Konstellationen - Versuchsanordnungen des Schreibens 9783737001595, 9783847101598, 9783847001591


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German Pages [244] Year 2013

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Konstellationen - Versuchsanordnungen des Schreibens
 9783737001595, 9783847101598, 9783847001591

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Schriften der Wiener Germanistik

Band 1

Herausgegeben von Konstanze Fliedl, Eva Horn, Roland Innerhofer, Matthias Meyer, Stephan Müller, Annegret Pelz und Michael Rohrwasser

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Helmut Lethen / Annegret Pelz / Michael Rohrwasser (Hg.)

Konstellationen – Versuchsanordnungen des Schreibens In Zusammenarbeit mit Anna-Maria König und Jeannie Moser

Mit 2 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0159-8 ISBN 978-3-8470-0159-1 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit Unterstützung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Joan Mirû, Frontispiz des Portfolio »Constellations: A Suite of Twenty-Two Pochoirs«, 1959 / Ó Successio Miro / VBK Wien 2013 Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Konstellationen Matthias Meyer Briefe – Grabinschriften – Zauberbücher. Beispiele intradiegetischer Schreibkonstellationen in der mittelalterlichen Literatur . . . . . . . . .

13

Arno Dusini Die Narbe der Schrift. Erich Auerbachs Mimesis . . . . . . . . . . . . . .

33

Mona Körte Papier, Schrift und Feuer. Zu einer produktiven Konstellation

. . . . . .

51

Juliane Vogel Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schneiden und Schreiben nach 1900 . .

67

Annegret Pelz Mitte-Konstellationen um 1945 (Rehm, Sedlmayr, Auerbach) . . . . . . .

83

Stephan Kurz Germanistik als Textverarbeitung. Präliminarien zu einer Literaturwissenschaft unter den Vorzeichen digitaler Medien- und Textverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Lesarten Anne-Kathrin Reulecke »Im Innern ist alles alles abgeschrieben«. Plagiat und Einfluss in Tagebüchern Franz Kafkas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

6

Inhalt

Susanne Weigelin-Schwiedrzik Das Leben im Schein als Ziel. Lu Xuns Wilde Gräser und Nietzsches Also sprach Zarathustra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Erdmut Wizisla Walter Benjamin und Bertolt Brecht: Schreibszenen, Arbeitsweisen, Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Helmut Lethen Zwischen Ärzten, Sektionsprotokollen, Psychiatern und Philologen – im System der Literatur. Konstellationen der frühen Texte von Gottfried Benn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Michael Rohrwasser Schreibstörungen. Nichtschreiben im Exil

. . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Hermann Schlösser Reisen, um zu schreiben. Überlegungen zu einer geläufigen literarischen Praxis nebst drei Beispielen: Kasimir Edschmid, Wolfgang Koeppen, Felicitas Hoppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Eva Horn Von Körpern und Phrasen. Durs Grünbein liest Georg Büchner Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

. . . . . 223

. . . . . . . . . . . . . . . 241

Vorwort

Der Begriff Konstellation dient in der Regel zur Bezeichnung eines Ensembles unterschiedlicher kultureller, ökonomischer und politischer Faktoren, die in der Wahrnehmung der Forschung einen dynamischen Zusammenhang bilden. Gegenwärtig bildet das Denken in Konstellationen einen »signifikanten Kristallisationspunkt für die methodische Selbstreflexion«1 der Kulturwissenschaften. Das ist leicht gesagt, verdunkelt aber den Übertragungsprozess, dem das aus der Astronomie entnommene Konzept auf seinem Weg in die Textwissenschaften unterworfen ist. Denn Konstellation, so liest man noch 1885 in Meyers Konversationslexikon, bezeichnet »die Stellung von Sternen gegeneinander, von der Erde aus betrachtet«.2 Die Geschichte des Transfers dieses Denkbildes in die Kultur- und Sozialwissenschaften ist aufschlussreich. Denn als Hintergrundmetapher markiert das Bild der Konstellationen immer auch noch eine relativ statische räumliche Ordnungsstruktur, wenn es sich auch zu dynamischen, dezentrierten und anti-systemischen Vorstellungsbildern – bis hin zu den Ordnungsmetaphern Netzwerk und Rhizom verwandelt. Problematisch bleibt die Übertragung auf Gegenstände der Textwissenschaft, die medial miteinander verwoben sind, so dass die Disparatheit der Dinge, mit der das Bild der Konstellationen rechnet, nicht bedacht zu sein scheint, wenn man intertextuell verflochtene Phänomene in den Blick nimmt. Zumindest weist der Stand der »Konstellationsforschung« darauf hin. Deren Modell richtet die Aufmerksamkeit auf die Rekonstruktion von Zusammenhängen von philosophischen Theorien und kreativen Impulsen innerhalb von Denkräumen. Nur die Analyse dieses Zusammenhangs, nicht aber seiner isolierten Bestandteile, macht ein »Verstehen der philosophischen Leistung und

1 Andrea Albrecht: »Konstellationen. Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrologisch-astronomischen Konzept bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim«, in: Scientia Poetica Bd. 14 (2010), 104 – 149, 109. 2 Meyers Konversationslexikon von 1885 zit. n. Albrecht, ebd., 106.

8

Vorwort

Entwicklung der Personen, Ideen und Theorien möglich.«3 In dem Begriff des Denkraums betreibt die Konstellationsforschung eine Untersuchung des spannungsreichen Mit- und Gegeneinanders und der wechselseitigen Beziehungen in Netzwerken oder sich gegenseitig bedingenden Konstellationen. Es geht um eine Bewegung der Dezentrierung und Vielstimmigkeit – weg von der monumentalisierenden Wahrnehmung einzelner großer Denker hin zum Zusammenwirken von Kräften im Raum. Diese Art der Forschung ist ein Mittel zur Erklärung von Prozessen kollektiver intellektueller Kreativität.4 Aggregate von Gedanken und Autoren werden untersucht, die Bedeutung von konstellativen Formationen für die Entfaltung bedeutsamer Kreativität im Denken wird erschlossen; nicht statisch als Anordnung (Fixsterne), sondern als Frage nach prozessualen Zusammenhängen. Wie ist das Denkbild der Konstellation auf Situationen des Schreibens, des transtextuellen Verwebens und der Zirkulation der Texte zu übertragen? Walter Benjamin versteht unter Konstellation eine Konstruktion, die durch begriffliche Mittel die Ideen ordnet und sie unter den Phänomenen zerstreut.5 Im Ursprung des deutschen Trauerspiels führt die Technik der Konstellation zur synoptischen Nebeneinanderstellung. So zeigen die Phänomene ihre Vor- und Nachgeschichte, bewahren sie ihre Mannigfaltigkeit und Besonderheit. Rettung der Phänomene heißt, sie konstellieren sich in der Idee und werden nicht durch die Einheit des Begriffs vernichtet, existieren nebeneinander als »helle Einheit der Konstellation« als Geflecht von »Ähnlichkeiten«, mit Wittgenstein auch »Familienähnlichkeiten«.6 »Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze«.7 Im Gegenzug zum Drang aufs Große Ganze darf sich der Blick ins Detail versenken, ohne den Zusammenhang zu verlieren. Es geht Benjamin um das »blitzhafte Zusammentreten von Gewesenem und Jetzt zu einer Konstellation.«8 Kann diese Wahrnehmungstechnik von den Textwissenschaften übernommen werden? Bettine Menke begreift Benjamins Begriff der Konstellation als eine »Anweisung« für eine ›andere‹ Lektüre, die die Textualität des Textes als 3 Martin Mulsow: »Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung«, in: Martin Mulsow, Marcelo Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt/Main 2005, 74 – 97, 74. 4 Marcelo R. Stamm: »Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven«, in: M. Mulsow, M. Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, 31 – 73, 32. 5 Vgl. Fred Rush: »Mikroanalyse, Genealogie, Konstellationsforschung«, in: M. Mulsow, M. Stamm (Hg.): Konstellationsforschung, 149 – 172, 155. 6 Paolo Gabrielli: Sinn und Bild bei Wittgenstein und Benjamin, Bern 2004, 472. 7 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/ Main 51990, 16. 8 Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, 2 Bde., Bd. I, Frankfurt/ Main 1983, 576.

Vorwort

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Konstellation und als Ordnung im Raum handhabt.9 Im Raum der Konstellation ist die zeitliche Aktivität der sprachlichen Bewegung angehalten. Die Konstellation macht die Reflexion auf die Bedingung des Textes möglich und stellt die prozessuale Operation als optische Figur dar. In dieser Gestirnkonstellation, die nur flüchtig, augenblickshaft und für einen ›kritischen Moment‹ lesbar ist,10 hat die Transfer-Geschichte des Begriffs aus der Astronomie ein Echo bis in die Lektüreverfahren unsere Zeit. Auch für Adorno, der den Begriff Konstellation von Benjamin übernimmt und auf das Modell der Musik, auf die Schönberg’sche Kompositionspraxis, überträgt, hält die Idee der Konstellation den »Gedanken skeptisch offen auf das bisher nicht Gedachte an der zu denkenden Sache«.11 In seiner Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie (1931) versteht Adorno Konstellationen als immer wieder veränderte Versuchsanordnungen, die urplötzlich zu einer lesbaren »Figur« zusammenschießen und die »Rätselgestalt« der Wirklichkeit aufheben.12 Adorno spricht von der Notwendigkeit, Elemente »so lange in wechselnde Konstellationen zu bringen […], bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während die Frage verschwindet.«13 In dieser Weise legen Konstellation die in den Dingen aufgespeicherte Geschichte frei. Es ist Aufgabe des Denkbilds der Konstellationen, die geschichtliche Konstellation zu erkennen, in der eine Sache steht. Foucault schließlich verwendet den Begriff der Konstellation im Sinn von Dispositiv nicht im Sinne der Annäherung an ein Naturobjekt, sondern als ein Produkt von Macht- und Wissensverhältnissen und deren aus dem diskursiven Material herausgelesenen Regeln.14 Jedes Dispositiv einer heterogenen Gesamtheit, die potentiell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, 9 Bettine Menke: »›Magie‹ des Lesens – Raum der Schrift. Über Lektüre und Konstellation in Benjamins Lehre(n) vom Ähnlichen«, in: Thomas Regehly, Iris Gniosdorsch (Hg): Namen, Texte, Stimmen. Walter Benjamins Sprachphilosophie, Stuttgart 1993, 109 – 137. Grundlegend zum Trauerspiel-Buch: Bettine Menke: Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel. Konstellationen – Ruinen, Bielefeld 2010. 10 Menke: »›Magie‹ des Lesens«, 119. 11 Zum Begriff der Konstellation bei Adorno vgl. Christian Iber : Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos, Berlin, New York 1994, 374. 12 Theodor W. Adorno: »Die Aktualität der Philosophie«, zit. nach C. Iber: Das Andere der Vernunft, 369. 13 Theodor W. Adorno: »Die Aktualität der Philosophie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. 1: Philosophische Frühschriften, Frankfurt/Main 1990, 335. Zum Thema vgl. Andreas Lehr: Kleine Formen. Adornos Kombinationen: Konstellation / Konfiguration, Montage und Essay, Diss., Freiburg/Breisgau 1999/2000. 14 Vgl. Fernando Suar¦z Müller : Skepsis und Geschichte: Das Werk Michel Foucaults im Lichte des absoluten Idealismus, Würzburg 2004, 162 f.

10

Vorwort

einschließt, artikuliert das Netz, das man zwischen den einzelnen Elementen herstellen kann.15 Entsprechend eröffnet jede Konstellation ein kohärentes Beschreibungsgebiet, in dem neue Konstellationen des Wissens entstehen, wenn es aufgrund von Transformationsprozessen Änderungen im Regelsystem gibt. Dieses Projekt einer diskontinuierlichen Konstellationengeschichte der Literatur konkretisiert Foucault in Le langage — l’infini, wo insbesondere die Bibliothek für die literarischen Konstellationen der Moderne eine Denkfigur der unendlichen Selbstverweisung wird.16 Die in diesem Band versammelten Beiträge berühren sich mit dem Denkbild der Konstellation dort, wo diese ihre Attraktion daraus beziehen, dass sie im Gegensatz zu anderen komplexen Begriffen wie ›Kontext‹, ›Zeitgeist‹, ›Stimmung‹ oder hierarchischen Konstruktionen keine direkten Bindemittel suggerieren, die in der Regel zerbrechen. Sie gehen von keinem ›System‹ aus, sondern belassen die Dinge in der Freiheit ihrer Disparatheit, ohne ihre Ähnlichkeiten aufzugeben. Das in den Beiträgen versammelte Spektrum des Nachdenkens über Konstellationen will Lesarten von Konstellation bieten und materiellen Elemente in ihrer prozessualen Bewegung beschreiben. Für Unterstützung danken wir Inge Stephan (Berlin), Günter Oesterle (Gießen) und Ursula Klingenböck (Wien) sowie der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

15 Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich, Berlin 2008, 9. 16 Fernando Suar¦z Müller : Skepsis und Geschichte, 180.

Konstellationen

Matthias Meyer

Briefe – Grabinschriften – Zauberbücher. Beispiele intradiegetischer Schreibkonstellationen in der mittelalterlichen Literatur1

Konstellationen des Schreibens und Formen der Schriftlichkeit sind auch in der (um 1200 am besten als semioral gekennzeichneten) volkssprachlichen literarischen Kultur vielfältig und auf verschiedenen Ebenen rekonstruierbar : Auf der Ebene der Materialität der Schriftlichkeit, auf der Ebene der Inszenierung der Autoren und der Schreiber und auf der Ebene intradiegetisch inszenierter Formen von Schriftlichkeit und den damit verbundenen Konstellationen des Schreibens. Schließlich macht der an moderne Verhältnisse gewöhnte Blick leicht einen weiteren Fehler: Er denkt sich den an das Schreiben implizit gekoppelten Leser. Der ist aber in der mittelalterlichen Literatur noch bis weit ins 13. Jahrhundert hinein nicht selbstverständlich, wie die Beispiele zeigen werden. Im Rahmen eines Aufsatzes ist das Thema der Schreibkonstellationen in der mittelalterlichen Literatur kaum erschöpfend zu behandeln. Ich konzentriere mich daher im Folgenden auf drei Beispiele, die ein breites Spektrum zwischen Schreibskepsis und Schriftautorität abschreiten und dabei die Divergenz der Zugänge zum Thema Schreiben in der deutschsprachigen mittelalterlichen Literatur des 13. Jahrhunderts deutlich machen.2 1 Der vorliegende Text basiert auf dem in der Ringvorlesung Konstellationen des Schreibens gehaltenen Vortrag gleichen Titels. Der erste und dritte Teil sind, in leicht veränderter Form, bereits in der Festschrift für Anton Janko erschienen: Matthias Meyer : »Von Briefen und Zaubersprüchen. Schreiben und Lesen in Mai und Beaflor und im Reinfried von Braunschweig«, in: Marija Javor Briski, Mira Miladinovic Zalaznik, Stojan Bracic (Hg.): Sprache und Literatur durch das Prisma der Interkulturalität und Diachronizität, Fs. für Anton Janko, Ljubljana 2009, 35 – 48. Die einleitenden Passagen waren in der Ringvorlesung deutlich ausführlicher – ich beschränke mich hier auf einige wenige Hinweise zu den materiellen Grundlagen mittelalterlicher Schreibszenen. 2 Es gibt eine umfangreiche Tradition der Forschung zum Thema ›Lesen und Schreiben im Mittelalter‹. Loci classici, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Debatte in den Mittelpunkt stellen, sind: Manfred Günter Scholz: Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980; Ursula Schäfer : Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1992; Paul Zumthor : Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994. – Hinweisen möchte ich auch noch auf Elisabeth Martschini: buochel„n und griffel„n. Lesen und Schreiben

14

Matthias Meyer

Die Bandbreite ließe sich dabei nicht nur anhand des Dargestellten, sondern auch anhand der Selbstinszenierung von Autoren vorführen. Verwiesen sei nur auf die Divergenz zwischen dem sich immer wieder als Buchgelehrten inszenierenden Hartmann von Aue und dem sich auf seine (lateinische?) Illiterarizität hin ausspielenden Wolfram von Eschenbach.3 Der Prolog des Armen Heinrich Hartmanns ist nicht nur deswegen interessant, weil er programmatisch mit dem prägnanten Oxymoron »Ein r„ter sú gelÞret was« beginnt, sondern auch, weil er einen klaren Beleg für die intertextuelle Arbeitsweise Hartmanns enthält.4 Hartmann ist nicht der einzige Dichter, der sich so inszeniert: vor ihm Heinrich von Veldeke, nach ihm Gottfried von Straßburg inszenieren sich gleichfalls als gebildete Autoren (wenn auch nicht unbedingt als Ritter). Ganz anders Wolfram von Eschenbach, der in einer mittlerweile hochberüchtigten Passage, mit der er von seiner neu erfundenen Elternvorgeschichte in die Geschichte um seinen Haupthelden Parzival umschwenkt, sich als Ritter inszeniert.5 Man hat dies über Jahrzehnte (wenn nicht Jahrhunderte) als biographische Selbstaussage genommen und wollte übersein höfischen Romanen um 1200, Saarbrücken 2009 (die Druckfassung einer Wiener Diplomarbeit) und auf die im Entstehen begriffene Dissertation Martschinis zu Lesen und Schreiben in Texten des 13. Jahrhunderts. 3 Es gibt natürlich auch die ›Nullvariante‹ des Autors, der sein Schreiben überhaupt nicht thematisiert. 4 »Ein r„ter sú gelÞret was/daz er an den buochen las/swaz er dar an geschriben vant;/der was Hartman genant,/dienstman was er ze Ouwe./der nam im manege schouwe/an misl„chen buochen./dar an begunde er suochen/ob er iht des vunde/d– mite er swaere stunde/möhte senfter machen,/und von sú gewanten sachen,/daz gotes Þren töhte/und d– mite er sich möhte/ gelieben den liuten./n˜ beginnet er iu diuten/ein rede, die er geschriben vant./dar umbe h–t er sich genant,/daz er s„ner arbeit/die er dar an h–t geleit/iht –ne lún bel„be,/und swer n–ch s„nem l„be/si hoere sagen ode lese,/daz er im bitende wese/der sÞle heiles hin ze gote.« (Hartmann von Aue: Gregorius. Der Arme Heinrich. Iwein, hg. und übers. von Volker Mertens, Frankfurt/ Main 2004 (=Bibliothek deutscher Klassiker, 189; Bibliothek des Mittelalters, 6), 1 – 24. – Das Lesen von verschiedenen Büchern als Voraussetzung der eigenen Produktion werte ich als beinahe punktgenaue Entsprechung der Intertextualitäts-Definition Kristevas, die von »Schreiben-Lesen« spricht; Julia Kristeva: »Zu einer Semiologie der Paragramme«, in: Helga Gallas (Hg.): Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Darmstadt, Neuwied 1972, 163 – 200, 171. Zum Oxymoroncharakter der Selbstbeschreibung Hartmanns vgl. auch Mertens’ Kommentar zur Stelle in seiner Ausgabe. 5 »S„n lop hinket ame spat,/swer allen frouwen sprichet mat/durch s„n eines frouwen./swelhiu m„n reht wil schouwen,/beidiu sehen und hœren,/dien sol ich niht betœren./schildes ambet ist m„n art:/[…]/hetenz w„p niht für ein smeichen,/ich solt iu fürbaz reichen/an disem mære unkundiu wort,/ich spræche iu d’–ventiure vort./swer des von mir geruoche,/dern zels ze keinem buoche./ine kan decheinen buochstap./d– nement genuoge ir urhap:/disiu –ventiure/ vert –ne der buoche stiure./116 Þ man si hete für ein buoch,/ich wære Þ nacket –ne tuoch,/sú ich in dem bade sæze,/ob ichs questen niht vergæze.« (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, übers. von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin, New York 1998, 115, 5 – 116, 4).

Briefe – Grabinschriften – Zauberbücher

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hen, dass der zentrale Vers »ine kan decheinen buochstap« nichts als eine äußerst gelungene Übersetzung eines lateinischen Topos der göttlichen Inspiration war, der sich unter anderem im 70. Psalm findet: non cognovi litteraturam. Wolfram inszeniert sich hier als Macho, als Ritter – und als äußerst kompetenter, latein- und bibelkundiger Autor, letzteres aber nur für diejenigen, die es hören wollen oder können.6 Festzuhalten ist allerdings, dass mit dem Unterschied Schriftlichkeit – Mündlichkeit hier auch ein kultureller Unterschied markiert wird: Wolfram, der sich als erzählender Ritter in den Text einschreibt (für den er zumindest für einen Großteil der folgenden Passagen eine Quelle hat), tut das als Illiterat, Hartmann, der sich als autoritativer Dichter inszeniert, in Berufung auf (vermutlich nicht vorhandene) schriftliche Quellen. Was aber für beide Autortypen gilt: Es ist keinerlei Konstellation des Schreibens abgebildet: Wir haben keinen Faust in der Studierstube, keinen Wolfram in der fränkischen Küche, vor einem Wachstafelstapel, und wir wissen, wenn wir ehrlich sind, nicht, wie man sich konkret Konstellationen des Schreibens vorzustellen hat (und selbst wenn immer wieder zurecht betont wird, dass die mittelalterliche Literatur ohne Mäzenatentum nicht vorstellbar ist, wissen wir über die wirkliche Tätigkeit eines solchen Mäzens weniger, als uns lieb sein kann7). Deswegen kehre ich für meine Beispiele zu intradiegetischen Schreibsituationen (und deren möglicher metapoetischer Bedeutung) zurück.

I.

Briefe

In Mai und Beaflor, einem im späten 13. Jahrhundert, vermutlich in Kärnten oder der Steiermark entstandenen, anonym überlieferten Roman, werden in einer zentralen Handlungssequenz zwei Briefe geschrieben:8 Graf Mai, gegen den Willen seiner Mutter jung verheiratet, ist der Bitte seines Onkels um Hilfe gegen die Heiden gefolgt, und hat das heimatliche Griechenland verlassen, um in Spanien zu kämpfen. Zurückgelassen hat er seine schwangere Ehefrau, die nun nichts anderes tut, als täglich für ihn zu beten, und schließlich von einem kleinen Sohn, wie er schöner nicht sein könnte, entbunden wird. Zwei Grafen, Cornelius und Effraide, die als Hüter des Landes und der Ehefrau zurückgelassen wurden, 6 Statt eines Forschungsüberblicks zu dieser Passage vgl. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach, Stuttgart 82004, 5 – 9. 7 Vgl. Joachim Bumke: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150 – 1300, München 1979. 8 Mai und Beaflor, hg., übers., komment. und mit einer Einleitung von Albrecht Classen, Frankfurt/Main 2006, bes. 5068 – 5731. Die Ausgabe – die neueste und im Buchhandel greifbare, deswegen wird sie hier zitiert – ist leider völlig unzulänglich; sie ist voller Lesefehler, auch die Übersetzung ist immer wieder unzuverlässig.

16

Matthias Meyer

schreiben einen erfreuten Brief an ihren Herrn – oder, genauer : »Cornelius vnd Effraide,/die getriwen graven peide,/hiezzen briefe schreiben/von in vnd von ir weiben.«9 Der Inhalt des Briefes ist ein einziger Ausdruck der Freude: Freude über das tugendhafte und tadellose Verhalten der glückseligen Ehefrau Beaflor, das den Grafen so viel Freude bereitet hat, Freude über den prächtigen Sohn, »der wol mit eren mac wesen/vnser erbe herre«10 – und Freude über die allgemeine Freude, die die freudige Situation ausgelöst hat. Auch Beaflor schreibt einen Brief, in dem sie ihre Freude als abhängig vom Glück ihres Mannes darstellt, ja, in dem sie sich vollständig seinem Willen unterwirft – und der doch auch voll der euphorischen, sexualisierten Liebessprache des späten Minnesangs ist.11 Die beiden Brieftexte folgen beinahe direkt aufeinander, eingeschoben ist nur eine Inquitformel: »Div vrowe ir brief sus scriben hiez«.12 Beide Briefe haben also Autoren – der erste von den beiden Grafen samt deren Ehefrauen verfasst, der zweite von Beaflor – und Schreiber : Letztere bleiben anonym. Es wird deutlich gesagt, dass man veranlasst, die Briefe zu schreiben, nicht aber, wer sie konkret schreibt: In einem gut funktionierenden Hof des 13. Jahrhunderts waren eben genug Schreiber da, gab es eine Kanzlei. Vielleicht muss das nicht verblüffen: Die Ereignisse, die berichtet werden, sind keine Privatereignisse, sondern solche von dynastischer Bedeutung, und sie verlangen offizielle Schreiben.13 Ein Bote, der bereits vor dem Abfassen der Briefe bestimmt wurde, erhält den Auftrag, unverzüglich zum Grafen Mai zu reisen, sich nicht aufzuhalten (Beaflor schärft ihm das noch besonders ein) und schnell mit einer Antwort zurückzukommen. Die Freude der Grafen im Brief ist die Reaktion auf eine verdeckte, im Text aber immer wieder thematisierte Angst: Beaflor, die äußerlich perfekte, wunderschöne Frau des Grafen Mai ist mit einem Makel behaftet. Sie ist eines Tages in einem unbemannten Schiff an Land gespült worden, ihre Herkunft ist unbekannt – auch wenn ihre Schönheit ihren Adel zu bestätigen scheint. Das junge 9 Mai und Beaflor, 5094 – 5098. 10 Mai und Beaflor, 5123 f. 11 Der Brief Beaflors (Mai und Beaflor, 5130 – 5153.); zur Sprache vgl. Matthias Meyer: »›Objektivierung als Subjektivierung‹. Zum Sänger im späten Minnesang«, in: Elizabeth Andersen u. a. (Hg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, 185 – 199, hier 191 – 194, am Beispiel einiger Strophen Konrads von Landeck, die die gleiche Grundrhetorik aufweisen. 12 Mai und Beaflor, 5128. 13 Das gilt zumindest für den ersten Brief. Der Brief Beaflors klingt aus heutiger Perspektive privater, aber wenn auch dort über Gefühle geredet wird, so ist die Sprache nicht privat, sondern entstammt wiederum einer anerkannten Literaturgattung, dem Minnesang. – Der Austausch von Briefen ist im Roman des 13. Jahrhunderts spätestens seit Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens ein Standardkommunikationsmittel der Protagonisten. Der Wilhelm fungiert dabei durchaus auch als Musterbriefsammlung (eine Funktion, die auch noch knapp ein Jahrhundert später der Wilhelm von Österreich des Johann von Würzburg erfüllt).

Briefe – Grabinschriften – Zauberbücher

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Mädchen – der Text betont, dass sich ihre Brüste gerade entwickeln, und die Mutter des Grafen Mai, Eliacha, sieht diese Schönheit genau – wird zunächst von der Mutter positiv aufgenommen; und als ihr Sohn in ihren Augen zu lange zögert, sich Beaflor zu nähern, macht sie ihm das zum Vorwurf. Als Mai sich jedoch in Beaflor verliebt und auch bereit ist, ihrem Wunsch zu entsprechen, die Liebe nur in der Ehe zu vollziehen, rudert die Mutter zurück: Beaflor sei nur aus Zauber so schön, sie sei – das sei doch klar ersichtlich – schmachvoll aus ihrem Heimatland davongejagt worden. Die Ehe mit Beaflor – die Mutter wollte nur, dass ihr Sohn sich als männlich-aktiv erweist – könne nur in einer sozialen Erniedrigung enden. Mai aber besteht auf der Eheschließung, wutentbrannt reist die Mutter auf ihr Schloss ab.14 Der Text inszeniert nun eine Erleichterung nach der andern: Als Beaflor in der Hochzeitsnacht sich Mai mit dem Hinweis auf die Tobiasnächte verweigert, berührt ihn das positiv, noch positiver aber, dass sie sich, als sie sich ihm endlich hingibt, als Jungfrau erweist. Und als dann ein schönes Kind geboren wird, sind die Grafen froh, dass sie es hier eben doch mit einer perfekten Frau, und nicht etwa mit einem angeschwemmten Teufel zu tun haben. So ist es vielleicht sogar erklärlich (auch wenn es im Text nicht thematisiert wird), dass der Bote von seinem Auftrag abweicht: Er macht auf der Burg seiner alten Herrin, der Mutter Mais, Station. Die aber gibt ihm nicht nur das für die frohe Botschaft geforderte Botenbrot, sondern macht ihn so betrunken, dass er ohnmächtig wird, stiehlt die Briefe und ersetzt sie durch andere: Im Brief, den vermeintlich die Grafen geschrieben haben, steht nun, dass man bei Beaflor zwei Pfaffen auf handhafter Tat erwischt habe, und dass sie in der Folge einen Wolf zur Welt gebracht habe. Beaflor nimmt in ihrem Brief nun alle Schuld auf sich, erwartet ihre Strafe und bezeichnet sich als »boesez w„p«.15 Wie die Fälschung praktisch ausgeführt wird, interessiert den Text nicht. Auffällig aber ist, dass es ›gute Fälschungen‹ in dem Sinne sind, dass der Duktus der Argumentation, der Briefstil, jeweils beibehalten wird: In beiden Briefen ist Beaflor unterwürfig, stellt sich in die Obhut, sogar die absolute Befehlsgewalt des Mannes. Der ausgetauschte Brief der Grafen ist aber eine genaue Negativkopie des Ursprungsbriefes: Alles, was dort als implizierte Befürchtung, als Schatten lesbar wird, ist im untergeschobenen Brief ausgedrückt. Interessant sind nun die Schlussverse des untergeschobenen Grafenbriefes: »Es ist billich, daz im missegat,/swer solch dinch [Eheschließung] tut an rat«.16 Diese Verse sind nur in der Handschrift A 14 Zur Mutter Eliacha sowie zur Schilderung der verschiedenen Mütter im Text vgl. Lydia Miklautsch: Studien zur Mutterrolle in den mittelhochdeutschen Großepen des 12. und 13. Jahrhunderts, Erlangen 1991, 171 – 178. 15 Vgl. Mai und Beaflor, 5263; ein klassischer misogyner Topos, den hier die Schwiegermutter als Selbstbezichtigung der ungeliebten Ehefrau des Sohnes verwendet. 16 Mai und Beaflor, 5252 f.

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Matthias Meyer

überliefert, sie fehlen in Handschrift C – und das kann einen guten Grund haben: Sie könnten ein späterer Zusatz sein, denn sie fallen aus der Rolle in dem vermeintlichen Brief der Grafen: Der Rat der Fürsten, die zuerst ebenfalls skeptisch waren, hat sich von der Evidenz des weiblichen adligen Körpers Beaflors überzeugen lassen und schließlich für die Heirat gestimmt. Es ist einzig die Mutter, deren Rat nicht befolgt wurde, und die sich mit diesen Versen eigentlich als Verfasserin der untergeschobenen Briefe outen würde: erzähllogisch ist also die bessere Lesart, die beiden Verse zu streichen. Am nächsten Morgen reitet der Bote los und überbringt schließlich nach einigen Tagen die gefälschten Briefe. Er trifft zufällig auf Graf Mai allein, zunächst ohne Gefolge, das kurze Zeit später ankommt. Mündlich überbringt er ihm gute Nachricht: Allen daheim ginge es gut, und es sei ein wunderschönes Kind geboren. Doch als Mai die Briefe öffnet, zeigt er das ganze heftige Reaktionsspektrum somatisierter mittelalterlicher Emotionalität, vom Haareraufen über Ohmacht und Blutsturz bis hin zum Selbstmordversuch. Was er nicht tut, ist zu versuchen, den Widerspruch in den Informationen, die ihm mündlich und schriftlich gegeben werden, aufzulösen und etwa den Boten erneut zu befragen. Er schreibt nur einen sehr kurzen Brief an die Grafen, in dem er beide darum bittet, Beaflor und das, was immer sie geboren habe, gut zu behandeln, bis er in wenigen Tagen nach Hause käme. Dann gibt er sich seinem Schmerz hin, dem Boten aber richtet er keinerlei mündliche Botschaft aus, der ist nur über die Reaktion auf die Briefe entsetzt – eine Reaktion, die so heftig ist, dass Mai in eine Art Zwangsjacke gesteckt wird. Auf dem Rückweg wiederholt sich die Einkehr bei der Mutter, wieder wird der Brief vertauscht, diesmal allerdings fällt die Fälschung der Mutter komplett aus der Rolle: Sie widerspricht allem, was man bislang mit dem Verhalten Mais in Verbindung gebracht hat. Die Grafen Cornelius und Effraide sollen bei Androhung der Todesstrafe für sie und ihre Ehefrauen Beaflor und das Kind durch Vierteilung (eine besonders schmach- und qualvolle Todesart) sofort hinrichten, bevor er selbst in wenigen Tagen käme. Bei der Rückkehr nach Griechenland wird der Bote zunächst freudig empfangen, reagiert aber selbst sehr abweisend, und übergibt den Brief den Grafen – sehr zu ihrer Überraschung wird Beaflor kein Brief ausgehändigt, sondern ihr wird nur von dem merkwürdigen Verhalten ihres Ehemanns berichtet. Daraufhin befiehlt sie sich in Gottes Hände und betet.17 Die Grafen aber erhalten den 17 Es ist dieses monothematische Verhaltensmuster, das Alfred Ebenbauer zu seiner Interpretation des Textes als ›Schule für junge adlige Mädchen‹ geführt hat; vgl. Alfred Ebenbauer : »Beaflor – Blanscheflur. Zu zwei literarischen Frauengestalten des 13. Jahrunderts«, in: Danielle Buschinger (Hg.): Sammlung, Deutung, Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. Fs. für Wolfgang Spiewok, Amiens 1988, 73 – 90.

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Brief – und können ihn nicht lesen. Lange wird überlegt, wer ihn vorlesen soll: Keine einfache Entscheidung, da doch ihr Herr so offenkundig aber unerklärlich derangiert war, als er den Brief schrieb. Schließlich wird ein lange im Dienst des Hofes befindlicher Kaplan dazu aufgefordert, der den Brief zwar liest, sich aber weigert, den Inhalt mitzuteilen. Das macht schließlich ein über den Inhalt ebenfalls verzweifelnder in der Burg ansässiger Lohnschreiber. Die Episode enthält viel Merkwürdiges, einiges davon ist vielleicht einfach schlecht erzählt: Der Austausch der Briefe auf dem Hinweg funktioniert auf der Ebene der Handlungslogik, da es ja Schreiberbriefe und keine Autographen sind. Auch vom Inhalt sind sie sprachlich und argumentativ nicht out of character.18 Auf dem Rückweg aber wird die Ebene der Wahrscheinlichkeit zweimal verlassen: Der Austausch eines Autographs des Grafen Mai kann so einfach nicht gehen, denn dass die Handschrift individuell ist, ist in Texten, die deutlich vor Mai und Beaflor entstanden sind, bereits ein literarisch belegtes Motiv.19 Der Kaplan als langjähriger Diener der Fürstenfamilie hätte sie eigentlich kennen (und die Fälschung erkennen) müssen. Was ebenfalls merkwürdig ist, ist die Diskrepanz zwischen mündlicher Botschaft des Boten und dem Inhalt der Briefe, die nicht thematisiert wird. Der Bote ist ein Augenzeuge der glücklichen Ereignisse am Hof – und doch traut Mai eher den Briefen, der schriftlichen Autorität. Hierin zeigt sich der (ja auch im Inhalt der Didaxe an junge Frauen, die zu weitgehender Unterwürfigkeit und Passivität erzogen werden)20 konservative Impetus des Textes, der in dieser Episode eine mediale Umbruchssituation reflektiert: Mündlichkeit gerät im 13. Jahrhundert immer stärker in die Defensive, Schriftlichkeit ist nicht nur in der Literatur, sondern auch zum Beispiel im Rechtswesen auf dem Vormarsch. Mündlichkeit basiert auf Augenzeugenschaft, auf einer direkten Form der Evidenz. In der Rechtsprechung des 12. Jahrhunderts konnte man, wenn diese fehlte, sie mittels eines Gottesurteils herstellen. Gegen das Gottesurteil, das spätestens seit dem 4. Laterankonzil 1215 von der

18 Der Vorwurf an Beaflor, mit zwei Pfaffen Ehebruch begangen zu haben, ist es einerseits – Beaflor wird im Text als extrem keusch und fromm geschildert – andererseits wird in ihm die Unsicherheit über Beaflors Herkunft manifest. Man kann also sagen, dass der Vorwurf dem manifesten Charakter Beaflors zuwider läuft, nicht aber den latenten Befürchtungen ihrer Umwelt. 19 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival, 626, 9, wo Gawan einen Brief ohne Siegel schreibt, da seine Handschrift Erkennungszeichen genug ist. 20 Beaflor lehnt sich nicht aktiv gegen die diversen Zumutungen, die ihr entgegen gebracht werden, auf, auch wenn sie so geschildert wird, als ob sie das leicht tun könnte, da sie Vertrauen und Hilfsbereitschaft erzeugt, sondern sie entzieht sich immer nur durch – kluges (?) – Verschwinden den bedrohlichen Situationen.

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Kirche verboten wurde, tritt in der Folge der Indizienbeweis.21 Das scheint mir eine Parallele zu der in Mai und Beaflor geschilderten Situation zu sein: Hier gilt die Evidenz der Augenzeugenschaft des Boten nichts, der schriftliche Brief, obwohl gefälscht, alles. Dieses Verhalten aber führt direkt in die (vom Text natürlich benötigte) Krise, die das Legendenschema der unschuldig verfolgten Frau perpetuiert. Der Text oszilliert zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, und er zeigt, dass das Vertrauen auf die (moderne) Schrift in die Krise führt. Interessant ist nun, dass diese mediale Umbruchssituation im Prolog des Textes gespiegelt wird: »des […] ich ze tichten han gedaht/durch eines werden riters bet,/der mir die rede chunt tet./Der mir des veriehen hat,/daz si noch ze schriben stet/in der chroniken, daz er las,/dar an ez vngereimet was./Swaz er mir sagt, daz tihte ich hie,/ich huge [liuge] niht, nu horet wie./Ich tihte iz vz sinem munde,/daz beste daz ich chunde.«22 Es gibt eine schriftliche Quelle (in der Forschung geht man mehrheitlich davon aus, dass es sich um eine französische Vorlage handelt, doch sagt der Text nichts davon23), und davon wird dem Autor mündlich, aus der erinnerten Lektüre berichtet. Dieser Bericht wiederum ist die Basis für die deutsche versifizierte Erzählung, die also mindestens einen doppelten (schriftlich – mündlich – schriftlich), wenn nicht dreifachen Transformationsprozess (schriftlich französisch – mündlich (unbestimmt) – schriftlich deutsch) durchgemacht hat.24 Der Dichter versichert, er lüge nicht: Doch sein Text zeigt, wie leicht aus einer schriftlichen Nachricht eine Lüge entsteht. In diesem Lichte also nimmt der Autor, trotz einer schriftlichen Quelle, seine Autorität eher aus dem mündlichen Bericht des »werden riters«. Ob die Schriftskepsis, die sich in dieser Episode zeigt, eine Erfindung des anonymen Autors oder seiner Quelle geschuldet ist, 21 Vgl. zu diesem Komplex: Vickie L. Ziegler : Trial by Fire and Battle in Medieval German Literature, Rochester, Woodbridge 2004, bes. 1 – 19. 22 Mai und Beaflor, 70 – 80. 23 Vgl. L. Miklautsch: Studien, 171, Fußnote 267, mit Hinweis auf Danielle Buschinger : »Skizzen zu Mai und Beaflor«, in: Alfred Ebenbauer, Fritz Peter Knapp (Hg.): Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, Bern u. a. 1988, 31 – 48, hier 31. Knapp schätzt den Entstehungsbericht des Prologs als ›wahrscheinlich‹ ein, er schließt aber auch eine freie Ausgestaltung eines Motivs nach Vorbildern aus der deutschsprachigen Erzähltradition nicht aus. Der Text steht nach Knapp näher an französischen Fassungen des Stoffs (La Belle H¦lÀne de Constantinople, La Manekine), als an deutschsprachigen (etwa aus der Weltchronik Jans Enikels); vgl. das Kapitel »Der historisch-mirakulöse Versroman von Mai und Beaflor«, in: Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439, I. Halbband: Die Literatur der frühen Habsburger bis zum Tod Albrechts II. 1358, Graz 1990 (=Geschichte der Literatur in Österreich, 2,1), 332 – 341. 24 Dabei wird auch noch der Wechsel von der Prosa der Chronik zum Vers des Romans vollzogen. Dass die Chronik ausdrücklich vngereimet ist, mag als zusätzliches Indiz dafür gelten, dass der Text auf französisch oder Latein abgefasst ist, denn die deutschsprachigen Chroniken waren in der Regel Verstexte.

Briefe – Grabinschriften – Zauberbücher

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muss, da uns diese fehlt (wenn es sie denn gegeben hat und wir es hier nicht mit einer Mystifikation wie vermutlich im Falle des Wigalois zu tun haben), offen bleiben. Auffällig ist die Parallelität von Betonung der Mündlichkeit in der Stoffvermittlung und der Schriftskepsis in der Botenepisode allemal.25

II.

Grabinschriften

Der Prosalancelot ist ein großangelegter Erzählzyklus, der die Geschichte vom besten aller Ritter, Lancelot, beinahe von dessen Geburt an bis zu seinem Tode erzählt, der der ehebrecherische Liebhaber der Königin Ginover ist und dennoch mehrfach zum Retter des Artusreichs wird. In der zyklischen Fassung wird in diese Lebens- und Liebesgeschichte der Bericht über die Gralssuche eingeschoben, die nicht Lancelot, sondern sein (unehelich und gegen seinen Willen gezeugter) Sohn Galaad ausführt, und in der Lancelot kurzzeitig von diesem übertroffen wird, sowie die Geschichte vom Untergang des Artusreichs. Endpunkt des Textes ist aber nicht der Tod des Königs Artus und der Untergang seiner Welt, sondern das Begräbnis von Lancelot. Entstanden in Frankreich um 1215, wird er vermutlich in mehreren Etappen über mehr als ein Jahrhundert verteilt ins Deutsche übersetzt, wo er, anders als in Frankreich, keinen nachhaltigen Erfolg hatte.26 Zu Beginn des Textes herrscht im Reich des noch jungen und unerfahrenen Königs Artus Chaos, ein Chaos, das zur Vernichtung der Herrschaft und zum Tod von Lancelots Vater führt; das kleine Kind wird der Witwe von einer Fee entführt, Lancelot wächst in einem Wald, der aus Zauberkraft von außen wie ein See aussieht, auf. Nach einer perfekten höfischen Erziehung entlässt die Fee Lancelot in die Welt und an den Artushof, wo er zum Ritter geschlagen wird. Wie häufiger mit dem Motiv der außergewöhnlichen Jugend des Helden verbunden, weiß Lancelot nicht, wie er heißt. Seinen Namen findet er auf spektakuläre Weise 25 Das sieht dann im 14. Jahrhundert in der Regel anders aus: So wird zum Beispiel in der (nicht nur negativen) Beschreibung der nicht bekehrten Preussen in der Deutschordenschronik des Nikolaus von Jeroschin darauf hingewiesen, dass die Preussen nicht wissen, was es mit der Schrift auf sich hat. Es kommt ihnen deswegen unwahrscheinlich vor, dass ein Mann einem anderen durch einen Briefwechsel seinen Willen kundtut. Hier geht es eben nicht um das mündliche Übermitteln einer Botschaft, sondern um die stumme, aber dennoch zuverlässige Schrift, die als überlegene Kulturtechnik inszeniert wird; vgl. Nikolaus von Jeroschin: Deutschordenschronik. Ein Beitrag zur Geschichte der mitteldeutschen Sprache und Literatur von Franz Pfeiffer, Stuttgart 1854 (Nachdruck Hildesheim 1966), Auszug 6, 10 – 18. 26 Prosalancelot, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020 der BibliothÀque de l’Arsenal Paris, übers., komment. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt/Main 1995 – 2004 (=Bibliothek Deutscher Klassiker, 123, 183, 190; Bibliothek des Mittelalters, 14 – 18).

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auf seiner ersten großen Aventiure: Der Befreiung der Burg Dolorose Garde (Traurige Burg, die später dann in Joyeuse Garde umgetauft wird)27. Als Lancelot sich endlich nach Überwindung etlicher Hindernisse erfolgreich der Burg nähert, erscheint eine Botin der Dame vom See, seiner feenhaften Ziehmutter, und gibt ihm einige Tipps für die folgenden Kämpfe (über die er nicht allzu glücklich ist, weil sie seine Ehre schmälern könnten), und sie prophezeit ihm, dass er die Burg einnehmen und seinen Namen erfahren wird. Nach der Befreiung der Burg führen deren Bewohner ihn auf einen merkwürdigen Friedhof, von einer Mauer mit eng nebeneinander stehenden schmalen Zinnen umschlossen. Auf einigen Zinnen stecken behelmte Köpfe, die wurden den Rittern abgeschlagen, die dort Aventüre suchten. Jedem Kopf gegenüber befindet sich ein Grab, in dem liegt der Ritter, zu dem der Kopf gehört. Yetschlichs grab was mit eim steyn bedackt; uff dem steyn was des ritters nam geschrieben der in dem grab lag. Die buchstaben sprachen alsus: »Hie lyt der, und das ist syn heubt.« Gegen yetlicher zynnen da kein heubt off stack stunt auch ein grab, und off dem steyn was geschriben: »In dißem grab sol der ligen, und in dißem der.« Da was manig gut ritter geschriben ußer des konig Artus hoff und von sym lande und von andern landen, al die besten die allsampt noch lebeten.28

In der Mitte des Friedhofs aber findet sich ein gewaltiges Hochgrab mit einem Sarg aus Metall, mit Gold und Edelsteinen geschmückt. »Er was aller mit buchstaben gemacht, die sprachen: ›Dißer sargk enmag nymer von mannes hant off gehaben werden, wedder mit gewalt noch anders, es thffl dann der der diße jemerliche burg sol gewinnen und des name stet hieunden geschrieben.«29 Weiter heißt es, dass der bisherige Burgherr wie auch andere Ritter oft versucht hatten, den Sargdeckel anzuheben, alle aber gescheitert waren. Vor dieses Grab wird Lancelot geführt, und dann heißt es im Text: »Er kund wol lesen, sin frau 27 »Die burg was geheißen die Dolorose Garde, darumb das kein ritter dar enkame, er stfflrbe zuhant oder er mfflst zuhant gefangen werden, wann er uberwunden wart.« In: Lancelot und Ginover I, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020 der BibliothÀque de l’Arsenal Paris, übers., komment. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt/Main 2003 (Prosalancelot, Bd. 1) (=Bibliothek Deutscher Klassiker, 123; Bibliothek des Mittelalters, 14), 426, 6 – 8. Schon die Statistik zeigt: als Dolorose Garde wird die Burg in etlichen längeren Passagen immer wieder benannt, das Namensregister der Bände Lancelot und Ginover I und II weist 25 Einträge (zum Teil Passagen von über 10 Seiten umfassend) an, der Freudenname Joyeuse Garde wird nur drei Mal verschlagwortet; für die Bände Lancelot und der Gral I und II ist nur der Name Dolorose Garde belegt, für den letzten Band beide Namen, hier überwiegt allerdings der Freudenname, der zum ersten Mal verwendet wird, nachdem Lancelot den Teufelsbann gebrochen hat. Lancelot und Ginover I, 582, 2 f.: »Von dem tag was die burg fflmmer men geheißen die Jovisegarde« – eine Aussage, die schlicht nicht stimmt. 28 Lancelot und Ginover I, 452, 11 – 19. 29 Ebd., 452, 22 – 26.

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hett yn lang thun leren.«30 Lancelots Lektürefähigkeit wird hier besonders hervorgehoben (Artus und Gawan benutzen dagegen im Text eher Schreiber und ihre Kanzleien zum Schreiben wie zum Vorlesen lassen, obwohl am Schluss des Textes deutlich wird, dass zumindest Artus lesen kann). Als Lancelot dann das Grab öffnet (was er natürlich kann), erfährt er nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Herkunft, die Namen seiner Eltern und die Herrschaft seines Vaters. Dann aber lässt er den Sargdeckel wieder fallen, und er verbirgt so seinen Namen, der im Text noch über Hunderte von Seiten unbekannt bleiben soll, obwohl die Dame vom See, wie sofort deutlich wird, ihn sowieso bereits kannte. Unklar bei diesen Inschriften bleibt, wer sie geschrieben hat und woher sie ihre Autorität nehmen.31 Von der Textorganisation her ist deutlich, dass die primäre Funktion dieser Episode die der Kohärenzstiftung ist. Denn genau in dieses Grab kehrt Lancelot am Schluss des riesigen Zyklus zurück, wenn auch nicht allein.32 Gräber bilden ein die ganze gewaltige Textmasse durchziehendes Zeichenund Orientierungssystem. Manchmal mit abenteuerlichem, dämonisch-friedhofshaftem Pomp inszeniert, wenn ein Vorfahre aus der Fegefeuerflammenhölle aus dem Grab zu Lancelot spricht, manchmal vergleichsweise sachlich in den immer ausführlicher werdenden Grabinschriften. Hierzu zwei Beispiele: In einer Sequenz geraten Gawan und Hector auf einen merkwürdigen Friedhof, der hinter einer alten, zerstörten Kapelle liegt. Wieder gibt es hinter dem Eingang einen herausragenden Sarkophag, auf dem eine Inschrift steht: O du fahrennder ritter, der du bist abenthewr suchende, huet dich, das du nicht ganngest inn dießen kirchoff umb der abennthewer willen so inn dießem kirchoff ist zue ennde zu brinngen, dann das were ain verlohrne mühe unnd arbeyt, allß der so da durch seinn große unlautterkeit hast verlohrenn zue ennde zu brinngen die groß 30 Ebd., 452, 33 f. 31 Hier muss man differenzieren: Einige der Inschriften auf dem Friedhof werden später gefälscht, die Burgbewohner tragen hier Namen von noch lebenden Artusrittern ein. Gawein liest sie und verfällt in Trauer. Für Gawein und spätere Leser sind die ›gefälschten‹ Inschriften nicht von den ›echten‹ zu unterscheiden. Doch wer hat die ›echten‹ verfasst? Die auf Lancelots Grab ist eine am Ende des Textes fast bewahrheitete Vorhersage. Wer aber diese Prädestination vorgenommen hat – Gott, der ja in Gralsgeschichten auch immer wieder schreibt, oder die Dame vom See – das bleibt ungesagt. Die Episode macht aber deutlich, dass auch Grabinschriften lügen können: Anders als man zunächst vermuten könnte, wird schon von Beginn an in diesem Text ihre Autorität in Zweifel gezogen. So erweist sich der Text auch in diesem Feld als eine Übung in Ambivalenz. 32 Zu dieser Episode insgesamt vgl. Carol Dover : »Die ›Dreier-Romanze‹ in der ›DoloroseGarde‹-Episode des französischen Prosa-Lancelot«, in: Klaus Ridder, Christoph Huber (Hg.): Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen 2007, 135 – 145 und Matthias Meyer : »Liebe/Trauer zwischen Hof und Kloster im mittelhochdeutschen Prosalancelot. Der Fall Dolorose Garde« (im Erscheinen).

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abenthewre des großen hayligen grols, die da annders nicht mag zue ennde bracht werdenn.33

Gawan und Hector verstehen die Inschrift nicht, aber sie reagieren, wie man es von einem Aventiureritter erwarten kann: sie kümmern sich nicht darum, und erhalten die größte Tracht Prügel ihres Lebens. Jeweils fast besinnungslos finden sie sich am Schluss der Aventiure unter der Friedhofspforte wieder, auf der nun erneut Buchstaben zu lesen sind – die wieder auf Lancelot als denjenigen hindeuten, der die Aventiure bestehen wird.34 Als sie schließlich weiterreiten, kommen sie kurze Zeit später an ein an einer Wegkreuzung stehendes Kreuz, auf dem sich schon wieder eine Aufschrift findet, diesmal werden die Ritter vor einem der Wege gewarnt – kurz: Gawan und Hector befinden sich plötzlich in einem veritablen Schilderwald.35 Für die Leser aber haben die Inschriften nicht nur die Funktion Lancelot präsent zu halten, der immer einmal wieder in den Hintergrund der Erzählung gedrängt wird, die ausführlich zitierte Inschrift macht auch zum ersten Mal im Text unmissverständlich deutlich, dass Lancelot, der bislang als der beste aller Ritter gegolten hat, es nun nicht mehr ist: Er kann und wird die Gralsaventiure nicht bestehen. Solche autoritativen Inschriften im Text werden umso häufiger, je stärker man sich dem Gralsbereich nähert (das gilt sowohl topographisch intradiegetisch, wie auch auf der Ebene der Organisation des Gesamttexts). Ohne dass es je deutlich gesagt wird, sind diese Inschriften von nicht bezweifelbarer Autorität, sie sind, wenn nicht Schriften Gottes (der bei Wolfram ja bekanntlich direkt, oder durch einen Engel vermittelt, auf den Gral schreibt, der dort ein Stein ist), so doch aus einer heiligen Familie stammend, denn die Gräber, an die der Artushof um den Gralsbereich herum gerät, sind meist die Gräber des Geschlechts von Lancelot, der von Josef von Arimathia abstammt, und in dem sich die Vorgeschichte seines Geschlechts kristallisiert. Nicht alle dieser Botschaften sind graphematisch, aber alle Gräber, die in diesem Zusammenhang im Text inszeniert werden, haben Zeichencharakter, etwa wenn der Kopf von Lancelots Großvater in kochendem Wasser liegt, und Lancelot zwar unter großen Schmerzen diesen Kopf entfernen und ins Grab legen kann (so 33 Lancelot und der Gral I, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020 der BibliothÀque de l’Arsenal Paris, übers., komment. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt/Main 2003 (Prosalancelot, Bd. 3) (=Bibliothek Deutscher Klassiker, 183; Bibliothek des Mittelalters, 16), 146, 8 – 15. 34 »Es wirdet keiner inn dießenn kirchoff gehenn, er gehe dann mitt schannden wider hienauß, bißolannge das der betruebten königin sohne komme, der wirdet dieße abenthewre zue ennde brinngenn.« (Lancelot und der Gral I, 150, 24 – 27). 35 Nach den ganzen Warnungen und den scheiternden Aventiuren verwundert es nun auch nicht, dass Gawein als nächstes auf die Gralsburg Corbenic kommt und dort ebenfalls grandios scheitert: Er sieht den Gral nicht einmal.

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macht er seinen Status als quasi Erwählter und seine genealogische Zugehörigkeit deutlich), das Wasser aber schneller kocht als zuvor, da Lancelot von der Hitze des sexuellen Begehrens angetrieben wird: Erst sein absolut keuscher Sohn Galaad wird das Wasser zur Abkühlung bringen. Man kann aber nicht nur mir Briefen lügen (das geschieht gerade im letzten Teil des Prosalancelots häufiger), man kann es auch mit Grabinschriften.36 Ein Fall erweist sich dabei als besonders handlungsrelevant, weil er das in der Mort Artu ubiquitäre Chaos illustriert und schließlich auch eng mit den verschiedenen Auslösern der Untergangshandlung verknüpft ist: Der Ritter Avalan will aus Hass Gawein töten und entwickelt dafür einen sehr elaborierten Plan. Er schickt der Königin einen vergifteten Apfel, weil er weiß, dass diese ein solches Geschenk zuerst Gawein anbieten würde.37 Doch Ginover reicht den Apfel einem Ritter namens Garheiß von Tharahen, der nun vor den Augen des gesamten Hofs den Apfel verspeist und stirbt. Das folgende Szenario ist extrem schwach motiviert, denn der Hof glaubt nun nicht an einen misslungenen Anschlag auf das Leben der Königin, sondern eher daran, dass Ginover – aus welchen Gründen auch immer – den Ritter vergiftet habe. Dennoch dringt dies zunächst noch nicht an die Textoberfläche, denn Artus lässt den Ritter im Stephansmünster beisetzen: »Die gesellen von der tafelrunden gemeynlich schrieben buchstaben daroff: ›Hie lyt Gaharies der Wise von Karahen, Madors bruder von der Porczen, der dott ist mit vergifft‹.«38 Interessant ist nun, dass diese Grabinschrift sich in kurzer Zeit verändert. Denn als Mador die Inschrift liest, wird aus der unpersönlichen Formulierung: ›Tod durch Vergiften‹ ein ›Von Ginover durch Gift getötet‹: »Und da was es ein gewonheit in eyner yglichen statt das man den namen von dem toden uff das grab schreyb. Und da er gesah die buchstaben die da sprachen: ›Hie lytt Gaharies von Tarahen, den die koniginne Genievre det sterben mit vergifft‹, da mochtent ir eynen man gesehen han betrfflbet und zornig, wann er mocht nit gleuben das es war were.«39 Das aber ist, wie der weitere Handlungsverlauf zeigt, die Meinung des Hofes, 36 An dieser Stelle verweise ich auch auf meine Interpretation der Grabinschrift auf Galahots Grab und deren Bedeutung für die Interpretation der Lancelot-Galahot-Geschichte, vgl. Martin Baisch, Matthias Meyer: »Zirkulierende Körper. Tod und Bewegung im ProsaLancelot«, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007, 383 – 404. 37 Wieso er auf diese Idee kommt, macht der Text nicht deutlich – und kann es auch nicht, denn Gawein ist nicht Lancelot, und sowieso bereits, zusammen mit seiner Sippe, auf dem Weg zum Kontrahenten der Königin. 38 Die Suche nach dem Gral, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020 der BibliothÀque de l’Arsenal Paris, übers., komment. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt/Main 2004 (Prosalancelot, Bd. 5) (=Bibliothek Deutscher Klassiker, 190; Bibliothek des Mittelalters, 18), 670, 13 – 15. 39 Die Suche nach dem Gral, 682, 4 – 8.

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der nicht in der Lage ist, hinter die Oberfläche der Dinge zu blicken. Denn als Mador einen Gerichtskampf gegen Ginover verlangt, findet diese zunächst keinen Ritter, der für sie kämpfen will. Als sie schließlich verbrannt werden soll, rettet sie Lancelot – und entführt sie auf die Joyeuse Garde.40 In dieser Episode verwandelt sich die Grabinschrift, ohne dass gesagt wird, wer das getan hat. Das ist zunächst, nicht mehr als ein Übersetzungsfehler, denn der altfranzösische Text bietet an dieser Stelle (vermutlich – angesichts der unsicheren Vorlagensituation) nur eine Version, die der Königin die Schuld gibt. Trotzdem enthält die deutsche Version nicht einen schlichten Fehler, sondern einen zumindest bezeichnenden: Denn die Ambivalenz der Grabinschriften spiegelt die Ambivalenz der Situation wider. Einerseits ist die neue Grabinschrift eine Lüge – Ginover hat Gaharies nicht vergiftet – andererseits gibt sie den Eindruck des Artushofes wieder. Die erste Grabinschrift aber gibt die bekannten Fakten an. Wenn man die gefälschten Grabinschriften auf der Dolorose Garde noch mit den Absichten der Burgbewohner erklären kann, so wird in der deutschen Fassung zwar die Änderung der Grabinschrift nicht erklärt – der Text kann natürlich keine Instanz nennen, die die Änderung vorgenommen hat – sie gibt aber nun plötzlich die öffentlich Meinung wieder : Damit aber wäre die Inschrift in einem ›Staatsgrab‹ (so muss man den Begräbnisort, das Stephansmünster, interpretieren) von der Stimmung am Hofe beeinflusst. Auch diese Inschrift ist jedenfalls ein Beispiel dafür, dass Inschriften im Prosalancelot nicht immer die Wahrheit sagen – selbst wenn diese zweite Szene ein, das Bild anderer Episoden nur bestätigendes, Artefakt der Übersetzung ist.41

40 Dass in diese Episode auch noch die Episode um die Dame von Challot eingebettet ist, macht deutlich, was zu dieser Zeit bereits alles schief läuft am Artushof: Selbst Lancelot und Ginover, deren Liebe als eine der wenigen Konstanten des Textes zu gelten hat, befinden sich hier in der Krise; vgl. auch den Kommentar der Ausgabe zur Stelle, der auf die Parallelen zwischen dieser Passage und der Episode der falschen Ginover hinweist. 41 Bei aller Skepsis, die auch in diesem Text der Schrift entgegengebracht wird, so ist doch seine Verfasserfiktion ein Beispiel für die Autorität von Schrift – gestützt wiederum auf die Autorität der Augenzeugenschaft, denn König Artus lässt immer wieder die Abenteuer, die seine Ritter erlebt haben, aufschreiben: »Und der konig gebot vier schribern die darzu gesaczt warn, das sie all die abentur schriben die in sim hofe geschehen. Der ein was Arodion genant von Koln, und der ander was genant Tantamides von Vernaus und der dritt Thomas von Dolete, der vierd was Sapiens genant von Budas. Diße vier schrieben die abentur in des konig Artus hof.« (Lancelot und Ginover I, 1288, 22 – 28) Das ist die Basis für den Flaschenposttopos, vgl. Gerhard Wild: »Manuscripts Found in a Bottle? Zum Fiktionalitätsstatus (post)arthurischer Schwellentexte«, in: Volker Mertens, Friedrich Wolfzettel (Hg.): Fiktionalität im Artusroman, Tübingen 1993, 203 – 241.

Briefe – Grabinschriften – Zauberbücher

III.

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Zauberbücher

Mein letztes Beispiel stammt aus einem Text, der nach 1291 entstanden ist, er heißt Reinfried von Braunschweig nach seinem Titelhelden, er ist ein – über 27.000 Verse langes – Fragment.42 Der Text kombiniert die Geschichte einer erfolgreichen Brautwerbung, mit der den zweiten Romanteil dominierenden Erzählung von Reinfrieds Fahrt ins Heilige Land, die dann ausgeweitet wird zu einer wissenschaftlich-abenteuerlichen Orientfahrt. Diese gipfelt in Reinfrieds Fahrt zu den Sirenen, deren Gesang er hört und die er überwindet.43 Vorher besucht er, nach gehörigen Vorsichtsmaßnamen, den Magnetberg, an dem zahllose Schiffe scheiterten. Reinfried baut sich ein neues Schiff und eine komplette Ausrüstung mittels eines König Salomo bekannten Wunderkrauts, und er kann so gefahrlos auf dem Magnetberg landen.44 Dort nun trifft er auf eine Höhle, die von einem ehernen Ritterstandbild, neben dem selbst ein Riese klein wirkt, bewacht wird.45 Das ist so lebensecht, dass sich Reinfried und Gefährten, die ja ohne metallene Schwerter unterwegs sind, vor dem Standbild fürchten. Dann aber geht Reinfried – da ihm nichts anderes übrig bleibt, als das Abenteuer zu bestehen oder zu sterben (das ist nun einmal die conditio humana eines Entdeckungsreisenden) – dem Riesen zwischen den Beinen hindurch, ohne dass etwas passiert. Im Berg, in einer großen Echohöhle, findet man vier Eingänge, die wiederum von vier Standbildern bewacht werden. Reinfried ist auf der Suche – er weiß, dass sich in dieser Höhle zwei berühmte Zauberer aufgehalten haben: Savilon (so die Form der Handschrift, sonst meist Zabulon)46, und Virgilius, der (in einer der mittelalterlichen Traditionen zu

42 Reinfried von Braunschweig, hg. von Karl Bartsch, Tübingen 1871. 43 Die Sirene, die Reinfrieds Schiff nachschwimmt und ihn durch Sang und erotische Ausstellung verführen will, stirbt 22610 – 22613 an Überanstrengung. 44 Die ganze Episode (ca.) 20747 – 21722. Hierzu vgl. auch Otto Neudeck: Continuum historiale. Zur Synthese von tradierter Geschichtsauffassung und Gegenwartserfahrung im ›Reinfried von Braunschweig‹, Frankfurt/Main 1989, 168 – 178. Voraussetzung dieser komplizierten Konstruktion ist die Idee, dass nicht nur Metall magnetisch ist, sondern auch mit Metall bearbeitetes Holz vom Magnetberg angezogen wird – erst das macht die Bearbeitung der Baumaterialien mit dem Wunderkraut nötig. 45 Eine ähnliche Höhle findet sich sehr viel später in der interessantesten deutschen Robinsonade/Inselutopie, Schnabels Insel Felsenburg. Schnabel kannte den Reinfried nicht – aber die Inszenierung einer ›Vergangenheitshöhle‹, die Verräumlichung und Konzentration von Geschichte in einer zentralen Höhle, ist das tertium beider Episoden, die auch an der Oberfläche (mechanische Kunstwerke, Gegensatz Christentum – heidnische Götter) erstaunliche Ähnlichkeiten aufweisen. Zu dieser Episode bei Schnabel vgl. Matthias Meyer: »Auf dem Weg zur Tabulosen Neugier? Geschichte, Neugier, Wissenschaft auf der Insel Felsenburg«, in: Martin Baisch, Elke Koch (Hg.): Neugier und Tabu. Regeln und Mythen des Wissens, Freiburg 2010, 131 – 149. 46 So vor allem in der Episode des Wartburgkriegs, Zabulons Buch.

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diesem Namen) vom Dichter zum Zauberer mutiert.47 Als erstes begegnet man, wie könnte es anders sein, einem keiserl„chen Grab, »und was d– manic buochstap/von golde schúne ˜f erhaben.«48 Das Epitaph erklärt, dies sei das Grab Savilons, doch das Weitere erfährt man nun nicht aus der Grabinschrift, sondern aus einem Buch, das mit einer ehernen Kette an einer nahen Wand befestigt, sicher auf dem Grab verankert ist. In diesem Buch lesen nun die Reisenden, Reinfried aus Braunschweig ebenso wie sein persischer Begleiter, die Geschichte Savilons. Das Buch ist für jeden lesbar, denn der Erzähler hält fest, dass das Buch so geschrieben war, dass man es in jeder Sprache lesen konnte. Die Magie stellt einerseits eine Schriftutopie dar, eine universelle Lesbarkeit, wie sie selbst moderne Übersetzungscomputer nur als Parodie einer Verständigung ermöglichen. Andererseits haftet dieser Form der Sprachmagie etwas Heidnisches an, weil durch sie ein Werk Gottes, die babylonische Sprachenverwirrung, wieder rückgängig gemacht wird. Savilon, so berichtet das Buch, lebte in Athen 1200 Jahre vor Christi Geburt, und seine Sinne strebten »niht wan ze húher künste«,49 nach vollständigem Verständnis der Welt. Er erfindet Astronomie und nigromancie, Schwarzmagie, die heute verboten ist. Im Beobachten der Sterne lernt er, dass in 1200 Jahren ein Kind geboren werde, nach dessen Geburt das Judentum verloren wäre. Das berichtet er seiner Mutter, einer Jüdin, die ihn bittet, etwas dagegen zu unternehmen. Bei der nächsten Wiederkehr des Sternes, von dem er diese Information hat, erfährt Savilon, wie das gehen kann (außerdem hat er die über 30 Jahre genutzt, sich in der Zauberkunst zu vervollkommnen). Aus Mutterliebe, so der Erzähler, versucht er die Heilsgeschichte aufzuhalten (und auf merkwürdige Weise bleibt Savilon somit an diesem Versuch, den Heilsplan Gottes aufzuhalten, unschuldig). Vom Stern erfährt er, dass er ein »kleinez brievel« schreiben solle,50 mit »húhen paragraffen«,51 geheimnisvollen Zeichen, damit sei diese Geburt zu verhindern. Der Haken: Wenn die Zeichen gesehen oder der Brief zerstört werden, dann ist der Zauber dahin. Savilon macht nun aus dem Magnetberg eine Festung, die zum Schutz des Briefes dient. In vier Zauberbüchern legt er seine Kunst nieder, er bindet einen Teufel in ein Glas; dieser Flaschenteufel fungiert als Wächter, der die mechanischen Wächterfiguren zu kämpferischem Leben er47 Vgl. Manfred Kern: »Vergilius«, in: Manfred Kern, Alfred Ebenbauer (Hg.): Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, Berlin, New York 2003, 662 – 669. 48 Reinfried, 21284 f. Wie im Prosalancelot ist auch hier nicht deutlich erkennbar, wer die Inschrift verfasst hat. Das ist im Hinblick auf die Frage von Zuverlässigkeit der Inhalte aber keine kleine Frage: In diesem Fall bleibt der konkrete Urheber undeutlich, da das Grab zwar von Virgilius veranlasst, aber von Dämonen gemacht wird. 49 Ebd., 21322. 50 Ebd., 21397. 51 Ebd., 21404.

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weckt. Den magischen Brief aber steckt er in sein Ohr, und das vierte der Zauberbücher, auf das er seine Füße stellt, und auf dem er in einem Thron sitzt, dient als Lebenserhaltungsmaschine, denn Savilon stirbt nicht, sondern sein Geist bleibt in einer Art Zombiezustand in seinem Körper, solange seine Füße auf dem selbstgeschriebenen Zauberbuch stehen. Neben diesem Arrangement aber steht wiederum eine eherne Figur mit einem Hammer, der in dem Moment Savilon zertrümmert und tötet, in dem seine Füße den Kontakt mit dem Buch verlieren. Ein Zeitschnitt von 1200 Jahren. In Rom avanciert der Jüngling Virgilius, Herzog von Mantua, zu einem Abenteurer, und er hört von Savilon, den vier Büchern und dem Magnetberg. Es kommt, wie es kommen muss: Virgilius reist zum Magnetberg und befreit den seiner Einkerkerung müden Flaschenteufel, nachdem ihm dieser die Kampfautomaten abgestellt hat. Virgilius kommt in die Höhle und entdeckt den Brief im Ohr Savilons: »mit disem funde und da von/des brieves kraft vil balde brach,/dú man die karakter sach/und ouch der fig˜ren schrift.«52 Das ist genau die Stunde, in der Octavianus Kaiser ist, und Maria Christus gebiert. Durch den Zauberer Virgilius, als Dichter Vergil dem gelehrten Mittelalter als anima naturaliter christiana bekannt, wird erst die Heilsgeschichte möglich, indem er einen Zauberbrief liest.53 Als nächstes nimmt er das vierte Zauberbuch an sich, Savilon wird getötet, und eigentlich könnte die Episode vorbei sein – und sie ist es auch fast. Es gibt aber eine interessante, für die Poetik des Textes relevante Volte: Der Erzähler hält fest, dass das Buch, dessen Inhalt er bislang berichtet habe, nicht mehr erzählt, wie der befreite Flaschenteufel sich in die Weltmeere stürzen und die Welt ertränken will, wie Virgilius mit seinem Wissen den Teufel überlistet und schließlich wieder in sein Glasgefäß bannt.54 Damit aber wird der Verfasser des Reinfrieds von Braunschweig zum Fortsetzer einer Buchreihe, die Savilon 1200 Jahre vor Christus begonnen hat, die mit der Heilsgeschichte eng verbunden ist, und die gut 1200 Jahre nach Christi Geburt nun ihre Fortsetzung findet.55 Der Magnetberg ist ein Ort der Texte,56 er wird zur Bibliothek eines magi52 Ebd., 21670 – 21673. 53 Auf die Implikationen, die sich durch diese merkwürdige Konstruktion für Gottes (hier dann nicht vorhandene) Allmacht ergeben, geht der Text nicht näher ein – und muss es nicht tun, weil ja durch das Auftreten Vergils die Heilsgeschichte wie geplant (?) ablaufen kann. 54 Vgl. Reinfried, 21698 – 21713. 55 Auf diese zeitliche Achse hat bereit hingewiesen: Alfred Ebenbauer : »Spekulieren über Geschichte im höfischen Roman um 1300«, in: ders. (Hg.): Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag, Wien 1984, 151 – 166, hier 155; O. Neudeck: Continuum historiale, 177 f. sieht darin eine Privilegierung der zentralen Heilsgeschichte. Das ist sicher richtig, aber dennoch steht am Schluss der Verfasser des Reinfrieds nicht nur als der letzte Autor, sondern auch als der da, der am meisten zu berichten hat; sollte er ein Zwerg sein, ist er einer auf Schultern von Riesen, der so weit sieht, wie keiner vor ihm. 56 Ähnlich auch Ridder, der den »spielerischen Umgang mit Texten« und die besondere »in-

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schen und heilsgeschichtlichen Wissens, um das sich wie um eine Zeitachse die drei magischen Autorpersönlichkeiten drehen:57 Savilon, der erste Naturgelehrte, Virgilius der christermöglichende Magier, und der Verfasser des Reinfrieds, der seinen Text eben nicht nur als Erzählung angelegt hat, sondern als Wissensspeicher, denn kaum ein erzählender Text des Mittelalters weist eine solche Masse an naturkundlichen und historischen Digressionen auf.58 Schriftlichkeit aber steht in diesem System nicht mehr im Banne der Mündlichkeit. Und selbst Savilon, der sein Naturkundewissen in Bücher gießt, der die verbotene Schwarzkunst erfindet, ist keine böse oder zwielichtige Figur. Sein Wissen, seine verschriftlichten Erkenntnisse, sind auf auffällige Weise neutral. Er ist schon fast ein moderner Wissenschaftler (oder vielleicht: ein literarisches [Zerr-]Bild eines modernen Wissenschaftlers), der sich über die Ethik seines Handelns keinerlei Rechenschaft gibt: Denn die aus christlicher Perspektive bösartige Nutzung seines Wissens geht ganz auf die Verantwortung seiner Mutter zurück. Er selbst hat (als Heide, nicht als Jude) keinerlei im Text erkennbares Interesse an der Verhinderung der Geburt Christi. Es ist wahr : er muss sterben, seine Zeichen müssen entmachtet werden – aber dazu hat er selbst die Mittel bereitgestellt. Denn nur, weil er Spuren hinterlässt, weil er ein erfolgreicher Wissenschaftler und Magier ist, kann im entscheidenden Moment ein anderer diese Spuren wieder lesen, kann sich das bisherige Wissen Savilons aneignen (und überbieten) und so, unwissentlich und unwillentlich, die Heilsgeschichte ermöglichen. Interessant ist, dass dies sozusagen ein innerwissenschaftlicher, schriftgestützter Prozess ist: Göttliche Inspiration spielt keine tertextuelle Inszenierungsform« der Magnetberg- und Sirenen-Episoden hervorhebt; Klaus Ridder : Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ›Reinfried von Braunschweig‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Friedrich von Schwaben‹, Berlin, New York 1998, hier 75. In die gleiche Richtung geht bereits Vögel (Herfried Vögel: Naturkundliches im ›Reinfried von Braunschweig‹, Frankfurt/Main u. a. 1990): »Der Magnetberg ist damit mehr als eine geographische Kuriosität. Er ist ein Schauplatz der Literatur und der Geschichte, das heißt der Heilsgeschichte.« (93) In seiner Deutung der Magnetbergepisode (90 – 101), bleibt Vögel ambivalent; zwar betont er die Rolle der Literatur, sein Fazit aber lautet: »Festzuhalten bleibt, daß Reinfrieds Expedition zum Magnetberg in einem Geflecht von heilsgeschichtlichen Verweisen erzählt wird, während auf der Handlungsebene das Motiv des Wunderschauens dominiert.« (101). 57 Ganz anders die momentan vorherrschende Interpretation, wie sie etwa Achnitz belegt, der in Zabulons Versuch der Wissenschaft nur superbia sieht, der die ganze Episode als Exempel, als Warnung vor vana curiositas liest, und so auch das allsprachliche Buch verstanden wissen will, das Reinfried und seine Gefährten zwar lesen, aber nicht verstehen. Dagegen muss man festhalten, dass es gerade das in superbia gesammelte Wissen Savilons ist, das es Virgilius ermöglicht, den Teufel wieder zu bannen; vgl. Wolfgang Achnitz: Babylon und Jerusalem. Sinnkonstituierung im ›Reinfried von Braunschweig‹ und im ›Apollonius von Tyrland‹ Heinrichs von Neustadt, Tübingen 2002, bes. 184 – 191. 58 Als erster hat sich Vögel, Naturkundliches, ausführlich mit diesem Aspekt des Textes befasst.

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Rolle, sie wird eben gerade nicht inszeniert. Reinfried als Figur und der Reinfried von Braunschweig als Text stehen in dieser Tradition: der eine sucht Wissen, der andere will es speichern. Auffällig aber ist, dass in beiden Texten, die zeitlich eng beieinander liegen, ein so unterschiedlicher Umgang mit der Schriftlichkeit herrscht. Das ist bis zu einem gewissen Grad mit den Erfordernissen der Handlung zu erklären: Man kann Mai und Beaflor nicht ohne einen gewissen Grad an Schriftskepsis erzählen, und es ist auffällig, dass in diesem Handlungszusammenhang nicht wirklich überzeugend motiviert wird, dass die Narration in logische Probleme kommt.59 Aber man könnte den Reinfried von Braunschweig mit einem sehr viel größeren Maß an Schriftskepsis erzählen, man könnte nicht nur berichten, dass nigromancie heute verboten ist, sondern auch eine Verteufelung der Schrift inszenieren. Das aber fehlt, Schrift als Wissensspeicher (und als Medium der Erzählung) ist ausgesprochen positiv besetzt. Ich lese das als Hinweis darauf, dass die Diskussion um Status und Stellenwert von Schriftlichkeit und um die Relevanz mündlicher Tradierung um 1290 noch ein Gebiet ist, das mit hoher sozialer Energie besetzt ist, über das der gesellschaftliche Verhandlungsprozess noch nicht zu einem Ende gekommen ist.60 Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass meine Beispiele bei allen Unterschieden allesamt ›Normalsituationen‹ mittelalterlicher Schriftlichkeit darstellen: Briefe sind seit dem Parzival oder dem Wilhelm von Orlens als handlungsrelevante Darstellungsmittel etabliert, Inschriften sind nicht nur in der Realität des Mittelalters, sondern auch in Texten (abermals Parzival – und, wenn auch nicht als Grabinschrift: Gregorius) – und Bücher als Wissensspeicher sind für Autorentypen wie Hartmann von Aue die Grundlage ihrer Arbeit. Zu meinen Beispielen aus der Diegese könnte man die allgemeine Vorstellung des Wandels von einer semioralen hin zu einer im wesentlichen schriftorientierten literarischen Kultur des Mittelalters in Parallele setzen – auch wenn hier sicher ein hohes Maß an Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Rezeptionsformen anzunehmen ist. Dennoch setzt sich im Laufe des 13. Jahrhunderts die Schriftlichkeit als Leitform der Literatur immer mehr durch, was sich dann in narrativen Texten spiegelt, in denen Konstellationen des Schreibens, des Aufschreibens immer stärker affirmativ integriert werden. Bei diesem Prozess handelt es sich sicherlich um keinen glatt teleologisch verlaufenden, sondern mäandrierenden, etwa wie das Daston und Park für den Diskurs des Wunder-

59 Was aber nicht unbedingt gegen den Text spricht, der oft vorschnell abgewertet wurde: vgl. zum Beispiel F. P. Knapp: Literatur, 335, der von den poetischen Mängeln des Textes spricht. 60 Zu den Termini Verhandlung und soziale Energie vgl. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley 52000.

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baren gezeigt haben.61 Dass das Christentum als Schriftreligion einen hohen Anteil an diesem Prozess hat, ist eigentlich eine Plattitüde. Wichtiger erscheint mir, dass dieser Prozess am Ende des 13. Jahrhunderts so weit gediehen ist, das Schriftlichkeit als Wissensspeicher auf jeden Fall positiv ist – egal, ob christlich oder unchristlich, und egal, wo die Bücher liegen.

61 Lorraine Daston, Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150 – 1750, New York 1998; deutsch: Wunder und die Ordnung der Natur 1150 – 1750, Frankfurt/Main 2002. Als Fußnote sei angemerkt, dass ein Text wie der Reinfried als frühes Beispiel einer Wunderkammer dienen kann: Er sammelt – noch nicht als Objekte, aber doch in der Erzählung – einen weitreichenden Überblick über die Wunder der Natur, er ist eine schriftgestützte Wunderkammer.

Arno Dusini

Die Narbe der Schrift. Erich Auerbachs Mimesis Les autres forment l’homme, je le recite Michel de Montaigne in Erich Auerbach, Mimesis

»Die Leser der Odyssee erinnern sich der wohlvorbereiteten und ergreifenden Szene im 19. Gesange, in der die alte Schaffnerin Eurykleia den heimgekehrten Odysseus, dessen Amme sie einst war, an einer Narbe am Schenkel wiedererkennt. Der Fremdling hat Penelopes Wohlwollen gewonnen; nach seinem Wunsche befiehlt sie der Schaffnerin ihm die Füße zu waschen, wie dies in allen alten Geschichten als erste Pflicht der Gastlichkeit gegenüber dem müden Wanderer üblich ist; Eurykleia macht sich daran, das Wasser zu holen und kaltes mit warmem zu mischen, indes sie traurig von dem verschollenen Herren spricht, der wohl das gleiche Alter haben möge wie der Gast, der jetzt vielleicht auch, wie er, irgendwo als armer Fremdling umherirre – dabei bemerkt sie, wie erstaunlich ähnlich ihm der Gast sehe – indes Odysseus sich seiner Narbe erinnert und abseits ins Dunkle rückt, um die nun nicht mehr vermeidbare, ihm aber noch nicht erwünschte Wiedererkennung wenigstens vor Penelope zu verbergen. Kaum hat die Alte die Narbe ertastet, läßt sie in freudigem Schreck den Fuß ins Becken zurückfallen; das Wasser fließt über, sie will in Jubel ausbrechen; mit leisen Schmeichel- und Drohworten hält Odysseus sie zurück; sie faßt sich und unterdrückt ihre Bewegung. Penelope, deren Aufmerksamkeit zudem durch Athenens Vorsorge von dem Vorgang abgelenkt wurde, hat nichts gemerkt.« Mit diesen Sätzen beginnt Erich Auerbachs Mimesis.1 Der in Marburg lehrende Romanist, der aufgrund des Reichsbürgergesetzes 1935 aus dem Amt entfernt wurde, hat es »zwischen Mai 1942 und April 1945« geschrieben,2 im Exil in Istanbul. Herausgekommen ist es 1946 in Bern im Francke Verlag. In der Folge vielfach übersetzt, wurde es auch im Deutschen immer wieder neu aufgelegt. Über Dante, Montaigne und Stendhal, um nur einige zu nennen, bis hin zu 1 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946. 2 E. Auerbach: Mimesis, 2.

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Virginia Woolf führend, wird es – um exemplarisch ein Lexikon literaturtheoretischer Werke zu zitieren – ob »seiner stupenden Gelehrsamkeit, seiner feinfühligen Textanalysen und seiner großräumigen geistesgeschichtlichen Verknüpfungen« geschätzt.3 Wenn allerdings derselbe Lexikoneintrag von einem »Höhepunkt klassischer deutscher Philologie« spricht, wird man dieser Formulierung mit Vorsicht zu begegnen haben. Martin Treml und Karlheinz Barck etwa, die Herausgeber eines unlängst erschienenen Sammelbandes zu Erich Auerbach, apostrophieren Auerbach programmatisch als einen europäischen Philologen.4 Sie begründen dies mit dem Argument, dass Auerbach mit Mimesis »eine erste (wenn nicht noch immer einzige) kohärente moderne nicht-nationalgeschichtlich konzipierte Literaturgeschichte« vorgelegt habe. Wobei sie sich unter anderem auf Geoffrey H. Hartman berufen können, »der in den 1950er Jahren Auerbachs Kollege an der Yale University war : ›Die vielleicht einzige eigentliche Literaturgeschichte, die wir haben, Erich Auerbachs Mimesis, bezieht ihre Modernität aus der entscheidenden Verschiebung hin zum Volkssprachlichen und zu den Reaktionen darauf‹«.5 Edward Said wiederum, der sich mit Auerbach auch als Übersetzer auseinandergesetzt hat, würdigt in seinem Vorwort zur Neuausgabe der englischsprachigen Version Mimesis als »alternative europäische Geschichte«, als Geschichte eines »durch die Mittel der Stilanalyse wahrgenommenen« Kontinents, als »einen Versuch, Sinn und Bedeutung aus den Fragmenten einer Modernität zu retten, in deren Licht er in seinem türkischen Exil den Untergang Europas, und insbesondere Deutschlands, wahrnahm«.6 Und Tzvetan Todorov, um noch einen dritten in dieser Reihe zu nennen, stellt in seinem Buch Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen Auerbach in eine Reihe von Figuren, deren »Erfahrung […] für eine Tendenz unserer Gesellschaft steht: Dieses Wesen, das seine Heimat verloren hat, ohne eine neue zu finden, das in doppeltem Sinne ein Außenstehender ist. Der Exilant verkörpert heute am besten, allerdings unter Verlagerung seiner ursprünglichen Bedeutung, das Ideal des Hugo von St. Victor, das dieser im 12. Jahrhundert 3 Lexikon literaturtheoretischer Werke, hg. von Rolf Günter Rennert und Engelbert Habekost, Stuttgart 1995, 238 – 240. 4 Karlheinz Barck, Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin 2007. 5 Vgl. K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, 16: »Perhaps the only true literary history we have, Erich Auerbach’s Mimesis, depends for the modern part of its perspective on the great vernacular shift and reactions to it«. 6 »Europe perceive through the means of stylistic analysis«, als einen Versuch, »to rescue sense and meanings from the fragments of modernity with which, from his Turkish exile, Auerbach saw the downfall of Europe, and Germany in particular« (zuerst in: Erich Auerbach: Mimesis. The representation of reality in Western literature, übers. von Willard R. Trask, mit einer neuen Einl. von Edward W. Said, Princeton 2003.) Hier zitiert nach K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, 17.

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folgendermaßen formulierte: ›Von zartem Gemüt ist, wer seine Heimat süß findet, stark dagegen jener, dem jeder Boden Heimat ist, doch nur der ist vollkommen, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist‹ (ich, ein Bulgare, der in Frankreich lebt, übernehme dieses Zitat von Edward Said, einem Palästinenser, der in den Vereinigten Staaten lebt, und der hat es seinerseits bei Erich Auerbach gefunden, einem Deutschen im türkischen Exil).«7 Die Geschichte und Verschiebung dieses durch die genannten Schriften und deren Weiter-Übersetzungen irrlichternden Zitats bis zu seinem Autor Hugo von St. Viktor zurückzuverfolgen,8 ist hier nicht der Ort – doch notwendig der Hinweis, dass Auerbach das Zitat ausdrücklich in den Kontext eines Konzepts »philologischer Heimat« rückt,9 in den Kontext also einer nachhaltig deterritorialisierten Topographie von Sprachen und Literaturen, eine Topographie, in der nicht nur die ›Fremde‹, sondern »die ganze Welt«, also zuallererst die eigene, reale »Heimat« nur »fremd« erscheinen kann. *

Der eingangs aufgenommene Beginn des Buches Mimesis (und man hätte sich in einem größeren Kontext zu fragen, was denn das bedeute, ›Buch‹, in Zeiten des Exils) ist auch der Beginn des ersten Kapitels in diesem Buch, der Beginn der Narbe des Odysseus. Auf diese Unterscheidung zwischen Kapitel- und Buchanfang selbst dort, wo beide in eins fallen, aufmerksam zu machen, ist nicht müßig. Jemand wie Stephen Greenblatt, der seinen Aufsatz Erich Auerbach und der New Historicism. Bemerkungen zur Funktion der Anekdote in der Literaturgeschichtsschreibung ebenfalls mit dem ersten Satz aus Auerbachs Buch beginnt, vermerkt: »›Die Leser der Odyssee erinnern sich der wohlvorbereiteten und ergreifenden Szene im 19. Gesange, in der die alte Schaffnerin Eurykleia den heimgekehrten Odysseus, dessen Amme sie einst war, an einer Narbe am Schenkel wiedererkennt.‹ So beginnt der Text von Erich Auerbachs großartigem Buch Mimesis, sowohl im deutschsprachigen Original als auch in der englischen 7 Tzvetan Todorov : Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, übers. von Wilfried Böhringer, Frankfurt/Main 1985, 294. 8 Erich Auerbach: »Philologie der Weltliteratur«, in: ders.: Philologie der Weltliteratur. Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung, Frankfurt/Main 1992, 82 – 96, 96. Auerbach zitiert in Originalsprache: »Magnum virtutis principium est, schreibt Hugo von St. Victor (Didascalion III, 20), ut discat paulatim exercitatus animus visibilia haec et transitoria primum commutare, ut potmodum possit etiam delinquere. Delicatus ille est adhuc, cui patria dulcis est, fortis autem cui omne solum patria est, perfectus vero cui mundus totus exilium est … Hugo meinte das für den, dessen Ziel Loslösung von der Liebe zur Welt ist. Doch auch für einen, der die rechte Liebe zur Welt gewinnen will, ist es ein guter Weg« (ebd.). 9 Ebd.

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Übersetzung: keine Danksagung, kein methodologisches Vorwort, keine theoretische Einführung.«10 Mit anderen Worten: Auerbach beginnt in medias res. Und das irritiert insbesondere angesichts der Tatsache, dass Auerbach schon im ersten Satz seines Homeraufrufs von der ›Wohlvorbereitetheit‹ der homerischen Szene spricht. Zwischen der Rede über den Gegenstand und dem Gegenstand tut sich mithin eine Kluft auf zwischen dem expliziten »wohlvorbereitet« des Besprochenen und einem implizit realiter vollzogenen ›Unvorbereitet‹ des Sprechens. In einer Nachschrift zu Mimesis, in den 1954 in den Romanischen Forschungen erschienenen Epilegomena zu Mimesis verlautet Auerbach, »daß ich überhaupt mit meinem ersten Kapitel nicht ganz zufrieden bin«; tatsächlich habe er erwogen, »das Homerkapitel ganz fallen zu lassen […]«, »es hätte«, so Auerbach, »genügt, mit der Zeit um Christi Geburt zu beginnen. Aber eine Einleitung zu finden, die an Deutlichkeit und Wirksamkeit für die Problemstellung sich mit dem Homerkapitel hätte messen können, erwies sich als undurchführbar : und so habe ich es, gegenüber dem ersten Entwurf noch etwas abgeschwächt, stehen gelassen; es schien mir berechtigt, Motive stark hervorzuheben, auf die es im Zusammenhang des Buches ankommt, und die richtig gesehen, wenn auch einseitig herausgearbeitet sind. Aber ich betone hier die Einseitigkeit der Darstellung ausdrücklich, weil es immer wieder Leser gibt, die gerade das erste Kapitel besonders rühmen.«11 Der acht Jahre nach der Veröffentlichung des Buches erschienenen Nachschrift zufolge hat Auerbach die »Einseitigkeit der Darstellung« also offenbar bewusst in Kauf genommen zugunsten des »Zusammenhang[s]«, den das »Buch« leistet. Eine paratextuelle Verankerung des Buches scheint in der Zeit seiner Entstehung zwar erwogen worden, aber nicht »durchführbar« gewesen zu sein. Not oder Notwendigkeit? Die Gräzistik hat Auerbachs Homer-Interpretation zu Beginn von Mimesis nicht nur mit Begeisterung aufgenommen.12 Und Auerbach nimmt, wie den Epilegomena zu entnehmen, den Text gegen die, die ihn rühmen, in Schutz. Der »Zusammenhang«, um den es Auerbach so nachdrücklich geht, ist offenbar nur über das Prekäre des ersten Kapitels herzustellen. Worin also – so die leitende Frage

10 Stephen Greenblatt: »Erich Auerbach und der New Historicism. Bemerkungen zur Funktion der Anekdote in der Literaturgeschichtsschreibung«, in: ders.: Was ist Literaturgeschichte?, mit einem Kommentar von Catherine Belsey, übers. von Reinhard Kaiser und Barbara Naumann, Frankfurt/Main 2000, 73 – 100, 73. 11 Erich Auerbach: »Epilegomena zu Mimesis«, in: Romanische Forschungen, 65 (1954), 1 – 18: »[…] habe ich zuerst einzuräumen, daß die Motive der Spannungslosigkeit und ›Vordergründigkeit‹ Homers im ersten Kapitel allzustark betont sind«. Zitiert nach: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, 467. 12 Vgl. etwa Adolf Köhnken: »Die Narbe des Odysseus. Ein Beitrag zur homerisch-epischen Erzähltechnik«, in: Ders.: Darstellungsziele und Erzählstrategien in antiken Texten, hg. von Anja Bettenworth, Berlin, New York 2006, 49 – 64.

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der Untersuchung – wäre dieser »Zusammenhang« im Homer-Kapitel aufzusuchen? Vorab aber noch eine kleine Digression. Es läge nahe, das Kapitel primär als ein Kapitel über den Begriff des ›Fremden‹ zu lesen. Der Begriff taucht in der Figur des unerkannten ›Eigenen‹ auf. Der entscheidende Akzent der Auerbachschen Szenendramaturgie liegt meines Erachtens indes auf der Betonung des Gastrechts. Da heißt es: »[…] wie dies in allen alten Geschichten als erste Pflicht der Gastlichkeit gegenüber dem müden Wanderer üblich ist […]«. Was die Begegnung mit dem unbekannten Ankömmling zuallererst reguliert, ist ein in »allen alten Geschichten« verpflichtend festgeschriebenes Recht: das von den Geschichten nicht nur erzählte, sondern von diesen alten Geschichten vielleicht überhaupt installierte und in der erneuerten Erzählung immer wieder in Kraft gesetzte Gastrecht. Was Auerbach in der Erinnerung des Lesers aufruft, ist also in erster Linie Gastrecht, nicht Fremdenrecht: Odysseus, der vorerst, der nachträglich Fremde, ist in der Auerbachschen Szene zuallererst Gast: Nach alter Erzählweise wird ihm Gastrecht gewährt. Und wie sich Odysseus an früher erinnert, so erinnern sich die Leser der Odyssee – so zumindest Auerbach – an die Erzählung: »Die Leser der Odyssee erinnern sich […]«. Lässt sich, was zu lesen steht, mithin aufs Lesen umwenden? Gibt es so etwas, wie ein längstes Gedenken an Texte, in denen man ›heimisch‹ ist? ›Entfremden‹ Texte? Wann sind wir Texten gegenüber in der Position eines Gastes? George Steiner hat in einem Gespräch unter dem Titel Eine gute Lektüre ist ein Dank an den Text in der Neuen Zürcher Zeitung formuliert: »Denn von einem grossen Text wird man gelesen. Man hat die Ehre, ins Haus einzutreten als Gast eines Texts – immer als Gast! –, und man versucht zuzuhören. […] Wenn man in ein Haus eintritt, wäscht man sich die Hände. Man geht sauber an einen Text, wenn man kann. Es gibt eine Ethik des Verstehens – man versucht nicht, einen Text beim Lesen umzugestalten. Und vor allem, man vergisst nie die Milliarden von Kilometern Entfernung zwischen dem besten Kritiker, Lehrer, Leser, Herausgeber und demjenigen, der das Werk geschaffen hat. Die Sünde der modernen Kultur besteht darin, wie sich die Herren Dozenten und Kritiker wichtig nehmen. Ein großer Lehrer oder Kritiker ist nur der Briefträger, der den Brief dem richtigen Empfänger zuwirft«.13 Wäre das erste Kapitel von Mimesis mithin nicht auch so etwas wie die Erinnerung an ein Gastrecht, welches das Buch gewährt? Doch zurück ins Kapitel. Auerbach kommentiert die an den Eingang gestellte Szene folgendermaßen: »Dies alles wird genau ausgeformt und mit Muße erzählt. In ausführlicher, fließender, direkter Rede geben die beiden Frauen ihre Gefühle kund; obgleich es Gefühle sind, ein wenig nur mit allgemeinster Be13 George Steiner : »Eine gute Lektüre ist ein Dank an den Text«, in: Neue Zürcher Zeitung (18./ 19. 4. 2009), 32.

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trachtung des Menschenschicksals vermischt, ist die syntaktische Verbindung zwischen ihren Teilen vollkommen klar ; kein Umriß verschwimmt. Auch für wohlgeordnete, jedes Gelenk zeigende, gleichmäßig beleuchtende Beschreibung der Geräte, Gesten und Handreichungen ist Raum und Zeit reichlich vorhanden; selbst in dem dramatischen Augenblick des Wiedererkennens wird nicht versäumt, dem Leser mitzuteilen, daß es die rechte Hand ist, mit der Odysseus die Alte an der Kehle faßt, um sie am Sprechen zu verhindern, indes er sie mit der anderen näher an sich heranzieht. Klar umschrieben, hell und gleichmäßig belichtet, stehen oder bewegen sich die Menschen und Dinge innerhalb eines überschaubaren Raumes; und nicht minder klar, restlos ausgedrückt, auch im Affekt wohlgeordnet, sind die Gefühle und Gedanken«.14 Lichte Detailtreue, ruhevolle, räumlich freie Rede, eine klare syntaktische Verbindung zwischen den Redeteilen, das sind die Qualitäten, die Auerbach an der Homerstelle rühmt: Fließendes, Flüssiges. Das sind bekanntermaßen die geläufigen Attribute einer Stilistik, die das Stockende und Brüchige vom Fließenden und Flüssigen unterscheidet. An dieser Stelle suggerieren sie eine dialektische Beziehung zum Gegenstand. Das ›Flüssige‹ der Erzählung, das ›Liquide‹, hat in der Geschichte, die es trägt, seine Entsprechung. Nicht nur die Dramatik der von Auerbach zitierten Szene, sondern die ganze Erzählung bildet sich in Wasser ab. Eurykleia läßt im Moment der Wiedererkennung Odysseus’ Fuß ins Becken zurückfallen – unmittelbar Zeichen dafür, dass die alte Frau sich ›freudig schreckt‹. Das Moment des Ins-Wasser-Zurückfallen-Lassens eröffnet indes auch eine eminent vertikale Dimension der Erzählung. Die Szene wird weit über sich selbst hinaus als Abbreviatur der großen epischen Erzählbewegung erkennbar, in deren Verlauf Odysseus immer wieder durch den Meergott Poseidon an seiner Rückkehr in die Heimat gehindert wird: Odysseus Irren ist eine durch Unwetter, Sturm und Wellengang permanent aufgeschobene Syntax, die in der Wiederkennungsszene en miniature auftaucht. Und auf eine grundsätzliche Analogisierung von erzählter Biographie und stilistischer Analyse scheint es Auerbach anzukommen: überraschend ist der Fortgang seiner Analyse. Auerbach, der zuallererst die Erinnerung der Leser apostrophiert, erzählt nicht nur im selben ersten Absatz seines Buches seine eigene Erinnerung an den Stoff aus. Dabei stellt er die Leser kalkuliert auf die Probe: Er erzählt unvollständig. So heißt es nach der ersten Charakterisierung des Homerischen Stils: »Bei meiner Wiedergabe des Vorganges habe ich bisher den Inhalt einer ganzen Reihe von Versen verschwiegen, die ihn mitten unterbrechen [Unterstreichung A.D.]. Es sind mehr als siebzig – während der Vorgang selbst je etwa vierzig vor und vierzig nach der Unterbrechung umfaßt. Die Unterbrechung, die gerade an der Stelle erfolgt, wo die Schaffnerin die Narbe erkennt, also im Augenblick der 14 E. Auerbach: Mimesis, 5.

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Krise, schildert die Entstehung der Narbe, einen Jagdunfall aus Odysseus’ Jugendzeit, bei einer Eberjagd, als er zu Besuch bei seinem Großvater Autolykos weilte. Dies gibt zunächst Anlaß, den Leser über Autolykos zu unterrichten, über seinen Wohnort, die genaue Art der Verwandtschaft, seinen Charakter, und, ebenso ausführlich wie entzückend, über sein Benehmen nach der Geburt des Enkels; dann folgt der Besuch des zum Jüngling herangewachsenen Odysseus; die Begrüßung, das Gastmahl zum Empfang, Schlaf und Erwachen, der morgendliche Aufbruch zur Jagd, das Aufspüren des Tieres, der Kampf, die Verwundung Odysseus’ durch den Hauer, das Verbinden der Wunde, die Genesung, die Rückkehr nach Ithaka, das besorgte Ausfragen der Eltern; alles wird erzählt, wiederum mit vollkommener, nichts im Dunkeln lassender Ausformung aller Dinge und aller sie verbindenden Glieder. Und dann erst kehrt der Erzähler in Penelopes Gemach zurück, und Eurykleia, die vor der Unterbrechung die Narbe erkannt hat, läßt erst jetzt, nach derselben, vor Schreck den hochgehobenen Fuß ins Becken zurückfallen.«15 Was Auerbach vorerst denen, die sich daran erinnern »werden«, »verschwiegen« hat, ist zum einen, was Homers Erzählung an der Stelle, an der Odysseus von der alten Dienerin wiedererkannt wird, auserzählt. Im Fortgang des Aufsatzes wird vom »Grundimpuls des homerischen Stils« die Rede sein, »die Erscheinungen ausgeformt, in allen Teilen tastbar [Unterstreichung A.D.] und sichtbar, in ihren räumlichen Verhältnissen genau bestimmt zu vergegenwärtigen«.16 Narratologisch zugespitzt heißt das: Es ist die Narbe, die erzählt. Beziehungsweise, so Auerbach selbst: »[…] die Geschichte von der Narbe wird selbständige und volle Gegenwart«.17 Der Narbe also entspringt Geschichte, genauer : Lebensgeschichte, die Geschichte einer in die Kindheit zurückreichenden Verwundung, deren Spuren nicht nur niemals ganz verschwunden sind, sondern die auch noch lange nach dem verwundenden Ereignis eine Identifizierung der Person ermöglichen. Das ist das ›Verschwiegene‹, worauf Auerbachs Eingang »wohlvorbereitet« hinarbeitet: Die Narbe, Zeichen der Verletztheit und Verletzlichkeit einer Person, macht erkennbar ; Odysseus wird erkennbar anhand der Narbe, und zwar anhand einer Narbe, die mit einer Erzählung übereinstimmt. *

15 Ebd., 6. 16 Ebd., 8. 17 Ebd., 9.

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Angesichts dieser ›Narbenerzählung‹ ist man auf ein philologisches Verfahren verwiesen, das Auerbach obstinat thematisiert. Am 22. Mai 1939 schreibt Auerbach aus Istanbul nach Fulda an den ehemaligen Schüler, späteren Assistenten und Freund von Werner Krauss in Marburg, an Martin Hellweg: »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie entschlossen weiterarbeiteten, und insbesondere wenn Sie in der Arbeitstechnik nicht vom allgemeinen Problem ausgehen würden, sondern von einem gut und griffig ausgewählten Einzelphänomen, etwa von einer Wortgeschichte oder einer Stelleninterpretation. Das Einzelphänomen kann gar nicht klein und konkret genug sein, und es darf niemals ein von uns oder anderen Gelehrten eingeführter Begriff sein, sondern etwas, was der Gegenstand selber bietet. Macht man es anders, so hat man die größten Schwierigkeiten, sich den Stoff dienstbar zu machen, und es gelingt nie ohne Gewaltsamkeit. […] Es muß, wenn es richtig ist, aus konkreten Daten erwachsen – seien Sie sicher, daß es sich dabei modifiziert, manchmal ganz zu verschwinden droht, und vermutlich zuletzt doch wieder, bereichert und gleichsam inkarniert doch wieder hervorbricht.«18 Auerbachs philologisches Vorgehen besteht im Grunde in der Ausfaltung einer rhetorischen Figur, der Synekdoche. Eine Synekdoche liegt dann vor, »wenn man die ganze Sache aus einem kleinen Teil erkennt oder aus dem Ganzen einen Teil.«19 Nun kann man in einer Hermeneutik dieser Figur die Aufmerksamkeit auf das ›quantitative‹ Verhältnis von Ganzem und Teil lenken.20 Aber vielleicht ist dies das Uninteressantere. Vielversprechender scheint es, auf den Vorgang des Erkennens des einen aus dem anderen zu achten, weshalb etwa die früheste lateinische Lehrschrift Rhetorica ad Herennium die Figur unter dem Terminus intellectio führt.21 Die deutsche Übersetzung von Theodor Nüßlein übrigens gibt für intellectio das schöne Wort »Inbegriff«.22 So dass man formulieren könnte: ›einen Inbegriff geben von …‹; ›Auerbach gibt einen Inbegriff von …‹; ›die Szene gibt einen Inbegriff von …‹ etc. Und von daher ist wiederum daran zu erinnern, dass sumejdow^ von d]wolai abgeleitet

18 Erich Auerbach: Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939 – 1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar, hg. von Martin Vialon, Tübingen, Basel 1997, 57 f. Diese Briefpassage bedürfte ausführlichen Kommentars. Der von Auerbach an exponierter Stelle verwendete Begriff der »Inkarnierung«, der weit etwa über den der ›Inkorporierung‹ hinausgeht, verweist auf sein Figura-Konzept (1933 ausgearbeitet und erst 1939 publiziert); vgl. dazu Ulrich Wyss: »Mediävistik als Krisenerfahrung«, in: Gert Althoff (Hg.): Die Deutschen und ihr Mittelalter, Darmstadt 1992, 127 – 146, 144. Die Durchstreichung reproduziert eine bedenkenswerte Korrektur Auerbachs. 19 Rhetorica ad Herennium. Lateinisch – Deutsch, hg. und übers. von Theodor Nüßlein, München, Zürich 1994, 262. 20 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 31990, 295 (§ 572 C’). 21 Rhetorica ad Herennium, 44. 22 Ebd., 263.

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ist, was soviel heißt wie: ›empfangen‹, ›in Empfang nehmen‹ und, wie es das Wörterbuch gibt, auf Personen bezogen: ›gastlich aufnehmen‹.23 *

Fragend nach dem »Zusammenhang«, auf den gerade das erste Kapitel in seiner »Einseitigkeit« abziele, lassen sich bis hierher wenig prekäre Momente erkennen. Doch plötzlich, und wiederum nicht ›wohlvorbereitet‹, vollkommen unvermittelt werden wir mit Unerwartetem konfrontiert. Wie aus der Narbe des Odysseus dessen Lebensgeschichte hervorspringt, so springt aus dem Kapitel über diese Narbe eine andere Geschichte hervor: »Nach diesen Geschichten / versuchte Gott Abraham / vnd sprach zu jm / Abraham / Vnd er antwortet / Hie bin ich. Vnd er sprach / Nim Jsaac deinen einigen Son / den du lieb hast / vnd gehe hin in das Land Morija / vnd opffere jn da selbs zum Brandopffer auff einem Berge / den ich dir sagen werde. // Da stund Abraham des morgens früe auff / vnd gürtet seinen Esel / vnd // nam mit sich zween Knaben / vnd seinen son Jsaac / vnd spaltet holtz zum Brandopffer / Macht sich auff / vnd gieng hin an den Ort / da von jm Gott gesagt hatte. Am dritten tage hub Abraham seine augen auff / vnd sahe die stet von ferne / Vnd sprach zu seinen Knaben / Bleibt ir hie mit dem Esel / Jch vnd der Knabe wollen dort hin gehen / Vnd wenn wir angebetet haben / wollen wir wider zu euch komen. // Vnd Abaham nam das holtz zum Brandopffer / vnd legets auf seinen son Jsaac / Er aber nam das Fewr vnd Messer in seine hand / Vnd giengen die beide miteinander. / Da sprach Jsaac zu seinem Vater Abraham / Mein vater. Abraham antwortet / Hie bin ich / mein Son. Vnd er sprach / Sihe / Hie ist fewr vnd holtz / Wo ist aber das schaf zum Brandopffer? Abraham antwortet / mein Son / Gott wird jm ersehen ein schaf zum Brandopffer. Vnd giengen die beide miteinander. // Vnd als sie kamen an die stet / die jm Gott saget / bawet Abraham daselbs einen Altar / vnd legt das holtz drauff / Vnd band seinen son Jsaac / legt jn auff den Altar oben auff das holtz / Vnd recket seine Hand aus / vnd fasset das Messer / das er seinen Son schlachtet. // DA rieff jm der Engel des Herrn vom Himel / vnd sprach / Abraham / Abraham / Er antwortet / Hie bin ich. Er sprach / Lege deine hand nicht an den Knaben / vnd thu jm nichts / Denn nu weis ich / das du Gott fürchtest vnd hast deines einigen Sons nicht verschonet / umb meinen willen. / Da hub Abraham seine augen auff / vnd sahe einen Wider hinder jm / in der Hecken mit seinen Hörnern hangen / Vnd gieng hin / vnd nam den Wider / vnd opffert jn zum Brandopffer an seines

23 Vgl. etwa Karl Schenkl: Griechisch-deutsches Schulwörterbuch, Wien 1897.

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Sons stat. / Vnd Abraham hies die stet / Der HERR sihet / Da her man noch heutigen tages sagt / Auff dem Berge / da der HERR sihet.«24 Wie das? Der biblische Text schlägt abrupt in die »selbständige und volle Gegenwart« der homerischen Narbengeschichte ein. Mit der Bemerkung, dass die »Eigentümlichkeit des homerischen Stils […] deutlicher« werde, »wenn man einen ebenfalls antiken, ebenfalls epischen Text aus einer anderen Formenwelt ihm gegenüberstellt«, leitet Auerbach eine Besprechung des »Opfer Isaaks« ein, »einer einheitlich von dem sogenannten Elohisten redigierten Erzählung«.25 Ich zitiere den obstinaten Ton dieser Besprechung: »nicht gesagt« / »sich nicht befinden« / »nichts gesagt« / »kommt nicht« / »nichts gesagt« / »hat sie nicht« / »nicht mitgeteilt« / »nicht festgelegt« / »nicht nur behauptet« / »ist nicht« / »wissen wir nicht« / »nicht bedeuten« / »nicht mitgeteilt« / »interessiert nicht« / »erfährt es nicht« / »nichts als den Namen« / »ohne Adjektiv, ohne beschreibende Umtastung der angeredeten Person« / »nichts sinnfällig« / »durch nichts vorbereitet« / »nicht stehen« / »ist nicht« und so weiter und so fort [Unterstreichung A.D.]. Von der Homerischen Welt heißt es einmal: »Es geschieht viel Schreckliches in den homerischen Gedichten, doch niemals geschieht es stumm«;26 hier, angesichts von Moses I, XXII führt die permanente Figur der Negation auf den seinerseits durch Negation regierten Satz zu: »Alles bleibt unausgesprochen«.27 Diese Absetzung ist um so auffälliger, als etwa die protestantischen Bibelkommentare superlativisch und durchaus nicht so weit entfernt von Auerbachs Vokabular seiner Homer-Interpretation von der »formvollendetsten und abgründigsten aller Vätergeschichten« sprechen.28 Der Erzähler verzichte darauf, »uns einen Blick in Abrahams Inneres zu geben […], er berichtet nur, wie Abraham, gemäß dem offenbar in der Nacht empfangenen Befehl gehandelt hat. Drei Tage war er unterwegs; man sieht schon daraus, daß sein Gehorsam fest und nicht nur eine kurze Aufwallung war. Abraham gibt vor, mit Isaak auf einem Berge beten zu wollen, wie das damals auf Reisen wohl Brauch war. So trennt er sich von seinen Knechten; er kann sein Vorhaben nur durchführen, wenn er mit dem Kind ganz allein ist. – Von nun an verlangsamt sich das Tempo der Erzählung merklich. Die Darstellung hat etwas Schleppendes und Umständliches; aber so 24 Zitat nach der von Auerbach selbst verwendeten Übersetzung des Martin Luther: Moses I., XXII, 1 – 14 (Martin Luther : Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545, letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, hg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke, Textredaktion Friedrich Kur, 2 Bde., München 1972). 25 E. Auerbach: Mimesis, 9 f. 26 Ebd., 8. 27 Ebd., 13. 28 Vgl. Das erste Buch Mose. Genesis, übers. und erklärt von Gerhard Rad, Göttingen 1953 (=Das Alte Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk, Teilband 2/4), 203 ff., 203.

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gerade gibt sie dem Leser etwas von dem Quälenden dieses Weges zu spüren. Unser Erzähler übt ja nach der Seite des Gefühlsmäßigen hin eine keusche Zurückhaltung und handhabt vielmehr jene indirekte Methode der Darstellung oder Andeutung von inneren Gemütszuständen mit großer Kunst. So zeigt er uns z. B. Abrahams fürsorgliche Liebe zu dem Kind an der Verteilung der Lasten: Die gefährlichen Gegenstände, an denen sich der Knabe verletzen könnte, Feuerbrand und Messer, trägt er selbst. Das ›so gingen die beiden selbander‹ läßt ahnen, wie der Knabe erst nach einer Weile das bedrückte Schweigen gebrochen haben mag. Und nach dem Gespräch wird der Satz wiederholt. Man sieht, wie das letzte Stück des Weges schweigend gegangen wurde. […] Bei den Verrichtungen auf dem Berg verlangsamt sich die Erzählung noch einmal. Mit schrecklicher Genauigkeit werden die Einzelheiten vermerkt: Abraham baut den Altar – schichtet das Holz darauf – bindet Isaak – setzt ihn oben drauf – (nun sogar die einzelnen Bewegungen!) streckt die Hand aus – er nimmt das Messer […].«29 Könnte da nicht auch ein Satz aus Auerbachs Beschreibung des Homerischen Stils stehen? »Auch für wohlgeordnete, jedes Gelenk zeigende, gleichmäßige beleuchtende Beschreibung der Geräte, Gesten und Handreichungen ist Raum und Zeit reichlich vorhanden; selbst in dem dramatischen Augenblick des Wiedererkennens wird nicht versäumt, dem Leser mitzuteilen, daß es die rechte Hand ist, mit der Odysseus die Alte an der Kehle faßt, um sie am Sprechen zu verhindern, indes er sie mit der anderen näher an sich heranzieht«? *

Auerbach ist es zuallererst um die Artikulation einer grundlegenden Differenz zu tun. »Nicht leicht« ließen sich »größere Stilgegensätze vorstellen als zwischen diesen beiden, gleichermaßen antiken und epischen Texten. Auf der einen Seite ausgeformte, gleichmäßig belichtete, ort- und zeitbestimmte, lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen; ausgesprochene Gedanken und Gefühle; mußevoll und spannungsarm sich vollziehende Ereignisse. Auf der anderen Seite wird nur dasjenige an den Erscheinungen herausgearbeitet, was für das Ziel der Handlung wichtig ist, der Rest bleibt im Dunkel; die entscheidenden Höhepunkte der Handlung werden allein betont, das Dazwischenliegende ist wesenlos; Ort und Zeit sind unbestimmt und deutungsbedürftig; die Gedanken und Gefühle bleiben unausgesprochen, sie werden nur aus dem Schweigen und dem fragmentarischen Reden suggeriert; das Ganze, in höchster und ununterbrochener Spannung auf ein Ziel gerichtet, und insofern viel einheitlicher, bleibt

29 Das erste Buch Mose. Genesis, 205 f.

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rätselvoll und hintergründig.«30 Die Gegenüberstellung dieser beiden »Stilgegensätze« ist nicht denkbar ohne Auerbachs Überlegungen zu Goethes und Schillers brieflichen Reflexionen über das »Gesetz« der ›Verlangsamung‹ bzw. der »Retardation« als Kennzeichen des Epischen aus dem April 1797.31 Entscheidend dabei ist, dass sich Auerbach explizit gegen eine Erhebung des »Retardierenden« zu einem allgemeingültigen Differenzmerkmal zwischen »Epischem« und »Tragischem« wendet. Auerbach: Goethe und Schiller setzten das »Retardierende« »geradezu in Gegensatz zum Spannenden – dieser letztere Ausdruck wird zwar nicht gebraucht, aber deutlich gemeint, wenn das retardierende Verfahren als eigentlich episches in Gegensatz zum tragischen gesetzt wird (Briefe vom 19., 21. und 22. April). Das Retardiernde, das ›Vor- und Zurückgehen‹ durch Einschübe scheint auch mir in den homerischen Gedichten im Gegensatz zu stehen zu dem gespannten Streben nach einem Ziel, und zweifellos hat Schiller für Homer recht, wenn er meint, er schildere ›uns bloß das ruhige Dasein und Wirken der Dinge nach ihren Naturen‹; sein Zweck liege ›schon in jedem Punkt deiner Bewegung‹. Allein beide, Schiller wie Goethe, erheben das homerische Verfahren zu einem Gesetz für die epische Dichtung überhaupt, und die oben zitierten Worte Schillers sollen für den epischen Dichter überhaupt gelten, im Gegensatz zum tragischen«.32 Und Auerbach nunmehr weiter: »Jedoch gibt es, in alter wie in neuer Zeit, bedeutende epische Werke, die durchaus nicht retardierend in diesem Sinne, sondern durchaus spannend geschrieben sind, die uns durchaus ›unsere Gemütsfreiheit rauben‹, was Schiller allein dem tragischen Dichter zugestehen will.«33 Mit anderen Worten: Auerbachs Kritik an einer epischen Verabsolutierung des Gesetzes der »Retardation« erinnert an das Tragische als an ein Moment nicht nur der Tragödie, sondern auch des Epischen; ja weiter noch, so man an die Goethesche Verpflichtung des Epischen auf das »vollkommen [V]ergangene« denkt:34 Er ›vergegenwärtigt‹ das Tragische im Epischen. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass Auerbach seinen Einspruch am Begriff der »Retardation«, der ›Retardierung‹ ausformuliert. Wie hätte man das zu übersetzen –›retardieren‹? Mit: ›hinauszögern‹, ›zeitlich zurückhalten‹, ›hinhalten‹, ›spät kommen lassen‹ oder ›später‹? Die Reihe führt auf die Figur des ›Späten‹, des ›Späteren‹ zu, auf ein ›zu Spätes‹, kurz: auf ein Zentralwort der Exilsituation. Und nicht vergessen sei auch, dass die von Auerbach aufgenommene Wiedererkennungsszene im Homerischen 30 E. Auerbach: Mimesis, 13 f. 31 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Der Briefwechsel mit Friedrich Schiller, hg. von Ernst Beutler, Zürich, Stuttgart 1964 (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 20), 335 f. 32 E. Auerbach: Mimesis, 7. 33 Ebd. 34 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: »Über epische und dramatische Dichtung«, in: ders.: Schriften zur Literatur, hg. von Ernst Beutler, Zürich, Stuttgart 1964 (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 14), 367 – 370, 367.

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Epos (der, wie Auerbach formuliert, »dramatische Augenblick des Wiedererkennens«) seit Aristoteles im Begriff der amacm|qisir / Anagnorisis seine starke Affinität zum Tragischen bewahrt. Wir können vorab also festhalten: Auerbach plädiert strikt gegen die über Goethe und Schiller in der deutschen Philologie etablierte Trennung von Tragödie und Epos; auf einem »Höhepunkt klassischer deutscher Philologie« finden wir eine ins Innerste des Klassischen treffende Korrektur. *

Gegen eine ästhetisierende Lektüre des Auerbachschen Textes sprechen indes auch deutlichere Hinweise in Auerbachs Text, etwa dort, wo Auerbach von der »Anordnung« des geschichtlichen Stoffes spricht, also im Grunde genommen von den Zusammenhängen, die die Texte herstellen. »Die Geschichte, welche wir miterleben oder aus Zeugnissen Miterlebender erfahren«, so Auerbach, »verläuft sehr viel uneinheitlicher, widerspruchsvoller und wirrer [als es die Homerische Erzählung suggeriert; A.D.]; erst wenn sie in einem bestimmten Bezirk Ergebnisse gezeitigt hat, vermögen wir sie mit deren Hilfe einigermaßen zu ordnen, und wie oft wird uns die Ordnung, die wir so gewonnen zu haben glauben, wieder zweifelhaft, wie oft fragen wir uns, ob die vorliegenden Ergebnisse uns nicht zu einer allzu einfachen Anordnung des ursprünglich Geschehenen verleitet haben!«35 Solche Überlegung macht die Frage nach der Zusammenstellung von Homer und Altem Testament nicht unbedingt zu einer Frage des Kanons oder zu einer Laune der Bibliothek. Je weiter Auerbach in seiner Abhandlung fortschreitet, um so deutlicher wird die Wahl des düsteren testamentarischen Textes nicht nur negativ vom homerischen Text abgesetzt, sondern durch die vertikale und erschreckende Komplexität des Bibeltextes begründet. Um ein Beispiel zu nennen: »Die Welt der Geschichten der Heiligen Schrift begnügt sich nicht mit dem Anspruch, eine geschichtlich wahre Wirklichkeit zu sein – sie behauptet, die einzig wahre, die zur Allgemeinheit bestimmte Welt zu sein. Alle anderen Schauplätze, Abläufe und Ordnungen haben keine Berechtigung, von ihr unabhängig aufzutreten, und es ist verheißen, daß sie alle, die Geschichte aller Menschen überhaupt, sich in ihren Rahmen einordnen und sich ihr unterordnen werden. Die Geschichten der Heiligen Schrift werben nicht, wie die Homers, um unsere Gunst, sie schmeicheln uns nicht, um uns zu gefallen und uns zu bezaubern – sie wollen uns unterwerfen, und wenn wir es verweigern, so sind wir Rebellen.«36 Oder: »Ist so der biblische Erzählungstext aus seinem eigenen Inhalt 35 E. Auerbach: Mimesis, 22. 36 Ebd., 17.

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heraus deutungsbedürftig, so treibt ihn sein Herrschaftsanspruch noch viel weiter auf diesem Weg. Er will uns ja nicht nur für einige Stunden unsere eigene Wirklichkeit vergessen lassen wie Homer, sondern er will sie sich unterwerfen; wir sollen unser eigenes Leben in seine Welt einfügen, uns als Glieder seines weltgeschichtlichen Aufbaus fühlen.«37 Ungewiss vielleicht, inwiefern Figuren des Alten Testaments wie Isaak zu jenen »Existenzen« zu zählen wären, »die dazu bestimmt sind, ohne Spur vorüberzugehen«, wie Michel Foucault in seiner Schrift über Das Leben der infamen Menschen formuliert. Und ich weiß auch nicht, ob solche biblische Figuren mit diesen »infamen Menschen« mehr teilen als jene von Foucault für sie in Erinnerung gebrachte Bestimmung, der zufolge es »eines Lichtbündels« bedurfte, »damit etwas von ihnen zu uns herüberkomme«, eines Lichtbündels, wie Foucault sagt, »das sie – einen Augenblick zumindest – beleuchten kam. Licht, das von anderswo kommt.« »Was sie der Nacht entreißt, in der sie hätten bleiben können und vielleicht für immer bleiben sollen, das ist die Begegnung mit der Macht: ohne diesen Zusammenstoß wäre gewiß kein Wort mehr da, um an ihren flüchtigen Durchgang zu erinnern«.38 Wenig aber dürfte von der Überzeugung abbringen, dass Auerbach den biblischen Text vorschlägt, weil er – anders als der Homer-Text – zu einer Analyse von Gewalt und Macht geradezu herausfordert. Nicht zufällig notiert Auerbach, »daß auch in bezug auf den Kreis der handelnden Personen und ihre politische Bewegung der griechische Text beschränkter und statischer erscheint.«39 An später Stelle setzt Auerbach die Affinität des Homerischen zum ›Sagenhaften‹ gegen das Geschichtliche: »Die Sage ordnet den Stoff in eindeutiger und entscheidender Weise, sie schneidet sich aus dem sonstigen Weltzusammenhang heraus. In der Märtyrersage etwa stehen hartnäckige fanatische Verfolgte einem ebenso hartnäckig fanatischen Verfolger gegenüber ; eine […] komplizierte, wirklich geschichtliche Lage ist für keine Sage zu brauchen. Man danke [sic] an die Geschichte, welcher wir selbst beiwohnen; wer etwa das Verhalten der einzelnen Menschen und Menschengruppen beim Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland, oder das Verhalten der einzelnen Völker und Staaten vor und während des gegenwärtigen (1942) Krieges erwägt, wird fühlen, wie schwer darstellbar geschichtliche Gegenstände überhaupt, und wie unbrauchbar sie für die Sage sind; das Geschichtliche enthält eine Fülle widersprechender Motive in jedem Einzelnen, ein Schwanken und zweideutiges Tasten bei den Gruppen; nur selten kommt (wie jetzt durch den Krieg) eine allenfalls eindeutige, vergleichsweise einfach beschreibbare Lage zustande, und auch diese ist 37 Ebd., 18. 38 Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen, hg. und übers. von Walter Seitter, Berlin 2001, 15 f. 39 E. Auerbach: Mimesis, 24.

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unterirdisch vielfach abgestuft, ja fast dauernd in ihrer Eindeutigkeit gefährdet; und bei allen Beteiligten sind die Motive so vielschichtig, daß die Schlagworte der Propaganda nur durch roheste Vereinfachung zustande kommen – was zur Folge hat, daß Freund und Feind vielfach die gleichen verwenden können.«40 Auerbachs Fachkollege Victor Klemperer, der wie Auerbach aufgrund des Reichsbürgergesetzes 1935 seiner Professur an der Technischen Universität Dresden enthoben wurde, hat schon früh in akuter Form auf Auerbachs Mimesis reagiert. Zwei Jahr nach Erscheinen des Buches stellt er in Anlehnung an Lion Feuchtwangers Schrift über den »Schriftsteller im Exil« außer Zweifel, dass es ohne weiteres begreiflich sei, wenn der Exilliteratur »die neuen Verhältnisse anzumerken sein müssen«.41 Und Klemperer, dem wir nicht nur eine der genauesten zeitgenössischen Analysen der NS-Zeit verdanken, sondern vor allem auch eine genaue Analyse ihrer Sprache, fragt weiter : »Wie aber mag es sich mit einem rein gelehrten Werk verhalten, dessen Inhalt streng abgekapselt ist von allen persönlichen Regungen und Erlebnissen des Schreibers?« Klemperer dann mit unmittelbarem Bezug auf Auerbach: »Was hat ein solch gelehrtes Opus mit dem Exil, mit dem sogenannten außerfachlichen Leben seines Autors zu tun? Daß es ungemein viel damit zu tun hat, macht seine Eigentümlichkeit und seinen kaum hoch genug zu schätzenden Wert aus.«42 *

»[U]ngemein viel«: das freilich ließe sich biographisch auf die Exilsituation wenden, gerade auch in Bezug auf das erste Kapitel von Mimesis. Die Narbe des Odysseus kündigt die Geschichte einer Verwundung an. Odysseus ist derjenige, den es in die Welt hinaus verschlägt; die Narbenerzählung ist die Geschichte einer Szene aus der eigenen Kindheit, die mit der Rückkehr von der Jagd nach Hause endet; die Wiedererkennungsszene des fremd Gewordenen schließlich ist eine Szene der Rückkehr in die Heimat. Das ist der Anfang des Kapitels. Wäre auch die Bibelstelle unmittelbar an Auerbachs Biographie anzuschließen? Zu nennen wäre wohl das gewaltsame Moment des Anrufs »Abraham«. In ihr haben wir jene autoritäre Urszene vor uns, aus der es keinen Rückzug mehr gibt, die aber zugleich Voraussetzung sozialer Anerkennung darstellt. Zu nennen wäre im Weiteren, dass das Thema der Kindheit, das in der Homerszene autobiogra40 Ebd., 22. 41 Victor Klemperer: »Philologie im Exil«, zuerst in: Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift, 10 (1948), 863 – 868; hier wiedergegeben nach ders.: Vor 33 / nach 45. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1956, 224 – 229, 224. Der Text Feuchtwangers, den Klemperer in Titel und Text zitiert, erschien zuerst in Das goldene Tor (1947/II). 42 Ebd.

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phisch, als Szene der eigenen Kindheit auftaucht, in der biblischen Erzählung als Blutsverwandtschaft zwischen Vater und Sohn auftaucht: »Nim Jsaak deinen einigen son / den du lieb hast«. Der Familie Auerbachs einziger Sohn, Clemens, ist 1935 gerade einmal 12 Jahre alt; die Eltern werden ihm nach dem Krieg in die USA folgen. Und auch Abraham hört die Worte: »Gehe aus deinem Vaterland / vnd von Deiner Freundschafft / vnd aus deines Vatershause / Jn ein Land / das ich dir zeigen wil« (Moses I, XII). All das ist mitzubedenken. Man wird, wie es in dem zitierten Interview mit George Steiner heißt, »von großen Texten gelesen«. Wissenschaftliche Texte sind immer auch persönliche ›Zeugnisse‹. Sie sind es aber nie allein. Auerbachs Buch als autobiographisches Dokument wahrzunehmen, bedeutete, es zu einem ›Exilbuch‹ zu machen; man exilierte die Fragen eines Buches, dem das Exil »anzumerken« ist, ein zweites Mal. Wenn man das Buch nicht seiner intellektuellen Brillanz berauben will, wird man zu verstehen suchen, wessen Narbe hier eigentlich verhandelt wird. Auerbach hat in seiner Nachschrift zu Mimesis dafür den Begriff des Unbewußten ins Spiel gebracht: »Ein anderer Einwand, den man gemacht hat, ist dieser, daß meine Darstellung allzu zeitgebunden und allzusehr von der Gegenwart bestimmt sei. Auch das ist Absicht. Ich habe versucht mich mit den vielen Gegenständen und Perioden, die in Mimesis behandelt werden, genau vertraut zu machen. Mit absichtlicher Zeitverschwendung habe ich nicht nur die Phänomene studiert, die für die Absicht des Buches unmittelbar bedeutend waren, sondern weit darüberhinaus in den verschiedenen Perioden herumgelesen. Aber am Ende habe ich gefragt: wie sehen die Dinge im europäischen Zusammenhang aus? Einen solchen Zusammenhang kann heute niemand von anderswoher sehen als eben von heute, und zwar von dem Heute, welches durch seine, des Sehenden, persönliche Herkunft, Geschichte und Bildung bestimmt ist. Es ist besser, bewußt zeitgebunden zu sein als unbewußt. In vielen gelehrten Schriften findet man eine Art Objektivität, in der, dem Verfasser völlig unbewußt, moderne Urteile und Vorurteile (oft nicht einmal die von heute, sondern die von gestern oder vorgestern) aus jedem Wort, jeder Floskel, jeder Satzbildung sprechen. Mimesis ist ganz bewußt ein Buch, das ein bestimmter Mensch, in einer bestimmten Lage, zu Anfang der 1940er Jahre geschrieben hat.«43 *

Die Narbe des Odysseus: Worauf also bezieht sich dieser Titel? Hätte man erwarten können, dass – wenn schon der Homer-Text im Titel erwähnt wird – auch der alttestamentarische Text im Titel hätte vorkommen müssen? Die Narbe, die 43 E. Auerbach, »Epilegomena«, 479.

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in der Homerischen Erzählung vorkommt, ist sie vielleicht auch eine Narbe, die zwischen den beiden Erzählungen erkennbar wird? Mit anderen Worten: wären die alttestamentarischen Texte die Narbe des Odysseus? Ein Buch wie das von Suzanne L. Marchand, Down from the Olymp. Archeology and Philhellenism in Germany, 1750 – 1970 (Princeton 1991), konnte einsichtig machen, dass die deutsche Graecophilie nicht nur als spezifische ›Leidenschaft‹ einzelner genialer Köpfe zu sehen ist, sondern als eine im Lauf der Zeit in die Bildungsinstitutionen übernommene und in Umlauf gehaltene Trope, anhand derer nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit den hebräischen Texten vermieden werden konnte. Dass Auerbach deren Wirklichkeitsdarstellung so aufwertet, bestätigt nicht nur die ideologische Motivierung dieser diskursiven Trennung der jeweiligen Traditionsstränge. Es macht sichtbar, dass Auerbachs Stilbegriff als Plural zu denken ist. Wir werden von den großen Büchern verschieden gelesen. Auerbach spricht nicht von einem Stil, er setzt verschiedene Stile gegeneinander : die verschiedenen Erzählstile sind insofern als je unterschiedliche Brechungs-Indices der Wirklichkeitswahrnehmung zu denken, das heißt der Frage danach, was man für wirklich zu halten dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft überhaupt zuzumuten bereit ist. Was Auerbachs Mimesis in der einleitenden Gegenüberstellung von Homer und Altem Testament verhandelt, ist also schlicht die Frage nach dem philologisch Unbewußten. Die Zusammenhänge der Fragestellungen, die Zusammenstellungen dessen, was in einem Text auftaucht, die Problemkonstellationen, die ein Text aufnimmt und weiterschreibt, sind nicht – wie dies in seinen Distinktionsbestrebungen der akademische Betrieb sich zu suggerieren nicht müde wird – das Problem eines einzelnen. Sie sind, auch wenn sie vom Individuum auszugehen scheinen, kein individuelles Problem. Die Frage, was wir womit konfrontieren, was wir womit zusammenstellen, wen wir mit wem aufrufen und was wir durch Aufruf oder Zitat in Kraft setzen, ist ein kollektives Problem: ein soziales. *

Stephen Greenblatt vermerkt in dem vorhin zitierten Aufsatz, der allerdings allen Spannungsreichtum des Auerbachschen Textes in einer Apotheose des Anekdotischen verschenkt, dass es zwischen »dem Titel und dem Inhaltsverzeichnis« denn doch etwas gäbe, nämlich »ein Motto in Englisch […] und zwar aus Andrew Marvells To His Coy Mistress (An seine scheue Geliebte). Dieses Motto lautet: »Had we but world enough and time …«.44 Die deutsche Über44 S. Greenblatt: »Erich Auerbach und der New Historicism«, 73.

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setzung des Aufsatzes von Greenblatt gibt: »Hätten wir doch nur Zeit und Welt genug…«. Wenn ich recht sehe, ist das eine enharmonische Verwechslung von Wort und Phraseologie. »Hätten wir doch nur Zeit und Welt genug…« ist etwas ganz anderes als »Had we but world enough and time …«. Auerbach selbst hatte im Kapitel über die Erzählung der Narbe des Odysseus geschrieben, dass in ihr »für Geräte, Handreichungen und Gesten […] Raum und Zeit reichlich vorhanden sei«.

Mona Körte

Papier, Schrift und Feuer. Zu einer produktiven Konstellation Die Texte müssen halt schauen, wie sie zurechtkommen. Ich kann ihnen zwar noch etwas hinterherschreien, aber das bringt letztlich nichts.1

Widerstände Schon die Auswahl des Geschehens als einem ersten Moment literarischer Transformation, die Subsummierung eines Stoffes unter eine Perspektive, eine bestimmte Form oder erzählende Konvention, die diesem Stoff nicht angemessen sein muss, sowie die Aushandlungs- und Abgrenzungsprozesse zwischen Autor, Erzähler und Figuren zeigen, dass die Konstellation zwischen Autor und Text nicht nur äußerst vertrackt ist, sondern dass hier meist »Gewalttätiges stattgefunden« hat.2 Damit sind nicht jene Gefahren des Schreibens gemeint, in denen sich Autoren extremen Schreibpositionen aussetzen – von Alfred Döblin weiß man, dass er umzingelt von Hunderten von Kakteen schrieb –, sondern vielmehr ein Schreiben, das in der fortwährenden Klärung von Autoritätsverhältnissen durch formale und inhaltliche Widerstände hindurchgeht, ohne dass dies in der Endfassung eine Spur hinterließe, es sei denn, der Widerstand erhielte eine literarische Inszenierung. Die fragilen Autoritätsverhältnisse zwischen einem jede poetische Gerechtigkeit missachtenden, despotischen Autor und seinen Figuren ist selbst ein Thema der Literatur : In Raymond Queneaus Le Vol d’Icare (1968) läuft die Hauptfigur ihrem fiktiven Autor davon, da er sie zu unsympathisch gezeichnet hat, weitere folgen dieser Figur aus Solidarität, indem sie dem ausnahmsweise nicht eingeschlossenen Manuskript entfliehen. Die Fi1 Arno Geiger : Der Schwamm ist leer, jedenfalls dort, wo man gedrückt hat. Arno Geiger im Werkstattgespräch mit Maribel Hart und Alexander Wolter, hg. von Sabine Doering und Monika Eden, Oldenburg 2008 (=Im Atelier. Beiträge zur Poetik der Gegenwartsliteratur, 4), 14. 2 Katja Lange-Müller : Klimmzüge am Rand des eigenen Horizonts. Katja Lange-Müller im Werkstattgespräch mit mit Patrick Braatz und Verena Kämpf, hg. von Sabine Doering und Monika Eden, Oldenburg 2008 (=Im Atelier. Beiträge zur Poetik der Gegenwartsliteratur, 3), 16.

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guren bringen den Autor schließlich auf die Couch, ohne dass er jedoch je wieder Herr über sie würde: »Ich kann mich nur beglückwünschen, daß ich aus den Seiten meines Urhebers herausgesprungen bin«,3 sagt der erst wenige Tage alte Protagonist Ikarus, der, »an der Spitze einer Feder« geboren, sich weigert, in sein »domicile graphique« zurückzukehren.4 Die Figuren beginnen, einmal in der Welt, auch als noch unfertige ein Eigenleben, geben sich ein Schicksal, indem sie zu ihren Erfindern sprechen, bis sie schließlich unabhängig von ihnen existieren. Von den anderen, »normalen« Figuren unterscheiden sie sich lediglich durch ihre »Herkunft«.5 Der hier greifenden Metalepse, die, die Gesetze des Erzählens unterlaufend, den Transfer zwischen unterschiedlichen diegetischen Ebenen erlaubt, bedient sich auch Christine Brooke-Rose in ihrem Roman Textermination. In Textermination, einem Portmanteau-Wort, das in seiner Verschmelzung von Text und Vernichtung eine Kette text- und rezeptionsästhetischer Vorgaben zeitgenössischer Literaturtheorie abruft, befinden sich berühmte Romanfiguren, darunter Jane Austens und Flauberts Emma oder auch Lotte aus Goethes Werther auf Reisen. Sie haben sich aus ihrem Kontext gestohlen, haben die Einheit des Werkes verlassen, um zu einer Konferenz über die Krise des Lesens zu reisen und dort lautstark zu intervenieren. Sie wollen demjenigen Gott einen letzten, vergeblichen Dienst erweisen, der sie bisher immer neu erschaffen und mithin am Leben gehalten hat: dem (identifikatorischen) Leser. Hier prallen namensidentische Figuren mit namenlosen Ich-Erzählern zusammen, die sich trotz verschiedener Verständigungshilfen als Autisten erweisen, da sie sich letztlich nicht dauerhaft aus ihrem erzählerischen Rahmen emanzipieren können.6 Narrative Metalepsen wie diese sind Versuche, den produktiven Vorgang der Textgenese unter besonderer Berücksichtigung der Konstellation zwischen Autor, Text, Figuren und Leser zu fiktionalisieren. Dabei stellt die Flucht der Figuren nur den weitläufigen aller möglichen Widerstände dar, die das Schreiben als Versuch »die Wirklichkeit, die mich – überaus wirklich – in ihrer Macht hält, in meine Macht zu kriegen«,7 freisetzt und zugleich zu bewältigen versucht, und die sich je anders und in anderen Stadien mitteilt. Mechanismen wie Kalkül, List, Manipulation und Unterwerfung, aber auch die scheinbar paritätische, und 3 Raymond Queneau: Le Vol d’Icare (1968), hier auf deutsch zitiert nach Raymond Queneau: Der Flug des Ikarus, übers. von Eugen Helml¦, Frankfurt/Main 1998, 54. 4 R. Queneau: Flug des Ikarus, 35. Prototypisch für die – dramatische – Metalepse: Luigi Pirandellos Theaterstück Sei personaggi in cerca d’autore aus dem Jahre 1921. 5 R. Queneau: Flug des Ikarus, 256. 6 Vgl. dazu auch Jasper Ffordes Roman The Eyre Affair, in dem die Romanfiguren ihren Werken nicht eigenmächtig entlaufen, sondern mittels einer Maschine aus ihnen entführt werden können. Diese entführten Figuren fehlen dann in jeder verfügbaren Ausgabe. 7 Imre Kert¦sz: Fiasko, Berlin 1999, 114.

Papier, Schrift und Feuer

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selten gewaltfreie Aushandlung zwischen Autor und Figur sind gängige Themen der Normativität aufkündigenden Moderne bei dem Ringen mit einem Text, dessen Instanzen sich, wird er nicht einer fortwährenden Kontrolle unterworfen, auch gegen ihren Schöpfer wenden können.8 Widerstand, hervorgerufen durch die Gewalttätigkeit, die »technische Fragen« wie die Gliederung und »Aufteilung eines Romans«, die »Anordnung der Beschreibungen«, die »Wahl der Vor- und Familiennamen«, die »Verwendung von Bindestrichen und Anführungszeichen« hervorrufen,9 artikuliert sich jedoch nicht erst in die Werkgenese fiktional spiegelnden, erzählerischen Mitteln wie der Metalepse, sondern früher und konkreter, nämlich physisch am Körper des Schreibers. Dies zeigt sich in der literarischen Phantasie eines Kugelschreibers, der, Sekret ausstoßend, zunächst das entstehende Textgewebe krankhaft verändert bis er sich unter der Hand in einen Spaten verwandelt, mit dem sich der Autor sein Grab schaufelt.10 Es manifestiert sich aber auch in der versagenden Hand des Autors, die wie im Falle des zwischen Schreibzwang und Schreibhemmung schwankenden Robert Walser nicht mehr die Schreibfeder, sondern nurmehr den Bleistift als Schreibgerät führen und ertragen kann, weil er durch die Möglichkeit der Verkleinerung und schnellen Radierung den Druck der Schreibverpflichtung und Perfektion von ihr nimmt. Als eine auch selektierende, eliminierende, in jedem Fall domestizierende Tätigkeit richtet das Schreiben nicht nur den Text, sondern auch den Körper des/der Schreibenden zu. Dabei kann jedoch die Anordnung des Schreibmaterials auf dem Schreibtisch als einem bewährten Disziplinierungsmöbel, können der akurat gespitze Bleistift und die bestimmte Größe des Papiers, kurz: die über spezifisches Schreibgerät und -material angewandte List, zu entscheidenden Steuerungsmomenten einer Schreibsituation werden, indem sie die oben angesprochene »Gewalttätigkeit« unterminieren, einschränken oder zumindest begrenzen. Sie können Autoritätsverhältnisse umkehren, indem letztlich schreibunabhängige Faktoren den Schreibfluss kanalisieren. Dieser Essay möchte den poetologischen Selbstauskünften älterer und zeitgenössischer Autorinnen und Autoren nachgehen, die sich in Fragen der oben angesprochenen Gewalttätigkeit nicht nur verschieden positionieren, sondern Widerstände im Schreibprozess in unterschiedlichen Stadien seines Vollzugs situieren und hierfür auch verdeckte oder offene, dichte oder explizite Formen wählen, darunter die Miniatur, das »Werkstattgespräch«, die Poetikvorlesung. All diese Textformen haben Fragen poetischer Reflexion und künstlerischer 8 Joachim Kalka (Hg.): Die argen Bücher. Geschichten für vorwitzige Leser, Frankfurt/Main 1991. 9 R. Queneau: Flug des Ikarus, 121. 10 Imre Kert¦sz: Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind, Reinbek 1999, 48.

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Produktivität zum Gegenstand, ihre Auswahl erfolgt hier willkürlich. Der Essay befasst sich also mit Textgattungen, in denen das Widerständige und mitunter im Anschluss Verworfene in der Erzählung erinnert und als Teil erzählerischer Produktivität begriffen wird. In den individualisierten Annäherungen an das Dichten sprechen Autorinnen und Autoren über ihre Verfahren des Sondierens und über Aspekte erzählerischer Verhinderung ebenso wie über die Bedeutung von Materialität und Schreibgerät. Neben den angesprochenen Textgattungen sind es insbesondere Robert Walsers Miniaturen, die der Konstellation von Feuer, Schrift und Papier ihre Kontur geben, aber auch Andreas Maier macht in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Titel Ich den Blecheimer als potentiellen Ort der Vernichtung und Entsorgung zu einem für seine Schreibbiographie unabdingbaren Utensil: Ich hatte früher einen Blecheimer, in dem ich diese Dinge verbrannte, dieser Blecheimer begleitet mich bis heute, nicht weil ich nach wie vor Erzählungen verbrenne […]. Lilas habe ich in einem Blecheimer verbrannt, wie alles frühere auch. Verbrennen macht Spaß, sage ich Ihnen […]. Von dem, was ich mit sechzehn, siebzehn, achtzehn geschrieben habe, existiert nichts mehr, wobei ich schon die Worte ›geschrieben habe‹ und ›existieren‹ zu hochgegriffen finde.11

Der für Autoren der Moderne wie Robert Walser sympomatische Schrift- und Schreibkampf, der als ein Schreiben erscheint, das »zu einer Arbeit gegen das Schreiben und zu einem Schreiben gegen die Schrift« gerät, zeigt sich an einigen seiner in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen, mitunter zu »Sachtexten« deklarierten Miniaturen.12 Während Walsers Miniaturen auf komplexe Weise den Schreibprozess aussparend, Schreibgeräte als das Schreiben je unterschiedlich determinierende Objekte kombinieren, um ein Schreiben in potentialis samt dessen, was nach der Vernichtung vom Geschriebenen übrigbleibt, zu imaginieren, stehen in der neueren Gattung der ›Werkstattgespräche‹ poetologische Entscheidungen wie die Wahl und die Verwerfung der Perspektive oder der Aufstand der Figuren als ein immer schon vergangenes Geschehen im Vordergrund. In den unterschiedlich dichten Auskunftsformen wird je anders argumentiert: Robert Walser evoziert das Schreiben in potentialis, die Werkstattgespräche berichten in der Vergangenheitsform von Zurückliegendem und die Poetikvorlesung erzählt im Präsens von subjektiv Gültigem.

11 Andreas Maier : Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt/Main 2006, 47 f. Lilas lautet der Titel der ersten abgeschlossenen Erzählung Maiers. 12 Gotthart Wunberg: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne, hg. von Stephan Dietrich, Tübingen 2001, 108.

Papier, Schrift und Feuer

1.

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Materialien und Materialität

Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen lautet der Titel einer Miniatur von Robert Walser aus dem Jahr 1915, in dem einerseits mögliche Instrumente des Schreibens, also der Textproduktion, aber auch der Textvernichtung recht genau benannt werden. Als Geräte des Einritzens und Aufdrückens stehen Nadel und Bleistift für die Möglichkeiten des Schreibens; das im Diminutiv domestizierte Zündhölzchen und die Asche hingegen sind Bedingung und Rest eines zurückliegenden Feuers. Indem Asche das erste Wort bildet, wird in der Miniatur das Schreiben von seiner Vernichtung her gedacht, evoziert jedoch den ewigen Kreislauf von Entstehen und Vergehen, wenn am Ende das zu aktivierende Zündhölzchen steht. Der Ich-Erzähler fördert in seiner Abhandlung über Asche zutage, dass Asche keinerlei nennenswerte Widerstandskraft besitze […]. Wird Asche angeblasen, so ist nicht das geringste an ihr, das sich weigert, augenblicklich auseinanderzufliegen. Asche ist die Demut, die Belanglosigkeit und die Wertlosigkeit selber, und das schönste ist: sie ist selbst durchdrungen von dem Glauben, dass sie zu nichts taugt. Kann man haltloser, schwächer und armseliger sein als Asche?13

Mit der Aussage, dass die Asche selbst weiß, dass sie nichts taugt und »keinen Charakter« kennt, wird hier auch das Urteil über das Vernichtete gesprochen: als materialisierte Wertlosigkeit ist Asche die ultimative Bestimmung eines nicht nennenswerten Schreibens auf Papier. Auffällig genug spart dieser keineswegs kontingente Katalog an Dingen, der mit der Asche als Indiz eines gewesenen Feuers beginnt, die Beschreibefläche, das Papier als Ziel der Vernichtung aus, gruppiert sich gleichsam um diese Lücke herum, was an der für Walser absoluten Unhintergehbarkeit des zu beschreibenden papiernen Materials liegen mag. Denn von Robert Walser weiß man, dass so ziemlich jede Papiersorte zur Beschreibefläche wurde, die ihm unterkam, vom Packpapier bis zum Briefkuvert überzog er jedes Papier mit Prosa, kleinen Gedichten und Dramoletten.14 »Stets trug er ein Bleistiftende und eigens zugeschnittene Zettel in der Westentasche bei sich,«15 um den Schreibakt anhand der Größe des Papiers zu kontrollieren. Walser hat neben dieser Miniatur eine ganze Reihe so genannter »Sachtexte« entworfen,16 die aufgrund ihres Verfahrens der 13 Robert Walser : »Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen«, in: ders.: Phantasieren. Prosa aus der Berliner und Bieler Zeit, hg. von Jochen Greven, Hamburg 1966, 321 – 323, 321. 14 Stefanie Germann: »›Für mich jedoch hat die Bleistifterei eine Bedeutung‹. Zwei theoretische Lektüreversuche zu Robert Walsers Mikrogramm-Werkstatt«, in: Christian Schärf (Hg.): Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte, Tübingen 2002, 59. 15 W. G. Sebald: »Vorbemerkung«, in: ders.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, München, Salzburg 1998, 5 – 7, 6 f. 16 G. Wunberg: Jahrhundertwende, 108.

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paritätischen Aufzählung keineswegs ephemer Dinge als Texte gelesen werden, die eine andere, neue Verständlichkeit fern ihrer semantischen Vermittelheit generieren.17 Lampe, Papier und Handschuhe (1917) heißt ein weiterer Text dieser Art,18 in dem die Lampe, die in brennendem Zustand erst ihr eigenstes Wesen erhält, eine Lese- und/oder Schreibszene evoziert, die unwillkürlich an ein Buch oder an einen Brief denken lässt, Gegenstände, die ihrerseits zu einem weiteren, nämlich dem Papier führen. Dem in dem Aschetext ausgeklammerten Gegenstand Papier wird hier gleichsam nachträglich seine volle Dignität gewährt: »Die Existenz nicht nur vieler, sondern einer erdrückenden Mehrzahl von Menschen hängt ohne Zweifel mit der Existenz von Papier mit einer Innigkeit zusammen, die uns erschreckt […]«, schreibt Walser, nachdem das Text-Ich den zum Lesen und Schreiben notwendig milden Schein der brennende Lampe lobt. Die Einbildungskraft, die seit Foucault in der Moderne zwischen Buch und Lampe haust, scheint hier in der konzentrierten Beobachtung und Beschreibung der Qualität und Wirkungskraft der ›dienenden‹ Dinge (brennende Lampe und Papier) aufgehoben.19 Daraufhin zählt das Ich die vielen Sorten Papier auf, nicht unähnlich jenen, die Walser selbst zeit seines Lebens vollschrieb: »Allgemein gesprochen gibt es dickes und dünnes, glattes und rauhes, grobes und feines, billiges und teures Papier, und es ragen mit des gütigen Lesers Erlaubnis an verschiedenen Papiersorten und -arten hervor : Schreibpapier, Glaspapier, Rostpapier, Postpapier, Packpapier, Zeichenpapier, Zeitungspapier und Seitenpapier«. Papier ist so nützlich, dass der Mensch sich Walser zufolge wohl kaum irre, »wenn man behauptet, daß ohne Papier überhaupt keine menschliche Zivilisation möglich wäre«.20 Die beiden Texte von Walser, die in einen Verweisungszusammenhang miteinander treten, haben den Charakter einer poetologischen Selbstauskunft. Auch andere »Prosastückli« wie die Rede an einen Ofen (1915) und die Rede an einen Knopf (1915) richten den Blick, genauer ihr Sprechen auf Objekte und korrelieren mit den Gegenständen des ersten Textes, der Asche und der Nadel. Die Schreib- und Vernichtungsutensilien wirken hierbei als das Schreiben entpsychologisierende Elemente, indem sie jene das Schreibmartyrium begleitenden Vorentscheidungen und Schreibprozessbeschreibungen ersetzen, die von 17 Vgl. zum Verfahren einer anderen, neuen Verständlichkeit G. Wunberg: Jahrhundertwende, 110. 18 Robert Walser : »Lampe, Papier und Handschuhe«, in: ders.: Kleine Dichtungen. Prosastücke. Kleine Prosa, hg. von Jochen Greven, Genf, Hamburg 1967 (Das Gesamtwerk, Bd. 2), 248 – 251. 19 Zu dem, was zwischen Buch und Lampe haust vgl. Michel Foucault: »Un ›fantastique‹ de bibliothÀque. Nachwort zu Gustave Flauberts ›Die Versuchung des Heiligen Antonius‹«, in: ders.: Schriften zur Literatur, übers. von Karin von Hofer, Frankfurt/Main, Berlin 1979, 157 – 177. 20 R. Walser : »Lampe, Papier und Handschuhe«, 249 f.

Papier, Schrift und Feuer

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die eigene Poetik betreffenden Texten zu erwarten wären. Der Vorgang der Schreibkontrolle und des Misslingens wird in die Dinge hineinverlegt und ihnen gar angelastet. Stift und mehr noch Nadel verweisen auf die Geschichte einer Schrift, die roh begann: Der ursprüngliche Bedeutungshorizont des lateinischen scribere wie des griechischen graphein oder des hebräischen katab liegt im einritzen, einkerben oder einstechen. Schrift wurde »in ein Material eingeritzt oder eingedrückt – mit spitzem, scharfem Gegenstand«.21 Walsers Poetik wurde als eine der Materialien beschrieben, Materialien, die davon sprechen, dass jeder Schreibwiderstand letztlich zwecklos ist, weil sich der Schreibzwang, der Drang des rohen oder feinen Aufdrückens auf Papier immer wieder durchsetzt. W. G. Sebald, dessen Protagonisten selbst mitunter künstlerische Unternehmungen wie die Bilderradierung oder die Kompostierung von Schriften betreiben,22 befindet in seiner philologischen Studie zu Robert Walser, dass hier der Schriftsteller in der Aufzählung von vier keinesfalls willkürlich aneinandergereihten Dingen Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen in Wahrheit über sein eigenes Martyrium schreibe und interpretiert die im Titel aufgerufenen Dinge als »die Peinigungsinstrumente des Autors beziehungsweise das, was er braucht zur Veranstaltung einer Selbstverbrennung und was übrig bleibt, wenn das Feuer niedergegangen ist«.23 Walsers Aufzählung gewärtigt das Papier nurmehr im Stadium der Asche, erstes und letztes Glied – Asche und Zündhölzchen – korrespondieren hier und bilden einen Rahmen um das Näh- und Schreibzeug als möglicherweise ›heilenden‹ Werkzeugen der Textproduktion. Der Bleistift hingegen realisiert in der präzisen Verkleinerung der Buchstaben die für Walser charakterisierende, schwer entzifferbare Mikrogramm-Prosa und bedeutet zugleich ein weniger definitives Verfahren der Aufzeichnung, das seine Schreibhemmung manifestiert und überwindet.

2.

»ver«-Akte

Interessant für den hier behandelten Zusammenhang ist, dass Walser weder das Schreiben beschreibt, noch den Akt der Verwerfung oder gar Zerstörung des Geschriebenen. Im Rückzug auf die Dinge, die beide Prozesse bedingen, ist 21 Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005, 13 f. 22 Zum Kompostieren von Schriften in W. G. Sebalds Roman Austerlitz und zu den Reflexionen über das Aufzeichnen in Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen vgl. Mona Körte: »Un petit sac. W. G. Sebalds Figuren zwischen Sammeln und Vernichten«, in: Marcel Atze, Franz Loquai (Hg.): Sebald. Lektüren, Eggingen 2005, 176 – 194. 23 W. G. Sebald: Le promeneur solitaire. Zur Erinnerung an Robert Walser, in: ders.: Logis in einem Landhaus, 129 – 168, 150.

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deren Geschichte auf fast unheimliche Weise in den Utensilien und Überresten präsent. Allein die Reihung weist dem Schicksal des beschriebenen Papiers die Richtung; die Eleganz, die durch die Aussparung mithin entsteht, meidet jede spektakuläre Inszenierung von Autorschaft und somit auch jede psychologische Falle, die das Verbrennen in der Interpretation eines Scheiterns eröffnen würde. Implizit wirkt die Emphase der Verdinglichung des Schreibens als Antidoton gegen Begrifflichkeiten wie das Scheitern, das keine eigengesetzliche Kategorie meint und letztlich, weil arg verkürzend, an all jenen produktiven Prozessen vorbeizielt, die Schreibmartyrien determinieren. Scheitern ist eine die Verwerfung verabsolutierende Kategorie, die sich an einem wie auch immer definierten Begriff des Gelingens misst und daher zumal in der literarischen Moderne und Postmoderne eine Schreibsituation des Misslingens verabsolutiert, die längst Bestandteil des Gelingens, der Produktivität ist. Zugleich aber umschreibt der Begriff des Scheiterns ausgesprochen disparate Verfahren, nämlich das Zerstörte, das Ungeschriebene, das Zurückgenommene und das Verworfene.24 Walser, dessen Prosastücke gerne vom Feuer nicht nur in seiner verheerenden, sondern auch kommunikationsbildenden Wirkung erzählen,25 meidet hier explizit das Bild des offenen Feuers und begnügt sich lediglich mit der Nennung derjenigen Materialien, die selbst Teil von Kulturtechniken weitere Techniken ermöglichen. Walser ist jedoch nur einer der zahlreichen Figuren der Philosophie- und Literaturgeschichte, für die Feuer, Schrift und Papier in eine produktive Konstellation treten. Das Schreiben in unmittelbarer Nähe zum Ofen soll nicht nur die Hand und den Körper wärmen, sondern führt Produktivität, das Entstehen und Durchstreichen von Geschriebenem in einen Kreislauf zusammen und macht deutlich, dass nicht nur das Schreiben, sondern auch das Verwerfen in all seinen Erscheinungen wie dem 24 Zerstörte Texte/Manuskripte sind entweder Resultate politischer Manifestationen, die auch durch individuelle Vorentscheidungen Ausdruck als Selbstzensur finden, sie können aber auch der Selbstkanonisierung dienen oder werden verstanden als Furor gegen das eigene defizitäre Werk. Um diese Formen der in Teilen aufwertenden Verwerfungen soll es hier nicht gehen, auch nicht um ungeschriebene Werke, wie sie beispielsweise Wolfgang Koeppen über 42 Jahre annonciert und damit seinen Lebensunterhalt bestritten hat. Vgl. hierzu Martin Lüdke: »Tasso oder die Disproportion. Wolfgang Koeppens wahres opus magnum«, in: Martin Mittelmeier (Hg.): Ungeschriebene Werke. Wozu Goethe, Flaubert, Jandl und all die anderen nicht gekommen sind, München 2006, 186 – 202, 196. 25 Robert Walser : »Feuer«, in: ders.: Feuer. Unbekannte Prosa und Gedichte, hg. von Bernhard Fichte, Frankfurt/Main 2003, 36 – 41, 36. Dort heißt es, dass mit Ausbruch des Feuers »vor einem etwas ganz Neues, Unerwartetes, Zündendes [stehe]. Man stürzt einen Schritt vor, man hat, ehe man es nur recht gewußt hat, mit dem nächstbesten Nebenmenschen zu sprechen begonnen, man ist warm geworden […].« Vgl. auch Robert Walser : »Die Feuersbrunst«, in: ders.: Fritz Kochers Aufsätze, Frankfurt/Main 1974, 17 – 20. Hier allerdings wird das Feuer als »rasendes« und zerstörerisches beschrieben, das Menschen und kostbare Waren ergreifen will.

Papier, Schrift und Feuer

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Streichen, Überschreiben etc. zum Verfahren der Hervorbringung gehört. In dieser Konstellation wird deutlich, dass das Feuer auf paradoxe Weise ebenso zu den (in der Regel sanktionierten) »Voraussetzungen einer Erzählung« gehört,26 wie jene eingeführten Praktiken und Ermöglichungsinstrumente des Schreibens. Die Geschichte literarischen und philosophischen Schreibens lässt erkennen, dass dieses Schreiben produktionsästhetisch gesehen als ein Resultat von Verwerfungen gelesen werden kann. Das Schreiben und erst recht ein wie auch immer verstandenes Zu-Ende-Schreiben von Texten ist ein ebenso anspruchsvolles wie störungsanfälliges Unternehmen, davon zeugt der Furor, mit dem die vielen realen und fiktiven Autorinnen und Autoren ihre eigenen Texte bearbeiten und vernichten.27 Hierbei indiziert das Präfix »ver-« all jene die Verwerfungen begleitenden Operationen (verhindern, verändern, verbergen, verbessern und verderben), die im Brennpunkt sowohl eines privaten Martyriums als auch der philologischen Praxis und textuellen Überlieferung stehen. Denn die »Geschichte der Textüberlieferung ist eine einzige Reihe verschiedenster ver-Akte, von deren die wenigsten in einem eindeutigen zer-Akt, in der bloßen Zerstörung aufgehen; die meisten anderen hingegen verfertigen etwas Neues.«28 Die vielen ver-Akte sind, sofern überliefert, Schreibspuren, deren »Tilgungsfunktion den Zugang zu dem [eröffnet], was Text hätte werden können«.29 Für Walser, aber auch für Autoren wie Franz Kafka und Thomas Bernhard regulieren Schreibverhinderungen die Manie des Schreibens, die je andere Ausformungen erfahren. Neben der Angst zu scheitern und dem stockenden, dann wieder intuitiven Schreiben »in einem Zug« samt der vielen Formen der Verwerfung in Gestalt gestrichener Passagen, die vor allem Kafkas Schriften durchziehen, hat Kafkas Verfügung an seinen Nachlassverwalter Max Brod› seine Schriften »ausnahmslos am liebsten ungelesen […] zu verbrennen« eine hohe editorische Reflexivität nach sich gezogen. So spricht Roland Reuß, der Mitherausgeber der historisch-kritischen Ausgabe, davon, dass der mit der Verfügung einhergehende »ideelle Strich durchs Ganze« nachträglich auch alle anderen Formen der Verwerfung« durchdringe und somit den Herausgebern kritischer und historisch-kritischer Kafka-Ausgaben verschiedene Vorent26 Christa Wolf: Voraussetzung einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt/Main 32008. 27 Marcel Atze: »›… und kaum blieb etwas verschont.‹ Reale und fiktive Autoren als Zerstörer eigener Texte«, in: Mona Körte, Cornelia Ortlieb (Hg.): Verbrennen Überschreiben Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion, Berlin 2007, 91 – 105. 28 Robert Stockhammer : »Einleitung«, in: Philologie als Kulturwissenschaft (unveröffentlichtes Manuskript). 29 Almuth Gr¦sillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique g¦n¦tique«, Bern 1999, 90.

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scheidungen abverlange, indem eben dieser Strich alle philologischen Unterscheidungen von ›Fragment‹, ›vollendetem Text‹ und ›Variante‹ aufhebt.30 Bernhards Prosa thematisiert das Schreiben als eine radikale Zerstörung und Zersetzung der Sinngeschichte des Schreibens, womit Schärf zufolge jene Entwicklung nach 1945 markiert ist, die das Schreiben als sinngeschichtliche Konstante auch noch im Vorgang der Zerstörung jeden Sinnpotentials ausmacht.31 Das implikationsreiche Verbrennen befindet sich erst am Ende einer langen Reihe von ver-Akten, doch entsteht metaphorisch gesprochen jedes Schreiben in der Nähe des Feuers. Insofern kann Walsers Hymne an die wertlose Asche sowie seine »Rede an den Ofen« als Supplement einer (spektakulären) Schriftenverbrennung gelten, das dieser immer vorzuziehen ist. Mitunter wird das Resultat als ein Produkt gewaltsamer Reduktion bzw. Zurückdrängung der anderen Möglichkeiten des Schreibens und Ausdrückens in den Blick genommen, im besten Fall gilt das Resultat als ultimative Verfeinerung/Verdichtung oder lediglich als kontingentes Zwischenstadium verworfener Varianten. Der unveränderbare Zustand, die Unmöglichkeit des Eingriffs jedenfalls verdrängt die Frage nach Entstehung und Konzeption, die sich nachlesbar nur in Selbstauskunft gebenden und mit dem Verlauf und den möglichen Gesetzen von Textproduktion befassten Genres wie Arbeitsjournalen, Werktagebüchern und artifizielleren Gattungen wie Werkstattgesprächen oder Poetikvorlesungen dokumentiert, es sei denn, diese Frage wird in den poetischen Text mit hineingebaut. Dort wird Gewalttätiges, nicht nur mit Blick auf die Peinigungsinstrumente des Autors besprochen, vielfach dokumentiert sich die Entstehung von Texten als eine einzige Reihe des Ausscheidens und Verwerfens, die in mehr oder weniger geregelten Operationen wie dem Durchstreichen, Annotieren und Überund Umschreiben verläuft. Die vielen ver-Akte scheinen ihren eigentlichen Zweck darin zu haben, diejenigen listigen Zurücknahmeverfahren und Regulierungstechniken des Schreibens anzuzeigen, die notwendig sind, um den Autor in die Situation zu versetzen, einen sich selbst erzeugenden Text, genauer dem Text eine Autonomisierung und Verselbständigung zu ermöglichen.

30 Roland Reuß: »Lesen was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe«, in: Franz Kafka. Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, Einleitung, hg. von Roland Reuß unter Mitarbeit von Peter Staengle u. a., Basel, Frankfurt/Main 1995, 9 – 24, 20 f. 31 C. Schärf: Schreiben, 15.

Papier, Schrift und Feuer

3.

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Mit den Figuren im Gespräch

Ver-ändern und Umschreiben – Arbeit an der Perspektive In einem mit »Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist marginal« überschriebenen Werkstattgespräch phantasiert die Autorin Juli Zeh die selektive Vernichtung ihres Werkes aus, um die Entscheidung für nur eines ihrer Bücher zu forcieren: »Wenn Mephisto aufträte und sagen würde: ›Alle deine Werke bis auf eines werden aus der Welt gelöscht und gehen komplett verloren, du musst dich entscheiden‹, dann würde ich sagen Spieltrieb.« Das Buch, das Zeh gerettet haben möchte, ist eines, das aus einer Übung entstanden war, aus dem Versuch nämlich, eine auktoriale Erzählstimme zu entwickeln. Die auktoriale Perspektive nennt sie die schwierigste und zugleich reichhaltigste, die sie zum ewigen Verändern und Umschreiben gedrängt hat. Umschreiben, das Wort mit der Betonung auf der ersten Silbe, erinnert daran, dass Schreiben zunächst Handwerk ist. Im Werkstattgespräch mit Juli Zeh ist das Verändern und Umschreiben ein Prozess, der auf misslungene Versuche mit einem auktorialen Erzähler folgt: Mein Problem war immer, dass ich es entweder nicht hingekriegt habe, oder der Erzähler war zwar auktorial, dann klang es aber nach einer schlechten Thomas-MannPersiflage. So ein verstaubter anachronistischer Tonfall – das hat mich unheimlich gestört. Das Gefühl, dass eine Perspektive veralten kann, hat mich geärgert und gereizt. Ich wollte nicht akzeptieren, dass ein auktorialer Erzähler nicht mehr zeitgemäß sein kann, weil das einfach nur eine Erzähltechnik ist. Bei Spieltrieb, oder dem, was dann Spieltrieb wurde, klappte es auf einmal. Davor sind aber die Versuche ohne Ende gescheitert […]. Irgendwann hatte ich einen Tonfall gefunden, mit dem ich leben konnte, der eine Eigendynamik entwickelte und einfach Text erzeugte.32

Texterzeugung ist hier an den Vorgang der Aktualisierung einer obsoleten Perspektive und in der Verlängerung dieser an einen spezifischen Tonfall gebunden. Zudem macht Zeh deutlich, dass ein zu schreibender Text auf den rätselhaften Vorgang der Eigendynamik von Sprache und Text angewiesen bleibt. Ab einem bestimmten Punkt der Auseinandersetzung würden Texte nahezu ohne den Autor/die Autorin erzeugt. Und auch die Figuren melden sich gewissermaßen eigenmächtig zu Wort, nämlich dann, wenn die Autorin sie in »möglichst extreme Situationen getrieben« hat. Die Figuren in Zehs Texten nämlich werden »fertig gemacht«: »Sie werden komplett demontiert, sie ver32 Juli Zeh: Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist für mich marginal. Juli Zeh im Werkstattgespräch mit Birte Lipinski, Sarah Lüken und Jana Maurer, hg. von Sabine Doering und Monika Eden, Oldenburg 2008 (=Im Atelier. Beiträge zur Poetik der Gegenwartsliteratur, 5), 15.

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lieren alles, was sie ausmacht […]«.33 Zeh stellt ihre Figuren an die Wand, treibt sie in die Enge; diese reagieren auf ihre Drangsalierung jedoch nicht wie Queneaus Autorfiguren mit Flucht, sondern gewinnen gerade durch ihre Herabwürdigung an Sprache und Profil. Sie halten das Paradoxon von totaler Vereinnahmung und »eigenem Erleben« aus.

Ver-handeln: Arbeit an der Figur Anders Katja Lange-Müller, die im Begriff des Verhandelns Wert auf dezidiert mediatorische Prozesse zwischen den Instanzen des Textes und der Autorin legt. Ihr Werkstattgespräch mit dem Titel »Klimmzüge am Rand des eigenen Horizonts« legt nahe, dass die Autorin Teil des Textes sein will, den sie selbst erzeugt: »Ich schreibe die Anfänge mit der Hand. Vor allem um einen physischen Kontakt mit dem Stoff zu kriegen,«34 heißt es bei ihr ; auch streicht sie im fertigen Buch, bearbeitet es also weiter, um andere Verbindungen herzustellen. Lange-Müller zeigt sich eingehend mit Fragen der Genese und Entwicklung von Figuren befasst, vor allem mit der möglichen Gewalttätigkeit, die dort entsteht, wo Autoren gegen ihre Figuren schreiben, bis diese sie zum Verhandeln zwingen. »Die Figuren sind die ersten. Mit ihnen beginnt es. Ohne sie würde es überhaupt kein Thema geben.«35 Vor allem Schreibanfänge, genauer die ersten zwanzig Seiten nennt sie eine zähe Arbeit, weil ein funktionierender Entwurf der Figuren der Zuwendung und des Einspruchs von deren Seite bedarf. Sie muss warten, »bis die Figuren auf einen zukommen und sagen: Hallo, hier bin ich!«36 Die Figuren streiten und rechten mit ihr derjenigen Eigenschaften wegen, die ihnen aufgeladen werden; sie fühlen sich mitunter schlecht behandelt, verraten oder schlicht falsch entworfen: Ich will wirklich etwas von den Figuren wissen. Ich will, dass sie anfangen zu reden, und zwar mit mir. Dass sie auch sagen: Nein! Das würde ich niemals sagen. Oder : Das kann ich nicht machen. So bin ich nicht. Das ist falsch! Und dann muss ich so lange mit ihnen verhandeln, bis wir einen Kompromiss gefunden haben. Oder bis sie sich durchgesetzt haben […]. Irgendwann kann man nicht mehr gegen die Figuren schreiben. Nur noch mit ihnen. Und je länger ich ihnen folge, desto mehr Eigendynamik entwickeln sie.37

Lange-Müllers Referenz ist Queneaus zu Beginn erwähntes Szenario, in dem die halbfertigen Figuren ihrer misslungenen Anlage wegen durch Paris spazieren 33 34 35 36 37

Juli Zeh: Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist für mich marginal, 24. K. Lange-Müller: Klimmzüge am Rand des eigenen Horizonts, 38. Ebd., 14. Ebd. Ebd., 16.

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und am Ende den Autor denunzieren und vernichten: In der Stammkneipe des Autors »verbreiten sie die schlimmsten Gerüchte über ihn. Und er ist nur noch dabei, irgendwie die Schäden zu reparieren, die seine entlaufenen Figuren für sein Image angerichtet haben […]. Die Figuren manipulieren den Autor und sein Schicksal. Sie verbrennen ihn […]. Sie sind so böse, wie er sie entworfen hat.«38 Figuren sind fragil, können, obwohl sie erst wenige Tage alt sind, mit all ihren Anlagen in Frontstellung zu ihrem Autor gehen, um ihn zu ruinieren. Verhandeln, Konzessionen machen heißt hier das Gegenmodell, bei dem sich Autor oder Figur am Ende mitunter durchsetzen, das jedoch ein äußerst fragiles und durchaus gewalttätiges Verhältnis zwischen ihnen nur notdürftig verdeckt. Auch Arno Geiger nennt das gegenseitige »Sich-Annähern« ein wesentliches Moment zwischen Autor und Figur, begegnet ihnen mit Neugier, will etwas über seine Figuren erfahren. Und auch nachdem der Roman jeden Kontakt zur aufzeichnenden Hand verloren hat und in Buchhandlungen ausliegt, möchte er sie nicht los sein: »Jedenfalls mache ich nicht die Tür auf, schmeiße meine Figuren raus und sage ihnen: Tut mir leid, das war’s, kein Zutritt mehr!«39 Insbesondere im Werkstattgespräch von Lange-Müller zeigt sich die für Texte über die eigene Poetik typische Verschränkung von Schreiben als Technik oder Handwerk und deren Überbietung durch die in Kraft tretende Eigendynamik von Texten.

Ver-werfen: Vernachlässigen In einem wenig feindseligen Nahverhältnis, gleichsam auf Augenhöhe, befinden sich Autorin und Figur in den Poetik-Vorlesungen von Zsuzsanna Gahse. Sie bezieht mit ihren für ihren sogenannten Kellner-Roman entwickelten Figuren »eine Art Wohngemeinschaft«, weicht dem geheimnisvollsten unter ihnen nicht von der Seite. Sie »wußte […] wann er gut oder schlecht gelaunt war, ich lernte seine Umgebung kennen […]« und muß schließlich abwägen, »was ich weitererzählen, was ich für mich behalten mußte und in welcher Form ich von Ferdinand überhaupt erzählen konnte«.40 Sie ist also bereits in ein verbindliches Verhältnis zu ihm getreten und muss in der Erzählung die heikle Balance von Verbergen und Weitergeben wahren. Über diese geheimnisvolle Figur kann man, weil sie selbst nichts erklärt, nur über Beobachtung soviel wie möglich herausfinden, um dann das Wissen zu sondieren; das ist Gahses Form der Diskretion und des Respekts ihrer Figuren gegenüber: Sie kann über sie zunächst nur auf »vierhundertzwanzig Millimeter mal fünfhundertfünfundneunzig Millimeter großen Blättern« schrei38 K. Lange-Müller: Klimmzüge am Rand des eigenen Horizonts, 15. 39 A. Geiger : Der Schwamm ist leer, 18 und 41. 40 Zsuzsanna Gahse: Wie geht es dem Text? Bamberger Vorlesungen, Hamburg 1997, 20 f.

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ben,41 Ausmaße, mit denen die Figur selbst nicht einverstanden ist: »Die Blätter waren für seine Begriffe zu groß und zu gleichmäßig, und er befürchtete, ich würde mich bei diesen übergroßen Blättern sicher einmal versprechen und seine Geheimnisse ausplaudern. Das Format der Blätter, so vermutet die Figur, könne ihrer Anlage schaden, indem es die Autorin verleite, zuviel preiszugeben, geschwätzig zu werden. Hier beurteilt bzw. kontrolliert die Figur sogar die Beschreibefläche, um den Schreibprozess zu beeinflussen. Obwohl wir nichts Konkretes über den Vollzug des Wegschneidens erfahren, macht Gahse im Verlauf ihrer Vorlesung deutlich, dass es durchaus auch verworfene, genauer weggeschnittene Figuren und Szenen gibt, die jedoch weiterhin einen Teil des Schreibuniversums bilden: »Betonen will ich aber jetzt nicht, daß sie wegen einer Übersicht wegfallen müssen […], sondern daß sie, obwohl sie weggeschnitten werden, irgendwo weiter vorhanden sind. Jetzt sind sie im Raum nicht aufgestellt, sind nicht ausgestellt, im Augenblick sind sie nicht beleuchtet, trotzdem sind sie nach wie vor irgendwo in der Nähe.«42 Jeder, auch der vernachlässigte Figurenentwurf und alles zu Berichtende steht im Raum, ohne dass es explizit würde: Erzählen ist Zusammenzählen,43 und die zu erzählenden Teile und Figuren können im Prozess des Schreibens immer neu gezählt werden: Alles zu Berichtende ist daher notwendig »instabil«, vorläufig, steht im Konditional. Die ausrangierten Abschnitte sind »nur scheinbar weggeräumt. Sie liegen irgendwo vernachlässigt, und weil sie, auch wenn es mir nicht gefällt, eigentlich hergehören, haben sie jetzt Phantomschmerzen und möchten, zumindest an einem anderen Ort einmal eine Rolle spielen«.44 Auch für den Leser unsichtbare, weil verworfene Figuren sind also am Fortgang des Textes und der Genese weiterer Figuren beteiligt.

Ver-schweigen Fragen der zu Beginn angesprochenen List und Manipulation, hier in ihrer Ausformung als Anwerbung und Einflüstern, strukturieren Marcel Beyers poetologischen Essay mit dem Titel Vorsprechen, einreden, unterhalten, verschweigen. Hier spricht der Autor von den »Techniken des Anwerbens, des Einflüsterns, des Glaubenmachens«,45 deren er sich bedienen muss, um seine

41 Z. Gahse: Wie geht es dem Text?, 21. 42 Ebd., 28. 43 Zum Topos des Erzählens als eines Zusammenzählens in poetologischen Zusammenhängen vgl. auch Sten Nadolny : Das Erzählen und die guten Absichten. Münchner Poetik-Vorlesungen, München 1990. 44 Z. Gahse: Wie geht es dem Text?, 29 f. 45 Marcel Beyer : »Vorsprechen, einreden, unterhalten, verschweigen«, in: Gerd Herholz (Hg.):

Papier, Schrift und Feuer

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Figuren zum Sprechen zu bringen, denn nicht er erzählt Geschichten (»Ich habe keine«), sondern er hört die Geschichten, zu denen eine oder mehrere Figuren ihn führen können. Diese eher manipulativen Begriffe, mit denen Beyer sein Schreiben charakterisiert, stehen in einem Spannungsverhältnis zu der Forderung eines verantwortlichen Umgangs mit dem Leser : Ich denke, die Bereitschaft, sich anwerben, sich etwas einreden zu lassen, entsteht weit eher dadurch, daß der Leser einer grundsätzlichen Haltung begegnet: Merkt er einen verantwortungsvollen Umgang mit Worten, mit Details und Figuren, so kann er sich selbst ebenso ernstgenommen sehen. Der Text wirft ihm keine Schlampigkeiten hin, der Erzähler spricht nicht über seinen Kopf hinweg zu einer konturlosen Allgemeinheit, der Autor wendet sich an ihn nicht von oben herab, denn der Autor sieht den Leser nicht als weniger wach, erfahren und neugierig an als sich selber.46

Neben dem Autor können auch Figuren in den Ruch eines Täuschers und Einflüsterers kommen. Mit Blick auf die Figuren in seinem Roman Flughunde muss der Autor die Anstrengung vollbringen, sich einer Figur zu nähern, »die das Gegenteil aller denkbaren Figuren darstellt, denen ich mich nähern möchte?«47 Die Erschaffung einer Figur setzt den Autor in ein prekäres Verhältnis zu ihr, der in ihr an allen in einem sympathetischen Sinne naheliegenden Figuren vorbei das Undenkbare und ganz Andere realisieren muss. Zuleich muss er eine enorme Konzentration dafür entwickeln, sich selbst und dem Leser »sämtliche Fluchtmöglichkeiten [zu] versperren«, um sich und ihm »jede Möglichkeit einer Distanzierung von Zeit, Figuren und Verlauf [zu] nehmen«.48 Beyer entwickelt ein Szenario der totalen Auslieferung des Autors an diejenige Figur, deren Geschichte er hören will. Anders als die bisher angesprochenen Autor-Figur-Relationen, in welchen sich Autoren in Nahverhältnisse begeben und gar Wohngemeinschaften beziehen, muss sich in Beyers poetologischer Selbstbefragung der Autor eine Figur denken können, die sich jeder Spiegelfunktion widersetzt. Er muss seine Aversion überwinden und sich einer Figur nähern, für die er nicht die geringste Empfänglichkeit besitzt. Damit würde der kreative Prozess in der produktiven Entfremdung des Anderen liegen, und wäre somit eine fortlaufende Strategie des Sich-SelbstÜberzeugens. Die Distanz zum entferntesten Gegenstand zu verringern oder gar aufzugeben ist ein Verfahren, das Beyer dem Autor und auch dem Leser abverlangt: »Kann ich mich und den Leser dazu bringen, Überlegungen, Handlungen, Entwicklungen zu folgen, denen wir nicht folgen möchten?«49 Der Widerstand führt also noch durch die Figuren hindurch, sie und der Text

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Experiment Wirklichkeit. Renaissance des Erzählens? Poetikvorlesungen und Vorträge zum Erzählen in den 90er Jahren, Essen 1998, 14 – 17. M. Beyer : »Vorsprechen«, 16. Ebd., 14. Ebd. Ebd.

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als Ganzes sind ein einziger Einflüsterungsversuch, der nur durch einen verantwortungsvollen Umgang mit Worten, mit Details und Figuren und schließlich mit dem Verschweigen gelingt. Unter den ›Mechanismen des Lenkens‹ wecken vor allem das Verschweigen und Vorenthalten mit Blick auf das Moment der Auswahl besondere Skepsis bei der potentiellen Leserschaft und korrelieren als besonders heikle und empfindliche Kategorien dem Begriff des Belehrens, weil sie Leser und Leserin von oben herab behandeln und sie dadurch taub machen gegen jeden ›Einflüsterungsversuch‹. Werkstattgespräch und Poetikvorlesung erweisen sich durch den immanenten Hang und die externe Erwartung einer Selbstauskunft über die genaue Verfertigung des Schreibens und einer sich für manche verbietenden Selbst- und Werkerklärung als schwierige Textsorten. Während in den Werkstattgesprächen die Erinnerung an Textgenese und -geschehen über die Notwendigkeit, auf Fragen zu antworten, strukturiert ist, handelt es sich bei Poetikvorlesungen punktuell um Nachdichtungen: Bereits Gedrucktes kommt noch einmal und Weggefallenes in Form verworfener Varianten zur Sprache. Über nachgetragene Akte der Revision und Verwerfung versichern sich die Autoren und Autorinnen der Autorschaft und Autorität.50 In ihrem Gestus changieren sie zwischen dem Schreiben als Technik und Handwerk und den eigengesetzlichen und eigenmächtigen, den mysteriösen Dynamiken des zu schreibenden Textes hin und her. Sie erinnern die instrumentellen und prozessualen Bedingungen der Textproduktion und beziehen dabei den Stift und das Blatt, das Schreibgerät und die Beschreibefläche in ihrer disziplinierenden oder zumindest regulierenden Dimension mit ein. In ihnen werden Formvorstellungen als »eine erste Organisationshilfe beim Schreiben« ebenso wie die mit diesen Formvorstellungen unmittelbar auftretenden Widerstände öffentlich,51 wodurch in ihnen die Negativität der ver-Akte als Teil des produktiven Schreibens und der Textentstehung mitsamt ihrer Revisionen sichtbar wird. Das Ver-ändern, Ver-handeln, Ver-werfen und Ver-schweigen erfüllt trotz der durch das Suffix angezeigten Semantik der Negation eines Geschehens oder gar des Endes eines Geschehens die Funktion, Formen des Zurücknehmens nicht als Scheitern zu skizzieren, sondern als prozessurale Momente von Texgenese zu betrachten, die ein Weiterschreiben erst ermöglichen. ›Behälter‹ wie der Ofen in Schreibnähe oder der neben dem Schreibtisch stehende Blecheimer sichern die Geste des Verwerfens, erinnern jedoch im zweiten Zug an die Präsenz des Ausgeschiedenen als einem dynamischen Moment des textgebenden Verfahrens. 50 Für den schwierigen Prozess der Sicherung von Autorschaft spricht Andreas Maiers bezeichnende Lokalisierung des titelgebenden »Ich« seiner Poetikvorlesung: »[…] Ich, diese drei Buchstaben sind der Mittelteil des Wortes Nichts […]. Ich bin inmitten des Nichts […]«. A. Maier : Ich, 124 f. 51 Paul Nizon: Am Schreiben gehen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/Main 1985, 17.

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Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schneiden und Schreiben nach 1900

Nehmt Scheren! »Nehmt eine Zeitung./ Nehmt Scheren« lautet der Aufruf,1 mit dem der Dichter Tristan Tzara in einem Programm- und Lehrgedicht aus dem Jahr 1916 das klassische Instrumentarium des Schreibens revidierte. Der moderne Text soll nicht mehr geschrieben, er soll geschnitten werden: »Wählt in dieser Zeitung einen Artikel […]/ Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels/ aus […]«.2 Tzaras Appell bestätigt nachträglich eine längst eingeführte Praxis. Wie in der bildenden Kunst wird der Schnitt auch in der Literatur der Moderne zu einem zentralen ästhetischen Verfahren. Die Autoren des frühen 20. Jahrhunderts schneiden, wenn sie schreiben. Karl Kraus, Franz Pfempfert, Alfred Döblin usw., vor allem aber die Dadaisten beziehen die Schere an zentraler Stelle in ihre Textproduktion ein. Auch sie erproben ein Herstellungsverfahren, das der Logik wie den Eigenbewegungen des Materials in unerhörter Weise Raum gewährte. Bei der Fabrikation eigener Texte überlassen sie sich den Verlockungen eines Werkzeugs, das den Zufall gewähren ließ, das, anstatt zu schreiben, in bestehende Textzusammenhänge eingriff und auf dem Schauplatz literarischer Produktion Ausschnitte und Schnipsel längst gedruckter Schriften in unbestimmter Menge bereitstellte. Der Vorrang der Handschrift ist damit untergraben. Punkt für Punkt listet Tzaras Appell die Kränkungen, die die Schere für die Herren klassischer Schreibszenen bereithielt. Scheren bedrohten die unverwechselbaren Lineamente der Feder und stifteten Verwirrung unter jenen klassischen Geräten des Schreibens, die durch das Aufsetzen einer Spitze und das Kontinuum eines Schriftzuges die auktorialen Privilegien dessen sicherten, der sich als Dichter verstand. Mit ihrem Auftauchen auf dem Schreibtisch wurde das Manuskript zu 1 Tristan Tzara: »Um ein dadaistisches Gedicht zu machen«, in: Karl Riha (Hg.): 113 Dada Gedichte, Berlin 1982, 69 – 70, 69. 2 Ebd.

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einer Montage aus Altpapier, während sich der ungeteilte Akt des Schreibens in eine »Verfahrenskette« auseinanderlegte, die ihren Ausgangspunkt in der materiellen Welt und nicht in der Innerlichkeit eines Künstlersubjekts besaß.3 In der Folge durchschreiten Tzaras Imperative die Tätigkeiten, die sich um die Schere und den Akt des Schneidens gruppieren: »Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels/ aus und gebt sie in eine Tüte./ Schüttelt leicht.«4 Der Entzug des auktorialen Privilegs in der Gegenwart der Schere zeigt sich dabei bezeichnenderweise dort, wo die Handschrift noch einmal auf die Szene zurückzukehren scheint. Wenn es am Ende des Textes heißt: »Schreibt gewissenhaft ab/ in der Reihenfolge, in der sie [die Schnipsel] aus der Tüte gekommen/ sind«,5 scheint die Dichtung nur scheinbar über das Verfahren zu triumphieren und der Autograph wieder in seine Rechte eingesetzt zu werden. Tzaras ironische Reverenz gegenüber dem alten und durch die Schere überwundenen Medium der Handschrift lässt keinen Zweifel daran, dass diese nur im defizitären Modus der gewissenhaften Abschrift zurückkehrt. Anstatt noch einmal einen Anfang auf der leeren Seite zu setzen, rückt das Schreiben mit der Hand an das äußerste Ende einer Verfahrenskette, die keine und schon gar nicht die erste Stelle für den Autor vorsieht. Sein weiteres Schicksal ist Abschrift. Tristan Tzaras letzte Anweisung verdeutlichte unmissverständlich, dass das Schreiben in einer von der Schere beherrschten Umgebung zur Kopistentätigkeit geworden war. Mit dieser Revolution auf dem Schreibtisch verändern sich die Bedingungen der Textproduktion und die Machtverhältnisse, die es bis dahin regelten, in mehrfacher Hinsicht. Das Eingreifen der Schere, so zeigt sich, setzt die Kontrollen wie die Steuerungen außer Kraft, die die Linearität einer geregelten Schriftführung wie einer linearen Textproduktion gewährleisten. Wo sie im Spiel ist, steht die Herrschaft der Hand über das Werkzeug im Zweifel wie zugleich auch die Herrschaft über den Stoff, der in klassischen Produktionsszenarien maßgebend und gesichert war. Wie Christian Morgenstern schrieb, erlebte man von der Schere die »unerwartetsten Dinge«, vor allem, wenn »sie sich einfach in ihren Stoff hineinstürzte und dann dem Zufall überließ«.6 Insbesondere im Umkreis der Dadaisten lassen sich die veränderten Arbeitsszenarien studieren, die diesem Sturz in den Stoff entsprachen. Der Andrang des Altpapiers und die 3 Vgl. die Thesen von Rosalind Krauss: The Originality of the Avantgarde and Other Modernist Myths, Cambridge 21985. Zum Begriff »Operationskette« vgl. auch Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, übers. von Christoph Hollender, Köln 1999, 152. Die Rede ist auch von »operativen Feldern« (143). 4 T. Tzara: »dadaistisches Gedicht«, 69. 5 Ebd. 6 Christian Morgenstern: »Des Märchendichters Schere«, in: ders.: Kritische Schriften, hg. von Helmut Gumtau, Stuttgart 1987 (Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6), 257 – 262, 258.

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Materialverliebtheit der Schere können von der »Sorgfalt« und der »Gewissenhaftigkeit« nicht gebändigt werden, zu denen Tzaras Gedicht aufforderte. Folgende Anekdote über Kurt Schwitters zeigt den Künstler in weiter Entfernung von geordneter Schreibtisch- und Ateliertätigkeit. Mit der Schere in der Hand bewegt er sich auf dem Boden, ein Wühler in einer unbeherrschbaren Menge der Stoffe: Unter einem apfelgrünen Abendhimmel, vor einem hohen schwarzen Bahndamm brannte eine kümmerliche Straßenlaterne. Das Gaslicht warf ein elendes gelbes Licht auf den Fußsteig. Da stand, eine Statue, eine Frau mit vorgestrecktem Armen, darüber ausgebreitet Hemden und andere Wäsche. Sie stand wie Lot’s Salzsäule. Auf dem Boden kniete ein Mann, umgeben von Schuhen, Kleidungsstücken, vor einer Handtasche voll Papieren, wie den Eingeweiden eines geschlachteten Tieres. Er hantierte mit Schere und einer Tube Klebstoff und einem Stück Karton. Die beiden Personen waren Kurt und Helma Schwitters. Nie wird dies Bild aus meinem Erinnern verschwinden: diese Beiden in dem großen dunklen Nichts, beschäftigt mit Nichts als sich selbst. Im Nahekommen fragte ich: »Kurt, was tust du da?« Schwitters blickte von unten auf, antwortend: »Es ist mir eingefallen, dass ich noch schnell in mein Klebebild 30 B I ein Stückchen blaues Papier in die linke untere Ecke einfügen muss, ich bin gleich fertig.«7

Wer mit der Schere arbeitete, begab sich, wie sich auch John Heartfield erinnert, rückhaltlos unter die Papiere: »auf und unter Tischen, Stühlen und wo sich sonst die Drucksachen stauten […]«.8 Das Unerwartete war nur in einem Haufen bzw. in einer unbestimmten Menge aufzufinden, der sich die Schere wie auch der Scherenschneider bis zum Selbstverlust assimilierte. In der Folge sollen historische Aspekte dieser Codierung der Schere angesprochen werden. Anhand von Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre soll zunächst erläutert werden, wie die Literatur zunächst der Gefahr einer mit dem Zufall, der Lust und der Maßlosigkeit assoziierten Tätigkeit begegnete. Im Anschluss rücken die Vorkehrungen in den Blick, die das Erbe der Schere in der Moderne entschärfen und ein geordnetes Schneiden ermöglichen. Zuletzt sollte deutlich werden, wie sich die Lust der Schere wieder in die Akte der Symbolisierung einschaltet, aus denen sie kraft dieser Vorkehrungen ausgeschlossen 7 Gerhard Schaub (Hg.): Schwitters-Anekdoten, versammelt und mit einer Einleitung versehen von Gerhard Schaub, Frankfurt/Main 1999, 23. Vgl. dazu auch Juliane Vogel: »Schnitt und Linie. Etappen einer Liaison«, in: Wolfram Pichler, Ralph Ubl (Hg.): Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, München 2009, 141 – 160, 158 ff. 8 Zit. Heiri Strub und Wieland Herzfelde in: Michael Töteberg: John Heartfield: in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1978, 79. Demgegenüber vgl. die großangelegten Ordnungssysteme und Sammelprojekte, die Anke Te Heesen in ihrem Buch über den Zeitungsausschnitt beschreibt.

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wurde.9 An Texten von Robert Musil und Gottfried Benn sowie abschließend an einer Arbeit der Dadaistin Hannah Höch kann gezeigt werden, wie in ihrem Beisein Trennungsmacht und souveräne Herrschaft über das Instrument problematisch werden. Wo sie auftaucht, sieht sich ein Unterscheidungsvermögen herausgefordert, das klar zwischen Geist und Materie, Materialbeherrschung und Materialverfallenheit, Ordnung und Abfall, Tiefe und Oberfläche, aber auch zwischen männlich und weiblich zu unterscheiden wusste.

Gefräßiges Schneiden Wenn wir sie bei Goethe antreffen, ist die Schere ein »gendered object«,10 aus der Gutenberg-Galaxis ausgeschlossen, stoffverfallen und ein Werkzeug weiblicher Handarbeit. Den instrumentellen Dispositionen des 18. Jahrhunderts und der Goethezeit entsprechend, liegt sie zunächst in den Händen literarisch unproduktiver Frauen. Mit hinreichender Deutlichkeit klärt neben anderen auch Goethe über den Rang einer Tätigkeit auf, die, mit weiblicher Hand ausgeführt, alle symbolische Kompetenz und Trennungsmacht vermissen lässt. In Wilhelm Meisters Wanderjahre zumindest wird die Schere zum Attribut eines Geschlechtes, dem »alles einerlei ist«,11 wie es bei Goethe heißt. So tritt die aus den Lehrjahren bekannte Figur der Philine im zweiten Teil des Bildungsromans noch einmal auf. Dabei ist in Erinnerung zu rufen, dass sie schon in den Lehrjahren durch das ständige »Klipp Klapp« ihrer Pantöffelchen aufgefallen war.12 Kennzeichnend für das Persönchen war schon dort ein unbeseeltes Geräusch, das, wenn es im Klangraum der Wanderjahre nachhallt, nun 9 Vgl. hierzu: Christoph Hoffmann: »Festhalten, bereitstellen. Verfahren der Aufzeichnung«, in: ders. (Hg.): Daten sichern: Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Zürich, Berlin 2008, 7 – 20. Christoph Hoffmann: »Schneiden und Schreiben. Das Sektionsprotokoll in der Pathologie um 1900«, in: C. Hoffmann (Hg.): Daten sichern, 153 – 196. 10 Vgl. Pat Kirkham (Hg.): The Gendered Object, Manchester 1996, 1 – Auch die Schere ist in eine »study of objects« einzuschließen, die »the myriad ways« behandelt, »in which the dynamics of gender relations operate through material goods.« 11 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman, hg. von Hans-Jürgen Schings, München 1988 (Münchner Ausgabe, Bd. 5), 315. Hier sagt Philine: »Es ist mir alles einerlei.« 12 »Es ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die Türe tut sich auf, man erkennt ein liebes, pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbei, die Vorhänge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der liebe, der einzige Klang, wenn die Absätzchen auf den Boden aufschlagen! Je zierlicher sie sind, je feiner klingts. Man spreche mir von Philomelen, von rauschenden Bächen, vom Säuseln der Winde, und von allem was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an das Klipp! Klapp! – Klipp! Klapp! ist das schönste Thema zu einem Rondeau, das man immer wieder von vorne zu hören wünscht.« (J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 300.)

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der Schere zugeordnet wird. Hier jedenfalls zeichnet sie sich durch das »Sonderbare« aus, dass sie »vom blumig gestickten Gürtel herab an langer silberner Kette eine mäßig große englische Schere trug, mit der sie manchmal, gleichsam als wollte sie ihrem Gespräch einigen Nachdruck geben, in die Luft schnitt und schnippte […]«.13 Mit dieser mäßig großen Schere verfällt sie sogleich in maßlose Tätigkeit. »Stoffe aller Art«,14 heißt es bei Goethe, fallen ihr zum Opfer. »Da fand sie nun in der Aussicht das alles zu zerschneiden, die größte Glückseligkeit; man mußte sie wirklich daraus [aus dem Zimmer] entfernen […], denn sie kannte weder Maß noch Ziel.«15 Punkt für Punkt werden die Defizite der von Frauenhand geführten Schere benannt: Erstens mobilisiert Goethe den Gemeinplatz weiblicher Geschwätzigkeit, um die Schere in ihrer nichtigen Produktivität vorzuführen. Philines unaufhörliche Rede wird durch ein leeres Schnippen begleitet. Während es der Feder gelingt, den Schriftzügen eines Autors »Nachdruck« zu verleihen, bleiben die Spiele der Schere wie die Spiele der weiblichen Zunge ohne auktoriale Kraft. »Nachdruck« fehlt einem Werkzeug, das planlos unter Stoffen wütet, wie den Mitteilungen eines schnippischen Geschlechts, dessen Reden, anstatt sich einzudrücken, nur soviel gelten wie die Luft. Zweitens nennt Goethe die Schere »gefräßig«.16 Ihren Schnitt erklärt er auch dadurch für wirkungslos, dass er dessen Materialverfallenheit und orale Orientierung hervorhebt. Ein Werkzeug, das die Stoffe weder teilt noch beherrscht, das frisst, anstatt zu schneiden, folgt nicht einer Logik der Trennung, sondern einer so maßlosen Einverleibung, dass es im Zimmer nicht mehr geduldet werden kann. Mit diesem Ausschluss – »man mußte sie wirklich daraus entfernen« – wird jedoch nicht nur eine maßlose Tätigkeit aus einer Gesellschaft verbannt, dasselbe Zimmer verschließt sich auch dem Genuss. Denn das Hantieren mit der Schere, das maßlose Zerschneiden von Stoffen bereitet Philine »Glückseligkeit«, wie es im Text heißt. Dieser Genuss ergibt sich bereits hier aus einem Kontrollverlust, der ein geordnetes, bedeutendes und maßvolles Tun in Frage stellt, und der Bereitwilligkeit Philines, sich den Befehlen der Schere unterzuordnen. In den Händen Philines macht sie sich selbständig, sie »zuckt« wie ein von Wahnsinn Befallener.17 Philine schneidet wie die vom Ausschneiden besessenen Aristokraten des 13 Johann Wolfgang Goethe: »Wilhelm Meisters Wanderjahre« (1829), in: ders.: Wilhelm Meisters Wanderjahre/Maximen und Reflexionen, hg. von Gerhart Baumann, Gonthier-Louis Fink, Johannes John, München 1991 (Münchner Ausgabe, Bd. 17), 239 – 714, 667. 14 J. W. Goethe: »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, 668. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., 669.

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18. Jahrhunderts, die, wie es in zeitgenössischen Berichten heißt, wie im Fieber alles ausschnitten, was ihnen unter die Finger kam.18 Sie wird von einer Leidenschaft erfasst, welche die von ihr Befallenen durch die Ausschaltung des Bewusstseins wie durch eine nicht mehr quantifizierbare Produktivität für die Tätigung gültiger Aussagen disqualifizierte. Die Äußerungen der Schere werden auch von Goethe mit unbestimmten und unbegrenzten Mengen in Verbindung gebracht und in die unkontrollierbare Domäne des ›Zuviel‹, der Hyperbel, der Proliferation und des Genusses verwiesen. Als sich aber die Schere um 1900 selber an der literarischen Textproduktion beteiligt und in Konkurrenz mit der Feder tritt, wird diese Erbschaft Philines, die hier noch aus dem Zimmer entfernt werden konnte, virulent. Die werkfeindlichen Wirkungen der Scherentätigkeit bedrohen nun die Arbeitsverhältnisse auf einem Schreibtisch, der sich als ein Ort des Geistes und der auktorialen Setzungen von den Orten der Handarbeit nicht mehr deutlich unterscheiden ließ. In einem 1905 erschienenen Essay über die Scherenschnitte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen beschreibt Christian Morgenstern, wie sich die Schere in der Hand des Autors ausnimmt und mit welchen Folgen zu rechnen ist, wenn sich ursprünglich getrennte Tätigkeitsbereiche überschneiden. In Hinblick auf die Papierarbeiten Andersens erzählt er die Geschichte eines Kontrollverlusts, eines Lustgewinns und einer Gefräßigkeit. Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass auktoriale Werkherrschaft aufgegeben wird bzw. in Frage steht, wenn sich das »Schmatzen der Schere«19 hören lässt. Indem sich diese in »ihren Stoff hineinstürzt«,20 produziert sie, wie schon gesagt, »das Unerwartete«, und die Zufallsbildung. Entsprechend scheitert der Versuch, der Schere jenen »Hauch der Seele« einzublasen,21 der die Schreibzeuge der bürgerlichen Dichtung in Bewegung setzte. Im Umgang mit ihr verliert die Hand des Dichters ihre Leitfähigkeit wie ihre Überlegenheit. Sie exponiert sich in willenloser Fleischlichkeit und begibt sich in den Dienst des Werkzeugs wie des Stoffes: »Und die guten dicken Finger mußten immer mit, immer mit und konnten froh sein, wenn sie nicht ganz rot geschunden wurden.«22 Im Horizont einer solchen steuerlosen Tätigkeit erscheint dann später das, was Morgenstern an anderer Stelle mit dem Begriff der »Papierschnitzel18 Vgl. Sigrid Metken: Geschnittenes Papier. Eine Geschichte des Ausschneidens in Europa von 1500 bis heute, München 1978, 101 – 128. 19 C. Morgenstern: »Schere«, 257. Zum Topos der fressenden Schere vgl. Heinrich Wolff: »Die Sprache der Schere«, in: Zeitschrift für bildende Kunst (1906), 24, ebenfalls zu Andersen: »Jedenfalls verstand er [=Andersen, Anm. JV] die Mundart seiner Schere: Schnell fraß der spitze Schnabel die lustigsten Löcher […].« 20 C. Morgenstern: »Schere«, 258. 21 Vgl. ebd., 257. 22 Ebd., 258.

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schneezentrifuge« bezeichnen wird:23 ein ungemessenes und zuletzt industrialisiertes Schneiden von Schnitzeln, die sich von dem im selben Arbeitsgang erzeugten Abfall nicht mehr deutlich unterscheiden lassen. Hans Arp zum Beispiel wird sich statt einer Schere eine Papierschneidemaschine zulegen und die Mitwirkung der menschlichen Hand beim Schneiden als einen störenden Anachronismus zurückweisen. »Für unsere Papierbilder wurde sogar die Schere, mit der wir zuerst diese Arbeiten ausschnitten, verworfen, da sie zu leicht das Persönliche durch die Hand verriet. Wir bedienten uns fortan der Papierschneidemaschine.«24

Gebändigte/entfesselte Scheren Gleichzeitig wird die Schere zu einem modernen Instrument in modernen industriellen Institutionen. Um die herkömmliche Codierung des Werkzeugs aufzuheben, die sie mit dem weiblichen Geschlecht, mit dem impotenten Gelehrten oder dem tapferen Schneiderlein assoziierten, wurden neue Inszenierungen des Schneidens entwickelt. Wie andere werkzeugbasierte Verfahren in der Moderne wurde auch die Arbeit mit der Schere rationalisiert, taylorisiert und nach Maßgabe industrieller Arbeitsökonomien geordnet.25 Als das unkalkulierbare und effeminierte Werkzeug nicht nur auf den Schreibtisch, sondern auch auf die Schauplätze der Technik vordrang, waren neue Rahmungen gefordert, die das Schneiden als eine industrielle Arbeit bzw. als eine seriöse Laborantentätigkeit auswiesen. Diese stellten sicher, dass ein kontrolliertes Quantum geschnittener Materialien in einer bestimmten Zeit produziert werden konnte, und gewährleisteten zugleich, dass das organische »Schmatzen« der Schere, das heißt die orale Lust ungehemmten und glückseligen Schneidens,

23 Friedrich Kittler : Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, 265. Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder, Wiesbaden 1956, 319. 24 Hans Arp: Unsern täglichen Traum…. Erinnerungen, Dichtungen und Betrachtungen aus den Jahren 1914 – 1954, Zürich 1955, 74. Vgl. dazu Siegfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, hg. von Henning Ritter, Frankfurt/Main 1987, 69: »So wunderbar die Kompliziertheit dieses organischen Instruments auch anmuten mag, für eines eignet es sich nur schlecht: für die Automatisierung. An der Art, wie die Bewegungen zustande kommen, liegt es, dass die Hand nicht darauf eingestellt ist, Tätigkeiten mathematisch präzis und ohne Unterbrechung auszuführen. Jede Handlung beruht auf einem Befehl, den das Gehirn stets wiederholen muß und es widerspricht dem Organischen, das Wachstum und Veränderung einschließt, sich der Automatisierung zu unterwerfen.« 25 Anke Te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt/Main 2006, 282 – 285.

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durch »Quietschen« ersetzt wurde.26 Auf diesem Weg erhielt die Schere die geschlechterpolitische Neutralität eines Instruments. Zentrale Institutionen einer solchen Schnittkontrolle waren die seit Ende des 19. Jahrhunderts gegründeten Zeitungsausschnittsbüros, in denen die täglich erscheinenden Blätter zerschnitten und an ihre Kunden weitergegeben wurden. Hier war der Schnitt in die Zeitung Teil eines arbeitsteiligen Verfahrens, dessen industrielle Prägungen sichtbar waren und das sich zugleich an modernen Labortätigkeiten orientierte. Beim Ausschneiden von Zeitungsartikeln demonstrierten die Angestellten eines Zeitungsausschnittsbüros ihren Willen zur Hygiene wie zugleich auch ihre Nähe zu einer wissenschaftlichen Objektkultur, der der Zeitungsausschnitt als ein »Papierobjekt« zugerechnet wurde.27 Wie in den Schneideräumen des Films, in den photographischen Labors, sowie in den Einrichtungen der Modeindustrie wurde nun auch hier ein Arbeitsablauf eingerichtet, der den sachlichen Namen der Operation verdiente. Nur unter diesen Bedingungen konnte jene Form oder besser jenes Format gewonnen werden, die die Moderne in Kunst, Fotografie, Film und Wissenschaft grundlegend bestimmen sollte: die Form des Ausschnitts, in der die Kontingenz des Schnipsels durch eine starke institutionell codierte Rahmung bewältigt war.28 Autoren, die Wirkungen der Schere fürchteten, sicherten sich gegenüber den Gefahren der Schere, wenn sie sich ihr Material über eine solche Institution beschafften. Der österreichische Satiriker Karl Kraus, der in seiner 1899 gegründeten Zeitschrift Die Fackel grundsätzlich mit Ausschnitten arbeitete, delegierte die Schneidetätigkeit selbst an das Zeitungsausschnittsbüro Observer, während er eins seiner satirischen Objekte, den notorischen Plagiator Jakob Lippowitz als den »Herrn mit Schere« bezeichnete und dem Gelächter seiner Leser preisgab.29 Dass aber auch andere Künstler der Zwanziger Jahre den aufgezeigten Gefahren begegneten, zeigt sich auch daran, dass sie sich auffällig oft mit einem Gegenstand bewaffneten, der sie gegen die Lust, gegen das Geschlecht wie gegen 26 Franz Pfemfert: »Ich schneide die Zeit aus«, in: Paul Raabe (Hg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts ›Aktion‹ (1911 – 18), München 1964, 216. 27 A. Te Heesen, Zeitungsausschnitt, 63 – 98. 28 Rosalind Krauss: »Die photographischen Bedingungen des Surrealismus«, in: dies: Das Photographische: eine Theorie der Abstände, mit einem Vorwort von Hubert Damisch, übers. von Henning Schmidgen, München 1998, 100 – 123, 103. Hier zur Interventionsfähigkeit des Rahmens, der den zentrifugalen Bewegungen des Materials entgegenwirkt. 29 »Der werthvollste, immer rührige und eigentlich einzige belletristische Mitarbeiter des ›Neuen Wiener Journal‹ fehlt in der Liste: Die Schere des Herrn Lippowitz«, in: Die Fackel, 105 (1902), 25. »Die Schere des Lippowitz schneidet wahllos, schonungslos und – gedankenlos ….«, in: Die Fackel, 118 (1902), 27. Vgl. u. a. Die Fackel, 103 (1902), 13; 109 (1902), 21; 115 (1902), 29 – 30; 118 (1902), 31; 119 (1902), 29; 120 (1902) 27 – 29; 125 (1902)32 f. ; 127 (1903), 16 – 17; 135 (1903), 26, u.v.a.m. Die ÖAW stellt unter der Webadresse http://www.aac.ac.at/fackel eine Volltext-Suchmaschine der Fackel bereit.

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die Industrialisierung der Schere zu verteidigen schien. Zumindest in ihren Selbstinszenierungen und in ihren öffentlichen Auftritten mobilisierten sie das Messer gegen ein Werkzeug, das ihre Autorität wie ihre Autorschaft in Frage stellte. Der Zusammenhang von Schneiden und Schreiben wurde hier durch das Messer und nicht durch die Schere gestiftet. Robert Musil stilisierte sich zum Vivisekteur, Gottfried Benn zum Anatom mit Stift und Skalpell. George Grosz ließ sich, auch wenn er anders mit »Pinsel und Schere« hantierte,30 mit dem Dolch in der Hand fotografieren. Eine Ikonographie des Künstlers, die zugleich den Schnitt als ein maßgebliches Verfahren moderner Kunst legitimieren sollte, setzte, wie immer ironisch, auf das Messer – das schnittmächtige und nachdrücklich geführte Instrument mit nur einer Klinge, das dem Stift, der Feder und dem Pinsel glich und eine wechselseitige Übertragung und Intensivierung ihrer Funktionen ermöglichte. Diese Ausstattung scheint zunächst auf eine chirurgische Fassung von Schreibakten zu zielen, die die verlorene Kontrolle über die Schreibhand mit der metaphorischen Hilfe des Messers zurückzugewinnen versuchten: Nur wer mit dem Messer schrieb oder zeichnete, vertiefte die singuläre Spur von Stift oder Feder, und nur sein Eingriff drang »tief ins Gewebe der Gegebenheit ein«,31 wie es in Walter Benjamins Kunstwerkaufsatz heißt. Mit chirurgischer Präzision sicherten Messer die Geltung eines bürgerlichen Tiefendiskurses, welcher Differenzen befestigte und einen durch Penetration beglaubigten Sinn garantierte. Denn während die Schere den Tiefenverlust ihres Materials voraussetzte und sich ausschließlich in der Fläche bewegte, stieß das Messer in die Dreidimensionalität des Körpers vor. Während die Schere Papiere, Häute und Stoffe schnitt und dabei die Subtilität eines Schnitts erprobte, der am plastischen Körper versagte, vollzog das Messer Urteile, sicherte Grenzen und schaffte Klarheit. Seine »Gegebenheit« war das Fleisch, an dem nur untilgbare und oft tödliche Einschreibungen vollzogen werden konnten.

Messer und Schere Gerade aber an der populären Figur des Frauenmörders in der Zwischenkriegskultur wurde deutlich, dass gerade auch das Messer vor Kontrollverlust nicht gefeit war. Wie die zahlreichen Arbeiten zum Thema Frauenmord zeigen, erwies sich an ihm, dass sich die Schere nicht zum Verschwinden bringen ließ und dass sie bei ihrem Auftauchen den klärenden Schnitt bedrohte, der Ge30 Georg Grosz: Mit Pinsel und Schere. 7 Materialisationen, Berlin 1922. 31 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (zweite Fassung), in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2, Frankfurt/Main 1974, 471 – 508, 496.

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schlecht und Grenzen des Schneidenden sichern sollte. Exemplarisches Beispiel für die Wiederkehr der Schere im Machtbereich des Messers ist Moosbrugger, der Frauenmörder aus Musils Mann ohne Eigenschaften, der in einer Situation des Selbstverlustes die Autorität des Messers zu Hilfe ruft, um eine aufdringliche Frauensperson von sich loszumachen. Moosbrugger lebt in proteischer Ungeschiedenheit. Den Mord an einer Prostituierten begeht er in einem Zustand der Inversion. Sein Opfer, das ihm »wie ein Schatten« durch die Nacht folgt,32 kann er schon deswegen nicht von sich abweisen, weil das, »das da halb hinter ihm geht, wieder nur er selbst ist«: eine Frau, ein »verkleideter Mann« und zugleich ein »Es«, das ihn halbiert und entzweit.33 Diese Qual der Entgrenzung kann er nur beenden, indem er sich eines Messers versichert: »Er griff nach dem Steckmesser in die Hosentasche, denn man wollte ihn zum besten haben […]«.34 Diese Waffe jedoch, die ihm Klarheit über sein Geschlecht und seine Grenze verschaffen soll, kann er selbst von einer Schere nicht unterscheiden: »Er wußte nicht recht, war es eine Schere oder ein Messer ; er stach damit zu. Sie hatte behauptet, es sei nur eine Schere, aber es war sein Messer. Sie fiel mit dem Kopf in das Häuschen; er schleppte sie ein Stück heraus […] und stach so lange auf sie ein, bis er sie ganz von sich losgetrennt hatte.«35 Die Identität der Tatwaffe bleibt im Text offen. Die Frage nach dem, »was es war«, wird nicht eindeutig beantwortet. Das Messer aber, das vor der Schere zu schützen schien, gerät selbst in den Sog der Ungeschiedenheit hinein. In der wiederholten Konjunktion »oder«, im steten Gleiten zwischen bestimmten und unbestimmten Artikeln, männlichen und weiblichen Possessivpronomina, werden die beiden Schneideinstrumente, ihre Zuordnung und ihr Geschlecht, auf multiple Weise verwechselt, enteignet, in Schwebe versetzt und damit in den unbestimmten Radius der Schere einbezogen. Wo Moosbrugger mit Gewalt Eindeutigkeit erzwingen will, pluralisiert sich der Schnitt und sein Instrument, dort wird die Eins der männlichen Waffe durch die Zwei der offenen Schere herausgefordert und in ihrer thetischen Kraft in Frage gestellt. In der Schere begegnet das Messer seinem Supplement, seinem Ersatz, seiner Reduplikation, oder mit einem Schlüsselwort des Romans gesprochen: einem entstellten »Seinesgleichen«. Hinsichtlich der einen Klinge und des einen Schnitts interveniert sie als ein Zweites und Vielfaches. Als ein unkalkulierbares Double zerstört sie die Singularität des Originals – des Messers, das es – hier sind Zweifel berech32 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch, hg. von Adolf Fris¦, Reinbek 1987, 73. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd., 74. Zum Kontext Frauenmord in der Zwischenkriegszeit vgl. Maria Tatar: Lustmord. Sexual Murder in Weimar Germany, Princeton 1995. Vgl. Kathrin Hoffmann-Curtius: Im Blickfeld. Georg Grosz, ›John der Frauenmörder‹, Hamburg 1993.

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tigt – gar nicht gibt.36 Die Schere, die sich in zwei Spitzen spaltet, setzt weitere und unabsehbare Spaltungen in Gang, sie erzeugt jenes Eins-im-Anderen, jene Vielheiten im Selben, die den Effekt des Supplementären konstituieren und den klärenden Schnitt in das »Gewirre der Dinge« unmöglich machen. Erst diese Pluralisierung des Singulars aber entbindet die Gewalt, mit der sich Moosbrugger von seiner weiblichen Hälfte abtrennt. In seiner Abwehr gegen das Vielfache sowie in Abwehr gegen ein Geschlecht, das »nicht eins« ist,37 vermag er nicht mehr zu schneiden, sondern nur zu stechen. Der kontrollierte Eingriff wird nun zu einem besinnungslosen Schlachten und dabei von jener gefährlichen Mehrzahl eingeholt, der Moosbrugger gerade entrinnen wollte. An der entstellten Leiche der Prostituierten vermerkt das gerichtsmedizinische Protokoll eine unbestimmte Zahl von Doppelstichen, deren Befund die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Täters aufwirft. – Um so weniger aber kann Moosbrugger der klärende Schnitt gelingen, als er selber im Prozess seiner Herstellung ein Geschöpf der Schere ist. Gerade an seiner Figur lässt sich zeigen, wie auch die in Musils Manuskript verborgene Schere und der Zeitungsausschnitt wieder zutage tritt. Wie Karl Corino in seiner Musil-Biographie aufzeigt, ist die Figur des Frauenmörders selber aus Zeitungsausschnitten zusammengesetzt. Musil montierte Moosbrugger aus Reportagen, die 1911 in der Wiener Presse über das Gerichtsverfahren des Prostituiertenmörders Christian Voigt berichtet hatten und die er in seiner Zeitungsausschnittssammlung unter der Sigle Z 10 – 14 aufbewahrte.38 Moosbruggers Sehnsucht, durch Abtrennung einer Hälfte ein ganzer Mann zu werden, kann daher schon deshalb nicht erfüllt werden, weil er selbst eine Montage ist, über die das zuständige Zeitungsausschnittsbüro die Kontrolle verloren hat. Damit grenzte sich Musil von solchen Texte und Arbeiten der Zehner und Zwanziger Jahre ab, die die Schere gleichfalls im Machtbereich des Messers aufgesucht und ihre Vielheit sowie ihre Inkalkulierbarkeit gegen die Ideologie des klaren und kontrollierten Schnitts aufgerufen hatten. Anders als in Musils Katastrophenszenario war dies jedoch im Namen eines utopischen Entwurfs geschehen. Wie sich zeigt, hatte die Schere aufgrund ihrer Codierung nicht nur Zerstörung, sondern Heilung bzw. Entgrenzung bewirkt und die Dynamik des Supplementären in einem dionysischen oder auch dadaistischen Spiel entbunden. 36 Vgl. R. Krauss: »Surrealismus«, 115ff: »Wenn es aber in Verbindung mit dem Original gesehen wird, zerstört das Double die Singularität des ersten. Durch die Verdopplung öffnet es das Original für den Effekt der Differenz, des Aufschiebens, des Eins-nach-dem anderen oder Eins-im-anderen: der Vielheiten, die im Selben wuchern«. 37 Vgl. Luce Irigaray : Ce sexe qui n’en est pas un, Paris 1977 (dt. Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979). 38 Karl Corino: Robert Musil. Eine Biografie, Reinbek 2003, 882 ff., 1721 (=Anm. 92).

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Anhand eines Textes von Gottfried Benn – der Erzählung Querschnitt – und einer Arbeit von Hannah Höch mit dem Titel Der Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands möchte ich abschließend und im Kontrast zu Musil dieses utopische Potential der Schere vorführen. Bezeichnenderweise bedienen sich dabei beide – in den von ihnen gewählten Medien und auf je ihre Weise – der Form des Querschnitts, die die Fülle des Materials in einem diagnostisch-didaktischen Schnitt offenlegte und im Gegensatz zum »Ausschnitt« auch der Eigenbewegung des durch den Schnitt offengelegten Materials Rechnung trug. In der zwischen 1916 und 1918 entstandenen und in den Umkreis der RönneTexte gehörigen Erzählung Querschnitt entwickelte Gottfried Benn seine Utopie der Schere gerade dort, wo unter hygienischen – das heißt unter Laborbedingungen – »tief ins Gewebe« geschnitten wurde:39 im Operationssaal einer Klinik. Anhand eines chirurgischen Eingriffs konstruiert er eine Opposition von Traum und Medizin: Ein Arzt taucht aus psychedelischer Entrückung, um einen Schnitt an der Vorhaut des männlichen Glieds – »Querschnitt dorsalis« – durchzuführen.40 Seine Handgriffe werden, auch wenn sie von Träumen unterbrochen werden, von der Institution der Klinik überwacht und zunächst unter das Gesetz der einfachen Spitze – des phallischen Singulars – gestellt, der seine Autorität in grotesker Weise geltend macht. Die Arbeit im Operationssaal wird durchgehend mit spitzen Gegenständen in Verbindung gebracht, die das instrumentelle Denken in satirischer Überspitzung dar- und bloßstellen: »Regenschirme aus Spitzbergen«, Spitzbärte oder Spritzen. Die Tatsache jedoch, dass der Chirurg nicht mit dem Skalpell, sondern mit der Schere arbeitet und sein Material nicht das Fleisch, sondern die Haut ist, eröffnet einen Gefahrenhorizont hinter der klinischen Szene des Schneidens. Zwar gehört die Schere, die der Chirurg in der Hand hält, zu Beginn des Textes noch zum Arsenal der klinischen Instrumente, und klar scheint sie vor dem Andrang des Traums zu schützen. Der chirurgische Begriff »Scherenschlag« wird den Verlockungen der Traumbilder entgegengehalten,41 und der Satz »Hier mußte der Schnitt enden – auf nach dort!«42 deklariert zunächst die völlige Unvereinbarkeit von Schnitt und dionysischer Entgrenzung. Doch mehren sich die Anzeichen für eine Störung. Nicht zufällig ist das Instrumentarium des Chirurgen zweifach angelegt. Es umfasst eine gerade Schere, die sich dem Willen des Operateurs unterwirft, aber auch eine gebogene

39 W. Benjamin: Das Kunstwerk, 496. 40 Gottfried Benn: »Querschnitt«, in: ders.: Prosa 1 (1910 – 1932), hg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1987 (Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3), 82 – 92, 83. 41 G. Benn: »Querschnitt«, 84. 42 Ebd., 83.

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Schere, die »von der gewollten Richtung wich«.43 Zumindest potentiell sind am Schnitt der Schere eine gerichtete wie eine ungerichtete Kraft beteiligt, das heißt ein Zugleich von Kontrolle und Eigenbewegung, Kontingenz und Steuerung im Spiel. Denn obwohl sich der Chirurg anfangs für die gerade Schere entscheidet, tritt die Logik des Supplementären in Kraft. Im ekstatischen Moment der Operation wird die Überlegenheit des Instruments über das Fleisch, die Differenz zwischen Materialbeherrschung und Materialverfallenheit, das heißt aber zuletzt der definierende und trennende Schnitt aufgegeben: Sicher aber lag der Operateur im Schlagen seines entzündeten Bluts. Er wandte sich wieder dem Kranken zu, und über seine Hände strömte es, Schnitt für Schnitt. Nahm er die Schere, griff er das Glied, es war ein Mischen und Sichtrennen, es war ein Stellen von Gebärden und ein Spiel im Schatten, wo die Glücke stehn. Die letzten Nähte: unter einem Bruch von Rosen, unausblühbar und sommerrot. Und nun die Fäden: abgeschoren: blätternd über des Querschnitts Drang […].44

Im Zuge der Operation vereinigt sich das Instrument mit seinen materiellen Gegenkräften. Die Hierarchie, die in der Opposition von Schnitt und Strom, Metall und Blut gesetzt ist, löst sich in der Tätigkeit eines heilenden oder nähenden Schneidens auf. Trennen wird nun zugleich als ein Verbinden, das Verbinden als ein Trennen vorgestellt. Der Parallelismus des Satzes »Nahm er die Schere, griff er das Glied« beseitigt den Gegensatz zwischen Körper und Instrument und rückt das Subjekt des Chirurgen an eine dem Prädikat untergeordnete Stelle. Das Schlagen der Schere – erinnert sei an den Begriff »Scherenschlag«, der zunächst einen klinischen Gebrauch der Schere bezeichnet hatte – verbindet sich nun untrennbar mit dem »Schlagen« des Blutes. Mithilfe der Schere soll die Reintegration des Schnitts in die Fülle des Stoffs wie der Textur gelingen und jene Fusion des Trennens und Verbindens,45 Schnitt und Vision eingeleitet werden, die sich Benn in seinen Texten auf problematische Weise zu erschreiben versucht.

Der Schnitt mit dem Küchenmesser Abschließend sollen die Schreibtische noch einmal verlassen werden und der Ausgangspunkt der Überlegungen noch einmal in den Blick genommen werden. Anhand einer bekannten Szene des Schneidens soll im Folgenden gezeigt werden, wie die Frage nach den spitzen Gegenständen abseits der Szene des 43 Ebd. 44 Ebd., 91 – 92. 45 Vgl. Ralph Ubl: Prähistorische Zukunft: Max Ernst und die Ungleichzeitigkeit des Bildes, München 2004, 54 – 62.

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Schreibens beantwortet wird. Denn während Benn den Traum von der Schere mit dem Stift verfolgte, arbeitete die Dadaistin Hannah Höch im Geiste weiblicher Haus- und Handarbeit. Sie erkannte Philines Erbschaft an und setzte jene paradigmatischen Bindungen außer Kraft, die die Schere auf der jeweils unterlegenen Seite der Oppositionen verortet hatten. Als Mitarbeiterin des Schnittmusterverlags Ullstein agierte sie im Zentrum und im Einverständnis mit den Produktionsbedingungen der Zuschneideindustrie der Weimarer Republik.46 In ihrer Arbeit Der Schnitt mit dem Küchenmesser Dada von 1921 legte sie eine Satire des einfachen Spitzen vor, die Philines Hinterlassenschaft euphorisch begrüßte. Bereits mit dem Titel ihrer Arbeit begibt sie sich auf den Kampfplatz spitzer Gegenstände. Im Kampf zwischen Messer und Schere bezieht sie doch nur eine ironische Position. Zwar besitzt auch das Küchenmesser Dada nur eine Klinge. Dennoch agiert dieses nicht mehr im Operationssaal einer medizinischen Anstalt oder in einem Labor. Als ein komödiantisches Gegenstück des Skalpells verrichtet es Hausarbeit an gemischten Waren und zwar dort, wo alles zusammen- und in einen Topf kommt: in der Küche. Anstatt Klarheit zu demonstrieren, setzt es auf eine kalkulierte Unordnung unter den Dingen und Geschlechtern, und das umso mehr, als bei der Herstellung der Weimarer Bierbauch Montage nicht das Küchenmesser, sondern die Schere zum Einsatz kommt. Hinter der komischen Maske des Küchenmessers tritt die Schere hervor und legt aufs Neue die Unentscheidbarkeit der Verhältnisse dar. Auch im Weimarer Bierbauch wird die Opposition von Trennung und Mischung neutralisiert. Bekanntlich arrangiert Höch in ihrer Papierarbeit das Personal der Weimarer Illustriertenlandschaft in einer Weise, dass sich Köpfe und Körper auf instabile Weise zu temporären Mischgebilden und quer zu politischen, künstlerischen und geschlechtlichen Zuordnungen zusammensetzen. Auf der Suche nach dem Messer im Bild findet man daher auch nur die Inkarnation der Schere vor. In der Mitte der Montage, in ihrem Drehpunkt oder organisatorischen Zentrum, treffen wir auf die ausgeschnittene Figur der Tänzerin Niddy Impekoven.47 In Beinstellung und Körperhaltung zeigt sich diese nicht nur als Repräsentantin eines zweifachen bzw. zweigespaltenen Geschlechts, sie zeigt sich als Verkörperung der Schere selbst. Mit ausgreifenden Gliedern und ohne Kopf bewirkt sie in der Mitte des Bildes nicht nur die euphorische Rotation des Materials auf der Fläche, sie tanzt auch den »Tanzschritt der Schere«, dem sie ihre Existenz wie ihre konstitutionelle Pluralität verdankt. 46 Ralf Burmeister (Hg.): Hannah Höch: Aller Anfang ist DADA!, Berlin 2007, 163 ff. 47 Gertrud Jula Dech: Schnitt mit dem Küchenmesser. Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands. Untersuchungen zur Fotomontage bei Hannah Höch, Münster 1981, 94. Zur Niddy Impekoven vgl. Siegfried Kracauer : »Niddy Impekoven im Film« (1924), in: ders.: Kleine Schriften zum Film 1, unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel und Sabine Biebl hg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt/Main 2004 (Werke, Bd. 6.1), 104.

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Schere und Tanz erfordern beide ein Öffnen und Schließen der Glieder, und wenn die Schere »leichte Tanzschritt[e]« macht, wie es in dem 1906 erschienenen Artikel von Heinrich Wolff mit dem Titel Die Sprache der Schere heißt,48 dann macht Höchs Tänzerin umgekehrt Scherenschritte. Die Gestalt der Schere wie die von ihr ausgeschnittene Figur werden in die rhetorische Figur des Chiasmus gefasst, die eine kreuzweise Anordnung antithetischer Glieder verlangt. Als eine symmetrisch-asymmetrische Figur besitzt sie in ihrer Mitte einen Kreuzungsund Wendepunkt, an dem sich die Antithesen ineinander übersetzen und ineinander verkehren. In eben dieser Weise öffnet sich die Schere, die noch um 1800 aus der Zeichenproduktion ausgeschlossen worden war, nun in den Zeichen selbst. Sie stellt sich ein, wenn Trennungsmacht in Frage steht und der Schnitt der Differenz den Abfall nicht los wird, den er erzeugt. Sie taucht aus der Vergessenheit auf, wenn sich die Moderne in klaren Schnitten selbst inszeniert und ihr Bild, ihre Geschichte und ihre Körper durch Einfügung deutlicher Abstände und sauberer Ränder gegenüber Früherem und Anderem abgrenzen. Zerstörend wie bei Musil, heilend wie bei Benn, spielerisch wie bei Hannah Höch setzt die Schere der Moderne die leitenden Gegensätze bürgerlicher Kunst und Kultur außer Kraft. In der Ordnung evoziert sie den Abfall, im Mann das Weib, in der Tiefe die Oberfläche, im Geist das Material, in der Eins die Zwei. Mit ihren zwei Messern, die sich, wie es in einem zeitgenössischen Lexikoneintrag heißt, »aneinander vorbeischneiden« und die sich wie die Beine einer Tänzerin gegeneinander bewegen,49 ohne eine definitive Trennung zu bewirken, setzt sie einen Pluralisierungsprozess in Gang, der den »unerbittlichen Binarismus des Paradigmas«50 außer Kraft setzt. An dieser Stelle entfaltet sie ihre »inbrünstige Aktivität«.51

48 Heinrich Wolff: »Die Sprache der Schere«, in: Zeitschrift für bildende Kunst, (1906), 22 – 25, 23. 49 Eintrag »Schere« in: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, Leipzig 151933, 575. 50 Vgl. Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesungen am CollÀge de France 1977 – 1978, hg. von Eric Marty, Texterstellung, Anmerkungen und Vorwort von Thomas Clerc, übers. von Horst Brühmann, Frankfurt/Main 2005, 33. 51 R. Barthes: Das Neutrum, 34.

Annegret Pelz

Mitte-Konstellationen um 1945 (Rehm, Sedlmayr, Auerbach)

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Nicht irgendwo in irgendeiner Mitte, sondern in der gefährlich inschüssigen Mitte-Mitte… Sibylle Lewitscharoff, Pong

In der antiken Astrologie und Messkunde richten die Menschen ihr Erkenntnisinteresse auf die Konstellationen am Himmel und gelangen durch astrologische Beobachtung und Ausdeutung in den Zustand des Wissens. Das Zeichengefüge am Himmel ist für den Ackerbau, die Schifffahrt und die Kriegsführung von Bedeutung, entscheidend ist jedoch die Wende zur Ethik. Ein wahrhaft Sternenkundiger wird nach Platon durch den Blick nach oben zugleich »unterwärts sehen« gemacht und die gewonnene Erkenntnis ist für das menschliche Handeln vor allem dann von Nutzen, wenn die Himmelszeichen nicht nur mit den Augen, sondern auch mit Vernunft geschaut werden, wenn also das, »was droben ist«, dem Menschen Einsicht in die Seele gibt und diese durch die Kenntnisse angeregt, gereinigt und in die Lage versetzt wird, entsprechend der geschauten Wahrheit zu handeln.1 Bei Aristoteles werden zwei Formen des kosmologisch gewonnenen Wissens (ethike theoria) unterschieden, die zusammen das richtige menschliche Handeln ausmachen: das kunstfertige Handwerkswissen der techne und der ethische Sinn für das Tun des Richtigen, die phronesis. Während die handwerkliche Könnerschaft beim Herstellen und Machen gegebenen Regeln folgt, geht die praktische Vernunft der phronesis dort, wo das regelgeleitete Können an seine Grenzen stößt, mit sich selber zu Rate. Für Hans-Georg Gadamer ist daher die phronesis »nicht so sehr ein bestimmtes Wissen, sondern ein Erwägen des Rechten in Bezug auf das Verhalten im praktischen Leben«.2 Weil diese Praxis * Der Beitrag basiert auf meiner am 22. April 2009 an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien gehaltenen Antrittsvorlesung über »Die Figur der Mitte. Zwischen Verlust und Neubeschreibung«. 1 Platon: »Politeia«, in: ders.: Lysis, Symposion, Phaidon, Kleitophon, Politeia, Phaidros, hg. von Ursula Wolf und übers. von Friedrich Schleiermacher, Reinbek 1994 (Sämtliche Werke, Bd. 2), 195 – 537, 436. 2 Hans-Georg Gadamer: »Einführung«, in: Aristoteles: Nikomachische Ethik VI, hg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/Main 1998, 1 – 18, 8.

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des Ratfindens und Erwägens nicht auf einem gesicherten Wissen basiert, sondern von der internen Entfaltung der Vernunft abhängig ist, gibt Aristoteles in der Rhetorik3, in der Poetik4 und in der Nikomachischen Ethik5 eine Fülle von Beispielen, in denen sich die gelebte Vernünftigkeit und das wissende Wählen des Tunlichen darin ausdrücken, dass die Mitte zwischen den Extremen gehalten wird. Demnach ist die Mitte kein sachlicher Wert, sondern eine Haltung, die immer als das Ergebnis einer Entscheidung oder einer Wahl des phronimus zustande kommt, der die Extreme meidet:6 Eine vernünftige ethische (virtutes) und sprachliche (virtutes dicendi) Praxis kennt weder Übermaß noch Mangel, sie hält die kosmische und menschliche Gesamtordnung gegen den Hang zum Exzess und zur Unordnung im Gleichgewicht. Dieser moralphilosophische, alltagspragmatische und ästhetische Dialog zwischen dem »bestirnte[n] Himmel über mir« und dem »moralische[n] Gesetz in mir«7 zerfällt in der Moderne. Hannah Arendt erklärt das Verschwinden von Theorie im ursprünglichen Sinn einer kontemplativ erschauten Wahrheit mit der neuzeitlichen Verkehrung von vita contemplativa und vita activa, in der es außerhalb der selbst hergestellten keine objektive Wahrheit mehr gibt, weshalb die Menschen mit einem Gefühl des Unheimlichen zu den eigenen Apparaten und Geräten aufschauen, die ihnen vom bestirnten Himmel entgegenleuchten.8 Mit dem Zusammenbruch der stabilen dyadischen Subjekt-Objekt-Relation wird auch die Mitte zum Problem. Hatte diese bislang als konstituierendes Drittes die Einheit zwischen den binär aufeinander bezogenen Größen Mensch und Kosmos vermittelt und gewährleistet, greift jetzt der »Effekt des Dritten«, 3 Aristoteles: Rhetorik, übers., mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke, München 41993, 3. Buch, 2. u. 7. Kapitel, 169 – 173, 181 – 183. 4 In Kap. 7 der Poetik heißt es über die Teile der Tragödie »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. […] Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht.« (Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1991, 25.) Dieselbe Struktur gilt auch für die erzählende Dichtung (vgl. Kap. 23 ebd.). 5 Vgl. insb. 2. Buch, Kap. 5 – 9 (Aristoteles: Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch, neu hg. von Rainer Nickel, übers. von Olof Gigon, Düsseldorf, Zürich 2001, 71 – 89). 6 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 73: »So wird also jeder Fachmann Übermaß und Mangel meiden und die Mitte suchen und wählen, die Mitte aber nicht der Sache nach, sondern in Bezug auf uns.« Vgl. auch: Jan van der Meulen: Aristoteles. Die Mitte in seinem Denken, Meisenheim 1951. 7 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1974 (Werkausgabe, Bd. 7), A 289. 8 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben (1958), München, Zürich 111999, 7 f. Walter Benjamin machte die Entfaltung der Technik und die damit einhergehende Erfahrungsarmut für das in der Weimarer Republik gesteigerte Interesse an der Astrologie verantwortlich. Zu Kritik und Diskursivierung der ewigen Konstellationen am bestirnten Himmel um 1930: Eckhart Goebel: Konstellation und Existenz. Kritik der Geschichte um 1930: Studien zu Heidegger, Benjamin, Jahnn und Musil, Tübingen 1996.

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der sich Koschorke zufolge einstellt, wenn die »intellektuelle[n] Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird.«9 Diese als »Explosion«10 wahrgenommende Verunsicherung des kosmologisch gewonnenen Wissens über die gelebte Vernünftigkeit vollzieht sich Anfang des 20. Jahrhunderts parallel zu einem Prozess, in dem das auf Deutung und Verständnis irdischer Konstellationen ausgerichtete Wissen der Kulturwissenschaften an Bedeutung gewinnt.11 Seither ist die nur durch Deutung und Interpretation zu »ermittelnde« Mitte die Suchfigur einer Interpretationsgemeinschaft, der die Fähigkeit, sich über die Lektüre von Himmelskonstellationen auf ihre Werte zu verständigen, abhanden gekommen ist.

Gegenwärtige »Renaissance der Mitte« Auch in der gegenwärtigen »Renaissance der Mitte«12 vollführen die bürgerliche Mitte,13 die »pulverisierte« Mitte Griechenlands14 und auch die Demonstranten, die sich während des arabischen Frühlings in den städtischen Zentren versammeln,15 Suchbewegungen in einem geopolitischen Gefüge, dessen ›Mitte‹ sich seit 1989 und durch den wirtschaftspolitischen Aufstieg Chinas ostwärts verla9 Albrecht Koschorke: »Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften«, in: Eva Eblinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, 9 – 31, 11. 10 Vgl. John Willett: Explosion der Mitte. Kunst + Politik 1917 – 1933, aus dem Englischen von Benjamin Schwarz, München 1981 und Claudia Maurer Zenck (Hg.): Der hoffnungslose Radikalismus der Mitte. Briefwechsel Ernst Krenek – Friedrich T. Gubler 1928 – 1939, Wien, Köln 1989. Sedlmayr beschreibt das negative Prinzip der geistigen Einheit der Moderne als »Explosion«: Sedlmayr : »Zur vierten Auflage (1951). Vier Arten der Kunstbetrachtung«, in: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. Und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Mit einem Nachwort von Werner Hofmann, Gütersloh o. J., 287 – 293, 288. 11 Zur kulturwissenschaftlichen Karriere vgl. Andrea Albrecht: »Konstellationen. Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrologisch-astronomischen Konzeptes bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim«, in: Scientia Poetica, 14 (2010), 104 – 149, 119 f. 12 Vgl. Harald Bodenschatz (Hg.): Renaissance der Mitte. Zentrumsumbau in London und Berlin, Berlin 2005. (=Schriften des Schinkel-Zentrums für Architektur, Stadtforschung und Denkmalpflege der Technischen Universität Berlin, 2) 13 Vgl. Hilmar Klute: »Bahnhofsmission. Am Anfang ging es um Abriss und Aufbau, um Gleise und Züge. Mittlerweile ist der Protest gegen das Projekt Stuttgart 21 zu einem Aufstand des Bürgertums geworden. Die Mittelschicht macht Politik, weil sie die Politik der Parteien ablehnt«, in: Süddeutsche Zeitung (21. 09. 2010), 3. 14 So Kai Strittmatter über die Leere und Ratlosigkeit in »Athen nach der Wahl. Griechenland ist bankrott – aber die Instinkte leben weiter«, in: Süddeutsche Zeitung (07. 05. 2012), Politik. 15 Zu den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz vgl. Burkhard Müller : »Ein guter Platz ist wie ein Druckkochtopf«, in: Süddeutsche Zeitung (08. 02. 2011), 11.

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gert.16 Selbst die Linke, der die Mitte immer suspekt gewesen ist, einfach »zu quietistisch und ideologieverdächtig«, wie Wolfgang Kraushaar schreibt, schließlich war sie mit dem juste milieu und dem Begriff des Mittelmaßes belegt17 und wurde von Marx zum Revolutionsblockierer erklärt,18 befragt diese auf ihre terminologische Zulässigkeit im sozialwissenschaftlichen und politischen Diskurs. Auch die Antipathie, die in dem barocken Bonmot Friedrich Logaus »In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod« ihre Zuspitzung gefunden hatte, scheint zu schwinden.19 Flankiert wird die aktuelle Debatte vom Feuilleton, das die seit Nietzsche ausformulierte Verachtung des Mittelmaßes für dumm erklärt und fragt, wie es passieren konnte, dass so etwas Vortreffliches wie das goldene Mittelmaß: die Großmut zwischen Geiz und Verschwendung, die Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit, in solchen Verruf geraten konnte.20 Die europäische Hochschulpolitik wiederum privilegiert die Extreme und möchte den Weg »vom Mittelmaß zur Exzellenz« gehen,21 »um den Geisteswissenschaften einen Platz in der gesellschaftlichen Mitte zu sichern«22 und den zusehends durch neue Formen der Wissenszirkulation in Frage gestellten Universitäten ihre Erklärungs- und Orientierungsfunktion zurückzuerstatten.23 16 Karl Schlögl: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, Frankfurt/Main 2008. Für den Slawisten Karl Schlögl steht die Renaissance der Zentren in direktem Zusammenhang mit den Ereignissen um 1989. Nach der Aufhebung der Spaltung Europas wird die Diskussion über die europäische Mitte nicht mehr virtuell geführt, was eine Neubeschreibung erfordert. 17 Vgl. Wolfgang Kraushaar : »Zur Topographie der Mitte«, Vortragsmanuskript vom 7. Februar 2011. Vortragsreihe im Hamburger Institut für Sozialforschung zum Thema »Gefährdung der Mitte? Soziale und politische Unsicherheiten in der Gegenwartsgesellschaft« mit Beiträgen von: Ulrich Bielefeld: »Mitten in Europa. Varianten und Konflikte europäischer Selbstthematisierungen«; Jens Hacke: »Politische Bürgerlichkeit. Gibt es eine Ideologie der Mitte?«; Berthold Vogel: »Der Abschied von der Mitte, die wir kannten? Neue Konturen der Arbeitswelt, veränderte Formen des Wohlfahrtsstaates«; Karin Jurczyk: »Familie als Mitte, Familie in der Mitte? Gesellschaftliche Verschiebungen«. Ich danke für die Überlassung der Vortragsmanuskripte. 18 Vgl. Herfried Münkler : »Mitte als Revolutionsblockade: Marx’ Kritik des Kleinbürgertums«, in: ders.: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010, 128 – 135. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Burghard Müller : »Ab durch die Mitte. Ob Gesellschaft, Wirtschaft, Politik oder Kultur: Unsere Zeit verachtet wie keine Epoche zuvor das Mittelmaß. Und diese Haltung ist nicht nur mittelmäßig – sondern auch ziemlich dumm«, in: Süddeutsche Zeitung (19./20. 02. 2011), Wochenende. 21 »Wohin gehen Österreichs Hochschulen: vom Mittelmaß zur Exzellenz?«, Sektionsthema mit Christoph Kratky, Präsident des Österreichischen Forschungsfonds, beim Dialogforum des Österreichischen Forschungsfonds am 6. März 2008. 22 Carl Friedrich Gethmann, Dieter Langewiesche, Jürgen Mittelstraß, Dieter Simon, Günter Stock: Manifest Geisteswissenschaft, hg. vom Präsidenten der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2005, 4. 23 Zur Zukunft der Wissenszirkulation vgl. Jean FranÅois Lyotard: »Man kann vernünftigerweise annehmen, dass die Vervielfachung der Informationsmaschinen die Zirkulation der Erkenntnisse ebenso betrifft und betreffen wird, wie die Entwicklung der Verkehrsmittel

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Gesellschaftspolitisch lassen sich diese Anzeichen eines Dynamisierungsgeschehens um die Mitte als die notwendige Neuvermessung eines seit der Französischen Revolution etablierten Rechts-Links-Gegensatzes deuten, in dem sich die bürgerliche Mitte als konservatives, sozial egalitäres Projekt gegenüber einer fortschrittlichen Geschichtsvorstellung positioniert hatte.24

Ästhetik der Mitte Auch in ästhetischer Perspektive war die Französische Revolution der Auslöser, jedoch nicht für einen stabilisierenden, sondern für einen destabilisierenden Prozess, in dem die moderne Kunst von der Mitte fortstrebt, exzentrisch wird und im Grunde »gar nicht mehr Kunst sein will.«25 Seit der »ungeheuere[n] innere[n] Katastrophe« der Französischen Revolution sieht der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr die moderne Kunst zwischen zwei Extremen befangen, die mit Kunst nichts zu tun haben und die entweder von der Mitte zur absoluten Form (Malewitsch) oder, wie bei Duchamps, zum absoluten Ding streben.26 In beiden Optionen sieht Sedlmayr den Verlust von etwas, das für ihn das Wesen der Kunst ausmacht: »etwas Ganzheitliches, Unspezialisiertes und Unzerspaltenes, eine Verbindung verschiedener Seinsschichten und -bereiche, die dem ›modernen‹ Geist nur als unsaubere Vermischung erscheinen kann«.27Sedlmayr verfasste die in Verlust der Mitte zusammengestellten und 1948 publizierten Aufsätze in den Jahren 1941 bis 1944. Ein Jahr zuvor waren die (zwischen 1940 und 1943 entstandenen) geistes- und literaturgeschichtlichen Studien des Freiburger Germanisten Walter Rehm zum experimentum medietatis erschienen28 und zur gleichen Zeit, zwischen 1942 und 1945, schrieb der Philologe und Kulturwissenschaftler Erich Auerbach im Istanbuler Exil an seinem Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Kultur, das 1946 im Berner Francke-Verlag erschien.29 Alle drei auf sehr unterschiedliche Weise mit der

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zuerst den Menschen (Transport) und in der Folge die Klänge und Bilder (Medien) betroffen hat.« Vgl. http://www.artnet.de/magazine/jeanfrancois-lyotards-asthetik-des-undarstellbaren-1/ (Zugriff 12. 05. 2012). H. Münkler : Mitte und Maß, 111. Vgl. Hans Sedlmayr : Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, Salzburg 1948, 7, 150 und Hans Sedlmayr : Die Revolutionen der modernen Kunst, mit einem Nachwort hg. von Friedrich Piel, Köln 1985, 140. H. Sedlmayr : Revolutionen, 136. Ebd., 141. Walter Rehm: Experimentum medietatis. Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1947. Einzelne Beiträge dieses Bandes wurden erstmals 1940 im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts veröffentlicht. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen und Basel 91994.

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Ästhetik der Mitte befassten Werke entstanden zwischen 1941 und 1945 unter den extremen Bedingungen des »Katastrophenzeitalters« (Eric Hobsbawm), ohne dass die Verfasser untereinander in Verbindung standen.30 Das darin zum Ausdruck gebrachte Interesse an dem unbestimmten Wissen der Mitte korrespondiert mit einer Zeitstimmung, die Hans Ulrich Gumbrecht unlängst als eine nach 1945 nicht greifbare und doch präsente Stimmung der Latenz beschreibt, als eine Stimmung, die neutralisierend gegenüber der irreversiblen Zerstörung des Krieges wirkt und die von der Erwartung oder Hoffnung gekennzeichnet ist, dass das Latente hervortreten und sich zeigen möge.31 Dieser Beitrag geht von der These aus, dass die Mitte um 1945 eine weitere zeittypische Latenzfigur darstellt. Er skizziert anhand der drei Werke die Eckpunkte einer Auseinandersetzung eines Interesses an den ethisch-ästhetischen Implikationen der Mitte, die sich bei Rehm als Leere und Abgrund, bei Sedlmayr als Verlust und bei Auerbach in Gestalt konstellativer Gefüge zeigt.32 30 Einzelne Fußnoten in späteren Auflagen zeugen von einer nachträglichen Kenntnisnahme. Walther Rehm: Heinrich Wölfflin als Literaturhistoriker, München 1960, 103 – 134, enthält unveröffentlichte Briefe des Münchener Philologen und Literaturhistorikers Michael Bernays, die »[v]orgelegt [wurden] von Hans Sedlmayr am 8. 7. 1960«. Sedlmayr verweist 1951 auf Rehms Experimentum medietatis, in: Hans Sedlmayr : »Vier Arten der Kunstbetrachtung«, Nachwort zur vierten Auflage (1951), in: Verlust der Mitte. Gütersloh o. J., 291. Sedlmayr wurde außerdem durch Walther Rehms »Kierkegaard und der Verführer« (1949) zu seinem Aufsatz »Kierkegaard über Picasso« angeregt, der 1950 in Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur, Bd. 5, 356 – 370, erschien. Sedlmayrs »Einleitung: Was ist ›moderne Kunst‹?« in Hans Sedlmayr : Die Revolution der modernen Kunst, 8 (FN 1) enthält einen Hinweis auf Erich Auerbachs »Vier Untersuchungen über die Geschichte der französischen Bildung« (1951). Auerbach verweist lediglich auf die Schwierigkeit, ein vergleichendes europäisches Werk während des Krieges in einer nicht entsprechend ausgestatteten Exilbibliothek zu schreiben. Auch die von Karlheinz Barck und Martin Treml herausgegebenen Studien zu Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin 2007 enthalten keinen Hinweis auf eine spätere Kenntnisnahme der Sedlmayr-Werke durch Auerbach. 31 Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, aus dem amerikanischen Englisch von Franz Born, Berlin 2012, 34 ff. 32 Die drei Werke wurden schon in den 50er Jahren nebeneinander rezensiert. Vgl. Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 4 (1950), H. 2: Joachim Felix Hoppenstedt: »Dämonie der modernen Kunst? Rezension zu: Hans Sedlmayr : Verlust der Mitte«, 225 – 229 und Karl August Horst: »Kierkegaard und der Verführer. Rezension zu: Walther Rehm: Experimentum medietatis«, 229 – 233. Hoppenstedt folgt Sedlmayr in der Diagnose gestörter Proportionen nach dem Übergang vom theozentrischen zum anthropozentrischen Stil und kritisiert die mangelnde Rezeption von Heideggers Existentialismus. Karl August Horst vergleicht Rehms Kierkegaard-Lektüren mit Adornos Habilitationsschrift und lobt die Genauigkeit, mit der dieser das »Problem Kierkegaard« von der philologischen und existentiellen, nicht philosophischen Seite her angeht. K[arl] A[ugust] H[orst] zeichnet seine Rezension von Auerbachs Schriften mit dem Titel »Ambulante Literaturbetrachtung« in Merkur, 6 (1952), H. 5, 482 – 484, nur mit seinen Initialen und kritisiert massiv »sozialistische Untertöne«, mangelnde Differenzierung des Geschichtsbewusstseins, die Schwäche des Deutungsmittels Stilanalyse und vor allem den kulturwissenschaftlichen Ansatz. Auerbach

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Poetischer Nihilismus – leere Mitte (Rehm) Die moderne Ästhetik einer unbestimmten, leeren, schwebenden und dynamischen Mitte wurde im 18. Jahrhundert ausformuliert.33 Friedrich Schlegel schreibt im Gespräch über Poesie »Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war«.34 Schlegel entwickelt im 116. Athenaeum-Fragment die Idee einer progressiven Universalpoesie, die »frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben«35 könnte. Ähnlich begreift Schelling die »gemischte Natur« in Dantes Göttlicher Komödie, deren »Stoff bald erhabener, bald niedriger ist«, in ihrer »Allgemeingültigkeit und Urbildlichkeit für die ganze moderne Poesie«.36 Friedrich Hölderlin verbindet das Ideal der Mitte mit der Idee einer produktiven ästhetischen Gemeinschaft, die das Dissonantische auflöst und ein Quell künstlerischen Schaffens ist,37 und Goethe charakterisiert den Kreis seines Mittwochskränzchens als einen »interessanten Mittelzustand, welcher teils peinlich, teils erfreulich ist« und in dem sich die Teilnehmer »weder auf Erden, noch im Himmel, noch in der Hölle«38 befinden. Die Figur des ehemaligen Geistlichen Mittler und dessen moralisch-sittlicher Monolog über menschliche Gebote und Verbote in Die Wahlverwandtschaften ist außerdem als die bedeutende »Dazwischenkunft eines Dritten«39 angelegt. In der Diskussion

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nennt diese Besprechung zu Recht eine »unfreundliche und unerfreuliche Rezension« und wehrt sich insbesondere gegen die Behauptung, Mimesis sei besonders im Ausland viel diskutiert und gelobt worden. Erich Auerbach: »Epilegomena zu Mimesis«, in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, 466 – 479, 477, vgl. ebd. Petra Boden zu »Korrespondenzen und Kontroversen zur Mimesis«: »Philologie als Wissenschaft«, 125 – 152. Zur Nicht-Wahrnehmung des Auerbach-Werkes in den 50er Jahren vgl. Helmut Peitsch, Helen Thein-Peitsch (Hg.): Walter Boehlich: Kritiker, Berlin 2011, 103. Vgl. Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans (Hg.): Mitte. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Konzepte, Essen 2006. Friedrich Schlegel: »Rede des Ludovico über die Mythologie«, in: Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, 190. Friedrich Schlegel: »Athenäums-Fragment Nr. 116«, in: ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796 – 1801), hg. von Ernst Behler, München, Paderborn, Wien 1967. Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, I. Abteilung: Kritische Neuausgabe, Bd. 2, 182 f. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »Über Dante in philosophischer Beziehung« (1803), in: Kritisches Journal der Philosophie, Leipzig 1981, 413 f. Vgl. Rüdiger Görner : Hölderlins Mitte. Zur Ästhetik eines Ideals, München 1993, 12. Nicolas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit. Band II: 1790 – 1803, München 1999, 874; Rüdiger Safranski: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, 16. Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, hg. von Ernst Beutler, Zürich, Stuttgart 21962 (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 9, 15). »Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten« ist das Motto des Gradiertenkollegs Die Figur des Dritten, das Goethe zu den Meistern erotischer und familialer

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um die Laokoongruppe schließlich kulminiert der Streit um das richtige Maß der medialen Repräsentation zwischen sublimem Seufzen und unverstellt realistischem Schrei.40 Dieser hier lediglich angedeutete, weit gespannte klassischidealistische Mitte-Diskurs umfasst Hegels Begriff der »schwebenden«, »gebrochenen«, »gedoppelten Mitte« als Einheit zweier Extreme,41 Wilhelm von Humboldts Thesen Über den Geschlechtsunterschied (1794) als unbeschränkte schöpferische Wechselwirkung von männlicher Energie und weiblicher Ausdauer42 bis hin zu Winckelmanns Gesetz der Mitte als Leitkategorie der klassizistischen Ästhetik. Ausgangspunkt von Winckelmanns Ästhetik der Mitte ist die vom Gesetz der Mitte geprägte Seele der Griechen und die von einem mittleren gemäßigten Klima geprägte griechische Kunst und Kultur.43 Klassische Schönheit begreift Winckelmann als das »Mittel von zwei extremis«, die Abstand zu den Extremen halten, es kann von dieser aber »leichter […] gesaget werden, was sie nicht ist, als was sie ist«.44 Walter Bosshard bemerkt daher, dass Winckelmann bei allem Lob des Griechischen fast ausschließlich mit verneinenden Begriffen operiert, so dass die Mitte in begrifflicher Negation nur als das »Un-Bestimmte« und »UnBezeichnete« gefasst werden kann.45 Dennoch ist die Mitte bei Winckelmann nicht leer, sondern ein mit dem ästhetischen Potential der Extreme aufgeladener, harmonischer Zusammenklang kontrastierender Elemente.46 Man hat es mit Kompositions- und Mischverfahren zu tun47 oder mit dem schwer zu bestimmenden Term der »Unbezeichnung«, der für Walther Rehm, den Herausgeber der ästhetischen Schriften Winckelmanns und seiner Briefe (1952 – 57),48 den griechischen Stil kennzeichnet. Die Unbezeichnung hält »das Gesicht und den Stand der Götter und Helden [frei] von inneren Empörungen in einem Gleich-

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Triangulierung der neueren Literatur zählt. Vgl. http://www.uni-konstanz.de/figur3/prg1. htm (Zugriff 29. 7. 2012). Vgl. Inka Mülder-Bach: »Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz ›Über Laokoon‹«, in: Inge Baxmann, Michael Franz, Wolfgang Schäffner (Hg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, Berlin 2000, 465 – 479. Vgl. Jan van der Meulen: Hegel. Die gebrochene Mitte, Hamburg 1958. Wilhelm von Humboldt: »Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur« (1794), in: ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, hg. von Andreas Flitner, Klaus Giel, Berlin 1960 (Werke in fünf Bänden, Bd. 1), 284 – 287. Vgl. Walter Bosshard: Winckelmann. Ästhetik der Mitte, Zürich, Stuttgart 1960, 9; vgl. Peter Brandes: »Die ›gemäßigte Witterung‹ der Kunst. Ästhetik der Mitte um 1800«, in: K. Röttgers, M. Schmitz-Emans: Mitte, 75 – 87. W. Bosshard: Winckelmann, 19, zitiert Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, Dresden 1764, 45. W. Bosshard: Winckelmann, 141 f. W. Bosshard: Winckelmann, 34. P. Brandes: »Die ›gemäßigte Witterung‹«, 80. Johann Joachim Winckelmann: Briefe I – IV, in Verbindung mit Hans Diepolder hg. von Walther Rehm, Berlin 1952 – 1957.

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gewichte des Gefühls und [stellt dieses] mit einer friedlichen, immer gleichen Seele vor«.49 Dieser an Platon geschulte Blick Winckelmanns auf die maßvoll gestaltete antike griechische Götterplastik entspricht Rehm zufolge einem Humanitätsideal, das durch die Harmonisierung der Leidenschaften und des Materials in der Betrachtung veredelnd wirkt. Dieser durch Winckelmann gestiftete Glaube an den überzeitlich gültigen Wert humaner Existenz gerät nach 1945 in die Krise. Der Humanismus war, wie in der Dialektik der Aufklärung (1947) beschrieben, geschichtsphilosophisch seiner Arglosigkeit beraubt.50 Walther Rehm, bedeutender Vertreter des an der Klassik orientierten akademischen Humanismus,51 zeichnet im Vorwort seiner zwischen 1937 und 1942 erarbeiteten und ab 1952 publizierten Briefedition das Bild von Winckelmann als einem gelehrten Schriftsteller und Humanisten, der sich von der pedantisch-scholastischen Universitätstradition abgewandt hatte, der sein Publikum, seine Geltung, seinen Ruhm bei der gebildeten Öffentlichkeit und bei der Welt suchte und der sich »als Angehöriger einer humanistischen sodalitas und nobilitas fühlen konnte«, der aber dennoch »immer wieder durch die materielle Bindung und durch die Tatsache der Dienstleistung bei den »›Großen‹ gedämpft«52 wurde. Rehm, der sich »in den Jahren des Nationalsozialismus […] ostentativ der literarischen Gestaltung des unheroischen, schwermütigen und glaubensangefochtenen Menschen zu[gewandt hatte]«,53 und der, nachdem er im Laufe der 1930er Jahre wiederholt in Konflikt mit 49 Walther Rehm: Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung, Bern, Salzburg 1951 (Lizenzausgabe), 105 f. 50 Vgl.: »[…] wie in der Geschichte bisher stets das Humane gerade und allein am Barbarischen gedeiht, das von Humanität verhüllt wird.« Max Horkheimer, Theodor Wiesengrund Adorno: Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), Frankfurt/Main 16 2006, 83. 51 Zu Rehms geisteswissenschaftlich und nicht politisch argumentierendem Humanismus vgl. Barbara Stiewe: Der »Dritte Humanismus«. Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus, Berlin, New York 2011, 32 f. Zur Funktion der Klassik bei Walther Rehm vgl. Peter Philipp Riedl: Epochenbilder, Künstlertypologien, Frankfurt/Main 2005, insb. 685 – 687; Michael Schlott: »Wertkontinuität im Werkkontinuum. Die Funktion der ›Klassik‹ bei Walther Rehm«, in: Wilfried Barner, Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt/ Main 1996, 171 – 181 und Ernst Osterkamp: »Klassik-Konzepte. Kontinuität und Diskontinuität bei Walther Rehm und Hans Pyritz«, in: ebd., 150 – 170. 52 Johann Joachim Winckelmann: Briefe I – IV, Bd. 1: 1742 – 1759, in Verbindung mit Hans Diepolder hg. von Walther Rehm, Berlin 1952, 11. Vgl. auch Walther Rehm: »Winckelmanns Lebensform und Selbstbildnis in seinen Briefen«, in: Walther Rehm, Ernst Heidrich, Arthur Schulz (Hg.): Beiträge zur Gestalt Winckelmanns, Berlin 1958, 9 – 41. 53 Conrad Wiedemann: »Rehm, Walther«, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 21, Berlin 2003, 283 ff. Vgl. auch http://www.deutsche-biographie.de/sfz104827.html (Zugriff 24. 06. 2012). Wiedemann verweist hier auf Gießener Hochschulakten, wo Rehm zwischen 1938 und 1943 Ordinarius gewesen ist, und in denen Rehms anhaltende politische Schwierigkeiten dokumentiert sind.

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Behörden und NS-Dienststellen geraten war, 1942 der NSDAP beigetreten und ein Jahr später von seinem Lehrstuhl in Gießen nach Freiburg berufen worden war,54 skizziert das humanistische Dasein Winckelmanns als von einem Missverhältnis zwischen geistiger Ungebundenheit und der Erfahrung bestimmt, dass die innere Ungebundenheit des Geistes die äußere nicht hat nach sich ziehen können und dass ein Leben »ohne Anlehnung und Bindung an die ›Großen‹ nicht möglich« war.55 Insbesondere die in dreizehn römischen Jahren verfassten Briefe zeigen nach Rehm, dass es Winckelmann in Rom zwar gelang, die »ihm gemäße Freiheit« zu bewahren, er sich aber »durch das Schicksal und durch die Umstände genötigt [sah], sich in das soziale und gesellschaftliche Gefüge eines klerikalen und grandseigneuralen Staatswesens einzufügen«.56 Die Folge dieser Abhängigkeit, d. h. Winckelmanns Übertritt zur katholischen Kirche und die »Begleitumstände, unter denen der Übertritt in seinen sächsischen Jahren, 1754 sich vollziehen mußte« erscheinen bei Rehm als »geheime, nie ganz vernarbte Wunde seines [Winckelmanns] Lebens«.57 In Rehms eigenen Studien zur Ästhetik der Mitte, die 1947 unter dem Titel Experimentum medietatis. Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts erschienen, ist die Mitte daher kein unsignifiziertes, herausforderndes schöpferisches Ideal mehr, sondern besetzt und ausgefüllt durch die vermessene Selbstbemächtigung des modernen Ich. Die Entscheidung für die Mediokrität im Sinn eines wohldosierten, bescheidenen Mittelmaßes und damit für einen zwar grauen und blassen, aller ästhetischen Pracht entbehrenden Weg, der sich »fern den Abgründen [hält], die von rechts und von links drohen«,58 die Felix Weltsch, der mit Kafka und Brod befreundete Prager Jurist, Bibliothekar, Philosoph und Journalist, in seinen Beiträgen zur Ethik und Politik der Zeit vor 54 Hans Peter Herrmann: Art. »Rehm, Walther«, in: Christoph König, Birgit Wägenbaur (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800 – 1950, Bd. 3, Berlin, New York, 2003, 1473 – 1475 weist auf die persönlichen und beruflichen Schwierigkeiten Rehms nach 1933 hin, die vor allem in seiner »auch auf dem Katheder geäußerte[n] Gegnerschaft gegen das NS-Regime und dessen Weltanschauung« begründet seien. 1940 verweigert Rehm die Mitarbeit am germanistischen Prestigeprojekt zum ›Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften‹. Vgl. dazu Bernhard Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten 1933 – 1945. Eine Ausstellung des deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, 2 Bde., Bd. 1, Marbach 1983, 282 f.; zu Rehms Position im Nationalsozialismus s. Hans Peter Herrmann: »Germanistik – auch in Freiburg eine ›Deutsche Wissenschaft‹?«, in: Eckard John (Hg.): Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg, Würzburg 1991, 115 – 150; Gerhard Kaiser: Grenzverwirrungen – Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, Berlin 2008, 104. 55 J. Winckelmann: Briefe I – IV, Bd. 1, 14. 56 Ebd. 57 Ebd., 12. 58 Felix Weltsch: Das Wagnis der Mitte. Ein Beitrag zur Ethik und Politik der Zeit, MährischOstrau o. J. [1936], 9.

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1945 noch als »Wagnis« verstanden hatte, erscheint dem Germanisten Walther Rehm nach 1945 als ein mit dem Absturz in die Hölle geendeter anthropozentrischer Versuch. Rehm liest die literarischen Werke der Moderne als Ausdruck eines »großen geistig-sittlichen Kampfes zwischen Weltverneinung und Weltbejahung«59 und erklärt die irreligiöse menschliche Selbstbemächtigung mit Augustinus und Pascal als gescheitertes Experiment eines radikalen Welt- und Selbstglaubens, das in der Erkenntnis der Kluft »zwischen dem Gut, das sie [die Seele] verlassen, und dem Übel, das sie angerichtet [endet]. Erschöpft, entleert von aller Kraft vermag sie die Umkehr nicht ohne die Gnade ihres Schöpfers, der sie zur Buße ruft und ihr die Schuld vergibt.«60 Die vergleichende Studie zum dichterischen Realismus bei Jean Paul, Dostojewski, Gontscharow, Kierkegaard, Jacobson, die von Walter Muschg (1948) für die Sprengung der nationalen und sprachlichen Grenzen in der Literaturforschung gelobt wird,61 versteht die gähnende Leere, den zerstörerischen, ichsüchtigen Zweifel und das verzweifelte Nichtmehrglaubenkönnen als Folge der Selbstsetzung und Entmächtigung Gottes. Die Werke der Dichter markieren den aus dem experimentum in den unendlichen Abgrund führenden Weg, an dem die Menschen seit der Romantik und seit Baudelaire schaudernd stehen.62 Insbesondere Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei ist als Dokument einer religiösen Erschütterung zu lesen: Die gewaltig gelockerte, unendliche und nie sich bestimmende Phantasie Jean Pauls ist an sich bereits gewohnt, kosmisch zu fühlen und zu sehen; sie läßt nicht nur die Welt und die Sonne, sondern – mit der Mehrzahl – auch Welten und Sonnen in ihrem dichterischen Spielraum, d. h. in dem »Gauklerreich des Traums« sich bewegen und kreisen. Solche Phantasie erblickt die Welt dann als sausende Kugel im unermeßlichen Weltall und richtet aus der wünschenden, verwandelnden Kraft des Traums ihre ungezügelte Gewalt darauf, sich die verfremdende Auflösung und Ver-Nichtung der göttlichen Welt vorzustellen.63

Ein aufgeklärtes und säkularisiertes Ich besitzt demnach zwar die prometheische Macht, sich selbst zu setzen, nicht aber das Vermögen, das begonnene gefährliche Spiel wieder abzusagen, so dass es unweigerlich in die Mitte einer gefräßigen und unheimlichen Leere rückt. Der Schauder, mit dem Jean Paul das Bild des Abgrunds und das Grundlos-Unfeste in seinen Bedeutungsmöglichkeiten auslotet, und die Sinnbilder, mit denen die Traumgedichte den Unglauben 59 Vgl. Walther Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928, 117, vgl. P. Riedl: Epochenbilder, 127. 60 W. Rehm: Experimentum, 7 f. 61 Walter Muschg: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 82 (1948), H. 1.2, 46 – 53. 62 Vgl. W. Rehm: Experimentum, 10 ff. 63 Ebd., 12.

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beschwören, beschreiben ein existentielles Spiel mit dem Nichts, das in die neue Gottlosigkeit des Weltalls vorrückt und die Trauer und Einsamkeit des Ungläubigen gegen die metaphysische Freude des Gläubigen setzt. Dieses Erleben der verödeten Gottlosigkeit des Weltalls bewegt sich nach Rehm in der Tradition einer langen abendländischen Einheitsaufspaltung ästhetisch im Rückgriff auf Shakespeare, der für Jean Paul der erste tragische Experimentator des neuzeitlichen experimentum medietatis ist. In den Bildern, die bei Jean Paul zwischen Schöpfungsmacht und trostloser Leere, Ödnis und Auszehrendem schillern, ist das experimentum medietatis der Ausdruck eines kosmisch geweiteten poetischen Nihilismus, dem das All und die Welt zum Spielraum wird.

»Verlorene« und »rechte« Mitte (Sedlmayr) Mit Hans Sedlmayr nimmt die existentielle Abwesenheit der Mitte eine apokalyptische Wendung. Der Kunsthistoriker stellt der Moderne eine »Diagnose der Zeit […] von der Kunst her« und deutet den Verlust der Mitte (1948) als ›Symptom‹ für den Krankheitszustand der Epoche. Demnach mangelt es an einer zentralen stilbildenden Instanz64 und an einem direkten Zugang zum Kunstwerk, der durch die abstrakte Beschränkung auf das Formale verstellt ist.65 Die Moderne bildet »kritische«, radikal neue künstlerische Formen aus, wie den englischen Landschaftsgarten, die Grab- und Denkmalarchitektur des Revolutionsarchitekten Ledoux, die Stilisierung von Museen und Theatern zu »Tempel [n] der Kunst«, die Ausstellung als den stärksten symbolischen Ausdruck des kapitalistischen Zeitalters und den Umbau der Fabriken zu Wohnhäusern von Maschinen.66 Diese Befundkonstellation führt Sedlmayr auf den Verlust einer strukturierenden Zentralaufgabe zurück, die wie einst die gewaltigen sakralgebundenen Gesamtkunstwerke (Kathedralen) als Ordnungsmächte alle Künste in ihren Bann zogen.67 Ohne ein solches stilbildendes »geheime[s] Lebenszentrum« führt die mangelnde »Uniformierung der Aufgaben«68 unaufhaltbar in 64 H. Sedlmayr : Verlust, 11, vgl. Teil I: »Symptome«, 15 – 144. 65 Vgl. Hans Sedlmayr : »Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Das Vermächtnis Max Dvorˇaks«, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur, 4.1 (1949), 264 – 277, 265. 66 H. Sedlmayr : Verlust, 9. Vgl. »Der Landschaftsgarten« (Kultstätte einer religiös empfundenen Natur), 19 – 25; »Das architektonische Denkmal«(stärkster Ausdruck eines vernunftgeprägten Deismus), 25 – 31; »Das Museum« (»ästhetische Kirche«), 31 – 35; »Nutzbau und Wohnhaus«, 35 – 40; »Das Haus der Maschine«, 56 – 59; »Das Theater«, 40 – 49; »Die Ausstellung«, 49 – 55. 67 Vgl. die Überlegungen zum »Auseinanderklaffen von Grundform und Kleinform«, in: H. Sedlmayr : Verlust, 17, 63. 68 Vgl. die Abschnitte »Stilpluralismus« und »Gründe des Stilchaos«, in: H. Sedlmayr : Verlust,

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das unermessliche Stilchaos und in die Zerspaltung von Wissenschaft und Künsten. Die Formel vom Verlust der Mitte ist in diesem Sinn ein Synthesebegriff für die exzentrische und desintegrative Struktur der Moderne, die sich methodisch nur in der Negation auf einen einheitlichen Begriff bringen lässt. Kern der aus den »Tatsachen der Kunst« erstellten Diagnose ist auch bei Sedlmayr ein »gestörte[s] Gottesverhältnis«, das »im Innern des Menschen selbst« angelegt ist und das sich durch Atheismus, Abstraktion und ein SichAbsperren gegen die »obere Realität« zu einem abendländischen Gesamtphänomen ausweitet.69 Sedlmayr bezieht die Bestätigung seiner bis heute umstrittenen Thesen70 aus einer Reihe unabhängig voneinander entstandener Studien unterschiedlicher Disziplinen. So greift er 1950 in einer Rezension zu Adama van Scheltemas kulturmorphologischer Untersuchung Die geistige Mitte (1947) den Begriff der »Entmittung« auf71 und bezieht sich im Nachwort zur vierten Auflage seines Buches (1951) auf die kultursoziologische Studie Das Jahrhundert ohne Gott (1948) von Alfred Müller-Armack, die den »radikale[n] Glaubensabbau des 19. Jahrhunderts« für das Erstarken der pseudoreligiösen, »vollsäkularisierten Weltanschauungsmassenbewegungen«72 und letztlich für den Nationalsozialismus verantwortlich macht. Einig sind sich die drei ehemaligen NS-Parteigänger73 darin, dass die »konservative Aufgabe der Bewahrung des noch-Gesunden«

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69 f. u. 61 ff., dazu Werner Hofmann: »Hans Sedlmayr : ›Im Banne des Abgrunds‹«, in: ders.: Die gespaltene Moderne, München 2004, 101 – 108. H. Sedlmayr : Verlust, 179 und Hans Sedlmayr : »Vier Arten der Kunstbetrachtung« (1951), in: ders.: Verlust, 286 – 293, 290. Vgl. Gustav Seibt: »Vor dem Verlust der Mitte. Meisner und die ›entartete‹ Kunst«, in: http:// www.sueddeutsche.de/kultur/meisner-und-die-entartete-kunst-vor-dem-verlust-der-mitte1.769559 (Zugriff 20. 05. 2012); Hans H. Aurenhammer : »Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Universität Wien 1938 – 1945«, in: Jutta Held, Martin Papenbrock (Hg.): Kunstgeschichte an den Universitäten im Nationalsozialismus, Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Bd. 5, 2002, 161 – 194; Martin Warnke: »Apologet der Mitte«, in: ders.: Künstler, Kunsthistoriker, Museen: Beiträge zu einer kritischen Kunstgeschichte, Luzern, Frankfurt/M. 1979, 74 – 76; Alexander Gauland: »Als die Moderne Gott vertrieb. Benn, Heidegger, Jünger – oder Hans Sedlmayr : Die unzeitgemäßen Denker und Dichter, die unter den Verlusten der Neuzeit leiden, werden heute als reaktionär abgetan. Eine Verteidigung des Autors von ›Verlust der Mitte‹«, http://www.welt.de/welt_print/article1820147/Als-die-Mo derne-Gott-vertrieb.html (Zugriff 20. 05. 2012). Hans Sedlmayr : »Die geistige Mitte«, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur, 5.2 (1950), 548 f. Frederik Adama van Scheltema: Die geistige Mitte. Umrisse einer abendländischen Kulturmorphologie, München 1947, 71. Alfred Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott. Zur Kultursoziologie unserer Zeit, Münster 1948, 133, 141. Adama von Scheltema war Professor für Vorgeschichte (vgl. Vorgeschichtler-Dossiers) und publizierte im »Germanen-Erbe«, dem offiziellen Organ des »Reichsbundes für Deutsche Frühgeschichte«, vgl. Michael H. Kater: Das »Ahnenerbe« der SS 1935 – 1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 2006, Alfred Müller-Armack trat der NSDAP 1933 bei. Vgl. Silvio Schmidt: »Alfred Müller-Armack – Nationalökonom und Soziologe«,

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und die Aussicht auf eine Überwindung der ›kosmischen Krise‹ darin besteht, die Desintegration und Exzentrizität durch Rechristianisierung und Rezentrierung zu überwinden.74 »Wir sprechen vom Werk, nicht von der Biographie des Autors« – Umberto Eco gemahnt an dieser Stelle an die virtutes dicendi, die Regeln guter philologischer Praxis, spricht vom Verlust der Mitte als einem »Hauptwerk des apokalyptischen Denkens«, das sich aus der Zeit vor 1945, als man die Werke der »entarteten Kunst« verbrannte, einen flackernden Widerschein bewahrte, und nennt Sedlmayrs Diskurs paranoisch, da dieser »alle Zeichen auf eine unbegründete und philosophisch vage Obsession zurückführt«.75 Da alles Erwägen der Mitte über das philologische Handwerkswissen hinaus aber immer auch eine Frage nach dem ethischen Sinn einer Praxis ist, sei an dieser Stelle daran erinnert, dass der theistisch begründete Wunsch nach Rezentrierung76 nach 1945 sehr wohl ›rechts‹ im Sinne einer konservativen Restauration gewesen ist, dass die Frage nach der im Aristotelischen Sinn »rechten Mitte« aber noch bis in die späten 30er Jahre hinein ein etabliertes zeitanalytisches Kriterium gewesen ist. In der Nikomachischen Ethik des Aristoteles steht die ›rechte Mitte‹ für einen Habitus, der im Hinblick auf entgegengesetzte Affekte oder Handlungsweisen eine mittlere Position einnimmt: Die Tugend hält die rechte Mitte im Verhältnis zu den beiden Extremen des Mangels und des Übermaßes und die Tapferkeit die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit.77 In diesem ethischen Sinn einer guten Praxis ist die Mitte auch für die beiden jüdischen Intellektuellen, den Schweizer Dramaturgen, Kritiker und Autor Bernhard Diebold und den Prager Juristen, Bibliothekar und Journalisten Felix Weltsch eine existentielle Frage.78 Nachdem Bernhard Diebold 1933 in Deutschland Arbeitsverbot erhalten hatte, schrieb dieser in der Schweiz den umfangreichen historischen Deutschlandroman Das Reich ohne Mitte (1938) über das Scheitern der »deutschen Mitte« und

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http://www.wiwi.uni-frankfurt.de/professoren/schefold/docs/mueller-armack-lang.pdf (Zugriff 03. 07. 2012). Vgl. Sedlmayr : Verlust, 210, vgl. ebd den letzten Absatz des Schlußkapitels »Hetoimasia«: »Was aber die Kunst betrifft, so wird es zunächst vielleicht noch nicht möglich sein, vielleicht noch lange nicht, etwas in die leere Mitte zu setzen. Dann aber muß wenigstens das Bewußtsein davon lebendig bleiben, daß in der verlorenen Mitte der leergelassene Thron für den vollkommenen Menschen, den Gottmenschen, steht.« Umberto Eco: »Vom Cogito interruptus«, in: ders.: Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München 1987, 245 – 265, 245 f. Für die gesamteuropäische Perspektive vgl. Gotthard Montesi: »Die Welt ohne Mitte. Thesen zur Bewegung für ein Vereinigtes Europa«, in: Wort und Wahrheit. Monatsschrift für Religion und Kultur, 3 (1948), H. 7, 721 – 737. Vgl. Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 2005. Vgl. Bernhard Diebold: Das Reich ohne Mitte, Zürich, New York 1938; F. Weltsch: Wagnis der Mitte.

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über den Verlust des Glaubens an die bindende Kraft des Mittelstandes und des kämpfenden Bürgertums. Was zwischen dem internationalen Proletariat und dem internationalen Kapital das demokratische Herz und die »nationale Zentrale zwischen oben und unten, zwischen rechts und links« hätte darstellen müssen, hatte sich im entscheidenden Augenblick als zu schwach erwiesen.79 Die im Nachwort gestellte Frage, »Warum die Diktatur ohne den leisesten Widerstand im freien Deutschland einmarschieren durfte?« beantwortet der Verfasser damit, dass der Zusammenhalt der Gemeinschaft »[a]m amoralischen Individualismus von sechzig Millionen winzigen Ichen scheiterte […] Keine Regierung erlangte eine gesunde Mehrheit. Der Körper hatte keinen Kopf. Das Reich verlor seine Mitte.«80 In dem 1936 im Verlag Kittls Nachfolger in Tschechien erschienenen Wagnis der Mitte erörtert der Prager Jurist und Publizist Felix Weltsch vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus und kurz vor seiner Emigration 1938 nach Jerusalem praktisch-philosophische Fragen. Weltsch geht von der Beobachtung aus, dass die von zwei Flanken angegriffene Mitte an Macht und Klarheit verloren hat81 und entfaltet, Hitlers Mein Kampf zitierend, die These, dass zur Mobilisierung der breiten Massen nur die Extreme eine starke Position innehaben, die Mitte aber schwach sei und der argumentativen Stärkung bedürfe. Weltschs Versuch der Rückgewinnung des verlorenen Ansehens, insbesondere des schöpferischen Potentials der Mitte, wird von dem amerikanischen Rezensenten M. B. Singer 1937 als dankenswerte Verteidigung des Liberalismus und der Demokratie gewürdigt, gleichzeitig aber als romantische Fantasie kritisiert, die mit dem Abwägen ethischer und tagesaktueller Themen (»Liberalismus und Faschismus«, »Demokratie und Diktatur«, »Individualismus und Kollektivismus«, »Sozialismus und Wirtschaftsliberalismus«, »Antinationalismus und Nationalegoismus«, »Militarismus und Pazifismus«, »Radikalismus und Opportunismus«, so die auf »Wertkerne« konzentrierten Kapitelüberschriften) methodisch letztlich unentschieden und daher wirkungslos verfahre.82

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B. Diebold, Reich ohne Mitte, 16 f. B. Diebold, Reich ohne Mitte, 843. F. Weltsch, Wagnis der Mitte, 12. M. B. Singer : »Das Wagnis der Mitte. Ein Beitrag zur Ethik und Politik der Zeit by Felix Weltsch. Review by M. B. Singer«, International Journal of Ethics, 47.4 (1937), 496 – 499.

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Auerbachs »Philologie von unten« Wo bei Rehm die Moderne durch Leere, Abgründigkeit und Gottesferne gekennzeichnet ist und Sedlmayr den »Verlust der Mitte« als Ursache für das ›Stilchaos‹ im 19. und 20. Jahrhundert ausmacht,83 geht Erich Auerbach davon aus, dass ein einzelner, einheitlicher Ansatzpunkt für so große historische Gegenstände unzureichend ist. Stilbildende »geheime Lebenszentren« und eine epochenübergreifende Uniformierung der künstlerischen Aufgaben sind für Auerbachs philologische Fragestellung uninteressant. Im Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses stehen irdische, d. h. kulturgeschichtliche Konstellationen, die er methodisch aus jenen spezialisierten Ansatzpunkten und komplexen Schlüsselproblemen gewinnt, deren »ausstrahlende[s] Licht gleichsam eine ganze historische Landschaft beleuchtet«84. Insbesondere Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Literatur ist »ganz bewußt [als] ein Buch [angelegt], das ein bestimmter Mensch, in einer bestimmten Lage, zu Anfang der 1940er Jahre geschrieben hat«.85 Der entscheidende Unterschied zwischen Auerbachs Denken in kulturhistorischen Konstellationen und den auf ein einheitliches (metaphysisches) Sinnzentrum hin ausgerichteten Studien Sedlmayrs und Rehms lässt sich mit Auerbach als eine Differenz zwischen einer vertikalen (vormodernen) und einer horizontalen (modernen) Geschichtsauffassung beschreiben. Während die moderne Vorstellung die geschichtliche Entwicklung als eine niemals abreißende horizontale Linie weiteren Geschehens »fortlaufendallmählich« in ihrer historischen Entwicklung deutet, erfragt die vormoderne Deutung die Ereignisse »vertikal von oben« und »im Hinblick auf ein noch ausbleibendes verheißenes Drittes«,86 ohne diese in ihrer ununterbrochenen Verknüpfung untereinander zu betrachten. Der leitende Gedanke und das Schlüsselproblem von Mimesis ist die Frage nach dem kulturgeschichtlichen Wandel der Höhenlagen der antiken Dreistillehre, d. h. nach Verstößen gegen die klassische Stiltrennungsregel, »nach welcher das alltägliche und praktisch Wirkliche nur im Rahmen einer niederen oder mittleren Stilart […] seinen Platz in der Literatur haben dürfe«.87 Dieses sein Interesse an den ursprünglich christlichen Abwandlungen der antiken Drei83 »Nun hat die Stilgeschichte nirgends so versagt wie an der Erkenntnis jener Epoche, die wir mit dem neutralen Ausdruck ›Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts‹ nennen.« Hans Sedlmayr : »Verlust der Mitte. Eine Formel und ihr Sinn«, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung in Wien, 2 (1950), 75 – 77. 84 Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, 19. 85 E. Auerbach: »Epilegomena zu Mimesis« (1954), in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, 466 – 479, 479. 86 Erich Auerbach: »Figura«, in: Archivum Romanicum, 22 (1938), 436 – 489, 473. 87 E. Auerbach: »Nachwort«, in: ders.: Mimesis, 515 – 518, 515.

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stillehre reflektiert Auerbach in Literatursprache und Publikum (1958) folgendermaßen: In Mimesis ist der Hauptansatz die antike Vorstellung von den drei Stilhöhen; er gab mir die Möglichkeit, alle ausgewählten Texte danach zu fragen, in welchem Verhältnis sie zu dieser Vorstellung stünden. Das aber ist gleichbedeutend mit der Frage, was ihre Verfasser für erhaben und bedeutend hielten, und welche Mittel sie verwandten, um es darzustellen. Auf diese Weise kam, wenn auch sehr unvollkommen, etwas von der Einwirkung des Christentums auf die literarische Ausdrucksbildung zur Anschauung, ja sogar ein Aspekt des Ganges der europäischen Geistesentwicklung seit der Antike.88

Ausgehend von den drei Stilarten der antiken Rhetorik, die bei Homer und in den biblischen Erzählungen des Alten Testaments die Höhenlagen und das Erhabene verkörpern, verfolgt Auerbach die christlichen Einschmelzungs- und Umwertungsprozesse des humilis-Motivs von ursprünglich niedrig, gering, demütig hin zur freiwilligen Erniedrigung und zur Demut, die mit der göttlichen Natur in Verbindung steht und das Erhabene mit einschließt.89 Im christlichen Predigttext, der »im wesentlichen der mittleren Höhenlage angehört«90 und wo der hohe sermo sublimis und der niedere sermo humilis von vornehinein in der Inkarnation Christi verschmolzen sind,91 entsteht aus der Vermischung der gegensätzlichen Stilformen ein sich dauerhaft wandelnder geschichtlicher Stil, dessen Figuren »konkreter, näher und geschichtlicher [wirken] als die Gestalten der homerischen Welt, […] weil die wirre, widerspruchsvolle, hemmungsreiche Mannigfaltigkeit des inneren und äußeren Geschehens […] die echte Geschichte […] in ihrer Darstellung nicht ausgewaschen, sondern noch deutlich erhalten«92 zeigt. Für die realistische Kraft des sermo humilis ist das »Polare, die Weite des Pendelausschlags […] wesentlich und entscheidend«, die Erhabenheit der einzelnen Vorgänge (Prüfungen, Martern) steigt aus dem Alltäglichen auf und offenbart sich in einer Art von realistischer Stilmischung, deren »größte[s] mittelalterliche[s] Monument«93 Dantes Divina Commedia darstellt. In Auerbachs Entwurf einer »Philologie von unten«94 fragt insbesondere der 88 E. Auerbach: Literatursprache, 20 f. 89 Da die Gegenstände der christlichen Literatur sämtlich groß und erhaben sind, auch die »alltäglich-niederen Gegenstände, Geldgeschäfte oder ein Becher kaltes Wasser, […] ihre Niedrigkeit im christlichen Zusammenhang [verlieren] und […] sich in den erhabenen Stil [fügen], dürfen die höchsten Mysterien des Glaubens mit den einfachen und jedem Verständnis zugänglichen Worten der niederen Ausdrucksweise vorgetragen« werden. Erich Auerbach: »Sermo humilis«, in: E. Auerbach: Literatursprache, 25 – 53, 32. 90 E. Auerbach »Sermo humilis«, 30. 91 Vgl. E. Auerbach: Mimesis, 147. 92 E. Auerbach: Mimesis, 23. 93 Ebd., 51 und Erich Auerbach: »Romantik und Realismus« (1933), in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 426 – 438, 436. 94 in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 17.

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moderne Philologe nicht mehr nach normativen Regelgebräuchen, sondern nach dem »Werden […] echter Wirklichkeit«95 in unreinen Mischformen und Spannungsverhältnissen. So bringt der Realismus des 19. Jahrhunderts, der zuerst auf die in revolutionären Ereignissen aufgebrochene starre Alltäglichkeit mit der »radikalen Durchbrechung des Prinzips der Stiltrennung« reagiert, die Alltagsphänomene »mit der vollen Gewalt ihrer Probleme« zur Darstellung.96 Bei Stendhal, Balzac und Flaubert entsteht aus der Auflehnung gegen den rationalistischen Klassizismus (der die »eigentlichste Menschlichkeit« verfälschend und willkürlich entweder im hohen oder im niederen Stil »zerschneidet«) eine »genaue Wirklichkeit ihrer irdischen Welt«.97 »Es ist augenscheinlich«, schreibt Auerbach, »daß die Stilmischung in der Darstellung der Zeitwirklichkeit ihre reichste und reinste Erfüllung finden mußte«.98 Das historisch Neue des bei Auerbach tragisch genannten Realismus entsteht aus der Einbettung des Tragischen in die Alltäglichkeit dort,99 wo »Alltäglichkeit nicht mehr als Einbruch in das Tragische, sondern als dessen Heimat auftritt«.100 Beispielsweise in der »unkonkreten Verzweiflung« Emma Bovarys an der Seite eines »mittelmäßigen und langweiligen« Mannes und in dem Trostlosen, Gleichmäßigen und Ausweglosen, das in Mimesis in einer alltäglichen Tischszene vor Augen tritt.101 Bei Auerbach, dem ersten Theoretiker, der dem Alltäglichen ästhetischen Rang zuschreibt und der die ernste Nachahmung des Alltäglichen gegen die leere Idealität setzt,102 tritt dargestellte Wirklichkeit in einer spannungsgeladenen Mischung der Höhenlagen in Erscheinung, nicht aber auf einer identifizierbaren mittleren Stilebene. Auerbach vermeidet die Ausbildung einer solchen Kategorie, um den Interpretationsspielraum nicht unnötig einzuengen. Die unbestimmt (»dezentrierte«103) realistische Darstellungsebene ist nur in einem »bedeutenden Zusammenhang«104 zwischen den Stilebenen ›hoch‹ und ›niedrig‹ als historisch bedingter Einbruch in die Lehre von den Höhenlagen zu bestimmen. 95 Erich Auerbach: »Romantik und Realismus« (1933), in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 426 – 438, 430 f. Zu Auerbachs Denken in Polaritäten und Spannungsverhältnissen vgl. die Beiträge von Ernst Müller und Luiz Costa Lima in: ebd., 268 – 280, 426 – 439. 96 Ebd., 427 f. 97 Ebd., 431. 98 Ebd. 99 Ebd., 428 f. 100 Ebd., 429. 101 E. Auerbach: Mimesis, 450 f., zur »unkonkreten Verzweiflung«: Erich Auerbach: »Über die ernste Nachahmung des Alltäglichen«, in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 439 – 465, 443. 102 Vgl. Karlheinz Barck, Martin Treml: »Einleitung: Erich Auerbachs Philologie als Kulturwissenschaft«, in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 9 – 29, 22. 103 Zum Begriff des »dezentrierten Realismus« vgl. L. Lima: »Zwischen Realismus und Figuration«. 104 E. Auerbach: Mimesis, 516.

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Auch in Auerbachs berühmtem Figura-Aufsatz, in dem das Erscheinen Christi auf Erden als »die radikalste Zerstörung des Stiltrennungsprinzips und überhaupt die radikalste Verwirklichung des tragischen Realismus«105 beschrieben ist, ereignen sich die Inkarnation und die Hingabe Gottes an die irdische Wirklichkeit zwischen den zwei Polen von Prophezeiung und Erfüllung. Derartig konstellative Spannungen und Ambivalenzen in Auerbachs Konzept eines synoptischen Erzählstils verstehen Luiz Costa Lima und Ernst Müller als ein Hilfsmittel, das es erlaubt, eine Kombination von Realismus und verzeitlichten Figuren zu finden.106 Realismus teilt sich demnach bei Auerbach in einen kreatürlichen (ernstes, wirklich gegenwärtiges, irdisches Leben, das nicht mehr Figur des jenseitigen ist) und in einen figuralen Realismus, der das Hier um des Dort willen vernachlässigt. Diese Fusion von Realismus und figura zielt nicht einfach auf das Sinnliche, Wirkliche und Alltägliche, sondern auf eine Konstellation äußerster Gegensätze, in denen sich etwas Wirkliches und Geschichtliches als bedeutende Dazwischenkunft eines Dritten andeutet. Die Bedeutsamkeit dieses Dritten entfaltet sich in der Moderne, wie Auerbach an den Texten u. a. von Flaubert und Joyce zeigt, aber als etwas Verwirrendes und Verschleiertes, im Sinn Unabgrenzbares in vielfacher Verschränkung. Auch für Auerbach, der in den 20er Jahren seine intellektuelle Prägung in dem Heidelberger Kreis um Max Weber erhielt,107 (der die Gesamtheit der Wissenschaften als ein kulturwissenschaftlich zu deutendes, wertbesetztes Konstrukt begreift)108 und der in seiner Korrespondenz mit Walter Benjamin, dem Theoretiker der Konstellation, vorbereitende Texte zur Mimesis tauschte,109 entscheidet letztlich die ›andere‹ Art des Lesens von Konstellationen darüber, welche Wirklichkeitstiefe ein Text gewinnt.

105 Erich Auerbach: »Figura«, in: Archivum Romanicum: nuova rivista di filologia romanza, 22 (1938), 436 – 489, 449. Vgl. auch E. Auerbach: »Romantik und Realismus«, 438. 106 Vgl. Luiz Costa Lima: »Zwischen Realismus und Figuration: Auerbachs dezentrierter Realismus«, in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 255 – 267 und Ernst Müller : »Auerbachs Realismus«, in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 268 – 280. 107 Zu Auerbach und Max Weber vgl. Matthias Bormutz: »Menschenkunde zwischen Meistern – Auerbach und Löwith«, in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 82 – 104, 85, 95 ff. 108 A. Albrecht: »Konstellationen«, 116 ff. 109 Robert Kahn: »Eine ›List der Vorsehung‹: Auerbach und Benjamin«, in: K. Barck, M. Treml (Hg.): Erich Auerbach, 151 – 166, 164 f.

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Germanistik als Textverarbeitung. Präliminarien zu einer Literaturwissenschaft unter den Vorzeichen digitaler Medien- und Textverwendung Was liegt denn zwischen Ossian und seinen Darstellungen, sagte Haber.1 je genauer er dergestalt um seinen Posten im Produktionsprozeß Bescheid weiß, desto weniger wird er auf den Gedanken kommen, sich als »Geistiger« auszugeben.2

1.

The big picture: semantic web and the cloud

Die Germanistik hat es bei den Tatsachen, die zwischen Dingen und Sachen liegen, mit Veränderungen zu tun, es gibt Bewegung hin zu einer Form der Digitalisierung, die sich auf weite Teile menschlichen Lebens ausweitet. Die Supplementierung menschlicher Sinneswahrnehmung durch technische Mittel schreitet fort.3 Die Schnittstellen zwischen Mensch/Mensch und Mensch/Ding verändern sich derzeit mit unheimlichem Tempo. Man muss als Germanist nicht auf Unfallstatistiken hinweisen, die für die letzten Jahre einen massiven Anstieg der Anzahl von Personen, die im Gehen Kurznachrichten schreiben und sich dabei mithilfe von Laternenpfosten oder des Straßenverkehrs Verletzungen zufügen, man muss nicht auf die ›Killerspiele‹-Debatte, auf ›Internetsucht‹ oder 1 Clemens Brentano: Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria, hg. von Ernst Behler, Stuttgart 1995, 289. 2 Walter Benjamin: »Der Autor als Produzent« (1934), in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II/2, Frankfurt/Main 1977, 683 – 701, 701. 3 Unter vielen schlagenden Beispielen aus der Science-Fiction-Literatur nur eines: augmented reality wurde zuerst von William Gibson in Virtual Light (1993) gedacht, mittlerweile gibt es Mobilapplikationen, die basierend auf geographischen Koordinaten und mit ihnen verknüpften Annotationen zum Bild von bzw. zur Realität Zusatzinformationen am Bildschirm von smartphones anzeigen; vgl. zum Beispiel http://www.iphoneness.com/iphone-apps/bestaugmented-reality-iphone-applications (Zugriff 10. 06. 2010). – Auch die Medientheorie der Extension hat bereits ihren Weg in die Populärkultur gefunden, wenn ein Marshal McLuhan einem der Protagonisten von The Sopranos die elektronische Fußfessel zur Überwachung des Hausarrests wiederbringt (2. Staffel, Folge House Arrest).

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auf die Digitalisierung des terrestrischen Fernsehens eingehen. Ähnliche Phänomene sind in unmittelbarer Umgegend des germanistischen Tuns im Schwange, oder sie sind bereits teilweise abgeschlossen. Dies ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags; doch sollte der größere Kontext nicht außer Acht gelassen werden, in dem sich ›germanistische Digitalisierung‹ derzeit abspielt. Die beiden in diesem Zusammenhang am meisten verwendeten Schlagworte sind jene von den Sozialen Medien bzw. Sozialen Netzwerken, die wiederum unter dem vom Web 2.0 subsummiert werden und auf eine anreichernde Durchdringung und Verknüpfung bestehenden Wissens und bestehender Inhalte abzielen. Abseits von Anekdotischem und Tagesaktuellem wie den browser wars (Internet Explorer gegen Netscape) der 1990er, oder jüngeren Fragen etwa zur Marktmacht von Google versus Facebook gilt es zwei abstrakte Punkte nicht aus dem Blick zu verlieren: Erstens steht im Zentrum all der Applikationen stets ein Datenbankmodell (fallweise Meta-Datenbankmodelle zweiter oder höherer Ordnung: von Datenbanken über Datenbanken), und damit eine technische Lösung der Registratur. Zweitens geht es im Kern darum, bessere Modelle und Algorithmen für die Verknüpfung von Daten auf einer semantischen Ebene zu erreichen: Der Suchalgorithmus von Google ist deshalb so funktional, weil er im Hintergrund Abermillionen Suchanfragen dazu benutzt abzuschätzen, was die Benutzer/innen mit ihren Abfragen wissen wollen könnten (stochastische und probabilistische Rechenmodelle tragen basiert auf vorherigen Anfragen zur Optimierung der Suchergebnisse bei).4 Dieses eminent semantische Problem kommt zum technischen hinzu (und hier sind auch literaturwissenschaftliche Herangehensweisen gefragt). Das Schlagwort vom semantic web und seine Umsetzung unter anderem in Form von RDF-Graphen (von denen die Benutzer/innen an der Schnittstelle kaum etwas mitbekommen müssen) hat die Aufmerksamkeit auf die bloße Infrastruktur der Vernetzung von Daten verschoben.5 Dass die Daten selbst, nicht die Datenbanken die eigentliche Herausforderung von semantischen Netzen in- und au-

4 Mit der Differenzmenge von Suchmaschinen im analogen Zeitalter beschäftigte sich 2008 ein Symposium in Wien, das Thomas Brandstetter und Anton Tantner unter dem Titel Vor Google konzipierten, siehe dazu http://www.univie.ac.at/iwk/vor-Google (Zugriff 10. 06. 2010). 5 Der Begriff semantic web wurde relativ früh von einem der Begründer des World Wide Web geprägt. Siehe dazu Tim Berners-Lee, James Hendler, Ora Lassila: »The Semantic Web: A new form of Web content that is meaningful to computers will unleash a revolution of new possibilities«, in: Scientific American, Nr. 284 (2001), 34 – 43; auf: http://www.sciam.com/article.cfm?articleID=00048144 – 10D2 – 1C70 – 84 A9809EC588EF21 (Zugriff 10. 06. 2010). Was die Infrastruktur der Datenvernetzung anbelangt, stellt das Resource Description Framework (RDF) eine Sprache zur Verknüpfung von Ressourcen zur Verfügung; zugrunde liegt eine Logik nach dem Schema Subjekt-Prädikat-Objekt, wegen dieser Dreigliederung werden RDFGraphen auch tripel genannt.

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ßerhalb des World Wide Web sind,6 wurde jüngst von Tim O’Reilly in Erinnerung gerufen. Anlässlich der Eröffnung der MySQL-Konferenz 2010, einer Entwicklerkonferenz zu einer der gebräuchlichsten Datenbanklösungen für das WWW behandelte er mögliche und bereits stattfindende soziale Auswirkungen von Datenbanken und vor allem von Daten in Datenbanken.7 O’Reillys Beispiele verweisen vor allem darauf, dass nicht nur Datenmodelle, sondern auch die Daten selbst für eine erfolgreiche semantische Erschließung im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen müssten. Der überraschende Tenor von O’Reillys Vortrag besteht darin, dass die Sammlung von Daten (etwa im Regierungs- und regierungsnahen Bereich) so weit fortgeschritten ist, dass damit längst schon Verbesserungen in den Gemeinwesen möglich wären, wenn die zugrundeliegenden Daten nur entsprechend genutzt würden.8 Es geht den Vordenker/inne/n von vernetzten Strukturen im WWWalso nicht mehr darum, Daten an einzelnen Plätzen zu horten, sondern vielmehr darum, diese sinnvoll zu teilen und nützlichen Verbindungsmöglichkeiten zu öffnen. Schnittstellen für Daten zu schaffen um das Gemeinwohl zu heben scheint das übergeordnete Ziel – und diesem Ziel sollten sich auch Literaturwissenschaftler/ innen nicht verschließen.

2.

The times are changing

Die Tendenz zur Digitalisierung ist auch im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften zu erkennen. Dies ist zunächst einmal ein Faktum; es geht auf eine gesamtgesellschaftliche Bewegung und Änderung der Gewohnheiten von vielen zurück und wird zugleich von Entscheidungsträger/inne/n vorangetrieben, was sich unter anderem in einer Verschiebung von Finanzmitteln äußert. Diese amorphe Gesamtbewegung begann mit einigen Vorreiterinstitutionen 6 Der etwas unglückliche deutsche Begriff hat vermutlich zu einigen Missverständnissen gerade im germanistischen Feld beigetragen, wogegen das neutralere englische Wort database den Fokus anders setzt. 7 Tim O’Reilly : Conference Opening zur MySQL Conference & Expo, 12. 4. 2010; der gesamte Redebeitrag ist abrufbar unter http://www.youtube.com/watch?v=WqLB99dA48 (Zugriff 10. 06. 2010). MySQL ist eine Softwarelösung für relationale Datenbanken, die auf einer auch darüber hinaus seit den 1970er Jahren etablierten Abfragesprache (Structured Query Language, SQL) aufbaut. 8 Ein erster Schritt ist die Veröffentlichung von vorhandenen Daten im öffentlichen Bereich, vgl. dazu die von der Obama-Administration geschaffene Plattform http://www.data.gov (Zugriff 10. 06. 2010); auch in Europa zeichnet sich ein ähnlicher Trend zur Offenlegung von Daten und ihren Strukturen ab, wobei hier Bücher verwaltende Institutionen eine Vorreiterrolle übernehmen wie die Deutsche Nationalbibliothek, die beispielsweise die Personennormdatei (PND) öffentlich gemacht hat.

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(etwa den Bibliotheken oder Sozialversicherungsanstalten), die vom Modell Zettelkasten auf das Modell Datenbank umsattelten und früh auf die Möglichkeiten digitaler Verarbeitung setzten. Sie hat mittlerweile den Hauptstrom erreicht.9 Im geisteswissenschaftlichen Bereich sind hier mehrere parallele und zugleich untereinander verbundene Entwicklungen zu beobachten: – Wissenschaftliche Bibliotheken haben mit einer massiven Umverteilung der Erwerbungsmittel von Buch auf digitale Medien zu ringen. – Im Zusammenhang mit der Unterfinanzierung der staatlichen Universitäten kommt es zu einer Forcierung von E-Learning (teilweise kaschiert durch Begriffe wie blended learning): Das Phantasma der Rektorate besteht verkürzt dargestellt darin, dass 1) online mehr Studierende erreicht werden können als in den größten Hörsälen und 2) mit dem Einsatz digitaler Medien anstelle bzw. ergänzend zur ›Kontaktstunde‹ die Effizienz der Hochschulen (gerechnet in Geld durch Zeit) gesteigert werden kann. – Die bereits strapazierten Grenzen des Konzepts Autorschaft erfahren unter den Bedingungen digitaler Schreibszenen neue Herausforderungen. – Einführung von Quellen- bzw. Korpusdatenbanken und -verbünden in die Philologien. – Verstärkte Online-Kommunikation der scientific community und Publikation im Netz. – Verschiebung der Findemittel für Quellenmaterial, indem nicht nur von Studierenden zunehmend über Suchmaschinen gearbeitet wird. – Mit den drei letzteren verbunden eine teilweise Öffnung der Fachgrenzen durch die übergreifenden Findemittel. – Veränderung der Arbeitsmittel in der Wissenschaftsproduktion, was wiederum zu Verschiebungen in der Ökonomie der Produktions-, aber auch der Distributionsmittel führt. Für die Germanistik bedeutet das eine Änderung vor allem in der Verwendung von (physischen) Zugängen zu Texten und von Werkzeug in Produktion und Rezeption. Auch für unsere buch- und textlastige Wissenschaft gilt längst, dass der Computer das zentrale Werkzeug zumindest zur Erstellung von Texten ist. Dies beginnt bei der Proseminararbeit und zieht sich hinauf bis zu Habilitationsschriften, Fachbüchern oder Sammelbänden wie dem vorliegenden. War der Computer als Werkzeug zunächst primär eine bessere Schreibmaschine, so zeichnen sich nunmehr generische Änderungen ab, die auch auf die zukünftige 9 Auf die komplexen Wirkmechanismen sozialer Veränderungsprozesse, die dazu führten und führen, kann hier nicht eingegangen werden; eine solche Analyse steht noch aus. Vielversprechend erschiene der Versuch, das Problem mithilfe von Bourdieus Feldtheorie zu segmentieren und dabei insbesondere ökonomische Überlegungen miteinzubeziehen.

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Fachkultur ihre Auswirkungen haben werden. In diesem Bereich gibt es eine teilweise Asymmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden, die sich darin äußert, dass letztere über Methoden der Verwendung des Universalwerkzeugs Personal Computer besser Bescheid wissen als jene, die ihnen über Texte etwas beibringen sollen. Diese Entwicklung geht einher mit Veränderungen und Verschiebungen im Kreislauf von Texten an mehreren Stellen:10 Bezüglich der Texterstellung treten bereits bei der Erzeugung von Inhalten neue Mechanismen der Textverarbeitung in Kraft. Dies betrifft zunächst den Inhalt, der stark davon affiziert sein kann, dass andere Inhalte leicht greifbar sind. Textverarbeitung heißt aber auch, dass das Werkzeug an unseren Gedanken mitarbeitet (wie Nietzsche anlässlich der Schreibmaschine formulierte); nur ist der PC als Rezeptions- und Produktionsschnittstelle hier ein deutlich komplexeres Beispiel – Stichworte dafür wären copy & paste und remix-culture. Neue Strategien der Textverarbeitung bedingen neue Formen von Texten, die mitunter auf Unverständnis stoßen.11 Von Änderungen betroffen ist auch die Form, in der wir unsere Texte erstellen: Als mehr oder weniger universelles Konstrukt von Möglichkeitsbedingungen haben sich hier die Microsoft Office-Formate durchgesetzt, mit denen sich allerlei Schindluder treiben lässt. Einen zweiten signifikanten Einschnitt bedeutet die Digitalisierung der Textpräsentation. Es wird ›am Schirm‹ gelesen, genaugenommen auf immer höher auflösenden Bildschirmen, die nicht mehr notwendig auf Schreibtischen stehen müssen. Damit verbunden gibt es, drittens, die Tendenz zur multimedialen Verwendung von Texten. Das meint weniger die Verbindung von Text mit anderen Medien wie Ton oder Bewegtbild, sondern vielmehr eine multimodale Präsentation desselben Texts in verschiedenen Ausgabeformaten. Der Spiegel erscheint zum Beispiel als gedrucktes Heft, als Webseite für verschiedene Endgeräte, und als Applikationen für smartphones. Hier stellt sich die Frage »Was ist ein Text?« komplett neu – und die Veränderungen in der Identität von Texten im Sinne dessen, was ihnen als Differenzkriterium aneignet, bedingen auch Änderungen im Diskurs darüber. 10 Ich greife im Folgenden auf die Einteilung des circuit of culture zurück, die die Untersuchung jedes kulturellen Artefakts auf die Faktoren »representation, identity, production, consumption and regulation« verweist. (Vgl. Paul DuGay u. a.: Doing cultural studies: The Story of the Sony Walkman, London 1997, 3.) 11 Zu unterschiedlichen »Szenen« des Schreibens vgl. Martin Stingelin, Davide Giuriato, Sandro Zanetti (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«: Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, Paderborn 2004; dies. (Hg.): »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir : von Eisen«: Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2005; dies. (Hg.): »System ohne General«. Schreibszenen im digitalen Zeitalter, München 2006. – Zum angesprochenen Unverständnis gegenüber Remixes vgl. den Skandal Anfang 2010, als massive Plagiatsvorwürfe gegen den Text Axolotl Roadkill des 17-jährigen Shootingstars Helene Hegemann erhoben wurden.

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Des weiteren sind Mechanismen der Kontrolle und Regulierung von Textströmen an die Formen der Übermittlung von Inhalten gebunden. Nicht aber nur an diese, sie bestimmen ebenso die Zirkulation selbst. Dies betrifft unter anderem den juristischen Diskurs zur Regulation von geistigem Eigentum, aber auch Fragen des Zugangs – das Stichwort dazu wäre digital divide. Fünftens und abschließend wiederholen sich in der Rückkoppelung einer Textwissenschaft all diese Veränderungen: Wer über Texte schreibt, urteilt, wer sich mit Texten beschäftigt, muss deren Bedingungen nicht nur reflektieren; sofern diese Beschäftigung wieder in Texte mündet, sind diese wiederum ihren Bedingungen unterworfen. Die diesem Beitrag zu Grunde liegende Überzeugung ist, dass die Beschäftigung mit Textverarbeitung als Selbstreflexion des Faches ein unterentwickeltes, nichtsdestotrotz aber zukunftsträchtiges Gebiet ist.

3.

Wer, und für wen?

An der Oberfläche eines universitären Fachs bestehen sichtlich Herausforderungen, die zu seinen Aufgaben in Forschung und Lehre, in forschungsgeleiteter Lehre frei Haus mitgeliefert werden: Die Hochschulpolitik in- und außerhalb der Universitäten hantiert in letzter Zeit häufig mit dem Begriff employability. Gleichzeitig sind in den Geistes- und Kulturwissenschaften Lehrveranstaltungen dünn gesät, die (unabhängig vom spezifisch zu vermittelnden Inhalt) den Umgang mit Werkzeugen der Textverarbeitung in einem Maße lehren, das die AbsolventInnen ihrer Fächer zur Anwendung außerhalb des jeweils engen Fachkorsetts befähigt (manchmal nicht einmal innerhalb des Faches). Die meisten Absolvent/innen der Germanistik an unserer Universität landen in Bereichen, wo sie mit Textverarbeitung zumindest im weiteren Sinn zu tun haben, das zeigt die derzeit aktuellste (es ist die einzige greifbare) Studie zu den Karriereverläufen nach Abschlüssen an der Universität Wien.12 Um hier nicht gegen die offenbar intendierte ausschließlich interne Verwendung zu verstoßen nenne ich hier lediglich die Kategorien, die in einer von der Universität Wien 12 Statistik Austria im Auftrag von Uniport und Universität Wien: Karrierewege von Graduierten der Universität Wien (»AbsolventInnen-Tracking«). Eine registergestützte Analyse von beruflichen Einstiegs- und Verdienstmöglichkeiten der AbsolventInnen der Jahre 2003 – 2008, Wien 2009. Die Studie wurde vonseiten der Universität Wien durch die Besondere Einrichtung für Qualitätssicherung betreut, sie ist nicht öffentlich zugänglich (der Kurzbericht weist auf Seite 2 auf alleinige Urheber- und Verwertungsrechte der Statistik Austria hin und untersagt auch die unentgeltliche Verbreitung: geheimes Metawissen), wurde jedoch nach Fächern gegliedert an die betroffenen Studienprogrammleitungen innerhalb der Universität weitergegeben.

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beauftragten Erhebung der Statistik Austria für die Absolvent/innen der vom Institut für Germanistik angebotenen Studien als wichtigste Arbeitsfelder angeführt werden – und dies ohne Gewichtung. Sie zeigen deutlich (wenn auch implizit), dass Textverarbeitung eines der zentralen Berufsfelder für GermanistInnen überhaupt ist: – Öffentliche Verwaltung, Verteidigung; Sozialversicherung – Erziehung und Unterricht – Interessenvertretungen sowie kirchliche und sonstige religiöse Vereinigungen (ohne Sozialwesen und Sport) – Bibliotheken, Archive, Museen, botanische und zoologische Gärten – Werbung und Marktforschung – Verlagswesen – Sozialwesen (ohne Heime) – Gastronomie – Einzelhandel (ohne Handel mit Kraftfahrzeugen) Diese höchst unterschiedlichen Berufsfelder weisen eine starke Durchdringung mit Themen der Textverarbeitung auf; das betrifft Journalist/innen und Autor/ innen in allen möglichen Feldern – von Lyrik bis zur Betreuung der Katalogwebseite einer Online-Gemischtwarenhandlung oder der Betätigung als Pressesprecher/in – ebenso wie Bibliothekar/innen, das Verlagswesen im erweiterten Sinn oder Leitungspositionen in nahezu jedem Bereich. Dass öffentliche Verwaltung, wozu auch die Universitäten zählen, eminent an die Verarbeitung von Text gebunden ist, versteht sich von selbst,13 einzig Gastronomie und Einzelhandel sind vermutlich nicht die textverarbeitungsnächsten Kategorien. Auch die originäre Laufbahn im Forschungsbereich ist von Textverarbeitung gekennzeichnet: Erkenntnis ereignet und äußert sich – das kennzeichnet den gesamten Wissenschaftsbetrieb – in Form von Texten und ihrer Zirkulation. Ferner kommt eine dritte Stufe von Metazirkulation, Edition und Kommentar zu bestehenden Texten, nicht ohne Werkzeug aus. Dazu sind Kenntnisse der Bedingungen von Textzirkulation – nun ja – ›von Vorteil‹.14 Dies sind Bedingungen, unter denen die gegenwärtige Ignoranz der Studi13 Zur Verknüpfung der beiden Felder muss man nicht ausholen zu den großen österreichischen Schriftstellerbeamten von Grillparzer bis Doderer. 14 Die Editionswissenschaft hat entscheidend zur Reflexion von Textverarbeitungswerkzeugen beigetragen, allerdings ist sie durch den reproduktionslastigen Großteil ihres Gegenstandsbereichs auch eingeschränkt in ihrer Perspektive. – Verwiesen sei im Zusammenhang mit Zirkulation etwa auf die Forschung zur Gattung Briefroman, die beispielsweise im Fall von Goethes Werther so weit geht, dass die Briefübermittlungszeiten zwischen deutschen Städten des späten 18. Jahrhunderts intensiv zum Gegenstand germanistischer Untersuchungen wurden.

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enfächer gegenüber den transferable skills (auch dies wie employability ein Schlagwort aus dem Umfeld von Bologna-Prozess und European Qualification Framework) meines Erachtens nur nach einer Reflexionsphase über den eigenen Aufgaben- und Tätigkeitsbereich als Bildungsanstalt beibehalten werden sollte. Einer der möglichen Orte für eine solche Debatte wäre die Curricularentwicklung bzw. die Überarbeitung der neu entworfenen Curricula, wie sie sich gegenwärtig im Gefolge der Anti-Bologna-Studierendenproteste abzeichnet. Gegen eine intensive Beschäftigung mit den eigenen Werkzeugen ließe sich vorbringen, es handle sich um Selbstbespiegelung zum bloßen Selbstzweck.15 Das Gegenargument ist so alt wie das Argument selbst, und beide sind gleichermaßen unwiderlegbar. Wer aber meint, dass sich um die Texteinrichtung ohnehin »der Verlag« zu kümmern habe, hat sich zwar mit Fug und Recht in den ureigenen germanistischen Vorgarten zurückgezogen, doch die Problematik nicht erkannt: Der Verlag nämlich speist sich zu nicht geringem Teil aus dem Kreis der Absolvent/innen und/oder Abbrecher/innen geistes- oder kulturwissenschaftlicher Studien. Der Vorteil einer in diesem Sinn ›anwendungsorientierten‹ Germanistik liegt in ihrer Vielseitigkeit, die ihren Status als Nationalphilologie verschieben könnte zu einer Universalphilologie. Und das geht eben nur, wenn man das Digitale an heutiger Textverarbeitung ernst nimmt und sich einer Beschäftigung mit ihm nicht entschlägt.

4.

Ein Beispiel

Die bisher eher praxisfernen Überlegungen, die sich auch auf das weitere Umfeld der germanistischen Kernkompetenzen erstreckten, möchte ich mit einem konkreten Beispiel aus der sich ändernden textverarbeitungsgestützten Publikationspraxis aus dem Fach illustrieren. Als ich vor kurzem an einem editorischen Projekt mit mehreren Mitarbeitern in die Lage geriet, einem an die Bibliothek geratenen Germanisten und einem in die Grafik geratenen Architekten gegenüber rechtfertigen zu müssen, warum das Projekt einer synoptischen und kommentierten Tagebuchedition auch – oder auch besser – mithilfe einer Datenbanklösung durchzuführen sei und nicht nach dem Prinzip Schreibmaschine, stand ich vor hohen Mauern. Eingespielte Mechanismen des Herangehens an ein mit Textverarbeitung verbundenes Projekt verhindern mitunter, dass man sich einer dem Gegenstand angemessenen Lösung bedient. Dass der eindimensionale Textstrang (beispielsweise und im konkreten Fall eines Word-Do15 Eine solche Kritik ist freilich historisch nicht ohne Vorbild, wenn man den großen Rucksack an Schrift- und Medienkritik mitbedenkt, den die Philologien im Grunde seit Platons Phaidros mit sich herumschleppen.

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kuments) immer auch abbildbar ist in mehrdimensionalen Strukturen; und dass solche Strukturen sich (wenn das unbedingt erforderlich wäre) in eine eindimensionale Vorlage zurückverwandeln lassen, ist eine Grundeinsicht, die solchen Missverständnissen vorbeugen könnte. Bis das eigentliche Problem (im konkreten Beispielfall schlichte Unkenntnis) identifiziert werden konnte, war schon viel verdorben und viel Zeit verschwendet. Wir hatten die verteilte Eingabe von Daten durch drei Personen dadurch ermöglicht, dass wir eine MySQL-Datenbank mit mehreren aufeinander bezogenen Tabellen einrichteten. Dadurch konnten über eine nicht-öffentliche Eingabemaske alle drei Mitarbeiter am selben Projekt arbeiten, zumindest solange sie sich bei über 800 Tagebucheinträgen nicht zeitgleich mit dem selben Eintrag befassten. Damit wurde das Problem verschiedener Versionen vermieden – die Verwendung einer Datenbank war nutzungsadäquat in Bezug auf die Produktion. Die Ausgabe über eine mit PHP realisierte dynamische Webseite ermöglichte einen jeweils aktuellen Stand der Arbeiten zu erhalten. Zusätzlich ermöglichte die dynamische Ausgabe eine Anzeige auch nur von gerade benötigten Teilen des Datenmaterials oder unterschiedliche Darstellungsweisen desselben Ausgangsmaterials, vergleichbar etwa der Verwendung verschiedener Schablonen zum Lesen von Formularen. Es wurde also auf eine Trennung von Inhalt, Form und Darstellung geachtet. In der Datenbankstruktur ließen sich Bezüge zwischen den inhaltlich oder von der Datierung her aufeinander bezogenen Tagebucheinträgen relational darstellen und automatisch aktualisieren; auch mediengebundene Darstellungsmerkmale (wie eine Seitenzahl beim Buch) lassen sich als Einheiten solcher Bezüge wiedergeben. Die Ausgabe von Datenbankinhalten ist nicht an eine bestimmte Reihenfolge und Form gebunden: zum Beispiel kann ein Datumsfeld als »Mi., 13. 05. 1908« oder als »1908 – 05 – 13 17:00« ausgegeben werden, ohne dass einige hundert Instanzen von Datumsangaben händisch geändert werden müssten. Die Erstellung von Indizes, Registern und anderen Auszügen aus dem Datenmaterial war durch die vorhandenen Bezüge zwischen den einzelnen Datenbanktabellen ein Leichtes (und der Bezug eines Registers kann beispielsweise durch Wiedergabe eines Datums oder einer Seitenzahl hergestellt werden). Die Verwendung einer Datenbank war also auch sachadäquat. Bei der von uns gewählten Vorgangsweise (die zunächst hauptsächlich dazu implementiert wurde, um uns die Arbeit zu erleichtern, dabei aber auch auf die bestmögliche Weiterverwendbarkeit des Datenmaterials hin durchdacht war) wäre es ein Leichtes gewesen, die fertige Druckvorlage direkt aus der MySQLDatenbank zu generieren und der Druckerei eine fertig ›gesetzte‹ PDF-Datei inklusive aller Register zu übermitteln.16 Die Idee war gut, doch die Welt noch 16 Mögliche Wege dazu hätten umfasst: MySQL > PHP > [XML > XSLT >] LaTeX > PDF oder

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nicht bereit: Die an der Publikation beteiligte Bibliothek beharrte auf einer Umsetzung über den Umweg eines eindimensionalen Word-Dokuments, in dem notwendigerweise sämtliche Verweisbeziehungen etwa zwischen bereits separat vorhandenen Personennamen und den Tagebucheinträgen, in denen diese genannt werden, wieder verschwinden mussten – zur Erinnerung: Bibliotheken waren bereits in den 1960er Jahren unter den ersten, die für ihre stets gleich strukturierten Katalogeinträge die Vorteile von Datenbankstrukturen zu nutzen verstanden haben. Das über einen ähnlichen Weg (MySQL > PHP > XML > doc) erzeugte Dokument musste dann in der jeweils aktuellen Fassung zu weiteren Korrekturen über E-Mails hin- und hergeschickt werden, wobei teils unerklärliche Änderungen durch die Verwendung unterschiedlicher Versionen derselben Software (Microsoft Word) auftraten, teils durch menschliches Versagen Fehler ›sich einschlichen‹, welche in mehreren aufwändigen Schritten wieder eliminiert werden mussten. Überdies mussten im Worddokument vorgenommene Änderungen händisch in die Datenbank übernommen werden, um selbige auf dem letzten Stand zu halten und damit die Möglichkeit zu haben, diese Datenbank auch in Zukunft verwenden zu können. Als zusätzliche Erschwernis kam hinzu, dass auch der mit Layout und Grafik betraute Seitenarchitekt (später kam der gesamte Satz hinzu) trotz vorhandener Möglichkeit dazu die bereits vorhandene Datenstruktur nicht zu nutzen verstand und auf der Weiterarbeit anhand eines Word-Dokuments bestand.17 Aus der Gemengelage von Unwissen, Unwillen zur vorherigen Absprache oder auch nur zur Erwägung der unterschiedlichen Umsetzungsmöglichkeiten resultierte ein Mehraufwand auf allen Seiten, der sich durch ein wenig Flexibilität und Bereitschaft zum Lernen vermeiden hätte lassen: Dieser äußerte sich etwa darin, dass die über 6600 Vorkommen von über 3000 vorkommenden Personennamen auf rund 400 Seiten händisch in ein Register mit den korrekten Seitenzahlen überführt wurde, obwohl diese Relationen in der Datenbank bereits vorhanden gewesen wären… Gleichzeitig wurde das vorher nicht auf ein bestimmtes Ausgabemedium beschränkte Material auf die Form Buch reduziert – und zugleich mussten die entstandenen Mehrkosten für den nichtautomatisierten Satz durch Druckkostenzuschussanträge gedeckt werden.18

MySQL > PHP > XML > XSL-FO oder MySQL > PHP > XML > Adobe Indesign. 17 Die Alternative wäre zu diesem Zeitpunkt gewesen, die XML-Fähigkeiten des professionellen Satzprogramms Adobe Indesign zu benutzen und damit bei gleichem Ergebnis rund 84 000 Mausklicks zu sparen. 18 Die Frage der (nicht nur österreichischen) Verlagsförderung über Druck- und Satzkostenunterstützung kann hier nicht erörtert werden, steht aber bei solchen und ähnlichen Projekten immer mit zur Debatte.

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5.

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Appell: Warum uns das nicht egal sein sollte

Wesentliche Bereiche der alltäglichen, aber auch der wissenschaftlichen Kommunikation befinden sich im Umbruch. Dieser Umbruch betrifft nicht nur die Arbeitsmittel und -werkzeuge, mit denen wir selbst als Germanist/inn/en und die Studierenden, die unsere Institute hervorbringen, zu tun haben, sondern darüberhinaus auch die gesamte Publikationspraxis. Dass Bücher aus richtigem Papier immer noch einen Wert haben werden, dass es sie weiterhin geben wird, dafür sprechen nicht nur die unzähligen stillen Verbesserungen, die die Druckindustrie in den letzten 20 Jahren durchgemacht hat (Papierqualität, Verarbeitungsmöglichkeiten gerade in der Endverarbeitung, Qualität von Druckfarben und ihre Anpassung an spezielle Papiere haben zu einer Perfektionierung der Abläufe wie ihrer Ergebnisse geführt – die Druckindustrie hat es allerdings kaum verstanden, diese adäquat einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln). Mit dem Medienwandel hin zu digitalen Präsentationsformen, zu mobilen Endgeräten und zu neuen Verwertungsmodellen im Bereich von EBooks geht eine erhöhte Mediensensibilität auch gegenüber ›alten‹ Medien wie dem Buch einher,19 die nach meiner Prognose dafür sorgen wird, dass eher ein Ergänzungs- denn ein Verdrängungsprozess in Gang kommt. Nachdem das Buch über mehr als ein halbes Jahrtausend Buchdruckgeschichte als Behälter- und Transportwerkzeug perfektioniert wurde und als solches vermehrte Aufmerksamkeit von allen möglichen Seiten erfährt,20 muss sich niemand vor dem absoluten Niedergang der gesamten Buchproduktion fürchten. Die Herausforderungen aber liegen in der Werkzeugbeherrschung und damit bei der elektronischen Textverarbeitung. Daraus kann man folgern: Wer nicht zumindest ein oberflächliches Wissen von den Möglichkeiten digitaler Textverarbeitung mitbringt, wird – auch wenn das Ergebnis nach wie vor in dem ›Containerformat‹ Buch daherkommen soll –21 das Nachsehen haben. Germanist/inn/en sollten darüber im Rahmen ihres 19 Zu den supplementären Entwicklungen von E-Books in Konkurrenz zum Buch siehe die jüngsten Aufsätze von Rüdiger Wischenbart. 20 Aus der Buchwissenschaft und Buchgeschichte beispielhaft genannt sei die Reihe Wolfenbütteler Schriften zur Buchgeschichte, zur Bemühung vonseiten der Buchproduzenten im grafischen Gewerbe vgl. die Publikationen und Veranstaltungsserien der diversen Typographischen Gesellschaften (München, Österreich, etc.); Bücherliebhaberei produziert weiter Bücher über Bücher (jüngst etwa Thomas Eder, Samo Kobenter, Peter Plener (Hg.): Seitenweise. Was das Buch ist, Wien 2010). 21 Der technische Begriff des Containers soll nicht die dahinterliegende Diskussion verstellen, die etwa auf die Differenz von Text und Werk abhebt (hierzu vgl. Roland Reuß, Wolfram Groddeck, Walter Morgenthaler (Hg.): TEXT 10. Text & Werk, Frankfurt/Main 2005). Bei Michel Foucault ist ein Buch in Abgrenzung zum (immateriellen) Gehalt nur ein »Gegenstand, den man in der Hand hat«. (Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/ Main 1981, 30.)

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Studiums orientiert werden, denn sonst werden sie grundlegende Probleme, die in allen mit Textverarbeitung verbundenen Berufsfeldern auftreten, nicht verstehen. Zukünftige Generationen von Layouter/inne/n, Grafiker/inne/n, Webdesigner/inne/n und Absolvent/inn/en der Germanistik sollten die Sprache der jeweils anderen verstehen, wobei es ist sicher nicht Aufgabe der Germanistik oder einer ihr verwandten (Literatur-)wissenschaft ist, die Ausbildungswege im grafischen Gewerbe zu ›vergeisteswissenschaftlichen‹. Chancen und Gefahren abwägen zu können gehört zum Geschäft: So eröffnet die Digitalisierung im Bereich von Texten (die Unterscheidung in Primär- und Sekundärtexte erscheint von einem technischen, vielleicht auch von einem theoretischen Standpunkt her obsolet) bislang zwar bekannter Möglichkeiten der Verknüpfung von Texten, von Korpusbildung, von Annotation einer neuen, einfacheren und auf den ersten Blick billigeren Verwendung. Doch dies erfordert eine Neuorientierung auch auf die Basiskompetenzen von Germanist/inn/en als Textverarbeiter/innen: Wir sind nicht die einzigen, die mit neuen Werkzeugen umzugehen haben; so wird sich nicht nur die Methodik von Bibliothekar/inn/en ändern (diese ist längst dabei). Es kommt auch zu neuen Herausforderungen für Archivar/inn/en, wenn diese (wie bereits seit einigen Jahren) auf einmal nicht mehr mit Papiervor- und nachlässen, sondern mit überlassenen Festplatten mit Dokumenten in unterschiedlichen Formaten zu arbeiten haben.22 Die Erschließung, Archivierung und Bereitstellung von Texten verlangt von der Produzentenseite (beispielsweise in den Bereichen von Netzliteratur, Weblogs und Onlinezeitschriften), aber auch von der Zirkulationsseite eine fundierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Werkzeug, das zugleich von anderen verwendet wird. Es wird für uns Germanist/inn/en darum gehen, die Möglichkeiten anzusehen, die Werkzeugbeherrschung zu forcieren.

22 Zur in Entwicklung befindlichen, meistenteils hemdsärmeligen und fallweise naiven Herangehensweise im Archivbereich vgl. etwa die DRS-Sendung von Sara Herwig zum Thema mit Interview mit Ulrich von Bülow, dem Leiter der Handschriftensammlung im DLA in Marbach, nachzuhören unter http://pod.drs.ch/mp3/reflexe/reflexe_201002221335_1012 3165.mp3 (Zugriff 10. 06. 2010). In der Sendung geäußert werden unter anderem interessante Überlegungen zur verschwindenden Materialität von literarischen Zeugnissen und zur Veränderung des Fassungsbegriffs.

Lesarten

Anne-Kathrin Reulecke

»Im Innern ist alles alles abgeschrieben«. Plagiat und Einfluss in Tagebüchern Franz Kafkas Was da ist, das ist mein! […] und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleichviel, es kam bloß darauf an, dass ich es recht gebrauchte!1

Während die Dichter des 19. Jahrhunderts, wie hier Johann Wolfgang von Goethe, das Thema des Plagiats gern im Gestus des erfrischenden Aphorismus oder der erbaulichen Maxime vom Tisch fegen, greifen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts die vielfältigen Konstellationen des Abschreibens eher als gefährliche Grenzerfahrung des eigenen Schreibens auf.2 So hat Georges Perec in Le voyage d’hiver das Plagiat als Chiffre einer entgrenzenden und damit bedrohlichen Intertextualität beschrieben ¢ als Gedankenspiel mit ernstem Grund zum Genre der klassischen Literaturgeschichtsschreibung.3 Luigi Malerba hat in Il plagio das Plagiat als Figur des Wissens ins Spiel gebracht, mit der prekäre Fragen nach dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem verhandelt werden – verbildlicht in durchlässigen Körpergrenzen.4 In beiden Texten ist die Diskussion um geistiges Eigentum und das ›robuste Schlagwort‹ Plagiat (Robert Walser) bloßer Ausgangspunkt, um weit grundlegendere, poetologische Fragen nach Ursprung, Inspiration und Einfluss zu stellen. In ihrem Zentrum steht die Befürchtung der Schriftsteller, ungewollt zu einem Plagiator oder zumindest zu einem Epigonen geworden zu sein. Sinnfälligerweise wird dabei der Duktus des Aphorismus über das Plagiat, der dem 19. Jahrhundert eignete, aufgegeben, um stattdessen das Plagiat in Form literarischer Schreibweisen als Herausforderung an das eigene Schreiben in Szene zu setzen. 1 Johann Wolfgang Goethe: Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinz Schlaffer, München 1986 (Münchner Ausgabe, Bd. 19), Eintrag zum 18. 1. 1825. 2 Vgl. Anne-Kathrin Reulecke: »Ohne Anführungszeichen. Literatur und Plagiat«, in: AnneKathrin Reulecke (Hg.): Fälschungen. Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt/Main 2006, 265 – 290 sowie dies.: »Das Problem des Plagiats in poetologischen und literarischen Texten: Goethe, Federman, Malerba«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands. List – Lüge – Täuschung, H. 3 (2005), 416 – 427. 3 Georges Perec: Le voyage d’hiver (1979), Paris 1993. 4 Luigi Malerba: »Das Plagiat. Erzählung in Form eines Alptraums« (1983), in: ders.: Silberkopf. Erzählungen. Frankfurt/Main 1997, 45 – 57.

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Anne-Kathrin Reulecke

Es war Franz Kafka, der sich als einer der ersten auch mit der komplementären Seite der Plagiatsangst befasste. Wird doch die Angst, unwissentlich andere Schriftsteller plagiiert zu haben, flankiert von der Furcht, von anderen plagiiert worden zu sein. In einer Tagebuchaufzeichnung aus dem Jahr 1912 geht Kafka den Dynamiken nach, die in der strikten Wahrung des geistigen Besitzstandes angelegt sind. Am Beispiel einer in sein Tagebuch ›eingenähten‹ Fallgeschichte zeigt er, dass ein überzogener Originalitätsanspruch einen generellen Plagiatsverdacht nach sich zieht, dessen Tendenz es ist, sich zu verselbständigen und dabei grenzenlos zu werden. Gleichzeitig aber antwortet der in der historisch-literarischen Figur des »Recitators Reichmann« angelegte Plagiatswahn auf ungelöste Fragen der Autorschaft und des Einflusses. Dabei entwickelt Kafka im Kontext der Fallgeschichte ein gleichsam körperliches Einflussmodell, nach welchem sich im Prozess des Lautlesens bzw. Rezitierens – im Modus einer lesenden Einverleibung – der gelesene Text auf den Leser überträgt, so dass dieser mit dem Text ›eins‹ wird. Doch Franz Kafka präsentiert mit der Reichmann-Episode nicht nur ein Lehrstück über die Entstehung von Literatur. Darüber hinaus, so zeigt die genaue Lektüre eines bisher von der Forschung unbeachteten Zeitungsartikels aus dem Prager Tagblatt, verdankt sich sein Tagebuchtext selbst einem dichten Netz, in dem Gelesenes, Außenwelt und Schreibprozess untrennbar miteinander verknüpft sind.

Wahn, Witz und Wahrheit »Aber auf den Einband kommt es ja nicht an«5

Im fünften Heft der Tagebücher, in den Einträgen vom 27. und 28. 2. 1912, berichtet Franz Kafka von einer unerhörten Begebenheit des Vortages. Ein offenbar äußerst aufgebrachter Mann, der später als »Recitator Reichmann« vorgestellt wird – und der als der Prager Bankbeamte und Gelegenheits-Vortragskünstler Oskar Reichmann identifiziert worden ist –,6 fängt Kafka auf der Straße ab und bittet diesen um juristische Auskunft in einer Plagiatsangelegenheit. Kafka leugnet, wie er sagt, »aus Vorsicht, allgemeinem Verdacht, und Besorgnis, [sich zu] blamieren«,7 Jurist zu sein, will sich dennoch den Fall anhören und wenigstens einen inoffiziellen Rat geben. Der anschließende Bericht, der einen 5 Franz Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, hg. nach der kritischen Ausgabe von Hans-Gerd Koch, Frankfurt/Main 2001 (Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 10), 40. 6 Vgl. den Kommentar der Herausgeber in: F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 265. 7 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 39.

»Im Innern ist alles alles abgeschrieben«

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mehrseitigen kompakten Abschnitt innerhalb der zumeist nur fragmentarischkurzen Tagebuchskizzen des Jahres 1912 einnimmt, erzählt die Geschichte eines Unrechts. Reichmann hat einer gewissen Frau Jenny DurÀge-Wodmanski, der Obmännin des »Frauenfortschritts«, eines Prager Bildungsvereins für Frauen, einen Rezitationsabend angeboten. Um sich vor ihr als Künstler auszuweisen und um – Zitat Kafka, Zitat Reichmann – »von vornherein zu zeigen, was er eigentlich für ein Mensch ist«,8 hat Reichmann ihr das Manuskript eines von ihm verfassten Aufsatzes mit dem Titel Lebensfreude gezeigt und es ihr – trotz eines frühen »Verdacht[s]« –9 zur Lektüre ausgeborgt. Zwei Tage später fällt sein Blick zufällig auf die Unterhaltungsbeilage des Prager Tagblatt: Der Titel des ersten Aufsatzes »Das Kind als Schöpfer« fällt ihm auf, er liest die ersten Zeilen – und fängt vor Freude zu weinen an. Es ist sein Aufsatz, wortwörtlich sein Aufsatz. Es ist also zum erstenmal etwas gedruckt, er lauft zur Mutter und erzählt es. Die Freude! Die alte Frau, sie ist zuckerkrank und vom Vater geschieden, der übrigens im Recht ist, ist so stolz. Ein Sohn ist ja schon Virtuose, jetzt wird der andere Schriftsteller! Nach der ersten Aufregung überlegt er nun die Sache. Wie ist denn der Aufsatz in die Zeitung gekommen? Ohne seine Zustimmung? Ohne Namen des Verfassers? Ohne daß er Honorar bekommt? Das ist eigentlich ein Vertrauensmißbrauch, ein Betrug. Diese Frau Durege ist doch ein Teufel. Und Frauen haben keine Seele sagt Mohamet (oft wiederholt) Man kann es sich ja leicht vorstellen, wie es zu dem Plagiat gekommen ist. Da war ein schöner Aufsatz, wo findet man gleich einen solchen. Da ist also Frau D. ins Tagblatt gegangen, hat sich mit einem Redakteur zusammengesetzt, beide überglücklich, und jetzt haben sie die Bearbeitung angefangen. Bearbeitet mußte es ja werden, denn erstens durfte man ja das Plagiat nicht auf den ersten Blick erkennen und zweitens war der 32 Seiten lange Aufsatz für die Zeitung zu groß.10

Bereits dieser Textausschnitt macht deutlich, dass Kafka den Plagiatsfall konsequent aus der Sicht des Geschädigten erzählt, dessen Perspektive er mittels eines erzähltechnischen Drehs präsentiert. So verzichtet er weitgehend auf Kommentare und auf den für ein Tagebuch üblichen und den die Dialoge vermittelnden Konjunktiv der indirekten Rede. Reichmanns Bericht wird ungebrochen in der dritten Person Indikativ wiedergegeben: »Er liest die ersten Zeilen – und fängt vor Freude zu weinen an. Es ist sein Aufsatz, wortwörtlich sein Aufsatz.« Das Ich des Tagebuchs tritt somit in den Hintergrund, um – ähnlich einem personalen Erzähler – der Stimme Reichmanns Raum zu geben, an der Kafka, wie er explizit schreibt, äußerst »interessiert« ist.11 Die Dramaturgie der Geschichte ist schlagend: Je mehr Reichmann, den 8 9 10 11

Ebd., 41. Ebd., 42. Ebd. Ebd., 40.

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Kafka im Originalton wiedergibt, über das ihm widerfahrene Unrecht spricht, desto größere Zweifel entstehen an seiner Glaubwürdigkeit; je mehr er sich mit formal logischen Argumenten das geschehene Plagiat zu beweisen bemüht, desto mehr erweist sich seine Logik als Scheinlogik. Dies geschieht zum Beispiel, wenn Reichmann herleitet, bereits der Titel des plagiierenden Zeitungsartikels Das Kind als Schöpfer sei ein höhnischer Kommentar der Plagiatoren. Mit dem Titel sei er, Reichmann, gemeint, da er wie ein Kind »etwas so Gutes« geschaffen habe und sich damit also als Schöpfer erwiesen habe,12 aber gleichzeitig sich wie ein dummes Kind habe betrügen lassen. Auch die weiteren textinternen Indizien, die der junge Mann anführt, können nicht zu einem Beweis des Plagiats führen, sondern weisen stattdessen – wie ein Bumerang – auf die Disposition des Anklägers zurück. Doch gleichzeitig – und das macht die Besonderheit des Kafka-Textes aus – wird im Fond der wahnhaften Rede des vermeintlichen Plagiatsopfers eine Logik erkennbar, die auf generelle philologische und damit auch juristische Probleme beim Nachweis von Plagiaten verweist, wie eine kleine Gesprächssequenz verdeutlicht: »Auf meine Frage«, schreibt Kafka, ob er mir nicht Stellen zeigen wolle, die sich decken, da dieses mich besonders interessieren würde und da ich erst dann ihm einen Rat für sein Verhalten geben kann, fängt er seinen Aufsatz zu lesen an, schlägt eine andere Stelle auf, blättert, ohne zu finden und sagt schließlich, daß alles abgeschrieben sei. Da stehe z. B. in der Zeitung: Die Seele des Kindes sei ein unbeschriebenes Blatt und »unbeschriebenes Blatt« komme auch in seinem Aufsatz vor. Oder der Ausdruck »benamset« sei auch abgeschrieben, wie käme man denn sonst auf »benamset«. Aber einzelne Stellen kann er nicht vergleichen. Es sei zwar alles abgeschrieben, aber eben vertuscht, in anderer Reihenfolge, gekürzt und mit kleinen fremden Zutaten. Ich lese laut einige auffallendere Stellen aus der Zeitung. Kommt das im Aufsatz vor? Nein. Das? Nein. Das? Nein. Ja aber das sind eben die aufgesetzten Stellen. Im Innern ist alles alles abgeschrieben. Aber der Beweis wird, fürchte ich, schwer. Er wird es schon beweisen mit Hilfe eines geschickten Advokaten, dazu sind ja Advokaten da. (Er sieht diesem Beweis wie einer ganz neuen von dieser Angelegenheit vollständig abgetrennten Aufgabe entgegen und ist stolz darauf, daß er sich ihre Bewältigung zutraut) […].13

So augenscheinlich sich Reichmann auch mit seiner Rede disqualifiziert, so wenig er auch in seinem eigenen Fall überzeugen kann, so offenkundig spricht er ungelöste Fragen in der Diskussion um die Auslegung literarischer Plagiate an. Sein beharrlich formulierter Anspruch auf die zum Gemeinplatz gewordene metaphorische Wendung vom Kind als »unbeschriebenes Blatt« etwa berührt das Problem, dass sich die Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft eines gemeinsamen und begrenzten Wortschatzes bedienen. Begibt man sich auf die Ebene der einzelnen Wendung, des einzelnen Wortes, ist tendenziell jede Rede 12 Ebd., 43. 13 Ebd., 42 f.

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ein Plagiat. Oder anders gesagt: Je kürzer die Syntagmen sind, in die ein Text aufgeteilt wird, desto mehr Ähnlichkeit hat er mit anderen Texten. Mit seinem Besitzanspruch auf die Satzpartikel vom »unbeschriebenen Blatt« wiederholt Reichmann den Gestus berüchtigter Plagiats-Philologen des 19. Jahrhunderts, wie den legendären Dr. med. Paul Albrecht. Hatte dieser doch in aufwändigen Synopsen sämtliche Sätze und Worte im Werk Lessings als Plagiat anderer Dichter nachweisen wollen, manchmal sogar, indem er gestohlene Silben auszumachen meinte.14 Auch wenn Reichmann darauf beharrt, möglicherweise nicht im wörtlichen Sinne, so doch aber ganz bestimmt »[i]m Innern« – also sinngemäß – plagiiert worden zu sein, trifft er den Kern juristisch brisanter Fragestellungen, ob und wie neben dem wörtlichen ein sinngemäßes, inhaltliches Plagiat nachweisbar ist, und in welcher Weise auch Motive, Gedankenverknüpfungen und Aufbau eine schöpferische Leistung darstellen.15 Debatten also, die ihrerseits zentrale Fragen der Philologie berühren. Steht doch dabei nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als die ungeklärte Frage, auf welchen Ebenen – jenseits des Wortlauts – ein Konzept, eine Idee oder ein Signifikat auszumachen sind bzw. welche Relevanz der Kontext für die Bedeutung einer einzelnen Textstelle hat. Reichmann nun nutzt die Opposition ›wörtlich und sinngemäß‹ auf seine Weise: Er argumentiert, dass gerade die äußerliche Unähnlichkeit der Texte Lebensfreude und Das Kind als Schöpfer, also gerade das Fehlen wörtlicher Übereinstimmung, darauf hinweise, dass hier eine ganz besonders gelungene Vertuschung – sozusagen ein perfektes Plagiat – vorliegen muss. Die sich steigernde Anklagerede, die Kafka dem »Recitator« ablauscht, der Ausruf, alles sei abgeschrieben, die Wiederholung dieses Satzes und die darauf folgende Steigerung zu »Im Innern ist alles alles abgeschrieben« sind Zeichen seines Wahns. Sie sind aber auch die konsequente Fortführung eines tendenziell offenen Plagiatsbegriffs. Weil es für Reichmann wie für die Philologie so schwierig nachzuweisen ist, wo genau das Plagiat ist und vor allem wo es nicht ist, stellt der Topos der generellen ›Abschriftstellerei‹ (Paul Englisch) – der die Geschichte des Plagiats seit Clemens von Alexandrien durchzieht – einen vermeintlichen Ausweg dar. Oder anders gesagt: Weil Einflüsse nicht dingfest zu machen sind und sich damit Plagiate so schwer ermitteln lassen, wird im Umkehrschluss behauptet, alles sei abgeschrieben. Die Tendenz ins Unendliche wiederholt sich auch in der Rede Reichmanns selbst – im Echo der Assonanzen und Alliterationen des Lamentos: »Im Innern ist alles alles abgeschrieben«. Entscheidend für die Episode ist, dass der Tagebuch-Schreiber Kafka auf eine 14 Vgl. A.-K. Reulecke: »Ohne Anführungszeichen«. 15 Vgl. Florian Fischer : Das Literaturplagiat. Tatbestand und Rechtsfolgen, Frankfurt/Main 1996.

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letztliche Einordnung des Geschehens ebenso wie auf eine endgültige philologische oder juristische Auflösung des Falls – ob es sich also nun tatsächlich um einen Plagiatsfall handelt oder nicht – verzichtet. Seine abschließende Bemerkung lautet schlicht: »Er geht ins Kafe Corso ich gehe nach Hause mit der Erfahrung, wie erfrischend es ist, mit einem vollkommenen Narren zu reden. Ich habe fast nicht gelacht, sondern war nur ganz aufgeweckt.«16 Und einige Tage später, am 11. 3. 1912, findet sich – gleichsam als Post-Postskriptum – der lakonische Vermerk: »Der Recitator Reichmann ist den Tag nach unserem Gespräch ins Irrenhaus gekommen.«17

Der »Recitator« als Allegorie der verunsicherten Autorschaft Die abschließende, ja abwinkende Geste am Ende der Episode aber täuscht. Denn tatsächlich weisen ihr sowohl der vergleichsweise große Raum, den Kafka der Affäre um den »Recitator« zugesteht, als auch ihre geschlossene Dramaturgie und die bereits erwähnte hybride Erzählperspektive einen besonderen Status zu. Die kleine Episode gehört offensichtlich zu jenem Typus von Tagebucheinträgen Kafkas, die sich auf besondere Erlebnisse und tatsächliche Begebenheiten des Alltags beziehen, sich aber bereits im Augenblick der Aufzeichnung verselbständigen und literarische Züge annehmen.18 Im Moment des Notierens selbst wird aus dem Zusammenprall mit dem Prager Bankbeamten Oskar Reichmann am 26. 2. 1912 die literarische Figur des »Recitators Reichmann«. Nicht nur werden in dessen Rede – wie gezeigt wurde – eingeführte Diskurse und Argumente zum Plagiat aufgerufen, verdichtet und durchgespielt; nicht nur übernimmt der Tagebuch-Schreiber von Anfang an – mit Hilfe des historischen Präsens und der ersten Person Singular – die Perspektive Reichmanns. Auch ist der ›betrogene‹ »Recitator« – in deutlicher Nähe anderer bekannter Protagonisten Kafkas – ein einsamer Kläger, der einem unüberschaubaren System (hier : dem Literaturbetrieb) den Prozess (hier : den Plagiats-Prozess) machen will. Gleichsam als komischer Vorläufer Josef K.s konfrontiert er die Verdächtigen – die Obmännin DurÀge und den zuständigen Redakteur Wittmann – mit dem Plagiatsvorwurf und schleudert ihnen pathetisch-hilflos den Satz »J’accuse«, das berühmte Zitat Emile Zolas zur Dreyfuß-Affäre, entgegen.19 Wie die anderen 16 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 47. 17 Ebd., 53. 18 Vgl. Hans-Gerd Koch: Nachbemerkung, in: F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 323 – 327 sowie Gerhard Neumann: »›Eine höhere Art der Beobachtung‹. Wahrnehmung und Medialität in Kafkas Tagebüchern«, in: Beatrice Sandberg, Jakob Lothe (Hg.): Franz Kafka. Zur ethischen und ästhetischen Rechtfertigung, Freiburg/Breisgau 2002, 33 – 58. 19 Vgl. F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 44 f.

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literarischen Gestalten Kafkas wird Reichmann ›anonymisiert‹ und dabei typisiert. Bleibt doch über weite Passagen der Anekdote hinweg der historisch verbriefte Name des »jung[en] Mann[es]« unerwähnt,20 wird doch der »Recitator« seitenlang nur mit »er« bezeichnet, bis er dann erst in einem von ihm selbst wiedergegebenen Dialog mit Namen angesprochen21 und schließlich im Epilog zum ersten (und letzten) Mal von Kafka namentlich genannt wird.22 Obendrein ist Reichmann als äußerst komplexe Figur gestaltet. Gleich in der Rahmengeschichte der Straßenbegegnung wird er als jemand eingeführt, dessen besonderer Ehrgeiz es ist, ein »guter Recitator« zu sein.23 Er ist, wie wir erfahren, in der Lage, das gesamte bildungsbürgerliche Programm seiner Zeit – von Dehmel, über Rideamus bis zu Swet Marten, von Goethes Gedicht Prometheus bis zu Epigrammen über Napoleon – auswendig aufzusagen. Vor allem aber ist er ein Rezitator, der seinerseits einen Rezitator nachahmt. Denn es ist seine ausdrückliche Ambition, sein großes Vorbild, den im Prager Literaturbetrieb verehrten Burgschauspieler und legendären Charakterdarsteller Josef Kainz, zu imitieren:24 Er ist ein guter Recitator, früher war er beiweitem nicht so gut wie jetzt, jetzt kann er schon den Kainz nachmachen, daß keiner ihn unterscheidet. Man wird sagen, er macht ihm nur nach, aber er gibt doch auch viel eigenes. Er ist zwar klein, aber Mimik, Gedächtnis, Auftreten hat er, alles, alles.25

Reichmann reichert sich als dilettierender Vortragskünstler mit den Zitaten anderer an, er nimmt ihre Texte in sich auf, macht sie sich so zu eigen. Daneben versucht er, die Form eines bestimmten Zitierens, den Habitus des Rezitators nachzuahmen. Und paradoxerweise glaubt er, gerade weil er dabei auch »viel eigenes« zu geben meint, den anderen – und zwar bis zur Ununterscheidbarkeit – imitieren zu können. Des Weiteren reicht es ihm nicht, als bloß rezitierendes Medium der Texte anderer zu fungieren; er will, wie wir wissen, selbst Autor werden und »gedruckt« sein. Kafka beschreibt somit eine Figur, die in mehrfacher Weise – als eigensinniger Rezitator und als enteigneter Schriftsteller – die Grenze zwischen Fremdem und Eigenem überschreitet bzw. einer solchen Grenzüberschreitung durch Andere ausgesetzt ist. Bei aller – gerade in Hinblick auf Franz Kafka ¢ gebotenen Abstinenz, Texte allegorisch zu deuten, ist es naheliegend, den »Recitator Reichmann« als eine Kunstfigur im doppelten Sinne 20 21 22 23 24

Ebd., 39. Vgl. ebd., 44. Vgl. ebd., 53. Ebd., 40. Vgl. zu Kafkas Passion für die Vortrags- und Rezitationskunst seiner Zeit und zu den historischen Hintergründen der im Tagebuch erwähnten Vortragsabende und Künstler : Lothar Müller : Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka, Berlin 2007. 25 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 40.

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zu lesen: als kunstvoll und witzig gestalteten Protagonisten einer Erzählung und als Reflexionsfigur einer unsicheren und verunsicherten Autorschaft.

Rezitation, Lektüre und körperlicher Einfluss Hinter der vordergründigen Fallgeschichte und der juristisch-ethisch diskutierten Plagiatsthematik entfaltet sich somit das große poetologische Thema der literarischen Produktivität. Mit Hilfe der Figur Reichmann fragt Kafka nach den Modi und Wirkungen des literarischen Einflusses, beschäftigt sich mit der Frage, über welche Wege die Texte anderer angeeignet werden und wie sie den Schreibprozess tangieren. Ein beinahe überdeutlicher Hinweis auf das ›eigentliche‹, hinter dem juristisch-philologischen Begriff des Plagiats verborgene Leitmotiv findet sich in den Aufzeichnungen selbst, und zwar dort, wo Franz Kafka bzw. das Tagebuch-Ich bzw. der literarische Ich-Erzähler sich ausdrücklich dagegen verwahrt, als Jurist zu agieren. Er betont, dass er keine juristische Auskunft erteilen könne, gleichwohl bereit sei, »einen Rat zu geben«.26 Schließlich, am Ende der Episode, empfiehlt er Reichmann, den Plagiatsverdächtigen gegenüber großzügig zu sein – und »diesmal noch unbewußte Beeinflussung« anzunehmen.27 Aus dieser Perspektive nun fällt ein in der Forschung bisher eher vernachlässigter Themenkomplex ins Auge, der sich als Geflecht durch das gesamte fünfte Heft der Tagebücher aus dem Jahr 1912 zieht: die Liaison von Rezitation, Lektüre und Einfluss. So ist es zum einen bemerkenswert, dass Kafka in den Wochen um die Reichmann-Affäre offenbar geradezu obsessiv Theateraufführungen, Kulturprogramme und Rezitations-Abende besuchte.28 Im Zentrum der Einträge zu den Auftritten des Dichters Nathan Birnbaum, des Kantors Leo Gollanin oder der Schauspielerin Tilly Wedekind steht dabei immer wieder die körperliche Präsenz der Rezitatoren: 6 I 12 Frau Klug hatte Benefice und sang deshalb einige neue Lieder und machte ein paar neue Witze. Aber nur bei ihrem Antrittslied war ich ganz unter ihrem Eindruck, dann bin ich zu jedem Teilchen ihres Anblicks in der stärksten Beziehung, zu den beim Gesang ausgestreckten Armen und den schnippenden Fingern, zu den fest gedrehten Schläfenlocken, zu dem flach und unschuldig unter die Weste gehenden dünnen Hemd, zu der Unterlippe die sich einmal beim Genießen der Wirkung eines Witzes aufstülpt (seht Ihr, alle Sprachen kenn ich, aber auf jiddisch), zu den fetten Füßchen, die in den 26 Ebd., 39. 27 Ebd., 46. 28 Vgl. dazu L. Müller : Die zweite Stimme.

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dicken weißen Strümpfen bis hinter die Zehen durch die Schuhe sich niederhalten lassen.29

An der Intensität, in der die Körperlichkeit der Künstlerin zum Ausdruck kommt, ist für den Zuschauer ablesbar, wie nahe sie den Kunstwerken kommen konnte, die sie vorträgt, und wie sehr sie sich »in den Liedern […] wohl fühlte«.30 Der Kommentar verweist auf das für Kafka maßgebliche ästhetische Kriterium, ob nämlich ein Vortragskünstler den Text so intensiv aufgenommen, ja verinnerlicht hat, dass er in der Lage ist, ihn restlos – in Stimme, Mimik und Gestik – zu verkörpern; oder ob es sich bei ihm um bloße »Mundtechnik« handelt.31 Auch wenn Kafka davon berichtet, im Familienkreise seinen Schwestern vorzulesen, thematisiert er das Begehren, einem geliebten Text dadurch nahezukommen, dass er ihn im Akt des Vortragens verkörpert: 4. I 11 Nur infolge meiner Eitelkeit lese ich so gerne meinen Schwestern vor, (daß heute z. B. zu spät zum Schreiben geworden ist) Nicht daß ich überzeugt wäre, daß ich im Vorlesen etwas Bedeutendes erreichen würde, vielmehr beherrscht mich nur die Sucht, mich an die guten Arbeiten, die ich vorlese, so sehr heranzudrängen, daß ich mit ihnen nicht durch mein Verdienst, sondern nur in der durch das Vorgelesene aufgeregten und für das Unwesentliche getrübten Aufmerksamkeit meiner zuhörenden Schwestern in eins verfließe und deshalb auch unter der vertuschenden Wirkung der Eitelkeit als Ursache an allem Einfluß teilnehme, welchen das Werk selbst geübt hat. Deshalb lese ich auch vor meinen Schwestern tatsächlich bewundernswert, erfülle manche Betonungen mit einer meinem Gefühl nach äußersten Genauigkeit, weil ich nachher nicht nur von mir sondern auch von meinen Schwestern im Übermaß belohnt werde.32

Das Vorlesen wird zum Vehikel, um sich an »die guten Arbeiten […] heranzudrängen«, um dadurch ¢ zumindest vorübergehend – mit ihnen zu verschmelzen. Dabei wird der Einfluss, den die »guten« Texte ausüben, – zumindest scheinbar – zum Einfluss, den der Vortragende selbst ausübt. Beide Beispiele lassen darauf schließen, dass sich Kafka das Lesen und das anschließende Vorlesen in der Privatwohnung bzw. das Rezitieren im Theater als gleichsam physisches Kontinuum vorstellte, in welchem sich Dichter, Vortragender und Zuhörer körperlich einander annähern und sich dabei mit dem Sinn des Werks verbinden.

29 30 31 32

F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 14. Ebd., 15. Ebd., 23. Ebd., 11.

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Goethe lesen Ein Modell der faszinierenden Textinkorporation und anschließenden Textverkörperung fand Kafka idealtypisch im ›wilden‹ jiddisch-sprachigen Theater der Schauspieltruppe seines Freundes Jizchak Löwy realisiert. War dieses doch ein Theater, das im Gegensatz zu den westeuropäischen »Körper- und Darstellungs-Codes« des institutionalisierten Bildungstheaters und der Kultur der großen Mimen und Charakterdarsteller stand;33 fand sich doch hier eine »Körper-Kunst, die Gestisches und Verbales ineinanderschmilzt«.34 Um die besondere Theaterkunst der »original-jüdischen Gesellschaft aus Lemberg« einem breiteren Publikum verständlich zu machen,35 arbeitete er im Februar 1912 an einem Vortrag über Jargon,36 auf den noch einzugehen sein wird. Nicht von ungefähr fällt in die Zeit der Arbeit an diesem Text die eingehende Beschäftigung mit Johann Wolfgang von Goethe. Die Gedichte des Klassikers hielt Kafka, so eine aufschlussreiche Notiz, für so bedeutend, dass es ihn nicht wunderte, wenn sie sogar für den legendären Rezitator Alexander Moissi »unerreichbar« waren.37 Daher versuchte Kafka, den Rhythmus, der Goethes Gedichten eigen ist, im beschriebenen Modus der lesenden Einverleibung in seinen Einleitungsvortrag über Jargon zu übertragen. Um ›gut‹ schreiben zu können, genauer : um einen guten Vortragstext herstellen zu können, machte er sich daran, Goethes Prosodien und Metren physisch nahezukommen: »ich lese Sätze Goethes, als liefe ich mit dem ganzen Körper die Betonungen ab.«38 Waren ihm Goethes literarische Texte willkommener Einfluss für das eigene Schreiben, so ging ihr nachlassender Einfluss gar mit einer Schreibhemmung einher :

33 G. Neumann: »Eine höhere Art der Beobachtung«, 51. 34 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 52. 35 So der Anzeigentext zu den Vorstellungen des Theaterensembles, abgebildet in: G. Neumann: »Eine höhere Art der Beobachtung«, 50. 36 Vgl. Franz Kafka: »[Einleitungsvortrag über Jargon]«, in: ders.: Beschreibung eines Kampfes und andere Schriften aus dem Nachlaß, hg. nach der kritischen Ausgabe von Hans-Gerd Koch, Frankfurt/Main 2002 (Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 5), 149 – 153. 37 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 48. Zur Bedeutung Alexander Moissis in der zeitgenössischen Vortragskunst vgl. L. Müller : Die zweite Stimme, 67 – 73. 38 Vgl. F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 34. Die gesamte Passage lautet: »13. II 12 Ich beginne für die Konference zu Löwys Vorträgen zu schreiben. Sie ist schon Sonntag den 18ten. Ich werde nicht mehr viel Zeit haben mich vorzubereiten und stimme doch hier ein Recitativ an wie in der Oper. Nur deshalb weil schon seit Tagen eine ununterbrochene Aufregung mich bedrängt und ich vor dem eigentlichen Beginn halbwegs zurückgezogen paar Worte nur für mich hinschreiben will, um dann erst ein wenig in Gang gebracht vor die Öffentlichkeit mich hinzustellen. Kälte und Hitze wechselt in mir mit dem wechselnden Wort innerhalb des Satzes, ich träume melodischen Aufschwung und Fall, ich lese Sätze Goethes, als liefe ich mit ganzem Körper die Betonungen ab.«

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7. I 12 […] So vergeht mir der regnerische, stille Sonntag, ich sitze im Schlafzimmer und habe Ruhe aber statt mich zum Schreiben zu entschließen, in das ich z. B. vorgestern mich hätte ergießen wollen mit allem was ich bin, habe ich jetzt eine ganze Weile lang meine Finger angestarrt. Ich glaube diese Woche ganz und gar von Goethe beeinflußt gewesen zu sein, die Kraft dieses Einflusses eben erschöpft zu haben und daher nutzlos geworden zu sein.39

Doch es ist noch eine gegenläufige Relation lesbar : Nicht nur geht nachlassender Einfluss mit versiegender Produktivität einher, auch kann ein übergroßer Einfluss zu einer Schreibblockade führen. Kafka widmete sich nämlich neben der Goethe’schen Lyrik besonders der intensiven Lektüre des autobiographischen Werks Dichtung und Wahrheit – die übrigens bald aus Gründen der Ermüdung aufgegeben wurde. Zudem verschlang er geradezu alles, was ihm an biographischem Material zu Goethe zugänglich war. Ganze Passagen seines Tagebuchs sind gefüllt mit wörtlichen Zitaten von Zeitgenossen des Dichters – aus Titeln wie »Goethes Gespräche«, »Goethes Studentenjahre«, »Stunden mit Goethe« oder »Tragödie im Hause Goethe«.40 Sämtliche der zitierten Aussagen von Zeitzeugen beschreiben Goethes »schöne Silhouette« und vollkommene Gestalt,41 sein edles Verhalten, seine apodiktischen Urteile über andere, seine Rührung beim Rezitieren der eigenen Verse aus Hermann und Dorothea usw.42 Könnte man auf den ersten Blick die Aneinanderreihung solcher Aussagen für die Fortschreibung des Goethekults halten, so ereignet sich im ›Werkstattraum‹ des Tagebuches etwas anderes. Denn unter der Hand Kafkas, der die Beispiele der Apotheose Goethes als Bruchstücke ins Tagebuch montiert, verkehrt sich deren Wirkung. In ihrer Reihung nämlich lassen sie Goethe als gottgleichen Dichterfürst erscheinen, dessen Produktivität jedoch geradezu monströse Züge trägt.43 In deutlichem Kontrast zu Kafkas eigener – immerfort thematisierter – Befürchtung, überhaupt nicht oder nie mehr schreiben zu können, ist am 8. 2. 1912 kommentarlos ein Zitat aus Dichtung und Wahrheit ins Tagebuch aufgenommen worden: »Goethe: Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos.«44 Und so wundert es nicht, dass Kafka – so eine Notiz vom 31. 1. 1912 – die Zitate als Material für einen geplanten Aufsatz mit dem Titel »Goethes entsetzliches F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 21. Ebd., 29, 312. Ebd., 32. Vgl. ebd., 56. Die Einschätzung einer ›monströsen‹ und einschüchternden Produktivität korrespondiert mit Heinrich Heines Porträt Johann Wolfgang von Goethes in der Romantischen Schule als Göttervater, in dessen Nähe die Kreativität anderer nicht gedeihen kann. Vgl. Anne-Kathrin Reulecke: »›Stimmen der Vorzeit‹. Einflussrede bei Heinrich Heine und Sigmund Freud«, in: Sigrid Weigel (Hg.): Heinrich Heine und Sigmund Freud – Die Enden der Literatur und die Anfänge der Kulturwissenschaft, Berlin 2010, 293 – 316. 44 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 33.

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Wesen« sammelte,45 den er jedoch nie realisierte. Wie es überhaupt immer wieder heißt: Über Goethe gelesen – »Nichts geschrieben«.46 Die Zwiespältigkeit des Einflusses wird deutlich: Sind der der Lektüre Goethe’scher Texte abgelauschte Tonfall und der Rhythmus willkommener Bestandteil der eigenen dichterischen Produktivität, so wird gleichzeitig die Figur Goethes als vorbildliches Modell für Autorschaft – verstanden als autonome Hervorbringung und Schöpfung – von Kafka verworfen. Goethes Texte zu lesen beflügelt; über Goethe zu lesen, »macht hart nach außen, und kalt im Innern«.47

Gestohlene Sprache im ›Jargon‹ Der kurze Vortrag, an dem Kafka in der Zeit der Reichmann-Begegnung arbeitete und für dessen Rhythmisierung er eben die Gedichte Goethes las, variiert die Frage von Originalität und Einfluss ein weiteres Mal, diesmal allerdings, indem er sie in einen ganz spezifischen kulturtheoretischen Kontext stellt. Mit dem Einleitungsvortrag über Jargon eröffnete Franz Kafka einen Rezitationsabend des Freundes und Schauspielers Jizchak Löwy am 18. 2. 1912 im Festsaal des jüdischen Rathauses in Prag.48 Im Gestus eines Kultur-Vermittlers formuliert er dabei sein ausdrückliches Anliegen, das Publikum auf die anschließenden Rezitationen in jiddischer Sprache, die Kafka ausschließlich als »Jargon« bezeichnet, vorzubereiten.49 Ausgehend von der bildungsbürgerlichen »Angst« vor dem sogenannten ostjüdischen Jargon, will er dessen Fremdheit als sprachhistorisch begründbare Besonderheit verständlich machen. Und so steht im Zentrum des Vortrags der Jargon als ein vergleichsweise junges und vornehmlich oral tradiertes Idiom, dessen permanenter Wandel sich der Fixierung in schriftlich verfassten Grammatiken entzieht und das sich somit von der west45 Ebd., 28. 46 Ebd., 28. Vgl. auch den Eintrag vom 4. 2. 1912 in: ebd., 29: »Der mich ganz durchgehende Eifer mit dem ich über Goethe lese (Goethes Gespräche, Studentenjahre, Stunden mit Goethe, Ein Aufenthalt Goethes in Frankfurt) und der mich von jedem Schreiben abhält.« 47 Ebd., 30. 48 Vgl. F. Kafka: »[Jargon]«, 149 – 153. 49 Bernhardt Siegert weist in seiner aufschlussreichen Analyse, die Kafkas Verhältnis zum jiddischen Idiom im Zusammenhang mit dessen sprachhistorischen und -politischen Besonderheiten beschreibt, darauf hin, dass die Bezeichnung ›Jargon‹ für die jiddische Sprache von Vertretern der Haskala, der jüdischen Aufklärung, geprägt wurde. Daher ist die besondere Leistung von Kafkas Vortrag darin zu sehen, den bis dato vornehmlich pejorativ benutzten Begriff umzucodieren. (Vgl. Bernhard Siegert: »Kartographien der Zerstreuung. ›Jargon‹ und die Schrift der jüdischen Tradierungsbewegung bei Kafka«, in: Gerhard Neumann, Wolf Kittler (Hg.): Franz Kafka. Schriftverkehr, Freiburg/Breisgau 1990, 222 – 247, 230).

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europäischen Ordnung der Sprachen unterscheidet. Vor allem aber ist das Kennzeichen dieser »verwirrten« Sprache,50 viele Quellen zugleich zu haben: [Der Jargon] besteht nur aus Fremdwörtern. Diese ruhen aber nicht in ihm, sondern behalten die Eile und Lebhaftigkeit, mit der sie genommen wurden. Völkerwanderungen durchlaufen den Jargon von einem Ende bis zum anderen. Alles dieses Deutsche, Hebräische, Französische, Englische, Slawische, Holländische, Rumänische und selbst Lateinische ist innerhalb des Jargon von Neugier und Leichtsinn erfaßt, es gehört schon Kraft dazu, die Sprachen in diesem Zustande zusammenzuhalten. Deshalb denkt auch kein vernünftiger Mensch daran, aus dem Jargon eine Weltsprache zu machen, so nahe dies eigentlich läge. Nur die Gaunersprache entnimmt ihm gern, weil sie weniger sprachliche Zusammenhänge braucht als einzelne Worte. Dann weil der Jargon doch lange eine mißachtete Sprache war.51

Die Erwähnung der Fremdwörter als Signum des beunruhigenden Jargons ist für unseren Zusammenhang aufschlussreich. Sind Fremdwörter doch Wörter, die aus fremden – regionalen oder historischen – Kontexten stammen, die man ihnen aber ansieht. Und handelt es sich doch um Wörter, die in eine neue Sprache aufgenommen worden sind und dort eine besondere Funktion übernommen haben, deren Abkunft und Ursprung aus dem Fremden aber sichtbar geblieben sind. Während die europäischen Hochsprachen die Tendenz haben, ihre sprachhistorischen Einflüsse zu assimilieren, die ›lebhaften‹ Fremdwörter zu integrieren, verweisen die Fremdwörter im jiddischen Jargon darauf, dass die Sprache grundsätzlich viele Ursprünge hat und hybrid ist – dass in ihr »Bruchstücke bekannter Sprachgesetze« herrschen.52 Gerhard Neumann hat in diesem Zusammenhang auf Adornos – von Kafkas Sprachkonzept ausgehende – These von den »Fremdwörtern als Juden der Sprache« und auf einen Brief Kafkas an Max Brod hingewiesen,53 in dem die jiddische Sprache, das »Mauscheln«, als gestohlenes Gut metaphorisiert wird: […] das Mauscheln im weitesten Sinne genommen, in dem allein es genommen werden muß, nämlich als die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat und der fremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte […]. Ich sage damit nichts gegen das Mauscheln, das Mauscheln an sich ist sogar schön, es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache […] und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt hat, daß im Deutschen nur die Dialekte und 50 51 52 53

F. Kafka: »[Jargon]«, 149. Ebd., 150. Ebd. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/ Main 1951, Teil 2, »Zweite Lese«, 124. Vgl. G. Neumann: »Eine höhere Art der Beobachtung«, 54.

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außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutsch wirklich lebt, während das übrige, der sprachliche Mittelstand, nichts als Asche ist, die zu einem Scheinleben nur dadurch gebracht werden kann, daß überlebendige Judenhände sie durchwühlen.54

Damit schließt das Phänomen des »Mauschelns« auch an sprachtheoretische Fragen des Plagiatorischen an. Wenn nämlich der Jargon dadurch gekennzeichnet ist, dass seine Bestandteile durch »flüchtigen Griff« gestohlen worden sind, aber als »Anmaßung eines fremden Besitzes« erkennbar bleiben, dann steht er in deutlichem Gegensatz zum Plagiat, das eben auch stiehlt, aber den fremden Ursprung unbedingt zu verhehlen trachtet. Nun lässt sich vielleicht auch verstehen, warum Kafka der Plagiatsgeschichte des Rezitators Reichmann in höchstem Maße reserviert und gleichzeitig fasziniert gegenüber steht. Er geht von der konstitutiven Durchmischung des Jargons aus, die dabei aber eben gerade nicht minoritär, sondern das »Ergebnis zarten Sprachgefühls« ist und die auch dem »sprachliche[n] Mittelstand« der europäischen Hochsprachen gut anstünde. Ein Plagiat ist aus dieser Perspektive als der genau entgegengesetzte Versuch beschreibbar, sich an einem fremden Sprachgut zu bereichern, aber den ›unreinen‹ Ursprung, die Beeinflussung durch Andere, zu verbergen. Entgegen dem Topos vom ›Plagiatorischen des Jüdischen‹ – der etwa in der Debatte zur Goll-Affäre im Vorwurf des sogenannten literarischen Assimilationstalents eines jüdischen Autors Gestalt annehmen sollte –55 stellt Kafkas Sprachmodell des Jargons eine Sprache vor, die dem Plagiat geradezu entgegenarbeitet, da in ihr einzelne Worte die Signatur der Fremdheit immer mit sich führen. Selbstredend kann Kafkas Theorie der jiddischen Sprache nur begrenzt in eine ›allgemeine‹ Sprachtheorie überführt werden. So ist Bernhard Siegert in seinem Aufsatz Kartographien der Zerstreuung den sprach- und realhistorischen Spuren von Kafkas Jargon-Vortrag nachgegangen. Er erinnert dabei an die jahrhundertelangen unfreiwilligen Fluchtbewegungen der Juden durch Europa, an die »subjektlose Passion des nomadischen Volkes«,56 während deren zahlreicher Stationen aus dem Jiddischen ein »Arsenal von Beutestücken aus anderen Sprachen« wurde.57 Und nur weil das Jiddische auch die Spuren dieser Bewegung als aufgezwungene mit sich führt, wird es ja zum Skandalon, kommt seine öffentliche »Inszenierung im Rathaus der Prager deutschsprachigen Juden […] einer unheimlichen Wiederkehr des Verdrängten gleich«:58 für assimilierte Juden und Nicht-Juden – in unterschiedlicher Weise. 54 Franz Kafka an Max Brod, Juni 1921, in: Franz Kafka: Briefe 1902 – 1924, hg. von Max Brod, Frankfurt/Main 1966, 336 f. 55 Vgl. Barbara Wiedemann (Hg.): Paul Celan – die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹, Frankfurt/Main 2000. 56 B. Siegert: »Kartographien der Zerstreuung«, 226. 57 Ebd., 226 f. 58 Ebd., 225.

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Das Kind als Schöpfer Die enge Verknüpfung in Kafkas Tagebuch aus dem Jahr 1912 von Themen, die mit Plagiat, Nachahmung, Rezitation, Einfluss, Originalität oder Autorschaft in Verbindung stehen und die sämtlich in der Figur des »Recitators Reichmann« zusammenlaufen, ist erstaunlich. Noch erstaunlicher aber ist, dass offenbar bisher noch nicht erforscht worden ist, ob das Thema die Grenzen des Tagebuchs auch überschreitet. Zwar ist bekannt, dass ein Artikel mit dem Titel Das Kind als Schöpfer, wie der in Kafkas Tagebuch erwähnte, existiert. Er ist auf der ersten Seite der Unterhaltungsbeilage des Prager Tagblatt vom 25. 2. 1912 – also drei Tage vor Kafkas Tagebuch-Eintrag – zu finden.59 [Vgl. Abb. 1] Doch ist bisher nicht untersucht worden, dass es eine deutliche inhaltliche Verbindung zwischen dem von Kafka aufgezeichneten Bericht Reichmanns und dem Artikel Das Kind als Schöpfer gibt. Denn, so zeigt seine genaue Lektüre, auch dieser Text thematisiert die – im Windschatten des Plagiats stehende – Opposition von Einfluss und Originalität. Der Artikel, der ohne Angabe eines Autornamen abgedruckt ist, befasst sich mit einer um 1900 äußerst virulenten Debatte. Im Tenor der Natur-UmweltKontroverse nämlich fragt er danach, ob das Wesen des Menschen durch äußere Einflüsse wie Erziehung und Kultur bestimmt wird oder aber angeboren ist: Es läßt sich nicht leugnen, daß die Seele des neugeborenen Kindes äußerst gestaltungsfähig ist. Weich, gleichsam wie Wachs, läßt sie sich beliebig beeinflussen, leer, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, harrt sie der Eindrücke, die sie einst in sich annehmen soll. Der Mensch ist ein Produkt seiner Umgebung! Man wird diesem Satze eine wenn auch bedingte Wahrheit zugestehen müssen. Eltern, Kinderstube, Schule, Straße, Heimat und welches alle die geheimen Miterzieher des Menschen sein mögen, lassen alle mehr oder weniger deutliche Spuren in diesem Kinde zurück. Und doch hat jene gegenteilige Meinung, wonach keine Einwirkung das Wesen, die eigentliche Natur des Kindes umgestalten kann, ebenfalls einen durchaus berechtigten Kern. Jedes Kind ist zum Glück auch eine besondere Individualität, die allen Einflüssen zum Trotz stets die eingeschlagene Richtung beibehält. Diese unendliche kaleidoskopische Buntheit der seelischen und körperlichen Anlagen findet sich nicht nur unter den Menschen überhaupt, sondern sogar unter den Gliedern einer Familie.60

Sehr schnell wird deutlich, dass der anonyme Verfasser die Metaphern vom »unbeschriebene[n] Blatt« und vom formbaren Wachs des menschlichen Wesens verwirft, vielmehr für das immer schon gegebene Kaleidoskop der Erbanlagen votiert, um dann zu seinem eigentlichen Thema hinzuführen: der »eigentlich schöpferischen Kraft« sowie der grundlegenden Kreativität und Ori59 [Anonymus]: »Das Kind als Schöpfer«, in: Unterhaltungs-Beilage des »Prager Tagblatt« (Nr. 8, 25. 2. 1912), 1. 60 Ebd.

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[Anonymus]: »Das Kind als Schöpfer«, in: Unterhaltungs-Beilage des »Prager Tagblatt« (Nr. 8, 25. 2. 1912), 1.

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ginalität des Menschen, die sich in jedem künstlerischen »Genie« Bahn brechen, aber auch in jedem Kind angelegt sind: Was dem Kinde als Erbteil der Natur mitgegeben wurde, das setzt sich also auch immer wieder durch, das macht die eigentlich schöpferische Kraft aus. So kann man wohl mit Recht behaupten, daß das Genie trotz aller Hindernisse seinen Weg bahnt, so konnte man wohl von Raffael sagen, daß er ein großer Maler geworden wäre, auch wenn er ohne Arme zur Welt gekommen wäre. Aber selbst wenn wir von solchen Ausnahmen vollständig absehen, können wir doch auch bei jedem Durchschnittskinde […] ein so eigenmächtiges Schaffen, eine selbstherrliche Betätigung ursprünglicher Kräfte entschieden bemerken.61

Und um den Künstler als Noch-Kind oder andersherum das Kind als ProtoKünstler zu beschreiben, die beide dem »heutigen Kulturmenschen« gegenüberstehen, werden die bekannten kulturkritischen Register gezogen. In höchsten Tönen wird das Kind – für das man immer auch »der Künstler« einsetzen kann – als Wesen gelobt, das keine Rücksicht auf Etikette und Höflichkeit nimmt, sondern vielmehr als es selbst »echt unverfälscht« agiert; das äußert, »was es selbst denkt und empfindet«.62 Sein Spieltrieb erlaubt es ihm, unbelebten Dingen – wie toten Puppen oder dürren Stöckchen – Leben einzuhauchen. Sein Wissen gewinnt es nicht indirekt aus Büchern, sondern direkt durch unmittelbare Erfahrung. Für unseren Zusammenhang ist von Interesse, dass der Artikel über das allgemeine Thema hinaus – dass Originalität jedem angeboren sei – an einigen Stellen sogar ganz direkt an Kafkas Tagebuch anzuknüpfen scheint. Dann nämlich, wenn das mimetische Vermögen des Künstler-Kindes hervorgehoben wird, das das im Spiel Phantasierte – zum Beispiel das Häschen in der sprichwörtlichen Grube – durchlebt und verkörpert. Wie der gute Rezitator verfügt es über eine »lebendige Körpersymbolik«, über »eine lebendige Gebärden- und Leibessprache«: »Wie treffend und wie gehorsam bringt doch dabei der Körper zum Ausdruck, was gegenwärtig in der Seele vorgeht!«63 Vor allem aber der Hinweis auf die »Bildung der Sprache« korrespondiert mit dem in der Figur Reichmann enggeführten und von Kafka problematisierten Thema der literarischen Kreativität. Denn gerade im Bereich des Spracherwerbs, so der Artikel, erweist sich das Kind als »selbsttätiger Schöpfer«.64 Zwar werden ihm die ersten Worte von seinen Erziehern übermittelt, doch indem es zunehmend in der Lage ist, die erlernten Worte in neuen Situationen anzuwenden, ist es sprachkreativ. Und ganz besonders seine Neologismen erinnern an die poetische Kraft der 61 62 63 64

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Dichter : »Daß das Kind aber auch insofern selbstherrlich mit der Sprache umgeht, als es oft Dinge nach seinem eigenen Gutdünken benennt, originelle Ausdrucksformen und Wortkombinationen äußert, ist jedem bekannt, der mit Kindern umgegangen ist.«65 Trotz der thematischen Nähe zu Reichmanns Text Lebensfreude scheint der Artikel Das Kind als Schöpfer kein Plagiat im strengen Sinne zu sein. Wird doch in Reichmanns Text, den wir selbst nie im Wortlaut zu sehen bekommen, vom Tagebuch-Ich etwas abfällig als Sammlung von allzu bekannten Topoi zusammengefasst: »Es ist eine Aufforderung an die Jugend nicht traurig zu sein, denn es gibt ja die Natur, die Freiheit, Goethe, Schiller, Shakespeare, Blumen, Insekten u. s. w.«66 Zudem hatte das Ich ja stichprobenartig herausgefunden, dass auch die von Reichmann ausdrücklich genannten Sätze wörtlich gar nicht im TagblattText vorkommen. Und ausgerechnet der Ausdruck »benamset«67, der auf Grund seiner Besonderheit einen letzten Beweis für das Plagiat darstellen sollte, kommt – jedenfalls in dem historisch verbrieften Zeitungsartikel – an keiner Stelle vor.

Thematische Netze Was lässt sich nun aber aus dem engmaschigen thematischen Netz von Plagiat, Originalität und Einfluss schließen, das Kafkas Tagebuch-Einträge, die Geschichte vom »Recitator Reichmann« und schließlich sogar den Artikel der Unterhaltungs-Beilage verbindet? Plausibel – im Sinne eines ›diaristischen Pakts‹– scheint, dass Franz Kafka am 26. 2. 1912 den Prager Bankbeamten und Gelegenheits-Vortragskünstler Oscar Reichmann getroffen und dann in der literarischen Bearbeitung aus dessen Suada ein Lehrstück in Sachen Plagiatsangst hergestellt hat. Es ist durchaus denkbar, dass der ›echte‹ Reichmann – vom Wunsch nach Autorschaft getrieben und von der Frage der Originalität affiziert – den Artikel im Tagblatt, von dem wir ja wissen, dass er tatsächlich erschienen ist, gelesen hat. Da es mehr als zweifelhaft ist, welchen Wortlaut sein Text Lebensfreude hatte – und da auch Kafka dies offen lässt, indem er uns nur am Akt des Durchblätterns und Lesens teilhaben lässt –, ist es naheliegender anzunehmen, dass Reichmann in einer signifikanten Verschiebung den Inhalt des Artikels vom »Kind als Schöpfer« auf den Artikel an sich bezogen hat: Wird dort ein Hohelied des Schöpferischen gesungen, so deklariert er sich zum Schöpfer dieses Hohelieds. Vorstellbar ist auch, dass Kafka, der, wie wir gesehen 65 Ebd. 66 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 41. 67 Ebd., 43.

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haben, zur Zeit des Zusammentreffens mit Reichmann selbst mit Fragen der Nachahmung, des Einflusses und der Originalität beschäftigt war, als regelmäßiger Tagblatt-Leser den Artikel Das Kind als Schöpfer wahrgenommen hat. Das hieße, die dort angesprochene Thematik und das Zusammentreffen mit dem armen Reichmann hätten ihn motiviert, beides zu verknüpfen. In der literarischen Bearbeitung der Geschichte eines Narren mit Plagiatsangst, der sich ausgerechnet eines Artikels über Originalität beraubt sieht, wäre dann eine Erzählung entstanden, die die wahnhafte Struktur des Plagiatsverdachts selbst in den Blick nimmt. Eine besonders schöne Wendung wäre es, wenn Kafka selbst – hinter der Maske einer anonymen Autorschaft – der Verfasser des Artikels Das Kind als Schöpfer wäre. Das hieße, die Anfang des Jahres 1912 mehrfach im Tagebuch – im Zusammenhang mit der Goethe-Lektüre und den Arbeiten am Jargon-Vortrag – erwähnte Schreibkrise wäre durch einen ausgelagerten Zeitungsartikel ›relativiert‹ worden, in welchem eine grundsätzliche und von kulturellen Einflüssen unabhängige Kreativität beschworen wird. Zumindest gibt Kafka im Eintrag vom 25. 2. 1912 ¢ also am Tag des Erscheinens von Das Kind als Schöpfer und einen Tag vor dem Zusammentreffen mit Reichmann – an, einen nicht näher bezeichneten »nutzlosen« Text für das Tagblatt verfasst zu haben: »25. II. 12 Das Tagebuch von heute an festhalten! Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! […] Geschrieben: an Frl. Taussig, an einen Otto Klein (nutzlos) fürs Tagblatt (nutzlos) an Löwy (ich werde den Vortrag nicht schreiben können, retten Sie mich!)«.68 Welcher Version man auch den Vorzug geben will, in jedem Fall ist die Genese des Tagebucheintrags Franz Kafkas selbst ein Lehrstück über Konstellationen des (Ab-)schreibens bei der Entstehung von Texten. Demonstriert sie doch den immer schon wechselseitigen Einfluss von Gelesenem, Außenwelt und Schreibprozess. Ähnlich wie in Freuds Wunderblock-Modell (1925) verbinden sich die inneren Dauerspuren der Erfahrungen und Lektüren mit der Wahrnehmung des Außen, die wiederum auf die Oberfläche des nur scheinbar »unbeschriebene[n] Blatt[s]« des Dichters eingetragen werden und ihrerseits die Dauerspuren überschreiben.69 Danach wäre – in Abwandlung von Reichmanns These – im Innern tatsächlich »alles alles abgeschrieben«, aber nicht, wie dieser glaubt, in einem plagiatorischen Sinne, sondern weil das Außen immer schon im Innern beschrieben ist. Oder in den Worten Kafkas: »Mein verwirrtes Zuhören und sein verwirrtes Reden vermischen sich.«70 68 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 36. 69 Sigmund Freud: »Notiz über den Wunderblock« (1925), in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u. a., Bd. XIV, Frankfurt/Main 1999, 1 – 7, 1. 70 F. Kafka: Tagebücher Band 2: 1912 – 1914, 39.

Susanne Weigelin-Schwiedrzik

Das Leben im Schein als Ziel. Lu Xuns Wilde Gräser und Nietzsches Also sprach Zarathustra*

Die Interpretation von Lu Xuns Wilde Gräser gehört zu den vielen intellektuellen Herausforderungen, die dieser Autor an seine Leser innerhalb und außerhalb der chinesischen Welt stellt. Jeder, der sich einmal mit Lu Xuns Prosagedichten beschäftigt hat, weiß, dass diesen mit der weit verbreiteten, vom Realismus geprägten Leseweise nicht beizukommen ist, zumal den Prosagedichten, zumindest vom Standpunkt des ›gesunden Menschenverstandes‹ aus gesehen, die Narrativität fehlt, die ansonsten dem Leser die Sinnkonstruktion nahelegt und intersubjektiv überprüfbar macht. Für die Lektüre der Wilden Gräser bedarf es also einer anderen Methode der Interpretation, einer Methode, die zugleich Sinn jenseits narrativer Zusammenhänge zu konstruieren in der Lage ist und diesen auch intersubjektiv überprüfbar macht.

Die seltsamen Blüten der Wilden Gräser Dies scheint um so mehr geboten, als Interpretationsversuche in der Vergangenheit häufiger unter Beweis gestellt haben, wie schwierig es ist, den Prosagedichten in einigermaßen angemessener Form nahezutreten, als dass eine schlüssige und akzeptable Deutung aus ihnen hervorgegangen wäre. Führen wir uns beispielsweise noch einmal jene geradezu legendäre Auseinandersetzung zwischen Simon Leys, alias Pierre Ryckmans, (1975) und Michelle Loi (1975) vor Augen, so fällt dem heutigen Leser jener Polemik aus den siebziger Jahren nicht nur der eigenartig hitzige Stil der Debatte auf. Erstaunlich ist auch jene fast unüberbrückbare Distanz, die zwischen den beiden Autoren klafft. Beide Interpretationen, wiewohl einander diametral entgegengesetzt, beanspruchen für sich, den Text verstanden zu haben: Die eine liest ihn als Auseinandersetzung * Dieser Artikel erschien erstmals in: Karl-Heinz Pohl, Dorothea Wippermann (Hg.): Brücken zwischen Kulturen. Festschrift für Chiao Wei zum 75. Geburtstag, Münster, Hamburg, London 2003, 459 – 477. Ich danke dem Verlag für die Abdruckerlaubnis.

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mit der Guomindang, der andere als Auseinandersetzung mit den Kommunisten. Und doch sind sie beide in ihrer Gegensätzlichkeit einer gemeinsamen Methode verhaftet: Beide betrachten die persönlichen und politischen Lebensumstände, unter denen Lu Xun seine Prosagedichte am Ende der zwanziger Jahre verfasste, als den Schlüssel zum Verständnis einer ansonsten schwer verständlichen Literatur. Und insofern betrachten beide – wenn auch mit höchst unterschiedlichem Ergebnis – die Wilden Gräser als Lu Xuns Stellungnahme zu den Wirren seiner Zeit und seines Lebens.1 Ryckmans und Loi stehen mit ihrer Lesart nicht allein. Allenthalben und bis in die frühen achtziger Jahre hinein war es üblich, die literarischen Werke Lu Xuns in engstem Zusammenhang mit seiner Biographie und mit der politischen Situation seiner Zeit zu sehen. Das Vorbild hierzu findet sich unter seinen frühsten Interpreten, nicht zuletzt bei Qu Qiubai.2 Doch hat auch Lu Xun selbst zu dieser Methode beigetragen, indem er die Auswahl seiner Werke jeweils mit einem stark autobiographisch geprägten Vorwort versah und damit dem Leser so etwas wie einen Ariadnefaden für die weitere Lektüre an die Hand zu geben schien. Dass die autobiographisch-politische Lesart seiner Werke sich innerhalb und außerhalb der chinesischen Welt so lange halten konnte, ist demnach nicht nur auf die Einseitig- und Einfältigkeit seiner Interpreten zurückzuführen. Sie folgt quasi einer Spur, die Lu Xun selbst gelegt hat und die den jeweiligen Interpreten einen erfolgversprechenden Weg wies, der zu einleuchtenden, bisweilen sogar faszinierenden Erkenntnissen führte. An den Prosagedichten – so erscheint es zumindest mir – ist diese Methode gründlich gescheitert. Kein Wunder also, dass diese bis in die achtziger Jahre hinein allzu oft wie eine Klippe umschifft und in den Interpretationen wie Biographien nur kursorisch behandelt wurden, wenn sie nicht gar jene aus heutiger Sicht seltsamen Blüten trieben, auf die wir unter Bezug auf die Ryckmans-Loi-Debatte weiter oben bereits Bezug nahmen. Die Prosagedichte sind auch nicht dem Anschein nach der realistischen Literatur verpflichtet. Sie stellen keine ›eindeutigen‹ Bezüge zu Lu Xuns Biographie her, ja selbst das vom Autor verfasste Vorwort zu den Wilden Gräsern ist so verklausuliert, dass es auch dem einfältigsten Leser schwerfallen müsste, aus ihm eine Leseanleitung unter Bezug auf Lu Xuns Biographie herauszulesen. Auch der direkte Bezug auf politische 1 Vgl. hierzu: Raoul Findeisen: »Vier Fallstudien zur chinesischen Nietzscherezeption (zweiter Teil)«, in: minimum sinica, 1 (1990), 14 – 37 sowie: Lutz Bieg: »Verzeichnis der Primär-und Sekundärliteratur zu Lu Xun im deutschen Sprachraum«, in: Wolfgang Kubin (Hg.): Aus dem Garten der Wildnis. Studien zu Lu Xun (1881 – 1936), Bonn 1989, 185 – 215. 2 Vgl. Qu Qiubai: »Lu Xun zagan xuanji xuyan« (Vorwort zu den Ausgewählten Impressionen von Lu Xun), in: Zhongguo shehui kexueyuan wenxueyanjiusuo Lu Xun yanjiushi (Hg.): Lu Xun yanjiu xueshu lunzhu ziliao huibian (1913 – 1983) (Zusammenstellung aller akademischen Artikel zur Forschung über Lu Xun), Peking 1985, 818 – 830.

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Ereignisse, so wie wir sie aus Lu Xuns Essays kennen, fehlt. Wie also sollte man die Wilden Gräser lesen? Gute Literatur – und Lu Xuns Wilde Gräser gehören wohl zu dieser Kategorie – erlaubt viele Lesarten. Und wer sich einmal mit Lu Xuns Prosagedichten beschäftigt hat, wird mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass die Qualität dieser Gedichte gerade darin ihren Ausdruck findet, dass sie nicht nur eine ganze Reihe möglicher Lesarten erlauben, sondern zugleich auch die Entwicklung immer neuer Lesarten geradezu herausfordern. Nicht mit einer Lesart ist ihnen beizukommen, das Objektiv muss vielmehr immer wieder neu ausgerichtet und fokussiert werden, das Ende einer schlüssigen Interpretation ist immer zugleich auch der Beginn einer neuen. Ich möchte diesmal Lu Xuns Wilde Gräser mit Nietzsche lesen und meine damit, dass es lohnen müsste, die verschlungene und oftmals schwer verständliche Bilderwelt der Wilden Gräser mit Hilfe des Werks von Nietzsche zu entschlüsseln, das für Lu Xun zeit seines Lebens die größte Bedeutung hatte. Gemeint ist Also sprach Zarathustra, ein Werk, das in der europäischen Nietzsche-Rezeption zwar besondere Popularität erlangte, jedoch in der Regel nicht als Höhepunkt des Denkens von Nietzsche betrachtet wird. So urteilte Thomas Mann: »Es ist, dank seiner biblischen Attitüde, das ›populärste‹ seiner Bücher geworden, aber es ist bei weitem nicht sein bestes Buch.«3 In Asien und somit auch für Lu Xun hat es seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine ganz besondere Rolle gespielt.4 Lu Xun hat es mehrfach gelesen, mehrfach übersetzt – 1918 einen Teil der Schrift in die vormoderne Schriftsprache wenyan, 1919 die gesamte Vorrede mit kurzen Erläuterungen in die moderne Schriftsprache baihua –, häufig zitiert und nicht seltener kommentiert.5 Seine Nietzsche-Rezeption beginnt noch während seines Japan-Aufenthaltes und zieht sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen.6 Umso erstaunlicher die Tatsache, dass lange Zeit 3 Thomas Mann: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: ders.: Leiden und Größe der Meister, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt/Main 1982 (Frankfurter Ausgabe, Bd. 8), 838 – 875. 4 Chiu-yee Cheung: »Tracing the ›Gentle‹ Nietzsche in Early Lu Xun«, in: Raoul D. Findeisen, Robert H. Gassmann (Hg.): Autumn Floods. Essays in Honour of M‚rian G‚lik, Berlin 1998, 571 – 588. 5 Vgl. Lennart Lundberg: Lu Xun as a translator. Lu Xun’s translations and introduction of literature and literary theory, 1903 – 1936, Stockholm 1989 (=Skrifter utgivna av Föreningen för Orientaliska Studier, 23), 62 – 73, 238 f. 6 Vgl. Bixiang Qian: »Lu Xun yu Nicai zhexue« (Lu Xun und die Philosophie Nietzsches), in: Jiangxi shehui kexue, 5 (1982), 45 – 59; Mari‚n G‚lik: »Nietzsche in China (1918 – 1925)«, in: Nachrichten der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens, 110 (1972), 5 – 48; dies.: »Studies in Modern Chinese Intellectual History III. Young Lu Xun (1902 – 1909), in: Asian and Oriental Studies, 21 (1985), 37 – 64; Susanne Weigelin-Schwiedrzik: »Lu Xun und das ›Prinzip Hoffnung‹: Eine Untersuchung seiner Rezeption der Theorien von Huxley und Nietzsche«, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung, 3 (1980), 414 – 431; Harriet C.

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darauf verzichtet wurde, Lu Xuns Auseinandersetzung mit Nietzsche in die wissenschaftliche Diskussion ernsthaft einzubeziehen. Politische Gründe haben hier genauso eine Rolle gespielt wie ideologische Verblendung, Unwissenheit und ein Mangel an Bildung. Außerhalb Chinas waren es im wesentlichen Mari‚n G‚lik und Harriet C. Mills,7 die mit ihren Beiträgen schon vergleichsweise früh auf die Bedeutung Nietzsches für Lu Xun und für das Verständnis Lu Xuns hinwiesen. In der VR China widmen sich erst seit den achtziger Jahren Interpreten diesem in seiner Wichtigkeit nicht zu gering einzuschätzendem Aspekt von Leben und Werk Lu Xuns. Heute wird allgemein anerkannt, dass Lu Xun nicht ohne Nietzsche gelesen werden kann, nur wenige würden jedoch dem bereits in den vierziger Jahren geäußerten Diktum des japanischen Lu Xun Interpreten Takeuchi Yoshimi folgen, der Nietzsche schlichtweg zum Zentrum von Denken und Werk Lu Xuns erklärte.8 Wie in all den anderen Fällen seiner Auseinandersetzung mit ausländischer Literatur und ausländischem Denken, die bereits einer Untersuchung unterzogen wurden, so gilt auch für Lu Xun und den Zarathustra, dass er sich keineswegs sklavisch an sein Vorbild gehalten hat. Er hat sich mit ihm auseinandergesetzt, es beliehen, verändert und umgeformt, je nachdem, wie es ihm und zu dem passte, was er wohl als seine vordringliche Aufgabe erkannt hatte: die Identität – seine eigene und die des chinesischen Volkes – neu zu definieren, nachdem er die Kultur seines Landes vor seinen eigenen Augen zerfallen sah. Die Grundlage der lebenslangen Beziehung Lu Xuns zu Nietzsche bildete eine Kongenialität, deren Ursprung die Zerstörung der Vision von der Einheit und Totalität des Lebens bildete. Dieser Zerstörung Einhalt zu gebieten bzw. sie durch den Aufbau einer neu gedachten Weltordnung zu überwinden galt Lu Xuns Streben zumindest in der frühen Phase seiner Nietzsche-Rezeption. Dabei faszinierte ihn in erster Linie die Theorie vom Übermenschen, die er als Ergänzung zu Yan Fus Interpretation von Huxleys On Evolution and Ethics benötigte. Im Gegensatz zu Nietzsche selbst, für den der Übermensch durch seine Distanz zum ›Volk‹ und seine Fähigkeit zur Distanzierung charakterisiert war, erdachte sich Lu Xun einen Übermenschen, der seiner Zeit zugleich vorauseilt und von ihr als Leitfigur akzeptiert wird. Damit China und die chinesische Kultur im Wettbewerb der Stärksten nicht jämmerlich scheitern würde, sollte der Übermensch mit seinen charismatischen Fähigkeiten die Massen aus ihrer Lethargie erwecken und auf diese Weise eine Dynamik in Gang setzen, welche Mills: »Lu Xun: Literature and Revolution – from Mara to Marx«, in: Merle Goldmann (Hg.): Modern Chinese Literature in the May Fourth Era, Cambridge MA, London 1977, 189 – 220. 7 Vgl. M. G‚lik: »Nietzsche in China (1918 – 1921)« und H. Mills: »Lu Xun: Literature and Revolution«. 8 Vgl. Yoshimi Takeuchi: »Ro Jin (Lu Xun)«, in: ders.: Takeuchi Yoshimi zenshu, Bd. 1, hg. von Kakuzaemon Nunokawa, Tokyo 1980 – 82, 3 – 157.

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Schwäche in Kraft, Niederlage in Sieg zu verwandeln fähig sein würde. Doch schon in den frühen Kurzgeschichten lesen wir, dass Lu Xun die von ihm erdachte Kombination von Evolutionstheorie und Theorie des Übermenschen als Trug erkannt hat und seinem Verständnis von Nietzsche nicht mehr bedingungslos, sondern aus kritischer Distanz folgt.9 In diese Phase fallen auch die Prosagedichte Wilde Gräser. In ihnen wendet er sich nur noch gelegentlich dem Thema des Übermenschen zu und reflektiert in erster Linie über die Vergeblichkeit der Hoffnung, dass aus den Ruinen der alten eine neue Ordnung entstehen könnte, die von den Menschen mit einem ebenso hohen Maß an Selbstverständlichkeit angenommen würde, wie dies für die alte Ordnung der Fall gewesen sei. Dementsprechend gelten seine Gedichte in Prosa dem Versuch der Abkehr vom ›Nihilismus‹ und der Suche nach einem Ort für das Ich, an dem es bei sich, für sich und in Übereinstimmung mit dem Kommen und Gehen der Natur existieren kann.

Die Vorrede Beginnen wir mit einem Vergleich zwischen der Vorrede zu Also sprach Zarathustra von Nietzsche und Lu Xuns Vorrede zu Wilde Gräser.10 Zunächst fallen einige offensichtliche Parallelen auf, so die Abwesenheit des auktorialen Erzählers und einer narrativen Plotstruktur in beiden Texten. Lu Xun bedient sich des inneren Monologs, dessen lyrische Sprache die Außenwelt als Spiegel der Innenwelt konstruiert und ihr eine symbolische Funktion zuordnet. Der Leser erfährt über den Protagonisten nur das, was der Protagonist im Gespräch mit sich selbst über sich selbst enthüllt. Am Anfang des Monologs steht das Problem der Kommunikation mit der Außenwelt, oder genauer gesagt, die Frage, wie das Ich seine Integrität in der Kommunikation mit der Außenwelt bewahren kann. An dieser Stelle ergibt sich der inhaltliche Bezug zu Nietzsches Vorrede, in der ebenso wie bei Lu Xun das Verhältnis von Innen- und Außenwelt zur Debatte steht. Während Nietzsche aber zu dem Schluss kommt, das Ich müsse in der Lage sein, die Außenwelt gedanklich zu überwinden,11 erweist sich das lyrische Ich in Lu Xuns Text als unfähig, seine Angst vor der Bedrohung durch die Außenwelt abzulegen. Der Konflikt zwischen dem Ich und seiner Umwelt wird damit zu einem Konflikt im Inneren des Ich, ein Konflikt, der zur Spaltung des Ich führt zwischen der einen Seite, die Tod, Zerfall und Untergang betrauert, und der 9 Vgl. S. Weigelin-Schwiedrzik: »Lu Xun und das ›Prinzip Hoffnung‹«. 10 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin 1980 (KSA, Bd. 4), 11 – 28. Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), in: ders.: Lu Xun Quanji (Lu Xuns Gesammelte Werke), Bd. 1, Bejing 1973, 463 – 538, 463 f. 11 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 231 – 234.

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anderen, die diese nicht nur akzeptiert, sondern ihnen sogar freudig entgegensieht. Die wilden Gräser, mit denen das lyrische Ich sich identifiziert, sind Objekt seiner Liebe und Zuneigung und zugleich Ausdruck seiner Nichtigkeit und Endlichkeit: »Eigentlich haben wilde Gräser keine tief reichenden Wurzeln, auch sind ihre Blütenblätter keineswegs schön. Doch schlürfen sie Tau und Wasser, nehmen Blut und Fleisch von längst verstorbenen Menschen in sich auf. Jeder trachtet ihnen nach dem Leben. Lebend werden sie zertreten; abgeschnitten droht ihnen Tod und Fäulnis.«12 Was nun die Symbolik der Vorrede von Lu Xun betrifft, so finden sich auch hier Parallelen zwischen seinem und Nietzsches Text. Vier Symbole führt Lu Xun in der Vorrede ein, ohne deren Entschlüsselung eine Sinnkonstruktion nicht möglich ist. Es handelt sich um Schlamm (ni), Baum (mu), wilde Gräser (ye cao) und Feuer (huo): »Aus dem Schlamm des Lebens, unbeachtet, wie er am Boden liegt, wachsen nicht hohe Bäume, sondern wilde Gräser. Die Schuld daran trage ich.«13 Liest man diesen reichlich verschlüsselten Einleitungssatz simultan zu Nietzsches Vorrede zu Also sprach Zarathustra, so ergibt sich, wie ich meine, ein Interpretationsansatz: Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze. Noch ist sein Boden dazu reich genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können. Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren.14

Deutlich erkennbar identifiziert Lu Xun die Gemütslage des lyrischen Ich mit dem Zustand, vor dem Nietzsche in seiner Vorrede warnt, das heißt vor der Situation, da die Erde zu arm geworden ist, als dass hohe Bäume aus ihr wachsen könnten. Die wilden Gräser, von denen Lu Xun in seiner Vorrede spricht, wachsen dementsprechend auch nicht aus reicher Erde, sondern aus dem Schlamm. Das ist der Grund, warum das lyrische Ich ihnen nur mit Zwiespältigkeit begegnen kann: »Natürlich liebe ich meine wilden Gräser, doch den Boden, dem sie als Schmuck zu dienen haben, den verabscheue ich.«15 Bei Nietzsche steht Schlamm für das Gegenteil zu reicher Erde: »Ihr versteht zu brüllen und mit Asche zu verdunkeln. Ihr seid die besten Grossmäuler und lerntet sattsam die Kunst, Schlamm heiss zu sieden. Wo ihr seid, da muss stets Schlamm in der Nähe sein, und viel Schwammichtes, Höhlichtes, Eingezwäng-

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Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 463. Ebd. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 19. Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 463.

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tes: das will in die Freiheit«.16 Schlamm ist hier das Symbol für passiven Nihilismus, der seine Abscheu gegen die alte Ordnung zwar artikulieren, eine neue Ordnung jedoch nicht entwerfen kann. Dies aber verlangt Nietzsche, er verbindet mit der Person des Künstlers, Heiligen und Philosophen die Fähigkeit, gedanklich und künstlerisch eine neue Weltordnung zu erschaffen, sich von der alten radikal abzuwenden und abzusetzen. Die Kunst ist das Mittel, um den Nihilismus zu überwinden, sie ist »die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens«.17 Wenn – wie im Falle der Yecao – die Kunst, hier symbolisiert durch die wilden Gräser, dem Schlamm entwächst, so hieße dies im Kontext von Nietzsche, dass die Produkte der Kunst zwar die Zuneigung des lyrischen Ich erfahren, dass sie aber mit dem Makel behaftet sind, nicht aus »reicher Erde«, sondern aus dem Schlamm heraus zu wachsen. Sie sind deshalb nicht Kunst im Sinne Nietzsches, sondern Kunst, die gemessen an den von Nietzsche gesetzten Zielen das eigentliche Ziel nicht erreicht hat. Der Baum, bei Lu Xun das Gegenteil zu den »wilden Gräsern«, steht für das, was über Mensch und Tier hinauswächst.18 »Aber es ist mit den Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er hinauf in die Höhe und Helle will, umso stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, in’s Dunkle, Tiefe, – in’s Böse«.19 Zarathustra empfiehlt dennoch dem Jüngling, mit dem er über den Baum am Berge disputiert, die Hoffnung nicht aufzugeben. Dies aber ist das Problem, welches das lyrische Ich nicht zu lösen vermag. Es weiß offenbar um die von Zarathustra dargelegten Möglichkeiten, aber es kennt auch seine eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten, weiß, dass es ihm unmöglich ist, die Ziele zu erreichen, die Zarathustra setzt. Schlamm ist das Symbol für den geistigen Zustand des lyrischen Ich, eines Zustandes, der den Nihilismus nicht zu überwinden in der Lage ist. Und damit ist es das lyrische Ich, welches die wilden Gräser wachsen lässt, anstelle der hohen Bäume: »Die Schuld daran trage ich.«20 Schlamm und wilde Gräser, Erde und Baum stehen für Kreativität und Kreation, für Leben und Werk, für die Mittel, über die der Mensch verfügt, um zu erreichen, wonach er sich sehnt. Zwischen beiden Elementen wirkt eine Kraft, eine natürliche Abhängigkeit, unabhängig vom Willen des Einzelnen, ein Naturgesetz: Aus Schlamm wächst nichts als wilde Gräser, hohe Bäume wachsen aus reicher Erde. Dies zu erkennen heißt für das lyrische Ich, sich seiner Fehler und Mängel bewusst zu sein, ja sich seine Nichtswürdigkeit einzugestehen. 16 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 169. 17 Friedrich Nietzsche: [Mai-Juni 1888 17 (1 – 3)], in: ders.: Nachgelassene Fragmente 1887 – 1889, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin 1980 (KSA, Bd. 13), 519 – 522, 521. 18 Vgl. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 52. 19 Ebd., 51. 20 Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 463.

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Woher nun rührt die Zwiespältigkeit des lyrischen Ich? Warum ist es verzagt und von Freude erfüllt zugleich? Das grundlegende Problem wird gleich zu Beginn der Vorrede angesprochen, wenn es dort heißt: »Wenn ich schweige, spüre ich Fülle; sobald ich meinen Mund zum Reden öffne, fühle ich Leere.«21 Reichtum und Leere bedrängen das Ich zur gleichen Zeit. Das Ich ist mit Wissen angefüllt, doch sobald es seiner Umwelt etwas über sein Wissen mitteilt, bemerkt es, dass niemand Notiz davon nimmt. Das, was ihm in seinem Innern reich und würdig erscheint, wird, sobald es an die Außenwelt dringt, leer und überflüssig. Auch hier ergibt sich schon nach oberflächlicher Betrachtung eine Parallele zu Nietzsches Vorrede zu Also sprach Zarathustra. Zarathustra, fast schon zum Übermenschen geworden, entschließt sich, nach zehn Jahren des Schweigens und der Einsamkeit das Gebirge zu verlassen und zu den Menschen hinabzusteigen: »Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken«.22 Auf dem Weg ins Tal, zu den Menschen, trifft er einen Greis, der ihn davor warnt, nach den Menschen zu suchen und ihre Zustimmung zu erhoffen. Doch er lässt sich nicht davon abhalten. In der Stadt trifft er auf eine Gruppe von Zuschauern, die auf einen Seiltänzer warten. Ihnen spricht er vom Übermensch und erntet dafür nichts als Gelächter :23 »›Da stehen sie‹, sprach er zu seinem Herzen, ›da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren‹«.24 Auch er, der er den Menschen von seiner Weisheit abgeben möchte, erfährt, dass sich diese nicht um ihn kümmern, doch sieht er darin kein Hindernis. Im Gegenteil, er scheint überzeugt, dass seine Lehre Bestand haben wird auch trotz jener Hindernisse, die sich zwischen ihm und seiner Umwelt auftun. Hier deutet sich in der Vorrede das Ende von Also sprach Zarathustra an, wenn Zarathustra seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, dass der Übermensch nur dann möglich ist, wenn er sich von seiner Umwelt abwendet und erkennt, dass er dort keine Zustimmung erfahren kann: »Diesen Menschen von Heute will ich nicht Licht sein, nicht Licht heissen. Die – will ich blenden: Blitz meiner Weisheit! Stich ihnen die Augen aus!«25 Diese Lösung aber eröffnet sich nicht für das lyrische Ich bei Lu Xun. Die Identität des lyrischen Ich ergibt sich nicht ›aus sich‹, sondern stets aus seinem Gegenüber, seinem Gegenteil. Die Existenz des Lebens erklärt sich ihm aus dessen Niedergang, die Freude am Leben ist die Hoffnung auf den Tod: »Für mich, für Freund und Feind, Mensch und Tier, Geliebte und nicht Geliebte hoffe

21 22 23 24 25

Ebd. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 11. Vgl. ebd., 15 f. Ebd., 18. Ebd., 360.

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ich auf das Feuer, daß es schnell kommen möge, um Tod und Fäulnis der wilden Gräser herbeizuführen.«26 Feuer steht in Lu Xuns Vorrede für das, wonach sich das lyrische Ich sehnt. Auch hier wieder ein Bezug zu Also sprach Zarathustra. Feuer ist das Zentrum der von Zarathustra geschaffenen Religion, für Nietzsche ist es das Symbol für die Ungebundenheit, die Freiheit von allen Beschränkungen als Voraussetzung für ein dionysisches Leben. Feuer zerstört, was zerstört werden muss, um das Ziel des Übermenschen erreichen zu können: »Verbrennen mußt du dich wollen in deiner eigenen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!«27 Auch im buddhistischen Kontext ist Feuer eindeutig positiv konnotiert. Es ist das Zeichen für die Ankunft Buddhas, ein Zeichen der Erlösung, die aus der Zerstörung und damit aus der Chance zur Selbstreinigung hervorgeht. In der Vorrede zu Wilde Gräser unterstreicht das lyrische Ich die zerstörerische Funktion des Feuers. Denn: Das Feuer zerstört alles, wilde Gräser und Bäume, und das impliziert, dass auch die Kreationen des lyrischen Ich ebenso wie die von ihm bewunderten, wenn auch unerreichten künstlerischen Produkte – symbolisiert durch die hohen Bäume – mit dem Feuer vergehen. Die positive Seite des Feuers ergibt sich lediglich aus dem Zusammenhang zwischen Ich und Gegenüber, zwischen Leben und Tod, zwischen Existenz und Fäulnis, wenn das lyrische Ich seine Gedanken über die Wirkung des Feuers mit den Worten weiterführt: »Wenn nicht [gemeint ist: wenn das Feuer nicht schnell herbeikommt], dann hätte ich gar nicht erst gelebt, und das wäre noch ein größeres Unglück als Tod und Fäulnis.«28 Die positive Wirkung des Feuers ergibt sich somit aus seiner Kraft zur radikalen Zerstörung. Durch Zerstörung erst ist Existenz, ist Leben nachweisbar, nur im Gegensatz findet sich das lyrische Ich in seiner Existenz bestätigt. Deshalb steht in der Vorrede Lu Xuns wie in allen anderen Prosagedichten der zerstörerische Charakter des Feuers im Vordergrund. Das Feuer beinhaltet nicht die Möglichkeit zum Neuanfang, es ist nichts als Zerstörung, totale und finale Zerstörung: »Das Erdfeuer ist unter der Erde ständig in Bewegung, bis es wie rasend hervorbricht; sobald die Lava herausströmt, verbrennt es restlos alle wilden Gräser und hohen Bäume. Nichts bleibt dann mehr zum Faulen.«29 Schlamm, Baum und Feuer sind Symbole in Lu Xuns Vorrede, die wir auch bei Nietzsche finden. Dabei kann vorläufig festgehalten werden, dass ein Simultanlesen von Nietzsche und Lu Xun den Zugang zu Lu Xuns Text deutlich erleichtert, auch wenn Lu Xun nie gradlinig auf Nietzsche zurückgreift. In allen 26 27 28 29

Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 464. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 82. Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 464. Ebd.

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bisher durchexerzierten Fällen, vor allem jedoch im Falle der Symbole Schlamm und Feuer, hat sich gezeigt, dass Lu Xun dazu neigt, das Symbol in einen Kontext einzuordnen, der ihm eine Bedeutung gibt, welche der Nietzsches diametral entgegengesetzt ist. Die Entgegensetzung erfolgt dabei keinesfalls willkürlich, sie steht vielmehr vor dem Hintergrund dessen, was Nietzsche in seiner Vorrede zum Ausdruck bringt, benutzt diese quasi als Folie, welche dem Symbol eine bestimmte, wenn auch entgegengesetzte, und dennoch nur aus dem Kontext des Zarathustra herausscheinende Bedeutung gibt. Also sprach Zarathustra fungiert hier als Schlüssel zur Entschlüsselung der Wilden Gräser. Im Vergleich zu den soeben besprochenen und häufig bei Nietzsche wie Lu Xun auftauchenden Symbolen bilden die »wilden Gräser« – von manchen auch »Unkraut« genannt –30 eine Ausnahme. Zwar tauchen auch sie im Zarathustra auf, wenn es dort heißt: »Unzählbar sind diese Kleinen und Erbärmlichen; und manchem stolzen Baue gereichten schon Regentropfen und Unkraut zum Untergange«,31 doch scheint hier allerhöchstenfalls ein Aspekt dessen verborgen zu sein, was Lu Xun mit dem Symbol »wilde Gräser« verbindet. Der Gedanke des Subversiven taucht hier genauso auf wie Kleinheit und Kläglichkeit, über die das lyrische Ich ja auch immer wieder reflektiert. Doch scheint das Symbol mit diesem Bezug nicht voll entschlüsselt. Suchen wir nach einem anderen literarischen Vorbild, und einiges spricht dafür, dass Lu Xun sich gern solcher Vorbilder als Dialogpartner bediente, ist am ehesten an Walt Whitmans Leaves of Grass zu denken, die Lu Xun wohl bekannt waren und sich am Ende der zwanziger Jahre in China einiger Beliebtheit erfreuten. Allerdings würde sich auch hier, insofern methodisch stringent, eine Umkehrung der Verhältnisse ergeben, gilt doch für Walt Whitman und seine Gedichte, dass sie den Optimismus eines »truly original national poet« zum Ausdruck brachten, der »would sing of a new country in a new voice. The undertaking required unlimited optimism […] Whitman felt confident that the time was ripe and that the people would embrace him.«32 Die Leaves of Grass sind somit genau das, was die Wilden Gräser nicht sind, sie bringen jenen Optimismus, jene Zuversicht und Hoffnung zum Ausdruck, derer sich das lyrische Ich unfähig erweist, sie haben jenen stimulierenden und motivierenden Effekt auf ihre Leser, welche Lu Xuns Gedichte in Prosa nicht zu erreichen vermögen, sie sind sich ihres Gegenübers ebenso so sicher wie der Autor seiner selbst, weshalb sie aus der Kommunikation mit dem Gegenüber ihre Kraft und ihre Wirkung beziehen. Die Assoziation zu den Leaves of Grass ist dabei auch eine sprachlich-klangliche: Setzen wir näm30 Vgl. Lu Xun: Das trunkene Land: sämtliche Gedichte; Reminiszenzen, hg. von Wolfgang Kubin, übers. von Angelika Gu, Zürich 1994 (Werke in sechs Bänden, Bd. 6), 82 – 166. 31 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 66. 32 Anthony Szczesiul: Walt Whitman and the Development of Leaves of Grass, auf: http://www. sc.edu./library/spcoll/amlit/whitman.html (Zugriff 14. 01. 2011).

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lich für ye=wild einmal ye=Blatt ein, so ergibt sich in der lautlichen Abfolge von ye und cao auch ein Umkehrungseffekt: Im Falle der Wilden Gräser steht ye vor cao, im Falle der Leaves of Grass cao vor ye. Die Gleichsetzung von dichterischem Werk und wilden Gräsern bzw. Unkraut, so wie sie sich aus der Gegenüberstellung von Lu Xun und Whitman ergibt, fände wiederum auch Unterstützung im Kontext des Zarathustra. Gleich zu Beginn des zweiten Teils wird dort berichtet, dass Zarathustra wieder in das Gebirge zurückgekehrt sei, um nach langen Jahren der Einsamkeit plötzlich aus einem Traum zu erwachen, in dem ein Kind ihm einen Spiegel vorhält. Zu Zarathustras Erschütterung erkennt er in dem Spiegel nicht sich selbst, sondern »eines Teufels Fratze und Hohnlachen«.33 Daraufhin kommt Zarathustra zu der Erkenntnis: »Wahrlich, allzugut verstehe ich des Traumes Zeichen und Mahnung: meine Lehre ist in Gefahr, Unkraut will Weizen heissen«.34 Die Lehre wird hier mit Unkraut gleichgesetzt, der Weizen ist die aus der Ungeduld geborene, vorschnell weitergegebene Lehre, mit der die Zustimmung der Menschen zu erheischen ist. So wie der Seiltänzer von dem Possenreißer eingeholt wird und, zu Tode gestürzt, in ihm den Teufel erkennt,35 so sieht Zarathustra, in der Einsamkeit gierig und ungeduldig geworden, in seinem Spiegelbild den Teufel, der sich danach sehnt, denen, die er liebt, seine Lehre weiterzugeben. Im Zusammenhang von Zarathustra gelesen und in Kenntnis des Gedichts von Walt Whitman liegt es nahe, die wilden Gräser als Symbol der Dichtung zu lesen, einer Form von Dichtung freilich, die sich nicht stolz wie hohe Bäume erhebt, sondern am Boden krepelt, aus der Kläglichkeit des Schlamms herauswächst. Es ist Dichtung im Dialog mit sich selbst, nicht die ersehnte Kommunikation mit den anderen, wobei der Schlamm, aus dem sie entsteht, eben nicht das ist, was wir vielleicht vorschnell zu entziffern meinen (und was Ryckmans wie Loi assoziierten): China in seiner Schwäche und Zerrissenheit. Der Schlamm ist die Spiegelung des Ich in der äußeren Welt. Die Kläglichkeit liegt demnach nicht außen, sondern im Innern des Ich. Es ist des Stolzes und der Größe unfähig, ihm fehlt es an Kühnheit und Mut. Das, was als Auseinandersetzung um die Kommunikationsfähigkeit des lyrischen Ich anfängt, endet mit dem Identitätsproblem. In beiden Fällen ist das Ich mit seinem Gegenüber untrennbar verbunden, doch die Hinwendung zum Gegenüber bringt nicht die leichte Lösung, sondern in einem Fall die »Leere«, im anderen den Tod. Dem Beispiel Zarathustras zu folgen hieße, auf das Gegenüber zu verzichten, die Identität des Ich aus dem Ich heraus zu definieren. Dies vermag das lyrische Ich jedoch nicht zu vollziehen. 33 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 105. 34 Ebd. 35 Vgl. ebd., 21 – 25.

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Haus, Garten und Außenwelt in dem Prosagedicht Herbstnacht Wie und wo also kann das lyrische Ich seine Integrität bewahren, wie kann es leben mit seiner Kläglichkeit, seiner Mutlosigkeit und Verzweiflung? In dem Prosagedicht Herbstnacht36 führt uns Lu Xun drei Formen der Existenz an drei unterschiedlichen Orten vor: im Haus, im Garten und außerhalb des Gartens, jenseits der Mauer, in der Außenwelt. Haus, Garten und Mauer sind dabei Topoi, die in Lu Xuns Erzählungen immer wieder thematisiert werden, wobei er in den meisten Fällen Haus und Heimat miteinander in Beziehung setzt und die Vergeblichkeit des Sehnens nach dem Glück der Kindheit, nach Rückkehr in die Geborgenheit literarisch verarbeitet. In Herbstnacht geht es nicht um die verlorene Heimat, sondern um die erschaffene, nicht um die Geborgenheit, welche aus der Umgrenztheit der Freiheit resultiert und dementsprechend darauf wartet, durchbrochen zu werden, es geht um die selbst gesetzte Form der Existenz, die allein ermöglicht, die eigene Integrität zu bewahren. In diesem Sinne nimmt Lu Xun in Herbstnacht wiederum eines der zentralen Probleme aus Also sprach Zarathustra auf. Auch Zarathustra leidet unter der Heimatlosigkeit, erkennt jedoch, dass es eines bewussten Aktes bedarf, sich ein Haus zu bauen, um sich damit den Ort zu schaffen, an dem er bei sich und für sich sein kann. Wer ein Haus hat, kann seine Distanz bewahren zu den Gefährten, während er außerhalb des Hauses den »giftigen Fliegen« ausgesetzt ist. Das Haus, das selbst gebaute, ist somit der Ort, an dem Zarathustra sein Ziel erreicht: »Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause; hier kannst du Alles hinausreden und alle Gründe ausschütten. Nichts schämt sich hier versteckter, verstockter Gefühle«.37 Hier also stellt Lu Xun einmal nicht Nietzsche auf den Kopf, sondern entspricht mit seiner Gegenüberstellung von Haus, Garten und Außenwelt weitgehend den von Zarathustra geäußerten Auffassungen: »Ich liebe den, welcher arbeitet und erfindet, dass er dem Übermenschen das Haus baue und zu ihm Erde, Thier und Pflanze vorbereite: denn so will er seinen Untergang.«38 In Herbstnacht steht der Garten dabei zwischen dem Haus und der Außenwelt, in beiden Fällen sind es Mauern, die ihn umgrenzen. Er liegt zwischen der Natur in ihrer vom Menschen unberührten Form und dem Haus, das der Mensch sich zum Schutz vor der Natur baut. Im Vergleich zur Gestaltetheit des Hauses verfügt er über ein mehr an Natürlichkeit und ähnelt insofern der Außenwelt jenseits der

36 Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 465 – 467. 37 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 231. 38 Ebd., 17.

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Mauer ; im Vergleich zur Außenwelt bietet er ein Mehr an Geborgenheit und Schutz und nimmt insofern in sich Eigenschaften des Hauses auf. Doch in Lu Xuns Prosagedichten ist auch der Garten Widerspiegelung des inneren Zustandes des lyrischen Ich. Er ist nicht Ort, sondern Ausdruck seiner Existenz, er spiegelt den Gemütszustand einer gewissen Unentschiedenheit: hier die Verlockung, der Umgrenzung zu entrinnen und sich in die Außenwelt zu begeben, dort die Verlockung der völligen Geborgenheit in einem Haus, dessen Fenster aus Papier sind und somit den Blick nach außen weitgehend beschränken. Mit Nietzsche gelesen ist der Garten ein Ort und zugleich ein Zustand, in dem man sich nicht mehr an den Massen orientiert, um von ihnen missachtet zu werden, sondern in dem man meint, diesen entrinnen und dadurch das Überleben sichern zu können, ohne sich ganz auf sich selbst zu stellen. Die Hoffnung in der Welt jenseits der Mauern wird durch die Dattelbäume repräsentiert: Sie ragen, wie in der Vorrede zu Also sprach Zarathustra dargelegt, stolz und kühn in den Himmel und stehen für eine Kreativität, die zu den Sternen greift. Wer im Garten steht, kann die Bäume nicht erreichen, fühlt sich nur klein und nichtig angesichts der Möglichkeiten, die sich jenseits der Mauer eröffnen. Wer nach draußen sieht, erkennt jedoch, dass die stolzen Bäume »geschlagen sind und verwundet«, dass sie der Kälte ausgesetzt sind. Sie sind in ihrer Kühnheit einsam, ihre Hoffnung ist somit stets nah an der Verzweiflung. Die Existenz jenseits der Mauer steht für den Zustand der Einsamkeit. Mit Zarathustras Worten heißt dies: »Dieser Baum steht einsam hier am Gebirge; er wuchs hoch hinweg über Mensch und Thier. Und wenn er reden wollte, er würde Niemanden haben, der ihn verstünde: so hoch wuchs er.«39 Der Garten ist der Ort, der sich mit einem Gemütszustand geläuterter Hoffnung vergleichen lässt. Die kleinen pinkfarbenen Blumen stehen dafür, sich über den nahenden Winter hinwegtrösten zu lassen, im Glauben an die Wiederkehr des Frühlings. Ihr Terrain ist der Garten, sie stehen für die, welche dort zu Hause sind und die lachen über die, welche dort nicht zu Hause sind. Das lyrische Ich ist im Garten nicht so selbstverständlich wie die Blumen, denn es ist nicht bei sich. Selbst wenn es lacht, merkt es nicht, fühlt es nicht, dass es lacht, sondern hört sein eigenes Gelächter, so als stünde es außerhalb seiner selbst: Ein spitzer Schrei, dann streicht ein Vogel durch die Nacht. Plötzlich höre ich ein mitternächtliches Lachen, ein wenig verhalten, so als wollte es die Schlafenden nicht aufwecken, doch schallt es bald von überall her. Weil es mitten in der Nacht keinen außer mir dort gibt, höre ich sofort, das Lachen kommt aus meinem Mund. Doch kaum gehört, werde ich schon von ihm vertrieben, zurück in mein Haus, wo ich den Docht der Lampe sofort ein wenig höher drehe.40 39 Ebd., 52. 40 Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 466 f.

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Mit dem Schritt in das Haus und in den künstlichen Schein der Lampe erweist sich das lyrische Ich als »ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte!«41 Das lyrische Ich ist zur Einsicht gekommen und hat seine Bedenken, auch seine ›Zwischenlösung‹ – hier durch den Garten symbolisiert – hinter sich gelassen, um in der Literatur den Ort zu finden, an dem es bei sich und für sich sein kann. Im Haus befindet sich das lyrische Ich in einer von der Außenwelt – wie auch vom Garten – abgeschotteten, selbst gestalteten Welt. Alles ist hier künstlich, sprich: selbst gesetzt, Kunst, sogar das Licht scheint nicht von draußen herein, sondern wird vom Schirm einer Lampe geführt. Das künstliche Licht der Lampe bildet den Gegensatz zu dem natürlichen Licht des Mondes, der am Himmel steht und gleichsam Garten wie Außenwelt von oben bescheint. Im Abschnitt ›Vom Gesicht und Rätsel‹ sagt Zarathustra dazu: »Eben nämlich gieng der volle Mond, todtschweigsam, über das Haus, eben stand er still, eine runde Gluth – still auf flachem Dache, gleich als auf fremden Eigenthume«.42 Die Lampe nun unterstreicht den Aspekt des Künstlichen und der Kunst, für den das Haus steht. Ihr Schirm – gerade neu gekauft – schirmt das künstliche Licht vom Licht des Mondes und erhellt gleichzeitig das Innere des Hauses. An ihm sammeln sich ein paar Fliegen, ein paar Schmeichler, wie Zarathustra sie nennt.43 Obwohl das Haus vor ihnen schützen soll, ist es doch einigen gelungen, bis zur Lampe vorzudringen. Das lyrische Ich kümmert sich jedoch nicht mehr um sie. Es betrachtet sie mit Gelassenheit als Wesen, denen seine Zuneigung wie sein Mitleid gilt.44 Das Haus steht somit für einen Gemütszustand, in dem das lyrische Ich seinen Ort gefunden und seine Distanz geschaffen hat. Es ist das, was Zarathustra als sein Ziel beschreibt und zu dem er aufruft, wenn es heißt: »Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit und dorthin, wo eine raue, starke Luft weht. Nicht ist es dein Loos, Fliegenwedel zu sein.«45 Und das lyrische Ich bei Lu Xun schafft sich diesen Ort und erreicht damit – im Gegensatz zu dem, was wir in der Vorrede gelesen haben – ein von Zarathustra gestecktes Ziel. Dieser Ort ist die Literatur, welche das lyrische Ich für sich und unter Missachtung all dessen, was außer seiner selbst steht, erschafft. In ihr und mit ihr findet das lyrische Ich zu dem Zustand der Integrität und Identität, den zu suchen es sich aufgemacht hat. So sehr dies dem entspricht, was Nietzsche in Also sprach Zarathustra den Willen zur Macht nennt, so sehr drängt es Zarathustra andererseits auch wieder aus dem Haus heraus: »Ich bin zu heiss und verbrannt von eigenen Gedanken; oft will er mir den Athem nehmen. Da muss ich in’s Freie und weg aus allen verstaubten

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F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 202. Ebd., 201. Vgl. ebd., 67. Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 467. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 68.

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Stuben.«46 Das lyrische Ich, gerade zur Erkenntnis von der Notwendigkeit der selbst gesuchten Einsamkeit in einem selbst gebauten Haus gelangt, kann sich vom Anblick der Fliegen nicht lösen. Sich selbst und seine Wahrheit relativierend berichtet es: »Gähnend zünde ich mir eine Zigarette an. Während ich den Rauch ausstoße, erweise ich wortlos im Angesicht der Lampe den dunkelgrünen, zierlichen Helden meine Reverenz.«47 In Herbstnacht schafft das lyrische Ich in der Literatur sein Zuhause und erreicht damit genau das Gegenteil von dem, was das lyrische Ich in der Vorrede als Lösung für seine Probleme anbietet. Der Schrei des Nachtvogels deutet jedoch schon an, dass die eine Lösung nicht ohne die andere gedacht werden kann, dass in der selbst geschaffenen Welt des lyrischen Ich Tod und Literatur genauso eng mit einander verbunden sind wie Hoffnung und Verzweiflung in der Außenwelt jenseits der Mauer. Das Haus, so erkennen wir, wird von Lu Xun in seiner symbolischen Bedeutung nicht wie in den anderen behandelten Fällen »auf den Kopf gestellt«. Lu Xun übernimmt die in Also sprach Zarathustra vorzufindende Bedeutung und schließt sich damit in der für ihn zentralsten aller Fragestellungen der Auffassung Nietzsches an, wonach die Kunst nur als Überwinderin des Nihilismus zu denken ist. Angesichts des Zusammenbruchs der alten Werte, den Nietzsche genauso diagnostiziert wie Lu Xun, bedarf es der Kunst als Mittel gegen den Ekel über die Welt und die Last des Daseins: »Und mag doch Alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus giebt es noch zu bauen!«48

Die Wilden Gräser und Nietzsche Nimmt man einmal Also sprach Zarathustra zur Hand, um sich an die Entschlüsselung der Wilden Gräser zu machen, so findet der Leser so viele mehr oder weniger offensichtliche Querverweise, dass es allzu leicht erscheint, den Bezug zwischen den Wilden Gräsern und Also sprach Zarathustra herzustellen. Plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass Der Schatten bei Nietzsche etwas mit dem Abschied des Schatten bei Lu Xun,49 Der Wanderer in Also sprach Zarathustra etwas mit dem Wanderer in den Wilden Gräsern,50 Der freiwillige Bettler etwas mit dem Bettler zu tun haben könnte.51 Nicht jedes der 46 47 48 49 50 51

Ebd., 161. Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 467. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 149. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 338 – 341; Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 468 – 470. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 193 – 196; Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 493 – 502. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 333 – 337; Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 471 f.

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Gedichte in Prosa erschließt sich jedoch im direkten Bezug auf Also sprach Zarathustra und – wie wir gesehen haben – dort, wo der Bezug sich herstellt, ist er kein gradliniger, einfacher, direkter, hat doch die oben präsentierte Kostprobe zumindest zeigen können, dass Lu Xun mit den Wilden Gräsern sich keinesfalls als Nietzsche-Epigone erweist, sondern sehr eigenständig und widerborstig mit seinem Gegenüber umgeht. Hatte Lu Xun in seinen frühen Schriften noch der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass der Übermensch eine Lösung für China darstellen könnte, so hatte er in den Kurzgeschichten der Sammelbände Aufschrei und Zaudern seine Verzweiflung darüber in Literatur gefasst,52 dass der Übermensch an seiner Einsamkeit brechen müsse und damit keinen Beitrag zur Lösung der brennenden Probleme in China würde leisten können. In den Wilden Gräsern finden wir einen Lu Xun, der sich Nietzsche erneut zu- und gleichzeitig wieder von ihm abwendet. Er sucht bei Nietzsche den Weg, sich seiner Zweifel und Schwächen bewusst, über diese hinwegzusetzen, der Ablehnung des Alten das Neue hinzuzudenken, mit der Literatur den Ort zu finden, an dem er das gestalten kann, was er gestalten will. Doch je mehr er ihm in diese Richtung folgt, umso deutlicher wird ihm, dass der von Nietzsche in Also sprach Zarathustra vorgegebene Weg für ihn nicht zum Ziel führt. Es ist dies der im letzten Teil des Zarathustra angedeutete Weg zur Bejahung des Prinzips der »ewigen Wiederkunft«,53 das bei Nietzsche folgende Formulierung findet: »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins«.54 Dabei zeigt Zarathustra für sich selbst, dass die Bejahung dieses Prinzips nicht etwa beinhaltet, dass der Einzelne auf ein neues, besseres oder zumindest ähnliches Leben hoffen dürfe. Nein: »Ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre«.55 Alle Verlockungen, insbesondere die, den Applaus der Menschen zu erhaschen, lässt Zarathustra hinter sich, sobald er dieses Prinzip bejaht, und damit wird er Herr über alle Anfechtungen und Zweifel, die er auf seinen Wanderungen erfahren hat. Nietzsche setzt dem Nihilismus die Möglichkeit einer radikal anderen Sicht auf die Welt entgegen. Das Prinzip der »ewigen Wiederkunft« ist das Gegenprinzip, nach dem er sucht, ein Gedanke, der die Kraft hat, den Nihilismus zu überwinden: »Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu

52 Lu Xun: »Nahan« (Aufschrei), in: ders.: Lu Xun Quanji (Lu Xuns Gesammelte Werke, Bd. 1), Bejing 1973, 269 – 462. Lu Xun: »Panhuang« (Zaudern), in: ders.: Lu Xun Quanji (Lu Xuns Gesammelte Werke), Bd. 2, Bejing 1973, 139 – 335. 53 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 275 f. 54 Ebd., 272. 55 Ebd., 276.

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leben, ist die Aufgabe, – du wirst es jedenfalls.«56 Heidegger hat in seinen Nietzsche-Vorlesungen darauf hingewiesen, dass die Wiederkunftslehre zu Unrecht von den meisten Interpreten übersehen bzw. nicht als Zentrum des Denkens von Nietzsche betrachtet wird. Er weist nach, dass die so genannte Wiederkunftslehre das gesamte Schaffen Nietzsches durchzieht und versucht diesen Gedanken als Abkehr vom Prinzip des Wirklichen zu fassen, als »das Seiende im Ganzen […], [das] nie unmittelbar in seiner Wirklichkeit durch Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge belegt und bewiesen werden [kann].«57 Insbesondere in Also sprach Zarathustra spiele der Gedanke der ewigen Wiederkunft eine zentrale Rolle,58 die Lehre des Zarathustra sei die Lehre von der ewigen Wiederkunft und gipfele in der Forderung, sich amor fati – der Liebe zur Notwendigkeit –59 hinzugeben. Für Lu Xun aber ist die Bejahung des Prinzips der »ewigen Wiederkunft« wie der Rückfall in genau jene Geisteshaltung, die zu überwinden er seit seinem Studium in Japan und seit seiner ersten Berührung mit Nietzsche sich zum Plan gemacht hatte. Der Übermensch, so wie Lu Xun ihn in Über die Kraft der MaraPoesie skizziert,60 ist befähigt und aufgerufen, allen anderen voran zu zeigen, dass es gilt und möglich ist, aus dem Kreislauf der ewigen Wiederkehr auszubrechen. Die Schwäche Chinas, so seine damalige Diagnose, beruht auf der Lethargie und Mutlosigkeit der Menschen, die, vom Gedanken ihrer eigenen Unfähigkeit gefangen, zu keinerlei Aktivität bereit sind, ihr Dasein zu verändern. Nur der Übermensch, der sich durch diese Idee nicht fesseln lässt, vermag sie aus dieser Geisteshaltung herauszuzerren und zur aktiven Teilnahme an der Umgestaltung Chinas zu überreden. Später erkennt Lu Xun, dass es zwar Menschen gibt, die sich ihrer gedanklichen Fesseln entledigen können, dass sie aber, sobald sie dies tun, so alleine dastehen, dass sie zur Überwindung der Fesseln und zur Umsetzung ihrer neuen Vorstellungen gar nicht in der Lage sind. Ihre Rufe bleiben ungehört, ihrem Beispiel folgen zu wenige. Der Ausbruch an sich ist damit aber noch nicht unmöglich, er kann individuell gedacht, wohl aber nicht kollektiv vollzogen werden.61 Kein Wunder also, dass in Wilde Gräser das lyrische Ich sich seine Unfähigkeit eingestehen muss, über seine eigene Verzweiflung hinauszudenken, dass es in Fortsetzung der Linie des ›Selbst-Sezierens‹ erkennt, dass es selbst sein größtes Hindernis ist. In vielen Kurzgeschichten, 56 Zit. nach Martin Heidegger : Nietzsche, 2 Bde., Bd. 1, Pfullingen 1989, 397; vgl. auch: M. Heidegger: Nietzsche, 421. 57 Ebd., 392. 58 Vgl. ebd., 439 – 445; 405 – 410; 335 – 338; 283 – 317. 59 Vgl. ebd., 470. 60 Lu Xun: »Moluo shili shuo« (Die Kraft der Mara-Poesie), in: ders.: Lu Xun Quanji (Lu Xuns Gesammelte Werke), Bd. 1, Bejing 1973, 55 – 102. 61 Vgl. S. Weigelin-Schwiedrzik: »Lu Xun und das ›Prinzip Hoffnung‹«.

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Essays und Briefen kommt Lu Xun mehr oder weniger offen auf den inneren Streit zwischen linearem Fortschrittsglauben einerseits und zyklischem Weltbild der »ewigen Wiederkunft« andererseits zu sprechen.62 So wie in den Wilden Gräsern das lyrische Ich um die von Zarathustra verkündeten Möglichkeiten des Übermenschen weiß und zugleich erkennt, dass es nicht dem Beispiel der »hohen Bäume« folgen, sondern nur »wilde Gräser« hervorbringen kann, so kennt Lu Xun die Alternativen: Doch gelingt ihm die Abkehr vom zyklischen Weltbild nicht so vollständig, dass er es nicht ständig mit in die Zukunft hineindenkt und dort, wo andere das Neue, das Andere, das Gute erhoffen, schon immer das ewig Gleiche erwartet. Diese Erwartung ist es, die ihn am Handeln hindert und ihn mit Zweifeln überschüttet, wo andere zuversichtlich nach vorn blicken. Die Bejahung des Prinzips der »ewigen Wiederkunft« kann deshalb für ihn keine Lösung sein. Nietzsche ist damit tot. Nicht zuletzt in Herbstnacht spielt Lu Xun das Prinzip der »ewigen Wiederkunft« in seiner literarischen Form durch. Die kleinen pinkfarbenen Blumen träumen in der Kälte der Herbstnacht, dass es wieder Frühling werde. Sie sind – im Gegensatz zu dem lyrischen Ich – im Garten zu Hause, sie wissen von der ewigen Wiederkunft, doch ist diese ihnen ebenso natürlich wie der Garten selbst, aus dem sich das lyrische Ich als Ergebnis seiner »[unbefleckten] Erkenntnis« zurückzieht.63 Der Geisteszustand, für den der Garten steht und den das lyrische Ich offenbar mit dem Prinzip der ewigen Wiederkunft verbindet, ist genau der, den es zu überwinden gilt. Deshalb der Rückzug ins Haus. Lu Xuns Umgang mit Nietzsche – oben als ›auf den Kopf stellen‹ bezeichnet – hat also Methode. In dieser Methode steckt die Möglichkeit, sich dialogisch mit Nietzsche auseinanderzusetzen, um sich gleichzeitig von ihm abzusetzen, in ihm das Gegenüber und den Gegner zu sehen, ihn – wie in dem Gedicht Epitaph – zugleich als Feind und als Teil seiner selbst zu erkennen. In Epitaph steht das lyrische Ich vor seinem eigenen Grab und schaut auf den eigenen Leichnam, dem Herz und Leber herausgerissen wurden. Dabei findet die Kommunikation zwischen den beiden Seiten des Ich – dem lebenden und dem Leichnam – über die Lektüre des Grabsteins statt, die von Kommentaren unterbrochen wird, welche von dem lyrischen Ich vorgetragen werden. Zum Schluss wendet sich der Leichnam jedoch direkt an die lebende Seite des lyrischen Ich mit den Worten: »Wenn ich erst zu Staub geworden bin, wirst du mich lächeln sehen«.64 Lu Xun arbeitet dabei durchgehend mit dem Mittel der Gegenüberstellung 62 Für ein Beispiel vgl. Susanne Weigelin-Schwiedrzik: »Lu Xun und Lü Buwei: Versuch einer Interpretation der Kurzgeschichte ›Ein weißer Schimmer‹«, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung, 11 (1988), 153 – 165. 63 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 156. 64 Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 512.

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und der Gegensatzbildung. Dies beginnt damit, dass der Grabstein auf beiden Seiten beschrieben ist, auf der einen deutlicher als auf der anderen. Der Tote wird auf der Vorderseite als zwischen Gegensätzen eingespannt beschrieben und mit einer Schlange verglichen, die ihre Giftzähne nicht gegen andere, sondern gegen sich selbst richtet. Auf der Rückseite heißt es demgegenüber : »…das Herz herausgenommen, um seinen Geschmack besser kennenzulernen. Doch wie soll man den Geschmack kennenlernen, wenn der Schmerz so schrecklich ist?«65 Dem Gegner Herz und Leber herausreißen ist ein Topos, für den es im chinesischen wie im europäischen Kontext Bezüge gibt. Im chinesischen Kontext finden wir immer wieder den Gedanken, dass es dem niedergerungen Gegner die Eingeweide zu entreißen gelte, damit man diese essen und dadurch an Stärke gewinnen könne. Der geschlagene Gegner wird in diesem Akt zugleich noch weitergehend erniedrigt und geehrt, gibt doch der siegreiche Kämpfer, indem er sich der Stärke seines Gegners nach dessen Tod bemächtigt, zu, wie stark dieser ist. Betrachten wir nun dieselbe Konstellation im Kontext der Prometheus-Sage und greifen dabei wieder auf Also sprach Zarathustra zurück, so zeigt sich, dass Nietzsche seinerseits die Sage in seinem Text ›auf den Kopf stellt‹. Zarathustras ständige Begleiter sind eine Schlange und ein Adler, doch stellen beide, entgegen landläufigen Annahmen und im Gegensatz zur Prometheus-Sage, in welcher der Adler Prometheus zur Strafe immer wieder die Leber entreißt, keinerlei Bedrohung für Zarathustra dar, im Gegenteil, sie sind seine Freunde und helfen ihm, seine Ziele zu erreichen. Doch kannte Lu Xun die Prometheus-Sage auch aus anderem Kontext. Zur Zeit des Vierten Mai 1919 war sie unter chinesischen Intellektuellen in aller Munde, und schon in seinen frühsten Schriften hat Lu Xun sich auf sie bezogen. Ganz im Sinne seiner Zeit hebt Lu Xun in der Kraft der Mara-Poesie Prometheus in seinem Kampf gegen die Götter positiv hervor und lobt dessen Opferbereitschaft für Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit. In Übereinstimung mit den meisten seiner intellektuellen Zeitgenossen glorifiziert er den Individualismus, der den Menschen in das Zentrum des Weltgeschehens stellt und ihm die Aufgabe überträgt, Tradition und Orthodoxie zu überwinden. In einer späteren Phase kommt er jedoch zu einer anderen Auslegung und vermischt dabei die Prometheus-Sage mit der chinesischen Behandlung des Topos vom Verzehr der Eingeweide des Gegners. Er vergleicht sich selbst (sic!) mit Prometheus und führt aus: Doch als ich das Feuer aus anderen Ländern stahl, tat ich dies, um mein eigenes Fleisch zu kochen, weil ich dachte, daß es so besser schmeckte. Ich hoffte, daß, indem ich es 65 Ebd.

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kaute, ich seine guten Seiten würde genießen können und mein Körper nicht länger wertlos sei. Am Anfang war das alles nichts als Individualismus vermischt mit dem Luxus der Kleinbourgeoisie. Doch was ich zuletzt mit meinem Skalpell fand, war nichts als Rache, Rache, die aus dem Herz der Person hervortrat, in die ich das Messer gestoßen hatte.66

Diese Passage aus einem Text, der nur wenig später als das Prosagedicht Epitaph geschrieben wurde, wiederholt einige der im Prosagedicht zu findenden Formulierungen und stellt Lu Xuns frühere Prometheus-Interpretation ebenso auf den Kopf wie die zur damaligen Zeit in China kursierende Interpretation des Mythos. Zunächst verbleibt er im chinesischen Kontext und wiederholt die Vorstellung, dass es der eigenen Stärke zum Vorteil gereiche, die Eingeweide des Gegners zu verzehren. Dabei greift er jedoch einen Gedanken auf, den er sowohl im chinesischen Kontext als auch bei Zarathustra finden kann. Immer wieder weist Zarathustra nämlich darauf hin, dass: »[d]er Mensch der Erkenntnis […] nicht nur seine Feinde lieben, sondern auch seine Freunde hassen können [muss]«.67 Dem Feind solle man nicht Böses mit Gutem vergelten. »Denn das würde ihn beschämen. Sondern beweist, dass er euch etwas Gutes angethan hat.«68 Doch weicht er im weiteren Verlauf von der Vorlage, sowohl der ursprünglichen als auch der Bearbeitung durch Nietzsche, in zweifacher Hinsicht ab: Zum einen ist es das eigene Fleisch, das er kocht, nicht das des Gegners, zum anderen geht der Diebstahl nicht von den siegreichen »anderen Ländern« aus, sondern das Feuer der anderen Länder wird von den Besiegten entwendet. Der Respekt, der diesem Vorgang des Entreißens, hier Stehlens, innewohnt, stößt jedoch nicht auf Anerkennung. Er weckt, im Gegenteil, die Rache der Gegenseite, die in diesem Vorgang nur die kämpferische Herausforderung und Anfechtung erkennt. Die eingefügte Anspielung auf seinen Individualismus verweist dabei auf seinen Sinneswandel bezogen auf frühere Interpretationen des PrometheusMythos. Nicht wie in früheren Jahren will er sich auflehnen und die Verantwortung für die Zukunft auf seine Schultern nehmen, Prometheus ist ihm kein Vorbild mehr, denn: Die Rache der anderen zeigt ihm, dass er deren Verständnis nicht erlangen kann. So wie die Götter sich an Prometheus rächen, so rächen sich die anderen, die Menschen, an dem, der es wagt, das Feuer zu stehlen. Diese Menschen mit ihrer Verständnislosigkeit sind aber nicht nur Gegenüber, sie sind auch Teil des Ich, die Rache kommt also nicht nur von den anderen, sondern auch vom Ich selbst. Genau hier liegt der Grund für die immer wieder in den 66 Lu Xun: »Erxinji« (Über die zwei Herzen), in: ders.: Lu Xun Quanji (Lu Xuns Gesammelte Werke), Bd. 4, Bejing 1973, 221 f. 67 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 101. 68 Ebd., 87.

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Yecao auftretende Spaltung des lyrischen Ich: Das, was außen ist, ist zugleich auch innen, das, was gegenüber steht, ist auch in sich. Seinem Gegner die Eingeweide zu entreißen, um selbst an Stärke zu gewinnen, verweist im Kontext von Epitaph auf das lyrische Ich, welches im Prozess des ›Selbst-Sezierens‹ zur Selbsterkenntnis gelangt und dennoch die beiden Seiten des Ichs – die tote und die lebende – nicht zu vereinen vermag. Die beiden Seiten sind vielmehr im Wettstreit miteinander, im Streit zwischen heiß und kalt, oben und unten, Sein und Nichts. Der Streit endet nach dem Biss der Schlange mit den Worten: »…verlassen…«,69 so als habe eine Seite vermocht, die andere zu verdrängen. Das Ende des Gedichts zeigt jedoch, dass die tote, die geschlagene Seite immer noch Macht über die lebende ausübt und diese in die Flucht schlägt. So wie in Also sprach Zarathustra der Schatten immer wieder Zarathustra auflauert und dieser den Possenreißer nicht abzuschütteln vermag, so läuft das lyrische Ich davon aus Angst vor der Verfolgung durch den Leichnam. Das in diesem Gedicht beschriebene Verhältnis zwischen der lebenden und der toten Seite des lyrischen Ich lese ich als Symbol für das Verhältnis zwischen Lu Xun und Nietzsche. Danach wären die beiden untrennbar mit einander verbunden und doch im Wettstreit miteinander. Es ist, als wolle Lu Xun sich literarisch an Nietzsche abarbeiten, indem er die Wilden Gräser schreibt, doch ist diese Trennung nicht eine endgültige, er fürchtet immer noch, verfolgt zu werden. Diese untrennbare Verbundenheit kommt ebenso in seinem Umgang mit Also sprach Zarathustra wie auch in seinem Wunsch nach Trennung, wenn nicht gar Überwindung, zum Ausdruck. Dabei ist nicht nur zu beachten, dass Lu Xun die zentralen Topoi und Symbole aus Also sprach Zarathustra in seinen Text einwebt, noch wichtiger ist, dass er mit der Methode des ›auf den Kopf Stellens‹ nicht nur Distanz zu Nietzsche gewinnt, sondern zugleich auch seine Vertrautheit mit ihm, seine enge Bindung an ihn unter Beweis stellt. Nietzsche hat einmal selbst seine Philosophie folgendermaßen charakterisiert: »Meine Philosophie: umgedrehter Platonismus. Je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner, schöner, besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.«70 Umgedrehter Platonismus heißt das Verhältnis von Idee, Wirklichkeit und Kunst umzudrehen, der Kunst die höchste Bedeutung zuzumessen, von der Platon annahm, dass sie im Vergleich zu Idee und Wirklichkeit am weitesten von der Wahrheit entfernt und damit am unbedeutendsten sei: »Die Kunst ist mehr als die Wahrheit«.71 Das eigene Denken ist demnach auch bei Nietzsche die Umkehrung des selbst gewählten Gegenübers, in diesem Falle Platon: »Den Platonismus umdrehen«, so Heidegger, »heißt dann: das Maßstabsverhältnis um69 Lu Xun: »Yecao« (Wilde Gräser), 511. 70 Zitiert nach M. Heidegger: Nietzsche, 180. 71 Zitiert nach ebd., 167 – 243.

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kehren; was im Platonismus gleichsam unten steht und am Übersinnlichen gemessen werden will, muß nach oben rücken und umgekehrt das Übersinnliche in seinen Dienst stellen.«72 Ein ähnlich umgekehrtes Verhältnis stellt David S. Thatcher auch in seinem Artikel über Nietzsche und Byron fest, in dem er Byron als Gegenüber darstellt, mit dem Nietzsche sich zeit seines Lebens beschäftigt, an dem er sich abgearbeitet, den er ›auf den Kopf gestellt‹ hat.73 Mit anderen Worten: Affinität und Distanz konvergieren in der Methode des ›Auf-den-KopfStellens‹. Die Wilden Gräser mit Also sprach Zarathustra zu lesen, heißt den Versuch zu unternehmen, eine ihnen angemessene Leseweise zu entwickeln, wobei Lu Xun unterstellt wird, mit seinem Gegenüber Nietzsche genauso umgegangen zu sein, wie Nietzsche dies mit den Seinigen getan hat.

72 Ebd., 181. 73 Vgl. David S. Thatcher : »Nietzsche and Byron«, in: Nietzsche-Studien, 3 (1974), 130 – 151.

Erdmut Wizisla

Walter Benjamin und Bertolt Brecht: Schreibszenen, Arbeitsweisen, Archive Es ist in der Tat nicht an der Zeit, das was wir, wohl nicht ganz mit Unrecht, in Händen zu halten glauben, in Kiosken zur Schau zu stellen; vielmehr scheint es an der Zeit, an seine bombensichere Unterbringung zu denken. Vielleicht liegt die Dialektik der Sache darin: Der nichts weniger als glatt gefügten Wahrheit ein Gewahrsam zu geben, das glatt gefügt ist wie eine Stahlkassette.1 Walter Benjamin an Max Horkheimer, 31. Jan. 1937

Das Motto meines Aufsatzes berührt den Grund des Archivs. Es ist geprägt von zwei Spannungen. Während die Opposition Kiosk vs. bombensichere Unterbringung den Blick auf die Zugänglichkeit und Sicherung einer Überlieferung richtet, fragt die Gegenüberstellung nichts weniger als glatt gefügte Wahrheit vs. glatt gefügte Stahlkassette nach strukturellen Differenzen zwischen der Überlieferung und dem für sie geeigneten Ort – mithin nach Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Wahrheit. Das Wort ›Kiosk‹ (von türkisch: kö¸sk, eigentlich ein Gartenhäuschen, ein offener Pavillon) wird hier zum Symbol für Öffentlichkeit. Man hat sich eine sichtbare, zugängliche Auslage vorzustellen, eine (vielleicht temporäre) Ausstellung, provisorisch, frei stehend und unabhängig. Ihr Gegensatz ist die »bombensichere Unterbringung«. Sie steht für etwas Abgeschlossenes, Unzugängliches, Geschütztes, das dauerhaft, fest und mit etwas verbunden ist. Der Begriff ›Gewahrsam‹ gemahnt an Bunker oder Gefängnisse. Benjamin formuliert hier seine Archivkonzeption. Es gibt etwas, das – damit es überdauern kann – bombensicher untergebracht werden sollte. Der Blick auf die Hinterlassenschaft ist selbstbewusst, aber nicht ohne Understatement (»was wir, wohl nicht ganz mit Unrecht, in Händen zu halten glauben«). Das gewählte Personalpronomen ist nicht als pluralis majestatis zu lesen, sondern als Appell: Der Absender des Briefes, aus dem das Zitat stammt, schließt, durchaus strategisch, den Empfänger ein: Max Horkheimer, den Direktor des Instituts für Sozialforschung. Benjamin suchte den gedanklichen Schulterschluss mit dem

1 Walter Benjamin an Max Horkheimer, 31. 1. 1937, in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, 6 Bde., Bd. V, Frankfurt/Main 1995 – 2000, 457 f.

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Institut, das sein wichtigstes Netzwerk war und ihm, zumindest auf niedrigem Niveau, finanzielle Sicherheit bot. Hier werden Widersprüche und Paradoxien thematisch: zwischen dem Anspruch auf direkte, unmittelbare Öffentlichkeit einerseits und der Hoffnung auf Haltbarkeit und Nachleben andererseits. Das Briefzitat belegt zudem die Änderung von Benjamins Wirkungsstrategie. In einem Moment, in dem das Exil unmittelbares zeitgenössisches Wirken verstellte, setzte Benjamin auf ein postumes. Da die Mitwelt seine Arbeit nicht zu brauchen schien, richtete sich sein Blick auf die Nachwelt. Benjamin regt eine systematische, kalkulierte Verwahrung an. Der Prozess der Rettung einer Hinterlassenschaft darf nicht dem Zufall überlassen werden. Genau zu bedenken ist die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt (»nicht an der Zeit« / »an der Zeit«). Gerettet werden soll die ›Wahrheit‹. Sie sei »nichts weniger als glatt gefügt«, das heißt: nicht nur nicht glatt gefügt, sondern alles andere als glatt gefügt, also rauh, zerklüftet, lebendig. Das Gewahrsam ist dagegen »glatt gefügt […] wie eine Stahlkassette«: poliert, ohne Widerstände, ohne Störungen, ohne Geschichte. Das deutet auf Unangreifbarkeit, Tarnung, Versteck hin – damit man überdauern, für später aufgehoben werden kann. Benjamin spielte mit dem Gedanken, seine Texte im Exil mit dem Pseudonym O. E. Tal zu zeichnen (vom rückwärts gelesenen lateinischen Wort lateo, »ich verberge mich«). Dass die Archive von Benjamin und Brecht heute institutionell in unmittelbarer Nähe stehen, beide in der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt werden, ist eher als zufällig und äußerlich anzusehen. Nicht zufällig sind jedoch Affinitäten in der Arbeits- und Schreibweise dieser beiden Autoren. Und es finden sich bei Benjamin und Brecht verblüffende Berührungen beim Nachdenken über das, was bleiben soll. Sie haben eine – mehr oder weniger unabhängig voneinander entstandene – ähnliche Konzeption des Archivs. Dieser Aufsatz skizziert die Ähnlichkeiten.

1.

Schreibszenen

Die Beziehungen zwischen Benjamin und Brecht ließe sich als eine Kette von Schreibszenen darstellen. Die Verwendung des Begriffs ›Schreibszenen‹ lässt sich anregen von der Begriffsverwendung, wie er etabliert worden ist von dem gleichnamigen Basler Forschungsprojekt, das jetzt in Dortmund beheimatet ist. Das Projekt Schreibszenen begreift das Schreiben als einen komplexen Vorgang; neben der Ebene der Sprachlichkeit (Sinn, Gestus, Rhythmus etc.) gelte es die Instrumentalität und die Körperlichkeit des Schreibens zu untersuchen. Nimmt man hingegen den Begriff ›Szene‹ beim Wort, dann lassen sich die Begegnungen zwischen Benjamin und Brecht erfassen als Schreib- oder auch Denkszenen:

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Momente, die, von der Arbeit an Texten oder am Gedanken geprägt, Konstellationen hervorbringen und verändern. Diese Denk- und Schreibszenen haben unmittelbare Auswirkungen auf das, was auf dem Papier passierte und überliefert wurde, und sie sind Ort und Ausdruck der Kommunikativität. Da die Freundschaft von Benjamin und Brecht einigermaßen gut dokumentiert ist,2 beschränke ich mich hier auf zwei exemplarische Schreibszenen, die Drehpunkte der folgenreichen intellektuellen Begegnung gewesen sind. Während die erste auf Erkenntnistheoretisches rekurriert, geht es in der zweiten um Affinitäten zwischen der Grundhaltung des Spiels und einer Arbeitsweise, in deren Zentrum das Experiment steht.

Krise und Kritik Benjamin und Brecht wollten 1930/31 zusammen mit Bernard von Brentano im Rowohlt Verlag eine Zeitschrift herausgeben, in der »die bürgerliche Intelligenz sich Rechenschaft von den Forderungen und den Einsichten gibt, die einzig und allein ihr unter den heutigen Umständen eine eingreifende, von Folgen begleitete Produktion im Gegensatz zu der üblichen willkürlichen und folgenlosen gestatten«.3 Die Themen des Journals sollten die Kunst in allen ihren Disziplinen sein (mit einem Schwerpunkt auf Literatur, Theater und Architektur), daneben Kunsttheorie, Soziologie, Philosophie, Geschichte, Psychologie. Protokolle zur Vorbereitung des Projekts, die sich erhalten haben, dokumentieren eine ungewöhnliche Vielfalt an Themen und methodischen Zugängen. Im Zentrum stehen Reflexionen über den Standort des Künstlers und Intellektuellen und über das Verhältnis von Inhalt und Form in der Kunst. Die Gespräche zur Vorbereitung einer Zeitschrift sind Denkszenen. Aber es waren im ganz engen Sinne auch Schreibszenen, wenn man sich vorstellt, dass die Sitzungen von zwei Stenotypistinnen aufgenommen und verschriftlicht wurden. So liegen von einer Sitzung voneinander abweichende Typoskriptprotokolle vor ; die Differenzen lassen sich nicht auflösen. Es ist nicht einmal zu entscheiden, welches Protokoll dichter am Gespräch war. Die Rekonstruktion der Debatten, wie sie sich aus Konzeptionen, Notizen zur theoretischen Selbstverständigung, Gesprächsprotokollen, Themen- und Mitarbeiterlisten 2 Vgl. Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Mit einer Chronik und den Gesprächsprotokollen der Zeitschriftenprojekts »Krise und Kritik«, Frankfurt/Main 2004. 3 Walter Benjamin: »Memorandum zu der Zeitschrift ›Krisis und Kritik‹«, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. VI, Frankfurt/Main 1985, 619 – 621, 619.

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ergeben, ist jedoch ungewöhnlich aufschlussreich.4 Man wünscht sich die Protokolle der lebhaft geführten Gespräche in einer Hörspielinszenierung: Sie sind unfertig, witzig, paradox – und hochspannend. Und sie sind ein Beispiel dafür, dass im Fragmentarischen, Skizzenhaften, Hingeworfenen zuweilen Enormes zu entdecken sein kann. Man wird lange suchen müssen, ehe man ein vergleichbares Projekt und eine ähnliche personelle Konstellation findet, ein vergleichbar explosives Gemisch von Denkansätzen und zugleich die Bereitschaft zur Kooperation. Es kommt nicht darauf an, wem die Urheberschaft von welchem Gedanken zukommt. Das Denken ist das Gemeinsame. Ideen entstehen beim ›Symphilosophieren‹. Die erkenntnistheoretische Dimension von »Krise und Kritik« ist die Absicht, die kritische Methode in die Gegenwart zu übertragen. In der Sitzung vom 26. September 1930 entwickelt Benjamin: Wenn wir den Ausdruck: Kritik in seinem weitesten Sinne nehmen, also wie er eigentlich bei Kant steht, dann stehen wir vor einer Aufgabe, die sich überhaupt nicht lösen lässt, ohne die Kantsche Philosophie anzuwenden. Ich könnte hier über Theaterkritik schreiben, über Literarkritik, die sind uns geläufig, wenn man sich ausdrücken sollte über das kritische Verhalten von Ereignissen oder zur Welt überhaupt, das wäre schwer.5

Spiel Benjamin und Brecht begegneten einander als Spieler – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. In den gemeinsam verbrachten Sommermonaten 1934, 1936 und 1938 verbrachten sie viele Stunden schweigend vor dem Schachbrett. Daneben spielte die kleine Exilcommunity im dänischen Skovsbostrand Poker, Tischbillard, Monopoly oder 66. Das Schachspiel war nicht nur Teil, sondern auch Modell der Kommunikation: Schachfiguren werden gesetzt und bewegt, das heißt es gibt eine Gesetzlichkeit (Feld, Figuren mit definierten Möglichkeiten, Regeln) und Variabilität (jedes Spiel ist anders). Gelassenheit und Geistesgegenwart sind die Quellen für eine wirkungsvolle Strategie. Die spielerische Gegnerschaft kann sich ohne den Partner nicht entfalten. Konkurrenz fordert den Vergleich heraus. Dem Besiegten bleibt die Chance zu einem neuen Spiel. Nähe und Distanz, Einvernehmen und Unabhängigkeit korrespondieren in fruchtbarem Wechsel. Die Spieler können ›probehandeln‹; nichts zwingt sie, bei der nächsten Partie die gleiche Haltung einzunehmen. Alles hat etwas von 4 Vgl. die Reproduktionen aller Protokolle und Papiere zum Projekt in E. Wizisla: Benjamin und Brecht, 289 – 327. 5 E. Wizisla: Benjamin und Brecht, 314.

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einem Experiment. Es ist kein Zufall, dass die erste von Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) das Schachspiel modellhaft auf eine philosophische Konstellation übertragen hat. Bereits in den Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire, den er im Sommer 1938 bei Brecht in Skovsbostrand schrieb, hatte Benjamin ein Zitat des französischen Historikers und Philosophen Alain (eigentlich Êmile-Auguste Chartier) integriert, eine Überlegung, die das Spiel von der Arbeit absetzt: Der Begriff … des Spiels … beinhaltet …, daß keine Partie von der vorhergehenden abhängt … Das Spiel will von keiner gesicherten Position wissen … Verdienste, die vorher erworben sind, stellt es nicht in Rechnung, und darin unterscheidet es sich von der Arbeit. Das Spiel macht … mit der gewichtigen Vergangenheit, auf die sich die Arbeit stützt, kurzen Prozeß.6

Wenige Seiten später kommentierte Benjamin das Alain-Zitat mit einem Satz, der die Übertragung der »Idee des Spiels« auf die künstlerische Arbeit zulässt: »Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels«.7 Die Gespräche über Spiele waren stets durchlässig für ästhetische Reflexionen, und es ist kein Zufall, dass sich bei den beiden folgenden Zitaten der Gedanke an die Bühne des epischen Theaters aufdrängt. Die Voraussetzung für Erkenntnis ist Neugier. »Kennen Sie Go?«, erkundigte sich Benjamin am 21. Mai 1934, noch vor seiner ersten Reise nach Dänemark, bei Brecht; »ein sehr altes chinesisches Brettspiel. Es ist mindestens so interessant wie Schach – wir müßten es in Svendborg einführen. Beim Go werden Steine nie bewegt, nur auf das, anfänglich leere, Brett gesetzt«.8 Und nach einer Schachpartie im Juli 1934 regte Brecht die Entwicklung eines neuen Spiels an; Benjamin hat Brechts Vorschlag protokolliert: Also, wenn der ›Karl‹ Korsch kommt, dann müßten wir mit ihm ja ein neues Spiel ausarbeiten. Ein Spiel, wo sich die Stellungen nicht immer gleich bleiben; wo die Funktion der Figuren sich ändert, wenn sie eine Weile auf ein und derselben Stelle gestanden haben: sie werden dann entweder wirksamer oder auch schwächer. So entwickelt sich das ja nicht; das bleibt sich zu lange gleich.9

6 Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2, Frankfurt/Main 1974, 605 – 653, 633. 7 Ebd., 636. 8 Walter Benjamin an Bertolt Brecht, 21. 5. 1934, in: W. Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. IV, 427. 9 Walter Benjamin: »Notizen Svendborg Sommer 1934«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VI, 523 – 532, 526.

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2.

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Arbeitsweisen

Im Folgenden sollen Grundsätze der Arbeitsweisen Benjamins und Brecht skizziert werden. Sie sind Ausdruck ihrer Kunstkonzeption.

Der Autor als Produzent In der Rezension Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft (1931) wandte Benjamin sich gegen jede Form idealistischer Kunstbetrachtung, die er beherrscht sah von der »Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß«.10 Benjamins Gegenentwurf zur »Hydra der Schulästhetik«, gewissermaßen die sieben Köpfe der Avantgarde, könnte folgende Leitbegriffe enthalten: Konstruktion, Distanz, Zeitgenossenschaft, Zitat, Analyse, Realismus und Antikulinarisches. »Gibt es eine technische Verpflichtung, einen Standard in der Literatur?«, fragte Brecht im November 1930, als die programmatische Ausrichtung des Periodikums Krise und Kritik debattiert wurde. »Für mich von persönlichem Interesse wäre z. B. ein Nachweis, dass James Joyce und Döblin anzugliedern sind gewissen anderen Verbesserungen der konstruktiven Mittel.«11 Der Diskurs über literarische Technik durchzieht die gesamte Kommunikation zwischen Benjamin und Brecht. Er fand statt in den Gesprächen zur Zeitschrift Krise und Kritik, in Schriften Brechts, in Benjamins Text Die Technik des Schriftstellers in 13 Thesen, in seiner Kleine[n] Geschichte der Photographie, in Benjamins Kunstwerk-Thesen, den Aufzeichnungen zur Passagen-Arbeit, in Brechts Konzeption eines ›Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters‹. Benjamins Aufsatz Der Autor als Produzent (1934) beschrieb den soziologischen Status des Autors, der eine Rolle im Klassenkampf einzunehmen hätte. Der Autor ist Produzent, das bedeutet, er ist kein Genie, sondern ein Techniker, ein Macher. Schreiben ist Handwerk – im Sinne einer nicht-auratischen Kunstkonzeption, aber auch im Wortsinne: Man sieht es den Originalen an, dass sie Ergebnisse von Schreibszenen sind. Benjamin wie Brecht arbeiteten in dem Bewusstsein, dass die Produkte ihrer Schreibtätigkeit mehr sind als das, was später im Druck aus ihnen werden würde. Die Arbeit am Manuskript erfordert

10 Walter Benjamin: »Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft«, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. III, Frankfurt/Main 1972, 283 – 290, 286. 11 E. Wizisla: Benjamin und Brecht, 314.

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handwerkliche Techniken: Schreiben heißt auch Abschreiben, Übertragen, copy and paste, neu Schreiben, Streichen etc.12

Texte sind Kommentare Benjamin und Brecht wussten, dass ihr Schreiben nicht voraussetzungslos war. Was sie verfassten, war ohne historische wie literarische Stoffe, ohne Material nicht denkbar. Brechts Stücke sind Fortschreibungen, Benjamins Arbeiten sind Kommentare. Die Texte von Benjamin und Brecht kommentieren vorliegende Texte und sie kommentieren die Wirklichkeit. Eine solches Text- und Kunstverständnis musste zu einer Neubewertung des Eigentumsbegriffes führen. Der Aufschrei bei vermeintlichen Plagiatsfällen könnte ein Missverständnis sein, die Forderung nach Originalität ein Popanz. Zitierbarkeit wird als ein hoher Anspruch an Texte verstanden. Der Philosoph Dschuang Dsi aus Brechts KeunerGeschichte Originalität (1929) erinnert an Benjamins Umgang mit dem Zitat, wie er vor allem bei der Passagenarbeit methodisch konstitutiv werden sollte: Der chinesische Philosoph Dschuang Dsi verfaßte noch im Mannesalter ein Buch von hunderttausend Wörtern, das zu neun Zehnteln aus Zitaten bestand. Solche Bücher können bei uns nicht mehr geschrieben werden, da der Geist fehlt. Infolgedessen werden Gedanken nur in eigner Werkstatt hergestellt, indem sich der faul vorkommt, der nicht genug davon fertigbringt.13

Verschwisterung der Künste In seinen ersten Arbeiten über Brecht betonte Benjamin, das epische Theater bedeute die Aufhebung der Trennung zwischen Spieler und Zuschauer, Sprecher und Hörer, Künstler und Publikum (»Verschüttung der Orchestra«)14. Diese Umfunktionierung korrespondiert mit der Aufhebung des Disziplin- oder Gebietscharakters der Künste, die Benjamin propagierte und praktizierte. Ihr 12 Vgl. Walter Benjamin Archiv (Hg.): Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen, Frankfurt/Main 2006, und Erdmut Wizisla: »›die krise der avantgarde‹. Ein Dokument zum ästhetischen Kontext von Benjamin und Brecht«, in: Text + Kritik, Sonderband: Bertolt Brecht I (2006), 84 – 92. 13 Bertolt Brecht: »Originalität«, in: ders.: Sammlungen und Dialoge, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, bearbeitet von Jan Knopf unter Mitarbeit von Michael Duchardt, Ute Liebig und Brigitte Bergheim, Frankfurt/Main 1995 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 18), 441. 14 Walter Benjamin: »Was ist das epische Theater?«, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II/2, Frankfurt/Main 1977, 519 – 531, 519.

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entspricht die Sprengung traditioneller Gattungsgrenzen, die für das Werk beider konstitutiv war : Brechts Fatzer ist eine Mischform von Drama, Lyrik, Prosa und Kommentar, in Benjamins Schriften überschneiden sich avanciert intertextuell wissenschaftliche, essayistische, künstlerische und autobiographische Schreibweisen. Das Interesse an den Künsten beschränkte sich nicht auf Theater, Literatur oder Kunsttheorie, sondern es bezog neue Medien ein – Radio, Film, Fotografie. Benjamin und Brecht griffen aktuelle künstlerische Mittel auf: Sie entwickelten neue Formate für den Rundfunk (Hörmodell, Lehrstück). Brecht setzte Film, Projektion und Schrift auf der Bühne ein. Benjamin schrieb über Alltagsphänomene wie Plakate, Schriften, Briefmarken, Straßen, Läden, Passagen, Kinderspielzeug etc. Benjamin und Brecht reflektierten den Einsatz von Reproduktionsmitteln, und ihre Printwerke bedienten sich avantgardistischer Typographie und Designs; man vergleiche die Einbahnstraße mit den Versuchen. Sie arbeiteten grafik- resp. layout-orientiert: wie Architekten oder Konstrukteure. Und sie dachten und schrieben bildhaft, das heißt sie bezogen sich auf Bilder, sie kommentierten Bilder, und sie schufen Arbeiten, die nur als Konstellation von Bild und Text zu begreifen sind (Brechts Kriegsfibel, seine Journale und FotoMontagen in Mappen, Benjamins Lesezeichen und Ordnungssysteme zu den Passagenaufzeichnungen, Schemata wie die »Windrose des Erfolgs«,15 seine Haschisch-Zeichnungen und anderes).

Experiment als künstlerische Praxis (»Versuchsanordnung«) Benjamins Charakterisierung von Brechts Arbeit als »Laboratorium Vielseitigkeit«16 ist eine Selbstaussage. Gesucht wird das Experimentelle. Texte sind Versuchsanordnungen. Gegen das leicht Eingängige werden Methoden wie Montage, Unterbrechung, Schock, Trennung der Elemente oder Verfremdung gesetzt. Benjamin war der Virtuose einer Art Baukastenschreibweise, der mit Zitat und Selbstzitat intrikate Strukturen schuf. Diese Dimension ist nicht hinreichend im Bewusstsein. Ihre Verkennung hängt damit zusammen, dass die nachgeborenen Rezipienten gern an Inhalten und Ideologien festhalten. Was als Experiment gedacht war, wird auf Botschaften reduziert. Mit einer Anleihe aus der Philosophiegeschichte, auf die Benjamin im Zusammenhang von Krise und Kritik zu sprechen gekommen war, gesagt: Kants 15 Vgl. Walter Benjamin Archiv (Hg.): Walter Benjamins Archive, 194. 16 Walter Benjamin: »Bert Brecht«, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II/3, Frankfurt/Main 1977, 1455 – 1457, 1455.

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kategorischer Imperativ wird fälschlicherweise gern als Norm genommen. Dabei ist er als Prüfung gedacht. Das ›Handle so‹ ist nicht unbedingt zu lesen als ›Du sollst so handeln‹, sondern als ›Wie handelst du, dass …?‹. Eine vergleichbare Verwechslung hat sich breitgemacht in der Brecht-Rezeption – die Verwechslung von Lehre und Experiment. Selbst wenn Brecht, unter anderem in den Lehrstücken, von Regeln, Gesetzen, Lehrern und Schülern spricht, sind das, was er vorführt, keine Doktrinen oder Setzungen, sondern Versuche.

3.

Archive

Was über die Arbeitsweisen von Benjamin und Brecht zu sagen war, scheint geradezu zwangsläufig auf die im Kern sehr verwandte Archivkonzeption von Benjamin und Brecht zuzulaufen. Sie ist geprägt von folgenden Haltungen oder Maßnahmen:

Interesse am Schreibprozess Benjamin und Brecht sind am Prozess des Schreibens interessiert, das heißt, sie sind nicht auf das Ergebnis fixiert. Sie gehören nicht zu den Autoren, die die Spuren ihrer Tätigkeit verwischen. Sie waren in der Lage, ihre Arbeit und sich selbst historisch zu sehen. Sie hatten ein Gespür für die Simultanität und Prozesshaftigkeit des Schreibens. Und sie waren sich der Differenz der Überlieferungsformen bewusst – etwa des Verhältnisses von Manuskripten und Drucken. So bat Benjamin am 30. März 1939 Karl Thieme, ihm leihweise ein Exemplar des Brecht-Aufsatz Des Teufels Gebetbuch? (1932) zu überlassen, indem er den Seltenheitswert der Publikation betonte: »Sie sehen, was wir haben drucken lassen, gewinnt schnell den Wert von Handschriften und wir kommen von neuem zu mittelalterlichen Zuständen.«17 Mit einer ähnlichen Wendung übersandte Brecht am 20. Dezember 1944 ein hektographiertes Exemplar seiner Gedichte im Exil, die er lieber publiziert gesehen hätte: »Es macht mich etwas verlegen, daß ich sie Ihnen nicht in Druck geben kann, jedoch müssen wir ja mit diesem Rückfall ins frühe Mittelalter eben vorliebnehmen.«18 17 Walter Benjamin an Karl Thieme, 30. 3. 1939, in: W. Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. VI, 246. 18 Bertolt Brecht an Heinrich Mann, 20. 12. 1944, in: Bertolt Brecht: Briefe 2, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, bearbeitet von Günter Glaeser unter Mitarbeit von Wolfgang Jeske und Paul-Gerhard Wenzlaff, Frankfurt/Main 1998 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 29), 342.

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Erdmut Wizisla

Dokumentation der Überlieferung Benjamin und Brecht dokumentierten den Prozess der Entstehung ihrer Texte. Sie bauten als die ersten Archivare ihrer Arbeit Archive zu Lebzeiten auf. Beide fertigten Reproduktionen ihrer Manuskripte an, eine in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eher unübliche Maßnahme. Benjamin ließ Mitte der dreißiger Jahre Hunderte Seiten seiner Passagenaufzeichnungen reproduzieren. Brecht experimentierte zehn Jahre später mit Ruth Berlau in New York, bis sie die optimalen Kameraeinstellungen für Reproduktionen gefunden hatten. Am 18. Mai 1944 richtete er an Ruth Berlau »[e]ine technische Frage: braucht man extra Apparate, um winzigklein, für Lesen mit Mikroskop, zu fotografieren? Da könnte man Manuskripte vervielfältigen und das wäre nicht teuer, nicht?«19 Solche Fotokopien ermöglichten zugleich die Sicherung der Arbeit, die Transportabilität der Manuskripte und – indem ein Manuskript nach der Reproduktion weiter geändert werden konnte – die Dokumentation eines bestimmten Arbeitsstands. Es ist nicht wichtig zu wissen, von wem die Idee zur Vervielfältigung der Manuskripte eigentlich stammte; naheliegend ist natürlich der Gedanke an Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936).

Streuung, um Hinterlassenschaft zusammenzuhalten Benjamin deponierte Manuskripte, Notizhefte und annotierte Druckbelege bei Freunden. Er legte gezielt in aller Welt Archive an in der Hoffnung, dass wenigstens Teile seines Werks überdauern werden. An seinen Jugendfreund Alfred Cohn, der die wichtigste Sammlung neben der Gershom Scholems in Jerusalem besaß, schrieb er bereits Jahre vor der Vertreibung, am 18. Juni 1928: »Für die Komplettierung Deiner Sammlung von Gräslein und Hälmchen meines Ackers werde ich weiter sorgen. Es ist ja mindestens so mein Vorteil, und mehr meiner, wie Deiner, wenn irgendwo noch ein komplettes Herbarium außer dem meinigen existiert.«20 Im Exil dann wusste Benjamin, dass die Sicherung seines Archivs nicht mehr von ihm allein zu bewerkstelligen war. Das bestätigte er Gershom Scholem in einem Brief vom 4. April 1937: 19 Bertolt Brecht an Ruth Berlau, 18. 5. 1944, in: B. Brecht: Briefe 2, 337. Vgl. auch den JournalEintrag vom 20. Febr. 1945: »Nachmittags helfe ich Ruth bei der Herstellung des Archivs« (Bertolt Brecht: Journale 2, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, KlausDetlef Müller, bearbeitet von Werner Hecht, Frankfurt/Main 1995 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 27), 220, Abbildungen der reproduzierten Seiten ebd., 217. 20 Walter Benjamin an Alfred Cohn, 18. 6. 1928, in: W. Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. III, 388.

Walter Benjamin und Bertolt Brecht

169

Mich erfreut jedesmal, von der Obhut zu hören, die Du der Sammlung meiner Schriften zuteil werden läßt. Bange Ahnungen sagen mir, daß eine lückenlose Sammlung von ihnen heute vielleicht nur unsere vereinten Archive darstellen könnten. Denn so exakt ich in der Verwaltung des meinen bin, so habe ich durch den überstürzten Aufbruch aus Berlin und die unstete Existenz der ersten Emigrationsjahre vermutlich doch einige Stücke eingebüßt.21

Brecht dachte ähnlich, wie ein Brief vom 29. August 1953, wenige Wochen nach den Unruhen vom 17. Juni, zu erkennen gibt. Der Brief war gerichtet an Hanns Otto Münsterer, der, was wohl kaum zufällig ist, ebenfalls ein Gefährte aus den Jugendjahren war. Brecht bat Münsterer, dem Bibliographen Walter Nubel Fotokopien von frühen Arbeiten zu senden. Nubel besäße, begründete Brecht seine Bitte, eine »nahezu komplette Sammlung meiner Arbeiten, wie ich sie ja seit langem nicht mehr habe«, und er fügte hinzu: »Bei der rapiden Entwicklung unserer Physik in der Richtung auf Zerstörungsmittel ist es vielleicht nicht schlecht, an verschiedenen Punkten der Erdoberfläche das eine oder andere, was Mühe gekostet hat, zu haben.«22 Diese Haltung ist wiederum paradox: Eine Überlieferung wird gestreut, um sie zusammenzuhalten, ja zu retten. Den Gestus des Sammelns von schriftstellerischen Zeugnissen gibt es schon bei Goethe. Entscheidend neu bei Benjamin und Brecht ist das von den Zeitläuften erzwungene Loslassen, das mit einem Verzicht auf Deutungshoheit einhergeht und das ohne ein Vertrauen auf die Zukunft nicht denkbar ist. Zwischen dieser Archivkonzeption und der Arbeitsweise sind Widersprüche unverkennbar. In der Arbeitsweise liegt der Akzent auf dem Experiment, auf der Variabilität und dem Transitorischen (»Laboratorium Vielseitigkeit«, »Alles braucht Änderungen«). Die Archivkonzeption folgt hingegen der Vorgabe Organisation des Ruhms (Brecht). Die systematische Sicherung der Überlieferung, der Aufbau eines Archivs, zeigt sich geprägt von einem nicht unemphatischen Wunsch auf Nachleben. Es bleibt eine Aporie: Das Experiment lässt sich nicht archivieren, aber der Gestus – das ›Immer-wieder-von-vorn-Anfangen‹, das Wissen um die Änderbarkeit der Texte, die Änderbarkeit der künstlerischen Mittel, die Änderbarkeit der Welt – das lässt sich tradieren. Das ist aufzunehmen, und es ist – im Sinne Hegels – vielleicht bekannt, aber noch nicht wirklich erkannt.

21 Walter Benjamin an Gershom Scholem, 4. 4. 1937, in: W. Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. V, 506 f. 22 Bertolt Brecht an Hans Otto Münsterer, 29. 8. 1953, in: Bertolt Brecht: Briefe 3, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, bearbeitet von Günter Glaeser unter Mitarbeit von Wolfgang Jeske und Paul-Gerhard Wenzlaff, Frankfurt/Main 1998 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 30), 196 f.

Helmut Lethen

Zwischen Ärzten, Sektionsprotokollen, Psychiatern und Philologen – im System der Literatur. Konstellationen der frühen Texte von Gottfried Benn

I.

Rückkehr ins Westend-Krankenhaus

Im Mai 2006 fand anlässlich des 50. Todestages von Gottfried Benn ein Symposium in den DRK Kliniken Berlin/Westend statt, bei dem die Sektionsprotokolle des jungen Pathologen Benn der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Der Dichter fertigte 1912/13 in der Pathologie des damaligen Charlottenburger Städtischen Krankenhauses Westend 298 Sektionsberichte an. Im Rahmen dieser Veranstaltung gerieten Benns frühe Texte in das Zentrum der Aufmerksamkeit einer Neuropathologin, eines Arztes für Neuropädiatrie, eines Internisten, eines Wissenschaftshistorikers, eines Schriftstellers und eines Literaturwissenschaftlers.1 In der fremden Umwelt eines Spitals wurde Poesie unter Strom gesetzt. Bei der Vorbereitung des Symposiums war es im Krankenhaus zu einem aufschlussreichen Konflikt gekommen. Als man über den Titel der Veranstaltung beriet, hätten, wie die Initiatorin Anne Marie Freybourg berichtet, zwei zentrale Begriffe aus Benns Poetologie eine heftige Abwehr unter den Ärzten ausgelöst: die Begriffe »Zusammenhangsdurchstoßung« und »Wirklichkeitszertrümmerung« sollten auf keinen Fall im Titel der Veranstaltung vorkommen. In ästhetischen Teezirkeln möchten sie heute noch, konzedierten die Ärzte, Begeisterung auslösen. Im Kontext einer Klinik bekämen die Begriffe »Durchstoßung« und »Zertrümmerung« einen anderen Sinn. »Blinddarmdurchbruch und Nierensteinzertrümmerung« assoziierten die Ärzte.2 1 Ich überspringe im Folgenden den Beitrag von Dieter Wellershoff, der gewaltige Verdienste in der Benn-Forschung hat. Er sprach sich in seinem Vortrag mit großer Verve gegen den »Bußprediger« Benn aus. (Siehe Dieter Wellershoff: »Leben – was sonst? Eine Frage an Gottfried Benn«, in: Anne Marie Freybourg und Ernst Kraas (Hg.): »… im Trunk der Augen«. Gottfried Benn – Arzt und Dichter in der Pathologie Westend, Göttingen 2008, 71 – 84.) Mein eigener Beitrag (Helmut Lethen: »Gottfried Benn untergräbt das Vertrauen in die Welterklärung der Physiologie – und kommt nicht von ihr los«, in: A. M. Freybourg und E. Kraas (Hg.): »… im Trunk der Augen«, 61 – 70) ist zum Teil in diesen Aufsatz eingegangen. 2 Anne Marie Freybourg: »Schnitte am Sprachleib. Erkenntnisse aus der Klinik«, in: dies. und E. Kraas (Hg.): »… im Trunk der Augen«, 13 – 18, 13.

172 1.

Helmut Lethen

Die Neuropathologin

Gisela Stoltenburg hatte Anfang der 1970er Jahre in demselben Sektionssaal wie Gottfried Benn über ein halbes Jahrhundert zuvor gearbeitet. »Dort standen die schwarz gebundenen Sektionsbücher im Format DIN A3, in denen die Obduktionsberichte gesammelt vorliegen«, für die sich die Literaturwissenschaft erst Jahrzehnte später interessierte.3 Benns Protokolle folgen dem Standardformat eines Sektionsberichts: der Klinischen Diagnose folgt die Anatomische Diagnose, die Spaltenüberschriften differenzieren zwischen den Rubriken »Äußeres und Extremitäten«, »Brusthöhle«, »Bauchhöhle« sowie »Kopf und Rückenmark«. Die vierte Seite umfasst die Felder »Klinische Bemerkungen« und »Mikroskopische und bakteriologische Untersuchungen«. Am Beispiel des Sektionsberichts eines sieben Monate alten Mädchens, für das die anatomische Diagnose Status lymphaticus, Thymostod ist, erklärte die Pathologin Benns Art der Formulierung. Sein Text in der Spalte »Brusthöhle« folgt dem vorgeschriebenen Formular: Zwerchfellstand bds. 5 Rippen Lungen sinken zurück, Pleura frei. Oberfläche glatt u. spiegelnd. Schnittfläche glatt, feucht, verfärbt. Schleimhaut des Kehlkopfes etwas geschwollen etwas schlaff u. faltig. Thymus: 29 gr schwer, liegt bei Eröffnung der Brusthöhle breit vor. Sieht blaßrot aus, fühlt sich derb an. Herz: etwas größer als der Faust entsprechend. Oberfläche glänzend. Muskulatur rot. Klappen intakt. Koronarien u. große Gefäße intakt.4

Im Fall des Protokolls eines 52 jährigen Mannes, der klinisch und pathologisch seinen Schussverletzungen erlegen ist, lobt die Neuropathologin Benns Bericht: ein Rechtsmediziner hätte es nicht besser formulieren können! Insgesamt ist die Neuropathologin noch im Jahre 2006 mit Benns Art der Sektionsberichte zufrieden. Heutzutage nähme allerdings das Mikroskopieren von feingeweblichen Proben die meiste Zeit eines in der Pathologie tätigen Arztes in Anspruch, wo sich bei Benn nur einzeilige Eintragungen fänden. Auffällig sei auch, dass Benn anfangs noch mit Maßstäben einer »Küchenpathologie« messe: etwas sei so groß wie ein Kümmelkorn oder ein Kirschkern oder hätte, wie im zitierten Beispiel, die Größe einer Faust. Das ändere sich schon während seiner Zeit am WestendKrankenhaus, als Benns Chef Millimeterangaben fordere. Allerdings werden die

3 Gisela Stoltenburg: »Der Pathologe Gottfried Benn. Was habe ich mit Gottfried Benn zu tun?«, in: A. M. Freybourg und E. Kraas (Hg.): »… im Trunk der Augen«, 19 – 34, 19. 4 G. Stoltenburg, »Der Pathologe Gottfried Benn«, 21.

Zwischen Ärzten, Sektionsprotokollen, Psychiatern und Philologen

173

Berichte im zweiten Jahr kürzer und lakonischer. Manchmal ersetzt das Kürzel o. B. (ohne Befund) eine lange Beschreibung. Die Schlussfolgerung der Expertin: »ein Pathologe am Ende seines pathologischen Enthusiasmus«.5 Für die »Präzision und Ausdruckskraft« von Benns Sprache führt die Pathologin die Beschreibung einer morphologischen Veränderung am Beispiel eines Milzinfarktes an: Milz: klein, vorh. Oberfläche glatt; Färbung der Oberfläche scheckig bunt. Auf dem Durchschnitt sieht man in dem hinteren Teil eine 6 cm lange, 2 cm breite weißgraue Partie, von dreieckiger Form, wovon die Spitze dem Hilus zuläuft.6

2.

Der Wissenschaftshistoriker und Literaturwissenschaftler

Im Gegensatz zu einer Literaturwissenschaft, die seit Jahrzehnten Korrespondenzen zwischen Benns Morgue-Gedichten und dem Assistenzarzt im WestendKrankenhaus zu ziehen pflegt, kommt Christoph Hoffmann zu dem Schluss, dass sich aus dem »Dornröschenschatz« der Archivfunde »auf dem geraden Wege nichts lernen lässt«.7 Der Zusammenhang der Gedichtsammlung Morgue – die vor Beginn seiner Tätigkeit im Westend-Krankenhaus erschien – mit dem Tagesgeschäft der Pathologie, sei, so Hoffmann, »bestenfalls einer der Differenz«: »Niemals findet sich in den Protokollen ein Subjekt, das sieht und beschreibt, was ihm durch den Kopf geht. Kein ›ich‹, kein ›man‹, kein ›er‹ spricht dort, kein Blick auf die Szene wird vermittelt. Im Protokoll sollen sich die Dinge unvermittelt, wie von selbst, zeigen«.8 Das Ideal der reinen, das heißt der nicht subjektiv gefärbten Beschreibung, die im Grunde technische Geräte besser hätten ausführen können, fand sich in den Handbüchern des Medizinstudiums und den Formularen der Pathologie. Insofern seien Benns Protokolle »eines am allerwenigsten. Sie sind nicht Benns Protokolle«.9 Von Johannes Orths Pathologisch-Anatomischer Diagnostik nebst Anleitung zur Ausführung von Obductionen sowie von pathologisch-histologischen Untersuchungen (1876, sechste Auflage Berlin 1900) hatte Benn formgerechtes Schreiben lernen können. Seine formalen Merkmale charakterisiert Hoffmann wie folgt: »Die Sprache des Sektionsprotokoll ist flach, seine Syntax elliptisch. Eins nach dem anderen wird aufgereiht, ohne dass aus dem Nebeneinander je ein 5 Ebd., 25. 6 Ebd., 22 f. 7 Christoph Hoffmann: »In der Prosektur: zwischen B. und Benn«, in: A. M. Freybourg und E. Kraas (Hg.): »… im Trunk der Augen«, 35 – 44, 36. 8 Ebd. 9 Ebd., 44.

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Panorama hervorginge.«10 Aber obwohl das Schreibraster der Beobachtung festgelegt ist, muss der Pathologe jedes Mal neu zwischen der Subjektivität seines Eindrucks und der Konvention der Bezeichnung vermitteln »und sei es nur, daß es darum geht, die Blutfüllung eines Organs als dunkelrot, als kirschrot oder doch eher als bräunlichrot zu bestimmen«.11 Die erzwungene Normierung der Rede mit ihrem Verlangen nach Eindeutigkeit forciere, so Hoffmann, »die Einsicht in die Uneindeutigkeit des sprachlichen Zeichens«.12 Blut sei nie »kirschrot« gefärbt, es könne als solches so oder anders bezeichnet werden. Insofern habe Benns formgerechte Arbeit an den Sektionsprotokollen auch seine Sprachskepsis fördern können, das heißt die Erkenntnis der Willkürlichkeit sprachlicher Zeichen.

3.

Der Arzt für Neuropädiatrie

Arpad von Moers befasste sich mit Benns Arbeit zur Ätiologie der Pubertätsepilepsie.13 Benn hatte damit die Goldmedaille der Medizinischen Fakultät der Friedrich Wilhelm Universität Berlin im Jahr 1910 gewonnen. Der Arzt entdeckt, dass Benn sich zwar kurz zuvor in seinem Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie mit den aktuellen Theorien zur Epilepsie beschäftigte, in seiner prämierten Arbeit aber ausgerechnet die zukunftweisenden Forschungsergebnisse nicht berücksichtigt. Benn habe sich auf den Faktor der Erblichkeit der Epilepsie aufgrund reiner Literaturrecherche konzentriert: er analysiert die vorhandenen Akten von insgesamt 184 Patienten, die zu dieser Zeit in der Städtischen Anstalt für Epileptische Wuhlgarten bei Berlin behandelt wurden, und überprüft das prozentuale Verhältnis von endogenen und exogenen Faktoren, das er in Tabellen übersichtlich darstellt. Aus seiner Untersuchung geht hervor, dass 39 Prozent der Epilepsien im Alter zwischen 10 und 20 Jahren beginnen. Er stellt dennoch den Begriff Pubertätsepilepsie in Frage und schlägt vor, diesen »auf die wenigen Fälle einzuschränken, die in Bezug auf ihre Ätiologie angewiesen sind auf die Pubertät«.14 Nebenbei bemerkt: Obwohl Benn in seinem späteren Leben die Reduktion des Menschenbilds auf physiologische Daten verworfen hat, war er immer besessen von der Idee, dass die Physiologie des Menschen der Regulator seiner Normen sei. Indem er den Positivismus der Psychiatrie und Medizin des 19. 10 11 12 13

Ebd., 38. Ebd., 40. Ebd., 41. Arpad von Moers: »›Ätiologie der Pubertätsepilepsie‹. Gottfried Benns Schrift aus heutiger Sicht«, in: A. M. Freybourg und E. Kraas (Hg.): »… im Trunk der Augen«, 45 – 50. 14 Ebd., 49.

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175

Jahrhunderts feindselig verfolgt, folgt er ihm. Daher versenkt er sich in den Keller der statistischen Daten der Epilepsie; in der von Angstlust geprägten Hoffnung, in ihm ließ sich Grundlegendes der menschlichen Konstitution erfahren. »Denn der Leib ist«, wie Benn ein Jahr vor seinem Tod formulierte, »ein metaphysisches Massiv, aus ihm steigen die Geheimnisse, ohne ihn keine Freiheit und kein Fluidum, ohne ihn keine Erkenntnis, in ihm allein entwickelt der Tod sein Feld«.15

4.

Der Internist

Unter dem Motto »Arztsein ist ein Zustand, den man nicht mehr los wird, wie Herpes« erwog Reinhard Büchsel, ob Benn ein guter Arzt gewesen sei.16 Als Klinikchef hätte er wahrscheinlich die Finanzen so gut wie sein postalisches Doppelleben mit den verschiedenen Geliebten organisieren können. Aus den Niederungen der Kollegialität hätte er sich wahrscheinlich herausgehalten. »Teamorientiertes Arbeitsleben« wäre ihm zuwider gewesen. Das sei so gut wie sicher. Das Verhältnis zu den Patienten könnte problematisch gewesen sein, da er sich notorisch uninteressiert an individuellen Krankengeschichten gezeigt habe. Gewiss, es habe Ausnahmen gegeben; Benn erwähnt einige Freundlichkeiten, die er Prostituierten erwies. Den medizinisch-industriellen Komplex habe Benn skeptisch beobachtet. In seinem Artikel über die Medizinische Krise habe er mit ätzender Schärfe die »muntere kongreßdurchflochtene Biedermannsbetriebsamkeit zwecks Absonderung von Resultaten, um mit deren Hilfe zu Lehrstühlen und Syndikaten zu gelangen«, beschrieben.17 Aber Benn habe lebenslang seinen Arztberuf geschätzt. Büchsel zitiert einen Brief aus dem Jahre 1948: »Wenn ich an meinem äußerlich immer etwas schwierigen Leben etwas segne, so ist es der Umstand, daß ich einen soliden Beruf erlernt habe, der mir die innere Freiheit zu erhalten weitgehend ermöglichte«.18 Büchsel kommentiert: Es spricht aus diesem Satz die Distanz zur Berufssphäre, aber die berufliche Tätigkeit ist mehr als reine Existenzsicherung. So redet eine Arztpersönlichkeit, die sich bewusst auf medizinische Teilprobleme konzentriert, die klare, kausal begründete Diagnosen stellt und pragmatische Therapien verschreibt. Diese Berufsauffassung schützt das gefährdete lyrische 15 Gottfried Benn: »Vorbemerkung zu ›Frühe Lyrik und Dramen‹«, in: ders.: Sämtliche Werke, in Verbindung mit Ilse Benn hg. von Bernhard Schuster, Bd. VI, Stuttgart 1986, 69 – 71, 71. Dieses Zitat bildete das Leitmotiv meiner Intervention im Westend-Krankenhaus. 16 Reinhard Büchsel: »Arzt: eine Rolle für Gottfried Benn«, in: A. M. Freybourg und E. Kraas (Hg.): »… im Trunk der Augen«, 51 – 60, 51. 17 Ebd., 57. 18 Ebd., 53.

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Ich und verhindert, dass die, wie er es ausdrückt, »gehirnliche Schwere innerer und äußerer Art« das Genie in einem zerstörerischen Abwärtstrudel vernichtet.19 Und dann zitiert Büchsel ein Gedicht, das seiner Ansicht nach die »Präzision der Bennschen medizinischen Sprache und ihre assoziativen Elemente« vereint. Es ist ein Gedicht, das, aus der Sicht des Internisten, »eine dermatologische Diagnose« beschreibt:20 Tripper Blut, myrtengrüner Eiter, das ist kein Bräutigamsurin, die Luft ist klar und heiter von Staatsbenzin. Familienglück: der Rammelalte, der Schweißfuß und das Spülklosett – hier tröpfelt die geschwollene Falte das Flirt-Minette. Die Götter wehn, die Kosmen knacken, der Dotter fault, es hebt sich ab der Lust-Lenin in Eisschabracken – Polar-Satrap.21

Das Wort »Staatsbenzin« erklärt Büchsel damit, dass es 1922 Benzin und Alkohol zu medizinischen Zwecken nur auf staatliche Zuteilung gegeben habe; »Minette« wiederum sei ein Gang im Bergbau.22 Büchsels Eindruck der Präzision dürfte sich aus seinem Fachwissen und den von Erfahrung gespeisten Assoziationen ergeben.

II.

Der Arzt als Garant der Desillusion

Die Vorstellung des Arztes und Poeten Benn in der Westend-Klinik 2006, 120 Jahre nach seiner Geburt in Mansfeld, im Kreis der Ärzteschaft, klärt nicht, warum das junge Genie sich überhaupt entscheidet, Mediziner zu werden, sein Theologie- und Philologiestudium abzubrechen, um sich im Wintersemester

19 20 21 22

Ebd., 51. Ebd., 59. Gottfried Benn: Gedichte, Frankfurt/Main 2006, 135. R. Büchsel: »Arzt: eine Rolle für Gottfried Benn«, 59.

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1905/06 an der Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen in Berlin einzuschreiben.23 Der Beruf des Psychiaters oder Arztes war Benn nicht in die Wiege gelegt worden. Er sollte Pfarrer werden wie sein Vater. Sein Medizinstudium war nicht selbstverständlich, sondern musste erkämpft werden. Es gab nun für diese Generation junger Intellektueller einen besonderen Beweggrund, Arzt zu werden. Der Wunsch war um die Jahrhundertwende mit Energien aufgeladen, die weniger mit dem Berufsfeld zu tun hatten, als vielmehr von Imaginationen genährt wurden, die im 19. Jahrhundert von Philosophie und Belletristik ausgelöst worden waren. Die Rolle des Arztes bot sich Benn als ein Transformationsmedium an, das wunderbarerweise gleich drei Funktionen erfüllte: Zunächst begünstigte es die Trennung von der Sphäre des Christentums im Hause der Väter ; des Weiteren garantierte es einen gewissen Desillusionsrealismus. Die physiologische Reduktion geistiger Phänomene auf die Materialität des Körpers bot die Chance, einen Blick in Nietzsches »Unterwelt der Ideale« zu werfen. Und schließlich begünstigte sie den Anschluss an die Schreibhaltung der impassibilit¦, die Benn an Schriftstellern wie Stendhal und Flaubert schätzte. – Es mag aber auch umgekehrt gewesen sein: vielleicht hatte der Kälte-Habitus der Schriftsteller seine Liebe zu Nietzsche vorgebahnt. Der Arzt spielt eine Schlüsselrolle in den Kulturdiagnosen Nietzsches. Er wird als ein Pionier des Nihilismus gefeiert, der keine heilsamen Illusionen zulässt und die Schutzschicht, mit denen das humanistische Gymnasium das Idol der Person umgibt, wegbrennt. Im Antichrist ist zu lesen: »Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen, das ist unsere Art Menschenliebe, damit sind wir Philosophen«.24 Nur der Arzt scheint geeignet, der Kultur eine scharfsinnige Diagnose zu stellen: Er trennt sich von allen christlichen »Seelenqualen und Gewissensbissen« und legt therapeutische Wunschvorstellungen und Heilsgewissheiten solange auf Eis,25 bis der wahre Zustand der Kultur gnadenlos festgestellt werden kann. Die Avantgardisten der Jahrhundertwende lasen Nietzsche selektiv, sie übernahmen nur den aggressiven Habitus seiner Denkfiguren und kümmerten sich wenig um die Kehrtwendungen seiner Reflexionen. So erklärt sich die Karriere der Aufwertung der Kälte, die die Avantgardisten den Schriften des Philosophen entnahmen und im Kältekult bis in die 1930er Jahre zelebrierten.26 – Wie auch das von Benn vielfach variierte Motto: »Das Denken muss kalt 23 Ich habe diesen Prozess ausführlicher beschrieben in Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin 2006. 24 Friedrich Nietzsche: »Der Antichrist«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. 6, München, Berlin, New York 1988, 174. 25 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2, 204. 26 Vgl. Helmut Lethen: »Lob der Kälte« (1987), in: ders.: Unheimliche Nachbarschaften. Essays

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sein, sonst wird es familiär«27. Und zwar im Sinne von: Ich biete keine Kompensation für die Kältewelle der Gottlosigkeit und Verwissenschaftlichung. Ich entferne vielmehr die »warmen Nebelwelten« der Ideologien, mit denen sich die Gemeinschaft der Bürger gegen die Kälte der Entfremdung abzupolstern pflegt. Meine Technik der physiologischen Entzauberung folgt dem Gestus, mit kaltem Licht in die »Unterwelt des Ideals« zu leuchten, so dass Glauben und Mitgefühl »erfrieren«.28 Man darf nicht vergessen, dass der Verlust der religiösen Gewissheiten bei Benn zeitlebens als Kälteschock nachwirkt. (Benn war der letzte Nihilist, dem man anmerkt, dass ihm die Abwesenheit Gottes spürbar weh getan hat, bemerkte einmal Manfred Geyer.) Die Erfahrung, dass der Mensch nach der Totsagung Gottes plötzlich ohne metaphysischem Dach unter kaltem, das heißt von den Instanzen göttlicher Obhut verlassenen Himmel leben muss, macht Benn in der harten Form der psychophysischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Er absolviert die Kälteschulung unter Ärzten und Psychiatern. Er lernt – und er rächt sich, indem er seinerseits einen kalten Blick aufs Kollektiv der Ärzteschaft wirft.

III.

Riten einer Körperschaft

In seinen frühen Novellen, nach ihrem Titelhelden hier Rönne-Prosa genannt, beobachtet Benn die Chirurgen, Neurophysiologen und Psychiater im Zivilisationsspiel der Wilhelminischen Gesellschaft in ihren Machtfunktionen, sozialen Vernetzungen und Routinen: in der Klinik »mit Schwerpunkten auf Meridianen zwischen Refraktor und Barometer« und im Kasino;29 im Labor bei der Färbung von Rattenhirnen »aus dem Ammonshorn der linken Hemisphäre des Großhirns« und im Caf¦;30 als Ordinarien (»Was sind Ordinarien? Eine Oberpostdirektion mit Telegraphendrähten auf dem Dach«)31 und als Privatpersonen mit »regelrechter Männeratmung«, »schlechtem Atem der Asketen, aus ermatteter Geschlechtlichkeit«.32 Wenn Benn das ihm vertraute Kollegium der Psychiater und Hirnspezialisten mit der gleichen impassibilit¦, die den Chirurgen zugeschrieben wird, be-

27 28 29 30 31 32

zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Freiburg, Berlin, Wien 2009, 59 – 99. Gottfried Benn: Sämtliche Werke, Bd. V, 23. Friedrich Nietzsche: »Ecce homo«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 6, 255 – 374, 323. Gottfried Benn: »Die Reise«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. III, 42 – 49, 47. Gottfried Benn: »Ithaka«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. VII, 7 – 16, 7. Gottfried Benn: »Das moderne Ich«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. III, 94 – 107, 96. Gottfried Benn: »Querschnitt«, in: ebd., 82 – 92, 89.

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trachtet, kommt er zu überraschenden Befunden: Irgendwie gleichen ihre Gewohnheiten und Bewegungen vormodernen Stammesriten, den Ritualen von »Blutdruckaposteln und Kardiogrammschamanen«,33 heißt es in seinem Aufsatz Goethe und die Naturwissenschaften. Der Anblick, den sie bieten, erlaube es ausnahmsweise, sie evolutionsgeschichtlich zu betrachten. Man sehe sich nur den Stabsarzt Mahn an: »Das große Leuchten über der Stirn des Weltensiegers […], da sprang der alte Affe, nur der Geruchssinn verändert und enthaart«.34 In seinen Brüsseler Novellen wiederum sind Halbgötter in Weiß bei der Rudelbildung zu besichtigen. Weitgehender ist freilich eine andere Erkenntnis, die die Rönne-Prosa hergibt: Im Herzen der kalten Kultur der Naturwissenschaften herrscht ausgesprochene Behaglichkeit. Sind schon die Routinen des Arztberufs nicht so unterkühlt, wie man es sich aus der Ferne vorstellt (»Es tat ihm wohl, die Wissenschaft in eine Reihe von Handgriffen aufgelöst zu sehen«, schreibt er in Gehirne),35 so bietet das Beisammensein in Kasino und Caf¦ die Chance zu gemütlicher Konversation. Diese hat vor allem die Funktion, sich wechselseitig den Eindruck der Persönlichkeit zu vermitteln – mit eigenem Gravitationsfeld, unvergleichlichen Meinungen, markantem Profil, vielleicht auch einem Tick wie dem nervösen Wischen des Fingers, das sich der Arzt Diesterweg in der gleichnamigen Novelle von 1917 angewöhnen möchte, um sich als unverwechselbares Individuum von der Wucht des Reduktionismus, dem sie in der Wissenschaft frönen, zu erholen.36 Der ethnologische Blick auf die Körperschaft der Ärzte ist eine Art literarische Feldforschung, die eine Gesellschaftsformation in ihren wissenschaftlichen Praktiken, Riten und Religionen wahrzunehmen sucht. Benn beobachtet gewissermaßen »monströse Hybriden«37: denn einerseits sind diese Ärzte völlig eingebunden in das Verkehrssystem einer modernen Gesellschaft (»[…] was sind Ihre Ordinarien? Eine Oberpostdirektion mit Telegraphendrähten auf dem Dach […]«38), andererseits scharen sie sich in der Gemeinschaft ihrer Schicht wie um ein Lagerfeuer ; einerseits navigieren sie mit großer Selbstverständlichkeit in den Strömen des Geldverkehrs, andererseits siedeln sie in einer kulturellen Sphäre, die sich aus der Zirkulation des Kapitals gänzlich ausgeschaltet zu haben vorgibt. Für Benn besteht jedoch die größte Ungereimtheit ihres Verhaltens darin, dass sie als Wissenschaftler Kopf, Gehirn und Restkörper 33 34 35 36 37

Gottfried Benn: »Medizinische Kreise«, in: ebd., 153 – 161, 161. G. Benn: »Querschnitt«, 91. Gottfried Benn: »Gehirne«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. III, 29 – 34, 30. G. Benn: »Diesterweg«, in: ebd., 72 – 81. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/Main 1998, 21. 38 G. Benn: »Das moderne Ich«, 96.

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ins Raster ihrer Wissenschaft zergliedert haben, sich aber nicht vom Bild der intakten Einheit der Person, des selbstmächtigen Subjekts, lösen können. Das Phantom des Ich, dem der Held der Novellen nachläuft, weil es seine Körpergrenzen bewachen und die Ökonomie der Verständigung garantieren soll, will Rönne zerstören. Er merkt freilich dabei, dass seine Welt ohne diesen Stabilisator in Scherben fällt. Nietzsche hatte seinen Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn in ein Regenbild ausmünden lassen: Man muss lernen, ohne die Sonne Griechenlands zu leben. Also gilt es für den stoischen, durch Erfahrung belehrten Menschen, sich der Ökonomie der Begriffe zu unterwerfen, eine Maske mit dem würdigen Gleichmaß der Züge zu tragen und sich – »wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgießt« –39 in einen Mantel zu hüllen und langsamen Schrittes unter ihr davon zu gehen. Benns Rönne sehnt sich ins vorletzte Bild von Nietzsches Essay zurück, das eine Welt »olympischer Wolkenlosigkeit« zeigt. Für den intuitiven Menschen, der sie bewohnt, ist die »Bretterwelt der Begriffe« nur noch ein Spielzeug für verwegene Kunststücke, er zerschlägt die in fest gefügten Kategorien konstruierte Welt und setzt sie ironisch wieder zusammen.40 Glaubt man auch im Milieu des Empirismus, das uns Benn vor Augen stellt, noch an die Individualität der Stimme seiner Exponenten, so zeigt Benns Prosa nur noch die Zirkulation akustischer Masken (um einen Begriff von Elias Canetti zu verwenden), die von einer unsichtbaren Sendezentrale gesteuert werden. Sind diese Ärzte – wie gesagt: Pioniere der Fragmentierung des Körpers – geneigt, außerdienstliche Erfahrungen mitzuteilen, greifen sie zu Erzählmustern der alten Zeit. Ansonsten lieben Chirurgen und Pathologen die Sprachlosigkeit ihrer Patienten. Stumm sind sie ihnen am liebsten. Die große Errungenschaft der Psychoanalyse, das Objekt der Kunst des Arztes mit einer Stimme zu begaben, hat sie nicht berührt. Der Herrenclub, den Benn zeichnet, ist von keiner Sprachskepsis getrübt. Ihre Begriffe sind nicht nur Spielmarken in Kommunikationsspiel, ihnen wird zugetraut, einen unverstellten Blick auf Sachverhalte zu ermöglichen. Rönne erkennt, wie diese Gruppe in ihren Sprechakten – denn nur als akustische Masken sind sie für ihn interessant – in einer motorisch-artikulatorischen Erregungsschleife zusammengeschlossen ist: »Die Herren waren erregt und fliegend, sie bäumten sich vor Rede und Gegenrede, wurden zackig vor Stellungnahme und von Eigenstem rauh.«41 Die Summe ihrer Verlautbarungen bildet nichts als einen 39 Friedrich Nietzsche: »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, 873 – 890, 890. 40 Vgl. ebd. 41 G. Benn: »Diesterweg«, 79.

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sensomotorischen Bogen, der die Funktion hat, sich aus all dem Sprachgeräusch als markante Persönlichkeiten zu profilieren. Die Fachtermini, die Benn in diese Texte einwandern lässt, führen nicht in den operativen Handlungsraum der Ärzte, sondern stellen die Wirklichkeit ihrer Sprechakte aus. Sie legen den Blick in das Innere einer hermetisch abgeschlossenen Diskursgesellschaft frei, die Benn in Berlin und Brüssel in den Jahren 1910 bis 1917 kennengelernt hat. Verständigung ist in diesen Ärztekollektiven kein Problem, man hat Medien, die die Assoziationen auf effektive Bahnen lenken: Hängt aus meiner Tasche eine Zeitung, ein buchhändlerisches Phänomen, bietet es Anknüpfungspunkte zu Bewegungsvorgängen an Mitmenschen, sozusagen zu einem Geschehnis zwischen Individualitäten. Sagt der Kollege, Sie gestatten das Journal, liegt ein Reiz vor, der wirkt, ein Wille, der sich auf etwas richtet, motorische Konkurrenzen, aber jedenfalls immer das Schema der Seele, die Vitalreihe ist es , die Fallen stellt.42

Journale reichen aus, um die Vernetzung der Herren unter ihresgleichen zu garantieren; sie spuren die Assoziationen vor, schlagen sich als Meinungen nieder. Auch Rönne schleppt sie mit, sie hängen aus seiner Tasche. Dieser Hinweis auf die Rolle von Gedrucktem, könnte ein guter Zeitpunkt sein, um von Philologen zu sprechen, die an Benns Schulung ihren Anteil hatten. Auch Friedrich Nietzsche hatte von Ärzten und Philologen in einem Atemzug gesprochen.

IV.

Die Philologen

Benns Lehrer am Königlichen Friedrichsgymnasium in Frankfurt an der Oder waren Philologen eines Schlages, gegen den sich Nietzsche gewandt hatte. In der Oberprima musste das Griechische Lesebuch, das Nietzsches profiliertester Gegner, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 1902 herausgegeben hatte, studiert werden. Ein erstaunlich umfassendes kulturgeschichtliches Kompendium, in dem auch die naturwissenschaftlichen Wurzeln der Erd- und Himmelskunde aus Strabo, Diphoderos und Athenaios einbezogen waren; außerdem Kapitel aus der Gesundheitspflege, der Hygiene des Diokles von Karystos. Denn wie Wilamowitz-Moellendorff bemerkt, werde man der griechische Kultur nicht gerecht, »wenn man den Arzt neben den Grammatikern und Philosophen vergisst.«43 Wie Benn sich aus dem geschlossenen Kreis der Medizinischen Wissen42 Gottfried Benn: »Die Insel«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. III, 62 – 71, 67 f. 43 Wilamowitz-Moellendorff zitiert nach Werner Rübe: Provoziertes Leben. Gottfried Benn, Stuttgart 1993, 172 ff.

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schaften herausarbeitete, so musste er auch seinen Respekt vor einem gewissen Typus des Philologen ablegen, der in seinen Jugendjahren herrschte. Es waren nicht die Philologen, die Nietzsche im Auge hatte, als er schrieb: »In der Tat ist man nicht Philologe und Arzt, ohne nicht zugleich Antichrist zu sein. Als Philolog schaut man nämlich h i n t e r die ›heiligen Bücher‹, als Arzt h i n t e r die physiologische Verkommenheit des typischen Christen.«44 Die Leistung der positivistisch gesonnenen Altertumswissenschaft, der Archäologen, Gräzisten und Latinisten im 19. Jahrhundert kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn man aber wie Benn an der Zunft der Mediziner und Psychiater feststellt, sie hätte den Körper entkernt und sein seelenloses Volumen ins Raster ihrer Begriffe aufgeteilt und im übrigen dennoch an der Einheit der Person festgehalten, so lässt sich vom Blickpunkt Nietzsches aus ein ähnlicher Prozess in der Philologie feststellen: als Zahlen- und Partikelfetischisten, die eine »Frage wie die homerische vom Standpunkt der Präpositionen« aus lösen wollten,45 zersplitterten sie faktisch das humanistische Bild von den Griechen in tausend Scherben, die zwar in Enzyklopädien wie dem Pauly ein gemeinsames Dach fanden, den edlen Mythos aber nicht unterhöhlten. In Gustav Schwabs Sagen des Klassischen Altertums (die Benns Vater dem 16 jährigen Sohn schenkte) wurden einzelne Bruchstücke zu einer veritablen Erzählung im Stil des poetischen Realismus zusammengefügt. Der Positivismus der Altphilologie entzaubert die Mythen, der dadurch hergestellte Hohlraum wird mit Fiktionen gefüllt. Wer das fiktive Griechenbild, wie Nietzsche in der Geburt der Tragödie, buchstäblich versaut, hat mit der Ächtung der Zunft zu rechnen. In Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten hatte Nietzsche die Situation der Altertumswissenschaft mit einem geradezu ärztlichen Blick diagnostiziert. Die Beschäftigung mit den kleinteiligen Problemen des Altertums werde dazu führen, dass die »in die Erde versunkene umgefallene Statue des griechischen Alterthums« nicht wieder aufgerichtet werden könne.46 »Immer wieder, kaum vom Boden aufgehoben«,47 könne sie zurückfallen, um im Fallen die Philologen, die an ihr arbeiten, zu zertrümmern. Vor diesem Hintergrund ist die Haltung des durch von Wilamowitz-Moellendorff-Schülern sozialisierten Dichters interessant: Wir finden bei ihm fast nie geschlossene Fabeln des Griechentums (es sei denn in seiner grotesken Erzählung von der Dorischen Welt). Wenn es ums Griechentum Athens geht, spricht er auch vom »genialen Drecksvolk«48, gegen das er die hehren Spartaner abhebt. 44 F. Nietzsche: »Antichrist«, 226. 45 Friedrich Nietzsche: »Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1, 702. 46 Ebd., 703. 47 Ebd. 48 Gottfried Benn: »Dorische Welt«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. IV, 124 – 153, 132.

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Stattdessen lässt er einzelne Vokabeln und Sprengsel der griechischen Mythologie in seine Texte einwandern, setzt gleichsam die Scherben der positivistischen Philologie unter den Strom neuer Assoziationsketten, verlässt sich auf die Leuchtkraft mythischer Namen im medizinischen oder urbanen Kontext, macht aus isolierten Fundstücken Klangkörper seiner Lyrik. Nicht anders verfährt er mit medizinischer Fachterminologie.

V.

Eine klingende Enzyklopädie?

»Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug. […] Botanisches und Geographisches, Völker und Länder, alle die historisch und systematisch so verlorenen Welten.«49 Mit diesem Satz haben sich die Leser Benns leicht anfreunden können. Die Formationen des Wissens, aus denen die rätselhaften Fachtermini, die Benns frühe Lyrik durchziehen, durften unbekannt bleiben. Auch die Forschung hat kaum nachgefragt. Marcus Hahn hat dieses sich im Magischen des Klang Ausruhende als Recherchefaulheit gebrandmarkt.50 Benn, so der Grundsatz seiner Intervention, montiere nicht zu Zwecken magischer Evokation Vokabeln des GehirnDiskurses in seine Texte. Die Forschung habe die Verpflichtung, den mit diesen Vokabeln unlösbar mitgegebenen Bildkomplex und den Rahmen des Wissenshorizonts, von dem er umhüllt ist, aufzuspüren. Benns Stoffe entsprängen nicht endogenen Sphären mythisch-archaischer Bilderfülle, die das Raunen der BennKommentare umgeben; sie stammten vielmehr aus den mit philologischer Akribie betreuten Zettelkästen und Notizheften des jungen Arzt-Poeten. Die Forschung kapituliere in der Regel immer dann, wenn auf den Karteikarten des Bennschen Zettelkastens Namen stehen, die außerhalb des Horizonts literarischer Bildung liegen. Also musste einer kommen, der in die Niederungen einer verschollenen Wissensformation hinabsteigt. Denn – so das Pathos dieses archäologischen Unternehmens – wo Dunkelheit des Tiefsinns vermutet wird, steht letzten Endes immer schon eine Leselampe, welche die Quelle in den verstaubten Akten eines selten betretenen Archivs beleuchten könnte – wenn man nur die Geduld und den Fleiß aufbringt, sie mit detektivischem Spürsinn zu finden und anzuknipsen. Das ganze Frühwerk von Benn liest Hahn als literarische Reinszenierung neurologischen Wissens. Seine Funde sind oft verblüffend; reizvoll sind sie besonders, wenn mit dem Aufweis der Quellen beliebte Assoziationen der Leser und Forscher zusammenbrechen. Zwei Beispiele seien hier angeführt: 49 G. Benn: Sämtliche Werke, Bd. III, 109. 50 Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, Göttingen 2011.

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Das berüchtigte »Klümpchen Schleim« aus der ersten Strophe des Gedichts Gesänge: Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. Leben und Tod, Befruchten und Gebären Glitte aus unseren stummen Säften vor.51

führt Hahn über zeitgenössische Biologie-Lehrbücher direkt zu einer Schrift von Max Schultze aus dem Jahre 1861 Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. Die Wortfindung vom »armen Hirnhund« aus dem Gedicht Untergrundbahn – »Ein armer Hirnhund, schwer mit Gott behangen./Ich bin der Stirn so satt.«52 – wiederum ist kein Indiz des Hinabtauchens in die Tiefen des Unbewussten, wie man gern vermutet hat, sondern führt auf direktem Wege zu einem Versuchsprotokoll, das Friedrich Goltz unter dem Titel Der Hund ohne Großhirn 1892 veröffentlichte:53 Nach dem Verlust der Hirnrinde verfügte der arme Hund nur noch über Sinneswahrnehmungen in zwar abgestumpfter, aber für Schlaf, Fraß und sexuelle Triebbefriedigung noch ausreichender Form. Dabei handele es sich, so Hahn, »um diejenigen nervösen Funktionen, die anatomisch […] im Rückenmarkkanal lokalisiert werden, das heißt in der Untergrundbahn«54. Immer wieder führt Hahn Beispiele dafür an, dass selbst der originellste Wortgebrauch im Diskurs der Wissenschaften präfiguriert ist. Er freut sich gleichsam diebisch, wenn er entdeckt, dass im Gedicht statt dunklem Tiefsinn das Recycling eines Terminus aus der Gehirnphysiologie, Endokrinologie, Konstitutionslehre oder Assoziationstheorie gefunden werden kann, so dass sich plötzlich ein Fenster zu einem poesiefremden Diskurs und seinem Denkmodell öffnet. Nachdem Hahn in den frühen Gedichten Reinszenierungen neurologischen Wissens entdeckt hat, kann seine Behandlung der Morgue-Gedichte nicht verwundern. Sie kreisen nicht etwa im Reigen der gemeinen Literaturwissenschaft und um das Vanitas-Motiv, sondern handeln von der modernen Medizin. Was passiert, wenn ein Lyriker des 20. Jahrhunderts, fragt Hahn, die medizinische Erfahrung und die von den abwesenden Göttern hinterlassene Leere, vor allem aber einen wissenschaftlichen Diskurs über das Aufschneiden der Bauchhöhle, die Entnahme des Gehirns und das Entbinden oder Töten von Säuglingen zur Quelle seiner Sprache macht? Die Antwort auf diese Frage führt ihn direkt zu 51 52 53 54

G. Benn: Gedichte, 47. Ebd., 57. M. Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne, 85 ff. Ebd., 89.

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Rudolf Virchows Handbuch Sektionstechnik im Leichenhause des Charit¦Krankenhauses, das er in der 4. Auflage in Benns Bibliothek fand.55 Er konsultiert noch weitere Anleitungen zur regelkonformen Sektion und kommt zu einem Schluss, der in direktem Widerspruch zu den Befunden steht, die Christoph Hoffmann im Westend-Krankenhaus vorgetragen hatte. Wir erinnern uns, dass er auf die Frage, welche Korrespondenzen zwischen den Sektionsprotokollen und der Lyrik der Morgue gefunden werden könnten, geantwortet hatte: keine oder bestenfalls die einer Differenz. Hahn kontert: »Ohne das Manualwissen der pathologischen Anatomie hätte Benn die Morgue nie schreiben können«.56 Die Kleine Aster zum Beispiel könne als »Musterstück an Regelkonformität« begriffen werden. Der Text schulde seine Pointe »weniger der Enttäuschung über ein bedauerlicherweise ausgebliebenes Herbstgedicht, als dem Transfer hochspezifischer Handlungs- und Formulierungsregeln der medizinischen Sektionsmanuale in das Feld der Literatur«.57 Alle im engeren Sinne »literarischen Operationen [gewinnen] erst in diesem sektionstechnischen Rahmen ihre groteske Dynamik«.58 Was ist aber dann die Quelle der ästhetischen Faszination der Texte, die Ärzte des Westend-Krankenhauses ebenso in ihren Bann schlagen wie eine große Leserschaft? Zwar hat Hahn mit Erfolg das Kartenhaus quellenkundlich nicht begründbarer Reaktionen auf Benns Dichtung zum Einsturz gebracht – bezeichnet der Fächer von ästhetisch bezaubernden Assoziationen aber nicht auch einen Wirkungsgrad des poetischen Schreibens, der durch Hahns Wissensarchäologie nicht außer Kraft gesetzt werden kann? War es nicht der große Reiz seiner Lyrik, Diskurse des Wissens in die Melodieform eines Lieds zu bringen, eines romantischen Kunstlieds, eines Schlagers oder eines Kirchenlieds, um das wissenschaftliche Vokabular, das die Welt in Fragmente zerbricht, wieder an den »Wellenschlag des Weltgeschehens« (Ludwig Klages), an eine Unterströmung des Lebensrhythmus zu binden? 1919 sagt Benn: »Mich sensationiert eben das Wort ohne jede Rücksicht auf seinen beschreibenden Charakter rein als assoziatives Motiv«:59 Er habe, schreibt er später, den Dynamo seines Schreibens vom Wind der Worte treiben lassen. Gäbe es eine plastischere Umschreibung dessen, was Roman Jakobson als den syntagmatischen Charakter poetischen Schreibens bezeichnet hat? Die Assoziationskette, die der Reiz der Substantive auslöst, soll – Benns Poetologie zufolge – nicht entlang der paradigmatischen Achse laufen, um uns in ferne Wissenshorizonte der Archive zu führen. Die Sukzession der Worte soll vielmehr traum55 56 57 58 59

Ebd., 106 – 133. Ebd., 110. Ebd., 111. Ebd. Gottfried Benn: »Schöpferische Konfession«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. III, 108 f., 109.

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nahe Schwingungen auslösen und zu tief im Organismus gelagerten endogenen Bildern vorstoßen. Die Realisierung dieses poetischen Programms (an das sich der Leser nicht zu halten braucht – und ob sich der Text daran gehalten hat, ist von Fall zu Fall zu überprüfen) bleibt letzten Endes so faszinierend wie dunkel, das heißt wissenschaftlich nicht einholbar. Es ist sicherlich elektrisierend, den magischen Sound von Benn-Gedichten im Neonlicht einer Wissenspolitik zu entzaubern, wie Hahn es tut. Seine Vertiefungen in die Archäologie des Wissens, das Benns Texte grundiert, müssten jedoch nicht als Endpunkt, sondern als Passage begriffen werden. Die Entzauberung aushaltend, könnte der ästhetische Genuss von Benns Sound sogar noch gesteigert werden. Der Pendelschlag der wissenschaftlichen Annäherung sollte beide Pole berühren.

VI.

Ein Kirchenlied im Westend-Krankenhaus

Werner Rübe, der Arzt und große Biograph Gottfried Benns, nahm an,60 man könne dem Gedicht Der Stadtarzt die Melodie des evangelischen Kirchenlieds O wir armen Sünder (EKG Nr. 57) unterlegen: Ehre sei dir, Christe, der du littest Not, an dem Stamm des Kreuzes, für uns bittern Tod, herrschest mit dem Vater in der Ewigkeit; hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit!

Benns Text legt das nicht nahe. Aber der Hinweis auf die Kirchenmelodie erinnert daran, dass es für den Pfarrerssohn akustische Archive gibt, die keiner Leselampe bedürfen. Stadtarzt Stadtarzt, Muskelpresse, schaffensfroher Hort, auch Hygienemesse großes Aufbauwort, wunderbare Waltung, was der Hochtrieb schuf täglich Ausgestaltung, Schwerpunkt im Beruf. 60 Werner Rübe, Provoziertes Leben. Gottfried Benn, 31 f.

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Normung selbst der Gase, amtlich deputiert, ob die Säuglingsblase luftdicht funktioniert, vorne Prophylaxe, hinten Testogan, und die Mittelachse schraubt sich himmelan. Zuchttyp: Faustkaliber, strebend Buhnen baun, Pol- und Packeisschieber, Luftverdrängungsclown, Rundfunk und Refraktor, Wort verkommne Zahl, Wort als Ausdrucksfaktor gänzlich anormal. Wunderbares Walten, dort der Affensteiß, hier der Hochgestalten Licht und Höhenreiß, und als Edelmesse, Gottes Gnadensproß, züchtet Muskelpresse Pithecanthropos.61

Publikum und Ärzteschaft im Pathologie-Hörsaal des Westend-Krankenhauses sangen die Melodie zum Bennschen Text aus voller Brust.

61 G. Benn: Gedichte, 86 f.

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Schreibstörungen. Nichtschreiben im Exil

Zu den Konstellationen des Schreibens gehören auch die Störfaktoren, die das Schreiben behindern oder verhindern. Ich will die Schreibstörungen an einer historischen Zäsur und an einem bestimmten Ort, nämlich im sowjetrussischen Exil in den Jahren nach 1936, in den Blick nehmen. Während Schreibstörungen und Behinderungen des Schreibens durch staatliche Zensursysteme uns vertraute Themen sind, führt uns das Nichtschreiben in einen dunklen, kaum erforschten Bereich. Denn wer nicht schreibt, hinterlässt kaum Spuren – wir wissen in der Regel wenig von den verhinderten und noch weniger von den ungeschriebenen Büchern, gerade dann, wenn Schreibspuren zu gerichtsverwertbarem Material werden. Die große Mehrheit derer, die in den Zentren der totalitären Systeme, den Vernichtungs-, Arbeits- und Schweigelager waren und dort überlebt haben, haben in der Regel kein Zeugnis abgelegt. Auf jeden der wenigen, die über den GULAG geschrieben haben, kommt ein anonymes Heer von Nichtschreibenden, deren Beweggründe für die Verweigerung sehr unterschiedlich sein können. Wenn das totalitäre System zum Sprechen zwingt, kann das Nichtschreiben auch ein Akt der Verweigerung sein.1 1 Franziska Thun-Hohenstein schreibt von den Schreibstörungen im stalinistischen System und von dem »in der Stalinzeit allgegenwärtigen Zwang zu biographischen Selbstaussagen als kulturelle Praktik« (Franziska Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation, Berlin 2007 (=LiteraturForschung, 5), 15). Über das Schreiben im GULAG: »Jede schriftliche Fixierung eines von der politischen Macht als subversiv eingestuften (in diesem Fall literarischen) Wortes war lebensbedrohlich, implizierte doch der Akt des Aufschreibens die Möglichkeit seiner Aufbewahrung und potentiellen Weitergabe« (F. Thun-Hohenstein, Gebrochene Linien, 280). Vgl. Franziska Thun-Hohenstein: »Bleistift und Schreibmaschine. Schreibszenen in der russischen Lagerliteratur«, in: Davide Giuriato, Martin Stingelin, Sandro Zanetti (Hg): Schreibkugel ist ein Ding gleich mir : von Eisen. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München 2005 (=Zur Genealogie des Schreibens, 2), 279 – 296. Einen frühen Hinweis auf diesen Zwang zum Sprechen und auf den Diskurs der Macht hat Roland Barthes in seiner Antrittsvorlesung am CollÀge de France von 1977 gegeben: »denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, er heißt zum Sagen zwingen« (Roland Barthes: LeÅon/Lektion. Antrittsvorlesung im CollÀge de France, Französisch und Deutsch, übers. von Helmut Scheffel, Frankfurt/Main 1980, 19).

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Das Interesse gilt aber nicht dem Zentrum des totalitären Terrors, sondern dessen Peripherie, wo die Bedingungen ganz anders schienen. Der Emigrant Erich Weinert schrieb 1947 rückblickend über die Situation in Moskau: »Der Schriftsteller ist hochgeachtet. Seine Arbeiten werden besser honoriert als irgendwo in der Welt. Seine Arbeitsenergie wird von keinen Alltagssorgen mehr absorbiert«.2 Noch kürzer sagte es 1936 Hugo Huppert: »Wir befinden uns hier nicht in einem Exil. Wir befinden uns hier in unserer Heimat«.3 Solche Bildentwürfe setzen sich fort bis zur späten DDR-Literaturgeschichtsschreibung, welche noch die nahezu idealen Bedingungen der deutschsprachigen Emigranten in Moskau gepriesen hat: »Alle Quellen weisen übereinstimmend aus, daß den deutschen Emigranten in der Sowjetunion ein weites Feld für gesellschaftliche Arbeit eröffnet war, ja, daß sie, wie noch zu zeigen sein wird, selbst zu den Aktiven bei der Durchführung der sozialistischen Kulturrevolution in deutschsprachigen Gebieten gehörten«.4 In diesem Beitrag sollen andere Stimmen zu Wort kommen, die nicht nur ein kontrastives Bild entwerfen, das von Erpressung, Angst, Lüge und tödlicher Bedrohung handelt, sondern Stimmen, die auch deutlich machen, dass Weinerts Erinnerungen wie noch die Wortmeldung der DDR-Literaturhistoriker Teil eines verordneten, regulierten Schreibens und Nicht-Erinnerns sind (Weinert gibt seinem Buch den doppelsinnigen Titel Ein notwendiges Vorwort). Der Diskurs der Macht bestimmt das Schreiben, aber er ist nicht reduzierbar auf Mechanismen der offenen politischen Unterdrückung. Meine Darstellung setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Im ersten werde ich auf ein ziemlich umfassendes Material zurückgreifen, mit dem ich die ›Konstellationen des Nichtschreibens‹ umreiße, mich bei der Analyse aber auf eine dem Rahmen entsprechende Auswahl beschränken. Einen Teil des Materials habe ich vor einigen Jahren in Moskauer Archiven und anderswo gesammelt, wobei es nicht um klandestines Wissen geht, das einen neuen Horizont öffnet: Viele Spuren und Texte waren schon vor der sogenannten ›Archivrevolution‹ nach 1989 lesbar, sie wurden von der frühen Exilliteraturforschung aber nur selektiv rezipiert.5 Auch heute stoßen die sich verwischenden Spuren der im 2 Erich Weinert: »Gedichte als Partisanen. Ein notwendiges Vorwort«, in: ders.: Rufe in die Nacht. Gedichte aus der Fremde 1933 bis 1943, Berlin 1947, 5 – 32, 20. 3 Georg Luk‚cs, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf u. a.: Die Säuberung. Moskau 1936: Stenogramm einer geschlossenen Parteiversammlung, hg. von Reinhard Müller, Reinbek 1991, 197. 4 Simone Barck, Klaus Jarmatz u. a. (Hg.): Exil in der UdSSR, Leipzig 21989, 29. 5 Während der von Klaus Jarmatz u. a. herausgegebene Band Exil in der UdSSR (1979 als erster Band einer siebenbändigen Reihe »Zur Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945« im Leipziger Reclam-Verlag erschienen) das Thema des Nichtschreibens und der Behinderungen systematisch mied, indem alle Dokumente von Opfern und Gegnern des sowjetischen Systems unberücksichtigt blieben, legte David Pike zwei Jahre später die erste

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Moskauer Exil Verschollenen auf wenig Interesse – insofern versteht sich dieser Aufsatz auch als bescheidene Ergänzung zu dem großen und packenden Panorama, das Karl Schlögel mit seinem Buch Terror und Traum. Moskau 1937 (München 2008) geliefert hat. Im zweiten Teil beschränke ich mich dann auf einen einzigen Briefentwurf (von Bertolt Brecht), mit dem die Konstellation des Nichtschreibens um einen Aspekt erweitert wird: auch ein Schreiben nach Moskau scheint in den Jahren nach 1936 unmöglich geworden zu sein.

I. Lässt man die Zeitmarke 1936/1937 beiseite, stößt man auf eine scheinbar zeitlose Legende, die davon erzählt, dass Schwierigkeiten des Schreibens die Qualität der Literatur fördern, dass aufmerksame Zensoren der Produktivität des Dichters förderlich sind.6 Diese Legende ist Aberglaube, auch wenn sich dafür scheinbar Belege finden lassen, auch wenn sie gerne als Rechtfertigungserzählung benutzt wird, zuletzt nach der historischen Wende von 1989. Die Pervertiertheit dieser Logik wird auch dann deutlich, wenn im Vergleich von NS-Diktatur und Stalinismus darauf hingewiesen wird, dass unter der einen Diktatur größere Werke als unter der anderen erschienen sind. Jost Hermand schrieb 1995, im nationalsozialistischen Deutschland habe kein Kunstwerk entstehen können, dem man einen politischen oder ästhetischen Wert zusprechen könne, während in der Sowjetunion […] im gleichen Zeitraum eine Kunst [entstanden ist], der die legitime Weltanschauung der heroischen Verteidigung des Vaterlandes zugrunde lag, die nicht nur die Künstler dieses Staats zu höchsten Leistungen anspornte, sondern auch den anderen Sowjetmenschen sowie den Angehörigen der Roten Armee die innere Stärke gab, die Hitler-Armeen wieder aus der UdSSR zu vertreiben.7 Studie zum Exil in Sowjetrussland vor, in der dieser Aspekt erstmals ausführlicher dokumentiert wurde (Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933 – 1945, Frankfurt/Main 1981). Seither sind verschiedene Studien zum sowjetischen Exil erschienen wie das von Reinhard Müller herausgegebene Protokoll einer Schriftstellerversammlung in Moskau (vgl. Anm. 3) und Müllers Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung (Hamburg 2001). Außerdem Carola Tischler: Flucht in die Verfolgung. Deutsche Emigranten im sowjetischen Exil – 1933 bis 1945, Münster 1996; William Chase: Enemies within the Gates? The Comintern and the Stalinist Repression 1934 – 1939, New Haven, London 2001; Wladislaw Hedeler (Hg.): Stalinistischer Terror 1934 – 1941, Berlin 2002, 179 – 202; vgl. den Literaturbericht von Detlev Schöttker : »Exil als Vakuum. Spurensuche in Moskau«, in: Merkur, 62 (2008), H. 12, 1149 – 1154. 6 Vgl. zum Beispiel Theo Mechtenberg: »Vom poetischen Gewinn der Zensur«, in: DeutschlandArchiv, 9 (1985), 977 – 984. 7 Jost Hermand: »Künstler, Staat und Gesellschaft. Kulturpolitik in der UdSSR und in Nazideutschland«, in: Irina Antonova, Jörn Merkert (Hg.): Berlin – Moskau 1900 – 1950 [Aus-

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Sehr viel nüchterner hat Hannah Arendt resümiert, dass nach Stalins Tod die Schubladen der sowjetrussischen Künstler und Schriftsteller leer gewesen waren.8 Liest man in Korrespondenzen und Protokollen der Zeit, wird schnell deutlich, dass mit der Aufwertung der Rolle des Schriftstellers, wie sie auf dem Moskauer Allunionskongress von 1934 gefeiert wurde und wie sie sich in den positiven Reaktionen der westlichen Besucher spiegelt, auch eine Gegenströmung verbunden war, nämlich eine Entwertung der Literatur, sofern sie nicht den Ausweis ihrer Nützlichkeit vorwies. Literatur gewann ein in der Moderne verloren geglaubtes Wozu zurück, aber die dienende Funktion, in die die Literatur damit geraten war, machte ihre Produzenten haftbar. Als »Ingenieure der menschlichen Seele«, wie sie auf dem Moskauer Kongress tituliert worden waren, konnten sie der Verweigerung bezichtigt oder der Sabotage angeklagt werden. Der Gedanke, dass Literatur nur noch Beiwerk war, findet sich nicht nur bei Parteigenossen. Alfred Kerr schreibt 1934 an Johannes R. Becher nach Moskau: »Offen gesagt, erscheint mir zwar Organisation heut wichtiger als Literatur ; aber sie kann nichts schaden«.9 Weil die Rolle des Autors mit der eines Funktionärs verschmolz, weil der Autor sein Schreiben als einen politischen Akt verstand, wurde die literarische Produktion zunehmend mit Misstrauen wahrgenommen, vor allem die literarische Produktion der anderen. Deutlich wie nirgendwo anders wird dies auf einer internen Parteiversammlung deutscher Schriftsteller in Moskau 1936, auf der die Rollen von Täter und Opfer, von Verhörer und Angeklagtem nicht mehr voneinander zu scheiden sind. Zwanzig Exilschriftsteller, die meisten davon deutschsprachig, machen ein paar Nächte lang Jagd auf den »trotzkistischen Feind« in den eigenen Reihen und versuchen sich selbst von aller »Schuld« freizuwaschen. Das Dokument dieser Selbstbefragung, der Selbstbezichtigung und der Denunziation ist 1991 als Buch erschienen, unter dem Titel Die Säustellungskatalog; anlässlich der Ausstellung »Berlin – Moskau, Moskau – Berlin 1900 – 1950« 3.9.1995 – 7.1.1996 im Martin-Gropius-Bau; 1.3.1996 – 1.7.1996 im Staatlichen PuschkinMuseum, Moskau], München, New York 1995, 343 – 347, 347. Der junge Marcel Reich-Ranicki hat früher diese Linie schon weitergezogen: »Die überwiegende Mehrheit der Werke, die auf dem Gebiet Westdeutschlands publiziert werden, ist eine unmittelbare Fortsetzung der Hitlerschen Literatur« (Marcel Reich-Ranicki: Aus der Geschichte der deutschen Literatur 1871 – 1954, zit. nach Gerd Koenen: Die großen Gesänge, Frankfurt/Main 1991, 265). 8 Hannah Arendt im Vorwort zum dritten Teil ihres Buches, geschrieben zur Neuauflage, datiert Juni 1966 (Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Band III: Totale Herrschaft, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1975, 24). 9 Alfred Kerr (Paris) an Johannes R. Becher (Moskau), 28. 1. 1934, (RGALI, Moskau, Nr. 631/13/ 50/88). Zur Wandlung der Schriftstellerrolle in den 30er Jahren vgl. Michael Rohrwasser : »Schriftsteller im Zeitalter des Totalitarismus«, in: Wilhelm Haefs (Hg.): Nationalsozialismus und Exil 1933 – 1945, München, Wien 2009 (=Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 9), 173 – 193.

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berung. Man erfährt dort, in einem 500seitigen Protokoll, welche Masken der »Trotzkismus« annehmen kann, aber nicht, was »Trotzkismus« ist, denn schon die Explikation des Wortes könnte eine trotzkistische Volte sein. Da der »trotzkistische Agent« sich mit immer »neuen Methoden« tarnt, da er ungeheuer raffiniert zu Werk geht, muss auch der Exorzist Spürsinn aufweisen, um den Feind zu demaskieren. Eine Reihe von Erkennungszeichen, die im Verlauf der Sitzungen genannt werden: A ist sozialdemokratisch infiziert, B ein Homosexueller, C ein Zyniker, D ein Alkoholiker, E ein Zuhälter, F entlarvt sich als Parteifeind durch seine Anpassungsfähigkeit, G durch seine hundertfünfzigprozentige Parteitreue, H durch eine unseriöse Bibliothek, in der sich die Sittengeschichte von Eduard Fuchs »in ganz raffinierten Auswahlbänden« befindet. Und Alfred Kurella findet sogar im Suizid eines Genossen den Beweis, dass dieser damit sich und die Spuren beseitigen wollte. Man rühmt sich der »politischen Nase« im Aufstöbern von Parteifeinden. Schon immer habe man Carola Neher oder Zensl Mühsam nicht ausstehen können, nie habe man Erwin Piscator über den Weg getraut, als einziger habe man sich Gustav Brand in den Weg gestellt. »Ich werde jetzt einmal meinen politischen Riecher sprechen lassen, auch gegen Ottwalt«, so bietet sich Hugo Huppert dem Parteigericht an.10 Die Konsequenzen dieser Hexenjagd bestimmten den Alltag in der Emigration. Jeder konnte potentiell zum Sündenbock, jede Handlung zum Verrat erklärt werden. In der paranoischen Logik des Systems gab es keine Unschuldigen, sondern nur solche, die des Verrats noch nicht überführt worden sind. Dass literarische Kritiken mehr als nur Drohungen enthalten konnten, sondern Urteilssprechungen gleich kamen, war den Moskauer Emigranten geläufig. Gustav Regler schreibt in Das Ohr des Malchus, seiner Autobiographie: In die Einsamkeit meines Schreibens schlug ein kalter Blitz ein: Ich wurde zu einer Vollversammlung der ausländischen Schriftsteller geladen. Die Komintern hatte die Veröffentlichung eines Buches moniert, in dem eingehend und mit allen Kontroversen geschildert worden war, wie ein Trotzkist sich zum Stalinismus zurückbekehrte. Der Entwicklungsroman war als Feindesarbeit erklärt worden: der Autor habe versucht, auf solch heimtückische Art die Ideen Trotzkis einzuschmuggeln. Ein Ungar [Andor G‚bor, MR] hatte im Auftrag des Staatsverlages das Buch ins Deutsche übersetzt. Ich sah ihn am Kopf der Tafel sitzen. Er war vor kurzem wegen bedrohlicher Herzbeschwerden nach einem Sanatorium im Süden geschickt worden.11

Verblüffend ist, dass in den Erinnerungen der anderen Beteiligten, die überlebt haben, von Johannes R. Becher bis Hugo Huppert, von Willi Bredel bis Alfred

10 G. Luk‚cs, J. R. Becher, F. Wolf u. a.: Die Säuberung, 220. 11 Gustav Regler : Das Ohr des Malchus (1958), hg. von Gerhard Schmidt-Henkel und Hermann Gätje, Frankfurt/Main 2007 (Werke, Bd. 10), 425.

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Kurella, von Friedrich Wolf bis Georg Luk‚cs,12 diese inquisitorische Veranstaltung keine Rolle spielt, wie überhaupt die traumatische Erfahrung des Stalinismus ausgeklammert oder vergessen wird; sie umfasst das, was nicht Gegenstand des Schreibens werden kann. Dieses Stillschweigen über die Erfahrung von Lebensbedrohung und Selbsterniedrigung ist aber zugleich konstituierendes Element für die Antifa-Gründungslegende der DDR. Dass der Moskauer Alltag sich nicht zum literarischen Thema eignete, versteht sich von selbst. Dennoch wäre es zu einfach, sich mit Beobachtungen zu begnügen, dass Autoren wie Hugo Huppert sich auf das Übersetzen beschränkten oder andere sich mit Lobliedern auf Stalin und Sowjetrussland beschieden. Wir stoßen auch auf Ausnahmen im Kreis der Moskauer Schreibgehemmten. Johannes R. Becher schreibt im Moskauer Exil einen Entwicklungsroman nach dem Vorbild von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, der vom Werdegang eines Münchner Jünglings handelt, der sich mit den Unterdrückten und Werktätigen solidarisiert: Abschied. Der deutschen Tragödie erster Teil. Auch Bechers lyrische Produktion versiegte nicht. Neben Gedichten auf seine deutsche Heimat und auf die bolschewistischen ›Heiligen‹ schrieb er auch ein Sonett, in dem man die Angst des Emigranten im Moskauer Exil wahrnehmen kann. Die ersten Verszeilen von Macbeth tötet den Schlaf: Was ist’s, dass ich mir selbst den Schlaf verwehr?! Einst ließ ich willig mich vom Schlaf verwehn. Wer ließ mein Traumspiel mir verloren gehn? O Schlafenszeit! Es schläft sich schwer, so schwer. Wer ist der Mörder meines Schlafes, wer? Er scheint in jeden Schlaf hineinzusehn, Und jeder weiß: Es kann im Schlaf geschehn.13

Die andere Ausnahme ist Theodor Plievier, einer der wenigen Emigranten in Sowjetrussland, der kein Mitglied der KPD war ; er schrieb, unter der Protektion Bechers, das vielleicht bemerkenswerteste Buch, das uns aus dem sowjetischen Exil überliefert ist, den Kriegsroman Stalingrad, erschienen trotz massiver Widerstände deutscher und sowjetischer Funktionäre.14 12 Vgl. G. Luk‚cs, J. R. Becher, F. Wolf u. a.: Die Säuberung, 9. Auch in seinen letzten Gesprächen, in denen die eigene Biographie zum Thema wird, klammert Georg Luk‚cs diese Parteiversammlung aus und hält fest an der Gefährlichkeit des ›trotzkistischen Bazillus‹ (Georg Luk‚cs: Gelebtes Leben. Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt/Main 1980). 13 Das Sonett erschien 1940 in Bechers Moskauer Gedichtband Wiedergeburt. Boris Pasternak nannte Bechers Buch »eine Insel im heutigen Lügenmeere« (Boris Pasternak an Johannes R. Becher, 25. 9. 1940, in: Rolf Harder (Hg.): Briefe an Johannes R. Becher, Berlin, Weimar 1993, 145). Zu Bechers literarischer Produktion im Exil vgl. Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs. Das Leben des Johannes R. Becher, Berlin 1998 (dort findet sich auf S. 814 und 818 die Abrechnung mit einem »neuen Sieger der Geschichtsschreibung«). 14 Vgl. Michael Rohrwasser : »Theodor Plieviers Kriegsbilder«, in: Ursula Heukenkamp (Hg.):

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Häufiger und typischer sind die unliterarischen Klagen über Schreibhindernisse, sind Verweigerungen oder die Produktion literarisch belangloser Texte. Ernst Ottwalt spricht in der Moskauer Parteiversammlung von seinem »Bankrott« als Autor. Es sei ihm nicht möglich gewesen, seinen Reportageroman zu schreiben, er habe keine Zeit und keine Muse gefunden: »Das ist die Krise von mir gewesen. Ich habe im Jahr 1934 neu angefangen, und ich muß ganz ehrlich sagen, ich habe den Atem verloren. Ich kann nicht«. Seine ausführliche Verteidigungsrede mündet in der Klage über die »Nichtachtung einer literarischen Arbeit […]. Diese Unterschätzung der literarischen Arbeit, diese außerordentlich schädliche und unverantwortliche Arbeit, darüber müßte man sprechen«. Und vorausschauend auf den Jüngsten Tag: »Wenn wir nach Deutschland zurückkommen, was haben wir dann aufzuweisen? Gute Bücher, Bücher der Wahrheit, aber Genossen, wenn wir kommen und stellen uns vor unsere Leser und wiegen unseren Einfluß gegen den Einfluß der bürgerlichen Berufsgenossen ab, so wird es bestimmt nicht gut für uns aussehen. Aber Genossen, wer arbeitet wirklich von uns an größeren Sachen?« Überliefert sind keine Antworten, nur die Einwürfe der Anwesenden: »Gen. Friedrich Wolf: ›Und diese Tage sind nicht vorhanden?‹ […] Gen. [S‚ndor] Barta: ›Die Arbeit am Sowjetdeutschen Buch wird nicht den ganzen Tag in Anspruch nehmen‹«.15 Das Sowjetdeutsche Buch, ein von der Partei angeregter Sammelband, an dem sich die exilierten Schriftsteller beteiligen sollten, ist niemals erschienen. Und Ottwalt bleibt keine Gelegenheit mehr, sich seinem Reportageroman zu widmen, er wird im November 1936 zusammen mit seiner Frau verhaftet, 1943 stirbt er in einem sibirischen Lager. Reinhard Müller und Andreas W. Mytze haben nicht nur auf Denunziationen gegen Ottwalt hingewiesen, sondern auch auf solche, die Ottwalt gegen seine Genossen und Zeitgenossen verfasste.16 Das von Gustav Regler erwähnte Manuskript eines »Entwicklungsromans« stammt von Gustav Brand, einem Arbeiterschriftsteller, der seit 1926 in der UdSSR lebte und 1936, schon vor der Parteiversammlung, verhaftet wurde (»weiteres Schicksal unbekannt«17). In der Sitzung äußert sich Hans Günther zum »Fall Brand«:

Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945 – 1961), Bd. I, Amsterdam – Atlanta 2001 (=Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 2001, 50/1), 139 – 154. 15 G. Luk‚cs, J. R. Becher, F. Wolf u. a.: Die Säuberung, 246 – 251. 16 Vgl. ebd., 68; der Brief Ernst Ottwalts an die Kaderabteilung des EKKI vom 24. 7. 1936 über Zensl Mühsam, außerdem Willi Bredels Bericht an die Kaderabteilung der Komintern vom November 1936, beide abgedruckt in europäische ideen, 79 (1992), 3 – 10; im selben Heft Reinhard Müllers »Anmerkung zu Ottwalt und Bredel« (11 f). 17 G. Luk‚cs, J. R. Becher, F. Wolf u. a.: Die Säuberung, 89. Auf der Parteiversammlung sagte Hugo Huppert: »Brand ist zum Glück nicht mehr unter uns« (Ebd., 212).

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Ich habe das Manuskript gelesen und bin zu der Meinung gekommen, daß es sehr schwere trotzkistische Fehler enthalte […] und konkret aufgezeigt, in welchen Kapiteln dieser Trotzkismus wirklich besteht […]. Niemals kann ich sagen, daß ich nicht wachsam gewesen sei […]. Der Roman wird als eine Art Bekenntnis eines Trotzkisten, der zur Partei zurückführen wollte, betrachtet. Deshalb, und niemand hat an der Ehrlichkeit dieses Wollens gezweifelt, wurde eine Kommission eingesetzt, die mit Brand sprechen sollte und die versuchen sollte, ihn zu einer Umarbeitung zu bringen. […] Ich habe Brand überführt […].18

Günther (im November 1936 verhaftet, 1938 in einem Lager bei Wladiwostok gestorben) liefert nicht nur eine umfassende Selbstrechtfertigung, die ihn schützen soll vor den Anschuldigungen, die gegen Brand gerichtet sind, sondern schafft in seinen Ausführungen auch ein bedrohliches Amalgam aus Trotzki und Joyce. Die »Nachahmung von Joyce« hat irgendwie zu tun mit den »defekten Abirrungen« des »Trotzkismus«. Günther oder Ottwalt versuchen sich (vergeblich) gegen eine Art von Infektion zu wehren, denn sie hatten Kontakt mit solchen, die ins Räderwerk der Stalinschen Maschinerie geraten waren oder die im westlichen Exil waren, aber in Moskau zu Parteifeinden erklärt worden waren.19 In einem Brief an Willi Bredel wehrt sich Ottwalt: Was ziehst Du für Folgerungen aus diesem Brief über meine Haltung? Du weißt ja selbst, wie erbittert ich mich in Berlin gegen Bundesgenossenschaften gewehrt habe, die keine sind. Soll das immer so weiter gehen, daß ich für Dinge verantwortlich gemacht werde, die Brecht tut? Oder gar Brentano? Ich bin gerne bereit, Dir meine gesamte Korrespondenz mit Brentano – und auch mit Kläber, und auch mit Kläber! – vorzulegen, damit Du Dich zum tausendstenmal überzeugen kannst, daß ich selbständig zu denken und zu handeln pflege. Ich hatte, als ich emigrierte, vermisst, dass eine zentrale Leitung aufpasst, dass in der Emigration keine Dummheiten geschehen.20

Die wenigen Beispiele sollen hier genügen. Johannes R. Becher schreibt im März 1936 an Karl Schmückle: »Nein, es fällt einem gar nicht ein, hier eine Feder zu rühren, wenn man weiß, dass, wer sie ergreift, durch sie umkommt«.21 Wachen Zeitgenossen im westlichen Exil bleibt nicht verschlossen, was sich in Moskau abspielt. Walter Benjamin protokolliert seine Gespräche mit Brecht (Svendborg, Juli 1938): Wir kamen auf die russische Literaturpolitik »Mit diesen Leuten«, sagte ich, mit Beziehung auf Luk‚cs, Gabor, Kurella, »ist eben kein Staat zu machen«. Brecht: »Oder nur 18 Ebd., 89 – 91. Reinhard Müller merkt an: »Mit seinem ›politischen Riecher‹ hat Hugo Huppert offensichtlich beim NKWD auch eine Meldung über Brand gemacht« (Ebd., 211). 19 Auf der Parteiversammlung sagt Luk‚cs, es gehe um »[…] die Liquidation der Schädlinge, und wer verantwortlich ist, daß diese Schädlinge hier gearbeitet haben« (Ebd., 196). 20 Willi Bredel an Ernst Ottwalt, 17. 8. 1933, (RGALI, Moskau). 21 Zit. nach I. Antonova, J. Merkert (Hg.): Berlin – Moskau 1900 – 1950, 378.

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ein Staat, aber kein Gemeinwesen. Es sind eben Feinde der Produktion. Die Produktion ist ihnen nicht geheuer. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist das Unvorhersehbare. Man weiß nie, was bei ihr herauskommt. Und sie selber wollen nicht produzieren. Sie wollen den Apparatschik spielen und die Kontrolle der anderen haben. Jede ihrer Kritiken enthält eine Drohung«. »Brecht liest mir mehrere polemische Auseinandersetzungen mit Luk‚cs vor, Studien zu einem Aufsatze, den er im WORT veröffentlichen soll. Es sind getarnte, aber vehemente Angriffe […] Brecht: »Eigentlich habe ich dort keine Freunde. Und die Moskauer haben auch keine – wie die Toten.«22

Die Schreibhindernisse in den Jahren um 1936 waren verbunden mit der politischen Aufgabe, den Kampf gegen den Nationalsozialismus zu organisieren. Jede Kritik an Stalin, jede Verweigerung von literarischen Pflichten im Dienste der Tagespolitik, aber auch jede Nachlässigkeit in literaturpolitischen Aktivitäten konnte als Subversion interpretiert werden. Wem ›trotzkistische Positionen‹ nachgesagt wurden, war verdächtig, die ›deutschen Faschisten‹ zu unterstützen. Kritik an Stalin implizierte eine Schwächung der sogenannten antifaschistischen Front, sie war Wasser auf die Mühlen des Feindes. Auch hier lassen sich Belege finden, weil die Nazis umgehend Andr¦ Gides kritischen Russlandreisebericht, Retour de l’URSS (1936), abdruckten oder Berichte ehemaliger Kommunisten, die sowjetischen Straflagern entkommen waren.23 Walter Benjamin schrieb im Dezember 1936 in Sachen Gide an Margarete Steffin in Moskau: Während meiner Abwesenheit ist das Buch von Gide […] erschienen. Erschienen nicht nur in Buchform, sondern in zahllosen Auszügen in der Presse der Faschisten verbreitet. Gelesen habe ich es noch nicht […]. Was mich betrifft, so missbillige ich das Buch ohne es noch zu kennen. Ohne auch zu wissen, ob was darinnen steht, zutrifft und ob es entscheidend ist. Indem ich das letztere unterstelle, kann ich doch keineswegs davon absehen, dass die Haltung des Mannes, der sich, zu diesem Zeitpunkt, auf den Weg macht, um mal nachzusehen, wie die Sache da eigentlich aussieht, eine Dupierung darstellt. […] Im übrigen könnte der exakte politische Zweck ja nur in einer trotzkistischen Linie liegen […].24

Verlangt wurde aber nicht nur (strategisches) Schweigen, sondern auch revolutionäre Wachsamkeit, die Bereitschaft zur Meldung, zum Spitzelbericht, zur Denunziation.25 Der Kommunist oder der kommunistische Sympathisant war 22 Walter Benjamin: »Tagebuchnotizen 1938«, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. VI, Frankfurt/Main 1985, 532 – 539, 537. 23 Vgl. Michael Rohrwasser : Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991, l01 – 104. 24 Walter Benjamin an Margarete Steffin, 12. 12. 1936, in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, 6 Bde., Bd. V, Frankfurt/Main 1995 – 2000, 438 f. 25 Reinhard Müller: »Volksfeind und Doppelzüngler. Verschwörungssyndrome und Wach-

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verpflichtet, seine Wachsamkeit unter Beweis zu stellen, er musste den Feind, der sich in die eigenen Reihen geschlichen hatte, entlarven, ihm die Maske vom Gesicht reißen, wollte er nicht der Sabotage bezichtigt werden. Ganz neu war diese Technik der Aufforderung zur Denunziation nicht, wir kennen sie bereits aus den Praktiken der spanischen Inquisition im 16. Jahrhundert, und Georg Büchner lässt seinen Robespierre erklären: »Wer in diesem Augenblick zittert, ist schuldig; denn nie zittert die Unschuld vor der öffentlichen Wachsamkeit« (II/7). Karl Schlögel über die Situation der Emigranten in Moskau: »Sie denunzierten andere, die wiederum andere denunzierten, und produzierten so das Gespenst der globalen Verschwörung, das Stalin und Jeshow so dringend brauchten, um das Land in Angst zusammenschweißen zu können«.26 Beides, die Bereitschaft zum Schweigen und die Bereitschaft zum Schreiben, nämlich Verdächtiges zu melden, Dossiers über die Verdächtigen anzulegen, sind im Kreis der Moskauer Emigranten dokumentiert. Wer nicht in Moskau war und daher nicht schwieg, wie es beispielsweise Gide in seinem Russlandreisebericht von 1936 tat (mit einer sehr zurückhaltenden Kritik am Stalinschen Personenkult), wurde zum Feind ernannt. Diejenigen, die mit Gide Kontakt gehabt und ihn damals gefeiert hatten, wie Alfred Kurella, waren nun in Moskau gezwungen, auf Distanz zu gehen und den französischen Autor zu attackieren. Kurella, der sich schon zuvor als Unterstützer eines Romanmanuskripts des Ungarn Ervin Sinko, das in Moskau bald darauf als parteischädigend erklärt wurde, missliebig gemacht hatte27, war durch die Verhaftung seines Bruders Heinrich, der als Agent des britischen Geheimdiensts angeklagt worden war, besonders gefährdet. Er wurde in der Moskauer Presse zum schärfsten Kritiker Gides, den er zum Trotzkisten erklärte,28 und zudem versuchte er sich als »Großinquisitor« (Hans Mayer) zu retten.29 Hans Mayer benutzt dieses Wort und deutet damit eine Mitarbeit Kurellas in einem der sowjetischen Apparate an:

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samkeitsparanoia«, in: John Pattillo-Hess, Mario R. Smole (Hg.): Faschismus & Kommunismus. Die Eingeweide des 20. Jahrhunderts, Wien 2000 (=Beiträge zum 12. Canetti-Symposion, Sept./Okt. 1999), 18 – 25. Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008. Ervin Sinko: Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch, Köln 1962, 133 ff. Vgl. Hans Albert Walter : Deutsche Exilliteratur 1933 – 1950. Band 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis, Stuttgart 1984, 212 ff. Vgl. D. Pike: Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933 – 1945, 232 f. Kurella hat 1947 in seinen Erinnerungen das eigene Überleben als Beweis für die Rechtmäßigkeit des stalinistischen Terrors verstanden – dieser Logik zufolge müsste er damals seinen Bruder, der 1940 in einem sibirischen Lager ums Leben kam, für schuldig gehalten haben (Alfred Kurella: Ich lebe in Moskau, Berlin 1947, 110). Hans Mayer: Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt/Main 1991, 206. Erich Loest ernennt Kurella zum »Scharfrichter der Revolution« (Erich Loest, Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf, Hamburg 1981, 282). Zu Kurella vgl. auch M. Rohrwasser : Der Stalinismus, 157 – 159.

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»Johannes R. Becher haßte und fürchtete den Mann; auch er kannte vermutlich dessen besondere Funktionen«.30 Wer von den deutschsprachigen Emigranten als NKWD-Mitarbeiter tätig gewesen war, lässt sich auch heute nur schwer feststellen. Spitzelberichte, Meldungen, Dossiers über den literarischen Nachbarn finden sich freilich bei vielen. Bei manchen treten sie an die Stelle der literarischen Produktion. Ernst Fischer hat in Moskau der Literatur entsagt, er schreibt Dossiers über seine Mitstreiter und flieht in Studien der Physik und Biologie. Seine Bücher beginnen zu schrumpfen: Nach dem Hitler-Stalin-Pakt lässt er in seiner Studie über die »Rassentheorie« folgsam das Kapitel zur Judenfrage fallen, und nach dem Kriegsbeginn strich er dann im Kontext der Zusammenarbeit von Sowjets und US-Alliierten ein weiteres Kapitel, diesmal das zur »Negerfrage«.31

II. Bertolt Brecht gehörte zu den westlichen Emigranten, aber er ist im Blick auf die Schreibstörungen nicht so weit entfernt von jenem Moskauer Kreis der Verschwiegenen,32 die ihre Erfahrungen im Exil nicht weitergaben. Zwar stieß ich in Moskauer Archiven auf einige Spuren Brechts, aber eines der merkwürdigsten Dokumente fand sich gewissermaßen vor der Haustüre, im Berliner BrechtArchiv, wo es schon seit drei Jahrzehnten verzeichnet war, ohne auf Beachtung gestoßen zu sein. Erdmut Wizisla, der Leiter des Archivs, hat mich darauf hingewiesen, und gemeinsam haben wir dann diesen Entwurf samt einem ›Moskauer‹ Brief Brechts in der Zeitschrift Sinn und Form abgedruckt und kommentiert.33 Ich greife zurück auf diesen gemeinsamen Kommentar und erweitere ihn um einige Aspekte. Brecht entwirft Ende 1938 oder Anfang 1939 einen Brief an Georgi Dimitroff in Moskau. Der Entwurf ist undatiert; man kann ihn lesen im Kontext von 30 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. II, Frankfurt/Main 1984, 130 f. 31 Einige Dossiers finden sich in G. Luk‚cs, J. R. Becher, F. Wolf u. a.: Die Säuberung, einige der von Ernst Fischer im Juni 1937 verfassten Meldungen über seine Mitemigranten, adressiert an die Kaderabteilung der Komintern, sind bei Karl Kröhnke versammelt (Ernst Fischer oder Die Kunst der Koexistenz, Frankfurt/Main 1994); andere in der Zeitschrift europäische ideen, etwa Heft 79 (1992) und Heft 86 (1994), oder in Reinhard Müllers Studien Die Akte Wehner – Moskau 1937 (Berlin 1993) und ders.: Menschenfalle Moskau. 32 Den Begriff verwendet Detlev Schöttker (D. Schöttker : »Exil als Vakuum«, 1152). 33 Michael Rohrwasser, Erdmut Wizisla: »Zwei unbekannte Briefe Brechts aus der Emigration«, in: Sinn und Form, 5 (1995), 672 – 677. In der Werkausgabe ohne Streichungen und Korrekturen (Bertolt Brecht: Briefe 2, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, bearbeitet von Günter Glaeser unter Mitarbeit von Wolfgang Jeske und Paul-Gerhard Wenzlaff, Frankfurt/Main 1998 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 29), 124 f); Typoskript im Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Nr. 1396/24.

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Brechts Bemühungen im Jahr 1937, über den Moskau-Reisenden Lion Feuchtwanger etwas von Carola Neher in Erfahrung zu bringen und Möglichkeiten ihrer Freilassung zu erkunden. Einen Anhaltspunkt für die Datierung liefern die oben zitierten Gespräche mit Walter Benjamin vom Sommer 1938, in denen wiederholt vom Schicksal der in der SU Inhaftierten die Rede ist, oder eine Journal-Notiz vom Januar 1939: Auch Kolzow verhaftet in Moskau. Meine letzte russische Verbindung mit drüben. Niemand weiß etwas von Tretjakow, der ›japanischer Spion‹ sein soll. Niemand etwas von der Neher, die in Prag im Auftrag ihres Mannes trotzkistische Geschäfte abgewickelt haben soll. Reich und Asja schreiben mir nie mehr, Grete bekommt keine Antwort mehr […]. Literatur und Kunst scheinen beschissen, die politische Theorie auf dem Hund […].34

Das Typoskript weist handschriftliche Umstellungen, Ergänzungen und verschiedenartige Streichungen auf. Wizisla, der sich wie kein anderer mit schriftlichen Dokumenten Brechts auskennt, war sich sicher, dass Brecht hier nicht diktiert, sondern den Brief selbst geschrieben hat. Die folgende Transkription kann nur in groben Zügen die Eigenart des schriftlichen Dokuments wiedergeben. An Georgi Dimitroff [Handschriftlicher Vermerk von Margarete Steffin über dem Briefanfang: »nicht abgeschickt«] werter genosse dimitroff, [gestrichen: da ich keine andere stelle weiss, an die ich mich wenden könnte] da ich durch meine schriftstellerischen arbeiten und auch durch persönliches auftreten als unerschütterlicher freund der Soviet Union bekannt bin, kommen jetzt mitunter an mich briefliche anfragen nach dem schicksal in der Union verhafteter oder nicht mehr brieflich erreichbarer deutscher. ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir eine stelle angeben könnten, an die ich diese anfragen weiterleiten kann. ich [gestrichen: treffe gelegentlich leute] höre mitunter von leuten, die aus der SU kommen und die dort verhaftet gewesen waren. sie geben samt und sonders, selbst wenn sie noch ressentiments der ausweisung wegen zeigen, zu, dass die untersuchungen korrekt und sauber geführt werden. so weit ich es beurteilen kann, ist das vertrauen in die proletarischen gerichte bei den antifaschistischen kämpfern ganz unerschüttert. jedoch wird es häufig als bedrückend empfunden, dass die angehörigen von inhaftierten behaupten, auf keinerlei fragen antwort erhalten zu können. [gestrichen: ich selber empfinde es mitunter als bedrückend] das kann nur daher kommen, dass diese leute nicht wissen, wohin sie ihre anfragen richten sollen und ihnen auch niemand hier das sagen kann. und so kommt es dann zu dem scheusslichen und von der bourgeoisen presse weidlich 34 Bertolt Brecht: Journale 1, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, KlausDetlef Müller, bearbeitet von Marianne Conrad und Werner Hecht unter Mitarbeit von Herta Ramthun, Frankfurt/Main 1994 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 26), 326 f.

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ausgenützten gerede vom »spurlosen verschwinden von menschen in der soviet union«, von den »geheimen kellern des lubjanka-gefängnisses«, von den »klagen greiser mütter, dass sie über das schicksal ihrer kinder nichts in erfahrung bringen können«, [dem ich] nichts entgegensetzen kann, was nicht als »angst, mich in der SU unbeliebt zu machen«, »um den heissen brei herumgehen«, »leute voller angst mit redensarten abspeisen« bezeichnet werden kann. natürlich handelt es sich dabei nicht darum, ob ich persönlich bedrückt bin oder nicht, es handelt sich darum [gestrichen: man wird allgemein verstehen, dass die SU nicht verpflichtet ist, ihre gerichtspraxis nach den vorurteilen kapitalistischer staaten zu führen. eine einfache auskunft darüber, ob ein verhafteter sich noch in untersuchungshaft befindet oder schon verurteilt ist, genügt vollständig. ich bin überzeugt, dass es sich politisch lohnen würde, eine stelle zu schaffen, welche diese auskünfte erteilt. sollte Ihnen dies nicht ratsam erscheinen, dann würde ich vorschlagen] da man (in einer situation, wo der erste proletarische staat der geschichte sich auf einen grossen verteidigungskrieg vorbereiten muss,) seinen feinden jede handhabe zur [gestrichen: verdächtigung] verbreitung von gerüchten über unhumanes verhalten aus der hand schlagen muss, sollte man einfach eine stelle schaffen, die auskünfte erteilt. diese auskünfte können ja mit leichtigkeit so gehalten werden, dass der so nötige kampf der SU gegen spionage und sabotage dadurch nicht gehemmt wird. sollten Sie der meinung sein, dass jede, auch die knappste auskunft diesen kampf schädigen würde, so würde es sich politisch lohnen, diese meinung durch geeignete beispiele zu belegen.

Auch wenn Brecht in diesem Briefentwurf keine Namen nennt und sich als politischer Beobachter und Sympathisant des sowjetischen Staates präsentiert, kann man den Text wohl als einen Versuch verstehen, seinen Freunden, Mitarbeitern und Bekannten zu helfen, die in Stalinschen Gefängnissen und Lagern verschwunden waren. Die Verhaftungen und Internierungen von deutschen Emigranten in der UdSSR, von denen der Brief spricht, begannen im größeren Umfang erst 1936. Ihren Höhepunkt erreichten sie im darauffolgenden Jahr. Etwa 70 Prozent der deutschsprachigen Emigranten wurden damals verhaftet, der Schatten der ›Säuberungen‹ prägte 1937 den Alltag aller Sowjetbürger und auch den der deutschen Emigranten. In Zusammenhang mit den sogenannten Schauprozessen wurden diese Verhaftungen auch zu einem zentralen Thema in der deutschen Exilpresse und bewirkten eine Polarisierung unter den Exilierten aus Deutschland und Österreich. Zu den Verhafteten, Verurteilten und Vermissten aus Brechts unmittelbarer Umgebung zählten neben Carola Neher Sergej Tretjakow, Michail Kolzow, Wsewolod Meyerhold, Hermann Borchardt, Alexander Granach, Asja Lacis, Maria Osten, Ernst Ottwalt und Bernhard Reich. Im Briefentwurf kommen die Verhaftungswellen jedoch nicht direkt zur Sprache. Brecht schreibt von wieder entlassenen und ausgewiesenen »leuten« – das signalisiert, dass er das Wort ›Genosse‹ vermeiden will, und jene ausklammert, die schon exekutiert oder in den Lagern bereits ums Leben gekommen

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waren. Er schreibt von den Entlassenen, dass sie »samt und sonders [zugeben], dass die untersuchungen korrekt und sauber geführt werden«. Brecht weiß, dass das nicht den Tatsachen entsprach, es geht ihm offensichtlich um eine taktische Verharmlosung, die seinem Ansinnen entgegenkommt. Es ist der hilflose Versuch, eine diplomatische Formel zu finden, die »Rechtsstaatlichkeit« signalisierte. Brecht erwähnt die Kampagnen der »bourgeoisen presse«. Das muss keine diplomatische Floskel gewesen sein: In einem Brief an Bernard von Brentano von Anfang Februar 1937 zweifelt er beispielsweise an der Wahrheit der Nachricht von der Verhaftung Ernst Ottwalts, weil diese Information »anscheinend nur aus bürgerlichen Blättern« stammt.35 Brecht wollte »Authentisches« abwarten. Das ist eines von vielen Indizien, die davon zeugen, dass Brecht Hilfskonstruktionen entwarf, die ihn vor dem Faktum des blinden Terrors, der nicht mehr auf ›Oppositionelle‹ oder ›Parteifeinde‹ zielte, schützen sollten. Auch im Fall Neher greift er zu einer hilflosen Erklärung. An Feuchtwanger schrieb er im Mai 1937: »Übrigens: könnten Sie etwas für die Neher tun, die in M[oskau] sitzen soll, ich weiß allerdings nicht weswegen, aber ich halte sie nicht gerade für eine den Bestand der Union entscheidend gefährdende Person. Vielleicht ist sie durch irgendeine Frauengeschichte in was hineingeschlittert. Immerhin ist sie kein wertloser Mensch«.36 Die (wieder gestrichene) beklemmende Wendung, »dass die SU nicht verpflichtet ist, ihre gerichtspraxis nach den vorurteilen kapitalistischer staaten zu führen«, kann nicht als direkte politische Stellungnahme gewertet werden, da sie dem Zweck des Schreibens geschuldet ist. Doch greift man gewiss zu kurz, wenn man Brechts gewundene Sprache mit ihrem an Devotheit grenzenden Ton nur auf die Wirkungsabsicht zurückzuführen sucht: In ihr verbirgt sich auch die Unentschiedenheit der eigenen Position, die trotz aller düsteren Nachrichten aus der UdSSR den Glauben an das ›antifaschistische Bollwerk‹ nicht aufgeben wollte. Diese Unentschiedenheit prägt Brechts Sprache auch dort, wo er keine Rücksichten auf eine misstrauische oder feindselige Öffentlichkeit nehmen musste, etwa in den Gesprächen mit Walter Benjamin oder in seinem Journal. Sie bestimmt auch das Gedicht Ist das Volk unfehlbar?, das Brecht auf die Nachricht von der Erschießung Sergej Tretjakows schrieb. Die Verse lassen die Frage nach einer Schuld offen (»Gesetzt, er ist unschuldig?«); sie bleiben unpubliziert, und noch der Name Tretjakow ist auf dem Typoskript des Gedichts wieder gestrichen.37 35 Bertolt Brecht: Briefe, hg. und komment. von Günter Glaeser, Frankfurt/Main 1981, 302 f. Walter Benjamin: »Als ich mich neulich erkundigte, ob Ottwalt noch sitzt, kam die Antwort: ›Wenn der noch sitzen kann, sitzt er‹« (W. Benjamin: »Tagebuchnotizen 1938«, 535). Ottwalt hatte mit Brecht das Drehbuch für den Film Kuhle Wampe (1932) geschrieben. 36 B. Brecht: Briefe, 326. 37 Bertolt Brecht: »Ist das Volk unfehlbar?«, in: ders.: Gedichte 4, hg. von Werner Hecht, Jan

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Warum misslang Brechts Schreibversuch, warum wurde der Brief nicht abgeschickt? Fiel er der Selbstzensur des »Politikfunktionärs« zum Opfer, stellte er einen Akt des Probehandelns dar, oder vermutete Brecht, dass der Brief, der kaum als öffentlicher Protest interpretiert werden kann, wirkungslos geblieben wäre? Fürchtete er Folgen – für sich oder für die Inhaftierten, deren Lage sich durch die Fürsprache eines als Trotzkist verdächtigten Autors kaum bessern würde? Oder war ihm bewusst, dass sein Schreiben im Zuge der Bearbeitung an Überzeugungskraft verlor? Man mag sich erinnern, dass die meisten Kommentare Brechts zum Stalinschen System »Schubladentexte« sind, die nicht zu Brechts Lebzeiten veröffentlicht wurden. Charakteristisch sind die Streichungen und Verbesserungsversuche, die von der Not des Briefeschreibers zeugen. So distanziert sich Brecht beispielsweise vom Faktum der Verhaftungen, indem er die Mitteilung, dass er »leute« getroffen habe, die in der Sowjetunion verhaftet worden waren, wieder streicht und statt dessen einfügt, dass er mitunter von in der SU Verhafteten »höre«. Dass er sich allein auf solche »leute« beruft, »die aus der SU kommen«, also überlebt haben, nimmt der Anfrage ihre Schärfe, denn nur wenige, wie beispielsweise Alexander Granach, konnten den Stalinschen Gefängnissen entkommen. Auch die Aussage, dass Angehörige von Inhaftierten auf keinerlei Fragen Antwort bekommen, wird durch das handschriftlich ergänzte »behaupten« bis in ihr Gegenteil entstellt. Die Korrekturen geben dem Briefentwurf den Status eines hilflosen, letztlich zum Scheitern verdammten Versuchs, dem Stalinismus seine Schärfe zu nehmen, ohne doch seine Existenz eingestehen zu dürfen. Der diplomatische Ton, der die Rechtmäßigkeit des Vorgehens der sowjetischen Behörden unterstreicht, hat auch andernorts zu Absicherungsklauseln geführt, etwa bei der Erkundigung nach Carola Neher im Brief an Feuchtwanger vom Juni 1937: »Bei den sehr berechtigten Aktionen, die man den Goebbelsschen Organisationen in der UdSSR entgegensetzt, kann natürlich auch einmal ein Fehlgriff passieren«.38 Man kann dennoch vermuten, dass Brechts Absicht darin bestand, unter dem Vorwand, der ›bourgeoisen Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, bearbeitet von Jan Knopf und Brigitte Bergheim unter Mitarbeit von Annette Ahlborn, Günter Berg und Michael Duchardt, Frankfurt/Main 1993 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 14), 435 f. (die Streichung ist in der Werkausgabe nicht verzeichnet; vgl. Typoskript im Bertolt-Brecht-Archiv, Berlin, Nr. 99/ 42). 38 In seinem zweiten Brief an Feuchtwanger in Sachen Neher, vom Juni 1937, wiederholt er seine Bitte und verweist zur eigenen Rechtfertigung auf Gorki, der »seinerzeit für Künstler und Wissenschaftler mitunter intervenierte«. Er schließt in diesem Brief nicht aus, dass Neher »sich tatsächlich an hochverräterischen Umtrieben beteiligt hat« – wenn dem so sei, »kann man ihr nicht helfen. Und er fügt hinzu, dass er seine Bitte »ganz vertraulich« behandelt sehen möchte, »da ich weder ein Mißtrauen gegen die Praxis der Union säen noch irgendwelchen Leuten Gelegenheit geben will, solches zu behaupten« (B. Brecht: Briefe, 326). Die Herausgeber merken an, dass dieser Brief vermutlich nicht abgeschickt worden sei (B. Brecht: Briefe, 992 f).

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Hetze‹ gegen die Sowjetunion ihren Stachel zu ziehen, Auskünfte und damit eine Hilfe für die in der Sowjetunion verschollenen Freunde zu provozieren. Der Briefentwurf, dessen gequälter Ton nicht zu überhören ist, signalisiert das strategische Unvermögen, auf das System des Stalinschen Terrorismus zu reagieren. Gewiss hat auch der Adressat mit dieser Schreibhemmung zu tun. Georgi Dimitroff war seit 1935 Generalsekretär der Komintern in Moskau und als solcher selbst beteiligt an dem Terror gegenüber den Emigranten. Karl Schlögel resümiert über dessen Tagebuch: »Es ist somit ein genauer Spiegel seiner Rolle als Akteur, Medium und Opfer der Repression«.39 Brecht hatte Dimitroff, den er persönlich nicht kannte, nach dem Reichstagsbrandprozess ein Gedicht gewidmet, in dem er die Stimme gegen den Diktator preist und Dimitroffs mutiges Auftreten unterstreicht (»Stellst Du immer aufs neue Deine gefürchteten Fragen / Beschuldigst die Schuldigen und / Bringst sie zum Schreien«)40. Doch im Briefentwurf scheint ein anderer angesprochen; auf das kritische Potential des Antifaschisten mag sich Brecht nicht mehr berufen (und auch von seinem Vorbild sich nicht inspirieren lassen). Genauer: Dimitroffs Name steht im Briefentwurf nur für eine unbekannte Instanz (»da ich keine andere Stelle weiss, an die ich mich wenden könnte«). Zudem gibt Brecht Unbeteiligtsein vor, er verbirgt sich jedenfalls als Absender und will nur als Vermittler fungieren (»ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir eine stelle angeben könnten, an die ich diese anfragen weiterleiten kann«). Dass der Kommunikationsversuch doppelt indirekt war, kann die Schreibschwierigkeiten nicht erklären, aber versinnbildlichen. Es handelt sich um einen Brief ohne Adressaten und ohne Absender. Ungestrichen, wenn auch nicht gesendet, blieb am Ende immerhin der Appell an den gesunden Menschenverstand, das Vernünftige – »sollte man einfach eine stelle schaffen, die auskünfte erteilt«. Es war das Einfache, das schwer zu machen war.

39 K. Schlögel: Terror und Traum, 507; vgl. Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933 – 1943, hg. von Bernhard H. Bayerlein, Berlin 2000 (die Parteiversammlung deutscher Schriftsteller vom September 1936 findet dort keine Erwähnung). 40 »Adresse an den Genossen Dimitroff, als er in Leipzig vor dem faschistischen Gerichtshof kämpfte« (Bertolt Brecht, Hanns Eisler : »Lieder Gedichte Chöre« (1934), in: Bertolt Brecht: Gedichte 1, hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, bearbeitet von Jan Knopf und Gabriele Knopf, Frankfurt/Main 1988 (Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11, 229 f., 229). Vgl. auch Brechts Gedicht »Als der Genosse Dimitroff vor Gericht stand« (1934): »Seine Lehrer erzitterten vor jeder Frage / Eines solchen Schülers« (B. Brecht: Gedichte 4, 235).

Schreibstörungen

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Reisen, um zu schreiben. Überlegungen zu einer geläufigen literarischen Praxis nebst drei Beispielen: Kasimir Edschmid, Wolfgang Koeppen, Felicitas Hoppe

Inspirationssuche gehört zu den bekanntesten Reisemotiven von Künstlern. Wie viele Schriftsteller, Maler, Komponisten sind nicht schon durch die Welt gefahren und haben wie Goethe eine Italienische Reise, wie August Macke Tunesien-Aquarelle oder wie Felix Mendelssohn-Bartholdy eine Italienische und eine Schottische Symphonie mit nach Hause gebracht! Die Reihe der illustren Namen ließe sich leicht verlängern, denn fast alle Künstlerbiographien der letzten 200 Jahre enthalten mindestens ein Kapitel, in dem von einer lebens- oder kunstentscheidenden Reise die Rede ist. Nun gibt es keinen Grund, die inspirierende Kraft des Reisens als bloßen Mythos oder als Erfindung der Tourismusindustrie zu denunzieren. Reisende erleben ja immer wieder neu, dass sich unterwegs eine außerordentliche Wahrnehmungsintensität entwickeln kann, dass sich Gefühle regen, die im Alltagsgeschehen kaum zu Wort kommen, dass zuweilen sogar die Hoffnung aufkeimt, das Leben könnte frei, schön und unbeschwert sein. Auch ließen sich zahllose literarische Zeugnisse herbeizitieren, die dieses Reiseglück zum Ausdruck bringen, doch mag hier ein einziges Beispiel genügen, Hugo von Hofmannsthals Reiselied, das zart und schwebend dahinfliegt und schon verklungen ist, bevor man es noch recht verstanden hat: Wasser stürzt, uns zu verschlingen, Rollt der Fels, uns zu erschlagen, Kommen schon auf starken Schwingen Vögel her, uns fortzutragen. Aber unten liegt ein Land, Früchte spiegelnd ohne Ende In den alterslosen Seen.

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Marmorstirn und Brunnenrand Steigt aus blumigem Gelände Und die leichten Winde wehen.1

So also wird eine Reiseerfahrung zum Gedicht, dem jedoch nicht nur ein Glücksgefühl anzumerken ist, sondern auch die Beschäftigung des Verfassers mit Goethes Lyrik, insbesondere mit den berühmten Versen der Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahren: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?«2 Hofmannsthals Reiselied ist eine mit leichter Hand hingeworfene Variation über Goethes Gedicht, was sich am deutlichsten an der Zeile »Rollt der Fels, uns zu erschlagen« erkennen lässt, deren Vorform bei Goethe heißt: »Es stürzt der Fels und über ihn die Flut«.3 Damit ist das eigentliche Thema dieses Aufsatzes erreicht: Die Verwandlung von Reiseerlebnissen in Kunstwerke. Sie wird in vielen Künstlerbiographien als ein recht einfacher Vorgang dargestellt. Ein Dichter fährt los, erlebt etwas, was dann in einem Text seinen Niederschlag findet, wie gerne gesagt wird. Wenn nur das Reiseerleben intensiv genug war, dann singt und dichtet es im Künstler gleichsam wie von selbst. Diese Mühelosigkeit der Produktion gehört sozusagen zu den Wunschbildern des literarischen Reisens – als ob dem Dichter unterwegs alles von leichten Winden zugetragen würde. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass es ganz so einfach nicht ist. Denn auch das Schreiben über die Reise folgt Gestaltungsprinzipien, die sich nicht unmittelbar aus den Lebensumständen ergeben, sondern aus den Besonderheiten des Schreibprozesses. Wer sich aber mit diesen befasst, muss das biographische Interesse am Reiseerlebnis dieses oder jenes Dichters ergänzen durch eine detaillierte Aufmerksamkeit für die Texte, die dieses Erlebnis ja nicht einfach nur überliefern, sondern es formen und gestalten. Wie dies geschehen kann, soll nun an drei sehr unterschiedlichen Beispielen dargestellt werden.

1.

Der erfundene Reporter

Im Jahr 1930 fuhr der deutsche Schriftsteller Kasimir Edschmid nach Lateinamerika. Er begann seine lange Reise in der Karibik, durchquerte dann Venezuela, Panama, Kolumbien und Ecuador, bewegte sich die Westküste hinunter – Peru, Bolivien, Chile – um dann Argentinien und schließlich noch Brasilien zu besuchen. Dies jedenfalls ist die Reiseroute, die Edschmid in dem Buch be1 Hugo von Hofmannsthal: Gedichte und kleine Dramen, Frankfurt/Main 1973, 11. 2 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. von Ernst Beutler, Zürich, Stuttgart 1977 (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Bd. 7), 155. 3 Ebd.

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schrieb, das er bald nach seiner Rückkehr veröffentlicht hat: Glanz und Elend Süd-Amerikas. Roman eines Erdteils, erstmals erschienen 1931.4 Diese umfassende Darstellung einer weiten Reise verfolgt vor allem den Anspruch der sachlichen Welterschließung, d. h. sie enthält eine Fülle recherchierter Informationen. So wird etwa berichtet, dass der Tagesverdienst einer Hut-Flechterin in Ecuador einen Sucre beträgt, und der Erzähler vergisst nicht hinzuzufügen, dass dies ungefähr dem Gegenwert einer Mark entspricht; er interessiert sich auch für die Arbeitsbedingungen in den bolivianischen Bergwerken und liefert Fakten und Zahlen über Brasiliens Kautschuk-Produktion. Außerdem berichtet das Buch – ganz im Sinne der probaten Titel-Antithese Glanz und Elend – von Reichtum und Eleganz der Führungsschichten und von Revolutionsstimmungen bei den Armen. Als Höhepunkt der journalistischen Recherche präsentiert der Autor schließlich ein Exklusiv-Interview, das ihm Augusto Legu†a, der damalige peruanische Diktator, gewährt hat. Dieser Faktenreichtum eröffnet heutigen Lesern die Möglichkeit, Glanz und Elend Süd-Amerikas wie eine historische Quelle zu verwenden. Wer sich für die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte Lateinamerikas interessiert, wird in Edschmids Buch aufschlussreiches Material finden. Und wer sich mit der Mentalität europäischer Reisender der Zwischenkriegszeit beschäftigt, kann zum Beispiel darüber nachdenken, dass der Lateinamerika-Fahrer des Jahres 1930 zwei Deutungsmuster der europäischen (Populär)-Geographie immer wieder bestätigt sieht: Im Sinne der Klima-Theorie führt er alle Stärken und Schwächen eines Landes auf das dort vorherrschende Wetter zurück, und im Geist der Rassenlehre – die vor 1933 nicht nur bei Nationalsozialisten ihre Anhänger hatte – schreibt er vor allem den Rassenmischungen weitreichende (und zwar meist verderbliche) Wirkungen zu. So lehrreich derartige kultur- und mentalitätsgeschichtliche Studien auch sein mögen, so wenig können sie doch genügen, wenn von Konstellationen des Schreibens die Rede ist. Denn in diesem Zusammenhang ist ja nicht nur zu fragen, was alles beschrieben worden ist, sondern auch und vor allem, welche Form die Reise-Erfahrung im fertigen Text findet. Denn nur dadurch wird man der Arbeit eines Schriftstellers gerecht. Auch Kasimir Edschmid ist nicht nur in der Welt unterwegs gewesen, um Fakten zu recherchieren und Informationen einzusammeln. Wie alle Reiseschriftsteller, die diesen Namen verdienen, reiste er, um zu schreiben, was im Fall seines Lateinamerika-Romans bedeutet: Edschmid nutzte die Eindrücke und Erlebnisse seiner weiten Reise zur Herstellung eines Buches mit deklariertem literarischem Anspruch. Zur Verwirklichung dieses Anspruchs traf Edschmid eine wichtige Ent4 Kasimir Edschmid: Glanz und Elend Süd-Amerikas. Roman eines Erdteils, Frankfurt/Main 1931.

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scheidung, die nicht von seiner Reise, sondern von der Schreibpraxis beeinflusst worden ist: Während er in den zwanziger Jahren einige Reportagen in Ich- oder Wir-Form veröffentlicht hatte,5 war er nun bestrebt, den Roman eines Erdteils zu schreiben. Zu diesem Zweck berichtete er nicht mehr in eigenem Namen, sondern schrieb alle Eindrücke und Erfahrungen einem fiktiven Reisenden namens Göhrs zu. Es heißt im Text also nie: »Ich sah, dass…«, sondern etwa: »Göhrs sah, daß vieles, was er mit dem ersten Blick für Ernst genommen hatte, beim zweiten Blick ein wenig Fassade war.«6 Gewiss ist diese Einführung einer Kunstfigur selbst ein wenig Fassade, denn es kann – und soll! – eigentlich kein sinnvoller Zweifel daran bestehen, dass dieser Herr Göhrs ein Alter Ego seines Erfinders Edschmid ist. Und doch darf man – wo es um die Besonderheiten des Schreibens geht – solche Fassaden nicht leichtfertig abräumen. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein Autor in erster oder in dritter Person Singular berichtet. Welche Folgen die Wahl einer Kunstfigur hat, zeigt sich dem Leser von Glanz und Elend Süd-Amerikas zum Beispiel darin, dass Göhrs als durchweg positive Person konzipiert worden ist: Er ist umfassend informiert, zugleich immer bereit, Neues zu erfahren, er kommt leicht mit Menschen ins Gespräch, weiß aber dabei das Glaubwürdige vom Irreführenden zu unterscheiden. Überdies zeigt sich dieser Göhrs auch entschlossen, liebgewordenes Buchwissen über Bord zu werfen, sobald es von der Wirklichkeit revidiert wird. Beispielsweise entgeht ihm nicht, dass die Indianer, denen er begegnet, mit den heroischen Häuptlingsfiguren seiner Jugendlektüren nicht das Geringste gemein haben. Für einen Reisenden des Typus Göhrs ergibt sich aus dieser Diskrepanz die Verpflichtung, von falschen literarischen Abbildern Abschied zu nehmen. Gemäß dem Reiseprogramm, das hier vertreten wird, soll die Wirklichkeit über die Bücher siegen, auch wenn das manchmal schwerfällt: Die indianischen Breitgesichter fingen nun an, ihm die Haare zu schneiden, ihm Obst zu verkaufen, ihm zu servieren und ihm die Stiefel zu putzen. Es dauerte aber doch eine Weile, eher er die falschen Indianer-Vorstellungen von Cooper und Karl May in sich erschlagen hatte. Er war nicht sentimental. Aber irgendwo tat es ihm anfangs leid, daß die heroischen Gestalten, die sich in seinem Bewußtsein vor die Wirklichkeit gedrängt hatten, ihn jetzt mit den Funktionen und Gesichtern wackerer Berufe ansahen.7

Schließlich kennt dieser ernsthaft-sachkundige Berichterstatter aber auch jenes Glück der reinen Bewegung, das eine Reise erst wirklich zu einer solchen macht. Am Ende des Buches besteigt Göhrs das holländische Schiff Zeelandia, das ihn 5 Unter anderem Kasimir Edschmid: Basken, Stiere, Araber. Ein Buch über Spanien und Marokko, Berlin 1927; ders.: Afrika nackt und angezogen, Frankfurt/Main 1929. 6 K. Edschmid, Glanz und Elend, 114. 7 Ebd., 115.

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wieder nach Europa bringen soll. Und die Bewegung dieses Schiffes in der Ungebundenheit des Ozeans beglückt den Reisenden außerordentlich: Die »Zeelandia« fuhr wirklich in den küstenlosen unbegrenzten Ozean hinein. Göhrs war glücklich. Er fuhr auf einem schneeweißen Schiff in die unbeschreiblich laue Wärme hinein, nach der er sich gesehnt hatte. Er fuhr in die geliebte Hitze hinein, die durch eine leichte Brise von der Afrikaseite brav in Schach gehalten wurde.8

Geographische und ökonomische Fakten könnte man immerhin auch auf anderen Wegen ermitteln, aber flüchtige Glücksgefühle wie jenes, das Göhrs während seiner Heimreise auf dem Schiff erlebt, sind den frei schweifend Reisenden vorbehalten (weshalb die Schilderung solcher Gefühle auch zu den kanonisch wiederkehrenden Elementen der Reiseliteratur gehört – sie beglaubigen gewissermaßen die Echtheit des Berichteten.) So wird Göhrs im Lauf des Buches also als umfassend weltkundiger und genussfähiger Reisender präsentiert. Hätte Kasimir Edschmid alle diese Qualitäten für sich selbst beansprucht, wäre das möglicherweise als angeberisch erschienen. Indem er sie aber an eine Kunstfigur delegiert, entwirft er das Idealporträt eines Reisenden – aber dass gerade er das Produkt einer Romanfiktion ist, gehört wesentlich zu dem Problem, von dem hier die Rede ist. An dieser Stelle liegt nun die Frage nahe, welche Transformationsprozesse die Reiseerfahrungen des Autors über sich ergehen lassen mussten, damit sie romantauglich werden konnten. Wer diese Frage ohne Spekulation beantworten wollte, müsste Vorstufen des Buches suchen, die eventuell noch in Ich-Form verfasst sind und sie dann mit dem fertigen Buchtext vergleichen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass solche unpublizierten Vorarbeiten existieren. Edschmids Nachlass, der im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegt, enthält eine Fülle von Notizbüchern, in die der Autor während seiner Reisen Beobachtungen, Informationen und Erkenntnisse eintrug. Mag sein, dass sich dort auch lateinamerikanische Impressionen finden, die in Zeiten zurückreichen, in denen Göhrs noch Edschmid war. Und vielleicht macht sich ja ein Philologe einmal die Mühe, diese Notizen zu entziffern, die in kleiner, äußerst schwer zu lesender deutscher Schrift geschrieben sind. Zurzeit gibt es in der Literaturwissenschaft ja die Tendenz, das Archiv für bedeutsamer zu halten als die Bibliothek, sprich: das Fragmentarische, Vorläufige und Unveröffentlichte aufschlussreicher zu finden als das fertige, gedruckte Buch.9 Aber wie interessant solche philologischen Fassungsvergleiche auch immer sein mögen, man müsste sich dabei klar sein, damit nicht jedem Autor einen Gefallen zu tun. Im Sinne Kasimir Edschmids wäre es ganz gewiss nicht, wenn 8 Ebd., 473. 9 Vgl. als bedeutsamen Ausdruck dieser Tendenz die von Martin Stingelin herausgegebenen Schriftenreihe Zur Genealogie des Schreibens, München 2004 f.

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man etwa ein unveröffentlichtes Fragment fände und es gleichsam zur authentischen Urschrift des Romans Glanz und Elend Süd-Amerikas ernennen würde. Die echte, weil vom Autor autorisierte Version dieses Textes ist das gedruckte Buch und nichts anderes. Edschmid gehörte nicht zu den Autoren, die dem Publikum die Genese ihrer Werke in allen Schritten zur Kenntnis bringen wollen. Sein Werk besteht aus gedruckten Büchern, und deren Entstehungsbedingungen behandelte der Berufsschriftsteller wie Betriebsgeheimnisse. Er verriet seinen Lesern nicht einmal, warum er seinem Reisenden gerade den Namen Göhrs gegeben hat. Aber was die Autoren verschweigen, plaudern später die Biographen aus, und so ist mittlerweile bekannt, dass Edschmid hier einer Jugendliebe die verborgene Reverenz erwiesen hat. Sie lebte in Straßburg im Elsass, war seine Kusine und er stand ihr in jungen Jahren sehr nahe. Ihr Name war Valentine Göhrs.10 Im Buch selbst wird der Grund für die Namenswahl niemals zum Thema gemacht, wie denn Edschmids Gesamtwerk kaum Reflexionen über den Schreibprozess selbst enthält. Die Entwicklung eines Gedankens, einer Erfahrung oder Idee bis zum fertigen Text hat Edschmid in seiner literarischen Arbeit vollzogen, aber so gut wie nie auf der Meta-Ebene öffentlich reflektiert. Allerdings hat er in sein Lateinamerika-Buch eine Episode aufgenommen, die beweist, dass ihm die Probleme des Schreibens sehr viel bewusster waren, als er üblicherweise zuzugeben geneigt war : Während eines Rittes in Peru begegnet Göhrs einem verwilderten Fußgänger ; die beiden kommen ins Gespräch, und der Mann berichtet, dass er unterwegs sei, um die Lügen der Reiseschriftsteller zu entlarven: »Sehen Sie, da ist zwischen Brasilien und Uruguay irgendwo ein Fluß. Jemand schrieb, er sei fünfzig Meter breit. Kein Mensch kann dem Mann nun sagen, daß er ein dummer Schwindler sei. Aber ich, der ich zu Fuß dort war, weiß, daß der Fluß nur zwanzig Meter breit ist. Ich weiß, er lügt.«11 Derartige Lügen lassen sich ja in der Tat noch recht einfach aufdecken und so berichtet der Wanderer noch von mehreren solcher Funde, bis Göhrs ihn schließlich fragt, was er mit seinem Wissen einmal anfangen möchte. »Ein Buch schreiben«, antwortet der Mann, der sich vorher allerdings als Analphabet vorgestellt hatte. Weiter in Edschmids Worten: Göhrs blieb einen Augenblick starr sitzen. »Sie können ja nicht schreiben.« »Ich habe ein gutes Gedächtnis.« Einen Augenblick wandte Göhrs die Augen ab. Dann traf er doch den Blick des Fußgängers. »Wenn Sie schreiben«, sagte er leise, »fürchte ich, daß Sie eines Tages auch anfangen müssen, zu lügen, SeÇor.« 10 Vgl. Hermann Schlösser : Kasimir Edschmid. Expressionist Reisender Romancier. Eine Werkbiographie, Bielefeld 2007, 21 ff. 11 K. Edschmid, Glanz und Elend, 196.

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»Nie im Leben«, sagte der Mann und legte seine Hand auf die Nüstern des Pferdes. »Schade, aber es ist so,« sagte Göhrs langsam. »Woher wollen Sie das wissen?« fragte der Fußgänger ärgerlich. Göhrs lächelte dunkel.12

Das ist eine rätselhafte Stelle. Ausgerechnet Göhrs, den wir vorhin als Inkarnation des wahrheitssuchenden Reisenden kennen gelernt haben, behauptet nun, dass alle Reisenden zu lügen beginnen, sobald sie ihre Erlebnisse aufschreiben? Was will uns Göhrs (oder sein Erfinder Edschmid) hier mitteilen? Will er sagen, dass ein Schriftsteller die Welt niemals so abschreibt, wie sie ist? Ist es ihm peinlich, dass er seine Erlebnisse immer auswählen, umformen und interpretieren muss? Oder gesteht er einfach nur ein, dass er selbst eine Erfindung ist, die dazu dienen soll, ein Bild von der Welt zu zeichnen, das eindrucksvoller und sinnfälliger ist als die diffuse Wirklichkeit? Wenn ja, dann begräbt Göhrs dieses Wissen in einem dunklen Lächeln. Wir aber wenden uns mit diesen Fragen im Sinn einem anderen Autor zu, der ebenfalls reiste, um zu schreiben, der aber sonst mit Kasimir Edschmid wenig gemein hat.

2.

Die reisende Romanfigur

Am 28. Februar 1988 flog Wolfgang Koeppen von Amsterdam nach Singapur. Dort bestieg er ein russisches Touristenschiff, das ihn über Bombay nach Akaba und Suez brachte. Der Schriftsteller, damals schon 82 Jahre alt, unternahm diese Kreuzfahrt nicht zur Erholung oder zum Vergnügen. Er hoffte vielmehr, dass ihn das Unterwegssein dazu inspirieren werde, einen neuen Roman zu schreiben. Sein Verleger Siegfried Unseld teilte die Hoffnung auf einen neuen Roman des alten Autors, weshalb er sämtliche Kosten für diese Kreuzfahrt übernahm, die Koeppens letzte große Reise werden sollte.13 Wie so viele reisende Autoren vor und nach ihm suchte Koeppen also nach jener produktiven Energie, die von einer Reisebewegung ausgelöst werden kann. Der Roman, den er zu schreiben gedachte, sollte entweder Das Schiff heißen oder Kein anderes Land, auch wurden Titel wie Die Traumreise oder gar (in gefährlicher Nähe zur berühmten Fernsehserie) Das Traumschiff erwogen. Aber wie dieser Roman auch immer geheißen hätte, er sollte jedenfalls von einem alten Schriftsteller berichten, der mit einem Touristendampfer von Singapur nach Akaba unterwegs ist. Unmittelbarer und einfacher lässt sich das Modell reisen, 12 Ebd. 13 Vgl. Walter Erhart: »Kommentar«, in: Wolfgang Koeppen: Reisen nach Frankreich und andere Reisen, hg. von Walter Erhart unter Mitarbeit von Anja Ebner und Arne Grafe, Frankfurt/Main 2008 (Werke, Bd. 10), 528 – 650, bes. 628 ff.

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um zu schreiben eigentlich gar nicht konzipieren. Und trotzdem (oder vielleicht auch gerade deshalb?) blieb die erwünschte Inspiration aus. Mag sein, dass Koeppen, der schon 1971 in einem Interview erklärt hatte, er »reise etwa wie eine Romanfigur«,14 seinen erhofften Roman unterwegs erlebt oder erträumt hat. Geschrieben hat er ihn jedenfalls nicht. Er hat lediglich Notizen während seiner Schiffsreise gemacht. Zum einen Teil schrieb er sie mit der Schreibmaschine, zum anderen mit der Hand auf bedruckte Blätter, auf denen das tägliche Unterhaltungsprogramm des Kreuzfahrtsschiffes MS Odessa bekannt gegeben wurde. Da diese Notizen das einzige sind, was Koeppen von seiner Reise mitbrachte, ist es legitim, dass sie nun in der neuen Koeppen-Werkausgabe wie ein eigenständiges Werk publiziert worden sind. Am 16. März 1988 notierte Koeppen zum Beispiel eine Meeresimpression, die sich von den begeisterten Glückserfahrungen des Seereisenden Göhrs deutlich durch den gedämpften Ton unterscheidet: Der Spiegelblick 16.3. Heute Vormittag im Arabischen Meer. See bewegt. Fast kalter Wind. Karten. Briefe. In dem grossen schönen Gold-Spiegel komme ich mir bedeutend vor. Sind[d]bad der Seefahrer. Die Leute werden freundlicher. Der Clown grüsst. Freund streichelt ihr den kurz geschorenen Kopf. Spät: Schiff sehr unruhig. Schaukelt. Wind. Himmel sternenlos dunkel.15

Der Clown, von dem hier die Rede ist, kommt noch in anderen Notizen vor. Er ist eigentlich eine sie, nämlich eine Mitreisende, die von Koeppen immer wieder aufmerksam beobachtet wird. Offensichtlich sah er in ihr ein Vorbild für eine Romanfigur, denn einmal notierte er : »Ich werde den Clown verfremden« –16 doch kam es dazu nicht, weil der Roman, in dem Koeppen eine Frau in einen Clown zu verwandeln gedachte, ungeschrieben blieb. Dass Romanprojekte scheitern, kommt immer wieder vor und muss nicht in jedem Fall zum Gegenstand literaturwissenschaftlichen Nachdenkens werden. Im Falle Koeppens hatte das Scheitern aber eine ausgeprägte Systematik, die einiger Aufmerksamkeit wert ist: In den fünfziger Jahren hat der Autor in rascher Folge drei Romane veröffentlicht, die bis heute zu den formal avancierten und sprachlich inspirierten Texten der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur gezählt werden: Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954). Danach aber enttäuschte der Autor sein Publikum hartnäckig, indem er zwar neue Romanprojekte ankündigte, auch einzelne Kapitel daraus 14 Im Gespräch mit Horst Krüger, in: Werner Koch (Hg.): Selbstanzeige. Schriftsteller im Gespräch, Frankfurt/Main 1971, 57 – 66, 64. 15 Wolfgang Koeppen: »Notizen [Schiffreise auf der MS Odessa]«, in: ders.: Reisen nach Frankreich und andere Reisen, 463 – 525, 494 f. 16 Ebd., 502.

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veröffentlichte und Titel bekannt gab – schließlich aber, bis zu seinem Tod im neunzigsten Lebensjahr 1996, keinen fertigen Roman mehr zustande brachte. Stattdessen veröffentlichte er brillant formulierte Reflexionen seines Unvermögens, Romane zu schreiben, und er verfasste außerdem eine Fülle von Literaturkritiken, Essays und Reiseberichten, die ihn allesamt als wortgenauen und bildmächtigen Prosaisten ausweisen. Er war lediglich nicht mehr bereit oder imstande, den ›großen Roman‹ zu liefern, den sein Verleger Siegfried Unseld und die literarische Öffentlichkeit von ihm erwarteten. Als er 1988 auch von seiner Kreuzfahrt ohne das angekündigte Buch zurückkehrte, bestätigte er also nur die alten Erwartungen seiner Leser, indem er sie erneut enttäuschte. Diese öffentlich inszenierte Romanverweigerung ist von Literaturkritik und -wissenschaft ausführlicher und tiefsinniger kommentiert worden als etwa die sechzehn handwerklich gediegenen, tadellos zu Ende gebrachten Romane Kasimir Edschmids.17 Aber das mag auch mit der bereits erwähnten Faszination zusammenhängen, die das Unfertige auf sekundärliterarisch Tätige ausübt – als ob sie sich nach Fragmenten sehnen würden, die erst durch ihre Arbeit zu einem Ganzen werden können. Dabei gibt es im Falle des Schiffprojekts keinen Grund, nur auf den nicht vorhandenen Roman zu starren, und über die Ursachen von dessen Abwesenheit zu spekulieren. Das Verfassen von Romanen ist ja keine heilige Autorenpflicht, wo schreiben doch auch bedeuten kann: die jeweils richtige Form für einen Text finden. Und in diesem Sinn des Wortes ist Koeppens Reise eben nicht unbeschrieben geblieben. Es existieren nicht nur die fragmentarischen Notizen, die der Autor unterwegs zu Papier brachte, sondern auch zwei fertige Texte, die er nach seiner Rückkehr geschrieben hat, und die sich vom Kontext des unausgeführten Romans emanzipierten und noch zu Koeppens Lebzeiten als in sich abgeschlossene Reiseberichte in Saison, dem Reisemagazin der Zeitschrift Geo, erschienen sind.18 Einer der beiden Texte soll nun etwas genauer angeschaut werden. Er trägt den Titel Ich kam nie nach Petra umfasst nicht mehr als 6 12 Druckseiten und berichtet, wie ein Ich-Erzähler auf einem Schiff von Singapur nach Akaba fährt. Die Ähnlichkeit zwischen diesem Erzähler und dem Autor des Textes drängt sich auf, und dennoch ist die Frage berechtigt, ob man das Ich des Textes ganz und gar mit der Autorperson identifizieren darf. Wie die Koeppen-Philologie immer wieder herausgearbeitet hat, sind die Texte dieses Autors eher Dokumente einer Ich-Suche denn einer Ich-Gewissheit. Oder, in den Worten von Bernhard Fetz:

17 Eine Bibliographie der wichtigsten Koeppen-Sekundärliteratur findet sich in Günter und Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen. Leben Werk Wirkung, Frankfurt/Main 2006, 138 – 146. 18 Vgl. Wolfgang Koeppen: »Ich kam nie nach Petra«, in: ders.: Reisen nach Frankreich und andere Reisen, 361 – 367 sowie »Sodom. Der magische Name«, in: ebd., 368 – 371.

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»Wenn er in sich hineinhorcht, dann hört der Schriftsteller mehrere Stimmen, wenn er sich fragt, wer das nun ist, der das alltägliche Leben führt, dann stößt er auf eine Figur, von der er nicht weiß, ob er sie kennt: ›Ich bin auf der Suche nach einer Romanfigur, die ich selbst bin.‹ [Zitat Koeppen, H.S.] Wolfgang Koeppens späte Prosa überführt diese Suche in Schrift.«19

Eine dieser Überführungen ist eben auch der kurze Bericht Ich kam nie nach Petra, der unbestreitbar von einem Erlebnis des Autors Koeppen berichtet, zugleich aber offenlässt, wer dieser Autor Koeppen eigentlich ist. Behält man diese Dialektik im Sinn, darf man wohl schon den Erzähler mit dem Autor ungefähr identifizieren. Doch werden von der Literaturwissenschaft ja noch andere Fragen an Reiseberichte gestellt, zum Beispiel die: Welches Verhältnis unterhält der schreibende Reisende zum Fremden, das ihm unterwegs begegnet? Gelingt es ihm, das Andersartige fremder Kulturen zu erfassen oder bleibt er in den Urteils- und Wahrnehmungsformen seines Herkommens befangen? Betrachten wir also den Anfang von Koeppens Text im Lichte dieser Fragen: Es schmolz Singapur wie Butter im Horizont. Das mächtige Schiff schlich aus dem Hafen. Man hatte mich um die Stadt betrogen, meine Koffer am Flugplatz in einen Omnibus geworfen, mich hinterher. So hätte man einen Blinden betreut. Ein Mädchen in Uniform belehrte uns, daß mit fünfzig Dollar bestraft würde, wer die Straße verunreinigt; dann wies sie nicht ohne Stolz auf die Geschäfte und wiederholte, das ist die eine Bank und dies die andere.20

Sehr viel mehr schreibt Koeppen über das Singapur des Jahres 1988 nicht. Das liegt einerseits daran, dass der Erzähler auf seinem kurzen Transfer vom Flughafen zum Schiff nicht mehr gesehen hat als das, was ihm von dem Mädchen in Uniform gezeigt worden ist. Wichtiger ist aber, dass Koeppen schon nach diesen schnellen Blicken weiß, dass ihn das moderne Singapur nicht interessiert – dies nicht, weil es ihm zu fremdartig erschiene, sondern weil diese moderne Allerweltsstadt für seinen Geschmack nicht fremd genug ist. Der Text geht weiter : In meiner Vorstellung war Singapur anders, eine Metropole der Kolonialzeit, ein Völkerhaufen Asiens, Asyl und Hölle der Armen, doch ein Jahrmarkt der Lüste. Aber Singapur versteckte ängstlich sein altes Gesicht im neuen Image von Ordnung und Sauberkeit, zeigte am Ozean ein kleines New York klimatisierter Wolkenkratzer am Rande des Äquators, nur Rudyard Kipling wahrte noch ein Andenken beim Whisky in Raffles Hotel.21

19 Bernhard Fetz: Vertauschte Köpfe. Studien zu Wolfgang Koeppens erzählender Prosa, Wien 1994, 139. 20 W. Koeppen: »Petra«, 361. 21 Ebd.

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Wer hier nun vermutet, dass Koeppen seine aus der Literatur gewonnenen Exotismus-Phantasien auf das zeitgenössische Singapur projiziert und enttäuscht ist, dass die Stadt nicht so aussieht wie in den Büchern des englischen Kolonial-Romanciers Kipling, hat vollkommen recht. Und wer daraus eine postkoloniale Kritik am eurozentrischen Weltverhältnis ableiten möchte,22 kann nicht mit allzu guten Gründen daran gehindert werden. Allerdings sollte dabei immer mitbedacht werden, dass Koeppen kein naiver Tourist ist, sondern ein bewusst gestaltender Autor : Er inszeniert seine gesamte Reise als einen Prozess der Enttäuschung; nach Kiplings Singapur sucht er Joseph Conrads Inseln und findet sie nicht, ebenso wenig wie noch später Sindbad den Seefahrer : »Sindbad war nicht an Bord gekommen. Die Märchen von Tausendundeiner Nacht gaben sich nicht preis«,23 heißt es an einer Stelle. Die Welt sieht also anders aus, als sich der leidenschaftliche Leser Koeppen aufgrund der Lektüre alter Bücher erwartet hat. Das ist eine Erfahrung, die schon manch ein Reisender hat machen müssen (oder dürfen), und der vorhin vorgestellte Göhrs hatte nicht gezögert, der Welt den Vorzug vor dem Bücherwissen zu geben. Für Koeppens Text dagegen ist von entscheidender Bedeutung, dass der reisende Autor seinen Vorstellungen von der Welt wider besseres Wissen die Treue hält, und dass deshalb die Außenwelt – sei sie nun fremd oder vertraut – zusehends an Bedeutung verliert. Im zweiten Teil des kurzen Textes wird berichtet, dass für die Insassen des Kreuzfahrtschiffs in Akaba ein Tagesausflug in die antike Felsenstadt Petra organisiert wird. Diese verlassene, monumentale Ruine wird von Koeppen in einer paradoxen Wendung als »Ziel meiner ziellosen Reise« bezeichnet.24 Petra möchte er jedoch nicht aus archäologischem Interesse besuchen, sondern weil eine unerwiderte Liebe zu einer Germanistikstudentin gleichen Namens den alten Mann überhaupt in die weite Welt geschickt hat. So berichtet es wohlgemerkt der Text, und ob dem eine biographisch zu ermittelnde Tatsächlichkeit entspricht oder nicht, kann hier getrost ungeklärt bleiben. Denn Koeppen zeigt sich in seinem Text vor allem als Reisender, der vorgefundenen Bildern, Formulierungen und Phantasien nachfährt. Und es ist offensichtlich, dass ihm diese Präfigurationen wichtiger sind als alles Neue und Fremde, was ihm unterwegs hätte begegnen können. Selbst als er einmal an Deck beobachtet, wie ein schönes Mädchen dem Swimming Pool entsteigt, erscheint es ihm nur wie eine Doppelgängerin der besagten Petra. 22 Zur theoretischen Aufrüstung empfehlen sich etwa die Schriften von Stuart Hall der Lektüre, unter anderem sein grundlegender Aufsatz: »Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht«, in: Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität, hg. und übers. von Ulrich Mehlem, Dorothee Bohle und Joachim Gutsche, Hamburg 1994 (Ausgewählte Schriften, Bd. 2), 137 – 179. 23 W. Koeppen, »Petra«, 362. 24 Ebd., 363.

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Aber wer weiß, ob diese Petra selbst nicht vor allem eine Erinnerung an jene Frau ist, die schon 1934 von Koeppen glücklos begehrt und erfolgreich bedichtet wurde – Sibylle, die weibliche Hauptperson seines ersten Romans, Eine unglückliche Liebe. Der Koeppen-Forschung ist nicht verborgen geblieben, dass diese Romanfigur ein lebensnahes Porträt der Berliner Schauspielerin Sibylle Schloss darstellt.25 Doch wie kapriziös und desinteressiert die leibhaftige Sibylle auch immer gewesen sein mag – vieles spricht doch dafür, dass ihr abweisendes Verhalten dem Autor nur etwas bestätigte, was er ohnehin schon wusste: dass Männer und Frauen nie zueinander finden können. Immerhin wird von Koeppen auch der Satz zitiert: »Literaten haben ihre unglücklichen Lieben, aber sie sterben nicht an ihnen, die nähren sie.«26 Und in diesem Sinn nährt sich Koeppens früher Roman von derselben bitteren Süße der unerwiderten Liebe, die auch noch sein melancholisches Altersfeuilleton speist. Aber gerade weil Koeppen diesen intimen und sehr sentimentalen Grund für den Besuch der Felsenstadt namhaft macht, berichtet er auch, dass er nicht mit der organisierten Tour nach Petra fahren will, sondern alleine. In Akaba versucht er, ein Taxi aufzutreiben, das ihn an den Ort seiner Wünsche bringen könnte. Doch entspricht es der Gesamtanlage des Textes, dass diese Taxifahrt nicht zustande kommt und die Stadt Petra von ihm so wenig besucht werden kann wie die glücklos begehrte Frau Petra verführt werden konnte. Diese Gleichsetzung von Stadt und Frau – beide sind im Blick des Autors uneinnehmbare, beängstigende Festungen – steht einer Kritik aus der Perspektive der gender studies ebenso offen wie Koeppens Exotismus-Phantasien den postkolonialen Einwänden.27 Einen Dichter, wie Koeppen ihn sich vorstellte, erreichen solche Kritiken allerdings nicht. Er folgt seinen Träumen, seinen Wunsch- und Angstbildern, und mehr hat ihn nicht zu interessieren. Das zeigt sich deutlich am Ende des Textes: In der Nacht nach dem missglückten Ausflug nach Petra träumt Koeppen, dass er die Stadt doch noch erreicht. Er lässt keinen Zweifel daran, dass der wirkliche Kurztrip in die von Touristen belagerte Sehenswürdigkeit niemals so eindrucksvoll hätte ausfallen können wie die nächtliche Phantasiereise eines träumenden Dichters in seiner engen Kajüte. Während Edschmid also einen sachlich informierenden Reisebericht in das Gewand eines Romans kleidete, verwandelte sich Koeppens Romanvorhaben in 25 Vgl. Jörg Döring: Ich stellte mich unter, ich machte mich klein. Wolfgang Koeppen 1933 – 1948, Frankfurt/Main 2003, bes. 75 – 90. 26 Ohne Quellenangabe zitiert im Bildband: Hiltrud und Günter Häntzschel: »Ich wurde eine Romanfigur«. Wolfgang Koeppen 1906 – 1996, Frankfurt/Main 2006, 107. 27 Einen möglichen theoretischen Rahmen dafür entwarf Sigrid Weigel schon 1988 in: »Traum – Stadt – Frau. Zur Weiblichkeit der Städte in der Schrift. Calvino, Benjamin, Paul Nizon, Ginka Steinwachs«, in: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek 1988, 173 – 196.

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kurze Reiseprosa. So gleitet das Schreiben durch die Genres und findet schließlich die ihm gemäße Form in fertigen Texten, in denen alle Wünsche, Ängste, Kenntnisse und Voreingenommenheiten der Autoren zum Ausdruck kommen.

3.

Aber wo bleibt die Wirklichkeit?

Im letzten Jahrzehnt ist von avancierten Text- und Intertexttheoretikern mit großem argumentativen Scharfsinn behauptet worden, jeder Versuch, die Welt realistisch abzubilden, sei eine Illusion, weil Texte und Zeichen immer nur auf andere Texte und Zeichen verwiesen, und deshalb keine Brücke von der (scheinbar) darstellbaren Realität zu den (scheinbar) darstellenden Texten führe. Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, die zuweilen als Beispiel für geglückte »postmoderne Autorschaft« verstanden wird,28 hat sich kürzlich in diesem Sinn über all jene Reisereporter belustigt, die der Ansicht sind, sie könnten die Welt darstellen, wie sie ist. In einer Poetikvorlesung, zu der die Autorin von der Universität Augsburg geladen worden ist, erklärte sie: In der Beschreibung der weiten Welt, die sich vor uns öffnet, haben wir es immer mit Bändigungen, mit ehrgeizigen Schrumpfungen und Zusammenfassungen zu tun, in denen mit literarischen Mitteln eine Wirklichkeit simuliert wird, die es gar nicht gibt. […] Kaum ein Bericht, keine Reportage, in der uns nicht der immer selbe alte zahnlose Fischer die Tür zur anderen Kultur aufstoßen muss, die einer Kulisse gleicht, in der er selbst mehr an eine erstarrte Märchenfigur als an einen lebendigen Menschen erinnert.29 Diese pointierte Stellungnahme könnte hier fast als Schlusswort stehen – wenn sich nicht eine Beobachtung mit der Macht unmittelbarer Evidenz dagegen sperren würde: Wie kunstvoll stilisiert Reiseberichte auch immer sein mögen, wie viele Träume, Fiktionen und Zitate sie auch enthalten – eine Verbindung zur außerliterarischen Realität erhalten sie immer aufrecht: Es gibt die Figur des Reisenden, der in irgendeiner Form versichert, dass er tatsächlich unterwegs war und sich seinen Text nicht daheim am Schreibtisch ausgedacht hat. Gewiss durfte Kasimir Edschmid seine Reiseerfahrungen einer Kunstfigur zuschreiben. Wenn er aber seine Lateinamerika-Reise (samt Tagesverdienst der Hut-Flechterinnen) frei erfunden hätte, würde das als unlautere Kunstübung aufgefasst. Dass Schiller sein Drama Wilhelm Tell schrieb, ohne jemals in der Schweiz 28 Vgl. Michaela Holdenried: »Ein unbekannter Stubengenosse Schillers, das Tropenverdikt Ottiliens und die Suche nach dem Berbiolettefell. Anmerkungen zur postmodernen Zitationspraxis und Autorschaft im Werk Felicitas Hoppes«, auf: http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2008/11361/pdf/holdenried_hoppe.pdf (Zugriff 24. 5. 2010). 29 Felicitas Hoppe: Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt/Main 2009, 77.

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gewesen zu sein, wird ihm wohl niemand vorwerfen, beim Reisebericht dagegen gilt der Gattungsimerpativ der Authentizität: Du musst unterwegs gewesen sein, um übers Reisen schreiben zu dürfen. Dass diese Forderung auch in Zeiten postmodernen Realitätszweifels nicht ganz außer Kraft gesetzt worden ist, beweist sinnfällig Pigafetta: Dieser Roman der bereits zitierten Felicitas Hoppe scheint über weite Strecken ein intertextuelles Gedankenspiel zu sein. Und doch hat die Autorin selbst dafür gesorgt, dass auch ihr Buch der Authentizitätsforderung des Reiseberichts gerecht wird. Pigafetta, 1999 erstmals erschienen, berichtet von einem Ich, das eine Weltreise auf einem Frachtschiff unternimmt. Aber im Unterschied zu Koeppens (wie auch immer gefährdeten) Ich-Erzähler, und auch im Unterschied zu Edschmids Göhrs, kann das Ich dieses Textes nicht mehr als Alter Ego der Autorin aufgefasst werden. Hier spricht keine immer gleiche, folglich mit jedem Teil der literarischen Rede identifizierbare Figur. Nicht einmal ihr Geschlecht bleibt durchweg gleich. Das meiste deutet zwar darauf hin, dass hier eine Frau berichtet, zu der etwa der Bordmechaniker Nobell sagt: »Aber Sie könnten sich einmal ein Kleid anziehen, das würde die Herren erfreuen, rundum nichts als Wasser.«30 Doch lassen sich ebenso Passagen finden wie diese: »Aber auf halbem Weg hörte ich wieder die Stimme meiner Mutter, mein Sohn, warum willst du uns verlassen und im Schweiß deines Angesichts Zwieback essen, durch den Würmer kriechen, und das Gold deines Vaters gegen Ratten und Mäuse tauschen?«31 Hier redet nicht etwa Mutter Hoppe zu ihrer Tochter Felicitas. Hier spricht sozusagen die Mutter aller Seefahrer, die ihre Söhne vom Reisen abhalten will. Die Warnung vor den Gefahren der See gehört zu den topischen Elementen aller Seemannsgeschichten – in Defoes Robinson Crusoe ist das zum Beispiel nachzulesen – und eben solchen Topoi, solchen Standardsituationen des Schreibens gilt Felicitas Hoppes literarische Aufmerksamkeit. Sie erzählt nicht die spezielle Geschichte einer besonderen Reise, sondern entwirft sozusagen ein Modell aller denkbaren Reiseerzählungen. Anklänge an Jugend- und Kinderbuchliteratur sind nicht zu überhören, auf Märchenhaftes wird angespielt, vor allem aber sind die Berichte über die großen Entdeckungen der frühen Neuzeit präsent. Sie werden im Besonderen repräsentiert von einem traumhaft irrealen britischen Geografen, der als Kontrast- aber auch Ergänzungsbild der modernen Erzählerin durch das Buch geistert. Manchmal hat man den Eindruck, dieser Geograf sei identisch mit einer anderen Geisterfigur namens Pigafetta, die im Text zuweilen auftaucht, um dann wieder zu verschwinden, doch ist das keineswegs sicher. Historiker des Reisens und der Reiseliteratur kennen jedenfalls einen Antonio 30 Felicitas Hoppe: Pigafetta, Frankfurt/Main 2006, 30. 31 Ebd., 45.

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Pigafetta, geboren 1480, gestorben 1534. Er war kein Brite, sondern Italiener, und hat die große Weltumsegelung des Kapitäns Magellan als Chronist begleitet.32 Diesem bedeutenden historischen Reiseschriftsteller erweist Felicitas Hoppe einerseits ihre Reverenz, indem sie ihren Roman sogar nach ihm benennt, andererseits aber behandelt sie seine Figur so phantastisch frei, dass der Pigafetta des Buchs nicht mehr als Abbild der historischen Gestalt gelten kann. Inmitten ihrer umfassenden literarischen Spurensuche beschwört Felicitas Hoppe allerdings einmal auch das beängstigende Gefühl des Verlorengehens auf See, von dem weder der enthusiastische Meerfahrer Göhrs noch der melancholische Schiffstourist Koeppen etwas mitteilten. Sie schreibt: »Im Anblick des Ozeans suche ich nach Spuren, die wir auf der Oberfläche des Wassers hinterlassen. Aber da ist nichts. Die Straße, die wir genommen haben, verschwindet hinter uns in der Dunkelheit, als wären wir gar nicht dagewesen.«33 Diese Beschreibung des völligen Verschwindens im Meer scheint nun auf den ersten Blick die Negation zu den vielen literarischen Spuren zu bilden, denen die Autorin folgt. Und doch trügt dieser Schein. Das Bild vom spurlos verschwindenden Schiff geistert nämlich in vielerlei Formulierungen durch Philosophie und Literatur. Hans Blumenberg etwa drückte dieselbe Beobachtung mit den Worten aus: »Das Meer kennt keine Spuren von Gewesenem«, und er formulierte damit eine der großen Metaphern für die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit menschlichen Tuns.34 Felicitas Hoppe wird derlei intertextuelle Bezüge gewiss gekannt haben, als sie diese Sätze hinschrieb, die aber – wie so viele bildungsgesättigte Sätze in Reisebüchern – nichtsdestoweniger den Anschein einer unmittelbaren Beobachtung zu erwecken suchen. Neben diesen (und vielen anderen) literarhistorischen Elementen finden sich in Pigafetta aber auch nüchtern sachliche Angaben, wie man sie aus Reisereportagen gewöhnt ist. So zum Beispiel: »Unser Schiff ist vorne spitz und hinten stumpf, 163 Meter lang, 27 Meter breit und vom Kiel bis zur Mastspitze höher als ein zehnstöckiges Hochhaus. Bei voller Ladung trägt es 1700 Container.«35 Sind das etwa die technischen Daten eines Schiffes, das tatsächlich über die Weltmeere fährt? Mag sein. Aber spielt es für den Text namens Pigafetta überhaupt eine Rolle, ob Passagen wie diese mit einer außerliterarischen Realität übereinstimmen oder nicht? Ist nicht alles, was diese wundersame Erzähletüde über das Seefahren enthält, lediglich Element eines frei schweifenden literarischen 32 Vgl. Antonio Pigafetta: Mit Magellan um die Erde. Ein Augenzeugenbericht der ersten Weltumseglung 1519 – 1522, hg. von Robert Grün, Stuttgart 2001. 33 F. Hoppe, Pigafetta, 23 f. 34 Hans Blumenberg zitiert in: Burkhardt Wolf: »Die Spurlose Bahn des Schiffs. Eine Passage in Schillers Seestück-Fragmenten«, in: Gisela Ecker, Susanne Röhl (Hg.): In Spuren reisen. VorBilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur, Berlin 2006, 145 – 168, 145. 35 F. Hoppe, Pigafetta, 19.

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Spiels, das ein nicht näher definiertes Ich mithilfe der Bilder, Geschichten und Figuren seiner Phantasie inszeniert? Wenn man nur den Text kennte und sonst nichts, könnte man dieser Meinung sein. Aber wer auch den Klappentext des Buches liest – und welcher Leser täte das nicht? – erfährt, dass Felicitas Hoppe als so genannter zahlender Gast auf einem Frachtschiff um die Welt gefahren ist, bevor sie Pigafetta schrieb: Von Hamburg aus westwärts, bis nach Neuseeland und dann über Asien wieder zurück. Und damit haben wir realitätshungrigen Leser die Versicherung, dass Pigafetta die – wie auch immer verrätselte und literarisierte – Beschreibung einer Reise ist, die tatsächlich unternommen wurde, und zwar von der Autorin selbst.36 Und sobald wir das wissen, lesen wir ihren Text anders, als wenn wir es nicht wüssten. Damit ist Zeit für das wirkliche Schlusswort, es stammt ebenfalls aus der so theoretischen wie poetischen Vorlesung Felicitas Hoppes und heißt: Genau genommen spreche ich von drei Reisen, die niemals in eins fallen können: der Traum von der Reise erstens, die wirkliche Reise zweitens und ihre Erzählung drittens. Fazit: Einen Traum haben ist eins, die Imagination an der Wirklichkeit überprüfen ein zweites. Die größte Anstrengung kostet es allerdings drittens, die Wirklichkeit, also eine Reise, die wirklich unternommen wurde, in den Traum von der Reise zurückzuverwandeln, in einen Text, der mit der Reise selbst fast nichts mehr zu tun hat, aber ohne sie niemals entstanden wäre.37

So prägnant lässt sich das, was hier umständlich entwickelt wurde, also auch ausdrücken.

36 Dass die realen Reisen der Autorin auch für ihre anderen Bücher von großer Bedeutung sind, zeigt Stefan Neuhaus: »Felicitas Hoppe«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 87. Nlg. 10, München 2007. 37 F. Hoppe: Sieben Schätze, 81 f.

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Von Körpern und Phrasen. Durs Grünbein liest Georg Büchner

»Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.«1 Das Zitat aus Büchners Drama Dantons Tod bringt ein Thema auf eine bündige Formel, das seit einiger Zeit Konjunktur hat. Es bringt eine ›Konstellation des Schreibens‹ auf den Punkt, genauer : eine Konstellation von Körper und Literatur, von naturwissenschaftlichem Körper-Wissen und moderner Dichtung, für die Durs Grünbein und Georg Büchner exemplarisch einstehen. Aber sie geben ihr, trotz aller scheinbaren Konvergenzen, nicht unbedingt ähnliche Ausprägungen. Ist bei Georg Büchner, der bekanntlich Medizin und Anatomie studierte, während er an Dantons Tod saß, die Konjunktion von Dichtung und Physiologie schon biographisch gegeben, so hat Durs Grünbein, der keine naturwissenschaftliche Ausbildung hat, diese für sich zum expliziten poetologischen Programm gemacht, einem Programm, das er ausdrücklich im Rekurs auf Büchner dargelegt hat. Es gehe ihm, so bekannte Grünbein in seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises, um eine »somatische Poesie«, ein Dichten über den Körper und am Leitfaden des Körpers, eines Körpers jedoch, der durch den Blick der modernen Naturwissenschaften versachlicht und »entseelt« worden ist.2 Werktitel wie Schädelbasislektion, Zerebralis, Trigeminus oder Ode an das Dienzephalon zitieren nicht nur die Begriffssprache der Hirnphysiologie, sondern verstehen Dichten selbst als physiologischen Prozess: »Das Gedicht führt das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vor.«3 Grünbein schreibt sich damit in eine Tradition moderner Literatur ein, die den ärztlichen oder anatomischen Blick als privilegierte Grundlage für die poetische Erkenntnis des Menschen ansieht. Nicht die Leistungen seiner Ver1 Georg Büchner : »Dantons Tod«, in: ders.: Werke und Briefe, hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler, München 2001 (Münchner Ausgabe), 67 – 133, 110. 2 Durs Grünbein: Den Körper zerbrechen. Rede zur Verleihung des Büchner-Preises, Frankfurt/ Main 1995, 7. 3 Durs Grünbein: »Mein babylonisches Hirn«, in: ders.: Galilei vermisst Dantes Hölle und bleibt bei den Maßen, Frankfurt/Main 1996, 18 – 33, 33.

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nunft oder die Bewegungen seiner Seele, so besagt diese anthropologische Poetologie, sondern der wissenschaftliche Blick auf den Körper sage, was der Mensch wirklich sei.4 Der klinische Blick auf die Materialität und Physis des Menschen zielt auf ein unhintergehbares ›Reales‹ seiner Existenz, und verspricht so, der Literatur einen Bezug auf eine unfragbar gegebene Wirklichkeit zu geben. Als Referenzpunkt der Literatur wird der Körper so zum Garanten eines, wie Grünbein formuliert, »anthropologischen Realismus«, für den »nur noch zählt […], was in der Körperwelt abläuft«.5 An der Konstellation Grünbein-Büchner lässt sich – natürlich nur in kühner Verkürzung – möglicherweise so etwas ablesen wie zwei grundlegende Modelle für den Ort und Status des Körpers im literarischen Text der Moderne. Besonders in den neunziger Jahren wurde immer wieder von einer »Konjunktur des Körpers« in der Gegenwartsliteratur gesprochen.6 Angesichts von Durs Grünbeins oder Ulrike Draesners Lyrik, Thomas Hettches Roman Nox, Michel Houellebecqs oder Elfriede Jelineks Obsession mit dem sexuellen Körper ist dies – gleichsam als indirekte Reaktion auf die Wende von 1989 – als neokonservative Verabschiedung der Geschichte durchs Anthropologische gelesen worden.7 Aber statt pauschal von einer literarischen Omnipräsenz des Körpers zu sprechen, könnte es sich lohnen, einige Differenzierungen einzuführen. Denn so, wie ›der Körper‹ nicht einfach als konstante Bezugsgröße eines anthropologischen Realen angesetzt werden kann,8 so gibt es natürlich auch keinen entsprechend konstanten Bezug der Literatur auf diesen Körper. Es stellt sich vielmehr eine epistemologische und eine poetologische Seite des Problems: Einerseits die Frage nach den jeweiligen historischen Körper-Konzepten, die Wissenschaft und Literatur gleichermaßen zugrunde liegen. Dabei wäre zuallererst einmal zu klären, welcher Körper überhaupt adressiert wird: Ist es der begehrende und begehrte, der Lust und Unlust verspürende, sexuelle Körper? Der Körper der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Denkens und der Sprache, mithin ein neuronaler Körper? Ist es ein sich bewegender, verzehrender, arbeitender – also 4 Walter Müller-Seidel: »Natur und Naturwissenschaft im Werk Georg Büchners«, in: Eckehard Catholy und Winfried Hellmann (Hg.): Festschrift für Klaus Ziegler, Tübingen 1968, 205 – 232. 5 D. Grünbein: Den Körper zerbrechen, 19. 6 Jörg Magenau: »Der Körper als Schnittfläche. Bemerkungen zur Literatur der ›Neuen Innerlichkeit‹: Texte von Reto Hänny, Ulrike Kolb, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Thomas Hettche, Marcel Beyer und Michael Kleeberg«, in: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre, Opladen 1998, 107 – 121, 107; Herrmann Kinder : »Körperthemen, Körpertexte und ›das laute Schreiben‹ in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur«, in: ders.: Von gleicher Hand, Eggingen 1995, 129 – 147. 7 J. Magenau: »Der Körper als Schnittfläche«, 121. 8 So die Lektion der Körpergeschichte und historischen Anthropologie, vgl. Philipp Sarasin: »Mapping the Body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ›Erfahrung‹«, in: Historische Anthropologie. Kultur-Gesellschaft-Alltag, 7 (1999), 437 – 451.

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ein metabolischer Körper? Oder ist es gar nicht der lebendige Körper, sondern der tote, verwesende, in der Pathologie zerlegte?9 Den Körper an sich gibt es nicht. Andererseits stellt sich die Frage nach dem Bezug von Sprache und Körperlichkeit, nach einer Poetologie des Körpers. Eine solche Poetologie des physiologischen Blicks und Wissens vom Menschen hat eine lange Geschichte: Es ist die literarische Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts, die beginnt, den Menschen »am Leitfaden des Leibes« zu betrachten und damit eine Affinität von Lebenswissenschaften und Literatur herzustellen, die spezifisch für die Literatur der Moderne ist.10 Es gilt, den Menschen von den ›Realien‹ seines Körpers und seiner Seele her in den Blick zu nehmen: seine physischen Bedürfnisse und Gebrechlichkeiten, die Dispositionen seines Charakters, die sich in seinem Körper ausdrücken, die Krankheiten und Verstörungen seiner Seele. Aber Büchners Formel von den Phrasen, die sich verkörpern, dreht diese Frage nach der »menschlichen Natur« noch in eine andere mögliche Richtung.11 Es gilt zu fragen, wann, wie und in welcher Form Sprache tatsächlich zu Körper wird, wie sie performativ auf Körper zugreift. Es wäre dies nicht mehr eine rein anthropologische Fragestellung sondern eine politische. Sie verweist auf die geradezu obsessive und nicht selten obszöne Präsenz des Körpers in Büchners Werk – von den »Hirnfasern«, aus denen man »einander die Gedanken zerren«12 müsste über Geschlechtskrankheiten, Sexualität, Verdauungsexperimente und Wahnsinn bis hin zum exzessiven Müßiggang. Gerade an Büchners Werk stellt sich damit nicht nur die Frage nach dem ihm zugrundeliegenden Körper-Konzept, sondern auch nach den epistemischen und politischen Konsequenzen, die sich an diesen Körper knüpfen. Umgekehrt kann man aber auch Sprechen und Schreiben selbst als physiologische Vorgänge betrachten. Die Frage wäre hier, inwiefern das Sprach-Experiment, das gerade die Lyrik darstellt, ein Experiment in Hinblick auf die Funktionsmechanismen des Körpers ist: auf sein Denken und sein Gedächtnis, auf seine Reflexe, Wahrnehmungs- und Verständnisprozesse. Genau diese Fragestellung steht im Zentrum von Grünbeins früher Lyrik und den poetologischen Programmen aus der Mitte der neunziger Jahre. Dichten versteht Grünbein als einen psycho-physischen Prozess: »Alles wirksame Schreiben geht vom 9 Zur Konjunktur des anatomischen Blicks auf den toten Körper vgl. Anne-Rose Meyer: »Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen in der Lyrik von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling«, in: Jahrbuch Gegenwartsliteratur, 1 (2002), 107 – 133. 10 Vgl. dazu Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987; Wolfgang Riedel: »Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft«, in: IASL, Sonderheft 6 (1995), 93 – 157. 11 Georg Büchner : »Lenz«, in: ders.: Werke und Briefe, 135 – 158, 144. 12 G. Büchner : »Dantons Tod«, Akt I, Szene 1, 69.

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Körper aus«, schreibt er, »das Gedicht führt das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vor. Jeder Entladung folgt sofort wieder ein Spannungsaufbau und umgekehrt.«13 Der Körper prägt das Schreiben, insofern die »anatomische Ordnung« die Grundlage der »semantischen« ist. »Unter den Schichten, die die Hermeneutik wälzt, kommt das lebendige Gewebe zum Vorschein, der Stoff, aus dem die Zeilen seit Beginn des lyrischen Tastens sind.«14 Diese Übernahme neurologischer, medizinischer und ethologischer Termini für die Beschreibung des Dichtens zielt dabei auf ein literarisches Programm, das mehr sein will als ›nur‹ Literatur. Es gehe ihm, so Grünbein, um »einen neuen beweglichen Denkstil entlang der Ränder zur Neuro-Romantik […] einer biologischen Poesie.«15 Die vielbeschworene Wiederkehr des Körpers und vor allem die explizite Bezugnahme auf das Vokabular und die Theoreme der Natur- und insbesondere Lebenswissenschaften lassen sich als nun auf den Wissensstand der Zeit gebrachten Versuch lesen, die Kluft zwischen humanistisch-literarischer und naturwissenschaftlich-technischer Intelligenz im Medium der Literatur zu überwinden.16 Diese neue Selbstdefinition der Literatur, die aus dem traditionellen Raum des Literarischen ausbräche, wäre so ein Diskurs, in dem die inkommensurablen Formen anthropologischen – oder weiter noch: natur- und geisteswissenschaftlichen – Wissens wieder aneinander anschließbar würden. So scheint Grünbeins Selbststilisierung zum poeta doctus, die früh und mit Begeisterung vom Feuilleton herausgestrichen wurde, genau dies anzustreben. Es geht ihm nicht nur um eine universalhistorische Belesenheit in der Literaturund Geistesgeschichte, sondern sein Schreiben umfasst auch das »Interesse für Quantenmechanik, Astronomie, Hirnphysiologie, Kybernetik, Ethnologie«.17 Allerdings klingt das beim frühen Grünbein manchmal so, wie sich etwa die Stichwortgeber einer third culture oder einer unity of knowledge18 das vorstellen, nämlich als eine Anschlussfähigkeit der Geistes- an die Naturwissenschaften unter der Ägide naturwissenschaftlicher Konzepte und Methoden. Dichtung als neurologischen Prozess zu denken und den Körper der Naturwissenschaften zum literarischen Referenten par excellence zu machen, vermittelt das Versprechen einer ›neuen Beweglichkeit‹ zwischen den Denkkulturen, eine Be13 Durs Grünbein: »Drei Briefe: Brief über Dichtung und Körper«, in: ders.: Galilei vermisst Dantes Hölle, 40 – 54, 40 f. 14 D. Grünbein: »Mein babylonisches Hirn«, 33. 15 D. Grünbein: »Drei Briefe«, 45. 16 Das Stichwort hatte früh C. P. Snow gegeben mit seiner Rede von den »zwei Kulturen«, vgl. Charles Percy Snow: The Two Cultures and a Second Look, London 1959. 17 Durs Grünbein: »Ameisenhafte Größe«, in: ders.: Galilei vermisst Dantes Hölle, 13 – 17, 13 f. 18 So etwa bei John Brockman: Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft, München 1996 sowie Edward O. Wilson: Die Einheit des Wissens, Berlin 1998.

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weglichkeit, die nicht zuletzt die Attraktivität des Grünbeinschen Denk- und Dichtexperiments auszumachen schien. Und zweifellos lag nicht zuletzt darin der Grund für Grünbeins stupenden Erfolg im Feuilleton der neunziger Jahre. Die Verleihung des Büchner-Preises 1995 war darum nicht einfach nur die Feier eines Dichters, der in seiner Person die deutsche Wiedervereinigung zu verkörpern schien. Er »fiel in den Kairos der historischen Konstellation.«19 Dabei schien es geradezu als Glücksfall, dass er durch keine Verstrickung in den offiziellen oder offiziösen Literaturbetrieb der späten DDR belastet war. Grünbein war als Lyriker aus dem Osten vom westdeutschen Suhrkamp Verlag 1988 entdeckt und vom Feuilleton der FAZ flugs zum Poeten der Wende stilisiert worden. Frank Schirrmacher nannte ihn die »erste genuine Stimme der neuen Republik«, Gustav Seibt fand, Grünbein überwinde die »Spaltung der deutschen Literatur«.20 Es ist dabei bezeichnend, dass Grünbein für Seibt genau deshalb zum Vereinigungskünstler wird, weil er sich von jeder politischen Positionierung als ›Ossi‹ oder ›Wessi‹ fernhält und sich stattdessen auf das gleichsam neutrale und objektive Terrain der Naturwissenschaft begibt. So vereinigt Grünbein in doppelter Hinsicht: durch den Brückenschlag zwischen Dichtung und Wissenschaft ebenso wie durch einen bruchlosen Übergang von der »Grauzone« DDR zur ›neuen Republik‹.21 Im klaren Bewusstsein von der Bürde einer solchen Rolle ist Grünbeins Büchnerpreis-Rede der Versuch einer literarischen Selbstverständigung, die sich bemüht, genau jene historischen Trümpfe auszuspielen: eine historische Selbstverortung in der Wendezeit und dem Ende des Kalten Kriegs, aber eine, die jede politische Semantik – die mit Büchner ja mehr als nahegelegen hätte – sorgsam vermeiden muss. Grünbein nutzt Büchner dabei nicht nur als Identifikationsfigur für seine Poetologie des Körpers, sondern auch als Folie für eine Bestimmung des eigenen historischen Standorts inmitten jenes politischen Umbruchs, dessen Zeuge und Profiteur er nolens volens geworden war. »Was haben die Schädelnerven der Wirbeltiere mit Dichtung zu tun?«, beginnt Grünbeins Rede, Was sucht die vergleichende Anatomie im Monolog des dramatischen Helden? […] Seltsame Fragen, sie allein zeigen an, wohin es führen musste, wenn Literatur sich auf 19 So im exzellenten Aufsatz von Wolfgang Riedel: »Poetik der Präsenz. Die Idee der Dichtung bei Durs Grünbein«, in: IASL, 24/1 (1999), 82 – 105, 82. 20 Frank Schirrmacher : »Jugend: Büchnerpreis für Grünbein«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (9. 5. 1995), 35. Gustav Seibt: »Mit besseren Nerven als jedes Tier – Das Neue kommt über Nacht: Durs Grünbein, der naturgeschichtliche Blick und der Berliner Alltag«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15. 3. 1994), Literaturbeilage, 1. 21 Jedenfalls ließ sich die Rede von der »Grauzone morgens«, Titel des ersten, 1988 bei Suhrkamp erschienenen Gedichtbands, umstandslos als auf den untergegangenen Realsozialismus gemünzt lesen. Durs Grünbein: Grauzone morgens. Gedichte, Frankfurt/Main 1988.

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das Reale einließ, wenn den Stil das Naturstudium prägte, der zoologische Fakt und das ärztliche Gutachten Einzug hielten in Novelle und Drama […] bis das Genre gesprengt lag, Fragmente die Folge, fieberhafte Notate, somatische Poesie.22

Der Bezug der Literatur auf den Körper wird hier zum Garanten eines »SichEinlassens« der Literatur auf das Reale, »das elende Reale und das reale Elend«.23 Büchner habe Physiologie in Dichtung aufgehen lassen und die Zürcher Probevorlesung Über Schädelnerven von 1836, so Grünbein, sei »eine Art literarisches Manifest«.24 Genau deshalb stellt er diesen Text, der alles andere ist als ein poetologisches Programm, in den Mittelpunkt seiner Rede. Von hier aus verfolgt Grünbein den Körper weiter durch Büchners Werk. Dabei interessiert ihn vor allem der »Nerv«, dessen Morphologie Büchner 1836 in seiner Dissertation anhand des Nervensystems der Flussbarben nachgegangen war.25 »Was ist der Körper, denkt man ihn vom Nerv her? Was ist Geschichte, denkt man sie vom solcherart objektivierten Körper her?«26 Während Büchners Dissertation den Verlauf der Nervenbahnen als Spezialfall eines morphologischen Problems behandelt, in dem es – wie die Probevorlesung deutlich macht – in letzter Konsequenz um Fragen der Phylogenese und Teleologie der Natur geht, (miss)versteht Grünbein die Rede vom Nerv beherzt unhistorisch als Diskurs über Neurologie. Der Körper, den Grünbein als den heimlichen Kern von Büchners Werk zu entdecken glaubt, ist der neuronale Körper : der Körper des Denkens, der Nerven und der Wahrnehmung. Zweifellos ein naturwissenschaftlich ›objektivierter‹ Körper, dessen Affekte und Denken, Wollen und Handeln zurückführbar sind auf die Materialität seiner Innervation. Grünbein geht es um eine materialistische Geschichte der Körper, eine Geschichte, die sich nicht mehr als Geschichte der großen Utopien und Ideologien missversteht, sondern die auf das zurückgreift, was der Mensch ›wirklich‹ ist, seine Anatomie. Die Lakonie eines solchen anatomischen Materialismus hatte Grünbein in seinem vielleicht meistzitierten Gedicht aus Schädelbasislektion programmatisch auf den Punkt gebracht: Was du bist steht am Rand Anatomischer Tafeln. Dem Skelett an der Wand Was von Seele zu schwafeln D. Grünbein: Den Körper zerbrechen, 7. Ebd., 8. Ebd., 12. Vgl. Georg Büchner : »M¦moire sur le systÀme nerveux du barbeau (Cyprinus barbus L.)«, in: ders.: Schriften / Briefe / Dokumente, hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Frankfurt/Main 1992 (Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. 2), 69 – 156. 26 D. Grünbein: Den Körper zerbrechen, 13.

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Liegt gerad so verquer Wie im Rachen der Zeit (Kleinhirn hin, Stammhirn her) Diese Scheiß Sterblichkeit.27

Die Austreibung aller Anmutungen von ›Seele‹ oder ›Geist‹ aus dem naturwissenschaftlich ins Visier genommenen Körper, die das Gedicht vornimmt, führt in letzter Konsequenz auf die kokett in Jugend-Jargon formulierte Endlichkeit des Menschen, »[d]iese Scheiß Sterblichkeit«. Aber sie verortet den Menschen auch »im Rachen der Zeit« und zielt damit auf einen Begriff von Geschichte und von Politik, der diesem physiologischen Materialismus Rechnung tragen könnte. Und genau hier geht Grünbeins Rede nun vom Schädelnerven-Vortrag zu einem anderen Text Büchners über, der die Frage, wie man Geschichte aus der Physis herleiten kann, mit seltener Radikalität behandelt hat: Dantons Tod. Grünbeins literaturpolitische Gratwanderung ist dabei einigermaßen raffiniert: Um Büchner aus dem alten Ost-West-Antagonismus von ›engagierter‹ (so das Büchner-Bild der DDR) versus ›avantgardistischer‹ Literatur (so die BRD-Rezeption) herauszulösen, bestimmt er die politische Position Büchners als eine, die sich unmittelbar aus seinen wissenschaftlichen Studien ableite: Aus dem geöffneten Körper, dem (gewaltsam) erbrochenen Schädel, liest er, absurd genug, die Grundsätze für ein mögliches freies Zusammenleben […] sowie ihre immer drohende Negation. […] Deshalb ist jeder Gesellschaftsentwurf wertlos, wenn er nicht auch das Bewusstsein von der Zerbrechlichkeit dieser traurigen Körper mit einschließt. Mag sein, dass die Utopien mit der Seele gesucht werden, ausgetragen werden sie auf den Knochen zerschundener Körper, bezahlt mit den Biographien derer, die mitgeschleift werden ins jeweils nächste hässliche Paradies.28

Grünbein extrahiert so aus Büchners düsterem Revolutionsdrama eine dezidiert anti-utopische, anti-revolutionäre Position. Dantons Tod wäre demgemäß ein Warngesang vor allen gewaltsamen historischen Umbrüchen, vor allen politischen Entwürfen, die das Soziale auf Kosten des Körpers reorganisieren wollen. Zerbrechlich und vergewaltigt von den politischen Utopien der Moderne ist der Körper für Grünbein fleischgewordener Einspruch gegen alles Revolutionäre – und Büchner ein vehementer Kritiker nicht nur der Französischen Revolution, sondern des revolutionären Utopismus schlechthin. Grünbeins Rückgriff auf den naturwissenschaftlich-physiologischen Blick auf den Menschen, den er von Büchner übernimmt, verfolgt so eine sehr eigene Strategie, die gerade durch ihre ostentative politische Abstinenz eine sehr geschickte politische Selbstpositionierung vornimmt: Erstens ermöglicht die Emphase auf einem sowohl von der 27 Durs Grünbein: »Schädelbasislektion«, in: ders.: Gedichte. Bücher I – III, Frankfurt/Main 2006, 95 – 245, 101. 28 D. Grünbein: Den Körper zerbrechen, 14, 20.

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West- wie von der Ost-Germanistik überwiegend vernachlässigten Aspekt von Büchners Werk eine Neutralität zwischen diesen Lagern der eingespurten Rezeption. Der Naturwissenschaftler Büchner, den Grünbein feiert, ist weder unter Sozialkritik noch unter avantgardistischer Autonomie-Ästhetik umstandslos zu verrechnen. Zweitens inszeniert sich der frühe Grünbein mit seinem gebildeten Brückenschlag zwischen Naturwissenschaft und Literatur als Vereiniger der zwei Kulturen, Vereiniger eines ›Ideellen‹ (für das die Literatur ja gerne herangezogen wird) und eines ›Realen‹ des Menschen (für das der Körper immer wieder einzustehen hat). Es ist wohl kein Zufall, dass er dabei von Büchners morphologischer und naturphilosophischer Fragestellung umstandslos auf die modernen Neurowissenschaften kommt: Die Hirnphysiologie war eine Leitwissenschaft der neunziger Jahre, die einerseits versprach, Affekte, Handlungen und Wirklichkeitsbezug des Menschen gleichsam auf eine physiologische Grundlage stellen zu können und andererseits gerade die imaginative Konstruiertheit menschlicher Wirklichkeit herausstrich. Genau hier, am »Gehirn als Präsenz-Generator, als imaginatives Organ« lässt sich Dichtung anschließen als eine Praxis, die diese Präsenz-Effekte selbst zeitigt und reflektiert.29 Drittens aber – und das ist der wichtigste Punkt – dispensiert die Rede vom »objektivierten Körper« Grünbein scheinbar von jeder Parteinahme in Richtung Ost oder West. Es ist eine Besinnung auf die ›Realien‹ menschlicher Existenz, die von jeder ideologischen Richtung immer nur verkannt werden kann, wie schon Büchners Lenz wusste: »Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.«30 Physiologie als eine dezidiert anti-politische Haltung. Genau in dieser weder von ›Ostalgie‹ noch vom affirmativen westdeutschen Nationalismus tingierten Selbstverortung Grünbeins scheint seine Qualität als gesamtdeutscher Dichter zu liegen, die das konservative Feuilleton dankbar aufgriff. Im wahrsten Sinn des Wortes präsentiert sich Grünbein als zutiefst politik-müde, wie das letzte, autobiographische Bild seiner Rede kokett vorführt: Während der Berliner Demonstrationen im Oktober 1989 stößt Grünbein auf einen ausrangierten russischen Panzer : […] plötzlich hatte ich, ein heimkehrender Schlachtenbummler, weit hinter den anderen zurückgeblieben, den Wunsch, mich niederzulassen dort im Schatten des Panzers […]. Das drohende Fahrzeug, die Maschine der Bürgerkriege, hatte ein uraltes

29 Gerhard Roth: »Erkenntnis und Realität. Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit« (1984), in: Siegfried. J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt/ Main 1992, 277 – 336. Zur Rolle einer insbesondere von den Arbeiten Gerhard Roths inspirierten Neurowissenschaft für Grünbeins Dichtungskonzeption vgl. W. Riedel: »Poetik der Präsenz«, 96. Riedel rekonstruiert überzeugend die Konvergenz zwischen Grünbeins Poetik und Roths Theorie einer neurologisch konstituierten Wirklichkeit. 30 G. Büchner : »Lenz«, 144.

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Schlafbedürfnis in mir geweckt. Bis hierher war der Körper gekommen, nun suchte er Ruhe, eine Pause im Fortgang.31

Der Körper, der hier ruhen will, der »die Geschichte verschlafen« will,32 ist Garant einer Abstinenz nicht nur vom Politisch-Ideologischen sondern auch von der chronischen Überlastung durch jene ›Große Deutsche Geschichte‹, die in der Wende immer neu beschworen wird. Grünbein macht es damit beiden Seiten leicht: Was immer die Wende war, wie immer man sie sich aneignete in Ost oder West, der Körper verhält sich neutral zu ihr, er stellt sich schlafend und hat seine eigene, ganz individuelle Agenda. Hält man sich an die Figur Danton, dessen Seufzer der Erschöpfung Grünbein aufgreift, dann hat diese Büchner-Lektüre einiges für sich: Dantons Tod führt mit Danton einen zu Tode müden und desillusionierten Politiker vor, der genug hat von den Utopien, Tugendprogrammen und Gleichheitsdoktrinen der Französischen Revolution. An genau diese Melancholie kann Grünbein auch in anderen Texten sympathetisch anschließen. In dem Gedicht Memorandum aus Nach den Satiren, das neben Büchner auch Hölderlin, Lautr¦amont und Baudelaire aufruft, zitiert er Dantons Klage, dass es doch »sehr langweilig« sei, »immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen […] und einen Fuß so vor den anderen zu setzen; da ist gar kein Absehen […] und dass wir obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so dass alles doppelt geschieht«.33 In Grünbeins Gedicht nun wird Dantons melancholischer ennui zum Inbild unabsehbarer Ziellosigkeit der Geschichte und der Zerrissenheit des Subjekts: Alles geht weiter, nicht erst seit heute, vor allem der Krieg, Das Anziehn täglich, das Ausziehn. Der schmerzhaften Nähe Der beiden Körperhälften, der Ferne von Ich zu Gesicht, Zu entfliehen hilft nichts. Und getötet, gezeugt, Wird hier nicht nur aus Armut, zum Zeitvertreib auch.34

Was Danton nur langweilt, die Achsensymmetrie unserer Morphologie, wird im Gedicht Memorandum zum Schmerz, zur schmerzenden Nähe der Körperhälften und zur schmerzenden Ferne von innerem Ich und vorgeführter Persona. Es ist eine Spaltung des solcherart melancholischen Subjekts, eine innere Zerrissenheit – die im weiteren Verlauf des Gedichts zur Probe auf die Möglichkeit von Lyrik wird.35 Aber Büchners Körper leiden an etwas gänzlich anderem als an

31 32 33 34 35

D. Grünbein: Den Körper zerbrechen, 21 f. Ebd., 22. G. Büchner : »Dantons Tod«, Akt II, Szene 1, 90. Durs Grünbein: »Memorandum«, in: ders.: Nach den Satiren, Frankfurt/Main 1999, 86. Vgl. dazu die scharfsinnige Lektüre von Ernst Osterkamp: »Durs Grünbeins Memorandum

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zerrissener Subjektivität. Denn »getötet, gezeugt« wird in Dantons Tod durchaus und vor allem aus Armut, eben nicht »aus Zeitvertreib«. Gleichwohl zielt das Gedicht mit seinen andeutungsweisen Zitaten in den Kern des Büchnerschen Stückes: Bitterste »Armut« und müßiger »Zeitvertreib« sind dessen zentrale Themen, die unter der großspurigen politischen Debatte zwischen Danton und Robespierre nur zeitweilig in Vergessenheit geraten, um vom Volk dann um so heftiger in Erinnerung gebracht zu werden.36 Dantons im Ersten und Zweiten Akt wortreich gepflegte Melancholie, sein Müßiggang, der ihm das Anziehen wie das Redenhalten zur Last werden lässt, wird im Stück nämlich als Element einer politischen und sozialen Pathologie vorgeführt. Denn die Revolutionäre, so das Ausgangsproblem von Dantons Tod, sind nichts anderes als eine neue, nicht minder privilegierte, nicht minder wohllebende Aristokratie, Danton selbst der schamloseste Exponent dieses Wohllebens. Im Stück reden alle, besonders aber die Revolutionäre, ständig vom Genießen, das nichts anderes meint als die elementaren Bedürfnisse körperlicher Wohlfahrt: Essen, Kleidung, Sexualität, Muße. Die gerechte Verteilung dieses Genießens nun ist die Kernaufgabe der politischen Organisation, um die die zwei Fraktionen im Stück so bitter streiten. Dieses Genießen aber präsentiert Büchner als eines, das immer zu Lasten und auf Kosten eines anderen geht. »Wir sind lasterhaft«, sagt einer der Parteigänger Dantons, »d. h. wir genießen, und das Volk ist tugendhaft, d. h. es genießt nicht, weil ihm die Arbeit die Genußorgane stumpf macht, es besäuft sich nicht, weil es kein Geld hat und es geht nicht ins Bordell, weil es nach Käs und Hering aus dem Hals stinkt und die Mädel davor einen Ekel haben.«37 Die armen Leute formulieren ihr Elend umgekehrt in Termini des kannibalischen Verzehrs: »Sie (die Reichen) haben kein Blut in den Adern, als was sie uns ausgesaugt haben. […] Ein Messer für die Leute, die das Fleisch unserer Weiber und Töchter kaufen!«38 Was der eine genießt, muss er dem anderen wegnehmen, ihn prostituieren, ihn ausbeuten, ihn verzehren. Der Körper, den Dantons Tod evoziert, ist ein bedürftiger, begehrender, hungernder Körper. Den Leibern »fehlt was«,39 wie Danton sagt, sie sind existentiell von einem Mangel gezeichnet. Dieser Mangel aber ist die politische Crux des Stücks, insofern sie den Körper in einen unausweichlichen Zusammenhang beschränkter Ressourcen stellt. Worum es dem Stück gehen wird, ist eine Politik, die den Körper als Grund- und Ausgangpunkt aller Fragen der Gleichheit und

36 37 38 39

zur Lage der Poesie nach den Utopien«, in: Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln 2003, 325 – 334. Zur insistenten Verknüpfung von Sexualität und Armut in Dantons Tod s. G. Büchner : »Dantons Tod«, u. a. Akt I, Szene 2, 72 ff. Vgl. G. Büchner: »Dantons Tod«, Akt I, Szene 5, 84 f. Vgl. ebd., Akt I, Szene 2, 73 f. Vgl. ebd., Akt II, Szene 1, 91.

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Gerechtigkeit in Rechnung ziehen kann; ein Staat, der »ein durchsichtiges Gewand« wäre, das »sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt«.40 Büchners Stück und selbst die Mattigkeit seines Titelhelden Danton sind kein Ausdruck von Politik-Müdigkeit, sondern stellen vielmehr die insistierende Frage nach einer Politik, die den Bedürfnissen und Gelüsten des Körpers angemessen wäre.41 Es ist dieses zugleich physiologisch sehr präzise gefasste und durch und durch politische Körper-Konzept Büchners, welches Grünbein gezielt ignoriert. Es geht hier nämlich durchaus nicht um die Verfasstheit eines neuronalen Leibs, sondern um einen Körper, den ich den ›energetischen‹ nennen würde. ›Energetisch‹ meint den Zusammenhang von Stoffwechsel und Verausgabung, ein Körper, der sich durch Nahrung erhält, durch Arbeit verausgabt und durch Muße regeneriert. Ein Körper, der legitime Bedürfnisse und Gelüste hat. Genau dieses Körper-Konzept durchzieht Büchners Werk wie ein roter Faden: Es prägt das Bild jener allgegenwärtigen Sexualität, die den physiologischen Diskurs in Danton dominiert; es taucht wieder auf im fatalen Diät-Experiment, das am Pauper Woyzeck durchgeführt wird; und es prägt die Thematisierung des Müßiggangs, der in Leonce und Lena gleichsam die obszöne Kehrseite jener endlosen Verausgabung und Verelendung durch Arbeit darstellt, die der Hessische Landbote anprangert. Büchners Körper sind damit einer energetischen Ökonomie unterworfen, welche sie immer schon auf das Soziale bezieht und welche vorausweist auf jene thermodynamischen Konzepte der Lebenskraft, die die Metapher vom »Motor Mensch« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominieren werden.42 Nicht als Abkehr also von Geschichte und ihren Umbrüchen, sondern als physiologische Analytik ihrer Dynamik, als materialistischer Blick auf das, worum es in einem Ereignis wie der Französischen Revolution ›wirklich‹ gegangen ist, muss die Allgegenwart des Körpers in Büchners Werk gelesen werden. Die Poetologie des Körpers ist hier alles andere als eine Abstinenz vom Politischen und Historischen, alles andere als eine Verwerfung des Utopischen – vielmehr ein scharfer, sachlicher Blick auf das, was in diesen Utopien überhaupt auf dem Spiel steht. Von diesem immer schon ins Soziale verstrickten Körper aus lässt sich auch das Verhältnis von Sprache und Körper bei Büchner präzisieren. Die Büchnersche Poetologie des Körpers geht von der Sprache aus auf den Körper. »Geht 40 Vgl. ebd., Akt I, Szene 1, 71. 41 Sehr viel ausführlicher dazu Eva Horn: »Der nackte Leib des Volkes. Volkskörper, Gesetz und Leben in Georg Büchners Danton’s Tod«, in: Beate Fricke, Markus Klammer, Stefan Neuner (Hg.): Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie, München 2011, 236 – 269. 42 Zur energetischen Physiologie des späteren 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vgl. die grundlegende Studie von Anson Rabinbach: Motor Mensch. Energie, Ermüdung und die Ursprünge der Modernität, Wien 2001.

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einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden. Blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen, es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte. Diese Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind eure lebendig gewordenen Reden.«43 Büchner interessiert genau der Moment, wo Sprache zu Körper wird, wo sie unmittelbare physiologische Folgen hat. Genau darum richtet er seine Aufmerksamkeit in Danton auf Redegattungen wie den Befehl, die Gerichtsrede, das Gesetz oder auch, wie im Woyzeck, die halluzinatorische Stimme, die sagt: »Stich, stich die Zickwolfin tot«.44 Und genau darum inszeniert der Schluss von Danton ein Paradebeispiel performativer Rede. »Es lebe der König!« ruft die lebensmüde Lucile, nicht weil sie den König feiern will, sondern weil ihr Ruf nichts anderes ist als ein selbstmörderischer Sprechakt, ebenso wie die Antwort der Wachen, »Im Namen der Republik!« nichts anderes ist als der performative Vollzug der Verhaftung.45 Die Poetologie des Körpers ist bei Büchner eine Analytik des Körper-Werdens von Sprache, die Auslotung ihrer einschneidenden Wirksamkeit auf die Physis, sei es im Raum des Politischen, im Raum der Wissenschaft oder im Raum des Wahns. Aber zurück zu Grünbein, der ja seinerseits den ausdrücklichen Anspruch erhebt, Sprache und Physiologie in eine untrennbare Einheit zu bringen. In einem seiner frühen Gedichte, Zerebralis,46 zitiert er jenes berühmte Büchnersche Bild aus Danton: »Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.«47 Büchners Bild will dabei auf eine Aporie hinaus: auf die Unmöglichkeit, sich zu kennen, selbst wenn man der physiologischen Grundlage des Denkens bis hin zur Zerstörung des Körpers nachgehen würde. Die Körper als unhintergehbare Resistenz gegen Vergesellschaftung. Es die einzige Stelle in Danton, die explizit von Nerven – wenn das Büchners »Hirnfasern« sind – handelt. Aber genau auf diese Nerven will Grünbein hinaus mit seinem Zitat der aufgebrochenen Schädeldecken. Das Gedicht kreist um eine Wirklichkeit, die sich in und durch die Nerven mitteilt. »Die meisten hier, siehst du, sind süchtig Nach einer Wirklichkeit wie Aus 2ter Hand…«, sagte er. »Keiner Kann lassen

43 G. Büchner : »Dantons Tod«, Akt III, Szene 3, 110. 44 G. Büchner : »Woyzeck« (Lesefassung), in: ders.: Werke und Briefe, 233 – 255, Szene 12, 248. 45 G. Büchner : »Dantons Tod«, Akt IV, Szene 9, 133. Vgl. dazu Rüdiger Campe: »›Es lebe der König!‹ ›Im Namen der Republik!‹. Poetik des Sprechakts«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figur und Performanz, Stuttgart 2004, 557 – 581. 46 D. Grünbein: »Schädelbasislektion«, 224. 47 G. Büchner : »Dantons Tod«, Akt I, Szene 1, 69.

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Von dieser eiskalten Reizworthölle, den Massen zersplitterter Bilder am Morgen Unterwegs durch die Stadt, eingesperrt In überfüllte Straßenbahnen, gepanzert Auf engstem Raum (Hieß das nicht Entropie?). Stell Dir vor : Ein Caf¦ voller Leute, alle Mit abgehobenen Schädeldecken, Gehirn Bloßgelegt (Dieses Grau!) und dazwischen Nichts mehr was eine Resonanz auf den Terror ringsum Dämpfen könnte. Amigo, du würdest durchdrehn bei diesem einen Nerventötenden Sinus-Ton von Garantiert 1000 Hz…«.

Das Gedicht ist komplett wiedergegebene Rede, ein zitierter Gestus des Zeigens und Überzeugens, »siehst du«, adressiert an einen umgangssprachlichen »Amigo«, aber mit einer deutlichen Distanzierung von jenen, über die gesprochen wird: »die meisten hier«. Diese »meisten« seien »süchtig Nach einer Wirklichkeit Wie aus 2ter Hand«, so der Sprecher. Sie verharren in einer Sphäre, die als »Reizworthölle« wenig anheimelnd scheint und doch eine unwiderstehliche Sucht erzeugt. Die Welt dieser »Wirklichkeit aus 2ter Hand« aber ist das Alleralltäglichste: die urbane Welt des Wegs zur Arbeit, »überfüllte Straßenbahnen«, Caf¦s, Distanz und Enge, »eingesperrt« und »gepanzert« gleichermaßen. »Reizwort« ist ein Terminus aus der Sprache der Verkaufspsychologie, es meint einen positiv besetzten Begriff, der negative Inhalte sprachlich verschleiert, ein Euphemismus in kommerzieller Absicht. Die »Reizworthölle« und die Rede von der »Wirklichkeit aus 2ter Hand« führen also in die kalte Welt urbanen Konsums, städtischer Verkehrsmittel und jenes Bilder-Rauschs, der den Berufspendler, der »am Morgen Unterwegs durch die Stadt« ist, noch immer ebenso überfällt wie einst schon den Flaneur Baudelaires oder Poes. Diese Szenerie, die also die klassischen Topoi moderner Großstadtlyrik aufgreift und auf den neuesten Stand bringt, wird dann aber abgelöst durch ein zweites Bild: »Stell dir vor : Ein Caf¦ voller Leute, alle Mit abgehobenen Schädeldecken, Gehirn Bloßgelegt (Dieses Grau!)« Das Büchner-Bild ist hier in sein Gegenteil gewendet: indiziert es bei Büchner gerade die Kommunikationsunfähigkeit und Undurchsichtigkeit der einander fremden Subjekte, so führt Grünbeins Szene geradewegs in die Hyperkommunikation sich unterhaltender Caf¦besucher, deren Gedankenaustausch buchstäblich darin zu bestehen scheint, dass sie ihr

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Innerstes nach außen kehren. Ihre Hirne aber sind, einmal ihrer knöchernen Ummantelung beraubt, gänzlich schutzlos den Reizen ihrer Umwelt, der »Resonanz auf den Terror ringsum« ausgesetzt. Die Reizüberflutung, so spekuliert die zitierte Rede, würde den Angesprochenen zum »Durchdrehen« bringen. Büchners Bild wird so zu einer Phantasie vom verlorenen Reizschutz, jenem Reizschutz, den Freud in seinen Schriften zur elementaren Struktur des psychischen Apparats als Voraussetzung für Überleben und Wahrnehmungsfähigkeit aller Organismen beschreibt.48 Ins späte 20. Jahrhundert katapultiert und in Anspielung auf Freud wie auf Benjamins Theorie des urbanen Lebens als permanenter »Chockabwehr«,49 wird das Büchner-Zitat umbesetzt zu einem Symbol der allzu großen sensorischen Empfänglichkeit des Körpers. Der neuronale Leib ist einer, dessen Gefährdung in der Überflutung mit Reizen liegt, nicht im Entzug der ihn erhaltenden Energie. Das Gehirn wird, wie Grünbein anderswo formuliert, zum »Kriegsschauplatz«50 der Reize, Dichtung dagegen gilt Grünbein – hier ganz im Gefolge von Benjamins Baudelaire-Lektüren – als »Reizabwehr«: »Vielleicht werden die stärksten Gedichte, die rätselhaftesten Stücke ja aus Reizabwehr geschrieben, als ein kurzes Aufatmen des Gedächtnisses unter dem Dauerbeschuss täglicher Eindrücke.«51 Die im Gedicht aufgerufenen Sinne, das Hören und das Sehen, die sich allerdings nur im Raum der »zersplitterten Bilder«, also im Raum der Imagination entfalten, sind die Kanäle, die die Reize ins Hirn übertragen. Dabei wird allerdings der Unterschied zwischen Vorstellung, Wahrnehmung und den Halluzinationen des Denkapparats gänzlich eingezogen. Jener »Nerventötende Sinus-Ton von Garantiert 1000 Hz« ist nichts anderes als ein Symbol dieses fehlenden Unterschieds: Als Sinuston ist er ein rein technischer Ton ohne die natürlichen Obertöne, die dem Klang etwas verleihen, was Akustiker ›Wärme‹ nennen. Die Frequenz von »Garantiert 1000 Hz« lässt sich in Reinform nur technisch erzeugen, liegt aber im Kernbereich der Empfindlichkeit des menschlichen Gehörs und im oberen Bereich der menschlichen Stimme. Ein Sinuston von 1000 Hz kann aber auch in Form eines Tinnitus vorkommen, eines als Wahrnehmungshalluzination auftretenden Stressphänomens, ganz ohne Technik als vom Hirn selbst erzeugter Reiz. Nur eines kann man vom Sinuston aber mit Sicherheit sagen: er hat – jedenfalls 48 Vgl. Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: ders.: Psychologie des Unbewussten, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey u. a., Frankfurt/ Main 1975 (Studienausgabe, Bd. 3), 213 – 272 sowie ders.: »Notiz über den Wunderblock« (1924), in: ebd., 363 – 369. 49 Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders.: Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/2, Frankfurt/Main 1974, 605 – 654, 615. 50 D. Grünbein: »Ameisenhafte Größe«, 14. 51 D. Grünbein: »Mein babylonisches Hirn«, 21.

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akustisch und medizinisch – mit der Bloßlegung der Gehirne nicht das mindeste zu tun. Technik und Halluzination, Außen und Innen konvergieren so zu einem ungemütlichen Bild, von dem allerdings nicht recht klar ist, ob es wirklich der Sinuston oder der Wegfall des Reizschutzes Schädeldecke oder vielmehr die urbane »Reizworthölle« ist, welches die Reizüberflutung bewirkt. Der neuronale Körper, den Grünbein zugrunde legt, ist so die Auflösung der Differenz von Innen und Außen, Reiz und Reizschutz, Wahrnehmung und Halluzination, Vorgestelltem und Erlebtem, er ist, mit einem andern Gedichttitel zu sprechen: inside out outside in.52 Mit diesem Körper, dessen Grenzen zwischen Innen und Außen nicht mehr, wie bei Büchner, gerade »dickhäutig«53 und intransparent, sondern vielmehr allzu durchlässig geworden sind, entwirft sich auch ein gänzlich anderes Verhältnis von Körper und Dichtung. Grünbeins Sprache und Bildlichkeit ist nämlich, so sehr sie die Terminologie der Hirnphysiologie, Physik, Philosophie und anderer Wissensgebiete in sich aufnimmt, seltsam erratisch. Betrachten wir noch einmal das Gedicht Zerebralis. Die Vision von den offenen Köpfen wird anscheinend besonders plastisch durch den Ausruf »Dieses Grau!« Es scheint, als sollten wir das Grau der Hirne gleichsam vor uns sehen. Sprache würde, nach einem sehr alten Modell, dann sinnliche Wahrnehmung und körperliche Präsenz evozieren und so hier einen Realitätseffekt erzeugen, ein Vor-Augen-Stellen. Aber grau sind Hirne nicht wirklich und was man sähe, wenn man auf ein frisches Hirn schaute, wären alle möglichen Schattierungen von rot und rosa. ›Graue Zellen‹ sind vielmehr der medizinische Term für die Nervenzellen der Großhirnrinde. Sehen kann man dieses Grau nicht, es ist eine vergessene Metapher, die sich zum umgangssprachlichen Wort für Hirn, Intelligenz etc. verfestigt hat. Worauf Grünbein möglicherweise hier anspielt, ist eine Röntgenaufnahme, die in für ihn geradezu traumatischer Weise das Innere seines Kopfes als »verschiedene Grautöne« darstellte.54 Und schließlich hat die Farbe Grau für Grünbein eine ideosynkratische und individuelle Bedeutung: »der Tagesanbruch, der immerwährende Morgen einer Gesellschaft, die auf der Stelle tritt. Im Grau steckt der Übergang, das Retardieren aller chromatischen Möglichkeiten.«55 Was Sprache hier also evoziert, sind nicht Wahrnehmungen und schon gar nicht physiologische Gegebenheiten, sondern deren Darstellungen, Repräsentationen: ein Röntgenbild, ein medizinisches Fachwort, eine abgesunkene Metapher, eine persönliche Assoziation. Die »Poetik der Präsenz«, die Grünbein 52 53 54 55

D. Grünbein: »Schädelbasislektion«, 42. G. Büchner : »Dantons Tod«, Akt I, Szene 1, 69. D. Grünbein: »Drei Briefe«, 44. Durs Grünbein: »Ich weiß noch, wie ich eines Tages auf Ezra Pound stieß«, in: Wolfgang Heidenreich (Hg.): Peter Huchel-Preis. Ein Jahrbuch. Durs Grünbein, Baden Baden 1998, 43.

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anstrebt, erweist sich so in letzter Konsequenz als Poetik der repräsentativen Kraft der Sprache: abwesende Dinge anwesend zu machen.56 Auch im Gedicht von den anatomischen Tafeln aus Schädelbasislektion geht es ja nicht darum, dass wir das Fleisch und die Knochen sind, die die Tafeln zeigen – sondern es heißt: »Was du bist, steht am Rand / Anatomischer Tafeln«. Am Rand anatomischer Tafeln stehen aber nicht Dinge sondern Begriffe, mithin: Sprache. Selbst »[d]iese Scheiß Sterblichkeit« stellt sich als Umgangssprache-Zitat aus, so wie das gesamte Schädeldecken-Gedicht sich als ein einziges, ebenfalls sehr von Umgangsjargon heimgesuchtes Zitat präsentiert, in dem Termini auftauchen, von denen das sprechende Subjekt nicht einmal weiß, was sie heißen: »Hieß das nicht … Entropie?« Mit guten Gründen, so scheint es, hat sich Grünbein gegen solche Rückfragen nach der präzisen Bedeutung der wissenschaftlichen Termini in seinen Gedichten und Essays verwahrt: »Ich möchte nicht mehr gefragt werden, ob ich genau weiß, was das heißt.«57 Fragt man also nach dem Körper und seiner Präsenz im literarischen Text, lässt sich Grünbeins vielgerühmte Kunst des Zitierens noch einmal anders in den Blick nehmen. Zweifellos lebt seine Dichtung vom Zitat, von der Anspielung auf die Heroen der Geistes- und Literaturgeschichte, seien es Descartes, Baudelaire, Juvenal, Pound oder eben Büchner. Grünbeins Büchner-Lektüre aber, so lässt sich zeigen, führt diese Kunst als eine Form der dekontextualisierenden Verkehrung vor. Die Prägnanz von Büchners Physiologie, die immer auch eine politische Physiologie ist, wird ins Bekenntnis einer Politik-Müdigkeit umgemünzt, die Intransparenz und Bedürftigkeit der Körper in überreizte und entgrenzte Wahrnehmungsapparate. Grünbeins Interesse geht vom Körper in die Sprache, es besteht im Transit der Termini aus dem Wissenschaftsjargon hinein in die Dichtung – nicht, wie Büchner, in einer Reflexion von der Sprache auf den Körper, den Phrasen nachgehend, die zu Körpern werden. Die Kunst des Zitierens und Dekontextualisierens erfasst bei Grünbein darum auch die naturwissenschaftlichen Termini. »Graue Zellen«, »Kleinhirn hin, Stammhirn her«, »Dienzephalon« oder »Entropie« sind Begriffe, die Grünbein nicht evoziert, um damit eine Sache, eben die Physis als »Reales« und Referent jenseits der Diskurse zu bezeichnen, sondern um sie als Begriffe auszustellen, die er aus ihrem epistemischen Zusammenhang etwa der Neurophysiologie oder der Physik gerade herauslöst. Das wissenschaftliche Vokabular evoziert nichts mehr, sondern stellt seine eigene Sprachlichkeit aus. Der Körper in Grünbeins Dichtung ist somit gerade nicht Gegenstand einer poetischen Analytik, die den epistemischen Anschluss an die Logik der Wissenschaften sucht, sondern er 56 So auch das Fazit von W. Riedel: »Poetik der Präsenz«. 57 Durs Grünbein: »Interview in der Grauzone« (Mai 1995), in: W. Heidenreich (Hg.): Peter Huchel-Preis, 48.

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erscheint als immer schon repräsentierter, zitierter und zitierbarer. Die wissenschaftlichen Diskurse behandelt Grünbein so wie die literarischen Autoren, auf die er subtil anspielt und die er neu und um-schreibt: als Reservoir seltsamer Metaphern, schillernder Bilder und gelehrter Begriffe, von denen man nicht so genau wissen muss, was sie bedeuten. Der Terminus ›Serotonin‹, so Grünbein, sei auch nicht unklarer als der lyrisch überstrapazierte Begriff ›Liebe‹.58 Wenn es beim Programm des »anthropologischen Realismus«, das sich Grünbein in den neunziger Jahren verordnet hatte, tatsächlich um den Körper als Referenten des Literarischen ging und damit um eine Literatur, die über das reine Sprachspiel hinausginge – dann ist Grünbeins frühe Dichtung weit entfernt davon. Grünbeins Körper ist, trotz aller physiologischen Referenzen, reine Sprache, nichts als Zitat.

58 Vgl. D. Grünbein: »Interview in der Grauzone«, 49.

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Arno Dusini ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Publikationen u. a.: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, 2005; (Mithg.) Vorlesung. 12 Vorlesungen über die Vorlesung, Göttingen 2007; »Das Buchstabieren Benjamins«, in: Benjamin-Studien 2, 2010. Eva Horn ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Zuletzt erschienen u. a.: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, 2007; (Hg.) Narrating Charisma, Special Issue, New German Critique 114 (2011); Zukunft als Katastrophe. Prävention und Fiktion, (erscheint 2014). Anna-Maria König studierte Germanistik und Philosophie in Wien und Nottingham. Publikationen: »Tizian und der Realismus. Malerisches Schilderungswesen in Gottfried Kellers Sinngedicht«, in: ›From Magic Columns to Cyberspace‹: Time and Space in German Literature, Art, and Theory, 2008; »Kafka als Volksschriftsteller? Anmerkungen zu Walter Benjamins Kafka-Essay (1934)«, in: Literarische Erfahrungsräume. Zentrum und Peripherie in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, 2009. Mona Körte forscht derzeit zum Gesicht als Artefakt in Kunst und Wissenschaft am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Ausgewählte Publikationen: »Der Un-Sinn der Dinge in Märchentexten um 1800«, in: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012) 1; »Gesichts(aus)schnitte. Teile vom Ganzen«, in: Kunstforum International. Gesicht im Porträt/ Porträt ohne Gesicht, Juli/August 2012; Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit, 2012; Blatt für Blatt. Text, Tod und Erinnerung bei Thomas Bernhard und Imre Kert¦sz, 2012. Stephan Kurz war bis September 2012 Assistent in Ausbildung am Institut für Germanistik an der Universität Wien. Publikationen u. a.: Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George, 2007; »There’s More to It Already. Typo-

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

graphy and Literature Studies: A Critique of Nina Nørgaard’s ›The semiotics of typography in literary texts‹« (2009), in: Orbis Litterarum 66 (2011); (Hg. mit Michael Rohrwasser) »A. ist manchmal wie ein kleines Kind«. Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler gehen ins Kino, 2012. Helmut Lethen ist seit 2007 Direktor des IFK Wien. Zuletzt erschienen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, 2006; Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum Kälte-Kult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, 2009; Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht, 2012. Matthias Meyer ist Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Wien. Veröffentlichungen u. a.: Blicke ins Innere. Form und Funktion der Darstellung des Selbst literarischer Charaktere in epischen Texten des 12. und 13. Jahrhunderts, 2004; (Mithg.) Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, 2010; »Dialog – innere Dialogisierung des Wortes – Dissoziierung. Überlegungen zum Dialogischen des Wortes in Frauenlobs Minneliedern«, in: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang, 2011. Jeannie Moser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Literatur und Wissenschaft an der TU Berlin. Publikationen u. a.: (Mithg.) Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, 2006; »Selbstversuche. Die Experimentalisierung von Geist, Seele und Sinnen am eigenen Körper«, in: Experiment und Literatur : Themen, Methoden, Theorien, 2010; »The Biography of a Psychotropic Substance. Figures and Narratives in LSD – My Problem Child by Albert Hofmann«, in: Configurations of the Third, (erscheint 2012); Psychotropen. Eine LSD-Biographie, 2013. Annegret Pelz ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Publikationen u. a.: Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, 1993; »The Power of Tables«, in: Jacqueline Hassink. The Table of Power 2, 2012; (Mithg.) Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, 2013. Anne-Kathrin Reulecke ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der KarlFranzens-Universität in Graz. Ausgewählte Publikationen: (Hg.) Fälschungen. Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, 2006; (Mithg.) Passionen. Objekte – Schauplätze – Denkstile, 2010; Täuschend, ähnlich. Fälschung und Plagiat als Figuren des Wissens in Künsten und Wissenschaften. Eine philologischkulturwissenschaftliche Studie, (erscheint 2013).

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

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Michael Rohrwasser ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Publikationen u. a.: Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler, 2005; (Mithg.) Kalter Krieg in Österreich. Literatur – Kunst – Kultur, 2010; »E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüder als Schule der Literatur«, in: Wilde Lektüren. Literatur und Leidenschaft, 2012. Hermann Schlösser ist Literaturwissenschaftler und Redakteur bei der »Wiener Zeitung«. Ausgewählte Veröffentlichungen: In Büchern unterwegs. Gedanken beim Lesen von Reiseliteratur, 2002; Lesarten der Wirklichkeit. Literatur, Wissenschaft und Philosophie im Spiegel journalistischer Rezensionen, 2010; Die Wiener in Berlin. Ein Künstlermilieu der 20er Jahre, 2011. Juliane Vogel ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Publikationen u. a.: Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ›großen Szene‹ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, 2002; (Mithg.) Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek, 2010; »Anti-Greffologie. Schneiden und Kleben in der Avantgarde«, in: Impfen, Pfropfen, Transplantieren, 2011. Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist Professorin für Sinologie und Vizerektorin für Forschung und Nachwuchsförderung der Universität Wien. Publikationen u. a.: (mit Li Zhenyi) Qiao – duogongneng jiaocai (Die Brücke – Multifunktionales Chinesisch-Lehrbuch), 2007; (Mithg.) Denkt Asien anders?, 2009; »ReImagining the Chinese Peasant: The Historiography on the Great Leap Forward«, in: Eating Bitterness: New Perspectives on China’s Great Leap Forward, 2011. Erdmut Wizisla ist Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs und des Walter BenjaminArchivs an der Akademie der Künste, Berlin. Publikationen u. a. Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, 2004; (Mithg.) Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, 2006; (Mithg.) Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen, 2006; (Hg.) Begegnungen mit Bertolt Brecht, 2009; (Hg.) »ich lerne: gläser + tassen spülen«. Bertolt Brecht / Helene Weigel: Briefe 1923 – 1956, 2012.