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen. Ein Lite­ raturbericht in konstruktiver Absicht, in: Zeitschrift für Soziologie, 38 (2009) S. 465.

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de zwischen dem Verlauf vieler wirtschaftlicher Prozesse in den verschiedenen Gesellschaftsordnungen hervor und macht auf die beschränkte Vergleichbarkeit dieser Prozesse aufmerksam.⁵⁷ Das ist ein zentraler Gedanke für Kulas Entwick­ lungsthese. Seiner Ansicht nach verläuft der historische Modernisierungsprozess zweifach: Er entwickelt sich in eine bestimmte Richtung und in mehreren Rich­ tungen gleichzeitig. Diesen Erklärungsversuch nennt er „dialektische Theorie der Einheit und der Vielfalt für den Zeitablauf und den Wandel“. Aus diesem Grund schlägt Kula vor, von einer Multilinearität der Modernisierung auszugehen und ihre Dynamik als eine breite Palette vergleichbarer Veränderungen zu betrachten. Damit wendet Kula seine Argumentation explizit gegen evolutionistische Modelle, die mit einem unilinearen Entwicklungsverlauf rechnen und stets eine Grenze zwischen Fortschritt und Rückständigkeit konstruieren. Der kurze Hinweis auf Kula soll an dieser Stelle seinen entscheidenden Beitrag zu postkolonialen Globalisierungstheorien betonen und darauf aufmerksam ma­ chen, dass mit Hilfe seines Ansatzes bestimmte problematische Einseitigkeiten, die dem westlichen Blick auf Osteuropa zur Last gelegt werden müssen, ausgeglichen bzw. ergänzt werden könnten. Gemeint ist die berechtigte Skepsis daran, ob die seit der Frühen Neuzeit auseinandergehenden europäischen Wege in die Moderne lediglich nach westlichen Fortschrittsparametern verglichen werden können. Da­ bei geht es nicht darum, die Aufklärungsidee zu kritisieren oder die Beteiligung Osteuropas an den aufklärerischen Grundsätzen in Frage zu stellen. Dass auch die Gesellschaften Osteuropas in der Tradition der Aufklärung stehen, liegt außer Zweifel. Bei der Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen europäischer und osteuropäischer Geschichte handelt sich vielmehr um den von Michael G. Müller aufgeworfenen Einwand gegen die gängige Praxis, die Geschichte der Auf­ klärung als einen Durchsetzungsprozess bürgerlicher Werte und Handlungsmuster darzustellen: „Die in West und Ost verschiedenen Verläufe von nationalen Moderni­ sierungsgeschichten in Europa an einem (westlichen) Idealtypus von bürgerlicher Transformation zu messen, erscheint wenig produktiv, da vor diesem Hintergrund die Entwicklung des ‚bürgertumsarmen‘ Ostens allemal nur als Defizitgeschichte erzählt werden kann.“⁵⁸ Aus diesem Grund erscheint es Müller viel lohender, zu erkunden, wie die universellen Herausforderungen der Moderne auf besonderen

57 Witold Kula, Probleme i metody historii gospodarczej. Warszawa 1963, S. 175. 58 Michael G. Müller, Vom Europa der Humanisten zum Osteuropa der Imperien. In: Andreas Ranft (Hg.), Der Hoftag in Quedlinburg 973: von den historischen Wurzeln zum Neuen Europa. Berlin 2006, S. 140. Vgl. dazu auch: Ders., Die Historisierung des bürgerlichen Projekts – Europa, Osteuropa und die Kategorie der Rückständigkeit, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 29 (2000), S. 163–170.

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Wegen bewältig wurden und wie effizient die jeweiligen Lösungsversuche waren, ob auf Basis bürgerlicher oder anderer Entwürfe.⁵⁹ Diese von Kula und Müller angesprochene Multilinearität der Modernisierung setzt allerdings immer eine explizite oder implizite Verständigung über Raumkon­ struktionen voraus, um das bereits angesprochene Thema erneut aufzugreifen. Noch bevor Osteuropa in den Diskursen der Aufklärung als ein historisch und kulturell gesonderter Raum „erfunden“ wurde, war Europa in Ost und West geteilt, wie der ungarische Historiker Jenö Szücs zeigte. Während die Territorien westlich von Elbe, Saale und Böhmerwald als „begnadet“ galten, erfuhren die Gebiete öst­ lich davon eine verspätete Geschichte der Modernisierung: Zweite Leibeigenschaft, Verstärkung der Gutswirtschaft usw. zeigen, dass diese Region von einer höheren Entwicklungsebene auf eine niedrigere zurückfielen.⁶⁰ Der Aufstieg Russlands zu einer europäischen Führungsmacht seit Peter I. und die Etablierung der russischen Vormachtstellung in Polen-Litauen bewegten die westlichen Gesellschaften, die politische Geografie Europas neu zu überdenken und den bis dahin als Norden vorgestellten und zugeschriebenen Teil des Kontinents künftig als dessen Osten zu identifizierten. Auf diese Weise etablierte sich ein Osteuropabild, das weniger von geographischen Entwürfen, als vielmehr von politischen Vorstellungen und kulturellen Deutungsmustern bestimmt wurde. Trotz dieser Konstruktion vom osteuropäischen Raum blieb seine Wahrneh­ mung im sogenannten Westen nicht immer homogen, wie der vorliegende Aufsatz aufzeigen konnte. Die differenzierte Deutung von Osteuropa ging im Laufe des 19. Jahrhunderts allerdings zurück, an ihre Stelle trat ein bis heute anhaltendes homogenes Osteuropabild, das in der Zeit des Kalten Krieges seinen Höhepunkt erreichte. Um derart überkommener Blockrhetorik zu entkommen muss der Osteu­ ropabegriff als ein historisches Phänomen im Plural gedacht werden, das seine Bestimmungen nicht alleine aus dem Gegensatz zu Westeuropa herleitet. Damit hängt der Vorschlag zusammen, gerade jene traditionell essentialistisch konno­ tierte Ost-West-Untergliederung antiessentialistisch neu zu definieren, indem man sie als einen kolonialen Akt gekennzeichnet. In dieser Neukonzeption soll der Ost­ europabegriff als eine heterogene und historische (Raum)Größe betrachtet werden, womit die Voraussetzung jeglicher diskursiven Konstruktion vom sogenannten Osten begreifbar zu machen ist, ohne sich auf Vorstellungen vermeintlich klar unterscheidbarer, binärer Kulturräumen zu stützen.

59 Ebenda. 60 Jenö Szücs, Die drei historischen Regionen Europas. Frankfurt am Main 1990, S. 45–67.

Marc Banditt

Terra Incognita Polonia? Die Wahrnehmung Polen-Litauens aus Sicht der Danziger Naturwissenschaftler im 18. Jahrhundert

Einleitung Die ehemalige Hansestadt Danzig kann heute auf eine über 1000 Jahre währende Geschichte zurückblicken, der es – so mutmaßt ein kursorischer Streifzug durch ihre Epochen – an Auseinandersetzungen um die Frage ihrer politischen Zugehö­ rigkeit nicht mangelte.¹ Diese wurden nicht nur auf den Schlachtfeldern und in den Hinterzimmern der Diplomatie ausgefochten, sondern auch aus der Feder von Publizisten und Historikern. Speziell Letztere haben dabei lange Zeit unwissentlich oder bewusst wissentlich übersehen, dass man auch Zeiträume vorfindet, welche anscheinend relativ konstante Herrschaftsverhältnisse implizieren. So befand sich Danzig seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Jahr 1793 durchgehend unter dem Schutz der polnischen Krone. Dem vorausgegangen war die gemeinsame Abkehr der in der Landschaft Pommerellen liegenden Städte und Ortschaften vom Einfluss des Deutschen Ordens. Auch der daraufhin ausbrechende Dreizehnjährige Krieg, der mit dem Zweiten Thorner Frieden (1466) seinen Aus­ gang fand, konnte die aus Sicht der Ordensritter als Niederlage wahrgenommenen veränderten Machtverhältnisse nicht mehr umkehren. Im Zuge der Begründung der Republik Polen-Litauen als Ergebnis der Union von Lublin (1569) erfuhr der Status dieses „Preußen Königlichen Anteils“ oder „Königliches Preußen“ (Prusy Królewskie) genannte Gebiet insofern eine Modifikation, als es nunmehr einen integrierten Bestandteil der Rzeczpospolita bildete – neben dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen. Faktisch genoss das Königliche Preußen jedoch weitgehende Eigenständig­ keit, was unter anderem die Etablierung eines separaten Landtages bezeugt, deren Abgeordnete in den polnischen Reichstag (Sejm) entsandt wurden. Davon ausge­ nommen waren indes die drei Stadtrepubliken Danzig, Thorn und Elbing; diese unterstanden rechtlich gesehen allein der Oberhoheit des Monarchen. Bekanntlich fiel letztlich sowohl der Bestand des Königlichen Preußens als auch die Unab­

1 Als Gesamtdarstellung siehe zuletzt Peter Oliver Loew, Danzig. Biographie einer Stadt. München 2011. DOI 10.1515/9783110499797-010

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hängigkeit der drei Städte der Politik Preußens zum Opfer, das zusammen mit Russland und Österreich die Teilungen Polen-Litauens initiierte. Nachdem 1772 das Königliche Preußen von Friedrich II. annektiert, seiner Privilegien benommen und in die neu geschaffene Provinz Westpreußen umgebildet worden war, ereil­ te Danzig im Jahr 1793 mit der Zweiten Teilung das gleiche Schicksal; die Stadt existierte ebenso wie Thorn zuvor noch als Enklave, umringt vom unliebsamen Nachbarn. Damit endete die über 300 Jahre anhaltende Union mit der kurz darauf aufgelösten polnisch-litauischen Staatlichkeit.² Abgesehen von der Bedrohung, die von den Nachbarstaaten Polen-Litauens ausging und schließlich auch dem Bestand der Stadtrepublik Danzig ein Ende bereitete, war es gleichwohl keine Seltenheit, dass deren Bürger ihre Privilegien regelmäßig gegenüber den Interessen der seit 1572 vom Adel gewählten Könige und Großfürsten verteidigen mussten. Geeignete Anlässe aus Sicht der Krone zur stärkeren Einflussnahme boten entweder Thronwechsel, bei denen die Bestätigung der Rechte durch den neuen Machthaber virulent wurden, oder innerstädtische Auseinandersetzungen, bei denen der König als übergeordnete Instanz auftrat.³ Die nicht eindeutig definierten Macht- und Rechtsverhältnisse, die Danzig mit Polen-Litauen verbanden, werfen die Frage auf, welche gegenseitigen Berüh­ rungspunkte sich finden lassen, die über die scheinbar politische Zweckmäßigkeit hinausgingen. War es – etwas überspitzt formuliert – den Danzigern tatsächlich nur soweit an einer Union mit Polen-Litauen gelegen, als sie ihren eigenen In­ teressen zugute kam? Auf welcher perzeptiven Grundlage aus Sicht der Danziger beruhten die damaligen Beziehungen? Der vorliegende Beitrag unterliegt dem Versuch, diese Frage hermeneutisch einzugrenzen, weshalb gezielt eine Betrachtungsebene in Augenschein genom­ men wird, in der zumindest auf den ersten Blick politische Prämissen eine weniger bedeutende Rolle spielen. Es mag als ein Zufall erscheinen, dass Danzigs Unabhän­ gigkeit unter dem Schutz der polnischen Krone beinahe exakt so lange währte wie die Epoche der Frühen Neuzeit – wenn man der gleichsam gängigen wie starren Periodisierung folgt. Der geistig-kulturelle Aufbruch, mit der dieser Zeitabschnitt gemeinhin in Verbindung gesetzt wird, ist auch in Danzig erkennbar, wo sich ins­

2 Zur Geschichte des Königlichen Preußens siehe: Hans-Jürgen Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756–1806). München 1995; Karin Friedrich, The Other Prussia. Royal Prussia, Poland and Liberty, 1569–1772. Cambridge (u. a.) 2000. 3 Edmund Cieślak, Einige Probleme der politischen und sozialen Auseinandersetzungen in Danzig in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Konrad Fritze/Eckhard Müller-Mertens (Hg.), Neue hansische Studien. Berlin 1970, S. 193–208.

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besondere die Naturwissenschaften großer Beliebtheit erfreuten.⁴ Während im 17. Jahrhundert mehrheitlich noch die Betrachtung singulärer Objekte im Vorder­ grund der Untersuchungen stand, setzte sich im 18. Jahrhundert endgültig die Methodik des Ordnens, Klassifizierens und Vergleichens durch. Die dadurch voran­ schreitende systematische Erfassung der Umwelt ging Schritt für Schritt einher mit der zunehmenden Entgrenzung des allgemeinen und zugängigen Wissens – ganz im Sinne der Aufklärung.⁵ Ein Indikator für die Ausformung der frühmodernen Wis­ sensgesellschaft war ferner die Bildung von freiwilligen Assoziationen (Sozietäten) zum Zwecke gemeinsam verfolgter Zielvorstellungen. Bürgerliche Emanzipations­ bestrebungen vereinten sich dort mit fachlichen Interessen; ein Phänomen, das nahezu das gesamte Europa – freilich mit zeitlichen und räumlichen Abstufungen – erfasste.⁶ In Danzig häuften sich ab dem 17. Jahrhundert die Ansätze zur Bildung von Sozietäten, die aber zumeist nur kurzzeitig existierten, bevor in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Gründung eines Zusammenschlusses erfolgte, der dauerhaft Bestand haben sollte. Am Ende des Jahres 1742 vereinigte sich auf Initiative Daniel Gralaths eine kleine Anzahl gelehrter Männer, zunächst zum Zwecke der Ergrün­ dung von Gesetzmäßigkeiten auf dem Felde der Experimentalphysik. Die daraus entstandene Naturforschende Gesellschaft stellt eine der ältesten Vereinigungen Europas dar, die sich explizit den Naturwissenschaften verschrieben hatte und blieb rund 200 Jahre bestehen.⁷ Neben der fachlichen Ausrichtung und der Le­ bensdauer der Sozietät, die demnach alle Umbrüche des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts überdauerte, spricht zudem ihr im Vergleich zu den anderen zeitgenössischen Danziger Assoziationen enormer Wirkungsradi­ us für die hier angesetzte Fragestellung nach der Wahrnehmung Polens in den Mauern der Stadtrepublik. Doch bevor diese vornehmlich aus der Perspektive der dort ansässigen Wissenschaftler untersucht wird, gilt es, sich die entsprechenden Rahmenbedingungen zu vergegenwärtigen.

4 Als Überblick: Kazimierz Kubik/Lech Mokrzecki, Trzy wieki nauki gdańskiej. Szkice z dziejów od XVI do XVIII wieku. 2. Auflage. Wrocław (u. a.) 1976. 5 Anke te Heesen/Emma C. Spary, Sammeln als Wissen. In: Dies. (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Göttingen 2001, S. 7–21, hier S. 14. 6 Klaus Garber/Heinz Wismann (Hg.), Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradi­ tion. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklä­ rung. 2 Bände. Tübingen 1996. Nach wie vor grundlegend für den deutschen Sprachraum: Richard van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1996. 7 Zur Geschichte der Gesellschaft siehe vor allem E[duard] Schumann, Geschichte der Naturfor­ schenden Gesellschaft in Danzig 1743–1892. Danzig 1893.

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Das Konstrukt der „Vaterstadt“ und die Beziehungen der Danziger zu Polen Danzigs verfassungsrechtlicher Status innerhalb der Rzeczpospolita spiegelte sich sichtbar im Identitätsbildungsprozess dieser Zeit wider. Bezeichnenderweise setzte sich erst nach 1990 die Erkenntnis der Komplexität der vorliegenden Strukturbe­ dingungen durch, wobei entsprechende Beiträge der Forschung, die den national eingefärbten deutsch-polnischen Deutungsdualismus endgültig hinter sich gelas­ sen haben, zu dem Ergebnis kommen, von einer „Aufschichtung von Identitäten“ auszugehen. Mit anderen Worten: Zwischen der lokalen Identität, dem preußi­ schen Landesbewusstsein und dem Gefühl, gleichzeitig ein Untertan des Königs von Polen zu sein, bestand keine eindeutige Trennlinie. Obschon diese Bilanzie­ rung einerseits auf den spezifischen Charakter des Königlichen Preußens hinweist, wird andererseits eingeräumt, dass der lokalen Ebene zweifellos die größte Wir­ kungskraft beizumessen ist. Denn in praxi sorgte sich der aus dem Bürgertum hervorgehende Souverän in erster Linie um Belange des eigenen Gemeinwesens. Das sich allmählich herausschälende Patriziat, das über mehrere Generationen hinweg die politisch-administrativen Schaltstellen innerhalb Danzigs in den Hän­ den hielt, avancierte hierbei zu einem exponierten Träger dieses Bewusstseins.⁸ Im Laufe des 18. Jahrhunderts erhielt diese Entwicklung eine zusätzliche Dyna­ mik, was vorrangig auf die Auswirkungen der Kräfteverschiebung im Ostseeraum zurückzuführen ist. Das Erstarken des Zarenreiches auf Kosten Polen-Litauens und umso mehr die Politik des aufstrebenden Hohenzollernstaates hinterließen deutliche Spuren bei der Danziger Oberschicht, besonders nachdem man die Ent­ machtung der alteingesessenen Eliten des Königlichen Preußens nach 1772 buch­ stäblich vor Augen geführt bekam. Im Umkehrschluss trat die Stadt mehr denn je als Identifikationsgröße in Erscheinung. Nicht von ungefähr findet sich im Vorwort der von Daniel Gralath – hierbei handelt es sich um den gleichnamigen Sohn des Gründers der Naturforschenden Gesellschaft – Ende der 1780er Jahre fertiggestell­ ten Stadthistorie das Diktum der „Vaterstadt“.⁹ Dieser Begrifflichkeit bediente sich gleichsam Johanna Schopenhauer, die in ihren berühmten Erinnerungen mit fol­ genden Worten das beklemmende Gefühl beschrieb, die das Vorgehen Preußens in

8 Miloš Řezník, Politische Identität im Königlichen Preußen im 18. Jahrhundert, in: Nordost-Archiv N. F., 6 (1997), Heft 2, S. 585–605, hier bes. S. 596 f. Zur Identitätsbildung im Königlichen Preußen siehe auch die weiteren Beiträge in diesem Heft. 9 Daniel Gralath, Versuch einer Geschichte Danzigs aus zuverläßigen Quellen und Handschriften, 3 Bände. Königsberg/Berlin 1789–1791. Bd. 1, S. XXVII. Vgl. Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft, S. 466.

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den höher gestellten Kreisen Danzigs auslöste: „An jenem Morgen [im Jahr 1772, M. B.] überfiel das Unglück wie ein Vampir meine dem Verderben geweihte Vaterstadt und saugte jahrelang ihr bis zur völligen Entkräftung das Mark des Lebens aus!“¹⁰ Schopenhauer, die in Folge der Zweiten Teilung Polen-Litauens die Flucht aus ihrer Heimat angetreten hatte, verfasste ihre Memoiren erst viele Jahrzehnte später. Das zeigt mitunter, wie tief verwurzelt die republikanisch-lokalpatriotische Gesinnung in den Köpfen der ehemaligen Stadtelite war. Selbst denjenigen Schichten des Bürgertums, die nicht dem Stadtregiment angehörten und sich vornehmlich als Kaufleute verdingten, wird – in Anbetracht der aggressiven Zoll- und Wirtschafts­ politik Friedrichs II. und seines Nachfolgers gegenüber dem zwischen 1772 und 1793 territorial isolierten Danzig – nur insofern eine propreußische Haltung at­ testiert, als diese in dem Anschluss zunehmend ihre einzige Überlebenschance erkannten.¹¹ Trotz der räumlichen Selbstbezogenheit, in der sich in letzter Konsequenz ein durch die politischen Umstände hervorgerufener Abwehrmechanismus artiku­ lierte, unterhielten die Danziger auf vielfältige Weise Beziehungen zum polnischlitauischen Staatsverband, die hier nur stichpunktartig dargelegt werden können. Besonders unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten war die Hafenstadt für die Rzeczpospolita von hohem Wert, wurde doch darüber ein Großteil des polnischen Außenhandels abgewickelt. Demgegenüber schickten nicht wenige Danziger Bür­ ger ihre Söhne zeitweise ins Umland zur Erlernung der polnischen Sprache,¹² was die Abwicklung der wechselseitigen Geschäfte sicherlich erleichterte. Zudem eta­ blierte man auf politischer Ebene eine dauerhafte Verbindungslinie mit Warschau, wodurch ein Danziger Stadtsekretär faktisch als auswärtiger Resident an Ort und Stelle agierte. Eigens für diesen Zweck besaß die Stadt seit 1612 ein Grundstück in Warschau, das den Sekretären als ständige Unterkunft diente.¹³ Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die öffentlichen Zeremonien, durch die die formelle Zugehörig­ keit Danzigs zu Polen-Litauen sichtbar zur Schau gestellt wurde – beispielsweise 1754 anlässlich des 300. Jahrestags der Abkehr vom Deutschen Orden.¹⁴

10 Johanna Schopenhauer, Im Wechsel der Zeiten, im Gedränge der Welt. Jugenderinnerungen, Tagebücher, Briefe. Düsseldorf/Zürich 2000, S. 77. 11 Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft, S. 467. 12 Jan Baszanowski, Statistics of Religious Denominations and Ethnic Problems in Gdańsk in the XVII–XVIII Centuries, in: Studia Maritima, 7 (1988), S. 49–71, hier S. 69. 13 Walther Recke, Der Danziger Hof in Warschau und seine Bewohner, in: Mitteilungen des Westpreußischen Geschichtsvereins, 24 (1925), Nr. 2, S. 17–40. 14 Zu den öffentlichen Feiern im 18. Jahrhundert in Danzig siehe Ansgar Haller, Die Ausformung von Öffentlichkeit in Danzig im 18. Jahrhundert bis zur zweiten Teilung Polens im Jahre 1793. Hamburg 2005, S. 137 f.

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Doch streng betrachtet unterlagen diese Facetten der gegenseitigen Verflech­ tungen nahezu ausschließlich dem Imperativ eigener ökonomischer wie politischer Zweckdienlichkeit, wodurch sich das Bild der bewussten Abgrenzung verfestigt. Man hat zwar in diesem Zusammenhang zu Recht auf die frühen Arbeiten des bekannten Danziger Historikers Gottfried Lengnich hingewiesen, dessen 1718 bis 1719 seriell veröffentlichte „Polnische Bibliothek“ die gewachsenen Verbindungen dokumentiert. Ungeachtet der Tatsache, dass sich unter den vielen in Danzig im 18. Jahrhundert publizierten Periodika nur eine weitere mit einem explizit pol­ nischen Titelverweis findet,¹⁵ hatte sich auch Lengnich während seiner weiteren Laufbahn, die durch die Professur am Akademischen Gymnasium und die Stelle des Syndikus gekennzeichnet ist, den Interessen des Stadtrates zu fügen. Seine Zusammenstellung der Danziger Rechte und Verfassung bleib zeitlebens unver­ öffentlicht – auf Geheiß der Stadtführung, die dadurch einen Konflikt mit den Machthabern Polen-Litauens zu vermeiden suchte.¹⁶

Das personelle und wissenschaftliche Profil der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig Wie wirkte sich die skizzierte „Danziger Identität“ auf die gemeinsamen wissen­ schaftlichen Tätigkeiten und deren inhaltlichen Horizont aus? Der Fall Gottfried Lengnich hat bereits verdeutlicht, in welchem Ausmaße die geistig-intellektuelle Sphäre der Stadt durch den politischen Primat gesteuert respektive vereinnahmt werden konnte. Diese Hypothese nährt sich weiter angesichts des Mitgliederprofils der Na­ turforschenden Gesellschaft, wozu ein komparativer Blick auf die ermittelbaren Einzelbiografien weiteren Aufschluss verleiht.¹⁷ Von den bis zum Jahr 1793 insge­ samt 91 eintretenden einheimischen Mitgliedern kamen nicht weniger als zwei

15 Beyträge zu der Pohlnischen Weltlichen, Kirchen- und Gelehrtengeschichte. Danzig 1764. 16 Erst im 20. Jahrhundert gelangte das 1769 abgeschlossene Werk in den Druck. Otto Günther (Hg.), Des Syndicus der Stadt Danzig Gottfried Lengnich Ius Publicum Civitatis Gedanensis oder Der Stadt Danzig Verfassung und Rechte. Danzig 1900. Zu Lengnichs Frühwerk siehe Gerard Koziełek, Die deutschsprachige „Bibliothek“ in Polen. In: István Fried/Hans Lemberg/Edith Ro­ senstrauch-Königsberg (Hg.), Zeitschriften und Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Mittelund Osteuropa. Essen 1987, S. 97–108. 17 Aus Platzgründen muss hier auf umfassende prosopografische Nachweise verzichtet wer­ den. Diese werden einen Teil meiner von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderten Promotion zur Naturforschenden Gesellschaft bilden.

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Drittel innerhalb der Mauern der Stadtrepublik zur Welt; das restliche Drittel ver­ teilt sich – soweit bekannt – relativ gleichmäßig auf das Königliche Preußen, Königsberg und das Reich, wobei es nicht wenige von diesen Personen schon im jungen Alter nach Danzig verschlug, um dort beispielsweise am Akademischen Gymnasium ihren Bildungsweg einzuschlagen. Die in der Regel nächstfolgende Etappe junger Gelehrter war die Aufnahme eines Studiums, wobei die Erfassung der jeweils gewählten Universitäten eindeutige Schlüsse erlaubt. Nahezu alle Mit­ glieder absolvierten ihre Hochschulausbildung an protestantischen Universitäten – vorrangig im deutschen Sprachraum. Es ist jedoch mit Nachdruck zu betonen, dass hierbei nationale Befindlichkeiten keinen relevanten Faktor darstellten, da die evangelischen Lehranstalten des Reiches im 18. Jahrhundert einen steten Anlauf­ punkt für zahlreiche Protestanten aus dem Ostseeraum bildeten.¹⁸ Schließlich soll ein weiteres Charakteristikum die bisherigen Konturen weiter schärfen. Vom Ende der 1750er bis in die Mitte der 1780er Jahre stieg die Anzahl derjenigen Mitglieder der Gesellschaft kontinuierlich an, die zeitgleich dem Rat angehörten, der die politischen Geschäfte der Stadt leitete. Davon ausgehend wäre es verfehlt, die Sozietät als ein willfähriges Instrument zur Durchsetzung der Ziele des Stadtregi­ ments aufzufassen; gleichzeitig verbietet diese personelle Überschneidung jedoch, Danzigs wissenschaftliche Sphäre strikt von der politischen zu trennen. Die Absicht der gemeinsamen Durchführung physikalischer Experimente be­ förderte zwar in nicht unerheblichem Maße die Gründung der Naturforschenden Gesellschaft, bildete selbst in den Anfangsjahren dennoch nur einen Teil ihres inhaltlichen Spektrums, das sich fortlaufend erweiterte. Ohne an dieser Stelle die Aktivitäten der Sozietät im Detail zu vertiefen, bleibt zu konstatieren, dass die Danziger Wissenschaftler kein Interesse an der Erkundung der natürlichen Bege­ benheiten Polens oder seines Tierreichs zeigten. Im Gegenteil: Diejenigen Bereiche, denen abseits der Ergründung genereller physikalischer Gesetzmäßigkeiten ein dezidiert räumlicher Bezug beizumessen ist, bleiben fast ausnahmslos auf den lokalen Rahmen beschränkt.¹⁹ Einzig dem Wirken des Botanikers Jacob Theodor Klein kann eine universelle Note zugeschrieben werden. Klein unterhielt in Danzig einen eigenen botanischen Garten und legte sich dank eines weit gespannten Net­

18 Anton Schindling, Die protestantischen Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Zeitalter der Aufklärung. In: Notker Hammerstein (Hg.), Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, S. 9–19, hier S. 10–13. Grundlegend zum Studium der im Königlichen Preußen ansässigen Personen in der Frühen Neuzeit ist Marian Pawlak, Studia uniwersyteckie młodzieży z Prus Królewskich w XVI–XVIII w. Toruń 1988. 19 Von den durchaus vielfältigen Arbeitsfeldern zeugen in erster Linie die gemeinsam unter dem Titel „Versuche und Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig“ veröffentlichen Schriften, die zunächst zwischen 1747 und 1756 in drei Bänden erschienen.

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zes an Korrespondenzpartnern, zu denen auch der Pionier der polnischen Zoologie Gabriel Rzączyński gehörte, eine umfangreiche Naturaliensammlung an. Hilfreich dafür waren auch seine ausgedehnten Reisen durch weite Teile des europäischen Kontinents, wobei Klein unter anderem in Warschau Station machte. Seine Reise dorthin unterlag jedoch einem anderen Beweggrund, denn bezeichnenderweise führte ihn das Amt des Danziger Stadtsekretärs in die polnische Hauptstadt.²⁰ Der auffallend limitierte Umsetzungsbereich der von der Naturforschenden Gesellschaft ausgehenden Aktivitäten wurde umso deutlicher, als man sich ab den 1760er Jahren verstärkt gemeinnützigen Aufgaben zuwandte, wovon beispielsweise die Installierung einer Rettungsanstalt für im Wasser verunglückte Menschen oder die Eröffnung eines Hebammeninstitutes zeugen.²¹ Wenngleich das Betätigungs­ feld der Naturforschenden Gesellschaft ansatzweise einem diskursiven Wandel unterlag, verschärfte dies letztlich nur die räumliche Selbstbezogenheit, zumal die praktische Anwendbarkeit der Wissenschaften die Kooperation mit der Danziger Führungsschicht unumgänglich machte. Unter diesen Vorzeichen ist ferner auch der im gleichen Zeitraum ausgeschrie­ bene Wettbewerb zu sehen, der nach einer geeigneten Methode suchte, der über­ handnehmenden Versandung in der Danziger Nehrung vorzubeugen und das weitere Anwachsen der Sanddünen zu befördern. Die dazu öffentlich begangene Preisverleihung von 1768 nahm man gleichzeitig zum Anlass, posthum einige wohl­ wollende Worte an den verstorbenen Weimarer Hofrat Johann Samuel Verch – einen gebürtigen Danziger – zu richten, der kraft seines Testamentes der Gesellschaft eine hohe Geldsumme zur Verwirklichung utilitaristischer Zwecke überschrieben hatte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass bereits in der gedruckten Version dieser Laudatio die „Vaterstadt“ zum zeitgenössischen Vokabular zählte;²² also schon vor der politischen Zäsur der Ersten Teilung Polen-Litauens.

20 Bis heute liegt keine umfassende monografische Darstellung zu Jacob Theodor Klein vor. Eine allenfalls kompakte Darstellung liefert beispielsweise Armin Geus, Jakob Theodor Klein und seine Vorstellung von einem System der Tiere, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung, 30 (1970), S. 1–13. 21 Einen Überblick dazu gibt Liliana Górska, Die Naturforschende Gesellschaft in Danzig und die gemeinnützige Aufklärung. In: Hanno Schmitt (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Erziehung und Ökonomie im europäischen Netzwerk der Aufklärung. Bremen 2011, S. 97–114. 22 Christian Sendel, Lobrede auf den S. T. Herrn Johann Samuel Verch, Hochfürstl. Sachsen-Wei­ mar-Eisenachischen Hofrath, bey der ersten Austheilung der von ihm gestifteten Preise im Jahr 1768 den 10. May in öffentlicher Versammlung der naturforschenden Gesellschaft zu Danzig gehal­ ten. In: Herrn Johann Daniel Titius, Abhandlung über die von der naturforschenden Gesellschaft in Danzig aufgegebene Frage: Welches die dienlichsten und am wenigsten kostbaren Mittel sind, der überhandnehmenden Versandung in der Danziger Nähring vorzubeugen und dem weitern Anwachs der Sanddünen abzuhelfen, welcher der aus dem Vermächtniß des seligen Herrn Johann

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Die Naturforschende Gesellschaft hob sich – gemessen an ihrer personellen Konfiguration und an ihrem inhaltlichen Profil – daher keineswegs von der städti­ schen Oberschicht ab. Vielmehr ging die Sozietät aus deren Mitte hervor, worauf die Herkunft, die akademische Laufbahn und die politische Karriere vieler Mitglie­ der hinweisen. Daher erscheint die auffallende Nichtberücksichtigung räumlich übergreifender Materien, Themen und Diskurse als eine logische Konsequenz der weitgehend starren Sozialstruktur der Sozietät. Bei genauerem Hinsehen greift diese Sichtweise jedoch zu kurz, da diese ei­ nen nicht zu vernachlässigen Aspekt ausspart: Die persönlichen Beziehungen zwischen der geistigen Elite Danzigs und der des polnisch-litauischen Staates. In seiner 1937 vorgelegten Studie zu den kulturellen Beziehungen zwischen der Stadt­ republik und Polen-Litauen im 18. Jahrhundert widmete sich Łukasz Kurdybacha eingehend den Verflechtungen zwischen der Naturforschenden Gesellschaft und hochrangigen Standespersonen der Rzeczpospolita.²³ Detailliert schildert er dabei, wer die wöchentlich stattfindenden Sitzungen der Sozietät mit seiner Anwesenheit beehrte, welche Präsente man den Danzigern zumeist in Form von Naturalien, Abhandlungen oder physikalischen Instrumenten zukommen ließ oder welche Ausmaße der damals geführte Schriftverkehr untereinander annahm. Allein an der Vielzahl der nachgewiesenen Gäste lässt sich zuweilen erkennen, welche An­ ziehungskraft die Naturforschende Gesellschaft innerhalb Polens besaß. Obgleich der konkrete Entstehungszeitraum dieser Schrift nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass Kurdybacha damit Danzigs Zugehörigkeit zu Polen in den Vordergrund heben wollte,²⁴ bestehen über die quellenfundierten Grundlagen dieses Werkes keine Zweifel. Aus heutiger Sicht anzulasten wäre Kurdybacha, dass seine Be­ trachtungen über die gegenseitigen Verbindungen zu einseitig ausfallen, da sie weitgehend aus dem Blickwinkel des polnischen Adels erfolgen, was im Umkehr­ schluss zwangsläufig die Danziger Perspektive vernachlässigt. Diese sei nun in den Fokus gerückt.

Samuel Verchs, . . . herkommende Preis am 10. May 1768 zuerkannt worden. Leipzig 1768, S. 17–32, hier S. 31. 23 Łukasz Kurdybacha, Stosunki kulturalne polsko-gdańskie w XVIII wieku. Gdańsk 1937. 24 Dazu Jörg Hackmann, Deutsche und polnische Geschichtsschreibung über das Königliche Preußen im Spannungsfeld der Beziehungsgeschichte. In: Sabine Beckmann/Klaus Garber (Hg.), Kulturgeschichte Preußens Königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2005, S. 15–38, hier S. 33.

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Das Danziger Akademieprojekt Da die Beziehungen zwischen der Naturforschenden Gesellschaft und den Würden­ trägern Polen-Litauens, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kön­ nen, sich nicht programmatisch niederschlugen, beschränken sich die folgenden Ausführungen vornehmlich auf die Ansätze institutionalisierter Verschränkung respektive gemeinsamer Kooperation auf operativer Ebene. Zunächst handelt es sich dabei um den Versuch, die Sozietät in eine vom König gestiftete Akademie umzuwandeln. Unter den europaweit zahllosen Sozietätsgründungen der Frühen Neuzeit stechen die Akademien unweigerlich hervor, die zumeist ihre Gründungsepoche überdauerten und bis heute fortexistieren. Die Ursache dafür und gleichzeitig ein signifikanter Wesenszug dieser Vereinigungen liegt in der Verleihung eines ursprünglich königlichen Privilegs, durch welche eine stabile (finanzielle) Grund­ lage für deren Fortbestand geschaffen wurde. Laut Wolfgang Hardtwig lagen die Anfänge der „Verstaatlichung“ des Sozietätswesens erstens in den allgemeinen Krisensymptomen des 17. Jahrhunderts wie Kriege, Bevölkerungsrückgang, Pest­ epidemien oder wirtschaftlicher Stagnation begründet, gepaart mit zweitens der Suche nach effizienteren, rationalen Strukturen beim Aufbau von Herrschaftsver­ bänden seitens der Regenten.²⁵ Gleichwohl kann man zwei Wege der obrigkeitli­ chen Vorgehensweise nachvollziehen. Entweder erfolgte die Stiftung als Resultat einer Entscheidungsfindung aus dem unmittelbaren Umkreis des Monarchen her­ aus – so geschehen bei den Gründungen der Pariser und der Berliner Akademien. Oder ein privater Zirkel rief eine Gesellschaft ins Leben und erwirkte in der Fol­ ge – beispielsweise durch ihre Leistungen oder mithilfe bestehender Kontakte – eine staatliche Protektion, wofür die Royal Society in London oder die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München als Beispiele dienen.²⁶ Die Anfänge derartiger Überlegungen in Danzig reichen zurück bis in das Jahr 1754. Genauer gesagt unterbreitete Daniel Gralath am 20. September seinen Mit­ streitern bei einer gemeinsamen Unterredung erstmals den Vorschlag, sich um ein

25 Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997, S. 257–258. 26 Ludwig Hammermayer, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Formen, Tendenzen, Wandel. In: Erik Amburger/Michał Cieśla/László Sziklay (Hg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Berlin 1979, S. 1–84, hier S. 23 f.; James E. III. McClellan: Science Reorganized. Scientific Societies in the Eighteenth Century. New York 1985, S. 24 f.

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königliches Privileg zu bewerben.²⁷ Dem Initiator der Naturforschenden Gesell­ schaft schwebte bei diesem Vorstoß sicherlich nicht nur das steigende Ansehen vor Augen, welches er als ein wesentliches Argument anführte, sondern ebenso die Aussicht auf eine regelmäßige finanzielle Zuwendung durch den König, welche die stets auf eigene Kosten tätige Vereinigung wohl dankbar angenommen hätte. Auf der Gegenseite wäre eine etablierte Akademie unter der Schirmherrschaft Au­ gusts III., der als Kurfürst von Sachsen seit 1733 gleichzeitig Polen-Litauen regierte, ein nicht zu unterschätzender Prestigegewinn für den Monarchen gewesen; zumal zu diesem Zeitpunkt fast alle größeren europäischen Staaten schon vergleichbare Einrichtungen vorweisen konnten. Ungeachtet der damit in Aussicht stehenden Vertiefung der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Sachsen, Polen-Litauen und Danzig hätte sich für August und seine Regierung auf diesem Wege eine wei­ tere Option ergeben, zumindest latent auf die selbstredend unabhängige Danziger Elite einzuwirken. Im Laufe des Jahres 1755 weihte der mittlerweile zum Direktor gewählte Gralath den königlichen Kommissar in Danzig, Anton von Leubnitz, in seine Pläne ein. Die­ ser Schritt machte sich bald darauf bezahlt, denn nachdem Leubnitz im Herbst aus Warschau zurückgekehrt war, setzte er Gralath davon in Kenntnis, wie vorteilhaft mehrere polnische Magnaten sich bei ihren Zusammenkünften über die Arbeiten der Sozietät geäußert hätten. Zugegen war dabei auch der Premierminister Heinrich von Brühl. Leubnitz nutze sogleich die Gelegenheit, um seinen Vorgesetzten von den Absichten der Danziger Naturwissenschaftler zu unterrichten, was auf positive Resonanz traf. Daher riet er Gralath zugleich, dem Premierminister eine Schrift zu widmen, um sich dessen Gunst zu versichern, was die Erfolgsaussichten des Vorhabens zusätzlich steigern sollte. Gralath unterbreitete den übrigen Mitgliedern diesen Vorschlag und bereits kurze Zeit darauf – am 18. Dezember 1755 – wurde die endgültige Fassung der Lobeshymne auf den Premierminister intern verlesen, die danach dem dritten Teil der „Versuche und Abhandlungen“ der Gesellschaft vorangestellt war.²⁸ Diese Widmung sei im Folgenden etwas ausführlicher zitiert, da sich daran exemplarisch die Sichtweise der Danziger Wissenschaftler auf die „Adelsrepublik“ Polen-Litauen ablesen lässt: Nachdem wir aber (. . . ) durch das gnädige Gefallen verschiedener Fürstlichen und anderer hohen Standes-Personen, besonders der Erlauchten Reichs-Senatoren der Durchlauchtigen

27 Acta Societatis Physicae Experimentalis, Bd. 12 (1754), Annus Duodecimus (MDCCLIV), Bl. 20. Die Akten der Gesellschaft gehören offiziell zum Bestand der Politechnika Gdańska, sind jedoch online zugängig (http://pbc.gda.pl/). 28 Die internen Vorbereitungen sind dokumentiert in Acta Societatis Physicae Experimentalis, Bd. 13 (1755), Annus Decimus Tertius (MDCCLV), Bl. 7r–10v, 11v–12v.

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Republik Polen (. . . ), welche unsere Versammlung mit Dero hohen Gegenwart beglücket, theils mündlich, theils schriftlich aufgemuntert worden, in unsern Bemühungen fortzufah­ ren: so wagen wir es nunmehro, dasjenige ins Werk zu richten, was Ehrfurcht und Beschei­ denheit bis hieher zu verschieben und verpflichtet haben. (. . . ) Gnädiger Herr, dieses sind die Ehrfurchtsvollen Gesinnungen einer Gesellschaft, die bisher in dem äußersten Winkel der mitternächtlichen Gegend des Polnischen Reichs Eurer Hoch-Reichsgräflichen Excellenz bewundernswürdigste Eigenschaften stillschweigend verehret hat, und nunmehro um Dero Huld und Gnade öffentlich und demüthig sich bewirbet.²⁹

Wenngleich die abwertende Darstellung der Wissenschaften in Polen vermutlich in beträchtlicher Weise dem Versuch entspringt, die eigene Bedeutsamkeit als Gegenüberstellung zweckgebunden ins rechte Licht zu rücken, schimmert dennoch eine gewisse Distanz zwischen Danzig und Polen durch. Die hier ausgeführten Gunstzeugnisse der Standespersonen unterstreichen eher die Einseitigkeit der gegenseitigen Perzeption als diese zu entkräften. Die Naturforschende Gesellschaft sandte in der Folge einige druckfertige Ex­ emplare ihres dritten Konvoluts an Brühl, zusammen mit einem persönlichen Referenzschreiben und einer vorgefertigten Urkunde, der lediglich die königliche Unterschrift fehlte, für die der Premierminister bei August III. werben sollte. Be­ sonders an diesem letzteren Dokument sind diverse Aspekte erkennbar, die die konzeptionelle Vorstellung der Danziger widerspiegeln. Erstens wollte man sich in Zukunft inhaltlich nicht allein auf die Naturwissenschaften beschränken, sondern sah ein breiteres Spektrum an Disziplinen vor, das staatsrechtliche und histori­ sche Themen gleichermaßen mit einschloss. Zweitens wurde dem Monarchen das Recht zur Ernennung der Mitglieder zugesprochen, während drittens Premiermi­ nister Brühl aufgrund seiner Verdienste die Präsidentschaft in Aussicht gestellt wurde. Und schließlich seien viertens die entstehenden finanziellen Aufwendun­ gen über die Einnahmen aus dem Postwesen zu decken.³⁰ Aus dem anfänglichen königlichen Privileg war eine virtuelle Akademie entstanden. Łukasz Kurdybacha erkannte darin das Gerüst einer gesamtpolnischen Institu­ tion,³¹ was aber in Anbetracht der vorhandenen Quellen zu entkräften ist. Daniel Gralaths handschriftliche Aufzeichnungen sprechen nämlich eine andere Sprache. Dieser leitete die Sozietät auch im Jahr 1756 und befasste sich – die Zusage des Königs erwartend – bereits mit weiteren Detailfragen. Zwar finden sich unter den

29 Versuche und Abhandlungen der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig, Dritter Theil. Danzig-Leipzig 1756, Widmung (unpaginiert). 30 Acta Societatis Physicae Experimentalis, Bd. 14 (1756–1757), Annus Decimus Quartus (MDCCLVI), Bl. 5r–11r. Vgl. auch Kurdybacha, Stosunki, S. 53 und Waldemar Rolbiecki, Towarzyst­ wa naukowe w Polsce. Warszawa 1972, S. 83 f. 31 Kurdybacha, Stosunki, S. 52.

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von ihm aufgelisteten potenziellen Kandidaten für die Besetzung der Ehrenmit­ gliedschaften eine ganze Reihe polnisch-litauischer Würdenträger: darunter der Bischof von Ermland Adam Stanisław Grabowski, der Großhetman und Woiwode von Vilnius Michał Kazimierz Radziwiłł, der Hofmarschall Jerzy August Mniszech sowie der Bischof von Krakau Andrzej Stanisław Załuski; dennoch zielten Gral­ aths Absichten keinesfalls auf die Begründung einer polnischen Akademie ab. Im Gegenteil: Das durch den Direktor entworfene Siegel zierten lediglich das kursäch­ sische und das Danziger Wappen; zudem enthält auch die Inschrift des Siegels, die die offizielle Titulierung der Einrichtung vorwegnimmt, keinen polnischen Bezug: Societas Scientarum Augustea Gedani instituta.³² Mit anderen Worten stellte die in Planung stehende Akademie ein passgenaues Abbild der herrschaftlichen Rahmenbedingungen dar, wonach Danzig lediglich dem Monarchen und nicht der Rzeczpospolita unterstand. Die Ambitionen der Danziger und speziell Daniel Gralaths erfuhren jedoch keine Erfüllung. Warum die hochgesteckten Pläne letzten Endes nicht realisiert worden sind, lässt sich bisweilen nicht eindeutig rekapitulieren. Den Schriften der Naturforschenden Gesellschaft ist entnehmbar, dass der Siebenjährige Krieg, der in Europa mit dem Überfall Preußens auf Sachsen im August des Jahres 1756 seinen Anfang nahm, sowie das Ableben Augusts III. im Jahr 1763 alle Hoffnungen begruben.³³ Dagegen steht die Vermutung, eine Warschauer Hofintrige wäre für das Schei­ tern verantwortlich gewesen, deren mutmaßlicher Drahtzieher der oben genannte Andrzej Stanisław Załuski gewesen sei. Dieser war zeitlebens daran interessiert, Warschau als einen wissenschaftlichen Anziehungspunkt zu etablieren. Zusam­ men mit seinem ebenso bibliophilen Bruder Józef Andrzej begründete Załuski eine der damals weltweit größten Bibliotheken und unternahm ferner viele Anstren­ gung, um in Warschau eine gelehrte Gesellschaft zu begründen, was allerdings nicht über einige allenfalls temporär erfolgreiche Ansätze hinausging. Das Brüder­ gespann, das selbst einen Teil seiner Ausbildung in Danzig genossen hatte und mit einigen dort ansässigen Gelehrten im Briefwechsel stand, zeigte sich anfangs durchaus aufgeschlossen gegenüber den Aktivitäten der Naturforschenden Gesell­ schaft; quasi im Gegenzug bekam Andrzej Stanisław Załuski den ersten Band der gemeinsamen Schriften als Geschenk zugesandt. Dessen Bewertung fiel gleichwohl

32 Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Ms 639: Daniel Gralath. Eigenhändig niederge­ schriebene Entwürfe zu Reden, die er vor der Danziger naturforschenden Gesellschaft gehalten, und zu den Eingaben, die er eben für diese Gesellschaft gemacht, nebst einem Mitgliederverzeich­ niss. 1755–1756, Bl. 44r, 50r. 33 Diese Version ist zuerst dargelegt worden in: Neue Sammlung von Versuchen und Abhandlun­ gen der naturforschenden Gesellschaft in Danzig. Erster Band. Danzig 1778, Vorrede (unpaginiert).

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durchwachsen aus, was aus seinem Schreiben an Daniel Gralath vom 19. Mai 1748 hervorgeht. Abgesehen von der Überhandnahme rein theoretischer Abhandlungen aus Sicht des Bischofs war der eigentliche Stein seines Anstoßes die Verwendung der deutschen Sprache, in der ausnahmslos alle Beiträge verfasst worden waren. Konkret monierte Załuski, dass ohne eine entsprechende lateinische Übersetzung die Verbreitung und die Rezeption der „Versuche und Abhandlungen“ innerhalb Polens leiden würden.³⁴ Diese Skepsis gepaart mit der Furcht, dass eine Rangerhö­ hung der Danziger Sozietät im sprichwörtlich „äußersten Winkel“ des Landes auf Kosten Warschaus gehen könnte, stellen zweifelsohne hinreichende Beweggründe dar, die Załuski dazu veranlasst haben könnten, diese Pläne am Hof gezielt zu unterwandern. Der Mangel an stichhaltigen Belegen erlaubt es jedoch nicht, dieser Argumentation uneingeschränkt zu folgen.³⁵ Die genauen Ursachen für das Scheitern der Akademie bleiben demnach wei­ terhin im Verborgenen. Nicht minder der Spekulation überlassen ist die Frage, ob sich die Danziger nach einer Umstrukturierung ihrer Vereinigung und dem damit verbundenen Beitritt hoher Würdenträger Polen-Litauens als Ehrenmitglieder auch dezidiert polnischer Themen angenommen hätten. Dazu sollte es unweigerlich rund zehn Jahre später kommen, als man sich auf eine Liaison mit dem Woiwoden Józef Aleksander Jabłonowski einließ.

Die Preisfragen des Fürsten Józef Aleksander Jabłonowski Die Vorgeschichte dieser Episode ist mehrfach ausführlich beschrieben worden,³⁶ weshalb an dieser Stelle ein skizzenhafter Abriss genügt. Im Jahr 1760 eröffnete Jabłonowski bei einer Zusammenkunft in Warschau den dort anwesenden Per­ sonen sein Vorhaben zur Gründung eines gelehrten Zirkels, der nicht zuletzt als

34 Eine Abschrift dieses Schreibens ist enthalten in: Acta Societatis Physicae Experimentalis, Bd. 6 (1748), Annus Sextus (MDCCXLIIX), Bl. 4r–4v. 35 Zuerst vertreten von Kurdybacha, Stosunki, S. 29–31 und S. 53–62; Zu den Beziehungen zwi­ schen den Brüdern Załuski und Danzig siehe auch Heinz Lemke, Die Brüder Załuski und ihre Beziehungen zu Gelehrten in Deutschland und Danzig. Studien zur polnischen Frühaufklärung. Berlin (Ost) 1958, S. 172–182. 36 Exemplarisch: Eduard Merian, Die Bemühungen des polnischen Fürsten Józef Aleksander Jabłonowski um die Gründung seiner wissenschaftlichen Gesellschaft. In: Dietrich Scholze/Ewa Tomicka-Krumrey (Hg.), Mit Wort und Tat. Deutsch-Polnischer Kultur- und Wissenschaftsdialog in Vergangenheit und Gegenwart. Leipzig 2001, S. 23–36.

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Jury in Wettbewerben für jährlich zu vergebende Preise fungieren sollte. Zunächst war vorgesehen, dass Fragen von je zwei Vertretern des Jesuiten-, Theatiner- und Piaristenordens gestellt werden. Eigens für die Auszeichnung hatte der Mäzen die stattliche Summe von 2653 Dukaten bei einer Danziger Bank deponiert. Dieses Projekt kam allerdings in der Folgezeit nicht zur Anwendung, weshalb sich Ja­ błonowski für sein Vorhaben anderweitig umsehen musste und schließlich die Naturforschende Gesellschaft als urteilendes Gremium ins Auge fasste.³⁷ Somit begab sich Jabłonowski im Jahr 1765 nach Danzig, um mit den führenden Mitgliedern der Sozietät über die Modalitäten in Verhandlung zu treten. Noch bevor diese überhaupt beginnen konnten, bekam der Fürst einen ersten Eindruck, mit welchem Selbstverständnis die Danziger auftraten respektive unter welcher Prämisse die Kooperation vonstattengehen sollte: [D]a sie [die Naturforschende Gesellschaft, M. B.] sowohl in einem freyen Staat lebe, als aus freyen Gliedern bestünde, so wünschte selbige mit niemand als mit Sr. Durchlaucht einzig und allein zu thun zu haben, und keinen Jesuiten, Theatiner noch Piaren als Theilnehmer zu erkennen.³⁸

Jabłonowski zeigte sich mit dieser Forderung einverstanden, woraufhin beide Sei­ ten sich auf den zeitlich-formalen Ablauf und den inhaltlichen Fokus einigten. Gemeinsam formulierte man insgesamt drei Fragen aus den Bereichen der Ge­ schichte, der Erdvermessungskunst und der Haushaltskunst, die noch im selben Jahr veröffentlicht wurden. Die erbetenen Abhandlungen waren in anonymer Form bis zum kommenden Februar beim Sekretär der Naturforschenden Gesellschaft einzureichen – zusammen mit einem versiegelten Umschlag, der den Namen des Verfassers beinhaltete. Obgleich die Ausschreibung des Wettbewerbs unter ande­ rem auch in einer Warschauer Zeitschrift abgedruckt wurde, galt es, die Antworten entweder in deutscher, französischer oder lateinischer Sprache einzureichen.³⁹ Dabei war die Aufgabenstellung aus dem Bereich der Geschichte von durchaus hoher identitätsstiftender Relevanz, zumindest aus Jabłonowskis Sicht, die da lau­ tete: „Könnte man nicht die Ankunft des Lechus in Pohlen, zwischen 550 und 560, durch glaubwürdige Zeugnisse gleich alter Schriftsteller, oder, die kurz nachher gelebt, entweder gründlicher als bishero geschehen beweisen; oder diese Meinung

37 Ebenda, S. 28–30. 38 Acta Societatis Physicae Experimentalis, Bd. 18 (1764–1767), Annus Vigesimus Tertius (MDCCLXV), Bl. 38v–39r. 39 Siehe Wiadomości Warszawskie 1765, Nr. 84 (06. November), Supplement. Łukasz Kurdybacha gibt in diesem Zusammenhang fälschlicherweise an, dass die Abhandlungen auch auf Polnisch hätten verfasst werden dürfen, obwohl er sich mitunter genau auf diese Quelle beruft. Kurdybacha, Stosunki, S. 69.

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entkräften?“ Schließlich trachtete der Preisstifter danach, sein eigenes Geschlecht vom mythischen Urvater Polens abzuleiten. Je näher der vereinbarte Termin der öffentlichen Verleihung rückte, desto unruhiger wurden vermutlich die Gemüter derjenigen Mitglieder der Gesellschaft, die zu Preisrichtern der historischen Klasse ernannt worden waren. Tatsächlich entsprach keine der bis dahin eingesandten Schriften in ihren Augen annähernd den Vorstellungen des Woiwoden, weshalb man eine Fristverlängerung erbat.⁴⁰ So erfolgte am 19. März 1766 lediglich die feierliche Auszeichnung in den beiden anderen Kategorien; der Nachtermin wurde auf den 19. August festgesetzt. Jabłonowski, der schon der ersten Zeremonie nicht beigewohnt hatte, glänzte an dem besagten Tag erneut durch seine Abwesenheit – und entging damit vorerst einer Demütigung – allerdings nur so lange, bis er selbst den aus der Feder des His­ torikers und Publizisten August Ludwig Schlözer stammenden Wettbewerbsbeitrag zu Gesicht bekam. Es genügt hier, eine Sequenz aus der Einleitung anzuführen, um sich die Gefühlslage des Fürsten zu vergegenwärtigen, die noch gereizter wurde, als die Naturforschende Gesellschaft umgehend und wie ursprünglich vereinbart alle gekrönten Schriften drucken ließ: Lech kam nicht vor dem Jahre 550 nach Polen, er kam nicht nach demselben, er kam niemals. Lech ist ein blosser Uebersetzerfehler, ein noch nicht 400 Jahre altes Hirngespinst, ein historisches Unding. Laßt ihn ins Reich der Schatten wandern.⁴¹

Allen Beschwichtigungsversuchen aus Danzig zum Trotz brach Jabłonowski jegli­ che Kontakte ab und ging nach Leipzig, um dort eine eigene Gesellschaft (Societas Jablonoviana) zu gründen. Nur wenige Jahre später ließ er von dort aus zu seiner Ehrenrettung erneut eine Preisfrage zu dieser Themenstellung verlautbaren. Als die Naturforschende Gesellschaft davon Notiz nahm, fasste sie den Entschluss, „ihren“ Preisträger abermals zur Teilnahme zu ermutigen, wodurch nicht nur Schlözers Reputation, sondern letztlich auch die eigene gewahrt werden könne. Zugleich einigte man sich intern darauf, alle vorherigen Bewerbungsschriften zum polni­ schen Urvater ebenso in Druck zu geben, sollte Jabłonowski Schlözers Einsendung torpedieren wollen.⁴²

40 Acta Societatis Physicae Experimentalis, Bd. 18 (1764–1767), Annus Vigesimus Quartus (MDCCLXVI), Bl. 50v–51r. 41 August Ludwig von Schlözer, Abhandlung aus der polnischen Geschichte ”könnte nicht die Ankunft Lechs in Polen zwischen den „Jahren 550 und 560 u.s.w.“, welcher von der Naturforschen­ den Gesellschaft in Danzig 1766 den 19 Aug. der Fürstl. Jablonowskische Preis zuerkannt worden. Danzig 1770, S. 2. Bereits drei Jahre zuvor erschienen alle Beiträge in einer gesammelten Ausgabe. 42 Acta Societatis Physicae Experimentalis, Bd. 19 (1768–1770), Annus Vigesimus Septimus (MDCCLXIX), Bl. 40r–40v.

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Nur am Rande sei erwähnt, dass Schlözer kurioserweise erneut den Preis zuer­ kannt bekam, zumal seine eigentliche Intention offenbar in Leipzig missverstanden worden war.⁴³ Als knappes Fazit der hier geschilderten Episode bleibt festzuhalten, dass beide Seiten, sowohl die Danziger Naturforscher als auch Józef Aleksander Ja­ błonowski, in ihrem Auftreten und Vorgehen das gleiche Ziel vor Augen hatten: Die Anerkennung der eigenen Autorität auf dem Felde der Gelehrsamkeit. Dies mün­ dete in einem unüberwindbaren Interessenkonflikt, zumal die Voraussetzungen für eine bilaterale Kooperationsbereitschaft bereits durch den jeweils begrenzten Wahrnehmungshorizont wenig aussichtsreich erscheinen.

Das Zweckbündnis zwischen der Naturforschenden Gesellschaft und dem letzten König In welchem Ausmaß den Absichten der Naturforschenden Gesellschaft ein politi­ sches Motiv zugeschrieben werden kann, lässt sich ferner an den innenpolitischen Verhältnissen Polen-Litauens exemplarisch darstellen. Denn bei genauerem Hin­ sehen paktierten die Danziger Naturforscher zunächst nicht ganz zufällig mit Józef Aleksander Jabłonowski, der als Thronanwärter für die Königswahl von 1764 galt. Der statt dessen gewählte Stanisław II. August Poniatowski verfolgte nämlich an­ fangs eine Politik, die unter anderem auf eine Eindämmung der im Königlichen Preußen geltenden Privilegien abzielte, wogegen sich insbesondere in den großen Stadtrepubliken Widerstand formierte.⁴⁴ Als nicht weniger symptomatisch kann die Intensivierung der Beziehungen zwischen dem letzten polnischen König und der Naturforschenden Gesellschaft in den 1780er Jahren gelten. Den Hintergrund dafür bildete der seit der Ersten Teilung Polen-Litauens (1772) deutlich verminderte politische Spielraum, dem sowohl das nunmehr territorial isolierte Danzig als auch der um über einem Viertel „seines“ Staatsgebietes beraubte Stanisław August letztlich pragmatisch begegneten. Zu­ dem erhielt er ebenso wie die Brüder Załuski einen Teil seiner Ausbildung in der Handelsstadt und unterhielt dorthin auch persönliche Kontakte zum Zwecke des

43 Vgl. Christian von Schlözer, August Ludwig von Schlözers öffentliches und Privatleben, aus Ori­ ginalurkunden und, mit wörtlicher Beifügung mehrerer dieser letzteren, vollständig beschrieben. 2 Bände. Leipzig 1828. Bd. 1, S. 99 f. 44 Heinz W. Hoffmann, Der Danziger Rat verteidigt die Privilegien seiner Stadt und Westpreußens bei der letzten polnischen Königswahl. Eine Studie zur Geschichte Danzigs im 18. Jahrhundert, in: Altpreußische Forschungen, 20 (1943), S. 96–143. Siehe auch Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft, S. 158–160.

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Erwerbs von Kunstgegenständen.⁴⁵ Im Jahr 1780 gelang es dem König schließlich, einen der damals wohl fähigsten Gelehrten aus Danzig in seine Dienste zu locken; dies stellte insofern ein Novum dar, als bis dato nur ein Mitglied der Sozietät Danzig verlassen hatte, um sich dauerhaft in Warschau niederlassen.⁴⁶ Gemeint ist Johann Peter Ernst von Scheffler, dessen Lebenslauf kurz umrissen werden soll. Geboren am 23. September 1739 in Danzig, besuchte Scheffler zunächst dort das Akademische Gymnasium, ehe er sich zum Studium der Medizin nach Königsberg begab. Zurück in seiner Heimatstadt trat er um die Jahreswende 1762/1763 der Naturforschenden Gesellschaft bei und übernahm in der Folge für einige Jahre die Posten des Sekretärs, des Schatzmeisters und des Vizedirektors. Daneben ist bekannt, dass Scheffler 1771 nicht nur zum korrespondierenden Mitglied der Königlich Großbritannischen Sozietät der Wissenschaften zu Göttingen, sondern auch zum auswärtigen Mitglied der Londoner Sozietät zur Aufnahme der Künste, Manufacturen und des Handels ernannt wurde. Die gleiche Ehre wurde ihm zwei Jahre darauf durch die Gesellschaft Naturforschender Freunde in Berlin zuteil. Warum Scheffler schließlich dem Ruf nach Warschau Folge leistete, lässt sich im Einzelnen nicht rekapitulieren. Stanisław August ernannte ihn umgehend zum Bergrat mit dem Auftrag, eine mineralogische Reise durch Polen vorzunehmen und erhob ihn nur wenige Jahre später zum Geheimrat.⁴⁷ Allem Anschein nach avancierte Scheffler fortan zum Mittler zwischen dem König und dem Danziger Gelehrtenzirkel. Vermutlich jener richtete 1784 ein Gesuch zur Konstruktion und Erprobung von speziellen seefahrtstauglichen Maschinen an Danzig, dem war jedoch kein Erfolg beschieden. Im folgenden Jahr wiederum widmete die Gesellschaft die Gedächtnisschrift für ihr jüngst verstorbenes Mit­ glied Nathanael Matthäus von Wolf dem Herrscher, einem „ächte[n] Kenner und grosse[n] Beförderer der Wissenschaften“, die Scheffler persönlich aushändigte.⁴⁸ Der König revanchierte sich seinerseits mit der Übersendung eines eigens ange­

45 Eine Schlüsselfigur war der Danziger Bankier Jean François Mathy, der darüber hinaus als freies Mitglied fast 40 Jahre der Naturforschenden Gesellschaft angehörte. Ewa Manikowska, Der Erwerb von Kunst und Luxusgütern für Stanisław August Poniatowski und das Danziger Netzwerk In: Martin Krieger/Michael North (Hg.), Land und Meer. Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit. Köln (u. a.) 2004, S. 109–128. 46 Dabei handelt es sich um den in Hannover geborenen Georg Anton Schröder, der bis Mitte der 1760er Jahre den Posten des Generalmünzwardeins in Danzig inne hatte. 47 Ausführlich zur Person: Ignacy Z. Siemion, Piotr Ernest Jan Scheffler, XVIII–wiecny gdańskowarszawski przyrodnik i ekspert górniczy, in: Analecta. Studia i materiały z dziejów nauki, 7 (1998), Heft 2, S. 141–154. 48 Philipp Adolph Lampe, Gedächtnissrede auf den Herrn D. Nathanael Matthaeus von Wolf, in der ausserordentlichen öffentlichen Versammlung der naturforschenden Gesellschaft zu Danzig am 10. Mai 1785 gehalten. Danzig 1785, Vorrede (unpaginiert).

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fertigten goldenen Ringes samt eingraviertem Miniaturbildnis seiner selbst. Nicht lange darauf ließ er der Stadt anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Todestag des Johannes Hevelius sogar eine Büste des berühmten Astronomen zukommen. Zu diesem Zeitpunkt gehörte quasi stellvertretend der königliche Kommissar in Dan­ zig, Friedrich Ernst von Hennig, bereits als Ehrenmitglied der Naturforschenden Gesellschaft an.⁴⁹ Ohnehin unterlag die Außendarstellung der Sozietät, die bezeichnenderwei­ se in den ersten 30 Jahren ihres Bestehens auf die Aufnahme von auswärtigen Mitgliedern verzichtet hatte, nach 1772 einem grundlegenden Wandel. Unter den Adressaten, die in der Folge ein entsprechendes Ehrendiplom aus Danzig zuge­ sandt bekamen, finden sich in der Tat mit Johann Baptist Dubois und Johann Philipp von Carosi zwei Mitglieder der nach ihrer Gründung 1777 nur vorüberge­ hend bestehenden Warschauer physikalischen Gesellschaft, sowie der berühmte Freimaurer August Fryderyk Moszyński und nicht zuletzt der Unterkanzler von Litauen und Angehöriger der Nationalen Erziehungskommission Joachim Chrepto­ wicz. Der dadurch entstehende Eindruck, Danzig und Polen hätten in Anbetracht der außenpolitischen Umstände eine demonstrative Annäherung angestrebt, ist im Hinblick auf den Austausch unter den Gelehrten nur bedingt zu bestätigen. Denn nach bisherigem Kenntnisstand waren die Kontakte sowohl zum letzten Monarchen Polen-Litauens als auch zu den genannten auswärtigen Mitgliedern nur oberflächlicher Art und beschränkten sich auf den Erweis von Gefälligkeiten, welche die Etikette gebot.⁵⁰

Fazit Trotz der geografischen Nähe blieb der Wahrnehmungshorizont der Naturforschen­ den Gesellschaft in Bezug auf Polen und Litauen stets limitiert, wobei deren relativ stabile Mitgliederstruktur, ihre Tätigkeiten und die misslungenen Ansätze zur beiderseitigen Kooperation additiv wirkten. Vielmehr ist von einem disparaten Perzeptionsmuster auszugehen, wonach man in Polen sehr wohl die Danziger Aktivitäten registrierte – das beweist die Vielzahl der in den Akten der Gesellschaft dokumentierten Gäste –, was jedoch kaum auf Erwiderung stieß. Dies ist in erster

49 Genauer dazu: Małgorzata Czerniakowska, Udział króla Stanisława Augusta w obchodach stulecia śmierci Jana Heweliusza. In: Stanisław Salmonowicz (Hg.), Mieszczaństwo gdańskie. Gdańsk 1997, S. 271–285. 50 Zumindest geben die Akten der Naturforschenden Gesellschaft keine weitere Auskunft darüber. Zu diesen Beziehungen siehe Kurdybacha, Stosunki, S. 82–90 oder Rolbiecki, Towarzystwa, S. 85 f.

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Linie auf das politische Leitmotiv der Danziger Oberschicht zurückzuführen, das vorrangig an die eigenen Interessen gebunden war und sich vehement auf den Bereich der Wissenschaften übertrug, zumal die geistige und administrative Elite der Stadtrepublik personell kaum voneinander trennbar ist. Die aus Danziger Sicht konstant relevante Instanz stellte einzig die Krone Polens dar, deren Träger sich seit 1569/72 nicht genealogisch ableitete, sondern aufgrund seiner Wahl durch das Machtgebaren der aufeinandertreffenden Interessengruppen bestimmt wurde. Diese komplizierten Verhältnisse leisteten auf Dauer der Herausbildung einer prag­ matisch, womöglich sogar opportunistisch eingestellten Führungsschicht in der „Vaterstadt“ Danzig gewissen Vorschub. Vor diesem Hintergrund bildete der Ver­ lust der Unabhängigkeit im Jahr 1793 einen massiven Einschnitt, dem das Patriziat auf unterschiedliche Weise begegnete. Eine Möglichkeit bot die Emigration, etwa im Falle der eingangs zitierten Johanna Schopenhauer. Eine andere Option bestand darin, sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Kurz vor der Zweiten Teilung beging die Naturforschende Gesellschaft feierlich ihr 50-jähriges Stiftungsjubilä­ um. Die zu diesem Anlass vorgetragene Festrede gelangte erst ein Jahr später in den Druck. Gewidmet war sie bezeichnenderweise niemand anderem als Friedrich Wilhelm II., „unserm allergnädigsten Könige und Landesherrn!“⁵¹

51 Abraham Benjamin Skusa, Rede zur Feier des funfzigjährigen Stiftungsgedächtnißtages der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig, in der außerordentlichen öffentlichen Versammlung derselben am zweiten Januar 1793 gehalten. Danzig 1794, Vorrede (unpaginiert).

| Teil III: Multidimensionale Transfers

Tilman Plath

Nördlich, westlich oder östlich? – St. Petersburg als Forschungsobjekt und Wissenschaftsstandort deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler Ende des 18. Jahrhunderts

St. Petersburg – das „nördliche Palmyra“ als Schnittstelle zwischen Ost und West Das Großfürstentum Moskau galt in Mitteleuropa bis zum Ende des 17. Jahrhundert als eine „nördliche“ und rückständige Macht. Ausgerechnet mit Peter I., der die Hauptstadt Russlands von Moskau nach Norden verlegte, begann ein Prozeß des Aufstiegs Russlands zu einer europäischen Großmacht, welche nicht zuletzt dazu führte, dass Russland aus westlicher Sicht immer weniger eine „nördliche“ Macht und eher zu einer „östlichen“ Macht wurde. In Russland selbst wiederum wurde die Verlegung der Hauptstadt in den Norden jedoch vor allem als eine Verschie­ bung nach Westen verstanden. Die mentale Lokalisierung St. Petersburgs ist nicht zuletzt deshalb von besonderer Bedeutung, da diese Stadt auf der einen Seite zwar geradezu idealtypisch als Symbol für die enormen Veränderungen, also einer gewissen „Verwestlichung“ Russlands im 18. Jahrhundert gesehen werden kann, zugleich aber im Jahrhundert der Aufklärung nach Larry Wolff ein östliches Europa erfunden wurde. Bezeichnender Weise findet sich bei Wolff zum Phänomen St. Pe­ tersburg recht wenig, da der westliche, bzw. nördliche Charakter dieser Stadt wenig zur These einer Erfindung von Osteuropa passen möchte.¹ Auch wenn Russland in der Wahrnehmung des Westens zunehmend nach Osten rückte, galt dies lange Zeit noch nicht für die neue Hauptstadt St. Petersburg, die durch den Zustrom der vielen Ausländer zur Kontaktzone zwischen Russland und Europa wurde, wo sich

1 Zwar findet sich St. Petersburg als „Hauptstadt des Nordens“, doch ohne weiterführende Dis­ kussion dieses Phänomens und auch im Fazit wird die Stadt nur beiläufig erwähnt. Vgl. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stan­ ford 1994, S. 22 und S. 357. Zur „Nördlichkeit“ St. Petersburgs siehe Olivia Griese, „Palmyra des Nordens“: St. Petersburg – eine nordosteuropäische Metropole?, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas, 53 (2005) 3, S. 349–363. DOI 10.1515/9783110499797-011

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ein spezifischer Wissenschaftsstandort unter diesen Bedingungen und im Zeitalter der europäischen Aufklärung herausbilden konnte.² Zu St. Petersburg und seiner spezifischen kulturellen Rolle innerhalb Russ­ lands während des 18. Jahrhunderts als Ort einer russischen Variante der Aufklä­ rung und als Symbol einer „Verwestlichung“ Russlands ist bereits viel geschrieben und geforscht worden.³ Im Folgenden wird jedoch eine Wissenschaftsdisziplin her­ vergehoben, welche einerseits deutschsprachig war, also gewissermaßen den Blick von außen auf St. Petersburg und Russland hatte, und andererseits thematisch den Interessen der Zeit entsprechend einen zunehmend wirtschaftswissenschaft­ lichen Schwerpunkt besaß. Dieser ist im vorliegenden Fall interessant, da er die Stadt St. Petersburg in ihrer Funktion als Hafenstadt und ihrer Beziehung zum Russländischen Reich und somit als Forschungsobjekt wahrnahm, aber zugleich auch Forschungsstandort der betreffenden Wissenschaftler war.⁴ Nach einer Einführung in das geistesgeschichtlich-wissenschaftliche Umfeld zur besseren Orientierung werden die drei deutschsprachigen Autoren Christi­ an Friebe, Johann Gottlieb Georgi und Heinrich von Storch gesondert behandelt. Diese drei unterschiedlich gut bekannten Autoren eint der Umstand, dass sie sich zum Verständnis der Bedeutung St. Petersburgs als neues führendes Außen­ handelszentrum Russlands verdient gemacht haben, da ihre Arbeiten den ersten wissenschaftlich ernstzunehmenden Grundstein zu diesem Thema legten.

Deutsche Wissenschaftler in St. Petersburg im 18. Jahrhundert Mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg im Jahre 1725 begann eine Entwicklung der russländischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert, an

2 Denis Shaw, St. Petersburg and Geographies of Modernity in Eighteenth-Century Russia. In: Anthony Cross (Hg.), St. Petersburg, 1703–1825. Basingstoke 2003, S. 6–29. 3 Siehe u. a.: Lidija Nikolaevna Semenova, Byt i naselenie Sankt-Peterburga (XVIII vek). SanktPeterburg 1998; George Munro, The most intentional city. St Petersburg in the reign of Catherine the Great. Madison 2008; Arthur George/Elena George, St Petersburg. A History. Gloucestershire 2006, S. 70–209; Anthony Cross, By the banks of the Neva. Chapters from the Lives and Careers of the British in Eighteenth Century Russia. Cambridge 1997. 4 Zu den realen deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen im 18. Jahrhundert siehe: Elisabeth Harder-Gersdorff, St. Petersburg in der Geschichte der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehun­ gen des 18. Jahrhunderts. In: Helmut Hubel/Joachim von Puttkamer/Ulrich Steltner (Hg.), Ein europäisches Rußland oder Rußland in Europa? – 300 Jahre St. Petersburg. Baden-Baden 2004, S. 53–82.

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der eine Vielzahl deutschsprachiger Wissenschaftler in hohem Maße beteiligt war.⁵ Die wichtigen geistigen Zentren, die an dieser Entwicklung ihren Anteil hatten, waren vor allem die Universitäten in Halle, Leipzig, Jena und etwas später auch besonders Göttingen.⁶ Der wissenschaftliche Austausch erfolgte nicht nur durch das Entsenden deutscher Wissenschaftler nach St. Petersburg, sondern auch durch die Tatsache, dass viele junge Russen in den genannten und anderen deutschen Städten studierten, darunter nicht zuletzt auch Lomonosov und Radiščev. Die wich­ tigsten geistigen Wegbereiter für die hier näher zu betrachtenden Protagonisten waren u. a. die beiden Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705–1783)⁷ und sein Mitarbeiter und späterer Gegner August Ludwig Schlözer (1735–1809)⁸, sowie der Chemiker und Naturforscher Peter Simon Pallas (1741–1811)⁹ und der Geograph Anton Friedrich Büsching (1724–1793).¹⁰ Die besondere Bedeutung dieser genannten vier Wissenschaftler für den hier zu behandelnden Zusammenhang besteht darin, dass aus dem wissenschaftli­ chen Umfeld und Wirkungskreis dieser Personen das Material und die Methodik entstand, welche zur Grundlage der hier zu behandelnden Forschungen wurden. Während zuerst Müller und darauf insbesondere Schlözer das historische Mate­ rial, also die Quellen, systematisch aufbereiteten, lieferten Pallas und Büsching mit ihren Forschungen die aktuelleren Informationen zur Situation in Russland sowie die Methodik zur genauen Beschreibungen ihrer Umwelt, welche später aufgegriffen wurde. Darüber hinaus bestanden auch persönliche Kontakte, wo­ durch diese wissenschaftliche Traditionslinie noch verstärkt wurde. Hier ist vor allem auf den intensiven Briefwechsel zwischen Büsching und Müller zu verweisen

5 Dazu ausführlich in: Judif’ Chaimovna Kopelevič, Osnovanie Peterburgskoj Akademii Nauk. Leningrad 1977, S. 65–109. 6 Zur besonderen Rolle Halles siehe Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1953. Zu deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehun­ gen im Allgemeinen während des 18. Jahrhunderts siehe: Conrad Grau/Sergej Karp/Jürgen Voss (Hg.), Deutsch-Russische Beziehungen im 18. Jahrhundert. Kultur, Wissenschaft und Diplomatie. Wiesbaden 1997. 7 Zu Müller in Russland: Peter Hoffmann, Gerhard Friedrich Müller (1705–1783). Historiker, Geo­ graph, Archivar im Dienste Russlands. Frankfurt am Main 2005. 8 Zu Schlözer in St. Petersburg: Martin Peters und Dirk Winkelmann, Netzwerk aus Kalkül. Die Karriere August Ludwig Schlözers in St. Petersburg. In: Dittmar Dahlmann, (Hg.), Die Kenntnis Rußlands im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert. Wissenschaft und Publizistik über das Russische Reich. Göttingen 2006, S. 125–138. 9 Zu Pallas: Folkwart Wendland, Peter Simon Pallas’ Rußlandschriften und ihre Rezeption in Deutschland. In: Dahlmann, Die Kenntnis, S. 139–178. 10 Zu Büsching in Russland: Peter Hoffmann, Anton Friedrich Büsching und Rußland. In: Dahl­ mann, Die Kenntnis, S. 69–84.

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und den Umstand, dass Büsching Schlözer die Anstellung in St. Petersburg durch den guten Kontakt zu Müller ermöglichte.¹¹ Desweiteren war der Sohn Schlözers, Christian von Schlözer (1774–1831)¹², der spätere Kollege bzw. Konkurrent Storchs auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Und schließlich wurde Georgi bei den Expeditionen der Akademie der Wissenschaften der Mitarbeiter von Pallas.

Statistikverständnis und Wissenschaftsdisziplinen Charakteristisch für dieses frühe Stadium der deutsch-russländischen Wissen­ schaft waren die noch kaum voneinander getrennten Disziplinen. Die von Büsching herausgegebenen wöchentlichen Nachrichten von neuen Landkarten und geogra­ phischen, statistischen und historischen Büchern und Schriften¹³ seien hier als ein geeignetes Beispiel für die sich noch stark vermischenden Wissenschaftsdiszi­ plinen genannt. Auch die von Pallas herausgegebenen „Nordischen Beiträge“ ent­ halten verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen und artikulieren darüber hinaus ein unmissverständliches Zeugnis zur Selbstverortung dieser deutschsprachigen Wissenschaftsgemeinde in St. Petersburg als dem Norden Europas zugehörig.¹⁴ Besonderes Augenmerk im Kontext der unscharf getrennten Wissenschafts­ disziplinen verdient der zeitgenössische Statistikbegriff. Die frühe „Statistik“ im deutschsprachigen Wissenschaftsraum, auch Universitätsstatistik genannt, besaß noch nicht den Charakter von mathematisch-empirischer Forschung, sondern es handelte sich eher um beschreibende Darstellungen und Schilderungen der Umgebung mit dem Ziel der möglichst vollständigen Ansammlung von Fakten und Begebenheiten in historisch und geographischer Dimension zum Zwecke der Erfor­ schung und Dokumentation von Staaten.¹⁵ Hieraus entwickelte sich erst zum Ende des 18. Jahrhunderts ein stärker auf Zahlen gestütztes Statistikverständnis – in

11 Hoffmann, Anton Friedrich Büsching, S. 75. 12 Zu Christian Schlözer in Russland: Joachim Zweynert, Eine Geschichte des ökonomischen Denkens in Rußland 1805–1905. Marburg 2002, S. 58–69. 13 Anton Friedrich Büschings wöchentliche Nachrichten von neuen Landcharten und geographi­ schen, statistischen und historischen Büchern und Schriften, 15 Jahrgänge. Berlin 1773–1787. 14 Den Hinweis auf eine nördliche Selbstverortung finden wir im Übrigen auch bei den in Riga erschienenen „Nordischen Miscellaneen“, herausgegeben von dem deutschbaltischen Aufklärer August Wilhelm Hupel. 15 Harm Klueting, Rußland in den Werken deutscher Statistiker des 18. Jahrhunderts. In: Mecht­ hild Keller (Hg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht, 18. Jahrhundert. München 1987, S. 248–271, hier S. 249–251.

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Russland vor allem anhand der durch Büsching gesammelten Informationen.¹⁶ Die weite Verbreitung des Statistikbegriffs in einem deskriptiv-enzyklopädischen Sinne zeigt sich auch an der Bemerkung Goethes, man lebe in „statistischen Zeiten“.¹⁷ Erst mit der Übernahme wirtschaftstheoretischer Lehren aus dem angelsäch­ sischen Raum, vor allem der Lehre Adam Smiths, unter dessen Schülern beson­ ders Ivan Andreevič Tret’jakov (1735–1776) hervorzuheben ist, gepaart mit der Verwendung der durch die genannten Wissenschaftler gesammelten Informatio­ nen entwickelte sich auch in Russland das heutige Verständnis einer auf Zahlen basierenden statistischen Wissenschaft als die so genannte politische Arithme­ tik heraus. Entscheidend für diese Entwicklung war das ausgeprägte Interesse an einer fortschrittlichen Wirtschaftsführung, die auf einer wissenschaftlichen Grundlage stehen sollte. Die Gründung der „Freien Ökonomischen Gesellschaft“ 1765 spiegelte das gestiegene Interesse an dieser Wissenschaft wider und bot die infrastrukturelle Voraussetzung für den wissenschaftlichen Austausch. Ein pu­ blikumswirksames Mittel hierfür waren die öffentlichen Ausschreibungen von Wettbewerben, beispielswiese zur Lösung der Leibeigenen-Frage im Interesse der nationalen Gesamtwirtschaft.¹⁸ Die hervorgehobene Bedeutung an wirtschaftli­ chen Fragen innerhalb der Wissenschaften wird auch daran ersichtlich, dass die ökonomische Gesellschaft die erste wissenschaftliche Gesellschaft Russlands über­ haupt war. Dies waren die Grundlagen für die Herausbildung der hier vorzustellen­ den Wissenschaftsdisziplin, die im Interesse der Nationalökonomie statistisches Material sammelte und in Verbindung mit einer regionalen Untersuchung – in unserem Fall St. Petersburg – zur Darstellung brachte.

16 Michail Vasile’vič Ptucha, Očerki po istorii statiskiki v SSSR, Bd. 1. Moskva 1955, S. 318–325. 17 „Ich eilte fort (von dem Markt in Bozen, T.P.) damit mich nicht irgend einer erkennte, und hatte ohne dies nichts da zu thun – Zwar wenn ich es recht gestehe: so ist es der Trieb und die Unruhe, die hinter mir ist; denn ich hätte gern mich ein wenig umgesehen und alle die Produkte beleuchtet die sich hierher zusammenschleppen. Doch ist das mein Trost, alles das ist gewiß schon gedruckt. In unseren statistischen Zeiten braucht man sich um diese Dinge wenig zu kümmern, ein andrer hat schon die Sorge übernommen, mir ists nur jetzt um die sinnlichen Eindrücke zu thun, die mir kein Buch und kein Bild geben kann, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme und daß ich meinen Beobachtungsgeist versuche, und auch sehe wie weit es mit meinen Wissenschaften und Kenntnissen geht, ob und wie mein Auge sieht, rein und hell ist, was ich in der Geschwindigkeit fassen kann und ob die Falten, die sich in mein Gemüth geschlagen und gedruckt haben, wieder auszutilgen sind“. Aus: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. III: Tagebücher, Bd. 1. Weimar 1887, S. 175. 18 Siehe dazu: Roger Bartlett, The Free Economic Society: the Foundation years and the Prize Essay Competition of 1766 on Peasant Property. In: Eckhard Hübner (Hg.), Rußland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus – Aufklärung – Pragmatismus. Köln (u. a.) 1998, S. 181–214.

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Russische Wissenschaftler und die Entstehung einer statistischen Wirtschaftswissenschaft Trotz der hier im Mittelpunkt stehenden deutschsprachigen Wissenschaftstradition darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass natürlich auch russische Wissenschaftler an der Entwicklung dieser Wissenschaftsdisziplin ihren Anteil hatten. Dazu sind vor allem zwei Studien zu nennen: Erstens ist aus lokalhis­ torischer Sicht mit Blick auf St. Petersburg auf die Studie von Andrej Bogdanov hinzuweisen, welche erst 1779 etwa 20 Jahre nach seinem Tode von Vasilij Ruban in überarbeiteter Form herausgegeben wurde.¹⁹ Zweitens ist die mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte des russländischen Außenhandels interessante Zusam­ menstellung dazu von Michail Čulkov zu erwähnen.²⁰ Insbesondere für Čulkov gilt, dass auch seinem Werk sowie seinem Lebenslauf eine gewisse Durchmischung von literarischen Komponenten und wissenschaftlich-statistischen Ansprüchen inhärent ist. Das Verdienst seiner Studie besteht darüber hinaus vor allem darin, dass er die Akten des Kommerzkollegiums zur Grundlage seiner Studien machte, die er als selbst im Staatsdienst dieser Behörde stehend aus erster Hand kann­ te.²¹ Der entscheidene Unterschied zu ihren deutschsprachigen Kollegen bestand jedoch vor allem darin, dass die hier genannten Wissenschaftler keinen Bezug zur deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft hatten und daher mit Ausnahme des Herausgebers Ruban, der in Moskau an der jungen Universität studiert hatte, im Grunde wissenschaftliche Quereinsteiger bzw. Autodidakten waren. Dadurch waren sie vom Netzwerk der hier behandelten Personen ausgeschlossen, was sich auch in der kaum gegebenen Rezeption ihrer Werke durch die deutschen Autoren widerspiegelte.

19 Andrej Bogdanov, Istoričeskoe, geografičeskoe i topografičeskoe opisanie Sanktpeterburga ot načala zavedenija ego s 1703 do 1751 god. Moskva 1903. 20 Michail Čulkov, Istoričeskoe opisanie rossijskoj kommercii pri vsech portach i granicach ot drevnich vremjan do nyne nastojaščago i vsech preimuščestvennych uzakonenij po onoj gosudar­ ja imp. Petra Velikago i nyne blagopolučno carstvujuščej gosudaryni imp. Ekateriny Velikija. Sankt-Peterburg 1781–1788. 21 Zu Čulkov und seinem Verdienst für die russische Wissenschaft siehe Aleksandr Jucht, Čulkov, Michail Dmitrievič (1743–1793). In: Anatolij Aleksandrovič Černobaev (Hg.), Istoriki Rossii. Moskva 2001, S. 75–81.

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Wilhelm Christian Friebe – Wegbereiter einer ökonomisch-statistischen Wissenschaft Eine mit Čulkov vergleichbare Position nahm der Aufklärer Wilhelm Christian Friebe (1761–1811) ein. Wie dieser besaß Friebe nur eine schwache Anbindung an die vorgestellte deutschsprachige Wissenschaftsgemeinde in St. Petersburg. Im Jahre 1761 in Thüringen geboren, studierte er nach dem Besuch des Gymnasiums in Hannover und Güstrow in Göttingen Theologie, Statistik und Naturwissenschaft, womit er der Ausbildung nach in das oben beschriebene Schema idealtypisch passt und siedelte 1784 nach Livland über, um dort als Hauslehrer tätig zu sein. Diese Beschäftigung bot ihm die Möglichkeit, als Schriftsteller äußerst produktiv zu sein und sich als Aufklärer insbesondere der Leibeigenen-Frage zu widmen.²² Für unseren Kontext ist er zum einen interessant, da er mit seinen Schriften insgesamt 15 mal durch die erwähnte Freie Ökonomische Gesellschaft ausgezeich­ net wurde und zum anderen vor allem dadurch, dass er ein mehrbändiges Werk zum russländischen Außenhandel verfasste.²³ Die spezifische Mischung aus lite­ rarischem Schaffen, politischem Engagement sowie statistisch-beschreibenden Darstellungen des Handels machen ihn zu einem wichtigen Vorläufer bzw. Vertre­ ter der frühen russländischen Wirtschaftswissenschaft. Seine Studien sind eine wichtige Ergänzung zum Werk von Čulkov, auf das sich Friebe nicht bezieht, und von unschätzbarem Wert als Quelle für die Erschließung der quantitativen Aspekte des russländischen Außenhandels und der zentralen Rolle St. Petersburgs als aufstrebender Hafen. Zudem verdeutlicht sein Werk die Bedeutung des Handels innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen. So beginnt seine Darstellung mit der vielsagenden Bemerkung: „Nichts hat auf die allgemeine Landeskunde und Industrie einen größeren Einfluss, und nichts ist näher mit einander verbunden, als Handlung und Oekonomie.“²⁴ Desweiteren vereint die Studie wie bereits oben erwähnt Eigenschaften einer historischen Beschreibung und einer aktuellen Bestandsaufnahme, was sie in besonderem Maße für heutige HistorikerInnen als Quelle interessant macht. In­ haltlich findet sich bei Friebe eine Linie, die bei Georgi und Storch noch fortgesetzt

22 Zu Friebe siehe Andrew James Blumbergs, The Nationalization of Latvians and the Issue of Serfdom. The Baltic German Literary Contribution in the 1780s and 1790s. New York 2008, S. 146–155. 23 Wilhelm Christian Friebe, Ueber Rußlands Handel, landwirthschaftliche Kultur, Industrie und Produkte. Nebst einigen physischen und statistischen Bemerkungen. Gotha (u. a.) 1796–1798. 24 Ebenda, Bd. I: Die nach dem schwarzen Meere zu gelegenen russischen Provinzen. Gotha (u. a.) 1796, S. IV.

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wurde, nämlich die Trias aus Peter I., Handel und St. Petersburg, wodurch ein Wirkungszusammenhang hergestellt wird, welcher positiv kontrastierend gegen­ über alten Stereotypen über Russland erscheint. So schreibt Friebe über Peter I. und seine Auswirkung auf die russische Geschichte: „Ein Monarch erscheint jetzt in Rußland, der sein Reich beinah mit Göttermacht metamorphorierte.“²⁵ Seine Hauptleistung habe weiterhin darin bestanden, „erster tätiger Stifter einer eigenen Flotte und eines ausgebreiteten und gesicherten Handels auf der Ostsee gewesen zu sein“.²⁶ In ähnlich euphorischer Weise fährt Friebe fort und stellt den genannten Wirkungszusammenhang zwischen Peter I., St. Petersburg und dem Handel dar: Russland hat jetzt eine andere Staatsverfassung, eine andere Kultur, andere Wissenschaften und zum Teil auch andere Sitten, als es im vorigen Jahrhundert besaß. Und diese Verände­ rung ist Folge der Gründung von St. Petersburg, der Errichtung einer Kriegsflotte auf der Ostsee und auf dem Weißen Meere, und der, durch die erhaltenen Ostseeprovinzen mit dem übrigen Europa geöffneten näheren Verbindung. Der dadurch zugleich vergrößerte Handel hat dies Reich so metamorphoriert, dass es Einem aus dem vorigen Jahrhundert Wiederzurückgekehrenden nicht mehr kenntlich wäre.²⁷

Der in Livland lebende Friebe vergisst weiterhin nicht zu betonen, dass seiner Ansicht nach, der deutschbaltischen Bevölkerung der Ostseeprovinzen ein be­ sonderes Verdienst bei den positiven Veränderungen Russlands im Bereich des Handels zukomme, was in dieser Form bei Georgi oder Storch so nicht zu finden ist: Die vielen eingewanderten Ausländer, die im Innern des Reiches zerstreuten schwedischen Offiziere, noch mehr aber die Bewohner der Ostseeischen, jetzt mit Rußland vereinigten, Provinzen, vorzüglich die deutschen Liv- und Estländer, trugen zur wachsenden Kultur, zu einer zweckmäßigeren Ökonomie und zu einem unternehmenderen und besser geordneten Handel sehr vieles bei. So wuchs unter den folgenden Regierungen von Jahr zu Jahr durch ganz Russland der Handel.²⁸

Dabei ist zu betonen, dass Friebe keineswegs alle „eingewanderten Ausländer“ positiv im Sinne der Modernisierung Russlands bewertet. Vielmehr unterscheidet er zwischen einem nordeuropäisch positven Einfluss auf Russland, welcher an

25 Ebenda, Band II: Die mittleren und nördlichen Provinzen des europäischen Rußlands. Gotha (u. a.) 1797, S. 95. 26 Ebenda, S. 96. 27 Ebenda, S. 105. 28 Ebenda, S. 109.

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das Modell einer prostestantisch-kapitalistischen Ethik Max Webers erinnert, und einem dekadenten westlichen Einfluss von Seiten Frankreichs: Wenn sich zugleich mit dieser Veränderung eine falsche Richtung von Kultur und ein ver­ derblicher Luxus mit verpflanzte, so war dies Folge der nachherigen Convenienz, nicht Peters Absicht. Peter suchte die reelle Thätigkeit der Deutschen, Engländer und Holländer in seine Staaten zu verpflanzen; aber die folgenden Generationen verachteten diesen Wink. Man griff nach den schimmernden leichten französischen Auswüchsen von sympathischen Gefühlen geleitet, und es entstand in denen sich nach französischen Sitten bildenen Klassen eine bastartartige Kultur in der weder das Angeborene noch das Fremde mehr kenntlich war.²⁹

Johann Gottlieb Georgi – Wegbereiter einer umfassenden Stadtbeschreibung St. Petersburgs Deutlich stärker mit der wissenschaftlichen Gesellschaft der Hauptstadt verbunden war Johann Gottlieb Georgi (1729–1802)³⁰. Wie Friebe im Reich – genauer Pom­ mern – geboren, wurde Georgi an den Universitäten Stettin und in Uppsala bei Carl von Linne zum Chemiker/Pharmazeuten ausgebildet und kehrte zunächst nach Stendal ins Reich zurück, um eine eigene Apotheke zu führen, bevor er 1770 nach Russland kam, um an den Expeditionen Pallas teilzunehmen und so in das aka­ demische Umfeld der Wissenschaftlichen Akademie eingeführt zu werden, deren Mitglied er 1783 wurde. Berühmtheit erlangte er vor allem durch seine umfassenden Beschreibungen des Russländischen Reiches und seiner Völkerschaften³¹, deren thematische Bandbreite weit über die Spezialkenntnisse eines Chemikers hinaus­ gingen und eher im Bereich der Geographie oder Anthropologie zu verorten sind, was ihn wiederum nicht daran hinderte, auch ein ebenso umfangreiches Werk zu den „Geographisch-physikalischen und Naturhistorischen“ Begebenheiten des Russländischen Reiches zu verfassen.³² Die besondere Bedeutung Georgis in unserem Kontext besteht in der Zusam­ menführung der ersten Stadtbeschreibungen St. Petersburgs durch Bogdanov/

29 Ebenda, S. 105. 30 Zur Person siehe Natascha Astrina, Schamanen und Pflanzendrogen, St. Petersburg und die Landbevölkerung. Der Beitrag Johann Gottlieb Georgis zu den Kenntnissen über Rußland. In: Dahlmann, Die Kenntnis, S. 179–200, hier S. 180 f. 31 Johann Gottlieb Georgi, Beschreibung aller Nationen des Russischen Reiches, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidung und übrigen Merkwürdigkeiten. St. Petersburg 1776. 32 Johann Gottlieb Georgi, Geographisch-physikalische und naturhistorische Beschreibung des Russischen Reichs zur Uebersicht bisheriger Kenntnisse von demselben Typ. Königsberg 1797.

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Ruban mit einer aus dem mitteldeutschen Raum stammenden spezifischen „sta­ tistischen“ Methode der Stadtbeschreibung, wie sie Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811) in seiner 1769 erstmals erschienenen Stadtbeschreibung Berlins vorge­ nommen hatte.³³ Dieses Werk wurde Georgi zum Vorbild für seine bahnbrechen­ de Studie „Versuch einer Beschreibung der Russisch-Kaiserlichen Residenzstadt St. Petersburg und der Merkwürdigkeiten der Gegend“ von 1790.³⁴ Darin unternahm Georgi den Versuch, eine möglichst genaue Bestandsauf­ nahme der Stadt St. Peterburg zu leisten, indem er sowohl die einzelnen Stadtteile nacheinander umfassend beschrieb als auch zugleich die Eigenheiten der Bewoh­ ner mit zum Teil anekdotischen Akzenten schilderte. Aber auch empirische Daten zur Handelsgeschichte der Stadt im Verlauf des Jahrhunderts finden sich in Form von statistischen Angaben zum Schiffsverkehr sowie die eingehende Schilderung rechtlicher Rahmenbedingungen des Handels in der Hauptstadt des Russländi­ schen Reiches.³⁵ Auch in diesem stadtgeschichtlichen Werk kommt die Bedeutung des Handels im Allgemeinen und mit Blick auf die Stadt St. Petersburg und Ihrem Gründungszusammenhang im Besonderen klar zum Ausdruck: „Bei der Anlage St. Petersburgs hatte Peter der Große vorzüglich auch den Handel zum Augen­ merk.“³⁶ Darüber hinaus verweist Georgi auf die weiterreichenden kulturellen Folgen des Handels auf die Stadtentwicklung: „St. Petersburg ist eine europäische Residenz eines glänzenden Kaiserhofes, und hat dadurch und wegen des ausge­ breiteten Seehafens mit anderen europäischen Residenzen und Handelsstädten, so wie in der ganzen Verfassung, also auch in der Lebensart überhaupt eine große Ähnlichkeit.“³⁷ Des Weiteren ist in diesem Zitat die besondere Rolle des Handels als Bedingung eines möglichen kulturellen Fortschritts Russlands im Zeitalter der Aufklärung deutlich ersichtlich. Dadurch verstärkt sich zugleich die Kontrastierung eines fortschrittlichen, durch Handel mit Westeuropa entstehenden Russlands in St. Pe­ tersburg mit alten Stereotypen eines rückständigen, „asiatischen“ Russlands, wie Georgi weiter ausführt: „Bei der ganzen europäischen Lebensart in St. Petersburg, erhält sich die asiatische Sitte, bei Vornehmen nicht nur, sondern auch bei vie­

33 Friedrich Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam und aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten. Berlin 1769. 34 Johann Gottlieb Georgi, Versuch einer Beschreibung der Rußisch Kayserlichen Residenzstadt St. Petersburg und der Merkwürdigkeiten der Gegend. Berlin 1790. Übersetzung ins Russische 1796, Nachdruck: Johann Gottlieb Georgi, Opisanie rossijsko-imperatorskogo stoličnogo goroda Sankt Peterburga i dostoprimečatel’nostej v okrestnostjach. Sankt Peterburg 1996. 35 Georgi, Versuch einer Beschreibung, S. 161 f. 36 Ebenda, S. 159. 37 Ebenda, S. 356.

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len vom Mittelstande, durch zahlreiche Bediente zu glänzen“.³⁸ Allerdings findet sich bei Georgi nicht die Unterscheidung in einen „guten“ westlichen Einfluss aus den protestantischen Ländern des Nordens und einen „schlechten“ dekadenten Einfluss aus Frankreich.

Heinrich Friedrich von Storch – Vollender der statistisch-ökonomischen Stadtbeschreibung Der bedeutendste Vertreter dieser wissenschaftlichen Traditionslinie und gewis­ sermaßen ihr Vollender war Heinrich Friedrich von Storch (1766–1835).³⁹ Im Un­ terschied zu den bisher genannten – auch zum hauptsächlich in Livland tätigen Friebe – stammte Storch als Einziger nicht aus Deutschland, sondern wurde 1766 in Riga geboren, also im Russländischen Reich. Doch verließ er nach dem Besuch der Domschule Riga, um zunächst in Jena, später in Heidelberg Philosophie und Rechtswissenschaften zu studieren. Im Jahre 1788 bot sich ihm die Möglichkeit, in St. Petersburg an der Kadettenschule zu unterrichten, wo er Bekanntschaft mit der Zarenfamilie selbst machte und zum Erzieher von Nikolai, dem späteren Herrscher und seinem Bruder Michail wurde. Der Aufstieg setzte sich fort und 1830 wurde er zum Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften ernannt. In seinen frühen St. Petersburger Jahren erlangten seine statistischen Werke Ruhm und begründeten seinen schnellen Aufstieg bis an den Hof der kaiserlichen Fa­ milie. Noch größere Bedeutung erzielte er jedoch mit seinen späteren Schriften, welche die Ebene der reinen Beschreibung und statistischen Darstellung verließen und stärker analytisch-theoretischer Art waren. Somit wurde er neben dem bereits erwähnten Christian Schlözer zum ersten russischen Nationalökonomen.⁴⁰ In wie weit aufgrund der Herkunft dieser beiden Wissenschaftler und ihres wissenschaft­ lichen Umfeldes von einer deutsch-russischen Schule gesprochen werden kann, ist eine kontrovers diskutierte Frage, welche hier aber nicht im Fokus des Inter­

38 Ebenda, S. 364. 39 Zur Person siehe Nikolaj Storch, Biographischer Abriß der wissenschaftlichen und dienstlichen Tätigkeit Andrej Karlovič Storchs. In: Heinz Rieter/Leonid Sirokorad/Joachim Zweynert (Hg.), Deutsche und russische Ökonomen im Dialog. Marburg 2008, S. 101–113. 40 Zur Rolle Storchs in der Entwicklung des ökonomischen Denkens in Russland siehe Roderick McGrew, Dilemmas of Development: Baron Heinrich Friedrich Storch (1766–1835) on the Growth of Imperial Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 24 (1976) 1, S. 31–71; Anton Leonidovič Dmitriev, Heinrich von Storchs Werk aus russischer Sicht. In: Rieter, Deutsche und russische Ökonomen, S. 71–99.

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esses steht.⁴¹ Ohne Zweifel überragte der Ruhm Storchs den Schlözers noch und erreichte internationale Ausmaße, was sich unter anderem auch daran erkennen lässt, dass seine Werke meist zuerst auf Französisch erschienen und sehr stark im Ausland rezipiert wurden. Storchs berühmtestes Werk ist der „Cours d’economie politique“ von 1815, der den Grundstein für das ökonomische Denken in Russland im 19. Jahrhundert legte.⁴² Hier stehen jedoch andere Schriften bzw. eine andere Schaffensperiode Storchs im Mittelpunkt. Die Vollendung der dargestellten Entwicklung der deutsch-russi­ schen Wissenschaft im 18. Jahrhundert ist vor allem darin zu sehen, dass Storch zum Ende des Jahrhunderts zwei Entwicklungslinien in seinem Werk zusammen­ führte. Zum einen ist sein Werk „Gemälde von St. Petersburg“ von 1794⁴³ und das zwischen 1797 und 1803 in mehreren Bänden erschienene, aber unvollstän­ dig gebliebene „Historisch-Statistische Gemälde des Russisches Reichs am Ende des achtzehnten Jahrhunderts“⁴⁴ als Fertigstellung der Arbeiten von Friebe zu verstehen. Storch führte dessen Materialsammlungen zur Entwicklung des Au­ ßenhandels mit denen von Čulkov zusammen, vervollständigte sie und machte auf diese Weise seine Studie zur wertvollsten Quelle für die Erforschung der Ent­ wicklung des russländischen Außenhandels im 18. Jahrhundert und der zentralen Rolle St. Petersburgs in diesem Zusammenhang. Zum anderen stellt das Gemälde eine konsequente Weiterführung der Arbeiten von Georgi zur Beschreibung der Stadt St. Petersburg als umfassende Momentaufnahme dar, die mehr statistisches Material verwendet als Georgi in seiner Darstellung. Diese spezifische Zusammen­ führung des alten und neuen Statistikbegriffs in den Arbeiten Storchs zum Ende des Jahrhunderts zeigte sich auch in dem weniger umfangreichen Werk „Statistische Statthalterschaften des Russischen Reichs nach ihren merkwürdigsten Kultur­ verhältnissen in Tabellen“ von 1795.⁴⁵ Die Art und Weise, wie hier ein literarisch motivierter Stil zu den statistischen Zahlenkolonnen in Tabellen in Beziehung gesetzt wurde, bildete den Abschluss einer Entwicklung; von da an bewegten sich die Wissenschaftsdisziplinen auseinander, Storch selbst widmete sich den

41 Ein relativierendes und differenziertes Urteil hierzu bei: Zweynert, Eine Geschichte des ökono­ mischen Denkens in Rußland, S. 93–108. 42 Heinrich Friedrich von Storch, Cours d’économie politique ou exposition des principes qui déterminent la prospérité des nations. St. Petersburg 1815. 43 Heinrich Friedrich von Storch, Gemählde von St. Petersburg. 2 Bde. Riga 1794. 44 Heinrich Friedrich von Storch, Historisch-statistische Gemälde des russischen Reichs am Ende des achtzehnten Jahrhunderts und unter der Regierung Katharina der Zweyten. Riga 1797–1803. 45 Heinrich Friedrich von Storch, Statistische Übersicht der Statthalterschaften des russischen Reichs nach ihren merkwürdigsten Kulturverhältnissen. Riga 1795.

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theoretischen Fragen der Nationalökonomie und wurde damit als Quelle für die Beschreibung St. Petersburgs und seines Hafens uninteressant. Wie vor ihm bereits Georgi und Friebe verweist Storch dabei auf die besondere Rolle des Handels und der Stadt St. Petersburg für die enormen Fortschritte Russ­ lands im 18. Jahrhundert, angestoßen durch den rundweg positiv bewerteten Peter den Großen. So sieht Storch St. Petersburg als Ausgangspunkt einer Entwicklung seit Peter I.: „Dem Handel öffnet sich eine neue Welt, und die Künste, die Sitten, der Luxus, die Tugenden und Laster des westlichen Europa finden eine willige Auf­ nahme in den Steppen des östlichen Asiens und an den unwirthbaren Küsten des Eismeeres. – Die Epoche dieser merkwürdigen Erschütterung ist der Anfang des achtzehnten Jahrhunderts.“⁴⁶ Zu der auch bei Friebe und Georgi stark vertretenen Triade aus Peter I., Handel und St. Petersburg tritt bei Storch noch eine besondere Verehrung Katharinas II., die wegen oder rückblickend eher trotz ihrer liberalen Wirtschaftspolitik als berechtigte und ebenbürtige Erbin Peters dargestellt wird. In diesem Sinne schildert Storch die Eröffnung des Denkmals von Étienne-Maurice Falconet besonders ausführlich.⁴⁷ Insgesamt ist der Ton insbesondere im Vergleich zu Friebe jedoch deutlich nüchterner und um wissenschaftliche Exaktheit bemüht. Eine überraschende Akzentuierung erfährt die Darstellung St. Petersburgs als „nördliche“ Metropole, indem Storch ausgerechnet das sonst so viel gescholtene Klima romantisiert: Der Winter ist unsere beste Jahreszeit und hat große Vorzüge vor seinen feuchten und neb­ lichen Brüdern in südlichen Ländern. Eine ausdauernde gleiche Kälte stärkt und erfrischt den Körper. Die vortreffliche Schlittenbahn erleichert das Reisen und macht es angenehm; eine Winterreise bey mäßiger Kälte in mondhellen Nächten ist ein Genuß den man nur unter diesem Himmelsstrich kennt.⁴⁸

Fazit Die vorgestellten Beispiele deutschsprachiger Wirtschaftswissenschaftler des aus­ gehenden 18. Jahrhunderts lieferten ihren Beitrag zur Herausbildung einer spezi­ fischen Wissenschaftskultur, die zum einen St. Petersburg als geistiges Zentrum hatte und zweitens sich selbst zum Forschungsgegenstand machte. Das Ergebnis dieser Wissenschaftskultur in St. Petersburg um Friebe, Georgi und schließlich

46 Storch, Historisch-statistische Gemälde des russischen Reichs, S. VI f. 47 Storch, Gemählde von St. Petersburg, S. XV f. 48 Ebenda, S. 8 f.

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Storch war nicht zuletzt das Aufbrechen alter und heute wieder neuer Stereotype im Zeitalter der europäischen Aufklärung. Zwei Aspekte stehen dabei im Vordergrund: Erstens hatten die vorgestellten Beispiele auf ihrem Feld der Wirtschaftswis­ senschaften ihren Anteil daran, dass St. Petersburg als Symbol für die Nivellierung einer im europäisch-russischen Denken fest verankerten Ost-West-Dichotomie zu verstehen ist. Wenn man Wolff folgt, dass Osteuropa im 18. Jahrhundert „erfunden“ wurde, so zeigen die behandelten Beispiele, dass St. Petersburg eine Sonderrolle zukommt, da eine Lokalisierung dieser Stadt zwischen Osten, Westen und Norden im Mental Mapping der genannten deutschsprachigen Wissenschaftler äußerst schwierig ist und am ehesten noch eine nördliche Zuordnung möglich erscheint. Dies ist an den Titeln der herausgebenen Zeitschriften ebenso ersichtlich wie an der Tatsache, dass neben den beschriebenen engen kulturellen Beziehung mit den Universitäten in Mitteldeutschland auch Schweden einen starken Einfluss auf das geistige Umfeld der Protagonisten ausübte. Als Beispiel zu nennen wäre der Studienaufenthalt Georgis in Uppsala und der große Einfluss, den der hier noch nicht erwähnte schwedische Forscher Peter Falck auf die deutschsprachige Wissenschaftsgemeinde ausübte. Desweiteren verdeutlichen die Ausführungen Friebes, dass auf der anderen Seite auch der Westen keinesfalls monolitisch verstanden wurde, wie die abfälli­ gen Bemerkungen zum kulturellen Einfluss aus Frankreich eindrucksvoll belegen; auch dieser Umstand untergräbt eine eindeutige West-Ost-Dichotomie. Eine solche ist aber jenseits der Frage der Selbstwahrnehmung und des Mental Mappings der deutschsprachigen Wissenschaftler auch deswegen fragwürdig, da die Stadt als Wissenschaftsstandort in der vorgestellten Disziplin auf ganz Europa ausstrahl­ te und in dieser Funktion umso weniger Teil eines „rückständigen“ Osteuropas war. Die Herausbildung der vorgestellten Wissenschaftskultur, die sich selbst zum Forschungsgegenstand machte und dies zunehmend mit Methoden, die verschie­ dene Wissenschaftstraditionen zusammenführte, stand in enger Verbindung mit einer gesamteuropäischen Entwicklung. Es handelte sich sowohl um statistische Materialsammlungen, die bis heute von unschätzbarem Wert sind, als auch um literarisch motivierte Darstellungen von „Merkwürdigkeiten“ – und beides noch dazu in sowohl diachroner als auch synchroner Dimension. Die Konkretisierung des Statistikbegriffs hin zu seiner heute üblichen Bedeutung begleitete diesen Prozess und fand in den Arbeiten Storchs kurz vor der Jahrhundertwende sei­ nen Höhepunkt, bevor sich die russländische Wissenschaftslandschaft personell veränderte und anderen Themen zuwandte. Zweitens zeigen die vorgestellten Ausführungen zur handelspolitischen Bedeu­ tung der Stadt als Binnen- und als Außenhafen die einschneidende Verschiebung bezüglich der Diskurse über das Verhältnis von Peripherie und Zentrum innerhalb des russländischen Imperiums, an der die umfangreichen Forschungen an der

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Akademie der Wissenschaft wesentlichen Anteil hatten.⁴⁹ St. Petersburg erscheint auf diese Weise nicht nur aufgrund der oft beschriebenen architekturgeschichtli­ chen und personell bedingten Verbundenheit mit Westeuropa als die idealtypische Verkörperung der russländischen Variante der europäischen Aufklärung.⁵⁰ Es kann vielmehr als eine solche gelten wegen der beschriebenen Innovation im kultu­ rellen Denken zwischen Ost-West-Dichotomien, im Diskurs zum Verhältnis von Peripherie und Zentrum und der dadurch erreichten Modifikation der Tektonik der russländischen Selbstidentifikation. Die wissenschaftliche Erfassung dieses Phä­ nomens war zentraler Bestandteil der hier vorgestellten Wissenschaftsdisziplin, die somit eine zentrale Rolle im kulturellen Denken der russländischen „Sattelzeit“ spielte.⁵¹

49 Zur Rolle der St. Petersburger Wissenschaft im imperialen Selbstverständnis Russlands im 18. Jahrhundert siehe Marcus Köhler, Russische Ethnographie und imperiale Politik im 18. Jahr­ hundert. Göttingen 2012. 50 Michael Schippan, Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2012, S. 173–202. 51 Es wäre noch zu prüfen, in wie weit die genannten Wissenschaftler an der Schaffung einer imperialen Identität in der Hauptstadt ihren Anteil hatten, welche zur Peripherie Russlands in ein Verhältnis der „Inneren Kolonisation“ nach Etkind trat. Mehr dazu: Ganna Grebennikova, Rezension zu: Aleksandr Etkind, Internal Colonization. Russia’s Imperial Experience, in: Ideology and Politics, 2 (2012), S. 60–66.

Klemens Kaps

Kulturelle Vorstellungswelten der Politischen Ökonomie: Bilder des habsburgischen Ostens im kameralistischen Diskurs zwischen den Wendejahren 1683 und 1815 Die Verortung der Habsburgermonarchie im Diskurs über das östliche Europa im „Zeitalter der Vernunft“ ist ein komplexes, wie auch ertragreiches Unterfangen. Da sich in einem gemeinsamen politischen Rahmen Räume und Gesellschaften kreuzten, die sowohl als Protagonisten wie auch als Objekte dieses vielschichtigen diskursiven Feldes reklamiert werden, lässt sich die Frage nach der Entstehung ei­ nes hegemonialen Osteuropadiskurses im Lauf des 18. Jahrhunderts anhand eines Raums nachzeichnen, den Moritz Csáky infolge seiner sozio-kulturellen Heteroge­ nität und Pluripolarität als „Erfahrunglaboratorium“¹ für interkulturelle Kontakte bezeichnete. Als besonderes Feld dieser vielfältigen Verflechtungen, die unter anderem von dem politischen System, den gesellschaftlichen Bräuchen bis hin zu Bildung und Wissen reichten, werden im Folgenden die kulturellen Vorstellungs­ welten der Politischen Ökonomie unter die Lupe genommen. Das 18. Jahrhundert markierte neben den vielfältigen ideengeschichtlichen Innovationen auch eine „Neudefinition der Ökonomie“.² Aus der räumlich und zeitlich heterogenen Ko­ existenz der Paradigmen Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie und frühem Liberalismus, die um die Deutungshegemonie über Ökonomie, Staat und Gesell­ schaft konkurrierten, setzte sich schlussendlich im frühen 19. Jahrhundert letzterer als wirtschaftliches Leitprinzip durch.³ Kameralistisches Denken gelangte insbe­

1 Moritz Csáky, Pluralität. Bemerkungen zum „dichten System“ der zentraleuropäischen Region, in: Neolitheon, XXIII/1 (1996), S. 9–30. 2 Karl Vocelka, Glanz und Untergang der höfischen Welt. Österreichische Geschichte von 1699–1815. Wien 2001, S. 18. 3 Matthias Bohlender, Metamorphosen des liberalen Regierungsdenkens. Politische Ökonomie, Polizei und Pauperismus. Weilerswist 2007; Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwis­ senschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert. Köln/Weimar 1999; Günter Bayerl, Die Natur als Warenhaus. Der technisch-ökonomische Blick auf die Natur in der Frühen Neuzeit. In: Sylvia Hahn/Reinhold Reith (Hg.), Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder, Forschungsansätze, Perspektiven (=Querschnitte Bd. 8). Wien/München 2001, S. 33–52. DOI 10.1515/9783110499797-012

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sondere über die Universitäten im Alten Reich, insbesondere Leipzig und Jena, ab der Jahrhundertmitte in die Habsburgermonarchie und an den Wiener Hof und prägte die administrativen, fiskalischen und sozialen Reformen nach 1748 entscheidend.⁴ Im Folgenden wird beleuchtet, wie sich diese Neuverortung der Ökonomie mit Bildern und Images vom „östlichen Europa“ innerhalb der Habsburgermonarchie verschränkte. Anders formuliert gilt es herauszuarbeiten, wie die entstehende Politische Ökonomie anhand ihrer Kategorien eine neue Wahrnehmung kulturel­ ler Differenzen entwickelte und diese mit räumlichen und sozialen Hierarchien in Zusammenhang brachte. Diesem Untersuchungsstrang liegt eine theoretische Debatte über die Interpretation der ökonomischen Diskurse aufklärerischer Texte zugrunde, in der sich sozialgeschichtliche Repräsentation und kulturwissenschaft­ liche Dekonstruktion gegenüberstehen. Ganz im Sinn des zweiten theoretischen Zugangs übte Larry Wolff in seinem Buch „Inventing Eastern Europe“ Kritik an der Betrachtungsweise von Immanuel Wallerstein, der Osteuropa in seinem weltsyste­ mischen Raster als eine seit dem 16. Jahrhundert von Nordwesteuropa wirtschaft­ lich abhängige Peripherie deutet – und so ein mental mapping evoziere, das selbst auf dem Konstrukt des östlichen Europas aufbaue. Dementsprechend, argumen­ tiert Wolff, sei die Wahrnehmung der Armut Osteuropas im 18. Jahrhundert durch westliche Beobachter in einem durch kulturelle Vorurteile durchzogenen Modell von Unterentwicklung gemündet.⁵ Die Bezugspunkte dieser nicht ausgetragenen Kontroverse lassen sich ge­ winnbringend miteinander verbinden und als perspektivische Leitlinie auf den sozialen und wirtschaftlichen Diskurs der Habsburgermonarchie übertragen. Im Zentrum steht dabei die im Zuge der sozioökonomischen Transformation des 18. Jahrhunderts und der damit einhergehenden überregionalen Verflechtungsund Konkurrenzprozesse geprägte Selbst- und Fremdwahrnehmung des habsbur­ gischen Zentraleuropas. Dabei lassen sich zwei Wahrnehmungsstränge unterscheiden: Einerseits die Verortung innerhalb der Monarchie, d. h. die unterschiedlichen Differenzierun­ gen entlang räumlicher und sozialer Demarkierungen, ganz im Stil jenes Diktums vom „verkleinerten Abbild der Weltwirtschaft“, das Jenő Szűcs vor mehr als drei Jahrzehnten formulierte.⁶ Andererseits interessiert die nach außen gerichtete bzw.

4 Christine Lebeau, Aristocrates et grands commis à la Cour de Vienne (1748–1791). Le modèle français. Paris 1996, S. 99, 103 f.; Vocelka, Glanz, S. 19. 5 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1995, S. 3 f., 8. 6 Jenő Szűcs, Die drei historischen Regionen Europas. Frankfurt am Main 1990, S. 80.

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von außen kommende Wahrnehmung, d. h. die Platzierung der Habsburgermonar­ chie im Kontext der internationalen Arena. Gerade die Verschränkungen zwischen beiden Ebenen führen dabei ins Zentrum der Überlegungen: Inwieweit und aus welcher Sichtweise wurde die Habsburgermonarchie im ökonomischen Diskurs als osteuropäischer Raum kodiert? Als zeitliche Klammer dienen hier die Jahre 1683 und 1815 – die Etappen sind markiert durch den Auftakt zur habsburgischen Expansion nach Ostmittel- und Südosteuropa, sowie durch den Plafond, den das josefinische Reformprojekt mit der gescheiterten Urbarialsteuerreform erreichte und die relativ rasch folgende konservative Wende, die der Wiener Kongress weiter festigte. Anders ausgedrückt wird eine Phase zwischen äußerem Machtgewinn einerseits und der Grenze für aufgeklärte Reformpolitik im Inneren und ihrem Streben nach Homogenisierung und Zentralisierung andererseits betrachtet. Der Fokus liegt dabei auf Bildern und Images, die einen Nexus zwischen Räu­ men und Gesellschaften herstellen und ein spatiales Ordnungsschema entspre­ chend sozialer Einordnungsraster konstruieren. Die Politische Ökonomie des Ka­ meralismus erweist sich hierbei als ein Schlüsselparadigma, da sie wirtschaftliche Entwicklung auf das politische Territorium bezog und in weiterer Folge das Pri­ mat des Staats sowohl für die Regulierung des Raums und der Naturressourcen als auch der Bevölkerung reklamierte.⁷ Dabei wurde der „Ressource Mensch“ als Arbeitskraft große Aufmerksamkeit gewidmet: Es galt die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung zu bewerten und deren Motivations- und Handlungsdisposition zu begreifen, um Anreize für eine Steigerung des Arbeitseinsatzes zu schaffen.⁸ Dieses Leitdispositiv von der „Konditionierung des Humankapitals“⁹ wurde durch ein Bündel an Bewertungskriterien strukturiert, die die Felder Hygiene, materielle Kultur, Infrastruktur und Arbeitsproduktivität umfassen. Deren Einstufung er­ folgte durch dichotome Kategorien wie Schmutz/Reinlichkeit, Faulheit/Fleiß bzw. Trägheit/Arbeitsamkeit und liederlich/ordentlich. Indem sie wiederum mit den übergeordneten Leitmotiven wild bzw. roh/kultiviert, Barbarei/Zivilisation logisch verknüpft waren, dienten sie als Bezugspunkte und Maßstäbe für sprachliche Bilder und Stereotype. Diese Kategorien folgten den taxonomischen Ordnungssys­ temen aufklärerischen Denkens und wurden neben der Ökonomie auch von der entstehenden Statistik sowie der Anthropologie reklamiert. Die Überlappungen zwischen diesen Disziplinen, ihren Quellengattungen, sowie ihren Autoren lässt

7 Guillaume Garner, Caméralisme et territoire. Ètat, espace et économie dans le discours écono­ mique allemand au XVIIIe siècle, in: Revue du Nord, 85 (octobre–décembre 2003), S. 729–745, hier S. 730 f., 735 f.; Sandl, Ökonomie des Raumes, S. 117–119, 287, 289 und 295. 8 Sandl, Ökonomie des Raumes, S. 319 f., 330 f., 335–339 und 342. 9 Bayerl, Natur, S. 37 f.

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somit ein vielschichtiges diskursives Feld in Erscheinung treten, aus dem hier die Politische Ökonomie analytisch herausgefiltert wird.¹⁰

Subalterne Selbstwahrnehmung des Frühen Kameralismus: Die Binnenperspektive von Hörnigk Am chronologischen Ausgang steht dabei ein im zeitgenössischen Diskurs bis weit ins 18. Jahrhundert hinein rezipierter Text, wie dessen vier Neuauflagen – die letzte aus dem Jahr 1753 – demonstrieren. Philipp Freiherr von Hörnigks „Österreich über alles, wenn es nur will“ aus dem Jahr 1684 zählt unter WirtschaftshistorikerInnen und ÖkonomInnen zu den Gründungstexten der politischen Ökonomie und prägte maßgebend den zentraleuropäischen Kameralismus des 18. Jahrhunderts.¹¹ Ein Jahr nach dem Ende der Belagerung Wiens durch osmanische Truppen beschäftigte Hörnigk die materielle Sicherung des Staatswesens. Sein Kernargument lautete, dass für vermehrten Wohlstand eine Steigerung der inländischen Produktion von­ nöten sei, wofür es einer protektionistischen Zoll- und Handelspolitik bedürfe, um den Abfluss von Geldmitteln zu verhindern. Dementsprechend wollte Hörnigk das in der Monarchie weit verbreitete „Engel- und Holländische[n] Larven, das indianische Bombasin-Gewebe, die pestilentialische französische Mode-Ware [. . . ] in ihrem [sic] Heimat [. . . ] belassen“, sodass „dem Kaiser in wenig Jahren so viel als ein mächtiges Königreich innerhalb Landes ohne Ungerechtigkeit, Blut, Fluch und böses Gewissen, dem Land aber so viel, als ein peruvianisches Potosi der Spanischen Monarchie jetzo noch nutzen mag, gewonnen sein“.¹² Hörnigk markiert hier die habsburgischen Länder als gegenüber den Zen­ tren der Weltwirtschaft subalterne Zone, was sich im Konsum von Luxuswaren globaler Reichweite äußert. Die Konsequenzen, die er daraus ableitet, sind durch­ aus ambivalent: Einerseits wird mit dem Protektionismus ein Hebel eingefordert,

10 Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 4, 7–9 und 46; András Vári, The Functions of Ethnic Stereotypes in Austria and Hungary in the Early Nineteenth Century. In: Nancy Wingfield (Hg.), Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg central Europe. New York 2003, S. 39–41. 11 Zuletzt: Erik Reinert, How Rich Countries Got Rich and Why Poor Countries Stay Poor. New York 2008, S. 313–316. 12 Philipp Wilhelm von Hörnigk, Österreich über alles, wenn es nur will. Nach der Erstausgabe von 1684 in Normalorthographie übertragen und mit der Auflufl von 1753 kollationiert sowie mit einem Lebensbild des Autors versehen, von Gustav Otruba. Wien 1964, S. 54 f.

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um den ersten Schritt zu tun, dieses Ungleichgewicht zu beseitigen – nämlich die Präsenz ausländischer Waren zu beseitigen, begleitet von proto-nationalisti­ schen Untertönen. Zugleich dienen die Zentren als Modell, dem es nachzueifern gelte, was durch das Bild vom peruanischen Silberbergwerk Potosi als Zielmar­ kierung für den Wiener Hof verdeutlicht wird. An anderen Stellen nennt Hörnigk auch „die Holländer“, die mit „unvergleichlicher Mühe“ Dämme errichteten, um den Boden für gewinnbringenden Ackerbau trocken zu legen, sowie England als role-models.¹³ Hier werden die Konturen einer raumpolitischen Ordnung sichtbar: Wurden im europäischen Westen einschließlich der Kolonien der Atlantischen Im­ perien die Vorbilder verortet, dominierte hinsichtlich des osmanisch beherrschten europäischen Ostens der Kode eines umfassenden – kulturellen, politischen und ökonomischen – Bedrohungsszenarios: Beim Ausbleiben innerer Wohlstandsteige­ rung wurde der Rückfall in die „türkische Sklaverei“ als unmittelbare Konsequenz postuliert.¹⁴ Dieser äußeren Verortung als insgesamt geopolitisch und wirtschaftlich fragiler und folglich subalterner Raum folgte der nach innen gerichtete Auf­ ruf zur Mobilisierung: Bei der Begutachtung des status quo ortet Hörnigk da­ bei keinen undifferenzierten Handlungsbedarf und führt ausführlich die „Em­ sigkeit“ der schlesischen Wollweber, der deutsch-böhmischen Gebirgsbauern und auch der Wiener Bevölkerung als Beleg an.¹⁵ Deutlich sichtbar wird hier der geortete negative Zusammenhang zwischen reichlichen Naturressourcen, insbesondere fruchtbarem Boden, und dem Arbeitseinsatz, sodass Hörnigk schließt, „die Bauren in den Gebürgen fleißige Leute seind, die andere aber oftmals faule Lümmel“.¹⁶ Die kameralistische Taxonomie wird allerdings in kei­ ne homogene sozio-räumliche Kodierung im Stil des mental mapping gegossen und auch nicht stringent durchgehalten. Neben dem skeptischen Blick, den Hörnigk auf die fruchtbaren Teile Böhmens wirft, stimmt er ein wahrhaftiges Loblied auf die „Brot-, Schmalz- und Fleischgrube“ Ungarn an.¹⁷ Die inneren Differenzen traten bei Hörnigk angesichts der insgesamten Subalternität der Habsburgermonarchie gegenüber den im europäischen Westen verorteten Zentren nicht nur in den Hintergrund, sondern standen seinem Mobilisierungsaufruf im Weg.

13 14 15 16 17

Ebenda, S. 94. Ebenda, S. 116. Ebenda, S. 91 f. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 76.

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Demarkationslinien im Osten, feine Unterschiede im Westen: Der Blick aus England und Frankreich auf die habsburgischen Länder Deutlich anders war die Wahrnehmung an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert hingegen in Westeuropa selbst: So verortete der von Henri Abraham Châtelain und Nicolas Gueudeville im Jahr 1720 in Amsterdam herausgegebene historische Atlas Ungarn kulturell nahe bei den Osmanen und wollte einen gewalttätigen Charak­ ter seiner Bevölkerung erkennen, sprach allerdings auch Böhmen den Charakter eines „deutschen Landes“ ab und sah es eng mit Ungarn verbunden.¹⁸ Diese der dynastisch-politischen Logik folgende Wahrnehmung verschob sich jedoch in den folgenden Jahren: Der französischen Encyclopédie galt Ungarn als ein Land zwi­ schen „Asien und Europa“, während sie den Fleiß der böhmischen Bevölkerung betonte¹⁹ – und damit eine sozioökonomisch fundierte Raumordnung an die Stelle einer politisch-dynastischen setzte, die bereits eine innere West-Ost-Dichotomie innerhalb der Habsburgermonarchie festschrieb. Diese verstärkte sich in den fol­ genden Jahrzehnten. So bemerkte Charles-Marie Marquis de Salaberry in seinem 1799 veröffentlichen Bericht über seine neun Jahre zuvor unternommene Reise nach Konstantinopel, dass die Natur zwar die Ungarn nahe zu den Österreichern gebracht habe, sie aber umso mehr von deren Charakter entfernt seien. Der kon­ terrevolutionär eingestellte französische Adelige verband dieses Urteil mit einer deutlichen Kritik am Widerstand Ungarns gegen die habsburgische Zentralmacht, den er als „kindisch“ abqualifizierte.²⁰ Gegenüber dieser eindeutigen Demarkationslinie zwischen den westlichen Re­ gionen und Ungarn war die von westeuropäischen Beobachtern geortete Differenz innerhalb der österreichischen und böhmischen Länder weit ambivalenter. Als wichtiges Unterscheidungskriterium galt hierbei die Agrarverfassung. So ortete der britische Botschafter in Wien, David Murray Lord Stormont, in seinem Bericht an den Duke of Grafton, verfasst in Wien am 10. September 1765, Handlungsbedarf in Böhmen:

18 Nicolas Gueudeville, Dissertation sur la Hongrie et sur la Boheme, in: Atlas Historique ou Nouvelle Introduction à l’Histoire, à la Chronologie, et à la Géographie Ancienne et Moderne, vol. II, Henri Abraham Châtelain. Amsterdam 1720, S. 71 f., zit. nach: Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 162 und S. 164. 19 Encyclopédie, Bd. II, S. 294, zit. nach: Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 184. 20 Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 44.

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Another Circumstance that naturally tends to check the Growth of Affluence and Industry is the Vassalage of the peasants. They are all according to the General Slavonick System adscripti Glebae. Their Servitude however is not so absolute as that of the peasants of Poland, for they are allowed to have property of their own, and the Lords have by an Edict of the present Empress lost the power of Life and Death, which they had over them.²¹

Während von der Außenperspektive Böhmens Arbeitsleistung gelobt wurde, sta­ chen für einen ebenfalls westeuropäischen Beobachter beim näheren Hinsehen die Hindernisse der bäuerlichen Untertänigkeit für das prosperierende und mit den Weltmärkten über Hamburg bestens vernetzte Böhmen hervor.²² Dennoch war die Agrarverfassung nicht der ausschließliche Dreh- und Angelpunkt für Stormonts räumlich differenzierte Wahrnehmung: In seinem Rundblick durch die westlichen Länder der Monarchie betonte er deren Fruchtbarkeit und somit implizit deren agrarisches Potential; nur im äußersten Westen sah er Probleme – aufgrund der Wi­ derspenstigkeit der Tiroler („shrewd sturdy people“) – während er die italienischen Besitzungen in Mailand und Mantua keines Kommentars nötig erachtete.²³ Die hier angedeuteten Konturen einer inneren Raumordnung der Habsbur­ germonarchie auf der Grundlage von Kriterien der Politischen Ökonomie folgte einerseits keinem stringenten West-Ost-Schema: Böhmen wurde erneut von ande­ ren ostmitteleuropäischen Regionen abgregenzt, in diesem Fall von Polen-Litauen, einem der Paradebeispiele für den Osteuropadiskurs der Frühen Neuzeit wie Hu­ bert Orłowski gezeigt hat.²⁴ Andererseits folgt Stormonts Schema nur bedingt der sozioökonomischen Differenzierung innerhalb der Habsburgermonarchie, wie die Problematisierung sowohl des relativ wohlhabenden Böhmen als auch des weit weniger opulenten Tirol unterstreicht, während die tatsächlich prekär entwickelten Räume wie Kärnten nicht als solche hervortreten. Zugleich wurden die böhmischen Untertanen als Slawen bezeichnet, womit die Konzepte der Politischen Ökonomie lange vor Herder erstmals mit einer jener anthropologischen Kategorien verknüpft wurden, die Teil jenes kulturellen Zu­ schreibungsrasters waren,²⁵ das Larry Wolff explizit als einen der wesentlichen

21 Report of Lord Stormont to Duke of Grafton, zit. nach: Peter G. M. Dickson, Finance and Government under Maria Theresa, 2 Bände. Oxford 1987, Bd. 1, Appendix A, S. 389–396, hier S. 390. 22 Siehe dazu: Klaus Weber, Deutsche Kaufleute im Atlantikhandel 1680–1830. Unternehmen und Familien in Hamburg, Cádiz und Bordeaux. München 2004, S. 133–145 und S. 354–361. 23 Report of Lord Stormont, S. 395. 24 Hubert Orłowski, Polnische Wirtschaft. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 21). Wiesbaden 1996. 25 Werner Nell, Konstruktionsformen und Reflexionsstufen des Fremden im Diskurs der Spätauf­ klärung bei Diderot und Forster. In: Jörn Garber/Heinz Thoma (Hg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, (Hallesche Beiträge zur Europäischen

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Identitätsmarker osteuropäischer Räume ausmachte.²⁶ Dies unterstreicht die Am­ bivalenz und Vielschichtigkeit der räumlichen Wahrnehmung der habsburgischen Länder im polit-ökonomischen Diskurs englischer und französischer Beobach­ ter im 18. Jahrhundert: Neben der deutlichen Demarkationslinie zwischen den westlichen Provinzen und Ungarn lassen sich abgestufte Differenzierungen inner­ halb der österreichischen und böhmischen Länder ausmachen, die jedoch keinem stringenten Ost-West-Schema folgten. Zwar lassen sich Ansätze eines ZentrumPeripherie-Schemas ausmachen, wie die Beispiele Tirols und Böhmens sowohl in administrativer als auch wirtschaftlicher Hinsicht demonstrieren. Insbesondere die Bewertung Böhmens widerlegt Larry Wolffs These, wonach die Länder der Wen­ zelskrone homogener Teil eines pejorativen Osteuropabildes waren. Allerdings unterstreicht die Bewertung der Agrarverfassung und die Einordnung in die Kate­ gorie der Slawen die Vielschichtigkeit des Bildes, womit sich die Wahrnehmung der westlichen habsburgischen Regionen durch die westeuropäische Politische Ökonomie als eine feiner Unterschiede und keinesfalls fester dichotomer Demarka­ tionslinien beschreiben lässt. Insgesamt vermitteln sie anders als bei Hörnigk ein Schema räumlicher Hierarchien, in dem imperiale Peripherien an den östlichen Rändern der Monarchie auftreten.

Kameralistische Taxonomie als Regierungspraxis: Räumliche Differenzierung und soziale Kategorisierung am Vorabend der Josefinischen Reformen Die in der Außenperspektive feststellbare räumliche Differenzierung lässt sich ab der Jahrhundertmitte auch im kameralistischen Reformdiskurs festmachen. Der bereits bei Hörnigk als Basiskategorie ökonomischer Leistungsfähigkeit sichtbare Arbeitseinsatz hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Charakter als Schlüsselvariable der Politischen Ökonomie massiv ausgeweitet, und war auch in der politischen Praxis angekommen: Der Wiener Hof versuchte verstärkt ab Jahrhundertmitte durch die Ausdehnung des handwerklichen Schulwesens, der Verbreitung neuer Agrartechniken bis hin zu den Regierungstechniken der klassischen Sozialdiszi­ plinierung – wie der Kriminalisierung des Bettelns und der Errichtung von Ar­ beitshäusern – den Arbeitseinsatz der Bevölkerung bei möglichst geringen Löhnen

Aufklärung 24). Tübingen 2004, S. 177–192, hier S. 181; Larry Wolff/Marco Cipolloni, Introduction. In: Dies. (Hg.), The Anthropology of the Enlightenment. Stanford 2007, S. 1–32. 26 Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 281 und S. 300–316.

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anzukurbeln.²⁷ Ganz in diesem Duktus klagten Beamte in offiziellen Berichten in den 1760er Jahren über die „Idolenz“ und den „Müssiggang“ der ländlichen und städtischen Bevölkerung.²⁸ Dieser generelle Diskurs wurde mit der zunehmenden regionalen Ausdifferenzierung der habsburgischen Länder ab der Jahrhundert­ mitte²⁹ mit räumlichen Zuschreibungen verbunden. Ein Schlüsseldokument in dieser Hinsicht stellen die „Politischen Anmerkungen“ der von Anton Tantner und Michael Hochedlinger editierten Berichte des Hofkriegsrats zur sozialen Lage aus den Jahren 1770 und 1771 dar.³⁰ Die von aufgeklärten Militärs auf dem Höhepunkt der Erntekrise in den Böhmischen Ländern verfassten Berichte, die die ersten weit­ gehenden Reformen des Untertanenwesens in den späten Regierungsjahren unter Maria Theresia maßgeblich beeinflussten,³¹ lassen sich für die Nachzeichnung der von den Beamten konstruierten Raumordnung innerhalb der westlichen Regio­ nen der Monarchie nutzen; die Länder der Ungarischen Krone blieben hingegen ausgeschlossen und Galizien wurde erst im Lauf des Jahres 1772 annektiert. In zweien der drei Kreise von Krain bezeichenten die Offiziere die Bauern als „arbeitsam“, nur in Innerkrain „ist der Bauer gröstentheil träg, unsauber und schwelgerisch [. . . ]“.³² In Görz und Gradisca wurde das „Landvolk“ als „zwar ar­ beitsam, aber arm“³³ charakterisiert, während in Kärnten „Armut und Elend“ zum fehlenden Vererbungsrecht der Gründe in Bezug gesetzt wurden, wodurch der Bau­ er sein Land „niemalen mit jenem Fleiss und Industrie bearbeite, wie er es thun wurde, wann sie auf seine Nachkömmlinge fielen“.³⁴ Die Bevölkerung Ober- und Niederösterreichs wurde durchgehend als „nüchtern und arbeitsam“ beschrieben,

27 Vocelka, Glanz, S. 284–294, 297; Gerhard Pfeisinger, Arbeitsdisziplinierung und frühe Indus­ trialisierung 1750–1820. Wien 2006, S. 127 f. und S. 158–161. 28 Adolf Beer, Studien zur Geschichte der österreichischen Volkswirtschaft unter Maria Theresia. I: Die österreichische Industriepolitik, in: Archiv für Österreichische Geschichte, 81 (1895), S. 1–133, hier S. 57; James van Horn Melton, Arbeitsprobleme des Aufgeklärten Absolutismus, in: Mitteilun­ gen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 90 (1982), S. 49–75, hier S. 56–60, 69 und 71. 29 Andrea Komlosy, Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie. Wien 2003, S. 12, 15 und 133–145. 30 Michael Hochedlinger/Anton Tantner (Hg.), „. . . der größte Teil der Untertanen lebt elendig und mühselig“. Die Berichte des Hofkriegsrates zur sozialen und wirtschaftlichen Lage der Habs­ burgermonarchie 1770–1771, (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 8). Wien 2005. 31 Manfred Straka, Die soziale und wirtschaftliche Lage der steirischen Bevölkerung im Spiegel der Seelenzählung von 1770, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark, 70 (1979), S. 5–19, hier S. 9 f. 32 Zit. nach: Hochedlinger/Tantner, Berichte des Hofkriegsrates, S. 38 f. 33 Ebenda, S. 13. 34 Ebenda, S. 20.

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wobei „Unsauberkeit“, jedoch nur selten Alkoholismus und „Grobheit“ beklagt wurden.³⁵ In der Steiermark konstatierten die habsburgischen Militärs die „ausseror­ dentliche Armuth“ der Untertanen der kirchlichen Güter und forderten allgemein eine Reform des Untertanenwesens, sodass „der arme Bauersmann gegen allen Unfug geschuzet werde“.³⁶ Die Gutsverwalter wurden hingegen infolge der massi­ ven Abgaben- und Robotleistungen gegenüber den Untertanen als „Tyrannen des Bauersmann“ bezeichnet.³⁷ Eine ähnliche Wahrnehmung findet sich in Böhmen: Zwar wurde allgemein die mangelnde Hygiene der Bevölkerung beanstandet, die Bevölkerung aber zugleich als „arbeitsam“ und „fleissig“ kategorisiert,³⁸ jedoch fanden sich daneben auch lokal kritische Wahrnehmungen: Im Czaslauer und Be­ chiner Kreis (Taborer Anteil) galt den Offizieren die Bevölkerung als „träg“, „faul“ und „müssig“,³⁹ während im Klattauer Kreis die Diskurslogik umgedreht und die Ursachen für die mangelnde Arbeitsleistung dem Feudalsystem zugeschrieben wurde: „Das unterthänige Bauernvolkh ware an und für sich zum Fleis aufgelegt und nicht träge, wenn selbes nur versichert wäre, von ihrer Arbeit und Schweiße [. . . ] für sich und ihre Kinder die Früchte zu geniessen [. . . ]“.⁴⁰ Mähren wurde hinsichtlich des Arbeitsethos deutlich weniger günstig bewer­ tet, was auf die abgestuften Hierarchien zwischen West und Ost selbst innerhalb der böhmischen Länder verweist. Im Znaimer Kreis orteten die Militärs „vielle liederliche und schwelgerische Hauswirte [. . . ], die ohne Strenge ihre Schuldigkeit nicht abtragen wurden“, führten dies jedoch erneut auf institutionelle Ursachen zurück: „Das unterthanige Volk, welches eigenthumliche Häuser hat, und zwar maistens das von deutscher Nation, ist sehr arbeitsam, wo aber die Obrigkeit das Eigenthum hat, ist der Unterthann mehr träger und liderlich als fleissig und or­ dentlich.“⁴¹ Im Prerauer Kreis wurden die Untertanen der meisten bistümlichen Güter als der „Schwelgerey, dem Spil, dem Trunk und der Trägheit ergeben“ cha­ rakterisiert. Nur im Brünner Kreis galten die Bauern als „arbeitsam“, obwohl der Bericht relativierend hinzufügte: „Weill der Bauer nur maist für seine Herrschafft wirtschafften mues, so bekümeret er sich nicht genuegsam, hiebey den möglichen Fleis anzuwenden“.⁴²

35 Ebenda, S. 89 f., 97, 101, 104 und 106 f. 36 Ebenda, S. 27, 31 und 34. 37 Straka, Die soziale und wirtschaftliche Lage, S. 13. 38 Hochedlinger/Tantner, Berichte des Hofkriegsrates, S. 53, 58, 62, 66 und 74. 39 Ebenda, S. 68 und S. 76. 40 Ebenda, S. 48 f. 41 Ebenda, S. 125 und S. 127. 42 Ebenda, S. 136 und S. 142.

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Zu Beginn der 1770er Jahre schrieben innerhalb der Verwaltung kursierende amtliche Berichte somit eine räumliche Differenzierung Krains und der böhmi­ schen Länder fest, deren Bevölkerungen in bedeutend höherem Ausmaß mit den Etiketten „faul“, „träge“, „liederlich“, „trunksüchtig“ und „schmutzig“ belegt wur­ den als dies in den ober- und niederösterreichischen Zentralräumen und selbst in der Steiermark der Fall war. Allerdings wurde auf dieser Grundlage keine Raum­ ordnung im Sinn des mental mapping synthetisiert, sondern der Befund auf der Ebene von Provinzen und Kreisen belassen. Auch erste ethnische Trennlinien zu den Deutschen wurden gezogen, obwohl die slawische Bevölkerung weder in Krain noch in den böhmischen Ländern im Kontrast dazu benannt wurde. Zu Beginn der 1770er Jahre entwarfen führende habsburgische Militärs ein auf der kamera­ listischen Taxonomie beruhendes Einordnungsschema der Leistungsfähigkeit der Bevölkerung der westlichen Regionen. Die Kategorien der deskriptiven Statistik bündelten dabei Eindrücke und Wahrnehmungen zu konzentrierten Bewertungs­ kriterien und Urteilen, die Problemfelder und deren Ursachen insbesondere in der Agrarverfassung identifizieren wollten, um solcherart das notwendige Wis­ sen für Reformmaßnahmen zu liefern, die sich insgesamt an einer Vision von Wohlstand für Staat und Gesellschaft, der viel beschworenen „Glückseligkeit“, orientierten.

Von der Taxonomie zu Naturmenschen, Fakiren und Affen: Zur Konstruktion des habsburgischen Ostens im kameralistischen Reformdiskurs Zeitgleich lässt sich gegenüber den östlich der Leitha gelegenen Regionen eine Wahrnehmung festmachen, die auf der Grundlage der kameralistischen Taxono­ mie kulturelle Differenz in eine hierarchische Raumordnung umdeuteten: Die von András Vari analysierten Arbeiten deutschsprachiger Statistiker und Ökonomen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ließen die Mehrheitsbevölkerung der un­ garischen Länder als von „Faulheit“, „Müssiggang“, „Armut“ und „Trunkenheit“ erscheinen, fallweise wurde ihnen geringe Neigung zu Handwerk und Industrie sowie Aberglauben attestiert. Anders als im Diskurs gegenüber den westlichen Pro­ vinzen wurde die taxonomische Verortung einzelner Gruppen zu sozio-kulturellen Leitmotiven verdichtet: So galten Wallachen, Kroaten und Serben den Statistikern Andreas Demián und Martin Schwartner als „wild“ und als „Naturmenschen“, die zu „zivilisieren“ seien, um sie an für den sozioökonomischen Fortschritt taugliche

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Normen und Handlungsdispositionen heranzuführen.⁴³ Hier wird deutlich, wie die kameralistische Taxonomie in übergeordnete Dispositive integriert wurde, die glei­ chermaßen horizontale kulturelle Differenz artikulierten und eine vertikale Sozi­ alordnung festschrieben. Schlüssel dieser diskursiven Hierarchisierung war dabei, die Objekte „möglichst nahe an die Natur“⁴⁴ heranzurücken und somit vom Ideal­ bild des vernunftgeleiteten, aufgeklärten, kultivierten Individuums zu entfernen. Diese Bilder waren keineswegs neu: So erhielt der Hauptmannamts-Verwalter von Fiume um die Jahrhundertmitte auf seine Beschwerde, wonach sein Arbeits­ kollege in Zengg/Senj ein höheres Quartiersgeld als er beziehe, zur Antwort, dies sei insofern verständlich, als dieser seinen Dienst an „einem fremden Ort zwischen Klippen und Felsen und unter einem halbwilden Volk“ ableisten müsste.⁴⁵ Die Wahrnehmung von Raum und Bevölkerung wurde zu einem Bild kultureller Diffe­ renz gebündelt. So beschrieb der Reisende Graf Hofmann den Banat von Temeswar (rum. Timişoara, ungar. Temesvár) Mitte der 1790er Jahre als „leer, wild und sump­ fig“ und ortete beachtliches Potential für die Kolonisierung von „unberührtem oder brach liegendem Land“.⁴⁶ In der Wahrnehmung aufgeklärter Intellektueller, Beamter und Ökonomen bündelten sich die Wahrnehmung von räumlicher Exotik und kultureller Differenz in Bildern des othering, die ihrerseits wiederum als Grundlage politischer Domi­ nanz dienten. Diese perzeptive Konstellation findet sich auch gegenüber dem 1772 annektierten Galizien, wie Larry Wolff und Hans-Christian Maner gezeigt haben.⁴⁷ Das auf der Grundlage völkerrechtlich unhaltbarer Ansprüche des Wiener Hofs ein­ gegliederte frühere Territorium Polen-Litauens war im Urteil von Ökonomen, Sta­ tistikern und Offizieren „noch nicht so weit gekommen [. . . ] als seine Nachbarn“⁴⁸, woraus Forderungen nach „Emporheben“ und „Civilisirung“⁴⁹ abgeleitet wurden. 43 Vári, Functions, S. 43–46. 44 Hans-Heinrich Nolte, Die eine Welt. Abriß der Geschichte des internationalen Systems. Han­ nover 2 1993, S. 72. 45 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Finanz- und Hofkammerarchiv (FHKA), Altes Kommerz 10, fol. 461r., ohne Datum, zitiert nach Eva Faber, Litorale Austriaco. Das österreichische und kroatische Küstenland. Trondheim/Graz 1995, S. 172. 46 Colin Thomas, The Anatomy of a Colonization Frontier: The Banat of Temešvar, in: Austrian History Yearbook XXX, S. 3–22, hier S. 18. 47 Hans-Christian Maner, Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. München 2007, S. 30–63; Larry Wolff, Inventing Galicia: Messianic Josephinism and the Recasting of Partitioned Poland, in: Slavic Review, 63/4 (Winter 2004), S. 818–840. 48 Heinrich Alphons Traunpaur, Dreyssig Briefe über Galizien oder – Beobachtungen eines unpartheyischen Mannes, der sich mehr als nur ein paar Monate in diesem Königreiche umgesehen hat. Wien/Leipzig 1787, S. 2 f. 49 Belsasar Hacquet, Hacquets neueste physikalisch-politische Reisen in den Jahren 1788, 89 und 90, Zweyter Theil. Nürnberg 1791, S. 8.; ders., Hacquets neueste physikalisch-politische Reisen in

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In diesem Narrativ, das auf die Rechtfertigung der habsburgischen Herrschaft über Galizien abzielte und die Implementierung von Normen und Institutionen nach dem Muster der böhmischen und österreichischen Länder verfolgte,⁵⁰ wurde die kameralistische Taxonomie erneut in Bilder kultureller Differenz übersetzt. Besonders deutlich wird dies bei der Reform der in Galizien besonders restriktiven Agrarverfassung: Die habsburgischen Beamten, sowohl in Wien als auch in der „erfundenen“ Provinz selbst, deuteten das Untertanenwesen in Galizien als ein veritables System der „Sklaverei“, der „Tyrannei“ und des „Despotismus“, das die Untertanen „aussaugte“ und in weiterer Folge deren „Dummheit“, „Faulheit“ und „Trunkenheit“ evozierte.⁵¹ Die Eindeutigkeit und Allgemeinheit dieser Klassi­ fizierung der galizischen Gesellschaft markiert einen unübersehbaren Kontrast zu den westlichen Regionen und unterstreicht eine räumliche Demarkationslinie in der diskursiven Wahrnehmung gegenüber Räumen an den östlichen Rändern der Monarchie. Die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Galiziens wurde von den Beamten am Höhepunkt der josefinischen Reformen in den 1770er und 1780er Jahren nach den Kriterien der kameralistischen Taxonomie kategorisiert und im Duktus aufgeklärter Sozialkritik auf institutionelle Ursachen und soziale Missstände zurückgeführt, die es durch die Einschränkung gutsherrschaftlicher Macht zu beheben galt. Wiederholt verwiesen Beamte und Statistiker in diesem Zu­ sammenhang auf die „Rohheit“ des Adels und forderten dessen „Zivilisierung“.⁵² Dies war unweigerlich mit dem kulturellen Hegemonialanspruch des imperialen Zentrums verbunden, wie es Franz Kratter zum Ausdruck brachte: Wenn nun vollends [. . . ] die teutsche Sprache auch auf dem Lande verbreitet, das Volk dadurch mit unsrer Lebensart, und unsern Sitten mehr vertraut, und [. . . ] mehr verteutscht, uns mehr verbrüdert wird, so kommt es ganz natürlich, daß das nächste Menschengeschlecht schon weniger roh, weniger der Trunkenheit, und dem Müßiggang ergeben, weniger Bigot,

den Jahren 1791, 92 und 93, Dritter Theil. Nürnberg 1794, S. IX; Ernest Kortum Traugott, Magna Char­ ta von Galicien, oder Untersuchung der Beschwerden des Galicischen Adels Pohlnischer Nation über die österreichische Regierung. Jassy 1790, S. 134; Samuel Bredetzky, Reisebemerkungen über Ungern und Galizien, Bd. 2. Wien 1809, S. 119; ders., Historisch-statistischer Beytrag zum deut­ schen Kolonialwesen in Europa, nebst einer kurzen Beschreibung der deutschen Ansiedlungen in Galizien in alphabetischer Ordnung. Brünn 1812, S. 51. 50 Horst Glassl, Das Österreichische Einrichtungswerk in Galizien, 1772–1790. Wiesbaden 1975, S. 35. 51 Klemens Kaps, Kulturowe różnice w ekonomii: Galicyjskie dyskursy rozwojowe pomiędzy funkcjonalizacją przestrzenną i podziałami społecznymi (1772–1848), in: Historyka. Studia meto­ dologiczne, XLIII (2012), S. 73–86, hier S. 82. 52 Franz Kratter, Briefe über den itzigen Zustand von Galizien. Ein Beitrag zur Statistik und Menschenkenntnis, Bd. 1. Leipzig 1786, S. 159 und S. 192.

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und Sklave, also auch industriöser, unternehmender, klüger, reinlicher, gesellschaftlicher seyn muß.⁵³

Dass diese Bilder mehr als nur publizistische Schlagwörter waren, sondern als Dispositiv des Reformdiskurses fungierten, belegt der Fall der Gutspächterin Wyc­ zolkowska. Im Frühjahr 1781 konfiszierten die Behörden das von ihrem Mann gepachtete Dorf Kuliczkow im ostgalizischen Kreis Bełz. Anlass waren zahlreiche Übergriffe des Ehepaares gegenüber ihren Untertanen. Im Protokoll des Lemberger Guberniums, das sich am 25. Jänner 1783 mit der Angelegenheit beschäftigte und die nunmehr verwitwete Magnatin als Alleinverantwortliche adressierte, heißt es unter anderem: Das Factum ist barbarisch, denn eines Theils war die Edelfrau als Pachthalterin eines kö­ niglichen Starosteidorfes niemal befugt, die dasigen Bauern oder ihre Kinder von Kuliczkow wegzunehmen und auf ihrem Erbgut Prussinow zum Dienst zu zwingen [. . . ] Den Karakter dieser barbarischen Edelfrau zu lerne[n], darf man nur ihre den Acten beiliegende[n] Origi­ nal-Briefe lesen [. . . ] Damit also diese unbändige Edelfrau gezähmt und sanftmütig gemacht werde, so ist dem Belzer Kreis Hauptmann aufzutragen, derselbe soll alle hier decidirte passu alsogleich in Vollzug setzen [. . . ].⁵⁴

Mehr als drei Jahre später richtete die ehemalige Magnatin ein Begnadigungsge­ such an den Kaiser und bat um den Erlass der Strafzahlung von 1000 Gulden, die zusätzlich zur Konfiszierung verhängt worden war, nachdem Wyczolkowska jene Bauern verprügeln ließ, die sie beim Kreisamt angezeigt hatten. Die Edelfrau ent­ schuldigte sich ausdrücklich für ihr Verhalten und begründete dieses damit, dass „mich Theils die üble Erziehung, Theils meine in der wilden Ukrain [sic] ererbten groben Sitten zu diesem Vergehen verleitet haben.“ Zugleich gelobte sie Besserung und gab dabei ein Lehrstück in der Aneignung des Zivilisierungsdiskurses auf der Mikroebene: Zum mehrern [sic] Beweis, wie stark ich in meinem eigenen Gefühl von dieser Übelthat, die blos aus auffahrender Hitze entsprang, überführet war und solche gescheuet habe, muss ich hier anführen: dass ich jenen Kreis Commissaire, der mein Vergehen untersuchte, der mich der Bestrafung schuldig fand, der mir aber andurch bessere Denkungs-Art beybrachte, zum ewigen Dank für meinen Gatten wählte, – dem ich überhaupt meine glückliche Metamorphos, nämlich der im üblen Ruf gestandenen Wyczolkowska in die friedfertige gelassene und treu gehorsame Vasallin Eurer Majestät zu verdanken habe.⁵⁵

53 Ebenda, S. 130. 54 Proces pregrawacyjny wsi: Kuliczkowa i Prusinowa, A) Protokół posiedzenia Gubernium z 25.01.1783, T.K. (teka) 126, A.d.M.I. (Akt des Ministeriums des Inneren) IV K. 4 ex Febr.1783, zit. nach: Roman Rozdolski, Stosunki poddańcze w dawnej Galicji, Bd. 2. Warszawa 1962, S. 258 f. 55 Ebenda, S. 260.

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In dieser Übersetzung der abstrakten Kategorien der kameralistischen Taxonomie in Bilder kultureller Differenz wurde ein Zusammenhang zwischen naturräumlicher Exotik und normativer Abweichung konstruiert. Daraus wurde ein Homogenisie­ rungsimperativ in Form der Zivilisierungsmission abgeleitet, der in diesem Fall durch die Heirat der verwitweten und deklassierten Magnatin mit einem Kreisbe­ amten hergestellt wird. Die solcherart bewerkstelligte „Metamorphose“ beruhte nicht nur auf der kulturellen Unterordnung eines Mitglieds der polnischen adeligen Elite unter die neu in die Provinz gekommene habsburgische, deutschsprachige Bürokratie,⁵⁶ sondern auch die Einordnung in eine patriarchalische Geschlechter­ ordnung. Strukturierten diese hierarchisch konzipierten Differenzdispositive den refor­ merischen Transformationsoptimismus, so traten mit dem Scheitern des josefini­ schen Projekts neue Bilder von Fremdheit auf. So erklärte der Lemberger Gubernial­ rat Ernst Traugott Kortum im Jahr 1790 die Bauern zu „galicischen Heloten“, deren „Civilisirung“ gescheitert sei: „Wie der Wilde im Südmeer das europäische Schiff anstaunt, so staunte der galicische Landmann das Geschenk [der Freiheit und des Eigentums] an, das ihm sein wohlthätiger Monarch machte. [. . . ] Müssiggang, Trunkenheit, und Dienste für den Juden waren das Surrogat seiner aufgehobenen Frohnen.“⁵⁷ Am Übergang von Josefinismus zu franziszeischem Konservatismus wurde die kameralistische Taxonomie in eine essentialisierende Hierarchie umgedeu­ tet, wonach Kriterien nicht mehr als Ergebnis sozialer Prozesse galten, sondern als a priori, quasi von Natur aus gegebene Eigenschaften aufgefasst wurden: Der Zivilisierungsdiskus konstruierte aus horizontaler kultureller Differenz vertikale ta­ xonome Bilder, Unterschiede wurden zu Hierarchien umgedeutet mit dem Ziel, Re­ form- und Transformierbarkeitspotentiale auszuloten und einzufordern. In einem weiteren Schritt schrieb die Gleichsetzung des Gros der galizischen Bevölkerung mit außereuropäischen subalternen Inselbewohnern deren Unveränderbarkeit fest, was bereits den Übergang von Reformbemühungen zu der Festschreibung ethno-sozialer und proto-nationaler Stereotype andeutet. Das Motiv der Südsee ist dabei nicht zufällig gewählt, sondern beruhte auf dem großen Widerhall, den die Reise von Louis Antoine de Bougainville nach Tahiti Ende der 1760er Jahre

56 Christoph Augustynowicz, Lebenswelten, Topographien und Funktionen an der galizischen Grenze: Der Fall Sandomierz 1772–1844. In: Christoph Augustynowicz/Andreas Kappeler (Hg.), Die galizische Grenze 1772–1867: Kommunikation oder Isolation? (= Europa Orientalis Bd. 4). Wien 2007, S. 83–99, hier S. 94. 57 Kortum, Magna Charta, S. 109. Zur Biografie Kortums siehe Maner, Galizien, S. 40.

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im europäischen intellektuellen Diskurs gefunden hatte.⁵⁸ Dieses Motiv war da­ bei kein Einzelfall, sondern findet sich auch in der in etwa zeitgleich erschienen „Skizze von Wien“ des Statistikers und Bibliothekars von Staatskanzler Kaunitz, Johann Pezzl:⁵⁹ „Die indische Fakire abgerechnet, gibt es wohl keine Gattung von sein sollenden Menschen, welche dem Orang-Utan näher kommt als einen pol­ nischen Juden. Die Wilden auf den Inseln der Südsee sind noch Stutzer gegen sie, wenn anders den Cook’schen Abbildungen zu trauen ist“.⁶⁰ Der Naturforscher Balthasar Hacquet beschrieb in seinem Reisebericht ebenfalls im Jahr 1790 das von deutschen Ansiedlern neu gegründete Dorf Landestreu bei Kalusz und zitierte den Schulmeister, der sich über den schlechten Zustand des Orts beklagte und betonte, dass „ihm nur das Seelenheil so vieler Sünder am Herzen lag, welches die einzige Triebfeder war, die ihn in dieses Indien [. . . ] brachte“.⁶¹ Nur wenige Jahre darauf griff Hacquet das Südmeermotiv im vierten Teil seines Reiseberichts auf: „Man kann Halizien [sic] als eine neuentdeckte Insel für die östreichischen Staaten ansehen“.⁶² Und noch vor Galiziens Eroberung bezeichnete der Kommerzi­ enkonsess des Österreichischen Schlesien im Jahr 1770 den polnisch-litauischen Absatzmarkt als „zweites Amerika“⁶³ – eine Wendung, die in späteren Jahren eher kritisch eingesetzt wurde: So meinte der Offizier Traunpaur fast zwei Jahrzehnte später, „Galizien [wurde] in den ersten Jahren nach seiner Wiedererlangung an Oesterreich von einem Heer allerley Pfuscher aus allen Winkeln der kaiserl. Län­ dern angefüllt. Die bekannte pohlnische Prachtliebe, und die damit verbundene Gastfreyheit, hatte eine Menge Landläufer glauben gemacht, daß sie hier ein neues Peru finden, und in kurzer Zeit Schätze sammeln würden“.⁶⁴ Der protestantische

58 Urs Bitterli, Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschich­ te der europäisch-überseeischen Begegnung. München 3 2004, S. 185–187; Doris L. Garraway, Of Speaking Natives and Hybrid Philosophers. Lahontan, Diderot, and the French Enlightenment Critique of Colonialism. In: Daniel Carey/Lynn Festa (Hg.), Postcolonial Enlightenment. Oxford 2009, S. 207–239. 59 David Do Paço, L’Orient à Vienne, 1739–1792. L’intégration des marchands et des diplomates ottomans dans la ville et la Résidence impériale, Thése de doctorat d’histoire. Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne 2012, S. 174 und S. 187. 60 Johann Pezzl, Skizze von Wien. Wien 1786–1790/Graz 1923, S. 107 f., zit. nach: Wolfgang Häusler, Das galizische Judentum in der Habsburgermonarchie im Lichte der zeitgenössischen Publizistik und Reiseliteratur von 1772–1848. Wien 1979, S. 78 f. 61 Hacquet, Hacquets neueste physikalisch-politische Reisen in den Jahren 1788 und 89, S. 189. 62 Hacquet, Hacquets neueste physikalisch-politische Reisen in den Jahren 1791, 92 und 93, S. VII. 63 Adolf Beer, Die österreichische Handelspolitik unter Maria Theresia und Joseph II., in: Archiv für Österreichische Geschichte, 86 (1899), S. 1–204, hier S. 90–93. 64 Traunpaur, Dreyssig Briefe, S. 66.

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Superintendent Galiziens, Samuel Bredetzky, großer Verfechter einer deutschen Zivilisierungsmission in Galizien durch die Gründung von landwirtschaftlichen Siedlungen, verwendete nicht nur konsequent den Begriff „Ureinwohner“ für die galizische Bevölkerung, sondern meinte auch „Officiere, Beamte und andere Men­ schen kamen in dies neue Eldorado, ihr Glück zu verbessern“.⁶⁵ Diese Wendung hatte Hacquet fast wortgleich mehr als zwei Jahrzehnte zuvor verwendet.⁶⁶ Diese Beispiele demonstrieren die Breite an räumlichen und gesellschaftli­ chen Analogien, mit denen die imperialen Eliten in Verwaltung, Wissenschaft bis hin zum Klerus Galizien von der Inbesitznahme ausgehend bis hin zum Ende der Napoleonischen Kriege mit außereuropäischen Kolonien gleichsetzten und da­ mit als subalternen Raum markierten. Diese Übersetzung kultureller horizontaler Differenz in vertikale Hierarchisierung entspricht dabei dem Dispositiv des europäi­ schen Diskurs gegenüber Polen-Litauen: Der britische Reisende Joseph Marshall verglich die Leibeigenen in der Adelsrepublik im Jahr 1772 mit den schwarzen Sklaven der britischen Kolonien in Nordamerika, Friedrich II. wollte Ähnlichkeiten zwischen der polnischen Bevölkerung Westpreußens und den Irokesen erken­ nen und Adam Smith wiederum stufte die Tartaren als weniger entwickelt ein als die Einwohner Mexikos und Perus bei ihrer Eroberung durch die Europäer.⁶⁷ Der Naturforscher Georg Forster, der Cook auf seiner Reise nach Australien beglei­ tet hatte, beschrieb die Einwohner Wilnas im Jahr 1786 als ein „Mischmasch von sarmatischer oder fast neuseeländischer Rohheit“.⁶⁸ Diese Bilder akzentuierten kulturelle Fremdheit und setzten sie mit politischer Dominanz in Verbindung: Insbesondere die mit Hispanoamerika assoziierten Mo­ tive folgen unumwunden der Logik eines imperialen Merkantilismus, während Indien und das Südmeer (von Tahiti über Australien bis hin zu Neuseeland) viel stärker auf eine essentialistisch konzipierte Hierarchisierung der galizischen Bevöl­ kerung fokussiert und dabei auch noch Subgruppen – wie die galizischen Juden – gesondert als Andere markiert. Beide Stränge werden im Bild des Orang-Utans zusammengeführt, mit dem Pezzl nicht nur die galizisch- bzw. polnisch-jüdischen Händler, sondern auch die polnische Bevölkerung belegte.⁶⁹ Dass beiden Grup­ pen der Status als gleichberechtigte menschliche Wesen abgesprochen wird, stellt den markantesten Fall von othering in diesen Beispielen dar. Allerdings waren die Grenzen mitunter innerhalb der Habsburgermonarchie fließend, wie folgende Bemerkung aus einer Denkschrift über den Außenhandel der Monarchie verdeut­ 65 66 67 68 69

Bredetzky, Beytrag, S. 22. Hacquet, Hacquets neueste physikalisch-politische Reisen in den Jahren 1788 und 89, S. 192. Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 81 und S. 272. Orłowski, „Polnische Wirtschaft“, S. 56. Wolff, Inventing Eastern Europe, S. 114.

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licht, die Philipp Graf Sinzendorf im September des Jahres 1786 im Auftrag Kaisers Josef II. abfasste: Ich habe mich niemals vereinbaren können mit jenen, so nur die Oberfläche der Sache kennen, und sich nur mit einen [sic] Gegenstand mit Hindansetzung [sic] des Ganzen be­ schäftigen, und einer dem anderen nachspricht, daß die Lage der Erbländer nicht seye, um einen beträchtlichen Ausfuhrhandel zu treiben, noch vielweniger mit jenen, so unsere zerschiedenen Nazionen die Industrie und Erfindungsgeist verneinen, und höchstens als wie Affen ansehen, welche lediglich im Stande sind nachzuäffen [. . . ].⁷⁰

Neben der hierarchischen Binnendifferenzierung konnte die Affenmetapher folg­ lich auch eine pauschale Orientalisierung der Habsburgermonarchie und ihre postulierte Modernisierungsunfähigkeit markieren. Indem jedoch auch an dieser Stelle die Subalternität mit der plurikulturellen Verfasstheit des von Wien regierten Zentraleuropa verbunden wurde, deutet zumindest erneut den Zusammenhang mit der inneren Hierarchisierung an. Das Bild des Orang-Utans kondensiert eine langjährige Diskurstradition, die bis zu den Anfängen des 18. Jahrhunderts zurückreicht. Den Anfang machte Carl von Linné, der in seinem 1735 in Leiden erstmals erschienen Werk „Systema Na­ turae“ eine Nähe von Fabelmonstern und Menschenaffen zur Gattung des Homo sapiens herstellte und zugleich in den anthropologischen Subgruppen die Kate­ gorie des „wilden Mannes“ (Ferus) einführte.⁷¹ Aus dem naturwissenschaftlichen Diskurs, der bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse von der ersten Affensezierung durch den holländischen Arzt Nikolaus Tulpius im Jahr 1641 zurückreicht, erwuchs ein reges Interesse insbesondere der französischen Philosophen, darunter Le Met­ trie, Helvétius und Maupertuis, in den 1740er und 1750er Jahren. Die theoretischen Auseinandersetzungen mit der Affengattung ist dabei von den bildlichen Darstel­ lungen nicht zu trennen, die vom ersten Schimpansenbild im Jahr 1739 bis hin zum Gemälde eines Orang-Utans im Jahr 1777 durch Tethart Philip Christiaan Haag reicht. Im Unterschied zu den Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen Affen als Mischwesen und Satyre porträtiert worden waren, situierten die Bilder des 18. Jahrhunderts das Tier im landschaftlichen Kontext seines Herkunftsraums und stellten eine Assoziation zwischen Naturraum und der Figur des „unzivilisierten Wilden“ her.⁷² In engem Wechselspiel mit der bildlichen Ebene entwickelte sich ab der Jahrhundertmitte ein anthropologischer Diskurs, der den Orang-Utan gemäß

70 ÖStA, FHKA, Handschriften Nr. 299: Philipp Gr. Sinzendorf über das Erbländische Commerce, Fol. 4. 71 Bitterli, Grundzüge, S. 432. 72 Hans Werner Ingensiep, Der aufgeklärte Affe. In: Garber/Thoma, Zwischen Empirisierung, S. 31–57, hier S. 38–42.

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der von Linné grundgelegten Taxonomie mit einer „primitiven“ Form menschlicher Existenz in Verbindung brachte. Rousseau identifizierte in seiner „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ auf Grundlage der ersten Schimpansendarstellung den Orang-Utan als Abbild seines „Naturmenschen“ bzw. „Wilden“, der von der durch Freiheit und Fortschritt charakterisierten Stufe des Kulturmenschen weit entfernt sei. In dem unveröffent­ lichten „Aufsatz über den Ursprung der Sprache“ überträgt Rousseau das Bild des Orang-Utans auf die Bevölkerung der Neuen Welt in Amerika, aber auch in Asien und reklamiert eine evolutionsgeschichtliche Perspektive: Unter Verweis auf den malaysischen Ursprung des Begriffs („Waldmensch“) wurde der OrangUtan mit in Wäldern lebenden Menschen identifiziert, die abseits jeder kulturellen Entwicklung verblieben waren.⁷³ Rousseaus wechselseitige Animalisierung des Menschen und Humanisierung des Orang-Utans, die auch von Herder in seinem 1774 erschienenen Werk „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschenheit“ geteilt wurde,⁷⁴ markiert die Transformation des Menschenaffen­ diskurses von einem allgemeinen naturphilosophischen Erkenntnisinteresse in eine Metapher des kulturellen othering und des aufgeklärten Kolonialdiskurses. Von da war es nur ein Schritt zur Rekontextualisierung der Metapher im inner­ europäischen Hegemonialdiskurs: Die im Jahr 1780 erschienene Schmähschrift „Der Orang-Outan in Europa oder der Pohle nach seiner wahren Beschaffenheit“ verknüpfte das Affenbild mit dem allgemein bekannten orientalisierenden Rück­ ständigkeitsdiskurs gegenüber Polen-Litauen.⁷⁵ Mit explizitem Bezug auf Buffon und Linné, insbesondere aber auf den französischen Physiker Charles-Marie de La Condamine wurden Hottentotten und Tahitianer mit den Affen verglichen, um im nächsten Zug diesen Status auch für „die Polen“ zu reklamieren.⁷⁶ Aus den unübersehbaren Anleihen bei Rousseau – so wird der Orang-Utan im Untertitel „als ein Einwohner der Wälder; dies ist eine Benennung der Affen, die in Amerika, in dem Königreich Congo und in Ost-Indien befindlich sind“ definiert – wird ei­ ne Wanderung der Affen aus Amerika nach Polen in Szene gesetzt, aus der sich die zukünftige polnische Bevölkerung entwickelt habe. Dabei wird diese fiktive Evolutionsphilosophie mit dem Krakus-Mythos verknüpft, indem in jener Zeit die „Verwandlung“ des Tiers zum Menschen erfolgte.⁷⁷ Aufbauend auf diesen Ausfüh­

73 Sankar Muthu, Enlightenment against Empire. Princeton 2003, S. 42 f. 74 Ingensiep, Affe, S. 46 und S. 48. 75 Die gröbsten Lügen des 18ten Jahrhunderts. Der Orang-Outan* in Europa oder der Pohle, nach seiner wahren Beschaffenheit; eine methodische Schrift, welche im Jahr 1779 einen Preis in der Naturgeschichte davon getragen hat [1780]. 76 Ebenda, S. 6–8. 77 Ebenda, S. 15–18.

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rungen folgt ein Reisebericht im bekannten Stil, in dem die politische Verfassung, die mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die allgemeine materiellen und kulturellen Defizite der Adelsrepublik im bekannten Duktus des Zivilisierungs­ schemas angeführt werden. Am Ende des Werks wird resümierend festgehalten, dass „der Pohle das schlechteste, das verächtlichste, das niederträchtigste, das verhaßtete, das unehrlichste, das betrüglichste und feigste Geschöpf unter allen Affen sey, die jemahls die Wälder von Amerika und dem Königreich Congo be­ wohnet haben, bewohnen und bewohnen werden“.⁷⁸ Deutlich wird hier, wie die naturphilosophisch geprägte Taxonomie zunächst in eine Orientalisierungsmeta­ pher im außereuropäischen Kolonialdiskurs umgedeutet und in einem weiteren Schritt in dem innereuropäischen Hegemonialdiskurs gegenüber Polen-Litauen rekontextualisiert wurde, auf die Pezzl in den späten 1780er Jahren zurückgriff, um die galizische Bevölkerung, insbesondere Polen und Juden, als subalterne Gruppen zu markieren.

Konklusion Die ambivalente Rolle, die das habsburgische Zentraleuropa im Diskurs über das östliche Europa im Lauf des 18. Jahrhunderts einnahm, unterlief auf der Ebene der Wahrnehmungen der Politischen Ökonomie einen Wandel: Verortete sich das kameralistische Reformprojekt am Ausgang des 17. Jahrhunderts als unisono sub­ alterne Zone gegenüber den im Westen verorteten Zentren der Weltwirtschaft, so brachte die Territorialexpansion nach Südost- und Osteuropa eine Angleichung der Perspektive des kameralistischen Binnendiskurses an jene differenzierte Blicke, die seit dem frühen 18. Jahrhundert eine differenzierte innerhabsburgische Raum­ ordnung angedeutet und östliche imperiale Peripherien festgeschrieben hatten. Auch wenn sowohl der kameralistische Reformdiskurs als auch Beobachter in Frankreich und England ab der Jahrhundertmitte Differenzierungen in Bezug auf die Wahrnehmung der westlichen Provinzen einmahnten, wurde daraus keine mental map destilliert. Hingegen lässt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine diskursive Differenzierung der habsburgisch regierten Gebiete Zentraleuropas entlang einer Ost-West-Linie feststellen, die mit den ab 1750 zunehmenden inneren Zentrum-Peripherie-Beziehungen stark korrelierte. Grenzregionen wie Galizien, Siebenbürgen, der Banat oder Kroatien waren dabei die äußersten Referenzpunkte für einen peripheren Raum, wie der Rekurs auf Kodes belegt, die sich auf euro­ päische Kolonien in Lateinamerika und Asien beziehen: Unterschiede wurden in 78 Ebenda, S. 94.

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hierarchische Beziehungen umgedeutet, horizontale Distanz als vertikale Taxono­ mien konzipiert und in weiterer Folge die abstrakten universellen Kategorien der vernunftgeleiteten Wissenschaft des 18. Jahrhunderts zu partikularen Hierarchien umgedeutet und zu einem hegemonialen Blick auf die östlichen Regionen der Monarchie verdichtet. Wie der Zivilisierungsdiskurs unterstreicht, handelte es sich dabei um Dispositive, die unmittelbar mit staatlichem Machtinteresse und staatlicher Deutungshegemonie zusammenhingen, indem gerade die Konstruktion räumlicher Ordnungsmodelle als Voraussetzung für politische Dominanz fungier­ te, wie am Beispiel Galiziens besonders deutlich wurde. Die orientalisierenden Metaphern, die sich gerade mit dem Scheitern der josefinischen Reformen verstärk­ ten, lassen sich als eine essentialisierende Umdeutung sozialer und ökonomischer Phänomene im Kontext der entstehenden Anthropologie verstehen. Damit einher­ gehend wurden die inneren Unterschiede in der Habsburgermonarchie in relativ fixe Hierarchien entlang einer Grenze zwischen Ost und West umgedeutet, die nun durch die Monarchie hindurch verlief und im Diskurs fest etabliert war.

Agnieszka Dudek

Das Leben und Werk von Leopold Johann Scherschnik (1747–1814) als ein Beispiel schlesischer Hybridität

Das „eigentlich Schlesische“ und der Begriff der Hybridität Schlesien ist ein Land, dessen kulturelle und konfessionelle Heterogenität vor al­ lem durch seine Lage als Grenzgebiet bedingt ist. Seine manchmal schwer nachvoll­ ziehbare, da oft von Paradoxien geprägte Spezifik versuchen zahlreiche Metaphern in Worte zu fassen. So beispielweise bezeichnete Heinrich Mühlpfort, ein Dichter des 17. Jahrhunderts, Schlesien als Smaragdus Europae (Smaragd Europas): Wie der Edelstein besteht das Land aus vielen Ingredienzien, deren Vielfalt über seine Besonderheit entscheidet, was der schlesische Wissenschaftler und Schriftsteller Zbigniew Kadłubek folgendermaßen erklärt: Wie es sich herausstellt, ist kein Smaragd grün, sondern seine Kristalle haben blaue und gelbe Farbe und dank des Phänomens des Pleochronismus sehen wir den Smaragd als einen grünen Stein. [. . . ] Es gibt keine idealen, d. h. sauberen Smaragde. [. . . ] Über den Wert des Smaragds entscheidet seine Uneinheitlichkeit und Heterogenität. Vielleicht wollte uns der Poet gerade das sagen. Vielleicht wollte er sagen, dass Mannigfaltigkeit und Vielfalt den Wert ausmachen: Schlesien als ein europäischer Edelstein, der zahlreiche andere Mineralien beinhaltet. Es gibt kein Schlesien ohne „Einschläge“. [. . . ] Smaragd ist ein sehr harter Stein. [. . . ] Und darüber entscheidet nicht eine seiner Ingredienzen, sondern alle auf einmal. Schlesien – Der Smaragd gewinnt an Wert und Härte, wenn er weitere „Einschläge“ bekommt. Wahrscheinlich sollte man Mühlpforts Metapher so verstehen.¹

1 Zbigniew Kadłubek, Mysleć Śląsk. Katowice 2007, S. 207. [„Okazuje się, że żaden szmaragd nie jest zielony, lecz, że jego kryształy mają kolor niebieski i żółty, dzięki zaś zjawisku pleochroizmu szmaragd jawi się jako zielony kamień. [. . . ] Nie ma idealnych, to znaczy czystych szmaragdów. [. . . ] O wartości szmaragdu stanowi jego niejednolitość i poligeniczność. Może to chciał przekazać poeta. Może chciał powiedzieć, iż różnorodność, wielość to wartość: Śląsk jako europejski kamień drogocenny, w którym pełno jest innych minerałów. Nie ma Śląska bez ‚domieszek‘. [. . . ] Szmaragd jest bardzo twardym minerałem. [. . . ] I nie decyduje o tym jakiś jeden z jego składników, ale wszystkie jednocześnie. Śląsk – szmaragd zyskuje na wartości i ‚twardości‘, gdy przybywa mu ‚domieszek‘. Tak chyba należy rozumieć metaforę Mühlpforta.“ A.D.] DOI 10.1515/9783110499797-013

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Diese und andere Metaphern sollen proprium silesiacum² – das „eigentlich Schle­ sische“ – hervorheben, das seinen Ausdruck in den vielfältigen Kulturformen der Region findet und vom schlesischen Erzbischof Alfons Nossol zurecht als „verei­ nigte Vielfalt“³ bezeichnet wurde, die nichts anderes als eine weitere Bezeichnung für das Phänomen der Hybridität ist. Eine bahnbrechende Definition der Hybridität bietet die the-third-space-Theorie von Homi Bhabha. Hybridität gilt als eine Art kulturelle Intelligenz, die infolge von Dazwischen-Sein zwischen zwei Kulturen und dem Umfassen oder Umgreifen der jeweiligen beiden Kulturen entstanden ist und somit als Fähigkeit zur Über­ windung von Unterschieden dient: „It [hybridity] is celebrated and privileged as a kind of superior cultural intelligence owing to the advantage of in-betweeness, the straddling of two cultures and the consequent ability to negotiate the difference.“⁴ Hybridität fungiert auch als ein Gegenbegriff gegen den allgemein gültigen Begriff der Identität⁵, der revidiert werden muss, um den Prozess der Hybridität in all seinen möglichen Widersprüchen, Differenzen und Ambivalenzen begreifen zu können, „weil es [das Hybride] die Symmetrie und Dualität von selbst/anderem, von Innen/Außen niederreißt.“⁶ Die Hybridität definiert Bhabha als eine Form des Dazwischen-Seins, welche er den „Dritten Raum“ nennt – in diesem ambivalenten Raum haben kulturelle Bedeutungen und Vorstellungen keine Einheit und keinen Bestand mehr. In einem Interview erklärte Bhabha: „For me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ‘Third Space’, which enables other positions to emerge.“⁷ Man betrachtet den „Dritten Raum“ als einen produktiven Raum, der neue Möglichkeiten, „innovative Plätze für die Zusammenarbeit und den Wettbewerb“⁸ schafft und „das Auftauchen von anderen Vorkommnissen ermöglicht.“⁹ Als eine

2 Wystąpienie Arcybiskupa Diecezji Opolskiej księdza profesora Alfonsa Nossola. In: Adam Chmie­ lewski (Hg.), Jubileusz trzechsetlecia Uniwersytetu Wrocławskiego. Trencentenary Jubilee of the University of Wrocław 1702–2002. Wrocław 2005, S. 117. 3 Ebenda. 4 Zit. nach Paul Meredith, Hybridity in the Third Space: Rethinking Bi-cultural Politics in Ao­ tearoa/New Zealand. http://lianz.waikato.ac.nz/PAPERS/paul/hybridity.pdf (Zugriff: 29.08.2015), S. 2. 5 Ebenda. 6 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 172. 7 Jonathan Rutherford, The Third Space: Interview with Homi Bhabha. Identity, Community, Cul­ ture, Difference. In: Jonathan Rutherford (Hg.), Identity, Community, Culture, Difference. London 1990, S. 207–221, hier S. 211. 8 Homi K. Bhabha, The Location of Culture. London 1994. S. 1. 9 Rutherford, The Third Space, S. 211.

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Art seiner Versinnbildlichung kann der oben erwähnte Smaragd gelten, dessen grüne Farbe gerade nicht grüne Elemente ausmachen, sondern gelbe und blaue Elemente, aus denen eine ganz neue, dritte, grüne Farbe entsteht. Das Konzept der Hybridität, das Bhabha zur Beschreibung von Kulturkonstruktionen und Identitä­ ten unter kolonialen Bedingungen dient,¹⁰ kann ohne weiteres auch im multieth­ nischen Kontext z. B. in Bezug auf kulturell, sprachlich und konfessionell differen­ zierte Grenzgebiete verwendet werden. Die in multiethnischen Regionen lebenden Menschen verfügen dank ihrer Hybridität über ein transkulturelles Wissen.¹¹ Ihre transkulturellen Kompetenzen sind die Kraft, die ihnen das Durchqueren anderer Kulturen ermöglicht, ohne eine Grenze zwischen Eigenem und Fremdem bewusst werden zu lassen. In diesem Raum der Verwobenheit wird alles als das Eigene und zugleich als das Gemeinsame aufgefasst. Zu den wichtigsten Merkmalen der Hybridität gehören die Fähigkeit, Unterschiede, Spaltungen bzw. Ambivalenzen zu überwinden, außerordentliche Produktivität und Innovationskraft, grenzüber­ schreitendes und vermittelndes Existieren mit einem großen transkulturellen bzw. transkonfessionellen Potential. Schlesien – „die europäische Vielfalt in Grenzen unbegrenzt“¹² – war als mee­ ting-place unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Konfessionen daher genau der richtige Ort, um jenen Geist zu nähren, der oft in besonders innovativen Ideen und Projekten zum Ausdruck kommt. Zweifellos gehören hierzu auch das Werk und Leben von Leopold Johann Scherschnik (1747–1814)¹³, einem Jesuiten und Aufklärer, Historiker und Naturwissenschaftler, Pädagogen und Reformer, Kommunalpoliti­ ker und Museumsstifter, der als ein bezeichnendes Beispiel der Hybridität dienen kann und der für seine zahlreichen Verdienste vom österreichischen Kaiser Franz I. im Jahre 1809 ausgezeichnet wurde: Se. Majestät der Kaiser belohnten diesen ächten Gemeingeist, diese warme Vaterlandsliebe, diese unermüdete Mitwirkung für Erziehung und Bildung nützlicher Menschen, im Jahre 1809 mit einem ausgezeichneten Merkmale der Anerkennung solcher Vorzüge, indem Se. Majestät, Scherschnik die Ehrenwürde eines Probsten, mit dem Rechte, das goldene Kreuz samt Kette zu tragen (. . . ) und ihm zur Beschaffung des goldenen Kreuzes und Kette einen Beitrag von 600 fl. anwiesen.¹⁴

Scherschnik wuchs in einer gebildeten und lokal einflussreichen Familie, umgeben von Büchern, im österreichisch-schlesischen Teschen auf. Er studierte Philoso­ 10 Meredith, Hybridity in the Third Space, S. 1. 11 Diana Taylor, Transculturating Transculturation. In: Bonnie Marranca (Hg.), Interculturalism & Performance. New York 1997. S. 60–74. 12 Wystąpienie Arcybiskupa Diecezji, S. 117. 13 Auch: Szersznik (PL) oder Šeršnik (CZ). 14 Johann Czikann, Leopold J. Scherschniks Ehrengedächtnis. Brünn 1815, S. 17.

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phie an der Jesuiten-Universität in Olmütz, dann griechische Sprache, Geschichte und Theologie in Brünn und Prag, wo er auch in der Jesuitenbibliothek, dem Clementinum, arbeitete. „Scherschnik beherrschte zwar alle drei Sprachen, die im Teschener Gebiet gesprochen wurden (. . . ), aber er bediente sich viele Jahre hindurch vornehmlich des Lateins. Seine Mentalität entwickelte sich auf zwei Universalebenen: Die eine war das Christentum und die jesuitische Erziehung, die andere die Idee der europäischen Aufklärung.“¹⁵ Trotz der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 versuchte er, in Prag zu bleiben, doch wegen schwerer Krankheit und Geldmangels kehrte er in seine Heimatstadt zurück. Zu dieser Zeit begann sich Teschen gerade dank allgemeinstaatlicher Reformen und dem Engagement einzelner im aufklärerischen Geiste agierender Persönlichkeiten zu entwickeln,¹⁶ die auch Kontakte zu anderen europäischen Städten pflegten. Im 18. Jahrhundert zählten u. a. Händler bzw. Handwerker aus Paris, Wien, Leipzig, Schweden oder Italien zum Teschener Bürgertum. Um 1800 machten Einwanderer aus außerhabsburgischen Ländern fast 20 % der neuen Stadtbürger Teschens aus.¹⁷ Diese multiethnischen Einflüsse bereicherten syste­ matisch die bereits existierende Teschener Heterogenität, die vier Traditionslini­ en ausmachten: Die deutsch-, tschechisch-, schlesisch- und polnischsprachige einschließlich ihrer Ausdifferenzierungen in die katholische, evangelische und jüdische Religion/Konfession.

Vereinte Widersprüche – Scherschnik als Jesuit und Aufklärer Vor dem Hintergrund der sowohl in der Aufklärung als auch danach verbreite­ ten Meinung, dass einerseits „der Untergang des Jesuitenordens als ein Ereignis gesehen werden [muss], das symptomatisch für die Grundtendenzen der Epoche ist“¹⁸ und anderseits, wie der Geistliche Ignatius Fessler Ende des 18. Jahrhunderts 15 Janusz Spyra, Leopold Johann Scherschnik (1747–1814), in: Oberschlesisches Jahrbuch, 7 (1991), S. 91–110, hier S. 100. 16 Janusz Spyra, Środowisko intelektualne Cieszyna w czasach Leopolda J. Szersznika. In: Hanna Łaskarzewska/Anežka Bad‘urová (Hg.), Materiały z konferencji: Ksiądz Leopold Jan Szersznik znany i nieznany. Cieszyn 1998, S. 48–66, hier S. 65. 17 Janusz Spyra, Społeczeństwo Cieszyna w latach 1653–1848. In: Idzi Panic (Hg.), Dzieje Cieszyna od prawdziejów do czasów współczesnych. Cieszyn w czasach nowożytnych 1528–1848, Tom 2. Cieszyn 2010, S. 217–241, hier S. 224. 18 Christine Vogel, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als ein europäisches Medienereignis (1758–1773). Mainz 2006, S. 8.

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feststellte, dass „es keine religiöse Aufklärung [gibt]“¹⁹, gelten Scherschniks viel­ fältigen Tätigkeiten, denen die sehr wohl vereinbarten Ideen der Aufklärung und des Jesuitenordens zugrunde lagen, als eine Besonderheit. Doch im Kontext der oben erwähnten sichtlichen Vielfalt, der zweifelsohne einen starken Einfluss auf die Denk- und Verhaltensweisen der Teschener Schlesier ausübte und – bewusst oder unbewusst – die Aneignung einer Art aufklärerische Gesinnung, d. h. Differenzenüberwindung bzw. Toleranz-Begegnung erforderte, lässt sich das Phänomen Scherschniks Tätigkeit aus der Sicht der Hybriditätstheo­ rie gut nachvollziehen. Scherschnik erfüllte alle Voraussetzungen eines vorbild­ lichen Aufklärers:²⁰ Im Mittelpunkt seines Interesses standen das Schulwesen und die Erziehung. Er hatte den Posten eines Gymnasialprofessors für Rhetorik und Poesie inne, war als Präfekt des Gymnasiums erzieherisch tätig und wurde 1804 zum Oberaufseher aller katholischen Schulen des Herzogtums Teschen und zum Schulreferenten beim Generalvikariat für den österreichischen Teil Diözese Breslau ernannt. Als ehemaliger Zögling der jesuitischen Schulen versuchte er alle Lernprinzipien zu revidieren, die er als methodisch nicht richtig empfand, wie z. B. „das rein mechanische Auswendiglernen und die abstrakten und lebensfernen Un­ terrichtsinhalte“²¹. Aus diesem Grund plädierte er für die Verbindung von Theorie und Praxis; so führte er beispielweise Übungen mit Landkarten und dem Globus im Unterricht ein oder veranstaltete Exkursionen in die Umgebung von Teschen, die später seine Schüler in Aufsätzen beschreiben mussten. Einerseits beharrte er auf der Meinung, dass Latein unverzichtbar für einen gutgebildeten Menschen sei, dabei aber reformierte er die Lernmethode: Einerseits lehrte man jetzt Rhetorik in Rahmen des Lateinunterrichts. Anderseits sollten nach Scherschniks Meinung gerade in der Muttersprache der Schüler unterrichte­ te Fächer wie Geschichte, Physik bzw. Erdkunde in den Vordergrund treten. „Er versuchte nicht nur seine pädagogischen Ansichten, die größtenteils im Einklang

19 Karl Otmar, Der Josephinismus und das Problem des katholischen aufgeklärten Absolutismus. In: Richard Georg Plaschka et al (Hg.), Österreich im Europa der Aufklärung. Wien 1985, S. 509–524, hier S. 522. 20 Vgl. Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982, S. 30–34; Grete Klingenstein, Zur Einführung. Österreich und Europa 1780. In: Richard Georg Plaschka et al (Hg.), Österreich in Europa der Aufklärung: Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II., Bd. 1. Wien 1985, S. 19–28, hier S. 25; Helmut Reinalter, Aufklärung zwischen Moderne und Postmoderne. In: Ders. (Hg.), Die neue Aufklärung, (Interdisziplinäre Forschungen 7). Thaur 1997, S. 11–21, hier S. 14; Helmut Holzhey, Kant und die Aktualität der Aufklärung. In: Helmut Reinalter (Hg.), Die neue Aufklärung, (Interdisziplinäre Forschungen 7). Thaur 1997, S. 25–43, hier S. 27 sowie Albert Reble, Die Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 2002, S. 138. 21 Spyra, Leopold Johann Scherschnik, S. 98 f.

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mit den Ideen der Aufklärung standen, in die Praxis umzusetzen, sondern begrün­ dete sie auch methodisch in mehreren von ihm verfassten Gymnasialbüchern.“²² In dieser Hinsicht präsentierte er ebenfalls eine innovative Haltung, denn die jesuitische Lernmethode „öffnete sich kaum den neuen Erkenntnissen der Na­ turwissenschaften [und] stand den Herausforderungen der Aufklärung zumeist hilflos gegenüber.“²³ Als Gelehrter widmete sich Scherschnik auch der Geschichte. Er verfasste eine historische Abhandlung, die 1773 von der Leipziger Gelehrtengesellschaft ausgezeichnet wurde. Im Laufe seines Lebens sammelte und bearbeitete er alle möglichen Materialien, die einen neuen Blick in die noch unentdeckte Geschichte des Teschener Schlesien geben konnten: Von dieser Absicht ausgehend trachtete er insbesondere solche Umstände, Thaten, Hülfsmit­ teln und Materialien für die Geschichte des Fürstenthums Teschen zu erfahren und aufzube­ wahren, die noch nie bekannt sind, nämlich von allerhand literarischen Sammlungen und Beobachtungen Kenntniß zu erlangen, seltene, nicht immer zugängliche Handschriften mit kritischem Blick zu untersuchen, und dadurch seinem Vaterlande nützlich zu werden; er dachte ganz richtig, daß dieses auf richtige Resultate führe.²⁴

Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Mineralogie, Meteorologie, Botanik so­ wie den Ingenieurwissenschaften und wurde damit zum Vorläufer der geologi­ schen und archäologischen Forschung im Teschener Schlesien. In den 1770-er Jahren führte Scherschnik Untersuchungen zum atmosphärischen Niederschlag in Teschen durch. Als Ergebnis seiner Beobachtungen entstand die Handschrift „Beobachtungen über die Menge des gefallenen Schnees und Regens im Herzog­ thum Teschen“ (1778) – außer der Notizen zur Atmosphäre in und um Teschen enthält das Werk auch verschiedene Informationen über Geographie und Geschich­ te, Ingenieurwissenschaften und politisch-geschichtliche Reflexionen.²⁵ In einem Zeitraum von fast 40 Jahren verfasste er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, Gymnasiallehrbücher und Ratgeber im Bereich der Grammatik, Rhetorik, Poetik, Mathematik, Philologie, Geschichte und Literaturwissenschaft. Seine Gelehrtentätigkeit charakterisieren noch besser drei Zitate, die sich auf einer Seite der von ihm gestifteten Medaille für die besten Schüler in der Mine­ ralogie befanden: Natura non arificiosa solum, sed artifex, consultrix et providia,

22 Ebenda, S. 94. 23 Vogel, Der Untergang der Gesellschaft Jesu, S. 2. 24 Czikann, Leopold J. Scherschniks Ehrengedächtnis, S. 22. 25 Grzegorz Chromik, Niemieckie rękopisy i druki ks. Leopolda Jana Szersznika w zbiorach Książ­ nicy Cieszyńskiej. In: Łaskarzewska/Bad‘urová, Materiały z konferencji: Ksiądz Leopold Jan Szer­ sznik, S. 114–121, hier S. 120.

206 | Agnieszka Dudek utilitatum portunitatumque omnium (Die Natur ist nicht nur kunstreich, sondern kunstschaffend, beratend und bemüht um jeden Nutzen), Nisi utile est quod fa­ cimus, stulta est gloria (Wenn das, was wir tun, nicht nützlich ist, ist der Ruhm vergebens) und A.M.D.G – ad maiorem Dei gloriam (Zum größeren Ruhm Gottes – Devise des Jesuitenordens). Diese Zitate schildern exakt die für Scherschnik wich­ tigsten Ideen seines Lebens: Die Natur, das Gemeinwohl und die Religion.²⁶

Bereicherndes Potential an Scherschniks Tätigkeit „Meine Vorliebe zur Geschichte war von immer auf das Vaterland gerichtet, und auch in der Fremde ließ ich mir stets angelegen sein, alles zu sammeln und auf­ zumerken, was einigen Bezug aus dasselbe hatte“²⁷ schrieb Scherschnik. Seine Heimatliebe verbunden mit der aufklärerisch geprägten Idee, „sein umfangreiches Wissen der Allgemeinheit zugänglich zu machen²⁸ und sein ganzes Vermögen dem Unterrichte der Jugend und dem Wohle des Vaterlandes“²⁹ zu widmen, fanden ihren Ausdruck in Bibliotheks- und Museumsstiftungen (1802). „Leopold Scherschnik wusste als ein verantwortlicher und aufgeklärter Mensch, dass eine Schule mit einer entsprechend guten Bibliothek ausgestattet werden muss, um richtig funktionieren zu können.“³⁰ Trotz all seiner Bemühungen musste er von dieser Idee Abstand nehmen, weil die Behörden seine Initiative nicht unterstützen wollten, doch verzichtete er auf die Gründung der Gymnasialbi­ bliothek nicht endgültig. Als schließlich alle seine Versuche zur Zusammenarbeit mit den Stadtbehörden scheiterten, entschloss er sich, eine öffentliche Bibliothek zu stiften.³¹ Anfang 1800 kaufte er das Gebäude des ehemaligen Gymnasiums, das er später renovieren ließ. Hier brachte er seine gesamte Bücher- und Naturali­ ensammlungen unter. Das Jahr 1802 gilt als Gründungsjahr der von Scherschnik

26 Mariusz Makowski, Dorobek Leopolda Jana Szersznika w dziedzinie nauk przyrodniczych. In: Łaskarzewska/Bad‘urová, Materiały z konferencji: Ksiądz Leopold Jan Szersznik, S. 178–189, hier S. 180. 27 Leopold J. Scherschnik, Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern. Teschen 1810, S. XII. 28 Spyra, Leopold Johann Scherschnik, S. 100. 29 Czikann, Leopold J. Scherschniks Ehrengedächtnis, S. 17. 30 Barbara Bieńkowska, Leopold Jan Szersznik – Fundator biblioteki publicznej w Cieszynie. In: Łaskarzewska/Bad‘urová, Materiały z konferencji: Ksiądz Leopold Jan Szersznik, S. 138–149, hier S. 143. 31 Krzysztof Szelong, Prace Leopolda Szersznika nad ewidencją i skatalogowaniem zbiorów bi­ bliotecznych. In: Łaskarzewska/Bad‘urová, Materiały z konferencji: Ksiądz Leopold Jan Szersznik, S. 150–156, hier S. 151.

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gestifteten Bibliothek und des Museums, die beide schon ab der ersten Stunde für die Teschner geöffnet waren. Scherschnik selbst erledigte alle Schritte, die bei der Stiftung und dann bei der Betreuung der öffentlichen Bücherei notwendig waren: Er sammelte alle Exponate, sorgte für das Gebäude und seine Einrichtung, bearbeitete und katalogisierte die Sammlungen.³² Seine Büchersammlungen brachte er in 33 Regalen unter, die sich in zwei Räumen befanden. Im dritten Raum gab es einen Lesesaal, in dem, wie auch im vierten Saal, Naturalienexponate ausgestellt wurden. Scherschniks Bibliothek umfasste 13 000 Bände,³³ v. a. Werke aus dem 18., aber auch aus dem 16. und 17. Jahrhundert, sowie viele Handschriften aus dem 15. Jahrhundert, die er in 27 Sachgebieten (z. B. Poeten, Asketen, Ärzte, Lexika etc.) einteilte. In dieser Bücher­ sammlung gab es Werke in mehreren Sprachen, v. a. auf Deutsch und Latein, aber auch auf Französisch, Englisch, Italienisch, Polnisch bzw. Tschechisch, u. a. von Autoren wie z. B. Thomas von Aquin, Luther, Descartes, Rousseau, Diderot, Locke, Bacon, Copernicus oder Pascal. Zeitgenossen erinnern sich in Scherschniks Museum an lehrreiche Sammlun­ gen von: inländischen Pflanzen (nach Linne klassifiziert) (. . . ) von ausgestopften Säugthieren, Vö­ geln, Amphibien, und in den schlesischen Gewässern vorkommenden Fischen, von Käfern, Schmetterlingen, Seespinnen, Seekrebsen, Vögeleiern und Nestern, von theils in Gläsern, theils in zinnen Gefässen aufbewahrten Farbstoffen und Officinalgegenständen, ferners von technologischen Kunstmaschinenmodellen, geometrischen, astronomischen, und phi­ sikalischen Werkzeugen, Münzen und Abdrücken derselben, endlich von verschiedenen Seltenheiten und Merkwürdigkeiten in einem, auf eigene Kosten, feuerfrei aus dem alten, von ihm zu diesen Zwecken erkauften Gymnasiumgebäude erbauten Musäum zugetheilt.³⁴

Dank der finanziellen und rechtlichen Absicherung seiner Institution blieb sie in dieser Gestalt bis zum Ersten Weltkrieg erhalten. Danach wurde sie verstaat­ licht und schließlich der Teschener Bücherei und dem Museum des Teschener Schlesiens einverleibt. Erwähnenswert ist auch die Tatsache, dass Scherschniks Museumsstiftung aus der Perspektive der historischen Museologie als eine Sonder­ form bzw. eine der „Vorläuferinstitutionen ‚vaterländisch‘ orientierter Museen gilt und somit [spiegeln sich] (. . . ) die pädagogische Ausrichtung und die Orientierung am ‚Universalen‘ (noch nicht am Nationalen) (. . . ) in den musealen Sammlungen

32 Spyra, Leopold Johann Scherschnik, S. 108. 33 Czikann, Leopold J. Scherschniks Ehrengedächtnis, S. 16. 34 Ebenda.

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wider.“³⁵ Scherschnik war auch als Kommunalpolitiker und Ingenieur aktiv, er bekleidete u. a. das Amt des städtischen Schatzmeisters und Bauinspektors. Er ließ zahlreiche Bauarbeiten durchführen (u. a. Bau des Rathauses, eines Klosters, einer Malzhauses, einer Brauerei). Nach seinem Entwurf wurde das Gebäude des katho­ lischen Gymnasiums in der Breitenstraße gebaut. Er stellte der Öffentlichkeit sogar seinen eigenen Garten zur Verfügung, der zu einem Flanierboulevard umgestaltet wurde. Als Ingenieur baute er nicht nur z. B. ein unter- und ein oberirdisches Was­ serreservoir für die Stadt, das im Brandfall schnelle Rettungsaktionen ermöglichte und so die Stadt sicherer machte, sondern konstruierte auch eine Pontonbrücke für die Truppenübungen der kaiserlichen Infanterie, die 1808 in der Teschener Umgebung stattfanden.³⁶ Nach dem Wiederaufbau und der Modernisierung der Stadt Teschen konstatierte er, „dass nach dem großen Brande 1789 fast alle öffentli­ chen Gebäude unter meiner Aufsicht und Leitung (. . . ) hergestellt wurden.“³⁷ Dank des großen patriotischen Engagements von Scherschnik, der, wie Johann Czikann schrieb, „viele Ämter (. . . ) sogar ohne Besoldung bekleidet [hat]“³⁸, wurde Teschen wortwörtlich aus einer hölzernen Provinzstadt in eine gemauerte und moderne Stadt umgewandelt.

Über alle Grenzen hinaus – die biographischen „Nachrichten“ Scherschniks Als die bedeutendste historische Leistung des Teschener Aufklärers gilt das anläss­ lich des 1000-jährigen Jubiläums von Teschen herausgegebene Werk „Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern aus dem Teschner Fürstenthum“ (1810), das 108 Biographien von Schriftstellern, Erfindern, Künstlern, Chemikern, Philoso­ phen, Theologen, Predigern, Juristen, Medizinern, Kirchenhistorikern, Sprach­ lehrern und Geographen enthält. Alle sind ungeachtet ihrer Konfession, Sprache und Herkunft Persönlichkeiten aus der Teschener Umgebung, darunter auch eine

35 Marlies Raffler, Museum – Spiegel der Nation? Zugänge zur historischen Museologie am Beispiel der Genese von Landes- und Nationalmuseen in der Habsburgermonarchie. Wien/Köln/Weimar 2007, S. 167. 36 Wacław Gojniczek, Działalność księdza Leopolda Jana Szersznika w sferze polityki i gospodarki komunalnej Cieszyna. In: Łaskarzewska/Bad‘urová, Materiały z konferencji: Ksiądz Leopold Jan Szersznik, S. 172–177, hier S. 175. 37 Scherschnik, Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern, S. 8. 38 Czikann, Leopold J. Scherschniks Ehrengedächtnis, S. 15.

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Frau, nämlich Scherschniks Mutter,³⁹ „die auch die gelehrte Bahn zu betreten [wünschte].“⁴⁰ In der Vorrede dieses biographischen Werkes, das durch seinen enzyklopä­ dischen Charakter als ein damaliges Teschener Who is Who angesehen werden kann,⁴¹ wurde ein für die Aufklärung charakteristisches Postulat formuliert – es sollte die Teschener zur kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung ermuti­ gen: Doch eben diese geringe Zahl der Gelehrten mag gegenwärtige und zukünftige Bewohner der Stadt und des Fürstenthums aneifern, dieselbe, zu vermehren; [. . . ] und ihnen so viele Hilfsmittel zur Erlangung mehrerer Kenntnisse aus allen wissenschaftlichen Fächern, in der von mir errichteten zum öffentlichen Gebrauche gewidmeten, bis 1000 Bände enthaltenden Bibliothek, und in dem, mit dem selben verbundenen, nicht unbeträchtlichen Naturalienund Kunstkabinette zu Gebote stehen.⁴²

Diese „Gelehrtengeschichten“ selbst umfassen den Zeitraum vom 13. Jahrhundert bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts und Biographien von solchen mit dem Tesche­ ner Schlesien verbundenen Persönlichkeiten wie beispielsweise: Salamon aus Frie­ dek, Archidiakon in Krakau, der „seiner vortrefflichen Geistes Eigenschaften und Wohlredenheit wegen (. . . ) an Clemens IV. rom. Papst um das Jahr 1267 abgesendet [wurde]: um die Heiligsprechung des Landesfürstin Hedwigis zu erwirken; was er auch glücklich ausgeführt hat“⁴³ oder Friedrich Herzog von Teschen; er „studierte nicht nur auf der hohen Schule zu Wien, sondern erhielt auch das Magisterium Ar­ tium daselbst, und stand im J. 1505 der Universität als Rector Magnificus vor“ und wurde ein paar Jahre später zum „Domdechant an der Breslauer Kathedralkirche gewählt“.⁴⁴ oder Heimann Holländer, ein Teschener jüdischer Abstammung, der an der Frankfurter Viadrina Medizin studierte, promovierte und dort 1802 seinen Doktortitel erwarb.⁴⁵ Scherschniks Werk verschafft einen Blick auf weitreichende Kontakte der Teschener Schlesier, wovon die Bandbreite der in den „Nachrichten“ erwähnten Städte zeugt, wie z. B. Berlin, Straßburg, Krakau, London, Paris, Petersburg, Bolo­

39 Spyra, Leopold Johann Scherschnik, S. 101. 40 Scherschnik, Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern, S. 140. 41 Agnieszka Dudek, Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern aus dem Fürstenthum Teschen gesammelt von Leopold Johann Scherschnik. Ein Teschener Who is Who, in: Orbis Lin­ guarum, 35 (2009), S. 173–184. 42 Scherschnik, Nachrichten von Schriftstellern und Künstlern, S. XVII. 43 Ebenda, S. 138. 44 Ebenda, S. 83. 45 Ebenda, S. 93.

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gna, Wien und – in Schlesien selbst – Friedek, Bielitz, Troppau, Oppeln bzw. Bres­ lau. Interessanterweise nahm Scherschnik auch die innerschlesische politische Grenze zwischen Österreichisch- und Preußisch-Schlesien nicht wahr – vielmehr fassen seine „Nachrichten“ Schlesien als historisch-geographische Einheit auf.

Fazit Im Kontext des Lebens und Werkes von Leopold Johann Scherschnik aus Teschen wurden im vorliegenden Beitrag für ein Grenzgebiet kennzeichnende kulturhisto­ rische Phänomene thematisiert und zwar: Eine entscheidende Rolle der Hybridität als sozio-historischer und kulturbereichernder Faktor und die damit verbundene Aufhebung von Dichotomien bzw. grenzüberschreitendes Handeln auf der ideolo­ gischen, kulturellen, sprachlichen, konfessionellen bzw. geographischen Ebene; ferner das Phänomen der Entwicklung einer (geographischen) Peripherie zum (lo­ kalen) Brennpunkt der Umsetzung innovativer bzw. neuer bzw. zentral induzierter Ideen.

Christoph Augustynowicz

Bildproduktionen an der Peripherie. Der Fall der kleinpolnischen Stadt Sandomierz Im vorliegenden Beitrag werden zwei zentrale bildliche Motive, welche Diskus­ sionen des östlichen Europa im 18. Jahrhundert nachhaltig prägten, zueinander in Beziehung gesetzt: Das des wiedergehenden Untoten und das des von Juden ausgebluteten Knaben. Ein Hauptaugenmerk wird dabei auf die dezentrale Lage gelegt, in der die konkreten, hier untersuchten Bilder zu Beginn des Jahrhunderts entstanden: Beide wirkten von der Stadt Sandomierz im Süden Polen-Litauens aus. Ferner sollen sie hier vergleichend zentralen Fragen zu Bildtransfer und Bild­ wirkung unterzogen werden, weshalb in der Folge folgende Punkte behandelt werden: 1) Die Stadt Sandomierz als Bildproduzentin des frühen 18. Jahrhunderts: Methodisches und Faktisches 2) Gehören die Bilder zu einem standardisierten, kanonisierten Repertoire von Bildern zur Darstellung einer West-Ost-Dichotomie? 3) Sind die verwendeten Bilder einem kolonialen Muster von Zentrum und Peri­ pherie einzuschreiben? 4) Zusammenfassung: Langzeitwirkung und Effizienz der Diskurse und ihrer Bilder.

Die Stadt Sandomierz als Bildproduzentin des frühen 18. Jahrhunderts: Methodisches und Faktisches Wo mit einer Geschichte der kleinpolnischen Stadt Sandomierz, heute im Südosten Polens, beginnen?¹ 1286 wurde sie (neu) gegründet; davor war eine Gründung durch die Tataren vernichtet worden. Bald wurden Organe städtischer Selbstverwal­ tung erkennbar; auch gesellschaftspolitisch stratifizierten sich nun die Interessen, etwa zwischen den Fürsten und den Städten, längst schon zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Seit dem 14. Jahrhundert war die Stadt Hauptstadt einer

1 Vgl. dazu: Christoph Augustynowicz, Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772—1844. Wien 2015, S. 23–40; ders., Religiöse Polyphonie in einer Stadt der polnischen Krone – Das Beispiel Sandomierz. In: Yvonne Kleinmann (Hg.), Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen. Stuttgart 2010, S. 95–113. DOI 10.1515/9783110499797-014

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Wojewodschaft und entsprechend politisch und wirtschaftlich bedeutend, vor allem auch wegen ihrer Lage an der Weichsel. Bereits seit dem 13. Jahrhundert hatte die Stadt auch eine bedeutende Rolle im kirchenadministrativen System gespielt. Bedeutende mittelalterliche Chronisten wie Wincenty Kadłubek oder Jan Długosz wirkten hier ebenso wie Künstler der Renaissance wie der Komponist Mikołaj Gomółka. In der frühen Neuzeit war die Stadt wiederholt Schauplatz überregionaler Ereignisse, die die gesellschaftlichen und kulturellen Bewegungen ihrer Zeit wi­ derspiegelten; der im polnisch-litauischen Gesellschaftsleben seit der Mitte des 16. Jahrhunderts endgültig dominante Adel machte sie in ihrer Funktion als Land­ tags- und Versammlungsort zum zentralen Schauplatz. Im Jahr 1570 wurde hier einer der großen konfessionellen Toleranzakte Europas beschlossen, der so ge­ nannte Consensus Sandomiriensis. Adelige der drei wichtigsten evangelischen Konfessionen (Lutheraner, Calvinisten, Böhmische Brüder) trafen bei dieser Gele­ genheit zusammen, um eine Kirchenorganisation der reformierten Konfessionen zu schaffen – die Calvinisten formulierten sogar ein letztlich von den Lutheranern abgelehntes Glaubensbekenntnis. Schließlich wurde vereinbart, auf Mission unter­ einander zu verzichten. Am Adelsvorrecht der Königswahl nahm Sandomierz als königliche Stadt seit 1573 ebenfalls teil. Aber auch für die Gegenreformation war die Stadt ein Zentrum; 1602 wurde ein Jesuitenkolleg gegründet, das nach seinem Förderer, dem Wojewoden von Posen Hieronim Gostomski benannte Collegium Gostomianum. Womöglich als eine der ersten Städte Polens, jedenfalls aber als eine der ers­ ten Städte der Heiligenkreuz-Region im Südosten des heutigen Polen beherbergte Sandomierz jüdische Bevölkerung. Im Jahr 1367 wurden erstmals Juden erwähnt, gegen Ende des 14. Jahrhundert ist ein Friedhof, 1418 bereits eine Synagoge be­ legt. In den übrigen Städten der Region sind Juden erst ab dem 16. Jahrhundert belegt; Sandomierz gehörte mittlerweile gemeinsam mit Krakau zu den bedeu­ tendsten jüdischen Gemeinden Kleinpolens. Die Wojewodschaft Sandomierz lag an der Schnittstelle zur Rus’ im Südosten der polnisch-litauischen Republik, wo sich die jüdische Bevölkerung konzentrierte. Vor allem die wirtschaftlichen Fä­ higkeiten der jüdischen Bevölkerung kamen der Stadt zugute, die ihre geistige Arbeit im Austausch mit der Nachbar-Gemeinde Opatów entwickelte – die war ihrerseits vor allem hinsichtlich des Chassidismus eine der wichtigsten jüdischen Gemeinden des gesamten kleinpolnischen Raumes. Verstärkt durch die militä­ rischen und damit einher gehenden politischen und wirtschaftlichen Schläge, denen Polen-Litauen im 17. Jahrhundert ausgesetzt war, kulminierten zu Beginn des 18. Jahrhunderts antijüdische Repressionen und Vorwürfe im ganzen Land zu Ritualmordprozessen. Ihnen ist in Sandomierz ein jedenfalls eindrückliches Denkmal gesetzt (vgl. Abbildungen 1 und 2).

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Abb. 1: Karol de Prevot, Entführung eines christlichen Kindes durch einen Juden, Presbyterium der St. Pauls-Kirche in Sandomierz, um 1715.

Abb. 2: Karol de Prevot, Ausbluten des christlichen Kindes durch die jüdische Gemeinde, St. Pauls-Kirche in Sandomierz, um 1715.

Die Krise des 17. Jahrhunderts sollte sich als langfristig prägend für die Stadt er­ weisen: Mit dem 18. Jahrhundert unterlag die Stadt einer Peripherisierung; der Eingrenzung ihres politischen, ökonomischen und kulturellen Einzugsbereiches folgte eine Eingrenzung der Lebenswelten. Diese Tendenz sollte in der ersten Teilung Polen-Litauens vom 17. Februar 1772 gipfeln, in der die Wojewodschaft

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zwischen Polen-Litauen im Norden und Galizien im Süden geteilt wurden und die Stadt in unmittelbare Grenzlage geriet. Das erste im Sandomierz des 18. Jahrhunderts produzierte Bild, das hier näher untersucht werden soll, bezieht sich auf schädigende Wiedergänger, also auf die Vorstellung, Untote würden aus ihren Gräbern auf die Erde zurückkehren. 1721 suchte der Jesuit und Naturwissenschaftler Gabriel Rzączyński am Gostomianum in Sandomierz offensichtlich danach, den Beweis für die Existenz von Vampiren, von schädigenden Wiedergängern, zu erbringen – oder zumindest zu behaupten: Ich habe vielmals von glaubwürdigen Augenzeugen gehört, daß man Menschenleichen ge­ funden hat, die nicht allein lange Zeit unverwest, mit beweglichen Gliedern und rot geblieben waren, sondern überdies auch Mund, Zunge und Augen bewegten, die Leichentücher, in die sie gehüllt waren, verschlangen und sogar Teile ihres Körpers frassen. Bisweilen ist auch die Kunde davon gekommen, daß eine derartige Leiche aus dem Grabe aufstand, über Kreuzwege und Häuser wandelte, sich bald dem, bald jenem zeigte, auch manche anfiel, um sie zu erwürgen. Wenn es eine Mannesleiche ist, dann heisst dieses Wesen Upier, wenn es eine Frauenleiche ist, Upierzyca, d. h. gleichsam ein gefiederter, mit Federn versehener, leichter zur Bewegung geschickter Körper.²

Rzączyńskis biographischer Hintergrund bildet die Lage von Sandomierz als Grenzund Überschneidungszone zwischen lateinischem/reformiertem, orthodoxem und islamischem Raum eindrücklich ab: 1664 in Podolien geboren, trat Rzączyński 18-jährig in den Jesuitenorden ein und erhielt 1695 die Kaplansweihen. Als Stu­ dierender der Jesuitenkollegs reiste er weit und studierte landesweit in Thorn, Posen, Lublin, Łuck, Lemberg, Danzig und Ostróg. In den Jahren 1709, 1710 und 1721 war er Regens des Geistlichen Seminars in Sandomierz; 1720 unterrichtete er Kirchenrecht und Moraltheologie. In seinem Hauptwerk, der Historia naturalis Regni Poloniae, Magni Ducatus Lituaniae annexarumque provinciarum in tractatus XX divisa (Sandomierz 1721), der auch die hier untersuchte Textstelle entnommen ist, entfaltete Rzączyński seine naturwissenschaftlichen Interessen; sie wurde 1742 an prominenter Stelle, in Danzig, noch einmal herausgegeben und kano­ nisierte das Wissen über die naturräumlichen Gegebenheiten des Landes somit langfristig. Seine Auseinandersetzung mit Geologie, Mineralogie, hydrographi­ schen Bedingungen, sowie der Fauna und Flora brachte Rzączyński das Epitheton des polnischen Plinius ein.³

2 Gabriel Rzączyński, Historia naturalis curiosa regni Poloniae, magni ducatus Lituaniae an­ nexarumque provinciarum. Sandomiriae 1721, zit. nach: Dieter Sturm/Klaus Völker (Hg.), Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Dichtungen und Dokumente. Frankfurt am Main 1994, S. 443. 3 Zenon Guldon, Rzączyski Gabriel. In: Jacek Wijaczka (Hg.), Świętokrzyski Słownik Biograficzny. Tom 1 do 1795 roku. Kielce 2002, S. 164 f.; vgl. dazu auch: Stanisław Lis/Tadeusz Puszkar/Piotr

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Das zweite im Sandomierz des 18. Jahrhunderts produzierte und hier zu unter­ suchende Bild ist das des jüdischen Ritualmordes, also der langfristig persistenten Vorstellung, Juden würden das Blut christlicher Kinder für rituelle Zwecke benö­ tigen und verwenden. Beschuldigt wurden dabei in der Regel nicht nur einzelne Individuen, sondern die gesamten jeweiligen jüdischen Gemeinden. In Sando­ mierz ist die Ritualmord-Einbildung untrennbar verknüpft mit dem Geistlichen und Doktor beider Rechte Stefan Żuchowski,⁴ der bei einem einschlägigen Prozess von 1710 als Hauptankläger fungierte. Er gab in diesem Zusammenhang bei dem Maler Karol de Prevot eine Reihe von Bildern in Auftrag, die zu den drastischsten Beispielen antijüdischer Ikonographie in Polen-Litauen gehören: Zunächst ent­ stand ein großformatiges Bild in der Marienkirche mit dem Titel „Der Sohn des Apothekers wird von den ungläubigen Juden von Sandomierz getötet“⁵ und wohl um 1715 die beiden Bilder im Presbyterium der St. Pauls-Kirche. Im ersten wird die Entführung eines Kindes durch einen Juden, im zweiten das Ausbluten eines christlichen Kindes durch Juden dargestellt (Abbildungen 1 und 2).⁶ Die beiden Ritualmord-Prozesse von Sandomierz der Jahre 1698 und 1710 und vor allem die Verstärkung und Prolongierung ihrer Wirkung durch Prevots Bilder belasteten das christlich-jüdische Verhältnis nachhaltig und über die Stadtgrenzen hinaus.⁷ Dabei waren dermaßen konkrete Verbildlichungen des Ritualmordvor­ wurfs im polnisch-litauischen Kontext nicht einmalig. Ein an der Außenmauer eines Klosters im großpolnischen Łęczyca aufgehängtes Ritualmord-Bild etwa, das auf 1639 zurückgeht, wurde nach Protesten der örtlichen jüdischen Gemeinde 1825 abgenommen und unter Verschluss gestellt.⁸ Sławiński, Ks. Gabryel Rzączyński SJ (1664–1737), przyrodnik, pierwszy fizjograf Polski [Gabriel Rzączyński (1664–1737), Naturkundler und erster Physiograph Polens], in: Zeszyty Sandomierskie, 10 (1999), S. 39–43. 4 Vgl. dazu: Jacek Wijaczka, Ritualmordbeschuldigungen und -prozesse in Polen-Litauen vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte. Wien/Köln/Weimar 2003, S. 213–232, hier S. 220 f.; Zenon Guldon, Żuchowski Stefan Franciszek, in: Świętokrzyski Słownik Biograficzny, S. 213–215. 5 Lat.: filius apothecari ab infidelibus judaeis sandomiriensibus occisus. Zit. nach: Johanna To­ karska-Bakir, Ganz Andere? Żyd jako czarownica i czarownica jako Żyd w polskich i obcych źródłach etnograficznych, czyli jak czytać protokoły przesłuchań [Ganz Andere? Der Jude als Hexe und die Hexe als Jude in polnischen und anderen ethnografischen Quellen oder eine Leseanleitung zu Verhörprotokollen], in: Res Publica Nowa, 155/8 (2001), S. 3–31, hier S. 18. 6 Vgl. dazu die Bildpublizistik zur angeblichen rituellen Ermordung des Simone von Trient durch die dortige jüdische Gemeinde: Anna Esposito, Das Stereotyp des Ritualmordes in den Trienter Prozessen und die Verehrung des „Seligen“ Simone. In: Buttaroni/Musiał, Ritualmord, S. 131–172, hier S. 133. 7 Wijaczka, Ritualmordbeschuldigungen, S. 220 f. 8 Gertrud Pickhan, Polen. In: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeind­ schaft in Geschichte und Gegenwart. Band 1. Länder und Regionen. München 2008, S. 276–283, hier S. 278.

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Zu Karol de Prevot ist deutlich weniger als zu Rzączyński bekannt.⁹ Seine Ge­ burtsumstände liegen im Dunkeln, wahrscheinlich war er italienisch-französischer Herkunft, seit Beginn des 18. Jahrhunderts dürfte er unter anderem in Sandomierz gelebt und am Hof der regionalen Magnatin und Mäzenin Elżbieta Sieniawska gear­ beitet haben. 1708 übernahm er den Auftrag, für die Innenausstattung der Marienoder Kollegiums-Kirche das sogenannte Martyrologium Romanum anzufertigen, einen zwölfteiligen Zyklus, in dem Martyrien kalendarisch dargestellt werden; in weiterer Folge vermittelte ihm Żuchowski Aufträge für Porträts wichtiger Förderer und Mitglieder des Kapitels. In den Jahren 1708–1737 schließlich fertigte er groß­ formatige Bilder für die Wände unter dem Chor der Marienkirche an: Themen sind die Martyrien der 1260 von den Tataren misshandelten und getöteten Dominikaner und Stadtbewohner, die Belagerung des Schlosses der Stadt durch die Schweden 1655, sowie eine Illustration des jüdischen Ritualmord-Vorwurfes von 1710. Diesen Themen widmen sich auch die Polychromien in der St. Pauls-Kirche, mit denen Prevot zur Ausstattung des hiesigen Altars beitrug. In diesem Zusammenhang entstanden die beiden Ritualmord-Bilder, die hier von Interesse sind. Möchte man die hier aufgerufenen und untersuchten Bilder vorläufig zusam­ menfassend profilieren, bietet sich ein Rückgriff auf W. J. Thomas Mitchells Unter­ scheidung in äußerliches und sichtbares picture einerseits und innerliches und unsichtbares image andererseits.¹⁰ Ersteres steht dann vorrangig für Prevots Ab­ bildungen kollektiver Ritualmordvorwürfe, letzteres vorrangig für Rzączyńskis Einbildung zehrender Wiedergänger. Für das weitere Verständnis ist es wichtig zu ergänzen, dass Sandomierz in der hier untersuchten Zeit in oder zumindest am Beginn einer Phase der Bildreduktion war: Das frühe und hohe 18. Jahrhundert be­ deutete hier sowohl für die Marienkirche als auch für die Synagoge eine Phase der Bildtilgung, da in beiden Gebäuden wohl um diese Zeit reichhaltige Wandbemalun­ gen übertüncht wurden. Die in der Marienkirche um 1420 angelegte byzantinische Polychromie, die so prägnant für die Lage von Sandomierz an der Schnittstelle zwi­ schen Rom und Byzanz war, ist nach mühsamen, im 19. Jahrhundert durchgeführ­ ten Rekonstruktionsarbeiten heute (wieder) zu sehen; auch für die Innenwände der Synagoge ergaben Detailuntersuchungen ältere, wohl auf das 17. Jahrhundert zu­

9 Vgl. dazu: Zenon Guldon, Karol de Prevot, in: Świętokrzyski Słownik Biograficzny, S. 142; vgl. dazu auch: Urszula Stępień, Nieznane listy Karole de Prewo do kanoników Sandomierskich z lat 1708–1728 [Unbekannte Briefe Karol de Prevots an die Kanoniker von Sandomierz aus den Jahren 1708–1728], in: Zeszyty Sandomierskie, 27 (2009), S. 13–20. 10 Vgl. dazu: Martin Schulz, Ordnungen der Bilder. Eine Einführung in die Bildwissenschaft. München 2 2009, S. 124–130.

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rückgehende Spuren reicher Wandbemalungen.¹¹ Diejenigen Bilder, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts weiterhin bestanden bzw. nun neu geschaffen wurden, waren daher umso einprägsamer. In den nächsten Jahrzehnten und Generationen wur­ de der Gesichtssinn, dessen dominante Relevanz in vormodernen Gesellschaften und Diskursen die Kulturanthropologie so betont,¹² in den unmittelbaren Lebens­ welten und medialen Wirkungsbereichen von Sandomierz vor allem hinsichtlich antijüdischer Stereotypen daher umso konzentrierter geprägt.

Gehören die Bilder zu einem standardisierten, kanonisierten Repertoire von Bildern zur Darstellung einer West-Ost-Dichotomie? Weder das Bild des Ritualmordes noch das des schädigenden Wiedergängers ent­ wirft zunächst eine ausdrückliche West-Ost-Dichotomie. Hinsichtlich des Ritual­ mord-Motivs liegt jedoch eine West-Ost-Drift vor, die von einer Nord-Süd-Bewegung überlagert ist und so ein komplexes Transfermuster konstituiert: Wie hier zu zeigen sein wird, wanderte es seit dem 12. Jahrhundert von England zügig nach Spanien, über Frankreich aber auch den Rhein entlang an den Bodensee und in die Schweiz, entlang des Mains und der Donau nach Franken und Thüringen, Böhmen und Österreich. Ende des 15. Jahrhunderts häufen sich Fälle in Oberitalien, ab dem 16. Jahrhundert in Polen.¹³ Im gesamten 18. Jahrhundert brachte Polen-Litauen etwa 30 Fälle von teilweise gut dokumentierten Ritualmordvorwürfen und -prozessen hervor¹⁴, von denen die beiden von Sandomierz 1698 und eben 1710 wohl die spektakulärsten sind – nicht zuletzt wegen der Bilder Prevots, die gemäß Żuchowskis Intention nachweislich die Funktion appellativer Ausübung von Druck erfüllten. Ausdrücklich sollte Prevot nämlich „ein richtiges Bild des Körpers mit allen Narben malen, das später als

11 Krzysztof Baczkowski, Dzieje Polski późnośredniowiecznej (1370–1506). Wielka Historia Polski 3. Kraków 1999, S. 196; Stanisław Szczur, Historia Polski. Średniowiecze. Kraków 2002, S. 586; Aneta Majka/Witold Majka, Sandomierska Synagoga, in: Zeszyty Sandomierskie, 15 (2002), S. 10–15. 12 Vgl. dazu: Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004, S. 94 f. 13 Rainer Erb, Die Ritualmordlegende: Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. In: Buttaro­ ni/Musiał, Ritualmord, S. 11–20, hier S. 13 f. 14 Wijaczka, Ritualmordmordbeschuldigungen, S. 224.

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ein augenfälliger Beweis der jüdischen Grausamkeit dienen werde“¹⁵; gelegentlich zwang das mit den Ritualmord-Vorwürfen betraute Gericht die Angeklagten sogar, die Bilder während der Verhöre anzusehen.¹⁶ Sie dürften jedenfalls über den enge­ ren lokalen Zusammenhang des städtischen Weichbildes hinaus gewirkt haben, etwa in einer 1726 in Rozwadów, etwa 20 km südlich von Sandomierz durchge­ führten Untersuchung gegen den jüdischen Schankwirten Szmul Dubiński, der in Fragen des Ritualmords, der Christusleugnung und des Bilderstreits auffällig geworden war.¹⁷

Abb. 3: Ausblutung des William of Nor­ wich, Trinity College, Loddon, spätes 15. Jahrhundert.

15 Stefan Żuchowski, Proces kryminalny o niewinne dziecię Jerzego Krasnowskiego. Już to trzecie roku 1710 dnia 18 sierpnia w Sandomierzu okrutnie od Żydów zamordowane. Do odkrycia jawnych kryminałów żydowskich, dla przykładu sprawiedliwości potomnym wiekom [Strafrechtsprozeß um das unschuldige Kind Jerzy Kranowski, das bereits dritte in Sandomierz von Juden am 18. August 1710 grausam ermordete Kind. Zur Aufdeckung aller jüdischen Verbrechen, künftigen Zeiten als Beispiel der Gerechtigkeit]. Sandomierz 1713, S. 281, zit. nach: Wijaczka, Ritualmordbe­ schuldigungen, S. 221. 16 Joanna Tokarska-Bakir, Obrazy sandomierskie, in: Res Publica Nowa, 191/1 (2007), S. 18–63, hier S. 22. 17 Yvonne Kleinmann, „Blasphemie“ wider den katholischen Glauben? – Der Falle eines jüdi­ schen Schankwirts in Polen 1726. In: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte. Göttingen 2005, S. 37–66.

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Prevots Bilder stehen somit in einer ikonographischen Tradition, die von Westen nach Osten arbeitete: Der älteste belegte Fall ist der von Thomas von Monmouth überlieferte Fall des William of Norwich und datiert auf das Jahr 1144 zurück;¹⁸ die älteste Darstellung dieses Falles aus dem Trinity College in Loddon stammt allerdings aus dem späten 15. Jahrhundert (Abbildung 3). Sie entstand also in etwa zeitgleich mit der Darstellung des Simone von Trient – dessen Fall geht auf das Jahr 1475 zurück und wurde bereits 18 Jahre später von Michael Wohlgemut in der Sche­ del’schen Weltchronik abgebildet¹⁹ (Abbildung 4). Die formalen Parallelen beider – und einer Reihe weiterer – Darstellungen mit dem Bild Prevots (Abbildung 2) sind evident und ermöglichen im Sinne von Roland Barthes eine seriell-semiotische Lesbarkeit (Code) und Verständlichkeit (Botschaft) des Bildes durch Betrachter

Abb. 4: Michael Wohlgemuth, Ausblutung des Simone von Trient, Weltchronik des Hartmann Schedel, 1493.

18 Grundlegend dazu: Gavin I. Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism. Berkeley/Los Angeles/London 1996, v. a. S. 209–236. 19 Esposito, Das Stereotyp, S. 133.

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(Empfänger)²⁰ unterschiedlicher sozialer Schichtung; eine diskursive Verdichtung in dieser Reihe repräsentiert die wiederholte Verwendung des Motivs in der na­ tionalsozialistischen Propaganda-Zeitung „Der Stürmer“, etwa in der dem Thema Ritualmord gewidmeten Nummer 20 aus dem Mai 1939, wo auf dem Titelbild eine weitere Variante aus dem 17. Jahrhundert zur Konkretisierung und Verbildlichung antisemitischer Vorstellungen aufgegriffen wird. Grundlegend in der gesamten Serie ist die Körperhaltung des Kindes ana­ log zum Gestus des gekreuzigten Christus, womit die Juden als Christusmörder einschlägig markiert sind. Legenden über die Misshandlung des Abbildes Jesu Christi durch jüdische Gemeinden kursierten seit der Spätantike; seit dem hohen Mittelalter wurde in Analogie zur steten Erneuerung des Kreuzopfers im Akt der Eucharistie ein jüdisches Ritual angenommen, in dem angeblich die Kreuzigung regelmäßig wiederholt wurde.²¹ Stärker in den gestaltungstechnischen Kontext ihrer engeren Entstehungszeit und -umstände gestellt, sind Prevots Bilder Zerrbilder, die die Traditionen der barock-gegenreformatorischen Bildkonventionen nutzen. Zwei Momente konkre­ tisieren diesen Umstand. Zum einen kam nämlich eine in der höfischen Malerei seit dem 17. Jahrhundert entwickelte Kompositionstechnik Prevots Intentionen offensichtlich weit entgegen: Die Bildebene durchschneidet dabei einen in diesem Fall imaginären Raum, dessen Boden und Seiten „sich so weit erstrecken, dass man den Eindruck hat, sie bezögen auch noch den Betrachter mit ein.“²² Ähnlich wirken die Ritualmord-Bilder Prevots, besonders das zur Entführung des christli­ chen Kindes (Abbildung 1). Das dargestellte Kind löst Betroffenheit aus, da es in beiden Bildern passiv-unschuldig bleibt, wie es bereits Thomas von Monmouth dargestellt und damit eine denkbar unmittelbare und buchstabengetreue Übernah­ me des Motivs vom unschuldigen Kind angeleitet hatte. Zum anderen rekurriert das Ritualmord-Motiv verzerrend auf das Motiv des Letzten Abendmahls, wofür das Bild zur Ausblutung des Kindes (Abbildung 2) herangezogen werden kann: Die gegenreformatorische Bildsprache ist vielfach durch das Bild des platonischen Gastmahls geprägt. Das Symposion wurde als Medium der Diskussion, als Referenz an die Fröhlichkeit menschlicher Kontakte, als Bild des perfekten Gleichgewichtes

20 Vgl. dazu: Schulz, Ordnungen, S. 106. 21 Stefan Rohrbarcher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991, S. 269–274. 22 Vgl. Svetlana Alpers, Interpretation ohne Darstellung – oder: Das Sehen von Las Meninas. In: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen/Basel 2 2001, S. 209–228, hier S. 209.

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innerhalb von (vor allem männlichen) Gesellschaften gesehen.²³ Auch als Zerrbild des platonischen Gastmahls kann das Bild somit gelesen werden. Jedenfalls steht es formal wie inhaltlich in gesamteuropäischen ikonographischen Traditionen, ist Schlagbild im Sinne Aby Warburgs²⁴ und vermittelt „nachlebende Botschaften“²⁵. Im Gegensatz dazu steht das Bild vom zehrenden Untoten ganz am Beginn eines europaweiten Diskurses, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der hier untersuchten Textstelle Rzączyńskis erst durch zwei prominente Fälle in den Jahren 1725 und 1732 markiert werden sollte:²⁶ Gehäufte Todesfälle und Gerüchte um Wiedergänger sollten die Administration im Südosten der Habsburgermonarchie im heutigen Serbien beschäftigen und ihre Repräsentanten veranlassen, Leichen zu exhumieren, ihre verhältnismäßig geringe Verwesung festzustellen – viele hatten Blut im Mund – und deren Verbrennung durch die lokale Dorfbevölkerung mindestens zu dulden; das mediale Echo dieser Vorfälle war, gemessen an den Möglichkeiten der Zeit, enorm.²⁷ Sie waren nicht grundlegend neu, wurden mit den genannten Fällen jedoch überregional prominent und konstituierten die Bewegung eines Bildes vom (Süd)Osten nach (Nord)Westen hin zu den Zentren aufgeklärter Diskussion. Signifikant ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Terminus upi(e)r, den Rzączyński unter Verweis auf räumlich-philologische Distinktheiten aus dem Volksglauben und ihrer spezifischen Sprache in einen wissenschaftlichen, in lateinischer Sprache geführten Diskurs überführt: Er interpretiert den Begriff aus der phonetischen Nähe zum slawischen Wortnest für Feder (z. B. russ. pero, poln. pióro) und charakterisiert den Wiedergänger daher als gefiedertes und leicht bewegliches Wesen.²⁸ In dieser Prägung eines Sprach-Bildes liegt Rzączyńs­ kis zentrale Bedeutung in diesem Kontext, die übrigens im wissenschaftlichen Vampirismus-Diskurs weitestgehend vergessen ist.²⁹ Über derartig euphemistische Beschreibungen hinaus wären Bilder verwesen­ der, geblähter Leichname wohl zu drastisch gewesen und wurden daher vermieden.

23 Vgl. dazu: Karen Pinkus, Picturing Silence. Emblem, Language, Counter-Reformation, Mate­ riality. Ann Arbor 1996, S. 102 f. 24 Vgl. dazu: Michael Diers, Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Frankfurt am Main 1997. 25 Schulz, Ordnungen, S. 50. 26 Vgl. dazu: Peter Mario Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Be­ deutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum. Berlin 2001, S. 81–96. 27 Vgl. dazu: Florian Kührer, Vampire. Monster – Mythos – Medienstar. Kevelaer 2010, S. 64–74. 28 Vgl. dazu: Kreuter, Der Vampirglaube, S. 70; Klaus Hamberger, Mortuus non mordet. Doku­ mente zum Vampirismus 1689–1791. Wien 1992, S. 18. 29 Zu Rzączyński vgl. Montague Summers, The Vampire in Europe. London 1929 (Reprint London 1996), S. 143 und S. 158; Hagen Schaub, Blutspuren. Die Geschichte der Vampire. Graz 2008, S. 75.

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Der von Rzączyński (mit)geprägte Verzicht auf Abbildung ist somit für die Vampi­ rismus-Diskussion des 18. Jahrhunderts charakteristisch, wie ja die Aufklärung Bildern gegenüber generell äußerst skeptisch war. Christian Wolff etwa erteilte der Malerei oder der Bildhauerei, die sinnliche Vorstellungen suggerieren und den Ver­ stand umgehen würden, in seinen „Vernüfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen“ 1720 – noch ein Jahr, bevor Rzączyński die Artikulation seiner Vorstellung veröffentlichte – eine Absage.³⁰ In der aufgeklärten Diskussion wurde somit die Vorstellung von Vampiren rasch der Idee der Korruption der Sinne untergeordnet – ein führender Teilnehmer an der Vampirismus-Diskussion der 1730-er Jahre, Johann Christoph Harenberg, führte sie auf Trugbilder zurück und bot dafür ein spezifisches Orientalismus-Bild an, nämlich den Gebrauch von Opium im Umfeld des Osmanischen Reiches.³¹ Somit ist es jedenfalls „das Täuschungspo­ tential einer unregulierten produktiven Phantasie, das den Vampirdiskurs ab 1730 zu beschäftigen beginnt. Diese Verschiebung der Blickrichtung weg vom toten Körper hin zur Einbildungskraft der Lebenden vermag zu erklären, weshalb der Vampir des 18. Jahrhunderts so arm am Imaginären ist, dass man von der Absenz oder einem Ausfall des Vampirs als imaginärer Figur sprechen kann.“³²

Sind die verwendeten Bilder einem kolonialen Muster von Zentrum und Peripherie einzuschreiben? Die Vampirismus-Vorfälle an der habsburgisch-osmanischen Grenze leiten zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie über. Wie bereits deutlich wurde, beweg­ te sich die einschlägige Diskussion ja von den Rändern hin zu den Zentren der Aufklärung – Vampirismus wurde in der geschichtswissenschaftlichen Forschung sogar als grundlegende imperiale Kategorie zur Markierung von Peripherien festge­ stellt:³³ Seit dem Mittelalter war die Vorstellung präsent, Seuchen und Epidemien

30 Anja Lauper, Die „phantastische Seuche“. Johann Christoph Harenbergs Theoretisierung der vampiristischen Einbildungskraft. In: Christian Begemann/Britta Herrmann/Harald Neumeyer (Hg.), Dracula unbound. Kulturwissenschaftliche Lektüren des Vampirs. Freiburg im Breisgau/ Berlin/Wien 2008, S. 51–73, hier S. 68. 31 Johann Christoph Harenberg, Vernünfftige und Christliche Gedancken über die Vampirs oder blut-saugenden Todten (. . . ). Wolfenbüttel 1733. In: Hamberger, Mortuus, S. 122–129, hier S. 127. 32 Lauper, Die „phantastische Seuche“, S. 67 f. 33 Thomas Bohn, Vampirismus in Österreich und Preussen. Von der Entdeckung einer Seuche zum Narrativ der Gegenkolonisation, http://www.kakanien.ac.at/beitr/vamp/TBohn1.pdf (Zu­

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seien das Werk schädigender und wiedergehender Toter³⁴ – Gesundheitsvorsor­ ge und Hygienemaßnahmen sollten ja im Lauf des 18. Jahrhunderts zu zentralen Begriffen zentralisierender und modernisierender Durchdringung und in diesem Sinne gelungener Durchsetzung von Staatlichkeit werden.³⁵ Harenberg knüpf­ te implizit an diesen Hygienediskursen der Zeit an, wenn er argumentierte, die suggestive Wirkung von Bildern könne durchaus körperlich die Einbildungskraft verstärken, und vorschlug, dieser mit elaborierten Diäten zu begegnen.³⁶ Stärker auf das Zentrum-Peripherie-Paradigma der lokalen, dezentralen Le­ benswelt fokussiert, ist die von Rzączyński vorgenommene Verortung von Wieder­ gängern an seit der Antike als machthaltig markierten und durch das Christentum dämonisierten Wegkreuzungen³⁷ signifikant: Diese suggerieren zwar dörfliche Pe­ ripherie – für städtische Straßenkreuzungen können Grabstätten ausgeschlossen werden –, beanspruchen aber verkehrstechnische Zentrierung. Figur und Diskurs des Vampirs wurden in der weiteren einschlägigen zeitgenössischen Literatur je­ doch vor allem dem größerräumigen Verhältnis von Zentrum und Peripherie zuein­ ander eingeschrieben. Ein weiterer prominenter Vampirologe des 18. Jahrhunderts etwa, der lothringische Benediktiner Augustin Calmet, räumte den Vampiren des polnisch-russischen Grenzraumes³⁸ – implizit im Gegensatz zu denen Ungarns und des Balkanraumes – ein, auch tagsüber, von Mittag bis Mitternacht wirken zu können.³⁹ Calmet reklamierte mithin den weiteren Raum um Sandomierz als Gebiet erweiterten vampirischen Wirkens und drang damit 1751 in den deutschen Sprachraum vor – zu diesem Zeitpunkt erschien nämlich zuerst die deutsche Aus­ gabe seiner 1746 publizierten Dissertation sur les apparitions des esprits et sur les vampires ou les revenants de Hongrie, de Moravie etc., die in guter Vernetzung zu polnischen Priestern entstanden war,⁴⁰ also wohl zu Rzączyński und seinen Wir­ kungsfeldern. Von ihnen wusste Calmet: „Man glaubt auch in Polen so fest, dass es

griff: 03.08.2015); zu vampirologischen narrativen Elementen im Galizien-Diskurs vgl. Chris­ toph Augustynowicz, Blutsaugen als othering oder Reiseerfahrungen aus dem Galizien des 18. Jahrhunderts. Einige Beobachtungen zu Postkolonialismus und Vampir(ismus)-Diskurs, http: //historyka.edu.pl/en/article/art/historica-2012-29 (Zugriff: 03.08.2015). 34 Claude Lecouteux, Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. Düsseldorf/ Zürich 2001, S. 169. 35 Barbara Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2 2011, S. 225 f. 36 Lauper, Die „phantastische Seuche“, S. 69 f. 37 Dieter Harmening, Wörterbuch des Aberglaubens. Stuttgart 2005, S. 444 f. 38 Schaub, Blutspuren, S. 80. 39 Augustinus Calmet, Gelehrte Verhandlung der Materie von den Erscheinungen der Geister, und der Vampire in Ungarn und Mähren. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Abraham und Irina Silberschmidt. Rudolstadt 2006, S. 206. 40 Ebenda, S. 273.

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Vampire gebe, dass der, welcher diesem widerspräche, für einen Ketzer gehalten würde.“⁴¹ Calmet konstruierte also den Vampirismus-Glauben als peripheres Phä­ nomen, machte aber gleichzeitig dessen diskursive Dominanz klar und löste so das Zentrum-Peripherie-Verhältnis auf. In Neapel hatte Kardinal Giuseppe Davanzati bereits in seiner 1739 verfassten und 1744 veröffentlichten Dissertazione sopra i vampiri⁴² die Mikroebene der Zentrum-Peripherie-Diskussion im Sinne Rzączyńs­ kis thematisiert, wenn auch medial ungleich wirkmächtiger: Der Vampirglaube, so das unmissverständliche Plädoyer Davanzatis, sei ein Phänomen der Dörfer, konkret der Dörfer Mährens und Ungarns. Bald wurden auch christlich-jüdisches Verhältnis und Vampirismus-Diskurs einander ausdrücklich eingeschrieben. Harenbergs Versuch, die Theorie einer spezifischen vampirologischen Einbildungskraft aufzustellen, wurde hier bereits vorgestellt. Im Rahmen dessen sah auch er die Opfer des Vampirglaubens vor allem zum einen an der Peripherie verortet und zum anderen durch Volksglauben motiviert, den er seinerseits als durch Isolation und Klerus forciert sah.⁴³ In seinen „Vernünfftigen und Christlichen Gedanken über die Vampirs“ von 1733 meinte er, „dieser Wahn (sei) bey Jüden und Christen, bey Griechen und Lateinern, bey Ungarn, Pohlen, Teutschen und andern Völckern seit undencklichen Zeiten her aufgehalten.“⁴⁴ Gleichsam zur Bestätigung und im Sinne ethnologischen Wis­ sens dokumentierte er den jüdischen Brauch, die vier Zipfel des Leichentuches abzuschneiden, damit der Tote nicht daran kauen kann und knüpft damit bei Rząc­ zyński an. Davor hatte im großen Vampirdiskurs-Jahr 1732 Georg Sarganeck aus Neustadt an der Aisch den Vampirismus in den engeren Zusammenhang jüdischer Einflüsse gestellt; schon 1708 – und somit noch vor Rzączyński – hatte sich in Weimar Philipp Grossgebauer ähnlich geäußert.⁴⁵ Auch ein weiterer prominenter Autor der Vampirismus-Diskussion, Michael Ranfft, diskutierte in seinem Traktat „Vom Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern“ von 1734 den Vampirglauben

41 Ebenda, S. 274. 42 Giuseppe Davanzati, Dissertazione sopra i vampiri, Napoli 1774 (sic!). In: Hamberger, Mortuus, S. 228–234, hier S. 232, zur Datierung auf 1744 vgl. Gábor Klaniczay, Historische Hintergründe: Der Aufstieg der Vampire im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts. In: Julia Bertschik/Christa Agnes Tuczay (Hg.), Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen 2005, S. 83–111, hier S. 103. 43 Lauper, Die „phantastische Seuche“, S. 54 f. 44 Zit. nach: Schaub, Blutspuren, S. 18. 45 Ebenda, S. 67 und S. 126.

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als Ausdruck von Ein- und Ausschlussmechanismen auf der Grundlage räumlicher und religiöser Bezüge⁴⁶ und bezog sogenannte sarmatische Vorstellungswelten von lärmenden Geistern in die Diskussion mit ein.⁴⁷ Um den Anschluss an die Ritualmordbeschuldigungen zu argumentieren ist daran zu erinnern, dass auch diese als Phänomene der räumlichen und funktiona­ len Peripherie kolportiert wurden – vor allem die vatikanische Politik war darum im Zeichen der Aufklärung nachhaltig bemüht. In den 1750-er Jahren intervenier­ ten jüdische Gemeinden Polen-Litauens bei Papst Benedikt XIV., der sie zuvor ausdrücklich in Schutz genommen hatte, gegen Ritualmord-Vorwürfe. Auch der spätere Papst Klemens XIV., Kardinal Lorenzo Gaganelli, nahm 1758 ausdrücklich und kategorisch gegen die Beschuldigungen Stellung – erst diese Schrift dürften wenigstens die Eliten seiner Zeit von der Irrigkeit der Anschuldigungen rund um die Ritualmordprozesse überzeugt haben.⁴⁸ Wie langfristig das Bild des Ritualmordes aber auf die Vorstellungswelt der Christen und das Image der Juden wirkte, kann hier nur durch einige Schlaglich­ ter skizziert werden. Auf lange Sicht ist dort, wo sich Spuren und Elemente des Ritualmordvorwurfes und -verdachtes konservierten, der Gegensatz zwischen Zen­ trum und Peripherie nachhaltig verschliffen: Das 19. Jahrhundert hindurch, ja bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sind prominente Fälle von Ritualmord-Anschuldi­ gungen im zentralen und östlichen Europa zu verorten, zum Beispiel sowohl im Zentrum der Ukraine (Kiev 1911) als auch in der polnischen Provinz (Kielce 1946). Im größeren räumlichen Maßstab sei daran erinnert, dass in Rinn in Tirol der an­ gebliche Ritualmord am hier seit dem 17. Jahrhundert verehrten Anderl noch 1954 szenisch dargestellt, also abgebildet wurde⁴⁹ und die Vorstellung vom Ritualmord im Alpenraum somit sogar bis in die Gegenwart noch aktiv fortwirkt.⁵⁰

46 Vgl. dazu: Oliver Hepp, Vom Aberglauben hin zur „magischen Würckung“ der Einbildung. Michael Raffts Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern. In: Christoph Augus­ tynowicz/Ursula Reber (Hg.), Vampirglaube und magia posthuma im Diskurs der Habsburger­ monarchie. Wien/Berlin 2011, S. 105–123, hier S. 115–120. 47 Michael Ranft, Traktat von dem Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern. In einer Bearbei­ tung durch Nicolaus Equiamicus. Diedorf 2006, S. 31. 48 Daniel Tollet, Der Bericht von Lorenzo Ganganelli über den Ritualmord. In: Ritualmord, S. 233–247, hier S. 234–238 und S. 242. 49 Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder, S. 287. 50 Vgl. dazu: http://derstandard.at/2000008593311/Kult-um-Anderl-von-RinnTotgesagte-lebenlaenger (Zugriff: 03.08.2015).

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Zusammenfassung: Langzeitwirkung und Effizienz der Diskurse und ihrer Bilder Es mag die Frage aufgekommen sein, warum Bilder von Ritualmord und Vampiris­ mus – abgesehen von räumlicher und zeitlicher Nähe ihrer Entstehungsumstände – hier zueinander in Beziehung gesetzt wurden. Zusammenfassung und abschlie­ ßend sei eine Antwort durch Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer diskursiven Langzeitwirkung und Effizienz gegeben. Für die unmittelbare Auswahl des Material erwiesen sich dabei der New Historicism und die Mikrohisto­ rie als methodisch anleitend: „Überzeugen kann der New Hisoricism nur da, wo er Einzelverbindungen aufzeigt, einzelne Diskursfäden in verschiedene Regionen des historisch-kulturellen Gewebes verfolgt.“⁵¹ Folgt man nämlich den angebotenen Diskursfäden, ist festzustellen, dass beide hier untersuchten Bilder in einem Raum entstanden, der unter Umständen als (Semi-)Peripherie zu charakterisieren ist, jedoch ganz sicher zentrale Themen und Diskurse der Aufklärung transportierte und in diesem Sinn in mentalitätshistorisch langfristige Wirksamkeiten eingebettet ist. Beide bilden geistige Intentionalität mit ab, sind in diesem Sinne konventionale Zeichensysteme⁵² und stehen kurz vor oder unmittelbar an der Schwelle von symbolischem zu buchstabengetreuem⁵³ Denken – schon strukturalistische Ansätze verstehen das 18. Jahrhundert als die Zeit, in der das Denken in Ähnlichkeiten durch Systeme der Repräsentation und Zeichen ersetzt oder zumindest ergänzt wurde.⁵⁴ Beide Phänomene wirkten schließlich

51 Moritz Baßler, Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, in: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen/Basel 2 2001, S. 7–28, hier S. 19. Zu einem möglichen Zusammenhang zwischen Wiedergänger- und Ritualmord-Motiv siehe zuletzt: Thomas M. Bohn, Der Vampir. Ein europäischer Mythos. Köln/ Weimar/Wien 2016, S. 47 f. 52 Oliver Robert Scholz, Abbilder und Entwürfe. Bilder und die Strukturen der menschlichen Intentionalität. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt am Main 2009, S. 146–162, hier S. 153 und S. 158. 53 Vgl. dazu: Peter Burke, Historiker, Anthropologen und Symbole. In: Rebekka Habermas/Nils Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthropologie. Berlin 1992, S. 21–41, hier S. 34–36. 54 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main 1974, S. 83–107.

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wenn schon nicht als Varianten, dann doch als mehr oder weniger kontinuierliche Fortführungen des Hexenwahns.⁵⁵ Beide Motive wurden schließlich zum einen von der Aufklärung zurückge­ wiesen, zum anderen aber mit und aus ihr belegt. Hinsichtlich der Aufklärung wirkte somit in beiden untersuchten Fällen die „doppelte Funktion der Medien. Was aufklären sollte, konnte zugleich alte Glaubensformen alimentieren.“⁵⁶ Die symbolische, zyklische Wiederkehr der Toten, welche der Vampirglaube verbild­ licht hatte, wurde nun zum wissenschaftlich und somit auch historisch belegten Faktum. Die Vorstellung des Ritualmordes hingegen als Bild der zugespitzten religiös-kulturellen Fremdheit wurde durch die sozialen Realitäten nachhaltig gestützt. Das imaginäre Bild wiedergehender Toter wurde von manchen Vertretern der Aufklärung zumindest überprüft, die verbildlichte Idee einer jüdischen Dis­ tinktheit, die sich in Blutvergießen äußerte, von denkbar prominenten Vertretern der Aufklärung offensiv vertreten und prolongiert. Als paradigmatisch für diese Ambivalenz der Aufklärung sei mit Voltaire ganz zum Schluss eine ihrer zentralen Figuren aufgerufen, der den Blutsauger zur Metapher für soziale Ungleichheit und Ausbeutung machte und somit nachhaltig ein Bild prägte, das bereits auf seine unmittelbare Gegenwart wirkte, wurde doch in der Propagandasprache der Französischen Revolution König Ludwig XVI. wiederholt als Blutsauger bezeich­ net.⁵⁷ Noch eine Generation davor, in seinem berühmten Dictionaire philosophique von 1764, markierte Voltaire zwar den Glauben an Wiedergängertum rigoros als unaufgeklärt,⁵⁸ perpetuierte aber gleichzeitig die Vorstellung der Menschenopfer und des Kannibalismus als Teil der jüdischen Lebens- und Glaubenswelt.⁵⁹

55 Tokarska-Bakir, Ganz Andere?, S. 6; Karen Lambrecht, Hexenverfolgung und Zaubereiprozesse in den schlesischen Territorien. Köln/Weimar/Wien 1995, S. 385–399; vgl. dazu auch: Schaub, Blutspuren, S. 49–51. 56 Sabine Doering-Manteuffel, Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web. München 2008, S. 103. 57 Wolfgang Schmale, Das 18. Jahrhundert. Wien 2012, S. 251 f. 58 Zit. nach: Hamberger, Mortuus, S. 263–267. 59 Agnieszka Pufelska, Voltaire. In: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Juden­ feindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 2/2. Personen L–Z. Berlin 2009, S. 854 f.

Abbildungsverzeichnis Wolfgang Schmale Das östliche Europa: (Fremd-?)Bilder im Diskurs des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus. Eine Keynote Abb. 1

Sofia, Rotunde Sveti Georgi (Foto: W. S.) | 11

Christoph Augustynowicz Bildproduktionen an der Peripherie. Der Fall der kleinpolnischen Stadt Sandomierz Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3 Abb. 4

Karol de Prevot, Entführung eines christlichen Kindes durch einen Juden, Presbyterium der St. Pauls-Kirche in Sandomierz, um 1715 (aus: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte. Wien/Köln/Weimar 2003, S. 223) | 213 Karol de Prevot, Ausbluten des christlichen Kindes durch die jüdische Gemeinde, St. Pauls-Kirche in Sandomierz, um 1715 (aus: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte. Wien, Köln, Weimar 2003, S. 223) | 213 Ausblutung des William of Norwich, Trinity Church, Loddon, spätes 15. Jahrhundert (Wikimedia Commons) | 218 Michael Wohlgemuth, Ausblutung des Simone von Trient, Weltchronik des Hartmann Schedel, 1493 (Wikimedia Commons) | 219

Autorenverzeichnis Magdalena Andrae, Studium der Geschichte (Schwerpunkt Frühe Neuzeit) und Vergleichenden Literaturwissenschaft (Schwerpunkt Literatur & Ökonomie) an der Universität Wien, Teilnahme am Lehrgang Library and Information Studies. Abschluss mit einer kooperativen Abhandlung zum Thema „Umsetzung von Kör­ perschaften in RDA am Beispiel der Entität Kongress“. Derzeit an der Universitäts­ bibliothek der TU Wien tätig ([email protected]) Christoph Augustynowicz, Studium der Geschichte und Slawistik. Dissertation 1997 mit der Arbeit „Die Kandidaten und Interessen des Hauses Habsburg in Po­ len-Litauen während des Zweiten Interregnums 1574–1576“ (2001 publiziert). Habi­ litation 2007 mit der Arbeit „Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772–1844“ (2015 publiziert). Ao. Univ.-Prof. an der Universität Wien ([email protected]). Hauptforschungsinteressen: Bezie­ hungen der Habsburger zum östlichen Europa in der Frühen Neuzeit; galizisch-pol­ nische Grenzraumforschung; Sozialgeschichte Polen(-Litauens) unter besonderer Berücksichtigung der Juden; Bilder und Stereotype des östlichen Europa (Vam­ pir(ismus)glaube); Historiographiegeschichte (Ostmitteleuropa-Konzeptionen). Marc Banditt, Studium der Geschichte, Anglistik/Amerikanistik und Politikwis­ senschaften, abgeschlossen im Jahr 2011 mit der Magisterarbeit „Die USA und die Haitianische Revolution“. Zur Zeit Doktorand an der Universität Potsdam ([email protected]) und Stipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung. Promotion zur Aufklärung in Danzig. Letzte Veröffentlichung: „Beobachtungen und Belage­ rungen. Julius August Koch und die Sternwarte der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig“, in: Westpreußen-Jahrbuch 66 (2016). Dariusz Dolański, Studium der Geschichte. Dissertation 1996 an der Universität Poznań mit der Arbeit „Reformacja w księstwie głogowskim“, Habilitation an der Universität Zielona Góra mit der Arbeit „Zachód w polskiej myśli historycznej czasów saskich“, Professor Titel 2015 mit der Arbeit „Trzy cesarstwa. Wiedza i wyobrażenia o Rosji, Niemczech i Turcji w Polsce XVIII wieku“. Aktuelle Position: Direktor des Historischen Instituts an der Universität Zielona Góra und Professor für die Geschichte der Wissenschaft und Kultur ([email protected]). Hauptfor­ schungsinteressen: Aufklärung in Polen; Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert; Theorie und Methoden des Kulturtransfers und Multikulturalismus. Agnieszka Dudek, Doktorandin am Doktorandenkolleg „Das österreichische Gali­ zien und sein multikulturelles Erbe“ und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Wien. Im Rahmen der Promotion beschäftigt sie sich mit trans-, inter-

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und multikulturellen Phänomenen in der Habsburger Monarchie am Beispiel des galizisch- österreichisch-schlesischen Grenzgebietes. Forschungsschwerpunkte: Trans-, Inter- und Multikulturalität; kulturelle Hybridität; Geschichte Zentraleuro­ pas; Grenzregionen. Letzte Veröffentlichung: „Das ‚Habsburgisch-Hybride‘: die galizisch-schlesischen Habsburger an der oder über die Grenze hinaus?“, in: Öster­ reich in Geschichte und Literatur (mit Geographie), Wien 2015, (agnieszka.dudek@ univie.ac.at). Róisín Healy, Studium der Germanistik und Geschichte und Kulturwissenschaften an der University College Dublin und Georgetown University. Aktuelle Position: Lecturer an der National University of Ireland Galway ([email protected]). Autorin von „The Jesuit Specter in Imperial Germany“ (2003) und „Poland in the Irish Nationalist Imagination: Anti-Colonialism within Europe, 1772–1922“ (2017). Hauptforschungsinteressen: Irisch-polnische Beziehungen; deutsche Polenpolitik im langen 19. Jahrhundert; komparative Minderheitenpolitik. Kerstin S. Jobst, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Russlands, der Ukraine und des Schwarzmeerraumes, gegenwärtig verfasst sie eine Monographie zur Geschichte der Halbinsel Krim von der Antike bis zur Gegenwart. Zu ihren Veröffentlichungen gehören u. a. „Die Perle des Imperiums. Der russische KrimDiskurs im Zarenreich“, Konstanz 2007, „Geschichte der Ukraine“, Stuttgart 2015, 2., aktualisierte Auflage ([email protected]). Klemens Kaps, Studium der Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft in Wien und Barcelona, 2011 Promotion mit der Arbeit „Ungleiche Entwicklung in Zen­ traleuropa. Galizien zwischen überregionaler Arbeitsteilung und imperialer Politik (1772–1914)“. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien und Leiter des vom FWF geförderten For­ schungsprojekts „Vermittler zwischen einem polyzentrischen Reich und globalen Märkten, 1713–1815“. Hauptforschungsinteressen: Handelsgeschichte, Weltsystem­ theorie, soziale und kulturelle Dimensionen von Entwicklungsdiskursen in der Habsburgermonarchie ([email protected]). Steven Müller, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie der Politi­ schen Wissenschaft an den Universitäten Heidelberg und St. Petersburg (B. A.), Studium der Osteuropäischen Geschichte an der Universität Wien (M. A.). Zur Zeit Promovend an der Friedrich-Schiller-Universität Jena in Kooperation mit der Universität Wien ([email protected]) zum Thema: „Wer regiert Russ­ land? – Das Aufbegehren des russischen Adels 1730 als Gefährdung der Monarchen Europas?“

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Tilman Plath, Studium der Osteuropäischen Geschichte und Philosophie in Kiel und Riga. Dissertation 2011 mit der Arbeit „Zwischen Schonung und Menschenjag­ den. Die Arbeitseinsatzpolitik in den baltischen Generalbezirken des Reichskom­ missariats Ostland 1941–1944“, Essen 2012. Habilitationsprojekt zum Thema „Zu viele Fenster nach Europa? Russländischer Außenhandel im 18. Jahrhundert“. Zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Greifswald ([email protected]). Hauptforschungsinteres­ sen: Deutsche Besatzungspolitik im Baltikum 1941–1945; Lettische Geschichte im 20. Jahrhundert; Geschichte des Handels und des ökonomischen Denkens in Russland im 18. Jahrhundert. Agnieszka Pufelska, Studium der Germanistik, Geschichte und Kulturwissenschaf­ ten. Dissertation 2005 mit der Arbeit „Die ‚Judäo-Kommune‘ – ein Feindbild in Po­ len. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948“ (2007 publiziert). Habilitation 2015 mit der Arbeit „Der bessere Nachbar? Das polnische Preußenbild in der Zeit der Aufklärung“. Zur Zeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nord-Ost-Institut Lüneburg e. V. ([email protected]). Haupt­ forschungsinteressen: Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen; jüdische Kulturgeschichte; Theorie und Methoden der Kulturgeschichtsschreibung; Preußi­ sche Geschichte und Historiographie. Wolfgang Schmale, Studium der Geschichte, der französischen Sprach- und Li­ teraturwissenschaft, der Pädagogik mit Philosophie und Didaktik. Dissertation 1984 mit der Arbeit „Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich. Untersuchungen zu Prozessen zwischen Bauern und Seigneurs vor dem Parlament von Paris (16.-18. Jh.)“ (1986 publiziert). Habilitation 1995 mit der Arbeit „Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma“ (1997 publiziert). Zur Zeit Professor für Ge­ schichte der Neuzeit an der Universität Wien ([email protected]). Hauptforschungsinteressen: Geschichte Europas; Geschichte der Menschenrechte; Geschlechtergeschichte; Digital Humanities. Marija Wakounig, a. o. Univ.-Prof. am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte: Diplomatiegeschichte (Mittelalter bis Gegenwart); Adelsgeschichte (Mittelalter bis Gegenwart); Gesellschafts-, Wissen­ schafts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des östlichen Europa und des AlpenAdria-Raums; Frauen- und Geschlechtergeschichte des östlichen Europa und des Alpen-Adria-Raums ([email protected]).