Gedächtnisparagone - Intermediale Konstellationen 9783847098041, 9783899715545


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German Pages [312] Year 2009

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Gedächtnisparagone - Intermediale Konstellationen
 9783847098041, 9783899715545

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Formen der Erinnerung Band 42 Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

Sabine Heiser / Christiane Holm (Hg.)

Gedächtnisparagone – Intermediale Konstellationen

Mit 45 Abbildungen

V&R unipress

Die Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen« an der Justus-Liebig-Universität Gießen entstanden und wurde auf dessen Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-554-5 © 2010, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Titelbild: Nicolaes Verkolje, Die Künste und die Wissenschaften besiegen die Zeit, Lavierte Federzeichnung über schwarzer Kreide, Staatliche Graphische Sammlung München, Inv.-Nr. 1993:17 Z. Mit freundlicher Genehmigung der Staatlichen Graphischen Sammlung Muenchen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Sabine Heiser und Christiane Holm Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Denkfigur des Gedächtnisparagone Hartmut Böhme Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten . . . . . . . . . . . 25 Joachim Jacob Gedächtniskonkurrenz als Medienästhetik. Dion von Prusas »Olympische Rede« und Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Wolfgang Ernst NEUESTER ›LAOKOON‹. Simultane versus sukzessive Speichermedien . . . . . . . . . . . . . . . 63 Joachim Knape Werk, Bildtext und Medium in agonaler Kunstrhetorik . . . . . . . . . 79 Hans Ulrich Reck MEMORIALPARADOXIE. Zu Wett- und Widerstreit von Erinnerung, PR und technisch entfalteter Übertragung . . . . . . . 93

Paragonale Konstellationen in Gedächtnismedien Ursula Bittrich Geträumte Dichtung und gedichtete Träume. Zum Verhältnis von Wortkunst und bildlicher Imagination in Aelius Aristides’ »Heiligen Berichten« . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Silke Tammen Vom Haften der Erinnerung. Gedanken zu paragonalen Konstellationen der Gedächtnismedien im Mittelalter . . . . . . . . . . 131

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Inhalt

Jörg Jochen Berns Medienwissenschaftliche Implikationen der Magia naturalis. Bemerkungen zu den sinnlichen Affizierungsstrategien der Inventions- und Merkkünste in naturmagischen Kompendien von Della Porta und Harsdörffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Martin Miersch Zum Wettstreit der Künste in einer Barockoper . . . . . . . . . . . . . 169 Rolf Reichardt Intermediale Wechselspiele. Lieder versus Bilder in Frankreich zwischen Revolution und Restauration . . . . . . . . . . 191 Joachim Penzel Der umworbene Blick. Bildbetrachtung in Gemäldegalerien des 19. Jahrhunderts in der paragonalen Konstellation zwischen Buchmarkt und Kunstinstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Walburga Hülk Gedächtnisparagone und Intensität. Einige Betrachtungen zur Dynamik des Erinnerns: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Scott Budzynski Ikonische Architektur im Paragone zwischen Avantgarde und Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Alma-Elisa Kittner Der Autorschaftsparagone. Zum Doppelspiel von Literatur und Bildender Kunst zwischen Sophie Calle und Paul Auster . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Lothar van Laak Erzeugung von Erinnerung im Widerspiel von Film und Literatur bei Patrick Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Sabine Heiser und Christiane Holm

Einleitung

Der Gedächtnisparagone ist eine Denkfigur, die sich der medialen Spezifik von Erinnerungsprozessen und Gedächtnismodellen widmet. Denn der Wettstreit, in dem verschiedene Medien gegeneinander antreten und ihre Leistungsfähigkeit für Gedächtnis und Erinnerung aneinander messen, macht ihre medialen Eigenarten in besonderer Weise sichtbar. Diese Form der Konkurrenz erhellt sich im Vergleich mit einer ästhetischen Debatte: dem Paragone der Künste. Und diese Referenzdebatte ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil hier bereits verschiedene Versuchsanordnungen erprobt wurden, sondern weil dabei das Zusammenspiel der Künste mit Erinnerungspraktiken sowie deren Ansprüche auf einen Platz im kulturellen Gedächtnis immer schon zentrale Kriterien im ästhetischen Kräftemessen darstellten. Eine der Streitfragen des Paragone war die nach der Leistungsfähigkeit der Künste für Gedächtnis und Erinnerung: einerseits, welche Kunst so wirke, dass sie sich am besten in das psycho-physische Gedächtnis einpräge und somit optimal erinnerbar sei, andererseits, welche Kunst bereits durch ihre materiale Disposition am resistentesten gegen Tilgungen sei und somit größtmögliche Dauer garantiere als Bedingung für den Nachruhm von Auftraggeber und Künstler und darüber hinaus für ein stabiles kulturelles Gedächtnis. Diesen Argumentationszusammenhang setzt das Titelbild dieses Bandes, Nicolaes Verkoljes Anfang des 18. Jahrhunderts entstandene Zeichnung, eindrucksvoll in Szene. Im Zentrum steht der Kampf der Künste gegen Chronos, die alles vernichtende Zeit. Minerva und ihre Helfer halten den Zerstörer des Gedächtnisses bei seinem Beutezug gegen die Künste auf, die durch die Insignien im vorderen Bildraum repräsentiert sind. Sie entwinden ihm die Sense und stutzen seine Flügel. Diese gemeinsam erfahrene und ab­gewehrte Bedrohung stellt die Künste jedoch keinesfalls auf eine Ebene. Die Medien von Malerei und Zeichnung sind in Gestalt der geschäftigen Putten lebendig mit den Wissenschaften verbunden und überschneiden die Grenze zur Tempelarchitektur der Minerva am linken Bildrand während Musikinstrumente und Bücher ungenutzt im Staub liegen. Die Literatur allerdings wird durch das spiegelbildlich zum Treiben der Putten aufsteigende Musenross Pegasus bekrönt. Die viel bedichtete Streitszene im rechten Mittelgrund, die Geißelung des Midas, der im musikalischen Wettstreit zwischen Pan und Apoll gegen den Gott der Künste geurteilt hatte, integriert nun auch die nicht Bildenden Künste in das turbulente Geschehen. In Hinblick auf die zentrale

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Kampfszene, die das Kriterium der Dauerhaftigkeit fokussiert und somit die Funktion der Künste als Gedächtnismedien exponiert, sind Dichtung und Musik auf den Schutzraum der Bildenden Künste angewiesen.1 Die Denkfigur des Gedächtnisparagone geht nicht allein in solchen erinnerungsrelevanten Argumenten innerhalb des Paragone der Künste auf. Entscheidend ist vielmehr, dass sich aus dem kunsttheoretischen wie kunstpraktischen Paragone ein heuristisches Verfahren ableiten lässt: Selbstreflexion durch (Medien-)Differenzbewusstsein.2 Vor diesem Hintergrund gewinnt das Konzept des Gedächtnisparagone seinen methodischen Reiz, weil es weniger darum geht, dass und wie Artefakte von konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften um deren Erinnertwerden willen eingesetzt werden, als vielmehr um die innerästhetischen Auseinandersetzungen über das Erinnern als solches.

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Diese physische Inszenierung des Gedächtnisargumentes im Paragone zeigt zugleich eine neue historische Situation in der paragonalen Positionierung der Bildenden Kunst: Die Malerei und mit ihr die Bildenden Künste haben bereits ihr Ziel erreicht und sich über den Beweis ihrer Wissenschaftlichkeit als den Septem artes liberales ebenbürtig erwiesen, weshalb hier die Verbindung von Zeichnung und Malerei zu den Messinstrumenten und Aufzeichnungssystemen der Wissenschaften hervorgehoben wird. Nun aber gilt bereits eine neue Ordnung der Künste, die sie nicht mehr als Teil der Wissenschaft, sondern als eigenständige Dreiergruppe definiert, in der nun die selbstbewusst erstarkte Bildende Kunst in Umkehrung der ehemaligen Hierarchie einen Führungsanspruch behauptet. Vgl. dazu die ältere Allegorie von Egidius Sadeler nach Hans von Aachen Ende des 16. Jahrhunderts »Minerva führt die Malerei den sieben freien Künsten zu«; vgl. dazu: Ekkehard Mai / Kurt Wettengl (Hg.), Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier, Ausst.Kat. Haus der Kunst München und Wallraf-Richartz-Museum – Foundation Corbud Köln, Köln 2002, S. 196 u. S. 274. 2 Mit dem heuristischen Fokus auf dem Vergleich knüpft die Denkfigur des Gedächtnisparagone an den kulturwissenschaftlich gefassten Medienbegriff von Jürgen Fohrmann an, der auf der These basiert, »daß die Funktion oder die Leistung, die je spezifischen Eigenschaften von Medien nur im Medienvergleich zu rekonstruieren sind und daß diesen Vergleich eine mediale Reflexion von Anfang an begleitet«. Vor diesem Hintergrund wird sehr kritisch mit Ansätzen umgegangen, die »das technische Dispositiv von Medien zu einer Ontologie« zu machen drohen, da die Medien nur innerhalb ihrer dynamischen kulturellen Kontexte zu beobachten sind und ihr Verhältnis zueinander  – systemtheoretisch gesprochen  – über den »Vollzug von Referenz und Differenz« ständig in Bewegung bleibt. Jürgen Fohrmann, Der Unterschied der Medien, in: Ders.  /  Erhard Schüttpelz, Die Kommunikation der Medien, Tübingen 2004, S.  5–19, hier S.  6 u. S.  19 (Herv. im Orig.).

Einleitung

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Vom Paragone der Künste zum Paragone der Medien Ein Kennzeichen des Agon in der antiken griechischen Kult- und Kultur­ praxis war, dass der Wettstreit nur zwischen ebenbürtigen Herausforderern zugelassen wurde.3 Als zentrale öffentlichkeitskonstituierende Streitkultur der Polis wurden die Agones als gesellschaftsfördernde Praxis verstanden.4 Der Akzent lag auf dem konstruktiven Vergleich, nicht auf der destruktiven Unterwerfung. So wurde etwa in dem von Plinius überlieferten antiken Wettstreit (certamen) um die beste bronzene Amazonenskulptur für das Heiligtum der Artemis von Ephesos das siegreiche Werk gemeinsam mit den unterlegenen Entwürfen präsentiert, die Ant-Agonisten blieben also auf Augenhöhe miteinander.5 Eine weitere Wendung in Richtung unserer Denk­ figur des Gedächtnisparagone erfährt diese Künstlerlegende dadurch, dass die Amazonenstandbilder der beteiligten Künstler Polyklet, Phidias, Kresilas, Kydon und Phradmon vielfach in Marmor kopiert und als Gruppe aufgestellt wurden, um den Wettbewerb selbst anschaulich zu vergegenwärtigen. Hier wird deutlich, dass der Agon eine diskursive Praxis ist, in dem es nicht um Setzung von Qualität, sondern zugleich auch um das Aushandeln der zugrundeliegenden Qualitätskriterien geht. In dieser kommunikativen Dynamik ist immer schon mitgedacht, dass solche Kriterien in Bewegung bleiben, dass sie für ein Hier und Jetzt Gültigkeit beanspruchen, sich jedoch bald schon wieder neuen Argumenten stellen müssen. Theoriefähig wurde der Agon der Künste in der Renaissance, in der er seinen spezifischen Namen Paragone erhielt.6 In dieser Umbenennung do3

Vgl. Oscar W. Reinmuth, Art. »Agon(es)«, in: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, hg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, Bd. 1, München 1975, Sp. 135–139; Ingomar Weiler, Der Agon im Mythos. Zur Einstellung der Griechen zum Wettkampf, Darmstadt 1974. 4 Diese durchweg positive Besetzung erhält der Agon in den kulturtheoretischen Kontextualisierungen durch Friedrich Nietzsche, Jacob Burckhardt bis zu Jean-Francois Lyotard. Dazu: Kristine Patz, Einleitung: Im Agon der Künste, in: Hannah Baader / Ulrike Müller-Hofstede u. a. (Hg.), Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, München 2007, S. 9–18, hier S. 9; vgl. auch Irmgard Bohunovsky-Bärnthaler (Hg.), Streit. Domäne der Kultur, Klagenfurt 2006; darin besonders der Aufsatz von Beat Wyss, Der Paragone. Spielregeln des Kunstsystems, S. 31–55. 5 Vgl. Plinius, Naturalis historia 34, 53. Zu diesem Wettstreit vgl. Renate Bol, Die Amazone des Polyklet, in: Herbert Beck (Hg.), Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik, Ausst.-Kat. Liebieghaus Frankfurt am Main 1990/91, Frankfurt a. M. 1990, S.  213–239 und Hans von Steuben, Die Amazone des Polyklet, in: Herbert Beck / Dieter Bol (Hg.), Polykletforschungen, Berlin 1993, S. 73–102. 6 Ulrich Pfisterer, Art. »Paragone«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 528–546, hier insbesondere Sp. 529 zur allmählichen Etablierung des Begriffs »Paragone« im 16. und 17. Jahrhundert.

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kumentiert sich eine Akzentverschiebung vom Wettkampf zum Vergleich, wie er sich bereits in der antiken Praxis zeigte (ital. il paragone). Seine Gründungsurkunden finden sich bezeichnenderweise in einer Zeit, als sich die Aushandlung von Qualitätskriterien direkt mit institutionellen Interessen verband. Im Zentrum stand das Kriterium der Wahrheit der Darstellung und somit eine mimetische Kunst- und Erinnerungskonzeption. Mit dem Argument ihrer wissenschaftlichen Methode führte sich die Malerei als streitbare Antagonistin ein, die sich über die Aufforderung zum Vergleich als ebenbürtige Gegnerin der Septem artes liberales beweisen und somit ihren institutionellen Status ändern wollte. Die berühmtesten Paragone-Traktate wie Leon Battista Albertis »De Pictura« (1435/36) und Leonardo da Vincis im »Codex Urbinas« überlieferte Argumente begründen das Potenzial der Malerei zur Universalwissenschaft, um sie aus der handwerklichen Definition und somit aus den Septem artes mechanicae zu lösen.7 Nach der erfolgreichen Akademisierung der Bildenden Künste und im Zuge epistemischer Umbrüche wurde das Wahrheitskriterium neu definiert. Mit der wissenschaftlichen Etablierung des Sensualismus und schließlich der anthropologischen Wende in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts wurden nun vor allem wahrnehmungstheoretische Kriterien herangezogen und der Paragone der Künste zum »Paragone der Sinne«8 modifiziert. Auf dieser Grund­lage begann die Transformation von der Kunst- zur Medientheorie, wie sie sich in Gotthold Ephraim Lessings folgenreichem »Laokoon« (1766) mit seiner systematischen Unterscheidung nach Raum- und Zeitmedien dokumentiert. Im 19. Jahrhundert entzündete sich der erste außerkünstlerisch induzierte Paragone, als sich die Künste durch die Fotografie als Medium sine manu ­factu mit ihrer zunächst schockierenden Mimesis- und Gedächtnisfähigkeit 7

Claire J. Farago, Leonardo da Vinci’s Paragone. A critical interpretation with a new edition of the text in the Codex Urbinas, Leiden 1992; vgl. dazu Christiane Kruse, Ein Angriff auf die Herrschaft des Logos. Zum Paragone von Leonardo da Vinci, in: Stefan Rieger / Renate Lachmann (Hg.), Text und Wissen. Technologische und anthroplogische Aspekte, Tübingen 2003, S. 75–90. 8 Hans Körner, Paragone der Sinne. Der Vergleich von Malerei und Skulptur im Zeitalter der Aufklärung, in: Herbert Beck (Hg.), Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung, Ausst.-Kat. Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie Frankfurt am Main 1999/2000, München 1999, S. 365–37. Innerhalb der Paragone-Literatur wurden bereits im 16.  und 17.  Jahrhundert wahrnehmungstheoretische Argumente formuliert, insbesondere im Vergleich zwischen Malerei und Plastik. Vgl. dazu Christiane J. Hessler, Maler und Bildhauer im sophistischen Tauziehen. Der Paragone in der italienischen Kunstliteratur des 16.  Jahrhunderts, in: Mai / Wettengl, Wettstreit der Künste, S. 82–97, hier S. 89 f. Dass der Paragone als Wettstreit der Sinne, somit auch von individuellen physischen wie psychischen Fähigkeiten gelten kann, ist eine zentrale Voraussetzung für die Denkfigur des Gedächtnisparagone; vgl. dazu auch Patz, Einleitung: Im Agon der Künste, S. 14.

Einleitung

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herausgefordert sahen. Dieses erste der neuen Medien drängte nicht nur selbst in den Status der Künste, sondern zwang diese ganz grundlegend zur Klärung ihres Selbstverständnisses als Kunstmedien und zur Neuformulierung des bislang zentralen Wahrheits- und Mimesispostulates.9 So werden ex negativo neue Gedächtniskonzepte entwickelt, die den Wahrheitsanspruch gerade im amimetischen Abbild begründen, wie es etwa Siegfried Kracauer in seiner Theorie des »Gedächtnisbildes« formuliert.10 Die paragonalen Konstellationen des 20. Jahrhunderts sind von der Herausforderung durch die elektronischen Medien geprägt, die alle anderen Kunst- und Kommunikationsmedien in sich aufzunehmen und somit ihre Unterschiede zu nivellieren scheinen. Da nun alle Text-, Bild- und Tonme­ dien in einem digitalen Supermedium aufgehoben scheinen, wurde angesichts dieser technikgeschichtlichen Zäsur nun das Ende des Medien-Paragone diagnostiziert.11 Auch die Kommunikationstheorie, die das Medium funktionell definierte und somit eine prinzipielle Vergleichbarkeit der Medien implizierte, schien der Streitkultur des Paragone endgültig seine Grundlagen zu entziehen. Beides ist nicht der Fall. Vielmehr profilierte Marshall McLuhan die Medientheorie als eigene Disziplin, indem er nicht von der »Isomorphie der Medien« ausging, sondern die »Mediendifferenz als eine die Wissenschaft revolutionierende Botschaft – und als eine fundamentale hermeneutische Aufgabe« verstand.12 Die Medientheorie setzte in ihren Gründungstexten gerade bei paragonalen Konstellationen an und konstatierte die Inkommensurabilität der Medien, um diese in Einzelmedien auszudifferenzieren. Mit Blick auf die aktuelle Kunstszene mit ihrer Affinität zu Event und Marketing bildet sich eine neue, stärker performativ geprägte Spielart des Paragone heraus.13 Paragonal treten solche Arbeiten auf, die das Kunst­system nicht länger jenseits der Gesetze des Marktes positionieren, sondern ein 9

Gerade das Wahrheitsparadigma der Fotografie wird über die traditionsreiche Streitrhetorik des Paragone vertreten; vgl. dazu: Wyss, Spielregeln des Kunstsystems. 10 Siegfried Kracauer, Die Photographie, in: Ders., Schriften, Bd. 5.2: Aufsätze (1927– 1931), hg. v. Inka Mülder-Bach, Frankfurt a. M. 1990, S. 83–98 (zuerst veröffentlicht: Frankfurter Zeitung, 28.10.1927), hier bes. S. 85–87. 11 Vgl. Patz, Einleitung: Im Agon der Künste, S. 16. 12 Erhard Schüttpelz, Von der Kommunikation zu den Medien/In Krieg und Frieden (1943–1960), in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien u. a. 2005, S 481–551, hier S. 530. 13 Dieser paragonalen Konstellation unter ökonomischen Vorzeichen ging eine Vortragsreihe der FU Berlin im Sommersemester 2006 unter dem Titel »Kampf der Künste. Kunstproduktion im Zeichen von Medienkonkurrenz und neuen ›Event‹Stategien« nach (Konzeption: Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann und Alma-Elisa Kittner). Die Ergebnisse werden aktuell für den Druck vorbereitet.

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durchaus kommerzielles Öffentlichkeitsmanagement in die Kunstwerke integrieren bzw. diese unhintergehbaren Rahmenbedingungen zum Gegen­stand künstlerischer Reflexion machen. Dabei kann die Idee des Wettstreits zum Motor und Script künstlerischer Aktionen werden, wie etwa der kontroverse Arbeitsdialog der Foto- und Aktionskünstlerin Sophie Calle und des Schriftstellers Paul Auster zeigt (siehe Kittner).

Intermedialität von Erinnerung und Gedächtnis Die Erforschung von Erinnerungskulturen hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten, und hier positionierte sich auch die Arbeit des gleichnamigen Sonderforschungsbereichs an der Justus-Liebig-Universität Gießen, zunehmend auf die Medialität von Erinnerungsprozessen und Gedächtnismodellen konzentriert und damit den konstruktiven Anteil hervorgehoben, den Medien bei der Repräsentation von Vergangenheit übernehmen.14 Daraus resultierten Einsichten in die Schlagkraft der jeweiligen Leitmedien von konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften, so der Buchdruck der Reformatoren in der Frühen Neuzeit, das Museum des Bildungsbürgertums im 19.  Jahr­ hundert oder die Satellitenbilder im Zweiten Golfkrieg. In diesem Forschungskontext hat sich die AG »Intermedialität und Erinnerung« insbesondere mit Konstellationen der Erinnerung auseinander­ gesetzt, die sich aus dem Zusammen- oder Gegeneinanderwirken von unterschiedlichen Medien ergeben.15 Da gerade Erinnerungskulturen eine Affinität 14

Exemplarisch sei hier auf zwei wichtige im Kontext des SFBs »Erinnerungskulturen« entstandene Überblicksdarstellung verwiesen: Astrid Erll, Medium des kollektiven Gedächtnisses  – Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, in: Dies. / Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität, Berlin / New York 2004, S. 3–22 und Kirsten Dickhaut, Intermedialität und Gedächtnis, in: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hg.), Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, Berlin / New York 2005, S. 203–226. Hinzuweisen ist generell auf die von Astrid Erll und Ansgar Nünning begründete Reihe »Media & Cultural Memory/Medien & kulturelle Erinnerung« (MCM). Das verstärkte Interesse für medienhistorische Fragestellungen bildet sich zudem in der vorliegenden SFB-Reihe »Formen der Erinnerung« ab, die die Ausbildung von Erinnerungskulturen in synchroner wie diachroner Perspektive mit der Ausbildung von spezifischen Formen der Erinnerung auch in medialer Hinsicht korreliert. 15 In ihrer Revision der Intermedialitätsforschung zeigt Kirsten Dickhaut, dass der Aspekt der »Medienkonkurrenz« bislang weitgehend übersehen wurde, so in dem Modell von Irina Rajewsky, in dem zwischen intermedialen Bezügen, Medienwechsel und Medienkombination unterschieden wird; vgl. Irina Rajewsky, Intermedia­ lität, Tübingen 2002. Vor diesem Hintergrund kann Dickhaut in der Zuspitzung der

Einleitung

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zu plurimedialen Repräsentationen haben, finden sich hier in hoher Dichte Medienkombinationen, Medienimitationen, Medienwechsel oder auch Medienkonkurrenzen. Mit der Konzeptionalisierung des Gedächtnisparagone erfolgt eine Konzentration auf den Sonderfall der Medienkonkurrenz. Diese Verengung ist nicht durch das Interesse an der kontroversen Re­lation als solcher motiviert, sondern aus dem reflexiven sur plus medialer Auseinandersetzungen, wie sie bereits in der kunstgeschichtlichen Forschung zum »Wettstreit der Künste« herausgearbeitet wurde.16 Entsprechend handelt es sich auch beim Gedächtnisparagone um ein äußerst reflexionsintensives Phänomen, da der auf Distinktion zielende Vergleich von Medien des kollektiven oder individuellen Gedächtnisses deren spezifische Erinnerungs- und Gedächtnispotenziale exponiert. Der Gedächtnisparagone setzt also immer schon intermediale Konstellationen voraus und wirkt in diese hinein. Zu beobachten ist, dass solche Konstellationen nicht nur Einzelmedien zur Positionierung zwingen, sondern mit der Neuorientierung des gesamten intermedialen Beziehungsgefüges einhergehen. Dieses lässt sich nicht allein an medientechnischen Neuerungen wie dem Buchdruck, der Fotografie oder der Digitaltechnik studie­ren, sondern ebenso dann, wenn ein etabliertes Medium zunehmend ausge­grenzt oder sogar verboten wird, so wie die im Totengedenken des 19. Jahr­hunderts verbreiteten Erinnerungsstücke aus Haaren wegen hygienischer Bedenken verschwinden. Oft sind es auch die Außenseiter wie künstlerisch randständige oder auch anachronistische Medien, die plötzlich bedeutungsvolle Karrieren als Erinnerungsmedien antreten wie der schnelle Aufstieg der Karikatur in der Französischen Revolution (siehe Reichardt) oder die unverhoffte Rückkehr der Handschrift im digitalen Zeitalter. Wie bereits durch die kunsthistorische Paragoneforschung belegt, wird der Wettstreit keinesfalls nur in Traktaten, also auf der Ebene der Kunsttheorie, sondern auch in den Kunstwerken selbst ausgetragen.17 Auch die kunstprakMedienkonkurrenz auf Erinnerungskulturen, konkret im »Gedächtnisparagone«, ein eigenes Forschungsfeld ausmachen; vgl. Dickhaut, Intermedialität und Gedächtnis, S 206 f. u. S. 219. 16 Ekkehard Mai und Kurt Wettengl haben sich in ihrer Ausstellung zum »Wettstreit der Künste« vornehmlich für die »gemalte Theorie« interessiert, die im Kontext des Paragone entstanden ist. Dabei verschob sich das Interesse von dem in der Traktatliteratur etablierten Wahrheitskriterium hin zur Begründung der »Medienfrage […], die seitdem und bis heute – gerade heute – gültig ist«. Mai / Wettengl, Wettstreit der Künste, S. 7 u. S. 9. 17 Diese wechselseitige Erhellung zwischen kunsttheoretischen und kunstpraktischen Formen des Paragone bildet sich in der neueren Paragoneforschung ab; vgl. Mai, Wettengl, Wettstreit der Künste; Rudolf Preimesberger, Paragone-Motive und theoretische Konzepte in Vincenzo Giustinianis Discorso sopra la Scultura, in: Silvia

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tische Auseinandersetzung ist nur in intermedialen Gefügen möglich, denn ein Kunstwerk oder Kommunikationsmedium kann seine spezifische Erinnerungskompetenz im Vergleich mit einem anderen nur dann klären, wenn es sich diesem in expliziter oder auch impliziter Form zuwendet, es adressiert, integriert, zitiert, imitiert, parodiert oder anderes mehr.

Der Gedächtnisparagone als heuristisches Modell Die Denkfigur des Gedächtnisparagone ist in mehrere Referenzdiskurse und ‑praktiken eingespannt. Herangezogen wurde bereits die kunsttheoretische Debatte vom Wettstreit der Künste. Indem diese unter medientheoretischen Vorzeichen weitergeführt und ausdifferenziert wird, werden die bereits kunsttheoretisch traditionsreichen ästhetisch-materialen Kriterien (siehe Jacob) um kulturanthropologische (siehe Böhme), technisch-apparative (siehe Ernst) und rhetorisch-performative (siehe Knape und Reck) erweitert. Neben diesen systematischen Differenzierungen des Medienbegriffs ist immer auch seine historische Prägung einzubeziehen, die keinesfalls in den jeweils zur Verfügung stehenden Medientechniken aufgeht. Gerade für die Erinnerungs- und Gedächtnismedien spielt das epistemische Wahrheits­ kriterium, das lange Zeit zentraler Bezugspunkt des Paragone der Künste war, eine zentrale Rolle. So werden in den paragonalen Konstellationen solche historischen Leitkategorien sichtbar, die Erinnerung mit Erkenntnis koppeln, so die ›Andacht‹ im Mittelalter (siehe Tammen), die ›Invention‹ der Frühen Neuzeit (siehe Berns), die ›Intensität‹ um 1900 (siehe Hülk-Althoff), die ›Authentiziät‹ (siehe Kittner) oder die ›Angemessenheit‹ (siehe Reck) aktueller Kontroversen. Eng mit solchen Leitvorstellungen verbunden zeigen sich Danesi Squar­zina (Hg.), Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiani und die Berliner Gemäldegalerie, Ausst.-Kat. Altes Museum, Berlin, Palazzo ­Giustiniani, Rom, Berlin 2001, S.  50–56; Alessandro Nova, »Paragone«-Debatte und gemalte Theorie in der Zeit Cellinis, in: Ders. (Hg.), Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16.  Jahrhundert, Köln  /  Weimar  /  Wien 2003, S.  183–202; ­Valeska v. Rosen  /  Klaus Krüger  /  Rudolf Preimesberger (Hg.), Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München / Berlin 2003; Sabine Poeschel, Paragone – »Ein Duell vortrefflichster Künstler«. Zur Geschichte von Künstlerkonkurrenz und Künstlerkampf, in: Kunstforum 173 (Nov./Dez. 2004), S. 91–111; Luca Giuliani, Die unmöglichen Bilder des Philostrat: Ein antiker Beitrag zur Paragone-Debatte?, in: Pegasus  – Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike 8 (2006), S.  91–116; Andreas Schnitzler, Der Wettstreit der Künste. Die Relevanz der Paragone-Frage im 20. Jahrhundert, Berlin 2007; Baader / Müller-Hof­stede u. a. , Im Agon der Künste.

Einleitung

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die Gedächtnismodelle mit ihren medialen Implikationen ebenfalls diskursiv in Bewegung wie etwa das topographische Modell vom Gedächtnis als Gehäuse oder als Stadt (siehe Budzynski) oder das dynamische Modell des plötzlichen Aufscheinens von Erinnerungen im filmischen dissolve (siehe van Laak). Schließlich sind neben diesen Referenzdiskursen der Kunst-, Medien-, Erinnerungs- und Gedächtnistheorie auch die Konjunkturen verschiedener ganz konkreter Erinnerungspraktiken einzubeziehen, so die Traumerinnerung im rituellen Tempelschlaf der griechischen Antike (siehe Bittrich), die Erinnerungspolitik auf der Opernbühne des Absolutismus (siehe Miersch), die subversive Chansonpraxis der Französischen Revolution (siehe ­Reichardt) oder der Museumsbesuch im 19. Jahrhundert (siehe Penzel). Festzuhalten ist, dass die Analyse des Gedächtnisparagone nicht einen bestimmten Medienbegriff, ein bestimmtes Gedächtnismodell, eine konkrete Erinnerungspraxis zugrunde legt, sondern diese eben erst im Zuge der paragonalen Konstellation zu klären und historisch zu profilieren sucht. Nur un­ ter einer historischen Perspektive ist verständlich, dass dieselbe vermeintlich überzeitliche Medienspezifik in dem einen Kontext als Nachteil, in einem anderen als Vorteil präsentiert werden kann.18 Entscheidend ist, dass das paragonale Verfahren sich in einer Selbstbeobachtung durch Fremdbeobachtung realisiert und dabei ein Medien-Differenzbewusstsein generiert. An der Schnittstelle von Theorie und Praxis einerseits sowie Kunst  /  Medien und Gedächtnis / Erinnerung andererseits lässt sich der Gedächtnisparagone nur im Vollzug beschreiben: als temporäre intermediale Konstellation, an der diese Referenztheorien und ‑praktiken nicht als gegeben erscheinen, sondern vielmehr modifiziert und dabei nicht selten neu formuliert werden.

Zum Aufbau des Bandes Der Band gliedert sich in zwei Teile. Die Beiträge im ersten Teil  befassen sich in systematisch-historischer Perspektive mit dem Gedächtnis­paragone als Denkfigur und loten dabei insbesondere seine erinnerungs- und medien­ theoretischen Erträge aus. Die Beiträge im zweiten Teil  gehen anhand von Fallbeispielen paragonalen Konstellationen innerhalb bzw. zwischen konkreten Erinnerungsmedien verschiedener literarischer, bildnerischer und musikalischer Gattungen vom kulturellen Höhenkamm bis hin zur Populärkultur nach. Sie sind chronologisch angeordnet, ohne dass die entstehende Reihe Anspruch auf eine Entwicklungslogik erheben kann und will.

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Vgl. Pfisterer, Art. »Paragone«, Sp. 529.

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Die Konzeptualisierung des Gedächtnisparagone verdankt dem im Jahr 2000 erschienen Aufsatz von Hartmut Böhme zum Wettstreit der Medien im Angedenken der Toten viel, der aus diesem Grunde hier nochmals abgedruckt werden durfte.19 Entscheidend ist, dass Böhme dem historischen Paragone eine neue Lesart abgewinnt und ihn über dessen klassischen Anwendungsfall im Kunstkontext hinaus heuristisch fruchtbar macht. Dabei bezieht er auch die Begründung des Paragone in der Renaissance, seine mediale Neuformulierung mit der Fotografie und seine Transformation im digitalen Zeitalter ein und korreliert dies mit der Konzeptualisierung von Kulturtheorie bis in aktuelle Methodendiskussionen hinein. Im Zentrum steht die individuelle wie kulturelle Herausforderung des Totengedenkens, das Darstellungsproblem der »paradoxen Form anwesender Abwesenheit«. Als sich mit den Massenmorden des Holocaust das kulturelle Verhältnis zum Totengedenken ändert, als deutlich wird, dass es eine »Resurrektion der Toten im Buch der Geschichte« nicht geben kann, verschwinden zugleich die Voraussetzungen des Gedächtnisparagone. Innerhalb der klassischen Paragonedebatte erwies sich der Disput um das Verhältnis von Text und Bild als besonders produktiv. Vor diesem Hintergrund untersucht Joachim Jacob zwei Gründungstexte, die »Olympische Rede« des Dion von Prusa und Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon«; er lotet damit die historische Spannweite zwischen der antiken Tradition des Agon und dem Durchbruch der Medienästhetik aus. Dabei wird deutlich, dass bereits in der antiken Debatte nicht nur die Fragen des Gedächtnisses, wie die nach der Dauerhaftigkeit der Kunstwerke, verhandelt werden, sondern bereits Überlegungen zu den psycho-physischen Erinnerungsprozessen einbezogen werden, so vor allem, dass sich ein Bild dem Gedächtnis nach­ haltiger einprägt, es somit aber auch okkupiert, während ein Text hingegen die aktive Erinnerung motiviert. Diese Unterscheidung wird bei Lessing zur systematischen Trennung in simultane und sukzessive Medien für Gedächtnis und Erinnerung ausgearbeitet. Wolfgang Ernst erprobt diese Unterscheidung vor dem Hintergrund neuerer und neuester Medientechniken. Er führt diese Debatte über das Verhältnis der sukzessiven zu den simultanen Medien unter den Bedingungen medientechnischer Inventionen wie Film und Computer von Rudolf Arnheims »New Laokoon« über Clement Greenbergs »Newer Laokoon« zu Mi­chael Franz’ »Electric Laokoon« fort. Dabei verfolgt er die Verschiebungen innerhalb des Medienbegriffs, die sich von der Frage, wie etwas in den materialen Bedingungen eines Mediums zur Darstellung kommt, darauf verlagert, wie 19

Hartmut Böhme, Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten, in: Hans Belting / Dietmar Kamper (Hg.), Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 23–43.

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das Medium technisch funktioniert. Und genau diese Verschiebung lässt sich weiterhin mit Lessings Kategorien beschreiben: Die elektronischen Medien operieren sequentiell, auch das simultan scheinende elektronische Bild entsteht nur im permanenten refresh unterhalb der Wahrnehmungsgrenze und ist deshalb nur im Vollzug beschreibbar. In diesem Sinne plädiert Ernst dafür, ein »Stiefkind des Gedächtnisparagone«, das Tonmedium und mit ihm das akustische Gedächtnis, ins Zentrum der Reflexion über die aktuelle Mediensituation zu stellen. Aus der Perspektive der Rhetorik unterzieht Joachim Knape einige kunsttheoretische Kategorien einer Reflexion, da, so seine Ausgangsthese, jedes Kunstwerk  a priori durch seine unhintergehbare Positionierung im Kunstbetrieb in rhetorische Persuasionsmechanismen eingebunden ist. Vor diesem Hintergrund geht er den rhetorisch-agonalen Strukturen des Kunstwerks auf verschiedenen Ebenen nach und differenziert es dabei nach seinem Charakter als Werk, als Artefakt, als Zeichen und als Medium. Auf der medialen Ebene sind es nicht allein kommunikative, sondern auch performative und materiale Aspekte, die sich paragonal profilieren müssen, wenn das Kunstwerk Erfolg haben soll. Einen solchen »Material-Agon« und seine performative Präsentation illustriert Knape am Beispiel der Dokumente zu Arnold Böcklins Farbstudien. Auch der Beitrag zur Memorialparadoxie von Hans Ulrich Reck setzt sich mit rhetorischen Fragen auseinander, jedoch geht es ihm nicht um inner­ ästhetische Phänomene, als vielmehr um die memorialpolitische Dimen­sion aktueller PR-Ästhetik. Die paragonale Konstellation sieht er im allgegenwärtigen »medialen Bilderkrieg« begründet, indem die Gedächtnis­funktion des Speicherns sich zu der des Übertragens hin verschoben hat. Eine paradoxe Struktur wird dabei besonders an der PR-geprägten Ausformung von kollektiven Memorialritualen sichtbar, da unvermeidlich Erleben in Wissen und Erfahrung in Information umgewandelt wird. Dies belegt Reck exemplarisch mit der Debatte zwischen dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und der Auschwitz-Überlebenden Simone Veil über dessen Vorschlag, dass Grundschulkinder zukünftig je eine Biographie eines in Frankreich verfolgten jüdischen Kindes auswendig lernen sollten. Aus dieser Untersuchungsperspektive kommt Reck zu dem Schluss, dass die massenmedial induzierte Erinnerungskultur gerade in Bezug auf den Holocaust den Gedächtnisparagone keinesfalls beendet, sondern erst in neuer Vehemenz und Virulenz zum Vorschein bringt. Die Reihe der Fallstudien setzt in der Antike ein. Ursula Bittrich widmet sich mit ihrer Analyse der »Heiligen Berichte« des Aristides dem spätantiken Erinnerungsmedium des Traumberichtes. Vor dem Hintergrund der erhöhten Aufmerksamkeit für den Traum und den rituell basierten Verfahren sei­ner autopathograhischen Ausdeutung in der zweiten Sophistik erschließen sich

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die »Heiligen Berichte« als hochartifizielle Gattungsinnovation. Aristides exponiert die sprachliche Faktur der Beschreibungen in ungewöhnlicher Weise, indem er sich nicht nur verschiedentlich als siegreichen Rhetor im Agon feiert und sich durch intertextuelle Verfahren in das kulturelle Gedächtnis einschreibt, sondern er konfrontiert seine Sprachgewalt variantenreich mit der gattungskonstituierenden Visualität des Traumgeschehens, um sie nur umso kunstreicher in die Rede zu transformieren. So wie es Epochen gibt, in denen der Paragone Konjunktur hat, gibt es auch solche, die Medien fast ausschließlich, meist in einer wirkungsästhetischen Perspektive, im einvernehmlichen Miteinander zum Zwecke wechselseitiger Steigerung einsetzen und nicht auf Emanzipation oder formale Sonderung zielen. Nachdem sie diesen Ausgangsbefund zum Mittelalter erho­ben hat, konzentriert sich Silke Tammen auf ein spätmittelalterliches An­dachtsbuch aus der British Library, das der meditativen Vergegenwärtigung der Passion Christi dient. Dieser kleinformatige Codex ist deutlich von der Übergangsphase vom handschriftlichen zum gedruckten Buch bestimmt. Die eingeklebten gedruckten Andachtsbilder des Passionsgeschehens sind nicht nur handschriftlich, sondern auch in geradezu exzessiver Weise mit schwarzer und roter Farbe bearbeitet: Das Buch scheint vor blutenden Wunden zu bersten, die sich auch über die einmontierten Holzschnitte hinwegsetzen. Insofern reagiert diese innovative Versuchanordnung zur haptisch-materialen Dimen­ sion des Andachtsmediums auf die Herausforderung neuer Andachtsformen des Buchdrucks mit einem geradezu szenisch ausgestellten Mediendifferenzbewusstsein zwischen maschinellem Druck und eigenhändiger Bearbeitung. Auch in der Frühen Neuzeit als der Epoche, in die die Gründungsurkunden des Paragonediskurses fallen, finden sich nicht wenige Darstellungen, die an einem einvernehmlichen Verhältnis zwischen den durch die Aufstiegsbestrebungen der Malerei zur Wissenschaft aus dem Gleichgewicht geratenen Septem artes liberales und Septem artes mechanicae festhalten. Aus dieser Beobachtung heraus stellt Jörg Jochen Berns eine bislang in diesem Zusammenhang übersehene paragonale Konstellation mit einer dritten Siebenergruppe ins Zentrum seiner Untersuchung: die Septem artes incertae seu magicae. Die Naturmagie entwickelt gegenüber den benachbarten Künsten grund­ legend andersartige Überbietungsstrategien, indem sie das unterläuft, was den Hauptkonflikt bestimmt, nämlich die Sonderung nach medialen Zuständigkeiten. Die Septem artes incertae seu magicae profilieren sich als Inventions- und Merkkünste gerade dadurch, dass sie nicht auf ein Leitmedium setzen, sondern mit neuartigen, plurimedial konstruierten Erfindungen wie biologischen Kreuzungen, Sprachgeneratoren und optischen Projektions­ apparaten überraschen. Der Paragone der Frühen Neuzeit wurde in expliziter Weise nicht nur in kunsttheoretischen Traktaten verhandelt, sondern konnte selbst wieder zum

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Gegenstand der Kunst werden. Ausgangspunkt des Beitrags von Martin Miersch ist eine Gruppe von Prologen in französischen Barockopern, in der die Künste selbst als Personifikationen den Paragone auf der Bühne ausagieren. Die Dramaturgie sieht vor, dass die Künste zunächst im Streit ihr Differenzbewusstsein entfalten, um sich dann umso wirkungsmächtiger zur Oper als Gesamtkunstwerk verbünden zu können. Im Zentrum der Untersuchung steht die solitäre Kurzoper »Les arts florissants« von Marc ­Antoine Charpentier, die diesen im Prolog etablierten Streit zum Alleingegenstand nobilitiert und auf geschickte Weise mit den panegyrischen Anforderungen am Hofe Ludwigs XIV. verschränkt. Dies bietet eine optimale Voraussetzung, um die in den kunsttheoretischen, von Malerei und Dichtkunst dominierten Paragonedebatten marginalisierte Musik nicht etwa im Gesamtkunstwerk der Oper aufgehen zu lassen, sondern eindrücklich ihren Anspruch als Leit­ medium in Szene zu setzen. Ebenfalls einer musikalischen Gattung und ihrer paragonalen Profilierung gegenüber einem bildlichen Pendant widmet sich Rolf Reichardt. Er untersucht politische Chansons und ebensolche Bildflugblätter aus der Zeit der Französischen Revolution als zwei Erinnerungsmedien, die sich programmatisch dem aktuellsten Tagesgeschehen widmen. Beide Medien waren auf schnelle und weit reichende Distribution angelegt und wetteiferten um ein großes Publikum, indem Lieder auf erfolgreiche Karikaturen reagierten und Karikaturen auf populäre Lieder anspielten und beide sich jeweils durch mitreißende Melodien und burleske Liedtexte oder mittels greller Visualität und entsprechender Bildunterschriften zu überbieten suchten. In diesem  – auch in ökonomischer Hinsicht  – produktiven Wechselspiel werden zugleich grundlegende Differenzen zwischen dem Zeitmedium Lied und dem Präsenz­medium Bild ausgelotet. Als eine zentrale Institution des kulturellen Gedächtnisses im 19.  Jahr­ hundert brachte das Museum neue kollektive Erinnerungspraktiken hervor. Hier setzt Joachim Penzel an, indem er eine bislang marginalisierte, aber nachhaltig wirksame Textsorte ins Zentrum seiner Untersuchung stellt: die Galerieführer. Der Bedarf nach solchen schriftlichen Sehhilfen wuchs so schnell an, dass neben den Museen auch und vor allem der Buchmarkt darauf reagierte. Dabei entstand eine nicht allein ökonomische Konkurrenz­ situation, denn mit den unterschiedlichen Galerieführern wurden auch konträre Wissensordnungen entworfen. Bei dieser paragonalen Konstellation zwischen musealer Inszenierung und den auf den konkreten Besucherbedarf zugeschnittenen Vermittlungspublikationen des freien Buchmarkte zeigen sich erinnerungsmediale mit erinnerungspraktischen und erinnerungsinstitutionellen Faktoren in komplexer Weise verknüpft. Innerhalb der ästhetischen Debatten um 1900 mit ihrem ausgeprägten Interesse an Konzepten der Synästhesie handelt es sich um eine wenig paragonal

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orientierte Phase. In diesem Zusammenhang erschließt Walburga Hülk-Althoff die Denkfigur der Intensität im Rahmen der experimentellen Psychologie, in der Philosophie Henri Bergsons und schließlich in der Prosa Marcel Prousts. Dabei wird deutlich, dass sich mit dieser Konzeptualisierung sinn­ licher Intensität der im 18. Jahrhundert profilierte Paragone der Sinne insofern erledigt hat, da es nun gerade um die unmerklichen und für die Erinnerung so folgenreichen Verknüpfungen von verschiedenen Sinneseindrücken geht, wie sie in Prousts vielzitierter Madeleine-Szene reflektiert wer­den. Dabei profiliert sich die literarische Rekonstruktion solcher erinnerungskonstitutiver Verknüpfungsvorgänge in paragonaler Abgrenzung von der Kausal­logik der Naturwissenschaften. Proust beansprucht nicht allein den geeigneten Darstellungsmodus für das Erinnern als solches, sondern darin inbegriffen zugleich die richtige Methode für deren wissenschaftliche Erschließung. Die architekturtheoretischen Debatten der Moderne beziehen immer auch räumliche Aspekte von Erinnerung ein, wie z. B. die Stadttopographie als Gedächtnismetapher oder kollektive Erinnerungspraktiken im urbanen Raum. In diesem Kontext untersucht Scott Budzynski zwei repräsentative Neubauprojekte im Mailand der Nachkriegszeit und die sie begleitende internationale Debatte, in der bereits wesentliche Argumente der postmodernen Architekturtheorie formuliert wurden: die »Torre Velasca« von Ernesto Nathan Rogers und das »Pirelli«-Hochhaus von Gio Ponti. Während die »Torre Velasca« über eine ikonographische Kontinuität definiert ist, die sich am historischen Umraum orientiert, setzt das »Pirelli«-Hochhaus auf einen Bruch mit der lokalen Tradition, um umso nachhaltiger selbst als neues Erinnerungssymbol Geschichte zu machen, ein Fanal der neuen Zeit zu set­zen. Dabei profilieren sich beide Architekturen durch ein unterschiedliches Verhältnis zum Bildmedium: Während sich die »Torre Velasca« als Trägermedium für Erinnerungsbilder präsentiert, tritt das »Pirelli«-Hochhaus als reiner Baukörper auf, der gerade deshalb innerhalb der Gedächtnistopographie als Beispiel wirkungsmächtiger imagines agentes gelesen werden kann. Wie bereits die Paragoneerzählungen in Vasaris Kunst- und Künstler­ geschichte, aber auch das Beispiel von Paragoneinszenierungen auf der barocken Opernbühne deutlich machten, birgt der traditionsreiche Wettstreit der Künste bereits ein potenzielles Skript für eine performative Ausgestaltung. Alma Elisa Kittner geht dem produktiven und äußerst kontroversen Dialog zwischen der französischen Foto- und Aktionskünstlerin Sophie ­Calle und dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster nach. Ausgangspunkt des Wechselspiels ist die Kunstfigur Calle, wie sie in den autobiographischen Ar­ beiten der gleichnamigen Künstlerin entworfen wurde und als Romanfigur in Austers »Leviathan« eine neue ästhetische Existenz erhielt. In ihrer Arbeit »Double Game« antwortet die Künstlerin mit einer Inszenierung philo­

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logischer Textkritik und einer bildlichen Umsetzung des Romanplots. Der Wett­streit zwischen Text und Bild wird überlagert von der Auseinandersetzung zwischen fiction und facts, um Autorschaft und Autorisierung, und er erhält seine besondere Brisanz durch die teils subtile, teils plakative Einbindung von Geschlechtermodellen aus der abendländischen Kunst- und Literaturtradition. Dass paragonale Konstellationen sich in besonderer Weise zu ästhetischer Standortbestimmung und medialer Selbstreflexion eignen, zeigt Lothar van Laak in seiner Fallstudie zu Patricks Roths Erinnerungspoetik. Das Re­ ferenzmedium für den Autor Roth ist der Film, aus dem er eine Erinnerungstheorie ableitet, eine cineastische Reformulierung der Idee des Kollektiv-Unbewussten nach C. G. Jung. Auf dieser Grundlage entwickelt er ver­schiedene poetische Verfahren, in deren Zentrum die literarische Über­setzung des filmischen dissolve, ein Übereinanderblenden von (Erinnerungs-) bildern steht. Aufschlussreich ist an dieser Konstellation, dass der Autor (und Filmemacher) Roth hier auf ein visuelles Verfahren rekurriert, um die­ses dann mit Blick auf die Erinnerungsdimension mit sprachlichen Mitteln zu überbieten. Denn seine volle Wirkung entfaltet der literarische dissolve mit der imaginären Aktualisierung des mythisch-kollektiven Bildgedächtnisses im Kopfe des Lesers. Die Entstehung des vorliegenden Bandes gründet in der Erarbeitung und Erprobung des Begriffs und der Denkfigur des Gedächtnisparagone durch die AG »Intermedialität und Erinnerung« im Gießener SFB »Erinnerungskulturen«. Der Großteil der hier versammelten Beiträge geht auf Vor­träge und Kommentare zurück, die auf der Abschlusstagung »Gedächtnisparagone  – intermediale Konstellationen« im Juli 2007 gehalten und diskutiert wur­den. Weitere Aufsätze sind im Kontext von Sitzungen der Arbeitsgruppe und thematischen Workshops mit externen Gästen entstanden. Als besonders produktiv erwies sich die Möglichkeit, ein Themenfeld jenseits der an­ gestammten Disziplin zu bearbeiten, so stellten Historiker Überlegungen zu paragonalen Konstellationen aus der Musik, Literaturwissenschaftler aus dem Film oder Kunsthistoriker zum Roman vor. Aus dieser lebendigen interdisziplinären Diskussionskultur ist dieser Band hervorgegangen. Auch im Namen der AG-Leitung, die von 2000 bis 2003 Prof. Dr. Günter Oesterle, der die Denkfigur des »Gedächtnisparagone« entwarf, und von 2003 bis 2008 Prof. Dr. Marcel Baumgartner, PD Dr. Kirsten Dickhaut und Dr. Christiane Holm innehatten, danken wir allen Gästen und AG-Mitglie­ dern für die anregenden Beiträge und ausdauernden Diskussionen. Da der vorliegende Band nur einen Einblick in diese langjährige Arbeit zu geben vermag, sei an dieser Stelle auch ausdrücklich den Mitgliedern und Gästen gedankt, die das gemeinsame Nachdenken mit ihren Beiträgen bereicherten

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und deren Ergebnisse in andere Kontexte eingingen: zum antiken Agon Dr. Mario Baumann, PD Dr. Christa Frateantonio und Prof. Dr. Peter von Möl­ lendorff, zum Paragone in der Renaissance PD Dr. Kirsten Dickhaut, PD Dr. Christiane Kruse (Marburg), Prof. Dr. Klaus Krüger (Berlin) und Prof. Dr. Ulrich Pfisterer (München), zur paragonalen Herausforderung durch die Fotografie Dr. Anna Ananieva, Dr. Wolfgang Cilleßen und hierbei zum Schwerpunkt der Erzähltexte von W. G. Sebald Prof. Dr. Tanja Michalsky (Berlin) und Prof. Dr. Dorothea von Mücke (New York), zur paragonalen Herausforderung des Films Dr. Karin Gludovatz (Berlin), Prof. Dr. Günter Oesterle und PD Dr. Stephanie Wodianka, zum Text-Bild-Wettstreit im Ge­ genwartsroman Prof. Dr. Thomas Klinkert (Freiburg) und Prof. Dr. Marcel Baumgartner, zum Paragone in der Gegenwartskunst Prof. Dr. Monika Wagner (Hamburg) und zu den elektronischen Medien Dr. Mischa Steidl. Besonderer Dank gilt Kirsten Dickhaut, Joachim Jacob und Günter Oesterle für die konzeptionellen Impulse und die stete Diskussionsbereitschaft bei der Tagungsvorbereitung. Eva Bös danken wir für die sichere und sorgfältige Textredaktion. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft verdanken wir nicht nur die Realisierung dieses Bandes, sondern auch den gesamten Ent­ stehungskontext.

Die Denkfigur des Gedächtnisparagone

Hartmut Böhme

Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten*

1. Die Toten hinterlassen keinen Paragone, sondern Leere Wer das gewaltlose Sterben eines Menschen begleitet, mag wohl beobachten, dass der Tod in das Gesicht des Sterbenden einzieht nicht nur als das Ende der physiologischen Funktionen. Zwar wird dadurch gewiss, dass nicht mehr die Physiognomik eines Lebenden, sondern die facies hippocratica begegnet. Doch wird vielleicht auch bewusst, dass jeder Tod das Verlöschen eines symbolischen Universums bedeutet. All die Bilder und Sätze, all die Wahrnehmungsspuren und Erfahrungen werden hinter der Stirn des Sterbenden stumm und ausdruckslos. Auf immer sind die Bilder und Worte dahin und das Haupt ist nicht länger ein lebendiges Archiv von Erinnerung und Erfahrung, sondern im eigentlichen Sinne leer. Niemand kann jemals die Bilder sehen, den Klang der Worte hören, die Gesten der Liebe oder des Kampfes vollführen, die hinter der versteinten Stirn eingelagert waren. Dieses innere Universum war kein totes Archiv, sondern der Grund des Lebens, das dieser Mensch führte – aber nicht nur dieser Mensch. Denn während die Bilder und Sätze verlöschen, realisiert der Weiterlebende auch, dass er ohne diese Bilder und Sätze nur schwerer weiterleben kann als zuvor. Dies macht das Gefühl der Leere aus, die auch eine Beraubung ist, Beraubung dieser plötzlich zerstörten symbolischen Innenwelt des Hauptes. Schmerz erfüllt den Überlebenden nicht nur um den, der nun nicht mehr lebt, sondern auch um sich, weil er selbst sich beraubt fühlt um die Welt, die unwiderruflich vernichtet ist. Der Trauernde denkt nicht an den Paragone der Wörter und Bilder, der Medien und Sinne. Im Untergang derselben weiß er, dass der Verlust sich auf sie alle bezieht. Kann ein Sinn einen anderen substituieren? Gibt es einen Primat im Ensemble der Künste? Triumphiert ein Medium über alle anderen? Haben sich Sinne und Medien funktional oder kompetetiv ausdifferenziert? Steuern wir auf eine Zukunft zu, in der alle Sinne und alle Medien in einem * Der vorliegende Text ist ein Wiederabdruck der bereits erschienen Fassung in: Hans Belting / Dietmar Kamper (Hg.), Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bild­reflexion, München 2000, S. 23–43.

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einzigen integriert, aber auch von diesem beherrscht werden? Es gibt diese Fragen, aber sie sind in diesem Augenblick gleichgültig. Die Spuren keines der Sinne möchte der Überlebende missen. Könnte er wie der Ackermann aus Böhmen1 mit dem Tod jetzt rechten, käme es ihm aberwitzig vor, vom Tod wenigstens die Bilder aus dem Kopf des Toten zurückzuerbitten, als wären sie dessen Wertvollstes, oder die Klänge und Geräusche, oder die Sätze, die er sprach und vernahm, oder das Wissen und die Informationen, die in den materialen Spuren des Gehirns vermerkt waren. So gewiß ist, dass die innere Welt der Bilder und Worte nach den allgemeinen Regeln des Ikonischen und Sprachlichen organisiert ist, so gewiss ist auch ihr absoluter, also radikal individueller Charakter. So kulturell der innerspace des Menschen generiert worden ist, so unabweisbar ist, dass die Innenwelt nur diesem einen Menschen eigen ist und mit ihm endet. Jedes Sterben zerstört diese symbolische Welt eines Menschen, und was verbleibt, sind Relikte des Toten, die einen verschwindend geringen Teil  dessen erinnerbar halten, was seine innere Welt ausmachte. Die Lebenden lernen, dass es für ihr Überleben und das der Gesellschaft völlig unbedeutend ist, ob die gesammelte, innere Repräsentation der Welt des Toten auf immer verloren ist. Der Sterbende nimmt seine Welt mit. Sie ist, mit dem Tod, instantiell bilderlos und namenlos, ohne Ausdruck und Stimme. Das kulturelle Gedächtnis ist ein winziges, doch lebensnotwendiges Muster auf der allgemeinen Decke der Gleichgültigkeit, die der Tod über das Vergangene breitet. Das Erinnern und die Empathie stehen mit dem Vergessen und dem Apathischen in einem für die Lebenden heilsamen, für die Toten jedoch gnadenlosen Verhältnis. Die Toten werden doppelt, physisch und symbolisch bestattet. Sie erhalten einen vorübergehenden Aufenthalt in der Erde und einen vorübergehenden Platz im Erinnern. Kultur, insofern sie eine Technik der Tradierung von wertvoll angesehenem Vergangenen für zukünftige Nutzung ist, wird verständlich vor allem durch eine Theorie des Relikts. Was immer dieses Relikt ist, ein Knochen, ein Schriftfragment, eine mündliche Überlieferung, ein Bild, ein Mauerstück, eine Datenbank, der Rauch über den Öfen – ein Relikt ist definiert dadurch, dass es in seiner positiven Präsenz zugleich einen unbestimmt weiten Raum der Leere anzeigt, die einmal erfüllt war. Diese Leere ist die eigentliche Hinterlassenschaft der Toten. In ihr ist immer auch eine Negation mitbezeichnet, die man vielleicht das unvergessliche Vergessen nennen kann. Im Erinnern, in welchem Medium es auch gepflegt wird, koexistiert wie eine Hohlform sein Gegenteil. Indem wir erinnern und somit Bestimmtheit herstellen, erinnern wir zugleich das darin Unbestimmte, das Vergessene, das sich, womöglich und wahrscheinlich, auf immer entzogen hat. 1

Johannes von Tepl, Der Ackermann aus Böhmen (1401/03), Stuttgart 1967.

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Denn die Überlebenden sind von den Toten verlassen. Dies ist so schrecklich wie das Gegenteil, das einträte, wenn die Toten nicht tot wären und das Leben der Lebenden besetzen würden.2 Hybrides Vergessen wäre von derselben Tödlichkeit wie hybrides Erinnern. Die Ubiquität der Ahnen wäre für das Überleben so tödlich wie ihre völlige Absenz. Kultur ist nicht die Mitte zwischen beidem. Sondern Kultur ist (auch) der Mechanismus, der die überwältigende Menge der Toten von den Lebenden fernhält, um ein Weniges von wenigen Toten wertzuschätzen: daraus wird die Ordnung des Symbolischen aufgebaut. Kultur ist immer auch die Schuld, die meisten Toten vergessen zu wollen, weil diese zu erinnern die Kultur zur Nekropole verwandelte – was niemand wollen kann. Jede Kultur ist darum eine Kultur des begrenzten Andeutens von Stimmen und Bildern in einem ringsum ausgeleerten Raum. Die Kulturgeschichte zeigt Konjunkturen mal mehr zur einen, mal mehr zur anderen Seite: ein beflissenes bis manisches Festhalten, Sammeln, Speichern, Aufbewahren, Musealisieren, Magazinieren kann zum Charakteristikum einer Epoche ebenso werden wie ein gleichgültiges bis gewaltsames Zurücklassen, Ausscheiden, Vergleichgültigen, Wegwerfen, Vermül­len, Vernichten. In solchen Pendelbewegungen zeigen sich entsprechend bilderkultische oder ikonoklastische Züge, Prävalenzen des Produktiven oder des Konsumtiven, der Sakralisierung der Schrift oder ihrer Bekämpfung, des Sesshaften oder des Nomadischen. Es zeigen sich Anstrengungen, die einmal auf materielle oder symbolische Ewigkeit, oder im Gegenteil Anstrengungen, die auf den erfüllten Augenblick abzwecken; Konstruktionen, die mal auf Überschreitung des Körpers, mal auf Verkörperung im Leibe zielen. Was ich untersuche, sind historische Voraussetzungen zu der Frage (die ich nicht beantworten kann), warum wir – im Westen – heute in einer Gesellschaft leben, die einen beispiellosen Kult des Festhaltens und medialen Magazinierens betreibt. Während wir zugleich eine Kultur ausbilden, die wie kaum eine andere Epoche an allem Festgehaltenen und Erinnerten das Verlorene und Vergessene markiert, also eine bewusste Leere erzeugt. Es ist, als ob wir im Erinnern vor allem das Verschwinden artikulieren, und uns zugleich von diesem Verschwinden wegreißen in eine hypermediale Welt, in der noch das Flüchtigste potentiell ewig sein kann (Cyberspace als die Sphäre der Auf­erstehung und Verewigung). Ich möchte andeuten, auf welche kulturellen Erfahrungen eine solche paradoxe Struktur hinweisen könnte; welche Funktionen dabei die medialen und ästhetischen Techniken hatten und haben und warum eine solche Kultur einen Paragone begründet, worin das Medium ausgezeichnet wird, das mehr als die anderen diese paradoxe Form abwe2

In sehr vielen Kulturen gehören Riten und Einrichtungen, durch die man die Toten von den Lebenden trennt bzw. einen geregelten Verkehr besorgt, zu den wichtigsten Mechanismen der symbolischen Ordnung.

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sender Anwesenheit und anwesender Abwesenheit herzustellen erlaubt. Ich werde dabei kaum auf den historischen Paragone eingehen, jedoch versuchen, dem Wettstreit der Künste eine neue Lesart abzugewinnen. Meine Vermutung nämlich ist, dass der Paragone als wesentlichen Grund die Frage enthält, in welche Position uns die Medien zu einem Tod bringen, der, zu seiner Abwehr, ebenso Erinnerungs- und Verewigungstechniken erzwingt wie umgekehrt, zu seiner Anerkennung, Artikulationen des Vergehens und der Leere. Das erklärt, warum bereits bei Leonardo der Paragone vor allem unter dem Gesichtspunkt der Stellung der Künste zur Zeit diskutiert wurde.3 Da es mir vor allem um Gegenwartsfragen geht, möchte ich schon hier an die Einsicht erinnern, dass das kulturelle Verhältnis zum Tod durch die Erfahrung von Auschwitz, das keine Erfahrungen erlaubt, sich so verändert hat, dass davon auch die Künste in ihrer Struktur und Entwicklung betroffen sind. Auschwitz ist der Name für eine Barriere, die sich zwischen den Ausdruck und das Ausdruckslose, das Bild und das Bilderlose, das Sprechen und das Schweigen, die Schrift und das Blatt oder den Rauch gelegt hat. Die Computerkultur wird dagegen unterschwellig als der epochale Ausweg zum Himmlischen Jerusalem empfohlen, der die Verkettung von Zivilisation mit Auschwitz, mit dem Archipel Gulag und mit Hiroshima zu lösen verspricht. Darum soll das 19.  Jahrhundert bis 1945 reichen und das 20.  Jahrhundert erst hier beginnen (wie in erstaunlicher Übereinstimmung sowohl GlobalisierungsTheoretiker wie Cyberspace-Apostel uns überreden wollen). Aber vielleicht sind Globalisierung und Cyberspace nur die Halluzination, die vom Angesicht des gewaltsames Todes und des Leidens befreien soll.

2. Synekdoche und Prosopopöie Man kann die Bild- und Sprachformen, von denen nachfolgend die Rede ist, von der klassischen Rhetorik her als Synekdoche bezeichnen. Dieser ist eine Figur selektiver Semiotisierung, bei welcher auf der paradigmatischen Achse ein Wert erzeugt wird, der aber gerade nicht singulär sein muss wie bei der geglückten Metapher, sondern auf der syntagmatischen Achse verschoben und folglich seriell vervielfältigt werden kann.4 Dadurch vereinigt der Typ von Synekdoche, auf den es hier ankommt, Eigenschaften der Metapher und der 3

Vgl. dazu Frank Fehrenbach, Blick der Engel und lebendige Kraft. Bildzeit, Sprachzeit und Naturzeit bei Leonardo da Vinci, in: Ders. (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 169– 206. 4 Vgl. hierzu Roman Jakobson, Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik,. Bd. 1, Frankfurt a. M. 1971, S. 323–333.

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Metonymie, der Verdichtung und der Verschiebung. Die Synekdoche ist also eine Signifikanten-Figur, durch welche der Signifikant das Objekt, auf das er referiert, substituiert und zugleich von diesem Objekt unabhängig wird. Um Beispiele zu geben: jeder Fetisch ist, ebenso wie eine Reliquie oder ein Heiligenbild, eine Synekdoche. Im fetischistischen Akt wird ein Objekt selegiert (paradigmatische Achse), das dasjenige substituiert, was es vertritt. Wenn das Signifikat derart in einen singulären Signifikanten inkorporiert wird, kann es nahezu unbegrenzt durch eine Kette weiterer Objekte wandern, ohne dass die substituierende Energie verloren geht (syntagmatische Achse). Wenn beispielsweise der Schuhfetischist in einer Art Urszene einmal für alle Male aus dem Universum möglicher sexueller Signifikanten den seinigen selegiert hat, kann fortan in alle Schuhe, die ein bestimmtes optisch-taktil-olfaktorisches Schema erfüllen, die ›heilige‹ Substanz einströmen, die diesen Schuh und diesen und diesen und diesen… zum Ziel aller Sehnsüchte macht. Nicht anders verhält es sich mit der mittelalterlichen Serienanfertigung einer wirkmächtigen Marienstatue oder von Reliquien, Devotionalien und Voti. Sie funktionieren rhetorisch im Schema der Synekdoche, ethnologisch gesehen im Schema des Fetischzaubers, dessen Kraft gerade in der Substituierung des Originals durch den Stellvertreter und den Stellvertreter des Stellvertreters besteht. Die Synekdoche bezeichnet den Mechanismus, durch welchen die first-contact-scene, welche Signifikant und Signifikat zu einer Metapher verschweißt, ins Fließen gebracht wird: dadurch entsteht, worauf alles ankommt, eine ununterbrochen sich transformierende Zirkulation einer irgendwie heiligen Substanz – das Mana, das Orenda, das Göttliche, die toten Ahnen, das begehrte Objekt, das verehrte Idol. Wichtig ist dabei die immer geltende Kompromissfigur: sie markiert ebenso eine schmerzende Abwesenheit wie sie zugleich das Abwesende in eine seriell verlängerbare Präsenz zwingt. Nahe zur Synekdoche tritt die von Paul de Man wieder prominent gemachte Figur der Prosopopöie.5 Sie meint, dass Toten, Abwesenden oder auch Dingen eine Stimme verliehen wird, die personhaft ist, also physiognomisch und pathognomisch auftritt, mithin den Regeln der Performanz oder 5

Vgl. Paul de Man, Autobiography as De-Facement, in: Ders., Rhetoric of Romanticism. New York, S.  67–81; ders., Autobiographie als Maskenspiel; in: Christoph Menke (Hg.), Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a. M. 1993, S. 131–145, hier S. 140 f.; De Man liest auch den Pygmalion-Mythos im Schema der Prosopopöie; vgl. Paul de Man, Rousseau: Self (Pygmalion), in: Ders., Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven  /  London 1897, S. 160–187; vgl. auch Bettine Menke, Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000; Inka Mülder-Bach, Autobiographie und Poesie. Rousseaus »Pygmalion« und Goethes »Prometheus«, in: Mathias Mayer /  Gerhard Neumann (Hg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, Freiburg 1997, S. 270–298, hier S. 272 u. S. 297.

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der Darstellung folgt. Die Prosopopöie funktioniert synekdochetisch, insofern sie eine den abwesenden Anderen performierende Stimme im Namen dieses Anderen ist, diesen also in vollem Recht und Gewicht vertritt und präsentiert. Wichtig ist nun, dass etwas, was keine Stimme, keine Bedeutung oder kein Zeichen hat, stumm und opak, also eigentlich tot ist – dass also dieses namenlose Zeug durch die Prosopopöie Stimme und Bedeutsamkeit verliehen bekommt. Dies geschieht im Fetischismus ebenso wie bei den mittelalterlichen Wachs-Idolen, in der Erzeugung von Kultobjekten wie in der Leidenschaft des Sammelns – schließlich aber auch in der ästhetischen Produktion. Es ist in diesem Sinn der sagenhafte Bildhauer Pygmalion, der den Mythos des Kunstwerks kreiert und dadurch zum Fetischdiener wird – oder vornehmer ausgedrückt: Pygmalion lässt die elfenbeinerne Venus im Schema der Prosopopöie agieren.6 Immer geht es dabei um die Überwindung des Todes oder der Toten oder des Toten (der Dinge), die sich als Abwesende und als Leere markieren. Für den Fortgang ist es ratsam zu erinnern, durch welche ästhetischen Techniken das Tote oder die Toten, seien es stumme Objekte oder Gestorbene, mittels synekdochetischer oder prosopopöetischer Formen, seien es sprachliche oder künstlerische, animiert werden und dadurch eine inter­ mediäre Existenzform finden.

3. Verfallsgeschichte im Zeichen der Schrift Régis Debray unterteilt die Geschichte in drei aufeinander folgende Sphären: die mit der Schrift verkoppelte Logosphäre, die mit dem Buchdruck ermöglichte Graphosphäre, die mit den modernen technischen Medien verbundene Videosphäre.7 Dem liegt die These eines weltgeschichtlichen Wandels zugrunde von der Dominanz der Schriftkultur zur Herrschaft der audiovisuellen Kultur, die nicht nur einen iconic turn sondern auch eine neue Oralität sowie eine Entsubstantialisierung der Realität erzeuge. Dieses kulturkritische Modell, das Jean Baudrillard bekanntermaßen noch weit radikaler vertritt, indem wir zu Insassen einer referenzlosen, immateriellen Bilderhölle gemacht werden, will ich nicht bestreiten. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass diesem Modell eine heimliche Metaphysik der Schrift zugrunde liegt. Das in sich selbst schon technische Medium der Schrift stünde deswegen mit 6

Zu Pygmalion vgl. Ovid, Metamorphosen X, 243–297 sowie (mit umfangreicher Bibliographie) Mayer / Neumann, Pygmalion. 7 Vgl. Régis Debray, Manifestes Médiologiques, Paris 1994, S. 40 ff. u. S. 208 ff.; ders., Cours de médiologie générale, Paris 1991; ders., Media Manifestos. On ­Technological Transmission of Cultural Forms, London 1996.

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den Dingen in wahrheitsfähigem Kontakt, weil die Welt selbst ein Erzeugnis eben der Schrift sei, also Schriftcharakter trage. Diese Auffassung wurde mit der Theologie der Wortförmigkeit der Schöpfung und besonders mit dem Theologem des liber naturae zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit.8 Übersehen wird dabei, dass die Kontiguität von Schrift und Dingen immer in sich aporetisch war, weil gerade die Schrift eine adäquate Referenzialität der Zeichen niemals vorab sichern kann (als adaequatio verbi ad rem). Vielmehr handelte es sich, seit es diese Idee gibt, also seit der Bibel und der griechischen Philosophie, um einen normativen Entwurf. In ihm stellt die Vorgängigkeit der Schrift und ihre die Dinge prägende Macht ein Sein-Sollen dar, um dadurch die Dinge umgekehrt zu Chiffren der Lektüre stilisieren zu können. Die totale Verschriftlichung der Welt pariert den horror vacui, der dem Tode entspringt. Die Schrift enthält jedoch keinerlei ontologische oder metaphysische Würde, sondern sie ist eine pragmatische Kulturtechnik unter anderen. Niemals konnte die Schrift einen privilegierten Zugang zur Wahrheit der Dinge, zur Materialität, zu den Stoffen und Lebewesen sichern. Noch viel weniger errettete die Schrift vom Tode. Der ontologische Primat der Schrift wurde kulturell durchgesetzt von Eliten, die ihren Status auf Schriftver­ fügung stützten. Die Schriftexperten unterlagen dabei, neben der üblichen Verachtung des Illiteraten, der ebenso üblichen deformation professionelle: sie erklärten die Welt, in der sie sich aufhielten, nämlich die Welt der Handschriften und Bibliotheken, für die Grenzen überhaupt der Welt. Für die Zeit des historischen Höhepunkts der schriftgestützten Welthermeneutik hat in romanhafter Form Umberto Eco jedoch gezeigt, dass es in der Welt der Skripten nicht anders zugeht als in der Welt sonst: es herrschen Rivalität, Intrigen, Macht, Verbrechen – eine Welt im Zeichen des Thanatos.9 Das gilt, auch wenn nicht notwendig ein Serienkiller auftreten muss, bis zum letzten großen Schrift-Theoretiker, Jacques Derrida. In so entgegengesetzten Ansätzen wie denen Debrays und Derridas wird übersehen, dass die Metaphysik der Schrift historisch immer begleitet war von einer Metaphysik der Bilder. Den Bildern war jene Macht längst zugeschrieben, welche Debray erst der technischen Videosphäre zuerkannte.10 Sich damit zu beschäftigen, ist nötig, um den Irrtümern einer evolutionsoder verfallstheoretisch begründeten Geschichtslinearität zu begegnen, wel8

Allgemein dazu vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 1983. 9 Umberto Eco, Il Nome della Rosa, Mailand 1980 (dt. München 1982) und ders., Nachschrift zum Namen der Rose; Rosenheim 1981. 10 In seinem Kapitel »Défrendre L’Image« zeigt Debray allerdings auch ein Wissen um die magische Bildmacht in Byzanz und in Westeuropa und vertritt gegen die universelle Linguistisierung eine eigene Logik des Bildes; Debray, Manifestes Médiologiques, bes. S. 180 ff. Dem stimme ich zu.

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che die medial-technischen Kompetenzen, analog zur Geschichte der mar­ tialen Herrschaftsfolgen, in eine Staffel von Siegen und Niederlagen auf dem Schlachtfeld der Medien und Künste positionieren.

4. Bilderverbot und Bilderkult Aus der jüdischen Bibel, dem TeNaK, kennen wir das Bilderverbot, das in seiner endgültigen Redaktion auf die deuteronomistische Reform des Königs Josias 621 v. Chr. zurückgeht. Anathema ist die Abbildung Gottes, ja der gesamten Schöpfung, jede Form der Verehrung von Kultbildern wie auch das Aussprechen des Namens Gottes. Die elohistische Fassung lautet: »Du sollst dir kein (geschnitztes) Bild (pesel) verfertigen und kein Abbild (temunah) von dem, was im Himmel droben und auf der Erde drunten oder im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen« (Ex 20,4; Dt 5,8; 4,15).11

Die privilegierte Form der Offenbarung ist deswegen das Vernehmen (Audi­ tion).12 Gott hat seinen Namen unsichtbar dort »hingelegt« ( Jes. 29,23), wo »sich in anderen Kulten das Kultbild befindet«.13 Dies hatte für die christliche (auch für die islamische)14 Religion langfristige Folgen, weil nur unter erheblichem Druck der Volkskultur und unter theologischen Mühen eine Akzeptanz der verdächtigen Bildmacht erreicht wurde. In der Ikonenverehrung, dem Bilderkult, dem Aufstieg der Heiligen und Reliquien, in der obligatorischen Präsenz von Gottes-, Christus- und Marienbildern in den Gottes­häusern entstand dann allerdings eine gewaltige Konjunktur des re11

Karl Hoheisel, Wort Gottes im Judentum, in: Hans-Joachim Klimkeit (Hg.), Götterbild in Kunst und Schrift, Bonn 1984, S. 81–92, hier S. 81. 12 Auditionen konnten gesehen werden: das Wort Gottes hören, ist auch ein Sehen. Es tritt von den älteren Texten der Bibel zu den jüngeren eine immer stärkere Verschiebung zum Wort als Zentrum der Offenbarung Gottes ein. Dadurch entsteht die Schriftzentrierung der jüdischen Theologie. Das unterscheidet die jüdische von der griechischen Kultur mit ihrer Privilegierung des Sehens (vgl. Platon, Timaios 47a–c; Phaidros 250d; Politeaia 507c); vgl. dazu auch Hans-Joachim Klimkeit, Heilige Schrift und heiliges Bild, in: Ders. (Hg.), Götterbild in Kunst und Schrift, S. 1–18. Zur Kritik der Dominanz des Sehens in der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts vgl. Martin Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in TwentiethCentury French Thought, Berkeley / Los Angeles / London 1994. Nützlich ist die Quellensammlung in Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997. 13 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde., Bd. 1, München 41962, S. 196. 14 Tilman Nagel, Die religionsgeschichtlichen Wurzeln des sogenannten Bilderverbots im Islam, in: Klimkeit, Götterbild in Kunst und Schrift, S. 93–114.

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ligiösen Bildes.15 Die Integration der Bildmacht in das katholische Universum war eine Bedingung der Erfolgsgeschichte der Kirche. Unter dem unsichtbaren Dach des deus absconditus hat sich die christliche Kirche zu einer gigantischen Bilderfabrik und einem urbs et orbis umfassenden Medienverbund entwickelt, – um nichts weniger eindrücklich als der heutige Medienkatholizismus von Hollywood bis Internet. Für die Kultur- und Kirchengeschichte sind Bildermacht und Bilderkult nicht weniger aufschlussreich als die hochelaborierten Kunstformen der Schrifttheologie. Es entspricht erst einem heutigen Ordnungsbedürfnis, die Rationalität des Wortes und die Magie der Bilder polar zu denken und auf jeweilige Sozialschichten zu verteilen: Gebildete und Ungebildete. Doch schon die mittelalterliche Kultur operierte in mehreren der »magischen Kanäle« Marshall MacLuhans und kannte den Positionswechsel zwischen Wort und Bild: also die Wortmagie und die Bildvernunft. Die katholischen Bildgebräuche, welche von der Gegenwart der heiligen Substanz in der Materialität der Bilder überzeugt waren, rücken allerdings das Christentum in Analogie zu all den Religionen, die es als Götzendienste bekämpfte. Aufs Ganze betrachtet ist der katholischen Kirche jedoch erfolgreich ein medienpolitischer Kompromiss gelungen, der verhindert, dass jemals Wort und Bild in ein definitives Ausschlussverhältnis gerieten. Dies muss hier nicht ausgeführt werden; Hans Belting hat dies in seiner grandiosen Arbeit »Bild und Kult« getan, in anderer Weise David Freedberg oder etwa für den Bilderstreit im 15. und 16. Jahrhundert Nobert Schnitzler.16 Der christliche Bilderkult beruhte auch auf dem römischen. Effigies, imago, simulacrum, signum, statua sind Wörter für Kultbilder, bei denen eine »Identität von Bild und Gottheit«17 vorausgesetzt ist. Der namentliche Gott ist sein Bild. Die Imago ist der Abdruck eines Gottes oder einer Person, so gültig, wie das Siegel oder die abgenommene Maske den Menschen

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Zum Thema Bilderkult und Bilderstreit vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990; Marie-José Mondzain, Image, icône, économie. Les sources byzantines de l’imaginaire contemporain, Paris 1996; Herbert Beck / Horst Bredekamp, Bilderkult und Bildersturm, in: Werner Busch (Hg.), Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, München / Zürich 1997, S. 108–126. 16 David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago / London 1989; Norbert Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15.  und 16. Jahrhunderts, München 1995. 17 Raimund Daut, Imago. Untersuchungen zum Bildbegriff der Römer, Heidelberg 1975, S. 14; vgl. umfassender Wolfgang Brückner, Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies, Berlin 1966.

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repräsentiert.18 Im römischen Totenkult von hochgestellten Personen und Kaisern übernehmen die im pompa funebris mitgeführten effigies des Toten die Funktion der Götterbilder, nämlich die Präsenz des Dargestellten anzuzeigen. Imagines und effigies sind keine Bildzeichen im modernen Sinn der Semiotik; sie sind nicht arbiträr und konventionell, sondern stellen magisch die Gegenwart des Abwesenden her. Auch die frühneuzeitlichen französischen Königs-effigies können idolatrisch gedeutet werden, obwohl sie einen verfassungsrechtlichen Status innehaben: sie markieren die Anwesenheit des Königs, so tot er sein mag. Denn sie sind corpus repraesentatum, sie stellen also die Gesamtkörperschaft für die Zeit des Interregnums dar. Man pflegte und ernährte die veristisch aufgeputzten effigies so wie den lebenden König: heidnischer kann man nicht sein. Das ist Magie als Verfassungsrecht. Die effigies halten den Tod des Königs hin bis zur Inaugurierung des neuen. Sie garantieren die ewige Dauer des Leibs des Königs in Analogie zum Corpus Christi. Die Königs-effigies sind mithin Abkömmlinge der nahezu universal verbreiteten Auffassung von der »Realpräsenz der Bilder«. Wir finden sie hier an der Spitze des Staates, nicht nur als Bildernahrung fürs Volk. Effigies-, Gewand-, Bildzauber sind in den Totenkulten und Inaugurationsritualen gewiss ein strategischer Einsatz von Herrschaft, die in einer liminalen Situation »zwischen den Zeiten«, also zwischen Tod und Inthronisation, vor dem Kontinuitätsriss bewahrt werden musste. Dem Volk freilich war diese bis ins Taktile reichende Nähe der heiligen Substanz erlösend und heilsam: »Le Roi te touche, Dieu te guérit!« Dies ist die Zeremonialformel für die Heilungswunder, die im Zusammenschluss von inthronisiertem König und Volk durch Berührung seiner Gewänder eintraten. Marc Bloch rekonstruiert daraus die symbolische Genesis der französischen Nation, die in der magischen Berührung realpräsent wird. Die Nähe zum heidnischen Bildzauber und Idolatrien ist bei diesem höchstrangigen Akt ebenso evident wie zur effigies-Praxis in Rom oder zum christlichen Reliquien- oder Ikonenkult.19 Der König ist in diesem Augenblick, mit ­Krzystof Pomian zu sprechen,20 eine »Semiophore«, ein Idol, ein Fetisch. Man darf fragen: ist hier die Bildmagie eine bloße Theatralisierung von wortförmigen Verfassungsdiskursen, oder sind umgekehrt diese nur ein schwacher Kommentar zu einer gewaltigen Entfaltung magischer Energien? Die Antwort: die Wörter und Schriften sind die Korken auf dem Meer der Bilder; sie 18

Vgl. zum Folgenden Andrea Klier, Fixierte Natur. Naturabguß und Effigies im 16. Jahrhundert, Berlin 2004. 19 Vgl. Marc Bloch, Les Rois Thaumaturges. Etude sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre, Paris 1983; vgl. auch Ralph E. Giesey, The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France, Genf 1960. 20 Krzystof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988.

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zeigen die Energien nur an, welche durch die flimmernden Oberflächen der Bilder strömen.21 Stehen wir heute, so ist weiter zu fragen, vor einem neuen Paragone oder nur vor dem technisch neuen Erscheinungsbild eines Wettstreits, der immer schon zugunsten der Bilder entschieden war? Wenn zur Zeit der magischen Königsrituale, 1481, die ersten portugiesischen Seefahrer, die das legendäre Reich des Erzpriesters Johannes finden sollten und dabei Westafrika eroberten, vom König Joano II. den Auftrag erhielten, alle heidnischen Idole und Fetische zu zerschlagen, so bezeichnet dies einen Jahrhunderte langen performativen Widerspruch der christlichen Gesellschaften, der erst durch die Dekonstruktion des europäischen Fetischismus von Marx und Freud aufgelöst wird. Die Europäer hatten nie be­griffen, dass sie im Blick der Afrikaner oder Indios selbst als Fetischdiener identifiziert wurden. Die Europäer verfolgten an der fremden religiösen Bildpraxis jene Formen der Idolatrie, welche sie selbst exzessiv ausübten. Der Kampf gegen den weltweiten Fetischzauber verfolgt unter der Maske der fremdkulturellen die eigenen Praktiken und entlastet so in großem Stil von dem Zwiespalt, in welchem der christliche Bilderkult im Rahmen der Worttheologie stehen musste. In den Legenden des sich selbst machenden Bildes, das in der Lukasbildwie in der vera ikon-Tradition einen christlichen Bilderkult begründet, wird theologisch geweiht, was gerade heidnische Bildmagie und Idolatrie ausmacht: der wirkmächtige Zusammenfall von Dargestelltem und Darstellung. Überboten werden dabei die antiken Malerei- und Skulptur-Legenden, die im Schema der Mimesis (oder imitatio) an der imago oder dem signum die veristische Naturtreue herausstellen  – bis hin zur vollendeten Täuschung des Betrachters, sei es, dass Vögel die gemalten Trauben aufpicken wollen22

21

Das gilt selbst für eine so rationale Staatstheorie wie die von Thomas Hobbes »Leviathan« (1651), für welche Horst Bredekamp mehrfach gezeigt hat, dass sie der Bildmagie des Staatskörpers entspringt und vermutlich auf die Erfahrung zurückgeht, die Hobbes während des Interregnums mit Königs-effigies machte; vgl. Horst Bredekamp, Zur Vorgeschichte von Thomas Hobbes’ Bild des Staates, in: Hans-Jörg Rheinberger  /  Michael Hagner  /  Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1995, S. 23–37; ders., Politische Zeit. Die zwei Körper von Thomas Hobbes’ »Leviathan«, in: Wolfgang Ernst  /  Cornelia Vismann (Hg.), Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H.  Kantorowicz, München 1998, S.  105–118; ders., Die Brüder und Nachkommen des Leviathan; in: Leviathan 26,2 (1998), S. 159–183 und zuletzt ders., Thomas Hobbes: Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder 1651–2001. Berlin 1999. 22 So die Legende der gemalten Trauben von Zeuxis bei Gaius Plinius Secundus M ­ aior, Naturalis Historia, lat. u. dt. hg. v. Roderich König, Buch I–XXXVII, Darmstadt 1994, hier Buch XXXV, Kap. XXXVI.

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oder Jünglinge sich in Statuen verlieben.23 Solche veristische Illusion preist die Kompetenz des Künstlers und rückt damit das Kunstkönnen in die Nähe einer religiösen Qualität, wonach die Götterstatuen den dargestellten Gott inkorporieren, also im signum das Signifikat wesenhaft werden lassen. Doch die christliche Bildmythe des sich selbst schaffenden Werkes überbietet noch diesen magischen Status und die divine Präsenz der heidnischen Werke. Für unseren Zusammenhang gilt es zu betonen, welche evokative, ja kreative Kraft den Bildern und Statuen im Totenkult zukam. Aby Warburg weist auf die Voti und Wachsplastiken z. B. in SS. Annunziata in Florenz hin: diesen »fetischistischen Wachsbildzauber«24 studierte Warburg in den Kirchen der Renaissance nicht ohne Abscheu. Für den Dichter Francesco Sacchetti sind bereits um 1330 die voti »eher Idolatrie als christlicher Glaube«. Im 15.  Jahrhundert füllten hunderte von wächsernen Plastiken von Lebenden und Toten und Tausende von Pappmaché-Voti die Kirchen und verwandelten die Häuser des Gotteswortes und der frommen Andachtsbilder in heidnische Stätten eines fetischistischen Ahnenkults, der aus Kirchen idolatrische Totenfestungen machte. Warburg erkennt in diesem »heidnischen Bildzauber« eine »Entladungsform für den unausrottbaren religiösen Urtrieb«, der sogar noch die im Zeichen der Sophrosyne ästhetisch kontrollierte Porträtkunst kontaminiert.25 Die Doppelpräsenz von abtraktem Gotteswort und massenhaften Fetischen, diese synkretistische Figur von Religiosität ist es, die bereits die zeitgenössische Obrigkeit dann intervenieren ließ, wenn die hy­ brid wuchernden Fetische die theologische Balance zwischen Wort und Bild zu gefährden begannen. Noch die Bildmacht, welche Leonardo der Malerei attestiert und die ihn diese im Paragone über Dichtung wie Bildhauerei siegreich erscheinen lässt, entleiht ihre Gewalt dem idolatrischen Zauber, wenn Leonardo – hinsichtlich des byzantinischen Bilderkultes – ausführt, dass Gemälde, bei ihrer rituellen Enthüllung, konkurrenzlos mächtige Effekte hervorbringen: die Menschen werfen sich vor den Bildern nieder.26 Noch die autonome Kunst zehrt von der sakramentellen Bildauffassung, welche Bilder kraft ihrer Präsentationsmacht zu fetischistischen Kultobjekten tauglich wer23

Quellen zu diesem Motiv bei Klaus Völker (Hg.), Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen, München 1971, S. 253–330. 24 Aby M. Warburg, Bildniskunst und florentinisches Bürgertum, in: Ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. v. Dieter Wuttke, Baden-Baden 31992, S. 65– 102, hier S. 73. 25 Ebd. , S. 73 ff. u. S. 89 ff. 26 Leonardo da Vinci, Paragone. A Comparison of the Arts. Ital. u. engl. hg. v. Irma A. Richter, London / New York / Toronto 1949, S. 28 f. (Nr. 8 des Codex Urbinas 1270); vgl. ebd. , S. 53–57 (Nr. 14 u. Nr. 19) über die vergleichslose Macht der Ma­ lerei.

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den lassen. Niemals haben die Bildkünste diese ergreifende Wucht, mit welcher die Differenz von ikonischer Darstellung und Original verwischt wird, aufgegeben. Im Gegenteil gründen sie gerade darauf ihren Vorrang vor allen anderen Künsten.

5. Fotografie als vera ikon Aufschlussreich in diesem Kontext ist, dass Roland Barthes in seinem Konzept der Fotografie das technisch erzeugte Foto in Analogie zur vera ikon setzt: die Einprägung des Lichtes, das vom Objekt ausgeht, auf dem lichtempfindlichen Film deutet Barthes als Emanation, das heißt im bilder­ kultischen Sinn als ein sich selbst Machen des wahren Bildes, dessen Referent im Bild selbst anwesend ist.27 Man kann darin auch die trompe l’œil-Effekte des Verismus wiederholt sehen als Theorie der Fotografie. Das Foto erhält dadurch jenes ontologische Gewicht und die legitime Würde, die das im Schweißtuch der Veronika sich selbst einzeichnende Christus-Haupt der Malerei zu verleihen imstande war. Wie mit der vera ikon der leidende Christus in eine mediale Auferstehung gerettet wird, so sieht Barthes auch in den durch Emanation zustande gekommenen Fotos eine Auferstehung der Toten. Dem allerdings geht im fotografischen Akt eine Mortifikation der Referenten voraus. So lebendig die Porträtierten noch sein mögen, sind sie doch zu Lebzeiten schon dem Archiv der Toten einverleibt. Gertrud Koch verweist auf den zu Barthes parallelen Foto-Metaphysiker André Bazin, der in dem berühmten Turiner Leichentuch Christi die Synthese von Reliquie und Fotografie vorweggenommen sieht.28 Es ficht einen

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Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a. M. 1985. Barthes bezeichnet die Fotografie als Schattenbild, das die Spur des Gewesenen als Erinnerungsform vergegenwärtigt (vgl. ebd., S. 14). Der Referent bleibt auf dem Foto haften (vgl. S. 17): das Foto ist eine Wiederkehr der Toten (vgl. S. 30). Darum hängen Fotografie, Trauer und Anamnese zusammen (vgl. S. 80). Indem das Foto den Gegenstand wahrhaft gegenwärtig macht und die Zeit stillstellt, ist es zugleich eine Bewältigung von Tod und Trauer (vgl. S. 92–105). Es ist bezeichnend, dass ein Theoretiker, der eine extrem rationalistische Semiotik entwickelt, auf der anderen Seite ein Fotografie-Konzept vorlegt, als handele es sich bei Fotos um Fetische, magische effigies oder Bildzaubereien. Ein aufschlussreiches Beispiel von Erlösungssehnsucht im postmetaphysischen Zeitalter ! 28 Vgl. Gertrud Koch, Das Bild als Schrift der Vergangenheit, in: Birgit Erdle / Sigrid Weigel (Hg.), Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, Köln / Weimar / Wien 1996, S. 7–22; vgl. dazu ausführlicher Sigrid Schade, Posen der Ähnlichkeit. Zur wiederholten Entstellung der Fotografie, in: Ebd. , S. 65–82.

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Foto-Metaphysiker nicht an, dass die Turiner vera ikon ein religiöser fake ist.29 Gertrud Koch dekonstruiert diese Theorien als katholisch und eurozen­ trisch. Dies trifft auf die Beispiele und die Metaphern zu, die Barthes und Bazin verwenden, nicht auf die Sache. Das Katholische und Eurozentrische ist nur die kulturell naheliegende Denkform, in der Barthes und Bazin ihre Ansichten kleiden. So hat Bernd Busch an dem frühen Foto-Theoretiker Oliver Wendell Holmes nachgewiesen, dass dieser Fotos ebenfalls als Selbstabbildung der Dinge begriff, doch nicht im Schema der christlichen vera ikon, sondern des heidnisch-antiken Konzepts der emanierenden Bilderflut, wonach von den Dingen sich ununterbrochen feine Bildchen (eidola) abheben, welche sich im Auge als Wahrnehmungsbild realisieren – oder eben auf dem Film der Kamera.30 William Henry Fox Talbot stellt die Fotografie unter eine verwandte Idee: The Pencil of Nature (1844–46).31 Hier ist jedes Bild ein Original des Gegenstandes. Man kann auch sagen: das Foto ist ein Idol – in jenem Sinn, wonach Idole dem distanten Gott der Juden (und Christen) deswegen so gefährlich waren, weil sie inkorporierten, was sie darstellten, d. h.: sie stellten jenen magischen Kurzschluss zwischen Signifikant und Signifikat her, der von Tertullian an als Charakteristikum des Götzendienstes immer feiner ausgearbeitet wurde.32 Walter Benjamin betont deswegen hellsichtig, dass die frühen Fotografie-Theoretiker den technischen Charakter der Fotografie mit einem »fetischistischen, von Grund aus antitechnischen Begriff von Kunst« missinterpretiert hätten.33 Wenn er jedoch selbst die fotografische Welt in Parallele zu Freuds Entdeckung des »Triebhaft-Unbewußten« als das »Optisch-Unbewußte« deutet, dann geraten auch ihm Fotos zu Fetisch-Charakteren. Denn Fetische sind Objekte, die sinnlich präsent 29

Vgl. hierzu und zu Bazin, Barthes und die Theorie des Fotos Debray, Manifestes Médiologiques, S. 192 ff. , bes. S. 197 ff. (Kap. »Un matérialisme religieux«). 30 Bernd Busch, Holmes, Epikur und die Welt der fotografischen Bilder, in: Gerburg Treusch-Dieter / Wolfgang Pircher / Herbert Hrachovec (Hg.), Denkzettel Antike. Texte zum kulturellen Vergessen, Berlin 1989, S. 201–228. 31 William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature. With  a new Introduction of ­Beaumont Newhall, New York 1969; vgl. Alexander von Humboldts Bemerkung in einem Brief an Friederike von Anhalt-Dessau am 7.2.1839, als er bereits die Daguerro­typien studiert und es ihm scheint, dass die »Gegenstände […] sich selbst in unnachahmlicher Treue mahlen«. Zit. nach Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus; München 1990, S. 9. 32 Tertullian, Über die Idolatrie  /  De idolatria, in: Ders., Private und katechetische Schriften, übers. v. Heinrich Kellner, Bd. 1, Kempten / München 1912 (Bibliothek der Kirchenväter). 33 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 368–385, hier S. 369.

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wie zugleich sich entziehend das Unbewusste darstellen, ein »Unterschlupf« von »Wachträumen«, wie Benjamin sagt,34 womit er genau die Struktur von Fetischen beschreibt, deren Magie darin liegt, dass sie, nach dem glänzenden Wort von Robert J. Stoller »Geschichten sind, die sich als Gegenstände ausgeben«.35 Darum erlauben Idole, Fetische wie Fotos, frei nach Roland Barthes, einen unmittelbaren Verkehr mit den Göttern oder den Toten und stellen somit eine Präsenz des strukturell Abwesenden her, die wegen ihres heidnischen Charakters nur mittels komplizierter theologischer Kompromisse ins Christentum implantiert werden konnte. Je mehr wir der Macht der Bilder verfallen, umso stärker sind wir in der Gefahr, der Idolatrie zu verfallen  – so lautet die Botschaft. Noch Baudrillards Golfkrieg-Analysen stehen in der Tradition des universalen Bilderverdachts, mit dem schriftzentrierte Theologen gerade solche magische Praktiken verfolgten, in denen das Bild das in ihm Dargestellte erschöpft, mithin ein Idol ist.36

6. Sprach-Theologie und das Verkennen der imaginatio Sind die heutigen Theoretiker der Allgewalt des Bildes verkappte Bild-Fetischisten, so finden wir umgekehrt in der Sprach-Theologie die Wurzel einer Überschätzung der Schrift und der Sprachzeichen. Michel Foucault hat in der »Ordnung der Dinge« gezeigt, dass in der Frühen Neuzeit das Universum der Dinge und das linguistische Universum koinzidierten.37 Die Dinge trugen ihr Zeichen auf der Stirn, das ihr Wesen so unlöschbar markierte, wie das Stigma Kain ein für allemal bestimmte. Oder es erschien im Namen der 34

Ebd. , S. 371. Robert J. Stoller, Observing the Erotic Imagination, New Haven 1985, S.  155; dt. zit. bei Marjorie Garber, Fetisch-Neid, in: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994, S. 230–246, hier S. 231. 36 Die frühen Arbeiten von Jean Baudrillard (Agonie des Realen, Berlin 1978) finden sozusagen im Golfkrieg ihre Beglaubigung: vgl. ders., Der Feind ist verschwunden, in: Der Spiegel Jg. 45, H. 6 vom 4.2.1991, S. 221 ff.; ders., The Reality Gulf, in: The Guardian 11.1.1991. – Vgl. die interessante Variante dekonstruktiver Lesart des Golfkriegs durch Avital Ronell, Support Our Tropes, in: Dies., Finitude’s Score. Essays for the End of the Millenium, Lincoln / London 1994, S. 269–292; dies., Activist Suppliment: Papers on the Gulf War, in: Ebd., S. 293–304. Insgesamt kritisch zur Golfkrieg-Rezeption vgl. Christopher Norris, Uncritical Theory: Postmodernism, Intellectuals and the Gulf War, London 1992. 37 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses (L’Ordre du discours 1966), Frankfurt a. M. 1991, S. 46–77. 35

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Sache dessen Wesen so transparent wie in der Namenstaufe, welche Adam im Sprachparadies, noch vor dem Fall, in wahrhaft diviner Geste zelebrierte. Erkenntnis war deswegen identisch mit der Lektüre der in den Dingen selbst versenkten Zeichen. Das Sein erschöpfte sich in der lingua universalis. Alles war Text – und alles wird heute bei denjenigen Theoretikern zum Text, welche die unüberbrückbare Differenz von Zeichen und Sache überspielen, indem sie die Grenzen der Welt und die Grenzen des Textes zusammenfallen lassen. Das ist nicht überraschend. Doch zu fragen ist, wie es zu einem solchen Wiederaufleben scholastisch-mönchischen Schriftgelehrtentums in den Kulturwissenschaften kommen konnte. Meine Vermutung ist, dass es hinsichtlich des ›Außen‹ und des ›Abwesenden‹ eine Verschiebung gegeben hat. Wenn es zwischen radikalem Konstruktivismus, Dekonstruktivismus und Semiotik eine Gemeinsamkeit gibt, so die Annihilation des ›Außen‹. Die verbreiteten Theorien der Alterität sind zumeist keineswegs von der Einsicht des prin­zipiellen Entzugs erfüllt  – wie früher die Negative Theologie oder noch kürzlich die Negative Dialektik Adornos  –, sondern sie dienen der Entschärfung des Anderen, wenn nicht dessen Komprehension. Die Kultur schlechthin zum Text zu erklären,38 ebenso aber auch die Natur, den Körper, die Stadt, die Dinge, die Landschaft, die Doppelhelix der Gene usw.,  – dies ist ein ebenso imperialer wie zugleich hilfloser Zugriff, der in nichts den Theo­retikern der Bilder-Sintflut oder der hypertechnisch realisierten Platonsche Höhle nachsteht.39 Der linguistic turn ist nicht weniger totalitär als der iconic turn oder der semiotic turn, wenn darin nur um die Alleinherrschaft im Reich der Theorien oder gar um die Ermächtigung im Reich der Dinge gerungen wird. Vermutlich sind dies nicht nur normale innerwissenschaftliche Machtkämpfe, wie wir sie z. B. auch hinsichtlich des Herrschaftswechsels von der Physik zu den Biowissenschaften beobachten konnten. Sondern es geht immer noch um die reflexhafte Verarbeitung des ›Chocs‹, der das 20. Jahrhundert heimsuchte, indem die immer exhaustiveren Beherrschungstechniken gekontert wurden von immer dramatischeren Verlusterfahrungen, Erfahrungen vom Verschwinden der Menschen und Dinge, der Zunahme immer fürchterlicherer Todesarten, dem Entzug der

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Einen Überblick gibt Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text. Die anthro­ pologische Wende in der Literaturwissenschaft; Frankfurt a. M. 1996. 39 Zur Analogie des Platon’schen Höhlengleichnisses und der heutigen Welt elektronischer Virtualität vgl. Horst Bredekamp, Höhlenfragen, in: First Europeans. Frühe Kulturen  – moderne Visionen. Ausst.-Kat. Große Orangerie Schloß Charlottenburg 1993/94, Berlin 1993, S.  72–75; Jean Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt, in: Ars Electronica (Hg.), Philosophien der Neuen Technologie, Berlin 1989, S. 113–131.

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Wirklichkeiten, in denen wir leben (müssen). Der Entgrenzung der Herrschaft entspricht die Entgrenzung der Theorien und beides treibt dabei die Entgrenzung des Todes voran. Der Fortschritt und der Humanismus sind dabei aufgerieben worden und darum stehen wir am Ende des Jahrhunderts in ratloser Gelähmtheit, die durch ein Wuchern von lärmenden Ausflüchten begleitet ist. Theorien aber sind so gut, wie sie die Grenzen ihrer Reichweite bestimmen, also mit der Endlichkeit rechnen. Stein des Anstoßes aller Medienund Zeichentheorien ist die Wirklichkeit, deren Unerreichbarkeit keineswegs Unwirksamkeit heißt und die deswegen die härteste (steinerne) Begrenzung des Denkens darstellt. Hinsichtlich der Sprache und der Schrift nun ist es erforderlich, diese Grenzen nicht nur gegenüber dem Realen, sondern auch gegenüber der Sphäre der Bilder zu wahren, zugleich aber die Bildkraft des Sprachlichen mitzudenken. Die Sprachlichkeit der Bilder korrespondiert mit der Bildlichkeit der Sprache, ohne ineinander aufzugehen. Wir haben es vielmehr mit drei Typen von Bildern zu tun: 1) materielle Bilder, die uns entgegentreten, sind immer medial vermittelt, gebunden an welche hardware auch immer; 2) Bilder, welche komplexe Erzeugnisse von Wahrnehmungsakten sind, also mentale Repräsentationen; und 3) Bilder, welche imaginativ evoziert werden, wenn immer wir sprechen, hören oder lesen.40 Dieser Ort der Bilder, nämlich die imaginatio, ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit, dass es überhaupt Bilder in der Welt der Objekte geben kann. Sondern die imaginatio ist die Bedingung auch dafür, dass wir Wahrnehmungen mithilfe von Schemata auf Begriffe beziehen und damit Wahrnehmungsidentitäten herstellen können. Und schließlich ist die imaginatio die Bedingung dafür, dass wir uns vorstellen können, was Wörter oder Schriftzeichen überhaupt besagen. In jedem Lesen und Hören erzeugen wir ununterbrochen Bilder; sie leisten die wesentliche Arbeit der Bedeutungsverwirklichung. Sprachliche Hermeneutik ist zuerst Bildarbeit, ein inneres Sehen und Bilden. Auf diese Bildarbeit ist die Sprache vermutlich inniger angewiesen als die Bildhermeneutik umgekehrt der Lektürefähigkeit bedarf. Alle Bilder, jedweder medialen Verfassung, finden ihre Lokalität in der imaginatio nicht anders als diejenigen Bilder, welche Effekte eines nicht-bildnerischen Mediums sind wie im Fall der Sprache. Die imaginatio ist ferner kraft ihrer unauflöslichen Symbiose mit dem Gedächtnis das eigentliche Archiv der Bilder. In ihm gibt 40

Vgl. dazu allgemein Rolf Wedewer, Zur Sprachlichkeit der Bilder. Ein Beitrag zur Analogie von Sprache und Kunst, Köln 1985; Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München 1995; Hans Belting  /  Siegfried Gohr (Hg.), Die Frage nach dem Kunstwerk unter den heutigen Bildern, Ostfildern bei Stuttgart 1996. Zur visuellen Logik von Bildern vgl. Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997.

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es zwar Differenzen zwischen den Bildarten, aber zugleich auch Verbindungen und Transformationen, jedenfalls keinen Paragone. Doch im Gegensatz zu allen anderen Archiven sind die Archive der Einbildungskraft Effekte der wet ware des Gehirns, nicht aber technische Bildapparate und Bildspeicher. Die größten Bildspeicher und die komplexesten Bild-Erzeugungen verdanken sich unserer Physis und der in sie eingekörperten imaginatio. Sie sind deswegen so sterblich wie wir es selbst sind. Hingegen stellen alle Medien Versuche der Verkörperung von Bildern dar, die die Bild-Existenz vom Leib zu lösen und in nicht-organische Speichermedien zu überführen suchen. Dort aber sind sie tot. Denn auch verkörperte Bilder werden lebendig erst, indem sie wieder eingekörpert werden, d. h. ihren Ort in der imaginatio finden, in der sie lebendig werden nur um den Preis, sterblich zu sein. Anders ist das Leben der Bilder, anders ist auch der lebendige Buchstabe nicht zu haben. Das aber heißt: wir haben Schrift und Bild nicht miteinander im Wettstreit zu sehen, sondern im Wettstreit mit einem Tode, dem sie abgerungen werden, indem sie lebendig, aber auch sterblich werden. Dieses Gesetz ist durch keine Maschine überwindbar.41 An dieser Stelle wird für die Konstellationen, die Bild und Schrift im 20. Jahrhundert eingehen, die Erfahrungslosigkeit von Auschwitz bedeutsam. Für Adorno war Auschwitz das zeichenlose Zeichen schlechthin, ein tiefer Einschnitt in die Geschichte der Bilder, die immer schon, vor allem aber nach Auschwitz als Abtrünnige des Bilderverbots gelten müssen. Wie bekannt, hat Adorno das Anathema auch auf die Sprache ausgedehnt, die selbst in ihrem kulturell höchstrangigsten Aggregat, dem Gedicht, nicht mehr möglich sei. Zwar hat Adorno das apodiktische Diktum, dass nach Auschwitz kein Gedicht und mithin kein subjektiver Ausdruck mehr denkbar sei außer dem des Unausdrückbaren, später gemildert; er hatte Paul Celan und Nelly Sachs gelesen. Dennoch ist er niemals davon abgerückt, dass Auschwitz nicht nur eine politische und moralische Katastrophe, nämlich den Zusammenbruch des Glaubens bedeutet, auf dem die neuzeitliche Zivilisation beruhte, sondern auch einen Kollaps der Sprache und der Kunst. Diesem Gedanken dient die Schlusspassage.

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Zur Beziehung zwischen Bild und Tod vgl. die ausgreifende philosophische Untersuchung von Iris Därmann, Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte, München 1995.

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7. Kunst und Sprache nach Auschwitz »Christian Boltanskis zentrales Thema ist der abwesende, verlorene Körper«, so notiert Monika Wagner.42 Die Kunstwerke Boltanskis, welche an archivierte Spuren des Verlorenen ebenso erinnern wie sie Markierungen eben der Leere darstellen, welche die Toten hinterlassen haben, sind ein ständiges Bemühen, zwischen dem Bilderverbot nach Auschwitz und der Not des Erinnern-Müssens einen dritten Weg zu finden. Boltanski sucht uns mit Erinnerungen heim, die zeigen, was wir verloren haben, doch zugleich diese Positivität (das Was) wieder dementieren: die Kunst muss darauf verzichten, in die Präsenz zu holen, was für immer abwesend ist.43 Sie verzichtet damit auf ihren stärksten Effekt, von welchem durch die Jahrhunderte nicht nur die religiösen Bilder, sondern auch die Bilder im Zeitalter der Kunst, wie es Hans Belting sagt, zehrten. Die Stellung der Kunst wird darum paradox: sie macht die Toten lesbar in den Spuren, welche Boltanski auslegt, und entzieht dem Rezipienten zugleich jede Lesbarkeit. Dieser Doppelstatus von Spurenlese und Entzug hinterlässt eine eigentümliche Erfahrung, die man mit Freud als Trauer bezeichnen kann, eine Erfahrung eines sprach- und ausdrucks­losen Verbundenseins mit den unerreichbaren Toten, die in der Leere, die sie hinterlassen haben, anwesend abwesend sind. Es gibt deswegen keine Aufhebung des Vergangenen im Gegenwärtigen des Kunstwerkes selbst. Die »Realpräsenz der Bilder«, die ihren Kult- wie ihren Kunstwert ausmachte, ist mit den Toten selbst gestorben. Es ist, als begriffen wir erst jetzt das Diktum Schillers, wonach auch das Schöne sterblich sei. Der Rauch und die Asche verbieten ein Erinnern, in welchem die Geschichte gerettet wäre, und verbieten einen Ausdruck, der das Gewesene in sich birgt wie das Leintuch der 42

Monika Wagner, Bild-Schrift-Material. Konzepte der Erinnerung bei Boltanski, Sigurdsson und Kiefer, in: Birgit R. Erdle  /  Sigrid Weigel (Hg.), Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, Köln 1996, S. 23–41, hier S. 25; vgl. auch: Monika Wagner, Sack und Asche. Materialgeschichten aus der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1997; ferner Oliver Simons, Gedächtnislandschaften, Erinnerungsbilder, Spurensicherung, in: Manuel Köppen / Klaus R. Scherpe (Hg.), Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst, Köln 1997, S. 191–213, hier 201 ff. 43 Dazu ist keineswegs notwendig, dass der Holocaust thematisch wird. Boltanski will ausdrücklich nicht als Holocaust-Künstler verstanden werden. Die Momente der Leere, der Spur, der Abwesenheit, des Relikts sind die ›Medien‹, in denen alle Kunstwerke Boltankis arbeiten, gleichgültig ob es sich um Installationen handelt, die sich auf seine Kindheit, eine Schulklasse, Fundstücke im Münchner Hauptbahnhof, fiktive Archive von Verstorbenen beziehen – oder eben um die Toten des Holocaust. Gerade dies aber zeigt, dass das prekäre ästhetische Verhältnis zwischen dem Holocaust und seinem Erinnern die Kunstwerke auch dann kontaminiert, wenn sie mit dem Holocaust nichts zu tun haben.

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Veronika die vera ikon Gottes. So muss auch das Gedicht, das nicht anders als in Formen und im Sinn arbeiten kann, diese Formen und diesen Sinn, indem es sie setzt, zugleich entziehen. Das Kunstwerk, das den Raum füllt und sinnliche Evidenzen erzeugt, muss raumlos werden und unsinnlich, also im Raumerfüllen selbst das Leere bezeichnen, nein, nicht be‑zeichnen, sondern be-lassen. Erst damit wird den Toten ihr Raum gegeben, der für den Leser oder Betrachter zur Erfahrung des Vermissens, oder auch der Scham oder der Schuld wird. Im Leeren und Ausdruckslosen, das im Kunstwerk statthat, gibt der Künstler preis, was das Pathos der Kunst war: nämlich souverän im Verfügen über das Material zu sein. Diese Souveränität hat sich in Mord verkehrt.44 Sie ist, bei Strafe der Komplizenschaft, dem Gedicht und der Kunst verwehrt. Daher das Unphysiognomische, weil das Physiognomische der Kunst hieße, dass sie ganz Herr des Materials geworden sei, es nämlich zum Ausdruck verwandelt und damit zum Opfer gebracht hätte. Selbst das Verfahren der Prosopopöie, den Toten eine physiognomische Stimme zu geben, ist unmöglich geworden. Darum hat Claude Lanzmann in »Shoah« (1974/85) das Verfahren radikaler Indirektheit gewählt. Wir haben nichts als Stimmen und Gesichter, der Zeugen, der Überlebenden, der Täter, der Komplizen. Die Kunst des Films besteht darin, in den Stimmen und Gesichtern der Lebenden unräumliche Räume oder Liminalitäten zu schaffen, in denen die unhörbaren Stimmen und unsichtbaren Gesichter der Toten anwesend werden. In verwandter Weise verwirklicht Daniel Libeskind im Jüdischen Museum Berlin (1998) eine Architektur, die in einer Kunstform, die wie keine andere von der Positivität der Raumerfüllung ausgehen muss, Räume der Leere belässt. Museen sind Orte der Sammlung und Versammlung und können nicht anders, als Sichtbarkeit, Materialität und Sinn hervorzukehren. Anders als die Ausstellung »Jüdische Lebenswelten« (1992), die in ihrer Fülle den Anschein erzeugte, als stünden wir unmittelbar zu einem Da-Sein der jüdischen Geschichte,45 sucht Libeskind eine Form des Erinnerns und Andenkens, in welcher das 44

Das 20. Jahrhundert geht mit 160 Millionen Terrortoten in die Historie ein. Das massenhafte Morden und Vergleichgültigen des Todes ist eine geschichtliche Signatur geworden. Dem tritt zur Seite die ökologische Verwüstung und das eigennützige Töten ungezählter Tiere sowie das Ausrotten Hunderter und Tausender von Tier- und Pflanzenarten. Es ist völlig undenkbar, dass hiervon die Künste nicht bis ins Innere, und d. h. bis in ihre Formstruktur, berührt würden. 45 Vgl. Andreas Nachama u. a. (Hg.), »Jüdische Lebenswelten«, 3 Bde., Ausst.-Kat. Martin-Gropius-Bau Berlin, 1992, Frankfurt a. M. 1991. Zur Kritik der Ausstellung vgl. besonders Liliane Weissberg, Zur Ausstellung des Fremden: Literaturkritik als cultural studies, in: Hartmut Böhme u. a. (Hg.), Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschaften, Stuttgart 1995, S. 499–531, hier S. 506 ff.

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Gestaltete zum Gestaltlosen, das Figurale zu seiner Auslöschung, die lebendige Geschichte zur Namenlosigkeit der Toten in Beziehung tritt.46 Zu Beginn hieß es, dass mit jedem Toten ein Universum der Bilder und Wörter verlischt. Die Millionen Ermorderter von Auschwitz, zu denen Millionen Terrortote in diesem Jahrhundert hinzutreten, haben das, was Erinnerung war und was die Kunst und die Schrift für das Erinnern zu leisten fähig waren, zutiefst verändert. Die Historia wurde im 17. Jahrhundert noch so emblematisiert, dass sie, vor der ein endloses Trümmerfeld der Geschichte liegt, eben den Sinn dieser Geschichte in ihr Buch rettet, das sie unablässig schreibend füllt. Das war die Aufgabe aller Medien. Diesen Sinn vorausgesetzt, konnte es einen Paragone geben. Was aber im 20. Jahrhundert dieses Tableau radikal verändert hat, ist die Einsicht, dass es eine Resurrektion der Toten in den Medien der Künste, sei es der Schrift oder des Bildes, nicht gibt. Die Toten haben eine unbeschreibliche Leere hinterlassen. Ihre Worte und ihre Bilder fehlen in einer so noch nie gewesenen Art. Die Botschaft der Medien, die immer, ausdrücklich oder insgeheim, einem Programm der Rettung durch Erinnern folgten, läuft ins Leere. War dem Tod etwas abzuringen gewesen, dem Massenmord nicht. Angesichts dessen wird der Paragone, in dem es auch um die größte Nähe zum Heil ging, nicht nur unsinnig, sondern auch unmoralisch. Gewiß geht das Leben weiter. Aber welches? In der entfesselten Medien­ offensive, die heute vor allem über Cyberspace ausgetragen wird, können wir auch beobachten, dass im globalen Ausmaß etwas geschieht, was ich gnostische Weltflucht47 nenne. Die gewaltsame Trennung zwischen der schwerelosen Medienwelt, in der alle miteinander verbunden sind in einer neuen Kommunion, und der Welt der Körper und Lebewesen, die ihrem Elend überlassen sind,  – diese radikale Trennung ist auch eine Abstoßung der geschichtlichen Wahrheit dieses Jahrhunderts und der Leere, die sie in uns hinterlassen hat. Auch Cyberspace beendet den Paragone – im Zeichen einer Technik, die wie kein Medium jemals zuvor sich im Besitz des Empyreums zu wissen glaubt. Er beendet aber auch ein Erinnern, das den Schmerz der Geschichte nicht von sich abtun kann. Doch dies zu erläutern, wäre ein anderes Kapitel. 46

Vgl. aber den Band von Köppen / Scherpe, Bilder des Holocaust. Dort eine gute Diskussion der Möglichkeiten der ästhetischen Auseinandersetzung jenseits des Bilderverbots. Gewiss aber wird das Undarstellbare nicht dadurch aufgehoben, dass es »Bilder des Holocaust« gibt. 47 Vgl. Hartmut Böhme, Zur Theologie der Telepräsenz, in: Frithjof Hager (Hg.), KörperDenken. Aufgaben der historischen Anthropologie, Berlin 1996, S. 237–249. Wie sehr heutige Medien-Theoretiker im Bann unausgesprochener Theologien stehen können, zeigt Elisabeth Neswald, Medien-Theologie. Das Werk Vilém Flussers, Köln / Weimar Berlin 1998.

Joachim Jacob

Gedächtniskonkurrenz als Medienästhetik Dion von Prusas »Olympische Rede« und Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon«

I. Wenn es richtig ist, dass aus der paragonalen Konstellation, Künste zueinander in einen Wettstreit zu setzen, nicht nur Sieger und Verlierer hervorgehen, sondern vor allem auch ein Bewusstsein, was diese Künste und ihre materialen Bedingungen voneinander unterscheidet, was sie im Blick auf bestimmte Zielsetzungen und Erwartungen triumphieren oder verlieren lässt, dann gilt dies zweifellos auch für die spezifischen Gedächtnisleistungen, die den Künsten zugeschrieben werden. Von dieser Bedeutsamkeit des traditionsreichen Themas des Wettstreits der Künste für die Reflexion ästhetischer Medialität und des Gedächtnisses der Künste, wie aber auch umgekehrt, der Bedeutung der jeweiligen Gedächtnis und Erinnerung stiftenden Kraft der Künste für den Paragone geht die folgende Rekonstruktion aus, wenn sie zwei Gründungstexte medienästhetischer Reflexion unter diesem Gesichtspunkt ana­lysiert: Dion von Prusas (d. i. Dion Chrysostomos) zehnte »Olympische Rede: Über die erste Erkenntnis Gottes« am Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts und Gotthold Ephraim Lessings »Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und der Poesie« von 1766. Sowohl in Dions »Olympischer Rede« als auch in Lessings »Laokoon« ist vom Wettstreit der Künste die Rede. Dion von Prusas »Olympische Rede« ist sogar selbst, wie sich noch zeigen wird, in einen solchen Wettstreit ver­ wickelt. Lessings »Laokoon« dagegen ist auch als ein Ende der neuzeitlichen Paragonetradition gelesen worden, weil er eben die individu­ellen Leistungen und Begrenzungen von literarischer Sprache und Bild herausstelle, von denen her es sich verbiete, das eine künstlerische Medium gegen das andere auszuspielen. Dass eine solche Aufmerksamkeit für die unreduzierbare, und auch intermedial nicht auflösbare Besonderheit der Künste den Paragone je­doch nicht zwingend beenden muss, zeigt eine genauere Lektüre auch der Lessingschen Schrift. Statt der Vorstellung einer einfachen Abfolge vom Pa­ragone zur medienästhetischen Würdigung der verschiedenen und der Verschiedenheit der Künste scheint vielmehr, um eine These zu formulieren, von einer Wechselwirkung auszugehen zu sein: Paragonale Konstellationen (ergeben

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sie sich zufällig oder seien sie absichtlich herbeigeführt) erzeugen eine mediale Sensibilität – wie umgekehrt ein Bewusstsein von den medienästhetischen Bedingungen der Künste auch die Frage nach ihrer Leistungsfähigkeit und ihrem Rang stellen lässt. Medienbewusstsein erzeugend  – unter Medium werden im Folgenden auch die basalen Darstellungsmedien Sprache /  Schrift, Leinwand, Marmor etc. verstanden – ist der Paragone insofern, als der vergleichende, agonal motivierte Blick auf die Künste deren Eigenart nicht notwendig nivellieren muss, wie Karlheinz Stierle einmal in seiner Studie über die »Entdeckung des ästhetischen Mediums« im 18. Jahrhundert behauptet hat.1 Sondern der Wettstreit um Rang und Rangfolge der Künste ruht vielmehr gerade auf Annahmen über die spezifische Leistungsfähigkeit (wie auch Beschränktheit) der verschiedenen künstlerischen Darstellungs-, Produktions- und Wirkungsformen und führt damit in deren je eigene mediale, materiale Besonderheiten hinein. Dieser Zusammenhang ist denn auch sowohl in der Paragoneliteratur im engeren Sinn zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert (deren teils spielerischer, teils polemischer Charakter diese heuristische Funktion nicht schmälern muss),2 als auch in hierarchisierenden Betrachtungen der Künste überhaupt von der Antike bis in die Gegenwart immer wieder hergestellt worden.3 Zu ausschlaggebenden Parametern sind hierbei neben dem unterschiedlichen Alter der jeweiligen Kunstform, der Wahrheitsfähigkeit ihrer Gebil1

»Seit der Antike schon sind Dichtung und Malerei unter dem Gesichtspunkt des ›Wettstreits der Künste‹ wie der Möglichkeiten ihrer wechselseitigen Bereicherung miteinander verglichen worden. […] Für die Entdeckung des ästhetischen Mediums aber sind beide Traditionen nicht unmittelbar fruchtbar geworden, ja diese haben das Problem selbst eher verdeckt.« Karlheinz Stierle, Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums, in: Gunter Gebauer (Hg.), Das Laokoon-Projekt, Stuttgart 1984, S. 23–58, hier S. 24. 2 Widersprechen würde ich auch der Auffassung Claire J. Faragos, dass der Vergleich zwischen Malerei und Dichtung in der Antike nur metaphorische Qualität und Bedeutung habe, und nicht auf die Eigenheit visueller Künste gerichtet sei; vgl. Claire J. Faragos, Leonardo da Vinci’s »Paragone«. A Critical Interpretation with a New Edition of the Text of the Codex Urbinas, Leiden 1992, S.  32 f. Denn auch den konven­tionalisierten malerischen Metaphern in der klassischen antiken Rhetorik bspw. liegen implizite Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit der Bildenden Künste zugrunde. Welche konkrete Bildtheorie den Vergleichen zwischen Malerei und Dichtung in der Aristotelischen »Poetik« zugrunde liegt, zeigt Cornelia Manegold, Wahrnehmung, Bild, Gedächtnis. Studien zur Rezeption der aristotelischen Gedächtnistheorie in den kunsttheoretischen Schriften des Giovanni Paolo Lomazzo, Hildesheim 2004, S. 68 f. 3 Vgl. dazu mit reichem, auch Rangfragen der jeweiligen menschlichen Sinne umfassendem Belegmaterial Donat de Chapeaurouge, »Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht«. Der Weg von der mittelalterlichen zur abstrakten Malerei, Wiesbaden 1983.

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de oder der unterschiedlich intensiven emotionalen Wirkungsmacht, die von Malerei, Bildhauerei, Architektur, Dichtung oder Musik jeweils ausgingen, beispielsweise auch ihr unterschiedliches Vermögen, Schönheit darzustellen, gezählt worden. Leonardo da Vincis Paragonetexte etwa kreisen immer wieder um die Schönheitsfähigkeit der Künste4 oder eben auch Dion von Prusas »Olympische Rede« hebt diesen Aspekt heraus, muss sie sich doch als Sprachkunstwerk in Olympia vor der Olympischen Festversammlung vorgetragen, vor den Augen der Zuhörer neben dem Schönsten behaupten, was man im spätantiken Griechenland sehen kann. Denn Dion spricht am Ort der zu den sieben Weltwundern gerechneten Zeus-Statue des großen Phidias, die aus nichts als Gold und Elfenbein besteht – jedenfalls solange man von außen schaut. Denn innen ist sie hohl und hässlich, wie Lukian einmal bemerkt, von Mäusen und Ratten bewohnt.5 Doch nicht Schönheit an sich als Argument im Paragone soll hier verfolgt werden, sondern Gedächtnis und Erinnerung. An Schönheit könnten Texte zwar viel schlechter erinnern als Bilder, so der sophistische Rhetoriker Isokrates im 4. Jh. v. Chr. , aber umso besser an die vergangenen Taten und den Charakter der sie Ausführenden, und darum hätten diese einen viel höheren Wert, weil »zwar auch Bilder von Personen schöne Erinnerungsstü­ cke sind, viel wertvoller jedoch die Bilder von Taten und von Gesinnungen sind, die man nur in kunstvoll gestalteten Reden schauen kann.«6 Darum, so der Redner Isokrates, sei ihm die Rede die vorzuziehende Erinnerungsform. Die Frage nach den Gedächtnisleistungen der verschiede­nen Künste, wie sie hier (sicher nicht ohne eigennütziges Kalkül) angesprochen wird, die jeweilige Langlebigkeit ihrer Erzeugnisse und die Gedächtnis bildende Kraft, die von den verschiedenen Kunstformen ausgeht, ist ein Argument von großem Gewicht im Paragone. Hartmut Böhme hat in diesem Zusammenhang und mit Blick auf diese elementare Leistung der Künste sogar die These vertreten, dass der Vergleich der Künste ursprünglich allein von der Herausforde4

Vgl. Leonardo da Vinci, Il Paragone, in: Ders., Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hg. v. André Chastel, München 1990, S. 127–155, v. a. S. 137 ff.; vgl. zu diesem Aspekt eingehender Joachim Jacob, Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense, Tübingen 2007, S. 189 ff. 5 Vgl. Lukian von Samosata, Der Hahn, oder: der Traum des Micyllus, in: Ders., Sämtliche Werke, übers. u. hg. v. Christoph Martin Wieland, 6 Teile in 3 Bänden (Nachdruck Leipzig 1788–1789), Bd. 1, Darmstadt 1971, S. 105–148, hier S. 137 f.; vgl. Dion von Prusa, Olympische Rede oder Über die erste Erkenntnis Gottes, übers. u. hg. v. Hans-Josef Klauck, Darmstadt 2000, dazu Anm. 257, S. 138 f., und Christiane Krause, Strategie der Selbstinszenierung. Das rhetorische Ich in den Reden Dions von Prusa, Wiesbaden 2003, S. 85. 6 Isokrates, Euagoras IX, 73, in: Ders., Sämtliche Werke, übers. v. Christine Ley-Hutton, hg. v. Kai Brodersen, Bd. 2, Stuttgart 1997, S. 3–19, hier S. 17.

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rung erzwungen worden sei, Erinnerungstech­niken angesichts der Vergänglichkeit des Lebens, angesichts des Todes, zu entwickeln.7 Damit wäre dann allerdings, wie auch Böhme sieht, der (medien‑)ästhetische Paragone letztlich in einen ganz anderen Wettstreit eingelassen: den zwischen Gedächtnis und Tod.8 Wenn auch diese Erklärung den Paragone vielleicht etwas zu sehr existentialistisch einfärbt und die Kunst zur Erinnerungskunst reduziert  – Dions »Olympische Rede« etwa stellt den angemessenen Lobpreis des höchsten Gottes in den Mittelpunkt, Lessing diskutiert den Paragone unter Aspekten der Freiheit und der illusionistischen Wirkmächtigkeit künstlerischer Darstellung  –, kommt dennoch zweifellos dem Gedächtnis der Kunst und der Erinnerung und dem Erinnerungsvermögen ihrer Rezipienten im Zusammenhang von Paragone und Medienästhetik, wie ich im Folgenden zeigen möchte, eine maßgebliche Bedeutung zu.

II. Dion von Prusas »Olympische Rede: Über die erste Erkenntnis Gottes« (101–105 n. Chr.) enthält die ausführlichste aus der Antike überlieferte Erörterung der materialen Differenzen zwischen Malerei und Dichtung. Innerhalb eines weiteren Zusammenhangs, in dem es um das Thema der angemessenen Darstellung des höchsten olympischen Gottes, nämlich des Zeus, geht, inszeniert Dion diesen Seitenaspekt seines Themas, welche Kunst über die besten Mittel verfüge, Zeus als Gott vorzustellen und zu preisen, auf eine äußerst raffinierte Weise, die direkt in die sich hiermit andeutende Debatte hineinführt. Denn in der Gattung der epideiktischen Festrede, der ›Prunk­ rede‹, zu der die »Olympische Rede« gehört, hat auch der Redner selbst zu zeigen, was er kann. Ein agonales Moment ist damit sowohl in der Zurschaustellung des Gegenstandes als auch der eigenen Kunstfertigkeit ständig präsent. Der römische Rhetoriklehrer Quintilian verweist bei seiner Darstellung des genos epideiktikon auf die von Kaiser Domitian 86 n. Chr. in Rom eingeführte Tradition der »Lobreden auf den Iupiter Capitolinus« als »dauernde[m] Bestandteil des heiligen Wettkampfes (sacri certiminis)«9 – und Dion entwickelt diesen Wettstreit in seiner Rede zu einem Paragone. 7

Vgl. Hartmut Böhme, Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten, in: Hans Belting / Dietmar Kamper (Hg.), Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 23–42, hier S. 25. 8 Vgl. ebd. , S. 39. 9 Marcus Fabius Quintilianus, Institutionis oratoriae libri XII. Ausbildung des Redners, Zwölf Bücher, lat. / dt. , übers. u. hg. v. Helmut Rahn, Bd. 1, Darmstadt 21988, S. 349 (III, 7, 4); vgl. Cicero, De oratore: »Man sollte sich jedoch auf Dinge stützen, die entweder durch ihre Größe ausgezeichnet oder in ihrer Neuheit führend oder

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So erscheint der Wettstreit zwischen Kunst und Literatur in der »Olympischen Rede« – denn im Wettstreit um die angemessenste Darstellung des höchsten Gottes werden die Künste und ihre Möglichkeiten hier vorgestellt  – nicht als ein simpler Austausch von Argumenten, sondern in Form einer Rede in der Rede, als eine fingierte Verteidigungsrede, die Dion den legendären Bildhauer Phidias halten lässt. Phidias tritt vor einem fiktiven Tribunal auf, vor dem er sich für die anthropomorphe, an der schönen Men­ schengestalt ausgerichtete Darstellung seines an Ort und Stelle aufgerichteten Götterbildes rechtfertigen soll, das als eines der sieben Weltwunder gilt: die kolossale Zeusstatue in dem im 5. Jahrhundert v. Chr. errichteten Zeus­tempel von Olympia, den sie auch zu Dions Zeit noch schmückt. Dass Dion Phidias’ Rede auf die eigene Kunst als eine Selbstverteidigung einführt, ist nicht unwichtig. Denn sie lässt es zumindest nicht ausschließen, dass Phi­dias’ Argumente, die, nicht ohne Witz, allesamt auf die Unterlegenheit der eige­nen Bildgegenüber der Dichtkunst hinauslaufen, nichts als Schutzbehauptungen des Künstlers vor Gericht sind, die einerseits die Ansprüche an sein Werk mindern sollen, andererseits aber auch seine Leistung umso größer er­scheinen lassen, insofern er ein von seinen Voraussetzungen her unterlegenes Medium dennoch so überaus erfolgreich beherrscht. Phidias’ Apologie vorgeschaltet ist jedoch eine für das Weitere ebenfalls bedeutsame kleine Episode über die Entstehung der menschlichen Sprache. Sie gibt – diesmal vom Redner in eigener Person vorgetragen – dem folgenden Paragone ein gleichsam objektives semiotisches Fundament und bereitet in­direkt die später behauptete, noch darzulegende Überlegenheit der spezifischen Darstellungsmittel der Dichtung über die der Bildkunst vor. »Unbeschreibliche Schauspiele« sahen die ersten Menschen auf der Erde, so Dion, »und sie hörten die unterschiedlichsten Stimmen von Wind und Wäldern, von Flüssen und Meer […]. Auch sie selbst gaben einen höchst angenehmen, deutlichen Laut von sich, und sie freuten sich über den stolzen, verständigen Klang der menschlichen Stimme. Was in ihre Sinneswahrnehmung Eingang fand, belegten sie mit einem Zeichen, so daß sie alles Wahrgenommene auch benennen und erklären konnten. Mühelos formten sie so von unzähligen Dingen eine Erinnerung und eine Idee.«10

grundsätzlich einzigartig sind. Denn Dinge, die bescheiden, üblich und alltäglich sind, scheinen gewöhnlich nicht bewunderns- oder lobenswert. Auch der Vergleich mit anderen hervorragenden Männern ist in einer Lobrede wirkungsvoll.« Marcus Tullius Cicero, Über den Redner, lat. / dt., übers. u. hg. v. Harald Merklin, Stuttgart 2 1986, S. 429 (II, 347 f.); zur Vorgeschichte im klassischen Griechenland vgl. Vinzenz Buchheit, Untersuchungen zur Theorie des Genos Epideiktikon von Gorgias bis Aristoteles, München 1960. 10 Dion, Olympische Rede, 28, S. 63 f. Zitatnachweise im Folgenden mit Abschnitts­ angabe im Text.

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Die omnipotente und widerstandslose Signifikation der Dinge durch die menschliche Sprache (ein immer wieder einmal aufscheinender Topos der antiken Rhetoriktheorie),11 die gleichermaßen durch einen »höchst angenehmen« wie durch einen »deutlichen Laut« ausgezeichnet ist, macht die Sprache demnach sowohl in ästhetischer als auch in kognitiver Hinsicht zu einem vollkommenen Darstellungs- und Erinnerungsmedium, mit dem sich »[m]ühelos […] von unzähligen Dingen eine Erinnerung und eine Idee« artikulieren und festhalten lässt. Die mit Leichtigkeit handhabbaren sprachli­chen Zeichen begründen die Freiheit der Sprachkunst, alles, was sie will, darzu­ stellen und zugleich souverän über die Erinnerung alles Wahrgenommenen verfügen zu können. Dies muss dann später auch Phidias zugeben: »Verschwenderisch in ihren Mitteln ist nämlich die Dichtung, in jeder Hinsicht gut gerüstet und ganz eigenständig. […] Und was immer dem Dichter durch den Sinn geht […], nie wird ihm dafür ein Bote fehlen […]. Häufig stehen für einen einzigen Sachverhalt auch mehrere Lautbilder zur Verfügung. Wenn jemand davon irgendeines ausspricht, verursacht er eine mentale Vorstellung, die nicht viel weniger präzise ist als die Realität.« (64 f.)

Die Sprache ist in Dions Darstellung demnach ein Supermedium, in dem es kein Erinnerungsproblem gibt, weil ihre Zeichen Lautbilder fixieren, die wiederum Vorstellungen beim Zuhörer hervorrufen können, die mit der Realität mehr oder weniger  – »nicht viel weniger präzise«  – identisch sind. Die damit behauptete Omnipotenz der sprachlichen Signifikation tritt nun besonders deutlich im Kontrast zur Mal- oder Bildhauerkunst hervor. Denn diesen steht im Gegensatz zur Dichtung kein leichthin verwendbares Mittel zur Verfügung, sondern sie müssen sich vielmehr an widerständigen, spröden Materialien abarbeiten, an Leinwand, Stein oder Metallen etwa  – von der Antike bis weit in die Neuzeit bekanntlich der Grund, die Bildenden Künste, anders als die Literatur, zumeist dem niederen Handwerk zuzuordnen (vgl. 69).12 Im Gegensatz zur Sprachkunst muss sich die Bildende Kunst zudem mit der Darstellung ihres Gegenstandes in einer einzigen Gestalt be­ gnügen, den »Dichtern hingegen fällt es leicht, in ihr Dichtwerk viele Gestalten in mannigfachen Erscheinungsformen einzubringen« (70). Noch das stärkste Argument zugunsten seiner Kunst, das Dion ­Phidias vorbringen lässt, dass Bild und Skulptur nämlich nach allgemeiner antiker Auffassung das jeder anderen Sinneskraft überlegene Sehen direkt ansprechen

11 12

Vgl. z. B. Cicero, De oratore, III, 176 f. Vgl. dazu auch Lukian von Samosata, Lucians Traum, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 1–17; Wladyslaw Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, Bd. 1: Die Ästhetik der Antike, Basel 1979, S. 352 f.

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(vgl. 71),13 wird nicht nur durch den zuvor schon gegebenen Hinweis auf die Quasi-Realität der durch Sprache vermittelbaren mentalen Vorstellungsbilder neutralisiert, sondern stellt sich unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten sogar als ein Nachteil heraus. Denn aus der besonderen Kraft des Sehens resultiert für den Bildkünstler, so Phidias/Dion, die viel schwierigere Aufgabe, die kritischen Augen des Betrachters zu überzeugen, während es der Dichter mit dem viel leichter zu verführenden Ohr des Zuhörers zu tun hat (vgl. 71).14 Phidias’ Meisterschaft ist demnach, wie es hier erscheint, nur eine relati­ ve, dem Widerstand des Mediums abgetrotzte, der aber erst im Vergleich mit dem anderen, scheinbar widerstandslosen Medium der Sprache ins Bewusstsein kommt. Insofern sie also schwierigere Darstellungshemmnisse überwinden muss, zu denen beispielsweise auch gehört, dass der Bildkünstler über ein besseres Gedächtnis verfügen muss, weil er die Idee dessen, was er formen will, aufgrund des langwierigeren Produktionsprozesses länger in seinem Gedächtnis festhalten muss, während der Sprachkünstler seine Idee direkt und umstandslos in Worte fassen kann (vgl. 71), ist die subjektive Leistung eines Phidias demnach vielleicht sogar höher einzuschätzen als die eines Sprachkünstlers, ja, sogar Homers, wie Phidias selbst meint (vgl. 63). Im Hinblick auf das zu erreichende Ergebnis unterliegt jedoch die Bildkunst – jedenfalls in der Darstellung des Höchsten, des Gottes Zeus. Denn in sei­nem Falle, muss Phidias in Dions Rede einräumen, ist es nur eingeschränkt »möglich […], so etwas darzustellen, ohne sich dabei der Sprache zu bedienen« (77). Doch die Sache ist komplex. Denn die vermeintlich unfreiere, nicht über ein allmächtiges Bezeichnungsinstrument verfügende und darum der Dichtung zunächst unterlegene Bildkunst verfügt, auch in Dions Darstellung, über eigene Trümpfe. Sie heißen Schönheit und – Gedächtnis. Denn warum kommt es überhaupt zur Anklage gegen Phidias, sich für seine Zeus-Statue gegen den Vorwurf verteidigen zu müssen, sie gäbe kein angemessenes Bild des Gottes? Kein »belangloser Streitfall« sei dieses Verfahren, verkünden die Richter: »Früher nämlich, als wir nichts genaues wußten, hat sich der eine von uns diese, der andere jene Vorstellung [‹über› das ‹Un›sterbliche] gebildet, wie es einem jeden sei13

Vgl. Aristoteles, Metaphysik I, 1 (980 a); vgl. Robert Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München 2000; Waltraud Naumann-Beyer, Anatomie der Sinne im Spiegel von Philosophie, Ästhetik, Literatur, Köln 2003; aus rhetorischer Sicht bestätigt z. B. bei Cicero, De oratore III, 160–163; zur Sinneshierarchie im Paragone vgl. de Chapeaurouge, »Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht«, S. 1 ff. 14 Dion arbeitet an verschiedenen Stellen mit der Gegenüberstellung von Sehen und Hören, besonders auch im eröffnenden, die eigene Redekunst thematisierenden exordium (vgl. 3; 5; 16).

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nem Fassungsvermögen und seiner Naturanlage entsprechend vorschwebte oder im Traum vor Augen trat. Wenn wir je einige kleine, unbedeutende Bildwerke von früheren Künstlern zusammentrugen, haben wir uns doch nicht zu sehr auf sie verlassen und haben unser Denken nicht daran orientiert. Du [Phidias] aber hast durch die Macht deiner Kunst alle überwältigt, hast als Erstes die Griechen, dann alle anderen Menschen um dieses Wunderbild geschart […], so daß niemand mehr, der das sieht, sich so leicht ein anderes Gedankenbild wird formen können.« (53)

Gegenüber den vagen, individualisierten Bildern der Götter, die jemandem vielleicht im Traum erscheinen mögen,15 überwältigt das Bildkunstwerk (je­ denfalls das eines Meisters wie Phidias) seinen Betrachter. Es okkupiert sein Gedächtnis und prägt ihm ein Erinnerungsbild ein, von dem sich die Imagination nicht mehr befreien kann. Das durch das sprachliche Zeichen in der inneren Vorstellung erzeugbare mentale Bild mag zwar annähernd präzise sein. Dem realen Bild jedoch kommt eine Gedächtniskraft zu, die prägenden Charakter hat, »so daß niemand mehr, der das sieht, sich so leicht ein anderes Gedankenbild wird formen können«. Aus dieser besonderen Einbildungskraft resultiert die gesteigerte Verantwortung des Bildkünstlers, ein angemessenes Bild zu formen, wo es um das Höchste, wo es um ein Gottesbild geht. Dions Argumentationsgang, dem man das spielerische Moment eines Schaukampfes nicht absprechen muss, macht dennoch in besonders klarer Weise deutlich, dass die paragonale Konstellation immer von spezifischen Zielsetzungen abhängig ist, innerhalb derer sie situiert wird. Geht es um die Eindrücklichkeit, triumphiert bei Dion die Bildkunst, geht es um Ausweitung des Darstellbaren, die Dichtung. In Dions Rede wechseln die Bedingungen des Wettstreits bis zum Ende, ohne aber darum aufgehoben zu werden. Das andere, sich als komplizierter erweisende Argument ist die Schönheit. Es bleibt zunächst in auffallender Weise aus dem in Phidias’ Verteidigungsrede hinein gewebten direkten Vergleich der Künste herausgehalten und wird auf einen anderen, auch später für den klassischen Paragone einschlägigen Wettstreit verlagert: den Wettstreit zwischen Kunst und Natur.16 So konkurriert bei Dion um die Fähigkeit, größere Schönheit darzustellen, die Bildende Kunst mit der natürlichen Gestalt des menschlichen Körpers, und diesen Agon meint Phidias für sich entschieden zu haben. Denn kein Sterblicher komme seiner Zeus-Statue an »Schönheit und Größe« gleich: »Was mein eigenes Werk angeht, wird / wohl niemand, nicht einmal ein / Verrückter, es mit irgendeinem / Sterblichen vergleichen können, wenn / seine Schönheit und Größe mit / berücksichtigt wird.« (63)

15

Einschlägig in diesem Zusammenhang ist Lukrez, De rerum natura 1169–1171; zur Vorstellung im römischen Kaiserreich vgl. Gregor Weber, Kaiser, Träume und Vi­ sionen in Prinzipat und Spätantike, Stuttgart 2000, S. 364 ff. 16 Vgl. wiederum da Vinci, Il Paragone, S. 139–143, 154.

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Was hat man demgegenüber von der Schönheit der Sprachkunst zu erwarten? Die Frage liegt nahe, weil der Auftritt vor der olympischen Festversammlung in Elis wie eingangs schon berührt eine Prunkrede, eine ­epideixis, und d. h. auch eine in Thema und Form dem Schönen verpflichtete Rede verlangt. Tatsächlich nimmt Dions »Olympische Rede« diese Hörererwartung auf, um sie auf bemerkenswerte Weise zu enttäuschen. Er selbst gleiche, so der Redner zu Beginn seiner Rede an sein Publikum gewandt, einer Eule, die, »um keinen Deut weiser als die anderen Vögel und auch nicht schöner von Aussehen«, ihre Zuhörer allein durch »ihren klagenden und alles andere als lieblichen« (1) Ton anzieht. Diejenigen, die »in so großer Zahl hier erschienen« sind, um »einem Mann zuzuhören, der weder schön ist von Gestalt noch kräftig«, müssen sich klar darüber sein, dass sie jemandem folgten, »der so gut wie kein Können oder Wissen zu vermitteln verspricht«, weder über »rednerische noch schmeichlerische Fähigkeiten« verfügt, noch irgendetwas geleistet hat, »was des Lobes oder eures Eifers würdig wäre« (15). Stattdessen werde er lediglich eine auf allen äußeren Glanz verzichtende, kunstlose, weil spontan improvisierte Rede bieten können (vgl. 16; 38). Spätestens an dieser Stelle zeigt sich die Ironie des Vortragenden, denn Dions Rede ist in höchstem Maße komponiert und kunstvoll mit rhetorischen Glanzlichtern ver­sehen, wie nicht zuletzt die ethopoeia des Phidias, seine von Dion fingierte Verteidigungsrede, eindrucksvoll unter Beweis stellt. Aber der rhetorische Glanz der Rede ist im Wettstreit mit der Bildenden Kunst eine, wenn auch höchst interessante, Metapher.17 Die Rede Dions ist eben nicht schön, so lässt sich resümieren. Sie kann dem visuellen Glanz des »wahrhaft beseligenden Bildes« der Zeus-Statue vor den Augen ihrer Zuhörer, die unter »allen Standbildern, die es auf Erden gibt«, als »das Schönste und das dem Gott liebste« (25) zu preisen ist, nur eine sprachlich-literarische Kunstfertigkeit entgegensetzen. Aber den haptischen, innersten seelischen Drang der Menschen nach einem zuverlässigen, konkreten Erinnerungs­ zeichen an die Gegenwart der Götter, »das heftige Verlangen, die Gottheit aus der Nähe zu ehren und ihr zu dienen«, dass sie »zu ihr hinzutreten, sie flehend berühren, ihr opfern und ihr Kränze aufs Haupt setzen können« (60), wird die Dichtung nicht befriedigen können. 17

Im poetologisch-rhetorischen Kontext ist der Glanz der Rede (splendor, nitor) ein Merk­mal von hoher Ambivalenz: falscher Glanz ist Inbegriff schlechter Rhetorik, überzeugender dagegen das höchste Ziel; vgl. Cicero, De oratore III, 100 ff.; Horaz, Epistulae II, 2, 111; vgl. dazu Martina Wagner-Egelhaaf, Vom Glanz der Rede, in: Hans-Georg von Arburg (Hg.), Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Zürich 2008, S. 239–253; zur Konkretion des Glanzes in der antiken Malerei vgl. Ernst H. Gombrich, Licht und Glanz. Das Vermächtnis des Apelles, in: Ders., Zur Kunst der Renaissance III: Die Entdeckung des Sichtbaren, Stuttgart 1987, S. 13–32.

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Der Wettstreit der Künste in Dion von Prusas »Olympischer Rede«, so zeigt sich, führt auf Vergleichbares und Unvergleichbares zugleich. Er nähert die Medien der künstlerischen Darstellung und Imaginationsbildung an wie er sie zugleich auch voneinander differenziert. Die Konkurrenz um die beste, zureichendste Darstellung Gottes bleibt letztlich unentschieden. Nicht zuletzt darum, weil der Text, der sie inszeniert, selbst eine der an diesem Wettstreit beteiligte Kunst vertritt und damit selbst sowohl Argument wie auch Medium und schließlich Gegenstand der ästhetischen (Selbst‑)Reflex­ion ist. Dass unter solchen Vorzeichen der Wettstreit nicht entschieden werden kann (bzw. im Angesichte Zeus’ als dem größten, weltschaffenden Künstler [vgl. 82] immer schon entschieden ist), zeigt sich am Schluss der Rede, die mit einer kühnen Engführung schließt. Zeus »scheint« mit einem Male »auf uns zu blicken« (85) und die Stimme zu erheben, und er tut dies als das scheinbar lebendig gewordene Standbild des Bildkünstlers Phidias und mit Worten des Dichters Homers, die Dion dem höchsten Gott am Ende als eine Ermahnung an seine Zuhörer in den Mund legt, sich an die einstige Größe Griechenlands zu erinnern, das in der Gegenwart tatsächlich allen Glanz vermissen lasse.18 – Eindeutig gewonnen hat jedoch, im Widerspruch zur ihrer eingangs prätendierten Unscheinbarkeit, die Sprachkunst der Rhetorik. Nicht nur, dass Phidias, wie Dion am Ende anfügt, sicher vor Gericht gesiegt hätte und von den Griechen bekränzt worden wäre, wenn er zu seiner Verteidigung vorgebracht hätte, was ihm hier in Dions Rede in den Mund gelegt wurde (84). Sondern die Verlebendigung des Standbilds zum ›sprechenden Bild‹,19 mit dem dieses zuletzt »auf uns zu blicken« und zu sprechen scheint, d. h. in seiner Wirksamkeit erscheint, ist ein subtiler Sieg der verlebendigen Rhetorik, die beide schönen Künste ins Leben zurückführt. Doch das ist ein anderer Wettstreit.

III. Lessings Schrift »Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und der Poesie« (1766) gilt gemeinhin als Durchbruch einer spezifischen Medienästhetik, in der die Einsicht, »daß jede Kunst in ihrem Material wurzelt«,20 also in die grundlegende Verschiedenheit der Künste angesichts ihrer verschiedenen ma18

»Selber hast du doch keine Pflege, daß gut es dir täte! Alles trifft da zusammen: erbärmliches Alter und übler Schmutz und die schäbige Kleidung.« (85); vgl. Homer, Odyssee XXIV, 249 f. 19 Zur Tradition des Simonideischen Topos’ vom Gedicht als ›sprechendem Gemälde‹, vom Gemälde als ›stummem Gedicht‹ (»Poema loquens pictura est, pictura tacitum poema debet esse.«) vgl. Gabriele K. Sprigath, Das Dictum des Simonides. Der Vergleich von Dichtung und Malerei, in: Poetica 36 (2004), S. 243–280. 20 Tzvetan Todorov, Symboltheorien, Tübingen 1995, S. 142.

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terialen Darstellungsbedingungen, den Jahrhunderte langen Paragone beendet und statt des Wettstreits nun im Geiste der Aufklärung die Gleichberechtigung des Verschiedenen in das Reich der Künste einkehrt. Lessing selbst trägt zu dieser Deutung bei, in der er an prominenter Stelle seiner Schrift den Paragone geschlichtet sieht, als nämlich »Zeuxis […] eine Helena« malte und dieser »das Herz« hatte, »jene berühmten Zeilen des Homers, in welchen die entzückten Greise ihre Empfindung bekennen, darunter zu setzen. Nie sind Malerei und Poesie in einen gleichern Wettstreit gezogen worden. Der Sieg blieb unentschieden, und beide verdienten gekrönet zu werden.«21

Aber dieser Doppelsieg ist, wie man nicht übersehen sollte, das Ergebnis einer einmaligen historischen Situation (»Nie sind«), und er verdankt sich nicht nur der besonderen Kunstfertigkeit, sondern auch der Großherzigkeit des nachgeborenen Bildkünstlers Zeuxis, der ohne Nötigung sein Bild mit der Unterschrift Homers versah. Und schließlich rührt dieses doppelte Verdienst »gekrönet zu werden« bezeichnenderweise daher, wie Lessing im Anschluss erläutert, dass beide Künstler sich beschieden hatten, nur jeweils das darzustellen, was ihrer Kunst möglich war.22 Wenn also auch in diesem einen Fall der Sinn für das Eigentümliche künstlerischer Medien der Konkurrenz einmal ein Ende setzte, so muss dies nicht grundsätzlich gelten.23 Denn die allgemeine Anerkennung der Eigenständigkeit der Künste und ihrer Darstellungsleistungen führt auch in der Mitte des 18.  Jahrhunderts nicht notwendig zur Aufhebung von Medienkonkurrenzen, wie es Ulrich Pfisterer in seinem instruktiven Artikel zum Para­gone 21

Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), in: Ders., Werke und Briefe in 12 Bänden, hg. v. Wilfried Barner u. a., Bd. 5.2: Werke 1766–1769, Frankfurt a. M. 1990, S. 11–206, hier S. 157. Weitere Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text. Die Zeuxis-Anekdote ist überliefert bei Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia, III, 7, ext. 3. 22 »Denn so wie der weise Dichter uns die Schönheit, die er nach ihren Bestandteilen nicht schildern zu können fühlte, bloß in ihrer Wirkung zeigte: so zeigte der nicht minder weise Maler uns die Schönheit nach nichts als ihren Bestandteilen, und hielt es seiner Kunst für unanständig, zu irgend einem andern Hülfsmittel Zuflucht zu nehmen. Sein Gemälde bestand aus der einzigen Figur der Helena, die nackend da stand. Denn es ist wahrscheinlich, daß es eben die Helena war, welche er für die zu Crotona malte.« (Ebd.) 23 Und schon bei Lessing nicht in jeder Hinsicht: Unter dem Aspekt der Wirkung scheint auch Zeuxis Homer zu unterliegen, Lessing notiert in einem »Paralipomenon«: »So malte Zeuxis die Helena, und wahr und kühn genug die berühmten Zeilen des Homer Iliad. γ v. 156 darunter zu setzen. Laßt ihn aber auch das höchste Ideal der weiblichen Schönheit gemalt haben: so ist es doch gewiß, daß sein Gemälde die allgemeine Wirkung nicht kann gehabt haben, die man der Beschreibung des Dichters zugestehen muß.« Lessing, Laokoon, Paralipomena, ‹3.XIII›, S. 242.

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darstellt.24 Dagegenzuhalten ist, dass auch eigenständige, in ihrer Struktur als grundlegend verschieden erkannte Medien um Wirkungs- oder Darstellungsziele und Darstellungsherausforderungen konkurrieren können. So bedauert Moses Mendelssohn beispielsweise ausdrücklich in einer längeren Anmerkung zu einer Manuskriptfassung des »Laokoon«, die Lessing ihm zur Beurteilung schickt, dass »kein Wetteifer« mehr unter den gegenwärtigen »Tänzer[n], Bildhauer[n] und Dichter[n]« sei, »die nemliche Handlung durch verschiedene Mittel nachzuahmen«, denn dadurch würden sich die Künste untereinander auch »kein Licht mitteilen«.25 Vor allem aber scheint die Medienkonkurrenz bei gleichzeitig zugestandener Eigenständigkeit immer dort verstärkt hervorzutreten, wo es in gesteigerter Weise um die Angemessenheit künstlerischer Darstellung in nicht ausschließlich ästhetisch bestimmten Zusammenhängen geht. So war es bei Dion von Prusa die Forderung der Religion, die in den Wettstreit um die beste Vorstellung Gottes eingriff. Als ein anderes, philosophisch tangiertes Beispiel wäre in diesem Zusammenhang die Hegelsche »Ästhetik« zu nennen: einerseits ein Musterfall phänomenologisch-differenzierender Medienästhetik in der Nachfolge Lessings, andererseits ein einziger, gewaltiger Paragone, in dem es um nichts weniger als die Angemessenheit der spezifischen Ausdrucksformen der Künste an den Geist geht, der in der Kunst zur Darstellung kommen soll und den schließlich die sprachmächtige Dichtung als geistnächste Kunst für sich entscheidet.26 Ein dritter, gegenwärtiger und wiederum eng mit Gedächtnis und Erinnerung verbundener Beleg für die Virulenz von ästhetischen Medi­enkonkurrenzen ist schließlich die Frage nach der historischen Angemessen­heit in den vielschichtigen Debatten um die Darstellung und Erinnerung des Holocausts.27 So gilt auch für Lessings »Laokoon«, dass neben dem einmal unentschieden gebliebenen Wettkampf zwischen Homer und Zeuxis, zwischen Dichtkunst 24

Ulrich Pfisterer, Art. »Paragone«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 528–546, hier Sp. 539. 25 Zit. nach Lessing, Laokoon, Paralipomena, ‹3.XIII›, S. 247. 26 Zur hier vorgenommenen Hierarchisierung der Künste nach dem Aspekt des Mate­ rials vgl. Monika Wagner, Art. »Material«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlhein Barck u. a., Bd. 3, Stuttgart 2001, S. 866–882, zu Hegel v. a. S. 872 f. 27 Vgl. dazu Matías Martínez (Hg.), Der Holocaust und die Künste, Bielefeld 2004; eher unter dem Aspekt der Medienkombination als der Medienkonkurrenz ebd., »Zur Einführung«, S. 7–20, hier S. 17 ff.; Bettina Bannasch / Almuth Hammer (Hg.), Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah, Frankfurt a. M. 2004; auch die neuerliche, durch einen Beitrag Georges Didi-Hubermans 2001 für den Katalog »Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis« angestoßene Debatte um die Rehabilitation der Bildmedien im Holocaust­gedenken wäre hier zu nennen; vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem (Images malgré tout, 2003), Paderborn 2007.

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und Malerei, und neben der intensiven Bemühung Lessings um Medien­ differenzierung in dieser Abhandlung gleichwohl zahlreiche sowohl verdeckte als auch offen zu Tage tretende Konkurrenzen ausgetragen werden.28 So gibt es auch im »Laokoon« eine Konkurrenz der Künste um die Darstellung des Schönen, eine Konkurrenz um die jeweilige Wirkungsmacht auf den Betrachter bzw. Leser oder Hörer, eine Konkurrenz der Modernen mit den Antiken und einiges anderes mehr. Vor allem aber gibt es eine Konkurrenz in der Zielsetzung der Kunst, deren Aufgabe Lessing darin sieht, wie er in der Vorrede zum »Laokoon« schreibt, »abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit« vorzustellen. Bildkunst und Dichtkunst sollen »täuschen, und beider Täuschung gefällt« (S. 13). In dieser Hinsicht nun ist die Dichtkunst aufgrund ihrer medialen Voraussetzung, über den Umweg ab­ strakter Sprachzeichen Vorstellungsbilder im Leser erst evozieren zu müssen, in einem gravierenden Nachteil und der Bildenden Kunst, die Bilder und Gegenstände direkt dem Betrachter präsentieren kann, zweifellos unterlegen. Und es ist kein Zufall, dass die Dichtung darum im Wettstreit um die beste Darstellung körperlicher Schönheit unterliegen muss. So wusste sich beispielsweise auch Lukian, wie Lessing erinnert, »von der Schönheit der Panthea anders keinen Begriff zu machen, als durch Verweisung auf die schönsten weiblichen Bildsäulen alter Künstler. Was heißt aber dieses sonst, als bekennen, daß die Sprache vor sich selbst hier ohne Kraft ist; daß die Poesie stammelt und die Beredsamkeit verstummet, wenn ihnen nicht die Kunst noch einigermaßen zur Dolmetscherin dienet?« (S. 153)29

Unter dem Eindruck dieser, von Lessing dann im Detail analysierten, medial bedingten Unterlegenheit der ›stammelnden Poesie‹ im Kontext einer mimetisch-illusionistisch verfahrenden Ästhetik, lassen sich die nachfolgenden Strategien, die Lessing dem Dichter vorstellt, um diesen Nachteil auszu28

Vgl. dazu mit jeweils recht unterschiedlichen Einschätzungen u. a. Ernst H. Gombrich, Lessing, in: Proceedings of the British Academy XLIII (1957), S. 133–156; David E. Wellbery, Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsenta­tion, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.) Was heißt Darstellen?, Frankfurt a. M. 1994, S. 175–204, bes. 188 ff.; Hans Holländer, Literatur, Malerei und Graphik. Wechselwirkungen, Funktionen und Konkurrenzen, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1995, S. 129–170; Hans Körner, Paragone der Sinne. Der Vergleich von Malerei und Skulptur in der Aufklärung, in: Herbert Beck u. a. (Hg.), Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung, München 1999, S. 365–378; Valeska von Rosen, Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208, hier S. 172. 29 Vgl. Lukian von Samosata, Panthea oder die Bilder, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 277–310, v. a. S. 282 ff.

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gleichen, ja, ihn womöglich mehr als auszugleichen, schon von vorneherein als paragonal bestimmt begreifen. So wenn Homer Lessing zufolge mit seinem geschickten Verfahren, nicht die Schönheit Helenas selbst, sondern stattdessen die Wirkung, die sie auslöst, zu schildern, »alles weit übersteiget, was die Kunst in dieser Absicht zu leisten im Stande ist« (S. 154). Mit diesem Ziel eines möglichst »täuschenden« Eindrucks konkurriert nun jedoch zum anderen und durchaus nicht spannungsfrei ein weiteres Ziel, das Lessing der Kunst vorsetzt, sich nämlich ein möglichst weites Feld der Darstellung zu erschließen.30 In diesem Sinne lassen sich jedenfalls zahlreiche Stellen im »Laokoon« deuten, in denen der Dichtkunst gegenüber der Bildenden Kunst als Vorteil angerechnet wird, Handlungen (vgl. S. 116 ff.), Unsichtbares (vgl. S. 102) oder auch Hässliches (vgl. 164 ff.) leichter und befriedigender als die Bildende Kunst vergegenwärtigen zu können. – Auch mit Blick auf die Zielsetzung(en) der Kunst muss man also sagen, dass die spezifische Medienästhetik, die Lessing im »Laokoon« entwirft, den Paragone nicht be­ endet, sondern ihn vielmehr differenzierter beschreiben lässt. Wenn es mit Lessing in jeder Kunst darum geht, Abwesendes über ästhetische Zeichen vermittelt für Leser oder Betrachter in eine präsentische Erfahrung zu überführen, dann ist jede Kunst notwendig Erinnerungskunst. Doch gilt dies nach Lessings Überlegungen im »Laokoon« für Dichtung und Malerei in jeweils sehr unterschiedlicher Form. Die Malerei führt Lessing zufolge unmittelbar vor Augen, was sie vergegenwärtigen will. Aber sie ist dabei auf ein einziges Bild festgelegt. Für die wiederholte Betrachtung, der ein künstlerisch hochwertiges Bild standhalten muss, ist daher ein möglichst fruchtbarer Augenblick zu wählen, und »dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt« (S. 32). Das Gedächtnis des Bildbetrachters ist im Akt der Rezeption nach diesem Modell zunächst insofern beteiligt, als das Bild in der Betrachtung zu ergänzen ist, mythologische Geschichten iden30

Auch dies ist ein Topos im Paragone. Gegen ihn hatte zuvor Johann Joachim Winckelmann, bekanntlich eines der wichtigen Vorbilder und zugleich Kontrahent Lessings im »Laokoon«, gestritten, wenn er 1756 in einem Anhang zu seiner Erstlingsschrift »Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« betonte, »daß die Malerei ebenso weite Grenzen als die Dichtkunst haben könne«; Johann Joachim Winckelmann, Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, in: Ders., Kleine Schriften und Briefe, hg. v. Hermann Uhde-Bernays, Bd.  1, Leipzig 1925, S.  106–143, hier S.  129. Auch für Winckelmann ließe sich im Übrigen zeigen, wie sich aus dem Paragone ein spezifisches Medienbewusstsein erzeugt. Sowohl in der »Erläuterung« von 1756 wie dann vor allem auch im späteren »Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst« 1766, führt das Bemühen, der Kunst einen eben so weiten, geistigen Gegenstandsbereich zu erschließen wie der Dichtung, Winckelmann zu einer eingehenden Reflexion des Unterschieds zwischen Bildzeichen und Sprach­ zeichen.

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tifiziert und weitergesponnen werden sollen, und sich dem Betrachter derart eine möglichst reiche Fülle von reproduktiver oder produktiver Assoziationen einstellt. Daneben aber konfrontiert das Bild – wie schon Dion von Prusa beobachtete, als er feststellte, »daß niemand mehr, der das sieht, sich so leicht ein anderes Gedankenbild wird formen können«31 – den Betrachter in besonderer Weise mit der Dauerhaftigkeit seiner Repräsentation. Es ist das »scheinbare Unabläßliche in der materiellen Nachahmung der Kunst« (S. 33), dem der Betrachter Stand halten muss. Diese Eindrücklichkeit des nicht vergehenden, im Akt der Rezeption nicht in Erinnerung übergehenden ›unablässlich‹ präsenten Bildes kollidiert nun jedoch mit der von Lessing hoch geschätzten Freiheit der ästhetischen Einbildungskraft, die darum in der eben zitierten Passage innerhalb der Bildkunst der fruchtbare Augenblick entbinden und erhalten soll. Die spezifische Aufgabe der Bildenden Kunst, so könnte man zusammenfassend formulieren, liegt demnach darin, der Erinnerungsund Assoziationskraft ihrer Betrachter Freiraum zu gewähren und den eigenen ›dauernden‹ Eindruck zugunsten anderer Bilder und Vorstellungsinhalte gleichsam abzuschwächen, »transitorisch« (S. 32) werden zu lassen. In der Dichtung dagegen liegen die Probleme nach Lessings Analysen geradezu umgekehrt. Hier geht es nicht darum, einen scheinbar dauernden Eindruck abzuschwächen, sondern im Gegenteil müssen Gedächtnis und Erinnerungsvermögen des Lesenden in besonderer Weise stimuliert werden, um Eindrücklichkeit überhaupt erst herzustellen. Literatur, wie Lessing sie versteht, ist auf konstitutive Weise vom Gedächtnis basiert, insofern sich der Leser aus der sukzessiven Reihe der sprachlichen Zeichen das eigene Vorstellungsbild aus eigenen Erinnerungsbildern beim Lesen zusammen­setzen und darüber hinaus auch noch die sukzessive, nach und nach erzeugten Erinnerungsbilder im Gedächtnis behalten muss, um sich schließlich daraus ein Gesamtbild zu formen.32 Mit Lessings Worten: »Dem Auge bleiben die betrachteten Teile beständig gegenwärtig; es kann sie abermals und abermals überlaufen: für das Ohr hingegen sind die vernommenen Teile verloren, wann sie nicht in dem Gedächtnisse zurückbleiben. Und bleiben sie schon da zurück: welche Mühe, welche Anstrengung kostet es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuern, sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf einmal zu überdenken, um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelangen!«

31 32

Vgl. oben, S. 54. Karl Philipp Moritz wird diesen Gedanken später einmal an dem Beispielsatz ›Unsre kleine Wohnung lag am Fuße eines nicht steilen Hügels‹ minutiös durchspielen. Karl Philipp Moritz, Versuch einer Entwicklung der Ideen, welche durch die einzeln Wörter in der Seele hervorgebracht werden (1782), in: Ders., Werke, hg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1999, S. 183–189.

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Die Arbeit des Dichters ist demnach ein Kampf gegen die Abstraktheit des sprachlichen Zeichens und ein Kampf mit dem Gedächtnis gegen die Flüchtigkeit der Zeit: »Gesetzt nun also auch, der Dichter führe uns in der schönsten Ordnung von einem Teile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns die Verbindung dieser Teile auch noch so klar zu machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was das Auge mit einmal übersiehet, zählt er uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben.« (S. 124)

Diese letzte (und nicht von allen »Laokoon«-Lesern widerspruchslos hin­ genommene)33 Dramatisierung34: »und oft geschieht es, daß wir bei dem letzten Zuge« eines sprachlich vermittelten Bildes »den ersten schon wiederum vergessen haben«, diese Behauptung einer fundamentalen Unter­ legenheit literarischer Vorstellungsbildung gegenüber dem dauernden Bild, auch sie übrigens ein altes Argument im Paragone,35 eröffnet jedoch andererseits der literarischen Darstellung neue Horizonte. Das literarisch evozierte Bild kann – A. W. Schlegel wird es später einmal mit einer glücklichen Metapher als »verschwebende Malerei«36 bezeichnen –, gerade darum, weil es vergessen lässt, unscharf bleiben und noch das schrecklichste Leiden, das Leiden Laokoons etwa, mitleiderregend zur Darstellung bringen, wo sich der Blick vom tatsächlichen Bild vor Schrecken längst abwenden müsste.37 Die materiale Disposition der Medien einerseits, so zeigt sich auch hier, und ihre Funktion andererseits sind also zu unterscheiden, aber im Paragone sind sie zugleich auch immer miteinander vermittelt. Genau darum ist er so spannend. 33

Johann Gottfried Herder etwa wird deren Triftigkeit in seinem kritischen Parallelkommentar zum »Laokoon«, im »Ersten kritischen Wäldchen« von 1769 energisch bestreiten; vgl. Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. Erstes Wäldchen, in: Ders., Werke und Briefe, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1993, S.  57–245, v. a. Abs. XVI–XIX. Dabei erweist er sich als ein entschiedener Gegner paragonaler Erwägungen, es sei eine »leere Grille […], den Vorzug zu bestimmen, den eine [Kunst] vor der andern habe.«; ebd. , S. 216. 34 Ein anderes Gedächtnisdrama in Lessings »Laokoon«, die Verschränkung von Raum und Zeit im »Ultrakurzzeitgedächtnis«, eruiert Wolfgang Ernst in seinem Beitrag im vorliegenden Band. 35 So auch bei Leonardo; vgl. dazu Christiane Kruse, Ein Angriff auf die Herrschaft des Logos. Zum Paragone von Leonardo da Vinci, in: Stefan Rieger / Renate Lachmann (Hg.), Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte, Tübingen 2003, S. 75–90, hier S. 89. 36 August Wilhelm Schlegel, Athenäumsfragment Nr.  174, in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe, Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hg. v. Hans Eichner, München 1967, S. 193. 37 Vgl. Lessing, Laokoon, S. 33.

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Ein auf Distinktion zielender Vergleich von Medien des kollektiven oder individuellen Gedächtnisses in Hinblick auf deren spezifische Erinnerungspotentiale trifft sogleich auf ein Problem: Begriffe wie »Archiv« und »Gedächtnis« sind so inflationär geworden, dass sie als generelle Metaphern für Erinnerungskultur jede analytische Trennschärfe verloren haben. Doch wollen wir dieser Verwässerung eine positive Option abgewinnen und im lockeren Gefüge dieser Begriffe Bahn brechen für ein Denken jener non-diskursiven Gedächtnisagenturen, die in der Medienkultur an die Stelle der Archive treten: technische Speicher, die alle Gedächtnisdiskurse – so würde es die Sprache der Elektrotechnik ausdrücken – erden. Einher geht damit das wissenschaftspolitisch brisante Plädoyer dafür, die fast totale ›Verkulturwissenschaftlichung‹ der Gedächtnisfragen ein wenig zurückzunehmen. Denn das Spannende an technologischen Medien ist gerade, dass wir durch sie an etwas erinnert werden, was ebenso wenig schlicht Kulturtechnik ist wie schlicht Natur; dass in Ihnen etwas Menschenfernes geschieht, das als medialer Kanal dennoch erst in Kopplung an humane Semantik oder Modulation durch Kultur seine unverwechselbare Verlockung (geradezu induktiv) entfaltet. Die medienarchäologische Perspektive (also eine spezielle Methode der Medientheorie) geht die Fragestellung nach dem Gedächtnisparagone an, in­ dem sie diese »tieferlegt«; auf der Ebene der Möglichkeitsbedingungen von Erinnerungsdiskursen regiert längst ein un-menschlicher Paragone technolo­ gischer und elektromathematischer Gedächtnisse. Den Erinnerungskulturen gegenüber schaut Medienarchäologie auf die Praktiken, die Macht und die Dynamik elektronischer Speicher. Und nun die Überraschung: Genau auf dieser scheinbar kulturfernsten Ebene der Speicher erkennen wir ihr Korrelat mitten im Menschen wieder – aber nicht als das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft oder als das individuelle Gedächtnis des emphatischen Subjekts, sondern in Form der Zwischenspeicherung als notwendigem Bestandteil neurobiologischer Signalverarbeitung und in den Laufzeiten von Nervenreizungen. Aus diesen mikrotemporalen Resonanzverhältnissen resultiert eine ebenso spezielle wie uns ins existentiale Mark, nämlich unseren Zeitsinn selbst betreffende subliminale Korrespondenz zwischen dynamischen Spei-

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cherprozessen in Mensch und Maschine. Dynamische Speicher sind die Verschränkung von Gedächtnis und Zeit, jenseits der Starre archivorientierter Kulturbegriffe – und zugleich die aktuell mächtigste Form operativer »Erinnerung«. Auf der Ebene der technischen Speicher tut sich eine Welt im Kleinen auf, die an Dramatik in nichts den emphatischen Erinnerungsprozessen nachsteht. Das Frühwarnsystem Medienkunst hat auf diese medientheoretische Einsicht ästhetisch längst reagiert. Dan Graham schuf 1974 in verschiedenen Versionen einen »Time Delay Room«, bestehend jeweils aus einer Videoüberwachungskamera in dem einen und zwei Videomonitoren in dem anderen Raum, wobei der eine Bildschirm die aktuelle Raumsituation (»live«) zeigte, der andere jedoch die um 8 Sekunden verzögerte Lage; dieser Zeitverzug ist die Grenze dessen, was die Neurophysiologie als Kurzzeitgedächt­nis definiert, als äußerste Ausdehnung der Gegenwartswahrnehmung.1 Das Spiegelbild wird also mit einem Zwischenspeicher versehen und irritiert so den Sinn für Gegenwart; gleichzeitig wird in dieser verzögerten kybernetischen Rückkopplungsschleife (closed circuit) zwischen Mensch und Video die vertraute Trennung von Übertragung und Speicherung, von operativer Gegenwart und Archiv, differential verschmiert. Als elektronische Signalflüsse vermögen Medien mit dem menschlichen Zeitsinn selbst zu rivalisieren, und sie tun dies  – so meine Antwort auf die Frage nach den um Gedächtnismacht konkurrierenden Medienformaten und ‑formationen – als dynamische, operative Prozesse. Elektronische Medien stehen der zeitkritischen Dimension des Akustischen näher als die visuelle, an räumlichen Anordnungen orientierte Informationskultur der Ära von Vokalalphabet und Druckschrift.

Der Gedächtnisparagone mit Lessing Nachdem mit diesen Thesen zunächst die Aufmerksamkeit vom Gedächtnisdiskurs hinweg zu den Praktiken von Speichern gelenkt ist, nun eine zweite Kehre. Meine These ist, dass ausgerechnet auf diesem Feld die Theorie eines Paragone fruchtbar ist, die eigentlich zur Klärung des Wettstreits zwischen Bildenden und poetischen Künsten entwickelt wurde: jene systematische Unterscheidung, die Gotthold Ephraim Lessing 1766 für Fragen der Ästhetik in seinem Traktat »Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie« zwischen raum- und zeitbasierten Künsten getroffen hat. Lessings bemerkenswerte Sensibilität für ästhetische Mediendifferenzen ist auf die medienarchäologische Ebene übertragbar, auf die Ebene der Möglichkeitsbedingung von aisthesis überhaupt. Wundersamerweise werden auf dieser 1

Vgl. dazu Charlie Gere, Art, time, and technology, Oxford / New York 2006, S. 67.

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Ebene von Signallaufzeiten und ihrer Verzögerungsspeicher nicht Mensch gegen Maschine ausgespielt, sondern sie bilden ein Duett. Lessings Unterscheidung ist (wenngleich unter verkehrten Vorzeichen) auch für die intermediale Analyse technischer Speicher produktiv, die sich auf den ersten Blick ebenso in simultane und sukzessive Verfahren spalten, diese Unterscheidung aber differential miteinander verschränken, also in der schieren Operativität aufheben (und damit  – in Anspielung auf Hegels dialek­ tische Terminologie – ein Gedächtnis ganz anderer Art bilden). Lessing sieht bekanntlich Poesie und Malerei im Konflikt, sobald er­stere malerisch zu beschreiben versucht, also das Koexistierende der Körper mit dem Konsekutiven der Rede in Kollision gerät. Poesie gelingt im Wesentlichen als Zeit-Täuschung, eine aus technischen Medien ebenso vertraute Vollzugsweise: »Er [der Poet] will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte, bewußt zu sein aufhören.«2

Derselbe Lessing erkennt auch die Überspielung des optisch Diskreten durch den Blick als zeitkritischen, neuronalen Prozess: »Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume? Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne verrichten diese verschiedene [sic] Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu sein bedünken.«3

Auch Raum ist für Lessing also ein Derivat der Zeit, eine zum Stillstand gebrachte, quasi gefrorene Zeit4 – Speicherzeit. Zu dieser Raumvorstellung bedarf es in der Tat eines Ultrakurzzeitgedächtnisses, des »Zeitfensters« der Gegenwartsdauer, denn Pro- und Retention in der Wahrnehmung kann nur so zustande kommen. Solch zeitkritische Wahrnehmungsprozesse sind mit Lessing geradezu als »gedächtnisdramatisch« benennbar, als zeiträumliche Verschränkungen: »Alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders erscheinen, und in anderen Verbindungen stehen. Jede dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden«5

2

Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, mit e. Nachw. v. Ingrid Kreuzer, Stuttgart 1987, § XVII, S. 122. 3 Lessing, Laokoon, Kapitel XVII, S. 123. 4 Vgl. Thomas Klein, Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film, Mainz 2004, S. 15. 5 Lessing, Laokoon, § XVI, S. 114.

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– also Markov-Wahrscheinlichkeiten, in denen das Ultrakurzgedächtnis an den im Nu jetztvergangenen Zustand immer schon am Werk ist. Nur so erklärt sich auch das elektronische Fernsehbild, zusammengesetzt zum Bildeindruck aus Einzelzeilen, und vollends Computergraphik. Hier zieht zur Erzielung einer deutlichen Vorstellung von Dingen im Raum ausgerechnet eine konsekutive Literatur operativ die Fäden, allerdings eine alphanumerische (Algorithmen), und zwar so schnell, dass sie von Menschen unbemerkt bleibt und im Zuge aktuellen Interface-Designs auch unbemerkt bleiben soll. Das erste Speichermedium, welches Lessings »Laokoon«-Theorem technologisch unterlief, war der Tonfilm. Rudolf Arnheims Veto gegen den Tonfilm steht daher auch ausdrücklicher unter dem Titel »Towards  a New Laokoon«. Arnheim verteidigt im Sinne Lessings das Asynchrone, die Autonomie der jeweiligen Medien Bild und Ton.6 »Der Film […] hat einen neuen […] Zeitbegriff geschaffen, als dessen Kardinaleigenschaften die Simultaneität und die Verräumlichung der Zeit gelten können. Somit hat der Film die von Laokoon [Lessing] vorgenommene Einteilung der Künste in räumlich und zeitlich wirkende aufgehoben«7

– und zwar als Speichermedium, das auf Zelluloid (oder Festplatten heute) unhintergehbar ist. Clement Greenberg hat es nach dem Zweiten Weltkrieg zur Signatur der Kunst der Moderne erhoben, sich radikal zu den Medien zur bekennen, in denen sie stattfindet. Marshall McLuhans Einsicht »the medium is the massage« referiert ausdrücklich darauf: Mit dem »Griff nach dem unmittel­baren, totalen Erfassen verkündete der Kubismus plötzlich, daß das Medium die Botschaft ist.«8 McLuhans Medientheorie trägt somit auch einen ästhetischen Index – seine Vertrautheit mit der Kunstkritik Greenbergs und der Schrift »Art and Illusion« von Ernst Gombrich (1960). Was traditionell als einschränkende Bedingung galt (die Definition von Kunst durch die jeweiligen Speichermedien), wendete der Modernismus ins Positive.9 6

Rudolf Arnheim, Asynchronismus, in: Ders., Kritiken und Aufsätze zum Film, hg. v. Helmut H. Diederichs, München / Wien 1977, S. 78–81, hier S. 81. 7 Walter Hagenbüchle, Narrative Strukturen in Literatur und Film, Bern u. a. 1991, S. 93. 8 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle (Understanding Media, 1964), Düsseldorf 1968, S. 19. 9 Vgl. Clement Greenberg, Modernistische Malerei, in: Ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Dresden 1997, S. 265 f.; vgl. auch Ingeborg Hoesterey, Der Laokoon-Faktor in der Moderne. Zum Problem der Mediendifferenzierung in den Künsten, in: Komparatistische Hefte 5/6 (1982), S. 169–181.

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Das wirklich Neue aber ist nicht die ästhetische Anerkennung der Oberfläche von Leinwänden, sondern die Tatsache, dass elektronische Flächen Zeit und Raum miteinander zu verschränken vermögen. Am Beispiel des elektronischen Videobilds zeigt sich die Dramatik dieser zeiträumlichen Verblendung: Gerade wo sich Wahrnehmung bildhaft gibt, besteht sie nur noch aus Zeit, aus mikrozeitlichen Prozessen, in deren Reich elektronische und physiologische Wahrnehmungsprozesse korrespondieren – ein Privileg in der subliminalen Adressierung des menschlichen Zeitsinns, wie es kein künstl(er) i(s)ches System vormals zu erreichen vermochte.

Krapp’s Last Tape Eine im klassischen Sinne dramatische, also makrozeitliche Dimension der Zugriffszeit führt Samuel Beckett in seinem Einakter »Krapp’s Last Tape« ein: Der gealterte, vereinsamte Krapp reagiert hier auf sein Tonband-Tagebuch vergangener Jahre. Heute liest sich der Titel mit einer medienarchäologischen Tragik: »Das letzte Band« gilt für eine Gegenwart, in welcher (Ton-) Bandspeicher fast vollständig durch Halbleiterspeicher ersetzt sind. Hier dreht sich keine Spule mehr (»spool« ist das Wort, das Krapp mehrmals genüsslich artikuliert). Zunächst einmal steht das Tonband für den Gewinn an Zeitsouveränität, wie sie – lange vor dem Videorecorder – gegenüber dem technologisch angelegten live-Diktat des Rundfunks durch das ∆t der elektromagnetischen Aufzeichnung möglich wurde. Es geht hier nicht primär um endarchivische Speicherung, sondern um eine Ausweitung des Gegenwartsfensters, eine dilatorische Gegenwart: »Heute ist es ja allgemein üblich, die Rundfunkdarbietungen zunächst mit dem Magnettongerät aufzunehmen, damit sie dann zu beliebiger Zeit über die Sender zu Gehör gebracht werden können«, heißt es in einem Fachbuch von 1954,10 also zur Zeit der Niederschrift von Becketts Einakter. Diese Dilation von »Gegenwart« gilt auf beiden Seiten: Unter der Hand ist damit eine Verunsicherung des menschlichen Gegenwartssinns (zeitlich wie ontologisch) verbunden. Die zeitinvariante Aufhebbarkeit, also Speicherung der menschlichen Stimme zielt vollends auf den paradoxalen Begriff iterier­ barer Präsenz. »Ob eine Originalsendung oder eine Bandwiedergabe über den Sender ausgestrahlt wird, ist heute nicht mehr zu unterscheiden«, heißt es im genannten Fachbuch über Tonbandtechnik. Anders als die Fortdauer eines Objekts der Vergangenheit in der Gegenwart wird hier das Ereignis nicht im Kopf des Menschen zusammenge­setzt 10

Hans Sutaner, Schallplatte und Tonband, Leipzig 1954, S. 153.

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wie ein historisches Bild, neu gesehen im Museum, sondern aktual re‑generiert vom Medium selbst, von der Elektronik des Tonbands in induktivem Verhältnis zum Tonbandspeicher, seinen magnetisierten Partikeln als latentem Gedächtnis, das durch Elektrizität dynamisiert wieder zum Ton aktualisiert und damit re-präsentiert wird. Aktualzeit stellt in der Tat einen neuen, flüchtigen Gegenstand in der Gedächtnisökonomie dar, wie seit der Chronophonographie ästhetisch wie philosophisch erspürt (Bergson). Medienarchäologie schaut auf das zeitkritische Drama, das sich im elek­ tronischen Medium selbst abspielt. Becketts Einakter zeigt den Fall, dass die eigene Stimme aufgenommen wurde und mit ihrer Entropie, ihrer Alterung in der Gegenwart, konfrontiert wird – eine zeitverschobene, differentiale Variation von Lacans »Spiegelstadium«. Im Unterschied zur klassischen Tagebuchaufzeichnung im symbolischen Code der Schrift trifft hier zeitverzo­gen das Reale der Stimme auf ihre gealterte persona, die als sonisches Ereignis zugleich eine andere ist: Technologie des Magnetbandspeichers in Konfronta­ tion mit dem humanen Gedächtnis. In der jüngsten Inszenierung durch B. K. Tragelehn wurde das Tonband durch eine VHS-Videokamera samt Abspielgerät und Kathodenstrahl-Moni­ tor ersetzt.11 Doch nur scheinbar rivalisiert hier in der neuen Inszenierung ein bild­ basiertes Gedächtnismedium in der neuen Inszenierung mit dem tonbasierten Gedächtnismedium in Becketts Original. Nur scheinbar, denn beides sind Weisen elektronischer Speicher: mikrotemporaler Zeitvollzug als dynamisches Gedächtnis, unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle umso unheimlicher am Werk. Insofern ist es konsequent vom elektronischen Medium her gedacht, wenn diese jüngste Inszenierung in der Konfrontation eines Individuums mit seiner aufgespeicherten Vergangenheit das Tonband durch das Videotape ersetzt. Das Videotape ist nichts anderes als der »Klang der Einzeilen-Abtastung« (Bill Viola) von Schallplatte und Tonband mit gleichen Mitteln, aber an andere Sinne adressiert. Der Gedächtnisparagone beginnt erst im Menschen, nicht schon im Medium. »Visualisieren die neuen Medien-Künste die Innerzeitlichkeit unserer Bewußtseinsströme?« fragt Götz Großklaus, wie es einst Aurelius Augustinus und Edmund Husserls taten, und zitiert an gleicher Stelle Bill Viola, für den die Einführung der Zeit in die visuellen Künste – Lessings »Malerei« – von gleichrangiger Bedeutung ist wie Brunelleschis Erfindung der Perspektive; nur dass das Zeitbild im Unterschied zum perspektivischen Raumbild keine Täuschung, sondern gleichursprünglich zur Wahrnehmung am Werk ist. »Although we are talking about images, the existence and transformation or 11

Eine Produktion der Stiftung Schloß Neuhardenberg in der dortigen Schinkelkirche ( Juni 2007); Protagonist: Josef Bierbichler.

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growth of the image in time (the moving image) is at the center of the artistic process. […] Perception over time equals thought.«12 Ein unmenschliches Gedächtnis ist im Menschen selbst schon angelegt, wie die sogenannte »schwachen KI«-These behauptet. »Eine ›Soziologie‹ des Computers hat«  – im strengen Sinne Turings  – »an der Maschinenhaftigkeit des menschlichen Verhaltens anzusetzen […] und nicht […] an der Menschenähnlichkeit des Computers.«13 Schon die antike Rhetorik greift auf die ihrerzeit aktuelle Kulturtechnik von Griffel und Wachstafel zurück, um Funktionen des Gedächtnisses zu modellieren; Sigmund Freud schreibt im »Entwurf einer Psychologie« 1895 (dem offiziellen Geburtsjahr der kinematographischen Projektion) vom psychischen »Apparat« in ausdrücklicher Analogie zu den damals dominanten neuesten Über­tragungs- (elektrische Telephonie)  und Speichermedien (die optische Apparatur der Kamera).14 Kittler braucht im Anschluss daran nur noch aus Jean Marie Guyaus »La mémoire et le phonographe« von 1880 zu zitieren, demnach die Seele (neuplatonisch) »ein Heft phonographischer Aufnahmen« sei, orientiert am neuen medialen Leitbild (Edison 1877).15 Doch die Lage eskaliert, wenn aus sol­ chen an den an der Kulturtechnik Schrift orientierten Gedächtnismodellen (Photo-, Phono- und Kinemato-»graphie«) die Konfrontation mit dem Elektronischen wird: das Feld technologischer und elektromagnetischer Medien im wohldefinierten Sinn (eher denn Dinge), in der am Ende eine Form von alphanumerischer Schrift wieder einkehrt, die nicht mehr des Menschen als Lesers bedarf, um sich dekodierend zu entfalten, sondern aus eigener Kraft gedächtnisoperativ werden kann – der speicherprogrammierbare Computer.

Digitaler ›Laokoon‹: Adressierung der Speicher Eine aktuelle Publikation deklariert das Ende des Lessing-Theorems von 1766 unter dem programmatischen Titel »Electric Laokoon«,16 insofern im elektronischen Zeitalter von computing das Zeichenregime in Signalprozesse überführt wird. Jeder Begriff des Maschinenzustands von Computern aber ist an die Funktion des Speichers als latenter Koexistenz von Zeichen im Raum 12

Bill Viola zit. nach Götz Großklaus, Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 63. 13 Bettina Heintz, Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers, Frankfurt a. M. / New York 1993, S. 297. 14 Vgl. Friedrich Kittler, Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine, in: Ders., Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1991, S. 58–80, hier S. 62. 15 Friedrich Kittler, Grammophon – Film – Typewriter, Berlin 1986, S. 50. 16 Michael Franz (Hg.), Electric Laokoon: Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie, Berlin 2007.

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gebunden; im Augenblick seiner Aktivierung durch Programme wird aus diesem Raum Zeit, und zwar zeitkritisch zugespitzt als Signalverarbeitung. Die Geburt der von Neumann-Architektur des Computers (also strikte Sequentialität) verdankt sich der durch den Einsatz von Elektronenröhren statt mechanisch träger Relais möglichen Verzeitlichung der koexistenten Parallelität; beschleunigte Folgen (sagen wir »Poesie«) nähern sich asymptotisch quasi-parallelen Prozessen (sagen wir »Malerei«). »Because the EDVAC would be so much faster, smaller, and simpler than the ENIAC, the use of parallelism to gain speed was no longer needed and so it was decided to store numbers serially and process them serially. The guiding principle of EDVAC design was: One thing at a time, down to the last bit !«17

Damit korrespondiert die serielle Speicherung, in der die Zeitachse eine der Koordinaten liefert, durch die ein Bit, ein Zeichen oder ein Wort lokalisiert werden kann. Gedächtnisspuren als Rillen des Reellen wurden schon im Phonographen konkret: »Daß […] das Medium des Reellen in analogen Speichern zu suchen ist, zeigt jede Schallplatte. Was in ihre Rillen geritzt ist, kann unabzählbar viele verschiedene Zahlwerte annehmen, aber es bleibt Funktion einer einzigen reellen Variable, der Zeit«.18

Genau diese Zahlenebene sucht die Turing-Maschine zu approximieren. In welcher Hinsicht also überbietet der Computer alle vorherigen (Speicher‑) Medien? Indem Turings Maschinenmodell von 1936 neben Speicherung und Übertragung auch noch rechnet – und damit die Zahl einbezieht. Die alphanumerischen Medien ahmen nicht mehr menschliches Gedächtnis nach, sondern setzen memory nach eigenem Recht, aktiv, seit dem Konzept der Speicherprogrammierbarkeit in Charles Babbages Entwurf einer »Analytical Engine« (1832) und ihrer Realisierung in der uns vertrauten von Neumann-Architektur des Computers: ein dynamisiertes Gedächtnis, das den statischen Archivbegriff durch Feedback und Rekursion ersetzt, bis an die Grenzen der Plausibilität von Gedächtnisbegriffen zur Beschreibung dieser Prozesse. Denn der emphatische Gedächtnisbegriff gerinnt im Kontext signalverarbeitender Medien zur bloßen Metapher; an die Stelle der Unterscheidung von zeit- und raumbasierten Medien treten zeitkritische Operationen – also Prozesse, in denen kleinste zeitliche Momente der Synchronisation und Sukzession entscheidend für den Gesamtablauf sind. 17

William Aspray  /  Arthus Burks, Computer Architecture and Logical Design, in: Aspray (Hg.), Papers of John von Neumann on Computing and Computer Theory, Cambridge (Mass.) u. a. 1987, S. 5 f. 18 Kittler, Welt des Symbolischen, S. 70, in Anlehnung an Stephen W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek b. Hamburg 1988.

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Abb. 1: Dump-file einer digitalisierten Photographie der antiken Laokoon-Gruppe in den Vatikanischen Museen, Rom (Hexadezimalcode)

Nicht analoge Speichertechnologien wie Grammophon und Kinematographie, sondern das alphanumerische Gedächtnis ist die radikalste Herausforderung an die anthropologische These von Gedächtnismedien als »extensions of men« (frei nach McLuhan). Solche Kodierung kennt  – wie das aus Pixeln zusammengesetzte computergraphische Bild  – keine ikonologischen Inhalte, sondern nur digitale Koordinaten. Ein Bild ist kein Bild mehr, wenn wir es als mathematischen Text betrachten, nämlich als alphanumerische Kodierung  – etwa die Speicherauszugsdatei (Dump File) einer digitalisierten Photographie der antiken Laokoon-Gruppe im Vatikanischen Museum als Zeichenkette im Hexadezimalcode.19 Die Bildspeicherung wird hier zum Speicherbild (Abb. 1).  Signale, also zeitliche Ereignisse20 werden im rechnenden Raum aufhebbar – eine überraschende Wendung von Lessings Laokoon-Theorem.« 19

Siehe den Eintrag »Core dump« in der englischsprachigen Version der Wikipedia: http://en.wikipedia.org/wiki/Core_dump (Zugriff 30. September 2009). 20 Ein Signal sei hier definiert als »the variation through time of any significant physical quantity occuring in  a useful device or system […]  a time-varying quantity«; Edward B. Magrab  /  Donald S.  Blomquist, The Measurement of Time-Varying Phenomena, New York u. a. 1971, S. 1.

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Beendet damit der alphanumerische Code den traditionellen Gedächtnis­ paragone, weil er dessen Phänomenologie durch aisthetische Indifferenz mit reiner Logik unterläuft? In der Natur techno-logischer Speicher eskaliert die Lochkartenästhetik. Der random access, eine Option aller Computergedächtnisse, erlaubt den wahlfreien Zugriff auf Daten. Mit den diversen technologischen und elektro-mathematischen Zugriffsarten auf Speicher löst sich der emphatische Gedächtnisbegriff in eine Vielheit dynamischer Mikro-Gedächtnisse auf. Signal­speicherung in anlogen Medientechniken ist hier das Eine; punktueller Zu­griff auf einzelne Speicherzellen für digitale, diskrete Signale als Bits und Bytes (»Worte«) das Andere. Am Ende wird der Speicher über die räumlichen Koordinaten hinaus in höherem Maße als je zuvor eine Funktion von Zeit (x, y, z); hier nähern sich neuronales und komputierendes Gedächtnis an.21 Wenn Neuronen im Gleichtakt zu schwingen beginnen, werden durch jeweils verschiedene Frequenzbereiche verschiedene Areale im Hirn aktiviert und dort zu funktionellen Ensembles zusammengeschlossen: Farb- und Geschmacks- und Formeindrücke eines Apfels etwa, gekoppelt an Erinnerungen (vom Typus »Madeleine« bei Marcel Proust).22 Lessings Mediensemiotik der Künste, d. h. die Ausdifferenzierung der Ästhetik nach synchron und sequentiell operierenden Medien, wird durch die Kultur technischer Speicher reaktualisiert  – nur eben nicht mehr auf der Ebene semiotischer Zeichen, sondern der Signalverarbeitung. »Frei von der Schrift und ihren Datenträgern gelingt dies dadurch, daß die Mnemotechnik zeitserielle Daten in eine Raumordnung überführt.«23 Was Lessing noch poietologisch auseinanderhält, wird auf Speicher­ebene relativisch verschränkt, als Gitterwerk von Speicherzellen. Jedes Bit auf einem RAM-Chip, also einem Direktzugriffsspeicher, ist in einer einzelnen Zelle gespeichert, bestehend aus zwei elektronischen Bestandteilen: einem Kondensator, der die Daten in Form einer elektrischen Ladung (der binären 1 entsprechend) oder durch das Fehlen einer Ladung (binäre 0) aufbewahrt, und einem Transistor, der sich einschalten kann, um die gespeicherte Daten­einheit freizugeben oder ein neues Bit in eine der leer gewordenen Zellen zu leiten. Die kartesische Vernunft (als analytische Geometrie) wird hier operativ, denn hier sind die Zellen in Zeilen und Spalten angeordnet. Durch diese Anord21

Horst Völz, Allgemeine Systematik und Grenzen der Speicherung, in: Die Technik 34,12 (1979), S. 658–665, hier S. 663. 22 Vgl. Barbara Hobom, Auf der Suche nach der universellen Sprache des Gehirns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 284, 6. Dezember 2006, S. N2. 23 Stefan Rieger, Auswendigkeit. Zur Ökonomie menschlicher Datenverarbeitung um 1800, in: Inge Baxmann u. a. (Hg.), Das Laokoon-Paradigma, Berlin 2000, S. 89–112, hier S. 89.

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Abb. 2: Ferritkernspeicher, Medienarchäologischer Fundus des Seminars für Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

nung erhält jede Zelle ihre Koordinaten; ihre Auffindung geschieht durch Decoderleitungen, die den Chip senkrecht und waagerecht durchschneiden und von der Zentraleinheit des Computers jeweils den Befehl erhalten, die Adresse eines bestimmten Byte zu ermitteln. Die Matrix ist eine Art Speicher-»Bild« (im Sinne gepixelter Bilder), das zwar zeitlich sequentiell adressiert wird, also frei nach Lessing »konsekutiv«, doch so schnell (im Millionstelsekundenbereich), dass es zum quasi räumlichen, koexistenten Moment wird. Der Speicherzugriff verwandelt hier eine topologische Koexistenz in eine Zeitfolge, lässt sie aber wieder raumhaft erscheinen. Jenseits dieser unerbittlichen Sequenzierung aber tendiert der Speicher zur synchronen Verdichtung, zur kompakten Anordnung im Raum, wie es aus Archiven vertraut ist – im physischen wie im logischen Raum. (Abb. 2) Im Unterschied zum Punktzugriff, bei dem jede einzelne Speicherzelle direkt erreichbar ist, sind in der aktuellen Halbleitertechnik die Speicherzellen zwar einzeln, aber nur noch sequentiell, d. h. zeitlich nacheinander zugänglich. Nach diesem Prinzip lässt sich wiederum eine Matrix aufstellen.24 24

Völz, Allgemeine Systematik, S. 660.

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Die 1983 auf dem Markt eingeführte Compact Disc kombiniert die digitale Signalverarbeitung mit einem optischen Speichersystem  – doch pikanterweise im Sinne einer Rückverwandlung der quasi-bildlichen Speicherung auf CD in die zeitliche Folge einer Musik. Gedächtnis wird so zu einer Funktion zeitkritischer Datenverarbeitung (wie es das Hirn immer schon praktiziert hat).

Die unerhörte Rückkehr der Gedächtnisbilder im digitalen Speicher Die Neuroinformatik kennt Gedächtnis überhaupt nur als zeitkritische Funktion. Aus ihrer Sicht erledigt sich der emphatische Gedächtnisbegriff zugunsten von Funktionen zeitkritischer Prozesse (wie sie die frühe, heroische Kybernetik in ihrer emphatischen Analogie von Nervenfeuerung und Rechner betonte, im modellhaften Vergleich von Elektronenröhren und neuro­ nalen Synapsen. Im Unterschied zum emphatischen Gedächtnisbegriff (das »kulturelle Gedächtnis« auf der Makroebene historischer Zeit) eröffneten elektrotechnische Medien eine Mikrowelt kleinster Speicher, deren Kennzeichen es ist, dass sie zunehmend im zeitkritischen Bereich operieren  – und damit die Grenzen zwischen dem Zeitfenster der Gegenwart (»Echtzeit«) und Vergangenheit schwinden, das Differenz-Intervall zwischen Gegenwart und Vergangenheit schrumpft. Techno-mathematische Speicher werden flüchtig, in Richtung des Wesens der Elektrizität selbst. In Laufzeit-Speichern werden eingegebene Informationen kurzzeitig dadurch gespeichert, dass sie eine Verzögerungsleitung oder eine Ladungsverschiebungsschaltung durchlaufen, am Ausgang verstärkt und erneut eingegeben werden; Verzögerungsleitungen wiederum werden benötigt, um Koinzidenz oder einen exakt gleichen zeitlichen Abstand von Signalen herzustellen, etwa im vertrauten Fernsehempfänger. Hier kehrt das Speicher-»Bild«, die Lessingsche räumliche Koexistenz, als re-entry auf der zeit(‑kritischen) Ebene wieder ein: Synchronisa­tion. Das Schrift- und Buchzeitalter, so die überzeugende Lesart von Vilém Flusser, linearisierte einst durch die zeilenförmige Anordnung der Symbole und ihre sukzessive, sprachorientierte Lesart zugleich auch die Wahrnehmung geradezu ikonoklastisch. Kehrt im elektronischen Zeitalter die simultane, parallele Anschauungsform zurück? Im Vordergrund stehen hier dyna­mische, am Ende gar berechnete Bilder  – eine Transformation von schriftlinearen Symbolreihen in bildhafte Schemen. Aus der Hochgeschwindigkeit elektronischer Informationsverarbeitung und ‑vermittlung resultiert die Aufspren-

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gung der linearen Struktur klassischer Schriftkulturtechnik, die in den elek­ tronischen Medien zunehmend zu Simultaneität und Parallelität tendiert, was die humane Wahrnehmung als »Bild« interpretiert.25 Achten wir auf die Anführungszeichen: Der »Bild«-Begriff wird in ein Modell überführt, einen Modus der Abkürzung komplexer Zustände in synchron überschaubare Signalmengen. Insofern ist Lessings These analog anwendbar. Es steht die Verbildlichung des Speichers im Sinne von Zeit- oder gar Kristallbildern (zwei Begriffe von Gilles Deleuze)  an; Computerspeicher sind immer in einem momentanen, geradezu kinematographischen Zustand. Die Kathodenstrahlröhre im frühen Computern speicherte Daten in kurzen Zeitintervallen tatsächlich bildhaft (im Sinne von Bild als Format), während der Prozessor strikt sequentiell Daten in der Zeit abarbeitete. Speicher im Verzug: Der Paragone von Gedächtnismedien erscheint in einem anderen Licht, wenn er im digitalen Raum entdeckt wird, wo in der medienarchäologischen Frühphase des Computers delay lines, also: akustische Verzögerungsspeicher, die optische Williams-Tube und andere, schwingende Verfahren (Nickeldrahtspeicher) in Konkurrenz standen und nur den einen genuin »medialen« Zweck haben, Daten zwischenzuspeichern  – in­ different den menschlichen Sinnen gegenüber. Ebenso wichtig wie alle ästhetischen Fragen nach der sogenannten Intermedialität von (Gedächtnis‑)Künsten ist hier der Begriff des intermediary (memory). Je mächtiger dieses Gedächtnis wurde, desto weniger war es für die Trägheit menschlicher Wahrnehmung anders denn als Gegenwart wahrnehmbar. Die Bildspeicherröhre sah in ihrer entwicklungsreifen Version von 1947 zunächst überhaupt kein Mensch mehr, sondern nur noch der Computer – Fernsehen exklusiv für Computer. Schlagen wir anhand solcher sogenannten Verzögerungsspeicher einen Bogen von der Suprematie des Blicks über die Zeitempfindlichkeit des Ohrs zum rechnenden Kalkül. Die »Williams Tube« funktionierte als optisch-mediales Gegenstück zur akustisch-medialen Verzögerungsleitung (die mercury delay line), nur dass hier an die Stelle der Laufzeit von Schallwellen die Trägheit des Phosphors trat, der 0,2 Sekunden nachleuchtet und folglich durch fünfmaligen refresh pro Sekunde als Speicher dienen kann. »Der wesentliche Unterschied war jedoch, dass die gespeicherten Daten nicht mehr seriell vorlagen, also als Zeitpunkte auf einer Linie adressiert werden, sondern als adressierbare Raumpunkte im Koordinatensystem einer Fläche anwesten«,26

so dass die unterschiedlichen Zustände über ein vor die Bildfläche gelegtes Drahtnetz ausgelesen werden konnten. 25 26

Vgl. Vilém Flusser, Medienkultur, Frankfurt a. M. 1997, 61 ff. Claus Pias, Computer Spiel Welten, München 2002, S. 74 (Herv. im Orig.).

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Wolfgang Ernst

So kehrt das (technische) Gedächtnis wieder zur räumlichen Matrix zurück (als Hardware und logische Anordnung); seine Objekte aber (als Datenkon­ figurationen) werden allein durch blitzschnelle Zeitoperationen zusammengehalten  – denn elektrotechnische und techno-mathematische Medien sind Medien erst im Zustand des Vollzugs. Was dann auf Interfaces noch wie ein Bild aussehen mag (auch als Text), besteht aus Zeit und steht somit einem Klang näher als dem klassischen Bild. Was tatsächlich eine Folge kleinster zeitlicher Differenzen ist (der »Klang der Einzeilen-Abtastung«, wie es der Videokünstler Bill Viola einmal beschrieb)27 erscheint als gleichzeitige Verteilung im Raum nur für die Trägheit menschlicher Augen. Dies ist zugleich der Ausweg aus Lessings kategorischer Trennung von raum- und zeitbasierten Künsten. »Die Zeit wird zum eigentlichen Medium jeder computererzeugten Simulation«, schreibt Götz Großklaus, und im kybernetischen Bewegungsraum (der wörtlichen Übersetzung des »cyber-space«) werden damit auch die technai des Gedächtnisses selbst »zu Zeit-Künsten – und in diesem Sinne ›musikalisch‹«.28 Darin liegt der Ausweg aus dem Gedächtnisparagone ästhethischer Erfahrung, die Lessing vernachlässigt hat (wie auch der Großteil kulturwissenschaftlicher Forschungsschwerpunkte zu Text-, Bild- und Dingbezügen): Musik (verstanden hier nicht im engen Sinne kultureller Semantik, sondern als Form des Wissens um Zeitprozesse). Lauschen wir vielmehr der Sonifizierung von Speichertrommeltakten im Z22-Rechner, ursprüngliche eine ausnahmsweise nicht auf einem visuellen Interface (Monitor), sondern akustischen (Lautsprecher) basierte Fehlersuchtechnik der Zuse-AG zur Ermöglichung musikalischer Komposition. Diesen Eindruck aber vermag weder ein gedruckter Text noch eine photographische Illustration wiederzugeben; ebenso unerhört bleiben daher auch akustische Verzögerungsspeicher im wissenschaftlichen Diskurs. Gedächtnisraum verschwindet nicht in der Elektronik, sondern wird dort fast vollständig zu einer Funktion von Zeit. Auch Großklaus wählt den Begriff des »Zeitfelds«, um diese differentiale Verschränkung von Raum und Zeit (im Sinne von Derridas différance ebenso wie im Sinne der mathematischen Analysis) zu beschreiben. Denkbar ist jener Neologismus erst, seitdem Michael Faraday eine berührungslose Interaktion zwischen Elektrizität und Magnetismus (die Induktion) zu beschreiben versuchte, für die es in der abendländischen Tradition altgriechischen Kosmos-Denkens keinen Platz gegeben hatte – ein Feld, das nur noch mathematisch zu durchdringen ist ( James Clerk Maxwell), alltäglich aber in der Kultur elektrodynamischer, elektronischer und technomathematischer Medien erfahren wird. Auf der 27

Bill Viola, Der Klang der Ein-Zeilen-Abtastung, in: Theaterschrift 4: The Inner Side of Silence, Brüssel (September) 1993, S. 16–54. 28 Großklaus, Medien-Zeit, S. 254.

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medienarchäologischen Ebene des Elektronisch-Tonalen also findet sich der Gedächtnisparagone und die Medienkonkurrenz »aufgehoben«: Aufgehoben nicht als starrer Speicher, sondern im Klang. Edmund Husserl (wie an anderer Stelle auch Henri Bergson) greift in seiner Diskussion der Gegenwartsdauer, also des Zeitfensters von aktualer Wahrnehmung, nicht von Ungefähr auf die sonische Wahrnehmung zurück und exemplifiziert sie anhand einer Melodie, »wo ja die Verhältnisse wesentlich analog liegen«29 – weil sie im Wesentlichen im gleichen Medium, der Zeit, sich ereignet. Diese Medienarchäologie des Akustischen erinnert an ein Stiefkind im Gedächtnisparagone: das akustische Gedächtnis, das drastisch vom iconic turn verdrängt wurde. Eine Archäologie des akustischen Gedächtnisses der Kultur tut also Not. Denn das akustische Wissen haftet unter allen Gedächtnissinnen am Meisten am Realen, am Wenigsten am Symbolischen.

29

Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. v. Martin Heidegger, Tübingen 21980, S. 324.

Joachim Knape

Werk, Bildtext und Medium in agonaler Kunstrhetorik Agonale Aspekte der Kunstrhetorik

I. Die kunstrhetorische Fragestellung Die rhetorische Fragestellung geht auch bei Überlegungen zur Kunstrhetorik stets von der rhetorischen Kernkategorie der Persuasion aus.1 Die rhetorische Frage an die Kunst lautet mithin: Wovon und womit überzeugt das Kunstwerk? Damit sind zugleich aber immer auch die im Kunstbetrieb zu allen Zeiten beobachtbaren Phänomene der Auswahl, Vorzugswahl und ver­ gleichenden Bewertung angesprochen, die im Mittelpunkt der Kunst­diskurse jedweder Epoche stehen.2 Die kommunikativen Vorgänge dieses selegierenden Umgangs mit Kunstobjekten sind in einen gesellschaftlichen Interaktionszusammenhang eingebettet, der bei den Griechen agôn, also von einem Publikum beobachteter Wettkampf, Wettstreit, auch Künstlerwettstreit oder ‑wettbewerb hieß.3 Das italienische Wort paragone (für den bewertenden Ver­gleich) lässt sich hierauf zurückführen und beinhaltet zugleich den Aspekt der Gegenüberstellung von Antagonisten.4 Schon in der Antike entschied aus Sicht des Künstlers die agonale Lage unter den Kollegen über seine Position im Bewerberfeld und somit über Arbeitsaufträge bzw. soziale Akzeptanz. Davon berichten die zahlreichen Künstleranekdoten, die Plinius d. Ä. in seiner »Naturalis Historia« aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. überliefert.5 1

Vgl. Joachim Knape, Art.  »Persuasion«, in: Gert Ueding u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 874–907. 2 Vgl. Joachim Knape, Situative Kunstkommunikation. Die Tübinger Kunstgespräche des Jahres 2003 in historischer und systematischer Sicht, in: Heiko Hausendorf (Hg.), Vor dem Kunstwerk. Interdisziplinäre Aspekte des Sprechens und Schreibens über Kunst, München 2007, S. 317–362; ders., Rhetorik der Künste, in: Ulla Fix u. a. (Hg.), Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. (Handbuch in 2 Teilen), Halbbd. 1, Berlin 2008, S. 894–928. 3 Zur Agonalität und kommunikativen Asymmetrie als Bedingung jeglicher Rhetorik vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, S. 70 und 79. 4 Vgl. Wolfgang Brassat, »The Battle of the Pictures«: Rhetorik, Interpicturalität und der Agon der Künstler, in: Ders. (Hg.), Bild-Rhetorik. Rhetorik-Jahrbuch 24 (2005), S. 43–70. 5 C. Plinius Secundus d. Ä., Naturalis Historia/Naturkunde. Bde. 24–26, hg. u. übers. v. Roderich König, Darmstadt 1983–1993. Nachweise aus dieser Ausgabe im Folgenden unter Sigle Nat. hist. in Klammern im Text.

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Wie auch immer die ästhetischen Beurteilungsparadigmen einer Epoche beschaffen sein mögen, im Agon entscheidet bis heute die Werkqualität nor­ malerweise über den Platz im Ranking der Künstler, mit all seinen materiellen Folgen. Besonders wichtig sind die Preise der Werke als Indikatoren der sozialen Wertschätzung. So berichtet Plinius, dass Kaiser Tiberius ein Gemälde des Parrhasios, das auf die astronomische Summe von sechs Millionen Sesterzen geschätzt wurde, vorsichtshalber unzugänglich in seinem Schlafzimmer unter Verschluss hielt (Nat. hist. 35, 70).

II. Das »Werk« als agonales Objekt Das agonale Objekt, also das im Agon zur Diskussion stehende Objekt der Beurteilung, das den Erfolg oder den Misserfolg des Künstlers begründet, ist in den hier interessierenden Regelfällen immer das gleiche: das Opus, das Werk des Künstlers. Von ihm sollen die weiteren Überlegungen ausgehen. Die entscheidende kunstrhetorische Frage lautet also, wie der Künstler in einem Akt der Persuasion mit Hilfe des Werkes seinen Adressaten überzeugen kann, und zwar in dreifacher Hinsicht: von der Qualität des gesamten Objekts, eventuell von einer Botschaft (als rhetorischen Faktor im Werk) oder von der Kompetenz des Künstlers. Im Fall der künstlerischen Handlungsrolle Maler etwa finden entsprechende professionelle Akte überzeugungsorientierter Kommunikation mittels visueller zweidimensionaler Werke statt (Gemälde, Zeichnungen, Graphiken usw.). Sie sind die genuinen Einspeisungen des Malers in kommunikati­ve Zusammenhänge, die wir Intexionen nennen können.6 Professionelle Überzeugungsleistung hängt mithin per definitionem ganz und gar an diesen Opera. Sie sind die rhetorisch für seine kommunikativen Zwecke (welcher Art die auch immer sein mögen) zu aktivierenden Instrumente des Kunst­orators; so die rhetorisch-fachliche Betrachtungsweise. Von weiteren Begleitphänomenen des Kunstbetriebs, von denen schon Plinius reichlich berichtet,7 will ich hier im Moment einmal absehen. In der Philologie ist der Werkbegriff in den letzten Jahrzehnten teils aus Unverständnis, teils aus Mangel an tragfähiger theoretischer Durchdringung der Werkproblematik in Misskredit geraten. Völlig zu Unrecht, denn mit der Kategorie »Werk« sind wir in der Lage, die komplexe Struktur eines Artefakts begrifflich zu verdichten. Letztlich ist der Begriff »Werk« ein Konzeptbegriff. Er besagt, dass ästhetisch überformte Objekte in der Regel nach holistischen, jedenfalls professionell reflektierten Konzepten vom Fachmann (lat. artifex) 6

Joachim Knape, Rhetorik, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft. Dis­ ziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt a. M. 2005, S. 134–148, hier S. 144. 7 Vgl. Knape, Rhetorik der Künste, S. 909–912.

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produziert werden, die für den Interessierten oder den Experten nur in mehrschichtigen Analyseschritten verstehbar werden. Mit »Werk« bezeichnen wir also einen im Produktionsprozess durch den Maler (bei dem ich im Folgenden bleiben möchte) ausagierten, komplexen Ansatz, der sich in der Ausführung des Kunstobjekts konkretisiert. Natürlich kann es dabei zu di­versen Werk-Fassungen kommen. Mit dem Terminus »Werk« ist somit das persuasionstheoretisch maßgebliche Objekt und damit zugleich auch die agonal relevante Größe der Kunstrhetorik bestimmt. Im Folgenden soll die daran geknüpfte Rhetorikfrage noch genauer unter drei Aspekten auf drei analytischen Ebenen erörtert werden: 1. Die Ebene der Artifizialität und hier der Aspekt des gesamten, einem Werk zugrundeliegenden ästhetischen Programms. 2. Die Ebene des Textes bzw. der Textur sowie der Aspekt der semiotischen Einlösung oder Umsetzung des genannten ästhetischen Programms. 3. Die Ebene des Mediums sowie der Aspekt der performativen Einlösung oder performativen Umsetzung des Programms.

III. Das Werk als Artefakt Wichtig ist hier zunächst einmal der Objektstatus des Werks. Es ist ein Artefakt, mithin »Zeug« im Heideggerschen Sinn, und kein Naturprodukt. Und mehr noch, es ist ein Künstliches, etwa ein Bild, das für Zwecke der Kommunikation gemacht wurde. Ansonsten würde es den Rhetoriker nicht inter­ essieren. Seine Produktion ist in zweierlei Hinsicht geeicht: einmal auf das innere Aptum oder Decorum, zum anderen auf das äußere Decorum. Unter Decorum ist das rhetorische Angemessenheitspostulat als alles regierendes Steuerungsprinzip zu verstehen (nicht zu verwechseln mit dem ähnlich klingenden lateinischen Wort decor). Beim inneren Decorum sind es produktionssteuernde Kalküle des Bildorators, die sich auf die angemessene Gestaltung der Sache beziehen. Beim äußeren Decorum geht es um Kalküle, die auf den Adressaten gerichtet sind. Der Bildermacher hat sich unter diesem Aspekt also einerseits zu fragen, was passt zu meiner Sache bzw. was fordert mein Thema und andererseits, was passt zu meinen Adressaten, sei es der Auftraggeber, seien es Experten, sei es eine undifferenzierte, mehrheitlich laienhafte Adressatengruppe usw. Die Frage nach der Adressateneichung kann, wie gesagt, unter Bedingungen einer extremen KunstautonomieIdeo­logie suspendiert werden, mit allen denkbaren Folgen.8 Als Kunstobjekt 8

In diesem Zusammenhang sei an Brechts Diktum erinnert, die Kunst sei zwar autonom, aber nicht autark; vgl. Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 1. Bd.: 1938–1942, hg. v. Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1973, S. 157.

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muss es im Grundsatz kommunikativ situationserlöst bzw. entpragmatisiert, also für sich freigestellt existieren können. Aber auch im engen kunstkommunikativen Kontext muss das ästhetische Programm auf Verstehen und Akzeptanz setzen, d. h. wenigstens teilweise konventionsgeleitete, kognitive Anschlussmöglichkeiten anbieten, und sei es auch nur in Form erkennbarer Abstoßung von bestimmten Konventionen, wobei die Betonung auf der Erkennbarkeit liegt. Die Grenzüberschreitung kann geradezu zum ästhetischen Programm werden. Das kann als Profilierung des individuellen Personalstils aufgefasst werden (wie wir es bei den großen Künstlern sehen), das kann aber auch durch eine Mainstream-Ästhetik vorgegeben sein, die die Abweichung von bestimmten Konventionen zum verbindlichen Epochenprogramm erhebt. Unter solchen Bedingungen hat das agonale Kalkül von Künstlern, sei es bewusst oder unbewusst, bei der Frage anzusetzen: Wie kann ich mich mit meinem ästhetischen Programm, das sich produktionstheoretisch gesehen in bestimmten handwerklichen Entscheidungen ausmünzt, gegenüber meinen professionellen Konkurrenten so profilieren, dass ich sozial-kompetitiv, und sei es auch nur unter Kollegen oder Experten, voran stehe und mich im Agon insbesondere mit meinem ästhetischen Programm oder besonderen artifiziellen Fähigkeiten abhebe, und nicht nur mit meiner rhetorischen Botschaft?9

IV. Die Texturseite des Werkes Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die Textur des Werkes als einer ganz spezifischen, isoliert in den Blick zu nehmenden Analyse­ebene. Da es hier und im weiteren Verlauf um Malerei gehen soll, ist es sinnvoll, einige grundsätzliche Bemerkungen zur Bildlichkeit voranzustellen. Nicht jedes Gemälde ist ein Bild.10 Wenn ein Gemälde oder eine Zeichnung jedoch vor allem aus Bildzeichen besteht, können wir von einem Bild im terminologischen Sinn sprechen. Ein Bild ist ein Bild, wenn wir es analytisch als »Text« oder Textur (im Sinne des erweiterten Textbegriffs) betrachten, d. h. als einen begrenzten, geordneten Bildzeichenkomplex in kom­mu­ ni­kativer Absicht. Die an Konventionen gebundene Ausdrucksordnung der Bildzeichen erlaubt es dem Adressaten, im Kommunikationsvorgang Bedeutung zu generieren. Dies gelingt deshalb, weil alle Bildzeichenbenutzer 9

Zur Botschaft als »dem rhetorischen Faktor« im Kunstwerk siehe Knape, Was ist Rhetorik?, S. 121 und Knape, Rhetorik der Künste, S. 917–924. 10 Vgl. zum Folgenden meine 15 Eckpunkte zur Bildtheorie in Joachim Knape, Bild­ rhetorik. Einführung in die Beiträge des Bandes, in: Ders. (Hg.), Bildrhetorik, Baden-Baden 2007, S. 9–34, hier S. 12–14.

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einer Kommunikationsgemeinschaft im Lauf ihres Lebens eine äußerst große Menge von Bildzeichen mit ihren Bedeutungen gespeichert haben, so wie wir auch sehr viele verbalsprachliche Zeichen als Sprecher einer Sprachgemeinschaft im Lauf unseres Lebens lernen. Wir können hier von unterschiedlichen Kodes sprechen.11 »Bild« in dem hier gemeinten terminologischen Sinn ist ein künstlich erzeugter und mit technischen Hilfsmitteln notierter Text, der sich vor allem auf den Bildkode stützt und mittels syntagmatischer Operationen einen Zeichenkomplex vor Augen stellt, dessen Bedeutung die Betrachter dekodieren können. Beim Bildtext setzt üblicherweise der Verstehensprozess an, einschließlich der fachlichen Hermeneutik, wie wir sie in der Kunstwissenschaft antreffen. Es sei darauf hingewiesen, das jegliche Art Text (welchen semiotischen Charakters auch immer) ins Reich der spielerischen Bedeutungsfreiheit führen kann, regelmäßig semantischen Mehrwert jenseits der Zwänge des Kodes erzeugt und nicht selten dadurch für die Adressaten zur Verrätselung, ja bis an den Rand des sogenannten Geheimnisvollen führt. Es sei auch darauf hingewiesen, dass mit dem Begriff der »Notation« der besonders wichtigen Differenz von Kognition einerseits und externalisierter Realisation andererseits Rechnung getragen wird. Kurz: Die kognitiv beim Bildermacher verankerte Bildtextur muss für kommunikative Zwecke entäußert, also extern in malerischen Akten notiert werden, um überhaupt in den kommunikativen Zusammenhang eingespeist werden zu können. Was wird also auf der Ebene der Bildtextur beobachtet, interpretiert und kommentiert? Wir haben es hier mit der semiotischen und eigentlich informationalen Seite von Bildwerken zu tun. Hierauf bezogene analytische Kriterien sind im Verlauf der europäischen Geschichte des Bildermachens wichtig geworden. Zu nennen sind an dieser Stelle aus rhetorischer Sicht insbesondere Stofffindung (Invention), Gestaltformung (Elokution) und Texturordnung (Disposition).12 Das heißt auf semantischer Ebene ist der Einfallsreichtum beim Finden, Erfinden und bei der stofflichen Umsetzung von Themen agonal relevant. Sodann geht es um die spezifische Variation der Bildzeichen als Gestaltvariantenkunst. Schließlich spielt immer wieder auch der syntagmatische Erfindungsreichtum, den wir unter Begriffen wie Bildkomposition oder Perspektive fassen, eine wichtige Rolle bei der Bewertung. 11

Zur kategorischen Unterscheidung der analytischen Ebenen von Kode, Text und Medium vgl. Joachim Knape, The Medium is the Massage? Medientheoretische Anfragen und Antworten der Rhetorik, in: Ders. (Hg.), Medienrhetorik, Tübingen 2005, S. 17–39. 12 Vgl. zu den hier genannten rhetorischen Produktionsstadien beim Bildermachen Kna­pe, Rhetorik, S. 144–147.

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Abb. 1: Arnold Böcklin: Die Toteninsel, V, 1886, Museum der Bildenden Künste Leipzig, Firnisfarben auf Holz, 80,7 × 150 cm

Aus der Fülle der Beispiele von Interpretationen, die speziell auf die Text­ ebene abheben, wähle ich die Interpretation des ungarischen Philosophen László Földényi von Arnold Böcklins »Toteninsel« (Abb. 1): »Während er an den Versionen der Toteninsel arbeitete, beschäftigte Böcklin mehr und mehr jene geometrische Konstruktion, die in der Tiefe der Vision lag. Unter dem Eindruck dieser Erfahrung strebte er offensichtlich immer weniger danach, Gelegenheit für ›Träumereien‹ zu bieten – obwohl er ursprünglich gebeten wurde, ein ›Bild zum Träumen‹ zu malen. Die strenge Konstruktion der letzten, in Leipzig befindlichen Version öffnet die Tür nicht dem ›Verträumtsein‹, sondern metaphysischen Überlegungen. Oder wäre es denkbar, daß es Böcklin gelungen war, die Thematik des Träumens und des Verträumtseins metaphysisch zu steigern? Hat ihn das womöglich von vornherein eher beschäftigt als das Malen einer Stimmung, eines Gefühls oder einer noch so beein­ druckenden Landschaft? In der letzten Ausführung sind die Felsblöcke keine ›romantischen‹ Klippen mehr, sondern mächtige Einsprengungen, die de Chirico vorwegnehmen; und es ist, als würde das von zwei Seiten vorblitzende Meer – da die Sonne aus dem stürmischen Himmel von links hereinscheint – zu zwei unterschiedlichen Ozeanen gehören, die nicht vom selben Planeten sind. Diese letzte Version wird durch die auffallende Symmetrie und die dennoch gegensätzliche Wirkung der beiden Bildhälften wesentlich spannungsvoller als die früheren. Es scheint, als würde Böcklin die Schöpfung selbst darstellen, aus einer Perspektive, die sich nicht aus dieser Schöpfung ergibt. Die von Zypressen verdunkelte Insel ist wie eine Falle, aus der jemand, wenn er sich dorthin verirrt, nie wieder zurückfindet. Es ist die Falle der Seele. Sie erinnert an einen riesigen Schädel – an die beiden Hirnhälften sogar. Die beiden Säulen am Eingang bilden den schmalen Durchgang, durch den die Seele hineinschlüpfen, durch den sie jedoch nicht wieder zurückkehren kann. Diese beiden Säulen scheinen mit Gewalt das zusammenzuhalten, was sonst auseinanderstieben würde. In den beiden ersten Versionen waren sie nicht einmal spurenweise vorhanden, daher sah auch die dunkle Bucht weniger

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bedrohlich aus; in der dritten Version begannen sie aus dem Meer hervorzuwachsen; in der vierten waren sie bereits größer; in der letzten Version überragen sie selbst die auf sie zustrebenden Menschen.« »Die Spannung in der endgültigen Version der Toteninsel entspringt aus dem Widerspruch zwischen Hell und Dunkel, der linken und rechten Seite, der geordneten geometrischen Konstruktion« und der als gesamt-textliche Semantik aufgebauten »ungreifbaren Stimmung. Und nicht zuletzt aus dem Gegensatz von Ferne und Nähe: Die Insel nimmt den Bootsmann auf, wobei er von allem entfernt ist, und er wird verschluckt, während er zugleich aus der Welt gehoben wird. Die Insel bietet ein Zuhause, während sie den Menschen nach allen Seiten aussperrt.«13

Auffällig bei diesem Zitat ist, dass sich Földényi strikt auf der semiotischen Ebene bewegt und nicht (wie regelmäßig bei anderen Bildinterpreten feststellbar) aus mangelndem Theorie- und Methodenbewusstsein heraus zu einer Vermengung medien- und wahrnehmungstheoretischer Betrachtungsweisen mit texttheoretisch ausgerichteten Analysen kommt. Földényi erwähnt, dass er sich für die »gesamt-textliche Semantik« interessiert und hält sich auch methodisch an diese Vorgabe. Zu diesem Zweck untersucht er Phänomene der Elokution / Gestaltformung (»Hell und Dunkel«), Syntagmatik bzw. Disposition (»geometrische Konstruktion«, »strenge Konstruktion«, »auffallende Symmetrie«, »Bildhälften«, »Gegensatz von Ferne und Nä­he«). Im Ergebnis führt ihn die bildtextliche Zusammenstellung der Bild­zeichen zu einer Reihe von Schlussfolgerungen auf der Ebene von Seman­tik / Thematik (»Tiefe der Vision«, »Thematik des Träumens«, »metaphysi­sche Überlegungen«, Felsblöcke in der Bedeutung »romantischer Klippen« oder »mächtiger Einsprengungen«, Bedeutungs-»Perspektive« der »Schöpfung«, »verdunkelte Insel« als eine Art »Falle der Seele«, Inselform erinnert an einen »riesigen Schädel«, Bedeutung der beiden »Säulen«, »ungreifbare Stimmung«, die »Insel verschluckt« und die »Insel bietet ein Zuhause«, oder sperrt aus).14 Eine Interpretation, wie die Földényis, kann im Kunstdiskurs nach Bedarf als Nachweis für die Qualität des Böcklin-Gemäldes und damit zugleich für die Kompetenz des Malers herangezogen werden. Die in Wettbewerbsstrukturen eingebettete Metarede über Kunst wird damit zum Bestandteil des gesellschaftlichen Kunsturteils.15 Es gründet sich auf implizite oder ex­ 13

László F. Földényi, »Ein wenig von dieser langweiligen Erde loskommen«, in: Guido Magnaguagno / Juri Steiner (Hg.), Arnold Böcklin, Giorgio de Chirico, Max Ernst. Eine Reise ins Ungewisse. Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Bern 21997, S. 65–73, hier S. 65 f. 14 Hier geht es nur um eine Beschreibung des Verfahrens. Ob Földényis Bedeutungszuweisungen berechtigt sind oder nicht, sei der kunsthistorischen Kritik anheimgestellt. 15 Vgl. Knape, Situative Kunstkommunikation, S. 321–329 und 354–356 sowie Knape, Rhetorik der Künste, S. 906–915.

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plizite Kriterien, die epochenabhängig sind. So hat es etwa in der europäischen Tradition immer wieder Phasen gegeben, in denen es als oberstes, er­strebenswertes ästhetisches Ziel des Bildermachens galt (und damit zum ästhetischen Programm wurde), die künstlichen, körperextern, extramental notierten Bildtexte – zum Beispiel bei der Tafelmalerei – technisch so zu ge­ stalten, dass der Betrachter sie mit seinen alltäglichen, »natürlichen« Umweltbildwahrnehmungen beinahe verwechseln konnte. Dieses mimetische Prinzip bei künstlichen Bildern, das auf die Erzeugung naturimitativer virtueller Rea­litäten gerichtet ist, galt unter anderem in der Antike als agonales Differenzierungskriterium ersten Ranges. Plinius berichtet uns eine entsprechende Anekdote über den berühmten Maler Zeuxis:16 Sein ausgewiesener Konkurrent Parrhasios »soll sich mit Zeuxis in einen Wettstreit eingelassen haben; dieser habe so erfolgreich ge­machte Trauben ausgestellt, daß die Vögel zum Schauplatz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so naturgetreu gemalten leinenen Vorhang aufgestellt, daß der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Be­ schämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täu­schen können« (Nat. hist. 35, 64–65).

Zeuxis und Parrhasios haben sich offenbar bei der Notation ihrer Bilder des technischen Mittels der Farbe bedient. Im engeren bildtheoretischen Zu­ sammenhang müssen wir dabei von »Farbgebung« als Mittel der Gestalterzeugung sprechen, denn die Bildzeichen des Bildkodes definieren sich ausschließlich über ihre Gestalten, deren Semantik kodiert ist. Die Farbe ist an­sonsten bildtheoretisch (keinesfalls jedoch wahrnehmungs- und kunst­ theoretisch) zu vernachlässigen.17

V. Die Medienseite des Werkes Während wir uns gerade auf der theoretischen Ebene des Bildtextes bewegt, uns also mit der semiotischen Seite des Werkes befasst haben, kommen wir nun zu eher parasemiotischen Phänomenen, die uns auf die analytisch streng vom Bisherigen abzutrennende Ebene des Mediums führen. Was ist ein Me­dium? Ein Medium ist eine Einrichtung zum Speichern und Senden von Texten.18 16

Vgl. Nadia Koch, Techne und Erfindung in der klassischen Malerei, München 2000, S.  149 f.; Nadia Koch danke ich für weitere Hinweise auf die antiken Kunstanek­ doten. 17 Vgl. Knape, Bildrhetorik, S. 12. 18 Zur theoretischen Herleitung dieser Definition vgl. Knape, The Medium is the Massage?, S. 21–24.

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Mit dieser Definition habe ich mich ausdrücklich vom unterminologischen Gebrauch zugunsten eines harten, d. h. wohl definierten Medienbegriffs verabschiedet. Was ist unter solch einer »Einrichtung« zu verstehen? Der Begriff »Einrichtung« ist bewusst sehr abstrakt gehalten, impliziert aber na­ türlich den ganzen Komplex der jeweils nötigen technischen Einrichtungen zum Speichern und Senden. Im vorliegenden Fall geht es also um den Kom­ plex Werkstatt, Bildträger und ihre zugehörigen technischen Bedingungen, zu denen auch die handwerklichen Techniken einschließlich der nötigen Gerätschaften zählen. Hier tut sich ebenfalls eine Sphäre agonaler Kalküle auf, die ich zunächst in einer letzten Plinius-Anekdote veranschaulichen will, bei der deutlich wird, dass es nicht mehr um semiotisch diskrete Malphänomene geht, also nicht mehr um Fragen des Bildes als Text, sondern um Parasemiotisches. Im Übrigen können wir die Geschichte zugleich als ältesten Bericht über ein abstraktes Gemälde (kein Bild) betrachten: »Reizvoll ist eine Begebenheit, die sich zwischen Protogenes und ihm [Apelles] abspielte. Jener lebte auf Rhodos; als Apelles dort gelandet war, begierig die Werke eines Mannes, der ihm nur dem Rufe nach bekannt war, kennen zu lernen, begab er sich sofort in seine Werkstätte. Der Künstler selbst war abwesend, eine alte Frau aber bewachte eine auf ei­ner Staffelei stehende Tafel von beachtlicher Größe, die für das Malen zurechtgemacht war. [Die Frau] gab Bescheid, Protogenes sei fortgegangen, und fragte, wen sie als Be­sucher nennen sollte. ›Diesen‹ sagte Apelles, nahm einen Pinsel und zog mit Farbe eine far­bige Linie höchster Feinheit über die Tafel. Nachdem Protogenes zurückgekehrt war, be­richtete ihm die alte Frau, was sich ereignet hatte. Man erzählt, der Künstler habe die Feinheit [der Linie] betrachtet und sogleich gesagt, Apelles sei gekommen, eine so vollen­dete Leistung passe zu keinem anderen; dann habe er selbst mit einer anderen Farbe eine noch feinere Linie in jene gezogen und beim Weggehen den Auftrag gegeben, wenn Apelles wiederkomme, solle sie ihm diese zeigen und hinzufügen, der sei es, den er suche. Und so traf es ein. Denn Apelles kehrte zurück und, beschämt, besiegt worden zu sein, durchzog er mit einer dritten Farbe die Linien, so dass für etwas noch Feineres kein Platz mehr war. Protogenes aber bekannte sich als besiegt und eilte zum Hafen, um seinen Gast zu suchen; man beschloß, die Tafel so der Nachwelt zu überliefern, zum ehrfürchtigen Staunen aller, besonders aber der Künstler. Ich vernehme, daß sie bei dem ersten Brand von Caesars Haus auf dem Palatin vernichtet wurde; vorher aber konnte man sie auf Rhodos sehen, auf einer großen Fläche nichts anderes enthaltend als kaum sichtbare Linien; unter den herrlichen Werken vieler Künstler war sie gleichsam leer, lockte aber gerade darum an und war berühmter als jedes andere Kunstwerk« (Nat. hist. 35, 81–83).

Die Anekdote verweist uns auf Phänomene, die jenseits semiotisch-diskreter Informationssysteme (sprich: Kodes und darauf basierender Texturen) liegen, aber eine wichtige Rolle in allen Kommunikationszusammenhängen spielen. Warum? Weil Texte immer ein Medium als sozialdistributive Tragfläche benötigen und die Medien ihrerseits Zusatzbedeutungen, Konnotationen bestimmter Art generieren können. Wir sprechen hier von Performanz. Was ist Performanz? Performanz ist das, was das Medium mit dem

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Text macht.19 Was macht es mit dem Bildtext? Es führt ihn auf. Und diese technischen Bedingungen der Textaufführung haben ihrerseits zusätzliche Bedeutungsvaleurs. Die Perfor­manz zeitigt also durchaus kommunikative Effekte, aber eben keine textinduzierten (d. h. vom Text selbst hervorge­ rufenen). In seinem Beitrag über »Die Bedeutung der Gemäldeoberfläche« hat Paul Pfister dies 1996 mit einem Vergleich zu erläutern versucht, ohne freilich irgendwelche theoretischen Konsequenzen daraus zu ziehen, weil es ihm nur um Fragen der Bildrestauration ging: »Wenn wir eine Sonate von Carl Philipp Emanuel Bach möglichst adäquat zu Gehör bringen wollen, so stellen wir die Frage nach dem Instrument. Ob wir dabei eine Orgel, ein Hammerklavier, einen Flügel oder ein Keyboard verwenden, macht einen großen Un­terschied, obwohl die Partitur dieselbe bleibt.«20

In der Tat: der Text als solcher ist unabhängig von den Bedingungen seiner Performanz analysierbar. Die performativen Phänomene (Leinwand oder Holz als Bildträger, Farbe, Farboberflächenstruktur, Firnis, Lasur usw.) haben Auswirkungen auf die Wahrnehmung, die theoretisch natürlich auf einem ganz anderen Blatt steht,21 sowie Auswirkungen auf zusätzlich stimulierende Reiz-Reaktionen. In den auf Verbalsprachen bezogenen Disziplinen läuft dieser ganze Komplex, wie in der Musik, unter dem Stichwort »Agogik« oder »Sprech-Ausdrucksforschung«, wobei von Performanz (Sprechen), nicht von der Sprache als Zeichensystem oder semiotischem Feld die Rede ist. Die Apelles-Anekdote konzentriert sich vor allem auf den Duktus und die bei den Griechen wichtige Linientechnik des Malers sowie die Farbe als performative Komponenten. In diesem Zusammenhang bekommt die Far­be eine neue Dimension. Oben war davon die Rede, dass die Farbe bildtheo­re­tisch nur in Hinblick auf ihre Rolle bei der Gestaltformung relevant ist (Farbgebung). Sie kann semiotisch relevant bei Gemälden werden, die ins­besondere kulturell verankerte Farbkodes abrufen (z. B. bei abstrakter Ma­lerei), womit keine Bilder im terminologischen Sinn gemeint sein müssen. Im Fall der Performanz auf medialer Analyseebene sprechen wir besser unterscheidend von Färbung statt von Farbgebung. Was heißt das? Es heißt, dass hier Farbe spezifisch eingesetzt wird, um die Bildtextur zusätzlich 19

Vgl. Joachim Knape, Performanz aus rhetoriktheoretischer Sicht, in: Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hg.), Sprache – Kognition – Kultur, Berlin 2008, S. 135–150. 20 Paul Pfister, Die Bedeutung der Gemäldeoberfläche, in: Ders. (Hg.), Von Claude Lorrain bis Giovanni Segantini. Gemäldeoberfläche und Bildwirkung. Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1996, S. 12–23, hier S. 12. 21 Vgl. Knape, The Medium is the Massage?, S. 32–34.

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zu überformen und damit eine zusätzliche, stimulierende Wirkungsdimen­ sion jenseits der bloß bildlichen Semantik zu erzeugen. Farbe kann freilich auch im Sinne der Dokumentarismusfunktion des Bildes eingesetzt werden. In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls der Einsatz von Firnis (meist in Terpentinöl gelöste Naturharze), der das Ausmagern der Farbe an der Oberfläche verhindern sollte. Die Ölfarbe stand nach dem Firnis­ einsatz »farbtonrichtig und gesättigt auf dem Malgrund, so wie sie der Maler auf der Palette ausgemischt hatte. Durch diesen Firnis wurde zugleich die homogene, glänzende Oberfläche erreicht, wie wir sie von der traditionellen Malerei her kennen.«22

Ähnlich verhält es sich mit der Lasur, die als transparente Farbschicht auf eine Untermalung aufgetragen wird, um den Farbton zu variieren und zu verfeinern.23 Dieser technischen Maßnahmen bediente man sich meist, um die eigentliche Bildtextur beim Speichern und Senden für die Wahrnehmung deutlich zu halten. Mit der Be­deutung der Bildzeichen im semiotischen Sinn hat das nichts zu tun. An zusätzliche Sinndimensionen, die vom Medium, seiner Materialität und insgesamt seiner Performanzleistung ausgehen, dachte man weniger. Möglichkeiten gibt es jedoch auch auf dieser Ebene. Dazu ein weiteres Zitat von Pfister: »In der traditionellen Malerei, wie sie an den Kunstakademien gelehrt wurde, galt es, mit den Mitteln der Perspektive eine räumliche Illusion zu erzeugen. Die Ölfarbe wurde dabei mit höchster Perfektion verrieben. Durch den Firnis konnte die verbleibende Feinstruktur vollends in die Fläche eingebunden werden. Der Firnis trennte damit auch die imaginierte Realität von der Wirklichkeit des Künstlers und des Betrachters. Die moderne Malerei seit dem frühen 19. Jahrhundert hingegen drückt sich meist mit einer gestischen, offenen und pastosen Malweise aus, die gezielt den verwendeten Bildträger (verschieden grobe Leinwände oder Grundierungen) in ihr Gestaltungskonzept ein­bezieht. Dadurch erhält die Oberfläche ein Relief, das das Spiel von Licht und Schatten auf der Bildfläche selbst ermöglicht und der Malerei neue Dimensionen erschließt. Die Verwendung von Firnis ist dabei unerwünscht, weil die bewußt eingesetzte Struktur des verwendeten Materials wieder nivelliert würde.«24

Wenn man die tagebuchartigen Aufzeichnungen des Malers Rudolf Schick über die Gespräche mit seinem Meister Arnold Böcklin in den Jahren 1866 bis 1869 durchgeht, so wird deutlich, dass Böcklin in dieser Hinsicht ein ge­ nau reflektierender, immer wieder auch mit Farbpigmenten experimentierender und von eigenen Farbstimulierungsabsichten getragener Bildermacher war. Ihm ging es um Färbung im oben definierten Sinn, d. h. um Farb­wirkung 22

Pfister, Die Bedeutung der Gemäldeoberfläche, S. 16. Vgl. ebd. , S. 20. 24 Ebd. , S. 22 f. 23

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jenseits des bloß bildlichen Gestaltaufbaus, etwas, das man im Be­griff der Farbensymphonie zu fassen suchte. Wir lesen dazu in den »Techni­schen Mit­teilungen für Malerei« des Jahres 1939: Für Böcklin »war in dem Augenblick, wo er auf der Leinwand, der Tafel seine leichte Zeichnung fertigte, das Bild in allen seinen Werten, Zeichnungen und Farben, vollständig in seinem Geiste fertig«. Es ging dann nur noch darum, so können wir den Verfasser dieser Mitteilung verstehen, die mentale Bildvorstellung oder den Bildgedanken durch Bildnotation im oben definierten Sinn in die kommunikative Welt zu entlassen. »Da die farbige Wirkung für ihn auch festlag, galt es, diese mit den Pigmenten zu er­ reichen, eine Aufgabe, die selbst für den großen Farbenkomponisten Böcklin nicht leicht zu lösen war, der die Wirkung seiner Pigmente in jahrelangem Studium genau kannte, der die gegenseitige Stütze und Hilfe der Pigmente genau abschätzte, der hier ein Pigment zur Steigerung einer Wirkung, dort ein solches zur Minderung brauchte, der hier eine Farbe anwenden mußte, um den Blick des Beschauers auf einen Punkt hinzulenken, von einem anderen wegzulocken. Es kam noch hinzu, daß seine Pigmente bei aller Farbigkeit, ja nie an sich die Farbenglut, die er erschaute, die er erreichen wollte, besaßen. So war seine Technik von den ersten Bildern her schon darauf eingestellt, nicht die Pigmente pastos wirken zu lassen, er war von Anfang an ein Kenner der Reize, die Lasuren den Farben verleihen können, eine Erkenntnis, die er zu höchster Meisterschaft ausbildete.« »Dazu brauchte er ein Material, das diese seine Farbensymphonie ausdrücken konnte. Oelfarben mit ihrem schweren Körper waren nicht die geeigneten; ihr Mangel an Tiefenlicht gab nie die von ihm gewünschten Akkorde her, er hätte sie, um diese Akkorde zu erreichen, zu sehr verdünnen müssen, um aus den deckenden halbdeckende und lasierende Oelfarben machen zu können. Terpentinöl war dazu nicht geeignet«. »Daher sein Bemühen, von dem Oel ganz abzusehen, daher die Wahl einer Unter­ malung, die hell und leuchtend blieb, daher die Verwendung der Harze und vor allem des Balsams, der ihm die Leuchtkraft nicht minderte. Aber bald mußte er erfahren, daß ein mehrmaliges Uebergehen einer Stelle mit Balsamfarbe seine Nachteile habe, daß die Malerei ›pappig‹ wurde. Seine mit Harzmalerei verbundene Tempera legte ihm auch Fesseln an. So kam er zu den Versuchen mit Firnisfarbe. Von dem Zeitpunkt an tritt auch die Vorliebe für Leinwand gegenüber Holztafeln, gegen die er lange ein gewisses Mißtrauen besaß, zurück. Hier konnte er seinen Grund weiß und leuchtend herstellen, der für das Tiefenlicht einer Farbe der hellste Reflektor war. Nun erreichte er eine Farbenglut, eine Leuchtkraft und Tiefe der Schatten, konnte durch mehr oder minder lasierendes Arbeiten seine Farbenwirkungen entstehen lassen.«25

So führen diese Überlegungen zur medialen Performanz am Ende auch noch auf das Feld des medialen Material-Agons, bei dem das ästhetische Kalkül des Malers zur Entscheidungsinstanz über die besten technischen Per25

C. Jantsch, Böcklin als Suchender in der Maltechnik, in: Technische Mitteilungen für Malerei 55 (1939), Nr. 6, S. 43–47 und Nr. 7, S. 51–53.

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formanzbedingungen wird. Diejenigen Medialkomponenten müssen für ihn den Vorzug bekommen, die seinem ästhetischen Programm am meisten entsprechen und sein Werk am besten in jenen großen Malerei-Wettbewer­ben positionieren können, die sich etwa im 19.  Jahrhundert mit den MalereiSalons verbanden.26

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Die französischen Salons der königlichen Kunstakademie existierten bereits seit 1667  – Berühmtheit erlangte der »salon des refusés« im Jahr 1863, bei dem u. a. auch Manet ausstellte. Hier wendet sich das agonale Prinzip auf erstaunliche Weise: Nicht der Wettstreit der von einer (für ihre Entscheidungen scharf kritisierten) Jury ausge­wählten Künstler ist das Thema in der öffentlichen Erinnerung, sondern ein Gegen-Agon der von der Jury abgelehnten Maler wird veranstaltet. Selbstverständlich konkurrierten dabei auch die abgelehnten Maler untereinander. Vgl. z. B. Andrée Sfeir-Semler, Die Maler am Pariser Salon, 1791–1880, Frankfurt a. M. / New York / Paris 1992; vgl. dazu auch Knape, Rhetorik der Künste, S. 909 f.

Hans Ulrich Reck

MEMORIALPARADOXIE Zu Wett- und Widerstreit von Erinnerung, PR und technisch entfalteter Übertragung MEMORIALPARADOXIE – Wett- und Widerstreit von Erinnerung

In einem Essay für den »Spiegel« entfaltete Henryk M. Broder jüngst eine Polemik, welche, gerade wenn man sie heuristisch nimmt, die Perspektive auf das Gedächtnisproblem, seine historische Grundlage und soziale Ritua­ lisierung in ungewohnter Weise artikuliert.1 Zwar sind Broders Argumente nicht per se oder gar gänzlich neu, aber in ihrer Zuspitzung doch überaus brisant. Broder misstraut nämlich dem Ernsthaftigkeitspathos einer dämonisch beschworenen ›deutschen Geschichte‹. Er weist nicht nur auf die ›Banalität des Bösen‹ hin, sondern auf eine geradezu schreiende Lächerlichkeit und Schäbigkeit seiner faschistischen Protagonisten, hinter denen sich trotz der dröhnenden Behauptung des Gegenteils keinerlei ›höheres‹ Schicksal verbirgt, wohl aber das dadurch erst drastisch und akut gewordene Problem, was Menschen zu verantworten haben, wenn sie sich nicht in die Dämonie der Geschichte oder Geschicke flüchten können, sondern sich der Präsenz eines auf ekelerregende Weise Gewöhnlichen stellen müssen. Natürlich arbeitet Broder mit einer ganzen Reihe von, allerdings nicht nur bei ihm, schlecht oder gar nicht definierten Kategorien. Das ist hier kein Anlass zur Kritik, denn diese begrifflichen Dimensionen weisen im Feld des Memorierens regelmäßig eine überaus weiche, ja geradezu schwammige Kontur auf. Die nachfolgenden Bemerkungen verstehen sich dementsprechend als eine rekonstruktive und zuweilen prospektive Erörterung, die sich zwar auf wissenschaftliche Erörterungen stützt,2 diese aber weder herleitet noch begründet, weder explizit schildert noch bewertet. Es geht in einer Reihe von thesen­ 1 2

Vgl. Henryk M. Broder, Alles Adolf, in: Der Spiegel, Nr. 12 / 2008, S. 170–172. Vgl. die Diskussion in einigen meiner Vorarbeiten, z. B.: Hans Ulrich Reck (Hg.), Transitorische Turbulenzen, 2 Bde. , Köln 1994 (Kunstforum International Bd. 127: »Konstruktionen des Erinnerns« und Bd. 128: »Zwischen Erinnern und Vergessen«); ders., Erinnern und Macht. Mediendispositive im Zeitalter des Techno-Imaginären, Wien 1997; ders., Totales Erinnern und Vergessensphobie. Aktueller Gedächtniskult und digitale Speichereuphorie, in: Kunstforum International 148 (1999), S.  46–51; ders., Metamorphosen der Archive / Probleme digitaler Erinnerung, in: Götz-Lothar Darsow (Hg.), Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart 2000, S. 195–237.

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artigen Betrachtungen um eine Umriss-Skizze, die Kontur zu einer Situation, deren historische Resultante und Dynamik in der aktuellen Epoche elektronischer Vermittlung von Wissensbehauptungen und so genannten symbolnavigierenden Informationen noch nicht deutlich geworden sind. Die Undeutlichkeit und Unentschiedenheit in der Sache gehören zwingend zu deren Aktualität. Es sei deshalb auf den Status des Paradoxen ausdrücklich in einer nicht mathematischen, sondern hermeneutischen Weise hingewiesen, als Erfahrung eben einer Vagheit, innerhalb welcher die hier besprochenen Dinge erst sichtbar werden. Die langfristig entscheidende wissenschaftliche Klarheit hülfe derzeit nicht weiter, da, sie zu bemühen, hieße, auf die Sichtbarkeit der Phänomene zugunsten klarer Definierungen zu verzichten. Die Phänomene wären dann absehbarerweise daraus wegdefiniert worden.

Jämmerlichkeit und Barbarei Zurück zu Broders Memorialpolemik. Deutsches Schicksal und Geschichte ›der Deutschen‹ markieren hier die erfahrungsbezogenen, nicht die definitorischen Linien des Problems. Er macht plausibel, wie man der Geschichte in diesem Falle durch noch so angestrengte Gedächtnisbehauptungen nicht gerecht wird. Die Deutschen hätten nämlich eine heillose und ungestillte, niemals mehr stillbare Bestrafungserwartung, die sie von Generation zu Generation zu vorgreifenden und totalisierten Schuldritualbekenntnissen und stilisierten Selbstzermürbungen zwingt, obwohl oder eben gerade weil die Bestrafung nie eingetreten ist. Für die nicht geleistete reale Buße würden deshalb symbolische Platzhalter gesucht. Und gefunden. Wenn man sieht, wie, stellvertretend, die altstalinistische Linke der ehemaligen sozialistischen Einheitspartei, SED, später PDS, im Dunstkreis der ›Linken‹ als historische Größe zwar prinzipiell moralisch abgewertet, taktisch und bündnispolitisch aber zunehmend in Kauf genommen wird, kommt man zum Schluss, dass hier, anders als bei der nie durchgeführten Entnazifizierung nach 1945 und just an deren Stelle, eine kompensatorische Härte gepflegt wird, die eine plastische Ahnung davon gibt, was Broder memorialpolitisch meint und als Paragone einer veritablen Vergessenspolemik entwirft. Das Drama der deutschen Geschichte sei die Verstrickung in Verbrechen, die ausgeübt wurden durch ebenso gewalttätige wie jämmerlich kleinkarierte Figuren. Hereingefallen sei man auf den schäbigsten Diktator des 20.  Jahrhunderts, ausgerechnet, und das habe man sich ebenso wenig verziehen wie man die Nachsichtigkeit, ja im Grunde Gleichgültigkeit der Alliierten ertragen konnte, welche die so überaus angemessene Strafe nach 1945 schlicht gestrichen, damit aber der kollektiven Mentalität der Deutschen einen überaus schlechten Dienst erwiesen hätten, weil ein nicht gesühntes Verbrechen so natürlich nicht zur Versöhnung

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führen könne, da das Äquivalent der die Sittlichkeit auf ihrer Seite wiederherstellenden einsichtigen Abbüßung einer Strafe fehle. Man muss nicht auf die noch darüber hinaus entfaltete, eine moderne Rechtskonzeption sub­ stanziell entwickelnde Hegelsche Denkfigur der Versöhnung zwischen geleisteter Strafe und sozialer Verzeihung zum Zwecke einer durchgearbeiteten Wiederherstellung der Sittlichkeit hinweisen oder zurückgreifen (also auf die Naturgeschichte der bürgerlichen Subjektivität), um das Argument Broders zu verstehen. Die Tatsache, dass es statt drastischer Strafen und reinigender Sühne nur Verdrängung, Vergessen, Schokolade und Zigaretten nach 1945 gab, also einseitige und gelangweilt-gleichgültige Absenzen von reinigender Strafe, war machtpolitisch einsehbar, aber sittlichkeitspolitisch ein schwerer Fehler. Heute erst sehe man, in welche Falle man deswegen geraten sei. Da die Schäbigkeit Hitlers, seine Kleinformatigkeit und die barbarische Lächerlichkeit seiner primitiven Dressurpolitik ebenso unerträglich seien wie die durch und für ihn verübten Verbrechen einzigartig, unvorstellbar, müsse man immer wieder just Hitler und diese Kräfte dämonisieren, um ihnen eine historische Bedeutung zu unterschieben, die einerseits auf dem Niveau der Taten sich bewege, andererseits das Ausbleiben der Bestrafung durch ein historischmetaphysisches Übergewicht kompensiere. Aber eben dies sei, so Broder, lächerlich. Im übrigen haben, was Broder nicht sagt, politische Künstler wie Clément Moreau in den 1930er Jahren schon diese Jämmerlichkeit Hitlers angemessen erkannt und beschrieben. Es ist also keine Schande im Nachhinein, sondern eine, die sich bereits in der Realzeit abspielte.3 Es geht hier nicht um den historischen Zusammenhang, der in Frage steht, nicht um eine historiographische Theorie der Fakten, sondern um die Kraft des Broderschen Argumentes, also um Plausibilität, Skandalon und auch Grenze einer rhetorischen Figur. Broders Paragonalpolemik macht deutlich, dass der Akt des Memorierens immer den Gegenstand mit-modelliert, auf den er sich bezieht. Es gibt keine historische Objektivität im naiven Sinne eines beobachterunabhängigen Faktizismus. Gerade wenn man mit Sigmund Freud an einer wirklichen Schmerzbewältigung (bedingend Erinnern statt regredierender Wiederholung) in einer lösenden Durcharbeitung festhalten will,4 einem individualpsychologischen Modell, das auf die technische Bewältigung einer vermittelnden kollektiven Symbolik gewiss nicht ohne wei3

Vgl. Clément Moreau, ›Mein Kampf‹ – ein Versuch, mit dem authentischen Text die Entwicklung von Hitler zu zeigen, Vorwort von Max Frisch, Zürich, 1975. 4 Vgl. Sigmund Freud, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II (1914), in: Ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich u. a., Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, Frankfurt a. M. 1975, S. 205–215.

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teres übertragen werden kann, so erweist sich die soziale Ritualisierung des Memorierens auch paragonepolitisch als entscheidend, da es nicht um Evidenz historischer Objektivität geht, sondern um den Akt des Bezeugens, der Äußerung, der Artikulation und Manifestation.

Lebendig bannende Erinnerung und reflexive Umformung Broder legt folgende elementare Einsichten in Memorialaktivität, Gedächtnispolitik, öffentliche Ritual-Inszenierung und damit auch eine paragonale Interpretation des Memorierens nahe, da eine Memorialpolitik als öffentliche Inszenierung immer paragonal, nämlich konfliktuell und konkurrenziell angelegt ist (was nur bei denjenigen Bezugsgrößen des Erinnerns dissimuliert wird, die ein kollektives Geschehen von singulärer wie universaler Einzigartigkeit für ein gesamtes Kollektiv für verbindlich erklären, und zwar nicht nur für die Gegenwart, also die Lebenden, sondern auch in alle Zukunft, also für die dereinst erst Geborenen): – im historischen Verlauf ist die entscheidende Funktion der Erinnerung die Lebendigkeit der Ritualisierung auf einer Meta-Ebene; das Authentische (oder positiv gegebene Ursprüngliche)  und vor allem ein primäres echtes Empfinden treten zwangsläufig in den Hintergrund; es verliert sich in einer Entfernung vom historischen Drama; es nützt hier auch nichts, wenn man wie Lily Brett – wiederholt in Suhrkamp-Ankündi­gungsprospekten ihrer Romane und Reportagen seit 2001 praktiziert – die eigene Biographie pathetisch überhöht und sich mit Blick auf die Förderlichkeit der realen wie der symbolischen Verwertung eines solchen Hinweises ausstattet mittels der Referenz, man sei eine genuine ›Auschwitz-Überlebende der zweiten Generation‹; – die Legitimation wie die Notwendigkeit der Memorialrituale bewegen sich im historischen Verlauf auf der aufsteigenden Linie eines Bewusstseins, das die Lebendigkeit des Schmerzes und die biographischen Erlebnisbezüge unvermeidlich ›in the long run‹ durch ein memoriertes Wissen ersetzt; – dieses (Meta‑)Wissen um das Memorieren ist für ein Kollektiv das entscheidende; Behauptungen von Betroffenheiten werden langfristig und zwangsläufig ebenso unglaubwürdig wie direkte Bezüge zunehmend mediatisiert werden müssen. Was den Vorfahren widerfahren ist, macht den Kern des historischen Geschehens, aber immer weniger das gelebte Zentrum wirklichen Selbst- oder Eigenempfindens aus; – Memorieren bedarf eben deshalb der sozialen Ritualisierung, weil es noch dann in kollektiv wirksame Bewusstseinslagen hineinwirken muss, wenn

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Bewusstsein sich nicht als individuelle Vergegenwärtigung historischen Geschehens ergibt; – nicht die Bezeugung einer Empfindung des historischen Geschehens ist das entscheidende, sondern das Bezeugen einer mentalen, reflexiven Einstellung. Soziale Ritualisierung hat eine ›Art Aufklärung‹ zum Ziel, durch welche Vermeidung historischer Entstellung, von Regressivität und Wiederholungszwang möglich sein könnten. Nicht die an sich selber nachgestellte Trauer als rituelle Bezeugung, wie sie für primäre Angehörige unvermeidlich und geboten ist, ist der Beleg für einen gelingenden Gedächtnisparagone (nämlich Bevorzugung in der Hierarchie der Ausdrucksmittel und der Ritualisierungsmedien), sondern die exemplarische Transformation von Einstellungen, durch welche die Bedingungen der Genesis von Faschismus und Totalitarismus entsprechend bewertet, verdeutlicht und im Bewusstsein gegenständlich und präsent gehalten werden können; was heute noch am entlegensten Lenin-Denkmal als Empörungsaffektivierung der historischen Verwerfung ›wie auf Knopfdruck‹ funktioniert, hat in der nie durchgeführten Entnazifizierung eben auch nie funktionieren können; – wer hier Betroffenheit fordert, verwechselt die für eine mediatisierte Öffentlichkeit entscheidende bewusstseinskonforme Theatralisierung einer Rolle mit einem apodiktisch für unverzichtbar gehaltenen echten Empfinden; dabei geht es nicht um eine nur in Einzelfällen gelingende Assimilierung von Affektlagen in Bezug auf Opferschicksale; meistens tut es schon der Ekel vor, der Widerwille gegen die barbarische Jämmerlichkeit von Faschismus und Totalitarismus, die durchaus aggressive Ausdruckskraft anstelle einer wenn nicht konformierend geforderten, dann doch moralisch oft geradezu verordneten und rituell praktizierten Betulich- und Formelhaftigkeit.

Paragonale Folgerungen Implizit sind damit die entscheidenden Parameter benannt. Erlebtes Schicksal ist gerade nicht Bedingung oder einziges Modell der bezeugten Echtheit. Kollektive Ritualisierung ist entscheidend für die Modellierung von Bewusstseinsfunktionen, ganz unabhängig davon, in welchen Medien des rituellen Wiedergebrauchs sich die historische Vergegenwärtigung eines zu Verwerfenden ausdrückt. Die Medien, welche den Gedächtnisparagone zu einem Konflikt werden lassen können, sind historisch selber uneindeutig und nicht festgelegt, nämlich offen und entwicklungsfähig. Auch wenn dies für eine ›longue durée‹ gilt, also für langsame Rhythmen und lange, gedehnte Zeiträume, ist doch die historische Disponibilität eines verschwindenden Lebens bei gleichbleibender Memorierung eines historischen Datums entscheidend.

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Aber kein historisches Datum ist einfach gegeben oder unverrückt feststehend, simple naturalistische Evidenz. Es wird durch die rituelle Vergegenwärtigung mitgeformt. Das ist vielleicht trivial, angesichts der Problematik aber doch nicht belanglos: Solange Leben neu entsteht, wird unvermeidlich noch das Grauenvollste zu einem distanzierten Erinnerungsgehalt. Es verschwindet notwendig das Unvorstellbare im historischen Wissen. Memorialritualisierung tendiert deshalb nicht auf Intensivierung eines Empfindungsgehalts, der an die Stelle des historischen Faktums träte (das wäre gar eine im Kern totalitäre Praktik) sondern auf Orientierung der Konsequenzen, die aus einem Erlebten und Bewerteten, also memorial Ritualisierten folgen. Die Umwandlung von Erleben in Wissen, von Erfahrung in Information ist unvermeidlich. Die viel geschmähte, im Februar 2008 entworfene Initiative des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, dass jedes Grundschulkind die Biographie eines in Frankreich verfolgten jüdischen Kindes auswendig zu lernen habe, bezeichnet genau diese unvermeidliche Schwelle der Verwandlung von Erleben in ein Wissen, das natürlich so abrufbar ist wie irgendeines sonst. Es soll hier nicht Stellung bezogen werden im Streit, der auf diesen Vorschlag hin entbrannte. Typisch waren aber die hauptsächlichen Oppositionsmarkierungen: Sarkozy, der sich in der Tat der Pflege einer ritualisierten Memorialkultur im Gedenken des spezifischen singulären jüdischen Schicksals verschrieben hat (was z. B. sein Vorvorgänger Mitterand auch deshalb nicht machen wollte, weil er mit Pétain kollaborierte, also Täterpositionen teilte) auf der einen, Simone Veil als noch direkt Betroffene auf der anderen Seite, die argumentiert, dass die Nachfahren nun nicht gerade das praktizieren müssten, was sie und die anderen von ihresgleichen ihren eigenen Kindern ersparen wollten, dass diese nämlich stetig und mit eingebranntem Gedächtniswissen auf eben solches fatale Geschick  – ausweglos und lebenslang  – verpflichtet würden. Diese Frontverschiebung ist für unseren Zugang hier bezeichnend: Die Protagonisten des Memorialkultes verschreiben sich einer sekundären Geste, einem Artefakt, das sich als orientierendes Bewusstsein artikuliert, wohingegen die authentischen Subjekte auf einer Linie des Durcharbeitungssyndroms gemäß Freud vermeiden wollen, dass Wiederholungen eines bannenden Schmerzes stattfinden, der auch eine Tiefenimprägnatur von Verpflich­tetheit auf ein Geschick oder Schicksal darstellt. Memorialpraktiken, zumal kollektiv breit ritualisierte und inzwischen gar verbindlich kodifizierte, mögen auf Wiederverlebendigung zielen, aber gelingende Durcharbeitung setzt ge­rade auf die Befreiung vom Bann eines naturalistisch evidenten und bannenden Wirklichen. Man mag Memorialrituale als lebendige beschwören, wie immer man will, ein Stück Irrealisierung oder gar Derealisierung des memorierten Inhaltes ist nicht nur unvermeidlich, sondern notwendig, wenn das Memorieren ›echt‹ sein soll.

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Es geht also nicht nur um polemische Bewertungen und einen medial spezifizierten Paragone (des Speicherns, Abrufens, Ausdrückens, Revitalisierens), sondern auch um eine Paradoxie: Die Echtheit des Erinnerns im Bereich kollektiver symbolischer Mediatisierung besteht zwingend im Verlust (Verblassen, Verschwinden, Entzug) des authentischen Erlebens und Betroffenseins. Echt ist, was lebendig wird in seiner Entwicklungsgestalt. Die Behauptung, historische Erinnerungsgegenstände bezögen ihre Kraft aus ihrem unverminderten Wirken als authentische Singularitäten, ist eine Lüge und schadet dem eigenen Anliegen. Es macht sich lächerlich, auch wenn daraus Antriebsenergie für die Überbietungsfigur von multiplizierten Mahn­ malen und Gedenkstätten erfolgt, in denen ja auch eine Perspektive des an sich selber reuevoll gewordenen Täterprofils weiter zum Regisseur des Bestimmens von Ort, Zeit und Qualität des Erinnerungsvorgangs wird. Das ist wiederum unvermeidlich. Wie drastisch Verdrängung sich individual­ geschichtlich auswirken kann, wenn die Ausblendung überhaupt nicht in den Selbstentwurf passt, belegt Tilman Jens mit einem Bericht über seinen Vater Walter, in dessen Demenzschicksal sich eine Geschichtsflucht nahezu physiologisch geltend mache.5 Das gilt nicht für Überzeugungstäter, wohl aber für Mitläufer, deren hochstufig ethisch beanspruchte Integrität zusammengeht mit einer stetigen Reflexivität des ganzen Lebens, das keinerlei Selbstwiderspruch, Verrat, nicht einmal Ambivalenz erträgt. Dass Walter Jens niemals seine ­NSDAP-Mitgliedschaft zugestanden, ja, sie noch nicht einmal erwähnt hat, deutet Tilman Jens als Vorbedingung eines präventiven Zusammenbruchs für genau den Fall, in dem für solche Geistesriesen die Sprache als solche und zur Gänze verloren geht. Alzheimer bleibt Alzheimer, aber es wirkt sich im Ausfall von allem und jedem ein Verstummen aus, das die einzige Fluchtlinie aus einer Ausblendung erlaubt, die nichts weniger ist als die Negation eines gesamten reflexiven Erwachsenenlebens. Der Satz Adornos, ob ein Mensch Erfahrungen machen kann, sei in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergesse, gilt auch für Kollektive.6 Aber natürlich nicht in derselben Weise oder gar in identischer Übertragung. Individualpsychologie und Psychoanalyse, Fehlleistungen und Verdrängungen entsprechen nur strukturell den Auszeichnungen und Irrealisierungen der Vergessens- oder Erinnerungsbezüge auf der Ebene mediatisierter Memo5

Vgl. Tilman Jens, Vaters Vergessen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.  54, 4. März 2008, S. 37. 6 Vgl. Johann Kreuzer, »Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergisst«. Überlegungen zu einer Notiz Adornos, in: Günter Butzer / Manuela Günter (Hg.), Kulturelles Vergessen: Medien – Rituale – Orte, Göttingen 2004, S. 167–183.

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rialrituale. Aber die Hierarchisierung, Auszeichnung und Stufung, also der im gesamten soziokulturellen Kollektivmaterial sich abspielende Paragone, nämlich Widerstreit des Wichtigen und Zentralen gegenüber einem deklariert Sekundären, erfasst eben auch die Formatisierungslogik, Struktur, Signifikanz und Modellierungskraft der Medien, in denen dieses Memorieren oder Vergessen gefasst und daraufhin stetig auch ritualisiert wird. Die Art und Weise, wie Medien funktionieren, belegt dagegen gerade nicht ihre individuelle Modellierbarkeit. Sie haben keinerlei Signifikanz. In der Tat eignet auch den Memorialkriterien bezüglich des so singulären Geschehens einer dämonisierten Geschichte nichts weniger als die nämliche Betulichkeitsform sonntäglicher Kleinbürgerlichkeit, was einem bösartigen, adornitisch geschulten Blick durchaus die Vermutung nahelegt, dass sich hinter dem Objekt des Memorialrituals eine nach wie vor unheilvolle Affinität zwischen Trauernden und Tätern ausspricht, was nur als Tribut an die Entropie des Verbrechens verstanden werden kann, das eben nicht zum Geringsten in kleinbürgerlicher Schäbigkeit zum Ausdruck gelange.

Memorialrhetorik und PR: Kulturelle Hintergründe ›öffentlicher Rede‹ Mediatisiertes Memorieren ist eine Form, die unter bestimmten Gesichtspunkten in die allgemeine Geschichte der vermittelnden rhetorischen Überzeugung und Einwirkungen eingereiht, als Figur von Werbung oder publizistischer Modellierung der öffentlichen Belange angesprochen werden kann. Insofern und inwieweit authentische Grundierung hierfür notwendig ist, bedürfen die Medien einer verlebendigten Wahrnehmung, die heute immer weniger selbstverständlich und in ihrer individuellen Gegebenheit gesamtgesellschaftlich immer weniger angemessen vorstellbar ist oder wirksam erscheint. Was mittels Rhetorik der Publizistik (im folgenden zum Zwecke der Entdramatisierung der bannenden Memorialgehalte in Konsequenz der Bar­bareien des 20. Jahrhunderts verkürzt zu ›PR‹ an Vermittlung von Gegenwart erfolgt, wirkt als Präsentisches innerhalb von koordinierten, emotionalisierten Affekten und darin verfestigten Effekten gegebener Zustimmung (Anteilnahme, Akzeptieren, Nicht-Widersprechen). Die individuelle emotionale (neuronale) Bewertung entspricht dabei der kollektiven Rückkoppelung eines ausgezeichneten Geschehens, das als einfache Ethnologie ritualisierter Gegebenheiten, von Anteilnahme und Kollektivität erscheint: als schlichte Lebenswelt und Alltäglichkeit. Das ist, offenkundig, eine weiter nicht moralisch bewertbare Gegebenheit, factum brutum. Dennoch kommt ein Verstehen dieser Fakten ohne Kritik oder Ideologiekritik nicht aus, weil ohne die Veranschlagung oder Beanspruchung auswählender Konstruktivität Fakten überhaupt

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nicht als gegebene erscheinen können, weder reflexiv noch emotional, weder vergegenständlicht noch intrinsisch. Mediale Kapazitäten und Grenzen der Wahrnehmung sind hierfür entscheidend. Es sind deshalb einige Etappen zu resümieren in der Entwicklungsgeschichte des Problems, soweit es für öffentlich sedimentierte und wirksame Wahrnehmung sich als Frage an Deutlichkeit und Fassungskraft individuell offen gehaltener Durcharbeitung, Memorieren kraft explikativer Wahrnehmung stellt – darin gründen Thematik wie Problematik des Gedächtnisparagone im Sinne der Erfahrung der durch Medien modellierten Gegenwärtigkeit. Auch wenn sich darin historische Bezüge als Rekurse auf Geschichte artikulieren, hängen diese Bezugnahmen in Formen und Inhalten von der medialen Logik und Materialität der Vermittlung des Präsentischen ab, seiner Verzeichnung und daran anschließenden Ritualisierung. Folgende Markierungen und Zäsuren sind historisch und epistemologisch, medial wie sozial für die Vergegenwärtigung der Wahrnehmungsproblematik auszuzeichnen: 1. Die Genealogie der modernen PR hat  – neben anderen  – eine entscheidende Umbruchstelle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Moder­ ne Urbanisierung, rasante Verelendung und Verstädterung, neue Formen medialer Vermittlung, visuelle Wahrnehmung, Technisierung und Verän­ derung der Lebenswelt verzahnen sich vor dem Hintergrund einer neuen, von Beschleunigung und Automatisierung geprägten Lebenswelt, die sich heute als Implikation des Urbanen vollendet, nämlich als Transformation der agrarischen in eine urbanisierte (Vorstadt‑)Welt-Bevölkerung, wobei Stadt zunehmend zur ›Exo-Polis‹ wird, in auseinanderdriftende, sich vervielfachende Subzentren diffundiert. 2. Neu entsteht damit eine zunehmend sich selber versorgende Mediosphäre, d. h. eine organisierende Stelle der Relationierung von allseitig ausgreifender und verbindender Vermittlung: von Gebrauchs- mit Tauschwerten, Markenartikeln und Rohstoffen, Werbehinweisen  /  Produkte-Informa­ tionen mit neuen Arrangements der Gebrauchsgüter-Präsentation (Warenhaus). Mit dieser Ästhetik wird auch alles bisher Historische, Überkommene und Überlieferte zu einer Funktionalen von realer Gegenwärtigkeit im Sinne der Inszenierung. Zugespitzt: Was je gewesen ist, transformiert sich in die Qualität eines jetzt für den Akt des Wahrnehmens aktual An­ wesenden und Lebendigen. 3. Seit Hans Domizlaffs Abhandlung über die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens in den späten 1930er Jahren7 ist die Anstrengung von PR auch 7

Vgl. Hans Domizlaff, Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik (1939), Hamburg 1982.

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methodologisch explizit zu beschreiben als enzyklopädisch rubrizierende Affektmodellierung innerhalb der Schaltstelle (Gelenkfunktion) der Medio­sphäre der Markenartikelwerbung und, von dort herkommend und danach, aller Werbe-Propaganda für Dinge, Produkte und Objekte. 4. Gemeinhin stellt man sich in der Tradition der ersten Moderne die Anstrengung von PR als eine Manipulation eines ursprünglichen Körpers vor (instrumentelle Einrichtung der Affekte, Bedürfnisse, Gewohnheiten), also einer Physiologik und Leibästhetik des konsumierenden Menschen, der ausgestattet ist mit Lebenszeitäquivalenten, die er, subsystematisch dazu befähigt und berechtigt, als Option am Markt der physiolo­gischen Befriedigung, als plebiszitäre Entscheidung geltend macht.8 Die­ses Modell mündet in ausdrückliche Strategie, gesteigerte Artifizialität, Semiotechnik, Zeichenenergie, die in einen externen, vordem logotechnisch unberührten Körper modellierend eingreift, um entsprechende, berechenbare Dispositionen zu erzeugen.9 Das Modell läuft also auf eine strikte Zweiteilung hinaus: hier die Sphäre der medialen Strategien der Beeinflussung, dort ein physiologisch ursprünglicher Leib (individuell, kollektiv, real und imaginär). Zwischen zwei ideal als eigengegründete, selbständige Substanzen vorgestellten Größen gibt es eine klare, deutliche, prinzipielle Grenze, weil sonst das Modell der aktivierenden Einflussnahme von der einen auf die andere Sphäre (als Bedürfnismodellierung einerseits, Medien- und Ideologiekritik andererseits) nicht funktionieren würde. 5. In Verkürzung und trotz Überspringung etlicher wesentlicher historischer Phasen gilt aus heutiger Sicht: Das Modell der zwei Sphären und der je qualitativ verschiedenen Wirkmechanismen in den Bezugnahmen zwischen diesen beiden kann im Zeitalter einer Diagnose der Gesellschaft des Spektakels10 und seiner Rückkoppelung in die Allgegenwärtigkeit einer Transparenz des Bösen11 nicht mehr aufrechterhalten werden. Es haben sich die Momente im Gefüge drastisch verschoben. 6. Negativ ausgezeichnet: Man kann nicht mehr von einer externalisier­baren Differenz getrennter Sphären  – hier Leib  /  Physiologie, dort Medien  /  8

Vgl. hierzu die Überlegungen zur Legitimation von Gewinnübertragung und ‑verausgabung von Robert Nozick, Anarchie. Staat. Utopia, München o. J. (1981). 9 PR kann später erweitert werden und gilt auch für Television, Bewusstseinsindustrie, Medienverbund etc.; vgl. Alexander Kluge, Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit, in: Klaus von Bismarck u. a., Industrialisierung des Bewußtseins. Eine kritische Auseinandersetzung mit den ›neuen‹ Medien, München 1985, S. 51–129. 10 Vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (La societé du spectacle, 1967), Hamburg 1978. 11 Vgl. Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene (Trasparence du mal, 1990), Berlin 1992.

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Semiotik – ausgehen. Es können auch nicht mehr die traditionellen Modelle der leadership-opinion-Bildung und autoritativen Bestätigung oder auch der totemistischen Binnenritualisierung geschlossener verschworener, dogmatisch stilsichernder Gruppen und Subkulturen beansprucht werden.12 Die Manipulationsthese hat ausgedient, nicht weil Medien und PR nicht weiterhin oder gar erst recht massive Gewalt entfalten würden, sondern weil es den unberührten physiologischen Körper (seine logisch-epistemologische wie seine empirisch-physiologische Instanz) nicht mehr gibt. 7. Der Leib wie der mediale Körper sind nämlich nunmehr abgekoppelt und strikt intrinsisch mediatisiert (was nicht zu verwechseln ist mit Selbstreferenz oder Autopoiesis, das wäre irreführend). Das löscht nicht die Differenzen, verschiebt aber die Gefüge. Medien modellieren nicht nur. Jeder, der im Mediatisierungsprozess Moment ist, also irgendwie mit Medien ›in Berührung kommt‹, modelliert auch die Medien. Ohnehin ist interessanter zu fragen, was die Menschen mit den Medien tun, statt umgekehrt. Und dies selbst dort noch, wo sie für sich selber nur noch zu leben scheinen, weil sie Moment medialer Spieglung sind oder sich als solche durch diese zur Erscheinung bringen lassen können. Ich werde beobachtet, also bin ich … 8. Das bedeutet, dass es nicht mehr um Wahrnehmung, sondern um Vermittlung (Vermitteltheit) von Präsenzen geht. Da die individuellen Kapazitäten der Wahrnehmung sich medizinisch, physiologisch, neurologisch und anthropologisch nicht verändern, ist ›der Rest‹ vor allem eine Frage des medialen Trainings. Dazu kann man divergente Diagnosen äußern. Aus der einen Sicht ist die mediale Spieglung nichts anderes als ein notwendig grenzenlos entfesselter Exzess zum Zwecke der listigen Entfaltung von kritischer Affirmativität, die keinerlei äußerer oder ausdrücklicher Kritik mehr bedarf. Aus anderer Sicht ist dieser Prozess einer der globalen Nivellierung, der mit dem ›Genozid‹ an den Differenzen und am schnell liquidierten Reichtum des Lebens (Pier Paolo Pasolini13) verbunden ist. 9. Beide Sichten sind möglich. Die in sich drehende Vermitteltheit, die durch keinerlei empirisches Arrangement bezüglich Rückkoppelung von Werbung an Körper (Marken, Moden, Präferenzen) mehr untersucht oder erreicht werden kann, wie auch Wahrnehmungsgrenzen generell nicht mehr empirisch untersucht (sondern nur dispositionstheoretisch und diskursepistemologisch analysiert) werden können, markiert die Realität eines 12

Vgl. Jacques Rancières Konzept der ›partage‹ in: Ders., Das Unvernehmen. Politik und Philosophie (politique et philosophie, 1995), Frankfurt a. M. 2002. 13 Vgl. Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft (Scritti corsari, 1975), Berlin 1978; ders., Chaos. Gegen den Terror (Caos contro il terrore, 1979), Berlin 1981.

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aktuellen Medientotalitarismus, zu dem die herkömmliche Werbung nur noch als dilettantische Randgröße zählt. 10. Prägende Kräfte sind heute dagegen (an der Stelle bisheriger PR) großflächige Bilderkriege, die jeweilige Grenzen der Irreversibilität als Erfahrungen festschreiben und festsetzen wollen. Hierin transformiert sich der von Bazon Brock 1972 überaus luzide analysierte neue Bilderkrieg der Werbung14 in einen allseitigen Krieg nicht nur um, sondern mittels Bilder, die aber nicht mehr an der wahrheitstheoretischen Differenz hängen, sondern an der Herstellung geschlossener Reiche, sich selber totalisierender Zeichenherrschaft aus je partikularer Sicht und Anstrengung. Es ist deshalb gerade der anachronistische und skandalöse, in sich blasphemische Totalitarismus der religiösen Empfindsamkeiten, in und mit denen Bilderverbote wieder totalitär, irreversibel und unbedingt, also in jeder Hinsicht uneingeschränkt hergestellt werden sollen. 11. Deshalb indizieren Ausdrücke wie ›Bilderflut‹ oder ›Gedächtnisparagone‹, ›Memorialparadoxie‹, ›Erinnerungspolitik‹ nicht nur etwas Zeitgenössisches oder Mediales, sondern vielmehr etwas entfesselt Vortechnisches, das gerade mit höchst entfalteten technischen Artefakten heute wieder als Ursprünglichkeits-Bann nach Innen erreicht werden soll. Basis aller Wahrnehmung sei im historischen Verweis die über physiologische Grenzen der Wahrnehmung hinaus gesteigerte Erfahrung im Einfließenlassen des Aufscheinens von Epiphanien. Die Präsenz des Numinosen, verdinglicht zum Göttlichen, gibt im vollkommenen ›overload‹, dem Überwältigtsein das asketische Modell. Zivilisatorisch trainierter Ekel gegen banale Anstrengungen markiert dagegen in partikularer Weise den Gipfel einer Befreiung vom Einflussversuch der Marken und von PR. Deren Einflussnahmen sind aber nur noch kompensatorische Behauptungen, welche die notorische Banalität und Nichtkreativität der Branche kaschieren. Werbung ist zum Lächerlichsten geworden, was im medialen Krieg der multiplizierten Stand- und Gesichtspunkte, der eingeklagten Grenzsicherungen als Banalität bloß noch mitläuft. 12. Das historisch einschlägige Modell bleibt hier interessant, weil Vermittlung und Präsenz nicht Faktoren von technischen Medien, sondern von anderen, auch vortechnischen Gegebenheiten sind (Fanatismus kanalisiert sich entlang von Medien, aber diese setzen ihn immer als Rohstoff 14

Vgl. Bazon Brock, Ein neuer Bilderkrieg. Programmtext des audiovisuellen Vorwortes der d 5 synchron zu 2000 Dias der AV-Präsentation, in: Katalog documenta 5, Kapitel 2, Kassel 1972 (wiederveröffentlicht in: Ders., Wirklichkeiten in Bildwelten heute. Eine Lernschau zum Documenta-Thema mit audiovisuellem Programm, Foto­dokumentation und kleiner Besucherschule mit Bazon Brock. 8. Ausstellung im Haus Deutscher Ring, Hamburg 1973.

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voraus und können ihn nicht erzeugen): Die transzendentalen Erfahrungen der religiös Erleuchteten, der Schamanen und Visionäre evozierten (mittels Askese, halluzinogenen Stoffen, Hunger, Schlafentzug etc.) selbstinduzierte ›Bilderfluten‹ mit dem Ziel einer Zerstörung der Wahrnehmungmechanismen und den Grenzen ihrer Kapazitäten. 13. Die in hochtechnisierten Unterhaltungsgesellschaften als nach innen ritualisierte Selbstinfantilisierung und Verblödung der Erwachsenen-Welt organisierte Aufmerksamkeit (und emphatische Zustimmungsbereitschaft) dafür, berühmt zu sein dafür, berühmt zu sein und nichts, nicht nur nichts sonst, sondern überhaupt nichts (Paris Hilton) indiziert deutlich die Gefährdetheit einer Zivilisation, die mit der eigenen Entropie den Krieg nur in professionell formierten Kräften exportiert als Kampf um ein Symbolisches, mit diesem jedoch unvermeidlich und vorgeblich ungewollt stets ein gegen die Absichten gerichtetes Reales erzeugt, an dessen Gewalt es permanent zu zerbrechen droht (reimportierte, dergestalt erst rekrutierte Fundamentalismen eines vernichtenden und alles verschlingenden Zivi­ lisationshasses). 14. An die Stelle individueller Bedeutungen und Fragen, die mit Wahrnehmung noch suggeriert werden, tritt die multiple, migrantische, passa­ gere Bewegung innerhalb stetig sich in aller Richtungen durchkreuzender Kräfte eines gesellschaftlich Imaginären, das nicht als Medium der Gesellschaft, sondern als Mediatisierung im Binnenbereich allseitiger Vermitteltheit wirkt. 15. Wir leben in einer Epoche, die wie selten eine zuvor, bildliche Darstellung multipel verfügbar gemacht hat durch Parallel- und Gegenöffentlichkeiten. Jede Hegemonie einer korrekten oder kontrollierten Berichterstattung erscheint derzeit als obsolet und überholt. An der Nichtwahrnehmung dieser technologisch in den Steuerungsmedien der Weltsynchrongesellschaft kontrafaktisch möglich gewordenen Devianz scheiterten schon die beiden Golfkriege. Noch so manches wird daran scheitern. Nicht Bilderflut, sondern beweisführende, politisch parteiliche, medial militante Bilderkriege markieren den Körper des gesellschaftlich Imaginären, das nur in den pathogenen Dimensionen direkt auf ein individuelles Selbst durchschlägt, aber ansonsten Bestandteil kollektiver Restrukturierung, stetiger sich selbst bekräftigender und beweisender strategischer Mediatisierung ist. 16. Fazit: Es bewegt sich nurmehr alles innerhalb der Mediatisierung und des medialen Bilderkriegs, in dem jedes Bild zu einer Beanspruchung des gesamten Mediatisierungsprozesses wird und sich keineswegs mehr in der traditionellen Funktion erschöpft, für einen ideologischen Sachverhalt oder Effekt zu stehen. Differenz und Indifferenz lösen sich als Unterscheidung auf, ohne indifferent im Sinne von ›gleichgültig‹ zu werden.

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(Des-)Informations-Bilderkriege – aktivierte Paragonepolemik in und mittels fortgeschrittener Technologien Die aufgeführten sozialgeschichtlichen Etappen und mediosphärischen Einschnitte behandeln das sozialgeschichtlich einfachere Thema der PR-Ästhetik. Diese kann stellvertretend auch für Memorialrhetorik, angepasst und modifiziert auch für einen Gedächtnisparagone herangezogen werden. Es stellt sich dann die Frage, wie Gedächtnisfunktionen außerhalb der historisch beschworenen Kollektivprägungen (Dämonie Hitler, Genozid an den Juden, Geschichte als präsent gehaltene Warnung, historisches Lernen, moralische Bewertung, ritualisierte Strafkompensation als hochstufig kodifiziertes Eingedenken etc.) verstanden werden können im Hinblick auf die Funktionen und Verstofflichungen medialer Transformationen bisherigen Erin­nerns und, genereller, des Darstellens. Wie verändert Wissen sich an der Schwelle ganz neuen Technologiegebrauchs? Also nicht einfach als Element von Symbolnavigation, Weltsynchrongesellschaft, digitalisierter Kommunikation, sondern innerhalb einer veränderten politischen Dynamik der Konstruktivität von Bilderpolitik, Informationsbehauptung, Parallel- und Gegenöffentlichkeit durch Beanspruchung vordem ›illegitimer‹, als ›schmutzig‹ denunzierter politischer Manifestationen im weltweiten Netz des Informationsaustausches, der ohne modellierte Desinformation nicht zu verstehen ist. Dazu abschließend wenige verkürzte Bemerkungen. Ausgangspunkt wäre Dissimulation von Gedächtnis. Verschiebung von Form auf ›Sinn‹, also, parallel zu Roland Barthes’ Mythostheorie des Alltäglichen: neue Mystifikation in umgekehrter Richtung. Es ergibt sich ein Gedächtnisparagone, der hier wiederum verstanden wird nicht als mediale Methodologie von Erinnerungsdarstellung oder ‑verzeichnung, sondern als in das Material selber zurückverlagerter inhaltlicher Konflikt bezüglich Gedächtnisinhalten wie konstruktiven Modellierungsformen. Es entsteht neue Unübersichtlichkeit. Eine globale These für die Reproduktion kultureller Idealitäten ist nicht möglich. Es stehen im stetigen Widerstreit parallel sich entwickelnde Formen, diverse Ordnungsmodelle: Enzyklopädien15 gegen einen dezidiert assoziativen Synkretismus und eine subjektive Hermeneutik (strukturierende Mythologie), die kaum mehr sein muss als schiere Willkür. Historisches Gedächtnis und paragonale Erinnerung setzen entfaltete Archivierung voraus. Klassisch handelt es sich um Musealisierung, also um Latenzzeit als Bedingung der Möglichkeit und Realisierung von Virtualität, die 15

Z. B. klassische französische, aber auch die von Benjamin Perets Naturgeschichte und andere surrealistische Modelle wie die »Encyclopédie da Costa«.

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als reale Virtualität vorgängig irgendwo gespeichert sein muss. Die diskursive Regulierung großer Neuformationen wie zum Beispiel die Foucaultsche Wissensanalyse in der Genealogie der Einschlussform ›Klinik‹ setzt eine Salpêtrière voraus, die 1653 für einen bestimmten, raumfüllenden und großflächig entsorgenden Zweck eingerichtet worden ist. Auch wenn sich heute Memorialpolitik vom Speichern zum Übertragen hin verlagert16, also präsentisch wird und nicht mehr historisch abgelagerte oder gespeicherte Latenzzeit reaktiviert, so ist doch eine Organisation oder ein Dispositiv der Gliederung der bezugnehmenden Sachverhalte weiterhin unabdingbar. Darin spricht sich aber keine historische Kontinuität aus. Vielmehr sind die Prinzipien der Regulierung dieser Dispositive von immer stärkeren Konflikten durchzogen, also umstritten und Gegenstand wie Medium permanenter, immer heftiger sich äußernder Konkurrenz. An der technischen Entwicklung der Übertragungsmedien und der Sicherung ihres permanenten Funktionierens wird ex negativo das Problem der stetigen Unterlegung der technischen Formatierungsbedingungen durch eine anthropozentrische Fluchtlinie ablesbar, für welche ein moralisches Memorieren einsteht. Zwar bleiben das interne Gedächtnismodell und personale, lebensgeschichtliche Selektivität unverzichtbar und plausibel, aber sie sind nicht mehr die Steuerungsgrößen des Gedächtnisparagone. Hatte schon Pierre Nora17 Gedächtnis als Enthistorisierung und Verstellung des Wahrnehmens bezeichnet – in der Doppelung von Gedächtnis vs. Geschichte; Lebendigkeit vs. Totenkult  – so verstärkt sich dieser Sachverhalt in der Geschichte der technischen Moderne erheblich. Kommunikation, Information, Zugänglichkeit hängen von Übertragungsleistungen und nicht von Speicherkapazitäten ab. Textordnungen, Bildverbindungen artikulieren sich, anders als im enzyklopädischen Modell, in welchem Elemente zunächst nur ›gespeichert‹ werden, dadurch, dass sie stetig transformiert und als sie selber aktual erst generiert, aber nicht reproduziert werden können. Wesentliche Aspekte der Formatierung  /  Normierung kollektiver, externalisierter Gedächtniskörper lösen sich von den bisherigen Mustern der Authentizität und Bezeugung ab. Autorschaft wird zu einem medialen Kampfmittel und bleibt umstritten, genauer: Sie ist immer nur existent, insofern sie stetig bestritten wird durch andere auktoriale Selbstsetzungen, bewährt sich also immer aktuell und dynamisch, nicht statisch. Trotz der drastischen Be­mühungen um sachgerechte Kontinuierung des römischen Personen- und Privatrechts, ohne welches die westliche Zivilisation schlecht vorstellbar ist, scheinen zwischendurch und keineswegs nur peripher Kapi16 17

Vgl. Wolfgang Ernst, Das Gesetz des Gedächtnisses, Berlin 2007. Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; ders. (Hg.), Les lieux de mémoire, 3 Bde, Paris, 1996.

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tulationen vor den strategischen Potentialen von Sampling, Recycling, unberechtigter Nutzung, Reproduktion und Austausch unterhalb des Urheberrechts nicht eben selten. Wie weit sie kennzeichnend sind für eine autorlose Manipulation von ästhetischem Material, wird sich erst noch zeigen müssen. Jedenfalls ist ein permanenter Paragone für die Nutzung des Digitalen kennzeichnend.18 Das Apriori des römischen Privatrechts gilt nicht mehr ungebrochen. Die ökonomischen Zwänge der Verwertung werden hier, aber auch zunehmend im Falle von publizierbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen gelockert. Keineswegs stehen jedoch Daten und Informationen uneingeschränkt, gleichförmig allen jederzeit zur Verfügung. Im Gegenteil ist Öffentlichkeitsverhinderung aus Sicherheits- und Verwertungsgründen typisch. Das markiert wiederum den Primat der Übertragung vor den Aspekten der Speicherung. Selektiv zugängliche, also, republikanisch verstanden, geschlossene Datenbanken dominieren immer dort, wo es um grundlegende Forschung geht: Arkansphären sind kennzeichnend für die Medialität des Paragone. Über­tragen gilt das auch für Gedächtnispraktiken, die konfliktuös werden, wenn sie den medialen Aspekt verdeutlichen, weil dieser Selektivität, also Nicht-Allgemeinheit des memorierenden Vorgangs bezeugt. Die technische Irrationalität der Apparatenutzungen wird, verglichen damit, kompensatorisch mystifiziert. In der Gesellschaft des Spektakels zirkulieren die Zeichen der Konsumgesellschaft vermeintlich frei, sofern sie belanglos sind, was sie ›quasi‹ von Natur aus sind. Ihnen kontrastieren Gegenöffentlichkeiten: Subversive Zuschnitte internationaler Technik-Nutzun­ gen von unten bewirken den Zerfall der einen Vernunft, den sie dadurch auch ausdrücken, dass Vernunft als Machtmodell historisch gerichtet – nämlich als partikular denunziert  – wird. Nahezu jeder Rückblick auf die Utopien des gesicherten Wissens und die Demokratisierungsintentionen der Moderne belegen, dass Prozess und Problem einer verkürzten Dialektik der Aufklärung jedoch systemisch bedingend sind und keineswegs einer polemischen Zuschreibung von außen unterworfen sind. Folgerung: Setzungen von Selektivität sind entscheidender als Ordnungen des Gesammelten im Sinne der bisherigen objektivierten Informationen. Synkretistische Beliebigkeit, in-group-Nutzung und spezielle Interessen widersprechen dem keineswegs. Eben deshalb sind Fälschung und Irreführungen arbiträr, graduell, verschleifen und verschieben sich gar ineinander. Sie hängen von jeweiliger Geltung, Empfinden, Setzungen ab, verhalten sich 18

Vgl. Hans Ulrich Reck, Der Streit der Kunstgattungen im Kontext der Entwicklung neuer Medientechnologien, in: Kunstforum International 115 (1991), S. 81–98; ders., Überlegungen zu einem visuellen Sampling, in: Ders., Eigensinn der Bilder. Bild­ theorie oder Kunstphilosophie?, München 2007, S. 165–212.

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also nicht mehr ontologisch gesättigt, sondern kasuistisch und willkürlich (launisch), was ihrem Begriffsinhalt natürlich zuwiderläuft und diesen aufzulösen droht. Es gibt kein Wissen mehr, das nicht Nicht-Wissen erforderte, dieses aber zugleich verstellt. ›Wahrheits‹-Funktionen werden politisch und hängen von Strategien ab. Veröffentlichung wird zu einer Weise der Tarnung und Täuschung, nicht nur in der Wissenschaftspolitik. Daneben macht sich ein plebejischer Dilettantismus (Bsp. Wikipedia)  in durchaus strategischer Absicht und mit vehementem Kalkül breit. Was kennzeichnend ist für Gedächtnisparagone, artikuliert sich nicht mehr in der Dynamik der lösenden Durcharbeitung, sondern verbleibt innerhalb einer permanenten Verschiebung durch parallele Gegengeschichten, Gegenmachtordnungen. Sich durchdringende Dispositive eröffnen die Koexistenz von Ungleichzeitigkeiten. Auch das Geschichtliche verschiebt sich zunehmend in das Gegenwärtige: Präsenzkult. Wenn Übertragen Speichern in signifikanter Weise dominiert (nicht genealogisch, denn: wo nichts ist, kann nichts übertragen werden), dann tritt an die Stelle der Reproduktion in Permanenz die Transformation, also eine schöpferische Leistung noch dort, wo es sich aus anderer Perspektive um eine kriegerische Entstellung, einen illegitimen Missbrauch, eine Unterwerfung handelt. Gedächtnis ohne Speicherung  – folgend der früheren ›Kunst ohne Künstler‹ – meint also: strikte rekursive Setzung der Gedächtnisfunktion innerhalb einer Gegenwärtigkeit. Es nimmt das Bekenntnis zu illegitimen Archiven und ›verfemten Nutzungen‹ zu, ebenso das zur Deregulierung, Verunreinigung, Verschmutzung und gar zum Zerfall. Ein gelingender Gedächtnisparagone  – nämlich die argumentative Bevorzugung in der Hierarchie der Ausdrucksmittel und der Ritualisierungs­ medien  – ermöglicht die eben erwähnte exemplarische Transformation von Einstellungen, durch welche die Bedingungen der Genesis von Faschismus und Totalitarismus entsprechend bewertet, verdeutlicht und im Bewusstsein gegenständlich und präsent gehalten werden können. Erst heute, in der Sphäre der internationalen Bilderkriege entfaltet das Modell des Gedächtnisparagone seine ganze, innertheoretisch keineswegs vor­ bedachte oder gar festgelegte Vehemenz und Virulenz.

Paragonale Konstellationen in Gedächtnismedien

Ursula Bittrich

Geträumte Dichtung und gedichtete Träume Zum Verhältnis von Wortkunst und bildlicher Imagination in Aelius Aristides’ »Heiligen Berichten«1

Wenn sich Dichtung auf Bildwerke bezieht, dann geht dies häufig mit medialer Selbstreflexion einher. Wirft man einen Blick zurück in die Spät­antike, und dort besonders in die Epoche der sogenannten »Zweiten Sophistik« (ca. 60–230 n. Chr.), so trifft man hier auf eine Kultur, in der dem »Logos« und der Rhetorik ein so bedeutender Platz eingeräumt wird, dass ihre höhere Darstellungskraft im Vergleich zu Werken der Bildenden Kunst kaum jemals ernstlich in Frage gestellt wird.2 Dabei ist die Literatur jener Zeit in weiten Teilen äußerst beschreibungsfreudig und dem Bildlichen in allen seinen Formen besonders zugewandt: Beliebt sind Periegese und Reise­roman; in einem rhetorisch ausgefeilten Erzählstil wird Geschautes in Worte gekleidet, oftmals durchsetzt mit literarischen Reminiszenzen und gelehrten Anspielungen, mit denen Autoren und Rezipienten sich ihrer Tradition und Bildung vergewissern. Doch trifft man auch auf Kunstbetrachtungen im en­geren Sinne: So beginnt der antike Roman »Daphnis und Chloe« des Longos mit der Beschreibung eines – höchstwahrscheinlich fiktiven – Bildes, das in nuce schon alle Elemente der späteren Erzählung enthält; im I. und III. Buch des »Leukippe und Kleitophon«-Romans von Achilleus Tatios werden zwei Gemälde mit my­thischen Szenen aus dem Leben Europas und Andromedas vorgestellt, die ebenfalls, wenn auch auf noch subtilere Weise, den künftigen Erzählverlauf in Andeutungen präfigurieren. Die zwar in die Zeit der Zweiten Sophistik fallenden, aber nicht eindeutig datierbaren »Eikones« eines älteren und eines jüngeren Philostrat sind Betrachtungen zu 65 Gemälden überwiegend mythischen Inhalts, von denen man bis heute nicht genau weiß, ob sie wirklich existiert haben. Die Frage ist letztlich auch nur von sekundärer Bedeutung, werden die Gemälde doch nicht um ihrer selbst wil­len vorgestellt, sondern dienen lediglich als Stoff, an dem die beiden Ver­fasser ihre 1

Im Zusammenhang der Entstehung dieses Aufsatzes danke ich für wertvolle Hinweise von Prof. Dr. Peter v. Möllendorff, Philippe Soulier und aus dem Kreis meiner Familie, sowie für erhellende Gespräche mit PD Dr. Christa Frateantonio. 2 Zur Rhetorik als Bildungsideal der Spätantike siehe z. B. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München 31948, S. 217.

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Gelehrsamkeit, ihren Einfallsreichtum und ihr rhetorisches Geschick demonstrieren. Ähnlich verhält es sich mit den »Imagines« des Lukian: Hier dient der Rückgriff auf einen Fundus allseits bekannter Kunstwerke – Statuen ebenso wie Gemälde – enkomiastischen Zwecken. Doch wird in diesem Konglomerat der jeweils gelungensten Details aus Kunstwerken der verschiedensten Provenienz nicht nur die Schönheit der Geliebten des Kaisers Lucius Verus, Pantheia, gepriesen, sondern auch ein exquisiter Kunstver­stand zur Schau getragen. Ein gemeinsamer Zug der angeführten Beispiele ist die Funktionalisierung von Werken der Bildenden Kunst als biegsames Material in den Händen des Wortkünstlers. Es geht hier nicht darum, einen möglichst getreuen Eindruck von Statuen und Gemälden zu vermitteln; der visuelle, oder mitunter auch nur fiktive, Kunstgegenstand wird vielmehr literarisiert und in eine Erzählung überführt. Diese rhetorischen und narrativen Verfahren las­sen sich als paragonal bezeichnen: Es handelt sich um eine ästhetische Über­bietung der Bilder in deren Ekphrasis oder Transformation ins Narrative, die sich als Überschreibungen charakterisieren lassen. Ob sich die Literatur auf ein reales Referenzbild bezieht oder ein fiktives Bild zugrunde legt, ist dabei nicht entscheidend, sondern vielmehr, dass ein Bild nicht als visuelles Gegenüber zur Sprache kommt, sondern allein als Vehikel und Bühne der Wortkunst fungiert. Von Bildwerken, deren reale Existenz durchaus nicht immer geklärt ist, ist es nur ein kleiner Schritt hin zu Traum und Vision. Auch hier fanden die beschreibungsfreudigen Autoren der Zweiten Sophistik ein willkommenes Betätigungsfeld. Das Spektrum reicht von kleinen, in Romane eingestreuten Traumerzählungen, beispielsweise bei Longos und Achilleus Tatios, über regelrechte Traumdeutungshandbücher bis hin zu ganz persönlichen Traum­ aufzeichnungen von der Art der uns hier beschäftigenden »Heiligen Berichte« des Rhetors Aelius Aristides (118–ca. 180 n. Chr.) aus Hadrianutherai in Mysien. Bevor wir uns ihnen zuwenden, sollen noch einige allgemeine Beob­ achtungen zum Traum vorangeschickt werden. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass der Traum  – und das unterscheidet ihn deutlich von den eingangs herangezogenen Werken der Bildenden Kunst  – kein simultanes sondern ein sukzessives Medium ist, was in späteren Abhandlungen zum Text-Bild-Paragone immer wieder als Alleinstellungsmerkmal der Literatur herangezogen wurde.3 Darüber hinaus, und das wird angesichts der visuellen Eindrücklichkeit von Träumen häufig übersehen, spielt das gesprochene Wort eine zentrale Rolle.4 So ist der Traum ein 3

Vgl. dazu insbesondere Joachim Jacobs Überlegungen zu Lessings »Laokoon« im vor­liegenden Band. 4 Ein frühes Zeugnis findet sich in Penelopes Traumerzählung aus der »Odyssee« (19. Buch, 544–550), in der ein Adler mit der Stimme des Odysseus zu reden anhebt.

Geträumte Dichtung und gedichtete Träume

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Zeugnis für die komplizierte Verflechtung von Wort und Bild in der Imagination auch jenseits unmittelbarer Sinneswahrnehmungen. Für die ganz per­ sönliche eigene Welt des Traumes – von der Heraklit sagt, dass jeder sich im Schlaf in sie zurückzieht5 – eine literarische Form zu entwickeln, kann erst dann zu einer Herausforderung werden, wenn man Träumen überhaupt eine Bedeutung zumisst. Da in der griechischen Antike schon seit Homer und den Tragikern das prophetische Moment als eine wesentliche Eigenschaft des Traumes galt, wurde ihm besonders in jenen Kreisen eine erhöhte Aufmerksamkeit zuteil, in denen der Glaube an göttliches Planen und die Möglichkeit der Divination kultiviert wurden. So nimmt es nicht Wunder, dass die Atomisten Leukipp und Demokrit, und in ihrer Nachfolge die Epikureer, deren Weltsicht göttliche Vorsehung und planvolle Lenkung mensch­licher Geschicke ausschließt, die Meinung vertreten, Träume seien lediglich εἴδωλα, d. h. Bilder, die, abgelöst von den sie aussendenden Gegenständen, sich den Menschen nahen, und man habe sie zu Unrecht als göttlich bezeichnet.6 Als Gegenpol zu einer solchen materialisierenden Sichtweise und damit auch als Vorläufer jener Auffassung von Träumen, die wir in den »Heiligen Berichten« des Aelius Aristides antreffen, soll der Standpunkt Platons kurz skizziert werden: Im »Philebos« 39 a–b vergleicht Platon die Seele mit einem Buch, dem ein Schreiber (γραμματεύς) und ein Maler (ζωγραφεύς) die Erinnerungen einzeichnen. Auf die Frage, wie das genau geschieht, antwortet Sokrates (Philebos 39 b): »Wenn einer vom Gesichtssinn, oder welcher Sinn es sonst sei, das damals Gemeinte und Ausgesprochene losmachend, die Bilder des Gemeinten und Gesprochenen irgendwie in sich selbst sieht.« Analog zu diesem auf audio-visueller Wahrnehmung beruhenden Mechanis­mus der Erinnerung realisiert sich auch der Traum in der Seele des Menschen. Die Welt des Schlafes ist für Platon etwas Ambivalentes: Einerseits besteht die Möglichkeit, dass, insbesondere nach kulinarischen Exzessen und übermäßigem Weingenuss, durch Ausschaltung des Verstandes das Bes­tialische im Menschen entfesselt wird und entsprechende Traumbilder entstehen; andererseits kann, wenn vor dem Schlafengehen die Begierden ganz bewusst besänftigt werden, die Isolierung des Träumers von unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung auch dazu beitragen, dass geistige Dinge und Probleme, die ihn tags5

Vgl. Hermann Diels  /  Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 3  Bde. , griech. u. dt. v. H.  Diels, 6.  Aufl. , Hildesheim 1951–52 (im Folgenden unter dem Sigel VS zitiert): Herakleitos, VS 22 B 89: ὁ Ἡράκλειτός φησι τοῖς ἐγρηγορόσιν ἕνα καὶ κοινὸν κόσμον εἶναι, τῶν δὲ κοιμωμένων ἕκαστον εἰς ἴδιον ἀποστρέφεσθαι – »Heraklit sagt, dass die Wachenden eine einzige und gemeinsame Welt haben, von den Schlafenden jedoch sich ein jeder in seine eigene Welt zurückziehe.« Übersetzungen, soweit nicht anders vermerkt, von der Verfasserin. 6 Vgl. Demokritos, VS 68 B 166; zum Konzept der Ablösung der εἴδωλα von den Wahrnehmungsgegenständen vgl. Leukippos, VS 67 A 29.

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über beschäftigten, ungestört durch äußere Einflüsse wieder aufgerollt und vielleicht sogar gelöst werden können.7 Das mantische, also zukunftsweisende Potential des Traumes ist laut einer Aussage in Platons »Timaios« eng an eine Form der Vernunftlosigkeit (ἀφροσύνη) gekoppelt, die auch für Krankheit und Wahn charakteristisch ist.8 Eine solche temporäre Ausschaltung des eigengesteuerten Denkens, die etwas ganz anderes ist als Unvernunft in einem wachen Bewusstseinszustand, macht besonders empfänglich für seherische Eingebungen und Visionen, die meist in mysteriös verschleierter Form empfangen werden. Dolmetscher der Rätsel in Wort und Bild (τῆς δι’ αἰνιγμῶν φήμης καὶ φαντάσεως ὑποκριταί) sind nicht etwa die von mantischem Wahn Ergriffenen, sondern eigens dazu bestellte Deuter.9 Das Wissen um die metaphysische Zeichensprache des Traums galt im frühen Griechenland als etwas Esoterisches, eine »nur für Eingeweihte verfügbare Gelehrsamkeit«, die, abgesehen von einigen verstreuten früheren Werken,10 erst in der Spätantike systematisch erfasst und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.11 Vollständig überliefert sind le­ diglich die im 2. Jh. n. Chr. entstandenen »Oneirokritika« des Artemidor von Daldis, ein Traumdeutungshandbuch in Gestalt einer umfangreichen Sammlung möglicher Symboldeutungen, das ausdrücklich von der Klasse der allegorischen, bildhaft verschlüsselten Träume mit prophetischem Charakter seinen Ausgang nimmt.12 Darin wird der Traum als ein visuelles Phänomen verstanden, dem der Autor sich durch die Aufspaltung in zahlreiche Einzelbilder und deren Interpretation zu nähern versucht. Zur Illustration der an­ gewandten Auslegungstechnik möge ein Beispiel aus dem III. Buch, Kap. 36 dienen: »Der senkrecht stehende Webstuhl bedeutet Bewegungen und Reisen; denn die Weberin muß hin- und hergehen. Der waagerechte Webstuhl ist ein Zeichen für dauernden Aufenthalt an einem Ort, da die Frauen an diesem Webstuhl sitzend weben. Stets ist es besser, einen Webstuhl mit einem begonnenen Gewebe zu sehen als einen, an dem das fertige Gewebe abgeschnitten werden kann; denn er gleicht dem Leben. Dement­

7

Vgl. Platon, Politeia IX 571 c–572 a. Ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert für ein solches ›Problemlösen im Schlaf‹ wäre Friedrich August von Kekulés Traumvision von der Struktur des Benzols in Form eines geschlossenen hexagonalen KohlenstoffRings; vgl. dazu Arnold H.  Modell, Imagination and the Meaningful Brain, Cambridge (Mass.) 2003, S. 27 f. 8 Vgl. Platon, Timaios 71 e. 9 Vgl. Platon, Tim. 72 a–b. 10 Eine Sammlung der einschlägigen Fragmente findet sich in: Dario del Corno, ­Graecorum de re onirocritica scriptorum reliquiae, Milano u. a. 1969. 11 Vgl. Peter-André Alt, Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002, S. 33. 12 Vgl. Artemidor, Oneirokritika I, 2.

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sprechend weissagt der Webstuhl, an dem die Arbeit eben erst begonnen wurde, ein langes Leben, einer, an dem das Gewebe herausgeschnitten werden kann, ein kurzes und einer, an dem das Gewebe bereits herausgeschnitten ist, den Tod.«13

Die Unterlegung verschiedener einzelner Bildelemente mit einem verborgenen Sinn zeigt deutliche Parallelen zu der in der Antike so beliebten hermeneutischen Technik der Allegorese, die im 1. Jh. n. Chr. im jüdisch-hellenistischen Bereich mit der Bibelauslegung des Philo Iudäus, im griechisch-paganen Schrifttum mit den Mythendeutungen des Stoikers Cornutus oder auch mit Abhandlungen wie »De Iside et Osiride« des Apollon-Priesters Plutarch ihre größte Blüte erfuhr. Im Kontext dieser für die frühe Kaiserzeit prägenden Tradition der Allegorese sind nun auch die »Heiligen Berichte« des Aelius Aristides zu verstehen.14 Diese autopathographischen Aufzeichnungen entstanden rückblickend im Winter 170 / 171 n. Chr. Aristides, dem als Sohn eines Großgrundbesitzers aus Hadrianutherai in Kleinasien unter dem gräkophilen Kaiser Hadrian vermutlich die römische Staatsbürgerschaft verliehen worden war, hatte eine umfassende Ausbildung mit dem damals üblichen Schwerpunkt auf der Rhetorik durchlaufen, als er während einer Romreise im Jahre 144 n. Chr. einen unerwarteten gesundheitlichen Zusammenbruch erlitt. Dieser war der Auftakt einer jahrzehntelang andauernden Krankheit, deren Höhen und Tiefen Aristides in den »Heiligen Berichten« nachzeichnet. Ein mindestens ebenso wichtiges Thema ist ihm dabei die Beziehung zum Gott Asklepios, die er insbesondere anhand seiner zahlreichen Schilderungen von Heilträumen dokumentiert. Damit sind die »Heiligen Berichte« ein sehr persönliches Zeugnis für eine Spezialform der praktischen Traumverwertung in der Iatromantik, der Weissagung im medizinischen Bereich.15 Ihr eigentlicher Wirkungsbereich war die Inkubation, der Tempelschlaf, zu dem sich Patienten mit schweren, auf konventionellem Weg nicht heilbaren Gebrechen in den Tempelbezirken von Heilgöttern, wie denen des Askle­pios oder Sarapis, meist in eigens dafür vorgesehenen Räumen niederlegten, um im Traum Heilanweisungen zu erhalten. Voraussetzung für den Empfang göttlicher Visionen (ὁράματα) und Orakelsprüche (χρηματισμοί), die Artemidor in seinen »­Oneirokritika«

13

Artemidor, Traumkunst. A. d. Griech. v. Friedrich S.  Krauss, neubearb., m. e. Nachw. sowie Anm. vers. v. Gerhard Löwe, Leipzig 1991, S. 202. 14 Griechische Originalzitate aus diesem Text sind entnommen aus: Bruno Keil (Hg.), Aelii Aristidis Smyrnaei quae supersunt omnia, Berlin 1958. Fortan wird bei Zitaten aus den »Heiligen Berichten« das Sigel HL (für »Hieroi Logoi«) verwendet. 15 Zur Iatromantik als Untergattung der Oneirokritik vgl. Joachim Latacz, Funktionen des Traums in der antiken Literatur, in: Therese Wagner-Simon / Gaetano Benedetti (Hg.), Traum und Träumen. Traumanalysen in Wissenschaft, Religion und Kunst, Göttingen 1984, S. 10–31, hier S. 15.

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als Randgruppe den allegorischen Träumen zuordnet,16 war eine besondere Vorbereitung durch Fasten und rituelle Reinigung. Dieser Tempelschlaf im engeren Sinne begegnet bei Aristides freilich nicht. An keiner Stelle ist von einem Abaton, einem Inkubationsraum, die Rede, und in seinen Berichten aus Pergamon heißt es, dass er sich zum Empfang von Heilträumen niederlegte, wo es sich gerade traf.17 Anhand von Traum­ visionen, die ihm während seiner Aufenthalte in Pergamon und Smyrna, aber auch in seiner Heimatstadt Hadrianutherai, auf dem mysischen Berg Milyas und an zahlreichen anderen Orten zuteilgeworden sind, schildert er seinen Umgang nicht nur mit dem Heilgott Asklepios, sondern neben diesem auch mit Göttern wie Sarapis, Apollon und Athene. Diese Durch­brechung des rituellen Rahmens gängiger Inkubationspraxis und die Allgegenwart der Traumvisionen auch im säkularen Raum tragen dazu bei, dass die virtuelle Welt der Vorstellungen in den »Heiligen Berichte« realer erscheint als das normale Tagesgeschehen. Durch seine Krankheit befindet sich Aristides in einem Zustand des Eingeschlossenseins, der Abgeschirmtheit von der Außenwelt  – ähnlich dem der Gotteshaft, wie sie zwei Jahrhunderte vorher, im Memphis der Ptolemäer-Zeit, die auf Traumanweisung des Sarapis über Wochen oder sogar Monate im Serapeum festgehaltenen enkatochoi kennzeichnete.18 »Diese eben beschriebenen und unzählige andere Übel hatten, glaube ich, die Folge, dass ich in Wolle und andere Hüllen eingewickelt war, dass alles zugeschlossen und ich völlig abgesperrt war, so dass der Tag in Nacht versank, die Nächte dagegen anstatt der Tage schlaflos blieben.« (HL II, 58)19

Es ist diese Verkehrung der Tag- und Nachtwelten, die eine erhöhte Em­ pfänglichkeit für Visionen mit sich bringt. Seine nächtlichen Offenbarungen schildert Aristides allerdings nicht in Form einer akribischen, chronologisch linearen Dokumentation. Wer solches erwartet, den verweist er in einer pa­ radoxen Wendung auf ein Konvolut von ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen20 – paradox deshalb, weil er wenig vorher behauptet hat, dass eben jene Aufzeichnungen im Zuge von Übergriffen auf sein Landgut Laneion in ein heilloses Durcheinander geraten seien. So beschränke er sich also auf 16

Vgl. Artemidor, Oneirokr. I, 2. Vgl. Aristides, HL II, 80. 18 Vgl. dazu Reinhold Merkelbach, Zur Enkatoche im Serapeum zu Memphis, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 103 (1994), S. 293–296. 19 Wo nicht anders gekennzeichnet, sind die deutschen Zitate aus den »Heiligen Berichten« folgender Übersetzung entnommen: Heinrich Otto Schröder, Publius ­Aelius Aristides. Heilige Berichte, Heidelberg 1986. Das kursiv Gesetzte ist eine Abweichung der Verfasserin. . 20 Vgl. Aristides, HL II, 89. 17

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die Wiedergabe der »Haupttatsachen« und überlasse sich beim Erzählen der Führung des Gottes.21 Mit diesem geschickt eingesetzten Topos verschafft sich Aristides Freiraum für seinen literarischen Gestaltungswillen bei der strukturierenden Bändigung einer Fülle von Begebenheiten und Visionen. Man hat ihm seine »Sprunghaftigkeit der Darstellung« und »das assoziative Verbinden ähnlicher Erscheinungen unbekümmert um deren zeitlichen Ablauf« vorgeworfen,22 doch ist dieses Vorgehen nichts anderes als ein Abbild des Assoziativ-Schweifenden des Traumes selbst. Ein Beispiel aus dem I. Buch zeigt eine ganze Reihe solcher gedanklicher Verknüpfungen: Nach seinen Aufzeichnungen über den Zustand seines Unterleibs (HL I, 61–68) fühlt sich Aristides an eine Geschwulst am Schenkel viele Jahre früher erinnert. Damals wurde durch einen Doppeltraum ihm selbst und zugleich seinem Erzieher Zosimos ein Heilmittel offenbart. Das Stichwort Zosimos lässt ihn von einer viermonatigen Lebensverlängerung berichten, die er von Asklepios für den geliebten Erzieher erwirken konnte. Ein Aufschub der Todesfrist wurde auf seine Fürsprache hin auch seiner Amme Philumene zuteil. Das erzähle­rische Vorgehen scheint hier den Bilderfluss des Traums zu imitieren, wobei freilich die Erfahrung einer wirren und willkürlichen Abfolge flüchtiger visu­eller Eindrücke, wie der Traum sie nicht selten vermittelt, durch die bewusste Rückbindung des Assoziativen an bestimmte Stichwörter erheblich abgemildert wird. Wir werden noch sehen, dass es im Umgang mit Bildlichem die Strukturierung und Sinngebung durch Sprache ist, die Aristides entweder selbst vollzieht oder als Rezipientenleistung von seinen Lesern erwartet. Um einen differenzierteren Einblick in die Faktur der »Heiligen Berichte« zu gewähren, sollen einige Formen des Wechselspiels von Bildlichem und Rhetorischem bzw. Narrativem anhand von Schilderungen einzelner Traumvisionen exem­ plarisch vorgestellt werden.

I. Visuelle und rhetorische Traumelemente In Aristides’ Traumdarstellungen spielt das gesprochene Wort eine zentrale Rolle. Visuelles mischt sich mit verbalen Inspirationen, und wenn er von Träumen erzählt, in denen ihm Götter erschienen seien, die ihm wortwörtlich Hymnenanfänge eingegeben hätten, so muss das auf dem Hintergrund der Tradition des göttlich inspirierten Dichters verstanden werden, in die er sich Vgl. Aristides, HL II, 4: κεφάλαια λέγειν, […] ὅπως ἂν ὁ θεὸς ἄγῃ τε καὶ κινῇ – »die wichtigsten Dinge schildern […] so wie der Gott führt und bewegt.« Gemeint ist hier wohl der Gott Asklepios. 22 Vgl. Schröder, Aristides. Heilige Berichte, S. 13. 21

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auch nachdrücklich selbst hineinstellt. Die Bemerkung nämlich, beim Wagenfahren in rauschhafter Stimmung Hymnen auf die Götter verfasst zu haben,23 ist für das kundige Ohr eine unüberhörbare Anspielung auf den beliebten, schon bei Parmenides breit ausgeführten Topos vom Musen­wagen, den der schaffende Dichter besteigt.24 Die Vorstellung, das Gefäß eines Gottes zu sein, stellt den Wortkünstler in eine Reihe mit jenen von Schlaf, Krankheit und Wahn Übermannten der oben besprochenen Platon-Passage. Wenn Träume bei Herder »die ersten Musen, die Mütter der eigentlichen Fiction und Dichtkunst« genannt werden,25 so wird damit ein Verwandtschaftsverhältnis klar formuliert, das auch schon bei Aristides im Raum steht. Wie wichtig der Inspirationsgedanke für das Selbstverständnis unseres Rhetors war, zeigt eine Episode aus Pergamon: Nachdem er dort, vielleicht bei den Festspielen zu Ehren des Asklepios,26 einige Chöre hat auftreten lassen, scheint im Traum die Aufforderung an ihn zu ergehen, als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber dem Gott einen silbernen Dreifuß als Votivgabe darzubringen. Da der Dreifuß traditionell als Siegespreis in allen Arten von Agonen, auch musischen Wettkämpfen diente,27 stellt Aristides sich mit die­ser Traumerzählung im unmittelbaren Anschluss an die Schilderung eines realen, der Wachwelt zuzuordnenden musikalischen Auftritts in einem Akt geschickter Selbstinszenierung als preisgekrönten Choregen dar. Das ago­nale Moment wird noch dadurch verstärkt, dass er sich im weitern Verlauf des Traumes in einem selbstverfassten Weiheepigramm ausdrücklich auch als Kampfrichter bezeichnet. Das entsprechende Distichon lautet: »Der zugleich Dichter und Kampfrichter war und Führer des Reigens, weihte, o Herr, Dir dies Denkmal der Stiftung des Chors.« (HL IV, 45)28

Diesen Zweizeiler, dem ursprünglich noch ein weiteres Distichon mit seinem Namen und einer Huldigung an den Gott folgte, glaubt Aristides, immer im 23

Vgl. Aristides, HL IV, 4; 41. Vgl. Parmenides, VS 28 B 1; vgl. auch Pindar, Isthmien 2, 2 f.: Οἱ μὲν πάλαι, ὦ Θρασύβουλε, / φῶτες, οἳ χρυσαμπύκων / ἐς δίφρον Μοισᾶν ἔβαι- / νον κλυτᾷ φόρμιγγι συναντόμενοι,  /  ῥίμφα παιδείους ἐτόξευον μελιγάρυας ὕμνους  – »Männer, Thrasybulos, von vordem, die der Musen Wagen, der goldreiftragenden, bestiegen, die klangvoll tönende Harfe im Arm«; ferner Pindar, Olympien 9, 81; Pythien 10, 64; Isthmien 8, 62. 25 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Bernhard Suphan (Hg.), Herders Sämmtliche Werke, 13. Bd., Berlin 1887, S. 308 (8. Buch, 5. Kap.). 26 Vgl. Charles Allison Behr, Aelius Aristides and The Sacred Tales, Amsterdam 1968, S. 59. 27 Vgl. z. B. Bakchylides, Epinikien 3, 17. 28 Übersetzung von der Verfasserin. 24

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Traum verbleibend, in einer durch den Gott selbst korrigierten Fassung noch einmal zu empfangen: Οὐκ ἀφανὴς Ἕλλησιν Ἀριστείδης ἀνέθηκεν μύθων ἀενάων κύδιμος ἡνίοχος. – »Keinem Hellenen fremd, Aristides hat mich gestiftet ewig strömenden Worts Wagenlenker voll Ruhm.« (HL IV, 45)

Ganz bewusst legt Aristides hier das Musenwagen-Motiv durch das neu ein­ fließende Wort ἡνίοχος  – ›Wagenlenker‹  – dem Gott selbst in den Mund, um so seine Selbstinszenierung als inspirierten Dichter gleichsam trans­ zendental beglaubigen zu lassen. Die Korrektur des eigenen Distichons zeigt dabei deutlich, dass Aristides sich als Medium des Gottes verstanden wissen will. Wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, was in Platons »Timaios« über die dunkle Rätselhaftigkeit mantischen Redens gesagt wird,29 so impliziert Aristides mit der Rückbindung seines dichterischen Schaffens an die Tradition der Mantik zugleich eine grundsätzliche Deutungsbedürftigkeit seiner Berichte und einen potentiellen Hintersinn einzelner Traumdetails. Dass in den nächtlichen Visionen des Aristides das gesprochene Wort das Bildliche mitunter sogar aus dem Feld schlägt, zeigt ein Beispiel aus dem I. Buch, 36–39: Im Traum erscheinen ihm die Doppelkaiser Marc Aurel und Lucius Verus, dazu der Partherkönig Vologaeses III., die anscheinend gerade einen Friedensvertrag geschlossen haben.30 Sie unterhalten sich in griechischer Sprache und kommen auf ihn zu, wobei die Kaiser zu seinen beiden Seiten Platz nehmen, der Parther dagegen ihm die Hand zum Gruß reicht und ihn um eine Vorlesung bittet. Es folgen allerlei wörtliche Eingebungen für einen Prolog, der angeblich – so Aristides – als Ganzes offenbart wurde, nur seien ihm nicht alle Einzelheiten im Gedächtnis geblieben. Ein Ausdruck unverhohlener Herrscherpanegyrik ist ein Abschnitt aus dem nur stückweise wiedergegebenen Prolog, in dem vom »Anschauen göttlicher Erscheinungen« mit klarem Bezug auf die kaiserlichen divi fratres die Rede ist. »Dann fuhr ich etwa folgendermaßen fort [mit dem Prolog; Anm. d. Verf.]: ›Wäre ich nicht geübt im Anschauen göttlicher Erscheinungen, so hätte ich schwerlich auch nur einen Augenblick aushalten können. So wunderbar scheint er [einer der beiden Kaiser, wohl Lucius Verus; Anm. d. Verf.] mir zu sein und überwältigend für einen mensch­ lichen Zuschauer‹. Ich sprach von göttlichen Erscheinungen und wollte damit hauptsächlich auf Asklepios und Sarapis hinweisen.« (HL I, 38) 29 30

Vgl. Anm. 9 dieses Beitrags. Angesichts des tatsächlichen Friedensschlusses von 166 n. Chr. kann man wohl annehmen, dass Aristides hier ein vaticinium ex eventu eingeflochten hat.

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Aristides geht hier sogar so weit, einen ausdrücklichen Verweis auf die beiden Heilgötter Asklepios und Sarapis einzuflechten, von denen es an anderer Stelle heißt, dass sie einander »irgendwie ähnlich« seien, und verstärkt über dieses Textsignal den Bezug zu dem kaiserlichen Brüderpaar.31 Im weiteren Verlauf des Traumes sollen die beiden Kaiser nach Belieben eine Rede aus dem Vorrat von Manuskripten in einer Truhe auswählen. Die Situ­ation ist derjenigen der Entstehung der »Hieroi Logoi« in ihrer Gesamtheit vergleichbar: Auch hier entspringt die Tätigkeit des Aristides einem Auftrag, der von außen an ihn herangetragen wird; in diesem Zusammenhang vom Gott selbst.32 Ist der Gegenstand des geträumten Prologs das Lob des kaiserlichen Brüderpaars, so verstehen sich die »Berichte« im Ganzen als ein Preis auf Asklepios und Sarapis (wobei, wie bei den beiden Antoninen, der eine eher im Schatten des anderen steht); und dem Traumdetail der den Kaisern überlassenen Wahl aus der Truhe lässt sich im Großen der Gestus vergleichen, mit dem Aristides sich selbst bei seiner Berichterstattung der Führung des Gottes anheimstellt.33 Man könnte also hier von einer mise en abyme sprechen, in­sofern als die für die »Hieroi Logoi« als Ganzes in Anspruch genommene Fiktion einer göttlichen Führung des Erzählverlaufs im Traumdetail des kaiserlichen ›Griffs in die Truhe‹ noch einmal emblematisch und im Kleinen sichtbar nach außen tritt. Mit Blick auf das Text-Bild-Verhältnis kann es dem Leser dieses Berichtes nicht entgehen, dass die Wiedergabe sowohl von Bruchstücken des geträumten Prologs als auch von Überlegungen zum Aufbau der geplanten Rede einen wesentlich größeren Raum einnehmen als die Beschreibung der bildhaften Elemente des Traumes.

II. Explizite Bildallegeorese und implizite Textallegorese Ganz im Sinne der oben skizzierten Gattungstradition der Traumdeutung werden einzelne, aus ihrem Kontext isolierte Bildelemente als Heilanweisungen ausgelegt, wobei die Traumberichte, denen sie entnommen sind, in einer nicht explizierten Schicht eine sehr viel umfassendere, auf den seelischen Zu31

Vgl. Aristides, HL III, 46: »Auch Sarapis erschien in derselben Nacht, er selbst und Asklepios miteinander. Sie waren wunderbar in ihrer Schönheit und einander irgendwie ähnlich.« Eine explizite Parallelisierung der Doppelkaiser Marc Aurel und Lucius Verus mit den Heilgöttern Asklepios und Sarapis findet sich in der Fest­rede in Kyzikos; vgl. Keil (Hg.), Aelii Aristidis Smyrnaei quae supersunt omnia, oratio XXVII, 39. 32 Vgl. Aristides, HL II, 2: »Ich darf jedoch soviel sagen, daß gleich von Anfang an mir der Gott die Weisung gab, die Träume aufzuschreiben.« 33 Vgl. Anm. 21 dieses Beitrags.

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stand, das religiöse Fortschreiten oder die rednerische Fähigkeit des Aristides ausgedehnte Bedeutung haben. Ein Beispiel dafür ist ein Traum aus dem I. Buch der »Heiligen Berichte« (HL I, 22), der sich auf dem Hintergrund der ›Warmen Quellen‹ unweit von Smyrna abspielt: Aristides ist umgeben von dubiosen Personen mit Dolchen, die – da selbst von einem Gerichtsverfahren bedroht – um seine Hilfe bitten, aber alles andere als vertrauenswürdig scheinen. Er flieht vor ihnen in einem langen überwölbten Gang, in dem er einen Angriff befürchtet. Als er herauskommt, befindet er sich auf dem Marktplatz von Smyrna, nimmt selbst eine Fackel in die Hand und tritt einer großen Menge von Fackeln tragenden Bürgern der Stadt gegenüber, die einen Vers aus Euripides’ »Phoenissen« singen: »Helios, mit flinken Rossen den Lichtbogen beschreibend.«34 Es ist die Zeit des Sonnenaufgangs. Aristides erzählt (im Traum verbleibend) die Vision seinem Mitinkubanten Quadratus, der ihm sagt: »Tu so!« und dabei die Fackel hochhält. Aristides deutet das Detail der erhobenen Fackel, wohl im Hinblick auf den Feuer-Wasser-Kontrast, als Enthaltung vom Bad und beschränkt sich damit auf das rein Somatische. Die Traumerzählung als Ganzes bietet allerdings eine sehr viel umfassendere, auf das Spirituelle zielende Deutungsmöglichkeit, die allein implizit besteht und sich auf der Ebene der Rezeption erschließen lässt: Der Weg vom Dunkel hin zum Licht – durch Fackeln, Euripides-Vers und Aufgang der Sonne gleich dreifach bezeugt  – lässt un­ weigerlich an den Vorgang der Initiation in einen Mysterienkult denken, was sich anhand von Einzelbeobachtungen noch eindringlicher zeigen lässt. Der lange überwölbte Gang mit den bedrohlichen Gestalten ist der Situation vor der Weihe vergleichbar. Das hier gebrauchte griechische Wort ψαλίς, das neben »Gewölbe« auch »Schere« bedeutet,35 bezeichnet ein beid­ seitiges Eingeschlossensein und erinnert, mit seinem ausdrücklichen Zusatz πάνυ μακράν (»sehr lang«), an ein ähnlich weit ausgedehntes unterirdisches Gewölbe, von dem es in Platons »Nomoi« (947 d) heißt, es solle als Gruft für das Priestergeschlecht der Euthynen angelegt werden. Damit klingt also schon das Element des Durchgangs durch einen todesähnlichen Zustand als typischer Bestandteil einer Mysterienweihe an. Im Zusammenhang mit der Vorstellung des Wandelns unter der Erde soll auch ein eindrückliches Detail aus Platons »Politeia« (X, 615 a) nicht unerwähnt bleiben, in dem davon die Rede ist, dass die ungerechten Seelen nach dem Tod zu ihrer Reinigung eine tausendjährige unterirdische Wanderung absolvieren müssen, bevor sie wieder eingekörpert werde. Das Verbum δεῖσαι, mit dem Aristides seine Übersetzung von der Verfasserin. Vgl. Euripides, Phoenissen 3: Ἥλιε θοαῖς ἵπποισιν εἱλίσσων φλόγα. 35 Vgl. Henry George Liddell  / Robert Scott  /  Henry Stuart Jones, A Greek-English Lexicon, Oxford 1968, S. 2017: »s.v. ψαλίς I: a pair of scissors; II: vault, crypt.« 34

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Angst bei der Flucht durch den Tunnel bezeichnet, gehört zu den Kernausdrücken einer Mysterienterminologie, die schon Platon im »Phaidros« zur Beschreibung mystischer Erfahrungen verwendet.36 Schauder (φρίκη) und Ängste (δείματα) sind Grundempfindungen von Initianden, die auch in anderen einschlägigen Texten immer wieder begegnen. In einem Fragment aus Plutarchs Schrift »Über die Seele«, in der er den Tod mit einer Mysterienweihe vergleicht, sind es »Schauder, Zittern, Schweiß und Staunen«, die dem Ende bzw. der Initiation unmittelbar vorausgehen.37 Wodurch sie hervorgerufen wurden, ist nicht genau geklärt. Es mag die unmittelbare und zunächst erschreckende Begegnung mit dem Göttlichen gewesen sein; doch weiß man auch von einer Verängstigung der Initianden, die gut zu dem Detail der Dolche tragenden Verfolger in Aristides’ Traum passen würde.38 Ein weiteres wesentliches Element des Einweihungszeremoniells war die Verhüllung des Initianden vor der Schau. So ist zum Beispiel auf der »Lovatelli-Urne«, einer der Nachbildungen eines verlorenen Relief-Frieses aus Eleusis, der Myste Herakles vor seiner Weihe verhüllt auf einem Schemel sitzend dargestellt.39 Entsprechend dieser Bedeckung vor der eigentlichen Weihe geht es Aristides darum, den ihn verfolgenden verdächtigen Gestalten sein Misstrauen zu verbergen, während die Ankunft auf dem Marktplatz von Smyrna mit dem Wunsch des Zeigens verbunden ist. »Als ich nun einmal umzingelt war, befand ich mich in größter Verlegenheit, da ich den Leuten nicht traute und doch mein Mißtrauen nicht zeigen (ἐνδείξασθαι) wollte.«

Es folgt die Flucht durch den überwölbten Gang. »Als ich nun voll Freude glücklich hindurchgekommen war, schien es mir, als stehe ich in Smyrna auf dem Marktplatz der Stadt und sinne auf ein Mittel, möglichst rasch eine große Menschenmenge zusammenzubringen, der ich das Geschehen [eigentlich: das Seiende; Anm. d. Verf.] zeigen könnte (ἐνδειξαίμην τὸ ὄν).« (HL I, 22)

Das in der prima facie-Traumerzählung zur Kennzeichnung ganz schlichter Sachverhalte gleich doppelt in Anspruch genommene Verbum des Zeigens weist über sich hinaus auf einen typischen Bestandteil der Einweihungs­ Vgl. Platon, Phaidros 251 a 4: δείματα. Vgl. Plutarch, Frg. Über die Seele, in: August Meineke (Hg.), Ioannis Stobaei Florilegium, Bd. 4, Leipzig 1857, S. 107 (fälschlich unter Themistios’ Namen überliefert): […] εἶτα πρὸ τοῦ τέλους αὐτοῦ τὰ δεινὰ πάντα, φρίκη καὶ τρόμος καὶ ἱδρὼς καὶ θάμβος. 38 Vgl. Scholium zu Aristophanes, Wespen 1361: τοὺς γὰρ μέλλοντας μυεῖσθαι προλαβόντες δεδίττονται  – »Die künftigen Initianden nehmen sie sich vor und schüchtern sie ein«. Vgl. dazu Christoph Riedweg, Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Berlin u. a. 1987, S. 65. 39 Vgl. Walter Burkert, Antike Mysterien. Funktion und Gehalt, München 1990, Abb. 3. 36 37

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zeremonie: Auf dem Höhepunkt mystischer Offenbarung wurden den Initianden die sogenannten Deiknymena (»die gezeigten Dinge«) vorgeführt. Dieser Vorgang lag in den Händen des obersten Priesters, des Hierophanten, der seinen Namen vom Zeigen (φαίνειν) der heiligen Dinge (ἱερά) hatte.40 Fackeln, die Aristides im weiteren Verlauf des Traumes sowohl in seinen eigenen als auch in den Händen der ihn erwartenden Bürgern von Smyrna zu sehen glaubt, tragen die Konnotation des Kultisch-Sakralen und kommen in Mysterienfeiern aller Art zur Anwendung. Zu den eleusinischen Mysterien gehörte die Überführung eines Iakchos-Bildnisses aus dem Iakcheion in Athen nach Eleusis in einer nächtlichen Prozession bei Fackellicht,41 und es gab das prestigeträchtige Amt des Daduchen  – »Fackelträgers«  –, das in Eleusis in der Hand der Keryken lag – einer Sippe, die ihren Ursprung auf Hermes zurückführte.42 In Apuleius’ »Metamorphosen« wird der Myste Lucius am Morgen nach seiner Einweihung mit einer brennenden Fackel in seiner Rechten der Isisstatue gegenüber auf einem Podest platziert.43 Aber auch der Sonnenaufgang, ein weiteres Detail aus Aristides’ Traum, verweist auf Kultisches: So schildert das vierte Gedicht aus den »Mimiamben« des Herondas, betitelt »Die opfernden Frauen im Asklepiostempel«, die im Mor­ gengrauen begonnene Wallfahrt zweier einfacher Frauen aus Kos nach dem Heiligtum des Asklepios, dem sie als Dank für Heilung von Krankheit einen Hahn darbringen wollen. Als sie ankommen, wird es Tag, die Tür des Tempels öffnet sich, der Vorhang geht auf. Die enge Verbindung des Asklepios mit der Sonne zeigt seine Abkunft von Phoibos Apollon und, nach dem Zeugnis des Isyllos aus Epidauros, mütterlicherseits von Aigle, »der Glänzenden«.44 Auch führt der Weg der Initiation vom Dunkeln ins Helle; und die Epoptie, die höchste mystische Schau, ist immer von Licht begleitet.45 Anhand all dieser Einzelheiten konnte also der erste Eindruck eines Initiationstraumes bestätigt werden: Aristides beschreibt hier die religiöse 40

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Vgl. Theodor Hopfner, Art.  »Mysterien«, in: Georg Wissowa u. a. (Hg.), Paulys Realency­clopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd.  16.2, Stuttgart 1935, Sp. 1209–1350, hier Sp. 1231. Vgl. Thassilo von Scheffer, Hellenische Mysterien und Orakel, Stuttgart 1948, S. 51; vgl. auch den Chor der Mysten in Aristophanes, Frösche 340–352. Vgl. Aelius Aristides XXII (Eleusinsche Rede), 4: Εὐμολπίδαι δὲ καὶ Κήρυκες, εἰς Ποσειδῶ τε καὶ Ἑρμῆν ἀναφέροντες, ἱεροφάντας, οἱ δὲ δᾳδούχους παρείχοντο – »Die Eumolpiden und Keryken, die ihren Ursprung auf Poseidon bzw. Hermes zurückführten, stellten die Hierophanten und Daduchen«. Vgl. Apuleius, Metamorphosen XI, 24: »At manu dextera gerebam flammis adultam facem.« Vgl. Inscriptiones Graecae IV2, 1, Nr. 128, iii, 32–iv, 56. Vgl. Plutarch, Frg. Über die Seele: ἐκ δὲ τούτου φῶς τι θαυμάσιον ἀπήντησε – »Daraufhin begegnete ein wunderbares Licht«.

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Erfahrung einer Einweihung in Mysterien durch den geschickten Einsatz einschlägiger Terminologie. Was er damit erreicht, ist eines der Hauptziele allegorischer Redeweise: Uneingeweihte bleiben unangesprochen und nur der Kenner kann den eigentlichen Sinn des Gesagten erfassen.46 Wer die Traumerzählung nicht hinterfragt, wird sich, wenn auch vielleicht etwas befremdet, mit der Deutung des Traumdetails von der erhobenen Fackel als Anweisung für die Enthaltung vom Baden zufriedengeben, doch entgeht ihm bei dieser Beschränkung auf das Körperliche etwas Entscheidendes: die psychosomatische Relevanz der von Aristides empfangenen Heilträume. Zwar ist Gesundheit für ihn ein hohes Gut und die Grundlage für alles andere, doch wird ihm das Wirken des Gottes Asklepios, wie er an anderer Stelle explizit sagt, auch zu einem Ansporn für Fortschritte im seelischen und intellektuellen Bereich: »Denn es wäre ungereimt, wenn ich selbst und ein anderer die Arznei beschreiben wollte, die er für den Körper, sogar für zu Hause, verordnet hat, jene (Maßnahmen) da­ gegen, die zugleich meinen Körper aufrichteten, meine Seele stärkten und meine rednerische Kraft« (HL V, 36).

Für das psychosomatische Wirken des Gottes, dessen körperlicher Aspekt anhand eines isolierten Bildelements sinnfällig erklärt wird, wobei die umfassendere seelisch-geistige Tragweite der Traumerzählung vom Rezipienten selbst erschlossen werden muss, soll noch ein weiteres Beispiel angeführt werden: In HL I, 42–45 sieht Aristides im Traum den Dichter Metrodoros, wie er vor seinem Auftritt bei einem Dichterwettstreit in Smyrna Lauchblätter und ein Ei mit Brot verspeist, wobei er einen Teil des Eies übrig lässt.47 Die unvollendete Handlung wirkt wie ein Aufruf an den Träumer, selbst fortzufahren, an der Schnittstelle einzugreifen und Halbfertiges abzuschließen. In einer Unterhaltung mit dem Dichter kommt die Rede auf das Heiligtum von Pergamon und seinen Brunnen, der in einem Trikolon mit sich verkürzenden Gliedern gepriesen wird: […] οἷον μέν τι εἴη αὐτὸν προσελθόντα πιεῖν, οἷον δὲ ἕτερον πίνοντα ἰδεῖν, οἷον δὲ αὐτὸ ἰδεῖν – »wie herrlich es sei, selber an ihn heranzutreten und zu trinken, wie herrlich auch, einen anderen trinken zu sehen, wie herrlich endlich sein bloßer Anblick«.

Es muss wohl als eine absichtliche Anknüpfung gesehen werden, wenn ihm die Amme wenig später im Traum gerade mit drei Eiern in der Hand er46

Jean Pépin, Mythe et Allégorie. Les origines grecques et les contestations judéochré­tiennes, Paris 1976, S. 180: »Ce privilège de dissimuler la vérité aux indignes pour ne la livrer qu’ à ceux qui y ont droit, a été de tout temps tenu pour le bénéfice le plus précieux de l’allégorie«. 47 Vgl. Aristides, HL I, 42: μέρος τι τοῦ ᾠοῦ ἐγκαταλιπεῖν.

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scheint.48 Das Wiederaufgreifen des Ei-Motivs in einer Dreizahl in Entsprechung zum Trikolon zeigt auf figurative Weise, wie Aristides den Dichter Metrodoros in dem Wettstreit, von dem ja die Rede war, im wahrsten Sinne des Wortes übertrifft. Ebenso wie im ersten Beispiel beschränkt sich Aristides’ eigene Deutung auch hier auf zwei isolierte Bildelemente, von denen eines das Verspeisen von Ei und Lauch ist, und wieder ist es nur der körperliche Bezug, den er explizit herstellt: »›Denn‹, sagte ich, ›der Gott gab mir heute die Weisung, ein Ei und Gemüse zu essen‹« (HL I, 45). Die Bestätigung seiner rednerischen Fähigkeiten durch den Gang der Traumerzählung erschließt sich nur dem aufmerksamen Leser, und auch ihm erst auf den zweiten Blick.

III. Intertextuelle Signale in den Traumerzählungen Dass Aelius Aristides als Rhetor und typischer Vertreter der Zweiten Sophistik fest auf dem Grund literarischer Traditionen steht, zeigen die intertextuellen Markierungen innerhalb nicht weniger Traumerzählungen. Für die Bezeichnung einzelner Bildelemente benutzt Aristides Signalwörter, die auf bekannte literarische Texte verweisen und durch diese Stilisierung einen Amplifikationsprozess einleiten. Ein Beispiel dafür ist der oben schon erwähnte »überwölbte Gang« (ψαλίς) des Initiationstraumes, der möglicherweise auf das unterirdische Grabgewölbe für das Priestergeschlecht der Euthynen bei Platon verweist und damit das Bild um die Komponente des Gruftähnlichen erweitert.49 Ein ähnliches Vorgehen begegnet in einer Traumerzählung, wo es Aristides scheint, als treibe er allein auf einem Floß im ägyptischen Meer (HL III, 3). In seiner Not sieht er seinen Erzieher Zosimos mit einem Pferd an Land. Irgendwie gelangt er zu ihm und nimmt mit Freuden das Pferd in Empfang. Das Signalwort ›Floß‹ (σχεδίη) erinnert an jene Episode aus »Odyssee« (V, 282–457), wo Odysseus mit dem Floß von der Insel der Kalypso aufbricht, durch die Stürme des zürnenden Poseidon in Seenot gerät und von Athene vor dem sicheren Tod errettet wird. Mit ihrer und der Göttin Ino Leukotheas Hilfe gelangt er ans Land der Phäaken. Ein weiteres ter­tium comparationis ist das Pferd; und was bei Homer ein Vergleich war – das Reiten des schiffbrüchigen Odysseus auf einer Planke wie auf einem Pferd50  – tritt in der Traumerzählung des Aristides als unmittelbares Bildele­ment auf: 48

Der Bezug wird zusätzlich nahegelegt durch die anaphorische Wiederaufnahme des οἷον in den Worten der Amme (HL I, 45): οἷα δὴ τὰ ἀπὸ ἀγροικίας – »Wie eben die Dinge vom Lande sind«. 49 Vgl. S. 123 dieses Beitrags. 50 Vgl. Homer, Od. V, 371.

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Er wird von Zosimos mit einem Pferd erwartet. Für Aristides ist das Pferd der Inbegriff autonomer Beweglichkeit, und das Bild des Reitens bedeutet für ihn, im Vollbesitz seiner Kräfte zu sein;51 der Sturz vom Pferd steht dagegen für Einsamkeit und Verlust der Antriebskräfte.52 Die Brücke, die zur »Odyssee« geschlagen wird, trägt auch hier wieder zu einer Ampli­f ikation bei: Wenn es dort Athene ist, die Odysseus und auch Telemach immer wieder Mut einflößt,53 so gewinnt Zosimos durch die implizite Parallelisierung mit der Göttin noch stärker konturierte Züge eines wohlwollenden Mentors. Er ist die tonangebende Gestalt für das ganze III. Buch, das durch ein ständiges Schwanken des Erzählers zwischen Euphorie und Depression gekennzeichnet ist. Zu Beginn dieses wechselvollen Buches tritt Zosimos als Retter auf, während am Ende die Trauer des Aristides um seinen verstorbenen Erzieher beinahe maßlose Züge annimmt. Als drittes Beispiel für die Verwendung literarisch befrachteter Signal­ wörter soll der Doppeltraum in HL II, 29–37 herangezogen werden. In dieser Vision, die zugleich Aristides und Philadelphos, einem der Tempelwärter des Asklepios-Heiligtums von Pergamon, zuteil wurde, befindet sich Aristides in einer Menge von weißgekleideten Personen – nach der Version des Philadelphos im Theater, nach seiner eigenen in der Vorhalle des Asklepios-Heiligtums von Pergamon – und hält einen Vortrag darüber, wie oft der Gott seinen Lebenslosen schon eine entscheidende Wendung gegeben habe. In seiner eigenen Version nennt er den Gott μοιρονόμος (»Loszuteiler«), und streicht dies ausdrücklich als eine Bezeichnung heraus, zu der ihn seine eigene Erfahrung veranlasst habe. Die prima facie-Situation ist recht banal: Aristides befindet sich, wie schon so oft tatsächlich geschehen, als Vortragender inmitten einer Gruppe von weißgekleideten Asklepios-Adep­ten.54 Man ist also versucht, den Traum lediglich als eine Wiederholung von realen Geschehnissen aus der Welt des Wachens zu betrachten. Mit einem intertextuellen Signal verweist Aristides aber auch hier – freilich nur für den Kenner ersichtlich – auf ein bekanntes Stück Literatur: den Mythos des Er (Ἤρ) aus dem zehnten 51

In Aristides, HL III, 5 ist das Besteigen eines Pferdes gegenüber der misstrauischen Umwelt ein Beweis für noch vorhandene Körperkräfte, und in der vom Opisthotonos geprägten Nacht, die Aristides selbst als den »Höhepunkt« seiner Krankheit bezeichnet, ist das Traumbild des Pferdes ein Symbol für Rettung und Entkommen aus großer Not; vgl. HL III, 20. 52 Vgl. HL III, 2. 53 Vgl. z. B. Homer, Od. I, 320 f.; III, 76 f. 54 Die Kommentatoren verweisen auf ein Gedicht von Isyllos von Epidauros in Emma J. Edelstein / Ludwig Edelstein, Asclepius: Collection and Interpretation of the Testimonies, Bd. 1, Baltimore 1945, test. 296, 19, wo es von Teilnehmern an einer Prozession zu Ehren von Apollon und Asklepios heißt, sie seien gekleidet εἵμασιν ἐν λευκοῖσι.

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Buch von Platons »Politeia«. In dieser von Sokrates referierten eschatologischen Vision eines Wiedergängers, des pamphylischen Kriegers Er, wird mit deutlichen pythagoreischen Anklängen das Schicksal der vom Körper gelösten Seelen beschrieben. Das in jeder der beiden Traumerzählungen des Aristides begegnende Signalwort λευχείμονες  – ganz bewusst wurde hier das seltene Kompositum gewählt – ist ein wörtliches Anknüpfen an die »weißgekleideten« Schicksalsgöttinnen Lachesis, Klotho und Atropos, die in der Vision des Er auf Sesseln rings um die Spindel der Notwendigkeit gruppiert sitzen.55 Ein weiterer Bedeutungsträger innerhalb der Traumerzählung bei Aristides ist das oben schon erwähnte Wort μοιρονόμος (»Loszuteiler«); denn auch bei Platon geht es um die Lebenslose, allerdings nicht um ihre Zuteilung, sondern um selbständige Wahl, und so heißt es dann auch in der Rede der Lachesis (Politeia 617 e): αἰτία ἑλομένου, θεὸς ἀναίτιος – »Die Schuld liegt beim Wählenden, der Gott ist schuldlos.« Die bewusste Umkehrung bei Aristides ist programmatisch für seine Selbststilisierung zu einem Aus­ erwählten, der sich ganz und gar der Führung des Asklepios überantwortet hat; eines Gottes, der seinen Lebenslosen immer wieder eine wunderbare Wendung gegeben hat. Zusammenfassend und im Rückblick auf die vorgestellten Beispiele ist noch einmal festzuhalten, dass Aristides die antike Tradition von Traumbericht und Traumdeutung, die stark vom Visuellen dominiert ist, auf komplexe Weise in ein rhetorisches, narratives und intertextuelles Phänomen transformiert. Dabei wird der Traumbericht als Erinnerungsmedium stark überformt, weil mit den vermeintlichen Traumbildern immer auch eine reiche literarische Tradition verschiedener Textgattungen miterinnert wird. Durch die Einbettung der individuellen Traumerinnerung in das kulturelle Gedächtnis der Literatur wird zudem die Selbstpositionierung des Dichters in dieser Tradition stabilisiert.56 Die »Heiligen Berichte« sind eben nicht eine nach Tagen geordnete An­ einanderreihung von Traumschilderungen, die eine getreue Vorstellung des Geschauten vermitteln wollen, sondern das Werk eines sinnstiftenden, strukturierenden, gestaltenden Rhetors und Erzählers. Träume werden gebündelt, kontextualisiert und (um-)geformt. Dabei hat das Bildliche keinen wirklich eigenen Bestand, ja in einigen Fällen, wie beim ›Zwei Kaiser-Traum‹, tritt der visuelle Eindruck neben verbalen Eingebungen sogar ganz in den Hintergrund. 55 56

Vgl. Platon, Politeia X, 617 c. Zur Intertextualität als Erinnerungsform am Beispiel von ausgewählter Literatur der russischen Moderne vgl. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextua­ lität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990.

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Ebenso wenig wie bei der eingangs vorgestellten, an Werken der Malerei und Skulptur sich orientierenden beschreibenden Literatur wird hier Bildliches um seiner selbst willen dargestellt, sondern immer in einen rhetorischen oder narrativen Zusammenhang eingebunden. Dabei tut der intendierte Doppelsinn allegorischen Schreibens ein Übriges: Die einzelnen Bildelemente eines Traumes weisen über sich hinaus und erfahren durch Kontextualisierung und das Rückbinden an literarische Traditionen in ihrer Bedeutung eine reiche Amplifikation; nur in Einzelfällen wird ein punktuell aus dem Zusammenhang herausgelöstes Traumdetail gradlinig und unzweideutig als Heil­ anweisung verstanden. Bildliches ist also ein biegsames Material in den Händen des Wortkünstlers und zumal des Allegorikers. Einen expliziten Wettstreit zwischen Wort und Bild findet man in den »Heiligen Berichten« nicht. Sehr wohl aber ist das Thema des Agon in unterschiedlichen Varianten präsent, wobei dies immer auf die selbstbewusste Einschreibung des Dichters und Rhetors in das kulturelle Gedächtnis zielt. Dabei wird auch das mediale Konkurrenzverhältnis im Sinne eines Mediendifferenzbewusstseins auf der impliziten Ebene verhandelt. In diesem Sinne schließt Aristides seine »Heiligen Berichte« mit einem klaren Bekenntnis zugunsten des Wortes: »›Denn auch von uns‹, sagte ich, ›ist das Wertvollste das, was wir sagen. Statuen und Kultbilder sind Erinnerungen an die leibliche Erscheinung, Bücher dagegen an die (gehaltenen) Reden.‹« (HL V, 63)

Silke Tammen

Vom Haften der Erinnerung Gedanken zu paragonalen Konstellationen der Gedächtnismedien im Mittelalter

Wann ist ein Gedächtnisparagone im Mittelalter und damit vor einer zumindest schriftlich explizit gemachten und paragonefreudigen Kunsttheorie überhaupt denkbar? Was wären Anlässe, Austragungsorte und Medien für einen solchen Wettstreit? Orte der Medienvielfalt und damit auch potentiell paragonaler Erinnerungskonstellationen sind der Kirchenraum, in dem die Messe zur Erinnerung an den Opfertod Christi gehalten, in dem aber auch der Heiligen, verdienstvoller Stifter und der Toten gedacht wird. Die dort anzutreffende Medienvielfalt scheint allerdings eher auf ein vielstimmiges Miteinanderwirken angelegt zu sein als auf Reibungen.1 Für einen Gedächtnisparagone müssten sich jedenfalls mindestens zwei Medien so nahe kommen, dass es zur Reibung kommt oder das eine in Abwesenheit des anderen über jenes ›sprechen‹ könnte. Meiner Einschätzung nach sind solche Gelegenheiten von mittelalterlichen Künstlern oder Auftraggebern jedoch selten gesucht worden; die Zusammenarbeit unterschiedlicher Medien ist die Regel. Vielleicht wissen wir aber in dieser Beziehung noch nicht genug über die Wahrnehmungen der mittelalterlichen Zeitgenossen, was nicht nur im Hinblick auf den Kirchenraum, sondern auch für alle jene höfischen und städtischen Räume gilt, die permanent oder zeitweilig, etwa im Rahmen eines Fe­stes oder einer diplomatischen Begegnung im Zeichen des Erinnerns stan­den und in denen zu diesem Zweck Bildmedien zum Einsatz kamen. So lässt sich nur darüber spekulieren, ob nicht etwa die Betrachter des »Teppichs von Bayeux« dessen gestickte Chronik der Eroberung Englands mit den zeitgleich entstandenen schriftlichen Berichten auch im Hinblick auf deren jeweils spezifischen ›Stoff‹ hin, auf den textus der Erinnerung und seine jeweilige Leistung

1

Vgl. Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mit­telalter, München 1995, S. 95–127 (Kap. III: »Einschulung des Adels im Kirchenraum« über den Kirchenraum als die fünf Sinne ansprechenden Raum); Christof L. Diedrichs, Wahrnehmung des mittelalterlichen Kirchenraums, in: Christina Lechtermann / Carsten Morsch (Hg.), Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten, Bern 2004, S. 267–284.

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verglichen haben.2 Der Verdacht, dass das lange Mittelalter eine wenig gedächtnisparagonefreudige oder ‑bewusste Epoche war, könnte durch die Annahme gestützt werden, dass die geistlichen Sinnes- und Bildtheorien wenig streitbar und an medialen Feindifferenzierungen interessiert erscheinen und daher vielleicht wenig konkrete Anreize zur Sichtbar­mach­ung eines solchen medialen Paragone anboten: Schrift  /  Wort und Bild erschienen manchem Theoretiker gleichwertig, wenn es um die Vergegenwärtigungsleistung ging; dem Bild wurde aber auch ein höheres Affektpotential zugestanden, was es als leistungsfähiger im Hinblick auf die Einprägung von zu Erinnerndem in der memoria erscheinen ließ. Stellvertretend für die Gleichberechtigung von Wort und Bild sei der Geistliche Richart de Fornival zitiert: »Und daß man zu dem Haus des Gedächtnisses sowohl durch das Bild als auch durch Wort gelangt, ist deshalb offensichtlich, weil das Gedächtnis, das über die Schätze wacht, die der Menschensinn aufgrund der Qualität seines Geistes erwirbt, das, was vergangen ist, vergegenwärtigt. Und zu eben diesem Resultat gelangt man durch Bild und Wort. Denn wenn man eine Geschichte gemalt sieht – die von Troje oder eine andere –, so sieht man die Heldentaten, die einst geschahen, so, als wären sie gegenwärtig. Und ebenso verhält es sich mit dem Wort. Denn wenn man einen Roman lesen hört, hört man die Abenteuer, als wenn man sie vor sich sähe.«3

Für Fornival und seine Zeitgenossen konnotierte Wort auch Schrift, da Tex­ te häufig laut gelesen oder zumindest gemurmelt wurden. Wort bzw. Schrift konnte aber nicht nur mit dem Gehör, sondern selbstverständlich auch mit dem Gesichtssinn verbunden werden, bedenkt man die ausgeprägte Bildlich­ keit vieler mittelalterlicher Textgestaltungen. Der vielzitierte Richart de Fornival wollte sich nicht auf einen Paragone zwischen dem – in anderen Kontexten – durchaus als akuter und nobler angenommenen Sehsinn (Bild) und dem stärker mit dem vertrauensvollen Glauben assoziierten Hörsinn (Wort, Schrift) einlassen.4 Diesen Sinnes- und Medienparagone gab es gleichwohl in 2

Die Menge an Publikationen zum »Teppich von Bayeux« ist kaum mehr zu überschauen; an intermedialen Dimensionen interessiert zeigen sich z. B. Gale OwenCrocker, Telling  a tale: narrative techniques in the Bayeux tapestry and the Old English Epic Beowulf, in: Dies. (Hg.), Medieval Art, recent Perspectives, Manchester 1998, S. 6–39 und Werner Telesko, Probleme der hochmittelalterlichen Ekphrasis am Beispiel des Teppichs von Bayeux, in: Christine Ratkowitsch (Hg.), Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit, Wien 2006, S. 43–54. 3 Célestin Hippeau (Hg.), Richart de Fornival, Le bestiaire d’amour: suivi de la réponse de la dame, Genf 1969, S. 4 f.; Übersetzung nach Wenzel, Hören und Sehen, S. 328. 4 Vgl. Donat de Chapeaurouge, ›Das Auge ist ein Herr, das Ohr ein Knecht‹. Der Weg von der mittelalterlichen zur abstrakten Malerei, Wiesbaden 1983.

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einem anderen Kontext, nämlich innerhalb der Diskussionen um den Stellenwert des Bildes in einer sich auf den offenbarten logos berufenden christlichen Kultur. In diesem Diskursfeld wurde dem Bild gegenüber der Schrift ein deutlicher gedächtnispsychologischer Vorsprung zugestanden. Unter topischer Berufung auf einen Brief Papst Gregors d. Gr. an Bischof Serenus von Marseille wurde darauf insistiert, dass Bilder – Gregor be­zog sich wohl auf Wandmalereien  – eine nicht zu übertreffende Wirkung auf das Gedächtnis und das Gefühlsleben hätten.5 Stellvertretend für zahllose Autoren sei Thomas von Aquin zitiert: »Aus dreierlei Gründen wurden nämlich Bilder in der Kirche eingerichtet: Erstens zur Instruktion der Ungebildeten, die durch sie [die Bilder] quasi wie durch Bücher unterrichtet werden. Zweitens damit das Mysterium der Inkarnation und die Vorbilder der Heiligen besser in Erinnerung gehalten werden, wenn sie täglich vor Augen gehalten werden. Drittens um das Gefühl [affectum] wachzurufen, der durch Gesehenes wirk­ samer hervorgerufen wird als durch Gehörtes.«6

Noch deutlicher wird Bischof Durandus von Mende: »Anscheinend wird die Seele mehr durch das Bild als durch die Schrift bewegt. Durch das Bild wird ein historisches Geschehen vor die Augen gestellt, als ob es im gegenwärtigen Augenblick geschehe, aber durch die Schrift wird das historische Geschehen gleichsam durch das Gehör, das die Seele weniger bewegt, in Erinnerung gebracht. Daran liegt es, daß wir in der Kirche den Büchern nicht so viel Aufmerksamkeit erweisen wie den Darstellungen/Skulpturen [imaginibus] und den Bildern [picturis; Malereien, S. T.].«7

5

Zum topischen Nachleben des ›Gregorbriefs‹ vgl. Celia Chazelle, Memory, Instruc­ tion, Worship: Gregory’s Influence on Early Medieval Doctrines of the Artistic Image, in: John C. Cavadini (Hg.), Gregory the Great: a Symposium, Notre Dame 1996, S. 181–215; Lawrence G. Duggan, Was art really the book of the illiterate? in: Word & Image 5 (1989), S. 227–251; Pavel Kalina, ›Cordium penetrativa‹. An Essay on Iconoclasm and Image Worship around the Year 1400, in: Umĕní 43 (1995), S. 247–257, hier S. 248 zu dem 1395 entstandenen Traktat eines anonymen Theologen, vielleicht eines Prager Augustiners, der ausführlich die über die Augen das Herz verwundende, Liebe und Mitleid gegenüber den Heiligen stimulierende Kraft des Bildes behandelt. 6 Thomas von Aquin, Commentarium super libros sententiarum. Commentum in librum III, dist. 9, art. 2, qu. 2; zit. nach David Freedberg, The Hidden God. Image and Interdiction in the Netherlands in the Sixteenth Century, in: Art history 5 (1982), S. 133–153, hier S. 149. 7 Guillaume Durand, Rationale divinorum officiorum (Corpus christianorum continuatio mediaevalis 140), Turnhout 1998; zit. nach Wenzel, Hören und Sehen, S.  298. Vgl. auch Kirstin Faupel-Drevs, Vom rechten Gebrauch der Bilder im liturgischen Raum: mittelalterliche Funktionsbestimmungen bildender Kunst im Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende (1230/1–1296), Leiden 2000.

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In einem apologetisch gestimmten Diskursfeld, in dem Bilder ganz allgemein immer wieder aufs Neue verteidigt, in ihrer Wirkmacht beschworen und zugleich sorgsam eingeschränkt werden mussten, wurde nicht nur die realiter überaus verbreitete Zusammenarbeit von Bild und Schrift8 mit Schweigen übergangen, sondern es gab auch kein Interesse an medialen Feindifferenzierungen etwa zwischen gemalten und skulpierten Bildern, Glasfenstern oder Reliquiaren im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit als Erinnerungsträger. Idealiter waren es jedwede sakrale ›Bilder‹, die der Erinnerung aufhelfen und die Seele bewegen, genauer: den affectus devotionis auslö­sen sollten.9 Außerdem wurden angesichts des bevorzugt behandelten Konkurrenzpaares Sehen und Hören die sogenannten niederen Sinne, insbeson­dere der Tastsinn nicht thematisiert. Seine Bedeutung in der Praxis bezeugen Gestaltung und Gebrauch kleinformatiger, für die private Andacht geschaffener Bildmedien: Syn­ästhetische Wahrnehmungsangebote machen etwa devotionale Schmucksstücke wie ein perlmutterner Anhänger mit einer Darstellung der Veronika aus dem späten 15. Jahrhundert (Abb. 1). Verspricht das Bildmotiv eine Vorabschau der visio Dei und appelliert das schimmernde, transluzide, die Bildbetrachtung je nach Lichteinfall in hellen Schimmer auflösende Material vordergründig an den Sehsinn, so hat sein Besitzer den Anhänger auch betastet oder geküsst und damit das Bild immer weiter abgerieben.10 Einer Silberplakette mit dem Bild des Schmerzensmannes und den arma Christi aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Abb. 2) ist eine kostbare Muskatnuss angehängt, die vor Krankheit schützen sollte und würzig roch.11 Gestatten wir uns die Spekulation, ein mittelalterliche Theologe hätte sich zu einem Kommentar über ein solches Schmuckstück hinreißen lassen, dann hätte er möglicherweise diagnostiziert, dass das Bild des Schmerzensmannes 8

Neben den vielfältigen Initialgestaltungen ist hier vor allem an diagrammatische Ikono­texte zu denken, die explizit zur Aufnahme von Schrift entworfen wurden, wie die bekannten Merkhände, die verschiedenste Informationen etwa zu Tonarten oder ganze Beichtmeditationen tragen. Zu derartigen Bildsystemen vgl. Mary Carruthers /  Jan M. Ziolkowski (Hg.), The Medieval Craft of Memory. An Anthology of Texts and Pictures, Philadelphia 2002. 9 Affectus meint schon bei Augustinus, Cassian und Gregor die liebende Bewegung der Seele zum höchsten Gut hin, bei dem auch in dieser Hinsicht einflussreichen Bernhard von Clairvaux sind mit affectus Liebe, Freude, Furcht und Trauer als Orte religiöser Erfahrung konnotiert; im Spätmittelalter kommt das Begriffspaar affectus devotionis auf; vgl. Klaus Schreiner, Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes?, in: Ders. (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter, Oldenbourg 1992, S. 1–78, hier S. 45. 10 Vgl. Frank M. Kammel (Hg.), Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. Katalog der Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2000, S. 296, Nr. 120. 11 Vgl. ebd. , S. 298, Nr. 123.

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Abb. 1: Anhänger mit Veronika und vera ikon, Ende 15. Jh., Germanisches National­ museum Nürnberg, Perlmutter in Silberfassung, H (o. Öse) 3,1 cm, B 2,9 cm

Abb. 2: Silberplakette mit Schmerzensmann inmitten der arma, angehängte Mus­ katnuss, 2. Hälfte 15. Jh. (?), Germanisches National­museum Nürnberg, Silber, getrieben, Dm 3,8 cm, L 10,2 cm

und der auf die Passionsstationen zeichenhaft verweisenden Leidenswerkzeuge – idealiter begleitet durch ein Gebet – den affectus devotionis auslösen könne. Dies geschehe, indem die imago pietatis durch die Pforten der Augen trete. Begleitet von haptischen und olfaktorischen Reizen und dem Klang der Gebetsworte gelange sie ins Hirn, wo die imaginatio gereizt werde und die zusammenwirkenden Eindrücke besonders nachdrücklich in der Hirn­

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kammer der Memoria gespeichert würden. Eingespeichertes Bild des Schmerzensmannes und der arma träfen auf ein dort bereits verankertes Wissen um das biblische Passionsgeschehen und würden jenes nun emotional und bildhaft gesteigert abrufbar machen, vor die ›Augen des Herzens‹ treten lassen und mit jedem Mal der Betrachtung stärker einprägen. Jener affectus devotionis – Gefühle der Liebe, aber auch des Schmerzes, der Reue und Zerknirschung –, den mittelalterliche Autoren eben leichter vom Bild als vom Wort ausgelöst sahen, siedelt gleichsam als Motor an der Schnittstelle zwischen äußeren, künstlerisch erzeugten und den inneren, von der imaginatio hervorgebrachten Bildern. Er kann durch Bilderfahrungen ausgelöst werden und dieselben seinerseits bis zur Ekstase (über‑)steigern; er stimuliert sowohl memoria als auch imaginatio, die Thomasin von Zerclaere in seiner verbreiteten höfischen Lehrschrift »Der Welsche Gast« (1215) als Schwestern darstellte  – imaginatio als sinnliche Kraft, die der Erinnerung vorausgeht und ihr auch nachträglich bei der Reaktivierung von gespeicherten impressiones beispringt. Nach Aleida Assmanns Leseweise werden hier »unterschiedliche Aspekte des Gedächtnisses verkörpert«, imaginatio sei dabei der beweglichere Part, während memoria als »pure Speicherungskraft«12 gedacht sei. Gerade der durch die Techniken des Gebets, der Meditation und der Bildbetrachtung stimulierte Vorgang der Rückholung, das vor die geistigen Augen Stellen der Erinnerungsbilder, interessierte die Theologen, hing doch von dieser Vorstellungs- und Erinnerungs­fähigkeit das Gelingen der heilsstiftenden Passionsmemoria ab. Einen vom logos ausgehenden, quasi inkarnatorischen Vorgang der inneren Ausmalung beschreibt der Franziskaner Ugo Panciera: Der Meditierende solle in seinem Inneren stadienweise derartig lebendige Bilder heraufbeschwören, dass sie mit den körperlichen Sinnen erfahrbar werden. Wenn der Geist anfange, über Christus nachzudenken, erscheine dieser der Imagination zuerst in geschriebener Form. Dann erscheine er als Umriss, dann als Umriss mit Schattierung, dann mit Farben und Fleischtönen getönt, schließlich im Fleisch und vollrund.13 Bemerkenswert ist hier zweierlei: eine deutliche Rückbindung des Christusbildes an die Linien der Schrift und ein Verzicht auf einen materiellen Bildreferenten in der Meditationspraxis bei gleich­zeitiger Nutzung des Malereivokabulars. Eine solche 12

Heinrich Rückert (Hg.), Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, Berlin 1965; zit. nach Aleida Assmann, Erinnerungsräume, München 1999, S.  103 und Wenzel, Hören und Sehen, S. 326 f. 13 Vgl. Ugo Panciera, Trattato della perfezione della mentale azione; zit. nach Chiara Frugoni, Female Mystics, Visions, and Iconography, in: Daniel Bornstein / ­Roberto Rusconi (Hg.), Women and Religion in Medieval and Renaissance Italy, Chicago 1996, S. 130–164, hier S. 130 unter Verweis auf Arrigo Levasti, I mistici del ’200 e del ’300, Milano 1960, S. 273.

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routinierte Verlegung medialer Erfahrungen in das Seeleninnere erscheint nur denkbar in einer Kultur, die der imaginatio bei Bedarf doch auch äußere Seherfahrungen anzu­bieten hatte, wie etwa die zu jener Zeit verbreiteten bemalten Tafelkreuze, deren Christusfiguren innerhalb einer hauchdünnen und zugleich messerscharfen Konturlinie einen in feinen Schichten gemalten Körper aus­stellen – eine Kultur, die überdies bereit war, den Malakt als abgeleiteten Schöpfungsakt, als künstlerisches Fleischgeben (incarnare)  zu verstehen.14 Wann aber, um auf die eingangs gestellte Frage nach Paragone-Gelegen­ heiten zurückzukommen, konnte es angesichts eher topischer Bild- und Ge­ dächtnistheorien einerseits und einer selbstverständlichen intermedialen Praxis des Bildermachens und der Meditation andererseits, wovon zumindest Panciera zeugt, zum paragonalen Ausnahmefall kommen? Es liegt nahe, dort zu suchen, wo die Passionsmemoria und der christliche innere Bilderhaushalt gefragt sind.15 Im Folgenden sei ein solcher Fall in Gestalt eines blutigen Buchs vorgestellt, das in seiner Konkretheit und irritierendem Neben- und Aufeinander von Blutfarbe, gedruckten und in das Buch geklebten Bildern und Schrift bei Panciera vermutlich Befremden ausgelöst hätte. Die Rede ist von einem kleinen, noch unedierten Codex (Brit. Libr., Ms. Egerton 1821), der Ende des 15. Jahrhunderts in England entstand. Aufgrund der Präsenz eines Kartäusermönches in einem der Holzschnitte und der ausgeprägten Passionsthematik vermutete schon Campbell Dodgson die Anfertigung des Büchleins in einem Kartäuserkloster, vielleicht in der Londoner Kartause, wahrscheinlicher noch in der von Sheen, Domus Jesu de Bethlehem, in der eine besondere Devotion zu den Fünf Wunden Christi gepflegt wurde.16 Ob Ms. Egerton 1821 dort geschaffen wurde, ob es von einem Mönch individuell

14

Vgl. Christiane Kruse, Fleisch werden  – Fleisch malen. Malerei als ›incarnazione‹. Medi­ale Verfahren des Bildwerdens im Libro dell’Arte von Cennino Cennini, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63 (2000), S. 306–325; dies., Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums, München 2003, S. 175–224 (Kap. 4: »Fleisch werden und Bild Werden«); Skepsis gegenüber der religiösen Codierung von incarnazione bei Ann-Sophie Lehmann, In the Flesh. Jan van Eyck’s Adam and Eve Pa­nels and the Making of the Northern Nude, Zwolle 2007 (vgl. Daniela Bohde / Mechthild Fend, Inkarnat – eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Weder Haut noch Fleisch: das Inkarnat in der Kunstgeschichte, Berlin 2007, S. 9–19, hier S. 17). Verallgemeinerungen führen in dieser Frage nicht weiter, der Kontext entscheidet über derartige Kodierungen. 15 Vgl. Peter Parshall, The Art of Memory and the Passion, in: Art Bulletin 81 (1999), S. 456–472. 16 Vgl. James Hogg, Les chartreuses anglaises: Maisons et bibliothèques, in: Alain Girard / Daniel Le Blévec (Hg.), Les Chartreux et l’art du XIVe-XVIIIe siècle, Paris 1989, S. 207–230, hier S. 227.

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zur Andacht genutzt wurde, ob es für eine dem Orden nahestehende Birgittin aus dem der Kartause von Sheen benachbarten Kloster Syon oder für einen lateinkundigen Laien oder eine Laiin aus dem geistigen Umfeld der Kartäuser gedacht war, ist nicht zu entscheiden. Die Pergamentseiten des Codex messen ca. 12,5 cm in der Höhe und 8,9 cm in der Breite und weisen damit ein auch für Stundenbücher typisches Format auf. Die Textteile bestehen hauptsächlich aus einem Psalter und einem Rosenkranz, der kurze Meditationen über das Leben Christi von seiner Kindheit bis zu seinem Erwachsenenalter und eine ausführliche Beschreibung der Passion enthält. Auf das Büchlein machte David Areford aufmerksam, der es als ein ungewöhnliches Beispiel für die individuelle Aneignung von Holzschnitten in der Übergangsphase vom handschriftlichen zum gedruckten Buch vorgestellt hat.17 Schlägt der Leser das Büchlein auf, so wird er mit einem düsteren, ›bildlosen‹ und doch suggestiven Anblick konfrontiert (Abb. 3): Fols. 1r–2r sind schwarz (teils stark abgerieben)18 und mit einzelnen roten Tropfen bemalt, die Blut assoziieren lassen. In Purpur oder Schwarz eingefärbte Pergamente wurden in Spätmittelalter und Renaissance selten eingesetzt, weil sie das Per­gament brüchig machen. Es haben sich wenige, wohl unter dem Eindruck des am Burgunderhof als Modefarbe eingeführten Schwarz eingefärbte Gebetbücher wie das »Schwarze Stundenbuch« (New York, Pierpont Morgan Library, M. 493) aus dem 15.  Jahrhundert erhalten, auf die mit weißer oder silbriger Farbe geschrieben wurde. Dem kartäusischen Schöpfer unseres Büchleins, dessen Seiten erst nachträglich geschwärzt und nicht im Tauchbad gefärbt wurden, ging es bei der Entscheidung für das Schwarz nicht um einen modischen Gestus, sondern um einen Bruch mit Betrachtererwartungen: Anstelle eines verständlichen Frontispizbildes und einleitender Worte steht dem Betrachter geheimnisvolle Dunkelheit vor Augen. 17

David Areford, Kat. Nr.  49 in Peter Parshall  /  Rainer Schoch (Hg.), Die Anfänge der euro­päischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Ausst.-Katalog National Gallery of Art und Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg 2005, S.  185–187. Arefords Beobachtungen dienen mir, die ich das Buch noch nicht habe inspizieren können, als Grundlage für weiterführende Fragen im Sinne der Memoria- und Paragonethematik. Ein die hier angestellten Überlegungen erweiternder Aufsatz wird 2009 in Barbara Schellewald  /  Katharina Krause (Hg.), Bild und Text  – Text und Bild im Mittelalter, Köln 2009 erscheinen. 18 John Lowden hat die Handschrift in einem die thematische Bandbreite mittelalterlicher Handschriften spielerisch entfaltenden Vortrag »Treasures known and unkown in the British Library« (British Library Conference Centre, 2007) unter der Thematik des »Küssens von Bildern« erwähnt, ist sich aber nicht sicher, ob dies der Grund für den abgenutzten Zustand der Seite ist. Vgl. www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/TourKnownA.asp).

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Abb. 3: Brit. Libr. , Ms. Egerton 1821, fols. 1v–2r (schwarze Doppelseite), Ende 15. Jh. , Holzschnitt auf Pergament, ca. 12,5 × 8,9 cm

Zu welchen Assoziationen mag diese rezeptionsästhetisch als Leerstelle zu de­f inierende Fläche angeregt haben? Auf den ersten Blick erinnerte sie mich heutige Betrachterin an die marmi finti, die Fra Angelico unter der »Madonna der Schatten« im Dormitoriumsgang des Dominikanerklosters von San Marco in Florenz malte und die Georges Didi-Huberman im Sinne einer pseudo-dionysischen Theologie der Unähnlichkeit Gottes und als Projek­ tionsflächen für ein spirituelles Sehen deutete.19 Doch während Fra Angelico bun­ten, durch weiße Farbhöhungen zum Changieren gebrachten Stein sugge­ riert, erscheinen hier über Schwärze gleitende rote Tropfenformen wie Funken vor einen Nachthimmel. Vor dem Hintergrund des Folgenden werden diese Funken als Blut zu deuten sein. Ob auch dem schwarzen Grund eine Bedeutung zugewiesen werden kann, oder ob er nur als effektvoller Kontrast für die Tropfen gedacht war, wird zu fragen sein. So viel zunächst: Der das Buch betrachtende Kartäuser – sicherlich vertraut mit der Metapher des Buches als Spiegel – dachte vielleicht angesichts der schwarzen Fläche auch an den »dunklen Spiegel« des Pauluswortes, in dem Gottes Präsenz nicht ge­ sehen, sondern nur geahnt und imaginiert werden kann. Eine Grunderfahrung der sogenannten negativen Theologie besteht ja gerade darin, dass sich in Dunkelheit Erleuchtung einstellen kann und Gottesbegegnung in der Unähnlichkeit der Formen ermöglicht wird. Auf einer weniger theologischen Ebene bleibt die Irritation über angenommene Funken oder Blutstropfen auf einem angenommenen Spiegel: Erstere werfen die Frage nach ihrer Quelle auf. 19

Vgl. Georges Didi-Huberman, Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration, München 1995.

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Abb. 4: Brit. Libr. , Ms. Egerton 1821, fol. 2 (Maria mit Kind), Ende 15. Jh. , Holzschnitt auf Pergament, ca. 12,5 × 8,9 cm

Reißt sich der Betrachter vorläufig von dem Anblick des schwarzen Diptychons auf fols. 1v–2r los und blättert um, gerät er in lesbarere Gefilde (Abb. 4): Auf fol. 2v wurde ein Holzschnitt mit einer das Christkind stillenden Ma­ donna geklebt. Der einfache Druck ist auf drei Seiten von einem handgeschriebenen lateinischen Text umgeben, der links unten anhebt, in die Senkrechte steigt, horizontal nach rechts über dem Bild weiter läuft und den Le­ser anweist: »Wer Christus preisen und die Jungfrau Maria ehren will, soll das Herz erheben, den Rosenkranz aufsagen und verbreiten.«20 Nach dieser visuell aufwendigen Vorbereitungsphase, die den Betrachter von weitgehend bildloser Farbigkeit, über ein bekanntes Bild und eine ebenso einfache Anweisung zum gesprochenen Gebet leitet, wird er sich mit »erhobenem Herzen« tiefer in das Buch begeben.21 Dieses Aufrufen des andächtigen, zu Gott erhobenen Herzens bedeutet, dass sich der Betrachter auf einen Dialog einzu20

Qui Christum vult laudare, Mariamque Virginem honorare / Debet sursum cor levare, rosarium hoc dicere et divulgare. 21 Das Erheben des Herzens (sursum corda)  hat seinen Ort in der Messliturgie: Der Zelebrant erhebt die Hände, um damit das biblische Erheben des Herzens zu Gott zu demonstrieren.

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richten hat,22 der in diesem Kontext im Zeichen der Erinnerung, genauer: von recordatio (Beherzigung) der Passion Christi steht. Diese Seite also mit dem Marienbild und der handschriftlich eingetragenen Gebetsaufforderung steht der Beginn eines Textes namens »Die fünf Lilien der Jungfrau« (fols. 3r–5r) gegenüber: Dort werden fünf von Maria dargebotene Lilien be­nannt, auf denen verschiedene Erinnerungsaufforderungen geschrieben ste­hen. Die erste Lilie fordert: »Erinnere Dich des unschuldigsten Todes Christi«,23 womit die Möglichkeit eines Rückbezug zur blutenden Schwärze der ersten Seite gegeben sein könnte. Auf diesen bildlosen und zugleich ein ein­faches Memorierbild aufrufenden und damit die inneren Augen öffnenden Text folgen ab fol. 6r acht karmesinrote, in mehreren Farbschichten bemalte und mit zahl­ losen tropfenden Wunden regelmäßig überzogene Seiten (Abb. 5). Diese Blutfläche wird nicht durch einen äußeren Rahmen begrenzt, sondern erscheint wie ein nahsichtiger Ausschnitt von etwas Größerem. In die­sem Kontext drängt sich die Vermutung auf, dass die gepeinigte Haut Christi gemeint ist. Die letzten drei dieser blutenden Seiten sind mit zeitgenössi­schen, pas­ sionsikonographisch konventionell erscheinenden Einblattholz­schnitten beklebt: ein von arma und Passionszeichen umrahmter Schmer­zensmann auf fol. 8v, gegenüber steht ein »Fünfwundenbild« (Abb. 6), auf fol. 9v (Abb. 7) dann ein Kartäuser vor stehendem Schmerzensmann.24 Warum die vorausgehenden fünf Seiten leer blieben, ist unklar, vielleicht sollten ursprünglich mehr Passionsholzschnitte eingeklebt werden. Die Devotion zur imago pietatis und den arma Christi verband sich im Spätmittelalter u. a. aufgrund einer Vision Gregors d. Gr. und einer in S. ­Croce in Rom hochverehrten Mosaikikone mit Ablässen. So verspricht denn auch der englische Text unterhalb des Schmerzensmannes: »All denen, die andächtig fünf Pater Noster, fünf Ave Marien und ein Glaubensbekenntnis vor einer solchen Gestalt (figure)  beten, werden 32.755 Jahre Vergebung gewährt.« (Ein späterer, vielleicht protestantischer Besitzer, wie Areford vermutet, hat das anstößige Versprechen des Ablasses durchgestrichen.25) Das gegenüber22

Eine solche Situation führt der Laie vor, der in der Miniatur zum Artikel »Cor« in der englischen Enzyklopädie »Omne bonum« (vor 1375) sein großes Herz dem etwa genauso hohen Bild des Gekreuzigten auf einem Altar wie eine Opfergabe entgegenhält. London, Brit. Libr. MSS Royal 6 E VI–6 E VII, hier 6 E VI, fol. 425v ; vgl. Lucy Freeman Sandler, Omne Bonum. A 14th-Century Encyclopedia of Universal Knowledge, 2 Bde. , London 1996. 23 Memorare innocentissime mortis Christi. 24 Nach Areford, Kat. Nr. 49, S. 185 handele es sich um das »seltene Beispiel früher englischer Druckgraphik«. 25 »To all those who devoutly say five Pater Nosters, five Aves, and  a Creed before such  a figure are granted 32,755 years of pardon.« Nach Areford, Kat. Nr.  49, S. 186.

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Abb. 5: Brit. Libr. , Ms. Egerton 1821, fols. 6v–7r (blutige Doppelseite), Ende 15. Jh. , Holzschnitt auf Pergament, ca. 12,5 × 8,9 cm

Abb. 6: Brit. Libr. , Ms. Egerton 1821, fols. 8v-9r (Imago pietatis und fünf Wunden Christi), Ende 15. Jh. , Holzschnitt auf Pergament, ca. 12,5 × 8,9 cm

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Abb. 7: Brit. Libr. , Ms. Egerton 1821, fol. 9v (stehender Schmerzensmann mit Kartäusermönch), Ende 15. Jh. , Holzschnitt auf Pergament, ca. 12,5 × 8,9 cm

liegende Blatt zeigt die wichtigsten arma (Kreuz, Nägel und Speer) und Wunden in einem drastischen close-up um das für den ganzen Leib Christi stehende Herz gruppiert – die Quelle allen auf Buch und Bilder verteilten Blutes. Der dritte Holzschnitt nimmt demgegenüber eine wieder dis­tanzierende Außen­perspektive ein und zeigt einen förmlich bluttriefenden Schmerzensmann im Dialog mit einem knienden Kartäuser: Der Mönch bittet um Erlösung, worauf Christus antwortet: »Sohn, fliehe [deine Leidenschaften], überwinde, schweige, sei ruhig.«26 Die Unterschrift dann in Englisch: »Der größte Trost in aller Versuchung ist das Gedenken (remembrance) der Pas­ sion Christi.«27 Nach Lowdens Beschreibung des Manuskripts folgt auf das außergewöhnliche Proömium eine Sammlung devotionaler Schriften (u. a. zwei Anleitungen den Rosenkranz zu beten, eine Heiligenlitanei und ein dreiteiliger Rosenkranz mit kurzen Meditationsanweisungen zu Stationen des Leben Christi), 26

Mönch: D[omi]ne obsecro dirige ad me salutem. Christus: Fili fuge vince tace quiece. Transkription und Übersetzung von S. T. 27 »The greatest comfort in al temptacyon. Is the reme[m]braunce of crystes passyon.« Transkription von S. T.

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das hauptsächlich nicht etwa in schwarzer Tinte, sondern in dem auch für das Blut benutzten leuchtenden Rot geschrieben wurde. Jede Seite trage zu­ sätzlich das Namenskürzel Christi.28 Im Büchlein werden alle medialen Register der Andacht gezogen: Es gibt verschiedene handgeschriebene Texte, in denen zur Passionsmemoria aufgefordert wird (die nur zu imaginierenden beschrifteten Lilien und die Rosenkranzmeditationen). Es bietet unbebilderte, wiewohl ikonisch aufgeladene schwarze und rote blutende Sei­ten, einige von ihnen beklebt mit Holzschnitten, von denen nicht bekannt ist, ob sie in einer klösterlichen oder städtischen Offizin hergestellt wurden. Die Holzschnitte wurden so angeordnet, dass sie devotionale Hauptthemen und unterschiedliche Darstellungsmodi abdecken: am Anfang Maria mit Kind, die imago pietatis mit arma-Bildern, die die ganze Passion zeichenhaft vergegenwärtigen und Ablass versprechen, ein textloser close-up der Wunden als dramatischer Höhepunkt der Meditation,29 die sich in die Tiefe des heiligen Herzens begibt, schließlich der Dialog eines Menschen, seiner Seele vielmehr, mit Christus. Was das Büchlein so erstaunlich macht, ist nicht nur die für kartäusische Verhältnisse erstaunliche Fülle der Bilder bei Absenz ihres wichtigsten Andachtsfokusses, der Kreuzigung,30 sondern es ist auch und vor allem die Entscheidung des Schreibers oder des Buchmalers, eine Reihe Holzschnitte durchaus konventioneller Ikonographie nicht einfach auf das blanke Pergament zu kleben und vielleicht mit einer gemalten Rankenbordüre zu umgeben, sondern für einen zuvor aufgebrachten, durchgehenden und stark­ farbigen Untergrund zu sorgen, vor dem sich die einfach kolorierten Holz­ schnitte klar abheben. Das Irritierende daran ist, dass dieser Untergrund aus unzähligen kleinen Wunden zu bluten scheint und nicht nur dies, der Blutregen auch auf die schon aufgeklebten Holzschnitte niedergeht, als würde der Un­tergrund sich paradoxerweise über den Holzschnitt ›hinwegsetzen‹, 28

Lowden, Treasures known and unkown in the British Library. Zu dieser Ikonographie vgl. Silke Tammen, Blick und Wunde – Blick und Form: zur Deutungsproblematik der Seitenwunde Christi in der spätmittelalterlichen Buchmalerei, in: Kristin Marek u. a. (Hg.), Körper und Bild im Spätmittelalter, München 2006, S. 5–114. 30 Vgl. Anne D. Hedeman, Rogier van der Weyden’s Escorial Crucifixion and Carthusian Devotional Practices, in: Robert Ousterhout / Leslie Brubaker (Hg.), The Sacred Image: East and West, Urbana 1995, S. 191–203; Jeffrey F. Hamburger, The reformation of vision, in: Ders., The Visual and the Visionary, New York 1998, S. 427– 467, hier S. 430 f.; ders., The Writing on the Wall: Inscriptions and Descriptions of Carthusian Crucifixions in a Fifteenth-Century Passion Miscellany, in: Ders. / Anne S. Kortweg (Hg.), Tributes in Honor of James H. Marrow, London 2006, S. 231–252, hier S. 237. In der Priorei von Sheen allerdings, die als Entstehungsort des Büchleins in Frage kä­me, wurde die Andacht zu den fünf Wunden besonders gepflegt. Vgl. Areford, Kat. Nr. 49, S. 187. 29

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das Bluten auch nach dem Klebeakt weitergehen – bis am Ende das Bild wieder ausgelöscht wäre? Von diesem Blutregen sind dann noch einmal die dicht gesetzten Blutstropfen zu unterscheiden, die vor allem den Körper der imago pietatis und des stehenden Schmerzensmann bedecken, als wäre hier der Im­puls des Buchmalers am stärksten gewesen, die Quelle des Bluts zu markieren. Auf ikonographischer Ebene hat man das Irritierende treffend und schnell, vielleicht zu schnell erklärt: Nach Areford sei die Vielzahl der regel­mäßig gesetzten Tropfen auf eine für die spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit typisch rechnerische Imagination zurückzuführen, die für den Christuskörper auf die Zahl von 5.475 Wunden und 547.500 Tropfen kam. Ins­gesamt verbildliche das blutende Pergament in »einzigartige[r] Realität« die verbreitete Analogie des geschundenen Passionsleibes mit der Pergamentherstellung und Buchbeschriftung – die Lesbarmachung des Opfers, schließlich zur Lektüre aufgeschlagen am Kreuz und rubriziert mit Bluttinte.31 Dem ist nicht nur zuzustimmen, sondern es lässt sich zuspitzen: Da, wo sich auf dem Pergament die verletzte Haut Christi in Farben inkarniert, kommen sich Medium (Buch) und Bild sehr nah, ergibt sich ein Wechselverhältnis: Das Buch wird in seiner metaphorischen Körperlichkeit aufgeladen und die Grenze seines medialen Seins für die Imagination des Betrachters kunstvoll verwischt.32 Damit ist aber noch nicht alles gesagt über das Potential dieser kartäusischen Buchphantasie, die mehr als nur ein handhabbares Christusbuch bereitstellt, sondern m. E. auch über die Medialität und das Prekäre von Erinnerung. Im Folgenden soll es um das Herz des andächtigen Sünders und Erinnerung im Sinne der recordatio, ›Beherzigung‹ gehen. Kehren wir darum noch einmal an den Anfang des Büchleins zurück: Wie soll man die drei ersten, mit vergleichsweise wenigen Blutstropfen bedeckten schwarzen Seiten deuten? Ich vermute, dass hier nicht nur der dunkle Spiegel des Pauluswortes assoziiert werden sollte, sondern auch das dunkle Herz des Betrachters, das in der Passionsfrömmigkeit als das eigentliche Organ der Memoria galt, auch wenn schon seit Galen das Hirn die aristotelische Vorstellung vom Herzen 31

Areford, Kat. Nr. 49, S. 187. Vgl. Urban Küsters, Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters, in: Jan-Dirk Müller / Horst Wenzel (Hg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart / Leipzig 1999, S. 81–110. Eine um ca. 1335 entstandene Andachtsschrift (Mathieu Le Vavasseur, Legiloque) zeigt, wie sich vor den Augen einer Beterin der Kruzifixus im aufgeschlagenen apokalyptischen Buch der sieben Siegel manifestiert. Vgl. Abb. 1 bei Jeffrey Hamburger, Body vs. Book: the Trope of Visibility in Images in Christian-Jewish Polemic, in: David Ganz / Thomas Lentes (Hg.), Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne, Berlin 2004, S. 112–145. Systematisch ist der Zusammenhang von Buch und Christus noch nicht untersucht; vgl. Tammen, Blick und Wunde.

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als Sitz innerer Sinnesorgane und Wahrnehmungsverarbeitung abgelöst hatte. Das als beschriftet, bebildert und geprägt imaginierte Herz blieb das zentrale Organ in der erotischen und religiösen Metaphorik des Mittelalters.33 Christus nun wurde als Spiegel gedacht, an dessen Bild sich der Mensch schrittweise angleichen (conformare  /  reformare)  solle, um seine durch Sündenfall und Sündhaftigkeit entstellte Gottesebenbildlichkeit wiederzuerlangen. Ort dieser Arbeit war das Herz, mit den Augen des Herzens sollte gesehen werden, die inneren Wände dieser zum Seelenraum ausgeweiteten Kammer konnten als bemal- und /oder beschriftbar imaginiert werden.34 Dass zumindest einige Gläubige geneigt waren, diese Vorstellungen wörtlich zu nehmen, zeigt die Autopsie, die man an der Mystikerin Chiara da Montefalco vornahm und in deren Herzadern man das eingeprägte Bild der arma Christi wahrnehmen wollte.35 Nicht nur der affectus devotionis brennender Liebe und Andacht, die das Herz für diese Neuprägung erweichte, sondern der aktive Umgang mit gemachten Bildern sollte diese heilsame innere Bebil­derung des Menschen unterstützen und gegen das Vergessen wirken. So hatte die Begine Beatrice von Nazareth Tag und Nacht ein Holzkreuz auf die Brust gebunden und zusätzlich ein pergamentenes Bild des Kreuzes am Arm befestigt – übrigens hierin einem Vers des Hohen Liedes folgend, der vom Siegel der Liebe spricht. Ihr Biograph deutete diese äußere Bebilderung als Akt der Gedächtnisstütze. Beatrice wollte ihrem Herzen und der Erinnerung das einprägen, was sie fürchtete zu vergessen.36 Luxuriöser gesonnene Zeitgenossen behalfen sich, in dem sie die Körperteile, die mit dem Gedächtnis (Brust bzw. Herz) oder mnemotechnischen Handlungen und Gesten verbunden waren – Hände, die das Kreuz vor der Brust schlagen und an deren Finger Informationen abgerufen werden konnten – mit Christusbildern schmückten. Eines der schönsten Beispiele für diese Praxis stellt der sogenannte Thame-Ring 33

Zur Metaphorik des Herzens als Schreibtafeln und Buch vgl. Eric Jager, The Book of the Heart, Chicago 2000. 34 Vgl. Thomas Lentes, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau, in: Klaus Schreiner (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S.  179–220, v. a. S.  182, 187 f. Zur Raum­imagination vgl. auch Annette Kern-Stähler, A Room of One’s Own. ­Reale und mentale Innenräume weiblicher Selbstbestimmung im spätmittelalterlichen England, Frankfurt a. M. 2002 und zuletzt Cornelia Logemann, Heilige Ordnungen. Die Bild-Räume der »Vie de Saint Denis« (1317) und die französische Buchmalerei des 14. Jahrhunderts, Köln 2007. 35 Vgl. Katherine Park, Relics of a Fertile Heart. The Autopsy of Clare of Montefalco, in: Anne L. McClanan / Karen Rosoff Encarnación (Hg.), The Material Culture of Sex, Procreation and Marriage in Premodern Europe, New York 2002, S. 115–133. 36 Vgl. Jeffrey Hamburger, Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent, Berkeley 1997, S. 178; vgl. Hohelied 8, 6.

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Abb. 8: Thame-Ring, 15. Jh. , Ashmolean Museum Oxford, Gold und Amethyst Ringknopf 2,5 × 1,6 cm

aus dem 15. Jahrhundert dar (Abb. 8).37 Ein Amethyst wird von einem Buchstabengitter – memanto – gefasst. Unter dem herausnehmbaren Stein befand sich vermutlich eine Passionsreliquie. Die Innenseite des Ringkastens zeigt ein graviertes Bildchen des Kruzifixus, das beim Tragen des Rings direkt auf die Haut drückte und auf einem hinlänglich fleischigen Finger einen ephemeren Andruck hinterließ. Abschließend nun die Paragonefrage: Ein Kartäuser hat Drucke, die an sich schon hinreichend deutlich das Leiden Christi verbildlichen, auf einen normalerweise ja unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle liegenden Untergrund geklebt, der die Idee des Opfers so penetrant visualisiert, dass man sich unfreiwillig an einen Passus in Buch III der um 86 bis 82 v. Chr. entstandenen und zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert breit rezipierten, mnemotechnischen Schrift Ad Herennium erinnert fühlt, in der ein anonymer Rhetorik­ lehrer empfiehlt, imagines agentes in auffälliger Weise einzukleiden: »Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in der Erinnerung behalten kann. Das wird der Fall sein […], wenn wir ihnen herausragende Schönheit oder einzigartige Schändlichkeit zuweisen […] oder wenn wir sie durch etwas entstellen [defor­mabimus], z. B. eine blutige, mit Schmutz beschmierte oder mit roter Farbe bestrichene Gestalt einführen, damit diese um so hervorstechender sei«.38 37

Oxford, Ashmolean Museum. Moritz Jäger hat sich im Rahmen seiner Gießener Ma­gisterarbeit »Der Dornenanhänger aus dem British Museum/London: Reliquiar, Andachtsbild, Schmuckstück und Amulett« (2006), S. 28–32 auch mit dem ThameRing beschäftigt. 38 Rhetorica ad Herennium, hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Darmstadt 1994, S. 177.

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Vor diesem Hintergrund sind vielleicht die roten Tücher, mit denen Rogier van der Weyden seine monumentale Kreuzigung (um 1460)39 – von ihm an die Kartäuser von Scheut bei Brüssel gestiftet – und das Personal seines Kreuzigungsdiptychons (um 1460–1465)40, hinterfängt, nicht nur als Ehrentücher zu verstehen, die tatsächlich hinter Skulpturen hängen konnten, sondern als unterstützenden Maßnahmen für die Passionsmemoria zu verstehen.41 Aber musste die Erinnerung an das Leiden Christi denn überhaupt noch unterstützt werden? Anscheinend wirkten die gedruckten Figuren des Schmerzensmanns und Gekreuzigten in den Augen des Kartäusers nicht per se eindrücklich genug angesichts der topisch beschworenen Vergessensfurcht (oblivio Dei), die schon Augustinus in seinen Confessiones um 400 formulierte und die Harald Weinrich wie folgt kommentiert: Man kann Gott ver­ gessen, Gott wiederum vergisst den Sünder nicht. »Die Asymmetrie zwischen menschlichem Vergessen und göttlichem Eingedenken […] treibt Augustinus zu weiterem Nachsinnen an und führt ihn dazu, seinen Bekenntnissen eine umfassende Gedächtnistheorie einzufügen, die das 10. Buch füllt.«

Er staunt über die Macht des menschlichen Gedächtnisses, aber auch darüber, »daß man unter der Menge der Gedächtnisinhalte sogar das Vergessen im Gedächtnis vorfindet […]. Man kann sich erinnern, daß man etwas vergessen hat.« Gott muss man daher im eigenen Gedächtnis suchen. »Es sind die ewigen Ideen, die Gott von sich aus allen Menschen eingepflanzt hat. Diese sind in ihm zunächst nur verborgen (›latent‹) vorhanden, können aber durch geeignete Anstrengungen des Geistes ins Bewußtsein gehoben werden und so den Weg zu Gott weisen.«42

Um zu den schwarzen Seiten des blutigen Büchleins zurückzukehren: Liegt in ihrer eingehenden Betrachtung vielleicht der Auftakt zu einer Arbeit am Sich-Erinnern, einer Arbeit, die dann auf den folgenden Seiten auch auf Textebene mehrfach mit dem Aufruf zum Erinnern gestützt wird? Ist es denkbar, dass der Schöpfer des Buchs dieses mit seinem eigenen Herzen verbinden konnte? – letzteres anfänglich schwarz, d. h. verhärtet und sündhaft, aber schon mit einigen roten Tropfen sich aufhellend und verflüssigend, dann nach der inschriftlichen Aufforderung »das Herz zu erheben« und sich der Passion Christi zu erinnern, schließlich verändert, blutend dem geschundenen Fleisch 39

325 × 192cm; heute Monasterio de San Lorenzo, Escorial. Jede Tafel misst 178 × 92cm; heute John G. Johnson Collection, The Philadelphia Museum of Art. 41 Zu zeitgenössischen Farb- und Wahrnehmungstheorien vgl. Ulrike Heinrichs, Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher: Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens, Berlin 2008. 42 Harald Weinrich, Lethe: Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 38 f. 40

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Christi angeglichen, grellrot gefärbt, schließlich mit Christus bebildert. Das Rot ist hier in erster Linie als Blut zu verstehen, aber Rot wurde auch als eine der schönsten und am intensivsten wirkenden Farben betrachtet. So schrieb Johannes Kreutzer (gest. 1468), Prior der Dominikaner von Gebweiler über das Rot in Bezug auf das Hohelied 5,10 (»Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden.«): »Es ist werlich die kreftigeste varbe, die nit allein die hertzen zuo dem herren zühet, sunder sü verwundet ouch die hertzen.«43 Meine Deutung des blutigen Büchleins als Herzensspiegel erhält Plausibilität durch die Forschungen Eric Jagers zur Buchmetaphorik des christ­ lichen Selbst: Das Herz wurde im Spätmittelalter als ein mit der Passion Christi inwendig zu beschriftendes, jederzeit transportables und intimes ›An­ dachtsbuch‹ verstanden. Gebete flehten Christus an, mit seinem Blut, den Nägeln oder dem Speer als stilus seine Wunden, ja sogar ganze Szenen seines Leidens in das verhärtete Herz des Menschen einzutragen. In einem um 1400 in diversen Abschriften verbreiteten englischen Gedicht bittet der Gläubige: »Jesus, write within my heart / How blood out of thy wounds did spurt; / inscribe it with your blood so often / That my heart will finally soften.«44

Das durchbohrte (übrigens in eine helle und eine verschattete Hälfte geteilte) Herz wäre insofern zentraler Dreh- und Angelpunkt zwischen Betrachterherz und Christusherz. Das Einkleben und Aufdrücken der Bilder auf die Blutseiten externalisiert so das Idealbild geglückter Erinnerung, implizit auch das Tilgen schlechter Bilder, die durch Versuchungen, (die im letzten Holzschnitt zitierten temptacyons) ins Herz gelangt waren. Diese gilt es durch die Befestigung von Christusbildern im Herzen zu tilgen, wobei bewusst konventionelle Bilder verwendet werden, denn die Normierung der seelischen Bebilderung war besonders in strengen monastischen Kreisen angestrebt.45 Ein letzter Nahblick auf die Blutseiten: Pergament und Farbe, auf dem Weg von der reinen Farbfläche zu den schon ikonischen, in ornamentaler Regelmäßigkeit gesetzten Tropfen, eine solche ungerahmte Nahaufnahme einer Hautoberfläche, dass es schwer fällt, überhaupt von Bild zu sprechen; dem dick eingefärbten Pergament gegenüber das dünnere, fragilere 43

Florent Landmann, Johannes Kreutzer aus Gebweiler (gest. 1468) als Mystiker und Dichter geistlicher Lieder, in: Archives  d l’Eglise d’Alsace 7 (1957), S.  21–62, hier S. 55; Heinrichs, Schongauer, S. 158. 44 Zit. nach Jager, Heart, S. 110. 45 Zur Normierung der Bilderfahrung in Reformorden und bei den Kartäusern, dort speziell zu einem Zyklus von ehemals vierundzwanzig Kreuzigungstafeln mit jeweils einem knienden Kartäuser, die Jean de Beaumetz für die Einzelzellen der Kartause von Champmol zwischen 1389 und 1395 anfertigte, vgl. Hamburger, The reforma­ tion of vision, S. 430 f.

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Papier des Holzschnitts, die Starrheit und Stillgestelltheit der Bildelemente, die Konturiertheit und klare Lesbarkeit des Drucks; die Arbeit einer konkreten Hand einerseits, demgegenüber das aus dem Holzstock geschnittene, hundertfach gedruckte Bild; der Fluss des einen Bluts – die festgeklebten Bilder. Das Spannungsverhältnis zwischen den von Schrift begleiteten, mit einer klaren Ikonographie versehenen Holzschnitten und den bemalten Seiten lässt sich gut im Sinne der Differenzierung Georges Didi-Hubermans zwischen dem »Sichtbaren« (ikonographisch Lesbaren) und seinem ›unbewussten Anderen‹, dem »Visuellen«, fassen.46 Während das Reich des »Sichtbaren« in den Holzschnitten mit ihren Bildern und Texten liegt, trifft der auf den Spuren des Blutregens von ihnen permanent abgleitende Blick auf das »Visu­elle«, den suggerierten Einbruch einer göttlich-fleischlichen Körperlichkeit in das Pergament. Die Vorstellung einer durch die Sünden der Menschheit auf Dauer gestellten Passion Christi wird durch den permanent blutenden Pergamentgrund veranschaulicht, während die Passion auf der Bildebene der Holzschnitte als abgeschlossenes, in arma-Zeichen erinnernd zu vergegenwärtigende Geschehen erscheint. Die Farbe Rot und damit die alte Vorstellung von der Malerei als incarnare, die Suggestion von Fleisch-Werden im Sinne von Farbe-Geben, arbeitet hier mit dem gedruckten Bild durchaus spannungsvoll zusammen  – in einem Moment, als die Zeit des mühse(e)lig kopierten und illuminierten Buches ablief und es zu einer letzten fantasievollen Blüte der Buchkunst kam. Diesen langsamen Übergangspro­zess begleitete z. B. der Benediktinerabt Johannes Trithemius 1492 mit dem Traktat »Zum Lobe der Schreiber«, in dem er die spirituellen Verdienste des Bücherschreibens lobte: »Jedes Wort, das wir schreiben, drücken wir (imprimimus) stärker in unsere Geister.« Paradoxerweise verwendet der Abt hierfür ein Sprachbild, das dem Konkurrenzunternehmen des Drucks mehr als nahe steht.47 Hegte unser Kartäusermönch ähnliche Gedanken beim Fertigen sei­nes Buchs und bedachte dabei, dass die von ihm benutzten, vorgefertigten Bilder mit ihren kurzen Texten sich zwar dem Druck verdanken, ihm aber nicht eindrücklich genug 46

Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, München 2000, v. a. S. 34–39, 192 f. zur dop­pelten »Fleischwerdungsökonomie« im Christentum, die einerseits der christlichen Bildkultur den Körper Christi und damit die Möglichkeit gab, das Gött­ liche sichtbar zu machen und zu ästhetisieren, andererseits aber auch in diese Welt des Sichtbaren das geopferte Fleisch immer wieder hervorbrechen ließ. Anders formuliert: Durch die Inkarnation des logos öffnet sich das Göttliche auf die Welt hin, umgekehrt bleibt die Welt der sicht- und lesbaren Formen fragil, lauert hinter dem Schleier der Bilder das Ungeformte, nicht fassbare Göttliche, die Ungeheuerlichkeit des in der Passion zerstörten Fleisches. Zu einer über den Kontext der christlichen Religion hinausgehenden Auffassung der Malerei als Inkarnation vgl. ders., La peinture incarnée, Paris 1985. 47 Zit. nach Jager, Heart, S. 138.

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sein konnten, um haltbare impressiones in seinem Herzen zu bilden? Wenn der mit eigener Hand aufgetragene Blutgrund die Drucke hält und hinterfängt, wenn die mit sanftem Pinselstrich aufgetra­genen Tropfen die Bilder wie ein Regenschleier überfangen, ist damit etwa auch eine Medienkonkurrenz signalisiert, in dem Sinne, dass die Malerei das gedruckte Bild mit seinen in­ tegrierten Gebetstexten an Originalität und Beweglichkeit übertrifft? Dies steht zu vermuten, wobei der Kartäuser wohl kaum die Vorstellung eines Paragone verfolgte, war er doch kein ›Renaissancekünstler‹, sondern ein Mönch; seine Ordensidentität war die eines schweigenden Büchermachers. In den Consuetudines des Abtes Guigo I. steht hierzu: »Bücher sollen – gleichsam als dauernde Nahrung unserer Seelen – äußerst sorgfältig aufbewahrt und mit größtem Eifer hergestellt werden, damit wir das Wort Gottes mit den Händen predigen, da wir es ja mit dem Munde nicht können.«48

Mir erscheint der Blutregen in unserer Andachtsschrift, der auf die Holzschnitte niedergeht, wie eine solche Händepredigt. Sie spricht von Sehnsucht nach Kontakt mit dem materialisierten Passionsleib und von der Notwendigkeit, sich Bilder nicht nur anzueignen, sondern diese zu ›beleben‹. Der seinem Orden mitunter riskant erscheinenden Wirkung von Bildern begegnete der Schöpfer unseres Buches durch die Einführung eines blutigen Umraums, der zur Konzentration auf den Körper Christi und des eigenen Herzinneren verhelfen konnte.49 Zu einer Zeit, als in England gedruckte und gemalte Bücher und ihre Mischformen nebeneinander existierten und das Potential des gedruckten Buches wie des in Bücher inserierten Einblattholzschnitts insbesondere von den Birgittinen und den ihnen nachstehenden Kartäusern erkannt worden war,50 führt hier ein einzelnes Ordensmitglied dieses Nebenund Miteinander der Medien nicht nur auf die Spitze, sondern verkompliziert es: Zwischen Texte und Bilder ließ er ein Drittes, Blutfarbe als Untergrund und einen Blutschleier treten. Dabei ging es ihm um das Zusammenwirken des Flüssigen und des Starren, des Eigenen und des Angeeigneten: Starrheit verstehe ich hier weniger im ästhetischen Sinne, sondern insofern, als die ge48

Guiges Ier, Coutumes de Chartreuse, Paris 1984, S. 224 (consuetudines 28.3). Vgl. Hamburger, Writing on the Wall, S. 236–237 zur verbreiteten Passionsmedita­ tion Jordans von Quedlinburgs »Expositio dominicae passionis« und seiner Warnung vor der Meditation über Bildern gegenüber kartäusischen Novizen. Bilder bargen die Gefahr der Ab- und Umlenkung der Gedanken. Stattdessen sollte man durch sie von den sichtbaren Dingen zum Unsichtbaren schreiten. 50 Vgl. Mary C. Erler, Pasted-In Embellishments in English Manuscripts and Printed Books, in: The Library 14 (1992), S. 185–206, hier S. 204 und Nigel Palmer, Blockbooks, Woodcut and Metalcut Single Sheets, in: Alan Coates u. a. (Hg.), A Catalogue of Books Printed in the 15th Century now in the Bodleian Library, Bd. 1, Oxford 2005, S. 1–50. 49

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Silke Tammen

druckten Bilder und Texten genormte Erinnerungs- und Andachtsformeln sind, die schon in der kollektiven Memoria der westlichen Christenheit gespeichert waren. Die Texte im Andachtsbüchlein mögen die Bilderfahrung im Sinne von aktiven Erinnerungsappellen begleitet haben, treten m. E. auf den Farbseiten aber in den Hintergrund. Auch ohne textliche Erinnerungsappelle vermag der zugleich flüssig wirkende und doch die Bilddrucke festhaltende Blut- und Farbgrund als imago agens die imaginatio und memoria des Betrachters zu aktivieren. Insofern lässt sich das ›blutige Buch‹ auch als paragonale Reaktion auf gedruckte Andachtsbücher und ‑bilder verstehen. Innerhalb des Werks stoßen wir auf eine weniger deutlich als paragonal zu bezeichnende Situation, sondern vielmehr auf ein klares Mediendifferenzbewusstsein: Bild, Schrift und Farbe wirken zwar alle auf ein gemeinsames Ziel hin, die Intensivierung der Andacht, reiben sich aber aneinander, weil sie alle höchst unterschiedliche Erfahrungen der Erinnerung und mentale Bilder produzieren. Aufschlagen des Buches heißt hier nicht einfach Lesen von Texten und Sehen von Bildern, sondern auch Berühren und Berührtwerden, heißt buchstäblich beeindruckt werden, heißt schließlich mit einem medial viel­ fältigen und anspielungsreichen Erfahrungs-›Raum‹ konfrontiert werden, der das Herzinnere des Leser-Betrachters mit Christus im Zeichen des Blutes dialogisch verbindet.

Jörg Jochen Berns

Medienwissenschaftliche Implikationen der Magia naturalis Bemerkungen zu den sinnlichen Affizierungsstrategien der Inventions- und Merkkünste in naturmagischen Kompendien von Della Porta und Harsdörffer

Zwei Probleme sollen hier erörtert werden: das Problem, wie Wissenschaftsund Künstemodelle, die ja immer auch Gedächtnismodelle und Medien­ modelle sind, sich im Laufe der Jahrhunderte verändern und welche Rolle dabei die Magia naturalis in der Frühen Neuzeit spielen konnte (I.); und das Pro­blem der medialen Interessen der Naturmagie und deren mnemonische Be­deutung (II.). Dies zweite Problem will ich an drei Exempeln erörtern: – dem Exempel des Zusammenhangs von Genetik, Physiognomik und Mythologie; – dem Exempel des Zusammenhangs von Sprachanalyse und Sprachkom­bi­ natorik; – und dem Exempel des Verhältnisses von Projektion und Selbsterkennt­nis in der Optik. Aus darstellungsökonomischen Gründen beschränke ich mich auf zwei gro­ ße Kompendien: auf die »Magia naturalis« des Neapolitaners Giambattista Della Porta, die 1558 erstmals vierbändig erschien und deren zwanzigbändi­ ge Fassung von 1589 Christian Knorr von Rosenroth 1680 nochmals in deutscher Version herausbrachte;1 und auf die beiden »Erquickstunden«1

Ich zitiere nach der Knorr-Übersetzung: Des Vortrefflichen Herren JOHANN BAPTI­STA PORTAE, von Neapolis Magia Naturalis, oder Haus- Kunst- und Wun­derbuch. Zu erst von demselben Lateinisch beschrieben; hernach von Jhm selbst vermehret; nunmehr aber allen Liebhabern der natürlichen Wissenschafften zum be­sten  /  nicht nach dem alten Druck, der Frantzösischen und Teutschen Edition, dar­in­nen nur vier Bücher; sondern durch alle zwantzig Bücher gantz aufs neu in die Hoch­teut-sche Sprache übersetzet; von allen Fehlern / so in dem Lateinischen Druck / mit grossen Hauffen übrig geblieben / und aufs neue eingeschlichten  /  aufs fleissig­ste ge­reiniget; in gewisse Zahlen unterschiedene Absätze abgetheilet; mit deutlichen Teutschen Kunstreimen gezieret; an Figuren gebessert / mit schönen Kupfer ge­schmükket; mit nothwendigen Anmerckungen und Auflösungen

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Jörg Jochen Berns

Bände des Nürnbergers Georg Philipp Harsdörffer, die 1651 und 1653 erschienen.2

I. Die heuristische Einbringlichkeit des von den Gießener Mnemologinnen und Mnemologen (den Veranstalterinnen und Veranstaltern des diesem Band zugrundeliegenden Symposions) entwickelten Modells des ›Gedächt­ nispar­agone‹ ist davon abhängig, dass sich aussagekräftige Fälle von ›Medi­ enkonkurrenz‹ im Kontext von Gedächtnis und Erinnerung finden lassen. Dieses scheint zunächst kein einfaches Unterfangen. Der griechische Gedächtnis­mythos fordert vielmehr ein arbeitsteilig begründetes, koopera­ tives und konzer­tantes Verhältnis der Künste: Die Göttin Mne­mosyne (das Gedächtnis schlechthin) gebiert aus Verbindung mit Zeus drei oder, wie man später lehrte, neun Musen.3 Das Modell der Musen, die alle­samt Filider darin enthal­tenen Rätzel / wie auch vielen neuen ungemeinen guten Chymischen und andern Stücken vermehret / auch mit guten Registern versehen / und in zweyen Theilen / deren das erste / die ersten sieben; das andre die letzten drey­zehen Bücher in sich enthält / heraus gegeben Durch Christian Peganium, sonst Rautner genannt [i. e. Chri­stian Knorr von Rosenroth]. Nürnberg  /  in Verlegung Johann Ziegers Buchhändler. Gedruckt zu Sultzbach durch Abraham Liechtenthaler / Jm Jahr Christi 1680. Ich danke Italo Michele Battafarano für die Überlassung einer Kopie. 2 Die Titel der beiden Bände Harsdörffers, die ihrerseits dem Darstellungsschema Da­niel Schwenters folgen, lauten: DELITIAE MATHEMATICAE ET PHYSICAE Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden. Zweyter Theil: Bestehend in Fünffhundert nutzlichen und lustigen Kunstfragen / nachsinnigen Aufgaben  /  und deroselben grundrichtigen Erklärungen  /  Auß Athanasio Kirchero, Petro Bettino, Marino Mersennio, Renato des Cartes, Orontio Fineo, Marino Gethaldo, Cornelio Drebbelio, Alexandro Tassoni, Sanctorio Sanctorii, Marco Marci, und vielen andern Mathematicis und Physicis zusammen getragen durch Georg Philip Harsdörffern / eines Ehrlöblichen Stadtgerichts zu Nürnberg Beysitzern. NÜRNBERG  /  Gedruckt und verlegt bey Jeremia Dümlern. Jm Jahr M DC LI. und: ­DELITIAE PHILO­SOPHICAE ET MATHEMATICAE Der Philosophischen und Mathematischen Er­quickstunden /Dritter Theil: Bestehend in Fünffhundert nutzlichen und lustigen Kunstfragen / und deroselben gründlichen Erklärung: Mit vielen nothwendigen Figu­ren / so wol in Kupffer als Holtz / gezieret. Und Auß allen neuen berühmten Philo­sophis und Mathematicis, mit grossem Fleiß zusammen getragen. DurchGeorg Philip Harßdörffern / eines Ehrlöblichen Statt-Gerichts zu Nürnberg / Beysitzern. NÜRN­BERG / Jn Verlegung / Wolffgang deß Jüngern / und Joh. Andreas Endtern. Jm Jahr / M. DC. LIII. Als Reprint greifbar unter dem Titel: Georg Philipp Harsdörffer / Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden. Neudruck […] hg. u. eingel. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt a. M. 1991. 3 Es sind dies bekanntlich: Kleio (die Rühmende), Euterpe (die Erfreuende), Thaleia (die Festliche), Melpomene (die Singende), Terpsichore (die Tanzfreudige), Erato

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ationen von Gedächtnis sind, lehrt, dass Gedächtnis sich in Kün­sten realisiert, die einer gemeinsamen kultischen, rhythmisch, akustisch und theatral durchwalteten Sphäre angehören.4 Das schwesterliche Verhältnis dieser kultischen Künste wurde gemeinhin im Bilde des Musenreigens gefasst. Das Suchbild eines Gedächtnisparagone findet hier keine Bestätigung. Die Wissenschafts- und artes-Modelle5 des Mittelalters scheinen ebenfalls kein agonales Poten­zial zu bergen.6 Und wurden in der Frühen Neuzeit zwar Form und Programm des Paragone entwickelt, so zeigen doch mindestens ebenso viele Darstellungen das Verhältnis der Künste als friedliches Miteinander. Denn besieht man die Reihe der Septem artes liberales7 und der Septem artes illiberales seu mechanicae,8 so scheint alles wohl ausgewogen. Alle diese Wissens- und Künstemodelle – Neun Musen, Septem artes liberales und Septem artes mechanicae  – finden sich 1506 auf einem Holzschnitt von Hans Burgkmair nach einem Entwurf von Conrad Celtis wieder (Abb.  1).9 Es handelt sich um das Programmblatt des Collegium poetarum

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(die Sehnsuchtweckende), Polymnia (die Hymnenreiche), Urania (die Himmlische), Kalliope (die Schönstimmige). Vgl. dazu das ›Nachwort‹ zu: Jörg Jochen Berns (Hg.), Gedächtnislehren und Gedächt­niskünste in Antike und Frühmittelalter (5. Jh. v. Chr. bis. 9. Jh. n. Chr.). Dokumentsammlung mit Übersetzung, Kommentar und Nachwort, unter Mitarb. v. R. G. Czapla u. St. Arend, Tübingen 2003, S. 523–597, hier S. 525 f. Zur Artes-Lehre vgl. Ursula Schaefer, Artes im Mittelalter. Wissenschaft – Kunst – Kommunikation, Berlin 1999; Christa Baufeld, Art.  »Artesliteratur«, in: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd.  1, Berlin u. a. 1997, S.  151 ff.; Bernhard F. Scholz, Art.  »Artes mechanicae«, in: Ebd., S.  149 ff.; Peter Sternagel, Die artes mechanicae im Mittelalter. Begriffs- und Bedeutungsgeschichte bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Kallmünz 1966; Michael Stolz, Artesliberales-Zyklen. Formationen des Wissens in lateinischen und deutschen Text-BildZeugnissen des Mittelalters, 2 Bde. , Tübingen 2004. Vgl. den Beitrag zum Suchbild des Paragone im Mittelalter von Silke Tammen im vorliegenden Band. Die Septem artes liberales sind bekanntlich grammatica, rhetorica, dialectica, arithmetica, geometria, musica und astronomia. Die Septem artes mechanicae sind bekanntlich lanificium (Textilhandwerk aller Art), armatura (technische Handwerke samt Bildenden Künsten und Architektur), navigatio (Handel und Verkehr zu Wasser und zu Lande), agricultura (Landbewirtschaftung aller Art), venatio ( Jagd und Lebensmittelgewerbe), medicina (Heilberufe aller Art), theatrica (Fest- und Ritterspiele). Hans Burgkmair, Aquila Imperialis, Holzschnitt, 1506/07, 32,7 × 21,5 cm.  – Ausführlich zu dieser Grafik vgl. Berns, Aquila biceps. Die mnemotechnische Belastbarkeit des Reichsadlers und das Problem der Schemaüberblendung, in: Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien 2000, S. 407–461, hier S. 442 f.

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Jörg Jochen Berns

Abb. 1: Hans Burgkmair d. Ä. , Aquila Imperialis, Holzschnitt, 1506/07, 32, 7 × 21,5 cm

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et mathematicorum zu Wien, der Neubegründung der Wiener Universität. Dem kaiserlichen Doppeladler ist eine programmatische Brunnenarchitektur vorgeblendet, die in vertikalsymmetrischer Ordnung vier Szenarien zeigt: zuoberst den thronenden Kaiser, darunter den Fons Musarum, in dessen Rundbecken die neun Musen planschen; sodann die Philosophia mit den Septem artes liberales, und zu­letzt das Paris-Urteil, das die ikonographisch verbürgte Wahl des Menschen zwischen vita voluptaria, vita activa und vita contemplativa veranschaulichen soll. Die auf den Adlerschwingen herabhängenden Medaillonketten markieren rechts die Septem artes mechanicae und links die Divina Fabrica des Sechstagewerks der göttlichen Schöpfung (oben beginnend mit dem fiat lux und unten ausschwingend mit dem Sonntag als Feiertag und Gottesdiensttag).10 Auch aus diesem Programmbild ist kein Ansatz zu einem Paragone oder einer Me­dienhierarchie zu gewinnen. Die Ordnung, die die Graphik augenfällig machen will, ergibt sich indes nicht aus den Künsten und Wissenschaften selbst, nicht aus ihrem Gruppenzusammenhalt und nicht aus einem wechsel­seitigen Aufeinanderangewiesensein, sondern aus der synthetischen, synkretistischen Kraft des Adlers, mithin aus der politischen Gewalt. Anders wird das aber, als die Magie, die bereits seit dem 12. Jahrhundert ihre Anerkennung als ars verlangt, eine eigene Linie im artes-Modell auszubilden beginnt. Neben die Septem artes liberales und Septem artes illiberales seu mechanicae tritt nun als dritte Siebenergruppe die der Septem artes incertae seu magicae.11 Diese dritte artes-Reihe, die erst im 15. Jahrhundert abgeschlossen ist, besteht aus den vier elementischen Divinationskünsten geomantia, hydro­mantia, aeromantia und pyromantia; auf sie folgt sodann die Trias von nigroman­tia, chiromantia und spatulamantia. Aus unserer heutigen, viele Jahrhunderte übergreifenden Fernsicht lässt sich konstatieren, dass es zwischen den artes-Reihen einen Agon gegeben haben muss, und zwar von Anfang an, der nicht eigentlich aus ihnen selbst, aus ihrer intellektuellen, sinnlichen und materiellen Leistung erwuchs, son­ dern der ihnen standespolitisch und religiös zugedacht war. Deshalb wurden die Handwerkskünste, zu denen durchaus die »schönen« Künste wie Malerei und Bildhauerei zählten, ursprünglich seitens der Politik als illiberales, als un10

Zur Geschichte des Programms des Sechstagewerks vgl. ausführlich Johannes Zahlten, Creatio Mundi. Darstellungen der sechs Schöpfungstage und naturwissenschaftliches Weltbild im Mittelalter, Stuttgart 1979. 11 Die Septem artes magicae bestehen aus einem Quadrivium von elementischen Divinationskünsten, der geomantia (Deutung von Zeichen auf Steinen, Hölzern, Blättern), hydromantia (Deutung von Wasserbewegungen), aeromantia (Deutung von Luftbewegun­gen) und pyromantia (Deutung von Flammenbewegungen), auf welche das Trivium von nigromantia (dämonenbedingte Wahrsagung), chiromantia (Handlesekunst) und spatulamantia (Deutung von Spatelabstrichen) folgt.

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freie Künste von unfreien Handarbeitern, die magischen Künste aber seitens der Kirche als incertae seu illicitae, als ungewiss und unerlaubt, diffamiert. Bei bei­den einst als minderrangig eingestuften Reihen ist zu beobachten, dass sie einen erfolgreichen Aufstiegskampf kämpften, bei dem es um soziale und institutionelle Anerkennung qua Gleichstellung ging. Dass die Positionskämpfe zwischen den Künsten mit dem 16. und 17. Jahrhundert nicht abgeschlossen waren, lehrt der Blick auf die Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts und den Kanon der Schönen Künste, der sich in diesem Zeitraum etablierte. Der Kanon der Schönen Künste ist nämlich durchaus nicht – wie heute oft fälschlich behauptet wird – mit dem der Septem artes liberales identisch.12

II. Soziale Anerkennung erkämpfte sich die Magie als besondere Weise des Erkenntnisgewinns seit dem 12. Jahrhundert.13 Sie erkämpfte sie unter dem Titel Magia naturalis. Diese Weiße Magie spaltete sich als ein besonderer Zweig von dem sehr viel älteren Hauptstamm der Magie ab. Es ging darum, das steigende naturexplorative Wissen und technologische Interessen zu legitimieren und auszubauen. Gleichzeitig galt es, die pagan-dämonologische Bindung abzustreifen.14 12

Bei Hebenstreit bspw. gelten 1843 als Schöne Künste Declamatio (poetischer Vortrag und Vokalmusik), Mimik (Pantomime und Gebärdenkunst), Schauspielkunst (Zusammenwirken von Deklamation und Mimik), Tanzkunst, Redende Künste (Poesie und Kunstprosa), Musik (Instrumentalmusik), Bildende Künste (Zeichenkunst, Malerei, Skulptur, Architektur). In anderen Handbüchern und Ästhetikschriften finden sich leicht abweichende Zusammenstellungen. Jedenfalls wird erkennbar, dass die Mechanischen Künste zum Teil in den Kanon der Schönen Künste aufgenommen sind, während etliche der Freien Künste (z. B. das gesamte Quadrivium) nicht aufgenommen wurden; vgl. Wilhelm Hebenstreit, Art. »Kunst«, in: Ders., Encyklopädie der Aesthetik. Ein etymologisch-kriti­sches Wörterbuch der ästhetischen Kunst­ sprache, Wien 1843, S. 397–401. 13 Zur Geschichte der Magie allgemein vgl. Christoph Daxelmüller, Zauberpraktiken. Eine Ideengeschichte der Magie, Zürich 1993; Richard Kieckhefer, Magie im Mittelalter, a. d. Engl. v. Peter Knecht, München 1992; Ioan P. Culianu, Eros und Magie in der Renais­sance, mit einem Geleitwort von Mircea Eliade, a. d. Französ. v. Ferdinand Leopold, Frankfurt a. M. / Leipzig 2001. 14 Zum Verhältnis von Schwarzer und Weißer Magie vgl. die jüngeren Überblicksdarstellungen: Albert Heinekamp / Dieter Mettler (Hg.), Magia naturalis und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften (Studia Leibnitiana, Sonderh. 7), Wiesbaden 1978; Wolf-Dieter Müller-Jahnke, Die Magie des 16. und 17. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Naturwissenschaften und Dämonologie, in: Herbert Jaumann u. a. (Hg.), Domänen der Literaturwissenschaft. Emergenzen der Interpretation, Tübingen 2000.

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Das Axiom aller Magie behielt jedoch auch diese kirchlich akzeptable Weiße Magie bei: die Unterstellung einer sympathetischen Strukturiertheit des Kosmos. Auch die Naturmagie sieht alles durchwaltende Analogie- und Sympathie-Beziehungen, und sie behauptet die Entsprechung von Makro­kosmos und Mikrokosmos. Deshalb haben sich Analogik und Sympathetik als Leitfäden der Naturerkundung zu bewähren. Experimentelle Erprobun­gen (beispielsweise in Alchemie, Pharmazie, Medizin) und operative Ein­griffe zur Freisetzung von naturaktiven Substanzen wie Magnetstein und Bernstein oder zur Aktivierung von naturimmanenten qualitates occultae sollen als Methoden genutzt werden. Hervorzuheben ist, dass die Magia naturalis in Europas Hohen Schulen und Universitäten keine oder nur sehr zögerlich Aufnahme fand; dass sie aber gleichwohl eine Brücke zwischen Universi­tätswissen und außerakademisch-handwerklichem Fachwissen der Heilbe­rufe baute. Da der Naturmagier den menschlichen Körper nicht nur äußerlich und physiognomisch, sondern auch experimentell analytisch auf seine physikali­ schen und chemischen Gegebenheiten hin befragt, interessieren ihn die Leistungen der fünf Sinne und deren Verarbeitung im Interiorisationspro­zess, in imaginatio, ratio und memoria. In diesem Interesse an der Leistung der Sinne und der physiologischen Bedingung von Erkenntnis gründet die me­ dienwissenschaftliche Bedeutung der Magia naturalis. Denn sie erörtert an vielen Exempeln, wie die Leistung der Sinne optimiert werden könnte, und zeigt damit zugleich, wie sie manipuliert werden könnte. In dem Interesse an der Sinnesleistung und dem erkenntniskonstitutiven Interiorisationsprozess gründet dann schließlich auch die kritische Bestimmung des Verhältnisses von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung. Harsdörffer konfrontiert uns 1653 in seinen »Philosophischen und Ma­ thematischen Erquickstunden« mit der verblüffenden Feststellung: »Gleich wie das Aug sich selbsten nicht sihet / also erkennet sich auch unser Verstand nicht selbsten«.

Dass Selbstbeobachtung nicht ohne Fremdbeobachtung möglich ist, zeigt dann seine Erklärung: »[…] wie das Aug sich in dem Spiegel / durch die Gegenstralung / beschauen muß; also kan sich der Verstand nicht erkennen / als in Vergleichung mit anderen.«15

Es bedarf also der Vermittlung von Medien, von materiellen Medien wie beispielsweise eines Spiegels oder von intellektuellen Medien wie anderen Menschen. Unabdingbar für die Karriere der Magia naturalis war die Maxime, bei der zur Durchschauung der Natur erforderlichen Aufdeckung ihrer verborgenen 15

Harsdörffer, Erquickstunden, S. 9.

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Geheimnisse sei Hand anzulegen. Durch solches Handgreiflichwerden hebt sich der Magus von der Methodologie der artes liberales ebenso entschieden ab, wie er sich den Verfahrensweisen der artes mechanicae, der Handwerke wie auch der Ingenieurs- und Bildenden Künste annähert. Der Magus muss, so Porta, manuell geschickt und versiert sein: »Dann ein Künstler mag so viel oder so wenig wissen als er will / (es gilt gleich) wenn er nicht die Hand anzulegen weiß / so wird er umsonst nach dem vorgesetzten Zweck trachten.«16

Wo es um ein Vordringen in die Geheimnisse der Natur geht, bedarf es eines differenzierten Werkzeug-, Instrumenten-, und schließlich Maschinen­ arsenals, das der Naturmagier nicht nur kennen, sondern handhaben können muss; ja mehr noch: eines Instrumentenarsenals, das er experimentell prakti­ zierend und konstruktiv optimieren soll. Insofern ist Magia naturalis immer schon und immer auch Medienwissenschaft. Sie bedient sich keines spiritu­ ellen personalen Mediums mehr, sondern eines handhabbaren materiellen Mediums. Obschon der Naturmagier sich laut Porta der Natur gegenüber nicht als »Meister« (artifex), sondern als »Diener« (minister) verhalten soll,17 läuft er doch immer Gefahr, den Diener-Status preiszugeben. Das geschieht, indem er die Geheimnisse der Natur publik macht, indem er die Wunder der Natur durchschaubar und experimentell rekonstruierbar macht oder indem er die Natur gar partiell zerstört, um sie partiell zu korrigieren und zu optimieren. Porta und Harsdörffer kennen diese Gefahr, aber sie fürchten sie nicht. Insofern ist ihre Wunder-Wissenschaft Wunderdestruktion. Porta: »Ein WunderWerck höret auf ein Wunder zu seyn / wann man das findet / um deßwillen es vor ein Wunder gehalten ward.«18 Bezieht man freilich diesen Satz auf die Natur insgesamt, dann ist Magia naturalis die Lehre, die die Na­turwunder zunehmend reduziert. In diesem Sinne argumentierte Anfang des 17.  Jahrhunderts auch der große niederländische Ingenieur und Naturwissen­schaftler Simon Stevin, wenn er sagte, es gebe keine Wunder mehr, es gebe nur Dinge, die wir noch nicht erklären könnten. So ist der naturmagischen WunderDekonstruktion und ‑Destruktion ein eigentümli­cher Fortschrittsoptimismus inhärent. Noch verfänglichere Züge nimmt die Wunderdestruktion bei Harsdörf­ fer an. Er weist angesichts der Leistung eines Löffelbaggers, der bei Danzig eine riesige Düne versetzt hatte, darauf hin, dass der Mensch nun »auch ohne 16

Della Porta, Magia Naturalis, S. 11. Della Porta, Magia Naturalis, S. 8, folgt der Argumentation von Plotin: »Plotinus nennet einen Magum oder solchen Wunder-Künstler  /  einen Diener  /  und nicht einen Meister der Natur.« 18 Ebd. , S. 13. 17

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Glauben Berge versetzen kann«;19 oder er feiert die Ablösung der Sonnenuhr durch die Räderuhr als Abkopplung vom Himmel: »[…] es hat die Kunst gleichsam deß Himmels nicht mehr von nöthen  /  Sie ist den Sternen nicht mehr verbunden […]. Etliche artig aneinander gefügte Rädlein / weisen alles«.20

Ein weiteres Konstitutivum der naturmagischen Schriften Portas und Hars­ dörffers ist die Verbindung von Kompilation und Kombination.21 Es geht um Anhäufung, additive Ordnung und Kombination von Wissen aus dem gesamten Zeitraum der Menschheitsgeschichte von der biblischen Frühe, der griechisch-römischen Antike bis hin in die eigene Gegenwart. Deshalb sind Portas und Harsdörffers Unternehmen ihrer Anlage nach offen, belie­big ergänzbar, aber eben auch nicht abschließbar. Insofern gleichen sie selbst dem menschlichen Gedächtnistresor, von dem schon in der Antike behauptet wurde, seine Speicherkapazität sei unerschöpflich.22 Bezeichnend ist denn auch, dass Della Porta zeitlebens an seinem »Ma­gia«Projekt fortschrieb. Als Fünfzehnjähriger will er damit begonnen haben, als Dreiundzwanzigjähriger brachte er eine aus vier Büchern bestehende Erstausgabe (1558) heraus, vierundfünfzigjährig publizierte er (1589) eine Fassung, die nun auf zwanzig Bücher angeschwollen war. Seine Übersetzer und Herausgeber nahmen sich ihrerseits nochmals die gleiche Freiheit und ließen durch eigene Anmerkungen und Lesefrüchte das Werk weiter an­schwellen. Das bezeugt auch Knorrs deutschsprachige Version von 1680. Für das Zustandekommen der naturmagischen »Erquickstunden«-Bände Harsdörffers gilt Analoges. Das Themenpanorama der naturmagischen Kompendien ist durch die Frage nach Wundern bestimmt. Bei Porta signalisiert das schon der Titel des lateinischen Originals: »Magia naturalis sive de miraculis rerum naturalium«. In der späten deutschen Version des Knorr von Rosenroth wird daraus: »Magia naturalis, oder Hauß-, Kunst- und Wunder-Buch«. Was sind das für Wunder? Es handelt sich nicht um Sakralwunder, son­dern um Wunder der Natur. Der naturkundige Magus wirkt diese Wunder zwar 19

Harsdörffer, Erquickstunden, S. 381 u. 421. Ebd. , S. 318. 21 Vgl. Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Hars­dörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen, in: Hans-Joachim Jakob u. a. (Hg.), Harsdörffer-Studien. Mit e. Bibliografie der Forschungsliteratur v. 1847 bis 2005, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 55–83. 22 Vgl. Berns (Hg.), Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittel­ alter (5. Jh. v. Chr.–9. Jh. n. Chr.). Dokumentsammlung mit Übersetzung, Kommen­ tar und Nachwort, u. Mitarb. v. Ralf Georg Czapla u. Stefanie Arend, Tübingen 2003, S. 452 f. u. 540. 20

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nicht, aber er versteht sie und kann sie anderen verständlich zu ma­chen. Das kann so weit gehen, dass er die Naturwunder experimentell wie­derholt und die Natur womöglich verbessert. Seit dem 12. Jahrhundert gab es in kirchlichen Kreisen die Befürchtung, die Zeit der Sakral-Wunder, die Zeit jener mirabilia, die als signa sanctitatis galten, sei vorüber.23 In Anbetracht dessen lässt sich im Aufstieg der Magia naturalis als neuer Wunderwissen­schaft eine Gegenbewegung gegen solchen Wunderpessimismus erkennen. Porta widmet das recht umfängliche I. Buch seiner »Magia« nicht von unge­fähr den »Ursachen der Wunderdinge«. Er will die »Wercke der Natur« nicht nur äußerlich beschaut wissen; vielmehr geht es um »Durchschauung der gantzen Natur«, um Aufdeckung ihrer »verborgenen Geheimnisse«.24 Der Magus soll die Elemente und deren Bewegungen, das Wachsen und Schwin­den, das Agieren und Reagieren der Naturkräfte studieren. Die so zu gewin­nenden Erkenntnisse kommen ganz verschiedenen Wissenschaften wie Arzneikunst und Botanik, Ökonomia und Metallurgie, Mathematik, Mess- und Wägekünsten, Astrologie / Astronomie, Optik und Akustik zugute. Die vermeintliche Beliebigkeit der Titelkataloge Portas und Harsdörffers zergeht, wenn man in die Lektüre einzelner Bücher eintritt. Man erkennt dann die Durchgängigkeit des Interesses an den Geheimnissen der Natur und die theoretischen und vor allem praktischen Versuche, ihrer habhaft zu werden.

Erstes Exempel Das zeigt sich exemplarisch in den Büchern II und III von Portas Kompen­ dium. Wenn dort nämlich »Von allerhand Thieren« und »Von allerhand Gewäch­sen« die Rede sein soll, so geht es nicht um kursorische Darstellungen im Sinne der mittelalterlichen Bestiarien und Herbarien, sondern um fallbezo­gene Erörterung von Problemen der Genetik, der Steuerbarkeit von Zeu­gung, der Optimierung von Rassen und Arten durch Züchtung und Kreu­zung bei Pflanzen, Tieren und Menschen. Dies alles sind Wünsche und Phantasmagorien, die auch die heutigen Gen-Biologen und ‑Mediziner noch umtreiben. Im Gang durch die Jahrhunderte wurden sie vom Stigma ihrer schmuddelig magischen Herkunft und akademischen Randständigkeit be­ freit, um heute im öffentlichen Ansehen den Platz der Avantgarde wissen­ schaftlichen Forschergeistes schlechthin zu behaupten. 23

Vgl. Klaus Schreiner, »Discrimen veri ac falsi«. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 48 (1996), S. 1–53, hier S. 20 f.; Ders., Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen- und Reli­quienwesen des Mittelalters, in: Saeculum, Jahrbuch für Universalgeschichte 17 (1966), S. 131–169. 24 Della Porta, Magia Naturalis, S. 6.

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Fragt man nach mnemonischen Implikationen der Naturmagie, so gilt es hervorzuheben, dass in Portas Denken sich mythologische Rückwendung und biologischer Futurismus verschränken. Er schreitet nämlich in einer Art Klimax von Phänomenen der Rassenkreuzung (Beispiel Hunde)25 zu sol­chen der Artenkreuzung (Beispiel Löwen mit Hyänen)26 zu immer kühneren Verbindungen fort, die auch vor dem Menschen nicht halt machen. Wenn ihm die Möglichkeit von monströsen Mensch-Tier-Mischungen27 möglich und empirisch wahrscheinlich erscheint, so greift er dabei auf antike my­thischgöttliche Wesen – etwa Zentauren, Satyrn oder Greifen – zurück. Er bestätigt diese Mischungen dann physiognomisch und erörtert sogleich, wie Geschlecht und Physiognomie eines Menschenkindes bereits vor und wäh­rend des Zeugungsaktes bestimmt oder optimiert werden könnten: durch Gattenwahl natürlich, aber vor allem auch durch Imagination,28 durch Blick­zeugung, wenn die Menschenfrau während des Zeugungsaktes etwas Schö­nes oder Hässliches in natura oder in effigie sieht oder sich vorstellt.29 Es geht also um ein Projekt der Verschränkung von mythologischer Götter-Monstrositas und Physiognomik in systematisch-naturtechnologisch angeleiteter Züchtung. Darin steckt ein Gedanke, den wenig später auch Francis Bacon in seinem Buch »De sapientia veterum« (London 1609) ent­ falten wird: dass nämlich die Mythen der Griechen mittels moderner natur­ wissenschaftlicher Einsichten und Verfahren zu dekodieren seien, wie diese Mythen andererseits von der aktuellen Naturwissenschaft heuristisch zu nut­zen seien. Dieser Ansatz, der sich nicht nur bei Porta und Bacon, sondern in Varianten auch bei Paracelsus, Fludd, Kircher oder Harsdörffer findet, 25

Ebd. , S. 215 ff. Welche Gewaltsamkeiten den von Della Porta empfohlenen Verfah­ ren zur Veränderung von Erbanlagen innewohnen, sei an einem Beispiel verdeutlicht: »Wenn man nun wolte Hunde mit zwey Füssen haben / wie dergleichen herum ge­führet werden; so muß man ihnen die Füsse geschwind abhacken / wenn sie noch gar zart sind / und sie mit grossem Fleiß heylen. Hernach muß man solche zweybei­nichte Arten zusammen lassen / und wann sie nicht zwey-beinigte Jungen bringen / muß man denen die Füsse wieder abhacken / und diß so lang treiben / biß sie von Natur Zwey-füssige auf die Welt bringen.« Ebd., S. 273 f. 26 Ebd. , S. 240 ff. 27 Ebd. , S. 246 ff. 28 Ebd. , S. 274 ff. 29 Della Porta führt aus, dass das Aussehen eines Kindes programmiert werden könne, indem die Frau beim Geschlechtsakt ein Bildnis fixiere; vgl. dazu Berns, Schmerzende Bilder. Zu Machart und mnemonischer Qualität monströser Konstrukte in Antike und Früher Neuzeit, in: Roland Borgards (Hg.), Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 25–56; wichtig zum Thema auch die medizinhistorische Dissertation (Fried­rich Wilhelm-Universität Berlin) von Fritz Kahn, Das Versehen der Schwangeren in Volksglaube und Dichtung, Frankfurt a. M. 1912 und: Art. »Zeugung schöner Kin­der«, in: Zedlers Universal-Lexicon, Bd. 62, Leipzig / Halle 1749, Sp. 361–365.

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ist auch gedächtnistheoretisch bedeutsam. Denn wenn die antiken Götter in Tiergestalt mit Menschen kohabitieren – Zeus als Schwan oder Stier und dergleichen mehr – und wenn sie aus Mensch-Tier-Verbindungen ihre Kraft nehmen, ja letztlich daran ihre Göttlichkeit aufladen, so sind Physiognomik und Genetik Wissenschaften, die sichtbar und erfahrbar machen könnten, dass diese Kraft auch aktuell im Menschen zu realisieren ist: Vermöge der Physiognomik erkennt der Mensch seine – realen und potentiellen – Anlagen, und er steuert sie durch Genetik und Bodybuilding. Er erinnert sich der je eigenen latenten bestialitas und damit ineins der eigenen Göttlichkeits­potenz. Auch in den anderen Büchern Portas und Harsdörffers geht es um die Gewinnung von Naturessenzen, von Naturbausteinen und um ihre Neu­ kombination und Transmutation in Destillations-, Koch-, Gärungs-, Mix-, Explosions- und sonstigen Sonderungs-, Zusammenfügungs- und Verwandlungsakten.

Zweites Exempel Das sei nun an einem ganz anderen Exempel gezeigt: dem der Sprachanalyse und Sprachkombinatorik. Porta wie Harsdörffer haben sich mit Problemen der traditionsreichen naturmagischen Steganographia, nämlich der Geheim­schriftenherstellung und geheimen Nachrichtenübermittlung, befasst. In diesem Zusammenhang präsentiert Harsdörffer seinen berühmten »Fünf­fache Denckring der Teütschen Sprache«.30 Dieser besteht aus fünf mit Wortbausteinen  – Präfixen, Radices, Flexionssilben, Suffixen  – besetzten Papier­ringen, die, wenn man sie anweisungsgemäß ausschneidet und mon­ tiert, als konzentrischer Kombinationsapparat gegeneinander zu verdrehen sind. In vorrückenden Verschaltungsakten sei »Die gantze Teutsche Sprache auf einem Blättlein zu weisen«. Nachdem Harsdörffer an einigen Wortbildungsexempeln die Verwend­ barkeit des Scheibenapparats erklärt hat, schließt er: 30

Harsdörffer, DELITIAE MATHEMATICAE ET PHYSICAE, Zweyter Theil, S. 517. Auf eine Reproduktion der Grafik verzichte ich, weil der »Denckring« in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte außerordentlich starkes Interesse auf sich gezogen hat und vielfach reproduziert wurde; vgl. Andreas Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1998, S. 256–265; Werner Künzel u. a., Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 102 ff.; Stefan Rieger, Speichern / Merken. Die künstlichen Intelligenzen des Barock, München 1997, S.  106–108; Anita Traninger, Mühelose Wissenschaft. Lullismus und Rhetorik in den deutschsprachigen Ländern der Frühen Neuzeit, Mün­chen 2001, S. 203–205; Rosmarie Zeller, Spiel und Konversation im Barock. Untersu­chungen zu Harsdörffers ›Gesprächspielen‹, Berlin u. a. 1974, S. 166 ff.; vgl. auch Berns, Kompilation und Kombinatorik, S. 70 ff.

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»Ist also dieses eine vnfehlbare Richtigkeit / ein vollständiges Teutsches Wortbuch zu verfassen / und beharren wir in der Meinung / daß alle solche zusammen gesetzte Wör­ ter / welche jhre Deutung würcken für gut Teutsch zulässig / sonderlich in dien Ge­ dichten / ob sie gleich sonsten nicht gebräuchlich.«31

Dass Harsdörffer seinen Scheibenapparat als »Denckring« bezeichnet, be­ zeugt, dass er ihn sowohl als Memorierhilfe wie als Inventionshilfe genutzt wissen will: Er dient als Gedenkring / Erinnerungsring (annulus memorialis), aber auch als ein das Denken mobilisierender Such- und Findring (annulus inventionalis). Die Bedeutungen der Wortelemente, die in die verdrehbaren Ringe eingetragen sind, müssen dem Benutzer ja schon vertraut sein, wenn er das, was durch die erdrehten Kombinationen dort jeweils ablesbar wird, sowohl auf seine Gebräuchlichkeit (usus) als auch auf seine sprachtheoreti­sche Richtigkeit (lex) und poetische Brauchbarkeit hin beurteilen will. Wer sich des Harsdörfferschen Denkrings bedient, wird rasch feststellen, dass ihm nicht alle Kombinationsergebnisse vertraut sind. Der Apparat pro­ duziert einen Überschuss, der selbst über den Rahmen eines vollständigen Wörterbuchs der deutschen Sprache hinausgeht. Eine aktuelle Unverständlichkeit bestimmter Kombinationsergebnisse indiziert, wie Harsdörffer unterstreicht, nicht deren objektive Sinnlosigkeit, sondern sie basiert lediglich auf dem aktuellen Unverständnis des historisch zufälligen Lesers. Die objektive Richtigkeit ist davon nicht beschadet. In der mathematisch definiten Menge der Kombinationsmöglichkeiten der Sinn­ atome der deutschen Sprache liegt nachgerade ein pfingstliches Verspre­chen: dass nämlich einmal die res so vollständig und dicht bei den verba sein werden, dass das dann aktuelle Verstehen der Kombinationsergebnisse lückenlos sein werde, Wortbildnerei und Poesie eins wären, wie sie dereinst im Paradies eins waren.

Drittes Exempel Porta wie Harsdörffer haben sich im Rahmen ihrer naturmagischen Suche mit Problemen der Optik  – insbesondere der Physiologie des Auges und den Möglichkeiten von Bildprojektion mittels Lichtlenkung durch Spiegel und Linsen – befasst. Ich beschränke mich auf einige Andeutungen zur früh­ neuzeitlichen Verwendung der Camera obscura.32 Die Camera obscura ist für unseren Zusammenhang von zweifachem Interesse: Zum einen, weil ihre 31 32

Harsdörffer, Erquickstunden, S. 518. Ausführlich zur wissenschaftlichen und künstlerischen Nutzungsgeschichte der Came­ra obscura in der Frühen Neuzeit vgl. Jörg Jochen Berns, Geflacker in dunklen Räumen. Von der Camera obscura zu Kino und Bildschirm, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.), Moder­nisierung des Sehens, Bielefeld 2008.

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Projektionsbilder schon im 16. Jahrhundert in Konkurrenz zu gemalten Bildern gesetzt wurden. Zum andern, weil die apparative Anordnung zur Erklärung und Optimierung der Leistung des menschlichen Auges oder auch zu deren Kritik herangezogen wurde. Hinsichtlich der Medienkonkur­renz wurden zwei Auffassungen artikuliert: Mit malerischen Mitteln seien die Projektionsbilder der Camera obscura wegen der inneren farbigen Bewegt­heit ihres Lichtspiels nicht imitierbar. Zum andern aber empfahl man sie trotzdem als Mal- und Zeichenhilfen und stattete tragbare Cameras mit diaphanen Zeichenflächen aus. Dass an der Projektionswand einer Camera obscura allemal nur das er­ scheinen kann, was sich vor ihrer Einfallsöffnung im Lichte tut, versteht sich. Das Projektionsbildangebot lässt sich indes, so erkannte man schon früh, auf zwei Weisen erweitern: Erstens, indem man Objekte im fixen Sichtfeld einer immobilen Camera obscura mobilisiert und verändert; oder zweitens, indem man die Camera obscura selbst mobilisiert, nämlich so be­weglich macht, dass sie herumgetragen und geschwenkt werden kann, wobei dann ständig neue Sichtfelder mit neuen Objektangeboten vor das Projekti­onsloch der ­Camera geraten. Für die erste Möglichkeit der Veränderung des Projektionsangebots in­ teressierte sich Della Porta, der als Erfinder der apparativen Camera obscura-Projektion gilt. Er legt u. a. dar, »Wie man in einem Zimmer Jagten  /  Schlachten und andre dergleichen Gauckeleyen vorstellen könne.«33 Seine Empfehlung geht da­hin, ein Zimmer als begehbare Camera obscura zu präparieren, indem man es verdunkelt und mit einer linsenbestückten Projektionsöffnung versieht. Vor dieser Öffnung solle man im hellen Tageslicht theatrale Szenen darbieten, die dann verkleinert vor den Insassen der verdunkelten Kammer auf der Projektionswand erscheinen. Die zweite Möglichkeit, das Projektionsbildangebots einer Camera obscura zu ändern, besteht, wie gesagt, darin, die Camera selbst mobil zu machen. Über sie denkt, nach vielen anderen, Harsdörffer nach. Dabei geht er – wie vor ihm schon Leonardo, Kircher, Bettini u. a. – davon aus, dass das menschliche Auge selbst eine Camera obscura sei und dass man an der künstli­ chen Camera obscura studieren könne, wie das eigne Auge funktioniert. Man könne damit sogar die Interiorisationsleistung menschlicher Erkenntnis vom Erkenntnisobjekt über die Sinnesvermittlung bis hin zur eigenen Seele verstehen lernen. Doch er geht noch einen kühnen Schritt weiter, indem er in einem Erbauungsgedicht darlegt, das eigene Herz fungiere als ­Camera obscura, an deren Projektionswand Gott seine Heilsgeschichte projiziere. Da heißt es:

33

Della Porta, Magia Naturalis, S. 722 f.

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»Ja doch mich erleucht das Liecht […] / das vom höchsten Himmel kommt und mein altes Hertz erneut. Durch den dicken Maurenriß (durch den Glauben / will ich sagen) mahlet dieser Silberstral / was uns Menschen soll behagen. Was für grosse Wunder sind in der Juden Vatterland / was man höret oder liset / wird an meines Hertzens Wand ausgebildet durch den Schein. […].«34

Die Wände der dunklen menschlichen Herzens-Kammer sind Projektions­ fläche der Wunderberichte der Bibel, die dort als imagines agentes erscheinen. So wird die Camera obscura zum Gedächtnisdispositiv.

Fazit Das, was die drei so unterschiedlichen Exempel gemein haben, ist ihr inven­ tiöses Verfahren. Es besteht in einer Nutzung des doppelten energetischen Potentials von inventio. Denn die eigentümliche Energie von inventio sah man ja seit der Antike schon in deren Zwiegesichtigkeit: in der Koppelung von ›Auffinden‹ und ›Erfinden‹. Diese Koppelung wird in der frühneuzeitlich-naturmagischen inventio nun naturwissenschaftlich-technologisch interpre­tiert. Nämlich so, dass das inventiöse ›Auffinden‹ eine Zerlegung aller Natur­bereiche in naturgegebene Grundeinheiten (Elemente, Essenzen, Energien) meint, während das inventiöse ›Erfinden‹ eine neue Zusammensetzung dieser aufgefundenen Grundeinheiten meint. Dieses Verfahren hat intermediale Konsequenzen und seine Produktionen sperren sich einer Ordnung nach medialen Zuständigkeiten, wie sie die Differenzierung in Septem artes liberales und Septem artes mechanicae voraussetzt. Die Naturmagie tritt im Paragone mit den überkommenen Künsteformationen nicht mit einem Leitmedium an, sondern hält jenen vielmehr eigene Medieninventionen entgegen, welche aus klassizistischer Sicht – vorerst – chimärisch erscheinen müssen. In dem inventiösen Verfahren spielt das Gedächtnis die Rolle eines Regulators, der alle Schritte des auffindenden Zerlegens und erfindenden Zusammensetzens überwacht und steuert. Und zwar so, dass er bei beiden Verfahren die Klimax vom alltäglich Bekannten über das Seltene zum noch Unbekannten leitet. Dieses Verfahren der memoriageleiteten naturtechno­logischen Verbindung von Auffinden und Erfinden ließ sich am Exempel der biologischen Kreuzung ebenso studieren wie an dem apparativen Sprachgenerator und schließlich an der Maschinisierung von Auge und Imagination. 34

Georg Philipp Harsdörffer, Hertzbewegliche Sonntagsandachten: Das ist / Bild- Lieder- und Bet-Büchlein / aus den Sprüchen der H. Schrifft / nach den Evangeli- und Festtexten verfasset. […] Gedruckt und verlegt durch Wolffgang Endter in Nürnberg / im Jahr 1649, S. 18 f.

Martin Miersch

Zum Wettstreit der Künste in einer Barockoper

1. Die französische Barockoper Die französische Barockoper präsentierte dem Publikum ein idealisiertes Herrscherbild, das einerseits den (idealisierten) Zustand der Monarchie in Frankreich widerspiegeln sollte, andererseits aber auch als Mahnung an den König verstanden werden konnte, die Eigenschaften, die ihm in der Oper zugeschrieben werden, auch zu kultivieren. Opernprologe dienten in der Barockzeit zumeist dazu, dem Fürsten, der die Oper in Auftrag gegeben und die Aufführung finanziert hatte, zu huldigen und seine Tugenden zu preisen. Zu diesem Zweck treten die Personifikationen der Künste solistisch auf, um jeweils auf ihre Weise panegyrisch zu agieren. Dabei kann sich eine paragonale Situation ergeben, indem die Künste ihre jeweils eigenen Vorzüge bei der Bewältigung der großen Aufgabe, nämlich dem Monarchen zu huldigen, hervorkehren und die Vorzüge der anderen Künste abzuschwächen versuchen. Gefragt wurde in diesen Prologen nach denjenigen Medien, die am besten dazu geeignet seien, sich an die Taten des Fürsten zu erinnern. Meines Wissens gibt es aber nur ein Werk der Ära Ludwigs XIV., welches diese typische Prologhandlung zum eigentlichen Inhalt gewählt hat: Die Kurzoper »Les arts florissants« von Marc Antoine Charpentier (1643–1704).1 Die vier agierenden Künste Malerei, Architektur, Poesie und Musik tragen hier jeweils eine Arie vor, in der es um die Frage geht, welche unter ihnen am besten dazu geeignet sei, Ludwig XIV. zu verherrlichen. Rezitative fehlen in Charpentiers nur eine Dreiviertelstunde einnehmender Kurzoper ganz. Da die paragonale Situation des Werkes sich nicht auf die Musik selbst auswirkt, sondern sich allein auf das Libretto erstreckt, wird im folgenden Beitrag auf die musikalische Analyse verzichtet.

1

Marc Antoine Charpentier, Les arts florissants, Dirigent: Sir William Christie, 1987, Harmonia Mundi 1901083.

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2. Charpentiers Kurzoper: »Les arts florissants« 2.1 Historischer Hintergrund Die Oper (von Charpentier auch »Idyle en musique« genannt)2 wurde 1685 für Marie de Lorraine, Duchesse de Guise, die Charpentier achtzehn Jahre lang protegierte, komponiert und aufgeführt.3 Da die Duchesse de Guise nur über ein begrenztes Ensemble verfügte, wurde das Werk für eine kleine Be­ setzung geschrieben. Der Librettist ist unbekannt. Charpentier war gerade aus Rom zurückgekehrt, wo er bei Giacomo Carissimi Komposition studiert hatte, da bekam er durch Vermittlung Molières den Auftrag, die Kurzoper für Marie de Lorraine zu komponieren. Der geschichtliche Hintergrund, vor dem die Opernhandlung gesehen werden muss, soll hier nur kurz skizziert werden: Im Jahr 1683 besetzte Ludwig XIV. die östlichen Teile der Spanischen Niederlande, insbesondere Luxemburg, 1684 das Kurfürstentum Pfalz. Da­ neben erfolgte noch die Besetzung der unteren Schelde, wodurch große Teile Flanderns in französischen Besitz gerieten. Gegen diese offenen Aggressionen mitten im Frieden protestierte Spanien heftig und erklärte noch 1683 den Krieg. Doch kein anderer Staat war bereit, die Waffen gegen Frankreich zu erheben, insbesondere Kaiser Leopold I. war durch die Wiener Türkenbelagerung gebunden. So musste Spanien umgehend um Frieden bitten. Ludwig handelte 1684 in Regensburg mit Spanien, Kaiser und Reich einen zwanzigjährigen Waffenstillstand aus und erreichte so die vorläufige Anerkennung sämtlicher Reunionen. Dadurch hatte Ludwig XIV. mit keinerlei Gegenwehr mehr zu rechnen und eröffnete somit die Möglichkeit, sich als Friedensheld feiern zu lassen.

2.2 Das Libretto Worin liegen nun die spezifischen Stärken der einzelnen Künste? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich dem Libretto des unbekannten Autors von »Les arts florissants« näher zuwenden. 2

Hitchcock schlägt die Bezeichnung »Pastorale« vor, weist aber zugleich daraufhin, dass Charpentier selbst die Bezeichnung »Opéra« verwendete; vgl. Hugh Wiley Hitchcock, Marc Antoine Charpentier, Oxford / New York 1990, S. 95. 3 Zu Marie de Lorraine, Duchesse de Guise (1615–1688) vgl. Francois Bluche, Dictionnaire du Grand Siècle, Paris 1990, S. 697. In einem anonymen »Mémoire« vom Feb­ruar 1726 werden »Les arts florissants« als ›Opera‹ bezeichnet; vgl. Patricia M. Ranum, Titon Du Tillet, premier »biographe« de Marc-Antoine Charpentier (1992), in: Catherine Cessac (Hg.), Marc-Antoine Charpentier. Un musicien retrouvé, Sprimont 2005, S. 39–53, hier S. 51.

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1. Szene: Zunächst tritt die ›Musik‹4 auf und auch jede weitere Szene wird durch die Arie der ›Musik‹ eingeleitet. Dieses selbstbewusste Auftreten der ›Musik‹ in einer musikalischen Darbietung überrascht keineswegs. Zudem zählt die Musik seit dem Mittelalter zu den sieben freien Künsten, den artes liberales, von denen Malerei, Skulptur und Poesie ausgeschlossen blieben. Die ›Musik‹ wendet sich zunächst nicht an eine der anderen Künste, sondern an die erschöpften Krieger, die sich nun, da der König den Frieden erwirkt hat, ausruhen können: »Que mes divins concerts, que ma douce harmonie, heureux guerriers comblent vos cœurs de mille innocents douceurs.«

Erst dann richtet sie an die anderen Künste die Aufforderung, ebenfalls wieder zu erblühen (»Fleurissez doctes arts…«). Die ›Musik‹ erweist sich als besonders geeignet für die Versinnlichung der propagandistischen Inhalte, nämlich des Lobes Ludwigs XIV. als Kriegsherr. Ihr sind die Qualitäten des Performativen, des Sinnlichen zueigen, aber ihr Herrscherlob ist nicht von Dauer, ein Aspekt, den dann ›Malerei‹ und ›Architektur‹ aufgreifen werden. Zunächst treten jedoch die Krieger auf und bilden einen Chor. Gerade aus dem Feldzug heimgekehrt, lauschen sie verzückt der Arie der ›Musik‹. Als nächstes meldet sich die ›Poesie‹ zu Wort. Sie lobt gleich zu Anfang ihre Schwesterkunst, die ›Musik‹, und fährt fort: »Si la musique est l’âme la Poésie en est le corps«. Sie unterwirft sich so einerseits der ›Seele‹ der Künste, andererseits hebt sie ihre Bedeutung hervor, die darin bestehe, dass sie in der Lage sei, den nobelsten Stil für das Herrscherlob zu wählen. Auch für die ›Poesie‹ wählte Charpentier eine Sopranlage. Die Heldentaten des Sonnenkönigs seien so groß, dass sie einem die Sprache verschlügen. Das Fazit der ›Poesie‹ ist also: Man sollte lieber schweigen, als schwache Formulierungen zu gebrauchen. Mit dieser Bescheidenheitsformel verweist sie auf ihre eigenen Grenzen und ihre rein dienende Funktion. Die ›Malerei‹ gibt vor, am besten zur Vergegenwärtigung der Taten des Herrschers geeignet zu sein. (Hier sei an die Gemälde von Le Brun [Abb. 1],5 die Histoire métallique und die politische Propagandakunst der Zeit erinnert.) Ihr Vorzug sei ihre Dauerhaftigkeit. Dennoch erfasst sie die Furcht, allein nicht der panegyrischen Aufgabe, die Taten des Sonnenkönigs ange4

Die ›Musik‹ wurde von Charpentier mit einem Diskant besetzt, also mit einer So­ pranstimme. 5 Als Beispiel für die bildliche Verherrlichung der Taten des Sonnenkönigs sei hier nur Le Bruns Gemälde »Die zweite Eroberung der Franche-Comté« von 1678 genannt (Abb. 1).

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Abb. 1: Charles Le Brun, »Die zweite Eroberung der Franche-Comté«, 1678, Öl auf Leinwand, 93 × 140 cm, Versailles, Musée national du château et des Trianons

messen zu preisen, gewachsen zu sein. Die ›Malerei‹ ist eine Partie für einen Haute-contre, die Stimmlage, in der Charpentier selbst, brillierte. Man kann daher annehmen, dass bei der Uraufführung der Komponist selbst diese Partie gesungen hat.6 Die ›Architektur‹ wird erst nach der ›Malerei‹ in den Diskurs eingeführt, was ebenso wie die Besetzung mit einem Mezzosopran (bas-dessus)7 an Stelle eines Soprans eine Zurücksetzung bedeuten könnte, allerdings ergeben sich inhaltlich keine Hinweise auf eine mögliche Vorrangstellung der ›Malerei‹.8 Auch die ›Architektur‹ gibt vor, die riesige Aufgabe der Panegyrik nicht allein bewältigen zu können. So beginnt sie ihre Arie schon mit der Aufforderung: »Joignons-nous savante peinture«. Sie betont die Dauerhaftigkeit ihrer Gebäude, die der Bequemlichkeit des Monarchen zu dienen haben, aber auch für dessen Nachruhm sorgen sollen. Es folgt ein Duett mit der ›Malerei‹, 6

Vgl. Raphaëlle Legrand, Chaconnes et passacailles de Charpentier, in: Cessac (Hg.), Marc-Antoine Charpentier (vgl. Anm. 3), S. 297–306, hier S. 302 f. 7 Diese Stimmlage findet sich vergleichsweise selten in der französischen Barockoper. 8 Zur Aufwertung der Architektur und ihre Annäherung an die artes liberales im 15. Jahrhundert vgl. Katharina Barbara Lepper, Der Paragone – Studien zu den Bewertungsnormen der bildenden Künste im frühen Humanismus 1350–1480 (Diss. 1978), Bonn 1987, S. 133.

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mithin also eine Verbindung der raumbasierten Medien: Nur mit unerhörten Mitteln kann der Sieg errungen werden und daher müssen die beiden Künste zusammenarbeiten, um Louis zu gefallen. 2. Szene: Die Szene beginnt mit einem entsetzlichen Lärm (»bruit effroyable«). Die ›Malerei‹, die wiederum die Szene einleitet, fragt sich, was dieser Krach, die plötzliche Dunkelheit und das einsetzende Erdbeben zu bedeuten haben. Die übrigen Künste bleiben angesichts der beunruhigenden Zeichen stumm, d. h. sie sind wohl als noch furchtsamer als die ›Musik‹ anzusehen. Angst­erfüllt fliehen die Krieger und die Personifikationen der Künste, während ›La Discorde‹ auf der Bühne erscheint. ›La Discorde‹ ist entschlossen, den Krieg nach Frankreich zu bringen. Sie scheut sich nicht einmal, den König zu beleidigen, der »auf seinem Thron zittert.« Sein Ruhm bereitet ihr Qualen, seine Milde hat sie schon zu lange gehemmt: »Sa gloire est un supplice à ma jalouse haine, Assez et trop longtemps sa clémence m’enchaîne Dans l’abyme profond du séjour ténébreux…«

Offensichtlich ist ›La Discorde‹ eifersüchtig auf den Ruhm des Königs. Mit den Worten »Renversons le ciel, la terre et l’onde« wendet sie sich an ihre Begleiterinnen, die Furien, und fordert sie auf, die vom König hergestellte Ordnung zu zerstören. Diese fallen zustimmend in den hasserfüllten Gesang ein. 3. Szene: Nach einem Orchestervorspiel wendet sich ›La Paix‹ (Sopran) an die von einem lyrischen Bass (basso cantabile)  interpretierte Personifikation der Zwietracht (›La Discorde‹) mit der Aufforderung, ihr verbrecherisches Gefolge abzuziehen. Wenn der königliche Held den Frieden in seinem Reich aufrechterhält, haben die Mächte der Finsternis dort keine Chance: »Tant que ce héros généreux Me maintiendra dans son empire Malgré le noir dessein que la rage t’inspire, Nul de tous ces malheurs ne tombera sur eux.«

Besonnen und von beispielhafter Affektbeherrschung durchdrungen präsentiert sich das Auftreten von ›La Paix‹ als denkbar größter Kontrast zu ›La Discorde‹. Vergeblich versucht letztere daraufhin, die Furien zu ihrem verbrecherischen Tun aufzurufen. Diese stimmen zwar in deren Gewaltphantasien ein, werden jedoch sofort von ›La Paix‹ gestoppt. Im Wortgefecht mit ›La Discorde‹ vergleicht ›La Paix‹ Ludwig XIV. mit Jupiter. Louis wird als der wahre Friedensbringer gepriesen. ›La Discorde‹ flieht, nachdem ›La Paix‹ den Beistand Jupiters und seiner himmlischen Blitze erfleht hat:

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»Ah, je l’entens déja qui gronde dans les airs; Fille de la nuit éternelle, Qui sens une peine cruelle De la paix que Louis assure à l’univers ; Va, retire d’ici ta suite criminelle, Et retombe avec elle Dans le fond de l’enfer.«

4. Szene: ›La Paix‹ beschwört die Künste, in ihrem harmonischen Zusammenspiel wieder zu erscheinen. »Reviens, agréable harmonie, reviens avec tes douces sœurs, viens exercer sur tous les cœurs, une si douce tyrannie, que nos plus généreux guerrriers préfèrent le myrthe aux lauriers.«

5. Szene: Die fünfte Szene besteht aus einer langen, teils instrumental, teils vokal aus­ geführten, 248 Takte umfassenden Chaconne in g-Dur, die Charpentier mit der Bezeichnung »doucement joyeux« versehen hat. Insgesamt besteht das Stück aus fünf Teilen, wobei sich jeweils vokale und instrumentale Passagen abwechseln. Mit den Worten: »Charmante paix du Ciel à propos descendue Que ne devons-nous pas à tes rares bontés…«

übernimmt die ›Musik‹ erneut die Führung. Sie beginnt den Lobgesang auf den Frieden und hat nach dem Chor der Künste und der Krieger ein weiteres Solo. In immer neuen Variationen, in denen Charpentier seinen Ideenreichtum unter Beweis stellt, feiern die Künste und der Chor der Krieger den Frieden als Garanten für Glück und Wohlstand, wobei die Krieger sich als erstaunlich unkriegerisch, ja geradezu als pazifistisch gesinnt erweisen. Die Poesie will sich ganz in den Dienst des Friedens stellen, denn nur in Friedenszeiten blühen die Künste. Im dritten Vokalteil, einem Duett, beschwören die beiden raumbasierten Medien, ›Malerei‹ und ›Architektur‹, ihre Eintracht. Ihr Ziel ist es, dem Monarchen (Monarche des Lys) zu helfen, den Franzosen Frieden zu bringen. Musikalische Motive des ersten Teils werden hier in verkürzter Form wieder aufgegriffen.9 Besondere Virtuosität wird dem Solo des Haute-contre abverlangt, dessen Partie Charpentier, wie schon ausgeführt, selbst übernommen 9

Vgl. Raphaëlle Legrand (wie Anm. 6), S. 303.

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haben dürfte.10 Jede der beiden Künste lobt zunächst in einem Solopart die eigenen Fähigkeiten: »La scavante peinture, la belle architecture,

bevor sie vereint singen und damit das Gesungene unterstreichen: »dans leurs emplois unis te donneront toujours pour compagne fidèle.«

Die Konsonanz von Architektur und ›Malerei‹ unterstreicht ihre postulierte Einheit in der Verherrlichung des Friedens und damit auch des Friedensbringers, also des Königs. Es folgt ein Trio der beiden ›Zeitmedien‹ zusammen mit einem Krieger: ›Musik‹ und ›Poesie‹ singen gemeinsam ein Lob auf den Frieden: »Tu ramenes le temps de Saturne et de Rhée, demeure toujours avec nous.« (Du stellst das Goldene Zeitalter wieder her, bleib stets bei uns.)

Das Verb »demeure« wird besonders betont und immer erneut wiederholt, wobei durch den flehentlichen Charakter dieser Worte die Friedenssehnsucht besonders zum Ausdruck gebracht wird. Dieses Trio erscheint gegenüber dem soeben erklungenen Duo wie eine musikalische Steigerung. Durch die Erweiterung von einem Duo hin zu einem Trio, in dem nun auch ein Krieger den Frieden herbeifleht, und den damit verbundenen, komplizierteren musikalischen Verflechtungen kann unter Umständen eine Rangabstufung der Zeitmedien gegenüber den zuvor gehörten raumbasierten Medien, ›Malerei‹ und ›Architektur‹, angedeutet sein, die jedoch durch das Libretto nicht gestützt wird. Der letzte Instrumentalteil, eine Sarabande en Rondeau, vereinigt auf höchst virtuose Weise ironische musikalische Selbstzitate mit überraschenden rhythmischen Variationen. Vor dem letztmaligen Auftritt des Friedens erfolgt eine Rhythmusänderung von einem heiteren Tanz zu einem langsamen, würdevollen Schreiten. Die dann folgende Arie der Personifikation des Friedens bezieht sich erneut auf den soeben beendeten Krieg gegen Spanien: »[…] et les plaisirs que ma main vous présente après l’horreur d’une guerre sanglante sont dignes des plus grands héros.« 10

Seine Solopartie, die der ›Malerei‹, wird von zwei Flöten begleitet. Durch diesen Kunstgriff und durch die Tatsache, dass die Besetzung nur einen Counter-Tenor vorsieht, wird auch der Malerei eine exzeptionelle, wenn auch keine vorrangige Rolle zugewiesen.

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Schlusschor: Anschließend folgt eine kurze instrumentale Ritornelle, die mit ihrem langsamen Tempo und ihrer nachdenklichen Stimmung die Funktion eines retardierenden Elements vor dem Finale übernimmt. In diesem, das von ausgelassener Fröhlichkeit geprägt ist, vereinen sich Künste und Krieger zu einem gemeinsamen Schlusschor.

3. Charpentier als Spezialist für den Paragone Auch Charpentiers Opern-Divertissement »Les plaisirs de Versailles«11 von 1682 enthält als zentrales Element die pflichtschuldige musikalische Verbeugung vor Ludwig XIV.12 Am Ende der Oper wird der König sogar persönlich angeredet,13 wobei deutlich gemacht wird, dass alle Talente auf musika­lischem Gebiet nicht ausreichen, um dem König in angemessener Weise Erholung von seinen anstrengenden Taten zu verschaffen. Auch diese Kurzoper enthält eine klassische Paragone-Situation: Hier streiten die Perso­ nifikationen von Musik und Konversation um die Frage, wer von ihnen mehr zum königlichen Vergnügen beizutragen vermag. Aus Furcht, die beiden könnten vor lauter Ärger das Schloss zu Versailles verlassen, ruft der Chor dieser Lustbarkeiten Comus, als Vermittler an. Comus, ein antiker Gott und Anführer des Dionysoszuges (ein Bass), reicht den Streitenden guten Wein, Schokolade und auserlesenes Gebäck. Doch umsonst. Er bittet seinerseits das ›Spiel‹ (›Le Jeu‹, eine Haute-contre) um Hilfe, das jedoch die Streitenden auch nicht zu versöhnen vermag. Erst am Ende versöhnen sich die ›Musik‹ und die ›Konversation‹. Der Chor der Lustbarkeiten atmet auf: Die Streithähne ›Musik‹ und ›Konversation‹ haben sich wieder vertragen und können wieder zu Erholung des Königs von seinen kriegerischen Taten beitragen. Erstaunlicherweise erfolgt die Differenzierung der Charaktere hier allein auf textlicher Ebene, während die Musik die spezifischen Eigenheiten der einzelnen Künste und Personifikationen (›Jeu‹, etc.) nicht herausarbeitet. Wie auch in »Les arts florissants« gilt dem Nachruhm des Königs die besondere Aufmerksamkeit des Librettisten. In »Les plaisirs de Versailles« wird 11

Hugh Wiley Hitchcock, Charpentier – kleinbesetzte Gesangswerke, in: Booklet der CD: Marc Antoine Charpentier, Les plaisirs de Versailles, Aufnahme mit William Christie und »Les arts florissants«, (Erato: 0630–14774–2) 1996, S. 17. 12 Mit diesem Opern-Divertissement evozierte Charpentier die Abendunterhaltungen des Königs in Versailles, die sogenannten ›Appartements‹. Vgl. Bluche, Dictionnaire du Grand Siècle, S. 311. 13 Szene 4, (Schlusschor) : »Grand Roy, tout couvert de lauriers / Si pour te délasser de tes travaux guerriers / Nos flûtes et nos voix te semblent impuissantes / Prends nos désirs pour des effets«.

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die Frage aufgeworfen, welche der Künste am besten dazu geeignet ist, sich in Zukunft an die Taten des Sonnenkönigs zu erinnern. Es handelt sich um eine ›paragonale Versuchsanordnung‹, bei der die Dauerhaftigkeit der jeweiligen Kunst, aber auch ihr jeweiliger sozialer Status hinterfragt werden. Bevor wir nun zu einer abschließenden Beurteilung von »Les arts florissants« gelangen, soll das Umfeld dieses Werks näher beleuchtet werden, sollen paragonale Situationen im barocken Opernprolog in die Überlegungen einbezogen werden sowie eine Einbettung in die klassische Paragonediskussion des 16. und 17. Jahrhunderts erfolgen. Darüber hinaus soll der Blick auf die Bildende Kunst gelenkt und der Frage nachgegangen werden, welche Rangposition diejenige Kunst, in der der Wettstreit ausgetragen wird, durch ihre Sonderstellung beansprucht.

4. Paragonale Situationen in der französischen Barockmusik Eine Wettkampfsituation finden wir bereits in Jean-Baptiste Lullys »Ballet de raillerie« von 1659. Allerdings opponieren hier nicht verschiedene Künste gegeneinander, vielmehr legen die Personifikationen der italienischen und französischen Musik ihre unterschiedlichen Positionen dar. Eindeutig ist von einem Widerstreit14 die Rede, gleichwohl finden auch hier die beiden Kontrahenten in einem abschließenden Duett zusammen und versöhnen sich mit der Erkenntnis, dass im Reich der Liebe beide Musikformen ihre Berechtigung haben: »Toutes deux Cessons donc de nous contredire, Puisque dans l’amoureux empire, Où se confond incessament Le plaisir avec le tourment, Le cœur qui chante et celuy qui soupire Peuvent s’accorder aysément.«

Jean-Joseph Mourets15 im Jahre 1714 aufgeführter Opéra-ballet »Les Fêtes de Thalie« enthält einen Prolog, in dem sich Melpomene, Thalia und Apoll in einem Wettstreit um die Vorrangstellung befinden. Dem Werk wurde noch im selben Jahr ein Epilog angefügt, der den Titel »La critique des Fêtes de Thalie« trägt, in dem sich die Autoren mit der Kritik an ihrem Werk aus14

Vgl. den Textauszug in: Barocke Repräsentationsopern – gesammelte Beiträge zum Blockseminar »Repräsentationsmusik« des Musikwissenschaftlichen Seminars der Universität Bonn, Bonn 1995, S. 16 f. 15 Zu Mouret vgl. Caroline Wood / Graham Sadler, French Baroque Opera, Burlington 2000, S. 56.

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einandergesetzt haben.16 Im »Ballet des Muses« von André Campra17 wird der Inhalt des Werkes als ein von Apoll veranstalteter Wettbewerb zwischen den Musen erklärt. Bei den meisten französischen Opernprologen des 17.  und frühen 18.  Jahrhunderts kann man allerdings bestenfalls von paragonalen Situationen sprechen als von einem echten Wettstreit. Zumeist werden die verschiedenen ästhetischen Positionen als Ergebnis eines nur implizit gegenwärtigen, bereits überwundenen Streites nebeneinander gestellt. Als Kontrahenten treten die ›Musen‹, die ›Literaturgattungen‹, ›Nationen‹ (Frankreich und Italien), die ›Sinne‹, ›Fabel‹ und ›Geschichtsschreibung‹ sowie immer wieder vereinzelte Musen im Verein mit dem Gott Apoll auf. Eine Ausnahme bildet das von Michel de La Barre 1700 komponierte Ballett »Le Triomphe des arts«, in dem in jeder Entrée eine Kunstgattung auftritt.18 Im Gegensatz zu Charpentiers Kurzoper gibt es jedoch keine direkte Konfrontation oder gar Duette, während Charpentiers Auswahl (›Musik‹, ›Poesie‹, ›Malerei‹, ›Architektur‹) hier noch um die ›Skulptur‹ erweitert worden ist. Auch Charpentiers Tragicomedie »Circé« von 1675 besaß einen voll auskomponierten Prolog.19 In diesem frühesten Opernprolog Charpentiers mit allegorischen Charakteren treten nach einem majestätischen Prélude die »Arts et plaisirs« auf. Den Text verfasste der französische Dichter Thomas Corneille. In den französischen Opernprologen werden die Künste nicht von verschiedenen Instrumenten charakterisiert oder mit Hilfe musikalischer Motive voneinander abgesetzt. In ihnen wird stets auf den Sonnenkönig Bezug genommen. Der König bleibt immer der Mittelpunkt des Interesses, und so verwundert es auch nicht, dass selbst in denjenigen Opernprologen, die eine paragonale Situation aufweisen, diese der Verherrlichung des Monarchen untergeordnet ist. Mitunter beinhaltet der barocke Opernprolog allerdings auch eine deutliche Regentenkritik.20 Zumeist wird im Prolog eher eine Situation als eine Handlung dargestellt. Häufig ergibt sich ein Wettstreit zwischen allegorischen Figuren, der jedoch nie Selbstzweck ist, sondern immer auf das Herrscherlob bezogen bleibt. Der Name des Herrschers wird  – anders als 16

Libretto: Joseph de la Font. Diese und die folgenden Informationen über französische Opernprologe verdanke ich einer freundlichen Mitteilung von Herbert Schneider, Saarbrücken, der die Prologe des »Recueil des opéras représentés par l’Académie Royale de musique« durchgesehen hat. 17 1703 uraufgeführt, Libretto von Antoine Danchet. 18 Libretto: Houdar de La Motte ; vgl. Marie-Hélène Sillanolli, La vie et l’œuvre de ­Michel de La Barre, flûtiste de la chambre et compositeur du Roi, Paris 1984, S. 755. 19 Vgl. Hitchcock, Marc Antoine Charpentier, S. 90. 20 Vgl. Herbert Schneider, Art. »Prolog«, in: Ludwig Fischer (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7, Sachteil, Kassel 21997, Sp. 1844–1851, hier Sp. 1846.

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bei »Les arts florissants« – zumeist nicht genannt. Anspielungen auf aktuelle politische Ereignisse reichten aus, um die Identität des Angesprochenen deutlich zu machen.21 Deutsche Opernprologe der Barockzeit, die den Wettstreit der Künste thematisieren, sind vor allem an der Hamburger Bühne beliebt gewesen.22 Sie wurden entweder zur Begrüßung hoher Gäste eingesetzt, »oder sie dienten der Werbung in eigener Sache, wenn eine neue Opernleitung angetreten war oder der Besuch des Opernhauses wieder einmal zu wünschen übrig ließ.«23 Ersteres war beim »Wett-Streit der Poesie, Music, und Mahlerei« anlässlich des Besuches von August Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg und Mitgliedern des holsteinischen Herzogshauses im Jahre 1725 der Fall.24 In diesen deutschen Opernprologen, die oft eine derb-komische Sprache kennzeichnet, finden sich auch direkte verbale Konfrontationen zwischen einzelnen Künsten, so etwa in Christian Heinrich Postels »Vorzugs-Streit der Künste«, wo die Dichtkunst der Malerei vorwirft, dass sie das weniger dauerhafte Medium sei. Aber auch hier wie in allen Opernprologen endet der Wettstreit unentschieden, mit dem Appell, künftig gemeinsam zusammen­ zuwirken.25 Als Antwort auf den Buffonistenstreit26 verzichtete dann 1749 Jean-Philippe Rameau als erster französischer Komponist in seiner Oper »Zo­roastre« ganz auf einen Prolog und damit auch auf die deutliche Bezugnahme zum französischen Herrscherhaus.27

21

Vgl. den Prolog zu Lullys Oper Alceste von 1674, in: Barocke Repräsentationsopern, S. 38. 22 Vgl. Bernhard Jahn, Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680– 1740), Tübingen 2005, S. 77 ff. 23 Ebd. , S. 77. 24 Prolog von Johann Philipp Praetorius und Johann Georg Linike, Hamburg 1725, Jahn 2005, S. 408. 25 Christian Heinrich Postel, Vorzugs-Streit der Künste als der Mahlerey, Ticht- und Singe-Kunst, Wolfenbüttel 1696; vgl. Jahn, Die Sinne und die Oper, S. 81. 26 Der zwischen 1752 und 1754 in Paris geführte Buffonistenstreit (frz.: Querelle des Bouffons) drehte sich um Priorität der französischen oder der italienischen Oper. Als Auslöser gilt die Aufführung von Pergolesis Intermezzo »La serva padrona (1733) am 1. August 1752. Die Hauptakteure der Kontroverse waren einerseits der konservative, die französische Oper bevorzugende »Coin du Roi« (Loge des Königs), und andererseits der progressive, die italienische Oper verfechtende »Coin de la Reine« (Loge der Königin). Zu letzteren gehörten u. a. die Enzyklopädisten um Diderot, D’Alem­bert, Rousseau und Grimm. 27 Vgl. Ulrich Schreiber, Die Kunst der Oper, Bd. I, Frankfurt a. M. 1988, S. 119.

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5. Semiparagonale Situationen Eine semiparagonale Situation kann allein schon aus der Wahl des Sujets resultieren, wie das Beispiel des Pygmalion-Stoffes, auf den hier nur sehr verkürzt eingegangen werden kann, zeigt.28 In dem Mitte des 18. Jahrhunderts beliebten Mythos von der Verlebendigung einer Statue kann der Versuch der Aufwertung der Bildhauerkunst gegenüber den anderen Künsten gesehen werden.29 Im Medium der Oper werden die Qualitäten der Kunst des Bildhauers im Allgemeinen und Pygmalions im Besonderen unweigerlich den in diesem Medium vertretenen Künsten, Poesie und Musik, gegenübergestellt. Jean-Philippe Rameau bearbeitete den Pygmalion-Soff als einaktiges Ballett.30 Neben den Rollen des Bildhauers und der Statue enthält es außerdem die Rolle der in Pygmalion verliebten Cephise sowie die tanzenden Grazien, denen in einer Tanzsuite die Aufgabe obliegt, die soeben belebte Statue in die verschiedenen Formen des Tanzes einzuweisen. Es verwundert nicht, dass hier, in einem Ballett, der Tanz gleichwertig neben die anderen Künste tritt. Allerdings ist die Tanzkunst wie auch die Musik und die Poesie – anders als etwa bei Gotthold Ephraim Lessing – der Bildhauerei untergeordnet.31 Zwar werden die anderen Künste nicht genannt, doch wird deutlich dass allein die Bildhauerei zu einer solchen Leistung fähig ist: »L’amour dès longtemps aspirait À former par ses dons l’être le plus aimable; Mais pour les unir tous, il fallait un objet Dont ton Art seul était capable.« 28

Vgl. Frédéric Chappey, L’iconographie de Pygmalion et Galatée aux XIXe et XXe siècles, in: L’ artiste et sa muse, hg. Von Christiane Dotal, Rom 2006, S. 3–18. 29 Vgl. z.B: Oskar Bätschmann, Belebung durch Bewunderung. Pygmalion als Modell der Kunstrezeption, in: Mathias Mayer/ Gerhard Neumann (Hg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, hg. v. Gerhard Neumann und Gunter Schnitzler, Bd. 45), Freiburg i. Br. 1997, S. 325–370. 30 Rameau, Acte de ballet. Die Uraufführung erfolgte am 27.  August 1748 an der Académie Royale de Musique in Paris. Das Libretto verfasste Ballot de Sauvot nach einem Text von Antoine Houdar de la Motte. Aufnahmen: 1.  Hervé Niquet und Le concert spirituel, Fnac music 592196, Booklet-Text von Olivier Opdebeek. 2. William Christie und Les arts florissants, Harmonia mundi France 901381. 31 In Lessings »Laokoon« (Berlin, 1766) übernimmt die Poesie die Führungsrolle und dient den übrigen Künsten als Leitbild. Die Ausdrucksmittel der Bildhauerei sind für Lessing gegenüber der Poesie begrenzt. Vor allem die Schilderung des Hässlichen entziehe sich ihren Möglichkeiten. Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, in: Ders.: Werke und Briefe, Band 5,2, F.a. M. 1990 S.  35. Vgl. auch: Hans Christoph Buch, Ut pictura poesis, München 1972, S. 61.

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Nur die Bildhauerei vermag es also, ein lebloses Objekt zum Leben zu er­ wecken, aber auch ihr gelingt dies nur mit Hilfe der Göttin Venus. Mit »Pygmalion, scene lyrique« von 1771 erfand Jean-Jacques Rousseau eine neue musikalische Gattung: das Melodram. Indem Rousseau einerseits auf Gesang verzichtet und andererseits einen Bildhauer zum Protagonisten seines Melodrams wählt, schafft er indirekt eine paragonale Situation zwischen Instrumentalmusik, Dichtung und Bildender Kunst.32 Letztere vertreten durch die Skulptur, deren besondere Qualitäten gemäß der alten Traktatliteratur die Mehrdimensionalität und die Qualität des Haptischen sind. Als dann 1775 Arnaud Berquin eine Versfassung von Rousseaus »Pygma­lion« vorlegt,33 sind dieser sechs Kupferstiche von Jean-Michel Moreau Le Jeune beigefügt (Abb. 2–7). Sie illustrieren das Werk, indem sie die Handlung wie eine Filmsequenz darbieten, wobei der Ort das Geschehens, das Atelier des Künstlers, jeweils aus derselben Perspektive gezeigt wird und geben die wechselnden Emotionen Pygmalions im Angesicht seiner Schöpfung wieder, bis dann am Ende Galathea von ihrem Sockel steigt und ihren Schöpfer umarmt. Offensichtlich sollte durch die Hinzufügung der Kupferstiche die paragonale Situation erweitert werden, denn durch die Sequenzierung der Illustrationen wird das Bildmedium in die Gruppe der Zeitmedien transportiert und somit ein alter Vorwurf, nämlich der des Stillstandes der Zeit in den Bildmedien, entkräftet. Wie im späteren Comic-Strip wird ein Handlungsablauf gezeigt, der offenkundig mit den Dialogen in Einklang gebracht bzw. mit diesen konkurrieren soll. Dabei wäre es möglich, den Inhalt der Szene zu begreifen, wenn man sich allein auf das Betrachten der Bilder beschränken würde. Auf die Erzähltechnik des Films voraus greifend wurde so der Kupferstich als Bildmedium gegenüber den anderen Zeitmedien aufgewertet. Die Pygmalion-Vertonungen des 18.  Jahrhunderts weisen keine Diskussion um die Rangfolge der Künste auf. Ein offener Wettstreit findet nicht statt, denn alle Charaktere, selbst Pygmalion, handeln im Dienste Amors, sind also der Macht der Liebe unterworfen. Auch wenn die Künste hier nicht selbst auftreten, ergibt sich eine semiparagonale Situation allein schon aus der Tatsache, dass ein Komponist die Bildhauerei in den Mittelpunkt eines seiner Werke stellt. Die Bildhauerei wird zwar nicht über die jeweiligen anderen Künste erhoben, sie wird jedoch durch die göttlich inspirierte Belebung der Statue von ihrem Makel als rein handwerkliches Metier befreit. 32

Vgl. Samuel Baud-Bovy, Jean-Jacques Rousseau et la musique, Neuchâtel 1988, S. 26; Peter Gülke, Rousseau und die Musik, Wilhelmshaven 1984, S. 145 ff. 33 Arnaud Berquin, Pygmalion, scène lyrique, Paris 1775; Werner Deusch (Hg.): Das Buch als Kunstwerk. Französische illustrierte Bücher des 18. Jahrhunderts aus der Bibliothek Hans Fürstenberg, Stuttgart 1965, S. 63, Nr. 73.

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Martin Miersch Abb. 2–7: Nicolas Ponce und Nicolas de Launay nach Jean-Michel Moreau Le Jeune, Illustrationen zu Arnaud Berquin »Pygmalion, scène lyrique«, Paris 1775, Kupferstiche, je 5,6 × 7,8 cm

Abb. 2: Pygmalion, unzufrieden mit seinem Werk und unfähig weiter zu arbeiten, steht wie paralysiert vor der Skulptur. »Je ne vois sur ces traits ni sentiment, ni vie. Ce n’est que de la pierre.«

Abb. 3: Pygmalion setzt sich und betrachtet sein Werk. »Il s’assied pendant quelques instans.«

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Abb. 4: Pygmalion nähert sich der Nische, in der hinter einem Vorhang die Statue der Galathea verborgen ist. »Il s’approche du Pavillon.«

Abb. 5: Pygmalion öffnet den Vorhang und sinkt verzückt auf die Knie. »Il leve le voile en tremblant, et se prosterne.«

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Abb. 6: Pygmalion setzt den Meißel an und erschrickt. »Je sens la chair palpitante.«

Abb. 7: Sie reicht ihm die Hand. »Galathée s’avance vers lui. Elle pose une main sur lui.«

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6. Exkurs zur Paragone-Debatte in den Bildenden Künsten Da das Thema des Paragone in den Barockopern eine unübersehbare Rolle spielt, soll im Folgenden kurz der kunsthistorische Hintergrund der Debatte skizziert werden. Auch hier ist nämlich zu beobachten, dass die Fragen nicht allein in der maßgeblichen kunsttheoretischen Traktatliteratur entschieden werden, sondern dass sich parallel eine auffallend hohe Dichte origineller künstlerischer Reflexionsformen findet. In der klassischen Paragone-Diskussion des 16. Jahrhunderts ging es zumeist um die Frage, ob die Skulptur der Malerei über- oder unterlegen sei. So räumt etwa Leonardo bereits um 1492 nach dem Vorbild der antiken Autoren der Malerei den Vorzug gegenüber der Skulptur ein.34 Auch Baldassare Castiglione versteht den certamen artium als Rangstreit zwischen diesen beiden Künsten und kommt in seinem »Cortegiano« von 1524 zu dem Schluss, dass er »die Malerei für edler und kunstreicher« hält als die Bildhauerei, zumal auch die Antike diesem Urteil zugeneigt gewesen sei.35 Allerdings sei die Skulptur aus dauerhafterem Material, erfülle also besser den erwünschten Zweck der memoria. Außerdem sei die Malerei nur zweidimen­sional und somit in puncto Wirklichkeitstreue der dreidimensionalen Skulptur unterlegen. In der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Beispiele des im Gemälde ausgetragenen Paragone mit der Bildhauerei, wobei vier Typen zu unterscheiden sind: 1. Bildnisse, die auch Skulpturen beinhalten, sei es als Attribut eines Bild­ hauers oder eines Sammlers.36 2. Bildnisse mit Spiegeln im Bild.37 34

Leonardo da Vinci, Libro di Pittura, Parte prima, Kapitel 36–46, in: Claire J. Farago, Leonardo da Vinci’s Paragone, Leiden / New York 1992, S. 256–287. Leonardos Argument ist das seiner Meinung nach eingeschränkte Repertoire der Skulptur, welches u. a. Naturphänomene wie Wolken, Dunst, Nebel etc. ausschließe. Vgl. Giorgio Baratta, Musica »figurazione delle cose invisibili«. Sul »paragone delle arti«, in: Fabio Frosini (Hg.), »Tutte le opere non son per istancarmi«. Raccolta di scritti per i settant’anni di Carlo pedretti, Rom 1998, S. 13–26; vgl. auch Emanuel Winternitz, La musica nel Paragone di Leonardo da Vinci, Florenz 1972; zum Rangstreit der Künste in der Kunstliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. Albert Dresdner, Die Entstehung der Kunstkritik, München 2001, S. 106 f., 138. 35 Baldassare Castiglione, Der Hofmann, Berlin 1996, S. 54. 36 Z. B. Lorenzo Lottos Bildnis des Andrea Odoni in seiner Skulpturensammlung, London, National Gallery. 37 Vgl. Andrew John Martin, Savoldos sogenanntes »Bildnis des Gaston de Foix«. Zum Problem des Paragone in der Kunst und Kunsttheorie der italienischen Renaissance, Sigmaringen 1995, S.  9; Gabriele Helke, Lorenzo Lottos Spiegel im Dienst von Para­gone und Religion, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 4/5 (2002/2003), S. 76–119.

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Abb. 8: Jean Siméon Chardin, Die Attribute der Künste, 1766, 102 × 140,5 cm, Öl auf Leinwand, St. Petersburg, Eremitage

3. Bildnisse, die mehrere Ansichten eines Dargestellten vereinen.38 4. Gemalte Reliefs, die mit der sie umgebenden Malerei in einen Wettstreit treten.39 Umgekehrt finden wir aber auch Bildhauer, die mittels ihrer Bronzereliefs mit der Malerei in einen Wettstreit treten und die beweisen wollen, dass auch ihre Kunst in der Lage ist, Perspektive, Verkürzungen und atmosphärische Erscheinungen der Landschaft, des Himmels und des Wassers darzustellen.40 Durch wiederholte polemische Angriffe der Kunsttheorie war die Bildhauerei im 16. Jahrhundert offensichtlich in die Defensive geraten und so versuchte man mitunter, die Grenzen der skulpturalen Gattung zu durchbrechen, 38

Vgl. Lorenzo Lotto, Bildnis eines Goldschmiedes in drei Ansichten, Wien, Kunsthistorisches Museum. , Inv. Nr. 92. 39 U. a. Tizians »Bildnis einer Dame«, London, National Gallery, sowie Fensterbilder von Gerrit Dou. Wieder soll die Überlegenheit der Malerei, hier durch die Fähigkeit zum Illusionismus, vorgeführt werden; vgl. Helke, Lorenzo Lottos Spiegel, S. 76; zu Dou vgl. Stephanie Sonntag, Im Wettstreit der Künste. Fensterbilder der Leidener Feinmaler und der Paragone mit der Bildhauerkunst, in: Dresdener Kunstblätter 5 (2006), S. 279–287. 40 Als Beispiel sei nur der Wettstreit von Lorenzo Lottos Gemälde »Der Blut spendende Erlöser« mit einem Bronzerelief Jacopo Sansovinos genannt; vgl. Helke, Lorenzo Lottos Spiegel, S. 77, 103.

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um zu beweisen, dass die Bildhauerei über alle Vorzüge der Schwesterkunst verfüge. Unterschiedlichste Konkurrenzsituationen sind denkbar, so etwa die Konkurrenz mit Kunstwerken der Antike.41 Parallelen den Paragone innerhalb eines Kunstwerks betreffend ergeben sich in der Malerei. So treten z. B. auch in Jean Siméon Chardins allegorischem Stillleben42 aus dem Jahre 1766 (Abb. 8) die Künste in einen Wettstreit. Allerdings sind es hier die zu einem Stillleben arrangierten Attribute der verschiedenen (Bildenden) Künste, welche sich in einem stummen Wettstreit gegenüber stehen. Im Zentrum des Arrangements befindet sich eine Gipsfigur, die den antiken Gott Merkur darstellt. Es handelt sich hierbei um eine verkleinerte Kopie der Merkurstatue des mit Chardin befreundeten Bildhauers Pigalle. Die Malutensilien verweisen dagegen auf die Malerei, Grundrisse und Winkelmaß auf die Architektur. Eine Zeichenmappe repräsentiert die Zeichenkunst. Die Bücher im Hintergrund können als Hinweis auf das theoretische Fundament der Künste gedeutet werden. Chardins Stillleben war eine Auftragsarbeit für die russische Zarin Katharina II. Es war für die von der Zarin gegründete Akademie der Künste in St. Petersburg bestimmt. Das Stillleben wird keineswegs von den Attributen der Malerei – dem Metier Chardins – dominiert, viel eher wird der Gipsfigur, mithin also der Bildhauerei eine Vorrangstellung eingeräumt. Selten finden wir in der Bildenden Kunst Hinweise auf einen Paragone zwischen Malerei und Musik. Allenfalls zur Rangfolge der beiden Künste gibt es Stellungnahmen. So bezeichnet Leonardo die Musik als »sorella e minore della Pittura«,43 da sie vom Ohr abhängig sei, das in der Rangfolge der Sinne dem Auge nachstehe. Auch zum Verhältnis von Malerei und ­Poesie hat Leonardo Überlegungen angestellt: Für ihn steht fest, dass die Malerei, indem sie harmonische Proportionen vermittele und eine unmittelbare Wirkung hervorrufe, die Poesie übertreffe.44

7. »Les arts florissants« – ein Sonderfall Während Charpentier mit der Gegenüberstellung von Poesie und Musik eine klassische Paarbeziehung wählt, beschreitet er mit der Dualität von Malerei und Architektur eher unkonventionelle Wege, zumal die Paragone-Literatur 41

Vgl. Renate Prochno, Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst. Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen, Berlin 2006. 42 Jean Simeén Chardin, Die Attribute der Künste, Öl auf Leinwand, 102 × 140,5 cm, St. Petersburg, Eremitage. 43 Vgl. Martin, Savoldos sogenanntes »Bildnis des Gaston de Foix«, S. 41. 44 Vgl. ebd. , S. 41.

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als klassisches Gegenüber der Malerei die Skulptur bzw. Bildhauerei vorsieht. Unkonventionell (aber bei einem Komponisten nicht anders zu erwarten) ist auch die Tatsache, dass er die Musik stets den anderen Künsten voranstellt und nicht etwa die Malerei. Allerdings ist das Libretto bemüht, einen qualitativen Ausgleich der Künste zu suggerieren, und wenn man bedenkt, dass die Sänger in den instrumentalen Passagen wahrscheinlich ge­tanzt haben,45 so war selbst diese Kunstgattung bei der Aufführung präsent. Der Paragone der Künste wird also im Falle von Charpentiers Kurzoper im Hinblick auf das anvisierte, gebildete Publikum schon vorab als existent unterstellt. Wie steht es nun mit dem spezifischen Erinnerungspotential der einzelnen Künste? Statt die eigenen, als bekannt vorausgesetzten Qualitäten hervorzuheben, weisen sie zunächst auf die eigenen Unzulänglichkeiten hin, um dann die Verschwisterung der Künste als Lösung zu propagieren. Die Pointe liegt darin, dass entgegen der Publikumserwartung und des implizierten Wettstreits der Künste bereits zu Beginn von »Les arts florissants« eine Harmonie der Künste vorliegt, die zwar zwischenzeitlich gestört wird, um am Ende aber nur umso deutlicher in Erscheinung zu treten. Als Gewinner tritt somit keine der streitenden Künste in Erscheinung, heimlicher Gewinner ist vielmehr eine fünfte, nur mittelbar agierende Kunst: die Oper. Denn die auftretenden Künste sind im Operngeschehen ja tatsächlich anwesend: Die Architektur im Bühnenraum und der Kulisse, die Musik in Gestalt des Orchesters und der Sänger, die Poesie in Form des gesungenen Wortes, des Librettos, die Malerei in Gestalt der Prospekte der Kulissen. Erst das Zusammenwirken dieser Aspekte vermittelt das Gesamtkunstwerk »Oper« – die dadurch offensichtlich erfüllt, was die auftretenden »arts florissants« fordern: Gemeinsam sind sie besonders zum nachhaltigen Herrscherlob prädestiniert. Es ist mithin die Oper, die den Paragone als einzige Kunstgattung gewinnen kann. ›Malerei‹ und ›Architektur‹ seien durch ihre Dauerhaftigkeit und ihre Gelehrtheit in besonderer Weise dazu geeignet, die Erinnerung an die Taten des Sonnenkönigs wach zu halten, während der ›Musik‹ die Qualität des Sinn­ lichen und des Performativen zuerkannt wird und die ›Poesie‹ zwar in einer der ›Musik‹ untergeordneten Position sei, jedoch in enger Verbindung mit dieser gedacht werden müsse. Die Vorzüge und Unzulänglichkeiten der einzelnen Künste heben sich gegeneinander auf, da alle zusammen nur eine Aufgabe erfüllen, nämlich Ludwig XIV. zu verherrlichen und seinen Ruhm kommenden Generationen zu überliefern und damit dem kollektiven Gedächtnis einzuprägen. Dabei finden sich im Libretto, vergleichbar etwa mit dem Prolog von Lullys Oper »Alceste« von 1674, Anspielungen auf die jüngsten militärischen Kampagnen des Sonnenkönigs. Allerdings erscheint der König 45

Hitchcock, Marc Antoine Charpentier, S. 97.

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nicht in allegorischem Gewand in der Oper selbst, sondern wird lediglich von den Figuren auf der Bühne gepriesen und namentlich erwähnt.46 In der Kurzoper »Les arts florissants« verhält sich der Streit der Künste analog zur aktuellen außenpolitischen Situation: Der Ausgangszustand ist jeweils der Friede. Auf diesen folgt die Zwietracht, dann gibt es beinahe Krieg und dieser wird letztlich durch den Friedenshelden überwunden. Ludwig XIV. hat also eine Doppelrolle, er schlichtet Streit auf der politischen und auf der Opern-Bühne. Im Gegensatz zur klassischen Paragone-Diskussion wird in Charpentiers Kurzoper an keiner Stelle ein Streit um die Priorität innerhalb der Künste entfacht.47 Auch innerhalb der den Dialog der Künste thematisierenden Opernprologen findet der klassische Prioritätenstreit nicht statt: »Anders als in den Traktaten, die zeigen möchten, dass eine Kunst den anderen überlegen sei, kann die Oper von ihrer medialen Konzeption her auf die Dominanz einer Kunst verzichten, und das bedeutet auch, dass sie nicht alle Künste aus einem (poe­ tologischen) Prinzip herleiten muss. Die Opernprologe müssen außerdem nicht nachweisen, dass eine Kunst ohne die andere nicht bestehen könne.«48

Eine Priorität ergibt sich jedoch unweigerlich durch diejenige Kunst, in der der Wettstreit ausgetragen wird, denn sie kann sich in ihrem eigenen Medium am vorteilhaftesten präsentieren. In der Oper konnte neben der Poesie und der Musik aber auch die Architektur brillieren, etwa wenn aufwendige Paläste, Türme oder Bergwerke als Bühnenbild präsentiert wurden, welche im Laufe der Oper dann kunstvoll einstürzten und das Publikum in Entzücken versetzten.49 Wie die weiteren Beispiele gezeigt haben, war es auch möglich, dass der Bildhauerei in einem musikalischen Werk die größte Aufmerksamkeit zuteil wurde. Aber auch wenn die ›Musik‹ in »Les arts florissants« eine gewisse Dominanz beansprucht, so sucht das Libretto doch eines klar zum Ausdruck zu bringen: Die Künste können ihre volle Wirkung nur in ihrem Zusammenwirken entfalten.

46

Zu Lullys Opernprologen vgl. Tim Carter, Art. »Prologue«, in: Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of Opera, Bd.  3, London 1992, S.  1142; Elisabeth Schmierer, Art. »Prolog«, in: Elisabeth Schmierer (Hg.), Lexikon der Oper, Bd. 2, Darmstadt 2002, S. 412. 47 Sie ist vielmehr – wie die französische Barockoper allgemein – auf die Harmonie der verschiedenen in ihr wirkenden Künste angewiesen. 48 Jahn, Die Sinne und die Oper, S. 82. 49 Vgl. ebd. , S. 78.

Rolf Reichardt

Intermediale Wechselspiele Lieder versus Bilder in Frankreich zwischen Revolution und Restauration Intermediale Wechselspiele: Lieder versus Bilder in Frankreich

I. Erinnerungsspiele einer Oralkultur »On ne fait pas quatre pas dans les rues de Paris, sans trouver des baladins montés sur des tréteaux, qui, quand ils ont attiré autour d’eux la multitude, par le son de quelques instruments, entament ensuite un dialogue de leur composition. Ces moyens ne furent pas négligés pendant la révolution.«1

Als er diese Beobachtung um 1797 notierte, beschrieb der Theaterautor, Journalist und Großstadt-Flaneur Louis-Sébastien Mercier eine gegen Ende des 18.  Jahrhunderts in Frankreich mehr denn je verbreitete gesellschaftliche Praxis: die kollektive Leidenschaft des öffentlichen Vorsingens und Nachsingens populärer Lieder auf den Straßen und Plätzen, Märkten und Bühnen, in den Clubs, Tavernen und Cafés nicht nur der Hauptstadt, sondern auch der Provinz. Als anerkanntes ambulantes Gewerbe gehörte der Straßensänger seit jeher zu den Standardfiguren der »Cris de Paris‹, wie die weit verbreiteten Bilderbogen mit den Darstellungen der traditionellen Kauf­rufe hießen.2 Und noch im frühen 19. Jahrhundert waren in Paris täglich bis zu sechzig »chanteurs publics« unterwegs, in der nördlichen Normandie an die dreihundert.3 Grundsätzlich seien bei diesen ambulanten Sängern, die alle um die Gunst des Publikums wetteiferten, zwei Typen zu unterscheiden, hatte Mercier bereits in seinem vorrevolutionären »Tableau de Paris« festgestellt: 1

Louis-Sébastien Mercier, Nouveau Paris, Bd.  V, Paris 1798, S.  95 (Kap.  CXCV: »Chansonniers gagés«). 2 Vgl. Vincent Milliot, Les Cris de Paris ou le peuple travesti. Les représentations des petits métiers parisiens (XVIe–XVIIIe siècles), Paris 1995. 3 Vgl. Florence Gétreau / Michel Colardelle (Hg)., Musiciens des rues de Paris, Ausst.Kat. Pariser Musée national des Arts et Traditions populaires, Paris 1997; Alain Levasseur, Chanteurs de rues et musiciens ambulants en Seine-Inférieure au XIXe siècle, in: Études normandes 3 (1983), S. 203–282; ders., Chanteurs et musiciens ambulants en Seine-Inférieure au XIXe siècle: Le répertoire, in: Bulletin de la Société libre d’Émulation de la Seine-Maritime (1996), S. 19–50.

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Abb. 1: Charles-Nicolas Cochin d. J. , Der Sänger geistlicher Lieder. Radierung und Kupferstich, 28,1 × 19,9 cm (Platte); Paris: Basan, 1742. BnF Paris, Dépt. des Estampes, Slg. Hennin 5628

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»L’un vous offre un scapulaire bénit qui chasse le Diable, peint en habit rouge dans son tableau avec la queue qui passe; l’autre célèbre la fameuse victoire remportée; tout cela est mis au rang des miracles, & les auditeurs debout ont l’oreille partagée entre le sacré & le profane.«4

Es kennzeichnet Merciers Scharfblick und Treffsicherheit, dass die beiden von ihm beschriebenen Sängertypen genau mit Kupfern der zeitgenössischen Bildpublizistik übereinstimmen. Der eine, der Sänger religiöser Lieder, entspricht beispielsweise dem »Chanteur de cantiques« von Cochin le fils (Abb. 1). Der hat auf einer improvisierten Bretterbühne neben dem Ladenschild einer Taverne eine sargähnliche Kiste aufgebaut hat, deren Deckel einen aufgeklebten Bilderbogen mit den Stationen des Kreuzwegs zur Schau stellt, während der Betrachter im geheimnisvollen Dunkel des Inneren die mit Wundmalen bedeckte Wachsfigur des Schmerzensmanns und zwei betende Engel erkennt. Gestützt auf das Notenheft in seiner Rechten, trägt der Sänger nun seine Passionslieder vor, indem er bei jeder Strophe mit dem Stock in seiner Linken auf das passende Bild des Flügelaltars zeigt. Um seine Liedund Bildpredigt versammeln sich, wie der Vierzeiler unter der Zeichnung andeutet, Passanten und gaffende Zuhörer – die sprichwörtlichen »ba­dauds« – aus allen Ständen: von den plebejischen Holzschuhweibern und dem Soldat im Vordergrund über einfache Bürger bis hin zu dem um die Ecke spähenden Taschendieb. Den anderen Typ, den Sänger weltlicher Lieder, verkörperte unter anderem 1773 eine Illustration von Moreau le Jeune zu der einflussreichen Chansonsammlung von Jean-Benjamin de Laborde5 – noch frappierender aber ein Bildflugblatt vom Januar 1806 (Abb. 2). Spiegelverkehrt hat der ano­ nyme Künstler das soeben genannte Kupfer von Cochin le fils der politischen Kultur des frühen Empire adaptiert. Kennzeichnenderweise behandelt er die einzelnen Elemente seines Vorbilds sehr unterschiedlich. Fast wörtlich zitiert er den zeitlosen Rahmen, also das spielkartenförmige Ladenschild der Ta­verne sowie den Taschendieb und die Obstverkäuferin mit ihrem Bauchladen. Deutlich abgewandelt zeichnet er die übrigen Zuhörer nach der aktuellen Mode, indem er den Soldaten in einen Stutzer mit Spazierstock verwandelt, diesem eine elegante Begleiterin und einen Gebildeten mit Brille beigesellt sowie die Wasserträgerin durch einen Großbürger ersetzt. Am 4

Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, nouv. éd., Bd.  VI, Amsterdam 1783, S. 35 f. (Kap. 468: »Chanteurs publics«). 5 Vgl. Rolf Reichardt, Gesungene Bilder – gemalte Lieder: Wechselbeziehungen zwischen französischen Chansons und Druckgraphik vom Ancien Régime zum 19. Jahrhundert, in: Herbert Schneider (Hg.), Chanson und Vaudeville: Gesellschaftliches Singen und unterhaltende Kommunikation im 18. und 19. Jahrhundert, St. Ingbert 1999, S. 69–131, hier S. 75 ff. mit weiteren Beispielen.

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Abb. 2: Anonymer Künstler, Am vierten Tag des Wintermonats des Jahres XIV um 4 Uhr morgens haben Herr von Talleyrand, der Fürst von Lichtenstein und Herrn von Guilay in Preßburg den Frieden unterzeichnet. Aquatintaradierung, braun getönt, 23,4 × 18,2 cm (Platte); Paris, ohne Verlagsangabe, 10. Januar 1806. Musée Carnavalet Paris, G.27299

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stärksten aber verändert er den Gegenstand der sängerischen Aufführung: Der neue Chansonnier wiederholt zwar den Gestus des »Chanteur de cantiques«, aber statt der Passion Christi besingt er nun den Friedensschluss von Preßburg, »der dem unsterblichen Napoleon zu danken ist«, und zeigt dabei auf einem Plakat, wie der Sieger von Austerlitz diese frohe Botschaft zu Neujahr selbst überbringt: »C’est moi Messieurs les Français, qui vous offre les meilleures étrennes.« Dass hier ausgerechnet ein religiös geprägtes Vor-Bild dazu dient, die Gestalt des politischen Chansonniers zu veranschaulichen, ist in doppelter Hinsicht symptomatisch: erstens als Beispiel für die erinnerungsträchtige Praxis der Kupferstecher, prägnante Vorbilder suggestiv zu zitieren und zu transformieren;6 zweitens für die nachhaltige Politisierung des Chansons durch die Französische Revolution.7 Und noch ein Drittes können wir an dem Neujahrsblatt beobachten: Unter der Zeichnung sind nicht nur zwei Couplets des Chansonniers nachzulesen, es wird auch die Melodie angeführt, auf die er sein Lied singt – »J’ai souvent vu dans mes voyages«.8 Dieses Verfahren, auf die Notierung der Melodie in Notenschrift zu verzichten9 und stattdessen den ersten Vers des originalen Textes, das sogenannte Timbre,10 anzugeben, ist für die französische Chansonkultur vom Ancien Régime bis zum frühen 19.  Jahrhundert besonders charakteristisch. Es bedeutet keine Vernachlässigung der Musik, sondern beruht im Gegenteil, wie Herbert Schneider herausgearbeitet hat, »auf einem für uns heute kaum noch vorstellbaren Melodiengedächtnis und der Kenntnis eines umfangreichen Melodien- und Textrepertoires. Die Singenden verfügten aktiv über ein Repertoire mehrerer hundert Melodien, d. h. sie konnten die Timbres aus

6

Vgl. Christoph Danelzik-Brüggemann / Rolf Reichardt, Das Déjà-vu der Bilder. Visuelle Mnemotechniken und satirische Vergegenwärtigungen in der europäischen Druckgraphik des 18. Jahrhunderts, in: Günter Oesterle (Hg.), Déjà-vu in Literatur und bildender Kunst, München 2003, S. 327–350. 7 Vgl. Annette Keilhauer, Das französische Chanson im späten Ancien Régime. Strukturen, Verbreitungswege und gesellschaftliche Praxis einer populären Literaturform, Hildesheim 1998, S. 241–259; Dietmar Rieger, Von der Minne zum Kommerz. Eine Geschichte des französischen Chansons bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 135–164. 8 Die Herkunft des Timbre ließ sich auch mit Hilfe der Untersuchungen von Herbert Schneider bisher nicht ermitteln: ein Indiz für die Schwierigkeit solcher Nach­ forschungen. 9 Bisweilen wird die Musik gleichwohl notiert und sogar schmückend eingesetzt, so z. B. auf dem illustrierten Liedblatt »La Mort de Mr. D’Malbrouk« von 1783 (BnF Paris, Estampes, Slg. Hennin 9976). 10 Dagegen spricht man von ›Faux-timbre‹, wenn der erste Vers einer besonders erfolgreichen Parodie seinerseits als Melodieangabe dient.

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dem Stegreif parodieren.«11 Das gilt in erheblichem Maße auch für das sozial bunt gemischte Publikum der Chansonniers. Timbres zu parodieren, d. h. allgemein bekannten und beliebten Melodien neue Texte zu unterlegen, war ein ebenso raffiniertes wie effektvolles Erinnerungsspiel. Denn da das Timbre mit der Melodie zugleich den ursprünglich mit ihm verbundenen Text und somit auch den Sinn desselben beinhaltete, eröffnete seine Wiederverwendung eine Fülle von Möglichkeiten, diesen Sinn effektvoll zu variieren, ihn auf neue Zusammenhänge und Situationen zu projizieren, Schlüsselwörter und Reime zu übernehmen, zu verkehren oder neu zu kontextualisieren. Zusätzliches Erinnerungspotential bezogen diese Chansons aus zwei weiteren Strukturmerkmalen. Zum einen wirkten die auf vertraute Melodien gesungenen Texte emotionaler, ließen sich leichter memorieren und prägten sich dem Gedächtnis nachhaltiger ein als gelesene Texte. Zum anderen – und vor allem – stärkte ein musikalischer Formenwandel die Bedeutung des Refrains. Die erfolgreichsten Lieder des vorrevolutionären Vaudeville-Thea­ters und der Revolutionszeit zeichnen sich nämlich durch eine neuartige Melodiestruktur aus, die den musikalischen Höhepunkt des Chansons in den Kehrreim verlegt.12 »Der Refrain wird meist zur Quintessenz, resümiert die Hauptidee des Lieds und ruft sie, wenn auch häufig in verschlüsselter Weise, dem Zuhörer pointenhaft nach jedem Couplet zu – als Appell, Drohung oder Prophezeiung.«13

Der Refrain erzielte eine umso größere Publikumswirkung, als die Zuhörer ihn oft spontan mitsangen, so dass sich bei der Aufführung des Chansons ein Wechsel von Solocouplet und Chorrefrain ergab.14 Der bekannte Chanson­ nier Piis bewies daher eine bemerkenswerte medienspezifische Selbstreflexion, als er 1793 ein patriotisches Liederbuch mit einem Chanson eröff­nete, dessen Kehrreim lautete: »Français Républicains, Mes chants seraient-ils vains? 11

Herbert Schneider, Gattungsreflexion und Gattungspoetik im Chanson, in: Ders., Chanson und Vaudeville, S. 9–70, hier S. 43. 12 Vgl. Herbert Schneider, Der Formen- und Funktionswandel in den Chansons und Hymnen der Französischen Revolution, in: Reinhart Koselleck  /  Rolf Reichardt (Hg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, München 1988, S. 421–478. 13 Rieger, Von der Minne zum Kommerz, S. 221. 14 Vgl. Rolf Reichardt, Der besungene Citoyen. Zur musikalischen Aufwertung eines Leit­begriffs der Französischen Revolution, in: Rainer Schmusch (Hg.), »L’esprit français« und die Musik Europas: Entstehung, Einfluss und Grenzen einer ästhetischen Doktrin, Hildesheim 2007, S. 317–326.

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Non, non, non non, La Liberté s’accroît par mes refrains.«15

Nicht zufällig war dieser Refrain auf die Melodie der ›Marseillaise‹ zu singen, in der sich die neue Melodiestruktur mustergültig ausgeprägt hatte. Für unsere Untersuchung der intermedialen Beziehungen zwischen Liedern und Bildern sind die vorstehenden Beobachtungen einerseits deshalb von Belang, weil sie die führende Rolle des politischen Chansons belegen und verdeutlichen, warum dem Timbre und dem Refrain im Frankreich der Revolutions- und der Restaurationszeit eine besondere wirkungs- und rezeptionsästhetische Bedeutung zukommen. Andererseits verweisen sie auf eine mediale Affinität zwischen Chansons und Druckgraphik. Vordergründig äußerte sich diese Affinität etwa darin, dass besonders die sogenannten ›Ca­nards‹,16 aber auch andere Bildflugblätter (wie die oben gezeigte Neujahrsgabe) als Beischriften die Texte thematisch benachbarter Chansons vollständig oder auszugsweise abdruckten. Grundsätzlicher jedoch beruht jene Affinität auf der gemeinsamen Verwurzelung in einer volksnahen Oralkultur: Wie die Aufführung, die Rezeption und die weitere Vermittlung unserer Chansons sich primär mündlich vollzogen, so wurden unsere Flugblatt-Karikaturen von Kolporteuren ausgerufen, an Verkaufsständen und in Tavernen ausgehängt, von Passanten und Stammtischrunden kommentiert. Ein zeit­genössischer Kritiker bezeichnete die Revolutionskarikaturen denn auch sinnreich als ›gesprochene Schrift‹ (»écriture parlée«).17 Und was das ständige Zitieren und Transformieren eines breiten Motivrepertoires betrifft, so spielt sich in der Bildpublizistik unserer Zeit auch in dieser Hinsicht ein ähnlicher Erinnerungsdiskurs ab wie bei den Chansons.18 Obwohl sich im Rahmen dieses Beitrags die Filiationen der Timbres nicht immer zurückverfolgen lassen, ist das Gesagte grundsätzlich zu berücksichtigen, wenn im Folgenden versucht wird, daraus anhand einiger weniger Beispiele einen intermedialen Arbeitsansatz zu erproben.

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Chevalier de Piis, Les Vœux du Vaudeville républicain, in: Chansons patriotiques du citoyen Piis, Paris, »Chez le Libraire, Théâtre du Vaudeville«, An II (1793/94), S. 1–7. 16 Vgl. Klaus Herding / Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1989, S. 73–83. 17 Vgl. Jacques-Marie Boyer-Brun, Histoire des caricatures de la révolte des Français, Bd. I, Paris 1792, S. 9. 18 Vgl. Rolf Reichardt, Expressivität und Wiederholung: Bildsprachliche Erinnerungs­ strategien in der Revolutionsgraphik nach 1789, in: Astrid Erll  /  Ansgar Nünning (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses, Berlin 2004, S. 127–157.

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II. Audio-visuelle Performanz Betrachten wir zunächst zwei Flugblätter, bei denen die Lied-Bild-Beziehun­ gen mobilisierende Effekte erzielen. Das eine wurde am 13.  Oktober 1790 von einem ungenannten Drucker-Verleger in Bordeaux veröffentlicht, wo die alte Aristokratie damals scharfer Sozialkritik ausgesetzt war,19 und inszeniert eine bissige Satire gegen Adel und Klerus (Abb. 3). Karikatur und Chanson treten hier in ebenbürtige Wechselwirkung. Schon das mehrdeutige Titelwort »Ronde« meint ebenso die ins Bild gesetzte militärische ›Patrouille‹ wie den ›Rundgesang‹ unter der Zeichnung. Dieses Chanson, das der Trommler soeben anstimmt, ist einer beliebten Melodie aus den »Amours d’ été« von 1781, einem Liederspiel der höchst produktiven Vaudeville-Auto­ren Piis und Barré20, unterlegt. Ob nun die fünfzehn Couplets der »Grande ronde au tambour« vielleicht zuerst auf einem eigenen Liedflugblatt21 kursierten und erst anschließend illustriert wurden oder ob sie umgekehrt eine bereits fertige Zeichnung nachträglich kommentierten  – auf jeden Fall steigern sich Bild und Chanson auf unserer Radierung gegenseitig. Wie das »En plain plan Rentan plan« des Binnenrefrains den rhythmischen Gleichschritt der bürgerlichen National­garde und ihr unaufhaltsames Vorrücken musikalisch versinnlicht, so werden die Couplets 10 und 12 von den scatologischen Szenen in der rechten Bildhälfte drastisch ausgemalt: Der Abgeordnete des Dritten Standes erleichtert den »arroganten Aristokraten« mit Hilfe eines Klistiers von seinen geraubten Reichtümern, und die Frau aus dem Volk verpasst dem »gefräßigen Abbé« ein Brechmittel gegen seine mästenden Pfründen – eine wirksame Kur, wie die zwei abgemagerten Edelleute im Hintergrund zeigen. Außerdem erweist sich die Schlusszeile des Kreuzrefrains als besonders geeignet, die bildlich dargestellte Wirkung der angewandten Sozialmedizin lautmalerisch zu vertonen: vor allem im 10.  Couplet, wo die Formel »Rentan plan tire lire« die Geräuschentwicklung und den Schmerz  beim einschneidenden Stuhlgang (»déchire«) des Aristokraten persifliert.

19

Michel Figeac, Destins de la noblesse bordelaise (1770–1830), Bd. I, Bordeaux 1996, S. 335–358. 20 Augustin de Piis  /  Pierre-Yves Barré, Les Amours d’été. Divertissement en 1 acte et en vaudevilles, Paris 1781. Das Stück wurde erstmals am 20. September 1781 im Schloss La Muette vor dem Königspaar aufgeführt. Bis 1786 wurde es in Paris häufig gespielt und nachgedruckt. Dennoch war für den vorliegenden Beitrag leider keine Partitur aufzutreiben. 21 Der einschlägige Katalog von Constant Pierre, Hymnes et chansons de la ­Révolution, Paris 1904, kennt den Titel nicht.

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Abb. 3. Anonymer Künstler, Große Trommel-Runde. Kolorierte Radierung, 12,2 × 29,7 cm (Platte); »Imprimé à bordeaux le 15 Octobre 1790«. BnF, Est. , Slg. De Vinck 3647

1. Couplet »Nous menons tembour batant En plain plan Rentan plan tire lire en plan. L’aristocrate arogant Et voulons le proscrire bis Rentan plan tire lire.«

10. Couplet »On lui donne un lavement En plain plan rentan plan tire lire en plan. Il a pris un lavement Et sa peau se déchire. bis Rentan plan tire lire.«

12. Couplet »On réduit l’abbé gourmand En plain plan rentan plan tire lire en plan. De Bénefices regorgeant Quand un doit lui suffire. bis Rentan plan tire lire.«

15. Couplet »Voyant son Enterrement En plain plan rentan plan tire lire en plan. Voyant son Enterrement On n’en fera que Rire.«

Bei dem anderen Blatt, einer vermutlich in Paris entstandenen Stände-Alle­ gorie vom Sommer oder Herbst 1789, dominiert das Bild (Abb. 4). Bei aller Prägnanz erscheint die Darstellung auf den ersten Blick sehr einfach – greift

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Abb. 4. Anonymer Künstler, Schmiedet das Eisen, solange es heiß ist. Kolorierte Radierung, 18,6 × 18,7 cm (Platte), 1789/90. BnF, Est., Slg. De Vinck 2072

der anonyme Künstler doch auf das klassische Schmiede-Motiv22 zurück, um die einträchtige Ausarbeitung der »Nouvelle Constitution« durch die Ab­ geordneten der Nationalversammlung zu beschwören. Doch die unter der Zeichnung beigefügten Verse verleihen dem Bild Hintersinn und Suggestivkraft. Sie stammen wörtlich aus der Opéra-comique »Le Maréchal ferrant« von François Philidor, die erstmals am 22 August 1761 am Théâtre de la Foire

22

Vgl. etwa aus Lagniets Stichfolge über französische Sprichwörter das Blatt Nr. 29: »Battre le fer il faut, pendant qu’il est chaud«, Paris 1659 (BnF, Est., Slg. Hennin, G154568).

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Musikbeispiel 1

Saint-Laurent aufgeführt worden war,23 genauer aus dem Refrain des FinalVaudeville (Musikbeispiel 1). Nachdem sie die Irrungen und Wirrungen der Handlung überwunden haben, projizieren hier die Hauptpersonen des Stückes, allen voran der streb­ 23

Vgl. François-André-Danican Philidor, Le Maréchal ferrant. Opéra-comique. Pièce de [François-Antoine] Quétant, tirée du Decameron de Boccace, Paris 1761.

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same Hufschmied Marcel, die im Refrain des Schmiedeliedes verdichtete Moral (›Schmiede das Eisen, solange es heiß ist‹) auf alle möglichen Lebens­ lagen  – von der Liebe über die Streitschlichtung bis zur beruflichen Kar­ riere: »tôt tôt tôt, battez chaud, tôt tôt tôt, bon Courage; il faut avoir coeur à l’ouvrage.«

Während die auftaktigen Phrasen in Verbindung mit den Punktierungen den Rhythmus der Schmiedehämmer evozieren, erzeugen die aufsteigenden Ter­ zen, Quarten und Quinten ein triumphales Hochgefühl, das im Schlusssatz des Refrains kulminiert. Diese Verve überträgt unser Blatt nun vom Singspiel auf die Politik. Indem der Rezipient sich bei Betrachtung der Allegorie zugleich an die bekannte Melodie von Philidor erinnert, setzt sich das Bild vor seinen Augen in Bewegung: Den ersten Hammerschlag auf das Buch der Verfassung führt die Personifikation des Dritten Standes als beschürzter Werkmeister, den zweiten Schlag führt ein Abbé als Vertreter der Geistlichkeit, den dritten ein Adliger in der Uniform der Nationalgarde.24 Und im Maße, wie sich dieser kreisende Schmiede-Rhythmus mit dem Refrain wiederholt, entsteht gleichsam der Effekt eines politischen Rosenkranzgebets.

III. Expressivität und visuelle Verdichtung III.1 »Les Missionnaires« Vollzieht sich das audio-visuelle Wechselspiel in den soeben beobachteten Fällen jeweils auf ein und demselben illustrierten Flugblatt, so zieht es sich bei anderer Gelegenheit über mehrere Blätter hin und nimmt damit eine pa­ ragonale Richtung. Auch dafür seien zwei Beispiele angeführt. Unter dem Titel »Les Missionnaires« publizierte im April 1819 der populäre Sänger Pierre-Jean de Béranger ein neues Chanson,25 in dem er gegen die Wiederzulassung des Jesuitenordens und dessen aggressive Missionierungskampagne in Frankreich protestierte.26 Nicht umsonst ließ er das Blatt von 24

Nicht zufällig entspricht dies genau der Reihenfolge, in der die Repräsentanten der Stände im Juni 1789 nach und nach der Assemblée nationale beigetreten waren. 25 Es erschien erstmals in der oppositionellen Monatsschrift »La Minerve«, Nr. 63, April 1819. 26 Zum historischen Hintergrund vgl. Sheryl Kroen, Politics and Theater: The Crisis of Legitimacy in Restoration France, 1815–1830, Berkeley 2000, S. 76–108.

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Abb. 5: Anonymer Künstler, Die Missionare. Politische Chansons von Béranger. Kolorierte Lithographie und Typendruck; Brüssel: »De l’Imprimerie de Tencé frères, éditeurs«, 1819. BnF, Est. , Slg. De Vinck 10251

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den Brüdern Tescé in Brüssel27 drucken (Abb. 5), um die Zensur der Restauration zu umgehen, denn seine Couplets überzogen die »révérends pères«28 mit beißendem Spott: Als verkappte Kreaturen Satans  – ihres Sprechers  – würden sie lächerliche Wunder predigen, Zwietracht in den Familien säen, das schwache Geschlecht verführen, Ravaillacs Königsmord rechtfertigen, ja eine neue Inquisition gegen die Protestanten und »philosophes« vor­bereiten. Und die Appelle zu entsprechendem Handeln, die Satan in jedem Couplet an seine jesuitischen Genossen (»pairs«) richtet, gipfeln in dem sie­ben Mal wiederholten Refrain: »Vite soufflons, soufflons, morbleu ! Éteignons les lumières Et rallumens le feu.«

Wie ernst es Béranger auch mit diesem finsteren Feindbild war, so gab er es doch zugleich als Karikatur zu erkennen, indem er das Chanson kontrastierend auf eine fröhliche Tanzmelodie im Sechsachteltakt vortrug (Musik­ beispiel 2), was den Spott der Zuhörer zusätzlich entfacht haben dürfte. Machte es doch einen absurden Effekt sich vorzustellen, wie die Schwarz­ röcke zu der beliebten Melodie »Le cœur à la danse« aus einem Liederspiel von Grétry29 einen tollen Freudentanz um die von ihnen entfachten Scheiterhau­fen vollführten. Dass Béranger das Timbre sehr überlegt einsetzte, bestätigt der Refrain, in dem das Schlüsselwort »lumières« genau mit dem musikalischen Höhepunkt zusammenfällt. Hinter diesem raffinierten Sarkasmus bleibt die Illustration des Flugblatts allerdings zurück. Denn wie sie hier unter einem riesigen Kreuz Weihwasser versprengen und von bigotten Frauen umschwärmt werden, haben die Jesuitenpatres nichts Teuflisches an sich; die zwei Verse über der Zeichnung – ein Zitat aus dem vierten Couplet – kennzeichnen sie eher als Verführer. Dagegen werden die gewichtigeren Vorwürfe, die das Chansons erhebt, ver­kleinert und zurückhaltend ins Bild gesetzt: im Vordergrund die Kiste mit Gebetszetteln und Löschhütchen zum Abtöten des Lichts, im Hintergrund links die »Prison du St Office« und rechts das Autodafé eines »Hérétique«. Das Spottlied auf die »Missionnaires« hatte eine beachtliche Resonanz. Es trug nicht nur zum großen Publikumserfolg der Béranger’schen ChansonSammlung von 1821 bei, deren 10.000 Exemplare gewinnbringend ver­kauft waren, bevor die Polizei sie beschlagnahmen konnte;30 es provozierte auch 27

In der selben Serie politischer Lieder Bérangers erschienen auch seine Chansons »Les Capucins«, »Le Ventru« und »La Sainte Alliance des peuples«. 28 So betitelte Béranger 1819 ein anderes erfolgreiches Chanson. 29 Nicolas-Julien Forgeot / André-Ernest-Modeste Grétry, Le Rival confident. ­Comédie en deux actes et en prose, mêlée d’ariettes, Paris 1788. 30 Vgl. Rieger, Von der Minne zum Kommerz, S. 199.

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Musikbeispiel 2

einen Prozess, bei dem Béranger wegen »Beleidigung der politischen und religiösen Moral« zu 500 Francs Geldstrafe und drei Monaten Haft ver­urteilt wurde. In seinem Plädoyer, das er am 8. Dezember im Sitzungssaal des Pariser Schwurgerichts vor einem zahlreichen Publikum vortrug, beschuldigte Generalstaatsanwalt Louis-Antoine-François de Marchangy den Chanson­ nier, die traditionelle Narrenfreiheit der »gaîté française« missbraucht und das ›pikante Salz‹ der populären Chansons in politischen Sprengstoff verwandelt zu haben: »Des refrains insultants furent lancés avec dérision sur les objets de nos hommages; bien­tôt ils stimulèrent tous les excès de l’anarchie, et la muse des chants poulaires devint une des furies de nos discordes civiles.«31

»Des refrains insultants«  – in der Tat war es der prägnante Kehrreim der »Missionnaires«, der einerseits die Justiz der Restauration besonders erboste und andererseits regimekritische Karikaturisten inspirierte, Bérangers Chan31

Procès faits aux chansons de Mr. P.-J. de Béranger, in: P.-J. de Béranger, Œuvres complètes, Bd. IV, Paris: Perrotin 1834, S. 119–393, hier S. 136 f; ausdrücklich zum Chanson »Les Missionnaires« vgl. ebd. S.  142, 157, 209–214; vgl. auch Jean Touchard, La Gloire de Béranger, Bd. I, Paris 1968, S. 391–394.

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son ebenbürtig ins Bild zu setzen, ja es womöglich noch an Einprägsamkeit zu übertreffen. Ausgehend von jenem Refrain, der ihm als Bildunterschrift diente, imaginierte ein anonymer Künstler im September 1819 ein wahrhaft obskurantistisches Szenario (Abb. 6). Hatte Béranger lediglich den versteckten Teufelsschwanz der Patres erwähnt (»Cachons bien notre queue«, 2.  Couplet), so stattet der Karikaturist die gelehrigen Schüler des Igna­tius von Loyola mit Verbrecher-Physiognomien32 und Teufelsfüßen aus und lässt sie als fanatische Dunkelmänner agieren.33 In militärischer Formation führen sie rechts im Bild konkret aus, wozu das Chanson eher metaphorisch aufgefordert hatte: »Éteignons les lumières«. Ausgerüstet mit lanzenartigen Lösch­hüten, der obligatorischen Waffe des Obskurantismus,34 attackieren sie das Vermächtnis der Aufklärung, indem sie die auf den Wachsbüsten der »philosophes« brennenden Lichter auszulöschen suchen, zuallererst natürlich das Licht Voltaires ganz vorne, aber auch die Lichter Buffons, Condillacs und anderer Aufklärer. Dabei werden die militanten Patres von reaktionären Zei­tungen unterstützt; ihre Titel stehen auf den Löschhüten: »Journal des Débats«, »Le Conservateur«, »La Gazette de France«, »La Quotidienne«. Dieser Bildersturm kommt einem Sakrileg gleich, denn er schändet den Altar des »Dix-huitième Siècle«, der auf seiner Vorderseite die Namen der oben aufgestellten aufklärerischen Heiligen und die Insignien der revolutionären Republik trägt. Damit ließ es unser Karikaturist jedoch nicht bewenden, sondern in der lin­ken Bildhälfte35 visualisierte er auch die zweite Devise von Bérangers Refrain: »Vite, Soufflons, Soufflons Morbleu ! Et rallumons le feu.« Zwei junge Jesuiten knien vor einem Feuer. Gemäß den Anweisungen eines offiziellen Hirtenbriefs, den sie zu einem Blasebalg umgerüstet haben (»Mande­ment de MM. les Vicaires généraux«), entfachen sie weit vorgebeugt und heftig pustend die Flammen einer Bücherverbrennung; sie ist durch die Auf­schriften der Flammen als Konsequenz der reaktionären Kirchenpolitik aus­gewiesen: »Doctrine Chrétienne, Missions, Mandements, Conférences«. Während ein fortschrittliches Lehrbuch über Arbeitsunterricht (»Enseignement Mutuel«) 32

Zum ikonographischen Hintergrund vgl. Rolf Reichardt, »Macht ein solches Bild nicht einen unauslöschlichen Eindruck?«. Bildpublizistische Reduktion und Übertreibung im politischen Erinnerungsdiskurs um 1800, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnis­ forschung, Göttingen 2005, S. 449–489, hier S. 463–467. 33 Vgl. auch die Interpretation von Hubertus Fischer, Wer löscht das Licht? Europäische Karikatur und Alltagswelt 1790–1990, Stuttgart 1994, S. 86–95. 34 Rolf Reichardt, Light Against Darkness: The Visual Representations of  a Central Enlightenment Concept, in: Representations 61 (1998), S. 95–148. 35 Im mittleren Hintergrund sieht man eine Missionsversammlung in der Pariser Ecole de Droit und neu errichtete Missionskreuze.

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Abb. 6: Anonymer Künstler, Potztausend, blast, was ihr könnt. Löscht das Licht und facht das Feuer an. Kolorierte Radierung, 20,1 × 30,3 cm; Paris: Léonce Lhuillier, 17. Sept. 1819 (dépôt légal). BnF, Est., Slg. De Vinck 10302

sowie ein Werk über die »Philosophie« bereits im Feuer schmoren und der eine Dunkelmann gerade die Verfassung von 1814/15 (»Charte Consitutionnelle«) nachlegt, wartet auf dem Boden im Vordergrund ein Haufen moderner juristischer und naturwissenschaftlicher Fachliteratur auf seine Verbrennung: »Droit Public«, »Physique«, »Chimie«, »Mathéma­tiques«, »Hautes Sciences« ist auf den Einbänden und Titelseiten zu lesen. Wie die Löschaktion wird auch die Bücherverbrennung von der ultrakonservativen Presse unterstützt, und zwar in Gestalt des geflügelten Dämons Alphonse Martainville, Redakteur des legitimistischen »Drapeau blanc«. Den Titel seines Hetzblatts als Afterwind hinter sich herziehend und in der rechten Faust todbringende Vipern führend, verstärkt Martainville das Feuer mit der Brandfackel der Zwietracht; ihrer Qualmwolke sind ein Béranger-Zitat (»Divisons les familles«, 4.  Couplet) und die Forderungen der Ultras nach Rückkehr zum Ancien Régime eingeschrieben: »Dîme, Droits féodaux, Privilèges«. Und um die Ankündigung der Missionnaires, dass Protestanten und Aufklärer den Brandgeruch der Scheiterhaufen verspüren sollten,36 einmal mehr zu sanktionieren, schwenkt der Papst auf den Wolken im Hin36

»Les protestants n’on point trouvé // D’onguent pour la brûlure. // Les philosophes aussi // Déjà sentent le roussi.« (6. Couplet)

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tergrund den Säbel der »Dragonnades« und erinnert mit dem Blatt in seiner Linken an weitere historische Vorbilder: »Croisades, Vepres Siciliennes, Saint-Barthé­lemy«. Was Béranger in sieben Couplets ausgebreitet hatte, das komprimiert unser Karikaturist auf diese Weise in einem ebenso ausdrucksstarken wie anspielungsreichen Bild, wenn auch auf Kosten der ironischen Leichtigkeit des Chansons. Das Bild erweist sich als dominant.

III.2 Bœuf-Gras – Karneval 1832 Unser nächstes und letztes Beispiel steht in einem noch vielfältigeren kommunikativ-medialen Zusammenhang. Den Anlass zu der Filiationskette gab der Pariser Karnevalszug am Fasnachtsdienstag 1832, der wie üblich einen Mastochsen, den ›Bœuf-Gras‹, mitführte. Der wurde diesmal  – so wusste Heinrich Heine als Paris-Korrespondent der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« zu berichten – Gegenstand von allerhand Witzeleien: »Mit Anspielungen auf diesen armen Ochsen waren eine Woche lang die kleinen Blätter gefüllt; daß er gros, gras et bête gewesen, war ein stehender Witz, und in den Karikaturen parodierte man auf die gehässigste Weise den Zug dieses fetten Ochsen.«37

Dass mit »er« König Louis-Philippe gemeint war, ließ zunächst ein Theaterstück von Pyat und Burette durchblicken, das bereits am 1. März im Théâ­ tre royal de l’Odéon Premiere hatte; verlegte es doch die ernüchternde Lehre der Julirevolution in das alte Rom, wo die Beseitigung Caligulas nur einem neuen Diktator, Claudius, zur Macht verholfen habe, und bemerkte zu ihm: »Figurez-vous qu’il est gros, gras et bête«.38 Dem Theaterskandal folgte die bildpublizistische Umsetzung auf dem Fuße. Vorbereitet durch einen Artikel von Louis Desnoyers,39 publizierte das bekannte Satire-Journal »La Caricature« zwei Wochen später eine Folge von vier großformatigen Lithographien über den Fasnachtszug: »La Marche de Gros Gras et Bête«. Gleich auf dem ersten Blatt präsentierten Grandville und Forest die Hauptattraktion des satirischen Umzuges – den Motivwagen mit dem Bœuf-Gras in Gestalt eines überdimensionalen fetten Mutterschweins, an dessen Zitzen die Nutznießer des Juste-Milieus saugen. Die Legende vermied jedoch eine unmittelbare Bezugnahme auf Louis-Philippe, indem 37

Heinrich Heine, Französische Zustände, Art.  V (Paris, 25.  März 1832), in: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. III, München / Wien 31996, S. 152 f.; zuerst in: Augsburger Allgemeine Zeitung Nr. 104–107, 13.–16. April 1832. 38 Félix Pyat / Théodose Burette, Une révolution d’autrefois ou les Romains chez eux. Pièce historique en trois actes et en prose (1832), Paris: Henriot 1840, S. 14. 39 Louis Desnoyers, Promenade du nouveau Bœuf-Gras, in: La Caricature Nr.  71, 8. März 1832, Sp. 563–565.

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sie behauptete, die Muttersau stelle das Staatsbudget dar: »Voici le monstrueux budget, suintant la sueur populaire«.40 Freilich: Da dieser Bœuf-Gras in dem schier endlosen Fasnachtszug der vier Falttafeln von »La Cari­cature« nur eine Abteilung unter vielen bildete, lag der Gedanke nahe, ihn  – zum Amüsement des Publikums – in gedrängterer Form stärker zur Geltung zu bringen. Genau das unternahm der oppositionelle Chansonnier und Publizist Altaroche,41 als er 1833 auf die Erfolgsmelodie »La Baronne«42 aus einem vorrevolutionären Vaudeville43 ein neues Chanson komponierte (Musikbeispiel 3). Zitieren wir die vier wichtigsten Couplets, um die Kunstgriffe des Liedermachers zu belegen:

Musikbeispiel 3

1. Couplet »Gros, gras et bête, En quatre mots, c’est son portrait: Toisez-le des pieds à la tête, Aux yeux de tous, il apparaît Gros, gras et bête.«

3. Couplet »Gros, gras et bête, Bien qu’il ait peine à se mouvoir, Sa main, s’avance, toujours prête Dès qu’il s’agit de recevoir… Gros, gras et bête.«

5. Couplet »Gros, gras et bête, En pelle, s’élargit sa main,

9. Couplet »Gros, gras et bête, Je dois expliquer mon sujet,

40

La Caricature Nr.  72, 15.  März 1832, Taf. 145, 146; vgl. Susanne Bosch-Abele, La Caricature (1830–1835): Katalog und Kommentar, Bd. 1, Weimar 1997, S. 232–237. 41 Vgl. Rieger, Von der Minne zum Kommerz, S. 271–273 42 Das Timbre findet sich zwar auch bei Pierre-Adolphe Capelle, La Clé du Caveau à l’usage des chansonniers français et étrangers, Paris 41848, Nr. 665, aber das angeblich zugehörige Couplet (ebd. S. 192) passt nicht auf die Musik. 43 Nicolas-Marie-Félix Bodard de Tezay, La Baronne de Croupillac ou l’étiquette, Paris 1785. Das Libretto und die Partitur dieses Stücks bleiben zu ermitteln.

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En poire, s’allonge sa tête; En tonneau,croit son abdomen, Gros, gras et bête.«

A l’équivoque, on dit qu’il prête; J’ai voulu peindre le budget Gros, gras et bête!«44

Altaroche greift hier das geflügelte Wort »Gros, gras et bête« auf und macht es zum Doppelrefrain eines gesungenen Rätsel-Portraits. Dazu eignet sich die gewählte Melodie besonders gut, weil die beiden ersten Takte das Thema auftaktig einführen und die beiden letzten Takte es gleichsam spiegelbildlich mit zwei punktierten Achteln abschließend bestätigen. Dazwischen wird jeweils das Äußere der seltsamen Gestalt abwechslungsreich besungen. Im letzten Couplet löst der Chansonnier das Rätsel genauso auf wie die gerade genannte Karikatur: »J’ai voulu peindre le budget.« Aber offener als Grandville und Forest identifiziert er das Staatsbudget mit Louis-Philippe, indem er der Rätselgestalt einen Birnenkopf andichtet. Dies spornte wiederum die Karikaturisten von Charles Philipon an, das Rätsel-Chanson mit einem Bilderrätsel zu übertreffen. Kaum war Altaroche nämlich in die Redaktion des Pariser Karikaturen-Verlegers eingetreten, da gaben der »Charivari« und die »Caricature« ihrem Publikum Anfang 1834 beide dasselbe »Enigme« auf: einmal in Form einer Federlithographie45 und zugleich ›seitenverkehrt‹ als kolorierte Kreidelithographie (Abb. 7). Wieder zeichnete Grandville als Autor, diesmal zusammen mit Auguste Desperret.46 Offensichtlich inspiriert vom 5. Couplet Altaroches, benutzen sie das ›arcim­boldeske‹ Kompositionsverfahren, bei dem Vertreter einzelner Berufe aus ihrem typischen Handwerkszeug zusammensetzt werden.47 Es besteht im vorliegenden Fall zunächst aus den bekanntesten Kennzeichen des Bürgerkönigs: seinem Zylinder mit Kokarde, seinem Parapluie und dem sprichwörtlichen Birnenkopf. Andere Attribute, mit denen Louis-Philippe seine angebliche Freiheitsliebe zu demonstrieren pflegte, bilden den Rücken und den linken Oberarm der Gestalt: die revidierte Verfassung der Julimonarchie in Form eines Folianten in den Nationalfarben48 sowie ein gerolltes Noten44

Durand-Michel-Agénor Altaroche, Nouvelles chansons politiques, Paris 1838; zit. nach Pierre Barbier / France Vernillat, Histoire de France par les chansons, Bd. 6, Paris 1958, S. 178 ff. 45 Énigme, in: Charivari, 3. Jg. , Nr. 1/2, 9. Januar 1834. 46 Die neuen Verse unter der Zeichnung unterstützen die Enträtselung. Ich übergehe einige Details, die m. E. für den vorliegenden Beitrag sekundär sind; mehr dazu bei Bosch-Abele, La Caricature, S. 465 ff. 47 Als Muster diente womöglich die beliebte französische Stichfolge von Nicolas de Larmessin, Les Costumes grotesques et les métiers (um 1695) (Faksimile-Nachdruck) Paris 1974. 48 Die Rückenaufschrift »Charte Vérité 1830« verweist auf das – inzwischen mehrfach gebrochene – Versprechen Louis-Philippes vom 31. Juli 1830: »La Charte est désormais une vérité.«

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Abb. 7: J. J. Grandville und Auguste Desperret, Rätsel. Kolorierte Lithographie, 20,9 × 21,7 cm; in: La Caricature ( Journal), N° 166 vom 9. Januar 1834, Taf. 350

blatt mit der ›Marseillaise‹. Doch was bedeuten die Metamorphosen der lin­ ken Hand in eine Maurerkelle, des Hosenbundes in einen Mörteltrog und der Pobacken in Pflastersteine der Juli-Barrikaden (»Pavées de Juillet«)? Die Antwort gibt die Schürze: Als Bauplan der »Forts détachés« verweist sie auf den damals aktuellen Beschluss der Regierung, Paris mit einem Ring

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von vierzehn Festungen zu umgeben, welche offiziell die Hauptstadt gegen äußere Feinde verteidigen sollten, in der kritischen Öffentlichkeit aber als neue »Bastillen« gegen den inneren Feind – die aufständischen Arbeiter – verstan­den wurden.49 Eins dieser Forts ist im Hintergrund bereits neben einer alten Mühle des Montmartre zu sehen. Also: Im Maße wie der Betrachter das Bild enträtselt, entlarvt er den auf seinen Klistier-Beinen zurückweichenden König als Gefängnis-Architekt  – ein reaktionärer Bauherr, der seinen Plan gegen die Stacheln der Presse (die seinen Kopf umschwirrenden Wespen) rücksichtslos durchsetzt, dessen egalitäres Winkelmaß aus dem Lot geraten ist und der die Staatskasse plündert (sein Bauch ist ein praller Geldsack). Indem die Karikatur sich so – über das Chanson von Altaroche hinaus – aktualisierend auf die Debatte um die »Forts détachés« konzentriert, gewinnt sie auch thematisch an Geschlossenheit und gibt im übrigen dem Budget-Vorwurf einen plausiblen Hintergrund.

IV. Schluss: Zeitmedium versus Präsenzmedium Karikaturen durch beigefügte Chansons zu vertonen und singbar zu machen sowie umgekehrt Chansons auf gedruckten Flugblättern zu visualisieren, war im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein beliebtes, erinnerungsträchtiges, auch politisch bedeutsames intermediales Gesellschaftsspiel, das man – systematisch gesehen – zwischen Zusammenwirken und Paragone verorten kann. Einer seiner Haupteffekte besteht zweifellos darin, die genuine Ausdruckskraft von Lied und Bild wechselseitig zu verstärken. Wie einerseits die im Chanson besungenen Gestalten und Handlungen durch die Visualisierung verkörperlicht und konkretisiert werden, so gewinnt andererseits das stehende Bild durch das Lied nicht nur zusätzlichen Witz, sondern darüber hinaus wird es vor dem inneren Auge der Betrachter in Bewegung versetzt, dynamisiert: ein performativer Synergieeffekt. In jedem Fall steigert das Wechselspiel der beiden hochgradig emotionalen Medien die Emphase und die Einprägsamkeit der Aufführung. Dagegen laufen die Beziehungen zwischen Chansons und Bildern, die sich in zeitlich versetzten Abfolgen von Zitaten und Verwandlungen abspielen, implizit auf einen künstlerischen Wettstreit um publikumswirksame Prägnanz und Ausdruckskraft hinaus: ob nun ein Karikaturist die Aussagen eines Chanson von Béranger verdeutlichend verschärft oder ob ein Schlagwort des Tages nacheinander von Bühne, Karikatur und Chanson aufgegriffen, ver49

Hans-Jürgen Lüsebrink  /  Rolf Reichardt, Die Bastille. Zur Symbolgeschichte von Herrschaft und Freiheit, Frankfurt a. M. 1990, S. 242 ff.

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bildlicht und vertont wird, bis es in einem visualisierten Rätsel seine dich­teste Form erhält. Erinnerungsgeschichtlich erweisen sich die lied- und bildpublizistischen Wechselbeziehungen, die wir beobachtet haben, in doppelter Weise als bedeutsam. Einmal zeigen sie, wie Chanson und Karikatur um größtmögliche Expressivität und Einprägsamkeit wetteiferten, indem sie sich entweder ver­ banden oder sich gegenseitig zu überbieten suchten. Und außerdem spielte der musikalisch aufgewertete Refrain eine Schlüsselrolle, indem er teils an frühere Vaudeville-Stücke erinnerte, teils neue intermediale Filiationen auslöste: Sei es, dass – wie bei dem Schmiedebild (siehe Abb. 4) – ein alter Refrain übernommen wird; sei es, dass – wie im Fall der »Missionnaires« von ­Béranger – auf eine alte Melodie ein neuer Refrain komponiert wird, der sei­ nerseits ein Bild veranlasst (siehe Abb. 6); sei es, dass ein aktuelles Schlagwort sowohl zum Titel einer Karikatur wie zum Refrain eines Chansons avanciert. Die oben verfolgten Wechselspiele waren ein Wettstreit zwischen dem Zeitmedium Lied und dem Präsenzmedium Bild, zwischen der Emphase des Vorsingens und gemeinschaftlichen Mitsingens, die der Vorführung und Wiederholung bedarf, und der Gegenwart des im Druck vervielfältigten Bil­des in jedem Augen-Blick. Während bei unserer Beispielreihe die Texte und Melodien der Spottlieder gleich blieben, suchten sich die Illustrationen einzelner Chansons zu übertreffen. Im ›Zeitalter der Karikatur‹ scheint das gedruckte Bild zum dominanten Medium zu werden; und es ist wohl kein Zufall, dass unser letztes Beispiel mit einem Bild endet, das zwar von einem Chanson inspiriert ist, selbst aber auf den expliziten musikalischen Rück­bezug verzichtet? Dieser ›Sieg‹ passt zu der These von Dietmar Rieger, wonach in Frankreich vor 1835 »die Priorität der satirischen Darstellung der Karikatur und nicht dem Chanson zukommt.«50 Wie es sich auch bei anderen Genres verhalten mag – die beobachteten Lied-Bild-Beziehungen im Medium illustrierter Flugblätter erscheinen schon an und für sich bedeutsam genug; zusammen bildeten sie im Zeitverlauf einen kommunikativen Prozess, der wesentlich zur Versinnlichung und Nachhaltigkeit der kollektiven Erinnerung beitrug.

50

Rieger, Von der Minne zum Kommerz, S. 273.

Joachim Penzel

Der umworbene Blick Bildbetrachtung in Gemäldegalerien des 19. Jahrhunderts in der paragonalen Konstellation zwischen Buchmarkt und Kunstinstitution Der umworbene Blick: Bildbetrachtung in paragonaler Konstellation

In den Jahren zwischen 1880 bis 1920 vollzog sich in den deutschen Kunst­ museen der bis dahin tiefstgreifende Wandlungsprozess, den diese staat­ lichen, teils kommunalen Bildungsinstitutionen seit ihrer Begründung als öffentlich zugängliche höfische Sammlungen vom frühen 17.  Jahrhundert an durchlaufen hatten. Dieser retrospektiv als Museumsreform bezeichnete Re­ organisationsprozess war bezogen auf die Ebene der Verwaltungsstruk­turen, der Sammlungspräsentation und der museumspädagogischen Angebote und hat sukzessive erst jene drei Basisfunktionen ausdifferenziert, die für das institutionelle Selbstverständnis der Museen im 20.  Jahrhundert verbindlich werden sollten  – Sammeln, Forschen und Vermitteln.1 In diesem Reformprozess, der in Deutschland in den Berliner Museen anlässlich ihres fünfzigjährigen Jubiläums im Jahr 1880 seinen Ausgangspunkt nahm, besaßen zwei Aspekte eine herausragende Bedeutung. Einerseits wurde ein Wan­del der Präsentationsformen der Kunstgüter vollzogen, der beschrieben wer­den kann als eine Transformation der kunstgeschichtlichen, das heißt der chronologischen und geografischen, die Vollständigkeit der künstlerischen Entwicklung repräsentierenden Ordnung der Kunstschätze in eine exklusive, nach Qualitätskriterien selektierte Präsentation herausragender Meisterwerke. Andererseits wurden seitens der Museen zahlreiche Vermittlungsange­ bote in Form von öffentlichen Führungen und eine Fülle, auf verschiedene soziale Schichten und Bildungsniveaus ausgerichtete Publikationen wie Führer, Handbücher und Kataloge angeboten. Wie im Folgenden zu zeigen ist, hat dieser als Museumsreform bezeichnete Wandlungsprozess nicht etwa eine Neuorganisation insbesondere der Kunstmuseen eingeleitet, sondern viel mehr einen schon länger anhaltenden 1

Einen Überblick zur Museumsreform in Deutschland bieten Alexis Joachimides, Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940, Dresden 2001; Reinhold Mißelbeck, Das Museum als Tradi­ tionsproduzent. Strukturanalytische Betrachtungen zum Verhältnis von Antikunstströmungen und Reformtendenzen in der musealen Vermittlung der Kunst, Bonn 1980.

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Entwicklungsverlauf abgeschlossen und die Ergebnisse dieses Prozesses institutionalisiert. Innerhalb der Kunstmuseen, hier am Beispiel der Berliner Gemäldegalerie diskutiert, lässt sich seit etwa 1830 eine Art Protoreform hinsichtlich der Präsentation der Sammlungsschätze beobachten, die sich nicht auf der Ebene der sichtbaren Ordnung von Kunstwerken vollzog, sondern verborgen im Geflecht von Texten, die die Besucher der Museen in der Hand oder besser gesagt angesichts der Kunstwerke vor Augen hatten. Zu sprechen ist von einem schleichenden Reformprozess, der sich als teils indirekter, teils offen ausgetragener Konkurrenzkampf um die Museums­besucher und deren jeweilige Art der Betrachtung der Kunstschätze vollzog. Wie im Folgenden zu zeigen ist, wurde dieser Wettkampf von den Vertretern der jungen Fachwissenschaft Kunstgeschichte als Sachwalter der Mu­seen mit der wachsenden Gruppe von Kunstschriftstellern ausgefochten, die ihre musealen Vermittlungstexte für den freien Buchmarkt verfassten. Bei diesem eher verborgenen Gefecht wetteiferte zugleich die visuelle Präsenz der Bilder im Galerieraum mit der Beiläufigkeit bzw. Nachträglichkeit der Vermittlungstexte um die Aufmerksamkeit der Betrachter. Die hier zu diskutierende Protoreform kann man als eine paragonale Konstellation beschreiben, die eine mediale, eine soziale und institutionelle Dimension besaß und die sowohl diskursiv als auch ökonomisch motiviert war.2 Die folgende Neubetrachtung der Geschichte der deutschen Kunstmuseen im 19. Jahrhundert setzt jedoch voraus, diese Orte der Sehkultur zugleich auch als Orte einer ausgewiesenen Lesekultur zu begreifen.3 Wie es scheint, ist das Museum als Medienphänomen geradezu bestimmt von einem diffusen Konflikt zwischen Bildern und Texten, also einer anhaltenden, wenn auch schwer zu bestimmenden Konkurrenz von Sichtbarkeit im Raum und Sagbarkeit in der Zeit.

2

Jonathan Crary hat die Figur des Betrachters »als Folge von nicht aufeinander reduzierbaren heterogenen Systemen von diskursiven, sozialen, technischen und institutionellen Beziehungen« konzipiert. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19.  Jahrhundert, Dresden 1996, S.  17. Wie ich allerdings zu zeigen versuche, entsprechen diese von Crary differenzierten »Beziehungen« in der historischen Realität tatsächlich offenen oder verdeckt ausgetragenen Konkurrenzverhältnissen. 3 Vgl. Joachim Penzel, Der Betrachter ist im Text. Konversations- und Lesekultur in deutschen Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1914, Berlin 2007.

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Die Gemäldegalerie als Medienkombination – Text und Bild zwischen Kongruenz und Konkurrenz Als Abteilungen von Kunstmuseen dienen Gemäldegalerien bis heute sowohl als Institutionen des Sammelns von Malerei als auch von deren Ausstellung. Als letztere entsprechen sie einem Medium des Zeigens. Galerien verkörpern eine Form der Medienkombination, in der einerseits Bilder in verschiedenen Ordnungssystemen gebunden sind – das einzelne Bild auf der Bilderwand, diese im Raum und dieser schließlich in einer ganzen Abfolge von Bilderräumen. Die gleichzeitige Sichtbarkeit von Bildern ermöglicht eine wechselseitige Verweisfähigkeit, die von den Betrachtern allerdings nur sukzessiv erschlossen und damit zeitlich prozessiert werden kann. Andererseits trifft innerhalb des Galerieraums das geschriebene Wort in Form von Bildbeschriftungen und von erklärenden Texten in gedruckten Führern, genauso aber das gesprochene, fachkundige Wort der als Vermittler agierenden Sammlungsleiter und Galeriedirektoren auf das einzelne Kunstwerk. Diese für den Galerieraum typische Simultanität von Wort und Bild entspricht einem intermedialen System, das eine maßgebliche Grundbedingung der sinnhaften Wahrnehmung und Interpretation der Kunstwerke darstellt.4 Historisch gesehen ist die Anordnung der Gemälde im Raum der Galerie ein Problem der Kontingenz sowohl der Bildbetrachtung als auch des Wissens, das mit dieser spezifischen Form der Bildpräsentation verbunden ist. Das belegt die Vorgeschichte der Gemäldegalerien als fürstliche Schausammlungen im 18. Jahrhundert. Waren die Gemälde in den frühen Schloss­galerien nach rein ästhetischen Prinzipien einer visuell anspruchsvollen Schauwand gehängt, die nach dem Bild-im-Bild-Prinzip geradezu komponiert erschienen, indem sie Bilder gleicher Größe, ähnlicher Farbigkeit und vergleichbarer Motive in eine symmetrische Struktur einpassten,5 begann ab der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Prozess der sukzessiven Systematisierung von Gemälden nach kunstimmanenten Taxonomien und schließlich nach historischen Gesichtspunkten. In den Galerien in Dresden (1747/48), Paris (1750), Potsdam Sanssouci (1768), Düsseldorf (1770) und Wien (1773) wurden zuerst Gemälde nach den Kriterien eines gemeinsamen Stils und damit einer 4

Zum Problem der Intermedialität und der damit verbundenen Differenzierung von Medienkombinationen und intermedialen Bezügen vgl. Irina Rajewsky, Intermedialität, Tübingen 2002. 5 Zum Bildcharakter der Schauwände in frühen Gemäldegalerien im Überblick vgl. Penzel, Betrachter, S. 34–37; zur Konzeption der Dresdner Galerie im Stallhof als Kunstwerk und die besondere Rolle der Maler bei der Gemäldehängung vgl. Gregor J. M. Weber, Die Galerie als Kunstwerk. Die Hängung der italienischen Gemälde in der Dresdner Galerie 1754, in: Barbara Marx (Hg.), Elbflorenz. Italienische Präsenz in Dresden. 16.–19. Jahrhundert, Dresden 2000, S. 229–242.

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gemeinsamen geografischen Zugehörigkeit (italienische, holländische, deutsche Malerei etc.) in getrennten Räumen und als ästhetischer Zusammenhang an einer Schauwand präsentiert. Schließlich ordnete der Basler Kupferstecher Christian von Mechel 1783 die Gemälde im Obergeschoss der Galerie des Wiener Belvedere innerhalb eines stilistischen Schulzusammenhangs zusätzlich chronologisch.6 Damit war ein Paradigma der Präsentation von Gemälden geschaffen worden, das für die Einrichtung der europäischen Galerien unabhängig vom konkreten Bestand der einzelnen Samm­lungen bis 1880 bestimmend bleiben sollte. Diese Ordnung der Gemälde erschien bis in die neuere Kunstgeschichtsschreibung als unmittelbares Ergebnis der Einrichtung der frühen Galerien, und somit wurde das Aufhängen der Gemälde mit dem Herstellen einer Malerei spezifischen Taxonomie gleichgesetzt. Bei genauer Betrachtung erweisen sich die Galerieeinrichtungen jedoch als eine Anpassung von Bildordnungen an das diskursiv abgesicherte Wissen der frühen Kunstgeschichtsschreibung und damit als eine Unterordnung von visuellen Logiken unter die Logik einer ganz bestimmten Textgattung.7 Die Geschichte der Kunsthistoriografie des 18.  Jahrhunderts entsprach einer langsamen Transformation der kennerschaftlichen Kunstbetrachtung und der mit ihr verbundenen Vitenliteratur in eine Kunstgeschichtsschreibung, die sowohl geografisch verortete Malstile als auch eine chronologische Abfolge von Künstlern in einem System vereinte. Die entscheidenden Veränderungen vollzogen sich zwischen 1700 und etwa 1750. Roger de Piles rekonstruierte in seinem »Abrégé de la vie des peintres« von 1699 erstmals über das Einzelwerk und die Einzelperson hinausweisende Stilkriterien der Malerei, die von Anton Joseph Dezaillier d’Argenville in dem Werk »La vie des Peintres« von 1741 zu fein differenzierten »Abteilungen der Malerei« nach geografischen, das heißt nationalen, regionalen und lokalen Stilen ausgebaut und schließlich von Jean Baptiste Descamps in dem zweibändigen Werk »La vie 6

Einen Überblick zu den Ordnungssystemen der verschiedenen Galerien bieten Robert Trautwein, Geschichte der Kunstbetrachtung. Von der Norm zur Freiheit des Blicks, Köln 1997, S.  186–265 (»Hauptstück, zweiter Teil. Das Systematisieren«); James Sheehan, Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung, München 2002, S. 131–153 (Kap. III. 1); Penzel, Betrachter, S. 37–48. 7 Am Beispiel der Wiener Galerie unter Christian von Mechel hat Debora J. Meijers zwar versucht, in einer all zu wörtlichen Übertragung von Foucaults »Ordnung der Dinge« eine Konstruktion der Geschichte der Malerei aus der experimentellen Ordnung der Bilder im Galerieraum abzuleiten, dabei aber sämtliche verfügbare Kunst­ literatur und damit den gesamten Wissensdiskurs der Kunstgeschichte dieser Zeit vernachlässigt; vgl. Debora J. Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780, Wien 1995 (Kap. 7); zur Kritik an Meijers vgl. Penzel, Betrachter, S. 44–46.

Der umworbene Blick: Bildbetrachtung in paragonaler Konstellation

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des peintres Flamands, Allemands et Hollandois« 1753 streng chronologisch geordnet worden war.8 War diese kennerschaftliche Kunstbetrachtung noch auf das Engste mit der experimentell suchenden Ordnung von Artefakten verbunden  – allerdings nicht der Gemäldeoriginale, sondern deren Reproduktionen in Form von Kupferstichen –, so wurde mit Johann Joachim Winckelmanns 1764 erschienener »Kunstgeschichte des Altertums« ein über den konkreten Gegenstand antiker Skulpturen hinausreichendes methodisches Paradigma für die geografisch-chronologische Ordnung von Kunstgütern im Allgemeinen geschaffen.9 Damit schien für lange Zeit eine Betrachtung der Kunstgüter außerhalb dieser stilgeschichtlichen Rekontextualisierung geradezu unmöglich. Dieser fachwissenschaftliche Diskurs hatte nicht nur auf die Anordnung der Kunstwerke innerhalb der Gemäldegalerien des 19.  Jahrhunderts, sondern damit auch auf deren Wahrnehmung und sinnhafte Deutung seitens des Publikums einen entscheidenden Einfluss, wie hier mit Blick auf die Systematik der Berliner Gemäldegalerie exemplarisch verdeutlicht werden soll. Diese war im Alten Museum seit 1830 öffentlich zugänglich und verdankte ihre Anordnung einer Einrichtungskommission zu der neben Wilhelm von Humboldt, der Architekt Karl Friedrich Schinkel, der Bildhauer Christian Daniel Rauch und der erste Direktor der Galerie, Gustav Friedrich Waagen, auch der externe Berater Karl Friedrich von Rumohr, der zu dieser Zeit an­gesehenste Kenner in Kunstfragen, gehörten.10 Die Spezifik der Berliner Gemäldesammlung ermöglichte eine geradezu lückenlose Dokumentation der stilgeschicht8

Zur Entstehung des kunstgeschichtlichen Paradigmas von Stil und Chronologie im Kontext der Vitenliteratur vgl. Thomas Ketelsen, Künstlerviten. Inventare. Kataloge. Drei Studien zur Geschichte der kunsthistorischen Praxis, Ammersbek bei Hamburg 1990; Gabriele Bickendorf, Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1996; Virginie Spenlé, »Eine chronologische Historie der Mahlerey in Gemählden«. Vorschläge aus dem Jahre 1771 zu einer Neuordnung der Dresdner Gemäldegalerie, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67 (2004), S. 461–478; Penzel, Betrachter, S. 44–46 und besonders S. 120–125; Astrid Bähr, Der langsame Abschied vom Galeriewerk, in: Bénédicte Savoy (Hg.), Tempel der Kunst. Die Entstehung des öffentlichen Museums in Deutschland. 1701–1815, Mainz 2006, S. 47–54. 9 Für einen Überblick zu Methoden der Kunstgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts vgl. Bickendorf, Die Historisierung der italienischen Kunstbetrachtung; dies., Kunsthistorische Praxis im 18.  Jahrhundert, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter 5 (2003), S. 17–28. 10 Zur Einrichtung der Berliner Galerie vgl. Christoph Martin Vogtherr, Das Königliche Museum zu Berlin. Planung und Konzeption des ersten Kunstmuseums ( Jahrbuch der Berliner Museen N. F. 39, Beiheft), Berlin 1997; Elsa van Wezel, Die Konzeption des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewusstsein, in: Jahrbuch der Berliner Museen N. F. 43 (2001), Beiheft, S. 1–244.

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Abb. 1: Raumplan der Berliner Gemäldegalerie, Stahlstich, in: Gustav Friedrich Waagen: Verzeichnis der Gemälde-Sammlung des Königlichen Museums zu Berlin, Berlin 1830

lichen Entwicklung in den einzelnen Regionen und Zeiträumen. Daher hatte sich die Kommission – wie der Raumplan aus dem Katalog von 1830 (Abb. 1) verdeutlicht – auf eine Ordnung in drei Abteilungen verständigt. Nach dem Eintritt in die Galerie konnten die Besucher rechts in der »Ersten Abteilung« den Entwicklungsgang der italienischen Malerei in den einzelnen Lokalschulen von der Frührenaissance bis in die Barockzeit verfolgen, links in der »Zweiten Abteilung« die Entwicklung der nordeuropäischen Malerei der altniederländischen und altdeutschen Schulen des 15. bis zur holländischen und flämischen Barockmalerei des 17. Jahrhunderts betrachten und bei einem vertieften kunstgeschichtlichen Interesse schließlich in einer »Dritten Abteilung« die frühen Entwicklungsstufen der Malerei der gotischen Zeit einsehen. Die Berliner Gemäldegalerie gilt in der Kunstgeschichtsschreibung bis heute als das bekannteste, zugleich konsequenteste Beispiel einer diskursiven Gemäldeordnung, bei der die Sichtbarkeit der Malerei am ausgearbeiteten Wissen der jungen Fachwissenschaft Kunstgeschichte orientiert wurde. Für die Analyse intermedialer Zusammenhänge des Galerieraums erscheint es dabei nicht nur bedeutsam, dass die Wissensordnung von Texten die Grund­ lage für die Bildordnung darstellte, sondern viel weiter reichend wird hier ersichtlich, wie die Bilder durch ihre räumliche Präsentation selbst nach dem

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Muster von Texten strukturiert wurden. Für Betrachter, die durch die einzelnen Abteilungen der in eine Fülle kleiner Kabinette gegliederten Berliner Galerie gingen, hieß das, sich durch eine Raumordnung zu bewegen, die die einzelnen Gemälde der sinnhaften Logik der Kunstgeschichte und damit der Textualität unterstellte. Was die Betrachter zunächst wahrnahmen, wenn sie in die einzelnen kleinen Kabinette traten, war eine geradezu überwältigende Simultaneität von bis zu 170 Gemälden, was sie danach im Abschreiten der einzelnen Bilderwände und im Durchschreiten der Galerieräume erlebten, entsprach dagegen einer zeitlichen Strukturierung des Sehens, bei der sukzessiv Malerschule auf Malerschule und Kunstepoche auf Kunst­epoche folgte. Somit ließ die textuelle Ordnung der Bilder innerhalb der Gemäldegalerie den Raum als Medium der Geschichte erfahrbar werden. Da die Textualität des präsentativen Systems der Gemälde Gefahr lief, nicht eindeutig auszufallen oder gar in der Wahrnehmung der Betrachter aufgrund der überwältigenden Fülle der Gemälde unterzugehen drohte  – und das hieß unsichtbar zu bleiben –, schien es notwendig, zusätzlich Textmarkierungen im Raum zu verankern, um die inszenatorisch intendierte und das hieß bildhaft-räumliche Lesbarkeit mit einer Lesbarkeit des Wortes zu verbinden. Deshalb waren in den drei Abteilungen der Berliner Galerie und den einzelnen Kabinetten Schilder angebracht worden, die die jeweiligen stilgeografischen Kategorien anzeigten  – etwa: »Italienische Schulen«, »Venezianer«, »Lombarden«, »Die Schulen des mittleren Italien« usw.11 In dieser Weise konnte es gelingen, den Ausstellungsrundgang stilgeografisch und chronologisch zu choreografieren und das hieß, die Sichtbarkeit der Gemälde im Raum in eine Lesbarkeit in der Zeit zu transformieren.12 In der Geschichte der vermittlungsdidaktischen Instrumentarien des Galerieraums können die kunstgeschichtliche Ordnung der Gemälde und eine, die Identifikation dieser Ordnung ermöglichende, Raumbeschriftung zwar als ein funktionales Verhältnis von Bild und Text nach dem Prinzip der Kongruenz beschrieben werden, aber unter der Oberfläche dieser didaktischen Intentionen zeigt sich letztlich eine Dominanz des Textes gegenüber den Bildern und damit eine Wissensfundierung des Sehens, der tatsächlich eine Herrschaft des Wissens über das Sehen zugrunde lag. Die Berliner Gemäldegalerie – und das trifft für die anderen großen Galerien in Dresden, München, 11

Zur Beschilderung der Berliner Galerie vgl. Tilmann von Stockhausen, Gemälde­ galerie Berlin. Die Geschichte ihrer Erwerbungspolitik 1830–1904, Berlin 2000, S.  185; zum Vergleich verschiedener Beschriftungssysteme im 19.  Jahrhundert vgl. Penzel, Betrachter, S. 265–274. 12 Inwieweit Gemäldebeschriftungen die Tradition von Beischriften auf Druckgrafiken und von Abbildungstiteln in illustrierten Büchern fortsetzten, müsste gesondert untersucht werden.

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Wien, Paris oder London ebenso zu – entsprach einem Ausstellungsraum, in dem die einzelnen Werke nur schwerlich unabhängig von jenem spezifischen Wissen betrachtet werden konnten, das die Ordnung der Sammlungsgüter hervorgebracht hatte. Eingepasst in ein strenges räumliches Ordnungsgerüst dienten die Bilder der Repräsentation der diskursiv hergestellten Kunstgeschichte der Malerei. Genau genommen betrat man hier weniger einen Raum der Kunst als einen Raum der Kunstgeschichte.13 Für viele Besucher der Berliner Galerie wurde diese Wissensfundierung und der damit verbundene Primat des Textes über die Bilder sogar noch weiter getrieben, indem die Rolle des Betrachters mit der des Leser in direkter Weise gekoppelt wurde. Wie eine Fotografie des Jahres 1856 zeigt, betraten Besucher das Berliner Museum bereits mit dem Buch in der Hand (Abb. 2). Im Schatten einer Säule in der Vorhalle von Schinkels Kunsttempel ist ein Paar in die Lektüre einer kleinen Publikation vertieft, die wahrscheinlich jene komplizierten allegorischen Szenen zur Menschheits- und Kunstentwicklung, die hier auf monumentalen Freskogemälden dargestellt waren, entschlüsseln halfen.14 Derartige Erklärungstexte existierten auch für die Sammlung der Gemäldegalerie. Pünktlich zur Eröffnung des Museums hatte Gustav Friedrich Waagen im Jahr 1830 ein Galerieverzeichnis15 veröffentlicht, in dem das interessierte Publikum nicht nur stichwortartige Grundinformationen zu den einzelnen Werken erhielt, sondern diese kurzen Werkerklärungen zugleich in der Struktur eines nach geografischen Malstilen und chronologischen Prinzipien gegliederten Textes eingebunden fand. Waagens »Verzeichnis der Gemälde« unterstrich mit zwei didaktischen Elementen diese fachwissenschaftlichen Grundsätzen folgende Erklärung der Werke. Zu 13

In diesem Sinne ist der von Vogtherr, Das Königliche Museum, und van Wezel, Die Konzeption des Alten und Neuen Museums, für das Berliner Museum verwendete Begriff »erstes Kunstmuseum« irreführend. Vielmehr handelte es sich um kunst­ geschichtliche Sammlungen. Die erforderliche Desemiotisierung der Kunstgüter von ihrer ursprünglich religiösen Funktionalität und deren Resemiotisierung als Zeugnisse der Geschichte beschreibt Gottfried Korff, Scheinkapellen und Ähnliches: Sieben Bemerkungen zu den diskursiven und visuellen Strategien des Geschichtsmuseums im Jahrhundert seiner Etablierung, in: Institut für Museumskunde (Hg.), Zur Geschichte der Museen im 19. Jahrhundert. 1789–1918, Berlin 2006, S. 211–123; zum Paradigma historischen Denkens in den Museen des 19.  Jahrhunderts vgl. Heinrich Dilly, Kunst­geschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt a. M. 1971, S. 80–159 (Kap. 2). 14 Diese im Zweiten Weltkrieg zerstörten Fresken waren von Karl Friedrich Schinkel entworfen und von Peter Cornelius und seiner Werkstatt nach Schinkels Tod ausgeführt worden. Zur Rekonstruktion und Deutung vgl. Jörg Trempler, Das Wandbild­ programm von Karl Friedrich Schinkel. Altes Museum Berlin, Berlin 2001. 15 Gustav Friedrich Waagen, Verzeichnis der Gemälde-Sammlung des königlichen Museums zu Berlin, Berlin 1830.

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Abb. 2: Leopold Ahrendts, Die Säulenvorhalle des Berliner Museums, Fotografie um 1856

Beginn erhielt der Leser auf 14 Seiten einen Überblick über den in neun Epochen gegliederten Verlauf der europäischen Malerei, den man als eine komprimierte Kunstgeschichte im Sinne einer stichwortartigen Propädeutik bezeichnen kann. Danach wurden die einzelnen Gemälde entsprechend der Abfolge ihrer Hängung im Galerieraum aufgelistet, das heißt die Kapitel-

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gliederung des Verzeichnisses reproduzierte die Raumgliederung. Für die jeweiligen Kabinette erhielt der Leser eine halb- bis anderthalbseitige Einführung in die stilistischen Besonderheiten der jeweiligen regionalen Malerschule. Ausgehend von diesen kurzen Einführungstexten sollte es ge­lingen, die Blicke des Lesers auf die einzelnen Gemälde im Rahmen des spezifischen Wissenshorizonts und der zugehörigen Begriffe aus der Kunstgeschichte zu lenken.16 Zwar half Waagens Verzeichnis in didaktischer Absicht, die fachwissenschaftlichen Einrichtungsgrundsätze der Galerie und damit das kunstgeschichtliche Wissen der Zeit dem Besucher zu erklären. Diese dezidierte Wissensvermittlung musste jedoch für Besucher, die sich mit dem Verzeichnis lesend durch die Bilderräume bewegten, dazu beitragen, die Gemälde als Quasiillustrationen des kunstgeschichtlichen Textes zu erleben. Am einzelnen Bild und im Vergleich benachbarter Bilder ließ sich ein Wissen anwenden bzw. prüfen, das zunächst auf der Ebene von Texten mitgeteilt worden war. Selbst mit Blick auf den Raum- und Orientierungsplan der Berliner Galerie, der in Waagens Verzeichnis eingebunden war (Abb. 1), erhielt der Leser eine Prägung des Sehens in den zentralen Kategorien und Begriffen der stilgeografischen Kunstgeschichtsschreibung. Die einzelnen Gemälde waren von Texten derartig eingekreist und selbst in das Schema einer Textordnung eingepasst, dass sie  – obwohl sie als originale Artefakte der Vergan­genheit präsentiert wurden – geradezu als das nachträgliche Element der in den Texten (re-)konstruierten Geschichte der Malerei erscheinen mussten. Diese scheinbare Nachträglichkeit der Bilder im Medium des Galerieraums wird zur Grundvoraussetzung der Wahrnehmung ihrer Geschichtlichkeit. Wie Foucault gezeigt hat, liegt der Ordnung der sichtbaren Dinge eine Ordnung des Wissens zugrunde,17 die geradezu unausweichlich, aber – wie weiterhin zu diskutieren ist  – nicht unhintergehbar ist. Das Gezeigte entspricht oberflächlich betrachtet zwar dem Wissen einer bestimmten Zeit, aber das Gezeigte ist nicht unbedingt mit dem Gesehenen identisch. Das hat allerdings weniger mit einer Autonomie des Sehens zu tun als vielmehr mit der Kontingenz des Wissens und den spezifischen Interessen, die hinter ver­ schiedenen Wissensordnungen stehen. Es wird paradoxerweise der Text sein, der die Bilder und damit das Sehen aus der Umklammerung des Wissens erlöst – wenn auch nur, um sie einem neuen Wissen zu übereignen. 16

Zur ausführlichen Analyse von Waagens Verzeichnis vgl. Penzel, Betrachter, S. 282– 287. Zur Funktion der Galerieverzeichnisse als Reproduktion der Galerieordnung vgl. Ketelsen, Künstlerviten, S. 167. 17 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (Let mots et les choses, 1966), Frankfurt a. M. 1974.

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Die Konkurrenz der Texte um den Blick auf die Bilder Für den Diskurs um die paragonal strukturierte Erinnerungspraxis innerhalb der Gemäldegalerien erscheint es von zentraler Bedeutung, dass nicht alle bildungshungrigen Besucher im 19. Jahrhundert die Gemäldesäle mit den­selben Texten in der Hand abschritten, sondern mit sehr unterschiedlichen Vermittlungspublikationen ausgestattet waren. Folglich traten im multime­dialen Raum der Galerie nicht nur Bilder mit ihrem Inszenierungsrahmen und mit Texten in ein funktionales und konkurrierendes Verhältnis, vielmehr wett­ eiferten verschiedene Texte um die Deutungshoheit über die Kunstgüter. Neben Waagens Verzeichnis erschienen schon bald verschiedene hand­liche Führer, die kleine Berliner Verlage herausgaben, um den zunehmend wachsenden Bedarf an touristischen Informationen zu den lokalen Kunstschätzen abzudecken. Darunter befanden sich unter anderem damals bekannte Autoren wie Max Schasler, der Herausgeber der Zeitschrift »Die Dioskuren«, der das Standardwerk »Berlins Kunstschätze. Ein praktisches Handbuch zum Gebrauch bei der Besichtigung derselben« (1855) herausbrachte; ­Alfred Woltmann, der erste Ordinarius für Kunstgeschichte der Universität in Prag, verfasste noch als Schüler auf Bitte Gustav Friedrich Waagens den Führer »Das Königliche Alte Museum zu Berlin« (1859); dane­ben existierten verschiedene Publikationen weniger bekannter Verfasser, die zum Teil in mehrfacher Überarbeitung über Jahrzehnte den touristischen Vermittlungsbedarf befriedigten.18 Diese Publikationen unterschieden sich von Gustav Friedrich Waagens Verzeichnis grundsätzlich, indem sie drei wichtige vermittlungsdidaktische Funktionen miteinander kombinierten. Sie waren als Gesamtführer durch die Sammlungen des Alten und zum Teil auch des 1850 eröffneten Neuen Museums angelegt. Im Gegensatz zu Waagens ausführlichen Einführungstexten zu den einzelnen geografischen Malstilen und den genauen Beschreibungen der einzelnen Gemälde gingen diese Gesamtführer nur schlagwortartig sowohl auf die Sammlungsstruktur als auch auf die Einzelwerke ein. Außerdem boten diese handlichen Führer aus dem Bestand der mehrere Tausend Werke umfassenden Sammlungen eine repräsentative Auswahl. Hatte Waagen in seinem Verzeichnis der Berliner Galerie beispielsweise sämtliche 99 Gemälde im Kabinett der »Venezianischen Schule« aufgelistet, berücksichtigte Max

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Philipp Löwe, Die Königlichen Museen für Kunst und Alterthum. Leitfaden, Berlin 1850 (erscheint in 27 Auflagen bis 1876); L. W. Holbein, Neuester Führer in den Museen Berlins. Beschreibung und Erläuterung der Kunst-Sammlungen, Berlin 1852 (erscheint in 18 Auflagen bis 1875); W. Wassermann, Neuester Führer durch das Alte und Neue Museum. Praktischer Leitfaden, Berlin 1869 (erscheint in 12 Auflagen bis 1876).

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Schasler in seinem Handbuch lediglich acht Werke.19 Das waren vor allem die durch Giorgio Vasaris »Viten« als Hauptvertreter der norditalienischen Malerschule bekannten Künstler wie Giovanni Bellini, Antonello da Messina oder Andrea Mantegna. Diese im Text vollzogene Reduktion der Kunstschätze auf eine repräsentative Auswahl, wie sie »der Schasler« und andere Museumsführer dieser Zeit anstrebten, hatte enorme Konsequenzen für die Wahrnehmung und sinnhafte Interpretation der Wer­ke, ja sogar für die gesamte Galeriekonzeption. Die didaktische und kunstgeschichtliche Galerieordnung innerhalb dieser Führer und Handbücher trat in Konkurrenz zu den päd­agogischen Intentionen der räumlich inszenierten Bildergalerie. Während die Einrichtungskommission des Berliner Museums dem kennerschaftlich antiquarischen Ideal entsprechend eine Vollständigkeit des kunstgeschichtlichen Verlaufs durch eine möglichst lückenlose Präsentation von Werken sämtlicher Meister und Kleinmeister der einzelnen Malerschulen anstrebte, folgten die populären Vermittlungstexte dem Prinzip ei­ner Galerie der Meisterwerke, die nicht mehr auf dem Modell der enzyklopä­dischen, sondern nun einer repräsentativen Kunstgeschichtsschreibung gründete. Diesem Wandel des kunsthistorischen Paradigmas lag jedoch kei­ne vordergründig wissenschaftsimmanente, also theoretische oder methodi­sche Absicht zugrunde, sondern eine dezidiert vermittlungsdidaktische In­tention. In den Vorworten der einzelnen Führer und Handbücher wurde im­mer wieder auf den enormen Zeitdruck hingewiesen, unter dem die Reisen­den und einheimischen Kunstfreunde standen. Innerhalb der wenigen Stun­den, die dieser stetig wachsenden Besuchergruppe für die Besichtigung der Sammlungen blieben, erschien es unmöglich, sämtliche ausgestellte Werke zu betrachten. Deshalb setzte sich beispielsweise der 1870 erschienene »Berathende Führer« von Karl Biedermann das Ziel, »auf die vorzüglichsten und bedeutendsten Stücke aller königlichen Sammlungen aufmerksam zu machen […] und ihm [dem Leser, J. P.] so die beste und reichste Ausnutzung der kurzen Besuchszeit zu ermöglichen.«20 Mit ihrer Auswahl »des Bedeutendsten« erleichterten diese Führer in den einem Bilderlabyrinth gleichenden Galeriesälen das schnellere Auffinden der Hauptwerke der jeweiligen Sammlung. Diese Orientierungsfunktion unterstrichen einerseits die Titel derartiger Vermittlungspublikationen wie »Begleiter«, »Kompagnon«, »Führer«, »Cicerone« oder »Wegweiser«,21 anderer­seits 19

Max Schasler, Berlins Kunstschätze. Ein praktisches Handbuch zum Gebrauch bei der Besichtigung derselben, Bd. 1, Berlin 1855, S. 24 f. 20 Karl Freiherr von Biedermann, Berathender Führer durch sämtliche Königliche Sammlungen, Kunstschätze und Sehenswürdigkeiten Dresdens, Dresden 1870, S. 1. 21 Zur Semantik der Titel der Galerieführer im 19. Jahrhundert vgl. Penzel, Betrachter, S. 252 f. Eine vergleichbare Begrifflichkeit hatten bereits Reiseführer seit dem späten

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wurden in den Raumplänen dieser Publikationen neben den schulstili­stischen Schlagworten nun auch die wichtigsten Künstler angegeben.22 Außerdem konnte man sich in alphabetischen Personenregistern am Ende der Kataloge und Führer schnell über die ausgestellten Maler orientieren. Das stilgeographische Ordnungssystem wurde also zunehmend durch personale Markierungen ergänzt. Darüber hinaus regten die Führer zu einer intensiveren Betrachtung einzelner Gemälde an, die dem gedankenlosen Flanieren an den oft mehrere hundert Meter langen Bilderwänden entgegenarbeiten sollte. So war es der didaktische Text, der die Bilder aus der durch die räumliche Inszenierung etablierten kunstgeschichtlichen Textualität herauslöste und damit eine Intensivierung des Sehens ermöglichte. Diese längere Fokussierung einzelner herausragender Werke durch den Betrachter wurde durch deren ausführ­liche Beschreibung angeregt. Dabei versuchten die einzelnen Autoren entsprechend ihrer jeweiligen didaktischen Zielstellung, entweder kunstgeschicht­ liche Zusammenhänge und kulturgeschichtliche Bezüge an einem Werk zu erklären23 oder stilistische und maltechnische Besonderheiten der einzelnen Gemälde detailliert zu beschreiben24 oder ikonographische Themen der Bil­ der zu erläutern25. Ziel dieser didaktischen Textkonzeptionen war es, das Gelesene bei der anschließenden Betrachtung des jeweiligen Gemäldes zu prüfen bzw. das vermittelte Wissen praktisch anzuwenden. Paradoxerweise handelten die Autoren dieser Vermittlungspublikationen in ihrer Funktion als Meister der Worte zugleich als Verfechter der Bilder. Während die Galerieinszenierung und die offiziellen Verzeichnisse und Sammlungskataloge noch jenem aus

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Mittelalter ausgeprägt; vgl. Ludwig Schudt, Le guide di Roma. Materialien zu einer Geschichte der römischen Topographie, Wien/Augsburg 1930; Esmond de Beer, The development of the guide-book until the early nineteenth century, in: The Journal of the British Archeological Association 15 (1952), S. 35–46; British Library (Hg.), Guide Books and Tourism. The British in Italy, Ausst.-Kat., London 1980. Derartige Raumpläne beispielsweise bei Julius Hübner, Verzeichnis der königlichen Gemälde-Gallerie zu Dresden, Dresden 1856; Max Schottky, Ueber Münchens Kunstschätze, Erste Abteilung: Malerei, München 1833; Betty Paoli, Wiens Gemälde-Gallerien und ihre kunsthistorische Bedeutung, Wien 1856. Vgl. Franz Kugler, Beschreibung der in der Königlichen Kunstkammer zu Berlin vorhandenen Kunst-Sammlung, Berlin 1838; Martin Bernhard Lindenau, Dresdner Galerie-Buch. Ein berathender Führer zur Auffindung und zum Verständnis sämt­ licher Werke, Dresden 1862. Vgl. Johann Gottlob von Quandt, Der Begleiter durch die Gemälde-Säle des Königlichen Museums zu Dresden, Dresden 1856. Vgl. Julius Hübner, Bilder-Brevier der Dresdner Gemäldegalerie, Dresden 1857; Julius Mosen, Die Dresdner Gemälde-Galerie in ihren bedeutungsvollsten Meisterwerken, Leipzig 1858.

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dem 18.  Jahrhundert überkommenen enzyklopädischen Bildungsideal ent­ sprachen, etablierten die Führer bereits die Vorstellung von einem zwar fragmentarischen, aber repräsentativen Wissen, das in Form komprimierter Fakten am exemplarischen Einzelwerk vermittelt wurde. Wie aber ist dieses Unterlaufen bestehender, fachwissenschaftlich abgesicherter Wissensordnungen möglich gewesen? Wie konnte es gelingen, sozusagen im Schatten der Bilder und der von ihnen repräsentierten Kunstgeschichte eine alternative Ordnung der Dinge und des damit verbundenen Wissens zu etablieren?

Konkurrenzkampf um das Publikum – Vermittlungstexte als ökonomische Faktoren In der Gründerphase der deutschen Kunstmuseen zwischen den Jahren 1800 und 1850 wurde seitens der Galeriedirektoren und Einrichtungskommissionen die in den Sammlungsräumen hergestellte Ordnung der ästhetischen Güter als eine Repräsentation des fachwissenschaftlich abgesicherten Wissens verstanden, das es dem Publikum zu vermitteln galt. Damit erfolgte nicht nur eine etwas schematische Gleichsetzung von Wissensproduktion mit Wissensrezeption, sondern zugleich wurde das Publikum als Bildungsobjekt betrachtet, dem man keine eigenen Rezeptionsziele zugestand.26 Davon zeugen die verschiedenen offiziellen Galerieverzeichnisse und Museumskataloge, die  – wie oben beispielhaft gezeigt – in den Vermittlungstexten lediglich eine Reprä­ sentation der Bildordnung innerhalb der Textordnung und damit eine doppelte Repräsentation der kunstgeschichtlichen Wissensordnung anstrebten.27 Diese amtlichen Galerie- und Museumspublikationen waren aber einer massiven Konkurrenz durch damals so genannte »inoffizielle Publikationen« ausgesetzt, die von unabhängigen Verlagen auf dem lokalen Buchmarkt und zum Teil direkt auf der Schwelle des Museums den Kunstfreunden angeboten wurden. Ein Stahlstich aus dem Jahr 1855 zeigt mobile Händler, in diesem Fall eine ältere Frau, die dem Publikum als selbstständige Kolporteure 26

Diese Gleichsetzung von Wissensproduktion mit Bildungszielen wird selbst von der neueren sozialhistorischen Forschung noch unkritisch übernommen, etwa: Walter Hochreiter, Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte Deutscher Bildungs­museen 1800–1914, Darmstadt 1994, S. 33–44; Hildegard Vieregg, Vorgeschichte der Museumspädagogik. Dargestellt an den Museumsentwicklungen in den Städten Berlin, Dresden, München und Hamburg bis zum Beginn der Weimarer Republik, Münster 1991, S. 3–5. 27 Vergleichbar mit Waagens Verzeichnis der Berliner Galerie sind: Georg von Dillis, Ver­eichnis der Gemälde in der Königlichen Pinakothek zu München, München 1838; Albrecht Krafft, Historisch-kritischer Katalog der K. K. Gemälde-Gallerie im Belvedere zu Wien, Wien 1854; Hübner, Verzeichnis der Gemälde.

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oder im Auftrag kleiner Berliner Verlage vermittlungsdidaktische Texte offe­ rierten (Abb. 3).28 Noch bevor die Besucher das Museum überhaupt betreten hatten, erhielten sie die Gelegenheit, sich kostengünstig mit Führern auszustatten. Zwar versuchte die Berliner Museumsleitung diese inoffiziellen Publikationen als Raubdrucke zu ächten, weil damit den staatlichen Sammlungen beträchtliche Einnahmen verloren gingen. Da diese inoffiziellen Füh­rer aber im Aufbau von den amtlichen Verzeichnissen abwichen, waren so­wohl ein Urheberrechtsstreit als auch ein Verbot zum Scheitern verurteilt.29 Wie eine statistische Auswertung sämtlicher Publikationen zu den Berliner Museen im 19. Jahrhundert gezeigt hat, sicherten sich die unabhängigen Verlage mit ihren Führern bis in die 1870er Jahre sogar die wesentlichen Marktanteile.30 Neben diesen primär finanziellen Interessen entsprach der Konkurrenzkampf um den Absatz der Museumspublikationen, der sprichwörtlich auf den Stufen der Kunsttempel stattfand, einer Umwerbung des Publikums mit unterschiedlichen Vermittlungsangeboten. Über den ökonomischen Wett­ bewerb wurde tatsächlich eine Konkurrenz um die Deutungshoheit über die Kunstgüter und damit um den Blick auf die Werke ausgetragen. Anders als die Galeriedirektoren, die für die amtlichen Verzeichnisse die Verantwortung besaßen und dabei zunächst fachwissenschaftliche Grundsätze verfolgten, fühlten sich die Autoren der Galerieführer stärker als Diener des Publikums. Ausgehend von den unmittelbaren Interessen der Besucher, nämlich intensivem Kunstgenuss und prägnanter Information bei knapper Zeit, wurde der enzyklopädische Bildungsanspruch der Kunstinstitutionen stark modifiziert. Die Absatzchancen der Führer stiegen offensichtlich, je mehr man sich von den wissenschaftlichen Grundsätzen entfernte und auf die Bedürfnisse des Publikums einstellte. Damit waren es die Autoren der nicht­offiziellen Galeriepublikationen im Verbund mit den unabhängigen Verlagen, die das Kunstpublikum als Kollektivsubjekt mit eigenen Interessen anerkannten und bei der Ausarbeitung von Vermittlungszielen und Vermittlungsstrategien direkt berücksichtigten. 28

Anonymus, Berlin und seine Kunstschätze. Die Königlichen Museen zu Berlin. Eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole in einer Reihe ausgezeichneter Stahlstiche, Leipzig 1855, o. S. 29 Eine Dokumentation der Diskussion über die nichtamtlichen Publikationen findet sich in den Akten der Berliner Museumsverwaltung in den 1840er Jahren; Berlin, Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Kultusministerium Ve, Sekt. 15 Abt. I, Nr. 13, Bd. 1, fol. 76 ff. 30 Penzel, Betrachter, S. 274–281 und 485–490. Auswertungsgrundlage ist die Biblio­ graphie von Horst-Johs Tümmers, Verzeichnis der Kataloge und Führer der kunstund kulturgeschichtlichen Museen in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West), Bd. 1: Kataloge und Führer der Berliner Museen, Berlin 1975.

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Abb. 3: Die Amazone am Eingang des Alten Museums in Berlin, Stahlstich 1855

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Diese Offensive des Buchmarktes in Sachen museumspädagogischer Kunstvermittlung hatte für den historischen Prozess der Institutionalisierung der Kunstbetrachtung und der Ausdifferenzierung musealer Basisfunktionen zwei weit reichende Konsequenzen: Erstens: Mit der Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen des Publikums nahmen die unabhängigen Verlage mit ihren Autoren eine der wesentlichen Aufgaben vorweg, die erst innerhalb der Reformphase der Museen zwischen 1880 und 1914 und mit Nachdruck von der parallel sich entfaltenden Kunsterziehungsbewegung formuliert und schließlich institutionalisiert werden sollte. Zwar existierte bereits in der Gründerphase der Museen die Vorstellung von deren humanistischer Bildungsfunk­tion, aber ein expliziter pädagogischer und kunstwissenschaftlicher Diskurs, der neben allgemeinen auch kunstspezifische Bildungsziele for­mulierte und dabei methodische Instrumentarien entwickelte, setzte erst am Ende des 19. Jahrhunderts ein.31 Die Führer und Handbücher der Kunstverlage hatten ab etwa 1850 einen wesentlichen Teil jener Vermittlungsarbeit geleistet, die im Rahmen der Museumsreformbewegung institutionalisiert und schließlich professionalisiert werden sollte. In diesem Sinne erscheint die Vorgeschichte der Museumspädagogik im Wesentlichen als eine Leistung unabhängiger Verlage und der für sie tätigen Fachwissenschaftler und Kunstschriftsteller. Zweitens: Der in der Museumsreformphase um 1900 diskutierte und schließlich europaweit durchgesetzte Paradigmenwechsel von einer enzyklopädischen Schausammlung zu einer Galerie der Meisterwerke schuf ein bis heute erfolgreiches Inszenierungsmodell historischer Malerei, das auf der Ebene der Vermittlungspublikationen bereits seit den 1850er Jahren praktiziert worden war und dort sozusagen zum Standard der publikumsfreundlich beschriebenen Galerien gehörte. Für eine endgültige Reduzierung der auf unüberschaubare Bildermengen angewachsenen Sammlungsbestände bedurfte es jedoch des Wandels der kunstgeschichtlichen Historisierungsansätze. Nachdem in der Generation von Karl Friedrich von Rumohr, Gustav Friedrich Waagen, Franz Kugler, Jakob Burckhardt und Carl Schnaase kunstgeschichtliche Überblicksdarstellungen do­ minierten, begann in der zweiten Jahrhunderthälfte die große Zeit der Meistererzählung, darunter etwa Alfred Woltmanns Holbein-Mono­grafie (1866/68), Herman Grimms Raffael-Biografie (1872), Moritz Thausings 31

Zu den Zielen der Museumsreform vgl. Joachimides, Museumsreformbewegung, Kap.  2; zu den Zielen der Kunsterziehungsbewegung vgl. Peter Joerissen, Kunst­ erziehung und Kunstwissenschaft im wilhelminischen Deutschland 1871–1918, Köln 1979, S. 63–96; zur museumspädagogischen Praxis und zum methodischen Diskurs zwischen 1880 und 1914 vgl. Penzel, Betrachter, Kap. III.2.

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Arbeit über Dürer (1882) und Carl Justis Buch über Velázquez (1888).32 Dieses Interesse an den herausragenden Meistern förderte zugleich die Wahrnehmung der Meisterwerke als unmittelbaren Ausdruck der Schöpfungs- und Vorstellungskraft der Malergenies. Erst auf dieser Grundlage war es möglich, die Ausdünnung der auf eine vollständige Repräsentation der Malereigeschichte angelegten Sammlungen fach­wissenschaftlich zu legitimieren. Die ab der Jahrhundertmitte aufgrund der verbesserten Druckund Aufnahmetechnik forcierte Produktion populärer Bildmappen und illustrierter Kunstbücher, die dem Publikum zu jeder großen Gemäldegalerie in Europa eine Auswahl reproduzierter Meisterwerke anbot, hat diese Fokussierung auf einen exklusiven Kreis von Künstlern und Hauptwerken noch verstärkt.33 Vor diesem Hintergrund erscheint die Konzeption der Galerieführer als Bestandteil eines über Jahrzehnte verlaufenden Paradigmenwechsels innerhalb der kunsthistorischen Theorie und der musealen Inszenierungspraxis. Wenn man im Sinne von Jonathan Crary Kunstbetrachtung »als Folge von nicht aufeinander reduzierbaren heterogenen Systemen von diskursiven, sozialen, technischen und institutionellen Beziehungen« begreift,34 so konnte am Beispiel des Mediums Galerieraum gezeigt werden, dass diese Einzelfaktoren des Sehens in der konkreten geschichtlichen Situation nicht einfach nebeneinander existierten, sondern sich wechselseitig beeinflussten und dabei sogar einem Konkurrenzverhältnis entsprachen. Dem hier rekonstruierten Paragone zwischen musealer Inszenierung und Vermittlungspublikationen lag ein Wettstreit von Bild und Text zugrunde, der Ausdruck komplex verwobener funktionaler Beziehungen war. Die Texte konnten die spezifische Medialität der Bilder und deren Inszenierung unterstützen oder diesen entgegenarbeiten, das heißt entweder als Vermittlungsinstanz der institutionellen Visualität agieren oder alternative Anschauungsweisen etablieren. Genauso konnten verschiedene Texte untereinander in eine marktwirtschaftlich motivierte Konkurrenz um das Museumspublikum treten, deren tatsäch­ licher Bezugsgegenstand jedoch der Blick auf die Bilder und deren sinnhafte 32

Zur Ausbildung des Konzepts der Meistererzählung in der Kunstgeschichtsschreibung vgl. Udo Kultermann, Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, München 1966, S. 122–129. 33 Zur Reproduktion von Kunstwerken im 19.  Jahrhundert vgl. Claudia Schönjahn, Abbildungswerke der Dresdner Gemäldegalerie, unveröffentlichte Magisterarbeit, TU Dresden 1992; Caecilie Weissert, Reproduktionsstichwerke: Vermittlung alter und neuer Kunst im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 1999; Dorothea Peters, Kunst aus der Maschine. Zur Vervielfältigung von Kunstwerken durch frühe Autotypien, in: Deutsche Gesellschaft für Photographie Intern 1 (1994), S. 19–27. 34 Siehe Anmerkung 2 dieses Textes.

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Deutung war. In seiner multimedialen Struktur besaß der Galerieraum des 19. Jahrhunderts verschiedene Anschlusspunkte für divergierende Wissensordnungen und konträre rollenspezifische Erwartungshorizonte von Museumsverwaltung und Publikum und damit für den Wettstreit unterschiedlicher Interessen, Bildungsbegriffe und den damit verbundenen sozialen Anforderungen. Somit erweist sich Kunstbetrachtung und weiterführend jede Art des menschlichen Sehens als Ergebnis konkurrierender Einzelaspekte, nämlich medial-technischer, diskursiver, institutioneller, ökonomischer und sozialer Faktoren.

Walburga Hülk

Gedächtnisparagone und Intensität Einige Betrachtungen zur Dynamik des Erinnerns: »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«1

»Wahrscheinlich darf man ganz allgemein sagen, dass sich in der Geschichte des mensch­ lichen Denkens oft die fruchtbarsten Entwicklungen dort ergeben haben, wo zwei verschiedene Arten des Denkens sich getroffen haben.«2

Wer eingeladen ist, zu intermedialen Konstellationen des Gedächtnisparagone zu sprechen, tut gut daran, sich der grundlegenden Begriffe dieser The­ matik zu versichern und die »mediale Bedingtheit von Erinnerung« zu reflektieren im Zusammenhang der, wie es im ›Call for papers‹ heißt, »formende(n) Kraft« jeweiliger Medien »für konkrete Erinnerungsprozesse sowie für komplexe Erinnerungskulturen«. Intermedialität als ästhetisches Ver­fahren stellt dabei in besonderer Weise die Frage nach der Morphologie von Form und Formauflösung, Hybridisierung und Prozessualität, deren jeweilige Dynamik in der Regel unterschiedliche Sinne beansprucht oder affiziert. Deren Korrespondenzen, Synästhesien oder auch Konkurrenzen können postuliert werden als conditio sine qua non von medial induzierter und vermittelter Wahrnehmung und Erinnerung. Wer sich unter dieser Prämisse Marcel Prousts Roman »A la recherche du temps perdu« zuwendet, um den Paragone »nicht auf das Erinnertwerden, sondern das Erinnern selbst« (noch einmal ›Call for papers‹) zu beziehen, ist zunächst einmal erleichtert über die Evidenz dieser Aufgabenstellung und die Fülle des sich darbietenden Materials, drängen sich doch die Sinne und die Erinnerung und mit ihnen die wahrnehmungsästhetische und mediale Reflexion nachgerade bei jeder Proust-Lektüre auf und verlangen nach einer Sondierung. Sodann aber, und das kann sehr bald geschehen, stellt sich unter Umständen der gegenteilige Effekt ein, fluten doch die Sinne und die Sinnlichkeiten, die Wahrnehmung, die Erinnerung und die Medien mit einer solchen Wucht auf den Leser zu, dass dieser sich ebenso gut ganz einem lustvollen und rauschhaften, selbst- und begriffs1

Dieser Text ist die leicht veränderte und auf das Thema ›Gedächtnisparagone‹ zugeschnittene Version des inzwischen erschienenen Aufsatzes: Walburga Hülk, Prousts Intensitäten, in: Uta Felten  /  Volker Roloff (Hg.), Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale Aspekte im Werk von Proust, München 2008, S. 73–85. 2 Werner Heisenberg, Physik und Philosophie (1959), Berlin 1963, S. 156 f.

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vergessenen Erleben ergeben mag, ohne noch den Wunsch zu verspüren, im Reich der Sinne Ordnung schaffen zu wollen. Ich möchte im Folgenden versuchen, die unhintergehbare Komplexität und Dynamik der Sinne, die »correspondance des sens« oder »Geselligkeit der Sinne«3 mit dem Begriff der »Intensität« zu erfassen. Dieser scheint mir, gleichsam als Suchbegriff, geeignet, jenseits starrer Kategorienbildung und Abgrenzungsstrategien – wie beispielsweise der Grenzlegung der Einzel­sinne oder auch der Unterscheidung von Denken und Träumen  – gerade je­ne Energie und Prozessualität sinnlicher Wahrnehmungsereignisse zu er­hel­len, mit denen uns Proust beständig konfrontiert und erfreut. »Intensität« wird somit hier, mit Erich Kleinschmidt, eingeführt als eine »gradualisierte Denkfigur«4, die wahrnehmungsästhetische, philosophische und poetologische Phänomene in ihrer Kontinuität und Differenzialität, ihrer Mobilität und Modellierung, zuletzt auch in jener »Unbestimmtheit« beschreibt, die Gerhard Gamm geltend gemacht hat für die epistemische Situation um 1900.5 Als solche kann sie verdeutlichen, wie sehr Proust mit den erkenntnistheoretischen Modellen um 1900 – jenen der experimentellen Psychologie, der Philosophie Henri Bergsons, aber auch jenen der sich abzeichnenden »neuen Physik«  –, verwandt war, ohne dass im Einzelnen behauptet werden soll, er habe sie dezidiert in Literatur transformieren wollen. Und doch geht es ihm, wie ich anhand der berühmten poetologischen Passage »Une heure n’est pas qu’une heure« aus »Le Temps retrouvé«6 zeigen möchte, um die Positionierung der Dichtung gegenüber den Wissenschaften gerade auf dem Feld der Sinnesmodalitäten, der Intensität der Sinne – und damit der Intensität der Liebe, der Wahrnehmung, der Erkenntnis und Erin­nerung, der Metapher und der Dichtung.7 In »Le Temps retrouvé« nämlich heißt es an prominenter Stelle: »Une heure8 n’est pas qu’une heure, c’est un vase rempli de parfums, de sons, de projets et de climats. Ce que nous appelons la réalité est un certain rapport entre ces sensations 3

Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M. 1999, S. 54 ff. 4 Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 8; ich würde vielleicht noch eher sprechen von einer »gradualisierenden Denkfigur«. 5 Gerhard Gamm, Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt a. M. 2000 und ders., Flucht aus der Kategorie, Frankfurt a. M. 1994. 6 Vgl. dazu u. a. Vittoria Borsò, Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, in: Uta Felten / Volker Roloff (Hg.), Proust und die Medien, München 2005, S. 31–60. 7 Vgl. hier François Vannucci, Marcel Proust à la recherche des sciences, Paris 2005. 8 Alternativ im Manuskript: »une lueur«; vgl. Volker Roloff, Francois le Champi et le texte retrouvé, in: Cahiers Marcel Proust 9, Etudes proustiennes III (1979), S. 259–287, hier S. 278.

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et ces souvenirs qui nous entourent simultanément – […] rapport unique que l’écrivain doit retrouver pour en enchaîner à jamais dans sa phrase les deux termes différents. On peut faire se succéder indéfiniment dans une description les objets qui figuraient dans le lieu décrit, la vérité ne commencera qu’au moment où l’écrivain prendra deux objets différents, posera leur rapport, analogue dans le monde de l’art à celui qu’est le rapport unique de la loi causale dans le monde de la science, et les enfermera dans les anneaux nécessaires d’un beau style; même, ainsi que la vie, quand, en rapprochant une qualité commune à deux sensations, il dégagera leur essence commune en les réunissant l’une dans l’autre pour les soustraire aux contingences du temps, dans une métaphore«.9

Und in der Übersetzung von Luzius Keller heißt es: »Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Verbindung zwischen diesen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben – […] eine einzigartige Verbindung, die der Schriftsteller wiederfinden muß, um für immer in seinem Satz die beiden verschiedenen Glieder miteinander zu verketten. Man kann unendlich lange in einer Beschreibung die Gegenstände aufeinanderfolgen lassen, die sich an den beschriebenen Orten befanden. Die Wahrheit beginnt erst in dem Augenblick, in dem der Schriftsteller zwei verschiedene Gegenstände nimmt, die Verbindung zwischen ihnen herstellt – diese Verbindung in der Welt der Kunst entspricht den durch die Kausalgesetze gegebenen einzigmöglichen Verbindungen in der Welt der Naturwissenschaften  – und sie einschließt in die zwingenden Glieder eines schönen Stils; oder auch erst, wenn er, wie das Leben es tut, in zwei Empfindungen etwas Gemeinsames aufzeigt und so ihre gemeinsame Essenz freilegt, wenn er, um sie den Zufälligkeiten der Zeit zu entziehen, die eine mit der anderen vereint in einer Metapher«.10

Deutlich zeichnet sich hier eine neue, dezidiert moderne paragonale Kon­ stellation in der Frage nach Erinnerungsvorgängen ab: Die Literatur tritt nicht etwa gegen Fotografie oder Bildende Kunst an, sondern hier fordert die »Welt der Kunst« die »Welt der Naturwissenschaften« heraus, indem sie in Anspruch nimmt, nicht nur über einen eigenen Darstellungsmodus für das Erinnern als solches zu verfügen, sondern in der künstlerischen Darstellung selbst so etwas wie Erinnerungsforschung zu leisten. Es gilt zu ergründen, wie Erinnerung als synästhetisches Verfahren funktioniert, das sich in Intensitäten beschreiben lässt, ein Verfahren, dem die Kausallogik der derzeitigen Naturwissenschaft nicht beizukommen vermag. Ich möchte beginnen mit einem Exposé der Denkfigur »Intensität«, um dann zu erläutern, warum Prousts Konzeption der »vie intérieure«, die von ihm textuell inszenierte »correspondance des sens« und die »rapports […] entre [les] sensations et [les] souvenirs« mit diesem Begriff gefasst werden können, obwohl an prägnanten Stellen – wie der zitierten – die Vokabel »in­ tensité« nicht fällt. 9

Marcel Proust, Le Temps retrouvé, Paris 1954 (folio), S. 250. Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 7), hg. v. Luzius Keller, Frankfurt a. M. 2004, S. 202.

10

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»Intensität« ist ein in unterschiedlichen Wissenskontexten verwendeter Begriff, der in der Regel zur Klassifizierung einer Qualität dient, einen Zustand oder auch eine Aggregation beschreibt. »Intensität« ist zunächst ein physikalisches Konzept, welches die Energie pro Zeit pro Fläche beschreibt, einen Energiefluss in einem Raum-Zeit-Kontinuum, definiert als Energiedichte (Energie pro Volumeneinheit), multipliziert mit der Geschwindigkeit, mit der die Energie sich bewegt. »Intensität« ist hier eine zeiträumliche Größe, welche Anspannung, Kraft und Dynamik impliziert und zunächst vor allem die Stärke und Bewegung einer Licht- oder Schallwelle bezeichnet, wenngleich alles, was Energie transportiert, in Graden der Intensität beschrieben werden kann. Denkbar wird Intensität erst, darauf hat auch JeanFrançois Lyotard in seinen Kant-Vorlesungen verwiesen,11 innerhalb einer Rahmung durch Extreme: die Nullstufe der Intensität einerseits – die, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe,12 inszeniert wird in der deutlich physikalisch codierten »immobilité« und »torpeur« von Flauberts »Éducation sentimentale« –, die Maximalstufe der Intensität andererseits, die beispielsweise erreicht werden in Rauschzuständen, die bekanntlich Momente synästhetischen Erlebens und äußerster Kreativität sind, wie sie prägnant Baudelaires »Paradis artificiels« im Kontext der Diagnose und Produktion von »imagination« inszenieren. Beide, und das ist ein paradoxal erscheinender Befund, sind zugleich, wie Jonathan Crary aufzeigt,13 Zustände erhöhter Aufmerksamkeit. Ich will und kann hier keinesfalls physikalische Zusammenhänge erläutern, deren Andeutung mir gleichwohl wichtig erscheint vor dem Hintergrund der Intensität als einer kulturpoetischen Denkfigur zum einen (deren Begriffs­geschichte Erich Kleinschmidt nachgezeichnet hat), einer »Ästhetik der Spannung« zum anderen, wie sie jüngst Melanie Schmidt in ihrer tanzund medientheoretischen Dissertation zur Körperbewegung entfaltet hat.14 Erich Kleinschmidt spricht in seinem gleichnamigen Buch von der »Ent­ deckung der Intensität«15 als einem »kulturpoetischen Modellbegriff«16 im 11

Jean-François Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen (Leçons sur l’analytique du sublime, 1991), München 1994, S. 116 ff. 12 Walburga Hülk, L’Education sentimentale und kein Ende, in: Jörg Türschmann (Hg.), Das Ricœur-Experiment. Mimesis der Zeit in Literatur und Film, Tübingen 2009, S. 187–196. 13 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002, S. 52 ff. 14 Melanie Schmidt, Maurice Béjart – Balancen der Antithese. Körperbilder des Energetischen im Ballett des XX. Jahrhunderts, Heidelberg 2008. 15 Erich Kleinschmidt, Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004. 16 Vgl. Erich Kleinschmidt, Intensität. Prospekt zu einem kulturpoetischen Modell­ begriff, in: Weimarer Beiträge 49 (2003), S. 165–183.

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18.  Jahrhundert, und er weist nach, dass seitdem in wesentlichen Augenblicken unserer Kulturgeschichte dieses Konzept geltend gemacht wurde, um »Sachverhalte der Welterfahrung« zu beschreiben, die sich »dem Prinzip der definitorischen Ausgrenzung« entziehen, »weil sie von Phänomenen der Prozessualität, allmählicher Überschichtung, der Stärke und des Grades be­stimmt sind« und »mit den daraus resultierenden Modi von Latenz und Aufschub eine Herausforderung bilden für die Kognition und die zugehörigen Beschreibungsmodelle«.17 Intensität, intensio, intensité, intensità, intensity entdeckt er in einer bestechenden Fülle kulturpoetischer und ästhe­tischer Schriften des 18.  und frühen 19.  Jahrhunderts, von denen im Folgen­den nur wenige genannt seien, die mir für meine Argumentation besonders relevant erscheinen. Voranstellen will ich jedoch zunächst die interessante Tatsache, dass »Intensität« weder im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« noch in den »Ästhetischen Grundbegriffen« erscheint.18 Und interessant erscheint mir ebenso, dass Kleinschmidt »Intensität« zwar in unterschiedlichen ästhetischen Zusammenhängen vorfindet und ausfaltet, sie aber  – anders als Lyotards Analytik  – nicht vorrangig verhandelt im Kontext der Wirkungskraft des »Erhabenen«, was er dann sicherlich hätte tun müssen, wenn Kant den Begriff prägnant benutzt hätte. »Intensität«: Davon spricht Alexander Gottlieb Baumgarten, der ›Erfinder‹ der philosophisch-anthropologischen Ästhetik, um den Weg der Erkenntnis zu beschreiben und ihn gegen die Anfechter der sinnlichen Anschauung zu verteidigen. In seiner »Aesthetica« findet sich das folgende Bild: Die Verworrenheit (einer Wissenschaft, die sich befasst mit sinn­ lichen Empfindungen, Einbildungen, Erdichtungen all der Wirrnisse der Gefühle und Leidenschaften) sei, so die Einwendungen gegen diese, die »Mutter des Irrtums. Meine Antwort: a) Aber sie ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Entdeckung der Wahrheit, da die Natur keinen Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Denkens. Aus der Nacht führt der Weg nur über die Morgenröte zum Mittag«.19

Demgegenüber verwendet Diderot den Begriff »intensité«, um den Grad einer besonderen Empfindung zu beschreiben, die Kraft nämlich der mütter­ 17

Kleinschmidt, Entdeckung, S. 7. Vgl. Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1971– 2007; Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Ein Historisches Wörterbuch in 7 Bänden, Stuttgart / Weimar 2000–2005. 19 Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aestetica« (1750/58); lat.-dt. , übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, S. 4 f. , § 7, vgl. § 6; vgl. dazu Kleinschmidt, S. 7 f. 18

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lichen Zärtlichkeit;20 Lessing verwendet »Intensität« erstmals in der deutschen Sprache, und zwar 1767 in der »Hamburgischen Dramaturgie«,21 um den Deklamationsstil der Schauspieler zu beschreiben, und er verweist darauf, dass mangelnde Intensität eine Monotonie, also mangelnde Aufmerksamkeit, Langeweile bewirkt – das Gegenteil eines den Zuschauer ergreifenden, bewegenden Geschehens, wie es andererseits, so Lessings Paragone-Reflexionen zu Poesie und Bildender Kunst, konzentriert wird im »fruchtba­ren Augenblick«.22 Goethe verwendet den Begriff in seiner »Farbenlehre«, um Grade und Modellierungen des Lichts und der Dunkelheit zu beschreiben, Phänomene wie das Brechen des Lichts im Prisma oder, wie in der »Italienischen Reise«, Modellierungen des Lichts und Wetters im Gebirge. Es ging ihm dabei selbstverständlich nicht um die Darstellung dürrer physikalischer Fakten, sondern um deren Effekte, die empfindungsstimulierende Kraft solcher Ereignisse und die Beschreibungsmöglichkeiten einer sinnlichen Optik an der Grenze von Naturwissenschaft, Wahrnehmungstheorie und poetischer Sprache. Beginnend im 18. Jahrhundert durchmisst »Intensi­tät« als »gradualisierte und zugleich gleitende Bezeichnung für Kraft- und Stärkeverläufe«23 solcherart die epistemologische Dynamik, die Empfindungs- und Wirkungskraft, die poetischen und ästhetischen Möglichkeiten der Sprache. Immer wieder auch wird sie, im Rekurs auf die Etymologie des Wortes, energetisch aufgeladen, in Zusammenhang gebracht mit der »Spannkraft der Seele«, z. B. bei Karl Philip Moritz,24 oder auch mit einer »versammelten Latenz (ruhenden Kraft)«, die sich fakultativ verausgabt und manifestiert in intensiven Erscheinungsformen, in unterschiedlichen, gleitenden »Graden der Lebhaftigkeit« von Empfindung und Kognition oder gar in »Blitzen der Empfindung«.25 Damit sind wir im Bildraum jener Elek­trizität, die um 1800, zumal im Rahmen der Genieästhetik, zur Veranschaulichung von Augen­blicken poetischer Fruchtbarkeit diente, in denen angereicherte In20

In einer freien Übersetzung von Shaftesburys »An Inquiry Concerning Virtue, or Merit« (1699) 1745, Erstdruck 1711; Denis Diderot, Essai sur le mérite et la vertu; vgl. Kleinschmidt, Entdeckung, S. 20. 21 Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: ders., Werke und Briefe, hg. v. Wilfried Barner u. a. , Bd. 6: Werke 1767–1769, hg. v. Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 181–694, Erstes Buch, 8. Stück. 22 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, bearb. v. Albert von Schirnding, in: Ders., Werke in 8 Bänden, hg. v. Karl Eibl u. a., Bd. VI, Darmstadt 1974, hier v. a. S. 25 ff. 23 Kleinschmidt, Entdeckung, S. 28. 24 Karl Philipp Moritz, Der tragische Dichter (1786), in: Ders., Schriften zur Ästhetik und Poetik, kritische Ausgabe, hg. v. Hans Joachim Schimpf, Bd. 7, Tübingen 1962, S. 35; zit. nach Kleinschmidt, Entdeckung, S. 29. 25 Johann Jakob Engel, Poetik, in: Ders., Schriften, Bd. 10, Reutlingen 1806, S. 17; zit. nach Kleinschmidt, Entdeckung, S. 75.

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tensität sich scheinbar plötzlich entlädt26, und dies ist eine Vor­stellung, die auch im Ausgang des 19.  Jahrhunderts, dann jedoch dezidiert physiologisch und nachfolgend im Horizont der »neuen Physik«, vorzuherrschen scheint. Ich mache nun, entgegen dem Bewegungsmuster der Denkfigur selbst, einen Sprung in das ausgehende 19. Jahrhundert, um die Physiologisierung und das Unbestimmt-Werden der kulturpoetischen Denkfigur »Intensität« selbst in den Blick zu nehmen und vor diesem Hintergrund Prousts »correspondance des sens« zu lesen. Um hierher zu kommen, muss dreierlei festge­ halten werden für die Denkfigur »Intensität« im 18. und frühen 19. Jahrhundert, wie sie Kleinschmidt minutiös nachzeichnet. Erstens die Aufhebung eines kategorialen Denksystems zugunsten des Denkens der Gradbewegung und Aggregation; zweitens die Fundierung dieser Gradbewegung selbst  – und das halte ich für wichtig  – in einem mechanischen (newtonschen) Bewegungsmodell, das erkenntnislogisch die Messbarkeit von Graden eines Intensitätskontinuums erlaubt, welches in der Beschreibung und für die Anschauung infinitesimal zerlegt werden muss, drittens die Tatsache, dass die Intensitätsqualität stets nur als Intervall, d. h. mit Bezug auf andere variable Qualitäten und nicht als fixe Größe, Bedeutung erhält und somit ein Zeichen ist innerhalb eines gradualisierten Systems von »rapports«. Alle drei Optionen jedoch, und das erscheint mir wichtig, sind zusammengehalten durch einen Erkenntnisoptimismus, der die unendliche Verfeinerung des Gradua­ lisierungssystems als intellektuelle Herausforderung, nicht als Infragestellung der Erkennbarkeit des Gegenstandes oder der Validität der Methode begreift und der mit dem Denken von »Intensität« eine vielschichtige, im Ansatz elastische Ordnung der Realität und des Wissens, »gleitende Wahrnehmungskonturen« intoniert.27 Es sind die »rapports« innerhalb des Intensitätskontinuums, die ich mir mit Blick auf Prousts Wahrnehmungs- und Erinnerungspoetik näher an­ sehen möchte und deren Konfiguration, wenn ich es richtig verstehe, im aus26

Vgl. hierzu auch Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981; Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Gießen 1984. 27 Kleinschmidt, Entdeckung, S.  145; vgl. auch ebd., S.  131 sowie Walburga Hülk, GuerreMédia. Blaise Cendrars et le dynamisme 1900. Perception, lumière, guerre, in: Birgit Wagner / Claude Leroy (Hg.), BlaiseMédia. Blaise Cendrars et les média (Actes du colloque international sur Blaise Cendrars, Vienne 2005), Paris 2007, S. 101–117; vgl. auch die deutsche, leicht veränderte und in verschiedenen Abbildungen ergänzte Fassung: Walburga Hülk, BlaiseMouvement. Cendrars und der Dynamismus 1900: Wahrnehmung, Licht, Krieg, in: Marijana Erstić  /  Gregor Schuhen  /  Tanja Schwan (Hg.), Spek­trum reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, Siegen 2009, S. 161–181.

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gehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert neu formuliert wird. Dieses geschieht im Wesentlichen auf Basis eines grundsätzlichen Zweifels an der Erkennbarkeit und Messbarkeit äußerer und innerer Gegenstände und Befindlichkeiten überhaupt, wie er sich herausgebildet hat in den Natur­ wissenschaften, der Philosophie, der Literatur. Der Intensitätsdiskurs selbst, so könnte man vielleicht sagen, verändert sich selbst qualitativ insofern, als er nun durchmessen wird von radikaler Relativität, Kontingenz und Unschärfe, die so in der »gradualisierten« und gradualisierenden Denkfigur des 18. Jahrhunderts noch nicht vorgesehen waren, nun aber, worauf Heisenberg in »Physik und Philosophie« hinweist, gerade jene »Stabilität der Begriffe« und »unsere Haltung gegenüber […] allgemeinen Begriffen« tangieren, die durch »die Überschätzung der wissenschaftlichen Begriffe« so sicher schienen.28 Ich will den Umbau der Denkfigur »Intensität« – die freilich von Anfang an nicht im Verdacht eines festen Begriffs stand, vielmehr den Weg zu dessen Auflösung vorzeichnete – an drei Bereichen verdeutlichen: erstens der experimentellen Psychologie, zweitens der Philosophie Bergsons und drittens Prousts Dichtung der »correspondance des sens«, und es geht mir nicht zuletzt auch darum zu zeigen, dass Konzepte, die uns aus Diskursen Roland Barthes, Gilles Deleuzes u. a. vertraut sind  – wie Interstitium, Heterotopie, Koaleszenz, Differenz –, bereits angelegt sind in einem wissenschafts­geschichtlich und poetologisch »dichten« Feld um 1900, einem historisch gewachsenen Feld von Beobachtung und Imagination, dem Willen zum Wissen und dem Willen zur Form vor dem Horizont der Unbe­stimmtheit.

I. Ich hatte an anderer Stelle die Gelegenheit zu zeigen, wie sehr in dieser Zeit Wissenschaften und Künste fasziniert waren von einem energetischen und synästhetischen Modell der Wahrnehmungs- und Erinnerungsaktivität, die einen anschwellenden Strom innerer Bilder mit unablässiger kombinatorischer Mobilität organisiert, aktiviert und stets neu konstruiert.29 Dieses geschieht, wie es vor allem Hippolyte Taine und William James dargelegt haben, in dem Sinne, dass aus dem immensen Schatz latenter, aber immer beweglicher, oszillierender innerer Bilder, jene aktualisiert und neu konstru­iert werden, die durch einen besonderen Sinnesreiz prägnant in den Vorder­grund drängen, um sich dort augenblicklich zu verwandeln in neue, erweiterte 28 29

Heisenberg, Physik und Philosophie, S. 168 f. Walburga Hülk, Mémoire 1900, in: Kathrin van der Meer  /  Heinz Thoma (Hg.), Epochale Psycheme, Akten der gleichnamigen Sektion des Frankoromanistentages in Freiburg 2006, Würzburg 2007.

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Bildfolgen. Bereits Arthur Schopenhauer hatte in diese Richtung gedacht, als er die subjektive Aufmerksamkeit verglich mit einer »Laterna magica, in deren Fokus nur ein Bild zur Zeit erscheinen kann und jedes, auch wenn es das Edelste darstellt, doch bald verschwinden muß, um dem Heterogensten, ja Gemeinsten Platz zu machen«,30

und ganz offensichtlich systematisierten die sich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ausdifferenzierende experimentelle Psychologie und die Physiologie analoge Vorstellungen. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz erinnern an drei Metaphern, die zeigen können, dass ganz offensicht­lich »verschiedene Arten des Denkens«31 simultan ähnliche Wege gehen und dass überdies der Metapher selbst eine erkenntnistheoretische Funktion innerhalb dieses Denkens zukommt. Hippolyte Taine hat 1869 ein zweibändiges Werk geschrieben mit dem Titel »De l’Intelligence«, das den uns bekannten Literaturhistoriker auch ausweist als einen Kenner und Vordenker der experimentellen, physio­lo­gisch ausgerichteten Psychologie, deren Fragestellungen ihn vielleicht deshalb besonders umtrieben, weil in der von ihm formulierten und dann vielfach deterministisch gedeuteten Trias von »race, milieu, moment« das Geheimnis der »faculté maîtresse«, der schöpferischen Imagination, wie eine HenryJames’sche »figure in the carpet« verborgen blieb und jenseits spätromantischer Deutungen nach einer Klärung verlangte. Taine verwendet in diesem Buch den Begriff der »intensité«, um die Bewegungsmuster und die Qualität mentaler Repräsentationen zu beschreiben, und er erinnert auch an die physikalisch-energetische, ja optische Provenienz der Intensität dort, wo er die neuronale Aktivität vergleicht mit einem »jeu«, einer »figure de danse«, die aus einem dunklen Magazin bewegliche Lettern (»lettres mobiles«) entbirgt und zu neuen Mustern verknüpft. Die Bewegung der inneren Bilder wird syntaktisch und semantisch, durch Kontiguität und Assoziation, beschleunigt in Erregungszuständen, die sinnlich motiviert sind und Kreativität als Effekt haben.32 William James, Bruder von Henry James und vielfach bezeichnet als Begründer einer systematischen experimentellen Psychologie, veranschaulicht 1890 in »Principles of Psychology« dieses »perpetual rearrangement […] of the brain« durch die (vor und nach ihm bekanntlich vielfach verwendete) Metapher des Kaleidoskops, jenes optischen Spielzeugs, dessen varia­ ble Muster die »transitive states« oder »dissolving views« und die »feelings of relation« der Bewusstseins- und Empfindungsprozesse veranschaulichen, die 30

Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Ders., Werke in 10 Bänden, Bd. II, Zürich 1977, S. 161; zit. nach Crary, Aufmerksamkeit, S. 52. 31 Heisenberg, Physik und Philosophie, S. 156 f. 32 Vgl. Hippolyte Taine, De L’Intelligence, Paris 1869; vgl. Hülk, Mémoire 1900.

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in einem permanenten Zustand der »tension« begriffen sind. Er ist es auch, der erstmals spricht von einem »stream of thought«, der in gefühlten Zeiten (»felt times«) erfahren wird als ständiger Wandel, Zu- oder Abnahme von tröpfchenweise zu uns kommenden und unbestimmt ineinander fließenden und verschmelzenden, also koaleszenten Sinneseindrücken.33 Baudelaire fasste zuvor schon, in der »Charakteristik des Malers des modernen Lebens«, die Ko-Präsenz von Latenz und Evidenz des Erinnerungsprozesses in die Formel der ›instinktiven Energie‹ (»énergie instinctive«), mit welcher Constantin Guys »les points culminants et lumineux d’un objet« markiere, während er selbst einer »mnémonique si despotique […] d’après l’image écrite dans le cerveau« unterliege.34 Intensität erscheint in den genannten Beispielen – wie schon zuvor bei Schopenhauer – also als Dynamik gesteigerter Energie und Spannung, als Prozess unaufhörlichen Erscheinens und Verschwindens von Bildern, die zustande kommen durch kinästhetische Kopplungen in einer Wellenbewegung von Epiphanie und »dissolving views«, und zweifelsohne ist hier jene ephemere Beziehung von Bild und Bildauflösung angedacht, die Michael Lommel kürzlich im »dissolve« der Gedächtnisbilder in James Joyces »The Dead« (in Anlehnung an Patrick Roths Frankfurter Vor­ lesungen)35 und die Marijana Erstic jüngst, mit Bezug auf Bergson, Deleuze und Warburg, in den intermedialen Kristallbildern der Filme Luchino Viscontis angeschaut hat.36 Intensität wird so im ausgehenden 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Sinnesdiskursen und Re­f lexionen über das Rätsel des Imaginären umschrieben als Figur physiologisch-neuronaler Wahrnehmungs- und Erinnerungsaktivität und zugleich als Chiffre poetischer Prozesse der Verknüpfung, der Überlagerung, der Beweglichkeit und Komplexität von Bildern, die nicht mehr in Begriffe oder Maßeinheiten zerlegt werden können, ebenso wenig aber – da stimme ich, glaube ich ganz mit Rainer Warning überein, in Abgrenzung zu einer nicht trennscharfen Emphase im Hin33

William James, Principles of Psychology, 2 Bde., New York / London 1890, S. 239 f. und ders., A Pluralistic Universe. Hibbert lectures at Manchester College on the present situation in philosophy, London u. a. 1909; vgl. dazu Mirjana Vrhunc, Bild und Wirklichkeit. Zur Philosophie Henri Bergsons, München 2002, S. 62 f. 34 Charles Baudelaire, Le peintre et la vie moderne (1863), in: Ders., Œuvres ­complètes, hg. u. m. Anm. vers. v. Claude Pichois, Bd. II, Paris 1976, S. 683–724, hier S. 698; vgl. auch Walburga Hülk, Bewegung, Gedächtnis, Intuition. Facetten eines Paragone im Umfeld des Medienumbruchs 1900, in: Inge Münz-Koenen / Justus Fetscher (Hg.), Picto­grammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900–1938), Bielefeld 2006, S. 31–48. 35 Vgl. dazu Lothar van Laaks Analyse zum »dissolve« als dynamische Erinnerungs­ figur im vorliegenden Band. 36 Marijana Erstic, Kristalliner Verfall. Luchino Viscontis (Familien-)Bilder al di là della fissità del quadro, Heidelberg 2008.

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blick auf Medienmetaphoriken  – mit der fotografischen Bildentwicklung vergleichbar sind.37 »Der Beobachter im Gehirn«, um eine aktuellere Studie Wolf Singers aufzugreifen, ist in letzter Konsequenz nicht der ruhende Betrachter seiner selbst, vielmehr ist er unablässig und unentrinnbar involviert in einen Bildstrom, der sich in ihm und mit ihm bildet, also radikal subjektiv und prozessual ist.38 Diese Relativität aber, und das ist besonders elegant, wurde um 1900 avant la lettre in wissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen gleichermaßen und ohne die Möglichkeit einer bildtechnischen Sondierung des lebenden Gehirns, als das operationale Grundprinzip des Wahrnehmungs- und Gedächtnisstroms und der mentalen Repräsentationen imaginiert.

II. Es ist zweifellos die Philosophie Henri Bergsons, die ein Bindeglied bildet zwischen der physiologischen Konzeption dynamisch-relationaler Bildwelten und den von Proust poetisch inszenierten »rapports […] de ces sensations et de ces souvenirs«, welche, wie nicht zuletzt Volker Roloff unermüdlich nachgewiesen hat, die Komplexität der von Proust erzählten »vie intéri­eure« ausmachen, »tant tout s’entrecroise et se superpose«.39 Auf Basis der Begriffe der »durée réelle«, des »temps indivisible«, die Bergson 1889 in sei­nem ersten Buch, der Dissertation »Essai sur les données immédiates de la conscience« skizziert, entwirft er 1896 in »Matière et mémoire« eine Intensität, die gegen jede wie auch immer verfeinerte, immer aber objektivierende Art der Metrisierung gerichtet ist. Stattdessen ist sie einer zerebralen »plasticité intégrale«, »élasticité« oder »forme d’un état mixte et en quelque sorte impur« zuzurechnen,40 die nicht zu verwechseln ist mit einer »multiplicité discontinue d’éléments inertes et juxtaposés«.41 In einer unablässigen Be37

Rainer Warning, Aura und Profanation. Zur Poetik und Poesie der Intermedialität in Prousts »À la recherche du temps perdu«, in: Wolfram Nitsch / Rainer Zaiser (Hg.), Marcel Proust und die Künste, Frankfurt a. M. 2004, S. 263–291, hier S. 280 f. 38 Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt a. M. 2002; vgl. ders., Bindungsprobleme, Köln 2003. 39 Vgl. Volker Roloff, Proust und die Medien. Zur intermedialen Ästhetik Prousts, in: Uta Felten / ders. (Hg.), Proust und die Medien, München 2005, S. 11–20, hier S. 12. 40 Henri Bergson, Matière et Mémoire, Paris 1957, S. 115, 148. 41 Auf das Problem der »Juxtaposition« hat nicht zuletzt Ursula Link-Heer in ihrer Poulet-Lektüre hingewiesen; vgl. Ursula Link-Heer, Georges Poulet: L’espace proustien – wiedergelesen, in: Angelika Corbineau-Hoffmann (Hg.), Marcel Proust. Orte und Räume, Frankfurt a. M. 2003, S. 23–44.

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wegung von »tension«,42 von »rotation« oder »translation«43 scheinen aus der »nébulosité«, dem »amas nébuleux« der übrigen Erinnerungen44 bestimmte Erinnerungsbilder auf, die dann aber ganz da sind und durch »associations«45 anwachsen wie ein »nombre croissant d’étoiles«.46 Indem Bergson die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufhebt für die subjektive Wirklichkeit, die er als wahre Dauer setzt gegen die mess­bare Chronologie, ist das Vergangene virtuell immer koexistent oder koaleszent und fließt mit im dynamischen Prozess der Modellierung von Zeit und Bewusstsein, während das Erinnerungsbild, wenn es erscheint, »émergeant des ténèbres au grand jour«,47 qualitativ erleuchtet da ist und keine Spuren hinterlässt an Abschattungen einer Lumineszenz, die von der Dunkelheit über die Morgenröte bis zum Mittag durchgearbeitet wurde, und ebenso wenig gemahnt es an abstrakte Begriffe von Farbe, Klang, Duft oder Geschmack. Die Schichten der Vergangenheit nämlich, das bleibt als wichtigster Gedanke festzuhalten, tragen in sich keine fertigen Bilder, die nur wachgerufen oder aktualisiert werden müssten. Vielmehr entstehen die Bilder erst durch einen Sprung in die aktuelle Gegenwart, der durch zwei unablässige Aktivitäten vorbereitet wird: Das ist zum einen die Rotation (»rotation«), die alle ko­ existenten, virtuellen Schichten verdichtet, dynamisiert und senso-motorisch ausrichtet auf eine Aktualisierung48; vielleicht kann man Prousts »Satz der Zimmer« als ein solches Rotationsbild nennen, zitiert es doch ex­plizit Bergsons »mémoire du corps«,49 die hier senso-motorisch an einen iso­lierenden Raum und die »habitude« gebunden ist und doch im Begriff steht, beide imaginär zu überschreiten durch unscharfe, nicht mehr isolierbare Überlagerungen (Gregor Schuhen hat gerade für diese Schwellensituation den Begriff des Rituals genannt). Das ist zum anderen die Übersetzung (»translation«), mittels derer alles Vergangene mit dem Gegenwärtigen verschmilzt50 und sich augenblicklich in bereits in die Zukunft gerichtete Sinnesereignisse und Bildströme verwandelt und erweitert: »Ainsi, nous créons ou reconstruisons sans cesse«,51 schreibt Bergson, und unsere Erinnerungen werden, wie es dann am 42

Vgl. Maël Lemoine, Durée, différence et plasticité de l’esprit, in: Jean-Louis Vieillard-Baron (Hg.), Bergson. La durée et la nature, Paris 2004, S. 111. 43 Bergson, Matière et Mémoire, S. 188; vgl. Lemoine, Durée, und Gilles Deleuze, Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2001, S. 84. 44 Bergson, Matière et Mémoire, S. 135, 184. 45 D. h. durch »ressemblance« oder »contiguité«; ebd., S. 189. 46 Ebd. , S. 185. 47 Ebd. , S. 159. 48 Vgl. ebd. , S. 148: »[…] comme une nébulosité qui se condenserait«. 49 Ebd. , S. 169. 50 Vgl. auch Deleuze, Henri Bergson, S. 84 ff. 51 Bergson, Matière et Mémoire, S. 113.

Gedächtnisparagone und Intensität

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Ende von »Le Temps retrouvé« heißt, nach dem Durchgang durch alle in­ einanderflutenden Sinnesereignisse und Erinnerungsströme, gleich Riesen in die Zeit geworfen – als eine große Narration, die anschwillt gegen Kontingenz und Zerfall.

III. Ich komme nun endlich zurück auf die eingangs zitierte Textstelle aus »Le Temps retrouvé« und auf Proust überhaupt. Ich hatte diese Passage so früh ins Spiel gebracht, weil der hier rekurrent anklingende Aspekt der »rapports« im Rahmen eines interdisziplinären Intensitätsdiskurses, für den auch die er­ innerungstheoretische und poetologische Dynamik der »Recherche« geltend gemacht werden kann. Proust zitiert hier in dem erweiterten Textpassus offenbar die ursprünglich optische Gradualisierung von Intensität und ihre synästhetische Strahlung (»rayons de lune d’une lointaine nuit d’été«, »un bol de porcelaine blanche«, »sourire dans la claire incertitude du petit jour«), und er lädt hier die unklaren, unscharfen Sichtverhältnisse der ersten Seiten der Recherche auf mit einer Luminosität, die zuletzt mit der Plötzlichkeit eines Blitzes52 die »essence des choses«53 hervorbringt, modelliert und beglaubigt durch eine zufällige, zufallende »impression, matérielle parce qu’elle est entrée par nos sens«: »Mais justement la façon fortuite, inévitable, dont la sensation avait été rencontrée, contrôlait la vérité du passé qu’elle ressuscitait, des images qu’elle déclenchait, puisque nous sentons son effort pour remonter vers la lumière, que nous sentons la joie du réel retrouvé. Elle est le contrôle aussi de la vérité de tout le tableau, fait d’impressions contemporaines qu’elle ramène à sa suite avec cette infaillible proportion de lumière et d’ombre, de relief et d’omission, de souvenir et d’oubli que la mémoire ou l’observation conscientes ignoreront toujours.«54

In der Übersetzung von Luzius Keller heißt es: »Doch bürgte gerade die zufällige, unentrinnbare Weise, wie ich der Empfindung begegnet war, für die Wahrheit der wiedererweckten Vergangenheit und der freigesetzten Bilder, denn wir spüren ihr Bemühen, wieder zum Lichte emporzusteigen, wir spüren das Glück, das Wirkliche wiedergefunden zu haben. Sie bürgt auch für die Wahrheit des ganzen Bildes, mitsamt all jenen früheren Eindrücken, die sie uns zurückgibt, mit jenem unfehlbaren Gefühl für das Verhältnis von Licht und Schatten, von Volumen und Auslassungen, von Erinnern und Vergessen, wie es bewußter Erinnerung und Beobachtung auf immer und ewig unbekannt bleiben wird.«55 52

54 55 53

Proust, Le Temps retrouvé, S. 229: »[…] durée d’un éclair«. Ebd. , S. 237 Ebd. , S. 237 f. Proust, Die wiedergefundene Zeit, S. 277..

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Proust setzt die plötzliche Emergenz dieser sinnlichen »impression« – in der Proust-Forschung auch wiederholt als Epiphanie bezeichnet – zugleich auch als Wahrheit einer subjektiven »réalité [qui] est un certain rapport entre ces sensations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément« und als Wahrheit einer Dichtung, die diesen »rapport unique« einer koaleszenten Vergangenheit und Gegenwart in die »anneaux nécessaires d’un beau style« fasst, in die Elastizität von Metaphern und Metonymien, Rotationen und Translationen, um die »essence commune« »geselliger« Sinnesereignisse zu entbergen, »une qualité commune à deux sensations« »en les réunissant l’une et l’autre pour les soustraire aux contingences du temps, dans une métaphore« (s. o.) oder, um ihre Schönheit zu erfassen, »connaître, souvent, la beauté d’une chose […] dans une autre, midi à Combray […] dans le bruit de ses cloches, les matinées de Doncières […] dans les hoquets de notre calorifère à eau. Le rapport peut être peu intéressant, les objets médiocres, le style mauvais, mais tant qu’il n’y a pas eu cela, il n’y a rien. […] je m’apercevais que ce livre essentiel, le seul livre vrai, un grand écrivain n’a pas, dans le sens courant, à l’inventer, puisqu’il existe déjà en chacun de nous, mais à la traduire. Le devoir et la tâche d’un écrivain sont ceux d’un traducteur.«56

In der Übersetzung: »[…] oft die Schönheit einer Sache […] in einer anderen zu erkennen […], die Mittagsstunde von Combray im Klang seiner Glocken, die Vormittage von Doncières im Glucksen unserer Warmwasserheizung? Die Verbindung kann an sich uninteressant, der Gegenstand mittelmäßig, der Stil schlecht sein, doch solange nichts dergleichen geschehen ist, ist nichts geschehen. […] so bemerkte ich, daß ein großer Schriftsteller dieses wesentliche Buch, dieses einzige Buch nicht im landläufigen Sinne erfinden, sondern, da es in jedem von uns bereits existiert, übersetzen muß. Pflicht und Aufgabe eines Schriftstellers sind die eines Übersetzers.«57

Alles ist da, wie es sich auch Bergson 1989 in seinem »Essai sur les données immédiates« vorstellt, wenn er von einem (noch virtuellen) »romancier hardi« träumt, dem es im besten Falle gelingen könne, die »pénétration infinie de mille impressions diverses qui ont déjà cessé d’être au moment où l’on les nomme«58 in ihrer Dynamik zu entfalten und zugleich der Kontingenz zu entreißen. Wenn Bergson diese dann 1907 in »L’évolution créatrice« aufbietet gegen die arglistigen »artifices du cinématographe«, jenes »faux ami«, des­sen zerstückelnde Mechanik immer nur eine Abfolge von »instantanées«, niemals die »durée« der Zeit und der subjektiven Realität wiedergeben könne  – eine Invektive, die Proust fast wörtlich übernimmt  –, dann ist das vielleicht aus der heutigen Sicht des »Zeitbildes« oder Kristallbildes, 56

Proust, Le Temps retrouvé, S. 250 f. Proust, Die wiedergefundene Zeit, S. 292 ff. 58 Henri Bergson, Essai sur les données immédiates, Paris 1927, S. 88 f. 57

Gedächtnisparagone und Intensität

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das Deleuze beginnen lässt mit dem italienischen Neorealismus, nicht mehr haltbar: »Ce que nous appelons la réalité est un certain rapport entre ces sensations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément  – rapport que supprime une simple vision cinématographique, laqelle s’éloigne par là d’autant plus du vrai qu’elle prétend se borner à lui – […]. Si la réalité était cette espèce de déchet de l’expérience, à peu près identique pour chacun, parce que quand nous disons: Un mauvais temps, une guerre, une station de voitures, un restaurant éclairé, un jardin de fleurs, tout le monde sait ce que nous voulons dire ; si la réalité était cela, sans doute une sorte de film cinématographique de ces choses suffirait et le ›style‹, la ›littérature‹ de leur simples données serait un hors-d’œuvre artificiel. Mais était-ce bien cela, la réalité?«59

Bei Luzius Keller: »Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Verbindung zwischen diesen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben – eine Verbindung, die bei einer einfachen kinematographischen Wiedergabe verlorengeht, da diese sich um so mehr von der Wirklichkeit entfernt, je mehr sie sich auf sie zu beschränken vorgibt – […]. Wenn die Wirklichkeit jene Art von Abfallprodukt der Erfahrung wäre, mehr oder weniger identisch für alle, weil jeder weiß, was wir meinen mit: schlechtes Wetter, ein Krieg, ein Mietwagenstand, ein erleuchtetes Restaurant, ein blühender Garten, wenn das also die Wahrheit wäre, so würde zweifellos eine Art von kinematographischem Film dieser Dinge genügen, und der ›Stil‹, die ›Literatur‹, die sich von ihren einfachen Gegenständen entfernten, nur ein künstliches Beiwerk sein. Doch war das tatsächlich die Wirklichkeit?«60

Wenn das aber nicht so ist, die Wirklichkeit nicht »jene Art von Abfallprodukt von Erfahrung« ist, sondern die koaleszente Verbindung von »sensations« und »souvenirs« im Wechselspiel der »correspondance des sens«, ist vielleicht der Versuch, ihr mit dem Begriff und der Dynamik von »Intensität« näher zu kommen, ein lohnender Anfang.

59

Proust, Le Temps retrouvé, S. 250 f. Proust, Die wiedergefundene Zeit, 292 f.

60

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Ikonische Architektur im Paragone zwischen Avantgarde und Kontinuität

Ikonische Architektur zwischen Avantgarde und Kontinuität

»Und während die Meister uns hier ein Beispiel dieser Auseinandersetzung im Namen einer theoretisierenden Menschheit gegeben hatten, mussten wir diesen Kampf selbst, auf Tuchfühlung mit den anderen Menschen fortsetzen. Stand auf der Fahne unserer unmittelbaren Vorgänger ›Avantgarde‹ geschrieben, so trug unsere den Namen ›Kontinuität‹«.1 (Ernesto Nathan Rogers)

Einleitung In seiner 1956 in Berkeley gehaltenen Rede betont der italienische Architekt Ernesto Nathan Rogers einen Bruch mit den Avantgardebestrebungen der Vergangenheit zu Gunsten eines Konzepts der Kontinuität, das sich mit dem historischen Kontext des Standortes auseinandersetzt. Dieser Appell für ein historisches Bewusstsein entzündete eine heftige Diskussion über den zeitgleich erfolgenden Bau der »Torre Velasca«. Das Mailänder Hochhaus war von Rogers’ Architekturgemeinschaft »Studio BBPR«2 entworfen und 1958 fertiggestellt worden. Fast gleichzeitig, nämlich 1950 bis 1958, baute Gio Ponti zusammen mit dem Ingenieur Pier Luigi Nervi das ebenfalls im Stadtzentrum von Mailand gelegene »Pirelli-Hochhaus«. Aber während Pontis Hochhaus von der »Architectural Review« als eines der wichtigsten Gebäude Europas gelobt wurde, veranlasste die »Torre Velasca« den bekannten englischen Architekturkritiker Reyner Banham zu dem Artikel »Neoliberty: The Italian Retreat from Modern Architecture«, in dem er die Berücksichtigung historischer Elemente im Design des Gebäudes als infantil bewertete.3 1

Ernesto Nathan Rogers, Die moderne Architektur nach der Generation der großen Mei­ster, in: Vittorio Magnago Lampugnani u. a. (Hg.), Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste, Ostfildern-Ruit 2004, S. 205. 2 Nach den Initialen der Architekten Banfi, Barbiano di Belgioioso, Peressutti und Rogers. 3 Reyner Banham, Neoliberty: The Italian Retreat from Modern Architecture, in: Architectural Review 747 (1959), S.  230–255; vgl. Halldóra Arnardóttir, Architecture and Modernity in Post-war Milan, in: Robert Lumley / John Foot (Hg.), Italian Cityscapes. Culture and urban change in contemporary Italy, Exeter 2004, S. 95 f.

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Abb. 1: Studio BBPR, Torre Velasca, Mailand, 1956–1958

Abb. 2: Gio Ponti and Pier Luigi Nervi, Pirelli Hochhaus, Mailand, 1956–1958

Ich möchte in diesem Essay die »Torre Velasca« (Abb. 1) sowie die mit ihr verbundene Architekturdebatte näher betrachten, um zu zeigen, warum das Hochhaus einen Bruch mit der Moderne darstellte. Zudem möchte ich die mnemonischen Implikationen dieses prominenten Streitfalls untersuchen: einerseits, wie die Beziehung zwischen Stadt und Erinnerungsprozessen be­ schrieben wird und darüber hinaus, wie die Stadt als Gedächtnismodell definiert wird. Ein Vergleich mit dem »Pirelli-Hochhaus« (Abb. 2) soll zeigen, welche verschiedenen ›Stadtbilder‹ von Mailand diese zwei Strukturen in der italienischen Spätmoderne vermittelten. Die Architektengemeinschaft Studio BBPR vertrat die Vorstellung, dass Architektur eine Beziehung zur Geschichte eines Ortes kommunizieren soll. Das »Pirelli-Hochhaus« hingegen

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sagt wenig über seinen spezifischen Ort aus. Es passt sich stilistisch der in­ ternationalen Moderne an und steht als schönes und puristisches Objekt in der Stadt, ohne jedwede Dekorationen, die nicht zum Medium Architektur gehören. Aber trotz seiner räumlichen Isoliertheit im städtebaulichen Kontext vermittelt das »Pirelli-Hochhaus« ein Bild Mailands als moderner italienischer Stadt. Bei beiden Facetten moderner Architektur, wie sie in der Mailänder Gegenüberstellung von »Torre Velasca« und »Pirelli-Hochhaus« zum Streitfall wurden, spielt indes Erinnerung eine Rolle. Auf der einen Seite steht ein Vergangenheit bejahendes Konzept, das die Erinnerung als konstitutiven Bestandteil von Architektur einbezieht, auf der anderen Seite die zukunftsorientierte Avantgarde, die sich gerade durch die Verneinung von Vergangenheit, durch ein ostentatives Nicht-Erinnern erinnerungswürdig zeigen will. Der Streit zwischen diesen beiden Architekturkonzepten hat sehr viel mit einer jeweils spezifischen Beziehung zur Bildhaftigkeit zu tun: das Gebäude als Trägermedium für bildhafte Elemente oder als ausdruckvolles Ge­samtbild. Der Gedächtnisparagone, der den Kern dieser architekturtheoretischen Auseinandersetzung bildet, entsteht dadurch, dass das eine Pirelli-Konzept mediale Reinheit für sich beansprucht, indem es Architektur als ein puristisches Medium versteht, das ohne applizierte bildhafte Fassadenelemente auskommt. Das »Torre Velasca«-Konzept hingegen begründet sich in erster Linie als Erinnerungsmedium und bejaht applizierten Bauschmuck, der solche Kontextualisierungen einzuholen vermag. Das eine setzt sich selbst als vermeintlich voraussetzungsloses neues Bild, das andere sieht sich von vornherein als Projektionsfläche für Bilder in einer intermedialen Beziehung zum urbanen Umfeld.

Architektur und Erinnerung Bestimmte Orte, merkt Sébastien Marot in »Sub-Urbanism and the Art of Memory« an, können in eine Art Amnesie fallen oder aber eine Erinnerung enthalten.4 Marot, der sich stark an Frances Yates Buch »The Art of Memory« (1966) orientiert, beschreibt vier Aspekte, die wichtig für die Beziehung zwischen Raum und Erinnerung sind: 1) Mnemonische Orte sind verinnerlichte architektonische Orte, oftmals Häuser. 2) Von zentraler Bedeutung ist das Verhältnis zwischen Architektur und Bildern. In der klassischen Mnemotechnik funktioniert die Architektur als 4

Vgl. Sébastien Marot, Sub-Urbanism and the Art of Memory, London 2003, S. 32.

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Behälter für Erinnerungen in Form von Imagines. Nach Marot, verleihen diese Bilder den architektonischen Strukturen ihre Identität. 3) Die mnemonischen Orte könnten real oder imaginiert sein. Marot vermutet eine Mischung aus beiden. Das heißt, Vorstellungen von tatsächlichen Orten können verändert werden, um mnemotechnisch besser zu funktionieren und haben wiederum Auswirkungen auf die Vorstellung und das Verständnis von den tatsächlichen Orten. 4) Die imaginierten mnemotechnischen Orte können zu einer Art Wortschatz werden, der sich im Bau von konkreten Strukturen weiter ausdrückt.5 In Marots Interpretation der Mnemotechnik sehen wir eine starke Akzentuierung der Architektur als Strukturmodell der Erinnerung und zugleich als räumliches Speichergedächtnis für Bilder. In späteren architektonischen Vorstellungen der Erinnerung spielt Sigmund Freuds Vergleich der Stadt Rom mit dem Unbewussten eine große Rolle. Wie in Rom die antike Stadt unter der modernen liegt, ist ein Großteil der Vergangenheit in der Psyche begraben oder ist im Bewusstsein als Ruine vorhanden.6 Die Palimpsestartigkeit Roms setzt das Spiel der Vorstellungskraft im Gang, man trägt eine Vorstellung von der Vergangenheit mit sich in der Stadt herum. Das Vorstellungsbild vom Gedächtnis ist das einer Stadt, und der Akt des Erinnerns ist spielerisch, wenn sich durch die Fantasie Vergangenheit und Gegenwart miteinander mischen. Hier sehen wir die Stadt nicht als ein mnemonisches Werkzeug, sondern als Metapher für psychische Erinnerungsprozesse. Unsere Vorstellung von Gedächtnis und Erinnerung ist stark durch Bilder und Ideen aus dem Bereich von Architektur und Stadt bestimmt. In der Tat funktioniert die Stadt laut Lewis Mumford wie ein Transformator. Er beschreibt die Stadt als Warenhaus, Konservator und Akkumulator. Die Stadt war sehr früh Speicherraum für Glyphen, Ideogramme, Zahlenabstraktionen und verbale Zeichen, also Behälter für Symbole. Mit der Entwicklung von Speichermethoden ging auch die Ausdehnung der Behälter einher. Dabei speichert die Stadt auch Störungen wie etwa die Auswirkungen von Kriegen, die wie Narben auch später noch präsent sind.7 In »Die Idee der Stadt« beschreiben Franz Claudius Demblin und Walter Cernek urbane Strukturen als eine Art Speichermedium: »Die Strukturen der Straßen, ihre typischen Profile, die Bedeutung des Straßenrasters als Ordnungssystem, die Bewahrung von wichtigen Gebäuden, die für das Bild jeder

5

Vgl. ebd. , S. 12 ff. Vgl. Sigmund Freud, Civilization and Its Discontents (Das Unbehagen in der Kultur, 1930), New York 1961, S. 17–20. 7 Vgl. Lewis Mumford, The City in History, San Diego 1961, S. 97 f. 6

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Stadt so wesentlich sind, die morphologische Gestalt und der städtebauliche Typus als individueller Bestandteil, diese Parameter machen die Kontinuität der Stadt aus.«8

Auch der Architekt Aldo Rossi schreibt, dass die Stadt als materielle Architektur verstanden werden soll, es darüber hinaus aber bestimmte Ortserfahrungen und ‑eindrücke seien, die Stadt konstituieren.9 In der Moderne ändert sich die materielle Erscheinung der Stadt und damit ihre Symbolhaltigkeit. Mit der modernen Konzentration auf Konsum­güter und der Akkumulation von Waren hört die Stadt auf, ein Dauerspeicher zu sein und wird selbst zum Konsumgut. So wird die Vorstellung von Stadt als einem dauerhaften Behälter schwieriger, angesichts der durch Zerstörung und Wiederaufbau immer ephemerer werdenden Städte.10 Nicolas Pethes spricht in »Die Geburt der Mnemotechnik aus dem Zusammenbruch der Architektur« vom konstitutiven Moment der modernen Stadtwahrnehmung und nennt sie eine »Struktur- und Orientierungslosigkeit, kurz das Vergessen.« Anhand von Thomas de Quinceys »Confessions of an English Opium Eater« (1822) erklärt Pethes die Wahrnehmung von Stadt nicht mehr als konstruktiv für die Erinnerung, sondern als verwirrend und changierend.11 Im Gegensatz zur Stadt taucht hier der Garten als eskapistischer »Nicht-Ort der Erinnerung« auf. Die moderne Stadt wird zum Ort der Krise, zum Ort der Unfähigkeit zu erinnern. So schreiben auch Demblin und Cernek: »Modernität ist das gelebte Bewußtsein der Krise. Moderne Stadt bedeutet, die Krise unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft und des sich transformierenden Arbeitsmarktes, die Spannungen und Widersprüche unseres sozialen und politischen Systems, sowie den rasanten Wertewandel ethischer Kategorien in gebaute Stadtformen umzusetzen.«12

Architektur und Moderne Die Moderne wurde Detlev Ipsen zufolge vor allem mit bestimmten Konzeptionen der Raumvorstellung ab dem 18.  Jahrhundert verbunden. Ipsen beschreibt diese Raumvorstellungen mit den folgenden Stichworten: Ort 8

Franz Claudius Demblin / Walter Cernek, Die Idee der Stadt. Zur Kontinuität einer urbanen Architektur, Wien 1997, S. 14. 9 Vgl. Aldo Rossi, The Architecture of the City, Cambridge, MA 1982, S. 21–29. 10 Vgl. Mumford, The City in History, S. 413. 11 Nicolas Pethes, Die Geburt der Mnemotechnik aus dem Zusammenbruch der Architektur. Karriere und Grenzen einer Gedächtnismetapher zwischen G. Camillo und Th. De Quincey, in: Harald Tausch (Hg.), Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung, Göttingen 2003, S. 23–40, hier S. 26. 12 Demblin / Cernek, Die Idee der Stadt, S. 26.

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der Machbarkeit, Ort des Luxuskonsums, hygienische Stadt, Ort für Raum und Ordnung und Ort für das Praktische.13 Diese Raumvorstellungen sind aber auch Möglichkeiten, sich ein Bild der modernen Stadt zu machen. Wie Nicolas Pethes den Garten als Zufluchtsort aus der labyrinthischen Stadt beschreibt – ein Nicht-Ort der Erinnerung – so reagierten die Architekten der klassischen Moderne im 20. Jahrhundert auf die verkleideten und dekorierten eklektischen Gebäude des 19. Jahrhunderts und versuchten, die Krise der Moderne durch eine neue Ästhetik zu beantworten. In Mailand gründete eine Gruppe von Künstlern die futuristische Bewegung und in ihrem Manifest rief der Dichter Filippo Tommaso Marinetti zur Zerstörung der Museen, Bibliotheken und Akademien auf, also genau der städtischen Speicherorte.14 Überdies ersehnt er den Krieg als eine Art der Reinigung. Im Bereich der Architektur ist der futuristische Architekt Antonio Sant’Elìa von Interesse, der mehr für seine Zeichnungen zum Thema »La città nuova« (1913–14) als für tatsächlich ausgeführte Gebäude bekannt ist.15 Obwohl diese Städtedarstellungen eine anonyme Stadt zeigen, werden sie häufig in Zusammenhang mit Mailand gebracht, das ein Zentrum der futuristischen Bewegung darstellte und wo auch Sant’Elìa lebte und arbeitete. Die Skizzen glorifizieren Technologie und Verkehr in einer utopischen Stadtvision. Die neue Stadt nach den Vorstellungen Sant’Elìas ist ohne Verbindung zur Vergangenheit. In seinem »Manifest der futuristischen Architektur« von 1914 beschimpft Sant’Elìa das Kopieren klassischer Modelle und deklariert »DAS DEKORATIVE MUSS ABGESCHAFFT WERDEN.« Außerdem feiert er Maschinen, Geschwindigkeit und die Vergänglichkeit der Städte: »DIE HÄUSER WERDEN KURZLEBIGER SEIN ALS WIR: JEDE GENERATION WIRD SICH IHRE EIGENEN STADT BAUEN MÜSSEN.«16

Nach dem frühen Tod Sant’Elìas im Jahre 1916 schlossen sich 1926 sieben Absolventen der »Scuola Superiore di Architettura« des »Politecnico di Milano« unter dem Namen »Gruppo 7« zusammen.17 Diese Gruppe, oftmals als die Rationalisten bezeichnet, zu der Rogers später gehörte, glaubte an eine Idee des Italienischen, anstatt sich auf Formen der italienischen Tradition zu

13

Vgl. Detlev Ipsen, Moderne Stadt  – was nun?, in: Heide Becker u. a. (Hg.), Ohne Leitbild? – Städtebau in Deutschland und Europa, Zürich 1998, S. 45–50. 14 Filippo Tommaso Marinetti, The Foundation and Manifesto of Futurism (Manifeste de Futurisme, 1909), in: Charles Harrison and Paul Wood (Hg.), Art in Theory, 1900–1990: An Anthology of Changing Ideas, Oxford 1992, S. 145–149. 15 Vgl. David Pinder, Visions of the Modern City, New York 2005, S. 58. 16 Antonio Sant’Elìa, Die futuristische Architektur, in: Lampugnani u. a. (Hg.), Architekturtheorie, S. 70 ff. 17 Ab 1928 hießen sie M. A. R. (Movimento Architettura Razionale)  und ab 1930 M. I. A. R. (Movimento Italiano per l’Architettura Razionale).

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beziehen.18 Anders als die Futuristen verbanden die Rationalisten die Unterstützung des italienischen Faschismus mit dem Interesse an der internationalen Moderne mit Bezügen zu Le Corbusier, Walter Gropius und de Stijl.19 Im Jahre 1934 luden sie Le Corbusier sogar zu drei Konferenzen in Italien ein.20 In ihrem »Primo Manifesto del Razionalismo italiano, 1: Architettura« (1926) verkündete die Gruppe den Beginn einer neuen Epoche mit der Bildung einer neuen Ordnung. Ohne Namen zu nennen, grenzen sie sich von einer vergangenen Avantgarde, die Züge der Futuristen trägt, ab und begrüßen einer neue Klarheit: »Merkmal der Avantgarden vor uns war ein künstlerischer Elan und eine leere Zerstörungswut, wodurch Gutes und Schlechtes verwechselt wurde. Merkmal der heutigen Jugend ist der Wunsch nach Klarheit, nach Weisheit«.21 Anders als die Futuristen förderten die Rationalisten den Besuch der klassischen Kulturinstitutionen und forderten eine sichere Kenntnis der Vergangenheit, um einen soliden Grund für die neue Klarheit zu schaffen. Sie hießen den Bruch mit der Tradition gut, aber nur denjenigen mit der Form und nicht denjenigen mit dem Gefühl für »das Italienische«. Ihre Architektur unterstützte das serienmäßige Bauen und er­kannte die Unvermeidlichkeit einer Internationalisierung an, verankert in einem italienischen Geist.22 Zwei Jahre später (1928) traf sich eine Gruppe von Architekten auf einem Schloss in La Sarraz in der Schweiz und gründete CIAM (Congrès Interna­ tionaux d’Architecture Moderne), die regelmäßig bis 1937 tagte und nach dem Zweiten Weltkrieg von 1947 bis 1959 das Verständnis moderner Architektur nachhaltig prägte. Wie die Rationalisten forderten sie in ihrem Manifest eine Standardisierung und Rationalisierung. Unter anderem verlangten sie funktionale anstatt ästhetischer Überlegungen im Bereich der Stadt- und Landesplanung, den Einbezug von Licht, Luft und Sonne, von Grundsätzen der Hygiene und der praktischen Anwendung von Hausgeräten. Hinzu kam ein Bruch mit den Dogmen der Akademien.23 Obwohl die rationalistische Bewegung in Italien immer das »Italienische« an ihre Bauten betonte, gab es deutliche Affinitäten zu den Interessen des CIAM und der modernen Architekturbewegung.

18

Vgl. Terry Kirk, The Architecture of Modern Italy, Bd. 2: Visions of Utopia, 1900– present, New York, 2005, S. 75. 19 Vgl. Ulrich Pfammatter, Moderne und Macht. ›Razionalismo‹: Italienische Architekten, 1927–1942, Braunschweig 1996, S. 80. 20 Vgl. ebd. , S. 107. 21 Gruppo 7, Primo Manifesto del Razionalismo, 1: Architettura, in: Lampugnani u. a. (Hg.), Architekturtheorie, S. 109 (Herv. im Orig.). 22 Ebd. , S. 110 f. 23 Vgl. CIAM, Der Architekten-Kongress von La Sarraz (25. bis 29. Juni 1928) – Offizielle Erklärung, in: Lampugnani u. a. (Hg.), Architekturtheorie, S. 121–123.

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Zwei neue Häuser Mit dem Fall des Faschismus in Italien und dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging eine tiefe Verunsicherung einher, wie das Verhältnis der Moderne zum Faschismus zu begreifen sei. Der italienische Architekt Vittorio Gre­gotti begann seine Studien an der Universität von Mailand kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er erinnert sich: »Der Krieg war seit wenigen Monaten zu Ende und Mailand war ein Trümmerfeld. Straßenbahnen gab es kaum und so fuhr jeder mit dem Fahrrad. Meine Vorstellung von der modernen italienischen Architektur beschränkte sich fast ausschließlich auf die zahllosen, vom faschistischen Regime errichteten Gebäude – einfache, etwas seltsame Konstruktionen, deren Rhetorik sich in schweren Steinmauern und einem irgendwo angebrachten niedrigen Turm erschöpfte. Beim Beginn des Architekturstudiums sah sich meine desinformierte Generation mit dem Problem konfrontiert, diese beschränkten Vorstellungen überwinden zu müssen, um verstehen, unterscheiden und beurteilen zu können.«24

Verwirrt suchten Studenten Information über die Rolle von Futurismus, Ra­ tionalismus und die Darstellung des Faschismus in den italienischen Architekturzeitschriften, aber alle schienen einander zu widersprechen. Trotz der zwiespältigen Beziehung zum Faschismus wurde der Rationalismus wegen der Beteiligung einiger Architekten am Widerstand größtenteils positiv betrachtet. Ernesto Nathan Rogers selbst musste nach 1938 wegen seiner jüdi­ schen Herkunft aufhören zu arbeiten. Nach dem Krieg spielte er eine wichtige und positive Rolle als Lehrer (unter anderem von Vittorio Gregotti und Aldo Rossi), als Redakteur von »Casabella continuità« und als Mitglied der Architektengruppe Studio BBPR, deren Mitglied Gian Luigi Banfi 1945 im Konzentrationslager Mauthausen starb. Rogers sprach von der Nachkriegssituation in architektonischer Terminologie als vom »gebrochenen Haus des Menschen«.25 Diese Metapher passte auch auf das Nachkriegs-Mailand, denn den Einwohnern fehlte es wegen der Zerstörungen an Unterkünften. Nach einer ersten Phase des Rückgangs der Bauproduktion wurde von 1948 bis 1950 stark gebaut.26 Auf der ersten »Triennale di Milano« der Nachkriegszeit, 1947, konzentrierte sich die Ausstellung auf Rekonstruktionen sowie die neuen QT (Quartiere Triennale 8a) genannten Wohnkomplexe in Mailand, die unter der Leitung des rationalisti­

24

Vittorio Gregotti, Reconstructing a History, in: Germano Celant (Hg.), The Italian Metamorphosis, 1943–1968, New York 1994, S. 556–585, hier S. 558. 25 Dennis Doordan, Rebuilding the House of Man, in: Celant, The Italian Metamorphosis, S. 586–595, hier S. 586. 26 Vgl. Enrico Fattinnanzi / Salvatore Petralia, Urban Difficulties in Italy, in: Zodiac 20 (1971), S. 271.

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schen Architekten Piero Bottoni entstanden.27 Der Rationalismus bot eine Kontinuität mit einem positiv bewerteten linken Italien  – eine Alternative zum Bild der schweren steinernen Architektur, die stereotyp mit dem Faschismus assoziiert wurde, wie Gregotti meint. Wie sich jedoch Rogers erinnerte, hatten sich die Rationalisten einst auch im Dienste des Faschismus gesehen und mit ihm eine Vision geteilt. Studio BBPR und Gaetano Ciocca hatten um 1933 gemeinsam einen totalitären Stadtplan für die Stadt Pavia entworfen. Der berühmteste rationalistische Architekt Giuseppe Terragni hatte 1934 die »Casa del Fascio« in Como entworfen. Mit seiner strengen geometrischen Rasterform ist das Gebäude iko­nisch für rationalistische Gestaltung geworden. Studio BBPR setzte eine ähnliche Formensprache für den Entwurf des Mailänder »Denkmals für die italienischer Opfer der Konzentrationslager« (1946) ein. Während vorher ra­ tionalistische Gestaltung einen italienischen Geist verkörpern sollte, der auf logischen Prinzipien basierte und so eine Kontinuität gewähren sollte, wurde ihm jetzt eine versöhnende Funktion verliehen. Rationalistische Gestaltung wurde früher teilweise als Architekturbild des Faschismus eingesetzt, nun stand sie im Dienste der Restaurierung, seelisch wie physisch. Junge Architekten wie Luigi Figini und Gino Pollini arbeiteten weiter im rationalistischen Stil an den Wohnhäusern in der Via Dessié. Und schon 1944 gab es eine Gruppe rationalistischer Architekten, AR (Architetti Riuniti) die einen Plan für den Wiederaufbau Mailands entwarfen, 1945 formierte sich eine ra­ tionalistische Bewegung in Mailand, genannt MSA.28 Die Stadt Mailand hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die Wiederaufbauarbeit sowie die Anpassung an neue Einwanderungsgruppen zu meistern. Sie hatte überdies mit einem Verlust umzugehen: mit dem Verlust eines diktatorischen Einparteien­ systems und mit dem Mangel an planerischen Vorstellungen für den Stadtraum. Die Stadt wurde Rogers’ Metapher zufolge als beschädigt verstanden. Rogers hoffte sie wieder zu heilen durch seine »Casa humana« und durch den Bau von 15 Millionen Wohneinheiten in Italien.29 Bis 1951 gab es noch weitgehend Arbeitslosigkeit und Wohnraummangel, die Zustände waren teilweise schlimmer als in den 1930er Jahren.30 Dennoch wurde die moderne Stadt noch immer mit Fortschritt und Zukunft verbunden und insbesondere Mailand wurde zum Standort neuer Wohnbauvorhaben und zum symbolischen Ort einer neuen Humanität. Mit27

Vgl. Alessandro Rocco, Atlas of the Triennale, Mailand 1999, S. 13. Vgl. Doordan, Rebuilding the House of Man, S. 590. 29 Vgl. Penny Sparke, Italian Industrial Aesthetics and the Influence of American Industrial Design, in: Celant, The Italian Metamorphosis, S. 608–615, hier S. 610. 30 Vgl. Adam Arvidsson, Marketing Modernity. Italian advertising from Fascism to postmodernity, London 2003, S. 80. 28

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te der fünfziger Jahre realisierte das Studio BBPR ein für Mailand identitätsstiftendes Gebäude, die »Torre Velasca« (1956–58, Abb. 1). Fünfhundert Meter vom Mailänder Dom situiert, auf dem Gelände eines durch Bomben zerstörten Häuserblocks, lehnt das 99 Meter hohe Gebäude das Vokabular der internationalen Moderne ab und bezieht sich auf die mittelalterlich-gotische Architektur der Stadt Mailand. Rogers suchte eine neue Herangehensweise zum Funktionalismus, die auch psychologische und historische Elemente berücksichtigte.31 Die »Torre Velasca« ist rationalistisch durch ihre analytische Annäherung an die Umgebung. Anstatt die Funktion widerzuspiegeln, scheinen die Betonwände als nicht-durchsichtige Außenwände eher etwas zu verhüllen. Die vertikalen Stützen reflektieren die gotischen Formen des Mailänder Doms. Durch historisierende Elemente wie die turmartige Gestalt und die rötliche Farbe sucht das Gebäude mit der Umgebung zu kommunizieren.32 Die Idealisierung und Glorifizierung des städtischen Raumes als Schaufenster für elegante Designprodukte und als Sphäre des Privatkonsums erhielt durch das in den Jahren von 1956–58 von Gio Ponti und Pier Luigi Nervi gebaute »Pirelli-Hochhaus« (Abb. 2) eine identitätstiftende Form. Die Firma Pirelli wurde zur Zeit des Faschismus durch die Herstellung pneumatischer Reifen reich und setzte ihre Erfolge nach dem Krieg mit industriellen Waren und Gummiprodukten fort. Die Unternehmerfamilie wollte mit dem »Pirelli-Hochhaus« ein erkennbares Firmensymbol schaffen sowie den langersehnten Wunsch der Mailänder nach einem Hochhaus erfüllen.33 Gio Ponti hatte zuvor als Architekt und Designer gearbeitet. Von 1923 bis 1930 war er in einer Porzellanmanufaktur tätig und gründete 1928 die Architekturzeitschrift »Domus«. Sein Ideal von Architektur basierte auf dem Kristall, der ihn wegen seiner Reinheit, Autonomie, Ganzheit und Bestimmtheit fas­zinierte.34 Die Form der Architektur sollte geschlossen sein, ohne Kurven, und die Gestalt von Kubus, Parallelepiped, Pyramide oder Turm aufweisen.35 Der 127 Meter hohe »Pirelli«-Turm ist mit einer »hanging ­curtain«Fassade konstruiert. Die zugespitzten Seiten des Gebäudes erinnern an einen Kristall und erzeugen einen eleganten Eindruck. Die Form wurde von Ponti als eine Art Werbewerkzeug als »uno slogan grafico« beschrieben, das für alle Künste von der Architektur bis zur Mode vorbildlich sein sollte.36 31

33 34 35 36 32

Vgl. Kirk, The Architecture of Modern Italy, S. 171. Vgl. Arnardóttir, Architecture and Modernity, S. 97. Kirk, The Architecture of Modern Italy, S. 167. Arnardóttir, Architecture and Modernity, S. 92. Ebd. Vgl. Kirk, The Architecture of Modern Italy, S. 170.

Ikonische Architektur zwischen Avantgarde und Kontinuität

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Ikonische Architektur Das »Pirelli-Hochhaus« sollte ein Symbol des neuen, designorientierten und internationalen Mailand werden, während die »Torre Velasca« eine spezifische historisierende Mailänder Identität herzustellen versuchte, um einen städtischen Kern zu behaupten. Beide Strukturen sind ikonisch in dem Sinne zu verstehen, wie Leslie Sklair den Begriff in seinem Essay »Iconic architecture and Kapitalist Globalization« (2006) verwendet. Sklair benennt zwei Charakteristika solcher Architektur: Sie sollte durch ihre Einzigartigkeit bekannt werden und eine besondere Bedeutung für eine Kultur oder ein Zeitalter zeigen, die durch eine ästhetische Komponente vermittelt wird.37 Das »Pirelli-Hochhaus« und der »Torre Velasca« sind beide ikonisch indem sie sich als »Bilder« präsentieren und ästhetisch durch ihre Form bestimmte Ideen vermitteln. Dabei dienten sie auch als Projektionsflächen für Ideen der Moderne innerhalb eines städtischen Zusammenhangs. Beide basieren auf einem Parallelepiped mit sechs parallelen flachen Seiten aus Glas und Stahl. Die zusätzlichen Wände der Endstücke aus Eisen­ beton und die kompakte Form indes verleihen dem früher entstandenen »Pirelli-Hochhaus« ein eleganteres Aussehen. In dem 1959 erschienenen Artikel in der »Architectural Review« wird das »Pirelli-Hochaus« mit dem »Dreischeiben-Hochhaus« (Helmut Hentrich und Hubert Petschnigg, 1957– 60) in Düsseldorf verglichen, da beide Häuser radikale Konzepte des Bürogebäudes demonstrierten.38 Wie der Name andeutet, besteht das Düsseldorfer Hochhaus aus drei nebeneinander stehenden vertikalen Scheiben. Es wirkt ähnlich wie das »Pirelli-Hochhaus« reduziert und elegant und ist mit kühlen glatten Glaswänden abgeschlossen. Im Gegensatz zur kristallinen Gestalt des Mailänder Gebäudes erscheint die Struktur von Hentrich und Petsch­niggs Bau weniger expressiv. Mit seinen gebogen Flächen nimmt das »Pirelli«Gebäude Designformen der 1960er Jahre vorweg. Gleichzeitig fügt es sich in eine Reihe zeitgenössischer Hochhäuser im Stil der internationalen Spätmoderne. Der bildhafte Charakter der beiden Mailänder Gebäude als Erscheinungen, die eine städtische Botschaft vermitteln, wurde sehr stark durch die jeweiligen Präsentationen und Kritiken in Architekturzeitschriften geprägt. Die Zeitschriften selbst spielten eine führende Rolle in der Erzeugung und Vermittlung des Bildes des Urbanen in Italien vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Oktober 1959 erschien eine Fotografie der oberen turmartigen Etagen der »Torre Velasca« auf dem Titelblatt von »Casabella continuità« (Abb. 3). 37

Leslie Sklair, Iconic architecture and capitalist globalization, in: City 10,1 (April 2006), S. 21–47, hier S. 26 ff. 38 Arnardóttir, Architecture and Modernity, S. 95.

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Abb. 3: Titelblatt von Casabella continuità 232 (Oktober 1959)

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Abb. 4: Inhaltsverzeichnis von Casabella continuità 232 (Oktober 1959)

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Abb. 5: Gio Ponti and Pier Luigi Nervi, Pirelli Hochhaus, 1956–1958, Mailand

Etwas verfremdet und in braunen Tönen gehalten, wirkt die Fotografie nos­ talgisch. Die Fassade erscheint sehr flach mit ihrem unregelmäßigen Spiel von Fenstern und Wand. Als Hintergrund für die Seite des Inhaltsverzeichnisses wurde ein Bild verwendet, das das Hochhaus aus der Perspektive des Mailänder Doms fotografiert zeigt, dessen Strebebögen und Fialen im Vordergrund zu sehen sind (Abb. 4). Die Kontinuität zwischen der architektonischen Er-

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scheinung des Doms und der »Torre Velasca« ist klar zu lesen: Zwei deutlich wiedererkennbare Mailänder Gebäude werden zueinander positioniert. Auch einige Fotos in der Oktoberausgabe der Zeitschrift zeigen das moderne Gebäude in Verbindung mit dem älteren prominent sichtbar. Während die »Torre Velasca« als passend zur mittelalterlichen Stadt dargestellt wird, erscheint das »Pirelli-Hochhaus« in der Juniausgabe der Zeitschrift »Domus« (1961) ganz anders. In den Abbildungen des Hochhauses ist keine einzige historische Baustruktur zu sehen (Abb. 5). Es ist von anderen Gebäuden in Stil der internationalen Moderne umgeben, von glasummantelten Stahlbetonarchitekturen. Im Gegensatz zu den bei Tage aufgenommenen Bildern der »Torre Velasca« wird das »Pirelli-Hochhaus« oft abends fotografiert (Abb. 6), wodurch die gläserne Fassade mit ihren Lichtspiegelungen stark betont wird und das Gefühl der modernen Großstadt vermittelt. Die Präsentation des »Pirelli-Hochhauses« als moderne Architektur könnte von Ponti als Redakteur der Zeitschrift »Domus« gezielt inszeniert worden sein. Schon in März 1956 wurde das Hochhaus auf sechzehn Seiten als Modell und in Skizzen in der Zeitschrift vorgestellt. Die Modelle wirken mit ihren kristallartigen plastischen Formen wie schöne Ausstellungs­objekte. Zwei Jahre später, 1958, lag der Novemberausgabe von »Domus« ein vertikales Faltplakat des eingerüsteten Gebäudes bei, das wie ein Vorgeschmack auf die Fertigstellung wirkte. Ponti warb auch im Ausland in Architekturzeit­ schriften um Aufmerksamkeit für seinen Bau. 1959 schickte er ein Bild des fast fertigen Hochhauses an die britische Architekturzeitschrift »Architectural Review« zusammen mit einem Brief, der erklärte, dass nicht alle italienischen Architekten von der modernen Architektur zurückgetreten waren.39 Die »Torre Velasca« wurde von vielen Kritikern als »unmodern« wahrgenommen. Als Rogers 1959 das Projekt bei der CIAM Gruppe im belgischen Otterlo vorstellte, entbrannte eine heftige Kontroverse. Während seiner Prä­ sentation betonte Rogers, dass die »Torre Velasca« nicht eine Nachahmung der Vergangenheit sein solle, sondern den inneren Wert der Kultur darstelle und sich an ihren Kontext anpasse: »Dieses Gebäude ist ein Hochhaus im Zentrum Mailands, 500 Meter vom Dom entfernt. Wir hielten es für erforderlich, dass sich das Gebäude in die Atmosphäre seiner traditionsbeladenen Situation einstimme, ja sogar zur Steigerung dieser Situation beitrage.«40

In diesem Sinne ist etwa die rötliche Farbe des Hochhauses zu verstehen, die zum Marmor des Mailänder Domes passt.41 Auch die dünnen skelettartigen 39

Vgl. ebd. Ernesto Nathan Rogers zitiert nach: Oscar Newman, CIAM ’59 in Otterlo, Stuttgart 1961, S. 93. 41 Vgl. ebd. 40

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Abb. 6: Gio Ponti and Pier Luigi Nervi: Pirelli Hochhaus, 1956–1958, Mailand

Stützen, die das untere mit den oberen Geschossen verbinden, erinnern an gotische Kirchenbauten. Obwohl diese historisierenden Elemente eindeutig erkennbar sind, behauptete Rogers, dass das Vorkragen der obersten acht Wohngeschosse nur zufällig mittelalterlichen Türmen ähnelte.42 Sein dama­ 42

Vgl. ebd.

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liger Assistent Vittorio Gregotti erinnert sich jedoch im Nachhinein, damals die Bauaufgabe des mittelalterlichen Turmes recherchiert zu haben.43 Solche Elemente waren für die Modernisten unnötige Dekoration. Als Krönung trägt die »Torre Velasca« ein traditionelles walmdachartiges Dach, das von Rogers als ›Hut‹ beschrieben wurde. Diese Vorstellung der »Torre Velasca« bei der CIAM-Gruppe löste eine heftige Kritik des Architekten Peter Smithson aus. Smithson äußerte mora­ lische Bedenken gegenüber dem Gebäude mit der Furcht, es könnte zum Vorbild werden.44 Besonders drei Punkte begründeten seine Abneigung: 1) Der Umriss des Gebäudes ähnelt zu stark mittelalterlicher Festungsarchitektur Norditaliens. 2) Die Unterscheidung von Wohn- und Bürogeschossen ist expressionistisch und nicht funktionalistisch, da nichts auf die Funktion hindeutet. 3) Die Differenzierung von Stützen und Wänden wirkt dekorativ.45 Auch Jacob Bakema kritisierte Rogers, weil die Funktionen des Gebäudes unsichtbar blieben, wenn zum Bespiel die Fassade die Parkgarage verbirgt und das hutartige Dach die mechanischen Anlagen verkleidet. Wie Smithson fand er den Bezug zu mittelalterlichen Türmen problematisch, denn deren Wände hatten die Aufgabe, die Stadt zu verteidigen. Die »Torre Velasca« sage jedoch nichts über das moderne Leben in der Stadt aus: »Lassen Sie mich so zum Schluß kommen: Ich glaube, Form ist Ausdruck eines Lebensvorganges, und einen Ausdruck vom Lebensvorgang der Gegenwart, vom modernen Leben, sieht man an diesem Gebäude nicht. Das moderne Leben wird verleugnet.«46

Am Ende der Tagung konnte keine einheitliche Position zur Moderne gefunden werden, was dazu führte, dass dies das letzte Treffen unter dem Namen CIAM gewesen ist.

Die Wiederkehr des Ornaments Die utopische Idee der Architektur der Moderne verfolgte das Ziel, Ordnung in das Chaos des modernen Lebens zu bringen. In seinem Essay »Ornament und Verbrechen« (1908) zieht der österreichische Architekt Adolf Loos eine Verbindung zwischen der Entwicklung der Kultur und der Eliminierung des Ornaments.47 Alles, was für die Form des Gebäudes überflüssig ist, solle ent43

45 46 47 44

Gregotti, Reconstructing a History, S. 559. Vgl. Newman, CIAM ’59 in Otterlo, S. 94. Vgl. ebd. , S. 96. Jacob Bakema zitiert nach: Newman, CIAM ’59 in Otterlo, S. 97. Reyner Banham, Theory and Design in the First Machine Age, London 1960, S. 94.

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fallen. Loos vergleicht die Entfernung vom Ornamentgebrauch mit der Evolution der Menschheit, das Ornament sei rückwartsgewandt. Was die Teilnehmer an der zehnten Sitzung der CIAM-Gruppe an der »Torre Velasca« für schlecht befanden, war alles Überflüssige und Zusätzliche: Dekoration. Am Ende der CIAM- Tagung von 1959 wirft der japanische Architekt Kenzo Tange nicht nur Rogers, sondern den Italienern insgesamt Fatalismus vor. Er unterscheidet zwischen den anderen »Team X«-Mitglie­dern und den Ita­ lienern als zwischen einer werdenden und einer gewordenen Ästhetik.48 Vielleicht war es eine Vorahnung, dass die »Modernisten« sich gegen die »Torre Velasca« und »die Italiener« wehrten. Denn in ihrem mittlerweile zum Klassiker der Architekturtheorie gewordenen Buch »Lernen von Las Vegas« (1972) von Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izentours, einer Art Manifest des Ornaments in der Architektur, spielt Italien eine besonders starke Rolle. Gleich zu Beginn des Buches im Abschnitt »Plakatwände sind beinahe in Ordnung« loben sie die Versöhnung in der italienischen Landschaft: Die Mischung zwischen Reklame und klassischer Architektur. Auch die italienische Piazza wird gepriesen, da sie sich, als umschlossener Raum, der auf den Fußgänger zugeschnitten ist, »leichter ins Herz schließt als das Raumgemenge an der Nationalstraße 66 und in Los Angeles«.49 Solche Bereiche seien als Gegensatz zu puristischen modernen Räumen zu sehen, die alles entleeren was nicht zum Raum gehört. Skulptur, wie die Kolbe-Plastik vor Mies van der Rohes »Barcelona-Pavillon«, gebe nur eine Raumrichtung, ansonsten besitze sie keine Bedeutung für die Struktur.50 Venturi, Scott Brown und Izentour stellen die puristische Behauptung in Frage, dass Bedeutung nur durch »die ureigene physiognomische Charakteristik der Form mitgeteilt« werde.51 Modernistisch-avantgardistischen Prin­zipien zufolge wurde alles, was sich außerhalb des Mediums befindet, entfernt. Zu dem Überflüssigem gehörte alles Historisierende und Eklektische, so dass die Modernisten, nach Meinung der Autoren, den einen Typ (romantisch-historisierend-eklektisch) durch einen anderen (kubistisch-seriell-herstellungsbezogen) ersetzten.52 Ohne Ornamente und Symbole wurden die modernen Architekten zur Übertreibung des Formalistischen ge­trieben.53 Die Moderne duldete keinen Widerspruch zwischen außen und innen, was zuvor so nicht der Fall war. Barock-Kuppeln etwa erfüllten eine sym48

Kenzo Tange zitiert nach: Newman, CIAM ’59 in Otterlo, S. 221. Robert Venturi u. a. , Lernen von Las Vegas, Braunschweig 1979 (Learning from Las Vegas, 1972), S. 16. 50 Vgl. ebd. , S. 16 f. 51 Ebd. , S. 18. 52 Vgl. ebd. , S. 165. 53 Vgl. ebd. , S. 172. 49

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bolische Funktion und waren zugleich räumliche Konstruktionen. Außen waren sie größer als innen, da sie nach außen eine Botschaft verkündeten.54 Außenwände waren also Kommunikationsflächen. In Las Vegas hat sich die Symbolik jedoch völlig von den Wänden getrennt, so dass die Wüstenstadt nur noch als Text in Form von Schildern besteht.55 Im Sinne dieses Widerspruchs betonen die Architekten das »Image«, das, was nach außen vermittelt, die »vorhergegangene Erfahrung und daraus gespeiste Assoziationen« kommuniziert.56 Die Autoren greifen in diesem Zusammenhang auf eine These von Alan Colquhoun zurück,57 der zufolge wir nicht frei von Erinnerungen an Formen der Vergangenheit sein könnten und wenn wir glaubten, es zu sein, dann verzichteten wir auf unsere Fähigkeit mit anderen zu kommunizieren.58 Auch Henri Bergsons bereits 1896 veröffentlichter Gedanke, dass unsere Wahrnehmungen nie frei von Erinnerungen seien, zielt in diese Richtung.59 Man könnte sagen, dass eine puristische Struktur gerade in ihrer angeblichen »Nicht-Kommunizierbarkeit« kommuniziert, so wie Gio ­Ponti das ganze »Pirelli-Hochhaus« als »uno slogan grafico« sah. Das Gebäude ist das, was Venturi, Scott Brown und Izentor »duck« (eine ›Ente‹) nennen. Sie unterscheiden zwischen zwei Arten von Architektur, die zugegebenermaßen nicht immer leicht zu differenzieren sind, nämlich zwischen »Ente« und »dekoriertem Schuppen«: »Die Ente ist ein Bau spezifischer Nutzung, der als Ganzes Symbol ist; der dekorierte Schuppen ist ein normales, schützendes Gehäuse, das Symbole verwendet.«60 Die »Ente« ist nach einem entenförmigen AutoRestaurants auf Long Island benannt worden, also nach einem Gebäu­de, das keine Symbole trägt, aber als ganzes ein Symbol ist. Der Schmuck der »dekorierten Schuppen« ist das, was die Formen eines Gebäudes betont und ihnen wiederspricht – hier dient ihr eigenes »Guild House« als Vorbild.61

Schluss Die Differenzierung zwischen »Ente« und »dekoriertem Schuppen«, die sehr maßgebend für den Diskurs um die Postmoderne war, erinnert stark an Unterschiede zwischen dem »Pirelli-Hochaus« und der »Torre Velasca«. Ob54

56 57 58 59

Vgl. ebd. , S. 24 f. Vgl. ebd. Ebd. , S. 104. Vgl. Alan Colquhoun, Robert Venturi, in: Architectural Design (August 1967), S. 362. Vgl. Robert Venturi u. a., Lernen von Las Vegas, S. 157. Henri Bergson, Matter and Memory (Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, 1896), New York 1991, S. 33. 60 Venturi u. a. , Lernen von Las Vegas, S. 105. 61 Ebd. , S. 109. 55

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wohl im Buch »Lernen von Las Vegas« Mailand und die zwei Gebäude nicht explizit erwähnt werden, heißt ein Kapitel darin, »Von Rom nach Las Vegas«: Dort wird eine Parallele zwischen den Piazze in Rom zu dem Strip in Las Vegas gezogen.62 Venturi war tatsächlich zwischen 1954 und 1955 ein Jahr als Stipendiat an der American Academy in Rom – zur jener Zeit, als Er­nesto Nathan Rogers Betreuer der Atelier-Projekte war.63 Die »Torre Velasca« stand 1955 noch nicht, aber die Idee der Kontinuität wurde von Rogers bereits formuliert. Es lässt sich also vermuten, dass eine Architektur, die an vorangegangene Strukturen und das Bekannte erinnert – oder eine kommunizierende Architektur – nicht nur durch die Stadt Rom, sondern auch durch die Begegnung mit Rogers hätte beeinflusst werden können. Von Freud als palimpsestartig beschrieben, existiert Rom als Stadt der Erinnerungen, als eine Stadt, die geeignet ist, einen Architekten zu vergangenheitsbezogenen Entwürfen zu inspirieren. Die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Architektur wurde von Venturi und seinen Mitarbeitern rhe­torisch auf die Spitze getrieben, aber es handelte sich dabei um eine Differenzierung, die bereits in der Architekturdiskussion seit den fünfziger Jahren entwickelt wurde. Die Idee einer puristischen Architektur, in der das nicht-erinnernde Moment der Mnemotechnik ausgedrückt wird, kann nicht in ihrer Autonomie – ihrer Unabhängigkeit vom historischen Kontext – lie­gen. Die moderne Stadt besteht nicht nur aus Architektur, sondern auch aus Erfahrungen und Erinnerungen, die mit der Architektur verbunden sind. Die moderne Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg konnte keine expliziten Erinnerungen hervorrufen, aber durchaus Affekte, die, wie Bakema in Otterlo beschrieben hat, oftmals negativ waren. Andererseits stand die moderne Stadt, vermittelt durch ikonische Gebäude, durch Gebäude die ein »Image« haben wie das »Pirelli-Hochhaus«, als Symbol für das Wirtschaftswunder Mailands, fokussiert auf das Neue und Konsumierbare. Als städtisches Objekt und ikonische Architektur zielt das »Pirelli-Hochhaus« weniger auf das Erinnern, als auf das Erinnertwerden. Beide Gebäude, aufgeladen mit verschiedenen Bedeutungen, repräsentieren verschiedene Momente des Erinnerns: des Nicht-Erinnerns, das doch implizit ein mnemonisches Objekt ist, und des expliziten Erinnerns, basierend auf »Ornamenten«, das aber durch seinen direkten Bezug zum mittelalterlichen Stadtbild auf einen Kommentar zur näheren faschistischen Vergangenheit verzichtet.

62 63

Vgl. ebd. , Kap. »Von Rom nach Las Vegas«, S. 25–30, hier S. 25. Martino Stierli, Das verdrängte Gedächtnis der Postmoderne in: Neue Zürcher Zeitung, 13. Dezember 2003, S. 69.

Alma-Elisa Kittner

Der Autorschaftsparagone Zum Doppelspiel von Literatur und Bildender Kunst zwischen Sophie Calle und Paul Auster Literatur und Bildende Kunst bei Sophie Calle und Paul Auster

Aufschlag Auster »The author extends special thanks to Sophie Calle for permission to mingle fact with fiction.« Mit diesen Worten dankt der Schriftsteller Paul Auster in seinem Roman »Leviathan« der Künstlerin Sophie Calle dafür, deren Vita und Werk als Vorbild für seine Figur der Maria benutzen und damit Fakten und Fiktionen mischen zu dürfen. Auffälligerweise setzt Auster diesen Dank in die Titelei des Romans,1 auf die Seite, auf der sich solch faktische Infor­ mationen wie Verlagsname, ISBN-Nummer und sonstige bibliographische Angaben befinden (Abb. 1). Diese Geste, noch dazu an dieser Stelle, verspricht Authentizität, zumal sie zwei Referenten ins Spiel bringt: »The author« und »Sophie Calle«. Beide verweisen auf eine Wirklichkeit außerhalb des literarischen Textes und führen zugleich zu ihm zurück. Auf diese Weise wird die Beziehung zwischen dem Schriftsteller und der bildenden Künstlerin zunächst nicht als eine intermediale Konstellation ausgewiesen, sondern als ein Verhältnis zwischen Tatsächlichkeit und Imagination, zwischen »fact« und »fiction«, subjekthaftem Kreator und objekthaftem Sujet. Das künstlerische Prinzip, Ereignisse und Wahrnehmungen aus dem ›Leben‹ in ›Fiktion‹ zu überführen, wird hier von Auster, der dies sicher ebenso in seinen anderen Texten praktiziert, explizit benannt. Auf diese Weise aktiviert der Autor einen spezifischen Rezeptionsmodus im Publikum, das sogleich die Entmischung sucht und sich fragt, was hier Fakten, was Fiktionen sind – eine Fra­ge, die sich sonst sicher nicht gestellt hätte, da der Roman im Folgenden weder als autobiographisch noch als anderweitig referentielles Genre ausgewiesen ist. Bereits an dieser Stelle erweist sich Paul Auster als kongenialer Spielge­ fährte Sophie Calles. Ihr Werk zeichnet aus, die Betrachter/innen, aber auch Kurator/innen und Kritiker/innen auf verschlungene Fährten des fiktiv Autobiographischen zu führen und zu ver-führen: Fast jede ihrer Installationen und Künstlerbücher besteht aus einem Text- und einem Bildteil, wo1

Paul Auster, Leviathan, London 1992.

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Alma-Elisa Kittner

Abb. 1: Sophie Calle, Faksimile aus Paul Austers »Leviathan« im Künstlerbuch »Double Game«, 1999, Violette Limited, Detail: Titelei

bei der Text stets aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin entworfen wird. In Form eines »autobiographischen Pakts« werden Ich-Erzählerin, Protagonistin und Künstlername in eins gesetzt.2 In ihrem Werkkomplex »Autobiographical Stories«, ihrem ab 1988 fortlaufenden Erinnerungsprojekt etwa erzählt die französische Künstlerin in kurzen Texten vorgeblich Ereignisse aus ihrem Leben und untermauert diese vermeintlichen Geständnisse mit Fo2

Der »autobiographische Pakt« bezeichnet nach Philippe Lejeune die Annahme der Leser/innen, dass Autor/in, Ich-Erzähler/in und Protagonist/in identisch sind; vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt (Le Pacte autobiographique, 1975), Frankfurt a. M. 1994, S. 40. Zur Übertragung dieses Pakts auf die bildende Kunst vgl. Alma-Elisa Kittner, Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009.

Literatur und Bildende Kunst bei Sophie Calle und Paul Auster

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tografien, die jedoch häufig das Authentizitätsversprechen des Textes unterlaufen: Die Geschichte über einen Streit mit dem Liebespartner zeigt das Hochzeitsfoto, das die im Eifer des Gefechts beschädigte Wand verdeckt; die Geschichte über die Suche nach dem Vater wird von der Fotografie eines niederländischen Porträts begleitet, hinter dem ein geheimnisvoller Brief versteckt wurde  – stets wird der Voyeurismus des Publikums angeregt, läuft aber immer wieder ins Leere. Dieses kunstvolle, intermediale Verwirrspiel findet nicht nur auf der Ebene der Text-Bild-Installationen statt, sondern zu dem Werk gehört auch der sorgfältige Aufbau einer öffentlichen Persona: Sophie Calle ist eine Meisterin der Selbstinszenierung. Sie hat mittlerweile eine Kunstfigur ihrer selbst geschaffen,3 die ihre Installationen im Sinne des »So ist es gewesen« authentifiziert. Wenn die Figur Sophie Calle Interviews gibt, Pressekonferenzen abhält oder in Vorträgen ihr Werk vorstellt, besteht einer der ersten Sätze nahezu jedes Mal in der Aufforderung an die Zuhörer/innen, ausschließlich persönliche und keine technischen Fragen zu stellen. Kunst und Leben – so scheint es – gehen vollständig in­einander auf, denn dem vermeintlich persönlichen Plaudern liegen stets Textbausteine ihrer Kunstwerke zu Grunde.4 In anderer Weise als bei Auster wird hier das Publikum als authentifizierende Instanz eingesetzt. Lustvoll tappen die Betrachter/innen in die Fallen des Autobiographischen, wenn sie Calles Regieanweisung folgen und danach fragen, wie nun der Streit mit dem Liebhaber verlaufen sei oder was in dem versteckten Brief gestanden habe – und genau darin besteht Calles Kunstgriff, der über die Präsentation des Kunstprodukts hinaus auf eine spezifische Sicht- und Rezeptionsweise ihres Werkes zielt.

Game Auster: 1:0 Paul Austers Werk ist, nicht nur weil er Schriftsteller ist, grundsätzlich anders angelegt. Sein Anliegen ist es weniger, die Konstruktion des Autobiographischen offenzulegen; vielmehr werden die autobiographischen Versatzstücke in seinen Romanen nur zu Ausgangspunkten für die imaginierte Narra­ tion. Letztlich ist es unwichtig zu wissen, dass auch die Figur des Ich-Erzählers ­Peter Aaron mit dem Romanautor nicht nur den Beruf und die Initialen, sondern auch einige biographische Fakten gemeinsam hat.5 Auch dass es 3

Vgl. Cécile Camart, Sophie Calle, 1978–1981. Genèse d’une figure d’artiste, in: Les Cahiers du Musée national d’art moderne 85 (2003), S. 50–77. 4 So war es etwa in ihrem Pariser Vortrag an der Sorbonne im Oktober 2001 oder am 20. April 2004 in einem »Artist Talk« im Martin-Gropius-Bau, Berlin. 5 Vgl. Fred Coppersmith, Constructing the Self in Paul Auster’s Leviathan. www. unreality.net/writings/academic/Eng436–1.pdf (6.9.2009).

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Alma-Elisa Kittner

sich bei der Figur der Maria um eine Anlehnung an Sophie Calle handelt, ist für den Roman selbst kaum von Bedeutung. Doch da Auster dezidiert Konzepte Calles übernimmt und ihre künstlerischen Arbeiten zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans bereits öffentlich zirkulieren – wenn auch oder womöglich gerade weil in einem viel geringeren Maße als heute –, ist nachvollziehbar, dass er seine Quelle nennt.6 Ebenso wenig wie Sophie Calle geht es der Figur der Maria in dem Roman »Leviathan« um abgeschlossene KunstProdukte. Der Erzähler Peter Aaron beschreibt die Figur der Maria folgendermaßen: »Maria was an artist, but the work she did had nothing to do with creating objects commonly defined as art. Some people called her a photographer, others referred to her as a conceptualist, still others considered her a writer, but none of these descriptions was accurate, and in the end I don’t think she can be pigeonholed in any way.«7

Diese Beschreibung trifft in etwa die Gemengelage hinsichtlich der Rezep­ tion des Calle’schen Œuvres zu Beginn der 90er Jahre, als Austers Roman entstanden ist, und die sich bis heute nicht wesentlich verändert hat. So wird die Künstlerin das eine Mal als »faiseuse d’histoire«, als Geschichtenerzäh­ lerin8 beschrieben, ein anderes Mal als Fotografin9 bezeichnet oder auch als Performance-10 oder Konzeptkünstlerin.11 Austers Imagination entzündet sich demnach – über die Perspektive des Erzählers Peter Aaron – zunächst an der tatsächlich existierenden Künstlerin Sophie Calle. Dabei orientiert er sich auch an biographischen Versatzstücken: In einer einfachen Über­tragung werden Ausschnitte dessen, was Kritiker/innen und Calle selbst von ihrer Vita kolportieren, in Austers Roman zu biographischen Eckdaten der Figur Maria (mit Verlegung des Schauplatzes von Frankreich in die USA) – so das Aufwachsen in einer bourgeoisen Familie, die Scheidung der Eltern, der 6

In der Auflage aus dem Jahr 2001 des Verlags »faber and faber« fehlt jedoch der Dank an Calle. 7 Auster, Leviathan, S. 60. 8 Hervé Guibert, Panégyrique d’une faiseuse d’histoire, in: Suzanne Pagé / Laurence Bossé (Hg.), Sophie Calle, à suivre…, Ausst.-Kat. Musée de l’art moderne de la Ville de Paris, Paris 1991, o. S. 9 Im Jahr 2001 erhielt Calle den Spectrum Preis für Fotografie. Cécile Camart weist zu Recht auf den Unterschied hin, dass Calle keine Fotografin im wirklichen Sinne sei, sondern dass sie das fotografische Medium lediglich nutze; vgl. Cécile Camart, Sophie Calle alias Sophie Calle. Le »je« d’un Narcisse éclaté, in: Art press, Fictions d’artistes, Autobiographies, récits, supercheries, April 2002, Extraausgabe, S. 30–35, hier S. 30. 10 Vgl. Christine Macel, The Author Issue in the Work of Sophie Calle. Unfinished, in: Ausst.-Kat. Sophie Calle. M’as tu vue? Ausst.-Kat. Centre Pompidou Paris, MartinGropius-Bau Berlin, München 2003, S. 17–28, hier S. 23. 11 Vgl. kritisch dazu Camart, Sophie Calle, 1978–1981, S. 66.

Literatur und Bildende Kunst bei Sophie Calle und Paul Auster

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kurzzeitige Besuch der Akademie und die darauf folgende auto­didaktische Ausbildung. Die biographischen Fakten, denen man bei Calle allerdings mit Vorsicht begegnen sollte, da sie Teil ihrer Künstlerfigur und der dazu gehörenden Legenden sind, konstituieren eine literarische Figur. Austers Strategie ist damit zunächst eine Form der Fiktionalisierung und Literarisierung. Ebenso werden Calles Werke zu Marias Werken: Maria ist eine obsessive Spuren- und Geschichtensucherin, die nicht davor zurückschreckt, Menschen tagelang zu verfolgen, sie in Hotelzimmern aufzuspüren und als verkleidetes Zimmermädchen deren Intimleben auszuspionieren. Es sind Szenarien, die Sophie Calle Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre in ihren Foto-TextInstallationen »À suivre…«, »Suite Venetienne« oder »L’hôtel«12 entworfen hat. Visuelle Fiktion wird zu literarischer Fiktion, doch mit einer gravierenden Abweichung: Die Aktionen werden zwar auch bei Auster als Kunst­ projekte ausgewiesen, jedoch geschieht dies nur am Rande. Vielmehr werden sie in eine Erzählung eingebaut, die den Schwerpunkt auf den zwanghaften Charakter Marias legt, dem ihre transgressiven Handlungen entspringen. Calles künstlerische Produkte – die Text-Bild- oder Text-Ob­jekt-Installationen und zahlreichen Bücher  – spielen bei Austers literarischer Transformation keine Rolle. Er nimmt lediglich die Geschichten Calles aus den Textteilen der künstlerischen Arbeiten auf, um sie anders und weiter zu erzählen: als Leben der literarischen Figur Maria. So heißt es im »Leviathan«: »[…] as time went on I understood that she was merely an eccentric, an unorthodox person who lived her life according to an elaborate set of bizarre, private rituals. Every experience was systematized for her, a self-contained adventure that generated its own risks and limitations.«13

Dem Medium der Literatur gemäß legt Auster traditionell den Schwerpunkt auf die Entwicklung der Figur in Form von Charakterbeschreibung und Handlung, zwei Ebenen, die bei Calle nur über Kunstwerke vermittelt werden und explizit mit dem Kunstfeld verbunden sind. Marias Projekte hingegen werden zwar manchmal in Galerien gezeigt, doch der Erzähler erläutert: »[…] this activity didn’t stem from a desire to make art so much as from a need to indulge her obsessions, to live her life precisely as she wanted to live it.«14 Es überrascht daher nicht, dass Auster aus Calles Installationen weder die Inszenierung der Geschichten als Texttafeln noch die professionellen Farb-Fotografien und ebenso wenig die flüchtigen Schwarz-Weiß-Schnapp­ schüs­se oder die Inszenierung von Objekten in seine Narration aufnimmt. Er stellt sich dem Paragone zwischen Text und Installation gar nicht erst, 12

Vgl. Sophie Calle (With the participation of Paul Auster), Double Game, London 1999; zuvor Sophie Calle /Paul Auster, Doubles jeux, Arles 1998. 13 Auster, Leviathan, S. 60. 14 Ebd.

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sondern blendet die Bildebene zugunsten der Beschreibung des Charakters und der historia völlig aus. Es ist denn auch eine der Aktionen Marias, die schließlich zum ›turning point‹ der Geschichte wird und, der Büchse Pandoras gleich, etliche unheilvolle Wendungen nach sich zieht –15 ihrem Nach­ namen »Turner« alle Ehre machend. Die Narration behält die Oberhand. Calles künstlerischen, intermedialen Arbeiten hingegen, so bringt es Anja Lemke auf den Punkt, werden auf diese Weise zum Verschwinden gebracht: »Aus­ löschung durch Verlebendigung«.16 Zugleich beschreibt Auster mit den Formen zwischen Spiel und Ritualisierung typische Strukturen der Calle’schen Arbeiten. So liegt der Arbeit »Le rituel d’anniversaire«, »Das Geburtstagsritual« von 1981–1993, die zur Installation gehörende Geschichte zugrunde, jedes Jahr zu ihrem Geburtstag eine ihrem Alter entsprechende Anzahl von Gästen zum Essen einzuladen, um nicht vergessen zu werden. Die Geschenke aus 13 Jahren stellt Calle sorgfältig beschriftet in Vitrinen aus – halb erzwungene und dann fixierte Zeichen der Zuneigung und Vergewisserung ihrer Existenz. Doch bei Austers Maria wird diese »Birthday Ceremony« nicht als Kunstprojekt eingeführt, sondern als eines ihrer vielen Privatrituale innerhalb ihres Lebens. Die Fiktionen Calles, die zwar vorgeblich aus ihrem Leben erwachsen – doch das wissen wir nicht – werden zu Fakten in Marias Leben.

Game Auster: 2:0 Paul Auster geht mit seiner Strategie der umgekehrten Fiktionalisierung noch weiter; »to mingle fact with fiction« bedeutet bei ihm auch, dass kolportierte Ereignisse aus Calles Leben zu Kunstprojekten Marias werden: In einer Mischung aus Künstlerlegende und Anekdote wird von verschiedenen Autoren und Calle selbst verbreitet, dass sie sieben Jahre als Kellnerin, Guerillakämpferin, Schafzüchterin, Hundedressiererin und noch vieles mehr durch die Welt gezogen sei.17 Der Erzähler Peter Aaron beschreibt in 15

Vgl. Elisabeth Bronfen, Gendering Curiosity. The Double Games of Siri Hustvedt, Paul Auster and Sophie Calle, in: Annegret Heitmann u. a. (Hg.), Bi-Textualität. Inszenierungen des Paares, Berlin 2001, S. 283–302. 16 Ich danke Anja Lemke für ihr Vortragsmanuskript: »Intermediale Palimpseste – Paul Auster und Sophie Calle«. Vortrag für den Workshop »Parodie, Pastiche, Palimpsest, Plagiat«, 15.2.2008, Goethe-Universität Frankfurt am Main. 17 Vgl. die bereits 1984 erschienenen Artikel in »Le Monde«, die in zwei Folgen Calles Lebensgeschichte erzählen: Hervé Guibert, Les tribulations de Sophie en enfance, in: Le Monde, 9. August 1984, S. 11; ders., Splendeurs et misères d’une espionne photo­graphe, in: Le Monde, 16. August 1984, S. 9; vgl. Christine Macel, Biographical Interview with Sophie Calle, in: Ausst.-Kat. Sophie Calle, M’as tu vue?, S. 73–84.

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offensichtlicher Anlehnung daran Marias erstes künstlerisches Projekt folgendermaßen: »She bought herself a secondhand Dogde van and took off on a tour of the American continent, staying for exactly two weeks in each state, finding temporary work along the way whenever possible […]. It was the first of her mad, compulsive projects […]: a totally meaningless and arbitrary act to which she devoted almost two years of her life.«18

Diese ›Grand Tour à l’americain‹, die eher einem Roadmovie gleicht, wird in dem Roman schließlich zum ausschlaggebenden Initiationsmoment: Maria entdeckt während der Reise das Medium der Fotografie und macht ihren ersten Schritt als Künstlerin. Auch Calle schildert in einem Interview, dass sie während eines Aufenthalts in Kalifornien den entscheidenden Impuls zum Fotografieren bekommen habe.19 Während sie diese Geschichte in ein eher orientierungsloses Herumirren einbettet, ist Marias Charakter von Anfang an stärker auf die Ritualisierung des Lebens angelegt. Eine weitere bedeutsame Veränderung Austers besteht darin, dass die Figur aus der Perspektive des Erzählers Peter Aaron von außen entwickelt wird. Im Gegensatz zu Calles Perspektive einer Ich-Erzählung, deren Pro­ tagonistin sie ist und bei denen die Rezipierenden gefordert sind, selbst Zusammenhänge und Bedeutungen herzustellen, entwirft der Erzähler Peter Aaron eine Gesamtskizze der Figur Maria. Er deutet ihr Verhalten in der Zeitform des abgeschlossenen Präteritums. Überdies verbindet den Erzähler nicht nur eine Freundschaft, sondern auch eine sexuelle Beziehung mit Maria Turner. Mit der Wahl dieser Perspektive verheißt Auster den Lesenden eine intime Kenntnis und dadurch mehr Einblick in die Persönlichkeit der Figur. Die Strategie der Fiktionalisierung ist dadurch paradoxerweise auf mehreren Ebenen zugleich eine der Authentifizierung, die das Zusammenfallen von Kunst und Leben als plausibel erscheinen lässt: auf der Ebene der Rahmung des Textes, der die Mischung aus »fact« und »fiction« gleichsam eingesteht und damit andeutet, dass Teile der Maria-Figur authentisch sind; und auf der Ebene der Figur der Maria selbst, deren künstlerische Aktionen als natürliche Folgen ihres obsessiven Charakters erscheinen. Auf genau dieses behauptete Zusammenfallen von Leben und Kunst gründet sich Sophie Calles Werk in Form der Installationen und in Form der Kunstfigur, wie sie in Interviews und öffentlichen Auftritten erscheint. Auster, der ursprünglich für den Regisseur Michael Radford ein Drehbuch über das Leben Calles schreiben sollte,20 weiß sicher, dass Calles öffentliche 18

Auster, Leviathan, S. 61. Vgl. Macel, Biographical Interview, S. 76. 20 Vgl. Alan Riding, How Rituals Can Create A Reluctant Artist. Intimacy and Strangers Structure Her Life, in: New York Times, 28. April 1999, S. E 1. 19

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State­ments exakt inszenierte Teile ihres Werkes sind. Während die Betrachter/innen jedoch Calles Obsessionen ausschließlich in ihren Installationen nachvollziehen können, mutieren sie unter der Hand Austers zu Charaktereigenschaften Marias. Bei ihr klappen Werk und Leben so vollständig ineinander, wie Calle es zwar stets suggeriert, jedoch zugleich mit Aussagen wie »there’s always one lie in it«21 unterwandert. Ähnlich wie Austers Dank ruft sie mit diesem vermeintlichen Geständnis die Wahrhaftigkeit der anderen Aussagen auf. Doch Calles Strategie bleibt ambig, wie Stephanie Smith es formuliert: »The ambiguity is critical to the work and a good part of the fun«;22 die Betrachter/innen stranden immerfort an der Grenze zwischen »fact« und »fiction«. Was bei der Kunstfigur Calle letzten Endes stets in der Schwebe bleibt, wird im Medium der literarischen Narration durch den Er­zähler Peter Aaron vereindeutigt und stillgelegt. Auster eignet sich die Vorlage »Sophie Calle« als Kunstfigur an, indem er sie fiktionalisiert, ihre schein­bar autobiographischen Versatzstücke und vorgeblich privaten Obsessionen als »Leben« authentifiziert. Auf diese Weise werden Calles künstlerische Pro­ dukte – die Bild-Text- bzw. Objekt-Text-Installationen – zwar ausgelöscht, die Kunstfigur Calle wird jedoch bestätigt.

Game Calle: 2:1 Sophie Calle antwortet darauf und spielt den Ball zurück: In ihrem umfangreichen Künstlerbuch »Double Game« (1999)23 nimmt sie Austers »Leviathan« zum Anlass, neue und alte Arbeiten im Kontext des Doppelspiels erneut zu präsentieren und zu ordnen. Dabei reproduziert sie die einschlä­gigen Seiten aus Austers »Leviathan« als Faksimile und markiert sie rot (Abb.  1, Abb. 2). In einem weiteren Schritt streicht sie Austers Autorschaft buchstäblich aus. Denn nach der Begrüßung »Hello Maria« folgt eine Reihe von »Korrekturen« des Auster’schen Textes, den sie damit wieder zum »fact« zurückzuverwandeln und selbst zu entmischen sucht. Die ›Berichtigungen‹ und Anmerkungen sind handschriftlich eingefügt, was wie eine Signatur auf die leibhaftige Präsenz der Autorin deutet, die sich in Szene setzt und den Autor Paul Auster verdrängt. Zwar verweist das ›Lektorat‹ Austers Imagination in die Schranken und gibt Calle den Status der eigentlichen Autorin, wie 21

Sophie Calle am 20. September 2004 in einem »Artist Talk« im Martin-Gropius-Bau, Berlin. 22 Stephanie P. Smith, Romances, in: Dies. (Hg.), Sophie Calle »Romances«, Ausst-Kat. Contemporary Arts Museum Houston 1994, S. 1–6, hier S. 6. 23 Sophie Calle (With the participation of Paul Auster), Double Game, London 1999; zuvor Sophie Calle /Paul Auster, Doubles jeux, Arles 1998.

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Abb. 2: Sophie Calle, Faksimile aus Paul Austers »Leviathan« im Künstlerbuch »Double Game«, 1999, Violette Limited, Detail mit roten Einträgen

Elisabeth Bronfen bemerkt,24 doch zugleich bestätigen sie Austers Authentizitätsgestus, indem sie dem Text im gleichen Zug Faktizität bescheinigen. Ein typischer Kunstgriff Calles: Durch das Geständnis oder hier die Berichtigung des vermeintlich ›Falschen‹ wird die Kategorie des ›Wahrhaftigen‹ aufgerufen. Ihre Eingriffe beziehen sich auf biographische Daten (nicht seit ihrem 14., sondern seit dem 27. Lebensjahr habe sie die Geburtstags­geschenke gesammelt), auf Zahlen und Orte (nicht in Holyoke, sondern in Paris wuchs sie auf) und auf Beschreibungen von Situationen und Verhaltensweisen. »Excessive« steht häufig mahnend am Rand: »übertrieben«, wenn Auster etwa Calles autobiographische Geschichte, die von ihrem Auftritt als StripteaseTänzerin erzählt, allzu sehr mit Hüftwackeln und verführerischem Züngeln ausmalt.

24

Bronfen, Gendering Curiosity, S. 299.

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Game Auster: 3:1 Exzessiv ist jedoch, dass Auster mit der Figur der Maria eine Doppelgängerin schafft, die Calle’scher ist als Calle selbst: Er schafft eine HyperCalle, die tatsächlich so »lebt«, wie Calle dies von sich behauptet. Doch ­Auster geht noch weiter: Die Hyper-Calle erfindet neue Privatordnungen, die Calles Ritualisierungsstrategien fast parodieren. Eine der Neuerfindungen Austers ist die sogenannte »chromatische Diät«, bei der Maria an jedem Tag nur Lebensmittel einer bestimmten Farbe zu sich nimmt. Am Montag isst sie nur orangefarbene Lebensmittel, am Dienstag ausschließlich rote und so geht es bis zum Ende der Woche fort. Yves-Alain Bois moniert, dass Austers Neuerfindungen zu einfach und ungefährlich seien; es seien unglaubwürdige Fälschungen, die Calle als solche auch entlarve.25

Game Calle: 3:2 Das Pingpongspiel wird nämlich zu einem regelrechten Wettstreit, wenn ­Calle ihrerseits Austers Maria-Rituale auf ihre eigene Weise in Text-Bild-Installationen übersetzt. In dem Künstlerbuch »Double Game« führt Calle die beiden Arbeiten »The Chromatic diet« und »Whole Days Under the Spell of B, C and W« mit folgendem Text ein: »The life of Maria and how it influenced the life of Sophie. In Leviathan, Maria puts herself through the same rituals as I did. But Paul Auster has slipped some rules of his own inventing into his portrait of Maria. In order to bring Maria and myself closer together, I decided to go by the book. The author imposes on his creature a chromatic regimen which consists in restricting herself to foods of a single colour for any given day. I followed his instructions. He has her base whole days on a single letter of the alphabet. I did as she does.«

Die Ich-Erzählerin dieses Textes sucht sich ihrer Doppelgängerin anzunähern und sich die literarische Fiktion im buchstäblichen Sinne einzuverleiben (»I did as she does«). Diese Inkorporation auf der Ebene des Körpers findet jedoch nur als Erzählung auf der Textebene statt, denn wir sehen Bil­der und keine Performances (Abb. 3). Doch bereits der Akt der visuellen Übertragung stellt eine Form der Aneignung dar: Nachdem Auster bestimmte Teile Calles festgeschrieben hat, wird nun bei Calle das Angedeutete des Literarischen im Bild festgelegt und durch das Medium Fotografie eingefroren: Eine erneute Stilllegung findet statt und Calle gewinnt wieder Kontrolle über ihr Double Maria. Die Aufnahmen der Menüs sind stark inszeniert. Die Mono25

Yves-Alain Bois, The Paper Tigress, in: Sophie Calle. M’as-tu vue?, S. 29–40, hier S. 35.

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Abb. 3: Sophie Calle, The Chromatic Diet, 1997, 6 Farbfotografien je 30 × 30 cm, gerahmte Farbfotografie, 49 × 73,5 cm. 7 Menükarten in Haltern, ein Regal. Detail (Foto): Friday: Yellow, Courtesy of Arndt & Partner Berlin/Zürich

chromie der facettierten Gelbtöne im Beispiel des Freitags­menüs, die reduzierten geometrischen Formen des Geschirrs und der Le­bensmittel – sie gewinnen einen Eigenwert, der von Austers »Leviathan« ab­gekoppelt ist. Für Bois ist dies ein Zeichen, dass Calle sich von der Figur der Maria distanziert und sie als fake entlarvt, denn die Fotografien seien nicht »pure Calle«, weil ihre sonstigen Bilder eine Schnappschussästhetik aufwiesen.26 Doch bereits in einer ihrer frühen Arbeiten, »L’hôtel« aus dem Jahr 1981, oder in »The Blind« (1986) arbeitet Calle mit professionellen, mit einer Mittelformatkamera aufgenommenen Farbfotografien, deren Produktion sie in Auftrag gibt. Diese Form der Aneignung entspricht demnach ihrem künstlerischen Vorgehen. Der Text hingegen verweist auf die strikte Erfüllung der Auster’schen Angaben und zugleich auf dessen Überbietung: Calle verwendet wie Maria zwar die gleichen Lebensmittel, doch sie setzt die Idee Austers konsequenter um als er selbst, wenn der Text auf der ›Menükarte‹ 26

Ebd. , S. 36.

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Abb. 4: Sophie Calle, The Chromatic Diet, 1997, 6 Farbfotografien je 30 × 30 cm, gerahmte Farbfotografie, 49 × 73,5 cm. 7 Menükarten in Haltern, ein Regal. Detail (Foto): Sunday: Orange, Red, White, Green, Yellow, & Pink, Courtesy of Arndt & Partner Berlin/Zürich

lautet: »Paul Auster forgot to mention drinks, so I allowed myself to complete his menu with: Orange juice.« In dieser gesteigerten Form der Aneignung in ironisch schulmädchenhafter Manier bringt sich das »Ich« der Autorin explizit ins Spiel. In der französischen Version, die ein Jahr früher als die englische entsteht, veröffentlicht Sophie Calle die beiden Werkkomplexe »The Chromatic diet« und »Whole Days Under the Spell of B, C and W« unter dem Titel »De l’obéissance«.27 »Gehorsam« ist ein doppelbödiger Begriff, der sowohl Aus­ ters Anlehnung an Calle evoziert als auch Austers Fiktionen als Pflichten begreift, denen Gehorsam zu leisten ist. Der Satz in der französischen Version: »J’ai suivi le même régime; j’ai fait comme elle« verstärkt diese Doppeldeutigkeit – bedeutet »régime« doch sowohl Diät als auch Regierungsform und System. Doch das scheinbare Sich-Unterwerfen wird zum Sich-Ent­werfen. Das neue »Je« ist eine Form der Aneignung der Auster’schen Geschichte, die durch die Erzählerin unter ihren Vorzeichen neu erzählt und vor allen 27

Sophie Calle, De l’obéissance, Arles 1998. Calles Arbeiten bestehen meist aus einer französischen und einer englischen Version, die einen gleichwertigen Status haben und beide von der Künstlerin selbst stammen.

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Dingen weitererzählt und visualisiert wird. Der autobiographische Gestus der scheinbaren Authentizität weist diese Geschichten als »wahrer« aus als es Austers Fiktionen sind und die Fotografien bestätigen in diesem Fall den Text und fungieren als Spur der vollzogenen Handlung. In dem Sonntagsmenü (Abb. 4) sind alle Tage und Farben versammelt; auch dies ist eine Idee von Calle, da Auster über diesen Tag keine Angaben macht. In vorauseilendem Gehorsam erfüllt sie noch obsessiver als ihr ­Double Maria die Ordnung des Farbregimes. Als Double des Doubles differenziert Calle die Ordnung stärker aus. Wie eine Spurensucherin, die die gefundene Fährte noch breiter austritt, realisiert und löscht Calle die Figur der Maria nun ihrerseits in einem Zug. Jean Baudrillard nennt es in Zusammenhang mit einer der Verfolgungsarbeiten Calles einen ›subtilen Mord‹.28 Die intermediale Konstellation führt zu einem Wettstreit der Autorschaften: Austers literarische Figur dient als Sprungbrett, um Calles Autorschaft umso stärker zu installieren.

Game Calle: 3:3 Ein Detail ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung: Im gelben Freitagsmenü ist oben rechts ein Teller mit zwei Kugeln Mango-Eis und einer Banane zu sehen. »Jungmädchentraum«, nennt sich dieser phallische Nachtisch, wie man aus der Text-Foto-Installation in dem großen Werkkomplex der erwähnten »Autobiographischen Geschichten« erfahren kann (Abb. 5): Es handelt sich um eine von mittlerweile 32 Bild-Text-Installationen seit dem Jahr 1988, die scheinbar Intimes der Künstlerin preisgeben. In dem Text über den »Jungmädchentraum« berichtet die Erzählerin, wie sie als 15jährige das Eis wegen des Namens bestellt; auf ihre Nachfrage, um was es sich handele, erhält sie von dem Kellner nur »Surprise!« als Antwort. Der Nachtisch kommt, nicht ohne einen feixenden Kellner. Die Erzählerin: »I closed my eyes the same way I closed them when I saw my first naked man.« Mit diesem Selbstzitat in dem Sonntagsmenü überblendet Sophie Cal­le Marias Aktionen mit ihren eigenen Arbeiten und ihrem »Leben«, wie sie es innerhalb der »Autobiographischen Geschichten« inszeniert. Durch die dop­pelte Inkor­ poration wird »The Chromatic Diet« zum Teil der Selbst-Er­zäh­lung in Form eines retrospektiven Werkfragments. Die obsessive Ausdifferenzierung der vorgegebenen Regeln als Appropriation überkreuzt sich mit dem Ritual des Besitzergreifens durch die Autobiographie. In diesem Sinne ist der phallische »Jungmädchentraum« als Zeichen der symbolischen Ordnung ein ironischer 28

Vgl. Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien (Les stratégies fatales, 1983), München 1991, S. 161.

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Abb. 5: Sophie Calle, Young Girl’s Dream/Rêve de jeune fille, 1992, aus der Serie Autobiographical Stories/Récits autobiographiques, gerahmter Text 50 × 50 cm, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie, 170 × 100 cm, Courtesy of Arndt & Partner Berlin/Zürich

Gender-wendender Kommentar zu dem Gestus, mit dem Calle in das Leben der Figur der Maria eindringt, um es mit ihrer Privatmythologie zu überlagern. Calle schließt dabei gleichsam die Augen vor der Austerschen Ordnung. Zu dem Sonntagsmenü, so der Text, hat Sophie Calle sechs Personen zum Essen eingeladen, die sich »without enthusiasm« daran gütlich taten. Sie selbst hielt sich allerdings zurück, denn Romane seien zwar gut und schön, man

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Abb. 6: Sophie Calle, Days under the Sign of B, C & W, 1998, 4 Bild-Text-Installationen. Detail (Foto): Big Time Blonde Bimbo, eine gerahmte Farbfotografie, 67 × 67 cm

müsse sie aber nicht unbedingt buchstäblich nehmen: »[…] novels are very well but not necessarily so very delectable if you live them to the letter.« Dies ist ein reflexives Wortspiel, denn natürlich kreisen die Arbeiten da­ rum, Auster beim Wort zu nehmen, seine Inventionen buchstäblich wie Direktiven umzusetzen und in der Arbeit »B, C, W« sogar beim Buchstaben zu nehmen. »To live them to the letter« ist das Thema in Sophie Calles zweiter Maria-Arbeit, deren erster und gleichzeitig bekanntester Teil die Arbeit »B for Big Time Blonde Bimbo« (bzw. »Nature morte« in der französischen Ausgabe)  ist (Abb. 6). Das Foto stammt von dem Modefotografen JeanBaptiste Mondino, die Inszenierung von Calle. Hier nun findet eine Inkor­

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poration Marias auf der Bildebene statt. Dabei inszeniert sich Sophie Calle in doppelter Weise: einmal als Maria und gleichzeitig als im Insektenbett mittig thronende Brigitte Bardot, umringt von toten, präparierten Tieren. Die blonde Schöne mit dem wallenden Haar – die brünette Calle trägt eine Perücke – und dem zur Bettwäsche passenden Negligé hebt sich von einer mit Schmetterlingen dekorierten rosafarbenen Wand ab und bildet damit einen scharfen Kontrast zu den todesstarren Tieren mit den blicklosen Augen. Die Persiflage auf die Ikone Frankreichs bezieht sich auf eine Fotografie von Brigitte Bardot in der Zeitschrift »Paris Match« im November 1989. Sie parodiert Bardots geradezu besinnungslosen Einsatz für den Tierschutz, mit dem sich der alternde Star erneut eine Bühne schafft. Sophie Calle realisiert ein Bild, das der literarischen Identität Marias einen, wenn auch maskierten Körper gibt, jedoch die Grenzen der amerikanisch geprägten Figur der Maria sprengt und die Autorschaft Calles auf den Plan ruft. Nicht nur wird hier Calles Doppelgänger-Körper ins Bild gesetzt: In einer erneuten Drehung visualisiert sie eine doppelte Doppelgängerschaft: Sophie Calle als Maria als Brigitte Bardot. Der Doppelgänger, der sich aus der Semantik des Schattens ableitet, wird als Todesmotiv eingesetzt, das sowohl in der Totenstarre der Tiere als auch in den Schmetterlingen, den Symbolen der anima und Psyche, und nicht zuletzt in dem französischen Titel »Nature morte« aufgenommen wird. Die »Verlebendigung« Marias findet auf der Folie des inszenierten Todes statt. Doch auch hier führt ein Detail in eine der »Autobiographischen Geschichten«. Die auf dem Bett lie­gende ausgestopfte Katze, die sich Calle in einer anderen fotografischen Version um den Hals legt, ist als Objekt in einer Installation der »Autobiographischen Geschichten« zu sehen. Die Erzählerin berichtet von den absurden Umständen, unter denen ihre Katzen zu Tode kamen. Eine davon erdrosselte ein eifersüchtiger Liebhaber, der sie vor die Wahl gestellt hatte, mit der Katze oder mit ihm das Bett zu teilen – sie hatte sich für die Katze entschieden. Diese ironische Geschichte über die Verklammerung von Tod, Obsession und Possession bedeutet nicht nur eine erneute Einverleibung des Maria-Projekts in die Calle’sche Werkgeschichte. Sie lässt die Katze auf dem Bett gleichzeitig zu einem beißenden Kommentar werden: Brigitte Bardots hingebungsvoller Tierschutz wird als kompensierende Beischläferschaft gedeutet, bei der die Katze den Liebhaber ersetzt. Auster zitiert im »Leviathan« den Werkkomplex der »Autobiographischen Geschichten« durch die Figur der Maria nur in zwei Aktionen. ­Calle potenziert sie, indem sie die ›Maria-Works‹ damit ansteckt und unter der Maske der Maria neu inszeniert. Die »Autobiographischen Geschichten« un­terlaufen die Maria-Aktionen in der Form des Selbstzitats und der Wiederholung. Der Wettstreit innerhalb der doppelten Autorschaft von Auster und Calle bringt auf diese Weise ein ständiges Changement von Subjekt und Objekt hervor:

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Das Künstler-Subjekt Calle wird zum Sujet, zum Objekt der Austerschen Fiktion, löst sich daraus, ordnet sich wieder unter und so geht es immerfort. Die »Autobiographischen Geschichten« fungieren in diesem Prozess als neuralgischer Punkt, weil sich schon in ihnen selbst – wie in jeder Autobiografie  – Subjekt- und Objektposition überkreuzen und weil ihr Thema die Erinnerung und Stabilisierung des Ich ist. Es entsteht auf diese Weise ein Wettstreit der Autorschaften; doch obwohl beide mit der Strategie der Überbietung arbeiten, zielt der Paragone nicht darauf, Text oder Bild als überlegen zu inszenieren. Zwar löscht Auster Calles Text-Bild-Installationen zugunsten der narratio aus, doch authentifiziert er, wie dargestellt, Calle als Kunstfigur, die ebenfalls Teil  ihres Werks ist. Calle indes blendet ihrerseits die narratio des Romans aus, um lediglich die Spuren einer ästhetisierten Handlung Maria Turners ins Bild zu setzen. Zugleich rückt damit Austers Text in die Ebene visueller Wirklichkeit und seine Fiktion wird durch das Medium der Fotografie authentifiziert. Letztlich wird der Paragone selbst zum Dreh- und Angelpunkt des ›Double Game‹ zwischen dem Literaten und der Künstlerin, das immer wieder neue künstlerische Arbeiten hervortreibt. Das je eigene Werk des Anderen dient als Ausgangspunkt für die eigene literarische und visuelle Imagination, die sich genau in den Leerstellen des Gegenübers ansiedelt. Letztlich spinnt Paul Auster die Figur der Calle / Maria in die Struktur seines gesamten Romans ein; Calle wiederum nutzt das »Double Game«, um den zahlreichen, im Roman zitierten Werken in einem Künstlerbuch einen Rahmen zu geben und zudem drei neue Arbeiten zu entwickeln.29 Maud Lavin sieht in »Double Game« eine »booklength exhibition of Calle’s works cocurated by Calle and Auster.«30 Im Blick zurück präsentiert Calle darin tatsächlich unter Austers Vorzeichen eine Art selbst kuratierte Retrospektive mit Werken aus den Jahren 1980 bis 1998. Durch die Einordnung der Werke in die Erzählung des »Double Game« entsteht ein Rahmen für die unterschiedlichen Arbeiten, der vorher nicht existierte und eine Geschlossenheit suggeriert. Austers Buch, das die Kunstfigur Calle erinnert, wird der Künstlerin zum Anlass, durch eine Retrospektive an eine Reihe vergangener Arbeiten zu erinnern – in Form eines Künstlerbuches, das den Authentifizierungsparagone festhält. Nicht umsonst beginnt Sophie Calle darin, im Gegensatz zu meiner Erzählung in dem vorliegenden Aufsatz, mit »The life of Maria and 29

Die dritte neue Arbeit, die aus der Kooperation mit Auster entsteht, ist »The Gotham Handbook«, in dem Auster für Calle »Personal Instructions for SC on How to Improve Life in New York City« entwirft (vgl. Calle, Double Game). Das Spiel mit Fakt und Fiktion bekommt hier zwar eine weitere Dimension, hat jedoch mit dem Gedächtnisparagone nichts zu tun. 30 Maud Lavin, Imitation of life (Rezension zu Calle, Double Game), in: Art in America, July 2000, S. 33–34, hier S. 33.

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Alma-Elisa Kittner

how it influenced the life of Sophie«, weil auf diese Weise die neuen Arbeiten Calles vorangestellt werden. Die strukturellen Ähnlichkeiten in Austers und Calles Vorgehen zielen dabei in unterschiedlicher Weise auf den unhintergehbaren fiktionalen Charakter von Realität. Während Auster vorführt, wie aus ›Biographie‹ eine Art ›Leben‹ wird, zeigt Calle, wie das ›Leben‹ aus einer Fiktion entwickelt wird. Paul de Man stellt daher provozierend in den Raum: »Wir nehmen an, das Leben würde die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen, aber können wir nicht mit gleicher Berechtigung davon ausgehen, das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen?«31

Die Fiktionen wie die »Chromatic Diet« werden zu einer nachträglichen Erinnerung von und an etwas, das nie stattgefunden hat und dennoch ›wahr‹ ist. Ebenso arbeitet Auster mit der ›falschen‹ Erinnerung, die auf etwas Reales weist. Maria Turner wird in »Leviathan« als eine großgewachsene, blonde Frau beschrieben. Doch Benjamin Sachs, die zweite Hauptfigur im Roman, täuscht seine Erinnerung: »Sachs had never properly understood who Maria Turner was. […] In his mind, Maria Turner was a short woman with long brown hair, and whenever I had mentioned her to him, that was the image he saw.«32

Dieses falsche Bild stellt sich als das wahre heraus: Es schildert das Erscheinungsbild der ›echten‹ Sophie Calle.

31

Paul de Man, Autobiographie als Maskenspiel, in: Ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt a. M. 1993, S. 131–145, hier 132 (Herv. im Orig.). 32 Auster, Leviathan, S. 112.

Lothar van Laak

Erzeugung von Erinnerung im Widerspiel von Film und Literatur bei Patrick Roth Erzeugung von Erinnerung bei Patrick Roth

I. Der Erzähler, Filmemacher, Hörspiel- und Theaterautor Patrick Roth ent­ wickelt in seinem Schreiben eine Poetik, die ihre literarische Qualität vom Medium des Films her gewinnt.1 Im Folgenden soll diskutiert werden, inwieweit sich dieses intermediale Verhältnis von Literatur und Film als Paragone oder Gedächtnisparagone erweist: Was leistet die Bezugnahme auf den Film für Patrick Roths Bestimmung literarischen Erinnerns? Und welche ästhetische Klammer findet sich bei ihm, den Wettstreit zwischen den Medien bzw. Künsten zu organisieren, d. h. zu formen, auszutragen, zu entscheiden und abzuschließen. Insbesondere die ästhetische Möglichkeit, den ausgetragenen Wettstreit zu beenden, ihn vom Ende her zu bestimmen bzw. bestimmt zu sehen, reizt es einmal genauer zu bedenken. Die Klammer, um dies vorwegzunehmen, ist für Roth eine tiefenpsychologische, alchemistische Traumpoetologie in starker Anlehnung an die Kollektivsymbolik C. G. Jungs.2 In deren Traum-Bildwelten werden auch die verschiedenen Medien unter dem Aspekt des Visuell-Unbewussten zusammengeführt. Als Leitmedium für die Literatur wird so das Bild etabliert, al­ lerdings geschieht dies für Roth durch literarische Verfahren.3 Es bleibt zu 1

Vgl. zu dieser grundlegenden Bestimmung von Patrick Roths Poetik u. a. Reinhold Zwick, »Alles beginnt im Dunkeln«. Das Kino und Patrick Roths revelatorische Ästhetik, in: Erich Garhammer  /  Udo Zelinka (Hg.), »Brennender Dornbusch und pfingstliche Feuerzungen«. Biblische Spuren in der modernen Literatur, Paderborn 2003, S. 161–176. 2 Vgl. für eine sehr einlässliche Deutung in dieser Perspektive das Nachwort von Michaela Kopp-Marx zu Patrick Roth, Lichternacht. Weihnachtsgeschichte, Frankfurt a. M. 2006. 3 Vgl. zu diesen Verfahren ausführlicher Lothar van Laak, Jenseits der Lesbarkeit. Unsichtbare Spuren und Spuren der Unsichtbarkeit in der Erzählpoetik Patrick Roths, in: Michaela Kopp-Marx (Hg.), Ins Tal der Schatten. Patrick Roths Schreiben zwischen Hölderlin und Hollywood, Würzburg 2009. Zu den grundlegenden Möglichkeiten des Spannungsverhältnisses von Bildlichkeit und Textualität äußert sich Monika Schmitz-Emans, Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare. Spielformen literarischer Bildinterpretation vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Würzburg 1999.

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fragen, ob der Paragone damit schon entschieden ist. Denn durch die stark performative Qualität seiner Texte verleiht Roth dem Bild etwas Dyna­ misches, Plötzliches und Flüchtiges, womit es sich vom realen Bild wieder entfernt.4 Durch die Prozessualisierung wird das Bild in seiner Statik wieder entbildlicht, vielleicht kann man sagen: aufgehoben, verinnerlicht. Die Bilderprozesse werden zu Verinnerlichungen, und die Bilder erzeugen so überhaupt erst die Erinnerungen. Wenn man den Gedächtnisparagone als einen Wettkampf um die grö­ßere Gedächtniskompetenz auffasst, zielt das nicht auf das Erinnertwerden, sondern auf das Erinnern selbst. Der Blick richtet sich darauf, wie die Gedächtnis-Konkurrenz in konkreten Artefakten bzw. Medien Form gewinnt.5 So lässt sich erstens fragen: Welches Medium kann Erinnerung besser leisten oder die von ihr geforderten Aufgaben besser erfüllen? Diese Frage ist in gewisser Weise zwischen den verschiedenen Medien angesiedelt, also die intermediale Perspektive dieser Frage. Für Roth hieße das, den Gedächtnis­ paragone zwischen Film und Literatur zu sehen. Wendet man sich von dort wieder zurück auf das konkrete, den Wettstreit konkretisierende Medium, also bei Roth auf die Literatur und deren Poetologie,6 lässt sich die zweite Frage als mediale oder genauer: intra­mediale Frage formulieren: Wie können in einem Medium intermediale Wettstreite ausgetragen werden? Dies ist die im engeren Sinn ästhetische Frage der innermedialen Gestaltung am Beispiel Roths: Was bringt es für welche (anderen) Medien und Formen, genau so literarisch zu erzählen? Was bringt es dann wiederum für das literarische Erzählen überhaupt? Schließlich kann man noch eine dritte Frage stellen, die den implizierten Genitiv des Kompositums Gedächtnisparagone als Paragone der Gedächtnisse deutet, die man also als ein Paragonalisieren des Gedächtnisses oder der Erinnerung auffassen kann, um einen Wettstreit nicht der Künste, sondern der Gedächtnisse. Hierbei handelt es sich genau betrachtet um eine (medien-)kulturtheoretische Fragestellung, die medien- und sozial-kommu­nikative Dimensionen verbindet. Von dieser dritten Frage ergeben sich auch Rück4

Zum Bild-Begriff und der Dynamik des Bilds vgl. Hans Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001; Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2005, S. 17–36. 5 Vgl. dazu die »Einleitung« dieses Bandes. 6 Man müsste präziserweise bei ihm auch noch ein Drittes annehmen: die ›poetologisierte Literatur‹ bzw. die ›literarisierte Poetologie‹, wie Roths fünfte »Frankfurter Poetikvorlesung« zeigt, die in die Erzählung vom »Fremden Reiter« mündet. Auch die zweite dieser fünf Vorlesungen ist beispielhaft in der Art, wie Erzählen, Intertextualität bzw. Intermedialität und poetologische Reflexion sich produktiv auseinander entfalten und zugleich eine spannungsreiche Erzählung entwickeln; vgl. Patrick Roth, Ins Tal der Schatten, Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a. M. 2002.

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schlüsse auf die ersten beiden Fragen. Denn wenn man in der und mit den Erinnerung(en) wetteifert, wird man sich der Medien und ihrer Verhältnisse zueinander anders bedienen. Diese dritte Perspektive fragt somit auch nach der (kulturellen) Bedingung der Möglichkeit des ästhetischen Paragone. Patrick Roths Erzählen und seine Poetik geben eine Antwort auf alle drei Fragen. Seine Antwort ist eine literarisch performativ-prozesshaft gestaltete Erzeugung von Erinnerung aus dem Ineinander, Miteinander, Gegenein­ ander der Medien Film und Literatur. Sein Konzept von Literatur erzeugt im Widerspiel von Literatur und Film intramedial Erinnerung in Literatur. Erin­ nerung ist dabei Tiefen-Erinnerung, d. h. das poetologische Verfahren Roths will die kollektiven Traumbilder des Unbewussten subjektiv und intersubjektiv kommunikativ und erinnerlich werden lassen. In einem weiteren Medienbegriff ist die Poesie das Mittel, etwas romanti­ scher formuliert: das Organ der Aussprache, diesen Prozess zu eröffnen und vom Unbewussten auf die Ebene einer reflektierten Traumbildlichkeit zu heben. Roth erhebt in seiner fünften »Frankfurter Poetikvorlesung« den An­spruch, dass diese Konzeption von Literatur und ihrer Produktion »no fic­tion« sei – weil eben die Traumbilder Kollektiv-Symbole, kulturelle Einheiten, sind und weil sie intersubjektiv so vermittelbar seien, dass sie als real erfahren werden. Bei diesem poetischen Realismus liegt aber der Akzent ganz eindeutig auf dem Attribut poetisch und dieses, um seine performative Qualität richtig zu fassen, müsste man genauer als poietischen Realismus bezeichnen.7 Wie erzeugt Roth nun Erinnerung? Welchen Stellenwert haben die konkreten Medien Literatur und Film dabei? Schließlich: Wohin führt der interund intramedial inszenierte Wettstreit zwischen den Gedächtnisleistungen der beiden Medien?

II. Die zentrale Kategorie von Roths Poetologie, das arbeitet er selbst in seiner zweiten »Frankfurter Poetikvorlesung« deutlich heraus, ist der Dissolve.8 Wie Roth sagt, ist Überblendung dafür eine schlechte deutsche Übersetzung. Denn das Dissolvieren, das Auflösen des Bilds im Bild komme damit nicht zum Ausdruck. Dieser Transformationsprozess, den Roth auch als Bild­prozess des Unbewussten auffasst – die verschiedenen Traumbilder ge7

Roths Anspruch, »no fiction« zu betreiben, ist aber durchaus auch zu relativieren, wenn man den ästhetischen Kosmos von Texten und Filmen mit bedenkt, innerhalb dessen er seine Texte platziert. 8 Roth, Ins Tal der Schatten, S. 48 ff.

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hen ineinander über – fasst er als auch als traumalchemistischen Prozess, in dem die poetologische Hervorbringung der Bilder, ihr produktives Gedächtnis oder ihr »aktives Erinnern«, als Auflösungs- und Herauslösungsvorgang be­schreibt. Der filmästhetische und literarische Dissolve dient also als eine tiefenpsychologische Heuristik, um zu einem besseren Selbstverstehen zu gelangen, sich seiner selbst besser zu erinnern. Roth erläutert dies so: »Aufgang nach oben: zu einer tieferen Schicht hinab, zu einer Schicht, die letztlich nach oben muß, statt der anderen zu Tage tritt. […] Das Orpheus-Muster des Vorgangs wird hier wohl klar: wie nämlich das Vergessene, Tote, aber doch immer schon Wartende, immer schon Lebende, uns hier an den Tag geführt, erinnert und sichtbar wird; und eine Welt zurückgelassen werden muß, um einen andere werden zu lassen. Denn der Dissolve erzählt vom graduellen Erkennen der Schicht, die unter dem offen Sichtlichen, dem ›Alltag‹ immer schon träumte, im Dunkeln lebte, im Schatten, und nun zu Tage kommt, harte neue Wirklichkeit zu werden. Der Dissolve tötet und weckt, führt hinab, führt hinauf. Und, noch wichtiger, er zeigt im Augenblick der Überlappung der Szenen: daß beide letztlich zusammen zu sehen sind, daß, als Schichten, Geschichten, schon immer eine unter der anderen zu sehen gewesen wäre und – also im Übergang beider – diese ein, zwei Sekunden lang – ein Welt vom Zu­schauer erkannt wird, in der beide Schichten/Geschichten gleichzeitig leben.«9

Walter Benjamin hat in seinem berühmten »Erzähler«-Essay die Mündlichkeit der Erzählung, ihre Tradition als »langsame[s] Einander-Überdecken dünner und transparenter Schichten« bestimmt und als die »Art und Weise […], in der die vollkommene Erzählung aus der Schichtung vielfacher Nach­ erzählungen an den Tag tritt.«10 Diese besondere epische Qualität der Erzählung sieht Roth nun im Dissolve, einem erzählerischen Mittel des Films. Dieses ist ebenfalls vom Ende her zu denken, so wie Benjamin jedes Erzählen auf den Tod hin orientiert denkt.11 Roth hat in seinen Überlegungen zur ästhetischen Struktur und Bedeutung des ›Dissolve‹ die Figur des »VomEnde-her-Sehens«12 bei Ignatius von Loyola aufgegriffen und so als Strukturen des Erzählens der Literatur und des Films entwickelt: »Deshalb: Vom Ende her sehen – das hilft bei der Suche. Es muß dem Leser, der die ausgearbeitete Geschichte dann liest, gar nicht mitgeteilt werden, daß alles vom Ende her gesehen wurde. Etwas davon teilt sich ihm ohnehin mit. Er wird sich wundern, warum alles Sehen im Erzählten etwas vom Letzten-Sehen oder Zum-letzten-Mal-Sehen hat, jene Abschieds- oder Ankunftsfarbe geringster Details oder Gesten, die sich nicht weg­ erklären läßt.«13 9

Ebd. , S. 51 f. Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.2, Frankfurt a. M. 1991, S. 438–465, hier S. 452. 11 Ebd. , S. 448. 12 Roth, Ins Tal der Schatten, S. 73. 13 Ebd. , S. 76. 10

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Der Dissolve ist also nicht nur ein filmisches Mittel, sondern er soll Welt und Verstehen vom Ende her erschließen. Er hat eine Qualität geschichtlicher Verkörperung, soll also Erzählen überhaupt organisieren, formen und ge­ stalten, und könnte mithin die Medialität des Erzählens selbst sein.14 Das wird noch deutlicher, wenn man sich einen literarischen Dissolve Roths einmal näher ansieht. Es handelt sich um die Erzählung »Die Nacht der Zeitlosen« aus dem gleichnamigen Erzählband. Roth lässt hier sein Erzählen mit einem Dissolve beginnen: »Das Hell-Dunkel wechselnder Szenen erinnerte mich daran, daß ich als Kind manchmal die Kinokarten einem Freund übergeben hatte, der mich dann  – ich schloß die Augen, bevor wir ins Dunkel des Kinosaals eintauchten – zu meinem Sitz führen mußte. Ich ließ die Augen geschlossen, bis die Vorstellung begann, und verstärkte dadurch den mir angenehmen Eindruck, der Film gehöre zur selben Wirklichkeit und sei durch nichts als einen einzigen verlangsamten Wimpernschlag von mir getrennt.«15

Die Erzählung Roths  – übrigens zudem mehrfach ineinandergeschachtelt – handelt nun im Folgenden davon, wie eine Filmschauspielerin, die in ­Oliver Stones »JFK« Jackie Kennedy spielen soll, im Moment der Attentats­szene aus ihrer Rolle fällt und ihren Mann und Präsidenten vor dem Attentat schützen will. Genauer gesagt, und das sagt sie selbst auch, fällt sie nicht aus der Rolle, sondern tut, im Wissen um die Geschichte, das einzig richtige: Sie versucht in diese einzugreifen, das Geschehen zu verhindern oder ungesche­ hen zu machen. Ihr Gedächtnis kämpft gegen die Geschichte und auch ihre Traumata an. Die Schauspielerin beschreibt dies so: »Und da, als ich das dachte, mischte sich, so unglaublich schmerzhaft, daß es mir fast die Sinne raubte, das Vorwissen ein, dass er jetzt jeden Augenblick sterben würde und daß ich… die einmalige Chance hätte, was geschehen war, zu verhindern. Die einmalige Chance. Kennst du das nicht? Du erzählst etwas nach, und bevor das Grauen sich noch ereignet, in deiner Erzählung, deinem Nach-Erzählen wieder-ereignet, sucht dein Hirn den Sätzen, die du sprechen sollst, zu entkommen, sucht Auswege überall, überallhin, sucht zu verhindern, was geschehen war, sucht ungeschehen zu machen, nein: nicht geschehen zu lassen, was einst geschehen war und du nun wiedererzählen, wieder-geschehen-machen sollst. In diesem Augenblick, mitten während der Aufnahme also, riß ich ihn zu mir her und herab, damit es nicht geschehen konnte.«16

Erzählen, Wiedererzählen, Wiedererinnern, Wiedervergegenwärtigen sind damit alle nur verschiedene Aspekte des Moments des Dissolves, wie wir ihn 14

Solche Prozesse bestimme ich noch ausführlicher und detaillierter in Lothar van Laak, Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts: Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier, München 2009. 15 Patrick Roth, Die Nacht der Zeitlosen, Frankfurt a. M. 2001, S. 93 f. 16 Ebd. , S. 117.

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vom Film kennen, wie sich in ihm Realitätsebenen und Erzählstränge über­ lagern oder verdichten. Das ist aber nur eine der Pointen dieser Erzählung, die hier Roths poe­ tologische Konzeption illustriert. Einige Seiten zuvor tut er selbst das, was ihm als Kind auch immer eigentümlich war, die Realitäts- und die Fiktionsebene nur durch »einen einzigen verlangsamten Wimpernschlag« ineinander zu sehen. Denn, wenn er nun die Schauspieler zuerst leibhaft vor sich sieht, beschreibt er den Eindruck des Wagens so, wie wenn dieser gerade im Film an ihm vorbeiführe: »Ein, zwei Atemzüge war es, als sei ihre Bewegung ein Ansatz zum Winken gewesen, und als bewegte nicht ich mich auf sie zu, sondern als sei sie es, die auf mich zugetragen würde, gemessen-sanft herangetragen, wie im gläsernen Wagen, nicht mir, sondern der Menge zuwinkend.«17

Die jetzt von ihm gesehene Schauspielerin ist in der literarischen Darstellung, die »Damals und Jetzt zu montieren«18 versucht, für ihn plötzlich die filmische Verkörperung Jackie Kennedys: Er erzählt, wie er sie sieht, und wie er sie sieht, ist es die ästhetische Realisation eines Dissolves, durch den sie für ihn das wird, was er sieht. Beide Frauen werden überblendet, als eine identifiziert. Diese Stellen aus der »Nacht der Zeitlosen« lassen die Parallelen zu den poetologischen Überlegungen in der zweiten und fünften »Frankfurter Poe­ tikvorlesung« sehen. Die zweite agiert den Dissolve als Erzählphänomen an und mit Joyce aus, die fünfte widmet sich dem gleichen Problem, das die Schauspielerin der Jackie hat, will doch auch der »Fremde Reiter« in der gleichnamigen Erzählung versuchen, die Geschichte des Amerikanischen Bürgerkriegs anders zu erinnern bzw. kontrafaktisch zu reinszenieren. Kann mithin, so eine von diesen Erzählungen angeregte Überlegung, individuelle in kollektive Erinnerung umgearbeitet werden? Kann eine neue Erinnerung gestiftet werden? Die Dissolves sind Einblicke in die Geschichte (das Attentat auf Kennedy, der Amerikanische Bürgerkrieg). Die Dissolves sind auch Aufblicke auf eine ›andere‹ Geschichte, die das Geschehen von Geschichte transformieren kann. Insofern ist der doppelt verfremdete Subtext des letzten Abendmahls als zitiertes Einsetzungs- und Erinnerungsmahl in der Erzählung »Der fremde Reiter« auch eine Auseinandersetzung mit der kulturellen, religiösen Tradition, den christlichen Bildern und ihrer kollektiven Tiefendimension, eine Befragung des Geschehens als Heilsgeschehen. 17 18

Ebd. , S. 96. Ebd. , S. 114.

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III. Damit komme ich zurück auf die drei Fragen der Medialität des Gedächtnis­ paragone, wie sie im ersten Abschnitt formuliert worden sind: Erstens, welches Medium kann Erinnerung besser gestalten? Wie können zweitens in einem Medium intermediale Wettstreite ausgetragen werden und mit welchen Konsequenzen für die verwendeten und thematisierten (anderen) Medien und Formen geschieht dies? Drittens, und das bezieht sich auf das Paragonali­sieren des Gedächtnisses oder der Erinnerung: Was sind die kulturellen Bedingungen der Möglichkeit des so aufgefassten, so ausgetragenen und gestal­teten ästhetischen Paragone? Inwiefern konturiert er Erinnerungsgeschehen und Geschichtsverstehen? Diese Fragen will ich nun im Blick auf Roths Text »Lost in Your Shadow« diskutieren. Dieser fiktive Tagebuchauszug trägt den Untertitel »Aus dem Tagebuch eines Filmbesessenen«, 1995 in der ersten Fassung noch »Ein Tag aus dem Leben eines Cineasten«. Der Schluss des Textes wendet sich Orson Welles’ Film »The Magnificent Ambersons« zu, den Roth auch als Motto und zu Beginn seiner zweiten »Frankfurter Poetikvorlesung« zitiert. In diesem »Tagebuch« beschreibt er einen Abend, an denen Pike Turpin ihnen einen unbekannten Ausschnitt aus diesem Welles-Film vorführt: »Pike hat nicht nur geschnitten, nicht nur kopiert, nicht nur entwickelt. Er hat vor allem aufgehoben. Alles aufgehoben. All die Szenen, die schon immer für verloren galten. Pike weist uns die alten Studiosessel an. Er sagt nicht viel. ›Got somethin’ for ya‹, sagt er. ›It’s short, but it’s a honey. Only print there is.‹ Er habe den Streifen neulich in seinem Archiv gefunden. Es handle sich nur um eine Szene, in einem langen Take gedreht.«19

Wir haben hier den wortkargen 84jährigen Schnittmeister vor uns, der als Archivar und Nutzer eines kulturellen Gedächtnisses des Films fungiert. Er ist auch der große ›Aufheber‹,20 eine Todes-Allegorie, wie sie viele von Roths Texten durchziehen. Pike – der Name lässt die Pike des Totengräbers anklingen – beginnt die Vorführung, »knipst das Licht aus und verzieht sich. Dann fährt er den Film ab.«21 Wenn die Szene zu Ende ist, »sitzen« die drei Zuschauer »verloren im Dunkeln. We wouldn’t have it any other way.« Von oben hört man den Re­ gen aufs Dach des Projektionsraums fallen. Nach einer Weile sagt Pike, oh­ne Licht anzumachen: »Let’s go.«22 19

Patrick Roth, Lost in Your Shadow, in: Ders., Riding with Mary. 10mal Sehnsucht, Frankfurt a. M. 2003, S. 321–337, hier S. 332 (Herv. im Orig.). 20 Eine Figur, die dem großen Überschreiter in der Eingangserzählung in »Starlite Ter­ race« entspricht; vgl. Patrick Roth, Starlite Terrace, Frankfurt a. M. 2004, S. 48 f. 21 Roth, Lost in Your Shadow, S. 333. 22 Ebd. , S. 337.

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Die Beschreibung der Szene, die zwischen Beginn und Ende der Vorführung liegt, besteht aus zwei Teilen. Zuerst wird die mutmaßlich davor liegen­ de Szene beschrieben23 und die neu gefundene und nun vorgeführte Szene von dieser her in den Film eingeordnet. Dann folgt die eigentliche Beschreibung der herausgeschnittenen Szene; sie spielt am Rand einer Grube, die schließlich als Grab der Mutter zu erkennen ist. Beide, die bekannte und die imaginierte Szene, werden selbst mit einer Dissolve-Struktur verbunden, die die literarische Film-Ekphrasis und die imaginierte neue Filmszene gleicher­ maßen betreffen: »Das ist nicht die Szene, die uns Pike heute zeigt, aber sie klingt noch nach für die, die wissen, wohin das Verlorene gehört. Was Pike jetzt für uns projiziert, ist eine Szene, die geschnitten und angeblich verbrannt worden war. Die Szene, die jener gerade geschilderten ursprünglich folgen sollte. Im Drehbuch ist sie nicht einmal verzeichnet und stellt wohl eine Variation dar, die sich in einen unbekannten welles’schen ›subplot‹ hätte fügen sollen.«24

Die Dissolve-Struktur ist hier bezeichnet als »Nachklang« der vertrauten Szene. Und die neue Szene, die schließlich in einem »langsame[n] ›fade to black‹« endet,25 klingt ebenfalls – ›vom Ende her gesehen‹ – in einem Dissolve aus: Denn der Regen auf dem Dach des Projektionsraums, in dem die Zuschauer später verloren sitzen, lässt auch den Anfang dieser weggeschnittenen Szene nachklingen. Diese beginnt ja so: »Jedenfalls sehen wir  – es ist Nacht, es regnet in Strömen  –, sehen wir von außen: die schon etwas verwahrloste Amberson Mansion.«26 Syntaktisch wird hier zum einen durch die Wiederholungsstruktur und zum anderen durch das nachgestellte Satzobjekt eine Bildstruktur ausgedrückt. Das zweifache »sehen« rahmt und der Doppelpunkt exponiert dieses Gerahmte, wir sehen es »von außen«, wie ein Bild. Der Vorgang des Sehens wird im nächsten Satz noch einmal hervorgehoben und zieht dann in die Beschreibung der Szene hinein. In der Beschreibung werden im Folgenden immer wieder die Kamera und ihre Position bzw. Perspektive selbst thematisiert; ihr wird sozusagen ein episches Moment zugeordnet, indem sie expliziert wird: »Die Kamera fährt, noch während sich Holt in der Grube aufrichtet, schräg von oben herab auf ihn zu, erreicht ihn, der jetzt wieder steht und weiter vorangeht, und bleibt dem jungen Mann nur einige Schritte voraus. Jetzt sinkt sie tiefer, die Kamera, unter Augenhöhe, dabei immer gleitend, vorausgleitend ihm, Holt voraus, der etwas fixiert, das wir nicht sehen können. Holt watet durch den Grubenschlamm. Die Kamera taucht 23

25 26 24

Ebd. , S. 333. Ebd. , S. 333 f. Ebd. , S. 337. Ebd. , S. 334.

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unter Hüfthöhe, Holt stets im Bild haltend, aber so, dass im fernen Hintergrund jetzt, oben am Rand der Grube, Collins wieder sichtbar wird. Die Kamera sinkt noch tiefer, Zentimeter nur überm Grubenrand hinfahrend, sieht zu Holt auf, einem Riesen, der Collins oben am fernen Grubenrand nun noch kleiner erscheinen lässt.«27

Als ekphrastisch oder drehbuchartig lässt sich dieser Stil beschreiben, wobei die literarische Sprache sich soweit an die Darstellungsweisen des Films annähert, dass sie sich das Bild selbst semantisch anverwandelt. Tatsächlich ist Holt ja kein Riese, nur durch die Bildperspektive in Vorder- und Hintergrund sieht er riesenhaft aus. Der Text aber lässt ihn nicht nur als Riesen erscheinen, sondern macht ihn zu einem Riesen. Diese literarische Strategie der Vergegenwärtigung und Überhöhung28 spitzt sich am Schluss der Beschreibung der Sequenz noch zu, die durch Kurzsätze, unvollständige Sätze, viele Absätze, die teilweise sogar den Charakter von Enjambements haben, und semantische und syntaktische Wieder­ holungsstrukturen eine Intensivierung und Verlangsamung bewirken. Dies gipfelt darin, dass die Kamera zum Auge wird, das Sehen ganz in der Kamera aufgeht: »Da beugt-bewegt sich die Kamera nochmals hinab. Ein letzter Schwenk nach unten, ein Nachstieren mit dem Auge, an Händen und Schädel vorbei. Und zeigt uns, vor Holts Knien im Schlamm: Das zerfressene, schwarzseidene Bruchstück eines Damen­ fächers. Der – wissen wir – Holts Mutter einst gehörte. Langsamer ›fade to black‹.«29

Das beschriebene Sehen verdichtet sich so zu einem Erkennen im Bild. Es hat fast den Charakter einer Schau des Seins (oder der Ideen). Diese Struktur, die in der Verlangsamung und Stillstellung endet, ähnelt dem Bild des zu überquerenden Parkplatzes am Ende der zweiten »Frankfurter Poetikvor­ lesung«. Es ist ein Eintauchen und Vorwegnehmen des Todes. Es ist der letzte Dissolve«.30 Es ist das Bewusstwerden vom Unterlegtsein allen Lebens durch den Tod. Auch in »Lost in Your Shadow« also wird vom Tod, vom Ende her ge­ sehen, die Sequenz hat etwas vom Letzten-Mal-Sehen. Und das ist für Roth auch ein Erstes-Mal-Sehen. Es ist, so lässt sich zuspitzen, ein déja-vu, in dem Sinn, dass in diesem So-Sehen die Erinnerung überhaupt erst erzeugt wird und der Mensch das Gedächtnis seiner selbst gewinnen kann. Damit nun liegen Antworten auf die drei formulierten Fragen vor: Erstens ist es der Film, die besondere Qualität des Dissolves als Verfahren, das Erin­ 27

Ebd. , S. 335. Ausführlicher ist dieses Verfahren Roths analysiert in van Laak, Jenseits der Lesbarkeit. 29 Roth, Lost in Your Shadow, S. 337. 30 Roth, Ins Tal der Schatten, S. 76.

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nerungsstrukturen zur Darstellung bringt. Es bedarf aber der Literatur und der literarisch gestalteten Imagination, um dieser Qualität habhaft werden zu können. Die Literatur eignet sich das filmische Verfahren an, um diese Erin­ nerungsstrukturen auf- und nachzubauen, auszudrücken und zu entfalten. Als filmische Literatur kann Literatur den Film übertreffen. Es ist auch hier eine fast klassische Paragone-Struktur der Unnachahmlichkeit durch Nachahmung – man könnte auch sagen, eine aemulatio-Struktur literarisch-filmi­ scher Mimesis. Zweitens wird dieser Paragone bei Roth in der Literatur ausgetragen. Der Film wird literarisiert, die Literatur medialisiert und visualisiert. Beide Medien und ihre Formen werden offen zu einander, die Prosa wird allegorisch und bildhaft,31 die Bilder des Films werden in die Schichtungen des Erzählens überführt. Mit Benjamins Auffassung des Epischen im »Erzähler«Essay, um diesen Gedanken noch einmal aufzugreifen, wird auch der Film als ein »langsame[s] Einander-Überdecken dünner und transparenter Schichten« bestimmt und als die »Art und Weise […], in der die vollkommene Erzählung aus der Schichtung vielfacher Nacherzählungen an den Tag tritt.«32 Der Film wird zum Erzählmedium, wobei »alles Sehen im Erzählten etwas vom Letzten-Sehen oder Zum-letzten-Mal-Sehen hat, jene Abschiedsoder Ankunftsfarbe geringster Details oder Gesten, die sich nicht wegerklären läßt.«33 Im Erzählen heben sich die mediale Differenzen des Paragone also auf, im Erzählen liegt, wie bei Benjamin, ein auratisches Wissen von weit her, das auch Rat weiß, »wie eine ›heile und gute Wahl zu treffen sei‹.«34 Es ist dabei aber auch ein Ende des Erzählens selbst, des Erzählen-Wollens sogar: »Jetzt stand ich am Ende aller Geschichten, meiner Geschichte, und stellte mir vor: Was könnte noch wichtig sein? Sicher keine Geschichte.«35 Allerdings: Die Vorstellungskraft, die aktive Imagination und das, was »sich nicht wegerklären läßt«,36 das Ir-Reale, das Unbewusste, das Begehren, die sich in den Bildern und im Sehen, der Bewusstmachung dieser Traumbilder, ausdrücken – dies bleibt. Die Antwort auf die dritte Frage ist damit nach Roths Deutung das kul­ turelle Imaginäre, das Unbewusste der kollektiven Symbolik. Es wird im 31

Hubert Winkels hebt in seiner Rezension von »Starlite Terrace« den allegorischen Charakter von Roths Erzählen hervor; vgl. Hubert Winkels, Auf dem Sternenross. Warum gelingt es Patrick Roth, uns so himmlisch zu verzaubern? Eine Antwort, ja ein begeisterter Hinweis auf seinen neuen Erzählungsband »Starlite Terrace«, in: Die Zeit Nr. 41, 30. September 2004, S. 53. 32 Benjamin, Der Erzähler, S. 452. 33 Roth, Ins Tal der Schatten, S. 76. 34 Ebd. , S. 72 (Roth zitiert aus Ignatius von Loyolas »Geistlichen Übungen«). 35 Ebd. , S. 73. 36 Ebd. , S. 76.

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Widerspiel der Bilder von Literatur und Film in einer Weise entfaltet, dass literarisch, d. h. poietisch und anamnetisch, Erinnerung erzeugt wird. Diese Erinnerung ist eine Tiefen-Erinnerung, in der die kollektiven Traumbilder des Unbewussten subjektiv und intersubjektiv erinnerlich gemacht werden. Es ist die Einsicht in das Heil und das Unheil der Geschichte. Dieser Erinnerungsprozess aber, das weiß und sagt auch Roth, überwältigt uns: Das Unbewusste hat für ihn die Qualität des Imaginären; es ist bisweilen aber auch numinos, wobei wir auch deshalb einen Schauder empfinden, weil das Böse nicht ausgeschlossen ist. So endet seine Poetik an diesem Punkt konsequenterweise in der Ethik. Handeln in der Geschichte und an ihrer Deutung bedürfen der Arbeit am kollektiven Imaginären, am kulturellen Gedächtnis. Unsere individuelle Re­ flexion dessen wiederum, was Gedächtnis und Erinnerung leisten, leisten können, aber auch mit uns geschehen lassen, verweist auf die Vorläufigkeit, die Flüchtigkeit, die Endlichkeit des Menschen. Daraus entsteht eine poeto­ logisch-literarische Ethik der Bescheidung, die zugleich den Anspruch erhebt, einen (neuen) Anfang zu bilden: »Mit dem Wissen vom Bösen leben, sich am Guten bescheiden: No fiction. Und so bin ich jetzt genau dort, wo ich am Ende sein sollte: wieder am Anfang. Ich danke Ihnen, daß sie mir so weit gefolgt sind.«37

Es ist der Anfang von Erinnerung, wie sie sich dem Paragone verdankt.

37

Ebd. , S. 170.

Autorinnen und Autoren

Prof. em. Dr. Jörg Jochen Berns, geboren 1938, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Frankfurt a. M. , Freiburg i. Br. und Marburg, 1964 Promotion, 1972 Habilitation, von 1972 bis 2001 Professur am Institut für Neuere Deutsche Literatur & Medien der Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Hofkultur, Geschichte der Mnemonik, Verhältnis von Technologie und Ästhetik in der Frühen Neuzeit. Neuere Veröffentlichungen: Die Herkunft des Automobils aus ­Himmelstrionfo und Höllenmaschine, Berlin 1996; Das enzyklopädische Gedächtnis der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998; mit Wolfgang Neuber, Seelenmaschinen, Wien 2000; Film vor dem Film, Marburg 2000; Gedächtnislehren und Gedächtniskünste in Antike und Frühmittelalter, Tübingen 2003; Himmelsmaschinen /  Höllenmaschinen. Zur Technologie der Ewigkeit, Berlin 2007. Dr. Ursula Bittrich, studierte Griechisch, Latein und Germanistik an den Universitäten Bonn und Oxford, von 2006 bis 2009 wissenschaftliche Mit­ arbeiterin im SFB »Erinnerungskulturen« und am Seminar für Klassische Philologie der Justus-Liebig-Universität Gießen, seit September 2009 Visiting Scho­lar am »Department of Greek and Latin« der Ohio State University in Co­lumbus, Ohio. Forschungsschwerpunkte: Griechische Tragödie, Traum und Traumdeutung in der Antike, Rhetorik und Religiosität in der frühen Kaiserzeit. Wichtigste Veröffentlichungen: Aphrodite und Eros in der antiken Tragödie. Mit Betrachtungen zu motivgeschichtlich verwandten Dichtungen, Berlin  /  New York 2005; Der Mensch der griechischen Tragödie im Angesicht von Tod und Götterwelt, in: Ludger Jansen  /  Christoph Jedan (Hg.), Philosophische Anthropologie in der Antike (Themen der antiken Philosophie  3), Frankfurt a. M. / Lancaster 2009 (im Druck); The caring gods: Daphnis and Chloe as an example of pronoia literature, in: Ancient Narrative (im Er­ scheinen). Prof. Dr. Hartmut Böhme, geboren 1944, studierte Germanistik, Philo­sophie, Evangelische Theologie und Pädagogik, ab 1977 Professor für Neuere Deut­ sche Literatur an der Universität Hamburg, von 1990 bis 1992 Fellow am Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, seit 1993 Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin,

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Autorinnen und Autoren

Projektleiter im SFB 447 »Kulturen des Performativen«, seit 2005 Sprecher des SFB 644 »Transformationen der Antike«. Forschungsschwerpunkte: Arbeitsschwerpunkte: Kulturgeschichte seit der Antike; Kulturtheorie; Natur- und Technikgeschichte in den Überschneidungsfeldern von Philosophie, Kunst und Literatur, Historische Anthro­ pologie, Literaturgeschichte des 18. und 20. Jh.s. Neuere Veröffentlichungen: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006; Auswahl u. Nachwort mit Yvonne Ehrenspeck, Walter Benjamin, Aura und Reflexion. Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik, Frankfurt a.M 2007; Hg. mit Peter Matussek u. Lothar Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 32007; Hg. mit Christof Rapp u. Wolfgang Rösler, Übersetzung und Transformation, Berlin / New York 2007; Hg., Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart 2005. Dr. Scott Budzynski, geboren 1972, studierte Kunstgeschichte, Kunst­kritik und Philosophie an der Stony Brook University New York, von 2006 bis 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB »Erinnerungskulturen« an der Justus-Liebig-Universität Gießen, seit 2008 am Kunsthistorischen Institut ebenda. Forschungsschwerpunkte: Moderne und zeitgenössische Kunst und Architektur, Stadtforschung, Kulturkritik, Objektbeziehungstheorie. Wichtigste Veröffentlichungen: Self-Representation in German Art: Culture and the Subject of Narcissism in Images of the Self, Saarbrücken 2008; Narcissism and Memory: Reflections on Slater Bradley, in: Christoph Jacke  /  Martin Zierold (Hg.), Populäre Kultur und soziales Gedächtnis: theoretische und exemplarische Überlegungen zur dauervergesslichen Erinnerungs­ maschine Pop, Frankfurt a. M. 2008, S.  299–307; Doppelgänger: Kirchner’s Self-Self-Object Relationship, in: Laurie Schneider Adams (Hg.), Source: Notes on The History of Art Vol. XXVII No.s 2/3 (für die Ausgabe »Art and Psychoanalysis«), New York, Winter/Spring 2008, S. 18–24. Prof. Dr. Wolfgang Ernst, geboren 1959, studierte Geschichte, Klassische Archäologie und Altphilologie (Latein) an den Universitäten zu Köln, London (King’s College) und Bochum, wurde mit einem museumshistorischen The­ ma promoviert, Habilitation über deutsche Gedächtnisagenturen im 19. und 20. Jh., von 1995 bis 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien (Köln), zwischen 1997 und 2003 diverse medienwissenschaftliche Vertretungsprofessuren u. a. in Weimar, Bochum, Paderborn, seit 2003 Professor für Medientheorien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktueller Forschungsschwerpunkt: Zeitweisen hochtechnischer Medien und me­dienarchäologische Definitionen des »Sonischen«.

Autorinnen und Autoren

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Neuere Veröffentlichungen: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts), Berlin 2007; »Im Reich von Δt. Medienprozesse als Spielfeld sonischer Zeit«, in: Holger Schulze (Hg.), Sound Studies. Traditionen  – Methoden  – Desiderate. Eine Einführung, Bielefeld 2008, S.  125–142; »Die Frage nach dem Zeitkritischen«, in: Axel Volmar (Hg.), Zeitkritische Medien, Berlin 2009, S. 27–44. Dr. Sabine Heiser, studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Religionswissenschaft an der FU Berlin, von 1994 bis 2002 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach »Kulturwissenschaftliche Anthropologie« an der Universität Paderborn, anschließend bis 2008 des Instituts für Kunstgeschichte und des SFB »Erinnerungskulturen« an der Justus-Liebig-Universi­tät Gießen, Vertretungsprofessur an der Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig (2007/2008), seit März 2009 Lehrstuhlvertretung an der TU Darmstadt im Fachgebiet Kunstgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Kunst- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Text-Bildbeziehungen, Gedächtnis und Erinnerung. Wichtigste Veröffentlichungen: Das Frühwerk Lucas Cranachs des Älteren. Wien um 1500 – Dresden um 1900, Berlin 2002 (Neue Forschungen zur deutschen Kunst; VI.); Fragment, Interieur und Tod – Menzels Erinnerungspanorama im Atelier, in: Jenns E. Howoldt (Hg.), Adolph Menzel und Lois Renner. Das Künstleratelier, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle anläßl. des 80. Geburtstages v. Werner Hofmann, Hamburg 2008, S. 10–37; Geschmacksfragen – Rauminszenierungen zwischen Historismus und Renaissancismus: Sigmund Freuds Behandlungszimmer – das Palais Pringsheim in München – Stiegenhaus des Kunsthistorischen Museums in Wien, in: Hannes Böhringer /  Arne Zerbst (Hg.), Die tätowierte Wand. Gespräche über Historismus in Königslutter, München 2009, S. 223–251. Dr. Christiane Holm, geboren 1969, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Kunstpädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen, von 1997 bis Februar 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Neuere deutsche Literatur und des SFB »Erinnerungskulturen« ebenda, anschließend Wissenschaftliche Assistentin des Geschäftsführenden Direktors des Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) an der MLU Halle-Wittenberg, seit Juli 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des BMBF-Projektes »Sinnlichkeit  – Materialität  – Anschauung« an der Klassik Stiftung Weimar. Daneben Kuratorin verschiedener Ausstellungen z. B. zum Souvenir (Museum für Angewandte Kunst Frankfurt M., ACC Galerie ­Weimar) oder zum Tagebuch (Museen für Kommunikation Frankfurt, ­Berlin, Nürnberg).

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Autorinnen und Autoren

Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Kunst- und Kulturgeschichte vom 18. bis 20. Jh., Text-Bildbeziehungen, Dingkultur, Gedächtnis- und Erinnerung. Wichtigste Veröffentlichungen: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765–1840), München 2006 (Kunstwissenschaftliche Studien; 130); Hg. mit Bettina Bannasch, Erinnern und Erzählen. Der Spanische Bürgerkrieg in der deutschen und spanischen Literatur und in den Bildmedien, Tübingen 2005; Montag: Ich. Dienstag: Ich. Mittwoch: Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: Dies. u. a. (Hg.), Absolut privat?! Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008 (Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation; 26), S. 12–44. Prof. Dr. Walburga Hülk-Althoff, studierte Romanistik (Französisch/Spanisch) und Germanistik in Münster, Orléans und Freiburg, Lehrtätigkeiten an den Universitäten Freiburg, Gießen, Berkeley, Siegen, 2008 Forschungsprofessur FMSH, Paris, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft (Französisch, Italienisch) an der Universität Siegen, von 2002 bis 2009 Leiterin des DFG-Projekts »Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde«, ab 2010 mit Georg Stanitzek »Leiterin des DFG-Projekts Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen zwischen Massenmedialität und Marginalität«. Forschungsschwerpunkte: Literarische Anthropologie, Medienästhetik, Begriffs-und Wissenschaftsgeschichte, Soziologie der Literatur. Wichtigste Veröffentlichungen: Als die Helden Opfer wurden. Grundlagen und Funktion gesellschaftlicher Ordnungsmodelle in den Feuilletonromanen »Les mystères de Paris« und »Le juif errant« von Eugène Sue (Diss. Freiburg), Tübingen 1999; Schrift-Spuren von Subjektivität. Lektüren literarischer Texte des französischen Mittelalters (Habil. Gießen), Tübingen 1999; zahlreiche Herausgeberschaften und Aufsätze, u. a. zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust, zu Gedächtnis und zu Avantgarden. Prof. Dr. Joachim Jacob, geboren 1965, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Heidelberg, Frankfurt a. M. und Konstanz, von 2006 bis 2009 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg, seit April 2009 Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte vom 18.–20. Jh., Literarische Ästhetik und Hermeneutik, Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Philosophie und Theologie. Wichtigste Veröffentlichungen: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997; Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense, Tübingen

Autorinnen und Autoren

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2007; Hg. mit Günter Butzer, Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart / Weimar 2008. Dr. Alma-Elisa Kittner, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literaturwissenschaft in München, Bochum und Rom, von 2000 bis 2003 Stipendiatin am GK »Körper-Inszenierungen«, danach Koordinatorin und Postdoktorandin ebendort und am GK »InterArtStudies« an der FU Berlin, seit 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Kunstwissenschaft der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Forschungsschwerpunkte: Moderne und zeitgenössische Kunst, Barock und Moderne, Reise- und Tourismusforschung, visuelle Autobiographien, Gender Studies. Wichtigste Veröffentlichungen: Visuelle Autobiographien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, Bielefeld 2009; Hg. mit Alexandra Karentzos u. Julia Reuter, Topologien des Reisens. Tourismus, Migration, Imagination (im Erscheinen); Mitherausgeberin der kunst- und kulturwissenschaftlichen Zeitschrift »Querformat. Zeitgenös­ sisches, Kunst, Populärkultur«. Prof. Dr. Joachim Knape, geboren 1950, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und katholische Theologie in Göttingen, Regensburg und ­Bamberg, seit 1991 Rhetorikprofessor an der Universität Tübingen, von 2004 bis 2009 Dekan der Tübinger Neuphilologischen Fakultät, Direktor des Seminars für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen, Vertrauensdozent der Stu­ dienstiftung. Forschungsschwerpunkte: Rhetoriktheorie, deutsche Rhetorikgeschichte, Geschichte der älteren deutschen Sprache und Literatur, Renaissance-Humanismus und Ästhetiktheorie. Wichtigste Veröffentlichungen: Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000; Hg. mit Thomas Schirren, Aristotelische Rhetoriktradition, Stuttgart 2005; Hg., Medienrhetorik, Tübingen 2005; Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300–1700, Wiesbaden 2006; Hg. , Bildrhetorik, Baden-Baden 2007; Hg. mit Ulla Fix u. Andreas Gardt, Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein in­ ternationales Handbuch historischer und systematischer Forschung/An in­ ternational Handbook of historical and systematic research, 2. Bd./Vols.  2, Berlin / New York 2008/09; Hg. der Buchreihen »Gratia. Tübinger Schriften zur Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft« (Harrassowitz-Ver­ lag Wiesbaden) und »Neue Rhetorik« (Weidler-Verlag Berlin); Dr. Martin Miersch, studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Germanistik in Kiel, Würzburg und Bonn, 2002 Promotion, von 2004 bis

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Autorinnen und Autoren

2005 Volontariat bei der Bayerischen Schlösserverwaltung, Mitarbeit an der Ausstellung »Die Schlacht von Höchstädt  – Brennpunkt Europas 1704«, 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr in ­München, 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeit im SFB »Erinnerungskulturen« an der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2008 Kurator der Ausstellung »H. P. Schreiberhuber – Gemälde« im Schlossmuseum Steyr (Österreich), seit 2008 Mitarbeiter des DFG-Projektes »Lexikon der Revolutionsikonographie in der europäischen Bildpublizistik (1789–1889)« an der JLU Gießen. Forschungsschwerpunkte: Herrscherikonographie in Zusammenhang mit Porträts des 17. und 18. Jh.s, Geschichte der Buchillustration, Politische Ikonographie des 17. bis 19. Jh.s, Miniaturporträts – Genese und Funktion, Bild­ medien der Französischen Revolution. Wichtigste Veröffentlichungen: Das Bildnis des »Electeur soleil« – Herrscher­ ikonographie des Rokoko am Beispiel des Kölner Kurfürsten Clemens August (1700–1761), Marburg 2007; Revolution und Film – Andrzej ­Wajdas Film »Danton« als vielschichtiges Medium der Revolutionserinnerung, in: Stephanie Wodianka  /  Astrid Erll (Hg.), Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin  /  New York 2008, S.  171–204; David in Deutschland  – bildliche Transformationen an süddeutschen Fürstenhöfen, in: Friederike Kitschen  /  Gitta Ho (Hg.), Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen und ihr europäischer Kontext 1789–1870, Köln 2009. Dr. Joachim Penzel, geboren 1968, studierte Kunstgeschichte und Geschichte in Halle an der Saale, von 1998 bis 2001 freiberuflich tätig als Kurator für die Stiftung Moritzburg Halle – Kunstmuseum Sachsen-Anhalt, ­Bonner Kunstverein, Kunsthaus Grenchen (Ch), Werkleitz Gesellschaft – Zentrum für Künstlerische Bildmedien Sachsen-Anhalt, von 2001 bis 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kunstpädagogik und Kunsterziehung an der Burg Giebichenstein Hochschule für Kunst und Design Halle, 2008 Kurator der Städtischen Galerie Kunstmuseum Dresden, anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Forschungsschwerpunkte: Historische Publikumsforschung, Geschichte der Mu­seumspädagogik, Theorie zeitgenössischer Kunst, kunstpädagogische Fachdidaktik für Grund- und Sekundarschule. Wichtigste Veröffentlichungen: Hg. mit Una H.  Moehrke u. Magdalena ­Drebber, Geometrie der Arbeit. Transfer von Kunst in gesellschaftliche Funktionsbereiche, Bielefeld 2008; Der Betrachter ist im Text. Konversationsund Lesekultur in Gemäldegalerien zwischen 1700 und 1920, Münster 2007; Hg. mit Holger Neumaier, Schöne Arbeit. Zur ökonomischen Situation bildender Kunst, Halle 2006; Hg. mit Johannes Stahl, Giveaways, Ausst.-Kat.

Autorinnen und Autoren

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Artothek im Bonner Kunstverein und Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, Bonn 2002. Prof. Dr. Hans Ulrich Reck, geboren 1953, Philosoph, Kunstwissenschaftler, Publizist, Kurator, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und neuere deutsche Literaturwissenschaft in Tübingen und Kommunikationsdesign bei ­Ba­zon Brock in Wuppertal, 1989 Promotion, 1991 Habilitation/venia ­legendi für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaften, von 1982 bis 1995 Dozenturen in Basel und Zürich, von 1992 bis 1995 Professor und Vorsteher der Lehrkanzel für Kommunikationstheorie an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, seit 1995 Professor für Kunstgeschichte im medialen Kontext an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Philosophie, Kunsttheorie und ‑geschichte, Künste des 20.  Jh.s, Semiotik, Medientheorie, Visuelle Dispositive der Neuzeit, Geschichte und Theorie der Einbildungskräfte. Wichtigste Veröffentlichungen: EIGENSINN DER BILDER. Bildtheorie oder Kunstphilosophie?, München 2007; THE MYTH OF MEDIA ART. The Aesthetics of the Techno/Imaginary and an Art Theory of Virtual Realities, Weimar 2007; zus. mit Bazon Brock, Diskursive Twin Towers/Theorie­turnier der Dioskuren, 2 Bde. (Bd. 1: Utopie und Evidenzkritik, Bd. 2: Tarnen und Täuschen), Hamburg 2009. Prof. Dr. Rolf Reichardt, studierte Geschichte, Romanistik und Politik in Heidelberg, Marburg, Dijon und Paris, 1969 Promotion in Heidelberg, von 1970 bis 2005 Wissenschaftlicher Fachreferent an der Universitätsbibliothek Mainz, seit 1998 Honorarprofessor für Neuere Geschichte an der Justus-­ Liebig-Universität Gießen, von 2002 bis 2008 Mitglied des SFB »Erinnerungskulturen« ebenda, seit 2003 im Leitungsgremium des Gießener GK »Transnationale Medienereignisse«. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Französischen Revolution und ihrer Folgen, Lexikon der Revolutionsikonographie in der europäischen Bildpublizistik 1789–1889, Historische Semantik, Methoden der Bild- und Mentalitätengeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Mit Wolfgang Cilleßen und Christian Deuling, Napoleons neue Kleider: Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar, Berlin 2007 (Staatliche Museen zu Berlin); mit Hubertus Kohle, Vi­sualizing the Revolution: Politics and Pictorial Arts in Late EighteenthCen­tury France, London 2008; L’imagerie révolutionnaire de la Bastille, ­Paris 2009 (Musée Carnavalet Paris). Prof. Dr. Silke Tammen, geboren 1964, studierte Kunstgeschichte, ­Mittlere und Neuere Geschichte und Romanistik in Marburg und Trier, von 1992

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Autorinnen und Autoren

bis 1995 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kunsthistorischen Instituts in Bonn, von 1996 bis 1999 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Kunstgeschichtlichen Seminars in Hamburg, seit 2003 Professorin für Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Mitglied im GK »Transnationale Medienereignisse« und im Direktorium des »Graduate Centre for the Study of Culture« (GCSC) ebenda, Fachvertreterin für Kunstgeschichte im Beirat des Mediävistenverbandes. Forschungsschwerpunkte: Bild-, medien- und wahrnehmungsgeschichtliche Fra­gestellungen; mittelalterliche Buchmalerei; Reliquiare; mittelalterlicher Schmuck; Bildgeschichten des Heiligen Leibes; »Mit Füßen treten: Bilder am Boden«; textile Künste – Medialität und Materialität (Mittelalter bis Gegenwartskunst). Neuere Veröffentlichungen: Begehrenswerte Körper und Schriften: Gibt es eine geschlechtliche Codierung des Buches in der mittelalterlichen Kunst?, in: Susanne von Falkenhausen (Hg.), Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code. Beiträge der 7. Kunsthistorikerinnentagung in Berlin 2002, Marburg 2004, S. 257–272; Die »wollige Unschärfe« der Erinnerung. Via Lewandowskys ›Roter Teppich‹ im Berliner Bundesministerium der Verteidigung, in: Helga Finter (Hg.), Das Reale und die (neuen) Bilder. Denken oder Terror der Bilder, Frankfurt a. M. 2008, S. 109–127; Blick und Wunde – Blick und Form: Zur Deutungsproblematik der Seitenwunde Christi in der spätmittelalterlichen Buchmalerei, in: Kristin Marek u. a. (Hg.), Körper und Bild im Spätmittelalter, München 2006, S. 85–114. PD Dr. Lothar van Laak, geboren 1970, studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik in Gießen, Oxford (St. Hugh’s College) und Tübingen, seit 1996 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an der Fa­ kultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld, 2007 Ernennung zum Akademischen Oberrat auf Zeit und WS 2009/10 Vertretungsprofessur für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft ebenda. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Hermeneutik, Literatur- und Medien­ theorie; Literatur und Religion, Literaturwissenschaft und Ethik; Literatur und Film; Literaturgeschichte vom 17. Jh. bis in die Gegenwart. Wichtigste Veröffentlichungen: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17.  und 18.  Jahrhunderts, ­Tübingen 2003; Hg. mit Susanne Kaul, Ethik des Verstehens. Beiträge zur phi­losophischen und literarischen Hermeneutik, München 2007; Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts: ­Bertolt Brecht  – Uwe Johnson  – Lars von Trier, München 2009; Hg. mit Walter ­Erhart, Wielands Spätwerk: Wissen – Erzählen – Tradition, Berlin 2010.

Abbildungsnachweise

Jörg Jochen Berns S. 156, Abb. 1 Aus: Max Geisberg, The German Single-Leaf Woodcut: 1500–1550, revised and edited by Walter L. Strauss, Vol. II, New York 1974, S. 485. Scott Budzynski S. 252, Abb. 1 Aus: Casabella continuità 232 (Oktober 1959), S. 17. S. 252, Abb. 2 Aus: Domus 379 ( Juni 1961), S. 10. S. 262, Abb. 3 Aus: Casabella continuità 232 (Oktober 1959), Titelblatt. S. 263, Abb. 4 Aus: Casabella continuità 232 (Oktober 1959), Inhaltsverzeichnis. S. 264, Abb. 5 Aus: Domus 379 ( Juni 1961), S. 9. S. 266, Abb. 6 Aus: Domus 379 ( Juni 1961), S. 8. Wolfgang Ernst S. 71, Abb. 1 Archiv des Autors S. 73, Abb. 2 Medienarchäologischer Fundus des Seminars für Medienwissen­schaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

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Abbildungsnachweise

Alma Elisa-Kittner S. 272–281, 284, 285, Abb. 1–3, 5, 6 Sophie Calle (With the participation of Paul Auster), Double Game, London 1999. © Violette Limited, 1999. © Sophie Calle, 1999, © Paul Auster, 1999. S. 282, Abb. 4 Sophie Calle, M’as tu vue? Ausst.-Kat. Centre Pompidou Paris, Martin-Gropius-Bau Berlin, München 2003. © Prestel Verlag, Actes Sud. Joachim Knape S. 84, Abb. 1 Museum der bildenden Künste Leipzig, Inv.Nr. 563. Aus: Edgar Peters Bowron (Hg.), Romantiker Realisten Revolutionäre. Meisterwerke des 19. Jahrhunderts aus dem Museum der bildenden Künste Leipzig, Ausst.-Kat. Leipzig/Houston, 2000/2001, München 2000, S. 163. Martin Miersch S. 172, Abb. 1 Versailles, Musée national du château et des Trianons, Inv. Nr.  MLU-KK 153/058, © Kulturstiftung DessauWörlitz/Bildarchiv, Heinz Fräßdorf . S. 182–184, Abb. 2–7 Sammlung des Autors. Aus: Arnaud Berquin: Pygmalion, scène lyrique, ­Paris 1775, S. 1, 3, 6, 7, 9 und 18. S. 186, Abb. 8 Sankt Petersburg, Eremitage, © Kulturstiftung DessauWörlitz/Bildarchiv, Heinz Fräßdorf. Joachim Penzel S. 220, Abb. 1 Universitäts- und Landesbibliothek Halle. Aus: Gustav Friedrich Waagen, Verzeichnis der Gemälde-Sammlung des Königlichen Museums zu Berlin, Berlin 1830, ausfaltbarer Raumplan am Buchende. S. 223, Abb. 2 Aus: Dominik Bartmann: Eduard Gaertner (1801–1877), Berlin 2001, S. 88.

Abbildungsnachweise

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S. 230, Abb. 3 Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (bpk). Aus: Albert Henry Payne: Berlin und seine Kunstschätze. Die königlichen Museen zu Berlin. Eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der nordeuropäischen Metropole in einer Reihe ausgezeichneter Stahlstiche mit erläuternden Texten, Leipzig/Dresden/New York 1855, o. S. Rolf Reichardt S. 192, Abb. 1 Bibliothèque nationale de France Paris, Dépt. des Estampes, Coll. Hennin Nr. 5628. S. 194, Abb. 2 Musée Carnavalet Paris, Inv.Nr. G.27299. S. 199, Abb. 3 Bibliothèque nationale de France Paris, Dépt. des Estampes, Coll. De Vinck Nr. 3647. S. 200, Abb. 4 Bibliothèque nationale de France Paris, Dépt. des Estampes, Coll. De Vinck Nr. 2072. S. 203, Abb. 5 Bibliothèque nationale de France Paris, Dépt. des Estampes, Coll. De Vinck Nr. 10251. S. 207, Abb. 6 Bibliothèque nationale de France Paris, Dépt. des Estampes, Coll. De Vinck Nr. 10302. S. 211, Abb. 7 Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, Sign. Sq 25/34. S. 201, Musikbeispiel 1 Aus: François-André-Danican Philidor, Le Maréchal ferrant. Opéra-comique. Pièce de [François-Antoine] Quétant, tirée du Decameron de ­Boccace, Paris 1761, S. 72. S. 205, Musikbeispiel 2 Aus: Pierre-Jean de Béranger, Œuvres complètes, Suppl., Paris 1834.

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Abbildungsnachweise

S. 209, Musikbeispiel 3 Aus: Pierre Barbier / France Vernillat, Histoire de France par les chansons, Bd. 6, Paris 1958, S. 178. Melodie des Chansons von Agénor Altaroche, 1833. Silke Tammen S. 135, Abb. 1 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Inv. Nr.  KG 832. Aus: Frank M. Kammel (Hg.), Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter, Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg 2000, S. 296, Nr. 120. S. 135, Abb. 2 Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Inv. Nr. KG 935 1. Aus: Kammel, Spiegel der Seligkeit, S. 298, Nr. 123. S. 139, Abb. 3; S. 140, Abb. 4; S. 142, Abb. 5; S. 143, Abb. 7 British Library, London, Ms. Egerton 1821, © British Library. S. 142, Abb. 6 British Library, London, Ms. Egerton 1821, © British Library. Aus: Peter Parshall / Rainer Schoch (Hg.), Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2005, S. 186. S. 147, Abb. 8 Ashmolean Museum, Oxford, Inv. Nr. AN 1940.224. Aus: Martin Henig /  Diana Scarisbrick, Finger rings: from ancient to modern (Ashmolean Handbooks), Oxford 2003, Tafel 11.