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German Pages 356 Year 2012
Heidrun Kämper Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er Jahre
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
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De Gruyter
Heidrun Kämper
Aspekte des Demokratiediskurses der späten 1960er Jahre Konstellationen – Kontexte – Konzepte
De Gruyter
ISBN 978-3-11-026342-8 e-ISBN 978-3-11-026343-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Kritische Theorie. – Immer fragen sie gleich, was man nun tun soll, sie fordern es von der Philosophie, als ob sie eine Sekte wäre. Sie sind in Not und wollen praktische Anweisung. Wenngleich aber Philosophie die Welt in Begriffen darstellt, entspricht sie doch darin der Kunst, daß sie nach innerer Notwendigkeit – ohne, daß Absicht dazwischen tritt, eben – der Welt den Spiegel vorhält. Sie hat – das ist wahr – eine engere Beziehung zur Praxis als die Kunst, sie spricht nicht bildlich, sondern im wörtlichen Sinn. Ein Imperativ aber ist sie nicht. Ausrufungszeichen liegen ihr fern. Sie hat die Theologie abgelöst, aber keinen neuen Himmel gefunden, auf den sie weisen kann, nicht einmal einen irdischen Himmel. Aus dem Sinn schlagen kann sie ihn freilich nicht, und darum wird sie immer nach dem Weg gefragt, der hinführt. Als ob es nicht gerade ihre Entdeckung wäre, daß der Himmel, zu dem man den Weg weisen kann, keiner ist. (Horkheimer, Notizen 1957–1958, 61)
Zehn Jahre, bevor die studentischen Proteste für einen kurzen Moment den öffentlichen Diskurs bestimmten, benennt Max Horkheimer eines der grundlegenden Missverständnisse, das auszuräumen er, Theodor Adorno und Jürgen Habermas in der Auseinandersetzung mit der studentischen Linken wieder und wieder gezwungen werden. Der Diskurs der intellektuellen Linken mit den protestbereiten kritischen Studenten ist am Ende auf die Kontroverse eines, aus Sicht der linken Studenten fehlenden, Praxisbezugs der ansonsten von ihnen durchaus approbierten Kritischen Theorie zurückzuführen. Aus dieser Kontroverse leitet sich die Struktur des hier rekonstruierten Diskurses ab: Die Selbstsicht der beiden am Diskurs beteiligten Gruppierungen, studentische Linke und intellektuelle Linke; die von der studentischen Linken als Lebensform praktizierten Realisationen von Kritik, die von der intellektuellen Linken als radikalisierende Denunzierung ihres Kritikverständnisses bewertet wird; die übersteigerten Konzeptionen von Gegenwartsstaat und Gesellschaft mit dem omnipräsenten Deutungsmuster des Faschismus, denen die intellektuelle Linke linksliberale, kritisch-loyale Konzepte entgegenstellt; dann insbesondere – und hier kann ein Bezug zu der zitierten Notiz Horkheimers explizit hergestellt werden – ein, die Relation von Theorie und Praxis kontrovers ausdeutendes disparates Gewalt-Verständnis, das die studentische Linke nicht von materiell-physischen Formen von Gewalt abgrenzt, während die intellektuelle Linke Gewaltfreiheit als nicht hintergehbaren ethischen Imperativ des kritischen politischen Diskurses formuliert.
VI
Vorwort
Diese genannten Aspekte des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre sind, aus der Sicht der studentischen Linken, Reflexionen der Adaption, der Anverwandlung oder der kritischen Übernahme der Kritischen Theorie. Die intellektuelle Linke wiederum prägt den Diskurs durch Kontrolle, Korrektur und Kritik. Die vorliegende Untersuchung rekonstruiert diesen auf die Kritische Theorie der späten 1960er bezogenen Diskurs hinsichtlich seiner sprachlichen Repräsentationen. Diese Repräsentationen werden diskurslinguistisch im Sinn von Leitwörtern, vor allem von Konzepten und auch von Argumentationsstrukturen dargestellt. Interpretiert werden sie als Aspekte der sprachlichen Demokratiegeschichte, die in den späten 1960er Jahren eine Zäsur erfährt: Die Kritische Theorie, als die, eine konsequente Demokratisierung der Gesellschaft formulierende Philosophie, kann als Impuls für den in den 1970er Jahren dann tatsächlich erfolgten Demokratisierungsschub gelten. Das auf Mündigkeit und Kommunikation, auf aufgeklärte Vernunft und Unmittelbarkeit setzende Demokratiekonzept Ende der 1960er Jahre ist eine neue, aufklärerische, rationalisierte und fundamentalisierte Demokratieversion, deren semantische und konzeptionelle Repräsentationen die Studie rekonstruiert und interpretiert. Die vorliegende Untersuchung präsentiert Ergebnisse eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts. Projektbeteiligte waren Andreas Rothenhöfer als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Michael Hoh als studentische Hilfskraft. Beide haben einen wesentlichen Beitrag geleistet und zum Gelingen beigetragen. Ich danke ihnen an dieser Stelle ausdrücklich. Im Namen des Instituts für Deutsche Sprache, Mannheim, danke ich außerdem der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die es durch ihre Förderung möglich gemacht hat, dass wir über einen Zeitraum von zwei Jahren ein Textkorpus zusammenstellen, digitalisieren und auswerten konnten. Außerdem und besonders danke ich der Herausgeberin und den Herausgebern der Reihe ‚Studia Linguistica Germanica‘, Christa Dürscheid, Stefan Sonderegger, Oskar Reichmann und Andreas Gardt, für die Aufnahme in die Reihe. Dem Verlag de Gruyter, und insbesondere Birgitta Zeller-Ebert und Henriette Slogsnat, danke ich für ihre professionelle Begleitung der Publikation. Mannheim, den 7. März 2011
Heidrun Kämper
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
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Vorläufiger Zugang: Diskursanlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die späten 1960er Jahre als Gegenstand der Sprachwissenschaft . . 13
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Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.1 Topik – Beteiligte – Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Diskurstopik 22 – Diskursbeteiligte 24 – Diskurstexte 30
3.2 Vom Wort im Kontext zum Konzept – Diskurssemantik als Konzeptgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
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Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand . . . . . .
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4.1 Das Generationenstereotyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.2 Das politische Stereotyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.2.1 Anspruch und Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.2.2 Stigmatisierung: „Das Gespenst des Faschismus“ . . . . 84 4.2.3 Tabuisierung: „Juden der Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . 98
5
Kritisieren: Kritik als Philosophie und Lebensform . . . . . . . . . . . . 105 5.1 Kommunikationskritik und kommunikative Praxis . . . . . . . . . 113
VIII
Inhalt
5.2 Sprachkritik und Kritik der Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . 125
6
Entdemokratisieren: Das Faschismussyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6.1 Enthistorisieren – Analogisieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.2 Kategorisieren: „Der autoritäre Staat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“ . . . . . . . . . . 169 6.4 Aspektualisierung: Die „manipulierte Gesellschaft“ . . . . . . . . 182 6.5 Abstrahieren: Das System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
7
Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.1 „Demokratischer Widerstand“ oder „Spiel mit dem Terror“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 7.2 „Aufklärung der Massen“ oder „euphemisierende Camouflage“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 7.3 „Legitimer Druck von unten“ oder „aggressive Willenskundgabe“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 7.3.1 Gewaltlosigkeit: „Unsere Gewalt – unbewaffnete Leiber“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 7.3.2 Politische Gewalt: „Demonstrative und provokatorische Gegengewalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.3.3 Manifeste Gewalt: „Propaganda der Tat“ . . . . . . . . . . . 236
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Modellieren: Partizipationsdemokratien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 8.1 Pädagogisieren: Theodor W. Adorno – „Der mündige Mensch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Inhalt
IX
8.2 Idealisieren: Jürgen Habermas – „Herrschaftsfreier Dialog“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 8.3 Radikalisieren: Rudi Dutschke/SDS – „Direkte Rätedemokratie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
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Demokratie – Diskurssemantische Umbruchkonstellationen . . . . 299 9.1 Thema – Demokratie als Praxis und Vorstellung . . . . . . . . . . 301 9.2 Beteiligte – Der kritische Diskurs als Soziolekt . . . . . . . . . . . 302 Alter 304 – Weltanschauung 305 – Fach – Profession 305 – Ort 306
9.3 Konzeptionen – Kontextuell-semantische Familienbande . . . . 310
10 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
11 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 11.1 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 11.1.1 Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 11.1.2 Primärquellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 11.2 Linguistische Sekundärliteratur und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . 331 11.3 Historiografische und sonstige Sekundärliteratur . . . . . . . . . . 339
Die Demokratie als ihr eigener Feind. – Je demokratischer eine Demokratie, desto gewisser negiert sie sich selbst. Wann immer ernsthaft kritische Perioden eintreten, werden die radikalen Kräfte von rechts und links der ihnen zustehenden demokratischen Rechte sich bedienen, um eine partikulare, vielmehr totalitäre Herrschaft herbeizuführen. Demokratie heißt die Staatsform nach dem Willen des Volkes. Der Wille des Volkes jedoch, soweit es so etwas gibt, hat mit Vernunft wenig zu tun, er neigt weit mehr zur Gefolgschaft als zur Autonomie, von den politischen Mechanismen, Wahltaktik und Manipulation ganz abgesehen. Wer immer die Demokratie bejaht, mißtraue ihr. Wie die Freiheit der Menschen, zu der sie gehört, war sie seit je ihr eigener Feind. (Horkheimer 1966–1969, 211) Die angestrebte Bewußtmachung von Konflikten bliebe aus, wenn die unmittelbare Beteiligung einiger weniger sich nicht ausweiten ließe zu der zunächst passiven, nur konsumierenden Präsenz von Millionen Zeitungslesern und Fernsehzuschauern. In dieser Sicht erscheint die Provokation als die unumgängliche Begleiterscheinung der Aktion, weil genau aufgrund des diffusen Konsumverhaltens – und natürlich auch um die Aktion zu diskreditieren – nur die Provokation öffentlich interessant ist. (Agnoli 1968a, 42) In der Sprache der Philosophie könnte man wohl sagen, daß in der Fremdheit des Volkes zur Demokratie die Selbstentfremdung der Gesellschaft sich widerspiegelt. (Adorno 1959, 131) Die [von Bundeskanzler] Brandt zum sozialdemokratischen Ziel erklärte Demokratisierung allen gesellschaftlichen Seins ist vom Generalsekretär der CDU … Sozialisierung genannt worden. (FAZ 31. Juli 1969) Die Auflösung der kommunikationszersetzenden Ideologisierung der eigenen Praxis, die sich im SDS und in der gesamten Studentenbewegung in der Auseinandersetzung mit dem eigenen gesamten moralischen Demokratismus gebildet hat, sprengt die subkulturellen Zusammenhänge des formalisierten Antiautoritarismus wie die Sektiererei des abstrakten Revolutionarismus, der den Machtkampf führen will, ohne die Bedingungen einer fortschreitenden Mobilisierung der Basis angeben zu wollen, sondern fatalistisch auf objektive Mobilisierungsgrenzen pocht -, um eine zentrale Kommunikation zu eröffnen (Claussen 1969, 14).
XII Für die Protestbewegung in der Bundesrepublik ist schließlich auch die „Kritische Theorie“ von Einfluß gewesen. Pauschale Zurechnungen halte ich freilich für naiv; die Vorstellung, dass eine Handvoll Autoren eine Welle des Jugendprotestes von San Francisco bis Tokio, von New York bis London, Rom und Paris hervorgebracht haben könnte, hätte Ähnlichkeit mit Omnipotenzphantasien. Ebenso unsinnig wäre es andererseits, einen Zusammenhang der Kritischen Theorie mit Auffassungen zumal der älteren und der durch ein Studium in Frankfurt oder Berlin geprägten Mitglieder des SDS in Abrede zu stellen. Aber ich möchte falschen Konstruktionen entgegentreten. Der einen Seite stellt es sich so dar, daß jene Theorie von den jungen Aktivisten nur beim Wort genommen und dadurch als haltloses intellektuelles Spiel entlarvt worden sei. Das ist die komplementäre Version zu dem Vorwurf der anderen Seite, die Lehrer zögerten, aus ihren Analysen die fälligen praktischen Konsequenzen zu ziehen. (Habermas 1969b, 40) Was den Begriff der Demokratie betrifft: das ist nun allerdings eine sehr ernste Sache. Wenn ich in einem Satz sagen soll, was ich darüber als Antwort im Augenblick geben kann, so nur das, daß niemand im Augenblick mehr für eine Demokratie sein kann als ich. Mein Einwand ist nur, daß in keiner der bestehenden Gesellschaften und sicherlich auch nicht in denen, die sich demokratisch nennen, Demokratie besteht. Was besteht, ist irgendeine sehr limitierte, illusionäre, von Ungleichheiten durchsetzte Form der Demokratie, während die wahren Bedingungen der Demokratie überhaupt erst geschaffen werden müssen. (Marcuse 1967g, 39f.) Parlament, Parteien und Exekutive werden unter diesen Bedingungen ihre Ferien für permanent erklären müssen, wären sie doch überflüssig in einem Gemeinwesen, das durch die solidarische Kooperation und gegenseitige Hilfe, durch die direkte Demokratie mündiger Menschen – in der Form von Komitees bzw. Räten – getragen wird. (Dutschke 1967f, 260)
1 Vorläufiger Zugang: Diskursanlässe Der Vertreter des Sozialistischen Hochschulbunds (SHB) Wolfgang Kotzold hält am 6. Juni 1967 auf einer Demonstration des AStA und der politischen Studentengruppen der Universität Heidelberg anlässlich einer Gedenkveranstaltung für Benno Ohnesorg eine Rede. Er bewertet die Mobilisierung der Affekte gegen Studenten, deren Darstellung als parasitäre Untermenschen und zersetzende Elemente von der rechtsradikalen gleichgeschalteten Springer-Presse wirksam gefördert wird als den Versuch, die ohnehin nicht gefestigte Demokratie in Westberlin und in der Bundesrepublik zu beseitigen.1 Die Studenten seien für vogelfrei erklärt: Die Studenten, als kritische und demokratisch eingestellte Minderheit in unserer Gesellschaft unerwünscht, werden von den Herrschenden einer Polizei zur Verfolgung frei gegeben, die schon ohne Notstandsverfassung den Anforderungen eines totalitären Systems entspricht und sich dementsprechend verhält. (Kotzold 1967, 75)
Zentrale Kategorien, Themen und Aspekte des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre sind in diesem Text repräsentiert: das Verhältnis der Gesellschaft zu den protestierenden Studenten (Affekte gegen Studenten), die Sicht der Studenten auf die Medien (gleichgeschaltete Springer-Presse), nazistisch-faschistisches Denken, das die Aktivisten der Gesellschaft zuschreiben (parasitäre Untermenschen, zersetzende Elemente, Minderheit unerwünscht), der ‚Demokratie in Gefahr‘-Topos (Versuch, die ohnehin nicht gefestigte Demokratie … zu beseitigen), die Selbsteinschätzung der Aktivisten (Studenten, als kritische und demokratisch eingestellte Minderheit), die Rolle der Polizei (einer Polizei zur Verfolgung frei gegeben), die in den totalitären Kontext gerückten Notstandsgesetze (Notstandsverfassung, Anforderungen eines totalitären Systems). Die Propositionen dieses
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Ein Wort zur Notierung und Belegwidergabe: Objektsprachliche Ausdrücke bzw. Texte, also diejenigen sprachlichen Manifestationen, auf die sich die Analyse bezieht, sind kursiv zitiert. Insofern es sich um eine diskursanalytisch angelegte Untersuchung handelt, also um einen Ansatz, der die S e r i a l i t ä t sprachlicher Aussagen nachweist, wird der Diskurs ggf. auch durch die serielle Widergabe kohärenter Aussagen dokumentiert.
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1 Vorläufiger Zugang: Diskursanlässe
Ausschnitts bringt der Redner in eine für die Aktivisten typische Argumentationsstruktur derart, dass eine binäre, und also ideologische (vgl. Grünert 1974) Weltsicht durch entsprechende Rollenverteilung und Zuschreibungen repräsentiert wird: Studenten als Wahrer von Demokratie und als Verfolgte stehen einer von faschistischem Denken geprägten, ihre Ziele mit Hilfe einer das System stützenden Presse und Polizei rücksichtslos verfolgenden Gesellschaft gegenüber, die die Herrschenden genannt wird. Jürgen Habermas2 wertet die Tatsache, dass die Polizei am Freitag, den 2. Juni, vor dem Opernhaus in Berlin Terror ausgeübt, und der Berliner Senat … am selben Abend diesen Terror gedeckt und damit geltende Rechte eingeschränkt hat, als den Grund dafür, dass der 2. Juni 1967 als ein[…] Tag in Erinnerung behalten werde, an dem die Gefahr nicht nur einer schleichenden Austrocknung, sondern einer manifesten Erschütterung der Demokratie in unserem Lande … drastisch sichtbar geworden ist. (Habermas 1967a, 138f.) Historisch einzuordnen sei die Reaktion der Staatsgewalt auf Studentenproteste als eine neue Qualität …, die wir seit den Tagen des Faschismus zum ersten Mal wieder kennenlernen (ebd.). Aktivisten und intellektuelle Linke bewerten die Tötung des Studenten gleichlautend als Beleg dafür, dass die Demokratie in Gefahr, wenn nicht im Niedergang ist. So wertet Ludwig von Friedeburg die Argumente und Aktionen der … Studentenvertretung als Ausdruck besorgte[r] demokratische[r] Unruhe, dafür indes bestehe unter den gegebenen Verhältnissen aller Anlaß – für alle Bürger (v. Friedeburg 1967, 61). Die gegebenen Verhältnisse, damit ist auch die als Demokratieverlust interpretierte Große Koalition gemeint. Ein von Berliner Studenten im Kontext des 2. Juni verfasster Resolutionsentwurf argumentiert in diesem Sinn mit der fehlenden innerparlamentarischen Opposition: In jedem demokratischen Land hätte das Aufgebot an Polizei, para-militärischen Einheiten und Geheimdiensten, das hier für den Staatsbesuch eines Diktators bereitgestellt wurde und in Aktion trat, den organisierten Protest und entschiedene Gegenmaßnahmen einer parlamentarischen Opposition hervorgerufen. In der Bundesrepublik, die keine parlamentarische Opposition mehr kennt, werden auch noch die Opfer aufgeputschter und schlagwütiger Polizisten den Herrschenden zum Mittel, jede oppositionelle Regung zu unterdrücken. (Weller 1967, 98)
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Er spricht wie Adorno der studentischen Bewegung die Aufgabe zu, einen Ausgleich herzustellen zwischen Restauration und Radikalität: Die Aufgabe der studentischen Opposition in der Bundesrepublik war es und ist es, … den Mangel an Radikalität in der Auslegung und der Praktizierung unserer sozial rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung, … – eben das Fehlen einer in ihren Intensionen aufgeklärten, in ihren Mitteln redlichen, in ihren Interpretationen und Handlungen fortschrittlichen Politik zu kompensieren. (Habermas 1967a, 141)
1 Vorläufiger Zugang: Diskursanlässe
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Durch Kontrastierung des Bezeichnungspaares demokratisches Land und Bundesrepublik, die mit der syntaktischen Parallele (in jedem … – in der …) und mit der auf einer höheren Ebene identischen Proposition aufgenommen wird, spricht der Autor der Bundesrepublik das Demokratischsein ab. Im Vorwort einer von Knut Nevermann bearbeiteten und vom Verband deutscher Studentenschaften herausgegebenen Dokumentensammlung zu den Ereignissen anläßlich des Schah-Besuchs ordnet der Vorsitzende des Verbands, Hans-Joachim Haubold, die Erschießung als eklatante Missachtung demokratischer Grundrechte ein: Daß fundamentale, demokratische Grundrechte mit Füßen getreten, niedergeknüppelt wurden und ein studentischer Demonstrant erschossen wurde, ist ein Zeichen höchsten Alarms für die Demokratie. (Haubold 1967, 5) Der Habermas-Doktorand und Hochschulassistent Oskar Negt beschreibt diesen Prozess der Entdemokratisierung als Anfangsstadium des geplante[n] Abbau[s] des Liberalismus. Es habe eine neue Phase begonnen, in der der Nachkriegsliberalismus nicht im Osten den Gegner erkennt, sondern die innenpolitisch gewendete Aggression auf allen Ebenen. Die Erscheinungsformen seien antidemokratisch: Die Exekutive schafft sich legale Instrumente, um eine auf autoritäre Verwaltung beschränkte Staatsplanung größten Ausmaßes ohne wirkliche Kontrolle der demokratischen Institutionen in Gang setzen zu können. (Negt 1967a, 243) Oskar Negt zieht Parallelen zur Demokratiegeschichte Deutschlands: Die planenden Eingriffe in das gesellschaftliche Leben haben in Deutschland bisher stets die Funktion gehabt, die Opposition als Sand im Getriebe zu diffamieren (ebd. 243f.). Auch der Historiker Karl-Dietrich Bracher verweist am 9. Juni anlässlich einer vom AStA der Universität Bonn veranstalteten Trauerfeier auf die demokratischen Grundrechte: Es geht um unser Grundgesetz Art.1: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.‘ Es geht um die unverletzliche Freiheit der Person (Art. 2) und das Recht des Staatsbürgers auf freie Meinungsäußerung. Es geht um das Recht auf Kritik und Opposition, mit dem unsere zweite deutsche Demokratie steht und fällt. (Bracher 1967, 43)
Bracher nimmt die Ruhe und Ordnung um fast jeden Preis-Atmosphäre als Beleg für das gestörte Verhältnis von Staatsbürger und Autorität in dieser Demokratie. Ausweis dieses Verhältnisses sei – die Argumentation entspricht derjenigen, mit der man die Notstandsgesetze kommentiert –, […] daß weniger von Demokratie und unteilbarer Freiheit, wieder mehr und mehr von Staatsautorität und nationalbewußter Politik gesprochen wird; daß plötzlich nicht mehr die freie Beteiligung und Entfaltung des Bürgers, sondern sein Gehorsam gegenüber jedweder Maßnahme der Obrigkeit gefordert wird: daß gegen die ‚auflösenden‘ und ‚zersetzenden‘ Kräfte der Intellektuellen ein ‚Gemeinschafts-
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1 Vorläufiger Zugang: Diskursanlässe
denken‘ im Sinne ‚allgemeinverpflichtender Wertvorstellungen‘ gefordert wird (ebd. 44).
Das Fazit dieser Analyse Brachers lautet: das widerspricht dem Demokratiebegriff unseres Grundgesetzes, der pluralistisch ist und nicht konformistisch (ebd. 43f.). Mit demselben lexikalisch-argumentativen Instrumentarium stattet Ludwig von Friedeburg seinen Kommentar aus: Meinungsäußerung … mit Gefahr für Leib und Leben zu bedrohen, heißt den demokratischen Rechtsstaat in einen Polizeistaat umzuwandeln (v. Friedeburg 1967, 60). Auf der Trauerfeier, die am 7. Juni vom AStA und von politischen Studentengruppen an der Universität Köln veranstaltet wurde, formuliert der Sprecher für den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), den Liberalen Studentenbund Deutschlands (LSD) und den Hans-Böckler-Kreis, Peter Bubenberger, die Feststellung, daß der Tod von Benno Ohnesorg nur ein Glied darstellt in einer langen Kette im Prozeß des Abbaus der Demokratie und des Anwachsens neofaschistischer Tendenzen in unserer Gesellschaft. (Bubenberger 1967, 77) Traditionslinien der Mentalitätsgeschichte werden gezogen, und der 2. Juni wird unter dem Zeichen der Entdemokratisierung als Beleg historisch fataler obrigkeitsstaatlicher Praktiken bewertet. Der Geist des Untertans ist bei uns noch nicht gestorben (Kreck 1967, 47) stellt Prof. Dr. Walter Kreck auf einem Informationsabend am 8. Juni fest. Knut Nevermann kommentiert in der Einführung der erwähnten Dokumentation die Gewalttätigkeit der Polizei. Sie sei kein Zufall gewesen, sondern […] ordnet sich ein in eine Geschichte polizeilicher Brutalität gegen Demonstranten. Sie reiht sich ein in eine Geschichte der Behandlung von Minderheiten und Opposition durch die staatliche Obrigkeit. Sie ist kein Zwischenfall, sondern Symptom. Symptom der politischen Verhältnisse, in denen wir leben. (Nevermann 1967b, 6)
Theodor W. Adorno nimmt das Verhalten der Staatsmacht an jenem 2. Juni als Dokument für die Defekte unserer Demokratie: die Studenten … [haben] Defekte unserer Demokratie am eigenen Leib in besonders bitterer Weise erfahren … . Das hat sich an dem Fall Ohnesorg in völlig unmißverständlicher Weise gezeigt. (Adorno / Szondi 1967, 305) Der 2. Juni ist zweifellos dasjenige Ereignis, das dem Diskurs Ende der 1960er Jahre einen entscheidenden Impuls gibt. Seine Bedeutung als ein in höchstem Maß bewusstseinsveränderndes, die studentische Linke radikalisierendes und die intellektuelle Linke mit äußerster Skepsis gegen den Staat erfüllendes Diskursereignis kann nicht überschätzt werden.3 Die Feststel3
„65 Prozent aller damals immatrikulierten Studenten [gaben] im nachhinein an[…], sie
1 Vorläufiger Zugang: Diskursanlässe
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lung von, durch den 2. Juni zum Ausdruck gekommenen Defiziten der gegenwärtigen Demokratie besteht aus dem Argument ‚grundgesetzwidrig‘ und / oder wird in den historischen Kontext des Nationalsozialismus im Sinn von Faschismus gestellt. Ein weiterer zentraler Diskurs der späten 1960er Jahre thematisiert die Notstandsgesetze, die, geplant bereits seit 1958, in den Jahren 1967 / 68 parlamentarisch vorbereitet und deren Verabschiedung der Großen Koalition aufgrund entsprechender Mehrheitsverhältnisse am 30. Mai 1968 möglich wurde. Auch dieser Diskurs stellt, und zwar ebenfalls mit dem Grundgesetzverweis und dem Faschismus-Argument, ein zentrales Segment des Demokratie-Diskurses dar.4 Er erhält wiederum durch den 2. Juni Dynamik: Man erkennt – nach der Erschießung Benno Ohnesorgs – einen Zusammenhang zwischen dem praktizierten Notstand in Berlin und der Notstandsplanung in der Bundesrepublik (Meschkat 1967, 14). Die Themen greifen ineinander: Eine der Hauptgefahren der Notstandsgesetze ist, dass sie ein gesetzliches Instrumentarium für einen innenpolitischen Staatsstreich schaffen. Die Notstandsgesetze würden den verfassungswidrigen Ausnahmezustand, wie er nach dem 2. Juni von der politischen Führung proklamiert worden war, seines staatsstreichähnlichen Charakters entkleiden und ihn legalisieren. (Nevermann 1967b, 9)
Das Diskurs-Segment ‚Notstandsgesetze‘, an dem sich die studentische Linke beteiligt, als der Widerstand sich längst formiert hatte, ist, wie der Diskurs zum 2. Juni, gekennzeichnet von einem breiten Konsens der Diskursgemeinschaft der studentischen und der intellektuellen Linken.5 Dieser
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seien durch die Ereignisse des 2. Juni 1967 ‚entscheidend‘ beeinflusst und politisiert worden.“ (Koenen 2002, 68f.) Reimut Reiche bestätigt rückblickend: „Mit dem 2. Juni 1967 beginnt die später von ihr selbst als Aktionsphase apostrophierte eigentliche Studentenbewegung“, es setzt ein plötzliches „‚Massenhaftwerden der Bewegung‘ – so unsere damalige Terminologie“ ein (Reiche 1988, 47). Dieser zweiten Phase voraus geht die von Reiche so genannte „Rekonstruktionsphase“ der ersten Hälfte der 1960er Jahre. In ihr „finden Wiederaneignung und Neuaneignung der im Nationalsozialismus zerstörten Denktraditionen und Denkbewegungen statt, die mit den Überschriften Marxismus, Psychoanalyse und Kritische Theorie bezeichnet sind“ (ebd. 45). Die Notstandsgesetze werden gelegentlich sogar als das „Achsenthema“ der Außerparlamentarischen Opposition bezeichnet: „Sowohl die Ostermarschbewegung / Kampagne für Abrüstung als auch die Studentenbewegung bearbeiteten im Verlauf der sechziger Jahre … eine Vielzahl unterschiedlichster Themen. … nur im gemeinsamen Kampf gegen die Notstandsgesetze kam es zu einem erfolgreichen Aufbau und Erhalt eines ‚durch kollektive Identität abgestützten Handlungssystems‘.“ (Richter 2008, 49) „Als die Protestbewegung 1967, nicht zuletzt durch den moralischen Protestschub nach dem Tod Benno Ohnesorgs, erheblich an Stärke und Umfang gewann, war die Notstandsopposition, an der zunächst weniger die Studenten als vielmehr alle gesellschaftlichen Gruppierungen der politischen und moralischen Linksopposition beteiligt wa-
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1 Vorläufiger Zugang: Diskursanlässe
breite Konsens drückt sich nicht zuletzt in einem dominanten Argumentationsmuster aus: Vergleichsmoment ist der faschistische Staat, Oskar Negt spricht rückblickend von „Existenzängsten“, denn es habe „Vexierbilder des Faschismus“ gegeben, und „Analogien zum Ende der Weimarer Zeit spielten unzweifelhaft eine Rolle“ (Negt 2001, 250). Der für undemokratisch gehaltene, dem Staat unbeschränkte Machtmittel verschaffende Charakter der Notstandsgesetze veranlasst die Diskursteilnehmer, in diesen Gesetzen ein Mittel des Faschismus zu sehen, das vom Staat der Bundesrepublik, dem autoritären Staat, adaptiert wird.6 Die Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag dient insofern als Beleg für das angebliche Autoritärsein der Bundesrepublik. Inhaltlich beziehen sich die Protestierenden auf Einschränkungen des Streikrechts, … der Freizügigkeit, … des Post- und Fernmeldegeheimnisses, die Möglichkeit der zwangsweise[n] Zuweisung von Arbeitsplätzen für Männer und Frauen und der Einberufung von Männer[n] und Frauen … zu Übungsveranstaltungen sowie die Möglichkeit, dass Bundeswehr und Bundesgrenzschutz im ganzen Bundesgebiet eingesetzt werden können (Weigt 1968, 42). Insbesondere der dem Artikel 20 neu hinzugefügte Absatz, der das Widerstandsrecht regelt, wird als völlige Pervertierung europäischer Verfassungstradition (ebd.) verstanden.7 Man empört sich über diese Bestimmung als Instrument der Bundesregierung, das mit Hilfe aufgeputschter ‚Bürgerwehren‘ gegen Demonstranten eingesetzt werden kann. Das ermöglicht die Anstiftung zu Pogrom und Ter-
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ren, bereits in vollem Gang. … Gestandene Gewerkschafter wie Otto Brenner empfanden durchaus die drohende Nähe eines neuen Totalitarismus; Liberale aus einem ganz anderen Lager, sogar CDU-Leute, Konservative verschiedener Herkunft: Sie alle waren vom Unglück dieser Notstandsgesetze betroffen, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich nicht von dem Gedanken befreien konnten, daß es im wesentlichen nicht um Vorbereitung für die Notsituation gegen den äußeren Feind ging, sondern um innerstaatliche Feinderklärungen und um legale Möglichkeiten, den inneren Feind zu zerstören.“ (Negt 2001, 249f.) „Vor allem die seit Beginn der 60er Jahre intern erörterten und im Mai 1968 verabschiedeten gesetzlichen Maßnahmen für den Fall eines staatlichen Notstandes paßten in das Bild von der Vorbereitung eines von gleichgeschalteten Massenmedien unterstützten autoritären Staates als ‚neues ‘, wie es von Anhängern der sich verbreiternden Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf Transparenten allen Ernstes behauptet wurde. Allerdings teilte auch der Philosoph Karl Jaspers diese düstere Sicht und stieß damit beim bildungsbürgerlichen Publikum auf große Resonanz. Das z. T. sehr harte Eingreifen der Polizei bei Demonstrationen diente als quasi empirischer Beleg für die Gefahren, die der Demokratie von den Regierenden in Bonn drohten.“ (Schildt 2003, 49) Die inkriminierte Regelung in der Formulierung des Gesetzes lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968, verkündet am 27. Juni 1968 („Notstandsgesetze“))
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ror. (Weigt 1968, 42) Das Bestehen des autoritären Staates der Gegenwart, der seinem gesellschaftlichen Zwangscharakter mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze rechtskräftigen Ausdruck verlieh (Krahl 1968a, 242), die Transformation der Bundesrepublik zum neuen autoritären Staat, die mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze einen formalen Abschluss fand (Wolff 1968b, 463) ist für die Beteiligten keine Frage, die Entdemokratisierung, die diese Gesetze bedeuten, ebenso wenig. Die Notstandsgesetze als Aktualisierung des autoritären Staates schaffen aus der Sicht der kritischen Diskursbeteiligten die Möglichkeit, daß die Demokratie ohne politisch rechtlichen Legitimationsbruch in den Ausnahmezustand übergehen kann (Krahl 1968b, 463) – an der Verwerflichkeit der Gesetze hegt man keinen Zweifel. Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der dem Reichspräsidenten weitgehende Machtbefugnisse zuschrieb, ist eine argumentative Bezugsebene.8 Vor allem aber das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 (‚Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich‘), mit dem Hitler seine Herrschaft durchsetzte und stabilisierte, dient im Diskurs durchgängig zum expliziten Vergleich, wenngleich nicht unbedingt, wie ein Redebeitrag aus dem Jahr 1969 die Jahre 1933 und 1968 uneingeschränkt gleichsetzend – „besondere Maßnahmen zur Abwendung von Gefahren“ … Das hieß nach 1918: Staatsnotstand, nach 1933: Ermächtigungs- und Ausnahmegesetz, nach 1968: Notstandsgesetze (SDS 1968a, 116) – so doch die beiden Sachverhalte unübersehbar parallelisierend: Die Ermächtigungsgesetze vom März 1933 waren für die NSDAP ein unmittelbar notwendiger und unmittelbar funktionaler Hebel zur sofortigen offiziellen Umwandlung der parlamentarischen Staatshülse in ein faschistisches System. Die Notstandsgesetze vom Juni 1968 treffen dagegen nur die Vorsorge zur Zerschlagung potentieller demokratischer oder rebellischer Massenbewegungen. (Reiche 1968a, 21)
Auch im Fall der Aussagen zu den Notstandsgesetzen wird – wie in Bezug auf den 2. Juni – deutlich, dass es sich um ein intergenerationelles Diskurssegment handelt. Daher ist es nicht nur „ein nachgeholter Kampf gegen das Ermächtigungsgesetz …, durch das die Väter schuldig geworden waren“ (Bock 1999, 561) und den die Söhne nun kämpfen. Auch der 1895 geborene Max Horkheimer etwa verweist auf die jüngste Zeitgeschichte, auf die
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[…] das Notstandsverfassungsgesetz, das … die scheinlegale Vermittlung bieten würde, wie sie einst der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung als scheinlegale Vermittlung zur brutalen präsidentiellen Diktatur zuerst, zur faschistischen Diktatur dann gefunden hat (Abendroth 1967a, 68).
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Möglichkeit, auf der Grundlage eines solchen Gesetzes „legal“ Verbrechen zu begehen, wie im Nationalsozialismus geschehen: […] die Deutschen haben nach den unvorstellbaren Verbrechen, die ihre Regierung auf Grund eines solchen Gesetzes „legal“ begangen hat, kein Recht, die Exekutive wieder mit praktisch unbeschränkten Vollmachten auszustatten. Über den äußeren Notstand, das heißt also den Krieg, entscheidet immer noch das Parlament. Den inneren Notstand kann jede Regierung, mag sie noch so sehr mit dem Autoritarismus liebäugeln, praktisch ohne Kontrolle des Parlaments erklären. (Horkheimer 1968e, 383)
Hier spricht einer, der im Übrigen Vertrauen angesichts zwanzig Jahre nachkriegsdeutscher Demokratiegeschichte hat, die gegenwärtige Demokratie sei bei allen Mängeln immer noch besser als die Diktatur (Horkheimer 1968a, 349) lässt er im Rahmen einer Kontroverse verlauten. Solches Vertrauen haben die Aktivisten der studentischen Linken nicht, und die jüngsten Begegnungen mit der Staatsgewalt geben den Anlass. Die Unterschiede der Zuschreibungen, mit denen man diese Gesetze bewertet (scheinlegal, legalistisch, ohne Legitimationsbruch9), sind dann solche ums unwesentliche Detail. Einigkeit herrscht in Bezug auf das Gesamturteil, dessen Tenor lautet: ‚Die Notstandsgesetze sind Ausdruck des autoritären Staats und wider die Verfassung.‘10 Und: ‚Gesetze solcher Art haben eine faschistische Tradition in der deutschen Geschichte und rücken die Bundesrepub9
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Notstandsgesetze …, die eine scheinlegale Abschaffung der Demokratie bezwecken. Faschismus … wird institutionell im Zentrum des parlamentarischen Systems selbst vorbereitet. (SDS 1967b, 321); Mit der Verabschiedung der NS-Gesetze hat das spätkapitalistische System der Bundesrepublik die Transformation zum autoritären Staat auch legalistisch abgesichert. (SDS 1969a, 8f.); durch die Auflösung des Rechtsstaates [hat sich] die Möglichkeit … ergeben …, das System ohne politisch-rechtlichen Legitimationsbruch in den Faschismus zu transformieren, ein Prozeß zu dem die Notstandsgesetze ein Mittel sind. (Krahl 1968e, 54f.); Autoritärer Staat bedeutet, und das aktualisiert sich mit den Notstandsgesetzen, daß die Demokratie ohne politisch rechtlichen Legitimationsbruch in den Ausnahmezustand übergehen kann (Krahl 1968b, 463). freiheitlich-demokratische Grundordnung mit Hilfe von Notstandsgesetzen auszuhöhlen. (Aufruf 1968); bedenken, daß vor allem die schleichende Entwertung der Grundrechte und die Aushöhlung demokratischer Institutionen im Schutze technologischer Rationalisierung den Boden bereiten (Negt 1968a, 23); Es droht Gefahr, daß die rechtsstaatliche und freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staatswesens zum zweitenmal in diesem Jahrhundert aufgehoben wird. Die Aushöhlung der zweiten deutschen Demokratie droht unsere Freiheit zu vernichten (Kuratorium ‚Notstand der Demokratie‘ 1967, 112); die Verfassungsordnung unseres Landes, welche die herrschenden Gewalten durch eine umfassende Notstandsordnung in ihrem Kern beschädigt (Hofmann 1968, 106); schweres Vergehen gegen Verfassung und Demokratie (ebd.); die Transformation der Demokratie in den Notstandsstaat (Berliner Extradienst 1968); die Rückbildung der Demokratie und der Druck „von oben“ (Brückner 1968, 76); Aushöhlung der Demokratie zu einer Fassade, unter der sich rigoros die ökono-
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lik in eben diese Tradition.‘ Die Notstandsgesetze werden gedeutet als die Mittel der undemokratische[n] Staatsgewalt, sie seien Ausdruck der Krise der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die schon einmal in der offenen Gewalt des Faschismus (Krahl 1968c, 150) bestand. Insofern seien sie das Grundgesetz einer zur Zwangskaserne abgeriegelten Gesellschaft; dieser Staat ist bereit, sich selbst zum faschistischen Führer zu machen (ebd. 151). Den Bezug zum Faschismus-Segment realisieren die Beteiligten außerdem mit Wendungen wie diktatorischer Zugriff des Notstandsstaates, mit Wortbildungen wie Notstandsdiktatur und Diktaturgesetze, sowie mit sprachspielerischen Verfremdungen, insbesondere mit der hoch frequenten Wortbildung NS-Gesetze. Diese Formeln dokumentieren die Sichtweise auf die Gesetze als Erscheinungsformen eines Staates mit faschistischen Tendenzen.11 Die Parallelen zwischen Faschismus und Bundesrepublik via Notstandsgesetze werden gezogen mit Argumenten: ‚Wie der Nationalsozialismus muss der gegenwärtige Staat sich des Widerstands entledigen – die Notstandsgesetze sollen es ermöglichen, ggf. die Widerstandsbewegung zu zerschlagen und dienen insofern der Herrschaftssicherung‘.12 ‚Wie im Na-
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mische Herrschaft privater Interessen und ihrer politischen Exekutivorgane durchsetzt. (SDS 1967e, 140) Gewalt, das ist die Vorbereitung der Notstandsdiktatur. (Krahl 1968c, 151); die sozialen Ansprüche der Arbeiter [werden] von der Notstandsdiktatur weggefegt (ebd.); die Freiheit von Forschung und Lehre … dem diktatorischen Zugriff des Notstandsstaates zu entziehen. (Streikkomitee Spartakus-Seminar 1968, 526); den Widerstand gegen die drohende Notstandsdiktatur … organisieren (Negt 1968e, 394); Der Notstand der Demokratie wird durch die Notstandsgesetze zum gesetzlichen Zustand erhoben. (Berliner Extradienst 1968); Unsere Opposition wird weiterreichen als bis zur Verabschiedung dieser Diktaturgesetze. (Wolff 1968a); zur Zeit [wird] offensichtlich versucht …, die Basis des spätkapitalistischen Systems – über die NS-Gesetze hinaus – zu stabilisieren. … die politische Frustration vieler Genossen, die die Chancen im Kampf gegen die NS-Gesetze falsch eingeschätzt hatten (SDS 1969a, 7). Dieses sprachliche Spiel mit den Initialen der Kompositaelemente von Nationalsozialismus und Notstand wird auch auf Transparenten, Flugblättern, Handzetteln oder Aufklebern gespielt, z. B. auf einem Aufkleber, der negativen Wahlkampf gegen Kiesinger macht: KURT GEORG KIESINGER: / ERST NS-PROPAGANDIST, JETZT / NOTSTANDS- / PLANER. KEINE / WAHLSTIMME / FÜR NOTSTANDS- / BEFÜRWORTER! Die Buchstaben NS in NS-PROPAGANDIST und NOTSTANDS - sind jeweils hervorgehoben. (Protest! 1998, 40)
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Die Ermächtigungsgesetze vom März 1933 waren für die NSDAP ein unmittelbar notwendiger und unmittelbar funktionaler Hebel zur sofortigen offiziellen Umwandlung der parlamentarischen Staatshülse in ein faschistisches System. Die Notstandsgesetze vom Juni 1968 treffen dagegen nur die Vorsorge zur Zerschlagung potentieller demokratischer oder rebellischer Massenbewegungen. (Reiche 1968a, 21); So wie der Faschismus, einmal an der Macht, sich seiner eigensten genuin-faschistischen Kerntruppe entledigen mußte, damit er seine Aufgabe im Dienst des Kapitalismus erfüllen konnte, – so wurde es nach dem Faschismus für jedes restaurative, kapitalistisch-demokratische System eine Überlebensfrage, daß wirklich keine fundamental demokratische Bewegung aufkäme, die ihrerseits so radikal demokratisch würde, daß sie die
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tionalsozialismus entmachtet sich das Parlament selbst und missachtet damit Grundgesetz und demokratische Prinzipien.‘13 ‚Die Notstandsgesetze sind Ersatz für den offen-terroristischen Faschismus und als Unterdrückungsinstrument einer undemokratischen Staatsmacht Beleg für latenten Faschismus, der jederzeit in offene Gewalt ausbrechen kann.‘14 ‚Die Notstandsgesetze offenbaren die kapitalistische Neigung zu repressiven Maßnahmen und sind in der bundesrepublikanischen Verfassung angelegt.‘15 Ein dritter, zur Konstituierung eines Demokratiekonzepts der späten 1960er Jahre zentraler Themenkomplex referiert auf die Springerpresse, die Art ihrer Berichterstattung und den wirtschaftlichen Aspekt ihrer QuasiMonopolstellung.16 In der Zeitschrift ‚Pardon‘ kündigt Rudi Dutschke die Gründung eines Pressetribunals an, in dem man
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kapitalistischen Fesseln des formal demokratischen Systems zu sprengen drohte. Dieses große Programm der politischen und ökonomischen Herrschaftssicherung im kapitalistischen Teil Deutschlands wird gegenwärtig mit den Notstandsgesetzen abgeschlossen. Diese Notstandsgesetze haben immer noch eine präventive Funktion; sie sind der Riegel gegen eine möglicherweise doch noch aufkommende demokratische Bewegung (ebd. 25); die politische Herrschaftssicherung durch die Verabschiedung der NS-Gesetze (SDS 1969a, 6). Wir werden nicht in aller Ruhe zusehen, wie ein Parlament zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte sich selbst vollends überflüssig macht und uns die neue Diktatur beschert. (Wolff 1968a); Transformation der Demokratie in den Notstandsstaat (Berliner Extradienst 1968). die Bundesrepublik in ihrer jetzigen politischen Organisation und noch mehr durch die im Grunde vollkommen illegitim zustandegekommenen Notstandsgesetze [macht] den Faschismus überflüssig …, den Faschismus im Sinne des offenen terroristischen Systems. (Agnoli 1968c, 55); gesellschaftlichen Zwangscharakter mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze rechtskräftigen Ausdruck verlieh (Krahl 1968a, 242); die herrschende Gewalt … präsentiert ihre Bereitschaft zur nackten Unterdrückung als Gesetz. (Berliner Extradienst 1968); Eine der Hauptgefahren der Notstandsgesetze ist, dass sie ein gesetzliches Instrumentarium für einen innenpolitischen Staatsstreich schaffen. Die Notstandsgesetze würden den verfassungswidrigen Ausnahmezustand, wie er nach dem 2. Juni von der politischen Führung proklamiert worden war, seines staatsstreichähnlichen Charakters entkleiden und ihn legalisieren. (Nevermann 1967b, 9) In der Diskussion über die mögliche Faschisierung der BRD schreibt man der Verabschiedung der Notstandsgesetze zentrale Bedeutung zu. Die Auffassung aber, daß die Notstandsgesetze einen Bruch in der Kontinuität der politischen Entwicklung und der Verfassung in Westdeutschland darstellen, mag agitatorisch richtig sein, trifft die Sache selbst nicht. Die Notstandsgesetze setzen keine neuen Akzente, sie enthüllen vielmehr die politische Qualität der Verfassungsentwicklung eines Staates, der als Organisation einer kapitalistisch produzierenden Gesellschaft immer die Tendenz hat, in besonderen geschichtlichen Situationen zu repressiven Maßnahmen zu greifen. (Agnoli 1968d, 45); den sich zunächst radikaldemokratisch artikulierenden Protest gegen die Formierungsmaßnahmen des Spätkapitalismus (Notstandsgesetze usw.) zum Protest gegen ein System zu machen, das notwendig zu faschistoiden Lösungen seiner Widersprüche tendiert (Reiche / Gäng 1967, 31). „Mit dem 2. Juni [rückte nach und nach] ein neues Themenfeld in den Aktionsradius
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[…] den empirischen Nachweis führen [werde], daß die Volksverhetzung und Entmündigung der Menschen durch Manipulation bei uns die Ergänzung zum Völkermord in Vietnam, zur gewaltsamen Niederschlagung aller sozialrevolutionären Bewegungen in der Dritten Welt darstellt. Dann haben wir das Recht und die Pflicht, die antidemokratische Tätigkeit der Manipulateure direkt anzugreifen! (Dutschke 1967g, 98)
Damit sucht und findet Dutschke das Motiv, das die deutsche Protestbewegung an die internationale zu binden erlaubt: Krieg in Vietnam, Bekämpfung der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und die Desinformationsstrategie der Springerpresse sind in Dutschkes Argumentation gleichwertige Legitimationen für Widerstand und politischen Kampf. Damit gibt Dutschke den studentischen Diskurs wider, der mit dem der intellektuellen Linken hinsichtlich der Berichterstattung der Springerpresse im Konsens ist. Adorno etwa ist in Bezug auf die Einschätzung des Anteils der Bild-Zeitung an der konfrontativen Haltung der Gesellschaft gegenüber der studentischen Protestbewegung mit dieser einig: […] wenn Sie einmal denken etwa an das Einleuchtendste, nämlich an die Hetze, die die Springer-Presse gegen die Studenten über einen erheblichen Zeitraum vorgenommen hat, dann wäre ja wieder diese Hetze selbst nicht wirksam geworden, wenn ihr nicht auch ein bestimmtes Potential der Empfangenden entsprochen hätte. Denn es gehört ja unter anderm auch zu der gegenwärtigen Gesellschaft hinzu, daß sie – und das gilt gerade für die sogenannte Boulevardpresse –, daß sie Informationen in Konsumgüter verwandelt, d. h. also, daß die Informationen selber in einer gewissen Weise denen, an die sie gerichtet sind, Genuß oder, richtiger, Ersatzgenuß, Ersatzbefriedigungen gewähren. (Adorno 1968d, 376)17
Diese Skizze soll genügen: Sie sollte einen Eindruck verschaffen von dem Grundthema, das den Diskurs der späten 1960er Jahre dominiert, von wesentlichen Beteiligten dieses Diskurses, sowie von Ausdeutungen und Spezifizierungen des Grundthemas. Die Erschießung Benno Ohnesorgs ebenso wie die geplanten Notstandsgesetze sowie die Berichterstattung über die studentische Protestbewegung und ihre Erscheinungsformen in der Springer-Presse sind diejenigen Ereignisse, die die diskursive Bearbeitung des Grundthemas motivieren. Sie werden im Diskurs wesentlich von der studentischen und der intellektuellen Linken initiativ platziert und realisiert. Und sie werden mit aus der Kritischen Theorie entnommenen antifaschis-
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der gesamten Bewegung. Ohne die Aktionen gegen die Notstandsgesetze zurückzuschrauben, begann sich die Bewegung mit einem weiteren Ausdruck des Entdemokratisierungsprozesses zu befassen: der Macht des Pressekonzerns von Axel Springer.“ (Richter 2008, 69) S. dazu unten 6.4.
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tisch-antiautoritären Deutungsschemata auf der Basis (radikal-)demokratischer Konzeptionen bewertet. Diese Konstellation bildet den Rahmen der folgenden Untersuchung. Ihr Gegenstand ist der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre, unter dessen Bedingungen die beiden Beteiligtengruppierungen, studentische Linke und intellektuelle Linke, ihre Demokratiekonzepte konstituieren. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hat dabei als diejenige Referenzinstanz zu gelten, die die Grundlage dieser Konzeptionen bereitstellt. Beide Beteiligtengruppierungen beziehen sich – je spezifisch – auf sie, beide leiten aus ihr – je spezifisch – ihre demokratischen Konzepte ab. Die Ausdifferenzierung dieser Konzepte sowie ihre kommunikativ-argumentativ realisierte Aushandlung und Bearbeitung werden in der folgenden Untersuchung rekonstruiert. Diese Arbeit soll insofern einen Beitrag leisten zur sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts. Insofern die späten 1960er Jahre historiografisch bzw. politikgeschichtlich gelegentlich in die demokratiegeschichtliche Umbruchreihe 1918 / 19, 1945, 1989 gestellt werden, soll schließlich nach dem sprachgeschichtlichen Umbruchcharakter des Diskurses und seines Demokratiekonzepts gefragt werden. Dazu wird mit einer diskurslinguistischen, pragmatischen (funktionalhandlungsbezogenen), im Wesentlichen aber konzeptanalytischen Instrumentierung die diskursive Bearbeitung zentraler Kategorien der Kritischen Theorie Ende der 1960er Jahre rekonstruiert – ihre Rezeption durch die studentische Linke und die Kommentierung dieser Rezeption vor allem durch die Theoriegeber der intellektuellen Linken. Vorangestellt ist zunächst der anschließende Überblick über die Forschungslage.
2 Die späten 1960er Jahre als Gegenstand der Sprachwissenschaft Der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre im Sinn eines Demokratiediskurses ist bisher kein Gegenstand der Sprachwissenschaft. Weder die Sprachgeschichte noch die Politolinguistik haben aus dieser Perspektive den Sprachgebrauch der späten 1960er Jahre beschrieben. Umso größeres Interesse fand er als ‚Sprache der 68er‘, als ‚APO-Sprache‘ oder als ‚Sprache der Protest-, bzw. Studentenbewegung‘ und von Beginn des Erscheinens einer ‚68er-Sprache‘ an macht die linguistische (und auch die politologische) Zunft deutlich, dass es sich um eine temporäre, politisierte und gruppensprachliche Variante handelte, die zunächst immer auch Anlass der Bewertung war. Sie polarisiert, wobei festzustellen ist, dass die konservative Interpretation der ‚linken Sprache‘ in den frühen Jahren (1970 folgende) bei weitem überwiegt, während späterhin linguistische Professionalität Raum greift. Soviel steht fest: Die Einschätzung Bruno Boeschs – „Die Sprache der studentischen Opposition wird für eine kommende Sprachgeschichte kaum mehr sein als ein Gekräusel auf dem unendlich wogenden Meer der Gegenwartssprache“ (Boesch 1972, 271) – diese Einschätzung trifft nicht zu. Die sprachgeschichtliche Forschung stellt sprachliches (insbesondere lexikalisches und kommunikationsstilistisches) Potenzial derart dar, dass die Befunde als sprachliche Innovationen der späten 1960er Jahre zu bewerten sind. Sie sind eine Zäsur der deutschen Sprachgeschichte – darin ist man sich weitgehend einig. Die Untersuchungen konzentrieren sich zunächst auf den Wortschatz. Bevor er eine „kleine Gruppe von Wörtern“ beschreibt, „die besonders charakteristisch für die APO-Sprache sind“, kontrastiert Siegfried Jäger (1970) ‚Linke Wörter‘ bzgl. der Merkmale ‚hochspezialisiert und unverständlich‘ mit ‚leicht verständlich‘. Vulgärsprachlichkeit hält er als Charakteristikum zu Recht für überschätzt, indem er es textsortengeschichtlich auf Kurzparolen und Wandmalerei beschränkt, während es in Flugblättern, sowie im Verlauf von Diskussionen auf Teach-ins, Sit-ins usw. kein auffallendes Phänomen sei. Bruno Boesch (1972) beschreibt die ‚Sprache des Protestes‘ überwiegend negativ wertend als unprätentiös, gleichmacherisch, arrogant,
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(pseudo)wissenschaftlich abstrakt, halbklar, fremdwortreich, esoterisch, emotional-provozierend und -aggressiv. Kennzeichen seien Umdeutungen und Umkehrformeln, Farbigkeit und Humor zwar nicht entbehrend, in der gesprochenen Version aber demagogisch und argumentationslos. Andreas von Weiss (1974), der in der Existenz der ‚Neuen Linken‘ ein Problem sieht, stellt umfänglich die ‚Schlagwörter der Neuen Linken‘ als ‚Agitation der Sozialrevolutionäre‘ (Untertitel) dar. Einem onomasiologisch geordneten Wörterbuchteil geht voraus eine Darstellung der Entwicklung, der politischen Organisationen, der Fach- und Berufsgruppen, der Wortführer und Aktionen sowie der Argumentationen und Gegenargumentationen der Neuen Linken. 1975 bringt Gerd-Klaus Kaltenbrunner den Sammelband ‚Sprache und Herrschaft‘ heraus, u. a. mit Beiträgen von Helmut Kuhn, der die Sprache der Nazis und der Neuen Linken als verwandte Beispiele politischen Redens beschreibt und die Katastrophe antizipiert, denn „wir erleben derzeit eine Revolte der Sprache gegen den Menschen“. Dies sei „ein säkulares Ereignis“. Antimodernistisch fährt Kuhn fort: „Was sich heute in der Bundesrepublik Deutschland auf der zur Weltbühne gewordenen politischen Bühne abspielt, ist die späte Phase einer großen modernen Tendenz. Es fragt sich, ob und wie wir es überleben werden.“ (Kuhn 1975, 11). Heinrich Dietz stellt „Rote Semantik“ mit dem Bewusstsein dar, dass das „Feld der politischen Schlüsselbegriffe … heute mehr als je wache Aufmerksamkeit“ erfordere (Dietz 1975, 20). Hans Maier bejaht die Frage, ob Begriffe die Gesellschaft verändern können, indem er u. a. Schlüsselbegriffe der Neuen Linken untersucht. Die Herausgabe des Sammelbands ‚Wörter als Waffen‘ (Bergsdorf 1979a) resultiert aus der Beobachtung, dass sich „30 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik … Entscheidendes in der politischen Sprache verändert“ habe (ebd. 7). Der seit Ende der sechziger Jahre geführte „Streit um die Bedeutung von Wörtern wie Staat, Demokratie, Gesellschaft“ sei ein „Streit um politische Werte und Zielvorstellungen“ (ebd.). Wir werden auf diesen Aspekt politischer Sprachkritik zurückkommen (s. u. Kapitel 5.2). Die Beiträger sind vor allem Politologen: Karl-Dietrich Bracher, der das „spannungsvolle[…] und ambivalente[…] Verhältnis von Politik und Sprache“ (Bracher 1979, 85) am Beispiel „historische[r] Einzelbegriffe“ (ebd. 86), aber auch „heutige[r] Allerweltsbegriffe“ (ebd. 91) beschreibt; Hans Maier, der die Sprache der Neuen Linken als Zurücknahme sprachlicher Euphemisierungstendenzen nach 1945 versteht und „das bösartig trommelnde Deutsch, die hämmernden Klischees und Standards“ bewertet, die „heute plötzlich“ die sprachliche Wirklichkeit bestimmten (Maier 1979, 32); Günter Schmölders, der ‚plumpe Anbiederung‘ (sozialliberal), ‚emotionale Aufladung‘ (Repression), ‚verbale Neuschöpfung‘
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(Leistungsgesellschaft) und ‚politische Umbildung‘ (Demokratie) als Versionen von „semantische[n] Fallen im Politvokabular“ (Titel) darstellt (Schmölders 1979); Kurt Sontheimer, der den „neuen linken Jargon“ (Sontheimer 1979, 45) als „mixtum compositum mit unterschiedlichen Akzenten“ (ebd.) beschreibt, bestehend aus der Sprache der marxistischen Orthodoxie und der Kritischen Theorie, und der als ‚Jargon der Künstlichkeit‘ ein Gegenkonzept zu dem von Adorno beschriebenen Jargon der Eigentlichkeit darstelle1; Wolfgang Bergsdorf, der die nationalsozialistische und kommunistische Sprachlenkung in Deutschland darstellt (Bergsdorf 1979b). Ergänzt wird diese politologische Perspektive um die soziologische (Helmut Schelsky) und die philosophische (Hermann Lübbe). In den achtziger Jahren scheint 68 kein sprachwissenschaftlicher Gegenstand zu sein. Am Ende des Jahrzehnts erscheint allerdings der von Josef Klein herausgegebene Sammelband ‚Politische Semantik‘ (1989), in dem der Herausgeber in seinem für den Forschungsbereich ‚Sprache der Politik‘ immer noch grundlegenden Beitrag die ‚Sprache der Politik‘ der Nachkriegszeit phasiert: In den 50er und frühen 60er Jahren dominiert die ‚Sprache‘ Adenauers und Erhards. In der zweiten, die späten 60er und frühen 70er Jahre umfassenden Phase ist die öffentliche Sprache durch zwei Wortfelder dominiert, die dicht aufeinander folgen …: einmal die ‚Sprache‘ der sog. ‚Apo‘ …, zum anderen die ‚Sprache‘ der frühen sozialliberalen Koalition, insbesondere der sog. ‚Brandt-SPD‘. Eine dritte Phase mit der Dominanz relativ klar konturierter politischer Wortfelder findet sich erst wieder in der ersten Hälfte der 80er Jahre. (Klein 1989, 29f.)
Die Sprache der APO, die er durch eine Reihe von Schlagwörtern dokumentiert (Klein 1989, 36), beschreibt Klein als „revolutionär getönte Sprache der ‚Neuen Linken‘“, die er von dem „temperierte[n], reformistische[n] Vokabular der sozialliberalen Anfangsjahre“ unterscheidet (Klein 1989, 36). Anfang der neunziger Jahre setzt die Forschung fort. Erich Straßner (1992), nachdem er das marxistische, radikaldemokratische und lebensreformerische Ideenpotenzial der APO sowie ihre Anbindung an die Sprachtheorie von Herbert Marcuse beschrieben hat, überprüft (lexikologisch) ‚1968 und die sprachlichen Folgen‘ für die politischen Parteien. Thomas Niehr (1993) reflektiert ‚Schlagwörter im politisch-kulturellen Kontext‘, die den ‚öffentlichen Diskurs in der BRD von 1966 bis 1974‘ (Untertitel) bestimmen. Dieses Wörterbuch verzeichnet und belegt den Schlagwortgebrauch nicht unter dem Zeichen 68, sondern vielmehr dem der Brandt-Ära.
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Der Originalbeitrag stammt aus Sontheimer, Das Elend der Intellektuellen (1976).
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Martin Wengeler (1995) versteht die sprachgeschichtliche Zäsur von 68 als innenpolitisches Phänomen (im Gegensatz zu der von 1945 / 49, die die Entstehung neuer Staaten zur Folge hatte). Ein zentraler sprachlicher und neuer Ausdruck eines geänderten Bewusstseins sei ein hohes Maß sprachkritischer Reflexionen, die einen öffentlichen Streit, das heißt die Erhebung des Anspruchs auf Begriffsdeutung aus konservativer Sicht, im Zuge dessen der Topos ‚Begriffe besetzen‘ zur Losung konservativer Sprachpolitik wurde, zur Folge hatte. Erhöhte Sprachsensibilität sei der von der 68er Bewegung verursachte Einschnitt. Georg Stötzel (1995a) überprüft die Zäsurhaftigkeit der 68er-Sprache hinsichtlich der in ‚Kontroverse Begriffe‘ (Stötzel / Wengeler 1995) dargestellten Bereiche Wirtschaftspolitik, Bildungspolitik, Jugend, Fremdwort, deutsche Teilung, NS-Vergangenheit, Terrorismus, Frauenpolitik, usw. und kommt zu dem Schluss: „die Studentenbewegung im engeren Sinn und ihre Auswirkungen [allein rechtfertigen] eine sprachhistorische Zäsursetzung um 1968 … nicht“ (Stötzel 1995a, 146). Klaus Mattheier (2001) möchte mit seinem Beitrag der bis dahin lexikalisch-semantisch ausgerichteten Forschung eine neue Perspektive erschließen. Er plädiert für die Beachtung soziolinguistischer Implikaturen (also die Einbeziehung der Bedingungen, Ursachen und Funktionen von Sprachverwendungsweisen), sowie für die Berücksichtigung der Ebenen Sprachstruktur, Sprachhandeln und Sprachbewertung, die allein eine zureichende Beschreibung von ‚Protestsprache und Politjargon‘ gewährten. Mattheier unterscheidet dann für die 68er-Sprache mit ‚Politjargon‘ (Demokratisierung des politischen Wortschatzes), ‚Spontisprache‘ (der Alternativbewegung) und ‚dirty speech‘ (peripheres Phänomen) drei Varietäten und ihren Einfluss. Das von Martin Klimke und Joachim Scharloth herausgegebene Handbuch ‚zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung‘ (Klimke / Scharloth 2007) enthält zwei im engeren Sinn linguistische Beiträge von Joachim Scharloth, der zum einen die Performation von Ritualbrüchen (z. B. vor Gericht) selbst als Ritus beschreibt (Scharloth 2007a) und der zum andern, an Mattheiers Beitrag anschließend, ‚Linke Wörter und avantgardistische Kommunikationsstile‘ (mit ‚skeptischer Verweigerungsstil‘, ‚intellektuell-avantgardistischer Stil‘ und ‚hedonistischer Selbstverwirklichungsstil‘) als zwei die 68er-Sprache wesentlich erschließende Perspektiven darstellt (Scharloth 2007b). Das Phänomen 68 ist auch in den Sprachgeschichten und in sprachgeschichtlichen Überblicksdarstellungen präsent. Hugo Steger (1989) periodisiert eine Phase 1960 / 65 bis 1972 / 74, die er „Vom Pluralismus zur Sprache der Entzweiung“ nennt (Steger 1989, 11). Epochenmerkmale der Jahre um 1968 seien u. a. der zunehmende Einfluss soziologischer Schulen und der
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Kritischen Theorie auf den entsprechenden Wortschatzbereich (im Sinn von Neudefinitionen, der Ausbildung von Gruppenjargons, Einführung hochgradig abstrakter theoretischer Begriffe „aus sozialwissenschaftlichen Analyseapparaten in die politische Debatte und in das politische Handeln“ [Steger 1989, 12]), sowie kommunikationsgeschichtliche Veränderungen durch die neuen Formen z. B. des Teach-, Sit-, Drop-, March-In. Peter von Polenz (1999), der in Bezug auf 68 die Formel von der zweiten sprachgeschichtlichen Zäsur politischer Sprache nach 1945 geprägt hat2, beschreibt die „restaurativ-integrative[…] Adenauer-Zeit“, zu der die „stark innovative[…], kontroverse[…], pluralistische[…] politische[…] Sprachkultur der sozialliberalen Koalition Brandt / Scheel und [der] Beginn der Protestbewegungen in den späten 60er Jahren“ (ebd. 555) den Gegensatz bildet. Polenz verweist auf die bewusstseinsverändernde Wirkung der sprachkritischen Neuen Linken und auf die „basisdemokratische Belebung kritischen politischen Sprachgebrauchs“ seit etwa 1970. Wir können als Resultat der sprachgeschichtlichen Forschung festhalten: Sie hat die späten 1960er Jahre in die stark evokationshaltige Chiffre „68“ gefasst und die sprachlichen Phänomene auf unterschiedlichen Sprachebenen repräsentiert: Bewusstsein und Selbstbestimmung, autoritär, faschistoid und scheindemokratisch sind typische 68er-Wörter. Repressive Gesellschaft, herrschaftsfreier Dialog, begrenzte Regelverletzung sind typische 68er-Formeln. Flugblätter und Parolen, Reden und Resolutionen sind typische 68er-Texte und Textsorten. Nicht enden wollende Diskussionen auf Vollversammlungen und Teach-ins in überfüllten Hörsälen sind typische kommunikative Praktiken der 68er-Zeit. Wörter, Formeln, Textsorten, Kommunikationspraktiken und -stile – diese Aspekte der 68er Sprache wurden nicht nur interpretiert als Ausdrucksformen der 68er-Bewegung, sondern auch als Phänomene eines sprachlichen Umbruchs, einer Zäsur der Sprachgeschichte.
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„Nach der Adenauer-Ära … gab es eine zweite sprachgeschichtliche Zäsur politischer Sprache … durch die Wirkung des Sprachgebrauchs der Neuen Linken, insbesondere der 1968er-Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO)“ (v. Polenz 1999, 560).
3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte Die vorliegende Untersuchung ist vor diesem Hintergrund der Forschung nicht als ein weiterer Beitrag zu dem globalen linguistischen „Phänomen 68“ zu verstehen, und die evokationshaltige Chiffre „1968“ (bzw. ihre Varianten) wird nicht verwendet (es sei denn, sie kommt in Zitaten vor). Das Programm der Analyse ist aus der Perspektive der Diskurssemantik gestaltet. Diskurssemantik meint ein kontextabhängiges, über einen zentralen Gegenstand definiertes vielfältig spezifiziertes und aspektualisiertes Bedeutungsgefüge eines Diskurses. Der Fokus des Erkenntnisinteresses ist auf den Beitrag des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre zur sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts gerichtet, genauer: auf die Fundierung eines konsequenten Demokratiekonzepts durch die Kritische Theorie, auf die Rezeption (Aneignung und Radikalisierung) dieses Konzepts durch die studentische Linke, sowie auf die diskursiv repräsentierte Kommentierung dieser Rezeption durch die intellektuelle Linke. Damit reduziert und erweitert sich zugleich die Perspektive. Sie reduziert sich, weil hier nicht „68“, als der Komplex vielfältiger Erscheinungsformen auf den sprachlichen Ebenen von der Lexik bis zur Stilistik, in Betracht genommen, bewertet und sprachgeschichtlich eingeordnet wird – dies ist, wie gezeigt, in vielfacher Hinsicht geschehen –, sondern weil der Diskurs als Repräsentation des zentralen Diskursthemas, ‚Demokratie‘, verstanden und insofern überhaupt nicht unter dem evokationshaltigen Zeichen von „68“ rekonstruiert wird. In dieser Hinsicht soll die Untersuchung einen Beitrag zur sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts leisten. Die Perspektive ist gleichzeitig erweitert, weil – mit der Kategorie „kritischer Diskurs“ – eine Beteiligtenkonstellation vorausgesetzt ist, die nicht unbedingt diejenige ist, auf die sprachgeschichtliche Studien zu „68“ gerichtet sind: Indem wir uns auf eine studentische und auf eine intellektuelle Linke als Diskursbeteiligte beziehen, erweitern wir die sprachliche Perspektive. Diese Konstellation verweist auf die Spezifik dieses Diskurses: Der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre ist hinsichtlich seines Gegenstands natürlich ein eminent politischer Diskurs. Die politische Situation der Gegenwartsgesellschaft (der späten 1960er Jahre) ist sein Generalthema, De-
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
mokratisierung dieser Gesellschaft ist sein Motiv. Hinsichtlich der Diskurskonstellationen indessen gilt es jedoch, den weiten Politikbegriff vorauszusetzen, für den z. B. Armin Burkhardt plädiert: Einzubeziehen seien „alle Arten öffentlichen, institutionellen und privaten Sprechens über politische Fragen, alle politiktypischen Textsorten sowie jede für das Sprechen über politische Zusammenhänge charakteristische Weise der Verwendung lexikalischer und stilistischer Sprachmittel“ (Burkhardt 1996, 79). Unter dieser Voraussetzung ist der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre ein öffentlicher, nicht-institutioneller Diskurs, der von Nichtpolitikern, nämlich der studentischen und der intellektuellen Linken, geführt wird und der schließlich in der diskursiven Dimension des rezeptiven Horizonts steht, nämlich der Konstitution und wie immer modifizierten Aneignung einer Referenztheorie, die die Deutungsgrundlage des Diskurses abgibt. Dass die studentische Linke die Rolle der Interpretatoren hat, die intellektuelle Linke die der Korrektoren und Modifikatoren, selten die der Konfirmatoren, gehört weiterhin zur Spezifik dieses im weiteren Sinn politischen Diskurses – wir kommen auf diese Beteiligtenkonstellation zurück. Die Untersuchung ist diskursanalytisch angelegt, d. h. es wird nicht Diskursanalyse als Methode verstanden, sondern vielmehr als eine Perspektive auf einen linguistischen Gegenstand (vgl. Gardt 2007), deren Instrumentierung die Erkenntnisziele bedingen.1 Das Erkenntnisziel der Untersuchung steht im Kontext des Zusammenhangs von Sprache und Gesellschaft und der diskursiven Repräsentation dieses Verhältnisses. Diese Konstellation verlangt ein „Methodenensemble“ (textlinguistischer, pragmalinguistischer, soziolinguistischer, semantischer Provenienz), das den je verschiedenen Erfordernissen der auszuwertenden Diskursfragmente (sprich: Texte und Textsorten) anzupassen, immer aber im Grundsätzlichen der Foucaultschen Diskurstheorie verpflichtet ist.2 Unter der Voraussetzung, dass der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre einen Beitrag zur sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts leistet, sind in den Entwurf seines diskurssemantischen Analyse-
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Insofern ist Warnke / Spitzmüller recht zu geben die darauf verweisen, dass es „eine ‚alleinige‘ Methode diskurslinguistischer Analyse wegen der komplexen Diskursmorphologie und aufgrund der Dynamik des Faches nicht geben [kann]. Es gilt aber, die je nach Forschungsfrage in Betracht kommende linguistische Diskursdimension zu benennen.“ (Warnke / Spitzmüller 2008, 8) So ist auch das komplexe Analysemodell in Warnke / Spitzmüller (2008, 23–45) zu verstehen, das den methodischen Pool diskursanalytischer Perspektiven, der je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse die genuin linguistischen Instrumentarien verfügbar hält – von der Stilistik bis zur Grammatik, von der Textlinguistik bis zur Morphemik, von der Metaphorik bis zur Syntax – rekapituliert.
3.1 Topik – Beteiligte – Texte
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programms einzubeziehen: seine topikalische, seine sprecher(perspektiven) bezogene und seine textuelle resp. mediale Struktur (s. u. Kapitel 3.1). Diese Elemente sind ihrerseits diejenigen Faktoren, die in das Untersuchungsdesign einer diskurssemantischen Konzeptgeschichte (s. u. Kapitel 3.2) einfließen. Diese hat zum Ziel, die diskursive Bedeutungskonstituierung eines, die Politik- und Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflussenden Demokratiekonzepts darzustellen und zu beschreiben, und zwar: im Kontext mit seinen topikalischen Aspektualisierungen, seinen sprecherperspektivenbedingten Ausdeutungen und seinen medialen Repräsentationen. Diese Aspekte sind als Voraussetzungen zu verstehen, die ein diskurssemantisches Analysemodell fundieren, das als Konzeptgeschichte die Kontextualisierungen und lexikalisch-semantischen Vernetzungen des kritischen Diskurses bestimmen.
3.1 Topik – Beteiligte – Texte Unter Diskurs verstehen wir einen Komplex seriell repräsentierter topikalisch kohärenter, kollektiver kommunikativer Akte, die von einer Gruppe von Diskursbeteiligten realisiert und textuell bzw. medial heterogen repräsentiert werden.3 Diese genannten Instanzen Topik, Beteiligte, Texte lassen sich als Bedingungen der den Diskurs strukturierenden sprachlichen Repräsentationen verstehen. Sie werden daher anschließend unter dem Zeichen der Konzeptualisierung – es ist dies diejenige Analyseperspektive, die unserer Fragestellung in Bezug auf den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre entspricht – wiederaufgenommen. Mit dieser Bestimmung ist evident,
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Damit wird deutlich, dass wir uns eng an dem Diskursbegriff Foucaults orientieren, der diese Kategorien eingeführt hat. Die Konstituierung von Serien nennt Foucault als eine der ersten Perspektiven der neuen Geschichte (vgl. Foucault 1973, 15f.). Topik nennt die linguistische Diskursanalyse, was Foucault als Objektidentität von Aussagen bezeichnet: „Die in ihrer Form verschiedenen, in der Zeit verstreuten Aussagen bilden eine Gesamtheit, wenn sie sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen.“ (Ebd. 49) Den Faktor der Beteiligten beschreibt Foucault als „Diskursgesellschaft“, die die Aufgabe habe, „Diskurse aufzubewahren oder zu produzieren, um sie in einem geschlossenen Raum zirkulieren zu lassen“ (Foucault 1974, 27). An anderer Stelle – wenn er die „Formation der Äußerungsmodalitäten“ reflektiert – stellt Foucault die Frage nach den Beteiligten („wer spricht? Wer verfügt über diese Art von Sprache? Wer ist ihr Inhaber? Von wem erhält sie ihren Wahrheitsanspruch?“ [Foucault 1973, 75f.]) als zentrale diskursanalytische Perspektive dar. Schließlich das Korpus, das Foucault als methodologisches Problem der neuen Geschichte beschreibt, etwa „die Konstitution von kohärenten und homogenen Dokumentenkorpussen“ sowie „die Erstellung eines Auswahlprinzips“ (Foucault 1973, 20).
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
dass Diskurs ein Sprachgebrauchsphänomen ist, und unter dieser Perspektive des Sprachgebrauchs bzw. der Sprachgebrauchsgeschichte soll er demnach – hinsichtlich seiner Konzeptualisierungen, also semantisch – dargestellt und in die Geschichte der sprachlichen Demokratisierung eingestellt werden.4
Diskurstopik Die Topik eines Diskurses ist die entscheidende Instanz, die es ermöglicht, einen Diskurs einzugrenzen, zu definieren und als (linguistischen) Gegenstand zu konstituieren. Alle weiteren Instanzen sind relativ zur thematischen gleichsam als sekundär zu bezeichnen. Die topikalische Struktur eines Diskurses lässt sich als ein Komplex aus Haupt-, Unter- und Nebenthemen vorstellen.5 Wer wissen will, worüber zu einer bestimmten (historischen) Zeit geredet wurde, erkennt die gesellschaftliche Relevanz und Brisanz des Diskurses und seiner textuellen Manifestationen in der dominanten, seriell wiederholten Thematisierung eines Diskursgegenstands (Hauptthema), der „gleiche[n] oder doch sehr ähnliche[n] Makro-Proposition“ (Konerding 2007, 124). Als Unterthemen können sprachliche Ausdifferenzierungen eines Hauptthemas bezeichnet werden. Sie zeichnen sich durch einen höheren Grad thematischer Konkretion und Differenziertheit aus.6 Als Nebenthemen können Thematisierungen verstanden werden, die einen Aspekt eines Haupt- oder Unterthemas zum Gegenstand haben. Eine solche hierarchisierende thema-
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Zur Perspektive einer Sprachgebrauchsgeschichte und einer damit bedingten Methodenoffenheit vgl. Kämper 2005, 70ff. Vgl. dazu die grammatische Sichtweise in Zifonun et al. 1997, 510. Konerding (2007, 124) verweist dagegen auf die kommunikative Situierung: Themen werden in Diskursen „durch Wiederaufnahme, Bezugnahme, Kommentierung und (kontroverse) Respondierung in den jeweiligen Texten ‚intertextuell‘, d. h. im Zusammenwirken der Einzeltexte ‚verhandelt‘“. Claudia Fraas beschreibt Subdiskurse als die thematischen Ausdifferenzierungen eines Diskurses (Fraas 1996, 10). Eine terminologisch andere, inhaltlich jedoch ähnliche Systematik entwirft Konerding (2007, 125ff.), der unterscheidet zwischen thematischer Kongruenz (wenn „über die gleichen ‚Aspekte‘ eines Themas gesprochen / geschrieben wird“), thematischer Variation (wenn „wechselseitig verschiedene ‚Aspekte‘ eines gemeinsamen Themas behandelt werden“), thematischer Elaboration (wenn „in den Texten über die gleichen ‚Aspekte‘ eines Themas gesprochen wird, im Vergleich jedoch jeweils verschieden ausführlich und detailliert“) und der thematischen Kontrastierung (wenn „in den Texten über die gleichen ‚Aspekte‘ eines Themas gesprochen wird, … jedoch rollenbezogen wechselseitig verschiedene oder sogar konträre Informationen angeboten werden“).
3.1 Topik – Beteiligte – Texte
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tische Strukturierung ist eine Konstruktion, die wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse entspricht. Sie hat heuristische Funktion und zwar die, die Relationen der einzelnen topikalischen Elemente eines Diskurses plausibel aufeinander zu beziehen.7 Ein wesentliches Kennzeichen des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre ist das ineinander Übergehen der Themen, das eminente aufeinander bezogen Sein der Propositionen. Eine statistische Auswertung bzgl. der „Verteilung der Themen der 68er Bewegung für die Phase von 1965 bis 1971“ hat folgenden Befund zu Tage gefördert: „Die mit Abstand gewichtigste Oberkategorie bildet der Bereich Menschen- und Bürgerrechte / Demokratisierung mit fast der Hälfte aller Proteste, gefolgt von den Bereichen Frieden und Bildung / Hochschule.“ Merkmal sei, dass „in vielen Protesten … mehrere Themen miteinander verknüpft“ werden. (Rucht 2008, 168f.) In der diese Arbeit einleitenden Skizze der thematischen Diskursstruktur wurde dieses Ineinander deutlich. Insofern „Demokratie“ indes als das Hauptthema des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre konstituiert wird, hat dieses Hauptthema den Status einer diskursiven Grundfigur. Mit diesem Terminus bezeichnet Busse verschieden manifeste Repräsentationen von inhaltlichen Diskurselementen. Am Beispiel der diskursiven Grundfigur „das Eigene und das Fremde“ weist er ihre Funktionsweise nach. (Busse 2003, 28–34) Die diskursive Grundfigur „Demokratie“ erfährt in den späten 1960er Jahren auf der topikalischen Ebene in der Bearbeitung von diskursiven Ereignissen wie „2. Juni“, „Notstandsgesetze“, „Springerpresse“ eine je spezifische (aspektualisierte, differenzierte, spezifizierte) Ausprägung, entsprechend auf der Ebene der Beteiligten sowie schließlich medial resp. textuell. Die Kategorie „diskursives Ereignis“ ist zu erklären: Mit Foucault verstehen wir diskursive Ereignisse als „Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten“ (Foucault 1973, 42). Insofern heißt nach diskursiven Ereignissen zu fragen: „wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (ebd.)
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Vgl. Busse / Teubert (1994, 14) und Busse (2006, 20): Bezogen auf sein Konzept der Beschreibung von Wissensstrukturen verweist Busse darauf, dass sie „stets ein Konstrukt ergibt, das Ergebnis wissenschaftlicher Anordnungen, Definitionen und Deutungen“.
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
Diskursbeteiligte Diskursbeteiligte, diejenigen also, die als Vermittlungsinstanz zwischen Sprache und Wissen zu gelten haben (vgl. Warnke / Spitzmüller 2008, 16), konstituieren die Sprechergruppe, die spezifischen, zeittypischen Diskursen Dichte und Dynamik gibt.8 Zentral ist in diesem Zusammenhang der aus der Perspektive der Sprachgeschichte formulierte Gedanke Oskar Reichmanns, dass sich im Zuge außersprachlicher, auf den Sprachwandel einwirkender Vorgänge Gruppen bilden, „z. B. durch politische Grenzen aller Art, durch historische Entwicklungen wie Kriege, soziale und religiöse Bewegungen, durch Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Schichten usw.“ Solche Gruppenkonstellationen haben insofern sprachprägende Kraft, als in ihnen […] die sozialen Interaktionen dichter [sind] als über die Gruppengrenzen hinweg. Daraus können sich besondere sprachliche und sonstige soziokulturelle Qualitäten bilden, die trotz ihrer jeweiligen Spezifik an gemeinsame außersprachliche Bedingungen gebunden sind und sich deshalb in Interdependenz zueinander entwickeln. (Reichmann 1992, 379)
Trotz einheitlicher, die Gruppe als solche konstituierender Einflüsse ist eine Diskursgemeinschaft jedoch nicht als eine homogene Einheit vorzustellen, sondern als eine aus heterogenen Teil-Gemeinschaften bestehende komplexe Formation. Sie ist gekennzeichnet durch unterschiedliche Erfahrungsund Wahrnehmungshorizonte und ein je spezifisches Selbstverständnis der Beteiligten. Kohärenz erhält eine solche, mehr oder weniger heterogene Diskursgemeinschaft sicher, und mitunter ausschließlich, über den topikalischen Bezug.9 Eine Relation zwischen den Diskursbeteiligten und der sprachlichen Konstitution des Diskursthemas besteht insofern, als die Perspektivengebundenheit der Diskursbeteiligten weltbild- und einstellungsprägend ist. Ludwik Fleck beschreibt diese Gebundenheit als den Denkstil des Denkkollektivs – das ist eine Gemeinschaft im Gedankenaustausch (vgl. Fleck 1935, 54f.). Diese bewirkt die thematische Ausgestaltung der Diskur-
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Mit Foucault ist die Frage nach den Beteiligten die Frage danach: „Wer spricht? Wer verfügt begründet über diese Art von Sprache? Wer ist ihr Inhaber? Vor wem erhält sie ihren Wahrheitsanspruch?“. Die Beteiligten bilden eine der Formationen der „Äußerungsmodalitäten“ (Foucault 1973, 75f.). Wir werden im weiteren Verlauf insbesondere die Kontroversen darzustellen haben, die die intellektuelle und die studentische Linke diskursiv austragen – sie bilden im Zuge dieser Bearbeitung über die Topik, auf die die Kontroverse sich bezieht, eine Gemeinschaft.
3.1 Topik – Beteiligte – Texte
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se hinsichtlich ihrer Qualität, gibt ihren sprachlichen Erscheinungsformen eine komplexe Struktur.10 Grundsätzlich lässt sich sagen: Zu einer Diskursgemeinschaft gehören die Repräsentanten der gesellschaftlichen Domänen, z. B. der Politik und der Gesellschaftskritik, des Rechtswesens, der Theologie, Kunst, Kultur usw. Je nach Diskursthema sind diese sowohl qualitativ als auch quantitativ in spezifischer Weise beteiligt.11 Darüber hinaus gehören zur Diskursgemeinschaft natürlich die den Diskurs begleitenden Medienvertreter. Indes: Bei aller Bedeutung, ja unzweifelhaften diskurskonstituierenden Macht der Medien im 20. Jahrhundert – ihre professionellen Vertreter können nicht anders verstanden werden denn als sekundäre Diskursbeteiligte, die den Diskurs in der Regel aus zweiter Hand liefern. Dass die Medien einen Diskurs steuern, diskursive Wirklichkeit je nach politischer Haltung bzw. gesellschaftlichen Interessen schaffen bzw. verändern, ihm auch Dynamik verleihen oder nehmen, steht außer Frage. Initiativ und konstitutiv aber sind sozusagen die textuellen Originale der am Diskurs entscheidend und unmittelbar Beteiligten. Die Rolle der ersten Instanz haben die direkt Beteiligten und ihre Äußerungen, die in Reden und Briefen, in Parteiprogrammen und Tagebuchaufzeichnungen, in Predigten und auf Flugblättern etc. diskursiv repräsentiert sind – es ist dies eine mediale Diskursstruktur, die insbesondere im Kontext eines auf einen sprachlichen Umbruch gerichteten Interesses den Ausschlag gibt. Dieses allgemeine Beteiligtenmodell ist wiederum, abhängig von Fragestellung und Erkenntnisinteresse, zu modifizieren. Das vorliegende Vorhaben betrifft die Beteiligung zweier Gruppierungen, die beide in den späten 1960er Jahren wenn nicht die Diskurshoheit hatten, dann aber doch eine 10
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Mit einem ähnlichen Gedanken konstituieren Warnke / Spitzmüller Diskursgemeinschaften als „Gruppierungen, die innerhalb des Diskurses mehr oder weniger ähnlichen diskursiven Praktiken verpflichtet sind bzw. sich als Kollektiv zu erkennen geben“. Sie seien als „dynamisch vernetzte Gebilde“ zu verstehen sowie als „Resultate (gleichermaßen dynamischer) Identitätszuschreibungen …, deren sprachliche Aushandlung soziolinguistisch beschrieben werden kann“ (Warnke / Spitzmüller 2008, 34). Wir werden in diesem Sinn in Kapitel 4.2 die Diskursrelevanz der Gruppenkonstituierung darstellen. Für die allgemeine Sprachgeschichte plädiert Roelcke dafür, die Beschreibung der Geschichte einer Einzelsprache von der Beschreibung der Geschichte der Sprachverwender abhängig zu machen und dabei insbesondere die gesellschaftlichen Bedingungen, die Sprachwandel hervorbringen, im Sinn von „Beschreibungsbedingungen“ darzustellen. Das sind z. B. „Religion und Kirche, Philosophie, Literatur und Kunst, Gruppierung und Verbreitung der Gesellschaft, Politik und Recht, Handel und Wirtschaft, Bildungswesen, Reflexion und Erforschung sowie Pflege und Kritik von Sprache, Technik und Medien, Naturwissenschaften und Mathematik, Einzelpersonen und geschichtliche Ereignisse“ (Roelcke 1995, 410).
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
starke Position im öffentlichen Diskurs. Es sind außerdem diejenigen Gruppierungen, die einen zentralen Gegenstand ihrer Zeit und der sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt thematisierten. Insofern lautet die Antwort auf die Frage, wer Ende der 1960er Jahre den Demokratiediskurs konstituiert: die intellektuelle und die studentische Linke. Wenn wir den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre aus den Beiträgen dieser Beteiligten rekonstruieren, dann beziehen wir uns mit der intellektuellen Linken auf diejenigen, die Elemente eines neuen Demokratiekonzepts theoretisch im Rahmen einer elaborierten Gesellschaftstheorie eingeführt haben – einerseits – sowie mit der studentischen Linken auf diejenigen, die diese Theorie rezipieren, adaptieren und radikalisieren – andererseits.12 Zur intellektuellen Linken zählen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse13, Jürgen Habermas14, Ludwig von Friedeburg, Alexander Mitscherlich (die Vertreter der Frankfurter Schule mithin), außerdem Wolfgang Abendroth, Johannes Agnoli, Peter Brückner, Furio Cerutti, Hans-Magnus Enzensberger u. a. Es sind dies diejenigen, die zum Teil in einem ambivalenten Verhältnis zwischen Mentor und Gegner zur studentischen Linken stehen und die gleichzeitig (zum größten Teil zumindest) deren Theorielieferanten darstellen: Die Forderungen und Formulierungen der Protestbewegung waren durch theoretische Ansätze aus dem universitären Umfeld geprägt, insbesondere durch die Wissenschaftsdiskurse der Frankfurter Schule. Neben Berlin war Frankfurt ein Hauptzentrum der Protestbewegung, was sich auch in der direkten Konfrontation der dort lehrenden
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Wenn eingewendet wird, dass ein Diskurs wie der hier zu analysierende natürlich auch – im Sinn eines „Gesellschaftsgesprächs“ (Fritz Hermanns) – von den dieses Diskursmilieu (s. dazu unten) sprengenden Beteiligten gestaltet wird, ist dies natürlich richtig. Die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse indes rechtfertigen diese Perspektive. Diese sind gerichtet auf die Begründer der Kritischen Theorie und die Rezipienten dieser Theorie, die damit einen i n it i a le n Beitrag zur Konstituierung eines in den späten 1960er Jahren neuen Demokratiekonzepts leisten. „Mit seinem 1964 publizierten One Dimensional Man, einer Analyse der fortgeschrittenen Industriegesellschaft und ihrer totalitären Manipulationsinstrumente, sollte Marcuse zum bedeutendsten Stichwortgeber für die Studenten diesseits und jenseits des Atlantiks werden. Wie kein anderes Mitglied aus dem ehemaligen Institut für Sozialforschung setzte er damit die Forschungstradition der Kritischen Theorie fort.“ (Krohn 2003, 707) Seine Rolle schildert Karl-Heinz Bohrer: „Der intellektuelle Charme, die zur Diskussion bereite Großzügigkeit, die der junge Philosoph Habermas verbreitete, verwandelte sich in den politischen Stil einer zivilen Gesittung, immer auch mit einem elitären Anflug. Es war die Inkarnation des Nichtspießigen in der neuen Universität, und in diesem auch ästhetischen Erscheinungscharakter wurde Habermas Synonym für ’68, in welche Auseinandersetzungen immer er auch später mit der agitierten Studentenschaft noch geraten sollte.“ (Bohrer 1997, 391)
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Theorielieferanten mit studentischen Protestaktivisten, insbesondere mit den aktiven Mitgliedern des SDS, niederschlug. Die Beteiligtengruppe der studentischen Linken besteht aus Aktivisten wie Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl, Bernd Rabehl, Wolfgang Lefèvre, dem Berliner und Frankfurter SDS mithin, bzw. Sprechern anderer, der APO angehörigen Gruppen. Die Haltung einer ernsthaften, an wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen interessierten, auf kritischer Analyse basierenden politischen Lebensform ist ein wesentliches, diese Gruppierung zusammenhaltendes Kennzeichen. Diese Haltung sollte den Genannten insofern zugeschrieben werden, als sie Vertreter einer gesellschaftspolitischen Zielvorstellung sind, die, bei aller Utopik und Realismusferne, doch im Rahmen eines, wenn auch radikalen Modells verbleibt, dem demokratische Züge nicht abzusprechen sind. Beteiligt sind darüber hinaus altersmäßig zu der Übergangsgeneration, hinsichtlich ihrer politischen Sympathie aber wesentlich zur studentischen Linken zählende Assistenten oder junge Promovierte wie Oskar Negt, Ekkehard Krippendorf, Klaus Meschkat. Diese Beteiligtenkonstellation lässt sich milieutheoretisch modellieren.15 Orientiert an einem Milieukonzept, ist es das intellektuelle Milieu, in dem sich beide Gruppierungen, die der studentischen und die der intellektuellen Linken, bewegen.16 Die „Sozialfigur des Studenten“ (Schulze 1993, 312) ist einer der Typen des Selbstverwirklichungsmilieus. Dies Milieu kennzeichnet u. a. „Trivialdistanz“ (Schulze 1993, 312), so dass das Harmoniemilieu das Gegenstück bildet.17 Als „Kernmilieu sozialer Bewegungen“ (Schulze 1993, 319) ist dem Selbstverwirklichungsmilieu die kritische Haltung inhärent, ebenso Skepsis „gegenüber Autoritäten und hierarchischen Strukturen“ (Schulze 1993, 319). Die Tatsache, dass dieses Milieu immer wieder „seit Ende der sechziger Jahre zum Ausgangspunkt sozialer Bewe-
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Auch Bude / Kohli plädieren für diese Perspektive: „mit Hilfe des Milieubegriffs [können] Diskursgemeinschaften identifiziert werden, für die ein bestimmter Denkstil charakteristisch ist: welche exemplarischen Probleme immer wieder auftauchen, welche Metaphern, Mythen und Modelle bei der Deutung dieser Probleme Verwendung finden und welche Adressaten vorzugsweise angesprochen werden.“ (Bude / Kohli 1989, 11) „Achtundsechzig [markiert] eine Neuordnung und -orientierung der intellektuellen Eliten der Bundesrepublik …, deren soziale und biographische Perspektiven sich vervielfältigen. In dieser Zeit verlieren die bisherigen Subjektkonzepte von Intellektuellen rapide an Attraktivität und Autorität. Das gilt gleichermaßen für das männlich-heroische Konzept … wie für das bildungsbürgerliche …; für das nonkonformistische wie das … kleinbürgerlich-autoritäre Konzept“ (Bogdal 2001, 19). Merkmal des Harmoniemilieus ist „Fatalismus“ (Schulze 1993, 294), „besonders hohe[…] Bereitschaft zur politischen Unterordnung …, verbunden mit der Ablehnung von Unruhe, Innovation, Protest. Das Harmonieideal wird umgesetzt im politischen Ziel einer statischen, geführten und disziplinierten Gesellschaft“ (ebd. 295).
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gungen“ (Studenten-, Frauen-, Alternativ-, Anti-AKW-, Friedens-, Ökologiebewegung) wurde (Schulze 1993, 313), ist nicht nur Ausdruck ihrer gesellschaftspolitischen Zielsetzungen, sondern auch ihrer Wirkmächtigkeit. Diese Bewegungen etablieren sich in Gegenkultur und altersspezifischen Ausdrucksformen, die geprägt sind von einem eigenständigen Jugendkonzept. Nicht Übergangsphase, sondern gesellschaftsverändernde Kraft ist ihr Merkmal, und dies „gilt umso mehr, wenn jugendliche Gegenkulturen die Dimension von Protestbewegungen, Revolten und alternativen Existenzformen annehmen.“ (Schulze 1993, 367f.) In welcher Relation stehen Protestbewegung und Zeit, in der sie aufkommt? Für die sechziger Jahre beschreibt Schulze eine „Metamorphose von Großgruppen“, den Wandel der „gesamte[n] Segmentierungsstruktur der Bundesrepublik …, weil neue Gruppierungen in das Relationsgefüge eingriffen und den Kontext veränderten.“ (Schulze 1993, 535) Nicht mehr die vertikale hierarchische Struktur, sondern die Segmentierung nach Lebensalter beherrschte die soziale Wahrnehmung. „Die jungen Gebildeten – Gymnasiasten und Studenten – waren das Milieu der Stunde“ (ebd.), Selbstverwirklichung ist das Gebot. Unter diesen Bedingungen geriet die Auseinandersetzung „mit dem ‚herrschenden System‘“ zu einem emotionalisierten Szenario von „Verachtung, kulturelle[r] Verunsicherung, Angst vor Identitätsverlust und Besserwisserei“ auf Seiten der Protestbewegung, „in den Abwehrgesten der Angegriffenen kam deutlich zum Ausdruck, dass diese Zeit (vor allem das Jahrzehnt zwischen 1965 und 1975) maßgeblich durch einen Kulturkonflikt zwischen soziokulturellen Milieus gekennzeichnet war.“ So erklärt sich der „Ruf nach Ruhe und Ordnung“ als Reaktion auf […] neue[…] politische[…], intellektuelle[…], sprachliche[…] und alltagsästhetische[…] Stile, durch das Gefühl der Abwertung. Ein jugendspezifischer Anspruch auf Progressivität und Überlegenheit kam auf, von dem sich ältere Personen … plötzlich ausgeschlossen sahen. (Schulze 1993, 537)
Neue Stile also – sie manifestieren sich in der „kulturpolitischen Diskussion“, in dem Aufkommen „magische[r] Worte“ wie etwa „‚Kreativität‘, ‚Selbstverwirklichung‘, ‚Autonomie‘, ‚Identität‘, ‚Selbermachen‘, ‚Aktivierung‘, ‚Animation‘“ (ebd. 540) – es sind dies lexikalische Repräsentationen der von den Protagonisten als demokratisch verstandenen Grundideen der Protestbewegung, deren Größe übrigens unerheblich zu sein scheint.18
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„Tatsächlich war der SDS auf die größeren Universitätsorte beschränkt gewesen und hatte dort nie mehr als ein paar Dutzend oder, wie in Berlin und Frankfurt, ein paar
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Wie bestimmt sich, milieuspezifisch, die Gruppe der am Diskurs beteiligten intellektuellen Linken? Auch sie lässt sich in gewisser Weise dem Selbstverwirklichungsmilieu zuordnen, nämlich unter der Voraussetzung, dass zu seinen Merkmalen „Nähe zum Hochkulturschema“ und „Distanz zum Trivialschema“ zählt, und der Typus des Selbstverwirklichungsmilieus insofern mit dem „traditionellen Stiltypus des Bildungsbürgertums“ korrespondiert (Schulze 1993, 312). Dass andere und wesentliche Merkmale des Selbstverwirklichungstyps, wie etwa der „ichverankerte Ich-Welt-Bezug“ (ebd. 313), Unkonventionalität in Kleidung und Lebensform u. Ä., nicht zutreffen, ist selbstverständlich. Abgesehen davon ist es aber vor allem das Niveaumilieu, dem die intellektuelle Linke zuzuweisen ist. Ihre Vertreter sind der „Hochkulturszene“ (Schulze 1993, 283) zugeneigt, „Taxieren[…], Moralisieren[…], Pädagogisieren[…]“ (ebd. 284) sind Ausdrucksformen ebenso wie „Bildung des Urteils … als Vorgang objektiver Erkenntnis“ (ebd. 285) und „leichte[…] Tendenz zur Unzufriedenheit“. Das Niveaumilieu „spiegelt Grundlinien der modernen Persönlichkeit wider, die im Menschenbild der Aufklärung und des Bürgertums angelegt waren“, seine Mitglieder zeigen „Neigung zur Reflexivität“ und „Aufgeschlossenheit gegenüber dem öffentlichen Bereich“ (ebd. 289). Wir werden sehen, dass diese Milieuzuordnung – Nähe einerseits, Differenz andererseits – sprachliche Entsprechungen hat. Im Sprachgebrauch werden z. B. zum einen inhaltliche Übereinstimmung hinsichtlich bestimmter kommunikativ konstituierter Protestziele, Argumentationsmuster und Ausdrucksformen feststellbar, zum andern konträre Auffassungen bzgl. der Erreichung dieser Ziele – der Theorie-und-Praxis-Diskurs (s. u. Kapitel 7) ist ein Ausdruck dieser Divergenz.
Hundert rundum aktive Mitglieder. Zwar strömten tausende auf die großen Teach-ins und Demonstrationen. Und es gab jugendliche Rebellen in nahezu allen Orten und vielen gesellschaftlichen Bereichen. Aber 1967 / 68 waren das Einzelgänger oder kleine Cliquen, die sich an einer Reihe von Codes erkannten. Das Kernpotential der Jugendrevolte von 1968 läßt sich auf (maximal) 20.000 Aktive schätzen, davon allein 4–5000 in Westberlin. Der SDS hatte auf dem Höhepunkt etwa 2500 Mitglieder. Erst mit der Auflösung von APO und SDS 1969 / 70 wurde aus der antiautoritären Jugendrevolte eine echte, generationell geprägte Massenbewegung.“ (Koenen 2002, 17f.) 1966 zählte der SDS rund 1000 Mitglieder (Aly 2008, 80).
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
Diskurstexte Ein Diskurs setzt sich zusammen aus Serien von singulären Texten als Formen kommunikativer Akte, „Aussagen“ nennt sie Foucault.19 Texte konstituieren den Diskurs „als System des Denkens und Argumentierens“ (Warnke 2002, 134). Auch sie stellen, wie die Diskursgemeinschaft, ausschließlich in topikalischer Hinsicht eine Einheit dar. Insofern Texte die medialen Träger von Aussagen sind, ist Aufgabe einer linguistischen Diskursanalyse die Konstituierung einer auf das Erkenntnisinteresse abgestimmten und die diskursive Wirklichkeit repräsentierende Textbasis – eines Korpus m.a.W. Darauf, dass wir es bereits in diesem Stadium der Korpusbildung mit Deutungsakten zu tun haben, machen Busse / Teubert (1994) aufmerksam.20 Unter Zurückstellung von Medientexten (was oben in Bezug auf die Beteiligten mit dem Argument ‚Diskurs aus zweiter Hand‘ dargestellt wurde, gilt natürlich entsprechend auch in Bezug auf die Texte) und unter der Voraussetzung eines weiten Diskurskonzepts21 lassen sich als Prinzipien der Korpuserstellung formulieren: Diskurse werden sprachlich markant von spezifischen Textträgern bzw. kommunikativen Mustern realisiert. Es ist die mediale Beschaffenheit, die die Diskursstruktur signifikant prägt. Nach Löffler, dem hier zu folgen ist, finden „Texte … in sozialen Situationen statt, die sich durch eine bestimmte Sprecherkonstellation kennzeichnen“. Solche „‚Redekonstellationen‘“ sind „von aktuellen Bedingungen, Absichten, Erwartungen, Einschätzungen der beteiligten Personen geprägt“ (Löff-
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Die Aussage beschreibt Foucault als die kleinste diskurskonstituierende Einheit, die sich zu einem Aussagesystem, der diskursiven Formation aufstellen und „dem eine Gruppe sprachlicher Performanzen gehorcht.“ (Foucault 1973, 169). Von dieser Perspektive aus definiert Foucault Diskurs als „eine Menge von Aussagen …, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. … Er wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. … Er ist durch und durch historisch: Fragment der Geschichte, Einheit und Diskontinuität in der Geschichte selbst.“ (Ebd., 170) Auf die Idee der Diskontinuität kommen wir später und unten im Rahmen unserer Ergebnisdarstellung und -interpretation (s. u. Kapitel 9.3), zurück. 20 „Die Korpusbildung, d. h. die Konstitution einer diskursiven Einheit als prospektiven Untersuchungsgegenstandes der Linguistik, basiert … auf Deutungsakten. Diskursive Relationen können (wie intertextuelle Relationen jeglicher Art) als Bedeutungsbeziehungen nicht unabhängig von ihrer Deutung bestehen. Die Konstitution des Diskurses, der das Forschungsobjekt bilden soll, setzt daher stets schon Interpretationshandlungen der Forscher voraus.“ (Busse / Teubert 1994, 16) 21 Damit ist gemeint: Diskurse sind ein wenn nicht omnipräsentes, dann aber doch weit in einer Gesellschaft verbreitetes, keineswegs nur von Zeitungen repräsentiertes sprachliches Phänomen, das dieser Breite entsprechend in einem Korpus zu repräsentieren ist (vgl. dazu ausführlicher Kämper 2005, 85ff.).
3.1 Topik – Beteiligte – Texte
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ler 2005, 154). ‚Diskurs‘ in diesem sozio-pragmatischen Sinn ist also zu verstehen als in Texten manifest werdende gesellschaftliche Kommunikation unter den Bedingungen der spezifischen Teilnehmerkonstellation und der historischen gesellschaftlichen Kontexte, in denen sie – in unserem Fall mit politischen Absichten – agieren. Texte repräsentieren insofern den Diskurs hinsichtlich der an ihm beteiligten Sprecher und Themen und sie bestimmen Diskursdynamik und Diskursverlauf.22 Unter diesen Voraussetzungen sind Flugblätter und Reden, Kongressbeiträge, Aufsätze und Analysen, Diskussionen und Resolutionen die medialen Repräsentationen, die den politisierten und wortfreudigen kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre wesentlich kennzeichnen. Sie sind zugänglich in Sammelbänden, die als solche bereits Textgeschichte sind: „Geschichte ist machbar“ und „Mein langer Marsch“ mit Texten von Rudi Dutschke etwa oder der von Uwe Bergmann, Rudi Dutschke, Wolfgang Lefèvre und Bernd Rabehl 1968 herausgegebene Sammelband „Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition“. Jürgen Habermas, Zentralfigur als der intellektuelle Kommentator, der Diskussionspartner und -gegner der studentischen Linken, gibt Dokumente dieser Rencontres in dem wichtigen Sammelband „Protestbewegung und Hochschulreform“ heraus. Einer der prominentesten Sammelbände ist der von Oskar Negt 1968 herausgegebene „Die Linke antwortet Habermas“, der den Disput der studentischen Linken (und ihrer etablierten Mentoren Furio Cerutti, Peter Brückner, Wolfgang Abendroth) mit Jürgen Habermas dokumentiert. Zum Korpus zählen die Vorträge und Rundfunkgespräche Theodor W. Adornos, die unter dem Titel „Erziehung nach Auschwitz“, „Erziehung – wozu?“, „Erziehung zur Entbarbarisierung“ und „Erziehung zur Mündigkeit“ erschienen sind. Wichtig sind Periodika, z. B. die SDS-Zeitschrift „neue kritik“ und das von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene „Kursbuch“.23 Die studentische Linke setzt auf Dokumentation – die von Knut Nevermann veranstaltete und vom Verband Deutscher Studentenschaften herausgegebene zum 2. Juni (vgl. Nevermann (Hg.) 1967) etwa ist eine Quelle, ebenso wie der von Detlev Claussen und Regine Dermitzel 1968 herausgegebene Sammelband „Universität und Widerstand“. Ebenfalls vermutlich 1968 erscheint die „Der Untergang der Bild-Zeitung“ überschriebene Sammlung von Texten zur Springerkampagne. Sie enthält „Reden und Referate des KU [Kritische Universität]Arbeitskreises“ vom Februar 1968, sowie „Arbeiten …, die die Rolle Springers in dem Selbstaufklärungsprozeß der Studenten zu beschreiben versuchen“ (Untergang der BildZeitung 1968, 3). Die Textgeschichte der späten 1960er Jahre wäre unvollständig ohne Reden und Diskussionen: die berühmte Rede Peter Schneiders ‚Wir haben Fehler gemacht‘, die Römerbergreden von Hans-Jürgen Krahl, Oskar Negt und KD Wolff, die Podiumsdiskussion, an der u. a. Dutschke, Augstein und Dahrendorf teilgenommen haben, die Diskussion, die Ende 1968 im Republikanischen Club zu dem Thema ‚Demonstration und Gewalt‘ stattfand, sowie die Diskussion, in der Habermas, von Friedeburg und Alexander Mitscherlich mit streikenden Studenten am 16. Dezember 1968
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Girnth (1996, 72f.) unterscheidet in diesem Sinn, also des Anteils an der Diskursdynamik und am Diskursverlauf, eine Reihe diskursiver Funktionen von Texten, z. B. initial, prozessual, terminal, diskurstranszendent, dominierend etc. Wir werden im weiteren Verlauf auf diese Funktionen zurückkommen. Zum Kursbuch als Leitmedium Ende der 1960er Jahre vgl. Marmulla 2007.
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
stritten, sind deshalb im Korpus. Der Beitrag Habermas’ auf dem Kongress in Hannover vom 9. Juni 1967 und die anschließende Diskussion zu der Invektive linker Faschismus sind ebenso aufgenommen, wie Aufsätze und Analysen. Zu den wichtigen Publikationen zählt auch das „Revolutionslexikon. Handbuch der Außerparlamentarischen Aktion“ von Peter Weigt aus dem Jahr 1968. Als Einzelpublikationen gehören selbstverständlich schließlich dazu die des zentralen Diskurslenkers Herbert Marcuse, „Der eindimensionale Mensch“ (Marcuse 1967a) und „Versuch über die Befreiung“ (Marcuse 1969). Was nicht separat zugänglich war, konnte aus der Fundgrube Kraushaar (2003, Band 2) entnommen werden, einiges war zudem aus dem Internet zu ziehen.
3.2 Vom Wort im Kontext zum Konzept – Diskurssemantik als Konzeptgeschichte Die Thematik eines Diskurses, wir nennen sie Diskurstopik, verdichtet sich lexikalisch-lexikologisch in seinem Wortschatz.24 Diesem gilt – unter dem Zeichen der soziolinguistischen Implikationen, die auf die beiden Sprecherperspektiven verweisen – in hohem Maß die Aufmerksamkeit der Analyse. Das dieser Untersuchung als Paradigma prinzipiell zugrundeliegende kulturwissenschaftliche Axiom der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit manifestiert sich sprachlich nirgends mit solcher Evidenz wie auf der lexikalisch-semantischen Ebene. Mit der Überzeugung jedoch, dass die Klassifizierung einer rein „wortorientierten Analyse“ defizitär ist (vgl. Warnke / Spitzmüller 2008, 25), ist die lexikalisch-semantisch fokussierte Diskursanalyse im Folgenden nicht als Erklärung einzelner Wörter und ihres Gebrauchs im Diskurs angelegt, sondern als kontextgebundene Konzeptanalyse zu verstehen. Bedeutungskonstitution (meaning construction25) als kontextbestimmte diskursive Konzeptualisierung (conceptualization) ist die Leitidee dieser Analyseperspektive.26 Abgesehen davon, dass „Konzept“ eine Kategorie ist, die die englische Begriffsgeschichte als „History of Concepts“ in der Tradition der von Reinhart Koselleck begründeten Begriffsgeschichte verwendet27, ist sie natürlich in das kognitionslinguistische Paradigma zu stellen. Konzepte sind
24 Diskurswortschatz definiert Busch als „denjenigen Teil des gesamten lexikalischen Diskursinventars …, der auf gemeinsprachlichem Substrat zur Nomination des jeweiligen Diskursgegenstands … verwendet wird.“ (Busch 2007, 145) 25 „Meaning construction is an on-line mental activity whereby speech participants create meanings in every communicative act on the basis of underspecified linguistic units.“ (Radden u. a. 2007, 3) 26 Vgl. dazu u. a. Radden 2007, Hübler 2001, Nuyts 1999. 27 Vgl. u. a. Steinmetz 2008, 174ff. und Hampsher-Monk 1998.
3.2 Vom Wort im Kontext zum Konzept – Diskurssemantik als Konzeptgeschichte
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komplexe mentale Strukturen, die in Hierarchien bzw. Netzen Bedeutungswissen strukturieren. Insofern verstehen wir Konzept als ein, einen Bedeutungszusammenhang stiftendes netzartiges und / oder hierarchisches mentales Gebilde und setzen voraus, dass 1. Konzepte lexikalisch-semantische Repräsentationen haben, also auf Wortkörper verweisen, dass sie 2. Bedeutungen bündeln, dass „Konzept“ also eine semantische Sammelkategorie ist, die lexikalisch komplex repräsentierte Bedeutungsaspekte integriert, und dass sie 3. Ergebnisse von Kontextualisierungen sind. Zu 1. „Konzept“ ist – als die Übersetzung der realen Welt (vgl. Aitchison 1997, 52) – die Bezeichnung für mental strukturiertes, Welt organisierendes Bedeutungswissen, vice versa: „The meanings of linguistic expressions are conceptualizations“ (Langacker 1997, 242). Bedeutung wird von verbalen lexikalischen Entsprechungen repräsentiert, wobei die Bedeutung einer solchen lexikalischen Entsprechung und sein Konzept sich zu einem großen Teil überschneiden (Aitchison 1997, 52). Zu 2. „Konzept“ bezeichnet komplexe – und das heißt hierarchische bzw. netzförmige – mentale Bedeutungsstrukturen, denen ebenso komplexe hierarchisch bzw. netzförmig aufeinander bezogene lexikalisch-semantische Realisationen entsprechen, die sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch in einer Bedeutungsbeziehung zueinander stehen. Wittgenstein übersetzend, der jedem Wort eine „Familie von Bedeutungen“ zuweist (PU § 77), hat jedes Konzept eine Familie von, dieses Konzept je unterschiedlich repräsentierenden und netzförmig bzw. hierarchisch aufeinander bezogenen (Konzept-)Elementen bzw. Konzeptausdeutungen.28 Wenn wir zwischen Semantik und Konzept eine Relation herstellen wollen, so können wir sagen, dass die Semantik der Wortebene zuzuweisen ist, während sich Konzepte auf der Wortnetzebene konstituieren. Insofern ist ein Konzept gleichsam als Summe von „Semantiken“ vorzustellen. Wenn wir also „Konzept“ auffassen als Bezeichnung für eine komplexe hierarchische bzw. netzförmige mentale Struktur, dann setzen wir damit voraus, dass ein Konzept sich aus Konzeptelementen zusammensetzt – Elisabeth Leinfellner definiert in diesem Sinn Konzepte als „Klassen, denen Lexeme angehören“ (Leinfellner 1992, 194), die ihrerseits in einer Bedeutungsrelation zu anderen Konzepten stehen können (vgl. Schwarz 2008, 115).29 Netze haben ein Zentrum, Hierar28 Ekkehard Felder gebraucht in diesem Sinn die Bezeichnung „Konzeptausprägungen“, die „als Bedeutungsaspekte bzw. Akzentuierungen identifiziert werden“ (Felder 2006, 18). 29 Das Hund-Konzept etwa steht in einer Bedeutungsrelation zum Katze-Konzept, beide sind Subkonzepte des Tier-Konzepts, dieses wiederum ist Parallel-Konzept zum Mensch-Konzept usw. Monika Schwarz nennt „Konzepte, die Informationen über gan-
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
chien haben einen Kopf – zur Bezeichnung des Zentrums bzw. des Kopfes von Konzeptstrukturen führt Leinfellner die Kategorie „Superkonzept“ ein (Leinfellner 1992, 247), mit der wir unseren Diskursgegenstand, „Demokratie“, bezeichnen wollen.30 Damit ist die Frage nach der Granularität und der Differenzspezifizierung von Konzepten zu beantworten. Konzepte sind, wie Diskurse, heuristische, aus forschungspraktischen Gründen konstruierte bzw. festgelegte Einheiten. Insofern ist es einerseits lediglich „eine praktische Frage, wie ‚fein‘ man die Netzkonzepte braucht oder haben will“ (Leinfellner 1992, 250). Andererseits muss (und kann) ebenso offen bleiben, ob eine lexikalische Repräsentation einem oder mehreren Konzepten zuzuweisen ist (vgl. ebd. 151).31 Zu 3. Konzepte bzw. Konzeptualisierungen sind, als Bedeutungskonstituenten bzw. Bedeutung konstituierende Akte, Ergebnisse von Kontextualisierungen.32 Wenn wir Kontext sehr allgemein als Produktions- und Verstehensvoraussetzung von sprachlichen Äußerungen begreifen, dann sind Kontextualisierungen als semantische Sinngebungsakte der Produktion bzw. des Verstehens sprachlicher Einheiten vorzustellen und damit als Elemente gesellschaftlichen Wissens. Darauf bezieht sich die Kognitionslinguistik, wenn z. B. Langacker (1997) den Kontext als diejenige Instanz beschreibt, die die Grundlage für die linguistische Struktur bildet: „Whatever form its representation takes, the apprehended context is a crucial facet of the ongoing conceptualization
ze Klassen von Objekten speichern“ „Type-Konzepte“ und unterscheidet sie von solchen, „die individuelle Objekte repräsentieren“, die sie „Token-Konzepte“ nennt (Schwarz 2008, 109). Wir sehen auch: Das Konzeptmodell ist als die kognitionstheoretische Version einer Theorie von Bedeutungsrelationen vorstellbar. So bilden, nach Lutzeier (1995, 80ff.), Netzelemente die Bedeutungsrelationen Antonym, Komplenym, Konverse, Reverse. 30 Dass wir „Demokratie“ daneben auch mit Busse als „diskursive Grundfigur“ bezeichnen, ist nicht Zeichen terminologischer Nachlässigkeit. Während wir mit „Konzept“ bzw. „Superkonzept“ die Struktur unseres Gegenstands auf der Bedeutungsebene beschreiben, verweisen wir mit „diskursive Grundfigur“ auf die Funktion einer diskursiven Grundidee, die einen Diskurs dominiert und sich unterschiedlich lexikalisch-semantisch manifestiert. 31 Mit der Idee von Konzepten, die sich im Diskurs manifestieren, können wir insofern auch auf Foucault verweisen, als er als diskursanalytische Aufgabe die Beschreibung der „anonyme[n] Verstreuung [von Begriffen] durch Texte, Bücher und Werke“ (Foucault 1973, 89) ausweist. Der Diskurs sei der „Ort des Auftauchens der Begriffe; … man beschreibt den [!] begrifflichen Raster ausgehend von den immanenten Regelmäßigkeiten des Diskurses.“ (Ebd. 91) 32 Zu verweisen ist auf den Begründer des britischen Kontextualismus, John R. Firth: „Meaning … is to be regarded as a complex of contextual relations.“ (Firth 1968, 173) Die Terminologie ist nicht gefestigt, das Phänomen firmiert auch unter den Namen „Situation“, „Äußerungsbedingungen“ oder „Determination“ (vgl. Aschenberg 1999), während andererseits z. B. „Situation“ auch als „Kontexttyp“ gefasst wird (ebd. 103).
3.2 Vom Wort im Kontext zum Konzept – Diskurssemantik als Konzeptgeschichte
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that provides the basis for linguistic structure.“ (Langacker 1997, 234) Die Kontextabhängigkeit von Konzepten ist hinlänglich dargestellt und es gibt zahlreiche Typologisierungsversuche (vgl. dazu Aschenberg 1999): Monika Schwarz beschreibt „durch Kontexteffekte gebildete Konzeptualisierungen“ (Schwarz 2008, 233). Elisabeth Leinfellner, die Konzepte als „semantische Kategorisierungen von Kontexten“ (Leinfellner 1992, 194) versteht, verweist darauf, dass Konzepte z. B. je nach Person, Wissensgebiet usw. verschieden strukturiert sind.33 Dietrich Busse definiert Diskurse als Markierungen von Kontextualisierungszusammenhängen (2007, 82) und stellt unter dieser Voraussetzung ein differenziertes Modell von Ebenen und Typen von Kontextualisierungen als diskurslinguistische Perspektive vor. Warnke / Spitzmüller verweisen auf Bedeutung als Resultat einer Kontextualisierung.34 Ronald Langacker beschreibt Kontextualisierungsvorgänge als Verstehensvorgänge: […] the essential import of the content requirement is that a speaker’s entire apprehension of the context (including its discourse and interactional dimensions) constitutes the basis for linguistic meanings, with any facets of the context having the potential to be evoked as part of an expression’s actual semantic value (Langacker 1997, 236).
Auch innerhalb der Diskurstheorie Foucaults ist Kontext ein entscheidendes Kriterium der Sinnkonstituierung von Aussagen.35 Deren Funktion „kann nicht ohne Existenz eines assoziierten Gebiets [i.e. Kontext] ausgeübt werden. Das macht aus der Aussage etwas anderes und mehr als eine reine Ansammlung von Zeichen, die zu ihrer Existenz lediglich einer materiellen Stütze bedürfte“ (Foucault 1973, 139). Foucault hat ganz offensichtlich eine Vorstellung von der desambiguierenden Funktion von Kontextualisierungen, wenn er den Prozess von „eine[r] Sequenz von sprachlichen Elementen“ zu einer „Aussage“ beschreibt. Letztere werde zu einer solchen „nur dann …, wenn sie in ein Aussagefeld [i.e. Kontext] eingetaucht ist, wo
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„[…] z. B. wird das Konzept tier* für eine / n Biologin / en anders strukturiert sein als für ein Kind.“ (Leinfellner 1992, 201) 34 Es gibt „kein kontinuierliches Bedeuten der Welt …, sondern eher Brüche in der Positivierung, die es aufzudecken gilt. Bedeutung ist damit immer spezifisch, nur im Diskurs gegeben und resultiert aus einer Kontextualisierung … im verstehensrelevanten Wissen.“ (Warnke / Spitzmüller 2008, 7) 35 Foucault verwendet unterschiedliche Termini zur Konzipierung derselben Sache, und zwar: „Aussagemechanismus“, in den sich eine Aussage integriere (Foucault 1973, 144), „Aussagekoexistenz“ (ebd. 145) und „Aussagefeld“, als „das Gebiet der Koexistenz, worin sich die Aussagenfunktion auswirkt“ (ebd.), „assoziiertes Gebiet“ (ebd. 139) oder schließlich und gleichbedeutend „assoziiertes Feld“ (ebd. 143f.)
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
sie dann als ein besonderes [i.e. desambiguiertes] Element erscheint.“ (Ebd., 144) Vor diesem Hintergrund konstituieren wir „Demokratie“ als den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre wesentlich dominierendes Superkonzept und beschreiben den Gegenstand der Darstellung als die Rekonstruktion von Konzeptualisierungen und von Konzeptualisierungsstrategien dieses Superkonzepts in ihren kontextuellen Bezügen und in ihren semantischen Relationen. Als kontextuelle Bezüge unterscheiden wir –
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unmittelbar diskurskonstitutive Faktoren – Topik mit dem Hauptthema „Demokratie“ und thematischen Ausdeutungen und Spezifizierungen, – Beteiligte der studentischen und intellektuellen Linken mit entsprechender situationsspezifischer Redekonstellation, – Texte mit Textsorten wie Rede, informelle Diskussion, Podiumsdiskussion usw., mittelbar diskurskonstitutive Faktoren – die den Diskurs initiierenden Ereignisse („2. Juni 1967“, „Notstandsgesetze“, „Springer-Presse“), – die Kritische Theorie als Idee- und Argumentgeber bzw., für die studentische Linke, als Folie zur Elaborierung eigener politischer Perspektiven und Handlungskonzepte, – der geschichtliche Erfahrungshintergrund des Nationalsozialismus als stets präsentes Vergleichsargument.
Die Konzeptualisierungsstrategien werden auf zwei Ebenen dargestellt: Auf der ersten Ebene wird das Superkonzept „Demokratie“ und seine diskursive Bearbeitung hinsichtlich seiner diskursiven Manifestationen funktionalisiert. Diese Manifestationen heißen: ‚Identifizieren‘ (Kapitel 4), ‚Kritisieren‘ (Kapitel 5), ‚Entdemokratisieren‘ (Kapitel 6), ‚Legitimieren‘ (Kapitel 7) und ‚Modellieren‘ (Kapitel 8). Die Konzeptualisierung von „Demokratie“ im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre wird mithin modelliert – – – – –
als Identität herstellende Konstituierung der beiden Beteiligtengruppen durch diese selbst; als kommunikative und interpretative Grundhaltung der Kritik; als Reflexzone Faschismus, mit deren Aktivierung die Beteiligten die Gegenwartsgesellschaft entdemokratisieren; als Legitimierung und Delegitimierung politischer Handlungsformen der Akteure; als positive und explizite Demokratiekonzepte.
3.2 Vom Wort im Kontext zum Konzept – Diskurssemantik als Konzeptgeschichte
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Dass die Ausdeutungen auf dieser Ebene terminologisch mit Bezeichnungen sprachlicher Handlungen erfasst werden, gibt der pragmatischen Vorstellung Ausdruck, dass ein Diskurs aus kollektiven sprachlichen Handlungen besteht, die diskursspezifische Funktionen haben. Diese diskursspezifischen Funktionen werden auf der zweiten Ebene sowohl kontextuell als auch konzeptuell weiter ausgedeutet (aspektualisiert, spezifiziert usw.). Auf allen Ebenen ist die Darstellung auf die konzeptuell-semantischen Diskursrepräsentationen fokussiert. Diese Diskursrepräsentationen sind auf allen Ebenen als Verdichtungen des kritischen Diskurses zu beschreiben. Sie sind zum einen Schlüssel- und Leitwörter und sog. ‚politische Schlagwörter‘, die meist substantivischen Diskurselemente also. Albert Busch nennt sie diskursive „Kernkonzepte“ (Busch 2004, 14), Jochen A. Bär verwendet die Kategorie „semantische ‚Knotenpunkte‘“ (Bär 2000, 46). Es handelt sich dabei um Verdichtungen, die sich in „Chiffren“ (Busse 2006) manifestieren. Damit bezeichnet Busse epistemische Einheiten, die als solche einem Wissensrahmen entsprechen. Diese Chiffren zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein hohes „Evokationspotenzial“ haben.36 Ein Diskurs verdichtet sich jedoch nicht nur in solchen Chiffren. Konzepte werden mithin nicht nur von solchen meist substantivischen, meist als Schlag- und Schlüsselwörter zu beschreibenden lexikalisch-semantischen Einheiten repräsentiert. Unter der Voraussetzung, dass im Diskurs Konzepte durch jegliche relevante lexikalisch-semantische Einheiten repräsentiert werden, dass also jegliche Wortschatzeinheiten konzeptuelle Relevanz haben, zählen außerdem u. a. typische Wortbildungselemente37 dazu, Temporaladverbien und -phrasen38, Formeln, Mehrworteinheiten oder Kollokationen.39 In
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Busse verwendet „Evokation“ als Ersatzausdruck für das unbestimmtere „Assoziation“. Coseriu definiert „Evokation“ als „die Gesamtheit dieser Funktionen, die sich nicht direkt auf die Darstellungsfunktion reduzieren lassen“. Sie „trägt besonders viel zum Reichtum der Sprache bei, durch sie entsteht jene Mehrdeutigkeit, die man nicht immer nur negativ als ‚Vagheit‘ sehen sollte, sondern durchaus positiv als eine Bereicherung.“ (Coseriu 1994, 137) Für den kritischen Diskurs Ende der 1960er Jahre sind stark evokationshaltige Chiffren z. B. Faschismus, autoritär, Bewußtsein, Diskussion, Manipulation, Mündigkeit etc. Mit Felder ließe sich hier auch von „handlungsleitenden Konzepten“ sprechen. Es seien dies „die Konzepte bzw. Begriffe der sprachlichen Inhaltsseite, welche die Textproduzenten bei der Konstituierung und Vermittlung von Sachverhalten unbewusst verwenden oder bewusst versuchen durchzusetzen“ (Felder 2006, 18). Den Diskurs der späten 1960er Jahre kennzeichnet etwa ein hohes Aufkommen der Präfixe anti- bzw. gegen-. Vgl. Kämper 2005, z. B. 160ff., 173ff., 186f. Temporaldeiktika entsprechen Ausdeutungen der Zeitkonzepte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In unserem Kontext ist herrschend eine solche dominante Temporaldeixis. Vgl. auch Steyer / Brunner 2008. Für den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre
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3 Diskurssemantik: Kontexte und Konzepte
einem Konzeptmodell sind diese Repräsentationen als Konzeptausdeutungen bzw. -aspekte zueinander und zu dem Superkonzept, sowohl syntagmatisch als auch paradigmatisch, in Beziehung zu setzen. Insofern lässt sich im Rahmen eines Konzeptmodells die lexikalisch-semantische Struktur eines Diskurses als Komplex semantisch bzw. konzeptuell relationaler Bezüge darstellen, die einzelnen lexikalisch-semantischen Einheiten als Ausdeutungen (Spezifizierungen, Aspektualisierungen usw.) des diskursiven Superkonzepts, in unserem Fall des Superkonzepts „Demokratie“.40 Insofern der Diskurs im Sinn eines Demokratiediskurses rekonstruiert wird, ist „Demokratismus“ die diskurslexikologische Kategorie zur Klassifizierung der demokratiebezogenen Lexik, genauer: der demokratiebezeichnenden (aspektualisierenden, spezifizierenden) Nominationen dieses Diskurses. Demokratismus ist die diskurslexikologische Kategorie zur Bezeichnung der positiv bzw. negativ konstitutiven Elemente der Demokratiekonzepte im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre. Dieses Konzeptmodell ist auch die Grundlage für die lexikografische Darstellung der lexikalisch-semantischen Befunde dieser Analyse. Das online veröffentlichte ‘Wörterbuch zum Kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre’ ist als Diskurswörterbuch konzipiert und seine Einträge beschreiben nicht nur das relevante, den Diskurs konstituierende und ihn realisierende Vokabular, sondern modellieren auch das thematisch strukturierte Bedeutungsnetz der lexikalischen Diskursrepräsentanten (vgl. Kämper 2006; www.owid.de/wb/disk68/start.html).
sind als feste Wortverbindungen nachweisbar z. B. autoritärer Staat / autoritärer Charakter, Öffentlichkeit herstellen / Bewußtsein herstellen, revolutionäre Situation. Zu prüfen ist, ob an diesen diskursanalytischen Aspekt das Modell der Wissensrahmen, das Busse (2006) für die Diskurslinguistik stark gemacht hat, anschließbar ist. Mit diesem Modell weist er das evokative Potenzial kontextualisierter Chiffren nach, das dann dem Diskurs Dynamik verleiht, wenn diese Chiffren in eine bis dahin nicht mögliche semantische Beziehung treten. Beispiel für eine solche Beziehung ist im Diskurs der späten 1960er Jahre linker Faschismus (s. u. Kapitel 4.2). 40 Dieser Verlauf von der Ebene der Topik über die der Kontexte auf die Ebene der Lexik bzw. Konzepte entspricht auch einem top-down-Verfahren, das Ekkehard Felder für die Analyse fachsprachlicher Diskurse empfiehlt: „Eine linguistische Analyse fachsprachlicher Diskurse muss … von der Beschreibung des kommunikativen Gebrauchs sprachlicher Zeichen ausgehen und kann nicht die kognitiven Korrelate, also den Begriff oder das Konzept, an den Anfang der sprachwissenschaftlichen Analyse stellen, weil dieser vor Untersuchungsbeginn nur unzureichend beschrieben werden kann … und infolgedessen ausschließlich über die Verwendungsweisen ermittelt werden kann … Die vielfältigen Sprachhandlungen verdichten sich für im Fachdiskurs Erfahrene in Fachtermini.“ (Felder 2006, 34) Die Einschränkung auf Fachdiskurse kann in Bezug auf diese Verfahrensbeschreibung ohne weiteres aufgehoben werden: Jeglicher Diskurs ist zunächst ein kommunikatives Ereignis, das als solches bestimmend ist für den diesen Diskurs repräsentierenden Zeichengebrauch.
3.2 Vom Wort im Kontext zum Konzept – Diskurssemantik als Konzeptgeschichte
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Die Befunde sind einzuordnen und zu bewerten – einzuordnen in die Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts, zu bewerten als sprachlicher Umbruch. Sprachliche Umbrüche sind eine Perspektive der Sprachgeschichte und die Epochengrenzen an sich sind ihr Gegenstand (vgl. Kämper 2011).41 Auch mit diesem Programm befinden wir uns im Einvernehmen mit Foucaults Leitideen. Hinsichtlich der Einordnung und Bewertung des kritischen Diskurses als sprachgeschichtliches Umbruchphänomen können wir uns auf sein Konzept der „Diskontinuität“ beziehen. Foucaults Aufforderung an die Diskursanalyse, die „ersten Oberflächen ihres [der Diskursobjekte] Auftauchens“, die „Flächen des Zutagetretens“ zu finden (Foucault 1973, 62) lautet, in das diskursanalytische Programm einer sprachlichen Demokratiegeschichte übersetzt: diejenigen sprachlichen Phänomene finden und beschreiben, die in der kurzen Zeit des kritischen Diskurses der sprachlichen Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts eine neue Perspektive geben und sie verändern, die also, mit Foucault, die Kontinuität des Diskurses unterbrechen und ein neu ausgedeutetes und spezifiziertes Demokratiekonzept etablieren. Mit diesen Qualifizierungen sind die Grundeinheiten des Konzeptmodells beschrieben, die den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre strukturieren. Die Segmente des Komplexes verstehen wir als Konstituenten seines Demokratiekonzepts. In diesem Sinn beschreiben wir im Folgenden „Demokratie“ als das, den Diskurs abgrenzende Superkonzept, dem kontextuell bedingte Ausdeutungen (Spezifizierungen, Aspektualisierungen) – ihrerseits hierarchie- und netzbildend – zuzuweisen sind, deren Manifestationen ggf. im Sinn von weiteren Ausdeutungen zu beschreiben sind, die schließlich als lexikologische Netze, in denen die einzelnen Demokratismen zueinander in Beziehung treten, realisiert werden.
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Sprachlicher Umbruch ist bisher kaum im Fokus des sprachgeschichtlichen Interesses (vgl. Kämper 2005, 2008). Ausnahme – der politische Wechsel von 1989 / 90, der bereits eine ganze Reihe erhellender Arbeiten befördert hat, denen die Leitidee ‚Sprache und plötzlicher politischer Wechsel‘ allesamt eingeschrieben war. Man war sich der Gelegenheit gegenwärtig, „diese historisch einmalige Entwicklung“ sprachanalytisch begleiten zu können, denn: „Üblicherweise vollziehen sich Sprachwandel … und Sprachgebrauchswandel … als langsame, fast unmerkliche Prozesse“ (Fix 1997, 86). Man nutzte diese Gelegenheit, und die sprachliche Umbruchforschung zu 1989 / 90 manifestiert sich in Titeln wie ‚Sprache im Umbruch‘ (Burkhardt / Fritzsche 1992), ‚Erzählen im Umbruch‘ (Bredel 1999), ‚Kommunikation in gesellschaftlichen Umbruchsituationen‘ (Auer / Hausendorf 2000). Gemeint ist die Wende, die lexikografisch in Herberg u. a. (1997) dargestellt ist.
4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand1 Ein Diskurs wird unter Bedingungen – Entstehungs- und Möglichkeitsbedingungen – realisiert, die seine Genealogie und Beschaffenheit bestimmen. In diesem Sinn sind Aspekte der Voraussetzungsstruktur des kritischen Diskurses der 1960er Jahre die Identität schaffenden sprachlichen Gruppenund Gegenwartskonstitutionen. Dissoziation, die Unterscheidung und Abgrenzung der Diskursbeteiligten ist ein als diskursive Strategie zu beschreibendes Phänomen des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre: Die beiden wesentlich am Diskurs beteiligten Gruppen der studentischen und der intellektuellen Linken konstituieren sich und die jeweils andere Gruppe.2 Gruppenkonstituierung aus der Auto- und aus der Heteroperspektive realisieren Zuschreibungen, die, in der Funktion der Gruppenintegrierung, der Gruppenabgrenzung und der Identitätsbildung mit dem Gebrauch theoretischer und ideologiesprachlicher Muster korrespondieren. Insofern wir uns in diesem Abschnitt auf sprachliche Fremd- und Selbstkonzepte (vgl. Warnke / Spitzmüller 2008, 34ff.) beziehen, haben wir es linguistisch mit Stereotypen zu tun, die psychologisch zu den gruppeninternen Beziehungen zählen.3 Dieser sprachlichen Gruppenkonstitution kommt diskursge-
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Andreas Rothenhöfer hat Vorarbeiten zu diesem Abschnitt geleistet. Warnke / Spitzmüller haben – in Anlehnung an Foucaults Kategorie der sociétés de discours – die entscheidende diskurskonstitutive Kraft der Diskursgemeinschaften dargestellt als „Resultate (gleichsam dynamischer) Identitätszuschreibungen“ (Warnke / Spitzmüller 2008, 34). „Intergroup relations are, psychologically, characterized by stereotypes (beliefs), prejudices (affect) and discrimination (behaviors …).“ (Bourhis / Maass 2005, 1587). Wir folgen der Definition der Autoren: „Stereotypes are … beliefs shared by in-group members about how one’s own and other groups are characterized by certain traits and behavioral tendencies which may be positive or negative“ (ebd.). Stereotype grenzen sich von Vorurteilen insofern ab, als diese auf „negative feelings and attitudes towards outgroups“ referieren (ebd.). Stereotypisierung aus der Autoperspektive wird verstanden als „self-categorizing as a group member in a particular setting“ mit der Funktion, „to anchor one’s social identity“ (ebd.). Solche soziale Identität ist „part of the self-concept, which is based on a person’s group membership, which is felt to be important and valued“ (ebd.). Soziale Identität unterscheidet sich von personaler Identität (personal identity). Diese „pertains to self-descriptions which are unique to the self and are based
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
schichtlich größte Bedeutung zu. In unserem Fall dienen die gruppenkonstituierenden Stereotype nicht nur dazu, „to order our complex social environment in manageable and predictable units and schemas“ (Bourhis / Maass 2005, 1587), sondern: Die Konstitution des Selbst- und des Fremdbildes im Rahmen des politischen Diskurses Ende der 1960er Jahre erscheint insofern als essentiell, als sie die diskursiven Bedingungen schafft, unter denen die Beteiligten den Diskurs führen und sprachlich realisieren. Selbst- und Fremdverständnis sind Voraussetzungen, unter denen der Diskurs sprachlich realisiert wird, unter denen seine Gegenstände, und insbesondere die Demokratiekonzepte der Beteiligten, konstruiert werden.4 Wenn wir uns weigern, uns von professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausbilden zu lassen, bezahlen wir mit dem Risiko, das Studium ohne Abschluß beenden zu müssen (Provisorisches Komitee 1966, 23) lesen wir in dem berühmten sog. ‚Fachidiotenflugblatt‘ aus dem Jahr 1966. Es ist nicht schwer vorauszusagen, daß die heutigen Rebellen, oder mindestens viele von ihnen, sich in eine neue totalitäre Ordnung begeistert einfügen würden (Horkheimer 1968b, 488) antizipiert Horkheimer und denkt dabei studentische Linke und (Neo-)Nazismus zusammen. Diese beiden Diskursbeiträge aus den beiden diskursrelevanten Perspektiven dokumentieren: Wenn die Diskursbeteiligten übereinander reden, kennzeichnen gelegentlich Respektlosigkeit einerseits, Kriminalisierung und Radikalisierung andererseits den Redestil. Diese beiden Aussagen konstituieren die jeweils andere Gruppe der Diskursbeteiligten durch die Zuschreibung von Eigenschaften, also durch Stereotype. Die Konstituierung derjenigen Akteursgruppen, die den Diskurs dominieren, hat die Funktion, durch verbale Zuordnungen Gruppengrenzen zu profilieren, durch stereotypisierende Eigenschaftszuschreibungen Haltungen zu bezeichnen und natürlich (und vielleicht vor allem) Identität zu schaffen. Wenn wir dabei nach der sprachlichen Konzeption der Beteiligtengruppen fragen, einerseits der intellektuellen, andererseits der studentischen Linken, jeweils aus der Selbstsicht und aus der Sicht des Antipoden, so müssen wir feststellen: Die studentische Linke ist der Hauptgegenstand der Gruppenkonstituierung aus beiden Perspektiven. Diese Gruppe ist in hohem Maß selbstreflexiv, und sie und ihr Handeln sind in hohem Maß
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on the specific attributes of the individual such as personality, abilities, and personal achievements“ (ebd.). Vgl. dazu auch Girnth (1996), der ebenfalls „Gruppenbezogenheit“ als ein Merkmal ausweist, das „das Wesen des politischen Diskurses“ ausmacht (69f.). Als weitere Merkmale nennt Girnth „Öffentlichkeit“, „Dissensorientiertheit“, „Inszeniertheit / Mehrfachadressiertheit“.
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auch Motiv für die Auseinandersetzung der intellektuellen Linken mit den studentischen Akteuren des Protests und der aus dieser Auseinandersetzung resultierenden Konzeption. Als diskursiv weniger signifikant, wiewohl vorhanden, erweist sich dagegen die Konzeption der intellektuellen Linken, sowohl aus der Sicht der studentischen Linken, als auch aus der Selbstsicht. Identitätsstiftende Selbstreflexion und abgrenzende und wertende Heteroreflexion und werthaltige Zuschreibungen erfährt also dominant die Gruppe der studentischen Linken. Eine systematische Zusammenstellung derjenigen Prädikate und Zuschreibungen, mit denen die studentische Linke die eigene Gruppe konstituiert und abgrenzt, ergibt zunächst ein komplexes Bild. Die Auffassung der Gesamtheit des Protestkollektivs als eine nach außen deutlich abgegrenzte Einheit kommt mit Kollektivsingularen wie Lager, (Protest-)Bewegung, Gruppe, Masse, Opposition, APO, SDS, Widerstand, (Teil der) Studentenschaft, Jugend, (studentische) Linke, Avantgarde, Verband, Basisgruppe zum Ausdruck. Einzelne Mitglieder eines Gesamtkollektivs bzw. ein Kollektiv, das als Gesamtheit von Einzelpersonen aufgefasst wird, werden mit Personenbezeichnungen wie Aktivisten, Agitatoren, Rebellen, politisierte Studenten, die Antiautoritären thematisiert. Attribute und Eigenschaftszuschreibungen, mit denen Mitglieder der Protestbewegung sich selbst konzipieren, sind antiautoritär und oppositionell, radikal und sozialistisch, kritisch und links, außerparlamentarisch, progressiv und revolutionär. Diese Vielfalt gruppenkonstituierender tokens darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gruppenkonstituierung aus der Autoperspektive der studentischen Beteiligten im Wesentlichen und diskursiv s i g n i f i k a n t (d. h. dominant) ein überschaubares Register leistet, bestehend aus den substantivischen Kollokatoren –
Student(enbewegung), Revolutionär, Bewegung, Opposition, Rebell(en), Linke,
sowie aus den adjektivischen Partnerwörtern –
antiautoritär, oppositionell, radikal, kritisch, außerparlamentarisch, revolutionär, studentisch, politisiert, demokratisch, rebellisch / rebellierend, links.
Diese dominanten Kollokationselemente bilden folgende attributivische Wahlverwandtschaften: – – – – – – – – – – – –
antiautoritär mit Studenten und Bewegung, oppositionell mit Studenten und Bewegung, radikal mit Opposition, sozialistisch mit Studenten, kritisch mit Studenten, außerparlamentarisch mit Opposition, revolutionär mit Bewegung, studentisch mit Bewegung, Opposition und Rebell(en), politisiert mit Studenten, demokratisch mit Opposition, revolutionär mit Opposition, links mit Studenten.
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Substantivisch orientiert verbinden sich also dominant – – – – –
Bewegung (Protest-, Studenten-, Massen-) mit antiautoritär, oppositionell, revolutionär, studentisch; Student(en) mit oppositionell, sozialistisch, kritisch, antiautoritär, revolutionär, politisiert, rebellisch / rebellierend; Opposition mit radikal, außerparlamentarisch, studentisch, revolutionär, demokratisch; Linke mit studentisch, sozialistisch; Rebellen mit studentisch.
Wenn wir weiter nach dem lexikalisch-semantischen Kern der gruppenkonstituierenden Autoperspektive fragen, können wir sagen: Die Selbstsicht der studentischen Linken ist wesentlich geprägt von den dominanten Zuschreibungen Studenten / studentisch, Opposition / oppositionell, Bewegung sowie antiautoritär, links, revolutionär und außerparlamentarisch. Diese gehen am häufigsten kollokative Verbindungen ein. Bemerkenswert: Das autosemantische Potenzial von Revolutionär scheint derart ausgeprägt, dass dieses Stereotyp ohne weitere Zuschreibungen verwendet wird. So wird etwa die erwartbare Kollokation studentische Revolutionäre in den Texten des ausgewerteten Korpus nicht verwendet. Halten wir dagegen die sprachliche Konstituierung der studentischen Linken aus der Perspektive der intellektuellen Linken. Auf das Protestkollektiv bzw. dessen Teilgruppen und Institutionalisierungen nehmen die Vertreter der intellektuellen Linken mit Bezeichnungen wie (Protest-, Studenten-, Jugend-)Bewegung, (Rand-, Splitter-)Gruppe, Opposition und APO, Jugend, (studentische / neue) Linke und Intelligenz Bezug. Auf einzelne Mitglieder bezieht man sich insbesondere mit Radikale und Studenten, Demonstranten, Aktivisten / Aktionisten, Kommilitonen und Rebellen. Belegt ist eine Vielfalt an (erwartbaren) positiv und negativ wertenden bzw. deskriptiv-konstatierenden Zuschreibungen wie radikal und rebellisch / rebellierend, politisch / politisiert und sozialistisch, links, opponierend / oppositionell und protestierend, engagiert, außerparlamentarisch und revoltierend. Die dominanten Heterostereotype sind im Wesentlichen keine andern als die Autostereotype und auch angesichts dieser Bezeichnungsvielfalt gilt, was bereits im Zusammenhang mit den Autostereotypen formuliert wurde. Es gibt Serien hoch frequenter dominanter Verbindungen. Diese gehen im Wesentlichen zwei Kollokatoren ein: – –
Opposition / opponierend / oppositionell verbindet sich mit außerparlamentarisch, Studenten(schaft), Minderheit, studentisch, links-radikal. Studenten(gruppe(n), -schaft, -bewegung, -opposition) geht Verbindungen ein mit radikal, rebellierend, politisch, politisiert, sozialistisch, linke, opponierend, engagiert, revoltierend.
Als signifikante gruppenkonstituierende Strategie erweist sich für die Perspektive der intellektuellen Linken: Das hoch frequente Autostereotyp antiautoritär ist kein Heterostereotyp (s. dazu unten Kapitel 4.2.1), umgekehrt sind die Heterostereotype revoltierend, rebellisch und aktionistisch keine Autostereotype.
So groß die geistige Nähe zwischen studentischer und intellektueller Linken im Prinzipiellen ist – auf der Ebene der verbalen Gruppenkonstitution findet man nicht zusammen, weder kategoriell, noch in einem integrativen Wir. Selbst- und Fremdverständnis ist sprachlich auf zwei Motivbereichen
4.1 Das Generationenstereotyp
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basiert: Zum einen konstituiert man sich mit dem generationellen Motiv (4.1), zum andern schafft man politisch motivierte Identitäten (4.2).
4.1 Das Generationenstereotyp Studentische und intellektuelle Linke bilden hinsichtlich ihrer prinzipiellen Weltsicht eine Werte- und Überzeugungsgemeinschaft. So erklären sich gelegentliche sprachliche Koalitionsbildungen, z. B. anlässlich des Todes von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967, über den man sich übereinstimmend empört, die Staatsreaktion erkennt man synchron als autoritären Akt, sieht konsensuell das Grundrecht der freien Meinungsäußerung eingeschränkt, die Demokratie in Gefahr. Linke Professoren solidarisierten sich mit den protestierenden Studenten, diese kollektive emotive Disposition schafft Gemeinschaft: Ludwig von Friedeburg ebenso wie Adorno dokumentieren mit ihren Formulierungen, der gewaltsame Tod unseres Berliner Kommilitonen Benno Ohnesorg5 bzw. Ermordung unseres Kommilitonen Ohnesorg6, ein Verhältnis zwischen der Lehrer- und Schülergeneration als ein nicht per se konfrontatives und durch wechselseitige Abgrenzung geprägtes. Die integrative Wir-Form des Possessivpronomens, die die Professoren auf die Ebene der Studenten ziehende akademische Solidarisierungsformel unser Kommilitone schaffen Gemeinschaft. Indes: Solch hierarchiefreier Sprachgebrauch ist nicht die Regel und bereits eine Formulierung wie sympathisierende Intellektuelle, mit der Habermas (1968b, 466) zwar Affinität ausdrückt, schafft gleichzeitig eine Grenze, die bei aller weltanschaulichen Nähe undurchlässig ist – es ist die gleichsam natürliche Grenze zwischen Generationen: zwischen Lehrer und Schüler, zwischen alt und jung, zwischen moderat und radikal. Dass die Professoren Habermas und Adorno die biologische Tatsache ihres älter Seins benennen, ist an sich natürlich nicht weiter bemerkenswert: Habermas weist z. B. seine Haltung zu den „Protestspielen“ der Studentenbewegung mit einem mit dem Alter argumentierenden Kommentar aus – Wir Älteren sind von den Protestspielen schockiert (Habermas 1967b,
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Der gewaltsame Tod unseres Berliner Kommilitonen Benno Ohnesorg, der während einer Polizeiaktion gegen eine politische Demonstration erschossen wurde, hat nicht nur Studenten und Professoren aller Universitäten unseres Landes zutiefst betroffen und beunruhigt, sondern weite Kreise der Öffentlichkeit und der Bevölkerung der Bundesrepublik (v. Friedeburg 1967, 60). […] all das ist bei der Ermordung unseres Kommilitonen Ohnesorg nicht das Entscheidende (Adorno 1967a, 324).
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172) –, analysiert die Generationenbedingtheit der Protestformen und befindet: Die neuen Techniken sind nicht generationsneutral. (Habermas 1968a, 192)7 Adorno weist ein – nicht ganz ernst gemeintes – Ansinnen eines studentischen Aktivisten, beim Sternmarsch auf Bonn mit uns zusammen … die Bannmeile zu durchbrechen8, mit dem Bedenken zurück: Ich weiß nicht, ob ältere Herren mit einem Embonpoint die richtigen Personen sind, in einer Demonstration mitzumarschieren (Adorno 1968a, 465).9 Diese Selbstsicht als der älteren Generation angehörig ist gleichsam belastet von einer dilemmatischen Konstellation: Affinität zur Protestbewegung einerseits, Lehrer-Schüler-Verhältnis andererseits. Hinzu kommt, dass man kommunikative Ansprüche stellt, wie sie Adorno formuliert: Es ist für einen älteren Universitätslehrer nicht ganz leicht, über die Frage der Demokratie und Universität ein öffentliches Gespräch zu führen (Adorno / Szondi 1967, 304) Mit dieser Verständnis heischenden Formulierung seiner Einsicht leitet Adorno dann eine Rollenanalyse ein, die dokumentiert: Adorno bemüht sich um, eine barrierefreie Kommunikation der Generationen ermöglichende Bedingungen.10
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Gemeint sind die Demonstrationstechniken der begrenzten Regelverletzung, übernommen aus dem Repertoire des gewaltlosen Widerstandes, das während der letzten Jahre in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung erprobt und erweitert worden ist, also Sit-in, Teach-in, Go-in etc. (Habermas 1968a, 191). Glauben Sie nicht, Herr Professor Adorno, daß es tatsächlich Bedeutung hätte, wenn beispielsweise jemand wie Sie, mit der Stimme, mit dem Ruf und der Bedeutung gerade auch für die studentische Bewegung, beispielsweise beim Sternmarsch auf Bonn mit uns zusammen, sagen wir, die Bannmeile durchbrochen hätte. (Wolff 1968b, 464) Dieses auch schon Ende der 1960er Jahre veraltete Scherzwort wiederum nimmt ein weiterer Diskutant im späteren Verlauf auf: jene Träger der kritischen Existenz sollten und müßten sich, eben um durch ihre Autorität auf die Massen aufklärend zu wirken, auch immer solidarisierend in jener revolutionierenden Praxis einsetzen, und vielleicht darüber, um mit einem Scherz zu schließen, ihren Embonpoint vergessen. (Holz 1968, 466f.) Da gibt es auf der einen Seite die Möglichkeit, daß man onkelhaft mit sogenanntem lächelndem Verständnis von den „jungen Leuten“ redet und daß man dabei in jene abscheuliche Denkgewohnheit gerät, die da zwischen einem „gesunden Kern“ und „übertriebenen“ oder „ungesunden Randphänomenen“ unterscheidet. Eine Haltung, die ich um keinen Preis einnehmen möchte, um so weniger, als mir der Wahrheitsgehalt des Satzes von Gustav Mahler gegenwärtig ist, daß die Hörner, die wir uns abstoßen sollen, meist das Beste an uns sind. Dann gibt es jenen mir kaum weniger widerstrebenden Standpunkt des Sich-Anklebens an die Jungen, des Mitlaufens einfach deshalb, weil man nun glaubt, daß man mit den Bataillonen der Zukunft es halte und daß man dadurch etwas hinter sich habe: das ist überhaupt eine Problematik, die für die gesamte Situation der Universität und Universitätskrise heute charakteristisch ist. Schließlich gibt es dann noch den wirklich autoritären Standpunkt, der, ganz schlicht gesagt, all dem widerspricht, wofür ich mein Leben lang eingestanden bin, und wovon ich auch nicht ablasse, wenn man zuweilen mich selber autoritärer Neigungen bezichtigt (Adorno / Szondi 1967, 304).
4.1 Das Generationenstereotyp
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Hochschullehrer also stellen fest, dass sie älter sind als diejenigen, mit denen sie es im Diskurs zu tun haben. Auf diesen an sich trivialen Befund ist deshalb zu verweisen, weil Ende der 1960er Jahre die Kategorien alt und jung eine spezifische Ausprägung erfahren. Das intellektuelle Establishment ist in dieser Diskurskonstellation eine Gruppe, die sich zwischen den Polen einer dominant von Jugendlichen, die ihre Schüler sind, bestimmten gesellschaftskritischen Opposition und einer arrivierten, statusbewussten Führungsschicht befindet. Das Spezifische dieser Konstellation ist das Phänomen, dass hier das Selbstbild Wir Älteren eine eigene Lesart bekommt. Es handelt sich nicht nur um die Repräsentation des traditionellen bürgerlichen alt-jung-Klischees mit konventionell daraus abgeleiteten Zuschreibungen (‚erfahren‘ vs ‚naiv‘, ‚moderat‘ vs ‚radikal‘ etc.). Was, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, das alt-jung-Konzept der Diskursbeteiligten Ende der 1960er Jahre darüber hinaus und womöglich wesentlich prägt, ist die Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte in Relation zum Nationalsozialismus. Dessen Zeitspanne 1933 bis 1945 und das Verhalten der Beteiligten in diesen zwölf Jahren gibt das entscheidende Kriterium ab in Bezug auf das Autostereotyp wir Älteren. Dieses heißt in der Beteiligtenkonstellation des Protestdiskurses Ende der 1960er Jahre: entweder durch Emigration (wie Adorno, Horkheimer und Marcuse) oder durch Alter (wie Habermas und v. Friedeburg) unverdächtig. Habermas analysiert diese Konstellation: Wir Älteren: damit meine ich genaugenommen die, die sich ohne Verdienst, allein ihres Jahrgangs wegen, während der Naziperiode nicht durch Teilnahme oder Stillhalten diskreditieren konnten und doch durch die deutliche Erinnerung an den Faschismus, der Folgen hatte für die Biographie jedes einzelnen, geprägt sind. (Habermas 1969b, 49) Diese die generationellen Unterschiede markierende Selbstsicht der intellektuellen Linken – sie kommt auch zum Ausdruck in der Kategorisierung Ausbruch der „Generationsrevolte“ (Löwenthal 1970, 7) – hat als Komplement das Heterostereotyp jung, mit dem die intellektuelle Linke die studentischen Mitglieder der Protestbewegung diskursiv konstituiert. Abgesehen von gelegentlichen positiven Herausstellungen – Habermas etwa verweist auf die eigentümliche Sensibilität der jungen Aktivisten11 sowie auf die Leistung, die die studentische Protestbewegung in ihrem Bemühen um 11
Sie sind sensibel geworden für die lebensgeschichtlichen Kosten einer von Statuskonkurrenz, Leistungswettbewerb und Bürokratisierung aller Lebensbereiche bestimmten Gesellschaft; diese Kosten erscheinen ihnen im Verhältnis zu dem technologischen Potential unverhältnismäßig hoch. Die Jungen sind sehr sensibel geworden für die Gefahren einer Ordnung, die die Aggression nicht bannt, sondern steigert – militärisch und ökonomisch, die nämlich strategische Risiken weltweiten Ausmaßes ebenso
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
gesellschaftliche Veränderungen mit altersspezifischen Techniken vollbringt12 – ist das Jugendkonzept wesentlich bestimmt von diesem, die Jugendlichkeit keineswegs als Tugend herausstellenden Stereotyp. Impuls gebend ist hier u. a. die Analyse Jürgen Habermas’, der den neuen Demonstrationstechniken des politischen Widerstands den virtuellen Charakter eines Spiels zuschreibt (oft auf Pennälerniveau) und die er psychologisch deutet als ritualisierte Formen der Erpressung und des Trotzes von Heranwachsenden gegenüber unaufmerksamen, aber relativ nachsichtigen Eltern. Damit erkläre sich, dass sie für Leute über Dreißig kaum zugänglich seien, die mit dem Gestus des erfahrenen Kämpfers wiederholte Forderung der Jüngeren an die Älteren, an ihrer Praxis teilzunehmen sei daher naiv. Diese Analyse Habermas’ gibt einem Diskurs Impuls, der, indem er die junge Generation der studentischen Aktivisten zum Widerspruch veranlasst, einer Identitätskonstruktion gleichkommt. Im Zuge dieses Widerspruchs der studentischen Linken bestätigt diese zwar die Generationenspezifität der Bewegung, wertet jedoch das Argument ab, entweder, weil es trivial sei13, oder weil die Protest- als Jugendbewegung nur temporäre Funktion habe14,
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hervorbringt, wie den Pauperismus der Moderne in den Ländern der Dritten Welt. (Habermas 1967b, 175f.) Unter der Voraussetzung, dass die neuen Demonstrationstechniken sich als im Prinzip gewaltlose, symbolisch gemeinte und altersspezifisch anwendbare Techniken des Widerstandes begreifen lassen hätten sie gute Funktion. Sie sind vorzüglich geeignet (aber auch nur dazu), Publizitätsbarrieren zu beseitigen und … massenhafte Aufklärungsprozesse, in Gang zu setzen. Denn: Die neuen Demonstrationstechniken treffen die einzige schwache Stelle des legitimationsbedürftigen Herrschaftssystems, nämlich die funktionsnotwendige Entpolitisierung breiter Bevölkerungsschichten. (Habermas 1968a, 192) Daß „revolutionäre“ Bewegungen (synonym: solche, die revolutionär hätten werden können; oder solche, die Revolutionen um Jahrzehnte vorangehen; oder solche, die in Zukunft an die Stelle derer treten, die man in der Vergangenheit „revolutionär“ zu nennen gewohnt war; oder auch schlicht: anstoßendanstößige Bewegungen) von der jeweiligen Jugend getragen werden, ist ein Gemeinplatz. Sie sind daher in der Tat nicht „generationsneutral“. Für die politische Beurteilung der betreffenden Bewegung ist dieser Umstand jedoch aus ebendemselben Grund unerheblich. Immerhin kann kein Zweifel sein, daß die gegenwärtige Bewegung, von der zudem niemand weiß, ob sie nicht eine höchst ephemere (etwa weil bloß kulturelle) Erscheinung bleiben wird, hinreichend befremdliche Elemente an sich hat, um „für Leute über Dreißig“ kaum zugänglich zu sein (Dörner 1968, 63f.). Habermas hat recht: „Die neuen Techniken sind nicht generationsneutral.“ … Zwar sind die Techniken der Bewußtmachung dieser Konflikte generationsspezifisch, „für Leute über Dreißig kaum zugänglich“, aber das doch nur deshalb und so lange, wie wir uns in der Phase der Initialzündungen befi nden, jedenfalls in Westdeutschland (Krippendorff 1968, 162f.).
4.1 Das Generationenstereotyp
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oder weil die Jugendlichkeit der Bewegung bestimmte Widerstandsformen erlaube.15 Was weiterhin zu Identität verhilft, ist die Diskussion derjenigen Merkmale, die als Stereotype des Konzepts ‚jugendlich‘ dazu dienen, jugendliches widerständisches Handeln zu marginalisieren. Die Formulierung Habermas’, eine Bewegung ist nicht schon deshalb revolutionär, weil man sie so nennt (s. u.) aufnehmend, revoziert Krippendorff in diesem Sinn: Eine Bewegung ist nicht schon deshalb nur infantil oder pubertär, weil ihre äußeren Erscheinungsformen als Reflex der konkreten Bedingungen ihrer Operationsumwelt generationsspezifisch und ihre Träger selbst jugendlich sind. (Krippendorff 1968, 173)16
Aus einem solchen positiven Selbstverständnis jugendlicher Protestformen, aus dieser die jugendliche Identität affirmierenden Stereotypisierung leitet man dann eine die Generationen einerseits voneinander abgrenzende Arbeitsteilung ab, die andererseits natürlich gleichzeitig die ersehnte Gemeinschaft herstellt: dem Theoretiker, also Habermas, fällt in dieser Konstellation primär die Aufgabe zu…, die Erfahrungen der Protestbewegung theoretisch zu verarbeiten. Und zwar nicht in der Attitüde des sympathisierenden Kritikers, der seine Unabhängigkeit und Unverwechselbarkeit genießt, sondern vielmehr in dem Bewußtsein, daß theoretische Anstrengung selbst ihren Beitrag zur Revolutionierung leisten muß, daß ihr unter anderem die Aufgabe zufällt, die Stellen des Systems ausfindig zu machen, wo verändernde Praxis am ehesten ansetzen kann. (Meschkat 1968, 203) Der Theoretiker also sei der Partner, der durch seine Analysen und Erkenntnisse 15
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[…] muß in den unter den gegenwärtigen Bedingungen in der Tat weitgehend generationsspezifischen Formen politischer Agitation und Aktion das als positives Moment gesehen werden, was Habermas negativ erscheint: die Durchbrechung der etablierten und tabuisierten Spielregeln und damit, in der Provokation, die jede solche Durchbrechung mit sich bringt deren Enthüllung als Herrschaftsmechanismen. (Krippendorff 1968, 164) Dass man das in dieser Revozierung implizierte Argument der Jugendlichkeit als professorale Herablassung empfindet, bestätigt Bernd Rabehl: Das der Rebellion wurde aber im psychisch bedingten Unbehagen der Jugend gesucht. Die radikal politische Kritik der Studenten wurde in die Idylle des Generationsproblems schematisiert. Darin sah man die Gelegenheit, die Opposition gegen die gesellschaftlichen Autoritäten nach psychologischen und biologischen Gesichtspunkten zu verharmlosen. Die Beat-besessene Jugend, die LSD-berauschten Hippies, die lebensgierigen Gammler und die fanatischen Polit-Provos katalogisierten die der Jugend unter dem Begriff des wilden ziellosen Ausbruchs und der aufgestauten Aggressionen im Jugendlichen. Daß dieser altersbedingte derartige Ausmaße annahm und sich nicht in sportlichen Wettkämpfen und nationaler Begeisterung erledigte, schrieb der nüchterne Analytiker dem Versagen gesellschaftlicher Vorbilder zu. (Rabehl 1968a, 151)
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dem jugendlichen Widerstand die theoretische Approbation erteilen möge. Hier zeigt sich: Die studentische Protestbewegung dient sich gleichsam den Autoritäten der Kritischen Theorie an – damit erhält der Begriff der Autorität eine durchaus diffuse Lesartenkonstellation. Wir kommen im anschließenden Abschnitt darauf zurück, halten jedoch zum einen zunächst fest, dass das Heterostereotyp jung die für die Perspektive der Vorgängergeneration erwartbare Zuschreibung (etwa im Sinn von ‚naiv, radikal, unerfahren‘) erfährt, fragen zum andern zunächst noch nach dem Komplement der aus der Perspektive des intellektuellen Establishments konstituierten Gruppen. Rudi Dutschke identifiziert ohne Vorbehalte die jetzige Bewegung als eine Jugendbewegung (Dutschke 1968f, 83), und ein Bericht über den Vietnam-Kongress referiert auf die in Westberlin versammelten Vertreter der sozialistischen Jugend Westeuropas, der amerikanischen Widerstandsbewegung und der revolutionären Jugend der drei Kontinente (SDS 1968c). Auch wenn das eigene Alter aus der Aktivistenperspektive weniger häufig thematisiert wird, als aus der Perspektive der intellektuellen Linken, so ist die Jugend der Aktivisten dennoch ein Identitätsmerkmal, zu dem sie sich bewusst bekennen konnten.17 Diese Selbstidentifizierung ist allerdings ebenso erwartbar wie das Autostereotyp der intellektuellen Linken Wir Älteren und wäre daher nicht der sprachgeschichtlichen Kommentierung wert, wenn nicht dieses Jugendbewusstsein, das nicht nur in der Parole Trau keinem über 30! entschiedenen Ausdruck fand, in den Jahren 1967 / 68 die besondere historische Dimension hätte, in die auch das Autostereotyp der intellektuellen Linken (Wir Älteren) zu stellen ist, den Bezug zum Nationalsozialismus. Ein Lebensalter von dreißig Jahren markiert Ende der 1960er Jahre eine diskursrelevante Altersgrenze: Wer 1967 / 68 jünger als dreißig Jahre alt war, ist frühestens 1937 / 38 geboren. Zu dieser Zeit war der Nationalsozialismus bereits seit einigen Jahren Tatsache. Am Ende der Diktatur waren die unter dreißig Jährigen höchstens sieben oder acht Jahre alt – zu jung, um schuldig oder verantwortlich, zu jung, um nazistisch indoktriniert zu sein. „Wir sind jung“ – das bedeutet Ende der 1960er Jahre also einen moralischen Wert an sich und die Übersetzung lautet: „Wir haben uns nicht schuldig gemacht, wir führen kein verlogenes Doppelleben, wir versuchen nicht, eine verbrecherische Vergangenheit durch den Schein bürger-
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Diese Selbstsicht weist Ingrid Gilcher-Holtey als Kennzeichen der Neuen Linken, New Left, Nouvelle Gauche aus. Zentrale Grundannahme sei die „Prämisse, daß den Intellektuellen, der jungen Intelligenz, der Jugend eine zentrale Rolle im Prozeß der Transformation der Gesellschaft der Gegenwart zufiel“ (Gilcher-Holtey 2008, 237).
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lichen Anstands zu verdecken.“18 Aus dieser moralischen Legitimation leitet man die Gründe dafür [ab], warum es in der Mitte der 60er Jahre Leute zwischen 18 und 30 Jahren sind, die dem konformisierenden Druck der Leistungsgesellschaft Widerstand zu leisten beginnen. (Krippendorf 1968, 165) Johannes Agnoli stellt zum einen eine Verbindung zwischen dem politischen Ziel, das da heißt Demokratisierung, und dem Alter der Akteure her: In einer Zukunftsperspektive einer gesellschaftspolitischen Zielsetzung, die im allgemeinen Demokratisierung genannt wird, genauer gesagt die Befreiung der Abhängigen anstrebt, weil die Abhängigen inzwischen mündig sein können, ist es verständlich und konsequent, daß die breite Basis dieser Bewegung von denjenigen gebildet wird, die im Bewußtsein dieser Möglichkeit sich schon jetzt gegen ihre spätere Unterdrückung wehrt: von der Jugend.
Zum andern ordnet Agnoli den Sachverhalt, dass die Wortführer der APO gezielt und bewusst auf die Jugend setzen, historisch ein: Politisiert und mobilisiert sollen Schüler und Studenten werden und nicht Studienräte und Professoren, Lehrlinge und nicht schon abgerichtete Berufstätige, junge Arbeiter und nicht die solide Gruppe der qualifizierten Facharbeiter. Diese Politi-
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Die wissenschaftlichen Daten einer solchen soziologischen Analyse liefert Habermas: Auf der Grundlage eines prinzipiellen Unverständnisses für die sinnlose Reproduktion überflüssig gewordener Tugenden und Opfer hat die heranwachsende Generation eine besondere Sensibilität für die Unwahrhaftigkeit geltender Legitimationen entwickelt. Empörung gegen die doppelte Moral der Älteren wiederholt sich gewiß in jeder Generation; aber heute richtet sich der Protest gegen eine Gesellschaft, die den Emanzipationsidealen des 18. Jahrhunderts die Kraft von Verfassungsnormen verliehen und das Potential zu ihrer Verwirklichung aufgespeichert hat, aber gleichwohl den Hunger in der Welt des potentiellen Überflusses nicht abschafft, den Abstand zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern vergrößert und zusammen mit der Bevölkerungshygiene Verelendung und militärische Gewalt exportiert – das ist die symbolische Bedeutung, die die amerikanische Intervention in den vietnamesischen Bürgerkrieg in den Augen nicht nur zahlreicher amerikanischer, sondern auch der allermeisten deutschen Studenten heute angenommen hat. (Habermas 1967b, 170f.) Damit sind die Motive des studentischen Protests benannt. Die Bedingungen, unter denen sich diese Motive ausdrücken, beschreibt Habermas als diejenigen, die die im Protest zum Ausdruck kommende jugendliche Empfindsamkeit erklären: Der Protest dieser Jugendlichen aus bürgerlichen Elternhäusern scheint nicht mehr, wie seit Generationen üblich, in erster Linie ein Protest gegen die elterliche Autorität zu sein. Diese Generation ist wahrscheinlich mit mehr psychologischem Verständnis, mit einer liberaleren Erziehung und unter einer permissiveren Einstellung groß geworden als alle vorangegangenen. Amerikanische Untersuchungen zeigen überdies, daß die aktiven Mitglieder der linken Studentengruppen häufiger Eltern haben, die ihre kritische Einstellung teilen und fördern. … ähnliche Tendenzen wie in den USA zeichnen sich auch bei uns ab. Nehmen wir den Umstand hinzu, daß diese Generation als erste unter entlasteten ökonomischen Bedingungen aufgewachsen ist und daher psychologisch weniger stark unter dem disziplinierenden Zwang des Arbeitsmarktes steht; dann ergibt sich hypothetisch ein Zusammenhang, aus dem wir die eigentümliche Sensibilität der jungen Aktivisten erklären können (ebd. 175).
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sierung der Jugend aber nimmt einen Charakter an, der früheren Jugendbewegungen unbekannt war.
An diese Analyse schließt sich das Plädoyer an: Die Bezeichnung Jugendbewegung solle nicht die vielbesungene ewige Revolte der Jugend bezeichnen und Jugend als transitorischen Zustand begreifen, sondern als eigenständige gesellschaftliche Qualität einer Altersgruppe, der man früher mit den bloßen Mitteln der Pädagogik oder des Jugendstrafrechts beikommen wollte. (Agnoli 1968a, 36f.) Das von der intellektuellen Linken vorgebrachte Altersargument jung hat im Diskurs der studentischen Linken eine modifizierte Entsprechung. Wenn sie auf ihre diskursiven Antipoden referieren, tun sie das nicht mit dem Stereotyp alt (älter, ältere Generation o.ä.), sondern mit einer Relationsvokabel, die zwar auf ein altersbedingtes Phänomen verweist, die jedoch den Fokus auf die Rollenspezifik im Diskurs lenkt. Die studentische Linke entspricht dem den Generationenunterschied markierenden Autostereotyp wir Älteren mit einer pointierten Bezugnahme auf ihre Diskurspartner als Professor, als Ordinarien. – Adorno beklagt sich Marcuse gegenüber mit Bitterkeit: Hier in Frankfurt wird das Wort Ordinarius … gebraucht, um Menschen abzutun, oder, wie sie es so schön nennen ‚fertigzumachen‘, wie seinerseits von den Nazis das Wort Jude. (Adorno 1969a, 726f.) – Rollenerwartung motiviert den Gebrauch dieser Kategorien, wie sie in professoral19 bereits lexikalisiert ist. So wird im bereits zitierten Berliner „Fachidiotenflugblatt“ die Professorenseite unmittelbar in die pejorisierende Charakterisierung einbezogen. Es sorgte dadurch im November 1966 für einen erheblichen Skandal in der Berliner Öffentlichkeit: Wenn wir uns weigern, uns von professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausbilden zu lassen, bezahlen wir mit dem Risiko, das Studium ohne Abschluß beenden zu müssen (Provisorisches Komitee 1966, 23). Erwähnenswert ist diese Strategie der Gruppenbildung, weil dazu die Bezeichnungen eben nicht die Funktion akademischer Berufsbenennungen haben, sondern die von Referenzen, deren außersprachliche Entsprechungen ein Motiv studentischen Widerstands abgeben. Hierarchisch-autoritäres Denken, unangemessene Würde an den Tag legend, wissenschaftlich-weltfremd und konservativ – mit solchen Stereotypen konstituiert die studentische Linke das Bild derjenigen, die sie als ihre Gegner im politischen Hochschulkampf sehen. Es sind dies damit auch
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Mit professoral-väterlicher Güte erteilte er einem anderen Kommilitonen das Wort (Bechmann u. a. 1968, 149); die als „kritisch“ und „linksintellektuell“ gepriesenen professoralen Theoretiker der Frankfurter Soziologie und Philosophie (Streikkomitee Spartakus-Seminar 1968, 527)
4.2 Das politische Stereotyp
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diejenigen Stereotype, mit denen die studentische Linke antidemokratische Strukturen repräsentiert sieht. Das generationell motivierte gruppenkonstituierende Netz bilden vor allem die semantisch antonymischen Stereotype alt / jung (resp. ihre lexikalischen Entsprechungen), die im Kontext der Geschichte gedeutet werden. Dieser historisierende Kontext weist die Stereotype als die Beteiligtengruppen mit dem Alterskriterium konstituierende Demokratismen aus.
4.2 Das politische Stereotyp Das Phänomen der mit politischen Stereotypen identifizierbaren Protestbewegung wird von dieser ebenso wie von der intellektuellen Linken einer Zeitdimension zugewiesen: Die Gegenwart ist geprägt von der Erscheinung einer studentischen Bewegung, die die politischen und gesellschaftlichen Strukturen analysiert, gegen diese opponiert und versucht sie zu verändern. Einer explizit gegenwartsbezogenen Bewertung des politischen Systems (Der widersprüchliche Gesamtapparat kann es sich heute nicht einmal mehr leisten, die Massen für sich zu mobilisieren) stellt Dutschke die Möglichkeiten der revolutionären Sozialisten gegenüber: Ganz im Gegensatz dazu ist es uns revolutionären Sozialisten heute in der Bundesrepublik möglich geworden (Dutschke 1968c, 116). Diese mit heute exponierte Selbstreflexion erzählt die Geschichte einer Studentenbewegung auf dem vermeintlichen Weg zur Revolution. Wenn das Zeitdeiktikum heute derart zur Kontextbildung der Selbstidentifizierung beiträgt, dann drückt sich darin ein Selbstbewusstsein aus, das die eigene Gruppe aus Gründen der Qualifikation aus dem Kontinuum der Geschichte herauslöst. Anders gesagt: Das auf die Gegenwart bezogene Selbstbewusstsein der studentischen Aktivisten manifestiert sich sprachlich als Elitenbildung. Ihnen wird wissenschaftliche Analyse und Umsetzung der Erkenntnisse dieser Analyse zugewiesen, die Entlarvung versteckter, weil elaborierter Unterdrückungsstrategien ist ihnen vorbehalten, intellektuelle Arbeit und sinnliche Erfahrungen werden ihnen zugeschrieben. Kurz: Es ist eine durch Erkenntnis, Analyse und Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände konstruierte Identität, mit der man sich durch die Einordnung in das zeitliche Kontinuum seinen Platz in der Geschichte zuweist.20 Eine Entsprechung dieser temporal bestimmten
20 Der politisch fortgeschrittenste und theoretisch reflektierteste Teil der antiautoritären Bewegung heute (Prokop-Iwersen 1968, 79); Die antiautoritäre Revolte der Studenten, Schüler und jungen Arbeiter heute ist von einer anderen Qualität als das dumpfe Auf-
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
Selbstsicht findet sich in der Formel erstmalig / zum ersten Mal, die sozusagen quantitative Diskontinuität bezeichnet, und damit Einmaligkeit und Zäsur. Das Bewusstsein, man habe […] eine politische, oppositionelle und sozialistische Bewegung einleiten helfen, die an politischer „Nähe“ zu den gesellschaftlich und politisch wunden Punkten und entsprechend an Attraktivität für die Gruppe, die sie angeht, ihresgleichen in der Zeit nach dem Faschismus nicht findet (Reiche / Gäng 1967, 31f.) –
dieses Bewusstsein historischer Einmaligkeit prägt auch die Bewertung der Zeit als solcher: Wer die Gegenwart analysiert oder prozesshaft revolutioniert, stellt sich konsequenterweise zu ihr in diese Beziehung der Einmaligkeit. Die ‚Bewegung‘ und ihr Handeln ist insofern folgerichtig herausragender Gegenstand der mit nie zuvor interpretierten historischen Einordnung. Diese Einmaligkeit bezieht sich konkret auf die Mobilisierung nach dem 2. Juni und die Entwicklung eines hohen Politisierungsgrads, auf die Entstehung einer sozialistischen bzw. nicht-reaktionären Opposition und auf die Protestbereitschaft einer bewußtgewordenen Studentenschaft, auf die zunehmende Radikalisierung (eine aus der Sicht Ulrike Meinhofs begrüßenswerte Entwicklung) und die Herstellung einer Verbindung zu dem Objekt des Widerstands, der Arbeiterschaft.21
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begehren der ratlosen Jugend vor 1914 (Rabehl 1968a, 154); Die eigene ökonomische Unterdrückung und Versklavung und die der Massen zu erkennen, dazu bedarf es heute eines feineren Organs als des Hungers oder der Fähigkeit, verschiedene Autotypen klassifizieren zu können. Dazu bedarf es eines Bewußtseinsstandes und eines psychischen Apparates, die den abhängigen Massen nicht unbedingt zur Verfügung stehen. Die Intellektuellen und Studenten besitzen sie (Reiche / Gäng 1967, 27); Ich denke, daß sich heute derjenige als Revolutionär begreifen muß, der durch intellektuelle Arbeit und sinnliche Erfahrungen zu der Erkenntnis kommt, diese Gesellschaft kann und soll verändert werden (Dutschke 1967b, 13). der 2. Juni 1967 [geht] in die Geschichte der deutschen Universitäten und der deutschen Gesellschaft der Nachkriegszeit ein. Erstmalig wurden nach dem Kriege breitere Schichten der Studentenschaft gegen die autoritäre Grundstruktur dieser Gesellschaft mobilisiert. (Dutschke 1968b, 80); Die Inhalte und Formen der Arbeit dieser Gruppen sind bestimmt von den politischen Ansprüchen der Studentenrevolte. In diesen Gruppen ist es zum ersten Mal durch die Aufnahme der individuellen emanzipatorischen Bedürfnisse der Genossen und Sympathisanten gelungen, deren ansatzweise Erfüllung im politischen Kampf und die Auseinandersetzung mit den Herrschenden aus der vorpolitischen Antihaltung herauszuführen. (SDS 1969a, 5); Mit erstaunlicher Geschwindigkeit hat sich zum ersten Mal seit Kriegsende in Westdeutschland, speziell aber in Westberlin, eine massenhafte Opposition gegen die bestehende Gesellschaft entwickelt, die eindeutig sozialistische Tendenzen in sich trägt. (Mahler 1968); Wir sind stärker geworden: zum ersten Mal seit 1848 steht die große Mehrzahl der deutschen Studenten und Schüler nicht auf der Barrikadenseite der Reaktion. (Wolff 1968a); [Man] belagerte … vier Stunden eine Senatssitzung, wobei sich zum ersten Mal 2000 Studenten in der Universität für ihre organisationsbedürftigen Interessen
4.2 Das politische Stereotyp
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Die gegenwartsbezogene Kommentierung des historischen Phänomens der politisierten und protestierenden Studenten ist auch ein in Bezug auf die Perspektive des intellektuellen Establishments signifikantes Diskurselement – mit unterschiedlichen Bewertungen. Während Marcuse das Elitenkonzept der Protestbewegung bestätigt22 und ihr die Erschließung und die Umsetzung eines revolutionären Bewusstseins zuschreibt, geht es Habermas in seinen Diskursbeiträgen der Jahre 1967 / 68 nicht zuletzt darum in prinzipieller Weise zu reflektieren, welche politische Rolle heute die Studenten in der Bundesrepublik spielen, spielen können und spielen sollen. (Habermas 1967a, 139) Dazu stellt er sie in ein zeitliches Kontinuum, indem er z. B. die studentische Linke als neues Phänomen der Gegenwart konstatiert und, bezogen auf die erstmalige Existenz einer linken Studentengeneration seit der hoch politisierten, revolutionär gestimmten, demokratische Forderungen stellenden Phase des früheren 19. Jahrhunderts, die in die Revolution von 1848 mündete, die gegenwärtige Bewegung herausstellt.23 Habermas ist nicht nur der Antagonist im Binnendiskurs, sondern auch derjenige, der die politischen Motive und Ziele der studentischen Linken reformuliert. Gesellschaftskritik als prinzipielles intergenerationelles Phänomen herausstellend (Empörung gegen die doppelte Moral der Älteren wiederholt sich gewiß in jeder Generation), schreibt er zum einen der ge-
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engagierten, weil diese Aktionen die Macht einer bewußtgewordenen Studentenschaft demonstrierten. (SDS 1968d, 89); Zum erstenmal in der Geschichte Deutschlands lehnt sich die Studentenschaft in großer Zahl gegen die autoritären Strukturen und Verhältnisse der Gesellschaft auf (Rabehl 1968a, 154); Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke in den Osterfeiertagen erstmalig massenhaft, von vielen, nicht nur einzelnen, über Tage hin, nicht nur einmalig, vielerorts, nicht nur in Berlin, tatsächlich, nicht nur symbolisch – überschritten worden. Nach dem 2. Juni wurden Springerzeitungen nur verbrannt, jetzt wurde die Blockierung ihrer Auslieferung versucht. Am 2. Juni flogen nur Tomaten und Eier, jetzt flogen Steine. Im Februar wurde nur ein mehr amüsanter und lustiger Film über die Verfertigung von Molotowcocktails gezeigt, jetzt hat es tatsächlich gebrannt. (Meinhof 1968a); während der Notstands-Aktionen war an einigen Stellen und für kurze Zeit zum ersten Male die Barriere durchbrochen, durch die die oppositionellen Studenten von mobilisierbaren Gruppen außerhalb der Universität, besonders der Arbeiterschaft getrennt sind. (Offe 1968a, 103) Ich glaube, daß die studentische Intelligenz heute solch eine Gruppe darstellt [mit der Aufgabe, radikales politisches Bewusstsein und eine ebensolche Praxis zu entwickeln] (Marcuse 1968a, 454); solche Erziehung zur radikalen Veränderung [ist] heute im wesentlichen die Aufgabe der Studenten (Marcuse 1968b, 490); Die heutigen Rebellen wollen neue Dinge in einer neuen Weise sehen, hören und fühlen; sie verbinden Befreiung mit dem Auflösen der gewöhnlichen und geregelten Art des Wahrnehmens. (Marcuse 1969, 61) […] heute zum ersten Mal seit den Tagen des Vormärz [herrscht] wieder eine ‚linke‘ Studentengeneration an deutschen Universitäten vor (Habermas 1969b, 28).
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
genwärtigen Protestgeneration (metonymisiert durch Protest) zu, auf die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit zu verweisen24, und erklärt zum andern ihr Denken und Handeln. Das Motiv der gegenwartsbezogenen Konstituierung der Protestbewegung aus der Perspektive der intellektuellen Linken können wir zusammenfassend „zeitbedingte Radikalisierung“ nennen. Habermas bezeichnet damit die im Verlauf der vergangenen rund fünf Jahre beobachtbare Radikalisierung der Protestbewegung.25 Distanziert gibt sich auch Horkheimer bei der zeitlichen Indizierung der studentischen Protesthaltung26, und Richard Löwenthal, neben Marcuse (und partiell Adorno) einer der unbedingteren Mentoren der studentischen Protestbewegung, bezieht sich, wie Habermas, auf die zunehmende Radikalisierung, legitimiert sie jedoch mit ihrem politischen Ziel.27 Wir sehen: Im Bewusstsein der Diskursbeteiligten wird die studentische Linke als politische bzw. politisierte Instanz im Sinn eines Gegenwartsphänomens konstituiert. Die empirischen Anhaltspunkte sprechen für die Richtigkeit der Behauptung, daß heute zum ersten Mal seit den Tagen des Vormärz wieder eine „linke“ Studentengeneration an deutschen Universitäten vorherrscht (Habermas 1969b, 28) – diese Approbation des Lehrers entspricht der Selbstsicht: wir [müssen] die starken moralischen Kräfte, die sich in der größten Demonstration der Linken seit dem Beginn des Kalten Krieges in West-Ber-
24 […] aber heute richtet sich der Protest gegen eine Gesellschaft, die den Emanzipationsidealen des 20. Jahrhunderts die Kraft von Verfassungsnormen verliehen und das Potential zu ihrer Verwirklichung aufgespeichert hat, aber gleichwohl den Hunger in der Welt des potentiellen Überflusses nicht abschafft, den Abstand zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern vergrößert und zusammen mit der Bevölkerungshygiene Verelendung und militärische Gewalt exportiert – das ist die symbolische Bedeutung, die die amerikanische Intervention in den vietnamesischen Bürgerkrieg in den Augen nicht nur zahlreicher amerikanischer, sondern auch der allermeisten deutschen Studenten heute angenommen hat. (Habermas 1967b, 170) 25 Auf diesem Hintergrund wird das eigentlich Neue an den jüngsten Protestbewegungen besser verständlich: nämlich das, was man das „neoanarchistische Weltbild“ nennen könnte, und die Vorliebe für direkte Aktionen. (Habermas 1967b, 171) Eine Reihe weiterer Belege steht im Kontext von Reflexionen, die Habermas in Bezug auf die Geschichte der Protestbewegung der letzten Jahre anstellt und die seine gegenwartsbezogene kritische Distanz dokumentieren: Der innere Kommunikationskreis ist heute schon gegen die Zufuhr dissonanter Erfahrungsgehalte abgedichtet. (Habermas 1969b, 12); Die Motive des Handelns werden heute immer mehr an die verallgemeinerten Medien der Verwirklichung beliebiger Ziele gebunden (ebd. 16); Die aktivsten Gruppen … scheinen heute den Kampus nur noch als Übungsgelände für die Mobilmachung der Truppe interessant zu fi nden. (Habermas 1967b, 163) 26 Die rebellische Haltung, vor einem Jahrzehnt noch das Privileg von Einzelgängern, ist heute Ausdruck des Konformismus. (Horkheimer 1968b, 488) 27 Die heutige Radikalisierung im Engagement der linksstehenden Intellektuellen ist somit … bewußter Gegenschlag gegen die Ideen des Nationalsozialismus und gegen die Schrecken seiner Herrschaft. (Löwenthal 1970, 13)
4.2 Das politische Stereotyp
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lin zeigten, in … organisatorische verwandeln (Dutschke 1968b, 84). Links ist ein Fahnenwort der Protestaktivisten, eine Bekenntniskategorie zur Konstituierung der Eigengruppe und deren gesellschafts- bzw. systemkritische Weltanschauung.28 Als Partnerwort zu Student / studentisch grenzt links / Linke die Protestgruppe und ihre Unterstützer sozusagen von allen nichtlinken Nichtstudenten ab. Unabhängig von der Beschaffenheit der Gruppe steht links natürlich für ‚sozialistisch‘, unausgesprochen damit für ‚demokratisch‘, und links und sozialistisch werden daher nahezu synonym, oft kombiniert verwendet.29 Charakteristisch sind für die Benennung und Unterscheidung linker Gruppen Zusammensetzungen mit links-, die aus studentischer Sicht die Wahrnehmung einer prinzipiellen Sympathie und Dialogbereitschaft dieser Personengruppen gegenüber der Protestbewegung zum Ausdruck bringen. So konstituieren Falkenberg / Dabrowski etwa ein Bündel von linksliberalen, linkskirchlichen, …, linkssozialdemokratischen … Argumentationsketten als Ausdruck der gemeinsame[n] Opposition. (Falkenberg / Dabrowski 1968, 18) Indes: Im Hinblick auf das eigene Protestlager konstituiert links gelegentlich einen
28 Die Bezeichnung (politische) Linke leitet sich ursprünglich von den Sitzverhältnissen in der Französischen Nationalversammlung zur Zeit der Französischen Revolution ab, als die Vertreter des dritten Standes linker Hand des Präsidenten saßen, während die Vertreter des zweiten Standes rechter Hand saßen (vgl. Laponce 1981). In der Frankfurter Paulskirchenversammlung entsprach die Sitzverteilung nach links und rechts dann der Trennung der Demokraten von den Nationalkonservativen. Die Mitte wurde von den liberalen Gruppierungen eingenommen. Metonymisch lässt sich die Übertragung der Bezeichnung für die Sitzordnung auf die politisch-weltanschauliche Ausrichtung begründen. Diese Gebrauchsweise war spätestens seit 1848 im Deutschen fest etabliert, wie es der folgende Kommentar zu einer Paulskirchensitzung von Friedrich Engels in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ Nr. 93 vom 3. September 1848 zeigt: „Es spricht sehr für die Frankfurter Linke [i.e.: es sagt viel über die Frankfurter Linke aus], daß sie mit wenig Ausnahmen von der Polenrede des Bürgers Ruge vollkommen entzückt war, von einer Rede, in der es heißt: ‚Wir wollen uns nicht darüber entzweien, meine Herren, ob wir die demokratische Monarchie, die demokratisierte Monarchie (!) oder die reine Demokratie meinen, im ganzen wollen wir dasselbe, die Freiheit, die Volksfreiheit, die Herrschaft des Volks!‘ Und wir sollen uns für eine Linke begeistern, die davon hingerissen wird, wenn man sagt, sie wolle im ‚ganzen dasselbe‘ wie die Rechte, wie Herr Radowitz, Herr Lichnowski, Herr Vincke und die übrige fette oder magere Ritterschaft?“ (Engels 1848, 358). Bereits hier wird deutlich, dass die Flügelkategorie Linke einen politischen Anspruch zum Ausdruck bringt, der im Widerspruch zum tatsächlichen Verhalten linker Mandatsträger stehen kann. 29 Ebensowenig wie für den SDS eine Zeitschrift genügt, die sich auf hochschulpolitische oder seine eigenen organisatorischen Probleme beschränkt, kann eine Zeitschrift für die sozialistische Linke unter den heutigen Bedingungen die Probleme der Hochschule und des SDS übergehen (Editorial 1967); Weder besteht Klarheit darüber, welche einzelnen sozialen Gruppen unter den gegenwärtigen Bedingungen und organisatorischen Möglichkeiten von der sozialistischen Linken politisch ansprechbar sind, noch über konkrete politische Programme und die heutigen und künftigen Betätigungsfelder und -möglichkeiten sozialistischer Gruppierungen. Die Große Koalition hat neue Organisationsversuche oder Überlegungen darüber angeregt, an welchen die Orientierungslosigkeit der sozialistischen Linken wieder einmal überaus deutlich wurde (ebd.).
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Pionierinnen der Frauenbewegung berufen sich auf die linke Identität30 ebenso wie diejenigen Diskursbeteiligten, die Distanzmarker (sog., ultra-, pseudo-) benutzen, um tatsächliche linke Identität abzusprechen.31
Das Einverständnis, das zwischen studentischer und intellektueller Linken bzgl. der linken Identität der studentischen Diskursbeteiligten besteht, scheint sich nicht auf die neue Identitätsbezeichnung Neue Linke zu beziehen. In den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erfährt Linke eine Spezifizierung durch dieses aus dem Englischen entlehnte politische Stereotyp Neue Linke. Während zunächst das britische politische Journal The New Left Review die Fügung New Left popularisiert, trägt der in diesem Journal veröffentlichte Offene Brief „Letter to the New Left“ des amerikanischen Soziologen C. Wright Mills bereits klar umrissene programmatische Züge. Mills verteidigt darin die Notwendigkeit einer politischen Ideologie der sozialen Veränderung und erklärt die „young intelligentsia“ zur „agency of change“.32 Mit der Bezugsgruppe der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wird der Terminus weiter verbreitet. In einer Fragestunde im Anschluss an seine Berliner Gastvorlesung im Juli 1967 geht Herbert Marcuse auf die Bezeichnung Neue Linke ein, die er von einer Alten Linken abgrenzt und seinem deutschen Publikum erläutert. Zum Referenzbereich von Neue Linke gehören für ihn Intellektuelle, Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung und Teile der Jugend, so dass der Terminus Neue Linke letztlich überhaupt nicht klassenmäßig definiert werden (Marcuse 1967c, 47f.) kön-
30 Die bürgerliche Reduktion des politischen Kampfes der linken Frauen auf den Sektor Kind und Familie kann eine Änderung allenfalls für wenige Individuen zur Folge haben (Aktionsrat 1969a); die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb der Linken aufheben (ebd.); Die Frauen linker Männer mit Kindern empfi nden den Widerspruch zwischen dem politischen Anspruch und ihrer eigenen abhängigen Situation am schärfsten (Aktionsrat 1969b); WIR WERDEN ES NICHT MEHR ZULASSEN, daß sogar linke Frauen es noch nötig haben, ihren Liebeswert dadurch zu sichern, daß sie sich unreflektiert dem Kleiderkonsum unterwerfen … WIR WERDEN DAHER NICHT MEHR ZULASSEN, daß unsere Forderungen als Appell an linke Caritas verstanden werden … [wir] fordern … alle Genossinnen und Genossen auf, sich zu überlegen, wie die ungleiche Finanzsituation innerhalb der Linken aufgehoben werden kann (ebd.). 31 Wie sehr die „sozialistische Perspektive“ des BV [Bundesverbands des SDS] auf die „Ersatzklasse“ sog. linker Jugendlicher zusammenschmilzt und sich zunehmend auf diese fi xiert, zeigt sich an den überschwenglichen Lobeshymnen, die er sich für seine Schülerbund-Kreation spendet (Boris / Abendroth 1967, 95). 32 „[...] who is it that is getting fed up? Who is it that is getting disgusted with what Marx called ‘all the old crap’? Who is it that is thinking and acting in radical ways? All over the world – in the bloc, outside the bloc and in between – the answer’s the same: it is the young intelligentsia.“ (Mills 1960) Im Deutschen ist Neue Linke dann zuerst 1961 im Juni-Heft der ‚neuen kritik‘ belegt: Gerhard Brandt, Die neue Linke in England. Vgl. auch Schmidtke 2008, 251ff., sowie Niehr 1993, 290ff.
4.2 Das politische Stereotyp
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ne.33 Die Bezeichnung Neue Linke wird dann auch Identitätsausweis für den deutschen Protest und häufig annähernd synonym zu Studentenbewegung verwendet. Im Gegensatz zu Linke kann Neue Linke daher z. B. zur Abgrenzung der Aktivistengruppe von anderen linken Gruppen in der Gesellschaft – etwa von den Gewerkschaften – dienen.34 Neue Linke wird sowohl von den Protestaktivisten wie auch von Mitgliedern des intellektuellen Establishments – wenn auch nicht immer bedeutungs- und referenzidentisch – verwendet. Für die Protestaktivisten ist Neue Linke positiv konnotiert. Deutlich wird vielfach eine doppelte Abgrenzung, sowohl gegen das rechte Establishment, wie auch gegen die ‚Alte Linke‘.35 Mitglieder des intellektuellen Establishments dagegen benutzen Distanzmarkierungen, wenn sie von einer neuen Linken sprechen. Mit angebliche neue Linke pejorisiert Theodor W. Adorno etwa die Bewegung in einem Brief an Max Horkheimer. Adorno nimmt Horkheimer gegen Kritik an seiner amerikafreundlichen Haltung und entsprechende Vorwürfe von Herbert Marcuse in Schutz und zieht das Novum in Zweifel:
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Die Studentenopposition in den Vereinigten Staaten ist selbst Teil einer größeren Opposition, die man im allgemeinen als die Neue Linke, „the new left“ bezeichnet. Ich muß damit beginnen, Ihnen wenigstens schlagwortartig darzustellen, was die Neue Linke von der Alten Linken unterscheidet. Zunächst ist sie – mit Ausnahme einiger kleiner Gruppen, nicht orthodox marxistisch oder sozialistisch. Sie ist vielmehr charakterisiert durch ein tiefes Mißtrauen gegen alle Ideologie, auch die sozialistische Ideologie, von der man sich irgendwie verraten glaubt und von der man enttäuscht ist. Die Neue Linke ist außerdem in keiner Weise – wiederum mit Ausnahme kleiner Gruppen – auf die Arbeiterklasse als die revolutionäre Klasse fi xiert. Sie kann überhaupt nicht klassenmäßig defi niert werden. Sie besteht aus Intellektuellen, aus Gruppen der Bürgerrechtsbewegung und aus der Jugend, besonders aus radikalen Elementen der Jugend (Marcuse 1967c, 47f.). 34 Die Neue Linke kann aber ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften nicht allein aus kundigem taktischen Kalkül bestimmen, sie kann sich noch weniger der Macht des Apparates unterwerfen, ohne nach dessen geschichtlicher Legitimation zu fragen. … Insofern kommt es erst einmal darauf an, die allgemeine Differenz der Neuen Linken zu den Gewerkschaften herauszuarbeiten. Erst daraus kann sich ein autonomes und praktisches Verhältnis zu den Gewerkschaften ergeben. (Schauer 1968, 176) 35 Auf solche Aktionen arbeitet aber die Neue Linke hin, wenn sie den Sinn der kapitalistischen Produktionsweise und damit ihres Apparates, der produzierten Gebrauchswerte und Bedürfnisse, destruieren will. (Schauer 1968, 179); Was die neue Linke an alten Ideologiesegmenten zertrümmert hatte, begannen die neuen Waren zu ersetzen. (Blanke 1968a, 38). Zehn Jahre später scheint die Gruppenbezeichnung Neue Linke allerdings bereits ihren normativ-programmatischen Anspruch verloren zu haben. Rudi Dutschke verwendet sie z. B. als Referenzausdruck für die Gesamtheit der Protestgruppen – und meint damit vermutlich das, was man seit Beginn der 80er Jahre als 68erBewegung bezeichnet: „Die Unfähigkeit der Neuen Linken, im Bündnis mit anderen demokratischen Kräften den richtigen Ansatz zwischen 1967 / 69 kontinuierlich fortzuführen und nicht in die tiefe Sektiererei zurückzufallen, spielte dabei eine wichtige Rolle.“ (Dutschke 1977, 191)
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
Es gehört zu den unangenehmsten Seiten der Strategie der angeblichen neuen Linken, daß sie unablässig solche Stilisierungen betreiben. Ich meine, es wäre das mindeste gewesen, was wir von Herbert zu erwarten gehabt hätten, daß er, ehe er Dir über die Angelegenheit pathetisch schreibt, sich erst einmal bei Dir erkundigt hätte, was an der Sache daran ist. (Adorno 1967b, 233)
Löwenthal distanziert sich durch Anführungszeichen36, und Jürgen Habermas ironisiert das Schlagwort Neue Linke.37 Er schafft eine Skala linker Gruppierungen, die er nach Traditionalisten (i.e. KPD-Kommunisten), einer alten Garde der Neuen Linken – gemeint ist offensichtlich die Generation der zeitgenössischen Hochschulassistenten wie Oskar Negt oder Rolf Tiedemann – und der Neuesten Linken unterscheidet. Die Einstellung Habermas’ zur alten Neuen Linken wie auch zur Neuesten Linken ist kritisch, was er bereits mit den ironisierenden Hyperspezifizierungen ausdrückt. Halten wir fest: Das Stereotyp links / Linke zur Bezeichnung politischer Identität ist ein signifikantes Diskurselement und konstituiert insbesondere die Gruppe der studentischen Aktivisten sowohl aus der Auto-, als auch aus der Heteroperspektive. Vor allem die studentische Linke ihrerseits verwendet links / Linke in der Funktion eines Autostereotyps als Kriterium einer Gruppengrenze, die aus der Binarität zwischen Freund und Feind, gut und böse resultiert. Daher wird links, dessen Referenzbereich die sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen umfasst, im Binnendiskurs der Linken vor allem als Mittel der Solidarisierung und Abgrenzung verwendet.
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Es kann kaum ein Zufall sein, daß Bakunin neuerdings von Teilen der „Neuen Linken“ – besonders auch des deutschen SDS – wiederentdeckt worden ist (Löwenthal 1970, 69). Die Konstellationen der Linken haben sich unter dem Druck des Aktionismus verändert. Die Traditionalisten, die eine kaum modifizierte Klassentheorie auch auf spätkapitalistische Gesellschaften anwenden, haben mit der Neugründung der Kommunistischen Partei ihre Zersplitterung überwunden und sogleich die alte Bündnispolitik wieder aufgenommen. Damit hat sich eine Gruppe formiert, die Parteien und Parlament als Rahmen für die politische Durchsetzung langfristig revolutionärer Ziele anerkennt. … Anders hat sich die alte Garde der Neuen Linken verhalten; das sind diejenigen, die im SDS während der ersten Hälfte der 6oer Jahre, als vorwiegend theoretisch gearbeitet wurde, aufgewachsen sind. Einige von ihnen, die als Assistenten an der Hochschule geblieben sind, haben für die Neueste Linke wichtige Funktionen übernommen. Zunächst haben sie die überraschende und unartikulierte Bewegung, die von aktivistischen Randgruppen des SDS ausging, kanalisiert. Alsbald sind jedoch die Interpreten selber ins Schlepptau genommen worden: sie mußten ad hoc für die Aktionen und Erfi ndungen der jungen Genossen Legitimationen fi nden. Die alte Neue Linke hat das Geschäft der nachträglichen Legitimationshilfe für Aktionen, auf deren Planung und Verlauf sie immer weniger Einfluß hatte, gelegentlich bis an die Grenze einer von Skrupeln nicht freien Preisgabe besserer Einsichten betrieben – und sich dabei verbraucht. (Habermas 1969b, 38f.)
4.2 Das politische Stereotyp
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Mit Differenzierungen wie Alte Linke und Neue Linke werden die zentralen Inhaltspositionen von links unterschiedlich justiert. Die Diskursbeteiligten beider Beteiligtengruppen sind sich auch darin einig, dass der studentische Protest dem einer oppositionellen Bewegung entspricht – man referiert mit diesem, in urdemokratischer Tradition stehenden Bezeichnungselement auf den politischen Kontext, in dem die Akteure sich bewegen, und formuliert den Anspruch, Teil des politischen Gefüges der Bundesrepublik zu sein. Opposition ist eine Kategorie, mit der die intellektuelle und studentische Linke auf eine konzeptuell seit etwa 1830 voll entwickelte Idee der Demokratiegeschichte zugreifen kann. Als semantisch zweistelliges Substantiv impliziert die Bezeichnung zwei Typen von Mitspielern, den einer etablierten, handelnden (bzw. herrschenden) Partei (z. B. des Staatsapparats oder der gewählten Regierung), sowie den einer Gruppe, die dazu im erklärten Widerspruch steht. Dieser Widerspruch referiert entweder – in der institutionellen Lesart von Opposition – auf den innerparlamentarischen Einspruch und Widerstand und auf die Konzeption einer parteilichen Regierungsalternative. Oder der Widerspruch referiert auf eine Instanz außerhalb des politischen Systems und ist dann zu verstehen als Protest und Widerstand gegen die Regierung, als Kritik von Regierungshandeln.38 Die studentische Linke unterscheidet die Kategorie Ende der 1960er Jahre nach zwei Lesarten. Einerseits dokumentiert der Anlass ihrer Bildung, eine aufgrund der Großen Koalition fehlende innerparlamentarische Instanz, „letztlich die Verankerung der Einsicht des deutschen politischen Denkens in die Notwendigkeit der institutionellen Opposition“ (Brunner / Conze / Koselleck 1978, Band 4, s. v. Opposition S. 516). Andererseits dokumentiert natürlich der politische Protestalltag der studentischen Linken, dass Opposition als Bezeichnung für ein Handlungskonzept politischen Widerstands interpretiert wird, das gerade nichts mit jeglicher institutionellen Form demokratischer Meinungsvielfalt zu tun hat. Vielmehr ist diese Lesart geprägt von Konstituenten, die sehr viel mit einer Welt politischen Protests zu tun haben zwischen einerseits „permanente[r] Kritik der zu ändernden Gesellschaft und ihres ökonomischen und politischen Systems“ (ebd. 517) und andererseits an Gewalt grenzenden (und die Grenze auch überschreitendem materiellem) Widerstand. Das Oppositionskonzept der studentischen Linken ist also ein diese Lesarten diffundierendes Konzept, die intellektuelle Linke folgt bis an die Grenze materiellen Widerstands. Opposition erhält diese über die Lesart des demokratischen Parla38
Zur Genese des Oppositionsbegriffs vgl. Brunner / Conze / Koselleck 1978, Band 4, 469–517.
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
mentarismus hinausgehende39 zeitgemäße Deutung als Kollokator in Wendungen wie Opposition der Studenten, radikaldemokratische, studentische Opposition, oppositionelle Studenten, Studentenopposition, Oppositionsgruppen.40 Im Diskurs von 1967 / 68 ist diese Lesart von Opposition sowohl Selbstbezeichnung der studentischen Aktivisten, als auch Heterostereotyp, mit dem die intellektuelle Linke der studentischen Linken die Eigenschaft ‚widerständisch‘ zuschreibt. Fest geworden ist natürlich die Verbindung außerparlamentarische Opposition, mit dem Akronym APO41
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Die Parole der Großen Weigerung bezeichnet eine verbreitete Einstellung, die die Erfahrung der Unwirksamkeit politischer Opposition in den westlichen Massendemokratien widerspiegelt (Habermas 1969b, 14); Die Sozialdemokratie verlor die Wahlen. Aber nicht dies war die wahre Niederlage der Opposition. … die Sozialdemokratie … trat als Juniorpartner in die bankrotte Regierung ein. Der sell-out war vollständig. Seitdem gibt es in Deutschland keine organisierte Opposition mehr. (Enzensberger 1967, 255) 40 Es wird der politischen Führung nicht vorgeworfen, daß sie die studentische Opposition vernichten wollte, sondern daß sie sich dazu unfähig erwiesen hat (Berliner Manuskripte 1967); Die kritische Universität stellt sich die Aufgabe, durch kritisch-theoretische Reflexion und Anwendung empirisch-analytischer Methoden mitzuwirken an der Bestimmung der Ziele und Aktionen der außerparlamentarischen radikaldemokratischen Oppositionsgruppen in Westberlin (Ziele und Organisation 1967); Die radikal demokratische Opposition sieht sich heute dem zynischen Versuch gegenüber, brutale Gewalt der herrschenden Klasse formal in der Verfassung zu verankern (Wolff 1968a); [Eine neue politische Führung] wird versuchen, die Opposition der Studenten, die sich gegen das System selbst richtet, in der Weise zu integrieren, daß die Studenten als eine Interessengruppe neben anderen im Rahmen des Systems einen besseren Platz anstrebt (Berliner Manuskripte 1967); Wogegen ist diese Studentenopposition gerichtet? (Marcuse 1967c, 50); Wenn die studentische Opposition einen Vorzug hat (Habermas 1967a, 146); Wir, die Studenten und Intellektuellen, wir müssen lernen, mit jener Opposition in der Gesellschaft zusammenzustehen und gemeinsam unsere Interessen zu vertreten, die stark genug sind, um zunächst einmal unsere Verfassung, unser Grundgesetz zu verteidigen (Abendroth 1967a, 68); Die Herrschenden begreifen, daß in nicht allzu ferner Zukunft diese studentische Opposition sich mit einer antikapitalistischen Arbeiterbewegung treffen würde und daß diese Verbindung von Arbeiterschaft und Intelligenz für das System eine tödliche Gefahr bedeutet (Berliner Manuskripte 1967); Die bewußteste und aktivste Opposition gegen die Entdemokratisierung der Gesellschaft geht von der Universität aus. Die tendenzielle Beseitigung der studentischen Opposition durch exemplarischen Polizeiterror, durch Bestrafung und Relegierung sogenannter Rädelsführer muß von uns als Angriff auf die bedeutendsten Ansätze demokratischen Bewußtseins nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland angesehen werden und mit adäquaten Aktionsformen beantwortet werden. (Dutschke 1967e, 81) 41 Als künftiges Zentrum der außerparlamentarischen Opposition will sich der RC [Republikanische Club] gegen die zunehmenden Restaurationstendenzen in der Bundesrepublik wenden und in Theorie und Praxis zur kritischen Bewußtseinsbildung beitragen (Republikanischer Club 1968); Der Sozialistische Club im Westberliner Bezirk Neukölln, der sich als Basisgruppe der APO versteht, stellte uns eine Ausarbeitung für die Basisgruppen-Diskussion zur Verfügung (Basisgruppe Neukölln 1968); Die öffentliche Distanzierung von der ApO aber würde mich in das Licht des Renegaten setzen, so deutlich auch aus allem, was ich geschrieben habe, hervorgeht, daß ich mit dem bor-
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zur Bezeichnung einer Gruppe im Sinn von ‚Ersatz für die fehlende parlamentarische Opposition (in einer funktionsuntüchtigen Scheindemokratie)‘. Die Schlüsselwörter Außerparlamentarische Opposition bzw. das „Agitationskürzel“ (Otto 1989, 47) APO42 wurden, nachdem im Dezember 1966 die große Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger geschlossen worden war, als „Sammelbezeichnung[en] für eine Anzahl politischer Gruppen“ verwendet, „die in Opposition zu den regierenden Parteien der Bundesrepublik und in der Regel auch zum gesamten Gesellschaftssystem stehen und nicht im Parlament (Bundestag) vertreten sind“ (Weigt 1968, 4). Was sie verbindet, stellt Johannes Agnoli dar. Er nimmt dazu das in marxistischen Kreisen wohl etablierte Signalwort Gespenst auf und stellt die APO – sozusagen familienmetaphorisch – in eine Traditionslinie mit dem Kommunistischen Manifest: Ein neues Gespenst scheint in Deutschland umzugehen und von Deutschland aus andere europäische Länder unsicher zu machen. Es trägt – genau so wie sein älterer Bruder von 1848 – rote Fahnen, wird häufig und meist zu recht mit ihm gleichgestellt – ist aber weniger faßbar. Im Unterschied zu dem großen Vorbild habe die außerparlamentarische Opposition (ApO) … keine öffentlich verkündete und für alle verbindliche Theorie. Sie kennt keine genauen Adressaten, ist mehr gemeinsame Methode vieler Gruppen und Verbände als eine Organisation. Das aber sei sicher: Sie stellt alles in Frage, will alles verändern, wird von einer unbotmäßigen Jugend getragen – und scheut keine Mittel, kennt keine Grenzen der Sitte und des Anstands, fällt mit einem Wort gänzlich aus der konstituierenden Ordnung (Agnoli 1968a, 31). Mit dem Epitheton außerparlamentarisch erfährt die damit bezeichnete normbrechende, in keiner Weise in die politische Ordnung zu integrierende Gruppierung ihre spezifische Klassifizierung. Außerparlamentarisch impliziert eine institutionelle Trennung von Parlament und der so bezeichneten Bewegung und erhält im Laufe des Jahres 1967 zunehmend Merkmale eines Organisations- oder Institutionennamens.43 Der
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nierten Praktizismus der Kinder, der bereits in abscheulichen Irrationalismus übergeht, nichts zu tun habe (Adorno 1968c, 473); die Treibjagd auf die außerparlamentarische Opposition hat begonnen. (Enzensberger 1967, 255) Vgl. auch Nier 1993, 92ff. Er schließt jedoch auch an bereits früher gebräuchliche Verwendungsweisen von außerparlamentarisch und Opposition an. So verwendet beispielsweise Rudolf Augstein bereits in seinem Vortrag von 1964 vor dem Rhein-Ruhr-Club die (vermutlich spontan gebildete) Gruppenbezeichnung Außerparlamentarier, wobei er mit der integrativen Wir-Form einen Bezug zur Eigengruppe herstellt: Uns Außerparlamentariern fällt in solchen Zeiten der Verhextheit und des Tabus eine bestimmte Rolle zu, die man leicht über- und leicht unterschätzen kann. Wir können, wenn die Wahrheit partout nicht ans Licht soll, Geburtshelferdienste leisten. (Augstein 1964, 22)
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Übergang von einer beschreibenden Gruppenbezeichnung zu einem identifizierenden Institutionen- oder Organisationsnamen wird dort erkennbar, wo auf die Gruppe nicht mehr (mit dem unbestimmten Artikel) als eine, sondern (mit dem bestimmten Artikel) als die außerparlamentarische Opposition Bezug genommen wird. Beide Formen sind mehrfach in der Rede von Oskar Negt zum 2. Juni 1967, „Benno Ohnesorg ist das Opfer eines Mordanschlages“ (Negt 1967a), vertreten, was wohl dafür spricht, dass sich der Referenzbereich des Terminus außerparlamentarische Opposition zu diesem Zeitpunkt zu verfestigen beginnt. Die Formeln die Rechte einer außerparlamentarischen Opposition, die demokratische Opposition unseres Landes und der Kampf gegen die außerparlamentarische Opposition (Negt 1967a, 243f.) sind als referenzidentische Kategorisierungen der aktiven, protestbereiten studentischen Linken zu verstehen. Ein anderer Aspekt, nämlich der der Qualifizierung, erfährt einen Akzent mit der wohl gebräuchlichsten Selbst- und Fremdbezeichnung Bewegung. Die gegen 1964 begonnene, durch die militantesten Tendenzen im SDS geleitete anti-imperialistische Aufklärung und Aktion … zeigte …, daß das anti-autoritäre Lager niemals eine ‚Studentenbewegung‘ war, sondern vielmehr eine Gesamtheit von Teilen aus den verschiedensten sozialen Schichten. (Dutschke 1971, 130)
Im Jahr 1971, nach dem Untergang des SDS, nimmt Rudi Dutschke eine semantische Unterscheidung vor zwischen Studentenbewegung einerseits und Gesamtheit von Teilen aus den verschiedensten sozialen Schichten andererseits.44 Damit legt er fest, dass der gesellschaftliche und politische Protest seit Mitte der 1960er Jahre eine Bewegung war und dass diese Bewegung nicht ausschließlich aus Studenten bestand. Mit dieser Kategorie, die eine wesentlich höhere Gebrauchsfrequenz aufweist als Opposition, werden Dynamik, Intensität und Massenhaftigkeit bezeichnet, wie bei Dutschke deutlich wird. Es ist dies diejenige Kategorie, die auch der soziologische Terminus zur Bezeichnung des Phänomens ist, spezifiziert mit dem Merkmal sozial. Soziale Bewegung wird von der Bewegungsforschung definiert als „ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mittels öffentlicher Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.“ (Rucht 1991,
44 Im weiteren Verlauf hält Dutschke es für „notwendig, den anti-sektiererischen und anti-imperialistischen Charakter dieser unklaren, aber historisch sich so produktiv entfaltenden Bewegung zwischen 1964 und 1968 zu betonen“ (ebd. 131).
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450)45 Während Opposition eine Funktionsbezeichnung ist, aktualisiert Bewegung also eher diese qualitativen Kennzeichen und referiert in der Zusammensetzung auf die Ursprünge der Bewegungsgeschichte als Arbeiterbewegung.46 Die gegenwartsbezogenen Gebrauchskontexte und Wortbildungen indes werden – wiederum von den Diskursbeteiligten beider Provenienzen – auf die Gruppe der studentischen Aktivisten bezogen in der Bedeutung ‚politisch aktive, linksorientierte Angehörige einer Gruppe, die sich die Veränderung der Gesellschaft nach antiautoritären und radikalen demokratischen Vorstellungen zum Ziel gesetzt haben‘. – Diese Lesart entspricht dem Befund der Bewegungsforschung. Deren soziologische Definition für die Protestbewegung der späten 1960er Jahre lautet: „das aktionsorientierte Netzwerk von Personen, Gruppen und Organisationen, das sich – in der Bundesrepublik – fast ausschließlich aus der gebildeten Mittelschicht rekrutierte und eine antikapitalistische, antitechnokratische und antiautoritäre Stoßrichtung verfolgte“ (Rucht 2008, 160). Ihr politisches Handlungsziel war sozialer, also gesellschaftlicher Wandel, das sie in entsprechenden Texten formulierte. Sie bestand aus einem durch die kollektive Identität der Protesthaltung gegen die gegenwärtige Gesellschaft und Politik geformten Netzwerk einzelner Gruppierungen. Ihr Aktionismus weist die Beteiligten als in hohem Maß mobilisiert aus (vgl. ebd. 159f.) Damit ist auch deutlich, wer in diesem Sinn nicht zur Bewegung zählt: die intellektuelle Linke natürlich, wiewohl diese gleichzeitig Partner in der Diskursgemeinschaft ist. Die häufigsten, zum Teil programmatischen Wortbildungen und Formeln sind Protestbewegung, Studentenbewegung, Widerstandsbewegung, antiautoritäre Bewegung, revolutionäre Bewegung, oppositionelle Bewegung, vereinzelt auch Verbindungen wie außerparlamentarische Bewegung (anstelle des geläufigeren außerparlamentarische Opposition). Die Bezeichnungen (studentische) Protestbewegung und Studentenbewegung erscheinen in den meisten Kontexten als gleichwertig und praktisch austauschbar, und da das Konzept der Bewegung keine präzisen Grenzziehungen erfordert und in seiner Umfangsbezeichnung flexibel verwendbar ist, können nicht nur die überregionalen (nationalen) Aktionszusammenhänge und Organisationseinheiten als Studentenbewegung charakterisiert werden, sondern auch deren örtliche Unterstützergruppen oder Unterorganisationen, etwa in der Formel Frankfurter Studentenbewegung.47 Darüber hinaus gibt es kontextabhängig Spezifizierungen, die inhaltliche Aspekte oder Gruppen bezeichnen und z. T. durch situa-
45 Vgl. auch Rucht 1994 und 2008. 46 Da die sozialistische Arbeiterbewegung unfähig war, die Wirtschaftskrise sozialistisch zu gestalten, wurde sie zum Objekt der Krise, wurde die „Volksgemeinschaft des Bankrotts“, die in allen Schichten und Klassen zu fi nden war, immer mehr die bestimmende Kraft der Gesellschaft (Dutschke 1966, 57). 47 Für die Frankfurter Studentenbewegung gibt es zwei Perspektiven, wie die Politische
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tive ad-hoc-Benennungen ausgedrückt werden, z. B. Rätebewegung, Emanzipationsbewegung, Streikbewegung, Schülerbewegung, Jugendbewegung oder SDS-Bewegung. Protestbewegung indes ist die Zusammensetzung, welche von den Zeitgenossen am häufigsten zur Kennzeichnung der Aktivistengruppe verwendet wurde.48 Während jedoch Ulrike Meinhof im Mai 1968 in ihrer ‚konkret‘-Kolumne die Bezeichnungen Protest und Widerstand deutlich voneinander absetzt (s. dazu unten Kapitel 7.3), scheint Protestbewegung, zumindest in früheren Belegen, keine bewusste „Intensitätsmarkierung“ der Aktion auszudrücken.49 Oskar Negt stellt eine deutsche Protestbewegung in den Kontext von
Universität gegen alle Repressionen wieder aufgebaut werden kann. (Claussen 1968, 14) 48 Die Oppositionsbewegung steht vor dem Übergang vom Protest zum politischen Widerstand (Schlußerklärung 1968); Irrationalistische Impulse, die in der neuen Bewegung der Studenten von Anbeginn zu erkennen waren, drohen … rasch zu wachsen (Habermas 1969b, 7); Die Studentenbewegung ist, obwohl revolutionär in ihrer Theorie, in ihren Triebbedürfnissen und ihren letzten Zielen keine revolutionäre Kraft, vielleicht nicht einmal eine Avantgarde, solange keine Massen vorhanden sind (Marcuse 1969, 92); Auf der Suche nach Verhaltensstabilisatoren werden so angesichts der egalitären Protestbewegung der Studenten verdeckte Mechanismen des bürgerlichen Denkens hervorgeholt, welche die Legitimationsgrundlage für Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse tendenziell „naturalisieren“. (Negt 1968b, 187); Die Ideologie der Studentenbewegung, die in der SDS-Ideologie ihren schärfsten Ausdruck fi ndet und dort ihren schärfsten Ausdruck in der Ideologie von Rudi Dutschke, trägt diese Isolation als fundamentalen Bestandteil mit. (Berliner Manuskripte 1967); Die Widerstandsbewegung der APO lebt mit ihren Symbolen historisch und soziokulturell zum großen Teil auf Pump (Horn 1968, 121); Die antiautoritäre Bewegung würde eine solche Nacht schwerlich überstehen (Reiche 1968a, 30); Ausserhalb der Ideen von Marx, Lenin und Mao Tse-Tung kann es keine revolutionäre Bewegung geben (Klaun / Paetzel / Rosenow / Tepas 1969); daß die übrigen Tageszeitungen Westberlins, die Rundfunk- und Fernsehanstalten durch ihre Falschmeldungen nicht nur über die außerparlamentarische Bewegung und deren Ziele, sondern auch über andere politische Probleme die Hetzkampagnen der Springerpresse möglich gemacht haben (Forderungen der APO 1968); Die Auseinandersetzung mit der studentischen Protestbewegung hat eine neue Stufe erreicht (Negt 1968a, 15); In dieser Situation sieht sich das System durch eine radikale oppositionelle Bewegung attackiert (Berliner Manuskripte 1967); als sich die oppositionellen Studenten zum ersten Mal ihrer „Bewegung“ bewußt wurden (Reiche 1968b, 434); Wäre es dieses paradoxe Bewußtsein, das die Protestbewegung nun ins Offensive wendet, so bliebe die an ihr geübte Kritik nicht vergebens. (Habermas 1969b, 50); die autoritären Strukturen, die sich innerhalb der etablierten marxistischen Bewegung herausgebildet haben (Adorno 1968a, 459); Eine „Bewegung“ ist nicht schon darum revolutionär, weil man sie so nennt. (Habermas 1968a, 200); Es war eine der beglückendsten Erfahrungen meines Lebens zu beobachten, daß die Studentenbewegung eine internationale Bewegung ist, die sich ohne feste Organisationsformen entwickelt hat und ständig weiter entwickelt. (Marcuse 1968d, 476); Die Formen der studentischen Aktionen des letzten Semesters waren gewiß in manchen Fällen deshalb verfehlt, weil sie nicht genügend daraufhin durchdacht waren, ob sie geeignet waren, noch fernstehende Studenten zur Identifikation mit der Bewegung zu führen (Abendroth 1968, 133); Die Revolutionsrhetorik bietet sich nur zu leicht für Projektionen an, die verhindern, daß die wirklichen Ursachen der Protestbewegung geklärt werden. (Habermas 1969b, 22) 49 Widerstandsbewegung ist wesentlich niedriger frequent als Protestbewegung. Hinsichtlich der Kollokationen kommen vor antiimperialistische Widerstandsbewegung und
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Oppositionsbewegungen in hochindustrialisierten Ländern – Protestbewegung und Oppositionsbewegung damit in ein Synonymie-, genauer Hyperonymieverhältnis: Die auf dezentralisierter Aktivität beruhende historische Praxis, für die sich die Alternative von Aufklärung und Umsturz nicht mehr stellt, ist vielmehr Ausdruck einer allgemeinen, auf die deutsche Protestbewegung keinesfalls beschränkten Entwicklungstendenz innerhalb der Oppositionsbewegungen in hochindustrialisierten Ländern, die darin besteht, daß sich die Entschlossenheit zu spontaner Selbstorganisation mit einem Element experimenteller Besitzergreifung verbindet. (Negt 1968c, 27) Der Referenzbereich von Bewegung wird darüber hinaus mit allgemeinen, überparteilichen Hochwertadjektiven wie politisch oder demokratisch spezifiziert, während, wie die Argumentation Oskar Negts zeigt, auch das Epitheton studentisch Anspruch auf das Merkmal ‚politisch‘ erheben kann: Aber was für die linken Skeptiker, die den Sozialismus unabdingbar an zentral gesteuerte Organisationen und an abstrakte, langfristige Perspektiven binden, die auf Machtverschiebungen im Zentrum gerichtet sind, Grund für die Feststellung ist, daß die studentische Protestbewegung unpolitisch oder vorpolitisch sei, das macht gerade ihren politischen Charakter aus. (Negt 1967b, 303)
Der Verweis auf die prototypische Aktivistengruppe der Studenten hat aber wohl weitgehend seine spezifizierende Funktion verloren und mag vor allem dann eine kommunikative Funktion erhalten, wenn unterschiedliche Aktivistengruppen, etwa Schüler, Studenten, Lehrlinge oder Arbeiter, voneinander abgesetzt werden sollen. So erklärt sich der attributfreie Gebrauch mit bestimmtem Artikel, die Bewegung, der die Existenz einer einzigen Bezugsgruppe prätendiert.50 Er ist hoch frequent, obwohl die Geschichte dieser Konstruktion in den Totalitarismus verweist.51 Allerdings: Diese Bezug-
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wirkliche Widerstandsbewegung und es lassen sich gelegentliche Referenzen auf Amerika (Die Widerstandsbewegung in den USA, die amerikanische Widerstandsbewegung) nachweisen. Unabhängig davon kann er natürlich gelegentlich auch einer stilistisch variierenden Wiederaufnahme entsprechen: Bedeuten [die versöhnlichen Gesten von Senat und Presse] eine Revision der aggressiv-reaktionären Politik … unter dem Druck der studentischen Massenbewegung? Nein, das bedeuten sie nicht! … Man gießt dickes KompromißÖl auf die Wellen, damit die Aufwallung der Massen abklingt, damit die Bewegung einschläft. (Berliner Manuskripte 1967); Da uns oder den politisierten Studenten insgesamt es nicht gelang, eine allgemeine, über den SDS hinausgehende Organisationsform der Studentenbewegung zu finden, wurde aus der Struktur der Bewegung heraus, deren einziges Organisationsprinzip die öffentliche Diskussion in den Teach-ins war und blieb, die kleine Zahl der besten SDS-Agitatoren in die Rolle von „Studentenführern“ gedrängt, deren Aufgabe es war, bei jeder Versammlung und Aktion die Radikalität der Bewegung zu produzieren und zu reproduzieren. (SDS 1968d, 89) Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Bezeichnung die Bewegung bekanntlich in erster Linie für die Rolle der NSDAP in den zwanziger Jahren bis zur Machtergreifung Hitlers verwendet (vgl. Schmitz-Berning 1998, 99ff.) – sie war schon vor 1933 als Hit-
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setzung soll hier natürlich keine inhaltlichen Parallelen unterstellen. Vielmehr soll sie auf das relativ unbekümmerte, gewissermaßen egozentrische Geschichtsbild der Beteiligten verweisen, das es ihnen erlaubt, die nazistische Kontaminierung von Bewegung zu ignorieren. Diese Tradition außer Acht zu lassen bedeutet übrigens nicht, dass man sich ihrer nicht bewusst war. Abgesehen davon, dass Nazi- und faschistische Bewegung durchaus verwendete Kategorien zur Bezeichnung des historischen Phänomens sind52, auch davon abgesehen, dass „in dem … Begriff ‚Bewegung‘ … noch die verdrängte Erinnerung an eine andere Bewegung mit[schwingt] – bei den überraschten Vätern wie bei den politisierten Kindern“ (Kadritzke 1989, 241) macht der explizite Hinweis des ‚neue kritik‘-Autors Dörner klar, dass die unter Dreißigjährigen sich indes historisch legitimiert fühlten, über sprachliche Belastungen der Nazizeit hinweg zu sehen: Zu erinnern ist …, daß es für „Leute über Dreißig“ (den Verfasser eingeschlossen) noch vor 1–2 Jahren unmöglich gewesen wäre, den Begriff der „Bewegung“ ohne Assoziation des Faschismus überhaupt in den Mund zu nehmen. (Dörner 1968, 67) Das aber können die unter Dreißigjährigen. Und so erklärt sich die Verwendung von Bewegung als elliptische Kurzform für Studentenbewegung, was nicht bedeutet, dass man nicht Übergänge zwischen der Konzeption von Bewegung im Sinn von ‚loser Zusammenschluss widerständischer und protestierender Studenten‘ und allgemeiner ‚Zusammenschluss größerer gesellschaftlicher Gruppen mit dem Ziel politischen Widerstands und Protests‘ zu schaffen sucht und sich bemüht, externe, der Eigengruppe nahe stehende Personen und Gruppen, insbesondere natürlich die Arbeiter, in dieselbe zu integrieren: Ich vermute also, daß insbesondere, wenn die Arbeiter in Massen mit in die Bewegung hineingezogen werden, es zunächst vorübergehend faschistische Tendenzen ganz massiv geben wird. (Lefèvre 1968d, 96) Halten wir fest: links und oppositionell, außerparlamentarisch und Bewegung sind die zentralen Identifikationsvokabeln im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre und zwar aus der Perspektive beider Beteiligtengruppierungen. Sowohl die intellektuelle, als auch die studentische Linke stellt die studentische Opposition damit in die demokratische Tradition von Protest und Widerstand, gegen Konservatismus und Konvention.
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lerbewegung etabliert und sollte später durch Fügungen wie Hauptstadt der Bewegung gefestigt werden. Die faschistische Bewegung, voran die SA (Reiche 1968a, 22); eine dumpfe, unmittelbar aus der ökonomischen Not und dem sozialen Elend geborene faschistische Bewegung, die eher als kollektive Wut denn als politische Organisation zu fassen ist. (Reiche 1968a, 23).
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4.2.1 Anspruch und Verweigerung Dieser Kongruenz des Selbst- und Fremdverständnisses als linke außerparlamentarische Oppositionsbewegung stehen entgegen die Ansprüche antiautoritär und revolutionär, die sich als Autostereotype manifestieren und die vom intellektuellen Establishment entweder nicht bestätigt (antiautoritär) oder explizit abgesprochen (revolutionär) werden. Wolfgang Kraushaar (2001, 15) unterscheidet drei „grundlegende Kritiken“, die die Denkmodelle der Protestbewegung von 1967 / 68 prägen: eine antifaschistische, eine antikapitalistische und eine antiimperialistische. Fügen wir als vierte – und eigentlich erste – die Kritik des Antiautoritären und das die eigene Gruppe konstituierende Autostereotyp antiautoritär hinzu, so haben wir das lexikalisch-semantische Feld gerahmt, innerhalb dessen sich die Identitätskonstitution der studentischen Linken wesentlich manifestiert. Die synonymen Wortbildungsmorpheme anti- (Anti-Springer-Kampagne, Anti-Schah-Proteste, anti-sektiererisch etc.) und gegen- (Gegenuniversität, Gegenöffentlichkeit, Gegengewalt, Gegenbewegung, Gegengesellschaft etc.) sind im Diskurs von 1967 / 68 äußerst produktiv. Die Eigenschaftszuschreibungen antiautoritär, antikapitalistisch, antiimperialistisch und antifaschistisch sind omnipräsent und auf das Engste miteinander verflochten. Diese Verflechtungen konstituieren eine begriffliche Zweiteilung, ein manichäisches Weltbild, welches zwischen Antifaschisten, die zugleich immer auch Antikapitalisten und Antiimperialisten sind, und Faschisten, die zugleich immer auch Kapitalisten und Imperialisten sind, unterscheidet.53
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Unter politisch bewältigen verstehen wir hier: den zunächst als moralisch oder unpolitisch-antiautoritär sich artikulierenden Protest (gegen den Vietnamkrieg etwa) auf seinen Begriff als Protest gegen den allimperialistischen Zusammenschluß zu bringen und weiter zu einem Protest gegen ein System, das Imperialismus impliziert; den sich zunächst radikaldemokratisch artikulierenden Protest gegen die Formierungsmaßnahmen des Spätkapitalismus (Notstandsgesetze usw.) zum Protest gegen ein System zu machen, das notwendig zu faschistoiden Lösungen seiner Widersprüche tendiert; den pazifistischen Protest zu einem Protest gegen ein System zu machen, dem die äußere Aggression inhärent ist usw. usw. Ebenso wie sich diese politische Aufgabenstellung zunächst nur als antikapitalistische, nicht als sozialistische gibt, läßt sich die zu ihrer Lösung notwendige Organisationsform zunächst nur ex negativo bestimmen: zuvorderst können wir zu ihrer Bewältigung keine Partei brauchen. (Reiche / Gäng 1967, 30f.); Die studentische Protestbewegung geht von der Erkenntnis aus, daß, wo immer in der spätkapitalistischen Gesellschaft Autorität vorgefunden wird, diese als Mittel zur Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung eingesetzt wird und fungiert … Der politische Stellenwert der antiautoritären Einstellung bestand und besteht darin, daß sie die auf irrationaler Autorität beruhende spätkapitalistische Gesellschaftsordnung insgesamt radikal infrage gestellt hat und weiterhin infrage stellt (Mahler 1968).
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Aus der anti-Reihe ist das nahezu ausschließlich selbstreflexiv, also kaum aus der Heteroperspektive gebrauchte Attribut der Aktivisten antiautoritär herauszustellen. Antiautoritär ist die herausragende „Sinnformel“ der studentischen Linken, mit der sie sich selbst konzipiert.54 Antiautoritär als Heterostereotyp – es ist natürlich der Widerstreit dieses Selbstanspruchs mit der habituellen Wirklichkeit, die zu Ironie und Spott auffordert. Grass schreibt Adorno im Anschluss an eine Podiumsdiskussion über „Autoritäten und Revolution“ im Frankfurter Haus Gallus, der Grass beiwohnte, einen Brief, in dem er sich emphatisch über den Umgang Hans-Jürgen Krahls mit Adorno empört: Es kommt mir nicht zu, sehr verehrter Herr Adorno, Ihnen Ratschläge zu erteilen, dennoch wünschte ich Ihnen und mir, daß in Zukunft es niemand mehr wagen möge, Sie in eine ähnlich beschämende Lage zu drängen, wie es in Frankfurt geschehen ist. Ich bitte Sie, die Autorität zu beanspruchen, die Ihnen in Tat und Wahrheit (und entgegen allem antiautoritären Gequatsche) zukommt. (Grass 1968, 472)
Auch Jürgen Habermas gebraucht anti-autoritär nicht affirmativ, sondern eher als Beispiel für eine charakteristische und denunziable Wahrnehmungsdisposition der Aktivistengruppe. Diese Wahrnehmung stellt er als eine von drei perspektivischen „Intentionen“ der studentischen Oppositionsbewegung dar: Die anti-autoritäre Einstellung wehrt Leistungsimperative ab. Sie richtet sich nicht eigentlich gegen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und personale Abhängigkeiten, sondern gegen die objektiven Zwänge einer, wie die Formel heißt, autoritären Leistungsgesellschaft. (Habermas 1969b, 15)
Der dominante Gebrauch ist, wie gesagt, der aus der Eigenperspektive der studentischen Linken. In diesem Stereotyp verdichtet sich – indem es politisches Programm ist – nicht nur die Selbstsicht, sondern das gesamte Gesellschaftskonzept der Antiautoritären: „In Gestalt der Väter, der staatlichen Obrigkeit oder des Herrschaftssystems imaginieren und entwerfen sie ein quasi vormodernes, in Hierarchien erstarrtes Gesellschaftsmodell, das die
54 Geideck / Liebert (2003) benutzen die Kategorie der „Sinnformel“, um damit „ein[en] symbolische[n] Formenkomplex“ zu bezeichnen, „der eine komprimierte Antwort auf eine oder mehrere Grundfragen darstellt.“ Diese Grundfragen lauten: Wer sind wir? – die Frage nach der Identität; woher kommen wir? – die Frage nach der Geschichte; wo stehen wir? – die Frage nach der Gegenwart; wohin gehen wir? – die Frage nach der Zukunft. (Geideck / Liebert 2003, 3) Dass für eine jugendliche soziale Bewegung die Frage nach der Identität wesentlich ist, und dass sich aus der Antwort auf diese Frage die Beschaffenheit ihres Diskurses bestimmt, ist offensichtlich.
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Produktivkräfte lähmt.“ Die Kategorie dieses Modells ist autoritär, sie „funktionierte deshalb wie ein Jungbrunnen für die antiautoritäre Haltung“ (Scherpe 2000, 103). Man reflektiert mit diesem Autostereotyp antiautoritär explizit die Kritische Theorie als Referenztheorie. Die von Horkheimer und Adorno in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der amerikanischen Konsumgesellschaft geprägten Kategorien autoritärer Staat (vgl. Horkheimer 1940; s. dazu ausführlich unten Kapitel 6.2) und autoritärer Charakter (vgl. Adorno 1950) bilden die Voraussetzung für die Selbstbezeichnung antiautoritär. Daneben ist auf die anarchistische Traditionslinie zu verweisen. F. O. Wolf führt diese im „Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus“ bis zur Ersten Internationale, als es zu einer Spaltung von Marxisten und Bakunisten kam. Letztere werden dort als anti-autoritäre oder anarchistische Gruppierungen bezeichnet. Nach Peter Kropotkins Darstellung aus dem Jahr 1922 seien anti-autoritär und anarchistisch ursprünglich weitgehend gleichbedeutend gewesen, wobei sie jedoch zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Bewertungseinstellungen verbunden gewesen seien: Als im Schoße der Internationale eine Bewegung entstand, welche die Berechtigung der Autorität innerhalb der Vereinigung leugnete und sich überhaupt gegen jede Form der Autorität empörte, gab sich diese Gruppe zuerst den Namen der föderalistischen, später der anti-staatlichen oder anti-autoritären Richtung innerhalb der Internationale. Zu dieser Zeit vermied sie sogar, sich anarchistisch zu nennen. (Kropotkin 1922, 69)
Die studentische Linke stellt sich mit der Selbstbezeichnung antiautoritär auch in diesen Traditionszusammenhang der anarchistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, wie Rudi Dutschkes Entwurf eines theoretischen „Lektürekanons“ dokumentiert, in dem Bakunin eine zentrale Rolle spielt (vgl. Dutschke 1966). Auch selbstreflexive Äußerungen von Protest-Aktivisten lassen das Bewusstsein erkennen, dass die antiautoritäre Protestbewegung in einer längeren Tradition steht. So spielt Ulrike Prokop-Iwersen mit dem Terminus antiautoritäre Bewegung der Vergangenheit auf den Anarchosyndikalismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts an: Der politisch fortgeschrittendste und theoretisch reflektierteste Teil der antiautoritären Bewegung heute, der die Parole „Alle Macht den Räten“ in bewußt provokatorischer Absicht wieder aufgenommen hat, steht vor der Aufgabe, die Analyse der antiautoritären Bewegung der Vergangenheit und der Gründe ihres Scheiterns in die Reflektion der aktuellen Praxis mit aufzunehmen. (Prokop-Iwersen 1968, 79)
Die Aktivisten verwenden antiautoritär programmatisch zum Ausdruck einer politischen Widerstandshaltung gegenüber bestimmten Formen von Au-
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torität als Eigenschaftsprädikator (antiautoritärer Protest)55, sowie zur Charakterisierung von Organisationsstrukturen innerhalb der Protestbewegung (antiautoritäres Lager)56. Vor allem aber ist als Autostereotyp gebrauchtes antiautoritär Name zur Identifizierung und Charakterisierung der Eigengruppe in Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen (antiautoritäre (Protest-)Bewegung, die Antiautoritären)57. Antiautoritär ist Name, und dieser Name ist Programm. In diesem Sinn stellt Rudi Dutschke mit den Elementen ernsthaft, kritisch und antiautoritär eine Eigenschaftssynonymik her und formuliert eine aufklärerisch un-
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[…] den zunächst als moralisch oder unpolitisch-antiautoritär sich artikulierenden Protest (gegen den Vietnamkrieg etwa) (Reiche / Gäng 1967, 31). Der Anarchismus des antiautoritären Lagers half, die Gewalt des Systems durch Provokationen zu entlarven. (Dreßen 1968); Fast fünfzig Prozent der Studenten stimmten für das antiautoritäre Lager (Dutschke 1967c, 68); Die Selbstorganisation des antiautoritären Lagers innerhalb der Universität hat durch die Organisierung einer „Gegenuniversität“ innerhalb der bestehenden Uni … den nächsten möglichen Schritt getan (Dutschke 1967f, 259). Solange die Antiautoritären jede verbindliche Strategie und Organisation als autoritär ablehnen, haben die Rebellen ihren autoritären Charakter noch nicht überwunden (Dreßen 1968); Nach den Ohnmachts- und Angsterklärungen der Regierung werden die Antiautoritären jetzt ihre Interessen noch deutlicher in die eigene Hand nehmen (Dutschke 1968g, 102f.); Die Symbole der gegenwärtigen antiautoritären Bewegung werden nicht in einer rigiden Form von oben eingesetzt, nicht von einem klassischen Partei-Über-Ich angeordnet; sie sind wirklich das spontane Produkt dieser Bewegung. (Reiche 1968b, 439); der seit anderthalb Jahren schwelenden Konflikte zwischen Jürgen Habermas und der antiautoritären Protestbewegung (Negt 1968c, 32); seit dem 2. Juni 1967 die „antiautoritäre Bewegung“ in Westberlin Stagnationserscheinungen aufweist, die Resultat ihrer strategischen Konzeptionslosigkeit sind. … Die Ereignisse des 2. Juni und der ihm folgenden Tage veränderten „schlagartig“ den Charakter der „antiautoritären Bewegung“ in der und um die Hochschule. (Lefèvre 1968b, 46); Die antiautoritäre Bewegung ist besonders leicht gefährdet, bürokratische Organisationsformen hervorzubringen, weil sie bis jetzt keine transparenten und einigermaßen feste Strukturen entwickelt hat. … Die antiautoritäre Bewegung hat bisher auch lokal nirgends eine demokratischzentralistische Organisation hervorgebracht. (Schmierer / Mangold 1969, 20); Gegen die heutige Apathisierung der lohnabhängigen Massen hat die antiautoritäre Bewegung die Manifestation von Herrschaftskonflikten am Arbeitsplatz, in Schule, Hochschule und Betrieb gesetzt. (Grunenberg 1968, 100); daß die antiautoritäre Bewegung in eine Phase gekommen ist, in der die Organisationsfrage für sie zur Lebensfrage wird. Es steht alternativ, ob es uns gelingt, uns organisatorisch auf die Weiterführung und Erweiterung des Kampfes gegen das kapitalistische Herrschaftssystem einzurichten, oder ob die antiautoritäre Bewegung sich in eine linke Subkultur auflöst (Gäng 1969, 15); Als dem bürgerlichen Presseapparat bei der Beschreibung und Verfolgung des SDS die Kategorien durcheinander gerieten, weil die antiautoritäre Bewegung die versteinerten Verhältnisse des Nachkriegskapitalismus und die Elemente seines verdinglichten Selbstverständnisses zum Tanzen brachte … Die Fetischisierung der antiautoritären Bewegung zum „Dutschkismus“ im Zuge ihrer ökonomisch-publizistischen Verwertung … die Bedeutung der antiautoritären Bewegung als Moment des von Lenin ins Zentrum der Aufgaben von sozialistischen Intellektuellen gestellten Enthüllungsprozesses (Blanke 1968a, 42).
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terfütterte Zweckbestimmung (von fremden Herrschaftsinteressen befreien, menschliche Verstandestätigkeit in Vernunft gegen die Gesellschaft transformieren),58 grenzt Horst Mahler die Antiautoritären von den gegnerischen orthodoxen Marxisten ab,59 setzt die Feministin Helke Sander die antiautoritäre Fraktion, die KP-Fraktion und den Aktionsrat zueinander in Beziehung.60 Die sich hier zeigende Diskrepanz zwischen antiautoritär als Bestandteil einer stereotypen Gruppenbezeichnung und der Interpretation des Schlüsselworts als programmatische Verpflichtung zur Infragestellung althergebrachter Autoritäten verdeutlicht indessen einen Konflikt, der charakteristisch für politische Gruppierungen ist, die eine abstrakt formulierte Leitidee mit den Anforderungen der Alltagspraxis verbinden müssen. Zugleich zeugt er aber auch von der semantischen Spannung zwischen idiomatisierten Eigen- und Gruppennamen und den Bedeutungsimplikationen ihrer transparenten Bildungsprinzipien. Antiautoritär als selbstreferentielles programmatisches Fahnenwort – die kritische Selbstüberprüfung im Namen der Wahrhaftigkeit ist in dieser Funktion angelegt. So wird der Widerspruch zwischen Ablehnung von Autorität und der tatsächlichen Autorität der studentischen Führungsgestalten61 ebenso wie autoritäre Ausdrucksformen vor allem innerhalb des SDS sowie das Problem einer organisierten
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Der ernsthafte Teil der Studentenschaft, das kritisch-antiautoritäre Lager betrachtet die Studienzeit nicht als Rezeption bedeutungslosen Wissens, nicht als Durchgang zum sozialen Aufstieg in einer repressiven Gesellschaft, nicht als lustigen Zeitvertreib oder pseudo-revolutionäres Happening, sondern als die der Mehrheit der Menschen systematisch verweigerte Möglichkeit, sich durch intensive Anstrengung von den durch Vergangenheit und Erziehung verinnerlichten fremden Herrschaftsinteressen zu befreien, die spezifisch menschliche Verstandestätigkeit in sprengende Vernunft gegen die bestehende Gesellschaft zu transformieren. (Dutschke 1967c, 72) 59 Die orthodoxen Marxisten … sehen in der antiautoritären Haltung der studentischen Opposition nur „kleinbürgerliches Revoluzzertum“. (Mahler 1968) 60 Die Zusammenarbeit [des „Aktionsrats zur Befreiung der Frau“ mit dem SDS] hat jedoch zur Voraussetzung, daß der Verband die spezifische Problematik der Frauen begreift, was nichts anderes heißt, als jahrelang verdrängte Konflikte endlich im Verband zu artikulieren. Damit erweitern wir die Auseinandersetzung zwischen den Antiautoritären und der KP-Fraktion und stellen uns gleichzeitig gegen beide Lager, da wir beide Lager praktisch, wenn auch nicht dem theoretischen Anspruch nach, gegen uns haben. … Wir werden uns nicht mehr damit begnügen, daß den Frauen gestattet wird, auch mal ein Wort zu sagen, das man sich, weil man ein Antiautoritärer ist, anhört, um dann zur Tagesordnung überzugehen. (Sander 1968) 61 Einige Autoritäten, die als Zauberkünstler die Funktion des Interpreten jeweils wahrnehmen können und im übrigen ein Verband, der allenfalls dann und wann eine neue Autorität erzeugt, im übrigen aber höchstens die politische Funktion hat, in politischen Aktionen den provokativen Stimulus für die Entfaltung der Rebellion zu geben. … Bei den Osteraktionen traten zu Beginn der spontan-reaktiven Rebellion die Autoritäten des SDS (und Autoritäten von außerhalb des SDS) als die Interpreten dieser Rebellion auf (SDS 1968e, 55).
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
Struktur unter Beibehaltung des antiautoritären Anspruchs thematisiert. Freerk Huisker etwa denkt über Antiautoritäres Verhalten und autoritäre Strukturen im SDS (Huisker 1968) nach, um, mit dem Maßstab des Wahrhaftigkeitskriteriums62, ein autoritäres Verhaltenssyndrom (ebd. 118) festzustellen, antiautoritäre Haltung sei zur bloßen Attitüde geronnen, es sei Fixierung an „Autoritäten“ in der Gruppe zu beobachten (ebd.), die autoritäre Struktur des SDS sei eigentlich eine gesellschaftlich vermittelte Problematik (ebd. 121), gleichzeitig sei aber davor zu warnen antiautoritär mit ins organisatorische Chaos treibender Unverbindlichkeit zu verwechseln, die zumeist aus einer Fetischisierung auch des kleinsten Ansatzes von Bürokratie und Organisation resultiert (ebd. 124). Die Aufhebung dieses Widerspruchs zwischen antiautoritär und organisiert (man meint, er existiere zu Unrecht) ist ein diskursives Muster. So verteidigt z. B. der Politologe Wolfgang Dreßen organisatorische Schritte zur Institutionalisierung des antiautoritären Lagers gegen den Vorwurf des Autoritären.63 Und Horst Mahler, der ebenfalls den Widerspruch zwischen Wollen und Sollen thematisiert64, setzt das Progressivsein der Bewegung mit der Bildung einer Organisationsstruktur gleich, deren Erscheinung dann als progressive Autorität firmiert.65 Progressive Autorität – dieses meliorierte und damit akzeptabel gemachte Autoritätskonzept verweist auf die Notwendigkeit, antiauto-
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Huisker beschreibt das autoritäre Gebaren der eingefleischten Antiautoritären auf einer Delegiertenkonferenz, die einerseits jede Intervention vom Präsidium als Eingriff in persönliche Freiheiten protestierend rügten, sich jedoch immer dann selbst entlarvten, wenn sie wohl den „Großen“, weniger aber den „Kleinen“ am Mikrophon Aufmerksamkeit schenkten (Huisker 1968, 126). 63 Solange die Antiautoritären jede verbindliche Strategie und Organisation als autoritär ablehnen, haben die Rebellen ihren autoritären Charakter noch nicht überwunden. Abstrakt wird jede Autorität abgelehnt, um sich der Autorität einiger Führer und in der Praxis den Reaktionen des autoritären Staates zu unterwerfen. Statt einer revolutionären Politik betreiben sie bloßen Protest. Der Anarchismus des antiautoritären Lagers half, die Gewalt des Systems durch Provokationen zu entlarven. Er zeigte den Hauptgegner, den autoritären Staat. Der Anarchismus durchbrach den integrierten Protest der etablierten Arbeiterorganisationen, aber er droht sich ebenso zu verselbständigen, in dem zum Ritual gewordenen leeren Widerspruch. Erst die Einheit von Widerspruch und Disziplin, die demokratisch-zentralistische Organisation, könnte endgültig jede irrationale Autorität überwinden (Dreßen 1968). 64 Die antiautoritäre, institutions- und organisationsfeindliche Einstellung in weiten Teilen der Außerperlamentarischen Opposition bringt Aversionen gegen den Gedanken an eine organisatorische Strukturierung, die notwendig eine freiwillig auferlegte Disziplinierung voraussetzt, hervor. (Mahler 1968) 65 Da progressive Autorität, die sich beispielsweise in einer erfolgreichen, den geschichtlichen Notwendigkeiten und den politischen Gegebenheiten entsprechenden sozialistischen Massenpartei herausbilden könnte, in der gegenwärtigen Situation nicht angelegt ist, konnte sich die studentische Protestbewegung mit der Negation jedweder Autorität, also auch innerhalb des eigenen Verbandes, entwickeln. (Wobei hier anzu-
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ritäres Selbstverständnis einerseits und durchaus nicht immer und konsequent verdammte Autorität andererseits miteinander zu vereinbaren. Die semantische Unterscheidung zwischen guter und schlechter Autorität leistet diese Vereinbarung – eine Unterscheidung, mit der man sich wiederum in Einklang begibt mit den universitären Autoritäten. Die am 23. September 1968 im Rahmen der Buchmesse auf Einladung des Luchterhand Verlages veranstaltete Podiumsdiskussion zu dem Thema ‚Autoritäten und Revolution‘ im Haus Gallus in Frankfurt legt Zeugnis ab von dieser Anpassung. Theodor W. Adorno, Frank Benseler (Moderation), Ludwig von Friedeburg, Jürgen Habermas, Werner Hofmann, Hans Heinz Holz, Hans-Jürgen Krahl (SDS), Kurt Lenk, Karl-Dietrich Wolff (SDS) diskutieren über Autoritätsbegriffe. Diese Diskussion ist aus mehreren Gründen ein zentrales Diskurssegment: Zum einen thematisiert sie das generelle Motiv des Protestdiskurses – autoritäre und damit antidemokratische Strukturen der deutschen Gesellschaft –, zum andern das aus diesem Motiv abgeleitete Selbstverständnis der Diskursbeteiligten als antiautoritäre und damit urdemokratische Bewegung. Ein Ergebnis der Diskussion besteht in dem Konsens darüber, dass Autorität sowohl positiv als auch negativ besetzt ist. Adorno macht die Vorgabe: Nicht ist in abstracto jeglicher Autorität zu opponieren. Der Unterschied zwischen dem Seminardirektor, der peinlich darauf hält, daß die Studenten, wenn er ins Seminar kommt, sich von ihren Plätzen erheben, und ähnlichem Firlefanz auf der einen Seite, und dem Autoritätsverhältnis, das darin besteht, daß jemand einen anderen etwas lehrt, einfach, weil er mehr von der Sache versteht … dieser Unterschied ist radikal, auch wenn man weiß, wie leicht Sachautorität in persönliche ausartet. (Adorno 1968a, 459)
Diese Lesartenunterscheidung ist konsensfähig, ein studentischer Diskutant bestätigt sie zustimmend – Autorität ist hier mit Recht definiert worden durch den Begriff der Sachkompetenz als die Autorität, die das Vernunftargument für sich in Anspruch nehmen kann – um zu Recht auf den Unterschied zwischen dem Singular und dem Plural hinzuweisen (mir schien, als sei in dieser Diskussion nicht ganz bewusst, dass der Plural „Autoritäten“ mitnichten der Plural von „Autorität“ ist) und die negativ konnotierte Lesart mit Bedeutungselementen zu versehen: Demgegenüber sprechen wir von Autoritäten dann, wenn wir von jenem instituierten Herrschaftsapparat sprechen, mit dem der bestehende Staat sich selbst erhält und fortsetzt; das heißt, wenn wir von der Verwaltung sprechen, von der Polizei,
merken ist, daß beispielsweise der SDS in der Aufstiegsphase von Rudi Dutschke informellerweise durchaus autoritär strukturiert war.) (Mahler 1968)
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von den Gerichten, dann sind das die Autoritäten im Staat. Jene Autoritäten im Staat handeln … in fast allen jenen Fällen, die für uns Konfliktsituationen sind, gerade ohne Autorität, das heißt, ohne das Vernunftargument oder die Sachkompetenz auf ihrer Seite zu haben. Sie handeln aber mit einer gewissen Autorität, als sie ein allgemeines Einverständnis einer breiten unaufgeklärten Masse für sich haben. … die unaufgeklärte Masse deckt durch ihre Existenz, durch ihre Einstellung jene angemaßte Autorität, die die Staatsautoritäten für sich in Anspruch nehmen. (Holz 1968, 466f.)
So definiertes Autoritäten ist Kampfvokabel der Widerstandsbewegung, wenn sich für illegitim und repressiv gehaltene Herrschaftsverhältnisse ausdrücken, nämlich Gewalt anwendende Polizei, der die Protestler vor die Gerichte bringende Staat, die die Studierenden von Seminaren und Instituten ausschließende oder ihnen Zuwendungen versagende Universitätsbürokratie, kurz wenn sich Autorität als das manifestiert, was sie nicht sein sollte, die Öffentlichkeit … verhindert und in deren Namen abgesperrt wurde. Solche Autorität gilt als weder demokratisch legitimiert noch aufgeklärt (Benseler 1968, 459), sondern als eine Form von Herrschaftsausübung, wird als sachlich nicht legitimierte Staats- oder Amtsautorität verstanden.66 Autoritäten sind das Objekt des Widerstandes67, über sie die Masse aufzuklären erkennt man als politische Aufgabe68, das Ziel des politischen Kampfes ist unmittelbar auf ihre Verhinderung gerichtet.69 Bestimmte Zusammensetzungen (wie Schein-, Staats-, Amtsautorität) und der Plural (Autoritäten) also, sowie die Adjektivableitung autoritär – ihre Bedeutung ist systematisch negativ besetzt70 – sind Repräsentationen der pejorativen Lesart und kommen Ende der 1960er Jahre „ins Gerede“. Denn: „Die Bewußtseinslagen haben sich gründlich geändert. Eine neue Sensibilität für alles Hierarchische hat sich entwickelt“ (Hildebrandt 1975,
66 Vorbei ist es, meines Erachtens, mit der bloß personalen Autorität, die sich in der Bundesrepublik fatal zu mischen scheint mit der Amtsautorität ex officio … personale Irrationalität im Sinne von Anmaßung von Amtsautorität (Lenk 1968, 460). 67 […] der revolutionäre Kampf gegen die Autoritäten muß also immer damit beginnen, daß wir die angemaßte Autorität, die sie für sich in Anspruch nehmen, entlarven. (Holz 1968, 466f.) 68 Die Masse, die diese Autoritäten deckt …, muß dergestalt zur Einsicht ihrer Lage und der wirklichen Fronten im Kampf zwischen Herr und Knecht gebracht werden, daß sie nicht mehr bereit ist, die Staatsautoritäten zu stützen und zu rechtfertigen. (Holz 1968, 467f.) 69 Dann, wenn die Massen nicht mehr stillschweigend dulden, wird auch das Eingreifen dieser Staatsinstitutionen nicht mehr in der gleichen Weise autoritär möglich sein, wie es jetzt geschehen ist. (Holz 1968, 467) 70 Von Beginn der im späteren 19. Jahrhundert einsetzenden Bedeutungsgeschichte an ist autoritär negativ besetzt und begleitet von den begrifflichen Elementen ‚gewaltsam, diktatorisch, herrisch, unbedingten Gehorsam fordernd‘ (vgl. DFWB s. v. autoritär).
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112) und es hat eine besondere Logik, dass die antiautoritäre Bewegung aus der Krise der Autorität auf allen Lebensgebieten hervorgegangen ist (Horkheimer 1968b, 487). Womöglich ist Teil dieser besonderen Logik, dass die antiautoritäre Bewegung sich auch zu einem positiven Autoritätskonzept verstehen konnte. Dieses positive Konzept von Autorität drückt sich u. a. aus in dem Appell der Aktivisten an Vertreter des intellektuellen Establishments, sich öffentlich und weithin sichtbar an ihre Seite zu stellen, um ihnen über ihre Autorität Dignität zu verleihen. Hans-Jürgen Krahl verweist auf das Paradoxon …, dass die sich als antiautoritär begreifende Studentenbewegung so sehr Autoritäten nötig hat, sowohl in Sachhinsicht wie in personeller (Krahl 1968b, 460), um es zu erklären mit der Autoritätsfixiertheit der Massen, die ohne Autorität für die politischen Botschaften nicht erreichbar scheinen.71 Dieses Werben um Unterstützung entspricht natürlich der theoretischen Rezeption: So, wie die antiautoritäre Bewegung die Solidarität der Autoritäten in ihrem politischen Kampf einfordert, so adaptiert sie die Texte dieser Autoritäten zur Verwissenschaftlichung ihrer gesellschaftspolitischen Theorien. Adorno verweist selbst auf seinen Anteil an der Tatsache, dass der Begriff der Autorität zur Zentralkategorie der Protestbewegung geworden ist, ohne zu realisieren, dass, wie oben dargelegt, die semantische Struktur von Autorität und autoritär sehr verschieden ist: Ich habe das Gefühl, daß … der Begriff der Autorität zu einer Art Zauberwort, zu einer Panazee geworden ist. Dabei schließe ich mich ein: durch das Werk ‚The Authoritarian Personality‘ bin ich sicherlich mitverantwortlich dafür, daß die gegenwärtige Diskussion derartig um den Autoritätsbegriff kreist. (Adorno 1968a, 459)
Dass Adorno aber nur einen entpersonalisierten Begriff der Autorität gelten lässt, ist der studentischen Linken offenbar in diesem Kontext entgangen (während ihr im Übrigen die Personalisierung von Verhältnissen durchaus als von diesen Verhältnissen ablenkende Strategie bewusst ist).72 So lautet
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Die Massen sind in der autoritären Leistungsgesellschaft von Erziehung, Manipulation und exekutiver Indoktrinierung so sehr auf Autoritäten fi xiert, daß sie zunächst für ihre Aufklärung selber Autoritäten – und zwar solche, die sich als kritische Autoritäten begreifen – nötig haben. Deshalb brauchen wir die offen ausgesprochene Solidarisierung der kritischen Autoritäten; sie können gewissermaßen mit der Waffe der Autorität selber das Autoritätsprinzip in der Gesellschaft mitabbauen helfen. Ich glaube, daß Habermas und auch Adorno das bislang nicht aktualisiert haben. (Krahl 1968b, 461f.) Angesichts der fortschreitenden Anonymität ist der traditionelle Autoritätsbegriff nur indirekt, depersonalisiert anwendbar. Für eine kritische Theorie der Gesellschaft ist … der Begriff der Autorität sinnvoll nur als Inbegriff gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und überhaupt nicht zu personalisieren. (Adorno 1968a, 459)
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der Hilferuf: Beim gegenwärtigen Stand der antiautoritären Bewegung bedürfen wir der publizistisch-kritischen Autoritäten und ihres autoritären Gewichts zur kritischen Aufklärung. (Krahl 1968b, 463) Mit diesem Anspruch formuliert man die (nicht ganz ernst gemeinte) Aufforderung an Adorno, sich am Sternmarsch auf Bonn zu beteiligen und erwartet solidarisierende Nähe, die Habermas zu weit geht: Unbedingte Solidarisierung reduziert er zu Solidarisierung auf Zeit, die wiederum sei bedingt vom Vorhandensein einer unverkennbaren und massiven revolutionären Bewegung73 (wir werden unten sehen, dass Habermas das Vorhandensein einer solchen verneint), um dann schließlich die Polysemie-Diskussion wiederaufzunehmen: […] das taktische Konzept, das Herr Krahl hier Herrn Adorno und mir … vorlegt, läuft doch darauf hinaus, dass sogenannte kritische Autoritäten in einem doppelten Sinne „autoritär“ eingesetzt werden sollen. Autoritär zunächst in dem Sinne Krahls, der explizit gesagt hat, wir können publizistisch noch nicht auf die Begleiteffekte einiger solcher Leute verzichten. Autoritär ist dieses Konzept aber auch, wenn man es von seiten der Betroffenen sieht; denn das bedeutet, dass wir ad hoc zu legitimieren hätten, was der SDS tut – und davon kann gar keine Rede sein. (Habermas 1968b, 466)
Habermas, das lässt sich aus diesem Beitrag ableiten, nimmt einerseits die positive Lesart von Autorität in der Formel kritische Autoritäten auf, spielt andererseits auf den antiautoritären Anspruch der studentischen Linken an, indem er eine etwaige Unterstützung der Bewegung durch Autoritäten als autoritär interpretiert, damit auf die nur negativ mögliche Konnotation von autoritär verweisend. Es ist dieser Gebrauch des Adjektivs, das den Diskurs insofern repräsentiert, ihn steuert und verdichtet, als es als Simplex die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, das Verständnis des politischen Gegners in Gestalt von Staat, Universität, Bürokratie, Justiz, verdichtet, in der Zusammensetzung antiautoritär das Selbstverständnis der Akteure als antiautoritäre Bewegung repräsentiert. Halten wir fest: antiautoritär hat, als lexikalische Manifestation der Gruppenidentifizierung und Charakterisierung, die Funktion eines Autostereotyps der studentischen Linken. Zwar wird ihr die Eigenschaft von der intellektuellen Linken nicht explizit abgesprochen (wie z. B. die des revolutionär Seins, wie wir anschließend sehen werden), aber die intellektuelle Linke benutzt dieses Stereotyp auch nicht, um damit explizit auf die studentische Protestbewegung zu referieren. Aus den sprachreflexiven Äußerungen 73
Ich meine, dass die Forderung nach „unbedingter“ Solidarisierung ohnehin nur sinnvoll ist … als eine Solidarisierung auf Zeit. Aber auch die hängt doch davon ab, ob wir eine Organisation werden können und einen Zustand haben, in dem tatsächlich eine unverkennbare und massive revolutionäre Bewegung zu erkennen ist (Habermas 1968b, 466).
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der Zeitgenossen können zwei Motivationslinien von antiautoritär hergeleitet werden: eine historische Linie, die an die Tradition des Anarcho-Syndikalismus Michail Bakunins anschließt und eine zeitgenössisch kritische, die vom Autoritätsbegriff der Kritischen Theorie inspiriert ist. Neben der transparenten Lesart von antiautoritär, die sich gegen bestimmte Autoritätsphänomene richtet, wird antiautoritäre Bewegung zunehmend zu einer feststehenden Gruppenbezeichnung, die von ihren Mitgliedern positiv bewertet wird und zum Teil als Synonym oder Hyponym zu Außerparlamentarische Opposition aufgefasst werden kann. Die Bedeutungselemente von antiautoritär leiten sich unmittelbar ab aus dem Konzept des autoritären Staats und der autoritären Gesellschaft, auf die substantivisch mit der negativ konnotierten Lesart von Autorität (sowie im Plural und in entsprechenden Zusammensetzungen) referiert wird. Diese programmatische Verortung des negativen Autoritätskonzepts hindert die studentische Bewegung nicht daran, ein positives Autoritätskonzept auszudeuten und an das intellektuelle Establishment zu adressieren. – Wir haben es hier mit dem Versuch der studentischen Linken zu tun, die als hoch unterstellte Diskursposition der intellektuellen Linken für ihren Zweck, die diskursive Durchsetzung ihrer gesellschaftspolitischen Vorstellungen, zu nutzen. Die Reklamierung intellektueller Autorität durch die studentische Linke und die Zuweisung von Interaktionsrollen – dieses Segment ist Dokument für das Aushandeln von Autorität im Diskurs und gibt als solches Aufschluss darüber, welche Position einerseits die studentische Linke, andererseits die intellektuelle Linke sich und dem jeweiligen Antagonisten zuschreibt. Aus Sicht der studentischen Linken hat sie selbst die Rolle der Akteure, deren Handeln sie durch die Unterstützung der intellektuellen Linken, die über eine machtvolle Position im Diskurs verfügt, zu legitimieren wünscht. Die intellektuelle Linke andererseits nimmt diese ihr zugewiesene Rolle der Legitimatoren nicht an – mit demselben Argument, mit dem die studentische Linke ihr diese Rolle zuweist, nämlich dem ihrer hohen Position im Diskurs.74
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Dieses Diskurssegment ist Beispiel für einen Diskursaspekt, auf den Warnke / Spitzmüller (2008) lenken und der Aufmerksamkeit der Diskursanalyse empfehlen. Sie legen dar, dass „Autorität nicht etwas sozial Vorgegebenes ist, was sich im Diskurs nur widerspiegelt, sondern dass sie (auch) im Diskurs verhandelt wird. … Dieser Aushandlungsprozess schlägt sich in den Texten sprachlich nieder und kann über die Analyse metapragmatischer Äußerungen wie Autoritätenverweise, Betonung der eigenen Expertise, sprachliche Abwertungsstrategien u.ä. … rekonstruiert werden.“ (Warnke / Spitzmüller 2008, 35) Eben solche Autoritäts- und Expertiseverweise der Protagonisten sind, wie wir gesehen haben, wesentliche Thematisierungen des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre.
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Während antiautoritär als programmatisches Abstraktum eine Haltung, eine Einstellung, eine mentale politische Disposition bezeichnet, referiert revolutionär / Revolutionär gleichsam auf die politische Tat. Im Historischen Materialismus, der marxistischen Geschichtsphilosophie, der bekanntlich der Großteil der linken studentischen Gruppen und die Lehrer der Kritischen Theorie verpflichtet waren, gilt die Revolution (im Sinne einer „revolutionären Phase des Klassenkampfes“) als Vorstufe der klassenlosen Gesellschaft. Als reale, sozialistisch inspirierte Revolutionsereignisse waren im kollektiven Gedächtnis der Protestaktivisten insbesondere die deutsche Märzrevolution von 1848 / 49, die russischen Revolutionen von 1905 und die Februar- und die Oktoberrevolution von 1917, die deutsche Novemberrevolution 1918 / 19 und die kubanische Revolution (1956 / 59) verankert. Wer, wie Cohn-Bendit, rückblickend, seufzt: „Wir haben sie so geliebt, die Revolution“ (Cohn-Bendit 1998), macht indes deutlich: Der Revolutionsdiskurs, den die studentische Linke Ende der 1960er Jahre führt und aus dem sie ihr Selbstverständnis konzipiert, ist normativ, und Revolutionär / revolutionär als autoreferentielles Stereotyp und Fahnenwort hat dementsprechend ein hohes deontisches Potenzial: „Die Genossen redeten sich die Revolution herbei“ (Frei 2008, 123) – folgerichtig hat das Stereotyp die deontische Qualität einer Wollens- und Sollenskategorie.75 Dutschkes Verwendungen lassen keinen Zweifel, er schlägt den Begriff und die Anrede des Revolutionärs (Dutschke 1967f, 255) vor, und wir revolutionäre Sozialisten (Dutschke 1968c, 86) ruft er den Teilnehmern des Vietnam-Kongresses zu. Seine Definition des Begriffs Revolutionär ist die Selbstdarstellung des Berufsrevolutionärs Rudi Dutschke und der Seinen: Noch etwas zum Begriff des Revolutionärs: Seine tiefe subjektive Auflehnung gegen die existierende Gesellschaftsordnung bildet den begründeten Boden für seine emanzipierende Tätigkeit. Er verspürt infolge der bewußt gewordenen Erfahrung bei jedem Schritt die beschämende Unwürdigkeit des Lebens, die unausgenutzten Möglichkeiten der Humanisierung von Gesellschaft und Natur, er sieht die in Unmündigkeit gehaltenen Menschen. (Dutschke 1967f, 256)
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Die Beschreibungskategorie „deontisch“ hat Fritz Hermanns eingeführt, der Wörter mit deontischer Bedeutung definiert als „solche[…] Wörter[…], die semantisch nicht nur deskriptiv sind, sondern ebenso auch präskriptiv sind; und die daher nicht allein ein Sein bedeuten, sondern auch ein Sollen; und die deshalb auch geeignet sind, ein Wollen anzuzeigen“. Explizit-triviale Wörter mit deontischer Bedeutung sind etwa Pflicht, ge-, verboten, richtig, falsch etc. Wörter mit impliziter deontischer Bedeutung sind etwa Ungeziefer oder Unkraut, denen die Bedeutung ‚gehört vernichtet‘ inhärent ist (vgl. Hermanns 1995c, S. 156ff.).
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Ist es dieses Konzept der Emanzipierung, das Marcuse 1975, und also rückblickend, dazu veranlasst, der Studentenbewegung die Entwicklung eines neuen Revolutionsbegriffs zuzuschreiben? Sie habe „den Begriff der Revolution neu definiert …, indem sie ihn in Beziehung setzte zu den neuen Freiheitsmöglichkeiten, zu neuen Potentialen einer sozialistischen Entwicklung“ (Marcuse 1975, 159). Das Selbstverständnis eines Revolutionärs, die Vorstellung des eigenen politischen Handelns als revolutionär ist weit verbreitet. Die studentischen Aktivisten verweisen auf die Aktualität der Weltrevolution76 und man sieht sich in dieser Hinsicht praktischen politischen, auf radikale Veränderung des Bestehenden gezielten Handelns in der Tradition von Che Guevara und Fidel Castro.77 Gelegentlicher Zweifel und entsprechende Differenzierung ändern an dieser dominanten Selbstsicht nichts, wenn etwa das SDS-Vorstandsmitglied Joscha Schmierer mit akademischer Attitüde differenziert zwischen revolutionär sein und für revolutionär gehalten werden: Die Studentenbewegung, ohne selbst schon revolutionär zu sein, hat dennoch sowohl objektiv als auch im Bewußtsein des SDS stellvertretende Funktion für eine breite revolutionäre Bewegung angenommen (Schmierer 1968, 16). „Quasi-Revolutionär“ ist hier die Selbstsicht, der auch die Formel die revolutionäre Bewegung als Studentenbewegung entspricht (Schmierer 1968, 21). Revolutionär ist auch kein distanzlos verwen-
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Wenn die in Unmündigkeit und vollständiger Abhängigkeit gehaltenen Völker der dritten Welt die Möglichkeit der Befreiung im vietnamesischen Sinne des Wortes voll begreifen, wird die Aktualität der Weltrevolution für jeden von uns, der gegen das System kämpfen möchte, aber noch von der Unüberwindbarkeit der bestehenden Ordnung innerlich tief überzeugt ist, eine unübersehbare Realität sein. (Salvatore / Dutschke 1967) Der Beitrag der Revolutionäre aus den Metropolen – innerhalb des internationalen Emanzipationsprozesses – ist doppelter Natur (Salvatore / Dutschke 1967); die revolutionäre Bedeutung des „antiautoritären Lagers“ (Mahler 1968); Daß die revolutionären Studenten in dieser Situation machtpolitisch auf Dauer erliegen werden, daran besteht kein Zweifel, das ist aber auch nicht das Entscheidende an diesen Kampagnen. (Grunenberg / Steffen 1969, 50); die revolutionär gesinnten Studenten … Die vitalen Bedürfnisse der persönlichen Emanzipation und das humanistische Interesse an Gerechtigkeit, menschlicher Entfaltung und Frieden erzeugten bei den Studenten den Typus Revolutionär, der die sozialrevolutionäre Haltung zuerst auch als persönliche Verweigerung dem unmenschlich kapitalistischen System gegenüber betrachtete (Rabehl 1968b, 46); Gefahr einer Isolierung der „reinen“ Revolutionäre, die der BV [Bundesverband des SDS] repräsentiert (Schmierer / Mangold 1969, 22); Dem SDS stellt sich jetzt, da er die erste Phase der Mobilisierung hinter sich hat, das klassische Problem jeder revolutionären Bewegung im kleinen (SDS 1968f, 113); diese Gegenüberstellung zeigt, daß auch die revolutionäre Arbeiter- und Studentenbewegung ihre organisatorische Struktur als Form der Vermittlung von Theorie und Praxis fi nden muß (Lederer 1968, 129); die Krise der revolutionären Bewegung, die ja in Wahrheit nur in einer überholten Verbandsstruktur des SDS besteht (Schmierer 1968, 13); die revolutionäre Arbeiter- und Studentenbewegung (Lederer 1968, 129).
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detes Autostereotyp, wenn eine Synonymenreihe, die bei revolutionär beginnt und bei anstoßendanstößig endet, eine unorthodoxe und theorieferne Selbstsicht dokumentiert.78 All diese Beispiele distanzierenden Gebrauchs belegen eher ein prinzipiell revolutionäres Selbstverständnis, welches es zwar zu differenzieren und zu kommentieren, keinesfalls aber zu negieren gilt. Dies indes tun Habermas und Marcuse. Während antiautoritär zwar nicht in evidenter Weise als Heterostereotyp verwendet, die Zuschreibung von der intellektuellen Linken aber auch nicht explizit strittig gemacht wird, ist revolutionär ein Prädikat, dessen Berechtigung der Studentenbewegung durchaus und explizit abgesprochen wird. Wiederum ist es Habermas’ Widerstand, der den Anlass bietet für die diskursiv bearbeitete Frage des revolutionär Seins der Studentenbewegung. Jürgen Habermas widerspricht der revolutionären Selbstsicht der SDS-Ideologen entschieden: die Studenten sind keine Klasse, sie sind in unseren Breiten auch nicht die Avantgarde einer Klasse, und erst recht führen sie keinen revolutionären Kampf. (Habermas 1969b, 48) Diese Verweigerung der Zuschreibung, die Habermas andernorts pointiert in der Sentenz Eine „Bewegung“ ist nicht schon darum revolutionär, weil man sie so nennt (Habermas 1968a, 200), ist motiviert zum einen in der Analyse der Gegenwart als nichtrevolutionäre Situation, zum andern in dem Status der Studenten. Habermas verneint das Vorhandensein einer revolutionären Situation mit Emphase: Jedes, aber auch jedes der bisher allgemein akzeptierten Anzeichen für eine revolutionäre Lage fehlt (Habermas 1968a, 196), worauf der studentische Aktivist mit der Isolierung der beiden Kriterien revolutionäre Situation und Revolutionär zu antworten gezwungen ist, um so das für die studentische Identität so zentrale autoreferentielle Prädikat revolutionär zu schützen.79 Marcuse argumentiert ähnlich wie Habermas klassenbezogen, wenn er fragt: Können wir sagen, die Intelligenz sei heute eine revolutionäre Klasse?, um diese Frage mit Nein zu beantworten: Nein, das können wir nicht sagen, und dieses Nein dann zu mildern: Aber wir können feststellen, daß die Intellektuellen eine entscheidende Funktion als Wegbereiter haben, nicht mehr und nicht weniger als das. Für sich sind sie keine
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Daß „revolutionäre“ Bewegungen (synonym: solche, die revolutionär hätten werden können; oder solche, die Revolutionen um Jahrzehnte vorangehen; oder solche, die in Zukunft an die Stelle derer treten, die man in der Vergangenheit „revolutionär“ zu nennen gewohnt war; oder auch schlicht: anstoßendanstößige Bewegungen) von der jeweiligen Jugend getragen werden, ist ein Gemeinplatz. (Dörner 1968, 63) Der Begriff des Revolutionärs bestimmt sich nicht nach der Situation, in der er lebt, sondern nach den Zielen, für die er kämpft. (Neusüss 1968, 56)
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revolutionäre Klasse und können es auch nicht sein, aber sie können zum Katalysator werden, heute vielleicht mehr denn je. (Marcuse 1967d, 279)
Diese Verweigerung des Anspruchs wiederholt Marcuse am 13. Juli 1967 im Rahmen seiner, an der FU Berlin veranstalteten Vortragsreihe „Das Ende der Utopie“: Sie wissen, daß ich die Studentenopposition heute für einen der entscheidendsten Faktoren in der Welt halte, sicher nicht, wie man mir vorgeworfen hat, als eine unmittelbare revolutionäre Kraft, aber als einen der stärksten Faktoren, der vielleicht einmal zu einer revolutionären Kraft werden kann. Die Herstellung von Beziehungen zwischen den Studentenoppositionen in den verschiedenen Ländern ist deswegen eines der wichtigsten Erfordernisse der Strategie in diesen Jahren. (Marcuse 1967c, 47)
Vielleicht einmal – zwar ist aus der Verschriftlichung der auf den Vortrag Marcuses folgenden Diskussion nicht zu entnehmen, ob das studentische Publikum dieser Einschätzung und damit der Bestreitung des Stereotyps revolutionär widersprochen hat, indes: Die studentische Selbstsicht ist nicht in die Zukunft gerichtet, revolutionär wird von den studentischen Akteuren nicht als Eventualität eines prospektiven, sondern als Faktizität eines gegenwärtigen Zustands interpretiert, wie wir gesehen haben. Halten wir also fest: Die studentische Linke der späten 1960er Jahre hat ein revolutionäres Selbstverständnis, das sie aus der Aktualisierung des Revolutionsbegriffs ableitet und damit Revolutionär zielorientiert bestimmt als jemand, der um die Veränderung gesellschaftlicher Missstände kämpft. Insofern verdichten sich in dem Autostereotyp Revolutionär / revolutionär Anspruch und Programm. Das eine wie das andere wird den Aktivisten von der intellektuellen Linken, hier vertreten von Habermas und Marcuse, explizit abgesprochen. Voraussetzung für deren Argumentation ist sozusagen das klassische Revolutionskonzept, das an die Instanz der abhängigen Arbeit und der revolutionären Situation gebunden ist. Damit wird auch deutlich, dass das Revolutionskonzept der intellektuellen Linken natürlich nicht an ihr Demokratieprogramm anzubinden ist, wenn es gilt, die Gegenwart in einen politischen Handlungsplan einzulassen – bei aller Kritik an den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Erscheinungen, die dem Ideal einer Demokratie widersprechen. Für die studentische Linke dagegen besteht eine innere Logik zwischen ihrem Selbstanspruch, die politischen Verhältnisse im Sinn ihrer radikal-demokratischen Ideale revolutionär, und das heißt prozesshaft, zu ändern (s. dazu unten Kapitel 8.3).
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4.2.2 Stigmatisierung: „Das Gespenst des Faschismus“ Der Boulevardpresse und rechtsgerichteten „seriösen“ Blättern ist es inzwischen gelungen, die Sprachformel vom „Linksfaschismus“ mit der Vorstellung von einer auf Selbstisolierung bedachten Minorität zu verbinden, die ihre elitären und manipulativen Zwecke terroristisch durchsetzt. So konnte der gesamte sozialpsychologische Bereich der „unaufgearbeiteten Vergangenheit“, die Mechanismen der Schuld und Abwehr, der Projektion, reaktiviert und in den Dienst der Bekämpfung der studentischen Minderheit gestellt werden. Es war zu erwarten, daß die Massenblätter den absehbaren Verlust der Wirksamkeit antikommunistischer Parolen so schnell wie möglich ausgleichen mußten, um ein auf emotionale Reaktionen dressiertes Publikum weiterhin zu binden. Aber das Spezifische der neuen Situation besteht darin, daß ein Element wirklicher, wenn auch unaufgeklärter Furcht vor dem Faschismus gerade liberale Kritiker veranlaßte, die politische Sprache um leicht faßliche Symbole zur Identifizierung linker Feindgruppen zu bereichern. Liberaler Mentalität entspringt eine politische Sprache, der sich mittlerweile alle (auch NPD-Funktionäre) bedienen: „linker Faschismus“, „Anarcho-Faschismus“, „Inquisition von links“ u. a. m. (Negt 1968b, 180f.)
Dieser Text stammt aus dem Juni 1968. Oskar Negt beschreibt darin einen sprachlichen Prozess, der im April 1967 beginnt. Am 19. April 1967 protestieren Studenten mit einem Sit-in in der FU Berlin gegen verschiedene Maßnahmen der Universitätsverwaltung.80 Rektor Lieber ist der Ansicht, man demonstriere mit faschistischen Methoden (vgl. Damerow u. a. 1968, 29).81 Im Mai 1967 erkennt der Rektor der Hamburger Universität in einem Sit-in faschistische Züge. Professor Taubes nimmt am 7. Juni in seinem Beitrag auf der Vollversammlung im Audimax der Universität Hamburg zu dem Thema ‚Wissenschaft und Faschismus‘ darauf Bezug, den Beginn des Manifests der Kommunistischen Partei von 1848 („Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“) nur leicht variierend: Das Gespenst des Faschismus geht um. Das Wort ist gefallen (Taubes 1967, 32). Am 12. Mai reagiert der Frankfurter SDS auf eine Festansprache Horkheimers, die dieser zu dem Thema „Amerika heute im Bewußtsein der Deutschen. Zum Problem der Verständigung“ am 7. Mai 1967 zur Eröffnung einer deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche gehalten hat. Horkhei-
80 Anlass dieses Sit-ins sind die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen die sogenannten Humphrey-Attentäter …, die Sperrung der Zuschüsse für die Studentenschaft, Bemühungen, dem SDS die ‚Förderungswürdigkeit‘ … abzusprechen und der Versuch, Vorlesungsrezensionen im FU-Spiegel des AStA zu unterdrücken (Damerow u. a. 1968, 29). 81 Diese Zuschreibung Hans-Joachim Liebers, der als Herausgeber der Frühschriften von Karl Marx über linke Dignität verfügt, wertet der frühere Aktivist Ulf Kadritzke rückblickend als ein Beispiel dafür, „wie weit wissenschaftliche Einsicht und Amtsführung auseinanderfallen können“ (Kadritzke 1989, 243).
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mer formuliert darin seine Sympathie für Amerika, was den SDS veranlasst, dies als Apologie des Faschismus und Imperialismus (SDS 1967c, 231) zu schmähen.82 Horkheimer, der bis dahin den öffentlichen Streit gescheut hatte (Behrmann 1999, 324), reagiert seinerseits mit einem Brief, in dem er seiner Furcht vor der Verwandtschaft dessen, was heute sich kommunistisch nennt, mit faschistischem Terror (Horkheimer 1967b, 232) Ausdruck gibt. Wir sehen: Spätestens im Frühjahr 1967 erhalten die politischen Stigmavokabeln faschistisch / Faschismus eine neue kommunikative Funktion. Sie geraten zu Stereotypen, die die Gesellschaft wider die Aktivisten kehrt, zu Stereotypen, die die Aktivisten ihren antifaschistischen Lehrern vorhalten und zu Stereotypen, mit denen diese Lehrer ihrerseits ihre Schüler versehen. Die Wirkmacht dieses Diskurssegments basiert auf dem oben rekonstruierten antifaschistischen Selbstverständnis der Aktivisten, das ja seinerseits die Belegung der bundesdeutschen Gegenwartsgesellschaft mit den Stigmavokabeln faschistisch bzw. faschistoid motiviert (wir kommen unten Kapitel 6 darauf zurück). Bereits am 7. Juni 1967 jedenfalls kann Margherita von Brentano die Karriere des Terminus wie folgt darlegen: In den Kämpfen der letzten Tage und darüber hinaus in den Auseinandersetzungen der letzten Monate ist der Terminus Faschismus zu einem Schlüsselwort geworden. Von Seiten der radikal-demokratischen Studentenbewegung sind einzelne Züge im Verhalten der Gegenseite als faschistisch bezeichnet worden und es ist gelegentlich auch insgesamt die Situation schon als faschistisch diagnostiziert worden. (Brentano 1967, 31)
Die Vehemenz des Diskurses erhält dann vor allem Dynamik mit Habermas’ Vorhaltung vom 9. Juni 1967, die sich auf Dutschkes Aufruf zur Bildung von Aktionszentren nach Westberliner Vorbild bezieht, sowie auf seine Suggestionen hinsichtlich politischer Aktion, die da lauten: die rationale Bewältigung der Konfliktsituation in der Gesellschaft impliziert konstitutiv die Aktion, wird doch Aufklärung ohne Aktion schnell zum Konsum, wie Aktion ohne rationale Bewältigung der Problematik in Irrationalität umschlägt (Dutschke 1967e, 81f.). In einer Replik, zu der Habermas im Verlauf der weiteren Diskussion gezwungen ist, bereitet er gleichsam seinen dann folgenden Vorwurf des Linksfaschismus vor, indem er systematisch betriebene Provokation von Studenten als ein Spiel mit dem Terror (mit faschistischen Implikationen) (Habermas 1967a, 147) bezeichnet. Dieser Vorbereitung folgt dann das rhetorische Skandalon, auf das er mit erheblichem
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Der Stil dieser Reaktion wurde gekennzeichnet als „präpotente[r] Belehrungsgestus“, in „verquaster Sprache, welche in der studentischen Protestszene bald allerorten üblich wurden“ (Behrmann 1999, 323).
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Aufwand an verständnissichernder Redeeinleitung und problematisierender Metakommunikation zusteuert: Im Zuge metakommunikativer Äußerungen und um absolute kommunikative Integrität bemüht, teilt Habermas, redeeinleitend, seinen Zuhörern sozusagen seine Befindlichkeit mit, die von einiger Aufgebrachtheit gekennzeichnet sein muss. Die Formulierungen in der vorgesehenen Schärfe und so will ich mich also mäßigen lassen darauf schließen.83 Mit dem an die Redeeinleitung anschließenden Satz begründet Habermas seine Intervention.84 Es folgen weitere metakommunikative Erklärungen.85 Die anschließende Passage dient Habermas dazu, mit dem metasprachlichen Verweis auf einen vorausgegangenen Redebeitrag die Absicht seiner Intervention zu legitimieren.86 Habermas reinterpretiert dann den Aufruf Dutschkes und definiert den Gegenstand dieses Beitrags als ‚Veranstaltung eines Sitzstreiks‘.87 Der anschließende Satz ist die Mitteilung einer metakommunikativen Reflexion über den Gegenstand und die Dauer der Rede Dutschkes, deren Inhalt Habermas abstrahierend klassifiziert.88 Am Ziel seiner kommunikativen Intention ruft er dann in analytischer Diktion aus: Ich bin der Meinung, er hat eine voluntaristische Ideologie hier entwickelt, die man im Jahre 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, und die er unter heutigen Umständen, jedenfalls ich glaube, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen, linken Faschismus nennen muß. (Habermas 1967d, 101)89
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Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß Herr Dutschke noch hier ist. (Zwischenruf): Nein! Es tut mir leid, ich kann dann in der vorgesehenen Schärfe mich nicht mehr äußern, wie ich es eigentlich vorgehabt hatte. Denn in Abwesenheit von Herrn Dutschke wäre es leicht, hier ein argumentatives Wort zu sprechen, so will ich mich also mäßigen und nur einige Fragen stellen. 84 Ich bin erstaunt, daß die Linie, die Herr Dutschke hier vertreten hat, zwar aus dem Publikum in Frage gestellt worden ist, aber vom Tisch der Veranstalter ohne Kommentar hingenommen worden ist. 85 Ich möchte, oder ich hätte gerne Herrn Dutschke folgendes gefragt. Ich bin aus dem Auto wieder zurückgekommen, weil ich es für richtig hielt, doch nicht zu schweigen. 86 Herr Weller hat wiederum von Brutalität und Unmenschlichkeit gesprochen, und ich meine, daß wir diese Vokabeln glaubwürdig nur verwenden und vertreten und nicht nur zu manipulativen Zwecken ausstreuen können, wenn Herr Dutschke uns eine klare Auskunft auf folgende Fragen in einem positiven Sinne gäbe. 87 Herr Dutschke hat als konkreten Vorschlag, wie ich zu meinem Erstaunen nachher festgestellt habe, nur vorgetragen, daß ein Sitzstreik stattfi nden soll, das ist eine Demonstration mit gewaltlosen Mitteln. 88 Ich frage mich, warum nennt er das nicht so, warum braucht er eine dreiviertel Stunde, um eine voluntaristische Ideologie hier zu entwickeln. (vgl. Habermas 1967d). 89 Bohrer bewertet übrigens dieses „Rencontre zwischen Jürgen Habermas und Rudi Dutschke“ als ein Beispiel für Situationismus, eine Kategorie, mit der er den ‚intuitiven Einfall‘ und den ‚Zufall der spielerischen Erfindung‘ – beides (wir sagen: kommunikative) Merkmale des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre – fasst, anschließend
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Der Gebrauch dieser Kategorie scheint so wohlbedacht wie konfrontativ: Dass Habermas die in äußerster widersprechender Vehemenz sich ausdrückenden Folgen dieser Invektive nicht antizipiert hat, kann ebenso wenig angenommen werden wie eine nicht reflektierte Verwendung dieses Kampfausdrucks, der seit Mitte der 1920er Jahre dazu dient, linken Totalitarismus (zunächst in Bezug auf die stalinistische Version des Kommunismus) zu diffamieren. Im Gegenteil: Dass er die Konsequenzen dieser von den Adressaten als ungeheuerliche Schmähung empfundenen Zuschreibung abgesehen hat, dokumentiert sein Redeverhalten – sein Zögern, seine Metakommentare, seine Paraphrasen. Habermas beendet schließlich seinen Beitrag mit einer Interpretationsanweisung – was ich hier zunächst hypothetisch unterstellt habe –, die einer Zurücknahme, mindestens aber einer Entschärfung gleichkommt. Linker Faschismus – was zuvor im Diskurs ohne Spezifizierung gebraucht wurde, erhält nunmehr ein Attribut, womit einander ausschließende Gegensätze in einen Kontext gebracht, politiksemantische Antonyme in ein Gleichheitsverhältnis gezwungen werden. Habermas bezieht zwei Chiffren mit hohem assoziativem Potenzial aufeinander, deren Evokationen jeweils einander widersprechen: links ist antifaschistisch, Faschismus ist rechts.90 Im Foucaultschen Sinn ist linker Faschismus eine Formulierung: „die Formulierung ist ein Ereignis, das, …stets gemäß räumlich-zeitlichen Koordinaten auffindbar ist, das stets auf einen Autor bezogen werden kann und eventuell von selbst einen spezifischen Akt (einen ‚performativen‘ Akt …) konstituieren kann.“ (Foucault 1973, 155) Alle Merkmale – Ereignis, räumlich-zeitlich und hinsichtlich des Urhebers bestimmbar sowie Impuls für performative Akte – treffen zu, und wir sehen hier: Individuelles Reden ist eine diskursanalytische Perspektive, wenn solches Reden einem Diskurs Impuls gibt und ihn steuert. Wenn eine der diskursiven Phasen mit der Kategorie „initiativ“ (vgl. Girnth 1996, 72f.) beschrieben wird, dann manifestiert sich hier, dass diese eigentlich diskursive und damit auf das kollektive Reden verweisende Umbruchkategorie – in unserem Fall linker Faschismus – zunächst als individueller Impuls zu be-
an dieses „Ende der fünfziger Jahre entwickelte Prinzip …, das die Tradition des Dadaismus und Surrealismus mit dem Neomarxismus verband.“ (Bohrer 1997, 390) 90 Linguistisch erklärt sich die Wirkmacht mit Busse (2006) so als ein Beispiel für die Sprengung von Wissensrahmen. Die in einem Adjektiv-Substantiv-Syntagma zusammengefügten und aufeinander bezogenen Kollokationselemente stehen semantisch in Opposition zueinander und sprengen so jeweils den Wissensrahmen des anderen Elements. Die Diskursbeteiligten erweisen sich immer wieder als Liebhaber des Spiels mit Sprache. Eines dieser Spiele heißt „Semantische Paradoxe herstellen“ und linker Faschismus ist ebenso ein Beispiel für dieses Spiel wie progressive Autorität oder repressive Toleranz.
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schreiben ist, der sich dann kollektiv prozessual fortsetzt. Die Aporie dieser Assoziationselemente bewirkt die Durchsetzung: Linker Faschismus – das Wort ist da.91 Es beherrscht nunmehr den Diskurs, und die hohe diskursive Präsenz des Topos erhöht sich weiterhin, z. B. durch die nur wenige Tage später performierte witzige Selbstbezeichnung: Berlins linke Faschisten grüßen Teddy den Klassizisten war auf einem Transparent zu lesen, das im Zuge des nach dem Streit um den Iphigenie-Vortrag zwischen Adorno einerseits, Kommune II und SDS andererseits entstandenen Tumults an der FU Berlin am 7. Juli 1967 entfaltet wurde (vgl. Kraushaar 2003 I, 265). Im November 1967 erhält der Diskurs einen neuen dynamisierenden Schub mit Reaktionen auf die Go-Ins in die Vorlesungen von Carlo Schmid und Iring Fetscher, die der Rektor der Frankfurter Universität Rüegg bewertet als Einübung faschistischer Terrormethoden.92 Die Antwort auf diese Invektive gibt zum einen der SDS auf einem Flugblatt, das überschrieben ist mit der Frage Wer ist hier faschistisch? und das mit der Mahnung, die Diffamierung dieser Proteste als faschistisch sei ein Hohn auf die Opfer des faschistischen Terrors (SDS 1967b, 321) schließt. Zum andern erscheint am 22. November das Flugblatt „Zum richtigen Gebrauch der Begriffe“, für das ein Autorenkollektiv von achtzehn Assistenten und Mitarbeitern der Fächer Soziologie und Philosophie verantwortlich zeichnet.93 Diese „Wissen-
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Behrmann erklärt den Gebrauch dieser Formel mit den besonderen Erwartungen, die an die junge Generation gestellt wurden deshalb, weil sie nicht mit dem NS in Verbindung gebracht werden konnte. Jürgen Habermas habe sie „in Hannover artikuliert … . Weil überzogen, waren diese Erwartungen aber auch besonders enttäuschungsanfällig.“ (Behrmann 1999, 325) Die 68er-Generation war „moralisch privilegiert“ (ebd.) – ein Privileg, das angesichts seines Motivs (frei von nationalsozialistischer Schuld) einer Bürde gleichkommt. 92 Entgegen seiner Zustimmung zu Habermas’ Linksfaschismus-Vorwurf begrüßt Horkheimer übrigens dieses Go-In: Das ‚Go-in‘ in die Vorlesung von Carlo Schmid hatte seinen guten Sinn. Wen interessiert, von einem führenden Politiker statt einer Stellungsnahme zu den brennenden Tagesproblemen, eine Vorlesung zu hören über Theorie und Praxis der Außenpolitik am Beispiel der Gruppierung der Großmächte im 18. Jahrhundert. Die Wahl des Themas ist typisch dafür, wie die politische Wissenschaft wieder in harmlosen Geschichtsunterricht entpolitisiert wird. Als ob man über ein Thema, über das man sich in unzähligen Büchern informieren kann, einen Mann zu hören brauchte, der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten war und aktiver Minister ist. Ist die Forderung, er solle über die Notstandsgesetzgebung mit den Studenten diskutieren, nicht berechtigt? (Horkheimer 1967c, 311) 93 Das Flugblatt ist unterzeichnet mit: „Dr. J. Bergmann, Dipl. Soz. H. Berndt, Dipl. Soz. U. Billerbeck, Dr. G. Brandt, Dipl. Soz. M. v. Freyhold, Dipl. Soz. 1. Hofmann, Dipl. Soz. K. Horn, Dipl. Soz. U. Jaerisch, Dipl. Soz. E. Mayer, Dipl. Kfm. E. Mohl, Dipl. Soz. C. Offe, Dr. 1. Ritsert, cand. phil. X. Rajewsky, Dipl. Soz. P. Schafmeister, Dr. A. Schmidt, Dipl. Soz. R. Schmidt, Dipl.-Ing. D. Wetzel, Dr. E. Becker u. a.“ (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322f.)
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schaftliche Stellungnahme zu Äußerungen des Rektors“ – es handelt sich um den Gebrauch der Ausdrücke Terror, Faschismus, faschistische Methoden, die der Rektor den Streikenden und ihrem widerständischen Handeln als Eigenschaften zugeschrieben hat – ist Korrektur, Bewertung und Belehrung. Das Go-in in die Vorlesung Schmids sollte den Zweck haben, eine Diskussion über die Notstandsgesetze zu erzwingen (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322) – man wählt eine Handlungsbezeichnung, mit der man sich legitimiert fühlen kann: Diskussion erzwingen ist ein von Habermas ausdrücklich approbierter Akt politischer Willensbildung. Im Zuge der Argumentation beruft man sich außerdem auf das Grundrecht der Rede- und der Wissenschaftsfreiheit94, um schließlich diese Rechte in den Kontext der Demokratiegeschichte zu stellen und auf dieser Folie den Sprachgebrauch des Rektors als falsch zu bewerten.95 Ihre Belehrung leiten die Autoren dann ein mit Begriffsdefinitionen96, um so die Formel faschistische Methoden zu überführen als ahistorische Betrachtungsweise, als unzulässige Terminologie, die entweder von Uninformiertheit oder von Boshaftigkeit zeu-
94 Redefreiheit garantiert … das Recht des Bürgers auf die praktische Herstellung von uneingeschränkt funktionierenden politischen Kommunikationsprozessen und die Teilnahme an ihnen. Ebenso bedeutet Wissenschaftsfreiheit nicht mehr nur das Privileg der Ordinarien, frei vom staatlichen Eingriff autonom zu bestimmen, was Inhalt von Lehre und Forschung sein soll. Wissenschaftsfreiheit garantiert darüber hinaus den Anspruch der Studenten, die Entscheidungsgründe dafür zu erfahren und zu diskutieren, was Inhalt von Forschung und Lehre sein soll und weshalb bestimmte Inhalte aus Lehre und Forschung ausgeklammert bleiben sollen. (Zum richtigen Gebrauch 1967, 323) 95 Die Rechte, die in diesem – theoretisch zur Genüge ausgearbeiteten – Begriff der sozialen Demokratie enthalten sind, haben die Studenten praktisch wahrzunehmen versucht. Der Rektor ist nicht gehalten, dieser Theorie zuzustimmen; er kann sie wissenschaftlich kritisieren. Ihm muß aber bekannt sein, daß diese Theorie und die von ihr geforderte Praxis dem Zentrum der demokratischen Tradition entstammen. Die offensichtliche Unkenntnis hiervon führte ihn zum falschen Gebrauch des Begriffes Terror. (Zum richtigen Gebrauch 1967, 323) 96 Als Faschismus formiert sich die bewaffnete restaurative Reaktion auf eine konkrete historische Situation, in der die sozial-ökonomischen Spannungen die bestehenden Machtverhältnisse und ihren institutionellen Rahmen sprengen. Gegen strukturelle Veränderungen, die eine freiere und sozial gerechte Gesellschaft herbeiführen könnten, mobilisieren die faschistischen Bewegungen autoritäre, kleinbürgerliche Ressentiments. Diese lassen sich einerseits für die Erhaltung und Verhärtung undemokratischer Verhältnisse, nicht zuletzt für großkapitalistische Interessen, einspannen und werden andererseits beim Aufbau paramilitärischer Organisationen als Mittel der Integration benutzt. … Faschistische Methoden zielen darauf ab, Minderheiten in Angst zu versetzen und schließlich physisch zu vernichten, um bei der Mehrheit die Bereitschaft zu blinder Akklamation zu erzeugen. … Terror ist der Gegenbegriff zu den Grundlagen demokratischer Rationalität (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322).
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ge.97 Dagegen werden der SDS, seine Absichten und seine demokratische Struktur gesetzt.98 Die Schlussphase des Textes bildet dann zunächst die Ankündigung einer Umkehr der Referenzobjekte – In einem präziseren Sinne könnte der betroffene Studentenverband den Vorwurf des Terrors, nämlich des administrativen, gegen den Rektor wenden –, um dann den Anfang des Kommunistischen Manifests von 1848 (mit der Formel, die, wie wir gesehen haben, bereits Karriere als Interdiskurselement gemacht hat) zu zitieren: Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst des Linksfaschismus. Es folgt die emphatische Performation des Protests – Gegen die unreflektierte Verwendung derartiger Begriffe, gegen die Diffamierung unbequemer Minderheiten protestieren wir mit aller Entschiedenheit –, an die sich dann die Bewertung des Sachverhalts anschließt, die dem klassischen Disput um Wörter und Zuschreibungen gleichkommt: Ein ehemaliger Bundeskanzler spricht ungeniert in nationalsozialistischem Jargon von „Entartung“; seine Magnifizenz von faschistischem Terror dort, wo kritische Studenten ihre Lehrer zu rationaler Diskussion provozieren. (Zum richtigen Gebrauch 1967, 323) Im Zuge der endgültig abschließenden Performation der Weigerung und dem Rückverweis legen die Autoren erneut den Begriffsumfang von faschistisch fest: Wir weigern uns, die Äußerungen des Rektors und die aus ihnen resultierenden Entscheidungen zu akzeptieren. Sie sind dazu angetan, davon abzulenken, den Terror dort zu suchen, wo er wirklich ausgeübt wird – mit tödlichen Pistolenschüssen
97 Wenn der Rektor dennoch aufgrund einer ahistorischen Betrachtungsweise den Faschismus-Vorwurf erhoben hat, so ist er entweder als Soziologe über den Stand der wissenschaftlichen Diskussion nicht informiert oder er setzt sich dem Verdacht aus, wider besseres Wissen ein verbreitetes Vorurteil zur Verschleierung undemokratischer Absichten zu benutzen. Das Stereotyp vom linken Faschismus ist, nachdem illegitimerweise von den Zielen des SDS abstrahiert wurde, auf die Methoden gemünzt. Doch selbst von diesem bornierten Standpunkt aus erweist sich die Verwendung des Faschismus-Begriffes als unzulässig. (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322) 98 Die Methoden des SDS dagegen, die im Detail durchaus kritisch diskutiert werden sollen, wollen eine rationale Diskussion überhaupt erst in Gang bringen und die Träger von Herrschaft dazu herausfordern, sich zu legitimieren oder mangels Legitimation auf ihre Privilegien zu verzichten. Angst können diese Methoden nur bei jenen erzeugen, die als Inhaber von Herrschaftspositionen weder in der Lage noch willens sind, ihre Positionen und ihr Handeln zu legitimieren. Der Soziologe Rüegg müßte wissen, daß die organisatorische Struktur des SDS, das demokratische Verhältnis zwischen Mitgliedern und gewählten Vorständen, die Öffentlichkeit der Sitzungen seiner Organe und der Verzicht auf das Mitgliedsprinzip bei Diskussionen und Aktionen der Gruppe, nichts gemein haben mit dem Führerprinzip und der hierarchischen Struktur von Organisationen, die die Einübung faschistischer Methoden praktizieren. (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322)
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und Wasserwerfern, Demonstrationsverboten und autoritärer Beschneidung uneingeschränkter Meinungsäußerung. (Ebd.)
Das Go-in ist dann auch Gegenstand einer Diskussion, in der sich Adorno am 30. November im Rahmen seiner Ästhetik-Vorlesung u. a. mit seinem Schüler Hans-Jürgen Krahl auseinandersetzt. Adorno schlägt sich auf die Seite der Aktivisten – Ich möchte aber doch sagen, gerade in diesem Zusammenhang, daß ich den Vorwurf faschistischer Methoden nicht für gerechtfertigt halte (Adorno 1967c, 327) –, indem er mit Bedacht und wohlbegründet von seinen persönlichen Erfahrungen mit faschistischen Methoden berichtet. Er erzählt, wie 1932 eine Horde faschistischer Studenten in die Universität gestürmt ist und die Dissertierenden verprügelt hat. Der Unterschied zwischen diesem Sturm der historischen Faschisten und der studentischen Aktion des Go-ins von heute sei der Unterschied um das Ganze. Dieser Unterschied begründe sich darin, dass die gegenwärtige eine Bewegung sei, die nicht mit Mitteln des physischen Terrors operiert und die ausdrücklich nicht auf eine elitäre oder Minderheitenherrschaft aus ist, eine Bewegung, die vielmehr sich zum Ziel die Aufklärung der demokratischen Majorität gemacht hat. (Adorno 1967c, 327) Eine solche Bewegung wie die studentische von 1967 sei daher eben auch dann mit dem Faschismus nicht zu identifizieren, wenn einzelne Dinge vorkommen, die mit unseren traditionell demokratischen Spielregeln nicht ganz übereinstimmen (ebd.). Mit dieser Begründung lehnt Adorno das Prädikat faschistisch ab – So würde ich für meinen Teil die demonstrierenden Studenten gegen den Vorwurf des Faschismus verteidigen (ebd.) –, um als weiteres Argument das der physischen Gewalt zu nennen: Die Aktionen selbst haben ja bis jetzt nicht den Charakter der zertrampelnden physischen Gewalttätigkeit gehabt, sondern haben sich durch den eigenen Charakter qualitativ von den faschistischen Aktionen unterschieden. (Adorno 1967c, 327) – Dieses Urteil vom November 1967 muss Adorno im August 1969 allerdings revidieren. Kurz vor seinem Tod am 6. August 1969 schreibt er an Marcuse: Hier in Frankfurt wird das Wort Ordinarius … gebraucht, um Menschen abzutun, oder, wie sie es so schön nennen ‚fertigzumachen‘, wie seinerseits von den Nazis das Wort Jude. … Die Gefahr des Umschlagens der Studentenbewegung in Faschismus nehme ich schwerer als Du (Adorno 1969a, 726f.). –
Gemeinsames Kriterium, das die Zuschreibung faschistisch rechtfertigen soll, ist zwar für die intellektuelle Linke das der Gewalt – ‚Gewalt‘ ist zentrales Konzeptelement von faschistisch. Ob diese aber vorliegt – darüber ist man sich nicht einig. Die studentische Linke profitiert jedenfalls von Adornos historischem Faschismusbegriff und damit von einer Ausdeutung, die
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sie selbst in Frage stellt – wir werden unten die semantische Strategie der Enthistorisierung darstellen (s. u. Kapitel 6.1), mit der sich insbesondere die studentischen Diskursbeteiligten die Möglichkeit erschließen, das zu tun, wovor Adorno sie schützt: Die semantische Strategie des Enthistorisierens ermöglicht die Stigmatisierung von Personen und kommunikativen Praktiken mit dem Stereotyp faschistisch, die weder historisch noch sachlich im Kontext mit dem „Faschismus“ stehen. Ein vorläufiges Ende dieses Diskurses markiert eine Diskussion, die Habermas, von Friedeburg und Mitscherlich am 12. Dezember 1968 mit streikenden Studenten führen. Habermas gibt – vor dem Hintergrund eines Aufrufs der Philosophie- und Soziologiestudenten der Universität Frankfurt, Lehrveranstaltungen zu boykottieren – vor den Studenten eine Erklärung ab, in der er ein bestimmtes kommunikationsfeindliches und aktionsfreundliches Verhalten dem intellektuellen Prototypus sei es der Faschisten, sei es der Stalinisten (Habermas 1968c, 507) zuschreibt. Ein Hörer drückt Unmut aus, indem er diese Auslassung als Reformulierung in den Interdiskurs verweist: Schon wieder!, und gegen Ende dieser Diskussion fällt der Zwischenruf: Es gibt ein Buch, das heißt: Die Rechte dankt Habermas. (Zit. nach Kraushaar 2003 II 508f.) Damit referiert der Rufer auf ein Diskurssegment, das die Intensität und Dichte des Interdiskurses manifestiert. Gemeint ist das von dem Habermas-Doktoranden Oskar Negt initiierte Buch-Projekt ‚Die Linke antwortet Habermas‘. Zu den Autoren zählen, neben den bekannten studentischen Vertretern, wie z. B. Wolfgang Lefèvre und Klaus Meschkat, auch Repräsentanten der arrivierten Linken: Johannes Agnoli etwa, und Furio Cerutti, der an die Möglichkeit des Beifalls von der falschen Seite erinnert: Die Gefahr liegt nahe, daß sie, wie schon einmal der „Linksfaschismus“ (ich meine das unglückliche Wort, nicht das Argument), als unerwartete Schützenhilfe in die Hände von konservativen und manipulierenden Schreibern geraten. Habent sua fata libelli, manchmal ein ironisches Schicksal (Cerutti 1968, 47). Wolfgang Abendroth akzeptiert das Schlagwort vom „Linksfaschismus“ der studentischen Proteste und der Aktionen der außerparlamentarischen Opposition nicht, so sehr Habermas sachlich Recht haben mochte, während sein jüngster Beitrag auf dem Frankfurter Studentenkongreß des VDS im Juni 1968 nicht einmal mehr als lapsus linguae akzeptabel sei, wenn Habermas den Rahmen sozialistischer und demokratischer … Kritik nicht verlassen wolle (Abendroth 1968, 133). Peter Brückner schließlich erinnert daran, dass die Rückbildung der Demokratie und der Druck „von oben“ ihre Tradition haben, die weit vor der der studentischen Linken bereits begann, weshalb sich die Kategorisierung als Refaschisierung verbiete. (Brückner 1968, 76) – Dass der Vorwurf Habermas’ von den Linken als Ausdruck für eine ernste Entzweiung gehalten wird, drückt dieses Projekt aus. Man setzt sich damit mit dem von den Aktivisten als Autorität umworbenen Habermas, dem mit ihnen ja weitgehend solidarischen Theorielieferanten, auseinander – Oskar Negt, sein Schüler, spielt dabei offensichtlich die Rolle eines diskursiven Mediators: In der Einleitung zu diesem Sammelband stellt Negt fest, dass die Anerkennung der provoka-
4.2 Das politische Stereotyp
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tiven Gewaltanwendung und der begrenzten Regelverletzungen … schließlich auch dazu führte, daß er [Habermas] den Vorwurf des ‚linken Faschismus‘ stillschweigend zurücknahm (Negt 1968c, 30). Das hat Habermas ja in der Tat getan, z. B. in seinem Brief an C. Grossner. Dort nennt er die Formel inzwischen, nach knapp einem Jahr, den unglücklichen Topos des linken Faschismus, den er damals verwendet habe, ohne zu sehen, daß die neuen Formen der Provokation ein sinnvolles, legitimes und sogar notwendiges Mittel sind, um Diskussionen dort, wo sie verweigert werden, zu erzwingen. Ein weiteres Motiv sei Angst gewesen vor den irrationalistischen Implikationen eines Vorgehens, das unter dem Topos „die Spielregeln brechen“ eingeführt wurde. Ganz offensichtlich bedauert Habermas den Gebrauch dieser Formel, […] und zwar nicht nur, weil dieses Etikett das grobe Mißverständnis einer Identifizierung des SDS mit den rechten Studenten Anfang der dreißiger Jahre hervorgerufen hat, sondern weil ich inzwischen überhaupt unsicher geworden bin, ob das eigentlich Neue an den gegenwärtigen Revolten durch geistesgeschichtliche Parallelen getroffen werden kann. (Habermas 1968f, 151)
Was können wir aus dem skizzierten, den Gebrauch der Zuschreibung Faschismus / faschistisch dokumentierenden Verlauf dieses Diskurssegments bisher festhalten? Es handelt sich um eine hochwillkommene identitätsstiftende Kategorie zur Bewertung widerständischen studentischen Verhaltens.99 Das begriffliche Vergleichsmoment, das diese Referenz erlaubt, ist zu umschreiben mit ‚aggressiv, gewaltbereit‘ / ‚ungezügelte Gewalt‘. Dass sie damit den studentischen Widerstand perhorreszieren und gleichzeitig die nationalsozialistischen Verbrechen entwerten, erkennen die Beteiligten nicht oder ignorieren es. Fragen wir danach, wie die Adressaten auf diese Zuschreibung referieren, so können wir feststellen: Man verfährt mit diesem Stigmawort so, wie es kennzeichnend ist für konfrontative identitätsstiftende Kommunikation. Man handelt strategisch, um die Differenz zwischen Selbst- und Fremdsicht aufzuheben.100 Kennzeichen dieser Strategie ist die Wiederaufnahme und
99 Wolfgang Haug beschreibt die rasante Karriere, die die Bezeichnung im Kampf gegen die Studentenbewegung machte, als sozusagen in der Luft liegendes, über die Parteien hinweg hochwillkommenes Versatzstück des Diskurses: Es war, als hätten die unterschiedlichsten ‚Ordnungskräfte‘ nur auf diese Abschiebungsparole gewartet. Binnen weniger Wochen wurde sie zur Generallinie, auf der sich Staats- und Universitätsgremien, Meinungsindustrie, Sozialdemokraten, Liberale, Christlich-Konservative, ehemalige Nazis und Neofaschisten vereinigten. (Haug 1968, 144f.) 100 In strategischen (wie in kooperativen) Argumentationen „wird versucht, das Auseinanderklaffen von Selbst- und Fremdeinschätzung zu verhindern“ (Kienpointner 1983, S. 156). Wodak u. a. (1998) definieren Strategien als „eine Art mehr oder weniger automatisierter oder aber bewußter, auf den verschiedenen Ebenen der mentalen Organisation angesiedelter, mehr oder weniger elaborierter Handlungspläne.“ (S. 75)
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die Umdeutung. Wiederaufnehmend kommentieren, bewerten, paraphrasieren und weisen die Adressaten und ihre Mentoren die Invektive zurück. Sie leisten damit in der Weise identitätsstiftende Spracharbeit, dass sie den Vorwurf, Faschismus-Vorwurf, die (Sprach)formel, Formulierung, das (Schlag) wort, die Parole, Terminologie, das Stereotyp, den Begriff als fatal, unreflektiert, berüchtigt, verfehlt, gefährlich, unglücklich, unzulässig, borniert, nicht gerechtfertigt bewerten.101 Man sucht nach Funktionen, die erklären, wieso – insbesondere Habermas – diese Formulierung gebrauchte und bewertet sie als taktische Distanzierung, als Distanzierungssymbol.102 Mit Kategorien, die die Wirkung der Bezeichnung auf ihre Adressaten ausdrücken (denunziert, demagogische Infamie, Invektiven, denunziatorisch, diffamieren, unverantwortliche Diffamierung) bewertet man den Vorwurf im Sinn einer injurierenden Handlung.103 Schließlich: Man unterzieht die Invektiven einem Akt wissenschaftlicher Analyse, um sie mit Bezeichnungen, die Faschismus-Vorhaltungen gleichsam objektiv oder auch analytisch be-
101 zu Unrecht mit dem Vorwurf des Linksfaschismus reagier[t] (Krahl 1967a,73); Stalinismus und Faschismus vorgeworfen. (SDS 1968g, 521); dem fatalen und von der liberalen Presse … sofort aufgegriffenen Vorwurf „Linksfaschismus“ (Krahl 1968b, 461); den Faschismus-Vorwurf erhoben … Das Stereotyp vom linken Faschismus … die Verwendung des Faschismus-Begriffes … unzulässig. … unreflektierte Verwendung derartiger Begriffe (Zum richtigen Gebrauch 1967, 323); Sprachformel vom „Linksfaschismus“ (Negt 1968a, 15); die hypothetische Formel vom „linken Faschismus“ (Negt 1968b, 189); jener berüchtigte Vorwurf des „Linksfaschismus“ (Neusüss 1968, 50); als sich Habermas zu der verfehlten und gefährlichen Formulierung des „Linksfaschismus“ in den Aktionsformen mancher studentischer Gruppen hinreißen ließ (Abendroth 1968, 131); Das Schlagwort vom „Linksfaschismus“ der studentischen Proteste und der Aktionen der außerparlamentarischen Opposition … zur gemeinsamen Parole der Regierung, der Führer der Parteien der großen Koalition, der rechten und „liberalen“ Publizisten und … Professoren geworden (ebd.); „Linksfaschismus“ (ich meine das unglückliche Wort, nicht das Argument) (Cerutti 1968, 47); der fatale Begriff des „Linksfaschismus“ (Dörner 1968, 67); Vorwurf faschistischer Methoden … Vorwurf des Faschismus (Adorno 1967c, 327). 102 Mit dem fatalen und von der liberalen Presse … sofort aufgegriffenen Vorwurf „Linksfaschismus“, hat Habermas zum ersten Mal solche taktische Distanzierung vollzogen. (Krahl 1968b, 461); eindeutigen Distanzierungssymbolen, wie dem „linken Faschismus“, den diskriminierenden Begriffen von Wahnvorstellung, Infantilismus, Potenzphantasien u. a.m. (Negt 1968c, 30) 103 als Linksfaschismus denunziert (Krahl 1968a, 244); demagogische Infamie (Krahl 1968d, 512); Diffamierung unbequemer Minderheiten (Zum richtigen Gebrauch 1967, 323); Die Invektiven von Habermas … solche Argumente [sind] denunziatorisch (Neusüss 1968, 54); dem Frankfurter SDS vorgeworfen, sein Aufruf zu einem Go-in zu Prof. Carlo Schmid ziele „auf die Einübung faschistischer Terrormethoden“ … wagen Sie als faschistisch zu diffamieren … ein Hohn auf die Opfer des faschistischen Terrors … diese unverantwortliche Diffamierung (SDS 1967b, 321).
4.2 Das politische Stereotyp
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werten, zu disqualifizieren.104 Dies sind Strategien expliziter Identitätsleugnung und damit Demontage einer zugeschriebenen Identität.105 Über diese hinaus ist identitätsstiftende und damit strategische Kommunikation weiterhin gekennzeichnet von Umdeutungshandlungen zur Konstituierung einer Gegenidentität – ein konstruktiver Akt zur Schaffung einer positiven Identität.106 In unserem Fall haben diese Umdeutungen die Nennform „nicht faschistisch, sondern y“, und der Subdiskurs, mit dem die Adressaten auf den Vorwurf des Linksfaschismus antworten, ist im Wesentlichen gekennzeichnet von diesem Muster. Damit konstituiert die Gruppe zum einen – durch Selbstzuschreibungen mit Autostereotypen – gleichzeitig sich selbst. Insofern sie ihren politischen Gegner als aggressive staatliche Übermacht oder als intellektuellen Opponenten sieht, ist ihr Selbstbild als dieser Übermacht gegenüberstehende unterlegene Kontrahenten gekennzeichnet durch das Merkmal ‚wehrlos, schwach‘ (mit blanken Händen, waffenlos, ohnmächtige Randgruppen, verschwindende Opposition).107 Zum andern schafft sie eine Gegenidentität durch Handlungsbezeichnungen, die als uminterpretierende Marginalisierungen manifest werden (harm-
104 eine wissenschaftliche Fehlleistung (zit. nach Miermeister / Staadt 97, S. 47ff.); leicht faßliche Symbole zur Identifizierung linker Feindgruppen … politische Sprache, der sich mittlerweile alle (auch NPD-Funktionäre) bedienen: „linker Faschismus“, „Anarcho-Faschismus“, „Inquisition von links“ u. a. m. (Negt 1968b, 180f.); Der Vorwurf des „Linksfaschismus“ ist Ausdruck einer Zerfallsstufe des bürgerlich-liberalen Bewußtseins, das von der fühlbaren Brüchigkeit der demokratischen Institutionen und Regeln in Deutschland betroffen ist und doch in den sozialistischen Alternativen nur das Ende aller Sicherheit und Freiheit zu entdecken vermag (ebd.); Der „Linksfaschismus“ ist die Projektion der systemimmanenten Faschisierungstendenzen auf unschwer diskriminierbare Randgruppen (ebd. 189); aufgrund einer ahistorischen Betrachtungsweise den Faschismus-Vorwurf erhoben … ein verbreitetes Vorurteil zur Verschleierung undemokratischer Absichten (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322). 105 Ich beziehe mich auf die Definition von Wodak u. a.: „‚demontierende‘ respektive ‚destruktive‘ Strategien [versuchen] Teile eines bestehenden nationalen Identitätskonstrukts abzubauen“ (Wodak u. a. 1998, S. 76). 106 Obwohl im Kontext der Schaffung nationaler kollektiver Identität entworfen, lässt sich das Modell von Ruth Wodak et al. adaptieren. Die Autorinnen und Autoren unterscheiden ‚konstruktive Strategien‘ von ‚demontierenden‘ bzw. ‚destruktiven‘ Strategien. Mit konstruktiven Strategien versucht man, „eine bestimmte nationale Identität aufzubauen und zu etablieren“, demontierende bzw. destruktive Strategien sind Versuche, „Teile eines bestehenden nationalen Identitätskonstrukts abzubauen“ (Wodak u. a. 1998, S. 76).
107 eine waffenlose Opposition (Krahl 1967a, 74); ohnmächtige Randgruppen (Negt 1968a, 179); eine verschwindende Minorität ohne die traditionelle Anlehnung an eine mächtige Partei oder einen Verband und ohne primäre Rücksicht auf potentielle Bündnispartner sich untersteht, selbständig sich als politische Opposition zu begreifen (Dörner 1968, 67); dieser technologisch hoch ausgerüsteten Gewalt, der sie [die Studenten] mit blanken Händen gegenüberstehen (Krahl 1967b, 72). Auf das legitimierende Potenzial dieses David-und-Goliath-Konzepts kommen wir weiter unten im Kontext des Gewaltdiskurses zurück (s. u. Kapitel 2.3.3.1).
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4 Identifizieren: Die Diskursbeteiligten als Redegegenstand
lose Unterbrechung einer Vorlesung, Verletzungen vergänglichster Satzungsbestimmungen, Zurufe und Klatschen, lediglich die Rede unterbrechen, Aufruf zu einem Go-in) – der Vorwurf des faschistischen Terrors erhält damit ein Komplement, mit dem die Beteiligten seine Unangemessenheit herauszustellen und die Zuschreibung erst recht ins Unrecht zu setzen suchen.108 Solcher Marginalisierung der Handlungen, die auf der anderen Seite den Vorwurf faschistisch evozieren, steht gegenüber die Idealisierung der Handlungsziele (Widerspruch auflösen, Diskussion erzwingen, öffentliche Auskunft verlangen, gegen die Vorbereitung des Notstandsterrors). Gegenidentität wird daher auch geschaffen, wenn die Diskursteilnehmer ihre Handlungsziele rühmen, ihre von demokratischem Denken bestimmten Absichten herausstellen – und damit gleichzeitig mehr oder weniger unausgesprochen die Gegenseite kennzeichnen.109 Wolfgang Haug versteht das Wort, in internen Richtungskämpfen auf der Linken geboren, als Prüfstein des Syndrom[s] des „hilflosen Antifaschismus“, das diese Belastungsprobe nicht überstanden habe (Haug 1968, 143) – wie diese Prüfung den Diskurs geprägt hat, haben wir rekonstruiert. Wie erklärt sich die Vehemenz, mit der im Diskurs auf diesen Topos refe108 Harmlose Unterbrechungen einer Vorlesung, Verletzungen vergänglichster Satzungsbestimmungen, Störungen des Straßenverkehrs und des „Messefriedens“ (Negt 1968b, 188); die gegen Systeme, Apparaturen, Institutionen (nicht gegen Menschen) gerichteten Aktionen der studentischen Protestbewegung (ebd. 189); Eingriffe in den status quo der Organisation des Studiums wurden zur „Einübung faschistischer Terrormethoden“, gegen die dann mit der Schärfe der einschlägigen Gesetze vorgegangen werden kann. Zurufe und Klatschen, die lediglich die Rede Prof. Schmids unterbrechen sollten, wurden zum Angriff auf die Meinungsfreiheit selber. Während doch diskutiert werden sollte, ob die Notstandsgesetzgebung nicht viel eher dieses Prädikat verdiente. Und dasselbe Klatschen wurde zur „Brachialgewalt“ (Schmid) – ein Ausdruck, der die Assoziation mit faschistischen Methoden recht nahelegt (Moldenhauer 1967, 320); Zwei Rednern des Go-ins beim Notstandsminister Carlo Schmid wurden politische Prozesse angedroht. – Die demonstrative Abwehr solcher Angriffe (SDS 1967b, 321). 109 denjenigen, die versuchen, den Widerspruch zwischen den theoretischen Prinzipien der Revolte und deren praktischen Realisierung in der praktischen Aktion aufzulösen (SDS 1968g, 521); Am 20.11.1967 veranstaltete der SDS ein Go-in in die Vorlesung von Carlo Schmid, um eine Diskussion über die Notstandsgesetze zu erzwingen. … Die Methoden des SDS … wollen eine rationale Diskussion überhaupt erst in Gang bringen und die Träger von Herrschaft dazu herausfordern, sich zu legitimieren oder mangels Legitimation auf ihre Privilegien zu verzichten. (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322); Versuch, die wissenschaftliche Arbeit mit der Strategie der Emanzipation zu verbinden (Wolff, R. 1968, 510); Ein beabsichtigtes „Go-in“ in die Vorlesung eines Ordinarius und Bundesministers, von dem man öffentliche Auskunft über seine Stellung zur Notstandsgesetzgebung verlangt (Negt 1968b, 188); Diesen provokativen Protest und die politische Demonstration gegen die Vorbereitung des Notstandsterrors aber wagen Sie als faschistisch zu diffamieren. (SDS 1967b, 321); allgemeinpolitische Diskussionen und Auseinandersetzungen, beispielsweise die Vorlage des Hochschulmanifests gegen die Notstandsgesetze in einer Vorlesung von Carlo Schmid (SDS 1968h, 77).
4.2 Das politische Stereotyp
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riert wird? Denn soviel ist klar: Dieses mit dem Hasswort des Diskurses schlechthin ausgestattete Segment des Binnendiskurses ist vielleicht das performatorisch wirkungsvollste. Sicher hat die Vehemenz, wie Horkheimers Gleichsetzung des Antiamerikanismus mit Antisemitismus110 und wie Adornos Vergleich der Studenten- mit der Judendiskriminierung (s. dazu den folgenden Abschnitt) mit „generationsübergreifende[n] Erfahrungen“ zu tun, „die in einer eigentümlich ambivalenten Erwartungsstruktur auf ein neues Generationsverhältnis übertragen wurden.“ „Generationsübergreifende Erfahrungen“ – diese Erklärung führt zu den kommunikativen Bedingungen dieses Diskurs-Segments. Wie die der politisch aktivierten Gegenwart der späten 1960er Jahre überhaupt, sind diese Bedingungen von Begegnungen von Kontrahenten geprägt. Kontrahenten sind zum einen die Aktivisten, die demonstrierenden Studenten der Protestbewegung einerseits, und die Repräsentanten der gesellschaftlichen bzw. staatlichen Herrschaft, die Staats- und Medienvertreter andererseits. Beide schreiben sich gegenseitig die Eigenschaft faschistisch zu. Kontrahenten sind zum andern die im Grundsatz sympathisierenden Vertreter des intellektuellen Establishments einerseits und die studentischen Aktivisten andererseits. Es ist dies eine von zutiefst antifaschistischem Selbstverständnis aller Beteiligten bestimmte Konstellation, die die injurierende Kraft des Stereotyps ausmacht. Der kommunikative Erfolg des Heterostereotyps im Diskurs, also seine evident frequente replizierende Reformulierung lässt sich damit erklären, dass alle Beteiligten geprägt sind von dezidiert antifaschistischem Denken: Die Emigranten Horkheimer und Adorno haben seit den dreißiger Jahren ihre wissenschaftliche Arbeit darauf abgestellt, Habermas versteht seine Analysen als Beitrag zur Erziehung zu einer durch und durch demokratischen und 110 Diese Formulierung findet sich im Kontext der Zustimmung Horkheimers für Habermas: In Deutschland hat heute der Anti-Amerikanismus weitgehend die Funktion des Antisemitismus. Das soll nicht heißen, daß es in Deutschland keinen Antisemitismus mehr gibt. Im übrigen hat Habermas recht, wenn er die Haltung der radikalen Berliner Studenten als ‚linken Faschismus‘ einstuft. (Horkheimer 1967a, 292) Anfang 1968 kommentiert Horkheimer noch einmal den Verlauf der Proteste seit dem Tod Ohnesorgs, zwar ohne das Stereotyp faschistisch zu gebrauchen, dafür aber die Substitution „Herren auf der äußersten Rechten“: Form, Inhalt und Zielsetzung der Rebellion sind konfus. Daß der Unglücksfall Ohnesorg als politischer Mord hochgespielt wird und daß das Knüppelschwingen der aufs äußerste provozierten Polizei als nicht zu rechtfertigende Brutalität hingestellt wird, zeigt, daß die Leiter der Bewegung in der Wahl ihrer Mittel genauso bedenkenlos sind wie die Herren auf der äußersten Rechten, und wenn Herr Dutschke in unzähligen Versammlungen ungestört die Demokratie als bloßen Schein denunziert, dann führt er sich selbst ad absurdum. (Horkheimer 1968c, 336) Kurze Zeit später prophezeit Horkheimer, dass das Ergebnis der SDS-Bewegung in ihrer heutigen Phase … notwendig zu einer Beschleunigung des Anwachsens des Neonazismus führt (Horkheimer 1968d, 339).
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damit von jeglichen faschistischen Tendenzen freien Gesellschaft. Ebenso die studentische Linke – mit Peter Schneider: „Der antifaschistische Impuls der 68er-Bewegung … ist … das bestimmende emotionale Motiv der Rebellion in Deutschland gewesen“ (Schneider 2008, 124). Unter diesen Voraussetzungen hat das Heterostereotyp ganz offensichtlich den von jeglicher denotierenden Funktion fernen Charakter einer Invektive, einer Beleidigung, deren perlokutive Kraft sich im Diskurs dynamisiert, weil das Denotat der Identitätszuschreibung und das Selbstverständnis der damit Versehenen allergrößte Gegensätze bilden. Beleidigungen, verstanden als „Handlungen, aus denen der Beleidigte folgern kann, dass er geringer geachtet wird als er selbst für sich beansprucht“ (Meier 2007, 107), betreffen die Ehre der Beleidigten (ebd.). Beleidigen ist ein Fall von „Würde- und Ehrverletzung“, deren perlokutionäre Kraft die „Selbstwertgefühle“ der Beleidigten verletzen (Staffeldt 2007, 218f.). Ehre ist ein Aspekt von Identität. Insofern die Identität der Akteure in dezidiertem Antifaschismus besteht und insofern sie sich von der Zuschreibung faschistisch beleidigt fühlen, ist Antifaschismus eine, die Ehre der Beteiligten betreffende Konstituente. Das ist die Erklärung für Vehemenz, Intensität und Dynamik dieses Diskurssegments, für die Wirkungsmacht dieses Antidemokratismus, wenn er in der Funktion eines eigenschaftszuschreibenden Stereotyps verwendet wird. Wenn faschistisch ehrverletzend ist, ist die Zuschreibung Jude das Gegenteil – man verwendet sie als Ehrentitel.
4.2.3 Tabuisierung: „Juden der Gesellschaft“ Antisemitismus – als potenzielles Segment des Faschismusdiskurses – erfährt durch die studentische Linke keine Bearbeitung. Antisemitismus wird vielmehr dem autoritären Charakter zugeschrieben, also als mentalitätsbezeichnende Kategorie verwendet – man folgt Adornos Befunden, ohne allerdings auch aus dieser Perspektive den nationalsozialistischen Antisemitismus signifikant zu thematisieren. Der unter dem Titel ‚Vom Antisemitismus zum Antikapitalismus‘ veröffentlichte Beitrag Dutschkes aus dem Jahr 1968 (Dutschke 1968b) ist hier kein Beweis des Gegenteils: Antisemitismus ist entgegen der Versprechung, die der Titel macht, außer in der kurzen Mitteilung, dass die Persönlichkeitsstruktur des autoritären Charakters nicht überwunden sei, kein Thema. Wurde mit dem Antikapitalismus der Protestbewegung die Entwicklung eines Erklärungskomplexes verhindert, in den insbesondere der Antisemitismus einzubeziehen wäre? Wolfgang Kraushaar ist davon überzeugt, dass der „antikapitalistische Ansatz … sich
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in seiner Tendenz als Blockierung einer eigenständigen Thematisierung der Judenvernichtung bemerkbar“ machte (Kraushaar 2001, 16). Peter Schneider erklärt diesen Umstand ähnlich mit der Dominanz des „Traum[s], eine neue Gesellschaft nach neuen Regeln aufzubauen.“ Dieser Traum habe sämtliche Kräfte absorbiert. Schneider teilt zur Erklärung eine Äußerung Dutschkes mit, der, gefragt, ob der SDS nicht die Aufgabe habe, den Judenmord aufzuarbeiten, geantwortet habe: Wenn wir das anfangen, verlieren wir unsere ganze Kraft. Eine solche Kampagne ist von unserer Generation nicht zu verkraften, aus dieser Geschichte kommen wir nicht mehr heraus. Man kann nicht gleichzeitig den Judenmord aufarbeiten und die Revolution machen. Wir müssen erst einmal etwas Positives gegen diese Vergangenheit setzen. (Zit. nach Schneider 2008, 190)
Dass wir diskursgeschichtlich die Abwesenheit eines Diskurssegments Antisemitismus / Juden / Holocaust feststellen müssen, mag also in diesen Zusammenhängen erklärbar sein. Was allerdings als Diskursphänomen und als identitätsstiftende Repräsentation präsent und also zu beschreiben ist, betrifft eine diskursive Rollenzuschreibung: Die Studenten sind zu den Juden der Gesellschaft geworden. Der Unterschied zum Faschismus liegt genau dort, wo auch derjenige zwischen bürgerlichem und faschistischem Antisemitismus liegt (Reiche 1968a, 30) – es stellt eine bemerkenswerte diskursive Konstellation dar, dass als Komplement zu den Zuschreibungen aus dem Arsenal des historischen Faschismus der Name seines historischen Opfers ebenfalls zur Stereotypisierung dient. Wir werden sehen, dass die Sicht der studentischen Akteure auf die Bundesrepublik als auf den postfaschistischen Nachfolgestaat Nazideutschlands gerichtet ist, nicht also auf die Nachkriegsdemokratie. Unter diesem Zeichen wird staatliches, politisches und gesellschaftliches Handeln interpretiert (s. u. Kapitel 6). Zum antifaschistischen Denkmuster des kritischen Diskurses gehört in dieser Logik auch, das Agieren der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Widersacher auf die eigene Gruppe zu beziehen und im antifaschistischen Sinn diesem Konzept anzupassen. Das Ergebnis dieser Anpassung lautet ausformuliert: „So, wie die Juden in Nazideutschland der ganzen Brutalität der Staatsverfolgung ausgesetzt waren, sind es nun die Studenten, sie sind die Juden der Bundesrepublik.“ Die Öffentlichkeit nimmt, nach dem antisemitischen Muster, in der Interpretation der Beteiligten den autoritären Impuls auf. Die Bezugsetzung einer Schlagzeile der „Berliner Zeitung“ („Den Anständigen gehört die Stadt. Ihnen ganz allein“) mit den provozierenden Forderungen anonymer, rechtsradikaler Demonstranten („KZs und Gaskammern für Studenten“) dient so z. B. der Stützung der Hauptthese eines Flugblatts ‚Springer ist schuld an der Ermordung Benno Ohnesorgs‘:
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„Das Maß ist nun voll. Die Geduld der Berliner Bevölkerung ist erschöpft.“ Konform zu diesem Blatt für das mittlere und Kleinbürgertum sagte die „BZ“ den Arbeitern, was sie zu tun hatten: „Den Anständigen gehört die Stadt. Ihnen ganz allein.“ Auf die richtige Fährte gebracht, forderten Westberliner vor dem Rathaus Schöneberg „KZ’s und Gaskammern für die Studenten“. (Heinemann 1967)
Ebenso wird der Gebrauch der exterminatorischen Vokabel ausmerzen zitiert: Bereits im Dezember 1966 forderte die „Berliner Morgenpost“ im Anschluß an eine Demonstration auf dem Kurfürstendamm ultimativ: „Störenfriede ausmerzen!“ Fünfeinhalb Monate später wurde ein Westberliner Student vor der Deutschen Oper „ausgemerzt“. (Berliner Manuskripte 1967) Auf diese Konstituierung der Studenten als die Juden der Gegenwart nehmen die Diskursbeteiligten Bezug, indem sie mit der ein hohes Evokationspotenzial aufbringenden Klassifizierungsvokabel für die Verfolgung der Juden schlechthin die Situation bewerten. Der provokativen Kraft von Pogrom (mit Pogromklima, -stimmung, -aufruf)111 konnte man gewiss sein – Peter Schneider konzediert retrospektiv: „Das Wort ‚Pogrom‘ in meiner Aufzeichnung wirkt wie eine hysterische Übertreibung“ – um dann zu versichern: „aber es war nicht aus der Luft gegriffen“ (Schneider 2008, 241). Wiederum Peter Schneider bestätigt eine von BZ und Bildzeitung erzeugte „Lynchstimmung“ (Schneider 2008, 242) und Rufe exterminatorischer „Haßparolen“, deren ursprünglich nazistischer Kontext evident ist: „‚Bei Adolf wäre das nicht passiert!‘, ‚Politische Feinde ins KZ!‘. Auf einem Transparent war Dutschke an einem Galgen zu sehen. ‚Gute Reise‘, wurde 111 Diejenigen, die seit Monaten eine systematische Hetze gegen politische Minderheiten betreiben, sind heute erschrocken, weil alle Welt weiß, daß ihnen die Pogromstimmung in Berlin zu verdanken ist. … Der Tod von Benno Ohnesorg, das wissen wir jetzt, war kein Einzelfall. Auch die Falschmeldungen und Lügentiraden der Springer-Blätter sind nicht zufällig. Sie sind konsequenter Ausdruck einer Politik, die Prügelknaben braucht (Juden, Neger oder Studenten), um ihre eigenen Machenschaften zu verdecken. (BSZ Bochumer Studenten Zeitung vom 13.4.1968); Die Zeitungen halfen so im April – und es handelt sich wieder um die Zeitungen primär des Springer-Konzerns – halfen mit, jene Atmosphäre und Stimmung des Pogroms zu begründen, die am 2. Juni von seiten der Polizei gegenüber den Studenten angewendet wurde. (Dutschke 1968b, 79); Der pathologischen Mobilisierung des konterrevolutionären Syndroms entspricht der ideologische Mechanismus zur Kriminalisierung der politischen Opposition, entspricht also dem überlieferten Vorurteil, daß der politische Umsturz das Werk von Asozialen und Verbrechern sei. … Die Verbindung von Revolution und Verbrechen erfüllt die Funktion des Pogromaufrufs; sie soll darüber hinaus die Massen der politisch aktiven Studenten demoralisieren und untereinander isolieren, d. h. die Organisation des Widerstandes brechen. (in Claussen / Dermitzel 1968, 63); Auch die beflissenen Parlamentarier wetteiferten mit den Zeitungspropagandisten im Verdrehen von Tatsachen und übten sich in der Minoritätenhetze, so dass in Berlin eine Progromstimmung [!] gegen die Studenten entstand. (Rabehl 1968b, 42)
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ihm dort nachgerufen.“ (Schneider 2008, 241) Beispielhaft zeigt die Analyse Oskar Negts, wie mit der sprachlichen Strategie dieses Kontetxtualisierungsverfahrens nazistische Judendiskriminierung und bundesrepublikanische Studentenfeindlichkeit einen Zusammenhang bilden. Negt lenkt mit der evokationsreichen Formel bedrohliches Pogrom-Klima gegen die politisch aktiven Studenten und Jugendlichen auf den Juden-Komplex. Unter der historischen Perspektive einer Blutlinie der Unterdrückung von Minderheiten in Deutschland geht es ihm nicht um globale Gleichsetzung, sondern um differenzierte Merkmalanalyse: Es wäre verfehlt, die im Dritten Reich organisierte Hetzjagd auf die Juden mit den Verfolgungsabsichten gleichzusetzen, die sich heute auf Linksradikale konzentrieren; aber es gibt Merkmale, die ihnen gemeinsam sind. Zu diesen Merkmalen zählt die Stilisierung und die dadurch geschaffene Manipulierbarkeit: Unter dem Vorwand, verschwörerisch die Staatsordnung zu gefährden und mühsam erzielte Aufbauleistungen des Volkes zu bedrohen, werden rassische, nationale und politische Minderheiten zu anmaßenden und zugleich ohnmächtigen Randgruppen stilisiert. Auf sie kann die tatsächlich herrschende Minorität gefahrlos Aggressionen der Mehrheit lenken.
Zu den die Parallelisierbarkeit erlaubenden Merkmalen zählt schließlich in dem Text von Oskar Negt die Diskriminierung, in die meist der Vorwurf des Parasitären ein[geht]. Dieses aus der Nazizeit bekannte diskriminierende antisemitische Element führt Negt dann weiter analogisierend aus – im Sinn einer Reformulierung des in der Bevölkerung verbreitete[n] Vorwurf[s] des Parasitären: Wie die Juden von der Übervorteilung ihrer Mitbürger, von der rücksichtslosen Ausnutzung ihrer usurpierten Machtstellung in Handel und Geldverkehr lebten, so mißbrauchen heute die Studenten Steuergelder fleißiger Bürger für eine Existenzweise, die den offiziell sanktionierten Rahmen von Leistungen und Belohnungen sprengt. (Negt 1968a, 14)
Diese sprachliche Strategie der Analogisierung ist durchaus als die Sprache des kritischen Diskurses kennzeichnende Taktik zu beschreiben: Man nutzt das in dem nazistischen antisemitischen Lexikon enthaltene Evokationspotenzial und legitimiert seinen Gebrauch mit strukturellen Parallelen – auch als Polemik wider den politischen Gegner (wir kommen unten Kapitel 6.1. darauf zurück). Adorno macht sich diese Argumentation zu eigen. Er hat bekanntlich ein die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus bearbeitendes gesellschaftliches Lebensziel der Erziehung zur Mündigkeit und damit zur Demokratie – einer Gesellschaft, die aus seiner Sicht kaum Anlass gibt anzunehmen, dass
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es nicht dieselbe sei, die sich begeistert dem Nationalsozialismus anschloss. Dieses Kontinuum erkennt Adorno – um eines von zahlreichen Beispielen zu nennen – etwa in dem Verhalten des Polizeibeamten Kurras, der, nachdem er Ohnesorg erschossen hat, zu keiner irgend ein Bedauern ausdrückenden Reaktion fähig war: Ich vernahm da einen Satz etwa wie: „Es tut mir leid, daß dabei ein Student ums Leben gekommen ist.“ Der Tonfall war unverkennbar widerwillig, so wie wenn Herr Kurras jene dürftigen Worte sich mühsam abgerungen hätte, gar nicht im Ernst dessen sich bewußt geworden wäre, was er anrichtete. Die Affektarmut des „Es tut mir leid“ verklagt ihn ebenso wie das unpersönliche „ein Student ums Leben gekommen ist“. Das klingt, als hätte am zweiten Juni eine objektive höhere Gewalt sich manifestiert und nicht Herr Kurras, zielend oder nicht, auf den Hahn gedrückt. Solche Sprache ist zum Erschrecken ähnlich der, die man in den Prozessen gegen die Quälgeister der Konzentrationslager vernimmt. Herr Kurras hat es nicht über sich gebracht, einfach zu sagen: „Ich bin unglücklich darüber, daß ich einen unschuldigen Menschen getötet habe.“ Der Ausdruck „ein Student“ in seinem Satz erinnert an jenen Gebrauch, der heute noch in Prozessen und in der Öffentlichkeit, die darüber berichtet, von dem Wort Jude gemacht wird. Man setzt Opfer zu Exemplaren einer Gattung herab. (Adorno 1967a, 324)112
So ist diese Gesellschaft der Nachkriegsgegenwart auch das Motiv Adornos für Vergleich und Analogisierung, wenn es um den Umgang mit der protestierenden Minderheit geht. Unter der Voraussetzung, daß sie [die Studenten], und die Intellektuellen überhaupt, auf der Plattform der deutschen Reaktion die Rolle der Juden übernommen haben (Adorno 1968c, 473), stellt sich auch ihm das gesellschaftliche Verhalten bei studentischen Demonstrationen als Pogrom dar: Denken Sie etwa an die Vorgänge, die sich in Berlin abgespielt haben, nachdem die Studenten nach dem Attentat auf Rudi Dutschke demonstriert haben, also an diese Vorgänge, die man ja wohl wirklich kaum anders denn als ein Pogrom bezeichnen kann. (Adorno 1968d, 375)
Wir sehen also: In diesem Subdiskurs stellt sich das Stereotyp Studenten die Juden der Gesellschaft dar als Komplex, bestehend aus Thematisierungen entsprechender Pressebeiträge und staatlicher Aggressionen seitens der studentischen Aktivisten, und aus den Beiträgen Adornos, der die gesell-
112 Unter der Voraussetzung der potenziellen Zugehörigkeit Kurras‘ zur Staatssicherheit der DDR erscheint sein von Adorno analysiertes Sprachverhalten dann freilich heute noch in einem anderen Licht. Da wir uns jedoch auf die Voraussetzungen des zeitgenössischen Diskurses beziehen, muss uns dieses Wissen von heute bei der Analyse nicht interessieren.
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schaftliche und staatliche Reaktion auf studentischen Widerstand als Verfolgung der Studenten thematisiert. Faschistische Terrormethoden und Studenten die Juden der Gesellschaft – gegensätzlicher können identitätsstiftende Zuschreibungen nicht sein. Sie entsprechen den Extremen unter den Bedingungen des Nationalsozialismus. Die Aufteilung der Gesellschaft in Opfer und Täter, das Denken und Handeln in nazistischen Mustern geben seit dem Ende der Diktatur sehr schnell die Referenzebene, wenn es gilt allfällige, sich dissident gebende politische Akteure zu schmähen.113 Dass dabei die Rollenverteilung von Opfer und Täter durcheinander gerät, dass man die Referenzbereiche nicht auseinanderhält ist ein Beleg dafür: Benennungen für Erscheinungsformen des Nationalsozialismus sind rhetorische, nicht reflektierte Diskurselemente, immer dann applizierbar, wenn identitätszuschreibende und -zurückweisende Konfrontation das Motiv der Auseinandersetzung ist. Dieses Zuschreibungsmuster wird auch auf die Konstruktion der Gegenwart appliziert. Gruppenkonstituierungen stellen die Bedingungen der diskursiven Realisierung von Konzepten her, indem sie die Identität der Beteiligten, die im politisch-gesellschaftlichen Kontext auch über Überzeugungen geprägt werden, thematisieren und damit konstituieren. Die intellektuelle Linke stellt mit dem Generationenargument Distanz zu den studentischen Akteuren her und schreibt der Gruppe einerseits die Rolle der linken oppositionellen Bewegung zu, andererseits grenzt sie die Formation der studentischen Akteure durch Zuschreibungen ab, die sowohl die Eigenschaft faschistischen Handelns und Denkens bezeichnet, als auch diejenige, die sie mit den jüdischen Diskriminierungsopfern der Nazizeit vergleichbar machen. Allerdings: Faschistisch als an die studentische Linke adressierte Zuschreibung ist aus deren eigenem Handeln motiviert und die damit ausgedrückte Kritik richtet sich auf sie. Das Stereotyp Jude der Gesellschaft dagegen ist motiviert aus dem Handeln eben dieser Gesellschaft – und die damit implizierte Kritik ist an sie adressiert. Die studentische Linke konstituiert ihre Identität vor allem als antiautoritär und revolutionär, eine Identität, die die intellektuelle Linke ihr verweigert. Diese Identitäten sind als Verstehensvoraussetzungen zu interpretieren, denn: Sie plausibilisieren die Demokratiekonzepte der Protagonisten in Bezug auf deren Selbst- und Fremdeinordnung in den demokratischen Komplex, insbesondere hinsicht-
113 Georg Stötzel hat als kommunikative Tradition die bereits früh einsetzende und mit großer Bereitwilligkeit praktizierte politiksprachliche Strategie beschrieben, mit Nazivergleichen den politischen Gegner zu diffamieren (vgl. Stötzel 1995b).
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lich der studentischen Linken. Insofern sich das Selbstkonzept der studentischen Linken von Gesellschaft veränderndem – und das meint in ihrem Sinn demokratisierendem – Handeln und von linkem und antiautoritärem Sein bestimmt ist, konstituieren sie damit denjenigen Aspekt ihres Demokratiekonzepts, der die Entwicklung der Gesellschaft hin zu einer radikalen, direkten Demokratie vorsieht, wobei die studentische Linke sich selbst die Rolle der Handlungsträger zuschreibt. Die intellektuelle Linke dagegen repräsentiert mit ihrer Konstituierung der studentischen Linken ein Demokratiekonzept, das die demokratischen Strukturen im Grundsatz akzeptiert, die aber durch studentischen Protest und durch neue Demonstrationsformen eine sinnvolle und notwendige Kritik erfahren. Abgesehen davon wird die Fremdkonzeption der studentischen Linken durch die intellektuelle Linke wesentlich durch eine negative Konstituierung manifest, insofern diese weniger durch Zuschreibungen, als vor allem durch die Verweigerung von studentischen Selbstzuschreibungen geprägt ist.
5 Kritisieren: Kritik als Philosophie und Lebensform Zwar ist das „‚Denken von 68‘ … nicht als einzigartige Schöpfung der Studentenbewegung zu begreifen, sondern als eine Verdichtung von Denkanregungen ganz unterschiedlichen Ursprungs“ (Bude / Kohli 1989, 21) – die zentrale Denkanregung ist jedoch, wie wir wissen, die der Kritischen Theorie, die mit ihren Leitideen und Schlüsselwörtern den studentischen Diskurs beherrscht. Die Studien, die Horkheimer und Adorno in den 1930er und 40er Jahren veröffentlichten, waren die Referenztexte der Protestbewegung.1 Die Affinität der studentischen Linken zur Kritischen Theorie, als einer politisch-moralischen Denkrichtung, begründet sich in ihrem antifaschistischen und antiautoritären, in ihrem partizipatorischen und aufklärerischen Gesellschaftsmodell, in ihrem marxistischen und psychoanalytischen Fundament.2 Die Prägung Max Horkheimers aus dem Jahr 1937 bezeichnet eine Gesellschaftslehre, die „die Menschen als Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand hat“ (Horkheimer 1937, 192). Horkheimer versteht die Kritische Theorie als eine Form von „Selbster1
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Milich verweist darauf, dass „unabhängig davon, wie kompliziert das Verhältnis zwischen der Studentenbewegung und der Frankfurter Schule auch gewesen sein mag: Die eine kann nicht ohne die andere gedacht werden. Die Studentenbewegung der 60er Jahre trug substantiell zur Prominenz und intellektuellen Reputation der Frankfurter Schule bei und muß als ein wesentlicher Teil von ihr betrachtet werden. In der Tat hatten alle drei Generationen – ob die von Adorno, Horkheimer und Marcuse, die von Habermas, Negt, Kluge und Schmidt oder die von Dutschke, Cohn-Bendit und Krahl – die gleichen Fragen an ‚Hitlers willige Vollstrecker‘ und teilten die Vorbehalte der Kritischen Theorie gegenüber einer ungebrochenen national-kulturellen Identität in Deutschland.“ (Milich 2000, 60) Vgl. zur Kritischen Theorie z. B. Albrecht u. a. (1999) mit weiterführender Literatur, sowie Gilcher-Holtey (2008), die das dabei entstehende Adaptionsproblem als das der unangebrachten Entzeitlichung beschreibt: „Die Gesellschaftsanalyse der Kritischen Theorie der dreißiger und vierziger Jahre auf die Verhältnisse der sechziger übertragend, ‚enthistorisierte‘, wenn man so will, die studentische Neue Linke die Kritische Theorie und verstieß damit gegen deren Prämisse der Zeitgebundenheit von Erkenntnis und der beständigen Revisionsbedürftigkeit der Theorie“ (ebd. 247). Wir werden im weiteren Verlauf sehen, dass die unbekümmerte Adaption von Theorieelementen durch die studentische Linke ein wiederholt auszuhandelndes Problem darstellt und konzeptuelle Konsequenzen hat.
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kenntnis des Menschen in der Gegenwart“, die „nicht die mathematische Naturwissenschaft [ist], die als ewiger Logos erscheint, sondern die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft.“ (Horkheimer 1937, 215) In der Worterklärung definiert er kritisch als ein Wort, das „hier weniger im Sinn der idealistischen Kritik der reinen Vernunft als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie verstanden“ werden muss. „Es bezeichnet eine wesentliche Eigenschaft der dialektischen Theorie der Gesellschaft“ (ebd. 223). Indem wir „Kritik“ als Modus der Weltperzeption und als Subdiskurs des Demokratie-Diskurses, und indem wir Kritik / kritisch als eine lexikalische Konstituente, als eine Repräsentation des Demokratie-Konzepts Ende der 1960er Jahre verstehen, beziehen wir uns natürlich ausdrücklich auf das Demokratie-Konzept der Kritischen Theorie: Kritik ist aller Demokratie wesentlich (Adorno 1969e, 785), ja, Demokratie wird durch Kritik geradezu definiert (ebd.) lesen wir in einem 1968 veröffentlichten Beitrag Adornos. Das urdemokratische Prinzip der Gewaltenteilung sei Ausdruck dieser Relation zwischen Kritik und Demokratie, ihre Voraussetzung sei indes Mündigkeit, denn – in klassisch kantischer Formulierung: Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet (ebd.). Er habe die Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen, und solcher Widerstand sei eins mit Kritik (ebd.). Ebenso sei es wenig übertrieben, Vernunft mit Kritik gleichzusetzen (ebd. 785f.). Kritik, Vernunft, Widerstand – die studentische Linke konnte mit diesen Leitwörtern als Elementen eines Demokratiekonzepts viel anfangen und hat den Diskurs über ihr politisches Handeln mit ihnen ausgestattet. Sie entsprachen ihrer Selbstsicht, sie schufen – in ihrer Auslegung – die Legitimation für ihre Protestformen. Indes – die Wirklichkeiten differieren, Adorno übt Kritik: Kritik, jenes Grundstück von Vernunft und bürgerlichem Denken überhaupt (ebd. 786) sei von politischen Gruppen monopolisiert und dadurch öffentlich kompromittiert worden und seitdem habe der Geist öffentlicher Kritik … empfindliche Rückschläge erlitten (ebd. 792). Wir finden hier jene Differenz ausgedrückt, die die prinzipielle Kontroverse zwischen der studentischen und der etablierten Linken durchgängig kennzeichnet: aus der Sicht der intellektuellen Linken das Verlassen des Bodens aufklärerisch-demokratischer Kommunikation, aus der Sicht der studentischen Linken mangelnder praktischer Lebensbezug und Wille zur Veränderung. Unabhängig davon aber sind die Kritische Theorie mit ihren Ideeelementen und Kritik und kritisch als Wortbildungselemente bzw. als musterbildende Kollokatoren signifikant präsente Diskurselemente.
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Kritische Theorie, Kritische Universität, ‚neue kritik‘, systemimmanente Kritik, Selbstkritik, kritisches Potenzial der Wissenschaften, kritische Aneignung der Marxschen Theorie, „kritisch“ oder „marxistisch“, antiautoritär und kritisch zugleich, kritische Ideen, kritische Intention, kritische Zeitungen, kritische papers –
das sind einige im Diskurs belegte Wendungen, die zeigen: Eine der „Verdichtungen von Denkanregungen“ (s.o.) manifestiert sich in der Bezeichnung der Denkbewegung, die da heißt Kritik / kritisch, wenngleich die Auseinandersetzung um die Kritische Theorie mit den studentischen Linken wie dann nur noch der Problembereich der Gewalt (s. u. Kapitel 7) Ende der 1960er Jahre eine aporetische Grundkonstellation des 68er-Diskurses offenbart: heftiger Widerstand gegen diejenige Theorie (und ihre Vertreter), die man gleichzeitig adaptiert, auf die man referiert, deren Ideen man partiell übernimmt, die man aber auch radikalisiert. Kritik und kritisch also hat in Kollokationen Schibbolethfunktion, und Affinität zur Kritischen Theorie wird manifest in Wortbildung und Kookkurrenzen. Als Grundwort kommt das Substantiv vor z. B. in den Zusammensetzungen Hochschul-, Organisations-, Wissenschafts-, Ideologie-, Vorlesungs-, Selbst-, Kultur-, Gesellschafts-, Stalinismus-, Parlamentarismus-, Anarchismus-, Dezisionismus-, Revisionismus-, Institutionen-, Gewerkschafts-, Universitäts-, Utopie-, Erkenntniskritik. Das Adjektiv ist Grundwort z. B. in den (z. T. weniger festen Bindestrich-)Kompositionen selbst-, gesellschafts-, ideologie-, ökonomie-, kultur-, praktisch-, subversiv-, historisch-, links-, rechts-, anti-, unkritisch. Als Bestimmungswort ist das Adjektiv u. a. belegt in den (ebenfalls z. T. weniger festen Bindestrich-)Komposita kritisch-theoretisch, -antiautoritär, -befreiend, -intellektuell, -distanziert, -humanistisch, -revolutionär, -vorwärtstreibend. Referenzbezeichnende Partnerwörter des Adjektivs sind etwa: kritische Reflexion, Tätigkeit, Aufgabe, Entfaltung, Diskussion, Juristen, Vorarbeiten, Scheu, Tätigkeit, Funktion, Rolle, Sprache, Benutzung, kritisches Lager, Wissen, Studium, Niveau, Lager der Futurologie, kritischer Positivismus, Ausdruck, kritisch aufgenommen, orientieren. Eine Ordnung der Partnerwörter bzw. Referenzbereiche von kritisch lässt erkennen, dass das Adjektiv, als Bezeichnung der Denkrichtung, verwendet wird, um dann auch in weiteren Okkurrenzen sozusagen die Prinzipien der Schule, der Methode, der Perspektive, des Erkenntnisinteresses, die der Kritischen Theorie verpflichtet sind, zu identifizieren: kritische Wissenschaft(en), Wissenschaftspraxis, Soziologie, Gesellschaftstheorie, Gesellschaftswissenschaften, Sozialpsychologie, Veranstaltung, Ringvorlesung, Gegenvorlesung, Lektürepläne, Vorlesungsskripten, Seminare, Publikationen, Instrumente, kritische und antiautoritäre Universität, kritisches Studium, kritischer Studienführer.3
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Strukturen und Bewußtseinsstrukturen und dergleichen …, die es unmöglich machen,
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Das Evokationspotenzial der Verbindung Kritische Theorie, das nicht nur in der Bezeichnung einer theoretisch-methodischen Perspektive, sondern in dem hohen Image dieser Leitwissenschaft Ende der 1960er Jahre begründet ist, motiviert den Gebrauch zahlreicher weiterer Formeln, mit je spezifischen Referenzbereichen. Kritisch ist etwa eine kognitive Kategorie. Kritisches Bewußtsein ist dann die Leitformel.4 In diesem Kontext mit kognitionsbezeichnenden Partnerwörtern von kritisch, wie Vernunft, Einsicht, Denken, ist die konzeptgeschichtliche Nähe zur Tradition der Aufklärung und zur Kritischen Theorie am größten. Gleichsam klassisch ist in diesem Sinn die Aussage Rudi Dutschkes in seinem Spiegel-Interview, in dem er das Konzept Immanuel Kants, kritische Vernunft, als Selbstzuschreibung verwendet5, oder wenn er auf der Podiumsdiskussion, die am 24. November 1967 unter dem Titel ‚Revolution 67 – Studentenulk oder Notwendigkeit?‘ in Hamburg stattfand und an der u. a. Ralf Dahrendorf und Rudolf Augstein teilnahmen, mit drei partiell synonymen Bezeichnungsalternativen, kritische Einsicht, kritische Rationalität, kritisches Bewusstsein, dieses Konzept weiter differenziert.6 Soviel ist deutlich: Wenn kritisch als Partner-
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die kritische Wissenschaft … auf die Lebenspraxis und Erfahrungspraxis jedes einzelnen Studenten sinnvoll zu applizieren (zit. nach Kraushaar 2003, 508); Diese Arbeitsgruppen begannen ansatzweise inhaltlich und organisatorisch eine konkrete Alternative zum bestehenden Studienbetrieb – eine kritische Wissenschaftspraxis – anzubieten, die den Studenten nicht aus seinem Studium herausfallen ließ. (Knapp / Schweichel 1968, 82); Dabei weiß jede kritische politische Soziologie, daß auch und gerade die als höchstentwickelte Strafe politischer Konfliktlösungen ausgegebenen „Spielregeln“ der parlamentarischen Demokratie kapitalistischen Inhalts ihrerseits Herrschaftstechniken darstellen (Krippendorff 1968, 164); Hier müßte man wohl auch die Rolle des Sports studieren, die von einer kritischen Sozialpsychologie wohl noch kaum zureichend erkannt wurde. (Adorno 1966a, 95); die Organisierung einer „Gegenuniversität“ innerhalb der bestehenden Uni, in der kritische Gegenvorlesungen und Seminare über die Theorie und Praxis der Emanzipationsbewegungen in der ganzen Welt gehalten werden (Dutschke 1967f, 259). Kritische Bewußtseinsbildung, Fähigkeiten, Denkansätze, Begabung, Vernunft, Einsicht, Rationalität, kritisch denkend, kritische erkenntnismäßige Qualitäten, kritisches Wissen, Denken, Denkvermögen, kritisches abstraktes Denken. Wir Studenten haben eine Chance, die den Massen der Gesellschaft systematisch verweigert wird: Wir können die spezifisch menschliche Verstandeskraft in kritische Vernunft umsetzen. Das bedeutet: Politisierung der Universität – als Ausgangspunkt der Politisierung und damit der Veränderung der Gesellschaft. (Dutschke 1967b, 268) Ich denke, daß Öffentlichkeit nicht existiert, denn zur Öffentlichkeit gehören bewußte Individuen mit kritischer Einsicht, die fähig wären, die Herrschenden zu kritisieren, sie unter Kontrolle zu nehmen und wirklich Öffentlichkeit herzustellen. … wir sollen klar den Weg, den wir begonnen haben, durch Aktionen und Aufklärung Gegenöffentlichkeit zu produzieren, den fortsetzen, um wirklich diejenigen, die innerhalb der zensierten Öffentlichkeit noch Momente von kritischer Rationalität mit uns zusammen diskutieren, in der Frage immer weiterzudrängen, in den Institutionen kritisches Bewußtsein zu erzwingen. (Dutschke 1967d, 17)
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wort von kognitionsbezeichnenden Ausdrücken wie Verstand, Einsicht etc. verwendet wird, entspricht sein Gebrauch in diesen Formeln dem die Protestbewegung kennzeichnenden, die Tradition der Aufklärung aufnehmenden (Selbst-)Anspruch auf Rationalität. Darüber hinaus bezeichnet kritisch eine Haltung, eine Einstellung, wenn die Partnerwörter auf Personen(gruppen) referieren. Leitformel ist kritische Studenten.7 Bemerkenswert: Die Zuschreibung kritisch fordert in dieser Funktion der Personenkennzeichnung zu Ironie und Wortspiel heraus. Die Wendungen kritische Kritiker und kritische Privattheoretiker etwa entsprechen einem solchen Spiel, man lässt die Semantik von kritisch und Kritiker schillern, wenn jenes diesem zugeschrieben wird.8 Weil kritisch hier die Bedeutung transportiert, die es in der festen Verbindung Kritische Theorie hat, nämlich als Bestimmungswort einer Gesellschaftstheorie, die auf die Analyse gesellschaftlicher Missstände gerichtet ist und nach deren Bedingungen fragt, Kritiker dagegen eher in der alltags-, bzw. bildungssprachlichen allgemeinen Bedeutung ‚jemand, der prüfend beurteilt‘ verwendet wird, erzeugt die Kollokation, unterstützt von der ausdrucksseitigen (bzw. phonetischen) Parallele, semantischen Mehrwert: kritische Kritiker – mit dieser Zuschreibung behauptet man, die so Bezeichneten wendeten die Lehre der Frankfurter Schule allzu ernst und ohne Realitätsbezug an, kritische Privattheoretiker – damit meint man die, die dem grundsätzlichen Moment der studentischen Kritik an der Kritischen Theorie, nämlich politisch folgenlos zu sein, entsprechen. Kritisch ist schließlich und vor allem signifikant, wenn eine Sprachhandlung (im weitesten Sinn) zu kennzeichnen ist – kritische Diskussion kann hier als Leitformel gelten.9 Zweifellos ist diese Funktion der Fokus7
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kritische Studenten, Öffentlichkeit, Kritiker, Minoritäten, Wissenschaftler, Autoritäten, Pädagogen, Soziologen, Juristen, Köpfe, Schriftsteller, Hochschullehrer, Intellektuelle, Intelligenz, Arbeitskreise, Privattheoretiker, kritisches Studentenpotenzial, kritischer Teil der Studentenschaft, kritisch-aktive Studentengemeinschaft, kritisch-antiautoritäres Lager. Sie [diese Vorgänge] stehen dem BV [Bundesvorstand des SDS] schon so fern, daß er diese Ansätze nur noch nach den Bedürfnissen des psychischen Apparats von kritischen Kritikern beurteilen kann (Boris / Abendroth 1967, 91); Die professionellen kritischen Kritiker der Frankfurter Schule legen mit theoretischer Beflissenheit linke theoretische Bekenntnisse ab. (Basisgruppe Soziologie 1968b, 499); in vielen Gruppen kam noch eine große Anzahl von kritischen Privattheoretikern hinzu (Claussen 1969, 6f.). kritische Argumentation, Fragestellung, Rezeption, Aufarbeitung, Abgrenzung, Abkehr, Zustimmung, Weiterentwicklung, Transzendierung, Behandlung, Anknüpfung, Anleitung, Auseinandersetzung, Erörterung, Argumente, Äußerung, Aufklärung, kritisches Gegenkonzept, kritisch auseinandersetzen, bloßlegen, karikiert, diskutiert, konfrontiert, nachgewiesen, beurteilt, kritischer Dialog, Eingriff, kritisch vorwärtstrei-
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sierung einer Sprachhandlung für die auf das Wort und die Rede setzende studentische Linke zentral: Kritisch in Bezug auf Sprachhandeln und Kommunikation bedeutet ‚analytisch, reflektiert, rational, aufklärerisch, dialektisch‘ und referiert damit unmittelbar auf die von der studentischen und intellektuellen Linken als Grundtugenden verstandenen kommunikativen Bedingungen. Kritik im Sinn einer Sprachhandlung, „arbeitet als Verbalismus aus Prinzip vornehmlich mit dem gesprochenen oder geschriebenen Wort, um etwas zu kontrollieren und durch Gegeninformation zu korrigieren“ (KpWb 337), ist „explizite Artikulation des Widerspruchs“ (ebd. 338) – Kritik ist daher das grundlegende Aussagemuster der sich als aufklärerisch und rational verstehenden Bewegung. Wenn also die Denkwelt der Diskursbeteiligten mit einer Kategorie zu erfassen ist, dann mit der der Kritik: Kritik ist eine Grundhaltung, ein Basiswert, ja die intellektuelle Lebensform Ende der 1960er Jahre. Insbesondere in diesem Kontext lässt sich mit größter Berechtigung das von Ludwik Fleck eingeführte Konzept des ‚Denkkollektivs‘ als Beschreibungskategorie mit der der Lebensform verbinden. Mit der Kategorie Flecks stellen die Diskursbeteiligten der studentischen und intellektuellen Linken ein Denkkollektiv dar, indem sie eine Gemeinschaft von Personen bilden, „die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“. Als „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes“ repräsentiert das Denkkollektiv „eine[n] besondere[n] Denkstil[…]“ (Fleck 1935, 54f.). Innerhalb dieses Denkkollektivs wird die dort gültige Wahrheit ermittelt – sie ist dort „vollständig determiniert“ (ebd. 131) – im Fall der Beteiligtenkonstellation Ende der 1960er Jahre allerdings nicht vollständig approbiert. Wir haben oben bereits als wesentliches Diskursphänomen die kommunikative Kontroverse beschrieben, die sich in den Einlassungen manifestieren, die die Binnenkommunikation der Diskursbeteiligten von Beginn unseres hier analysierten Zeitraums an bestimmen: Habermas‘ Vorwurf des linken Faschismus, die Bestätigung dieses Vorwurfs durch Horkheimer, die von der intellektuellen Linken nicht bestätigten Selbstidentifizierungen der studentischen Linken als revolutionär und antiautoritär; zur binnendiskursiven Kontroverse zählen auch, wie wir unten sehen werden, die Weigerung der intellektuellen Linken, das von der studentischen Linken aufgezeigte Praxisdefizit der Kritischen Theorie als Motiv für eine zunehmende Gewaltbereitschaft zu akzeptieren (s. u. Kapitel 7) sowie der Versuch der studentischen Linken, bende Analyse, kritisch politisch argumentiert, gesellschaftskritische Politisierung, kritisch räsonnierendes Publikum, selbstkritische Reflexion.
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das Zukunftsmodell einer direkten Rätedemokratie zu approbieren (s. u. Kapitel 8). Dies sind nur einige Beispiele, die dokumentieren: Der auf der Kritischen Theorie fundierte Diskurs der späten 1960er Jahre ist wesentlich eine Kontroverse der Theoriegeber mit den die Theorie uminterpretierenden und radikalisierenden Theorienehmern. Diese Kontroverse ihrerseits hat Kritik als Stil des intellektuellen und studentischen Denkkollektivs der späten 1960er Jahre zur Voraussetzung. Dieser Stil ist Lebensform. Und er ist – milieusoziologisch – die Lebensform des Selbstverwirklichungs- und des Niveaumilieus, dem die Beteiligten zuzurechnen sind (wir haben oben, Kapitel 3.1, die Beteiligtenstruktur des Diskurses in diesem milieutheoretischen Sinn charakterisiert). Die Bedingungen dieser Milieus finden sich in der kritischen Grundhaltung, in Kritik als Lebensform wieder. Das Analysieren und Urteilen über gesellschaftliche Zustände und Gegebenheiten mit dem Ziel ihrer Verbesserung bzw. Abschaffung von Missständen und stete Unzufriedenheit mit den Gegebenheiten der Gegenwart gehören mithin zum milieubedingten Wesen von Kritik ebenso wie die Zugrundelegung von Bewertungs-Maßstäben und der Anspruch auf Führung, zumindest auf ‚besser Wissen‘.10 Vier Traditionen sind zu nennen, um den modernen Kritik-Begriff zu fassen. Die Wurzeln liegen […] in der Philosophie der Aufklärung [Mündigkeit des Individuums], in der neuzeitlichen Erfahrungswissenschaft [Forderung nach methodischer Skepsis, strenger Sachlichkeit und wissenschaftlicher Unparteilichkeit], im bürgerlichen Liberalismus der Intellektuellen [Demokratisierungsforderung der bürgerlichen Revolution und liberalen Emanzipation] und im demokratischen Sozialismus der Arbeiterbewegung [um die Republik mit parlamentarischer Verfassung, politischer Freiheit und rechtlicher Gleichheit zu verwirklichen sowie die Forderung nach Aufhebung der ökonomischen Ungleichheit] (KpWb 33).
Bestandteile einer solchen ‚Kultur der Kritik‘ sind u. a. „Demokratie als politische, rechtsstaatlich kodifizierte Verfassung der Freiheit des individuellen ‚Kritikers‘“ und die „liberale Öffentlichkeit im Rahmen allgemeiner Meinungs- und Pressefreiheit als sozialer Vermittler des zugelassenen Streits der Meinungen und politischer Verstärker der Kontrollfunktion freier Kritik.“ (KpWb 338) Dass die Protestbewegung von dieser Kultur der Kritik profitiert hat, steht außer Frage. Die Voraussetzung war gegeben.11
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„Kritik versteht sich als kognitives Führungs- und argumentatives Kontrollinstrument, das Gewalt durch Vernunft ersetzt.“ (KpWb 341) Sie besteht im Vorhandensein einer „politische[n] Verfassung, die im Rahmen von kritikfördernden und -zugänglichen Institutionen Kritik erlaubt und den Kritiker vor Sanktionen schützt; eine soziale Verfassung der Gleichheit, die im Rahmen einer offenen Gesellschaft der Kritik ‚von unten‘ durch Einbringung individueller kognitiver In-
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Zwei Funktionstypen lassen sich für die Erscheinungsformen der Kritik bestimmen, die den Diskurs der späten 1960er Jahre charakterisieren. Zum einen die ‚emanzipatorische Kritik‘. Sie steht „im Dienst der Aufklärung“ und ihr politisches Ziel heißt „‚Selbstbefreiung durch das Wissen‘ (K. Popper)“. Diese ist die primäre Funktion der Kritischen Theorie. Der zweite Funktionstyp, der der partizipatorischen Kritik, ist ebenfalls der Protestbewegung zuzuschreiben. Hier ist „Kritik mit direkter Beteiligung am Erkenntnis- oder Entscheidungsprozeß verbunden …, so dass unmittelbare Einwirkungsmöglichkeiten bestehen“ (ebd. 339). Dieser zweite Funktionstyp ist eher als politisches Handlungsziel der studentischen Linken (expliziert u. a. in den zukunftsbezogenen Konzepten einer Partizipationsdemokratie, s. u. Kapitel 8), der erstere dagegen als ihre politische Handlungsform zu beschreiben (deren Ausprägungen wir in Kapitel 7 darstellen).12 Wenn wir im Foucaultschen Sinn nach den Bedingungen fragen, unter denen Sachverhalte zu bestimmten Zeiten aufgrund bestimmter Ereignisse sagbar sind, was zuvor unter anderen Bedingungen nicht der Fall war13, so können wir für den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre festhalten: Es ist die Konzeption der von der Kritischen Theorie vorgegebenen lebensund einstellungsprägenden Forderung von Kritik, die eine entscheidende diskursive Sagbarkeitsbedingung darstellt. Als zentrale Erscheinungsformen solch kritischer Disposition zu Kritik als Lebensform sollen im Folgenden exemplarisch herausgestellt werden die Praktiken der Kommunikations- und der Sprachkritik.
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itiativen und argumentativer Korrektive chancengleiche Einflußnahme auf den politischen Entscheidungsprozeß ermöglicht; eine geistige Verfassung wissenschaftlicher Aufklärung und politischer Bewußtheit, die im Rahmen einer liberalen Öffentlichkeit wirksame Kontrolle durch Kritik tatsächlich erbringt und notfalls erzwingt.“ (KpWb 341) Vgl. außerdem Bude / Kohli (1989, 27), die die Entwicklung der Soziologie seit Ende der 50er Jahre unter dem Zeichen „Normalisierung der Kritik“ nachzeichnen. Eine der zentralen Fragen, die Foucault in seiner Geschichte des Wissens beantworten möchte, ist bekanntlich die nach dem Moment der Sagbarkeit, das er als genealogischen Aspekt der Diskursanalyse versteht: „Der genealogische Aspekt betrifft die tatsächliche Entstehung der Diskurse.“ (Foucault 1974, 41). Unter diesem Aspekt der Diskursgenealogie plädiert er dafür, auf die „äußeren Möglichkeitsbedingungen zu[zu] gehen“ (Foucault 1974, 35), danach zu fragen, was es für die Aussagen, die die Diskurseinheiten sind, „heißt, erschienen zu sein – und daß keine andere an ihrer Stelle erschienen ist.“ (Foucault 1973, 159)
5.1 Kommunikationskritik und kommunikative Praxis
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5.1 Kommunikationskritik und kommunikative Praxis Kommunikationskritik heißt: über Kommunikation reden. Sie ist in diesem Sinn signifikante kommunikative Praxis der späten 1960er Jahre und steht in engem Konnex mit dem Demokratiekonzept der kritischen Diskursbeteiligten.14 Diese Praxis gehört in den Kontext der Rede- und Wortfreudigkeit der studentischen Aktivisten und der intellektuellen Linken. Dass die Protestbewegung der späten sechziger Jahre neue Kommunikationsformen gefunden und gelebt hat, ist allseits bekannt und hinlänglich beschrieben. Allerdings ist der Fokus hier zumeist auf die mehr oder weniger harmlosen Ulk-Veranstaltungen der Kommune I gerichtet15, die deutlich – zumal, wenn Dutschkes Legitimationsformel begrenzte Regelverletzung die Erklärungskategorie abgeben soll – von den mit ernsthaftem Grimm und radikaldemokratischem Empörungseifer inszenierten Aktionen des SDS unterschieden werden müssen. Um letztere geht es in vorliegendem Kontext. Neu heißt in diesem Kontext: Die studentische ebenso wie die intellektuelle Linke setzt auf das Wort, die Rede, die Diskussion, im Namen der Kritik und sub specie Demokratie: Diskutieren und Kritisieren als primär demokratische Verhaltensweisen (Nevermann 1967a, 194f.). Dies drückt sich nicht nur aus in den sprachkritischen Strategien auf der lexikalisch-semantischen Ebene, wie wir unten noch sehen werden, sondern auch in ihren typischen Kommunikationsforen und -formen: die Vollversammlung, „eine Kommunikationsform, die von der Idee autonomer Subjekte, die für sich sprechen können und wollen, getragen wird“ (Bogdal 2001, 29f.)16, das Teach-in, das „vor 1965 noch gar nicht diesen Namen hatte“ (Reiche 1988,
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Unter der Voraussetzung, dass die Debatte eine der Erscheinungsformen solcher Kommunikationskritik darstellt, befinden sich die Akteure natürlich gänzlich auf dem Boden einer Zivilgesellschaft: „In the field of politics, discursive struggle and contestation are generically captured under the label of debate. The political process develops through a series of exchanges involving a variety of social actors: politicians and policy-makers themselves, academic and non-academic experts, interested members of the public, the media. Debates are, political-ideologically, the points of entrance for civil society into policy making: they are (seen as) the historical moments during which the policy gets involved in shaping policies.“ (Blommaert 1999, 8). Vgl. zuletzt die Beiträge von Holmig (2007), Fahlenbach (2007), Klimke (2007), Lachenmeier (2007). „Praktiken, Rituale und Symbole … sozial zu verankern, darauf wird Achtundsechzig viel Energie verwandt. Dazu gehören vor allem Gleichheitsrituale wie die Anredeform Du, die Vollversammlung, eine Kommunikationsform, die von der Idee autonomer Subjekte, die für sich sprechen können und wollen, getragen wird … Dazu zählt dezidiert antiautoritäres Verhalten, d. h. eine Interpretation von Machtverhältnissen, in der die Machtsymmetrien konsequent umgekehrt werden.“ (Bogdal 2001, 29f.)
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5 Kritisieren: Kritik als Philosophie und Lebensform
48), das Plenum, der Kongress – kurz: in Veranstaltungsformen, die vom Wort leben.17 Dieses Ideal der redend vorgetragenen Kritik resultiert unmittelbar aus der prinzipiellen kritischen Lebensform, und wer Kritik als Daseinsideal wählt, verschreibt sich der Diskussion als ihrem Ort. Kritik am Bestehenden, Konzeptionen der Veränderung erarbeiten, diskutieren und der Öffentlichkeit … unterbreiten (Nevermann 1967c, 16) – das ist die revolutionär korrekte Reihenfolge (in der Theorie) und als Ideal politischer Kommunikation wohl formuliert. In diesem Sinn macht Wolfgang Abendroth deutlich, was Diskussion meint, nämlich kollektive Analyse, gemeinsames Arbeiten, Verschaffen von Erkenntnis im Reden miteinander – unentwegt: Wie kommt es denn, dass diese Erstarrung in der Bundesrepublik möglich wurde … Hier bedarf es der Analyse, der Permanenz der Diskussion (Abendroth 1967b, 68). Insofern lässt sich Diskussion / diskutieren als eine der zentralen diskursiven Verdichtungen darstellen, kritische Diskussion bzw. kritisch diskutieren sind insofern die prototypischen Leitformeln. Und wenn wir die Kontexte des Leitworts Diskussion, das dieses Diskurssegment verdichtet, untersuchen, stellen wir fest: Diskussion ist zwar kein produktives Wortbildungselement, einzig belegt sind TU-Diskussion, Gruppendiskussionen und Diskussionstrauben.18 Auch die Prädizierungen (vermitteln, führen, fortsetzen, scheuen, eintreten, stattfinden) sowie die regelgemäß verwendete Präposition über (sie schafft die Verbindung zum Motiv: über Probleme, Kampfaktionen, divergierende Positionen diskutieren) sind, außer hinsichtlich ihrer Frequenz, nicht signifikant. Es sind dagegen, neben der hohen Gebrauchsfrequenz des Simplex, die Zuschreibungen, die den Hochwert dieser Kommunikationsform dokumentieren: substanzielle, öffentliche, demokratische, politische, horizontale Diskussion. Und insbesondere die Kollokation rationale Diskussion ist diejenige, die das kommunikative Sollen der Diskursgemeinschaft bezeichnet.19 – Dieser Gebrauch muss übrigens inflationär gewesen sein, denn er
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„Die Szenerie mag von heute betrachtet wie ein Käfig voller Narren erscheinen. Aber damals waren diese Strategiedebatten, die bereits im gleißenden Licht einer großen Medienöffentlichkeit ausgetragen wurden, von fast magischer Spannung und Bedeutsamkeit.“ (Koenen 2002, 124) ein ad-hoc-Beschluß jener SHB-Mitglieder, die am Montag in der TU-Diskussion selbst dabei waren (Über Demonstration und Gewalt 1968); Gruppendiskussionen, die bei einem Seminar mit Arbeitern durchgeführt wurden (ebd.); Sollte die Polizei … eingreifen, weil die Diskussionstrauben zu groß werden, bitten wir Sie, sich zu zerstreuen. (AStA 1967, 145) Mißverständnisse …, die nur im Wege rationaler Diskussion ausgeräumt werden können. (Streikkomitee Spartakus-Seminar 1968, 524); Rationale Diskussion über die Strategie und Taktik einer auf Veränderung der Gesellschaft und der Universität angelegten Bewegung in deren eigenen Reihen … kann ein Ausdruck der Verarbeitung von Erfahrungen, eine Wachstumshilfe sein, die neue Vorstöße ermöglicht und eben deshalb die Voraussetzung künftiger Erfolge ist. Es gibt keine revolutionäre Emanzipationsbewegung, die ohne derartige Diskussionen ausgekommen wäre. (Abendroth 1968, 132); Eine rationale Diskussion um diese Differenzen wurde … zu verhindern versucht. (SDS 1968i, 4); die Universitätsbürokratie — offenkundig unfähig, auch nur
5.1 Kommunikationskritik und kommunikative Praxis
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wird problematisiert: Dr. Rolf Tiedemann, der nach dem 2. Juni vor Berliner Studenten spricht, fordert zu Diskussionen, die wir jetzt zu führen haben, auf. Die anschließende Erklärung ist eine Kritik am Gebrauch der entleerten Formel: Diese Diskussion kann sich nicht darauf beschränken, daß wir nun „rationale Diskussion“, „rationale Diskussion“ wie buddhistische Gebetsmühlen vor uns hinbeten, der sich die Begründung der Kritik anschließt: Daß Diskussion rational sein muß, gehört auch zu diesen Binsenwahrheiten, die unter denkenden Menschen nicht eigens betont werden müßten (Tiedemann 1967, 42). – Dass wir es mit einer, im Kontext der Kritischen Theorie stehenden Diskussionsethik zu tun haben, erschließt die Überprüfung der Partnerwörter. Diskussion wird vermittelt als demokratisch motiviertes Obligo.20 Was für das Substantiv gilt, die auffallend häufig belegte Verbindung mit dem Adjektiv rational, kann für das Verb nicht bestätigt werden: rational diskutieren ist kein signifikantes Diskurselement, wie überhaupt adverbiale Wendungen (diszipliniert, leidenschaftlich diskutierende Studenten; konkret diskutieren21) geringe Evidenz haben. Präpositionale Wendungen werden dagegen – regelgemäß – häufiger benutzt (über die Arbeit / Reformen / solche Fragen diskutieren), vor allem aber ist auf den absoluten Gebrauch zu verweisen: versuchen zu diskutieren, zu Ende diskutieren, politische Konsequenzen ziehen und diskutieren22 – diskutieren ist ein Wert an sich, das drückt dieser absolute Gebrauch aus. Schließlich: Diskutieren erscheint präfigiert lediglich in der Version ausdiskutieren23, dies ist allerdings gleichsam ein 68er-Schibboleth, als sprachliche Innovation der Zeit vielfach ausgewiesen. Soviel wird deutlich: Diskussion / diskutieren hat normatives, und damit emi-
rational über Reformen mit den Studenten zu diskutieren (SDS 1967a, 14); Der SDS weiß, daß er in dieser Auseinandersetzung nur dann eine treibende Kraft sein kann, wenn er in seinem eigenen Verbandsleben die demokratische, rationale Diskussion zum Zentrum macht (ebd. 15f.); Die Methoden des SDS dagegen, die im Detail durchaus kritisch diskutiert werden sollen, wollen eine rationale Diskussion überhaupt erst in Gang bringen … seine Magnifizenz [spricht] von faschistischem Terror dort, wo kritische Studenten ihre Lehrer zu rationaler Diskussion provozieren. (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322f.) 20 Die z. T. höchst apodiktisch formulierten Formeln dieses Obligos lauten etwa: Kritik und Diskussion, müssten Diskussionen in der Öffentlichkeit geführt werden, öffentliche Diskussion einziges Organisationsprinzip, Abstimmung ohne jede Diskussion, der Entscheidung vorausgehende Diskussion, keine Emanzipationsbewegung ohne Diskussion, demokratische rationale Diskussion zum Zentrum machen, rationale Diskussion in Gang bringen, kritische Studenten provozieren zu rationaler Diskussion, Konkurrenzkampf als politische Diskussion ausgetragen, Anfechtung von Macht mit Diskussionen gelungen, durch Diskussion und Teilnahme gekennzeichnete kritische Öffentlichkeit, in interner Diskussion Ansichten entwickeln, Diskussion über Kampfaktionen in Gruppen geführt, Mißverständnisse im Weg rationaler Diskussion ausräumen, Diskussionen über divergierende Positionen, notwendige Diskussion verbindlich machen, Selbstaufklärung der Studenten in jener durch Diskussion und Teilnahme gekennzeichneten kritischen Öffentlichkeit. 21 […] wir haben das in Berlin schon konkret diskutiert im Konvent und in den Vollversammlungen (Dutschke 1967e, 83). 22 Die Richtung unserer Trauer muß … sein, daß wir … die politischen Konsequenzen aus diesem Massaker ziehen und diskutieren (Nevermann 1967c, 17). 23 Problematik … die mit Sicherheit heute gar nicht ausdiskutiert werden kann (Bedingungen und Organisation 1967, 91).
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nent deontisches Potenzial. Dem deontischen Gehalt des Verbs entspricht der öfters belegte futurische, z. T. konjunktivisch, z. T. imperativisch ausgedrückte Bezug.24
Der mit diesem lexikalischen Feld ausgestattete Diskussions-Diskurs hat – neben rationale Diskussion – ein weiteres Formelelement, das immer dann aktualisiert wird, wenn Diskussion resp. Kommunikation als Ideal konstituiert wird. Der Anspruch ist der kommunikativen Ethik Habermasscher Prägung verpflichtet: […] eine Form der politischen Willensbildung gibt es, nach deren Prinzip in gleicher Weise Entscheidungen von einem in herrschaftsfreier Diskussion erzielten Konsensus abhängig gemacht werden sollen – und das ist die demokratische. Das Prinzip der Öffentlichkeit soll dabei jede andere Gewalt als die des besseren Argumentes ausschalten … Dieses Prinzip, daß, kantisch gesprochen, allein Vernunft Gewalt haben solle, verbindet die demokratische Form der politischen Willensbildung mit jener Art Diskussion, der auch die Wissenschaften ihren Fortschritt verdanken (Habermas 1967c, 123f.).
Diese Ethik wird interpretiert als radikal demokratische, gleichsam rituell zu vollziehende aufklärerische und vernunftgesteuerte Praxis des permanent gesprochenen Worts und Teil einer Selbstverwirklichung, einer Selbstbefreiung, einer Selbstinszenierung.25 Diese berühmte Formel herrschaftsfreie Diskussion, diese Idee des Prinzips der Öffentlichkeit, diese Überzeugung von der Gewalt des besseren Arguments ist der theoretische Rahmen, der das Kommunikationsverhalten prägt und der den hohen Wert der Redebezeichnung Diskussion / diskutieren begründet, was allerdings nicht bedeutet, dass der Diskurs der studentischen Linken etwa von Gewaltabstinenz geprägt wäre – darauf kommen wir unten (s. u. Kapitel 7) zurück. Herrschaftsfreie Diskussion (oder in der Modifikation herrschaftsfreier Dialog, herrschafts-
24 […] müssten wir darüber diskutieren; es ist zu diskutieren; worüber zu diskutieren wäre; Methoden kritisch diskutiert werden sollen; muß man wirklich diskutieren; verlangen, dass unsere Problematik inhaltlich diskutiert wird; warum diskutiert ihr nicht?; daß über solche Fragen diskutiert werden kann. 25 „[…] daher das enge Netz der Kommunikation, die Vielfalt der Textsorten und Medien vom wissenschaftlichen Traktat bis zum Gedicht, vom opulenten Bildband bis zum hektographierten Flugblatt und zu den graffiti; daher auch die Bereitschaft, zu fast jeder Zeit und an nahezu jedem Ort, von der Vollversammlung bis zur WC-Tür, sich zu ihr zu äußern“ (Bogdal 2001, 22). Kopperschmidt begründet die Omnipräsenz des Worts mit der politischen Situation: „Gerade weil es 68 keine wirklich revolutionäre Situation in Deutschland gab, musste die Revolution in der Sprache stattfinden“ (Kopperschmidt 2000, 2). Den Gegnern liefert dies Verhalten Argumente: „[Das Denken der neuen Linken] will Widersprüche und Gegensätze schaffen, auch wo sie in Wirklichkeit kaum mehr zu finden sind; es sucht nicht den Dialog, sondern bevorzugt den Monolog oder die Polemik oder eben die unaufhörliche Theoriediskussion unter Gleichgesinnten.“ (Sontheimer 1979, 57)
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freie Kommunikation) geht als Versatzstück in den Diskurs ein. Ganz im Sinn Habermas’, dokumentiert durch die Übernahme der Formel, führt Peter Brückner anlässlich der Gründung des republikanischen Clubs die Politik des parlare als Identifikationsmoment der außerparlamentarischen Opposition ein: Wenn wir die Politik des parlare, das Ziel des herrschaftsfreien Dialogs Aller mit Allen gegen das dictare des Thermidor, das Manipulative des Establishments stellen, so liegt am Ende das wahre Parlament außerhalb des Parlaments, und ist zugleich – die Opposition. (Brückner 1967, 242) Abgesehen davon, dass diese Formulierung des einflussreichen Peter Brückner womöglich ein früher Beleg ist, der die Selbstbezeichnung Außerparlamentarische Opposition befördert, reflektiert Brückner damit vor allem das Bedingungsverhältnis zwischen der Politik des parlare, zwischen dem Gebot des Dialogs und der Diskussion, und dem Status außerparlamentarisch. Rudi Dutschke variiert die Formel in herrschaftslosere Kommunikation und implementiert den Gedanken in das Konzept eines neu organisierten Studiums in Form von Institutsassoziationen, in denen u. a. […] durch „gegenseitige Hilfe“ (Kropotkin) eine herrschaftslosere Kommunikation sich herstellen könnte: in denen die Vertreter der verschiedensten Wissenschaften und sozialen Gruppen jenseits der Alternative zwischen Einzelwissenschaftler und Parteibürokrat ihre politische Arbeit nach außen, die Entfaltung der Selbsttätigkeit von anderen „Minderheiten“ beginnen könnten. (Dutschke 1967f, 260)
Man bekennt sich ausdrücklich zu diesem Ideal des herrschaftsfreien Dialogs, setzt explizit auf Wort und Rede. Indes: Wille und Wirklichkeit fügen sich nicht. Herrschaftsfreie Kommunikation – der Dialog zwischen Studenten und ihren Lehrern ist das Gegenteil: Studenten üben durch Verletzung von Kommunikationsnormen Herrschaft aus. Insofern ist nur auf eine bestimmte Redekonstellation (vgl. zu dieser Kategorie Steger et al. 1974), nämlich die des Redens von Gleichen – also der symmetrischen Konstellation – unter den Bedingungen von Meinungsgleichheit – also der konsensuellen Themenbehandlung –, beziehbar, dass „die gemeinsame Erfahrung leidenschaftlichen Argumentierens in einer vermeintlich autoritär-monologischen Gesellschaft … das Selbstverständnis der Beteiligten als Generation [konstituierte] und … sich in ihren Habitus eingeschrieben [hat]“ (Verheyen 2007, 209). Kommunikation als demokratisches Instrumentarium des offenen Dialogs zum Zweck der Meinungskonstitution und -überprüfung sowie der Konsensfindung im Zuge des politischen Widerstands – die als Gegner konstituierten kommunikativen Kontrahenten haben es anders erfahren und eines der zentralen und wiederkehrenden Monita gegen die studentische Linke ist dieses: ein ausgesprochen autoritäres, gnadenlos ideolo-
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gisiertes und konfrontatives Kommunikationsverhalten.26 Die Anfangsphase einer Diskussion streikender Studenten mit Habermas, von Friedeburg und Mitscherlich sei Beleg. Diese Diskussion verdient gerade nicht das als Ideal reklamierte Prädikat rational, man unterbricht den Sprecher, wo immer es die Libido verlangt, was wiederum diejenigen herausfordert, die noch ein Maß an Kommunikationsbereitschaft aufbringen: Es tut mir leid, ich bin hier, um Ihnen einen Vorschlag zu machen … Wir brauchen also erstens – ich glaube, daß wir uns einigen sollten auf der Grundlage der Seminarordnung (Zwischenrufe: Privatordnung! Hört doch mal auf! Laßt ihn doch mal ausreden!) Meine Damen und Herren! Zu Ihrer Information. Wir sind auf die Bitten des Genossen Krahl hier. … Also erstens finde ich, daß wir uns einigen sollten darüber, in Diskussionen einzutreten, über eine Beschaffung einer Seminarordnung auf der Grundlage einer drittelparitätischen Seminarversammlung (Zwischenrufe: Wir lesen doch Zeitung! Wir wissen doch, was los ist. – Seid doch mal ruhig, Mensch!), in der die wesentlichen Entscheidungen (Unruhe) – meine Damen und Herren, es ist ja nur ein Verhandlungsangebot (spöttisches Gelächter) – über die Fragen, die das Seminar betreffen, gefällt werden. … Das heißt, das heißt – ich darf doch meine Meinung äußern! – das heißt, daß wir ein Interesse daran haben, daß diese Initiative nicht scheitert (Habermas 1968c, 505f.).
Die situativen Faktoren dieses Rencontres sind wie folgt: Streikende Studenten halten seit einigen Tagen das Gebäude besetzt, in dem das soziologische Seminar der Frankfurter Universität untergebracht ist. Man protestiert mit dieser Besetzung zum einen gegen die Kündigung, die der Eigentümer des Gebäudes ausgesprochen hat, zum andern gegen die Studienbedingungen. Am 16. Dezember 1968 findet eine Versammlung statt, zu der die drei Professoren eingeladen wurden. Der oben zitierte Redeausschnitt gibt einen Beitrag Habermas‘ wider. Mit einer einleitenden Unterwerfungsformel (es tut mir leid), mit einer auf eine Unterbrechung durch Zwischenrufe folgenden expliziten Anrede (Meine Damen und Herren), mit einem seine Anwesenheit erklärenden Hinweis (Wir sind auf Bitten …)27,
26 Scharloth kommentiert exemplarisch das entwürdigende, Kommunikation absichtlich verhindernde Verhalten von Studenten anlässlich einer öffentlichen Diskussion mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin Schütz im Audimax der FU (vgl. Scharloth 2007, 82ff.). 27 Wir können uns auf Josef Klein beziehen und diesen Gesprächsschritt als „ ERKLÄREN-WARUM (E-W)“ bezeichnen, mit dem ein Sprecher „das Explizieren des Zustandekommens eines Sachverhalts“ vollzieht. Klein unterscheidet diese Argumentation von der des Begründens und des Rechtfertigens: „BEGRÜNDEN (BEGR) ist das Stützen von Geltungsansprüchen für epistemische Einstellungen (für wahr / wahrscheinlich / möglich halten) zu Propositionen oder Propositionskomplexen. RECHTFERTIGEN (RECHTF) ist das Stützen von Geltungsansprüchen für evaluative Einstellungen des Positiv- oder zumindest Nicht-negativ-Bewertens von Sachverhalten, für die ein
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mit einer Beschwichtigungsformel (es ist ja nur …), mit einem offensiv vorgetragenen Redeanspruch (Ich darf doch …), mit dem Gebrauch all dieser gesprächsstrukturierenden Elemente, die auf die Existenz massiver Kommunikationshürden und den Willen, diese zu überwinden, schließen lassen, gelingt es Habermas schließlich, das Objekt seiner Rede, seine Botschaft zu kommunizieren (Initiative nicht scheitert). Diese Kommunikationshürden werden von den studentischen Akteuren errichtet: durch zwischen gerufene – den Redner also unterbrechende Bezeichnungskorrekturen (Privatordnung), durch die Zurückweisung eines Angebots, indem man dessen „Wahrheit“ bezweifelt (wir lesen doch Zeitung), durch die Ridikülisierung der Kategorisierung Verhandlungsangebot (spöttisches Gelächter). Wir sehen: Kennzeichnend für das studentische Diskussionsverhalten ist, dass man auch in kommunikativer Hinsicht ein Konzept der Direktheit verfolgt, und damit intentional gegen kommunikative Normen verstößt, indem man ein kommunikationstypspezifisches, der Situiertheit des Kontextes entsprechendes Handlungsschema durchbricht.28 Diese Normen sehen z. B. vor, dem Kommunikationspartner die Gelegenheit zu geben, ungehindert seinen Redegegenstand vorzutragen. Stattdessen fällt man mit Zustimmung und Missfallen unmittelbar und unverstellt in die Rede des Kommunikationspartners ein – Herrschaft ausübend, indem man ihn damit zwingt, seine Rede zumindest zu unterbrechen. Die Diskussion setzt sich fort. Die Studenten veranlassen Habermas, den Text einer Stellungnahme, die er am Morgen abgegeben hat, zu verlesen. In dieser Stellungnahme geht es auch um das kommunikative Verhalten der Studenten, das Habermas zu einer hypothetisch gemeinten Charakterisierung veranlasst, die da lautet: Wer einzelne theoretische Ansätze durch institutionellen Zwang dogmatisieren will, wer darüber hinaus jeden theoretischen Ansatz diskriminieren möchte zugunsten einer Instrumentalisierung des Denkens und des Wissens … für die Ad-hoc-Bedürfnisse sogenannter Praxis, schickt sich an, die Bedingungen vernünftiger Rede und damit die Grundlage von Humanität abzuschaffen. (Habermas 1968c, 507)
Dogmatisieren, diskriminieren, instrumentalisieren – dieses Gegenstück des Habermasschen Kommunikationsideals führt im weiteren Verlauf dieser Diskussion ein Student auf, der sich in Respektlosigkeit übt (das allgemeine Du als studentische Anredekonvention ist übrigens hier noch nicht eingeführt): Ich verstehe überhaupt nicht, wie irgendeiner von Ihnen, nach
Subjekt (oder eine Gruppe von Subjekten) verantwortlich ist, und / oder der Subjekte, die für die Sachverhalte verantwortlich sind.“ (Klein 2001, 1315) 28 Vgl. dazu Deppermann / Spranz-Fogasy 2001.
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dem, was der Habermas gesagt hat, den Mann noch duldet! Die Reaktion des Auditoriums – Beifall. Pfui. Buhrufe – ist schwer zu deuten: Beifall für den Studenten, Pfui und Buhrufe für Habermas? Sowohl Beifall als auch Pfui und Buhrufe für den Studenten? Jedenfalls fordert dieser Beitrag zur beschwichtigenden Kommentierung heraus. Ein anderer Sprecher versucht zu besänftigen in Kategorien der Psychoanalyse (Wir woll’n das doch nicht überziehen. Ich glaube, es gibt hier eine Fixierung an die Professoren), die ihrerseits nicht unkommentiert bleiben und, den Vorredner unterstützend, zurückgewiesen werden (Andere dazwischen: Ja, von dir ….). Die Auseinandersetzung hat nun ihr Wort, ein Teilnehmer (vermutlich der Diskussionsleiter), der die Grenzen seiner Konzentrationsfähigkeit erreicht, gar überschritten sieht und deshalb auf die Rednerliste verweist, benutzt es in seiner Beschwerde als Argument: […] und das soll man hier mal ganz klar und sehr nüchtern aussprechen, eine wirklich sehr, eine völlig unbegründete Fixierung an sie besteht, daß sie tatsächlich jetzt hier in dem Augenblick auf Begründung und langatmige Bekundungen gehen, was meiner Meinung nach völlig unmöglich noch zu rechtfertigen ist. Es müssen alle hier dermaßen dann dabei zuhören. Und jetzt weiter in der Rednerliste!
Der anwesende Alexander Mitscherlich ergreift daraufhin das Wort. Als Psychologe weist er den Gebrauch des Ausdrucks Fixierung, der für ihn ein streng definierter Terminus ist, zurück: Zunächst möchte ich mich dagegen wehren, daß hier nicht Vulgärmarxismus, sondern Vulgärpsychoanalyse betrieben wird. Lassen Sie doch das Wort Fixierung! Sie wissen ja gar nicht, was das ist. (Große Unruhe) Der Redner, der den Ausdruck Fixierung als Bewertung des Verhaltens eines Kommilitonen in die Diskussion eingeführt hat – was eher den Anschein einer Verteidigung des angegriffenen Habermas hatte – formuliert die Replik auf Mitscherlichs Einwand, wiederum mit Verwendung der Kategorie Fixierung, die jedoch nunmehr ein Angriff auf die Professoren ist: Das, was Sie und Herr Habermas heute nachmittag gegenüber dem Genossen Krahl demonstriert haben, das war ein Fall von Fixierung! (Lachen. Beifall). Das Ende dieser, repressives, forderndes und autoritäres Redeverhalten der Studenten dokumentierenden Diskussion leitet Habermas ein. Er verweist auf seine begrenzte Zeit und drängt, in einer um Verständnis geradezu flehenden Formulierung, auf ein Ende: Sie wissen, daß ich bis halb sieben, es tut mir leid, nicht wußte, daß a) überhaupt eine Versammlung stattfindet und b) daß ich hier – um es deutlich zu sagen – zugelassen bin. Ich kann meine Termine leider nicht in die Abende produzieren. Wir müssen in Gottes Namen – es ist keine Pression, ich bitte nur um Ihr Verständnis (Unruhe) – wir müssen in zehn Minuten gehen ….
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Diesen Hinweis nimmt wiederum der Student, der zuvor dazu aufrief, Habermas nicht mehr zu dulden, erbarmungslos zum Anlass für eine weitere verbale Offensive: Ich möchte noch was sagen dazu, warum der Professor Habermas auf der einen Seite den Untergang der Frankfurter Schule beschwört und auf der anderen Seite seinen Termin von Viertel vor neun vorschiebt. Ich würde wirklich sagen, daß das gegenüber den Studenten eine Unverschämtheit ist …. (Unruhe)
Dieses Mal ist er erfolgreich. Seine Unterstellung (vorschiebt) und Bewertung (Unverschämtheit) ist Anlass für einen Diskutanten sie aufzunehmen und in eine direkt und explizit an Habermas adressierte Aufforderung umzuformulieren: Herr Professor Habermas, können Sie mal formulieren, was für Sie heute abend so wichtig ist, daß Sie hier jetzt nicht über das Institut reden können? Abgesehen davon, dass zeitliche Gründe sie dazu veranlassen, können wir annehmen, dass dieser Anwurf die Grenze dessen überschreitet, was für Mitscherlich und dann auch Habermas erträglich ist. Beide verlassen, begleitet von Unmut äußerndem Zischen, den Raum: MITSCHERLICH: (geht) Auf Wiedersehen! (Zischen) (Habermas geht auch.)29 Verletzung der kommunikativen Regeln, Missachtung dessen, was von den Kommunikationspartnern als kooperatives, argumentativ-konsensuales „Klärungsgespräch“ (Böhler / Katsakoulis 1994, 819) aufgefasst werden könnte30, statt dessen Realisierung eines Gesprächsverhaltens, das darauf
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Ein weiteres Beispiel solch libidinöser Kommunikationspraxis, das weitgehend unkommentiert bleiben soll, ist von einer Vollversammlung (die unter dem vollen Eindruck der Erschießung Ohnesorgs stattfand) überliefert, bei der allerdings die Beteiligten nicht direkt miteinander kommunizieren, sondern die Anwesenden den Inhalt von thematisch unterschiedlichen Botschaften, die von einer Person überbracht werden, kommentieren, und zwar jede einzelne mit Zustimmung bzw. Ablehnung: Bei den Juristen wurde heute wieder normaler Vorlesungsbetrieb angekündigt (Zischen), die meisten Veranstaltungen fielen aber trotzdem aus. (Gelächter und Klatschen) Über die medizinische Fakultät wurde uns berichtet, daß dort der normale Universitätsbetrieb weitgehend aufrecht erhalten wurde. (Zwischenrufe und Zischen) Von einem Teil der Studenten wird uns berichtet, daß sie aus diesem Grund die Vorlesung verlassen haben. (starker Beifall) (in: Wolff / Windaus 1977, 31). Auf solches, der Affektkontrolle entzogenes Verhalten referiert Peter Schneider, wenn er die „Bewegung, die sich vorgenommen hatte, eine ‚echte‘ Demokratie in Deutschland einzuführen“ als „alles andere als demokratisch“ schmäht: „Sie gehorchte dem Abstimmungsmodus der Akklamation bzw. des Buh-Geschreis in der Vollversammlung“ (Schneider 2008, 138). 30 Vgl. zu Normen und Regeln in der Kommunikation Kindt 2001: „Will ein Teilnehmer t1 in einer Kommunikation ein bestimmtes Ziel erreichen, dann setzt dies voraus, dass sich sein Partner t2 zumindest so weit kooperativ verhält, dass eine ausreichende Verständigung hinsichtlich der zu übermittelnden Sachverhalte zustande kommt. Generell bedeutet Kooperativität die Wahl von Verhaltensweisen und Strategien, die das Erreichen nicht nur individueller, sondern auch gemeinsamer Ziele garantieren. Die Kooperationsbereitschaft von t2 hängt wiederum vom Verhalten von t1 ab; insbesondere wird
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schließen lässt: Dissens ist das kommunikative Ziel der studentischen Akteure, indem sie dieser Interaktion den Charakter eines Streitgesprächs geben31 – das ist situationistisch geprägter Ritus der studentischen ProtestKommunikation Ende der 1960er Jahre und er steht im Widerspruch zu ihrem Anspruch demokratischer Kommunikation. Dieser Anspruch scheint von einem situativen Faktor, nämlich der Konstellation der Kommunikationspartner, abzuhängen: Er hat Gültigkeit nur bei symmetrischer Sprecherkonstellation, symmetrisch hinsichtlich Alter, Funktion und insbesondere hinsichtlich der politischen Haltung, die offensichtlich auf keinen Fall gegensätzlich sein darf. Bei asymmetrischer Konstellation bzgl. Alter und Funktion, also einer solchen, in der Studenten und Autoritäten aufeinander treffen, lässt sich, in Grice’scher Diktion die Kommunikationsregel formulieren: ‚Vermeide alles, was darauf schließen lassen könnte, dass Du einer Autorität mit Respekt und gutem Willen begegnest.‘32 Eine asymmetrische Sprecherkonstellation hinsichtlich der politischen Haltung liegt nicht nur vor, wenn Autorität und Subversion aufeinander treffen, sondern auch wenn ein Kommilitone gegen die linke Mehrheitsmeinung spricht. Hier gilt die Kommunikationsregel: ‚Behindere den Abweichler von der Mehrheitsmeinung durch Unterbrechungen, Ridikülisierung und Verweigerung des Rederechts derart, dass er keinen Anspruch mehr erhebt, weiterhin an der
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es t2 als Verstoß gegen soziale Regeln oder gegen seine Interessen einschätzen, wenn t1 die Unwahrheit sagt, sich nicht um die Verständlichkeit seiner Äußerungen bemüht oder zu redundant formuliert. Insofern handelt t1 zugunsten eigener Ziele strategisch zweckmäßig, wenn er die einschlägigen Kommunikationsmaximen befolgt. Deshalb können diese Maximen auch als kollektive Standardstrategien zweckrationalen Handelns gelten.“ (Kindt 2001, 1185) Zur strukturellen Präferenz für Dissens als Merkmal des Streitgesprächs vgl. Gruber 1996. Damit wird deutlich, dass „Situationen nicht klar umrissene, subjektunabhängig zu bestimmende, objektive Konstellationen [sind], sondern durch eine Thema-Horizont-Struktur gekennzeichnet, in der sowohl Erwartungen, Potentialitäten und Näherbestimmbarkeiten als auch Erinnerungen als horizonthafte Situationsgehalte mitgegeben sind. Situationen sind somit stets zeitlich strukturiert und weisen über sich selbst hinaus. Sie werden typisiert und auf der Basis von Kontinuitäts- und Sozialitätsidealisierungen aufgefaßt; dies geschieht auf der Basis des biographisch erworbenen Wissensvorrates“ (Deppermann / Spranz-Fogasy 2001, 1150). Diese Dynamik und Anpassungsfähigkeit bewirkt zudem, dass „Situationen nur in seltenen Fällen bestimmte Äußerungsformen erzwingen, sondern unterschiedlich breite Handlungs- und Aushandlungsspielräume bieten, die rhetorisch genutzt und prinzipiell auch überschritten werden können (Provokation, Komik, Revolutionen), was jedoch Sanktionen nach sich ziehen kann. Sprachliches Handeln muß diese Spielräume und Erfordernisse berücksichtigen, wenn verständlich und erfolgreich kommuniziert werden soll.“ (Deppermann / Spranz-Fogasy 2001, 1158) Die Diskussion der streikenden Studenten mit ihren Universitätslehrern ist ein Dokument für solche Überschreitung der Spielräume, indem diese die Diskussion dadurch beenden, dass sie sich als Kommunikationspartner entziehen.
5.1 Kommunikationskritik und kommunikative Praxis
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Diskussion teilzunehmen.‘ Diese Regel schafft unüberwindliche Interaktionsbarrieren. Ein Beispiel ist von der Vollversammlung am 7. Juni 1967 im Audimax der FU dokumentiert. Man steht ganz unter dem Eindruck der Erschießung Ohnesorgs, ein Student redet gegen die Mehrheitsmeinung: Es wurde vorher weiter behauptet, es solle jetzt alles darauf hinausgeschoben werden, daß ein Polizist für uns geopfert wird und an der Sache selbst, an den Prinzipien nichts geändert wird. Ich glaube, wir haben uns dagegen zu wehren. (Unruhe, Lachen) Sie erklären, daß Sie die Verwendung solcher Mittel für eine demokratische Demonstration für ungeeignet verabscheuen. (Pfeifen, Zwischenrufe, BuhRufe, Zwischenruf: Ihre Krawatte sitzt schief!) Als zweites möchte ich vorschlagen, darüber abzustimmen, um die Wiederholung solcher Ereignisse zu verhindern, daß wir folgenden Vorschlag annehmen: (rhythmisches Klatschen, Pfeifen. Zwischenruf des vorsitzenden Hameister: … bringen diese Resolutionsentwürfe am schnellsten hinter uns …) ich möchte … ich habe diese beiden Vorschläge gemacht … ich möchte das noch etwas erklären … (in: Wolf / Windaus 1977, 33f.)
In solchen so unerbittlich wie undemokratisch geführten Diskussionen, in solchen gewaltsamen Verletzungen der „demokratischen Spielregeln der Kommunikation“ (Scherpe 2000, 100) offenbart sich eine Hierarchie, die den Inhabern der Mehrheitsmeinung, des mainstream, die Herrschaft über die Vertreter der Minderheitenmeinung einräumt – diese erfahren die kommunikative Ausgrenzung aus der durch Meinungsanpassung geschaffenen Wir-Gruppe.33 Solche Beispiele mögen Anlass für Adorno sein, einen Niedergang der Diskussionskultur zu erkennen und den Grund dafür in dem Vorrang von Taktik über alles andere (Adorno 1969b, 770) zu sehen. Zwar fordere man allerorten Diskussion, zunächst gewiß aus anti-autoritärem Impetus, jedoch habe Taktik die Diskussion, übrigens wie Öffentlichkeit eine durchaus bürgerliche Kategorie, vollends zunichte gemacht (ebd.). Die von Adorno analysierte Situation entspricht dem Gegenteil von herrschaftsloser Kommunikation: Jeweils dominierende Cliquen haben vorweg die von ihnen gewollten Ergebnisse parat. Die Diskussion dient der Manipulation. Jedes Argument ist auf die Absicht zugeschnitten, unbekümmert um Stichhaltigkeit (ebd. 770f.). Das Prädikat antiautoritär spricht Adorno solcherart geführten Diskussion ab: Hinter der Technik waltet ein autoritäres Prinzip: der Dissentierende müsse die Gruppenmeinung annehmen (ebd. 771). – Solches Kommunikationsverhalten gegen den oben rekonstruierten, von den Aktivisten selbst erstellten Diskussionsbegriff, der ein Ideal kodifiziert, wird übrigens auch im Binnendiskurs thematisiert und als Verstoß bewertet. Es gibt m.a.W. ein Segment ‚Diskussionskritik‘, und was als Ideal behaup-
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Vgl. zur Identifikationsfunktion von Diskussionen auch Verheyen 2007.
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tet wird, gerät hier zum Monitum, wenn diesem Ideal nicht entsprochen wird: Defizitäres kommunikatives Verhalten innerhalb der Organisation des SDS, die kommunikative Verfehlung der Adressaten, an die die Botschaft der Protestbewegung gerichtet ist, sind die Gegenstände dieses Diskurssegments. Freerk Huisker z. B. kritisiert die kommunikativen Defizite innerhalb des SDS, die sich manifestierten in der Komplexität der Argumentation von Autoritäten des SDS-Bundesvorstands34, in der Reaktion seiner Vertreter auf unerwünschtes Verhalten von Genossen35, in kommunikativen Sanktionsmechanismen36, in fehlender Kommunikation der Beteiligten mit ihren Folgen37 und den aus diesem Defizit resultierenden Wünschen38. Schließlich wird das Redeverhalten des Gen. Krahl exemplifiziert, der […] auch unter Hinweis auf die Autoritätsproblematik – mit rhetorischer Zirzensik neue Schlagwörter wie Köder auswarf, in der Hoffnung, die Anrufung der „individuellen Autonomisierung“ und eine „Repolitisierung des BV [Bundesverband]“ könnten die „dilemmatische“ Situation verbessern, und erkennen mußte, daß niemand so recht anbiß (Huisker 1968, 126).
In diesem grundsätzlichen und äußerst kritischen Beitrag zur Situation des SDS beschreibt Freerk Huisker die oft mangelhafte Umsetzung von Entscheidungen in die Praxis nicht zuletzt als Kommunikationsproblem, das
34 […] die Argumentationen, die zu Entscheidungen führten, [konnten] wohl ad hoc mitvollzogen, jedoch vielfach nicht in dem Maße weiterreflektiert werden …, daß der praktische Vollzug als Umsetzung fundierter rationaler Argumentation auszuweisen war. Z. T. wird diese Misere von den „Autoritäten“ selbst gesehen. (Huisker 1968, 120) 35 […] verlieren aber die Geduld, wenn sich nicht sofort die erhofften Erfolge einstellen, und zerstören dann durch Kundgabe ihres Unmutes wiederum den Lernprozeß, den sie eigentlich initiieren wollten. (Huisker 1968, 120) 36 SDS-intern ähnliche Sanktionsmechanismen … wie im Studienbetrieb: Beifalls- und Mißfallenskundgebungen jeder Schattierung und weitgehend irrationaler Art, verbale Wertungen etc. (Huisker 1968, 120) 37 Weder gelang es dem BV die Kommunikation mit und zwischen den Gruppen zu initiieren, noch gelang es den Gruppen von sich aus, die Verbindung zum BV in relevanter Weise herzustellen. … Konkurrenzkampf wurde nicht, wie es vernünftigerweise hätte geschehen müssen, ausgetragen als politische Diskussion zwischen verschiedenen Gruppen, in denen sich unterschiedliche ideologische Positionen herausgebildet hatten. Dies konnte auch gar nicht geschehen, da einfach die Möglichkeiten einer dafür notwendigen intra- und interregionalen Diskussion nicht gegeben waren. An die Stelle einer horizontalen Diskussion der politischen Praxis traten Machtkämpfe hinter den Kulissen. (Huisker 1968, 122) 38 […] teilnehmen an Diskussionen über divergierende Positionen verschiedener Fraktionen des Verbandes. … Obendrein müßten solche Diskussionen wesentlich häufiger stattfi nden … notwendig ist eine thematisch orientierte Kommunikation … Kommunikation zwischen Gruppen bzw. Projektgruppen sollte nicht allein zu unverbindlichem Erfahrungsaustausch führen, sondern in der Erarbeitung verbindlicher Strategie für Projekte (aus jeweils einer der drei genannten Projektarten) münden. (Huisker 1968, 125)
5.2 Sprachkritik und Kritik der Sprachkritik
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zeigt, daß etwas faul ist. Diese Bewertung lässt auf alles andere als auf demokratische Formen der Kommunikation schließen.39 Vielmehr bestätigt sie, was als Argument der (bereits zeitgenössischen) Gegner der APO und des SDS, der studentischen Protestbewegung überhaupt geltend gemacht wird: Die Protagonisten waren kommunikativ inkompetent, asozial, autoritär – und damit unglaubwürdig hinsichtlich ihres Demokratie-Konzepts, welches nur Schein und Vehikel war bei dem Versuch, die Gesellschaft radikal zu verändern.
5.2 Sprachkritik und Kritik der Sprachkritik Habermas lobt die neuen, provokativen, die mißverständlichsten, aber publizistisch auffälligsten Protesttechniken. Sie […] durchstoßen die Kruste falscher Terminologien und rühren den Brei des offiziösen Sprachgebrauchs um, sie erweisen akademischen Ehrensenatoren die Ehre, die ihnen gebührt, sie begehen Sakrilege an Heiligtümern, die handfest profan sind, sie geben falsches Pathos der Lächerlichkeit preis und nennen Mief, was Mief ist.40 (Habermas 1968d, 180)
Habermas lobt damit die sprach- und kommunikationskritische Haltung der am Protestdiskurs beteiligten studentischen Aktivisten und bezieht sich auf ein sprachliches Verhalten, das in der Sprachgeschichte der Nachkriegszeit bereits gewürdigt wurde.41 Sprachkritik, also mit Sprache etwas über Sprache aussagen und bewerten (nach Schiewe 1998, 14), ein sprachliches Sol-
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Bekannt ist, dass auch „die sogenannte Dutschke-Rabehl-Fraktion … weder Wert auf bürokratisch geordnete noch auf demokratisch geregelte Entscheidungsprozesse“ legte (Frei 2008, 103). 40 Aus der Perspektive des kritischen Rückblicks stellen sich Gerd Koenen solche die Konventionen durchbrechende Praktiken als „Züge von Bilderstürmerei“ dar. „Zeremonielle Feierlichkeiten wie Rektoratseinführungen, Preisverleihungen, Theaterpremieren, Festkonzerte und ähnliches zogen fast unweigerlich Störaktionen auf sich, erst recht, wenn Amtsornate oder sonstige Traditionselemente mit ins Blickfeld kamen.“ (Koenen 2002, 133) 41 „Der Wendepunkt auf dem Weg von der publizistisch-feuilletonistischen Sprachkritik (und deren Kritik durch Sprachwissenschaftler) zur gegenwart- und zukunftsbezogenen politischen sprachkritischen Praxis war das sprachkritische Verhalten der 1968er Studentenbewegung und der mit ihr zusammenhängenden neulinken, alternativen, pazifistischen, ökologischen und feministischen Gruppenaktivitäten im politischen Alltag der alten Bundesrepublik … In den Aktivitäten der neuen linken Gruppen seit 1968 wurden die diskursiven Aktionsformen des Hinterfragens, Umfunktionierens, Verunsicherns, der Lernstrategien mit den sprachkritischen Mitteln der systematischen Umdeutung und des zweideutigen Gebrauchs üblicher Wörter sowie des Einführens alternativer Ausdrücke realisiert. Sprachkritisches Verhalten wurde zu einem Teil der
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len formulieren42 ist sprachliches Handeln, das dem kritischen Denken vollkommen entspricht und in den Kontext der Referenztheorie zu stellen ist: Einer ihrer hohen Werte ist Wahrheit und Wahrhaftigkeit, einer ihrer zentralen sprachkritischen Gegenstände ist die Sprache der Nationalsozialisten, die Adorno dem ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ zuweist – wir kommen darauf zurück. So erklärt sich die Skandalisierung der Presse- und Politikersprache, wie sie Oskar Negt vorträgt: Wer die Darstellung der Studenten in Karikaturen der Springer-Presse, wer mit Aufmerksamkeit die Entwicklung der politischen Sprache führender Politiker verfolgt hat, der hat feststellen müssen, daß der biologistische Jargon der Nazis nicht nur bei der NPD nachlebt; zur Kriminalisierung ist die Biologisierung politischer Oppositionsgruppen getreten, deren einzelne Mitglieder an äußeren Merkmalen, neben der Kleidung an den Gesichtszügen, erkennbar werden. (Negt 1968a, 15)
Erstes Objekt der Sprachkritik ist die hohe Präsenz des NS-Vokabulars und dass der politische Gegner der bürgerlichen Presse, also die studentische Linke, mit umgangssprachlichen, jargonalen und jedenfalls diskriminierenden Stereotypen belegt wird, die Aggressionen weckender Meinungsmanipulation gleichkommt, dokumentiert zitierend die Sprachkritik eines Autors, der diesen Zeitungsstil mit der Überschrift seines Beitrags – Anmerkungen zur Taktik der formierten und faschistoiden Presse West-Berlins – ebenfalls dem nazistischen Syndrom zuweist: Die „Berliner Morgenpost“ befand, die Demonstration gegen den Besuch des Schah in West-Berlin sei das Werk „hysterischer Rudel akademischer Halbstarker, geschulter kommunistischer Straßenkämpfer und amüsierter Nichtstuer“ gewesen und forderten dazu auf, „diese Krawallradikalen zum Tempel hinauszujagen“. … Die bisherige Methode, die „radikale Minderheit an der FU“ als „Störenfriede, Schreihälse, akademische Kampftruppen, Radaubrüder“ (Morgenpost), „Wirrköpfe, Radikalinskis, Knalltütenkorps“ (Bild-Berlin), „gemeingefährliche Radikale, neurotische Besserwisser“ (BZ) sowie „Narren und Wölfe“ (Telegraf) darzustellen, hatte zwar die Redeweise des Regierenden Bürgermeisters („Radaubrüder, Rüpel, Verrückte und Böswillige“) beeinflußt, die Studenten der FU unter dem noch frischen Eindruck von Gummiknüppeln, Fußtritten gegen den Kopf und Pistolenschüssen jedoch enger zusammengeschlossen. (Heinemann 1967)
Als Impulsgeber dieser kritischen Sprachhaltung können zum einen Theodor W. Adorno, zum andern Herbert Marcuse gelten. Hohes Sprachbewusstsein und Sprachkritik sind Manifestationen des kritischen Denkens der Frankfurter Schule. Zwar würde man natürlich zu
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politischen Praxis, zum Mittel der alternativen Entwicklung von Politiksprache“ (v. Polenz 1999, 322f.). „Sprachkritik hat es mit dem Sollen von Sprache zu tun“ (Schiewe 1998, 14).
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weit gehen, wenn man behauptete, die Kritische Theorie sei auch eine Sprachtheorie. Dass sie jedoch, als Gesellschaftstheorie, auch eine dem gesellschaftlichen Phänomen Sprache, eine dem Sozialcharakter der Sprache zugewandte Theorie ist, belegt nicht erst Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns der 1980er Jahre, sondern bereits die sprachkritische Disposition, die sich in Adornos und Marcuses Werk niederschlägt. Hinzu kommt: Adorno ist, wie wir wissen, nicht der einzige Remigrant, den die Sprache zurück holt. Insofern ist sein Sprachbewusstsein, sein Sprachdenken auch auf diese Erfahrung der sprachlichen Enteignung zurückzuführen. In den Minima Moralia benutzt Adorno dieses Bild: „Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog.“ (Adorno 1944, 32) Enteignung hat die beiden Hauptmotive, die wissenschaftliche Perspektive der Kritischen Theorie und den Forschungsgegenstand der Gegenwartsgesellschaft, ergänzt. Als „Zurückkehrender, der die Naivetät zum Eigenen verloren hat“ (Adorno 1965, 701) habe er Wachsamkeit und eine innige Beziehung zur deutschen Sprache entwickelt. ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ ist nicht zuletzt ein Ergebnis dieser besonderen Emigrantenbefindlichkeit. Dieser Essay ist eine Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Sprachkritik, die sprachkritische Überzeugungen und Erkenntnisse der Kritischen Theorie bündelt, und die der Remigrant außerdem dem Konto Emigrationserfahrung gutschreibt (ebd. 701). Was ist Gegenstand des Essays? Weil ich der Sprache als einem Konstituens des Gedanken soviel Gewicht beilege wie in der deutschen Tradition Wilhelm von Humboldt, dränge ich sprachlich, auch im eigenen Denken, auf eine Disziplin, der die eingeschliffene Rede nur allzu gern entläuft. (Adorno 1965, 701)
„Disziplinlosigkeit der eingeschliffenen Rede“, wir können auch sagen: gedankenloses Geschwätz in sprachlichen Fertigteilen ist Adornos Motiv. Indes: Derart motivierter Sprachkritik liegt eine sprachliche Verfallstheorie zugrunde – der Jargon füllt die Lücke aus, welche der gesellschaftlich notwendige Zerfall der Sprache schuf lesen wir (Adorno 1964, 43). ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ erscheint 1964, von Adorno zunächst im Zusammenhang mit der 1966 herausgekommenen ‚Negativen Dialektik‘ konzipiert, dann aber von ihr als eigenständige Studie abgetrennt. ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ ist ein sprachkritisch formulierter und ideologiekritisch gemeinter Essay. Als Ideologiekritik ist er gegen Heideggers Zweideutigkeit, gegen Jaspers‘ Positivität und gegen Bollnows Seinsbejahung geschrieben, die der Jargon erlaube: Jaspers’ und Heideggers „Philosopheme“ brächten zutage, wovon der Jargon zehrt und was nicht ausdrücklich
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zu sagen einen Teil seiner Suggestivkraft ausmacht. (Adorno 1964, 138) Als sprachkritisches Aufklärungswerk ist die Studie motiviert in Adornos Lebensthema und verdichtet in der Überzeugung: Die Sprache gewährt ihm Asyl; in ihr äußert das fortschwelende Unheil sich so, als wäre es das Heil (ebd. 9). Ihm – das ist, natürlich, möchte man sagen, der Faschismus. Es ist dies ein kritisches Sprachkonzept, das mit der manipulativen Kraft von Sprache den Nationalsozialismus erklärt, etwa in einem Satz wie Der Überschuß im Wort Begegnung, die Suggestion, es ereigne sich bereits etwas Wesenhaftes, wenn Hinbestellte sich unterhalten, hat ebenso jene Täuschung zum Kern wie die Spekulation auf Hilfe im Wort Anliegen. (Ebd. 67) Adorno denkt, wie wir sehen, über Bedeutungsstrukturen nach und verweist auf den von ihnen verursachten Evokationsprozess, mit dem – manipulierend – gerechnet wird. Zentrale, die Sprachkritik betreffende Gedanken dieses Werks lassen sich wie folgt skizzieren: Der Jargon herrscht allenthalben und ist institutionalisierte Redeweise in Philosophie, Theologie und Pädagogik, in Volkshochschulen und Jugendbünden, er stellt sich dar als gehobene Redeweise von Deputierten aus Wirtschaft und Verwaltung (ebd. 9). Er besteht aus einer geringen Anzahl signalhaft einschnappender Wörter (ebd.), wie z. B. Entscheidung, Echtheit, Auftrag, Anruf, Begegnung, Gespräch, Aussage, Anliegen, Bindung – Adorno stört der Widerspruch dieser Edelsubstantive und banalen Wörter (ebd.): Während er [der Jargon] überfließt von der Prätention tiefen menschlichen Angerührtseins, ist er unterdessen so standardisiert wie die Welt, die er offiziell verneint (ebd.). Inhaltsloser Wortgebrauch sei Merkmal des Jargons, rücksichtslose Ignoranz gegenüber dem, was wir historische Semantik nennen. Jargonwörter klingen unabhängig vom begrifflichen Inhalt …, wie wenn sie ein Höheres sagen, als was sie bedeuten (ebd. 11). Seinen Ort hat der Jargon in einer Gesellschaft …, die sich als eigenes Volk von Mittelständlern verkennt und das von einer Einheitssprache sich bestätigen läßt, der für Zwecke des kollektiven Narzißmus der Jargon der Eigentlichkeit hochwillkommen ist (ebd. 20). Die nüchterne Sprache Kafkas sei vollkommenes Widerspiel zum Jargon (ebd. 69), während Rilke einer seiner Stifter sei (ebd. 71). Der in ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ formulierte Anspruch ist die Identität zwischen sprachlichem Ausdruck und dem von ihm Bezeichneten. Sprache und Wahrhaftigkeit sind in Adornos Ethik eins: „Wenn die Menschheit bis heute noch nicht mündig ist, so bedeutet das im buchstäblichen Sinn, dass sie bis heute noch nicht hat sprechen können“ schreibt er am 2. November 1941 an Horkheimer. Es falle ihm schwer, „zu verstehen, dass ein Mensch, der spricht, ein Schurke sein oder lügen soll“. Dies widerspräche dem
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„Wahrheitsanspruch der Sprache“ (zit. nach Müller-Doohm 2008, 411). Es ist dieser Wahrheitsanspruch Adornos, der seine Philosophie methodisch zur begrifflichen Reflexion geraten lässt und der die Unwahrhaftigkeit gesellschaftlichen Seins als Unwahrhaftigkeit gesellschaftlichen Redens erkennt. In seiner Studie ‚Der eindimensionale Mensch‘43, in der er die ‚Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft‘ (Untertitel) untersucht, beschreibt Marcuse in einem Kapitel ‚Die Sprache der totalen Verwaltung‘. Es ist dies eine prinzipiellere Sprachkritik: nicht auf den Nationalsozialismus bezogen, sondern auf Eindimensionalität, ein strukturelles Phänomen, welches die sprachliche Erscheinungsform der gegenwärtigen (nordamerikanischen) Gesellschaft überhaupt präge.44 Gegenstand von Marcuses Sprachkritik, die sich u. a. auf Orwells Sprachutopie bezieht, ist das Universum der öffentlichen Sprache, die das Herr-Knecht-Verhältnis und die Aporien der modernen Gesellschaft zudecke: eine Sprache des Befehls, immunisiert gegen Widerspruch, der Differenzierung nicht fähig, Begriffsentwicklung und begriffliches Denken verhindernde Sprache der Eindimensionalität. Marcuse nennt sie die vereinheitlichte, funktionale Sprache, eine unversöhnlich antikritische und antidialektische Sprache, in der die operationelle und verhaltensmäßige Rationalität die transzendenten, negativen und oppositionellen Elemente der Vernunft verschlinge (Marcuse 1967a, 116), eine geschichtslose Sprache, die das Falsche in Wahrheit verwandelt. Sie ist die Sprache der autoritären Herrschaft, die nicht alternative Lebensweisen zulässt, sondern nur in den alternativen Techniken der Manipulation und Kontrolle erscheint (ebd. 121f.). Ihr steht entgegen die Sprache des kritischen Bewusstseins. Die ist die Sprache der Erkenntnis, die das geschlossene Universum der Sprache und seine versteinerte Struktur aufbricht (ebd. 119).45 Später und
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Sie erschien 1964 unter dem englischen Titel ‚The One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society‘, 1967 als deutsche Ausgabe und war einer der zentralen Referenztexte der linken Diskursbeteiligten. 44 Auch der Einfluss Marcuses, den er mit dieser Sprachkritik hatte, wurde von der Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts bereits gewürdigt: Die sprachkritische Haltung der 68er „wurde angeregt durch ein revolutionär-kulturkritisches Theorem von Herbert Marcuse in Der eindimensionale Mensch (1964) und Versuch über die Befreiung (1969): Mit ‚eindimensionaler‘ Sprache übe das ‚Establishment Repression‘ aus, da diese nur ‚funktionale Sprache‘ kein veränderndes Potenzial enthielte und semantisch keine Veränderung der Wirklichkeit zuließe. Für die ‚große Weigerung‘ empfahl er eine ‚linguistische Therapie‘, mit der das herrschende Vokabular von der ‚nahezu totalen Entstellung ihres Sinns‘ und ‚seiner falschen Neutralität‘ befreit werde“ (v. Polenz 1999, 322f.). 45 In diesem Sinn konzipiert die Basisgruppe des ‚Walter-Benjamin-Instituts‘ den Gegenstand einer Gegen-Germanistik – sie muss sich von der herrschenden Rationalität ka-
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an anderer Stelle deckt Marcuse politische Linguistik, den Schutzpanzer des Establishments (Marcuse 1969, 110), auf und bezeugt damit seine Überzeugung von der Wirklichkeit schaffenden Kraft von Sprache, die den Feind nicht nur definiert und verdammt …, sie erzeugt ihn auch; und dieses Erzeugnis stellt nicht den Feind dar, wie er wirklich ist, sondern vielmehr, wie er sein muß, um seine Funktion für das Establishment zu erfüllen (ebd. 110f.). Es folgen Beispiele für die bekannte Strategie Wirklichkeit konstituierender politischer Lüge, die z. B. Verbrechen nicht mehr Verbrechen nennt, wenn sie der Erreichung der eigenen politischen Ziele dienen, die den Feind sprachlich a priori diffamiert. In der historischen Einordnung geriete diese sprachliche Gegenwart zu einer seit dem Mittelalter erstmals wieder auftretenden Erscheinung.46 Als politische Strategie der Manipulation wertet Marcuse exemplarisch den Gebrauch der Bezeichnung Gewalt(tätigkeit) und ihren manipulierend eingeschränkten Referenzbereich: Im etablierten Vokabular ist „Gewalttätigkeit“ ein Begriff, der sich nicht auf die Handlungsweise der Polizei, der National Guard, der Polizeidirektoren, Marineinfanteristen und Bomberpiloten anwenden läßt. Die aus diesem Sachverhalt resultierende Erkenntnis, dass die „bösen“ Wörter … a priori für den Feind reserviert [sind], dass ihr Sinn … durch die Aktionen des Feindes unbeschadet ihrer Motivation und ihres Ziels definiert und bestätigt werden (Marcuse 1969, 108f.), ist ein Kernstück der politischen Linguistik Marcuses. Die sprachkritische Haltung in den 1960er Jahren ist eine Disposition, die mit diesen beiden sprachkritischen Werken Adornos und Marcuses zum einen Ausdruck, zum andern Motiv und Vorbild hat. Sie müssen einer funktionsorientierten pragmatischen Linguistik natürlich verdächtig sein. Jedoch – dieses Sprachdenken steht im Dienst der Aufklärung und beruht auf der Idee: Sprache ist eine Entsprechung gesellschaftlicher Zustände, Sprache und Gesellschaft bedingen einander, die Unmenschlichkeit der Gesellschaft bildet sich auf der „Unmenschlichkeit“ der Sprache ab – eine seit den Erkenntnissen über die manipulative Kraft der nationalsozialistischen
pitalistischer Verwertung emanzipieren, jener Öffentlichkeit die Sprache entreißen, die als Verdrängungsinstanz fungiert, Interessen und Sachverhalte deformiert und das Bewußtsein den Herrschafts- und Eigentumsverhältnissen anpaßt, die also insgesamt Zwangsgewalt in sublimer Gestalt reproduziert gegen kritische Erfahrung und politische Aufklärung. (Basisgruppe Walter-Benjamin-Institut 1968, 164) 46 Seit dem Mittelalter vielleicht hat sich akkumulierte Repression noch nicht wieder in solch weltweitem Ausmaß in organisierter Aggression gegen jene außerhalb des repressiven Systems entladen – gegen die ‚Außenseiter‘ drinnen und draußen. (Marcuse 1969, 114)
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Sprache weit verbreitete Konzeption, die bereits die Sprachkritik der frühen Nachkriegszeit bestimmte. Die beiden Werke stehen in ihren sprachkritischen Passagen insofern in dieser Tradition von ‚LTI‘, ‚Wörterbuch des Unmenschen‘ und ‚Sprache in der verwalteten Welt‘ (von Karl Korn wissen wir, dass Adorno ihn kannte und schätzte). Sie treffen sich konzeptionell nicht zuletzt in der für solche Fälle angstmotivierter Sprachkritik approbierten Krankheitsmetaphorik: Auch wer den Jargon verabscheut, ist nicht sicher vor der Ansteckung; desto mehr Grund zur Angst vor ihm (Adorno 1964, 68) lesen wir bei Adorno (Klemperer spricht vom „Gift der LTI“). Die professionelle Sprachkritik hat diesem Sprachdenken den Topos von der unschuldigen Sprache korrigierend (und vergeblich) entgegenzuhalten versucht.47 Die sprachkritischen Konzeptionen Ende der 1960er Jahre erklären die verhüllende Kraft von Sprache, die euphemistische Lüge und Unwahrhaftigkeit, die Fähigkeit, mit verschleierndem Reden Wirklichkeit zu schaffen. Diese Sprachtheorie entspricht dem Denken der studentischen Linken: Sprache ist Herrschaftsinstrument und Machtmittel. In diesem Sinn bezeichnet etwa Wolfgang Lefèvre die Erklärungen der politischen Instanzen zum 2. Juni als Verschleierungsmanöver, als an Zynismus kaum überbietbar.48 Der Autor verweist dabei auf zwei mögliche, aber zu verwerfende Interpretationen der Wirklichkeit vom 2. Juni: Danach scheidet eine Interpretation, die in durchgehenden Nerven einzelner Beamter Erklärung sucht, ebenso aus wie die Annahme, die politischen Instanzen seien ohne Kenntnis vom Schlachtplan der Polizeiführung gewesen, wenngleich sicherlich die Details des Plans den politischen Instanzen tatsächlich nicht bekannt gewesen sein dürften. (Lefèvre 1967a, 12)
In sprachkritischer Attitüde imitiert und zitiert der Autor dann Polizeijargon: Der tote Student wird sicherlich auch von der Polizeiführung als peinliche „Panne“ angesehen, weil dadurch das ganze Unternehmen „Füchsejagen“ – so der polizeiinterne Titel der Aktion – auffliegen kann (ebd. 12). Diese Konstruktion des 2. Juni ist als Diskurssegment bestimmt von der Grundidee der studentischen und intellektuellen Linken. Diese Grundidee lautet ausformuliert: „Die Herrschenden schaffen mit ihren Konstruktionen eine Wirklichkeit, die dazu dient, Macht auszuüben, Verfehlungen zu camouflieren, Verantwortung abzuwehren.“ Sprachkritik in den 1960er Jah-
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Vgl. dazu den in Sternberger / Storz / Süßkind (1986) dokumentierten Streit über die Sprachkritik (S. 225ff.). 48 Der grobe Ablauf des Massakers vor der Oper am Abend des 2. Juni ist … bekannt, weitgehend auch die Verschleierungsmanöver und die an Zynismus kaum überbietbaren Erklärungen der politischen Instanzen. (Lefèvre 1967a, 11f.)
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ren, Nachdenken über Sprache, Kommentieren von Sprachgebrauch, Analysieren begrifflich-semantischer Strukturen sind typische Handlungen der studentischen und intellektuellen Linken, mit denen sie ausdrücken: Sprache und Sprachkritik ist ein wesentliches Element eines Demokratiekonzepts, das auf das Wort, auf die Rede, auf diskutierend errungenen Konsens, auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit setzt.49 Sprachliche und kommunikative Fehlleistungen werden entsprechend verstanden als Ausdruck defizitärer Demokratie, umgekehrt versteht man die Ansprüche an Sprache und Kommunikation als Ideal praktizierter Demokratie. Habermas’ kategorischer Kommunikationsimperativ und das hohe Niveau sprachlichen Bewusstseins sind in der Vorstellung der Zeitgenossen demokratische soziale Praktiken; sie sind Stile und Erscheinungsweisen von Kritik als Lebensform. Solche Sprachgebrauchskritik, die stilistische oder inhaltliche Motive hat und sich auf konkrete Texte bezieht, unterscheidet sich von einer Art Begriffsarbeit, die nicht in wie immer bewertetem tatsächlichem Gebrauch motiviert ist, sondern in der – von der Sprachkritik seit es sie gibt gestellten – Frage, welche Relation zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem bestehe. Diese Relation wird auf unterschiedlichen Ebenen reflektiert, immer aber als offensichtlicher Versuch, Sprache und Wirklichkeit ins Verhältnis zu setzen. „Studentenbewegung“ – schon die Bezeichnung ist ideologisch und abfällig; sie verbirgt die Tatsache, daß durchaus wichtige Teile der älteren Intelligenz und der nicht-studentischen Bevölkerung aktiv an der Bewegung teilnehmen. (Marcuse 1969, 90f.) Herbert Marcuse reklamiert mit dieser Begriffskritik eine Übereinstimmung zwischen Ausdruck und Inhalt, zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem und dokumentiert auch damit: Sprachkritik entspricht der Vorstellung von der Macht der Sprache als Wirklichkeit konstituierender Faktor. Diese Vorstellung schlägt sich nicht zuletzt in Ambitionen nieder, Sprache und Wirklichkeit in ein Entsprechungsverhältnis zu bringen. Sprachkritik hat also das seit der Aufklärung gültige und u. a. von Karl Marx weitergedachte konstruktivistische Paradigma zur Voraussetzung: Wertsetzungen, Weltansichten, Aussagen über Welt haben gesellschaftliche Grundlagen. Voran geht die von Immanuel Kant formulierte Maxime: „alle seine [des Verstandes] Vorstellungen und Begriffe sind bloss seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstand ur49
Sie führen „semantische Kämpfe“ – so der Titel von Ekkehard Felder, der (zwar in Bezug auf Fach-, bzw. Expertendiskurse, aber verallgemeinerbar) ihrer drei unterscheidet: Ausdruckskonkurrenz von Benennungen und Bezeichnungen, Bedeutungsfixierungsversuch (der Bedeutungsaspekte akzentuiert) und Sachverhaltsfixierungsversuch (der die Anpassung eines Sachverhalts der Lebenswelt im Zuge eines Referenzakts bezeichnet) (vgl. Felder 2006, 36f.).
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sprünglich, und er erschafft sich also seine Welt.“ (Kant 1787, 71) Voran geht auch Wilhelm von Humboldts Konzept von der Sprache als „das bildende Organ des Gedanken“ (Humboldt 1827–29, 191). Mithin: Welt ist nur durch Sprache vermittelt. Die Ausgangsvorstellung der modernen Wissenssoziologie lautet entsprechend: „Indem der Mensch sich entäußert, errichtet er die Welt, in die hinein er sich entäußert. Im Prozeß seiner Selbstentäußerung projiziert er seinen subjektiv gemeinten Sinn auf die Wirklichkeit.“ (Berger / Luckmann 1965, 112) Der Erfinder und Repräsentant der deterministischen These, dass das (gesellschaftliche) Sein das Bewusstsein bestimmt, ist in dieser Überzeugung freilich nicht wiederzufinden. Vielmehr ist hier mit dem wissenschaftlichen, dialektisch und differenzierter denkenden Marx (und Engels) zu argumentieren, der von der gegenseitigen Bedingtheit von „Umständen“ und „Menschen“ überzeugt war.50 An dieser Idee orientiert sich Dutschke mit seinem Leitsatz Geschichte ist machbar, an dieser Idee orientiert man sich auch, wenn man mit der sprachlichen Konstruktion von Wirklichkeit argumentiert.51 Die kommunikative Praxis der Begriffsanalyse zielt auf die Vereinbarung von Sprache und Wirklichkeit, von Bezeichnendem und Bezeichnetem. Das Motiv wird in dem Marcuseschen Postulat von der Notwendigkeit einer neuen Sprache zur Schaffung einer neuen Gesellschaft zu finden sein.52 Zum andern weist Marcuse dem Souverän Sprachbenutzer ein Hoheitsrecht über Wortdefinitionen zu: Es gebe Rechte des Souveräns durchsetzbare Definitionen von Wörtern festzulegen. Diese Vorstellungen sind die Grundlegung für eine Strategie, bei der die Wirklich-
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In der ‚Deutschen Ideologie‘ etwa äußern Marx und Engels ihre Überzeugung, dass „die Umstände ebenso sehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen.“ (Marx / Engels 1846, 27 und 38). Wolfgang Müller etwa rezensiert in diesem Sinn in der ‚neuen kritik‘ vom Februar 1969 das soeben erschienene Werk ‚Marxistische Wirtschaftstheorie‘ von Ernest Mandel. Diese Rezension hat die Form einer Begriffsanalyse, die mit der Wirklichkeit schaffenden Kraft von Sprache argumentiert: Da alle Kategorien bloß Daseinsweisen einer bestimmten, historischen Gesellschaftsform sind, ist in ihnen, in ihren inneren Zusammenhängen und Widersprüchen, in ihrer Bewegung die wirkliche Entstehung und Geschichte dieser Gesellschaft resümiert. Umgekehrt gibt es keine Möglichkeit, die nackten Tatsachen objektiv zu registrieren. (Müller 1969, 76f.) Insofern sei auch der Marxsche Begriff der Kategorie im Sinn des Konstruktivismus weder idealistischdialektische[r] Begriff, also im Sinne einer Identität von Subjekt und Objekt, noch Abbild[…] „der Realität, die kontemplativ-abgeschiedenen Beobachtern nackte Tatsachen ‚beschreib[t]‘“. Vielmehr seien die Kategorien, in denen die Wirklichkeit begriffen wird, … immer historisch – und also wandelbar. „[1968 fand] ‚die deutsche Revolution‘ im Wort statt: … eine Revolution [kann] nur gelingen …, wenn ihr eine Revolution der Sprache vorausgeht. ‚keine neue Welt ohne neue Sprache‘, so heißt es im Tagebuch des Ich-Erzählers in Ingeborg Bachmanns ‚Das dreißigste Jahr‘.“ (Kopperschmidt 2001, 104)
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keit zum Wort zu bringen ist: die brutale Wirklichkeit [verlangt] eine Neubestimmung der Begriffe. Entsprechende Formulierungen zeigen: Man redet wissenschaftlich-kategorienbezogen, Begriffsanalysen sind obligatorische kommunikative Konstituenten, sie schaffen die kommunikativ-semantischen Verstehensvoraussetzungen.53 Solches begriffsanalytische Reden ist als eine zeittypische Erscheinung kommunikativ-semantischen Handelns zu beschreiben, was späterhin als Phänomen insbesondere der 1970er Jahre als „Streit um Worte“, als „Begriffebesetzen“ beschrieben und vor allem von der konservativen nicht-professionellen Sprachkritik geschmäht und skandalisiert wurde.54 Hohes Sprachbewusstsein und ein an der Aufklärung geschultes wissenschaftliches Bemühen um semantische Präzision – es ist nochmals auf Adorno zu verweisen. Seine Redeweise mag hier Vorbild sein. Seine Interviews, Erörterungen oder Darlegungen sind stets ausgestattet mit begrifflichen Analysen, Analysen von semantischen Strukturen, von inhaltli-
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Die hoch frequente Okkurrenz der Kategorie ist evident: Tauchen die Begriffe der Rationalisierung, der Formierung und der Konzertierten Aktion auf; Die Selbstbewegung des Begriffs der Warenform; in dem häufig gebrauchten Begriff der ‚technologischen Gesellschaft‘ Ausdruck gefunden; Fällt der revolutionäre Begriff der Freiheit mit der Notwendigkeit, die nackte Existenz zu verteidigen, zusammen; sich kritisch mit dem Begriff der Wertfreiheit auseinandersetzen; Darum der Begriff der Gegenöffentlichkeit; Wenn der Begriff der Solidarität noch einen Stellenwert hat … der psychologisch entsprechende Begriff zum Begriff der Solidarität ist der der Identifikation; den Begriff der Personalisierung als einen politischen Begriff in die Soziologie eingeführt; Über den Begriff der Autorität ein paar Worte … Für eine kritische Theorie der Begriff der Autorität nicht zu personalisieren; Den Begriff der akademischen Freiheit streng nimmt; Begriff der Revolution; an dem Begriff der absoluten Vernunft Kritik üben; Die gegenwärtige Diskussion um den Autoritätsbegriff kreist; Vor 1–2 Jahren unmöglich, den Begriff der ‚Bewegung‘ ohne Assoziation des Faschismus in den Mund zu nehmen; Schwierigkeiten in politischen Begriffen gerechtfertigt; Begriffe Staat und Nation vieldeutig; Das Ideal wird in operationelle Begriffe übersetzt; Begriff ‚ästhetisch‘ in seinen beiden Bedeutungen; mit dem Begriff der Politik ein Element des Unbedingten, Kompromißlosen des Moralgesetzes; Wo der Begriff die Realität nicht durchdrungen hat. 54 Zum Beispiel Heinrich Dietz, der als immer deutlicher werdendes Phänomen beschreibt, „wie eindeutig erscheinende Begriffe umfunktioniert, neu normiert, kostümiert und programmiert werden“ (Dietz 1975, 20), z. B. Kurt Sontheimer, der meint zu erkennen, dass „politische Grundbegriffe [wie Freiheit und Gleichheit] … in der linken Theorie normativ übersteigert und dann kritisch gegen die bestehenden Verhältnisse gewendet“ werden (Sontheimer 1979, 55). Diese Sprachstrategie ist aber auch beschreibbar als Ausdruck eines um begriffliche Präzision bemühten hohen Sprachbewusstseins, die Ursprünge des „Begriffebesetzens“ sind insofern nicht ausschließlich in der ideologischen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner zu suchen. Vgl. dazu auch den Beitrag von Wengeler (2002). Die von der Protestbewegung hervorgerufene konservative Sprachkritik wertet er als Beitrag zur Demokratisierung des Diskurses: „die wechselseitige Sprachkritik [hat] den demokratischen Charakter öffentlicher Auseinandersetzungen befördert“ (Wengeler 2002, 3).
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chen Elementen. Adorno markiert sie als Anspruch auf Vollständigkeit55, als Verstehensvoraussetzungen56, als Aufweis des genus proximum57, als Verwendungsindikatoren resp. -restriktionen58, als Lesartenspezifizierung59, als Lesartenüberprüfung60. Kennzeichen dieser konzeptuellen Analysen ist auf jeden Fall aber die Auseinandersetzung mit den semantischen Elementen eines gegebenen Ausdrucks. Es ist das wissenschaftliche Bemühen um semantische Präzision, das den Aufklärer Adorno, es ist der ethische Anspruch auf Wahrhaftigkeit, der den Moralisten Adorno motiviert und die dazu berechtigen, ihm Sprachkritik als philosophisches Konzept zuzu-
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Es wäre wirklich idealistisch im ideologischen Sinn, wollte man den Begriff der Mündigkeit verfechten, ohne daß man die unermeßliche Last der Verdunkelung des Bewußtseins durch das Bestehende mitaufnimmt. … Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie Bewußtmachung, Rationalität. Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realitätsprüfung, und diese involviert regelmäßig ein Moment von Anpassung. (Adorno 1966b, 108) 56 Ich meine dabei mit Barbarei etwas ganz Einfaches, daß nämlich im Zustand der höchstentwickelten technischen Zivilisation die Menschen in einer merkwürdig ungeformten Weise hinter ihrer eigenen Zivilisation zurückgeblieben sind – nicht nur, daß sie in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht die Formung erfahren haben, die dem Begriff der Zivilisation entspricht, sondern daß sie erfüllt sind von einem primitiven Angriffswillen, einem primitiven Haß oder, wie man das gebildet nennt, Destruktionstrieb (Adorno 1968b, 120). 57 Charakterstruktur ist ein Begriff, der für etwas relativ Dauerhaftes einsteht. (Adorno 1950, 9) 58 Der Begriff der Autorität selber bezeichnet nur ein Moment in der gesellschaftlichen Totalität, von der wir eingefangen sind. Ich hielte es für falsch und für beschränkt, wenn man alle gesellschaftlichen Probleme unter jenen Begriff subsumieren wollte, der ja selber nur eine subjektive Reflexionsform der herrschenden Verhältnisse ist. Angesichts der fortschreitenden Anonymität von Herrschaft ist jedenfalls der traditionelle Autoritätsbegriff nur indirekt, depersonalisiert anwendbar. Für eine kritische Theorie der Gesellschaft ist eigentlich der Begriff der Autorität sinnvoll nur als Inbegriff gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und überhaupt nicht zu personalisieren. … Hat man nicht von der Figur, mit der man sich identifiziert – und das muß wahrhaft keine Person sein –, ein Ich-Ideal übernommen, dann bildet sich überhaupt kein Begriff von Freiheit. (Adorno 1968a, 459) 59 Das Wort [Leitbild] gehört genau in die Sphäre des Jargons der Eigentlichkeit, die ich versucht habe, prinzipiell anzugreifen. Ich möchte dabei nur auf ein spezifisches Moment eingehen, das der Heteronomie im Begriff des Leitbildes, das Autoritäre, von außen willkürlich Gesetzte. (Adorno 1966b, 106f.); Daß … im Begriff der Erziehung, und gerade auch in dem Begriff der angeblich kultivierenden Erziehung, barbarische Elemente, nämlich unterdrückende, repressive Momente vorhanden sind, bin ich der letzte zu bestreiten. (Adorno 1968b, 122) 60 Die Kultur, die ihrem eigenen Wesen nach den Menschen alles mögliche verspricht, hat dieses Versprechen gebrochen. Sie hat die Menschen geteilt. Die wichtigste Teilung ist die von körperlicher und geistiger Arbeit. Sie hat damit dem Menschen das Vertrauen auf sich, auf Kultur selber, entzogen. Und wie es in menschlichen Dingen zu gehen pflegt, ist die Konsequenz daraus gewesen, daß der Haß der Menschen sich nicht dagegen gekehrt hat, daß dieses Versprechen eines friedlichen Zustandes, das eigentlich im Begriff der Kultur liegt, nicht erfüllt worden ist. (Adorno 1968b, 128)
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schreiben. – Womöglich ist hier übrigens ein hinsichtlich des ethisch-moralischen Anspruchs der Theoretiker ein Konnex zu Herbert Marcuse zu sehen, der in der an seinen Vortrag „Das Problem der Gewalt in der Opposition“ anschließenden Diskussion mit Vehemenz an das Publikum appelliert, endlich einmal wieder [zu] lernen … daß humanitäre und moralische Argumente nicht bloß verlogene Ideologie sind, sondern zentrale gesellschaftliche Kräfte werden … müssen (Marcuse 1967c, 57). – Adornos Philosophie ist begriffliche Reflexion. Erkenntnis (und damit Philosophie) heißt nach seiner Überzeugung: „das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“ (Adorno 1966c, 21). Theodor W. Adorno war ein Philosoph, der in hohem Maße sprachbewusst, sprachreflexiv, sprachkritisch gedacht, gesprochen und geschrieben hat. Wann immer Adorno denkt, redet und schreibt – stets sind seine Reflexionen ausgestattet mit begrifflichen Analysen, mit Analysen von semantischen Strukturen und von inhaltlichen Elementen. Adorno philosophiert – das heißt: Adorno sucht nach Begriffen. In diesem sprachbewussten und sprachkritischen Agieren sehen wir Theodor W. Adorno als Vorbild für den sprachkritischen Diskurs der studentischen Linken.61 Sprachkritische Reflexionen manifestieren sich in verschiedenen sprachlichen Handlungsformen. Sprachkritik drückt sich z. B. aus in der sprachkritischen Handlung der Prüfung: Man prüft die semantische Struktur einer wohl eingeführten und allgemein bekannten Kategorie, bewertet ihren Gebrauch, begründet die Bewertung und bestätigt die Gültigkeit oder spricht sie der Bezeichnung ab.62 Die Festlegung hat ihren Ort im
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Hierher gehört Adornos philosophisches Credo: „Der Philosophie ist ihre Sprache wesentlich, die philosophischen Probleme sind weitgehend Probleme ihrer Sprache“ (Adorno 1962, 1). Ziele und Strategien …, welche die Begriffe demokratisch parlamentarischer wie revolutionärer Umgestaltung neu überprüfen. (Marcuse 1969, 81f.); Jetzt zu dem Punkt, ob da tatsächlich ein Beitrag zum Klassenkampf geleistet worden ist. Zunächst scheint mir, daß hier ein sehr abstrakter, ein historischer Begriff von Klassenkampf vorhanden ist. Man geht davon aus, dass Klassenkampf schon präsent wäre in der Bundesrepublik und dass er immer auch bestimmte klassische Formen annähme. In der Bundesrepublik und Westberlin geht es doch um anderes: Erst einmal die Bedingungen zu schaffen, die tatsächlich erst einmal zur Bewußtmachung des Klassenkampfes führen. … am Tegeler Weg [wurde] einer [!] der interessantesten und schwerwiegendsten deutschen Tabus gebrochen …, dass nämlich Demonstranten in Deutschland nie militant werden dürfen gegen die Polizei. Es ist für mich gar keine Frage, dass darin ein Beitrag zum Klassenkampf besteht (Über Demonstration und Gewalt 1968); Die Freiheit im Westen wurde auf die Reklame des Tourismus, auf das Werbeplakat eines Ramschladens reduziert, das die freie Auswahl unter einem genormten Sortiment anpreist. Der Begriff der Freiheit wurde von der politischen in die Waren-Sphäre verdrängt. (Rabehl 1968a, 155); Die Entfesselung von Produktivkräften, auf die diese Forderung nach Demokratisierung der Hochschule hinauswill, steht mit dem zur systemstabilisierenden Leistungsmoral verkommenen Begriff von Produktivitätssteigerung in Widerspruch. Denn die intendierte Entfesselung der Produktivkräfte besteht nicht in weite-
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nach Konsens suchenden Gespräch, z. B. in dem von Adorno und Szondi, in dem sie dazu dient, für den weiteren Verlauf der Diskussion (den Adorno „Hausgebrauch“ nennt) eine einheitliche semantische Referenzbasis zu schaffen.63 Die konzeptuelle Steuerung der Eliminierung steht insbesondere im Dienst der Ideologie, der politischen Überzeugung. Das ideologische Motiv solcher Sprachkritik ist die Überzeugung, dass Wörter in spezifischer Weise die Werte und Normen von Ideologie repräsentieren. Grundfunktion dieses sprachpuristischen Akts der Eliminierung ist: die mit Sternberger / Storz / Süßkind, mit Victor Klemperer und mit Karl Kraus prominent gewordene Vorstellung von der Schuldigkeit von Wörtern, von einer direkten (und vor allem verräterischen) Verbindung von Sprache und Denken, Wort und Weltsicht, Sprachgebrauch und Attitüde. Eine solche Vorstellung verlangt den Index Vocabulorum Prohibitorum.64 Dagegen setzt man in der analytischen, reflektierenden und konzipierenden Kommunikation unter mehr oder weniger gleichrangigen Gleichgesinnten auf begriffliche Klarheit. Semantische Differenzierung und daher Präzisierung ist mithin eine sprachkritische Attitüde insbesondere in der Diskussion innerhalb der studentischen Linken.65 Die am weitesten verbreitete sprachkritische Strategie ist die der semantischen Erweiterung, deren Motiv die Erkenntnis gesellschaftlichen Wandels im historischen Verlauf ist, die eine Begriffsüberprüfung, und dann vor allem Begriffsanpassung, notwendig macht. Der Befund dieser Überprüfung lautet ‚begriffliche Enge‘: Ein weiterer, umfassenderer, an geänderte gesellschaftliche Gegebenheiten angepasster Begriff wird benötigt – und geschaffen.66 Sie hat nicht selten den Zweck, die eingeführte und bewährte Ausdrucks-
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rer Steigerung inhaltsleerer Leistungsfähigkeit sondern in der Emanzipation der lebendigen Produktivkraft Mensch zur Bestimmung und Aneignung des gesamten Produktionsprozesses seines Lebens. (SDS 1967d, 94) […] wir [müssten] vielleicht von einer Bestimmung des Begriffs der Demokratie ausgehen … [Demokratie ist] die möglichst adäquate Umsetzung des Grundgesetzes, der Verfassung in die Verfassungswirklichkeit …, und zwar auch im Bereich der Universität. … Das würde bedeuten, daß wir von dem historisch-aktuellen Sinn des Ausdrucks „Demokratie“ ausgehen müssen, von dem, was Demokratie im heutigen Staat bedeuten könnte … Demokratie im Staat bedeutet, daß keine der Interessengruppen benachteiligt wird, [sondern dass] im Parlament jede dieser Gruppen die Möglichkeit hat, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. (Adorno / Szondi 1967, 304f.)
64 Das kapitalistische System hat die Bedürfnisse in dem Begriff der Sicherheit eingefangen. Daher auch das Streben der Arbeiter, wenn sie herausfallen aus dem Produktionsprozeß, arbeitslos werden oder zumindest Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren, immer wieder diese Sicherheit zu erreichen, die ihnen als Endzustand, als Glück schlechthin einsuggeriert wird. Ich glaube, die neue Qualität der Arbeiteropposition, der Randgruppen wird darin bestehen, daß sie nicht mehr danach fragen, daß sie über das Bedürfnis nach Arbeitsplätzen hinaus Bedürfnisse entwickeln, die diesen ganzen Sicherheitsbegriff beiseite schieben (Gespräch 1967, 158); wenn hier ein sowjetischer Professor an einem SED-Abend sagt, daß der kommunistische Mensch ein sauberer Mensch sei, so ist in diesem Begriff der Sauberkeit die kapitalistische Wirklichkeit vollkommen reproduziert. Man kann sich den neuen Menschen nur in den Kategorien einer technisch kapitalistischen Gesellschaft vorstellen. Die Transformation wird nicht mehr mitgedacht. (Gespräch 1967, 162)
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Hier ist vorhin das Wort Militanz gefallen, als eine gewisse Steigerung der bisherigen Praxis. Ich glaube, daß hier einige Mißverständnisse vorliegen, weil man Militanz immer mit dem gleichsetzt, was am Tegeler Weg passiert ist. Es gibt aber durchaus verschiedene Formen von Militanz. Ich würde zwei Eskalationsformen hier unterscheiden. (Über Demonstration und Gewalt 1968) 66 Wenn man unter Imperialismus im traditionellen Sinn versteht, daß die Vereinigten
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5 Kritisieren: Kritik als Philosophie und Lebensform
seite einer Bezeichnung zu erhalten (kalkuliert man mit dem Evokationspotenzial dieser Chiffren?), um ihre semantische Struktur an die als neu interpretierten und konstituierten Wirklichkeiten anzupassen.67 Das Gegenstück fehlt übrigens: Reklamiert wird weder die Möglichkeit einer Begriffsverengung, noch der Verzicht auf die fragliche Bezeichnung (was hieße, den festgelegten Bedeutungsumfang zu akzeptieren). Diese sprachliche Konstitution der Wirklichkeit mit semantischen Ausdeutungen, die einen Bestand erweitern, nicht verringern, hat also zur Voraussetzung 1. dass der ausdrucksseitige Bestand erhalten bleiben soll; 2. dass die Inhaltsseite, die semantischen Konventionen, hinsichtlich des Bedeutungsumfangs dagegen zur Disposition gestellt werden; 3. dass man Wirklichkeit dann zur Sprache bringt und diese für disponibel erachtet, wenn es das revolutionäre bzw. kritische Konzept gebietet. Dieser Befund passt zusammen mit den Gegenständen der Sprachreflexionen: Es sind dies die lexikalischen Repräsen-
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Staaten in Vietnam für Investierungen kämpfen, ist der Krieg in Vietnam kein imperialistischer Krieg, obwohl selbst dieser enge Begriff des Imperialismus heute vielleicht schon wieder akut geworden ist. Inwieweit trotzdem ein neu defi nierter Begriff des Imperialismus hier anwendbar ist, darüber brauchen wir nicht zu spekulieren, das haben maßgebende Sprecher der amerikanischen Regierung selbst gesagt. (Marcuse 1967c, 51); Waren es nicht die Amerikaner, die ruchlose „totalitäre Gewalten“ installierten: in Südamerika, Mittelamerika, Griechenland, – Südvietnam? Allerdings kann ich nicht einen Begriff von „totalitär“ akzeptieren, der von vornherein so defi niert ist, daß er nur auf ein kommunistisches Regime anwendbar ist. (Marcuse 1967f, 262); Könnten wir heute einen konkreten Begriff der Alternative bilden, so wäre es nicht der einer Alternative; die Möglichkeiten einer neuen Gesellschaft sind zu „abstrakt“, das heißt zu entfernt vom etablierten Universum und zu unvereinbar mit ihm, als daß ein Versuch gelingen könnte, sie mit den Begriffen dieses Universums ausfi ndig zu machen. (Marcuse 1969, 127); Die gegenwärtige industrielle Zivilisation beweist, daß sie die Stufe erreicht hat, auf der „die freie Gesellschaft“ in den traditionellen Begriffen ökonomischer, politischer und geistiger Freiheiten nicht mehr angemessen bestimmt werden kann; nicht weil diese Freiheiten bedeutungslos geworden sind, sondern weil sie zu bedeutsam sind, um auf die traditionellen Formen begrenzt zu bleiben. Entsprechend den neuen Fähigkeiten der Gesellschaft bedarf es neuer Weisen der Verwirklichung. (Marcuse 1967a, 23f.); wenn „Massen“ nicht vollkommen puristisch mit Arbeitermassen defi niert werden, sondern der Begriff auch Studenten, kritische Intelligenz und andere Gruppen einschließt, kann man heute überhaupt nur dann von einer „Massenwirkung“ des SDS sprechen, wenn jene gerade der „Antiautoritären“ z. B. an der „Freien“ Universität oder bei der letzten großen Vietnam-Demonstration in Westberlin in einer großen Addition aufginge, zu deren weitaus geringeren Posten beispielsweise die „Massenwirkung“ des theoretisch so wachsamen SDS Köln zu zählen wäre. (Laudan 1968, 72); [Notwendig ist] die Neubestimmung des Begriffs der revolutionären Situation, die durch den Hinweis auf die bekannte, die Chancen der siegreichen Revolution eingrenzende Global-Defi nition Lenins … nicht überflüssig wird; denn in dieser Defi nition … werden die Bedingungen angegeben, unter denen die von Lenin der proletarischen Klasse zugesprochene Hauptfunktion … von einer revolutionären, zentralistischen Kaderpartei mit dem Ziel ausgeübt wird, durch den bewaffneten Aufstand die Machtergreifung, den Umsturz im politischen Zentrum zu organisieren. (Negt 1968c, 25f.) Kurt Sontheimer wertet es als die „besondere Kraft eines stabilen Theoriebewußtseins, dass es seine Begriffe und Inhalte nicht der Korrektur durch die Wirklichkeit unterzieht, sondern umgekehrt die Wirklichkeit der Theorie gemäß interpretiert.“ (Sontheimer 1979, 55) „Begriffe und Inhalte“ korrigieren ist aber gerade das Prinzip der Sprachkritik, wie wir gesehen haben.
5.2 Sprachkritik und Kritik der Sprachkritik
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tanten gesellschaftstheoretischer Lehren, auf die man sich bezieht (Klassenkampf, imperialistischer Krieg / Imperialismus, totalitär), es ist dies das Basisvokabular der politischen Grundüberzeugungen (Freiheit, Demokratie, Bewußtsein, Erfahrung / Mündigkeit), es sind dies die lexikalischen Verdichtungen des politischen Alltags (Minderheit / Mehrheit, Militanz, revolutionäre Situation).
Historisch einzuordnen ist dieser „Kampf ums Heißen“ – das sei nochmals betont – nicht ausschließlich als „Sprachkampfvariante“, die die Konservativen „am meisten … fürchten mussten und die de facto bei diesem Kampf auch … die Verlierer waren“ (Kopperschmidt 2000, 6f.).68 Er ist auch eine der Binnenverständigung dienende sowie den Argumentationsgang sichernde Form reflektierter Sprachpraxis. Sprachkritik ist (ebenso wie Kommunikationskritik) ein Faktor des Demokratisierungsdiskurses Ende der 1960er Jahre. Die Forderung herrschaftsfreier Kommunikation und einer, eine Entsprechung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem herstellenden Sprache ist motiviert von dem demokratischen Ideal, das da heißt Reden von Gleich zu Gleich und eine jedem zugängliche, weil die Wirklichkeit abbildende Sprache – wir beziehen uns auf den theoretischen Anspruch, die sprachliche Praxis hat eine andere Gestalt. Sollte die sprachkritische Haltung der Diskursbeteiligten auch Ausdruck eines demokratischen Ideals sein, müssen wir an dieser Stelle auf weithin Bekanntes hinweisen: Dieses Ideal wurde weit verfehlt und es ist dies ein weiteres Kennzeichen des kritischen Diskurses Ende der 1960er Jahre, der nicht zuletzt durch Aporien von Wollen und Sein charakterisiert ist. Die Sprache der Beteiligten ist ihrerseits Gegenstand der Sprachkritik und es existieren viele Urteile – zumeist negative. Ihre Schreibund Redeweise fordert zum Urteil heraus, nicht zuletzt wegen des hohen demokratisch-antiautoritären Selbstanspruchs. Diese Kritik formulieren sowohl zeitgenössisch Aktivisten, als auch frühere Aktivisten, als auch professionelle Linguisten. Wiederum ist an dieser Stelle darauf zu verweisen, dass für die studentische Linke damit ein theoretisches Ideal beschrieben ist, das der praktischen Wirklichkeit entgegensteht. Die zur Kritik hochbereite Sprachhaltung reflektiert zu allererst der Binnendiskurs. Analytische Texte der späten 60er Jahre sind durchzogen von sprachkritischen Urteilen wie
68 Als „Verweigerung konventioneller Bedeutungen von Schlüsselwörtern im Gespräch“ deutet Joachim Scharloth diese Form von Sprachkritik, die er unter die Kategorie „skeptischer Verweigerungsstil“ (Scharloth 2007, 228) fasst.
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gestelzte Sprachmonster; naive und undeutliche Metaphern; Inflation pseudo-präziser Begriffe; ungeklärter / abstrakter Begriff; Klassenkampf in monströse Begriffe eingepfercht; ohne begriffliche Einheit und Konzeption; jene dürftigen Worte; in seiner pervertierten Sprache; Sprachverwirrung; inhaltliche Widersprüche; in „neulinkem“ Deutsch; mit phänomenologischen Termini; mit unabgeleiteten Abstrakta; ohne jede Präzisierung und Differenzierung; Mangel … eines konkreten Begriffs der Taktik; der unverfroren und unvermittelt in Anspruch genommen[e] Begriff des Langen Marsches.
Solche sprachkritischen Kommentare bewerten Formulierungen nicht der sog. Herrschenden, sondern der Gesinnungsgenossen: Deren als defizitär denunzierter Sprachgebrauch wird als Schibboleth für programmatische Unfähigkeit69, als Indikator für fehlende sachliche Kompetenz70 und für fehlende sprachliche Kompetenz71, als kategoriale Fehldeutung angezweifelt.72 Eingefordert werden begriffliche Präzision, Konkretheit und Kohärenz – rhetorisch-sprachliche Tugenden mithin wissenschaftlich sauberen und durchsichtigen Sprachgebrauchs und plausibler Argumentation. Diese zum Teil ideologisierte, (Schein-)Wissenschaftlichkeit dokumentierende, Sprachkritik ist die Formulierung einer Sprachgebrauchsethik, die auf Inhalte und ihre Vermittlung gerichtet ist. Sie hat eine kommunikative Perspektive: Es geht um die Erfüllung von Vorgaben, die in einem imaginierten sprachlichen Verhaltenscodex formuliert sind mit dem Ziel der Verständ-
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[Die Autoren haben] ohne jede Präzisierung und Differenzierung die kommunistischen Parteien Westeuropas als „revisionistisch“ verketzert und schließlich den Klassenkampf in monströse Begriffe eingepfercht. (Peter 1967, 107) Die Sprache der Autoren verrät ihre Hilflosigkeit und Konfusion stringent durch die Art und Weise, in der sie aus den gegebenen Verhältnissen des spätkapitalistischen Gesellschaftssystems das politisch-ökonomische Rekrutierungsfeld qualifizieren, auf das primär sozialistische Arbeit auszurichten wäre. (Büchner 1967, 89) So wird die außerparlamentarische Opposition in unterschiedlichen Bezügen bezeichnet als radikal- / real- / fundamentaldemokratisch, antiautoritär, fundamental-oppositionell, antikapitalistische, (Reform-) Bewegung (mit revolutionären Teilgruppen) oder gar als „Partei im großen historischen Sinne“. Als Begriffshuberei erweist sich diese Methode insbesondere dann, wenn die genannten Charakterisierungen subsumiert und zugleich aufgelöst werden in dem Verständnis der außerparlamentarischen Opposition als Protestbewegung, der Stimmabgabe für die Oppositionsliste bei der Wahl als Dokumentation von Protest und der Funktion der Wahl für uns als Gelegenheit zur Registrierung von Proteststimmen, Protestquantität. (Falkenberg / Dabrowski 1968, 17) Es ist ebenfalls sehr einfach, wenn auch oberflächlich und falsch, das „Proletariat“ unter Mißbrauch Marxscher Kategorien als eine auch künftig undifferenzierte lethargische Masse abzustempeln. Die Analyse hält weiterhin fest: die Autoren hätten mit Begriffen wie „anthropologischer Belastbarkeit“ jongliert, sie hätten ohne jede Präzisierung und Differenzierung die kommunistischen Parteien Westeuropas als „revisionistisch“ verketzert und schließlich den Klassenkampf in monströse Begriffe eingepfercht (Peter 1967, 106).
5.2 Sprachkritik und Kritik der Sprachkritik
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lichkeit, der Verständigung, der barrierefreien Kommunikation. Dass diese Ethik zum Teil vorgetragen wird in der Sprache der Hermetik, der Schwerverständlichkeit und der inkommensurablen Kompliziertheit73 ist nicht der einzige Widerspruch des Diskurses. Im Jahr 1968 konstatiert Wolfgang Lefèvre – sachlich sicher korrekt – sprachlich motivierte Verweigerung innerhalb der Gruppe der Aktivisten: Studenten, die auf dem sit-in erklärende Begriffe , etc. – anzubieten versuchten, wurden damals noch hastig ausgezischt. Seine Erklärung indes für diese Verweigerung wird Illusion sein: Die gesellschaftliche Perspektive ihres Konflikts, die den Studenten dämmerte, blieb nicht zuletzt deswegen abstrakt, weil bis dahin ihre Praxis in diesem Konflikt nur eine Praxis in der Hochschule war. (Lefèvre 1968a, 141) Dass das gesellschaftspolitische Konzept der studentischen Linken auf die Universität beschränkt blieb, kann kein wirklicher Grund für Verweigerung sein. Vielmehr wird der SDS-kritische Freerk Huisker dem Sachverhalt eher gerecht: Gen. Krahl [warf] … mit rhetorischer Zirzensik neue Schlagwörter wie Köder aus…, in der Hoffnung, die Anrufung der „individuellen Autonomisierung“ und eine „Repolitisierung des BV“ könnten die „dilemmatische“ Situation verbessern. Krahl habe indes erkennen müssen, daß niemand so recht anbiß (Huisker 1968, 126). Die studentische Linke hat, bei allem Sprachbewusstsein und sprachkritischer Haltung, ein Sprachproblem, das sich in Unverständlichkeit ausdrückt. Dieses Problem war innerhalb der Gruppe bekannt – insbesondere dort, wo es sich als Kommunikationsbarriere erweist, wenn es die Verständigung mit denjenigen verhindert, denen der politische Kampf der Aktivisten (zumindest nominell) gilt. Offe schildert ein Szenario des Durchbruchs zur Arbeiterschaft. Dann aber traten, in dieser für die meisten Teilnehmer an Agitationsveranstaltungen und Diskussionen neuen Situation … Kommunikationsschwierigkeiten auf, die teils vom Sprachstil, teils von der Argumentationsweise der Diskutanten herrührten. (Offe 1968a, 103) Sprachstil und Argumentationsweise – auch aus der vieljährigen Distanz sind Kommunikationshindernisse Gegenstand von selbstkritischer Sprachkritik. In der Form kritischer Selbstbeurteilung be-
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Dafür sei folgendes Beispiel Beleg: Der Mangel einer konkreten Vorstellung von Ziel und Methode der Aktion, eines konkreten Begriffs der Taktik kommt zudem klar darin zum Ausdruck, daß keine Überlegungen über die sich mit einer Vereinheitlichung der außerparlamentarischen Opposition ergebenden zwangsläufigen Veränderungen der diese bildenden Gruppierungen – etwa das Auseinanderbrechen einzelner Koalitionen – und ihre politischen Folgen angestellt werden. (Falkenberg / Dabrowski 1968, 15) Die Vorliebe für partizipiale Reihungen ist nur ein Beispiel für die komplexe, informationshäufende sprachliche Ökonomie 68er-Redeweise.
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wertet z. B. einer der Autoren des Textes ‚Schafft die Germanistik ab!‘, für den die ‚Basisgruppe Germanistik‘ verantwortlich zeichnet und der am Deutschen Seminar der Universität Frankfurt verbreitet wurde, diesen Text: Ein bißchen liest er sich heute wie die Vollzugsmeldung an einen Abteilungsleiter: starr verschraubte Wortungeheuer, seltsam desinteressiert und ohne Höhen – Sätze, denen der Sinn abhanden gekommen ist. Wie in fast allen Texten, die damals geschrieben, und wie in fast allen Reden, die damals gehalten wurden, scheint ein Anonymus zu sprechen, ist eine Geheimsprache am Werk, nicht fähig oder nicht willens, mitzuteilen und zu erzählen. Diese Texte sperren sich ab (Schmid 1988, 13).
Es sei eine „Sprache des Nein, der Unversöhnlichkeit“ (ebd.). Ähnlich erschrickt Götz Aly nach vierzig Jahren vor einem von ihm mitverfassten Wahlaufruf: „Wir müssen an diesen gequälten Sätzen stundenlang gedrechselt haben … diese verrückten Sätze“ (Aly 2008, 139). Gerd Koenen sieht in dem „artifizielle[n] Theoriejargon im Frankfurter SDS … ein autoritäres Machtmittel par excellence“ (Koenen 2002, 144), in den „Ideologeme[n] der originären 68er-Bewegung … einen entschieden antiliberalen, antidemokratischen (jedenfalls antiparlamentarischen) und antiwestlichen Charakter“ (ebd. 24).74 Wo findet sich die Erklärung für diesen Widerspruch zwischen dem Ideal einer demokratisch durchlässigen, verständlichen und präzisen Sprache einerseits, der Realität einer hermetischen, unzugänglichen und den breiten Massen unverständlichen Sprache andererseits? Der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre ist wesentlich bestimmt durch seine Wissenschaftlichkeit, durch „Wiederaneignung und Neuaneignung der im Nationalsozialismus zerstörten Denktraditionen und Denkbewegungen“ des Marxismus, der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie (Reiche 1988, 45), rezipiert mit „unersättliche[m], blinde[m] ‚Begriffshunger‘ (so Urs Widmer)“ (Koenen 2002, 117) – Peter Schneider schmäht das ständige Ab-
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Reimut Reiche kritisiert sie – bemerkenswert völkisch argumentierend – als „‚undeutsche‘ fremde Sprache, mit der wir unserer Ablehnung der deutschen WiederaufbauMentalität und unserer Entfremdung von der Nachkriegskultur den Ausdruck gaben, der für uns selbst und für die ‚Anderen‘ zum Erkennungszeichen wurde. Was das Vorurteil – ‚Ihr wollt doch, dass die Arbeiter euch verstehen!‘ – Soziologen-Deutsch nannte, war viel eher ein jüdisch-intellektuelles Rotwelsch, genauer: ein von jungen Deutschen, die sich unbewußt mit der verfolgten und ausgerotteten jüdischen Intelligenz identifizierten, in die gesprochene Sprache transformiertes Amalgam von theoriesprachlichen Begriffen, die allesamt ‚jüdischen‘ Wissenschaften entnommen waren: dem Marxismus, der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie.“ (Reiche 1988, 49) Es wird sich um eine Fehldeutung Reiches handeln, wenn er annimmt, dass jedoch seinerzeit „alle, die uns verstehen wollten“ verstanden (ebd.).
5.2 Sprachkritik und Kritik der Sprachkritik
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geben von „blauäugige[n] Urteile[n] und Bewertungen …, die als ‚Wissenschaft‘ verkauft wurden!“ (Schneider 2008, 233) Ist (Pseudo-)Wissenschaftlichkeit als Anspruch die Begründung dafür, dass Begriffe nicht ohne Analyse, Klärung, Definition gebraucht werden, dass metakommunikativ über Sprachgebrauch und Begrifflichkeit reflektiert wird und diese ggf. auch korrigiert werden, dass dies andererseits geschieht im sprachlichen Habitus von höchster Abstraktion, Theorie und Entwirklichung? Wissenschaftlichkeit ist natürlich ein Umstand, der der Realisierung des Ideals eminent im Wege steht. Insofern können wir in diese Kritik getrost auch die Redeweise Adornos oder Habermas’ einbeziehen: Soziologenjargon ist die Bewertungskategorie, mit der die von der Leitdisziplin der Soziologie geprägten Wissenschaftssprache seit Ende der 1960er Jahre bedacht wird, von der professionellen wie der Laienlinguistik. Der sprachliche Effekt dieser massenhaften Rezeption ist vielfach beschrieben worden. Scherpe bewertet den „Zitatcharakter des erworbenen gesellschaftstheoretischen Wissens“ (2001, 11) z. B. als „schwerfällige[n] und mit Infiltraten aus der Wissenschaftssprache der Soziologie, der Psychologie und der Politökonomie überfrachtete[n] SDS-Jargon“ (Scherpe 2001, 13). Sontheimer kommentiert den „Theorie-Jargon mit seinen massiven Anleihen bei Marx oder bei dem bunten Federstrauß Kritischer Theorie“ als Ausdruck „einer sich überlegen und zukunftssicher wissenden Theorie“ (Sontheimer 1979, 59). ‚Jargon‘ ist eine Art Gruppensprache mit der Funktion „Demonstration von Gruppenzugehörigkeit nach innen und außen“ (v. Polenz 1981, 87). Er stellt sich dar als „eine besondere Spielart der Fachsprache, in der eine bestimmte ausufernde stilisierte Sprachhaltung zum Ausdruck kommt, die fachliche Esoterik mit Imponiergehabe verbindet.“ (Hundsnurscher 2002, 902) Der (pseudo)wissenschaftliche Jargon lässt sich nach diesen Kategorisierungen als Prestige- bzw. als Subkulturjargon beschreiben. Der Prestigejargon steht in enger Beziehung zur Wissenschaftssprache, seine sprachlichen Elemente (wie z. B. fremdsprachliche Wörter, Floskeln und Redensarten) sind „Prestigegruppen-Shibboleths“ (v. Polenz 1981, 91). Der Subkulturjargon ist ein „kontrasprachliche[r] Akademikerjargon“ (ebd. 91). Der Prestigejargon ist vor allem gekennzeichnet von den Funktionen ‚Gruppendiskriminierung‘ und ‚Machtstabilisierung‘, der Subkulturjargon von den Merkmalen ‚Gruppensolidarisierung‘ und ‚Opposition gegen (Ersatz für) Macht‘. Zusammengefasst als Bildungsjargon sind sie „aus Wissenschaftssprache gespeiste, sie nutzende, aber fachübergreifende und über wissenschaftliche Kommunikationsfunktionen hinausgehende Prestigesprache“ (ebd. 92). Mit Bezug auf den Diskurs Ende der 1960er Jahre verweist v. Polenz auf die „Gefahr der Jargonisierung vor allem bei der Etablierung neuer, modernis-
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tischer Wissenschaftsdisziplinen und in der hochschulpolitischen Kampfkommunikation.“ In diesem Kontext wirke „die leichte Nachahmbarkeit von wissenschaftssprachlichen Stilmitteln als Methode zur Demonstrierung eines aktivistischen Gruppenprestiges auf Kosten inhaltlicher Klarheit“ (ebd. 94). M.a.W.: Die wissenschaftssprachliche Subvarietät des Diskurses ist, gruppensprachentheoretisch, eine Identität schaffende und Abgrenzung leistende Instanz – und als solche beim besten Willen nicht als Manifestation eines konsequenten demokratischen Wollens zu erklären. Und auch ein weiteres Argument – in Bezug auf die studentische resp. jugendliche Variante dieses Soziolekts – scheint plausibel: Insofern es sich eben um eine jugendliche Variante handelt, insofern Hoheitsinhaber des Diskurses funktionslose Studenten waren, können wir getrost kommunikative Unsicherheit der studentischen Linken annehmen, der die Hermetik ihres sprachlichen Ausdrucks Sicherheit verschafft. Wissenschaftlichkeit als Stil können wir das Erklärungsmotiv nennen, den die Diskursteilnehmer sich zulegen, um trotz ihrer Jugendlichkeit als wissenschaftlich kompetente Redner wahrgenommen zu werden. Der Jargon hat damit Legitimationsfunktion: Wer kompetent redet ist glaubwürdig und überzeugend hinsichtlich politischen Wollens – so lautet der Topos, der diesen Wissenschaftsstil motiviert bzw. begründet.
6 Entdemokratisieren: Das Faschismussyndrom In Gegenwartsanalysen der späten 1960er Jahre manifestiert sich ein omnipräsentes Faschismussyndrom: ‚Faschismus‘ dient nicht nur als stigmatisierende Identitätszuschreibung – wir haben diese Funktion oben (s.o. Kapitel 4.2) dargestellt –, sondern wird auch als antonymische konzeptuelle Repräsentation des diskursiven Superkonzepts ‚Demokratie‘ konstituiert und die Ausformulierung dieser Konstituierung lautet: „Demokratie ist in der Verfassung festgeschriebene Staatsform, die nicht realisiert wird, dagegen ist eine faschistoide, autoritäre gesellschaftliche und politische Wirklichkeit, als Gegenteil von Demokratie, Realität.“ Bereits zeitgenössisch gedeutet als Manifestation des „verzweifelten linken Radikalismus, der bei allen Anlässen – und oft nur bei psychischen Symptomen – Faschismusalarm gibt und jeden ‚Liberalen‘, der sich auf seine Bedenken oder auch auf seine Privilegien zurückzieht, als Faschisten anprangert“ (Haug 1968, 148), erscheint Oskar Negt die „Neigung, in der öffentlichen Agitation mit der Faschismusformel zu hantieren, um sich Beifall zu verschaffen“ (Negt 2001, 248) im Rückblick erst recht als „Leichtfertigkeit, mit der unangenehme Entwicklungen, staatliche Eingriffe, Rechtsentscheidungen das Entwertungsetikett ‚faschistisch‘ aufgedrückt bekamen“ (ebd.). Man machte sich den Staat zum Gegner, indem man seine Faschisierung unter Beweis zu stellen suchte, ihn notfalls herausfordernd.1 Dies ist ein Spezifikum des Diskurses der späten 1960er Jahre und diskurslinguistisch ist Faschismus (mit der Wortfamilie) in diesem Kontext als dieses Segment verdichtende Interpretationsvokabel zu beschreiben. Während der frühen Phase der Protestbewegung war seit etwa 1965 der Diskurs zum konkreten historischen
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„Die Bewegung probte den Faschismus-Verdacht, um an der Reaktion der Apparate zu erkennen, wie weit es mit ihm her war.“ (Böckelmann 1988 / 1993, 225) Klaus Scherpe weist diese Strategie einem Authentizitätsanspruch zu: „Die strukturelle Gewalt des kapitalistischen Systems konnte durch die Ermordung des Germanistikstudenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch einen Polizisten und den Mordanschlag eines NeoNazis auf Rudi Dutschke als physische Gewalt erlebt werden. Es wurden zunehmend Situationen provoziert, in denen der Staatsapparat sich durch seinen Polizeieinsatz ‚entlarvte‘ und ‚sein wahres Gesicht‘ zeigte. So war Authentizität herstellbar.“ (Scherpe 2000, 104)
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Nationalsozialismus und Antisemitismus zugunsten des abstrakten und zeitneutralen Faschismus rückläufig.2 Dass der studentischen Linken der späten 1960er Jahre dennoch die Aufhebung einer „Diskursblockade“3 in Bezug auf das Thema ‚nationalsozialistische Vergangenheit‘ zugeschrieben wird, dass man ihr dennoch zubilligt, dem Thema diskursive Dynamik und Dichte verliehen und ihm eine Ausweitung in das öffentliche Bewusstsein verschafft zu haben, die es zuvor nicht hatte, mag indessen mit der Omnipräsenz weniger des Themas ‚Faschismus‘, als vielmehr der Kategorie Faschismus zu tun haben. Faschismus ist zwar auch Alternativbezeichnung zu Nationalsozialismus4, vor allem aber interpretiert sie die Struktur und das System eines theoretisch-wissenschaftlich erarbeiteten Konstrukts. Das macht sie tauglich für den Diskurs, der ein Gegenwarts-, kein Vergangen-
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Rückblickend bestätigt der ehemalige studentische Aktivist Reimut Reiche diese Entwicklung: „Spürbar zurück geht in diesem Abschnitt [der ersten Hälfte der 60er Jahre] … die Beschäftigung mit der konkreten nationalsozialistischen Vergangenheit als einer Geschichte von Massenvernichtung und Kulturzerstörung, mit der ‚ungesühnten Nazijustiz‘ … sowie mit ‚Genese und Aktualität des Antisemitismus‘. Die ‚großen‘ Theorien des Zusammenhangs von Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus rücken ins Zentrum des Interesses.“ (Reiche 1988, 47) Vgl. auch Hopf (1989, 71): „In der Frühphase der Studentenbewegung … in Berlin – Anfang der sechziger Jahre – dominierte … die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, während in der Spätphase der Studentenbewegung das Faschismusthema in allgemeinerer Weise aufgegriffen wurde.“ „Die Sensibilität bezüglich der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihres Weiterwirkens entstand nicht erst ‚1968‘, sondern war bereits Ende der 50er Jahre vollständig entwickelt. Allein – sie hatte zu dieser Zeit nicht die öffentliche Diskursherrschaft erlangen können. Die Diskursblockade beendet zu haben, kann als Verdienst der vorwiegend studentischen ‚1968er‘ und ihrer medienwirksamen Kreativität angesehen werden.“ (Rusinek 2003, 118) Vergangenheitsbezogen ist man dabei starr auf die antikapitalistische Erklärung fixiert, auf die der Nationalsozialismus monokausal zugeschnitten wird: Die faschistischen Staats- und Wirtschaftsbürokraten Deutschlands begriffen zuerst, was verlangt war: Destruktion, systematische Zerstörung gesellschaftlichen Reichtums, Kriegswirtschaft. (Lefèvre 1968a, 120); Der Faschismus hat … sofort nach 1933 begonnen, seine soziale und ökonomische Funktion für den Kapitalismus wahrzunehmen. (Reiche 1968a, 22f.); Die Geschichte, nicht zuletzt die der Deutschen, hat uns mehrfach gelehrt, daß der einzige Ausweg der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus der Krise in der offenen Gewalt des Faschismus besteht. (Krahl 1968c, 150); Wir können auch dafür Gründe nennen, warum es zu einem Scheitern der Parteien der zwanziger und dreißiger Jahre der SPD und KPD kam, warum es der NSDAP eben möglich war, gerade die Massen in die faschistische Richtung zu lenken und die Keimformen des antikapitalistischen Bewußtseins in Faschismus in die höchste Perversion des Antisemitismus zu führen. (Dutschke 1967a, 54); Der zynische und brutale Terror des Faschismus sollte die lohnabhängigen Massen daran hindern, endlich das historisch schon längst überflüssige Kapitalverhältnis zu zerschlagen. Nach der äußerlichen Niederlage des internationalen Faschismus, besonders des deutschen, begann nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reproduktion der Antinomien der bürgerlichen Gesellschaft mit faschistischen Erfahrungen. (Dutschke 1968i, 56)
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heitsdiskurs ist. Denn Faschismus setzt die als gesetzmäßig verstandene, bei Marx mit dem Feudalismus beginnende, über Merkantilismus und Liberalismus reichende und mit dem Kapitalismus endende Reihe der historischen Erscheinungsformen gesellschaftlicher Formungen fort als dessen gesetzmäßig letztes Stadium. Mit diesem Modell lässt sich Faschismus als Strukturphänomen beschreiben und Kapitalismus und Faschismus lassen sich derart in ein Kausalitätsverhältnis zueinander bringen, dass man die gegenwärtige Bundesrepublik bzw. Ausdrucksformen ihrer Gesellschaft sub specie Faschismus nicht nur zu erklären sich legitimiert fühlt, sondern zu bewerten, zu kritisieren und zu denunzieren, und zwar im Sinn von Strukturen und Systemen und ihre Auswirkungen. Der Missing Link, der diesen Übergang zwischen Faschismus und Gegenwart lexikalisch plausibel machen soll, heißt Spätkapitalismus. Denn: Dem Bezug zwischen (historischem) Faschismus und Gegenwart sucht man insofern Plausibilität zu verschaffen, als man das historisch konkrete Phänomen, die nationalsozialistische Diktatur der Jahre 1933 bis 1945, und die Nachkriegsdemokratie unterschiedslos unter diese Kategorie (Spät)kapitalismus fasst. Wir werden unten (s. u. Kapitel 6.2) das Diskurselement autoritär als eine semantische Relation zwischen Faschismus und Gegenwartsdemokratie herstellend beschreiben. Dieselbe Funktion hat Spätkapitalismus. Diese Kategorie ist ein Argument, mit dem man auf das ökonomische Strukturelement des deutschen Faschismus Bezug nimmt. Unter anderem aus dieser Erklärung wird dann das Modell einer gerechten, nach demokratischen Prinzipien konstituierten Gesellschaft abgeleitet.5 Dabei folgt man Horkheimers bereits 1939 formuliertem Credo „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer 1939, 8)6, und schafft sich
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Die „soziale Markwirtschaft und eine formale Demokratie“ hielt man „hierfür wenn nicht schlechthin ungeeignet, so doch ungenügend“, statt dessen sei „vielmehr ein tiefgreifender Wandel von Erziehung, Gesellschaft und Kultur nötig“ (Bock 1999, 558). Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass man mit der Kategorie Spätkapitalismus ökonomische Kontinuität herzustellen sucht. Dieser „Faktor der strukturellen ökonomischen Kontinuität wurde in den 60er Jahren von der intellektuellen Opposition zunehmend zum Kernelement der Staatskritik erhoben. Dabei handelte es sich zunächst um einen Reflex gegen die noch kurz zuvor allgegenwärtige Negierung jeder Kontinuität über die Jahre 1933 und 1945 hinweg. Die daraus entstehende abstrakte Faschismusdebatte widmete den ökonomischen Kontinuitätsmerkmalen die größte Aufmerksamkeit. An dieser Stelle ergaben sich manche Affinitäten zu der in der DDR vertretenen Faschismus-Auffassung als der extremsten Variante monopolkapitalistischer Diktatur.“ (Siegfried 2003, 97) „Dieser Satz Horkheimers hat für die rebellierenden Studenten und Jugendlichen und die Formeln, die sie im politischen Tageskampf benutzten, eine schlechthin zentrale Bedeutung gehabt. Kapitalismus ist potentieller Faschismus“ (Negt 2001, 247).
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damit eine Argumentationsbasis – so z. B. Hans-Jürgen Krahl, der die eingängige Sentenz Horkheimers reformuliert – Max Horkheimers Theorem, daß der Monopolkapitalismus potentiell Faschismus ist, besteht zu Recht (Krahl 1968b, 462) –, so z. B. Johannes Agnoli, der die Reformulierung Kapitalismus führt zum Faschismus um eine Spezifizierung ergänzt: Ebenso wie die ungleichmäßige Entwicklung des Kapitalismus zu verschiedenen historischen Erscheinungsformen des Faschismus geführt hat, so spezifiziert sich heute das Verhältnis des Kapitalismus zum Faschismus je nach dem Entwicklungsstand der kapitalistischen Organisation der Produktion und des Marktes. (Agnoli 1968a, 45)7
Oskar Negt benutzt die Interpretationsvokabel in diesem Sinn, um die gegenwärtige bundesrepublikanische Staatsgewalt zu denunzieren – unter Verweis auf das nationalsozialistische Unrechtsregime. Sein Gegenwartsbefund lautet: Recht und Gewalt [sind] im Spätkapitalismus [kaum] noch auseinanderzuhalten – die Legitimierung dieser Setzung leistet der Verweis auf die nationalsozialistische Wirklichkeit: die totale Unfähigkeit der Repräsentanten der nationalsozialistischen ‚Rechtsordnung‘, das in ihr gebundene Maß an Gewalt überhaupt nur zu erkennen. (Negt 1968a, 17) Mit dieser Kategorie, die es – wie die Sequenz von Oskar Negt zeigt – möglich macht, den Bruch von 1945 zu ignorieren und Vergangenheit und Gegenwart unter dem Zeichen des unveränderten kapitalistischen Systems zu einer Epoche zusammen zu ziehen, verbündet man sich womöglich z. B. mit Adorno, der Spätkapitalismus als Bezeichnung der Gegenwartsgesellschaft derjenigen der Industriegesellschaft vorzog.8 Auf jeden Fall ist man jedoch, was die gegenwartsbezogene Ligatur von Kapitalismus und Faschismus betrifft, in vollkommenem Widerspruch vor allem zu Horkheimer, der nicht müde wird zu betonen, dass seine Theorie nicht adaptierbar ist, seine Kategorien daher nicht übertragbar sind, sondern allein Gültigkeit haben in dem historischen Kontext, dem sie ihre Entstehung verdanken.
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Es manifestiert sich hier übrigens das paradoxe Phänomen, dass vor allem Horkheimer, „der … der Studentenbewegung ablehnend gegenüberstand, mit zunehmender Radikalisierung der Studentenbewegung zu immer größeren Ehren [gelangte], indem manche seiner früheren Arbeiten sich als Fundgrube für Zitate erwiesen, die der aktuellen Stimmung entsprachen.“ (Wiggershaus 1986, 692f.) Im April 1968 fand die Jahreskonferenz der deutschen Gesellschaft für Soziologie, deren Vorsitzender Adorno war, unter dem Titel „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“ statt. Der Einführungsvortrag Adornos hatte dieselbe Überschrift und dieser Fokus der Veranstaltung wurde nicht zuletzt als ein Zugehen auf die Protestbewegung interpretiert (vgl. Müller-Doohm 2003, 675ff.).
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Dieselbe Diskursfunktion hat die Interpretationsvokabel Faschismus (mit der Wortfamilie), deren Potenzial aus der Sicht der Beteiligten, insbesondere der studentischen Linken, darin besteht, dass sie es erlaubt, die Gegenwart hinsichtlich ihrer politischen und gesellschaftlichen Demokratiedefizite bewertend zu konzipieren. Der gegenwartsbezogene Gebrauch von Vertretern der Wortfamilie Faschismus stellt sich wie folgt dar: Die Personenbezeichnung Faschist wird vor allem in der Lesart ‚Repression ausübende, autoritäre Person‘ verwendet. Man referiert damit vor allem auf Repräsentanten der gegenwärtigen Gesellschaft bzw. des autoritären Staates mit entsprechenden, für repressiv gehaltenen Verhaltensweisen. Solche Repräsentanten sind typischerweise beliebige Funktionsträger von Institutionen, die die studentische Linke für Teile des funktionslosen Apparats hält, Parteien z. B.: Ihr müsst Euch Tag für Tag abstrampeln für die Schweine der herrschenden Institutionen, für die Repräsentanten des Kapitals, für die Parteien und Gewerkschaften, … für die Faschisten jeder Partei (Dutschke 1967m, 130). Repräsentanten der autoritären Gesellschaftsstruktur sind außerdem z. B. die potentiellen Attentäter, deren „Rufe bei der Jagd auf einen für Dutschke gehaltenen jungen Mann während der Senatskundgebung vom 21. Februar 1968“ („„Lyncht die Sau!“ „Schlagt ihn tot!“ „Kastriert das Judenschwein!“ „Dutschke ins KZ!““) man für diejenigen obrigkeitlich angefeuerte[r] und gedeckte[r] Faschisten hält: Dutschke muß stündlich mit offener Lynchjustiz durch die obrigkeitlich angefeuerten und gedeckten Faschisten rechnen (vgl. Dutschke 1980a, 122). Auch diejenigen, die das zentrale Symbol der linken Bewegungen, die rote Fahne, zerstören, gelten als einzelne, isolierte Faschisten.9 Und schließlich auch die, die im universitären Kampf um Demokratie die Gegner radikaler Aktivisten sind, die ihrerseits sich auf den Diskurs berufen, wie ein Redner auf dem Springer-Hearing am 9. Februar 1968: Wir müssen einfach dazu übergehen, den Faschismus-Vorwurf zurückzugeben und die Faschisten im Hochhaus und im Senat so benennen, was sie sind, nämlich Faschisten …. (Beifall, Zurufe, Bravo!) (in Windaus / Wolff, 1977, 85). Ein weiteres Indiz für das Potenzial des Lexems lässt sich auch aus den anderen Wortbildungen (sämtlich mit den Konzeptelementen ‚undemokratisch, autoritär, kapitalistisch‘ versehen) ableiten. Die einen Prozess bezeichnende Ableitung Faschisierung repräsentiert die generelle Diskursaussage, in diesem Fall im Sinn von ‚zunehmende Annäherung an den Faschismus, zunehmendes Autoritärwerden, zunehmende Entdemokratisierung‘, und ist in diesem Sinn Antonym des mit Demokratisierung bezeichneten Handlungskonzepts (s. u. Kapitel 8). Mit den Zusammensetzungen Faschisierungsprozeß und Faschisierungstendenzen, sowie mit Wendungen wie weitere, sich vollziehende, wachsende, schleichende Faschisierung konstituiert man die Bundesrepublik als sich zunehmend entdemokratisierenden Staat. Dass dieser Prozess im Gang ist, gehört zu den dominierenden gegenwartsbezogenen Grund-
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Als während der großen Vietnam-Demonstration in Westberlin am 11. Februar 1968 einige Bauarbeiter die auf den Fahrkränen ihrer Firmen aufgesteckten roten Fahnen herunterholten und verbrannten, und als darauf Demonstranten mit wütenden Zurufen und kleineren Handgemengen antworteten, rief Rudi Dutschke von der Kundgebungstribüne: „Kommt herunter zu uns und reiht Euch ein! Der Faschismus hat keine Massenbasis mehr! Ihr seid doch nur einzelne, isolierte Faschisten!“ (Reiche 1968a, 26)
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überzeugungen der Protestbewegung.10 Diese Grundüberzeugung reflektiert auch der entsprechende Artikel im ‚Revolutionslexikon‘. Zweifellos sind die darin aktualisierten Begriffselemente aus der bundesrepublikanischen Wirklichkeit abgeleitet und die Referenzbereiche sind die Notstandsgesetze, der als gewalttätige Diskriminierung und als Benachteiligung empfundene Umgang mit Vertretern der antiautoritären Bewegung, die Tötung Benno Ohnesorgs, das Attentat auf Rudi Dutschke, das allgemeine ‚Recht-undOrdnung-Klima‘.11 Wer sind die Akteure, die aktiven Handlungsbeteiligten? Es sind natürlich die Kontrahenten, die in den Handlungszusammenhängen der Jahre 1967 / 68 stets Ziel des Protests sind: Staat und (Springer-)Presse; so auch in den Kontexten des adjektivischen Partizip Perfekts faschisiert in der Bedeutung ‚mit faschistischen Tendenzen durchsetzt‘: Der Mordanschlag auf Rudi Dutschke war … die Tat eines faschisierten Einzelnen (Reiche 1968a, 29) – diese Aussage Reimut Reiches gründet auf der Tatsache, dass Josef Bachmann ein Exemplar der neonazistischen ‚Nationalzeitung‘ bei sich trug, als er auf Dutschke schoss. Ebenso fokussiert Uwe Bergmann mit seiner Feststellung – weite Teile der Berliner Bevölkerung [sind] durch die Presse und durch Äußerungen von Politikern … faschisiert (Bergmann 1968a, 20) – die Verursacher des mit Faschisierung bezeichneten Prozesses, nämlich Presse und Politik. Mit diesen Prozessbezeichnungen, die die Agens- und Patiensrolle12 implizieren, strukturieren die Sprecher ihre Gegenwartsgesellschaft: die das Übel verbreitenden Akteure und die dieses Übel Erleidenden und die sich faschisieren lassen. Ein weiteres Ergebnis solcher Gegenwartsanalysen verdichtet sich in der Eigenschaftsbezeichnung faschistoid. Dieses in den 60er Jahren gebildete Adjektiv13 in der Bedeutung ‚faschistische Züge zeigend ohne faschistisch zu sein‘ konstruiert gleichsam die Atmosphäre der Gewalt, der sich die
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die weitere Faschisierung (Cerutti 1968, 41); die Faschisierung der Gesellschaft (Berliner Extradienst 1968); die in den Zentren des gesellschaftlichen Lebens sich vollziehende Faschisierung (SDS 1968d, 88); der Faschisierungsprozeß im Zentrum des Paragraphensystems selbst (Krahl 1967c, 328); angesichts der wachsenden Faschisierung in der BRD (Lederer 1968, 119); der schleichenden Faschisierung der Staatsapparatur, die das gesellschaftliche Leben zu ersticken droht (Negt 1967a, 244); die Minderheitenjagd gehört zu jenen Faschisierungstendenzen unserer Gesellschaft (Tiedemann 1967, 40). Faschisierung. Entwicklung einer Gesellschaft auf den Faschismus hin. Ihre Kennzeichen sind der Abbau demokratischer Rechte und die zunehmende Brutalisierung der politischen Auseinandersetzung. Dazu gehört die Verteufelung des politischen Gegners, mit dem man sich nicht mehr sachlich auseinandersetzt, sondern der ‚ausgemerzt‘ werden muß. An die Stelle des Gesprächs tritt die Polemik, politisch Andersdenkende werden zwar noch nicht beseitigt, müssen aber mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nachteilen rechnen … Das Attentat wird zu einem Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens wird in allen Bereichen zugunsten autoritärer Herrschaftsformen zurückgedrängt … Zur F. gehört auch ganz allgemein Unduldsamkeit gegenüber allen Andersartigen (Gammler, bärtige Studenten, Neger, Homosexuelle etc.). Ruf nach dem ‚starken Mann‘, der endlich durchgreifen und der Unordnung ein Ende bereiten soll. Ruhe und Ordnung werden als höchste Tugenden gepriesen, während Demokratie nicht zuletzt von der fruchtbaren Unruhe lebt. (Weigt 1968, 17f.) Vgl. v. Polenz 1985, 170ff. Vgl. DFWB V, S. 715 s. v. Faschismus. Es wird nicht nur von Angehörigen der linken Protestbewegung benutzt. Eberhard Lämmert etwa gebraucht es in seiner Vorlesung im Jahr 1966, wie Konservative tun, zum Ausdruck von Antikommunismus: „die besonderen faschistoiden Züge des DDR-Kommunismus“ (Lämmert 1967, 33).
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Protestierenden ausgesetzt fühlen. Abgesehen davon, dass die Presse in einem Beispiel die Zuschreibung faschistoid im Sinn einer Eigenschaftsbezeichnung erhält14, belegen Verbindungen wie faschistoides Verhalten, faschistoide Entwicklung, Reaktion, Lösungen, Tendenzen, dass die Gesellschaft oder ihre Repräsentanten in bestimmten Handlungsbereichen – und es sind natürlich die Handlungsbereiche, in denen die politischen Kontrahenten aufeinandertreffen – Verhaltensweisen offenbaren, die man mit faschistoid bezeichnet: restriktive Maßnahmen und Diskriminierung der Gegner.15 Wiederum ist auf das ‚Revolutionslexikon‘ zu verweisen. Die Erfahrungen, die die Protestbewegung mit dem politischen Gegner machen, geben hier die begrifflichen Elemente wieder, die die Bedeutung konstituieren, auch dieser Artikel ist, wie der zu Faschisierung, ganz offensichtlich Ergebnis von Gegenwartsanalysen.16 Fazit: Mitglieder der Wortfamilie Faschismus leisten die Abstraktion, die man benötigt, um damit auf die Gegenwart Bezug nehmen zu können.
Welches Faschismus-Konzept liegt diesem Diskurs zugrunde? Die Kategorie Faschismus ist affin zu den klassischen linken bzw. kommunistischen Theorien.17 Diese Theorien übernehmen von Beginn an Faschismus als
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Taktik der formierten und faschistoiden Presse West-Berlins (Berliner Manuskripte 1967). angesichts des offenkundig faschistoiden Verhaltens der Polizei, der universitären Administration und der Berliner Presse … eine faschistoide Presse (Lefèvre 1967b, 13); Gefahren einer faschistoiden Entwicklung höchst real (Reiche / Gäng 1967, 21); ein System …, das notwendig zu faschistoiden Lösungen seiner Widersprüche tendiert (ebd. 31); jener faschistoiden Reaktion des etablierten Apparats (Blanke 1968a, 45). Faschistoid. Bezeichnet die latente Bereitschaft einer Gesellschaft oder einzelner Menschen, sich faschistischer Herrschaftsmethoden zu bedienen. Dazu gehört vor allem der Ruf nach der Gewalt: ‚Hitler hätte gewußt, was mit den Gammlern zu geschehen hat!‘ Hierher gehört auch die Bereitschaft, unbequeme Gegner auf Grund äußerlicher Merkmale abzuqualifizieren und der allgemeinen Verachtung bzw. Verfolgung preiszugeben: ‚Schaut Euch diese Typen an, Ihr müßt diese Typen sehen, Ihr müßt ihnen genau ins Gesicht sehen, dann wißt Ihr, denen geht es nur darum, unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören‘ (Klaus Schütz). F. ist vor allem auch die Neigung von Industrie- und Bankkapital, sich notfalls zur Aufrechterhaltung der bestehenden Besitzverhältnisse des Faschismus zu bedienen, wenn die nichtbesitzenden Klassen mit revolutionären Maßnahmen drohen und demokratische Herrschaftsmethoden die Lage nicht mehr zu meistern vermögen. Diese Tendenz ist allerdings nach dem zweiten Weltkrieg durch die Erkenntnis zurückgedrängt worden, daß ein ausgebildeter Faschismus auch einzelnen Angehörigen der herrschenden Klasse gefährlich werden kann. (Weigt 1968, S. 19) Wolfgang Kraushaar verweist auf die Argumentationsfunktion. Faschistoid und das Konzept des autoritären Staats „stellten zwei Grundannahmen zur Analyse der deutschen Nachkriegsgesellschaft dar, mit denen die Antiautoritären im SDS einen subversiven politischen Ansatz zu begründen versuchten – einen Ansatz, bei dem es um die Veränderung der Persönlichkeitsstruktur im Hinblick auf eine sozialistische Demokratie ging.“ (Kraushaar 2001, 22) In den frühen 1920er Jahren wird Faschismus / faschistisch als Selbstbezeichnung von Mitgliedern der von Mussolini gegründeten italienischen, seltener auch von Angehörigen der Nazi-Bewegung verwendet. Gleichzeitig ist es auch Kampfwort des politischen Gegners, insbesondere der Kommunisten und der Sozialdemokraten. (Vgl. DFWB V S. 715ff., s. v. Faschismus und Brunner / Conze / Koselleck 1975, Band 2, s. v. Faschis-
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Kampfwort der politischen Auseinandersetzung mit dem Gegner. In der klassischen kommunistischen Faschismus-Definition, die da lautet: „Der Faschismus ist die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (zit. nach Brunner / Conze / Koselleck 1975 II 332), sind diejenigen Elemente enthalten, die es den Diskursbeteiligten erlauben, die gesellschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland sub specie Faschismus zu interpretieren. Als Terminus in den 1930er Jahren von der Kritischen Theorie adaptiert, kommt er dem wissenschaftlichen Anspruch der studentischen Linken entgegen – einmal mehr die Regel missachtend, dass ihre Theoreme nicht ohne weiteres übertragbar sind. Die „Kritische Theorie [der 1930er Jahre, die in den 1960er Jahren verbreitet wurde] galt vor allem als Faschismustheorie“ (Bock 1999, 560), und von dieser Theorie nimmt sich die studentische Linke ihre Argumente.18
6.1 Enthistorisieren – Analogisieren Indes: Diese Argumente mussten – insofern sie historisch gebunden waren – semantisch angepasst werden, sollten sie das Konstrukt von der entdemokratisierten Gesellschaft zu legitimieren gegenwartsbezogene Plausibilität haben. Wenn den Diskursbeteiligten der studentischen Linken zugeschrieben wird, für eine Radikalisierung19 und Universalisierung20 des Themas
mus). Zum Selbstverständnis der kommunistischen Opfer des Nationalsozialismus und der DDR als antifaschistisch sowie zum antifaschistischen Schulddiskurs der frühen Nachkriegszeit vgl. Kämper 2005, 124ff. 18 „Am IfS wurde der Nationalsozialismus als ‚Faschismus‘ interpretiert. … Sozialstruktur (ökonomisch-politische Verfassung der Gesellschaft), Kultur (vorherrschende Lebensformen, Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen) und Charakterstruktur (autoritäre Persönlichkeit) wurden in der Analyse so miteinander verschränkt, daß sich der Eindruck eines nahezu geschlossenen Wirkungszusammenhangs aufdrängte. Für die späte Wirkung dieser Faschismustheorie in den 60er Jahren war nun unter anderem besonders wichtig, daß der Faschismus als zwangsläufige Folge der krisenhaften Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften gedeutet wurde, die sich nur noch in dieser Form reproduzieren können.“ (Bock 1999, 560) 19 „[…] die kritischen Studenten der späten 60er Jahre [waren] alles andere als die Auslöser einer selbstkritischen NS-Debatte. Sie radikalisierten lediglich jenen intensiven Diskurs, der die westdeutsche Gesellschaft bereits seit zehn Jahren beschäftigte, mit dem sie groß geworden waren, der aber auch die Versäumnisse pointiert benannt hatte. Diese Radikalisierung speiste sich nicht etwa aus einer Schockwirkung der NS-Verbrechen, sondern aus der Empörung über die Doppelmoral, mit der die westdeutsche Gesellschaft diesen Verbrechen entgegentrat und ihre Vergangenheit zu bewältigen behauptete.“ (Siegfried 2003, 104) 20 „1959 [brach] die Diskussion um die unbewältigte Vergangenheit los[…] und die poli-
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‚Nationalsozialismus‘ gesorgt zu haben, dann besteht die Radikalisierung in der diskursiven Omnipräsenz des Faschismus-Konzepts, während mit Universalisierung sich die konzeptuelle Abstrahierung der Wortfamilie bezeichnen lässt, die den Umfang ihrer referenziellen Bezüge stark erweitert.21 In linguistische Kategorien übersetzt, bietet sich in semantischer Hinsicht als Entsprechung die Kategorie ‚Enthistorisieren‘, in rhetorischer Hinsicht die Kategorie ‚Analogisieren‘ an. Beide bezeichnen die sprachlichen Strategien, die die Adaption des Faschismus-Konzepts als Strukturphänomen auf die bundesrepublikanische Gegenwart ermöglichen. Gegenwart aus der Perspektive der studentischen Linken stellt sich dar als Phänomen eines neuen Faschismus, eines heutigen Faschismus – eine „Leerformel“, die Peter Schneider im Rückblick für „besonders verführerisch und gefährlich“ hält, weil sie „alle Unterschiede zwischen dem historischen Faschismus einschließlich seiner aktuellen Ausprägungen in Spanien und Portugal und den westlichen Demokratien verwischte“ (Schneider 2008, 255).22 Unabhängig davon aber dokumentiert dieses Diskurselement die ungeheure Präsenz des Nationalsozialismus als reales historisches Phänomen. Er bildet die stets eingezogene Referenzebene, die immer gültige Interpretationsvoraussetzung der gegenwärtigen Gegebenheiten. Kontinuität und Diskontinuität zugleich sind damit ausgedrückt.23 Kontinuität be-
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tische Pädagogik [nahm] sich des Themas an[…]. Die protestierende Generation universalisierte hier nur, was ihr in den Schulen und den Medien in den 60er Jahren vermittelt worden war.“ (Albrecht 1999c, 568) „[…] die generalisierenden Konzepte zur Vergangenheitsbewältigung [kongruierten] mit den ideellen Interessen einer Generation in der Bundesrepublik …, weil sie aus der historischen Einzelfallabwägung der Vätergeneration, aus historisch-hermeneutischen Deutungen des Nationalsozialismus hinausführten, generelle und damit definitive Urteile über Ursachen- und Schuldfragen zuließen und somit politisch auf die Gegenwartslagen übertragbar wurden. Es waren die generellen Faschismustheorien der Kritischen Theorie, … die es einer Generation erlaubten, den verlorenen Kampf der Väter gegen den Faschismus nachzuholen und sich eben dadurch politisch-moralisch für die Demokratie zu qualifizieren. … der aufklärerische Erziehungsoptimismus, daß die Verhältnisse den Menschen prägen und der, einmal über den Zusammenhang aufgeklärt, sie zum Guten verändern könne und wolle, bestimmte die Geschichte der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik. (Albrecht 1999d, 202) Ebenso hält Norbert Frei „die Universalisierung des Faschismusvorwurfs, wie sie die radikale Linke zum Zwecke der Kapitalismuskritik … favorisierte, nicht nur [für] maßlos überzogen, sondern auch [für] eine Verharmlosung des ‚Dritten Reiches‘. (Frei 2008, 222). Der heutige Faschismus steckt in den autoritären Institutionen und im Staatsapparat. Den letzteren zu sprengen ist unsere Aufgabe, und daran arbeiten wir. (Dutschke 1968c, 115); Der heutige Faschismus ist nicht mehr manifestiert in einer Partei oder in einer Person, er liegt in der tagtäglichen Ausbildung der Menschen zu autoritären Persönlichkeiten, er liegt in der Erziehung, kurz, er liegt im bestehenden System der Institutionen (ebd. 116); Erfolgreich und prämiert ist der Wissenschaftler heute in der
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deutet: Die Diskursbeteiligten stellen diejenigen Strukturen der Gegenwart heraus, die den historischen Faschismus zur Folge hatten. Diskontinuität bedeutet: Man verpasste dem Faschismuskonzept eine neue semantische Struktur – eine solche, die die Nomination bewahrt. Diese Konservierung hat zur Voraussetzung, die Gegenwart derart zu konstituieren, dass sie mit dem Denotat Faschismus in semantische Solidarität zu bringen war. Verbindungen wie neuer Faschismus, heutiger Faschismus, die Prozessbezeichnung Faschisierung, die Zustandsbezeichnung faschisiert und vor allem der Neologismus faschistoid belegen, dass zur Erzeugung dieser Solidarität das Faschismuskonzept eine Umdeutung erfährt. Die Bundesrepublik als ein dem Faschismus irgendwie vergleichbares, verwandtes System mit faschistischen Erscheinungsformen – diese Konstitution ist diskursnotwendig zur Konzeption der Gegenwart als demokratiefeindlich, des Zukunftsmodells als wirklich demokratisch. Die diskursive Strategie der Enthistorisierung realisiert dieses Konzept auf der semantischen Ebene. Enthistorisierung ist Voraussetzung zur Erreichung des diskursiven Zwecks, also die Identifizierung von für autoritärdemokratiefeindlich gehaltenen gegenwärtigen Strukturen und Erscheinungen der Bundesrepublik mit Merkmalen faschistischer Provenienz, als Möglichkeit, auf der „These von der Kontinuität des Faschismus“ (Rusinek 2003, 143) beharren zu können. Wie sich der alte gegen den neuen gegenwartsbezogenen Faschismus verhält, ist Gegenstand von Analysen, deren Ergebnisdarstellung durch Enthistorisierung geprägt ist. Während Hans Magnus Enzensbergers Explizitheit eine Ausnahme ist, indem er vorbehaltlos die Zuschreibung neuer Faschismus gebraucht – Der neue Faschismus ist die Parodie der Konterrevolution (Enzensberger 1968, 191) –, ist vielmehr diskurstypisch die Nutzung mehr oder weniger implikatorischen Potenzials.24 Claus Offe impliziert mit der Formulierung Faschismus alten Typs die Parallele Faschismus neuen Typs, die Verbkonstruktion war noch impliziert nicht mehr. Diese beabsichtigten Evokationen werden durch die
Bundesrepublik – einer Gesellschaft, die sich zu einem neuen Faschismus totalisiert – um den Preis der Aufgabe emanzipativer, systemtranszendierender Intentionen (Brückner / Leithäuser 1968, 73). Bei Enzensberger ist der Gegenwartsbezug repräsentiert durch Wirklichkeit: Dieser neue Faschismus ist keine Drohung, er ist längst Wirklichkeit; es ist ein alltäglicher, einhäusiger, verinnerlichter, institutionell gesicherter und maskierter Faschismus. (Enzensberger 1968, 191) 24 Als Teil eines diskurslinguistischen Analyseprogramms beschreiben Warnke / Spitzmüller die Darstellung der „impliziten Bezüge auf gemeinsames Wissen“ (2008, 28) – Faschismus, als Bezeichnung eines auch nach zwanzig Jahren noch omnipräsenten kollektiven Traumas, repräsentiert ein solches Wissen, auf das man sich mehr oder weniger indirekt bezieht.
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anschließende Temporaldeixis Heute, durch den Gleichheitsmarker gleiche sowie durch die Komparativformen (geräuschloser und unauffälliger) bestätigt.25 Reimut Reiche kennzeichnet in seinem Beitrag den Wahrheitswert einer Aussage zwar als offene Frage, stellt jedoch mit der Formulierung klassischer Faschismus ebenfalls implizite Identität her: klassischer Faschismus impliziert nichtklassischer Faschismus.26 Wir sehen: Es gibt Haltungen zur Gegenwartsdemokratie, die eine Parallele zum historischen Faschismus durch die Aktualisierung von, das Phänomen zwar mäßigenden Kennzeichen herstellen, eine prinzipielle Nähe aber – durch den Gebrauch der Kategorie Faschismus – behaupten. Diese Behauptung drückt sich durch Attribuierung aus: Während die absolute, attributlose Verwendung von Faschismus keine parallelisierenden Evokationen erzeugt, indem Faschismus dann ausschließlich auf das historische Phänomen in der Vergangenheit referiert, sind es die Kollokatoren (wie alt, klassisch), die den Analogismus fordern, gleichsam eine Leerstelle eröffnen, Parallelisierung heischen. Diese Form der Parallelisierung beruht auf der Strategie der Enthistorisierung. Enthistorisieren meint: die Bedeutungsstruktur von Faschismus so zurichten, dass die Bezeichnung für die Gegenwart adaptierbar wird. Es ist also eine Strategie der Umdeutung. Einer der Protagonisten dieser Strategie ist Johannes Agnoli. In der Feststellung einer fehlenden faschistischen Phänomenologie sieht er eine Gefahr: Eine der Fehlerquellen für die Faschismusreflexion und die Beschäftigung mit neofaschistischen Strömungen scheint mir in Deutschland darin zu liegen, daß man gewöhnlich in Terror und Gewaltanwendung das Wesensmerkmal des Faschismus sieht, und so allmählich Terror und Gewalt zur einzigen Betätigungsform des Faschismus verabsolutiert wurden. (Agnoli 1968d, 47)
Agnoli sieht die Fixierung der deutschen Öffentlichkeit, aber auch der deutschen Wissenschaft auf den Nationalsozialismus als auf die eigentliche Form des Faschismus als Gefahr, die dazu führen [kann], daß man aus dem Faschismus – als historisches Phänomen und als virtuelle Entwicklung der 25 […] der Faschismus alten Typs … war noch darauf angewiesen, die disruptiven Tendenzen des bürgerlichen Parlamentarismus durch dessen Zerstörung abzuwenden. Heute läuft der funktional gleiche Prozeß geräuschloser und unauffälliger, nämlich innerhalb des institutionellen Rahmens parlamentarischer Herrschaftsausübung selber ab. (Offe 1968c, 370) 26 Es ist im Rahmen dieser Analyse eine Antwort darauf nicht möglich, ob die politische Stunde bereits wieder da ist, da das System der Herrschaft im autoritären Staat wirklich auf die Mechanismen wird zurückgreifen und sie kollektiv gegen uns wird einsetzen müssen, die heute „nur“ als individuelle und isolierte Mechanismen vorhanden sind. Unbeantwortbar bleibt auch die Frage, ob dies so glatt gelingen würde wie im klassischen Faschismus. (Reiche 1968a, 31)
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bürgerlichen Gesellschaft auf einen neuen Faschismus hin – genau die Komponenten, die etwa auf die Bundesrepublik zutreffen, ausklammert (ebd. 47f.). Er verweist darauf, dass, wenn man unter Faschismus weitgehend Gaskammern, Konzentrationslager verstehe, die BRD als chemisch rein von Faschismus dastehe (ebd. 47). Faschismus sei daher nicht nur gleichzusetzen mit seinen äußeren Merkmalen, und es sei oberflächlich, die Politik eines Staates als nichtfaschistisch zu bezeichnen, nur weil die Gewerkschaften sich ‚frei‘ entfalten können.27 Aufschlussreich ist dann ein kurzer Wortwechsel, der während dieses Referats stattfand. Auf die Feststellung Agnolis Selbst die Notstandsgesetze sehen, wie man weiß, die Errichtung von Gaskammern nicht vor folgt der Zwischenruf Noch nicht!, auf den Agnoli unmittelbar reagiert: Nein, gerade in diesem ‚noch nicht‘ scheint mir die geschichtliche Gefahr, der Mangel an geschichtlicher Spezifizierung zu liegen. Wenn wir sagen: noch nicht, dann begeben wir uns eben in die Falle, die uns begrifflich gestellt wird, denn dann sagen wir: Deutschland ist noch nicht faschistisch, weil es immer noch keine Gaskammern gibt (ebd. 48).
Worauf will der Referent hinaus? Wer glaubt, dass Agnoli sich hier konzeptuelle Bedingungen schafft, die Bundesrepublik mit Faschismus unmittelbar gleichzusetzen, irrt: Die Bundesrepublik Deutschland ist kein faschistischer Staat lässt er verlauten, um – über Abstraktion und Selektion – die Zuschreibung mit dem Prädikat faschistisch dann allerdings doch wieder zu vollziehen: aber die Kerntendenz der Abwehr gegen Emanzipation in der Bundesrepublik, im bürgerlichen Staat, ist faschistisch. D. h. konkreter formuliert und auch historischer: Der Umschlag in den offenen Faschismus ist dem bürgerlichen Staat immanent (ebd. 57). Auch Furio Cerutti, er ist arrivierter Politologe und, wie Agnoli, unbedingter Mentor der studentischen Linken, argumentiert enthistorisierend. Er möchte den starren Faschismusbegriff aufgeben und ihn nicht nur beziehen auf einen Staat, der die nackte Gewalt der Repression anwendet, wenn das 27
Mit seiner Einschätzung einer an Terror und Gewalt geknüpften Faschismus-Konzeption hat Agnoli recht. Die Ausdeutung des gegenwartsbezogenen Faschismus-Konzepts läuft wesentlich über die Konzeptelemente des ‚Terror und Gewalt‘-Feldes: terroristischer Druck, physischer Terror, Polizeiterror, zertrampelnde physische Gewalttätigkeit, nackte Gewalt der Repression, irrationale Gewalt, Maschinengewehr, bewaffnete restaurative Reaktion, paramilitärische Organisationen, Minderheiten in Angst versetzen, physisch vernichten, Konzentrationslager, Mord, Folterung. Das Feld ‚undemokratisch‘ ist jedoch nicht unbesetzt: Minderheitenherrschaft, Führerprinzip, Aufhebung der Grundrechte, gleichgeschaltete Presse, undemokratische Verhältnisse, blinde Akklamation, hierarchische Struktur sind ebenfalls Kontextpartner von Faschismus / faschistisch.
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Maschinengewehr den Polizeiknüppel ablöst und KZ errichtet werden. Vielmehr müsse man […] erkennen, daß im kapitalistischen Restaurationsprozeß nach dem Zweiten Weltkrieg Terror und Gewalt neue, subtile Formen angenommen haben, daß aber das tiefliegende faschistische Potential dieser Gesellschaft in einer verschärften Kampflage umstandslos zu seinen traditionellen Mitteln zurückgreift: das hat sich gerade in der brutalen Repression der Studentendemonstrationen gezeigt, und darin war Europa wirklich eine Einheit, von Berlin bis Madrid. (Cerutti 1968, 41f.)
Schließlich Ekkehart Krippendorf, der dafür plädiert, die jetzige Gesellschaft nicht nach den Kriterien der dem historischen Faschismus eigenen äußerlichen Herrschaftsmethoden zu beurteilen. Stattdessen sei allein ausschlaggebend […] die Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen des Faschismus in der jüngsten deutschen und westeuropäischen Geschichte – nämlich als ein möglicher und in jener konkreten Form kaum reproduzierbarer Versuch der Sicherung gesellschaftlicher Machtpositionen im Kapitalismus. (Krippendorf 1968, 169)
Diese gesellschaftsfunktionale, von dem historisch einmaligen Begriff von Faschismus entbundene Perspektive, aus der die Linke ihr Selbstverständnis generiert28, zeige, […] daß Faschismus sich auch in anderen Formen als denen des Dritten Reiches mit Schlägerkolonnen und KZ’s einstellen kann – oder anders gesagt: daß die gegenwärtige spätkapitalistische Gesellschaft jener kruden Formen der Repression noch nicht oder nicht mehr zu ihrer Selbsterhaltung und zur Unterdrückung ihrer inneren Widersprüche bedarf (ebd.).
In diesem Beitrag sucht Krippendorf eine Antwort auf die Frage: Ob und wie weit … diese unsere Gesellschaft faschistoide Züge trägt bzw. ob und wie weit sie bereits als neo-faschistisch bezeichnet werden kann (Krippendorf 1968, 169). Diese Frage steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Habermas’ vehementer Kritik an der Belegung der Bundesrepublik mit dem Attribut faschistisch, die er auf dem vom Verband Deutscher Studentenschaften einberufenen Schüler- und Studentenkongress am 2. Juni 1968 an den SDS richtete: sie [verwechseln] die Abwehrreaktionen eines Staates, der durch Normen noch gehalten ist, auf Protestspiele sich einzulassen, mit der nackten Repression einer faschistischen Gewalt – sie unterschätzen deshalb die potentielle Gewalt eines Staates, der eines Tages wirklich zur
28 […] diese gesellschaftsfunktionale – im Unterschied zu einer historischen oder phänomenologischen – Analyse des Faschismus [spielt] eine wesentliche Rolle im Selbstverständnis der Linken (Krippendorf 1968, 169).
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manifesten Unterdrückung wehrloser Gruppen übergehen könnte. (Habermas 1968a, 199) Krippendorf rechtfertigt – mit explizitem Bezug und Habermas zitierend – diese Zuschreibung als politisch durchaus legitim. Es sei zulässig, bereits dort von Faschismus zu sprechen und vor ihm zu warnen, wo Habermas noch nur „die Abwehrreaktionen eines Staates, der durch Normen noch gehalten ist“, sehen zu können glaubt. (Krippendorff 1968, 169) Aus der Perspektive der Zeitdimension wird also, im Wesentlichen von der studentischen Linken, Faschismus Ende der 1960er Jahre als ein auf die Gegenwart beziehbares Diskurselement konstituiert. ‚Kontinuität des Faschismus‘ lautet die Grundthese der Beteiligten. Voraussetzung für diese Übertragung ist die Erweiterung des traditionellen Begriffsumfangs, der von dem historischen Phänomen des deutschen Nationalsozialismus abzugrenzen ist, um so die Möglichkeit zu schaffen, den Staat und die Gesellschaft der Gegenwart, die BRD, unter dieser Kategorie – mit ihrem hoch willkommenen Evokationspotenzial – zu fassen. Ist das westliche Deutschland faschistisch, präfaschistisch, neo-faschistisch oder faschistoid? Die wackligen Wörter verraten, dass darüber keine Klarheit herrscht. (Enzensberger 1968, 191) Enzensberger mochte recht haben, womöglich herrschte keine Klarheit, soviel aber war sicher: Die Gesellschaft sollte faschistisch disponiert sein, der Staat sollte faschistische Züge haben – die so argumentieren, sehen (und schaffen) durchgängig Anlässe, den Staat als prä-, post-, neo-, auf jeden Fall aber faschistisch zu bezeichnen. Die, aus einer Abkehr von äußeren und einer Hinwendung zu tiefenstrukturellen Merkmalen des Faschismus resultierenden Begriffserweiterungen lassen es zu, jegliche für autoritär gehaltene Erscheinungsformen des Systems (und seiner Vertreter) unter diese Kategorie zu fassen und diese Erscheinungsformen als Signale zumindest eines drohenden, wenn nicht existenten Faschismus zu deuten.29 29
Die Bedrohung durch einen neuen Faschismus, durch seine sich häufenden Manifestationen, betreffen, obwohl sie von einigen sozialen Positionen aus deutlicher erfahrbar und absehbar sind, das soziale System als Ganzes. (Offe 1968b, 109); Die Gefahr [daß Deutschland in einen neuen Faschismus zurückfällt] ist ganz zweifellos da. Ich vermute also, daß insbesondere, wenn die Arbeiter in Massen mit in die Bewegung hineingezogen werden, es zunächst vorübergehend faschistische Tendenzen ganz massiv geben wird. (Lefèvre 1968d, 96.); Springer-Zeitungen … [propagieren] eine illusionäre Politik …, die dem faschistischen Potential in ungleich höherem Ausmaß Vorschub leistet als das Nebenprodukt einer Regelverletzung. Solange diese Gesellschaft weder fähig ist, die kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse durch demokratische Verhältnisse zu ersetzen, noch den gemeingefährlichen Springer-Konzern zu zerschlagen …, so lange ist der Faschismus als ein Massenphänomen nach wie vor die bedrohliche Perspektive dieser Gesellschaft. (Negt 1968a, 22)
6.1 Enthistorisieren – Analogisieren
159
Die enthistorisierte und damit semantisch erweiterte Faschismuskonzeption deutet Faschismus also so, dass das Konzept auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit der späten 1960er Jahre applizierbar ist. Das ist die Funktion der enthistorisierenden semantischen Strategie: Faschismus als strukturelles, systematisch beschreibbares Phänomen, als ein Kennzeichen der bundesrepublikanischen Gesellschaft, als eine in ihrem System angelegte Tendenz interpretieren. Diese Anlage konstituiert man mit Analogisierungen. Als Argumentationsmuster dient die rhetorische Strategie der Analogisierung dazu, zwei Sachverhalte zueinander in eine Relation zu setzen – „um Unbekanntes aus Bekanntem zu erschließen, oder um Ungleiches mit Ungleichem in Zusammenhang zu bringen“ (Hoenen 1992, 498). Diese Relation ist das Ergebnis eines Vergleichs: Die Sachverhalte weisen Entsprechungen, Ähnlichkeiten oder Gleichheit auf derart, dass sie als konzeptuell zusammengehörig interpretiert werden können. Dies geschieht in unserem Fall, also im Kontext des Denkstils der Kritischen Theorie, durch Vergleich von Strukturmerkmalen. Analogisieren bedeutet im Denkstil der Kritischen Theorie: Behaupten einer Gleichheits- oder Ähnlichkeitsbeziehung der Strukturmerkmale von Faschismus und der deutschen Nachkriegsdemokratie.30 Das klassische und explizite Muster zur Bezeichnung einer Analogiebeziehung hat die Form: „(So) wie X, so (auch) Y.“ Die Konstruktion im 68er-Diskurs nun basiert auf einem Analogieschluss, der übereinstimmende Verhältnisse bzw. Strukturen in der Nazizeit und in der Gegenwart behauptet, ohne damit die Bundesrepublik schlechthin mit dem Faschismus gleichzusetzen. Ein Beispiel dieser Konstruktion stammt aus der Analyse von Reimut Reiche ‚Hat der autoritäre Staat der BRD eine Massenbasis?‘: So wie der Faschismus … sich seiner eigensten genuin-faschistischen Kerntruppe entledigen mußte, damit er seine Aufgabe im Dienst des Kapitalismus erfüllen konnte, – so wurde es nach dem Faschismus für jedes restaurative, kapitalistischdemokratische System eine Überlebensfrage, daß wirklich keine fundamental demokratische Bewegung aufkäme, die ihrerseits so radikal demokratisch würde, daß sie die kapitalistischen Fesseln des formal demokratischen Systems zu sprengen drohte. (Reiche 1968a, 25)
30 Die Wissenschaftsgeschichte bestätigt diesen Befund: „die Konzepte zur Vergangenheitsbewältigung der Kritischen Theorie [bestehen] … durch ihre generellen Begriffe auf der Identität von Kausalität und Schuld. Nur dadurch werden diese Theorien auch politisch-praktisch auf die Gegenwart anwendbar, weil sie generelle Merkmale benennen, deren Träger Schuld an der historischen Genese des Nationalsozialismus hatten, oder sich in der Gegenwart der Gefahr einer Wiederholung schuldig machen.“ (Albrecht 1999d, 201)
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6 Entdemokratisieren: Das Faschismussyndrom
Reiche stellt zunächst die Ebene einer temporalen Beziehung her – Faschismus und nach dem Faschismus – um auf dieser Ebene dann den für vergleichbar gehaltenen Sachverhalt ‚Entstehung und Umgang mit opponierenden Gruppierungen innerhalb des Systems‘ zu beschreiben. Obwohl der Autor die direkte Gleichsetzung nicht wagt – schließlich ist die Bundesrepublik als Demokratie anzuerkennen, wenn auch nur als Schein-, als formale Demokratie eines autoritären Staats – ist dies auf jeden Fall aber ein Beispiel für die relativ explizite Behauptung einer Gleichheitsbeziehung. Eine implizite, die direkte Zuschreibung vermeidende Strategie, Bundesrepublik und Faschismus eng zu führen, ist z. B. bei Habermas nachzuweisen. Er stellt eine Verbindung zum Faschismus derart her, dass er das Vergangenheitsphänomen ‚Reaktion der Staatsgewalt‘ mit dem Gegenwartsphänomen ‚Reaktion der Staatsgewalt‘ über die Kategorie Faschismus implizit in ein Gleichheitsverhältnis setzt: In der vergangenen Woche hat die Reaktion der Staatsgewalt auf Studentenproteste eine neue Qualität angenommen, eine Qualität, die wir seit den Tagen des Faschismus zum ersten Mal wieder kennenlernen (Habermas 1967a, 138). Mit dieser historischen Einordnung führt Habermas die Kategorie Faschismus explizit in den Diskurs ein und plausibilisiert durch die Behauptung struktureller Parallelen die Behauptung: Bundesrepublik und Faschismus haben eine gemeinsame Schnittmenge. Unter dem Vorbehalt, dass die Augenzeugenberichte … nicht widerlegt werden, sei festzustellen, dass die Polizei … Terror ausgeübt und der Berliner Senat … diesen Terror gedeckt hat. Es folgt die Definition: Terror heißt: gezielte Einschüchterung … faktische Einschränkung geltender Rechte. Terror zielt … auf die Abschreckung künftiger Proteste (ebd.). Eingelassen in eine weitere Vorbehaltsklausel (sollte … nicht) folgt die Bewertung, die diese Tötung als antidemokratischen Akt qualifiziert: Sollte der begründete Verdacht auf Terror nicht … aufgeklärt werden, sollte er … nicht … juristische und politische Folgen haben, dann werden wir den 2. Juni 1967 als einen Tag in Erinnerung behalten müssen, an dem die Gefahr nicht nur einer schleichenden Austrocknung, sondern einer manifesten Erschütterung der Demokratie … drastisch sichtbar geworden ist (ebd. 138f.).
Solcher Polizeiterror könne den ersten definitiven Schritt zum Polizeistaat bedeuten (ebd. 141) – Habermas redet hier unter dem starken Eindruck des 2. Juni, auf gar keinen Fall ist die Behauptung haltbar, dass er die bundesrepublikanische Gegenwartsdemokratie mit „Faschismus“ in irgend eine Beziehung setzt, im Gegensatz zu Enzensberger etwa. In einem Kursbuchbeitrag von 1968 stellt dieser eine Synopse her. Der alte Faschismus war die Parodie der Revolution ist die Einleitung einer Merkmalanalyse:
6.1 Enthistorisieren – Analogisieren
161
Er lebte vom Raub, davon, was er dem überfallenen Sozialismus abnahm an Taktik, Strategie und psychischen Triebkräften. Er verstand sich als Bewegung. Er machte die Massen mobil. Er verließ sich auf die Randgruppen der Gesellschaft, die nicht Integrierten, die Schwankenden.
Es folgt die syntaktisch parallele Überleitung Der neue Faschismus ist die Parodie der Konterrevolution und – in dialektischer Manier – die Umkehrung: Er zehrt vom Bestand der „Wirtschaftswunderzeit“. An Taktik, Strategie und psychischer Triebkraft stehen ihm nur Überbleibsel aus der Epoche des Antikommunismus und des Kalten Krieges zu Gebot. Er versteht sich als belagerte Festung. Er kann es nicht wagen, die Massen zu mobilisieren, er muß sie in Schach halten. Er verläßt sich auf die Mitte der Gesellschaft, die Integrierten, die sich Festklammernden. (Enzensberger 1968, 191)
Den von der Analogie geforderten Gleichheitsbezug stellen in dieser Synopse also die Gegensätze her: alt / neu, Revolution / Konterrevolution, machte die Massen mobil / kann es nicht wagen, die Massen zu mobilisieren usw. Diese Gegensätze werden durch das gemeinsame Bezugswort Faschismus und durch die syntaktisch parallelen Konstruktionen dialektisch aufgehoben. Fazit also: Die Bundesrepublik der Gegenwart und neuer Faschismus sind gleichzusetzen. Wir können festhalten: Es ist im Wesentlichen der studentischen Linken vorbehalten, die Gegenwart in der Ismus-Kategorie zu fassen und sie als den größten Gegensatz zu dem seit 1945 gültigen Konzept der Demokratie zu konstituieren. Es ist dies mithin ein Sprachgebrauchsphänomen, das tendenziell generationell begründet ist. Abgesehen von aller Kritik an der Nachkriegsdemokratie (die aus ihrer Sicht immer noch das Prädikat Demokratie verdient) – es ist nicht die Generation der intellektuellen Linken, also diejenige, die den historischen Faschismus erlebt hat, die Gegenwart und Faschismus implizit gleichsetzt (oder auch nur den Faschismus als tertium comparationis in Bezug auf gegenwärtige Missstände benutzt31). Dieses Bedürfnis, die Bundesrepublik der Gegenwart und Faschismus in eine Beziehung zueinander zu bringen, hat die studentische Linke. Diese Beziehung kann nicht die einer unbedingten Gleichsetzung sein – schließlich weist der deutsche Nachkriegsstaat einige formaldemokratische Merkmale auf. Um zumindest eine strukturelle Verwandtschaft behaupten zu
31
Die oben kommentierte Analogisierung Jürgen Habermas’ findet, wie gesagt, unter dem hoch emotionalisierten Eindruck der Erschießung Ohnesorgs statt, die Habermas dazu veranlasst, diesen Bezug herzustellen, der ansonsten nicht zu seinem Deutungsinventar der bundesrepublikanischen Gesellschaft gehört.
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6 Entdemokratisieren: Das Faschismussyndrom
können, benutzt man die sprachliche Strategie des Enthistorisierens: Mit der Behauptung, ‚die Merkmale des historischen Faschismus sind nicht die einzig gültigen, um ein System als faschistisch auszuweisen‘ modifiziert man die Bedeutungsstruktur von Faschismus. Diese Modifizierung geschieht auf dem Weg des Analogisierens, mit der Behauptung ‚Merkmale des gegenwärtigen Staats und des Faschismus stehen in einer Ähnlichkeitsbeziehung zueinander‘. In diesem Sinn aktualisiert man vergleichbare Strukturmerkmale, auf den evokativen Effekt dieser Parallelisierung setzend. Jedoch können wir jetzt erkennen: Diese Zurückhaltung, die die intellektuelle Linke sich auferlegt, wenn es gilt, Gegenwartsstaat und -gesellschaft mit der Kategorie zu versehen, legt sie ab, wenn die studentische Linke und ihr widerständisches Gebaren Gegenstand der Zuschreibung ist, denn wir haben gesehen: Von höchster Evidenz ist die personen- und handlungsbezogene Referenz in injurierender Absicht vor allem im Binnendiskurs der Beteiligten (s.o. Kapitel 4.2.2).
6.2 Kategorisieren: „Der autoritäre Staat“ Die studentische Linke benötigt die Konstruktion des autoritären Staats als Handlungsmotiv. In Bezug auf die Väter, die staatliche Obrigkeit oder das Herrschaftssystem imaginieren und entwerfen sie ein quasi vormodernes, in Hierarchien erstarrtes Gesellschaftsmodell, das die Produktivkräfte lähmt. In jeder Protestaktion wurde diese Gesellschaft stets aufs neue als ganz und gar autoritär vorgestellt sowie ‚entlarvt‘ und funktionierte eben deshalb wie ein Jungbrunnen für die antiautoritäre Haltung. (Scherpe 2000, 103)
Das für die Protestbewegung wesentliche Konzept der Kritischen Theorie ist das der Autorität – das Selbstverständnis der Protestbewegung als antiautoritär hat hier sein Motiv (s.o. Kapitel 4.2.1). Adorno stellt den Begriff der Autorität in den Zusammenhang mit dem Konzept einer kritischen Theorie.32 Dieser Zusammenhang sei nur dann möglich, wenn Autorität nicht auf eine Person referiere, sondern gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse bezeichne – wir haben bereits darauf hingewiesen:
32
Die Verwendung mit bestimmtem Artikel und die Großschreibung hat sich zu Lebzeiten der Väter noch nicht durchgesetzt.
6.2 Kategorisieren: „Der autoritäre Staat“
163
Der Begriff der Autorität selber bezeichnet nur ein Moment in der gesellschaftlichen Totalität, von der wir eingefangen sind. Ich hielte es für falsch und für beschränkt, wenn man alle gesellschaftlichen Probleme unter jenen Begriff subsumieren wollte, der ja selber nur eine subjektive Reflexionsform der herrschenden Verhältnisse ist. Angesichts der fortschreitenden Anonymität von Herrschaft ist jedenfalls der traditionelle Autoritätsbegriff nur indirekt, depersonalisiert anwendbar. Für eine kritische Theorie der Gesellschaft ist eigentlich der Begriff der Autorität sinnvoll nur als Inbegriff gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und überhaupt nicht zu personalisieren. (Adorno 1968a, 459)
In dieser Argumentation wird ein ganzer sowohl konzeptueller wie lexikalischer Komplex derjenigen Repräsentationen geltend gemacht, auf denen die studentische Linke ihr Denken, Wollen und Sollen gründet und mit dem sie ihre Konzeption der Gegenwartsgesellschaft ausstattet: Autorität, subjektiv, herrschende Verhältnisse, Anonymität von Herrschaft, depersonalisiert, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, nicht zu personalisieren. Adorno grenzt das Konzept der Autorität in seiner Begriffsanalyse für die Kritische Theorie ein und aktualisiert dabei eine weitere Kategorie, die im Diskurs Ende der 1960er Jahre eine Funktion hat. Diese Kategorie manifestiert sich in der Formel Anonymität der Herrschaft. Exkurs – Übrigens: In dieser Formel ist die Idee der Charaktermaske ausgedrückt. Charaktermasken sind Menschen, die in einem gesellschaftlichen System Funktionen ausüben, die ihnen vom System aufgegeben sind. Sie sind insofern ersetzbar und – diesen Anschluss stellt Dutschke dann her – nicht als Menschen Ziel des Kampfes um eine bessere Welt. Charaktermaske ist insofern ein die Anonymität der Herrschaft repräsentierender Antidemokratismus. Wird Rudi Dutschke in der Öffentlichkeit mit dem Vorwurf konfrontiert, er rufe selbst zu Gewalttaten auf, so führt er die Theorie der Charaktermaske an, die die revolutionäre Wirksamkeit einer „Gewalt gegen Personen“ ad absurdum führen soll. Demnach seien die im kapitalistischen System entfremdeten Menschen nur austauschbare Träger von Charaktermasken und daher selbst nicht Gegenstand des Protests: SPIEGEL: Ihre Reden wurden gelegentlich … als versteckte Aufforderungen zur Anwendung von Gewalt gedeutet. Predigen Sie Gewalt? DUTSCHKE: Aufruf zur Gewalt, zu Mord und Totschlag in den Metropolen hochentwickelter Industrieländer – ich denke, das wäre falsch und geradezu konterrevolutionär. Denn in den Metropolen ist im Grunde kein Mensch mehr zu hassen. Die Regierenden an der Spitze – ein Kiesinger, Strauß oder was auch immer – sind bürokratische Charaktermasken, die ich ablehne und gegen die ich kämpfe, die ich aber nicht hassen kann, wie einen Ky in Vietnam oder Duvalier in Haiti. (Dutschke 1967b, 270) Der Terminus Charaktermaske entstammt dem Marx’schen Theoriegebäude. Er wird dort als Metapher aus der Theatersprache eingeführt, um die charakteristischen Eigenschaften zu beschreiben, die den Menschen durch ihre ökonomische Rolle aufgezwungen werden. In seinem Hauptwerk „Das Kapital“ gebraucht Marx den Terminus ökono-
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6 Entdemokratisieren: Das Faschismussyndrom
mische Charaktermaske in diesem Sinn: „Wir werden überhaupt nur den Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten“ (Marx / Engels 1867, 100). In diesem Sinn und mit antifaschistischem Feuer verwendet Max Horkheimer die Kategorie 1940: „Es wird sich zeigen, daß die bornierten und verschlagenen Wesen, die heute auf menschliche Namen hören, bloße Fratzen sind, bösartige Charaktermasken, hinter denen eine bessere Möglichkeit verkommt.“ (Horkheimer 1940, 76) Wolfgang Fritz Haug erklärt im „Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus“, dass ökonomische Charaktermaske und Personifikation der ökonomischen Verhältnisse bei Marx als Komplementärbegriffe aufgefasst werden (vgl. Haug 1995, 435ff). Personifikation werde hingegen als kontinuierliches Korrelat zu einer bestimmten ökonomischen Kategorie (etwa Kapital oder Arbeitskraft) verstanden, während Charaktermaske als wechselnde ökonomische Rolle einer Person in bestimmten ökonomischen Handlungszusammenhängen definiert werden könne. Im kritischen Diskurs erscheint Charaktermaske in diesem Sinn zunehmend als pejorisierende Bezeichnung politischer Gegner, häufig in Verbindung mit abwertenden Attributen wie bürokratisch, kleinbürgerlich oder austauschbar, um konkrete Personen als Funktionsträger des bürgerlichen Establishments zu identifizieren und sie zugleich als „entseelte“ Systemstellen im Kapitalismus zu charakterisieren.33 – Ende des Exkurses.
Wir werden weiter unten sehen, dass es auch dieses entpersonalisierte Konzept ist, mit dem Teile der Bewegung Gewaltabstinenz und die Leitformel ‚Gewalt gegen Sachen‘ – was mitmeinen soll: ‚nicht gegen Menschen‘ –, begründet. Depersonalisiert und abstrahiert, Strukturbezeichnung und gesellschaftsbezogen – die Grundelemente des kritischen Denkens sind also in dem von Adorno bezeichneten Konzept der Autorität verdichtet und in dieser Ausdeutung von der Protestbewegung adaptierbar.
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unsere Herren an der Spitze, die bürokratischen Charaktermasken à la Albertz, Busch oder auch Ristock (Dutschke 1967f, 257); unsere Herren an der Spitze sind völlig fungibel, jederzeit durch neue bürokratische Charaktermasken ersetzbar (ebd.); Adenauer, Barzel und andere bürokratische Charaktermasken (Dutschke 1967g, 96); Leute …, die vorgeben, Mao Tse-Tungs Ideen zu beschützen und gleichzeitig unsere Bewegung mit anarchistischen Aufrufen desorientieren wollen … sind alle miteinander kleinbürgerliche Charaktermasken. … ebenfalls zielt die Wühlarbeit dieser Charaktermasken daraufhin, über die klassenmäßige Herkunft der verschiedensten, aus der Geschichte der Arbeiterbewegung bekannten, opportunistischen und sektiererhaften sozialistischen Theorien hinwegzutäuschen. (Klaun / Paetzel / Rosenow / Tepas 1969); Wir sind es dem Genossen Dutschke schuldig, ihn von seiner Charaktermaske zu befreien und zu beweisen, daß seine Erfolge Erfolge des SDS und seiner besseren Einsicht in die schlechten Verhältnisse sind. (Blanke 1968a, 45); die Theorie der Charaktermasken, aus der Marxschen Theorie nach dem 2. Juni abgeleitet, diente nicht wenigen Studenten dazu, jede konkrete Verantwortlichkeit eines kapitalistischen Agenten hinter dem Schleier universeller Abhängigkeit vom kapitalistischen System verschwinden zu lassen. Das Beharren auf der Person Springers machte es erst möglich, etwas wie eine korrekte Charaktermaske zu zeichnen. (Untergang der Bildzeitung 1968, 117)
6.2 Kategorisieren: „Der autoritäre Staat“
165
Welche Funktion hat das Konzept des autoritären Staates in dieser Konstellation? Die Diskursbeteiligten stellen zwischen Faschismus und der Nachkriegsgesellschaft insofern eine Bedeutungsrelation her, als sie mit autoritär als zentralem konzeptuellem Verbindungsstück, wie Spätkapitalismus in der Funktion des Missing Links (s.o.) zwischen dem historischen und dem gegenwärtigen Zustand zwei Referenzbereiche – Bundesrepublik und Faschismus – gleichzeitig erfassen. Der gegenwärtige Staat wird, da er autoritäre Züge habe, in den Kontext des Faschismus gestellt – ohne ihn freilich gleichzusetzen. Herr Löffler, geben Sie sich doch keinen Illusionen hin … Ihr Liberalismus ist schon längst im autoritären Staatsapparat des Faschismus untergegangen (Dutschke 1968j, 114) ruft Rudi Dutschke im Zuge seiner Vernehmung vor einem Untersuchungsausschuss dem Vorsitzenden zu. Diese Aussage präsupponiert: Faschismus ist existent und manifest in der für autoritär gehaltenen Beschaffenheit der Bundesrepublik. In seinem letzten Interview vor dem Attentat referiert Dutschke auf autoritärfaschistoide Tendenzen in unserer Gesellschaft und in der Welt (Dutschke 1968g, 102). Der AStA-Vorsitzende der Universität Göttingen, der den 2. Juni – wie alle kritischen Diskursbeteiligten – als Missachtung demokratischer Grundrechte bewertet, appelliert an alle politischen Parteien …, solchen autoritären – um nicht zu sagen faschistischen – Kräften zu wehren. (Mützelburg 1967, 67) Hans Jürgen Krahl plädiert in einer Diskussion zwar für eine Unterscheidung zwischen faschistischem und autoritärem Staat, nimmt dann jedoch diese Separierung zurück, indem er durch Nennung von Merkmalen (Auflösung des Rechtsstaats, ohne Legitimationsbruch) und mit der Aussage (ohne Legitimationsbruch in den Faschismus transponieren) die beiden Systeme nahe aneinander rückt.34 Wir sehen – die Kategorie autoritär bezieht sich auf die Erscheinungsformen eines Staates mit für faschistisch gehaltenen Zügen. Kampfparole und Zielbestimmung lauten daher: Wir kämpfen für eine antiautoritäre und damit antifaschistische Einheitsfront aller Gruppen, Organisationen und Individuen aus allen Sphären der Gesellschaft – mit dem Ziel, eine antiautoritäre, d. h. freie Gesellschaft … zu erkämpfen. (Dutschke 1968c, 115) Die Botschaft Dutschkes ist ein-
34 Ich will abschließend sagen, es scheint mir doch, daß der autoritäre Staat vom manifest faschistischen dadurch sich unterscheidet, daß er noch so stabil ist, mit der Manipulation die Verinnerlichung des Terrors leisten zu können, dessen ökonomische Funktion es ist, die Organisierung der Arbeiterklasse zu verhindern, und daß jede Krisensituation diese Manipulation problematisiert, daß aber auch durch die Auflösung des Rechtsstaates die Möglichkeit sich ergeben hat, das System ohne politischrechtlichen Legitimationsbruch in den Faschismus zu transformieren, ein Prozeß zu dem die Notstandsgesetze ein Mittel sind. (Krahl 1968e, 54f.)
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6 Entdemokratisieren: Das Faschismussyndrom
deutig: Widerständisches linkes studentisches Denken in den 1960er Jahren ist antifaschistisch, und die Kategorien autoritär und faschistisch stehen – analog zu dem Verhältnis zwischen antiautoritär und antifaschistisch – in einem konsekutiven Verhältnis zueinander. Der Syllogismus lautet: autoritär, also faschistisch. Faschistisch und autoritär stellen damit eine Kontextpartnerschaft her, die ihr theoretisches Verhältnis abbildet. Denn: Diese Ligatur von faschistisch und autoritär wird mit der von Horkheimer entwickelten Kategorie des autoritären Staats vollzogen. Horkheimers Aufsatz ‚Autoritärer Staat‘ aus dem Jahr 1940 ist – nicht für den Autor, sondern für seine studentischen Rezipienten – der entscheidende Theoriegeber zur Konzeption der Bundesrepublik als autoritärer Staat. Er wird zu einem „Schlüsseltext der Studentenbewegung“ (Kraushaar 1997, 272). In diesem Beitrag wird deutlich, dass Horkheimer „autoritärer Staat“, den er als eine Erscheinung des Kapitalismus bewertet35, als eine Sammelkategorie interpretiert, als ein Hyperonym: Autoritärer Staat kann die Gestalt des Reformismus, Bolschewismus oder Faschismus haben (vgl. Horkheimer 1940, 51), der „Staatskapitalismus ist der autoritäre Staat der Gegenwart [von 1940]“ (ebd. 42). Was dieses Konzept Horkheimers für die studentische Linke so sehr geeignet macht, es als lexikalisch-semantischen Fundus auszuheben, ist zum einen die theoretische Erfassung der selbst erfahrenen staatlichen Aggression: Mit Horkheimers Gleichsetzung – „Identität [des autoritären Staats] mit dem Terrorismus“ (ebd. 57) – und seiner Ausdeutung – „In allen seinen Varianten ist der autoritäre Staat repressiv“ (ebd. 53) – legitimiert die studentische Linke die Konstruktion der Bundesrepublik als brutal agierenden, aggressiven, mordenden und Terror ausübenden, Minderheiten verfolgenden Polizeistaat.36 Das Autoritärsein bzw. die Entwicklung der Bun35
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Diese Argumentationslinie wird gern aufgenommen: Max Horkheimers Theorem, daß der Monopolkapitalismus potentiell Faschismus ist, besteht zu Recht. Faschismus ist im Grunde genommen die Konsequenz aus dem Sozialreformismus des autoritären Staates. (Krahl 1968b, 462f.) Diese Konzeption spiegelt die hohe Frequenz von entsprechenden Formeln im Diskurs wider: polizeistaatliche Methoden; Polizeiterror; Polizisten, die auf Demonstranten einknüppeln und schießen; Überdimensionalität des Polizeiaufgebots; planmäßige Polizeiaktion; Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit des Polizeiapparates; diese demonstrative Brutalität; dieser Mord; unmerkliche Brutalisierung des gesellschaftlichen Lebens; Großeinsatz; innenpolitisch gewendete Aggression auf allen Ebenen; gewaltlose Demonstration mit Gefahr für Leib und Leben bedrohen; den demokratischen Rechtsstaat in einen Polizeistaat umwandeln; unkontrolliertes Verhalten staatlicher Ordnungsgewalt; Massaker; Verwandlung eines Organs der demokratisch legitimierten Exekutive zum faschistischen Terrorinstrument; die so brutal terrorisierte Minderheit; Einsatz, der etwas „außerhalb der Legalität“ die Studenten zermürben und verängstigen sollte; von der Polizei eingekreist und zusammengeschlagen; ein Rachefeldzug, der in einem blitzkriegsartigen Überfall diese Opposition zerschlagen soll-
6.2 Kategorisieren: „Der autoritäre Staat“
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desrepublik zu einem autoritären Staat ist insofern als konstituierte Tatsache ein Gegenstand der Sozialkritik. Genitivisch konstruierte Präsuppositionen nach dem Muster x des autoritären Staates37 sind ebenso Ausdruck dieser Überzeugung, wie die viel belegte Verwendung des semantischen Netzes Kampf (Kampf, Widerstand, Revolte, Auseinandersetzung), dessen Exemplare nach dem Muster Kampf gegen den autoritären Staat häufig gebrauchte Kontextpartner sind.38 Es sind dies implizite Existenzaussagen, die die Proposition ‚der Staat ist autoritär‘ präsupponieren.39 Auf der Ebene der Wortbildung wird diese Aussage durch bemerkenswerte Produktivität evident:
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te; prügelnde Soldateska; von einem Polizeispitzel erschossen; die blindwütigen Reaktionen des Polizeiapparates und der Administration; Die harten Verfolgungen; jeden potentiellen Gegner zum Staatsfeind deklarieren und vernichten; brutal vorgehende Kampftruppen der verschiedenen Polizei-Organisationen. Terminologisch sind es Konstruktionen mit dem sog. Definitionsgenitiv: „Der Genitiv steht zum Bezugssubstantiv in einem ähnlichen Verhältnis wie die Bezeichnung der Art zur Bezeichnung der Gattung in Begriffsdefinitionen. … Beim Definitionsgenitiv ist kommunikativ meist der Genitiv selbst der bedeutsamere Teil“ (Eisenberg 1986, 236): Alibi des autoritären Staates; die Universitätsbürokratie des autoritären Staates; die Repräsentanten des autoritären Staates; Das Bestehen des autoritären Staates der Gegenwart; die Rolle des autoritär monopolkapitalistischen Staates; der politischen Zentralisierungstendenz des Autoritären Staates; Formierungstendenzen des Autoritären Staates; Institutionen des Autoritären Staates; Herrschaft des Autoritären Staates; Formierung des autoritären Staates; Büttel[…] des autoritären Staates; angesichts der Machtmittel des autoritären Staates; die latente Gewalt des autoritären Staates; Die Tendenz des Autoritären Staates. Organisation des Widerstandes gegen den gefestigten autoritären Staat; die Organisierung des Widerstandes im autoritären Staat; Notwendigkeit repressiven politischen Kampfes gegen den Autoritären Staat; Widerstand gegen den Autoritären Staat; Kampf gegen den autoritären Rechtsstaat mit seinen NS-Gesetzen; Notwendigkeit, gegen den autoritären spätkapitalistischen Staat wirksamen Widerstand zu leisten; der Widerstand gegen den autoritären Staat; praktische und zugleich theoretische Kampfmaßnahme gegen den autoritären Staat; die Notwendigkeit des Widerstandes gegen den Autoritären Staat … Widerstandsorganisationen gegen den Autoritären Staat; dieser Basis als einem aktiven Widerstandszentrum gegen den autoritären Staat; Revolte gegen den autoritären Staat; Machtauseinandersetzungen mit dem Autoritären Staat … in der machtpolitischen Auseinandersetzung mit dem Autoritären Staat; Die Universitäten sind die letzten Bastionen gegen den autoritären Staat; Möglichkeit eines praktischen politischen Widerstands gegen diesen autoritären Staat; praktische und zugleich theoretische Kampfmaßnahme gegen den autoritären Staat. Argumentativ besteht dabei kaum ein Unterschied zwischen solchen Existenzfeststellungen gegenüber Aussagen, die erst die G e f a h r einer entsprechenden Entwicklung zum Inhalt haben. Auch ein Staat, der droht, autoritär zu werden, ist ein Staat mit entsprechenden autoritären antidemokratischen Tendenzen bzw. Phänomenen: Die Bundesrepublik entwickelt sich seit ihrem Bestehen schleichend, aber kontinuierlich zu einem autoritären Staat; der demokratische Staat Bundesrepublik entwickelt sich zu einem autoritären Staat; der bereits andauernde Transformationsprozeß von der formalen Demokratie zur offen-autoritären Klassenherrschaft; radikale Kritik an der Entwicklung der BRD zum autoritären Staat; die Transformation zum autoritären Staat; die Weiterentwicklung des autoritären Notstandstaates in der Bundesrepublik;
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6 Entdemokratisieren: Das Faschismussyndrom
restaurativ-autoritär, feudal-autoritär, totalitär-autoritär, repressiv-autoritär, magisch-autoritär, rituell-autoritär, autoritär-militaristisch, autoritär-patriarchalisch, autoritär-sozialstaatlich, autoritär-hierarchisch, autoritär-demokratisch.
Die studentische Linke kann sich, wie gesehen, auf den historischen Horkheimer des Jahres 1940 berufen. Adorno und Habermas dagegen lassen diese gegenwartsbezogene Parallelisierung ebenso wenig wie der Begründer der Kritischen Theorie selbst zu. Sie wollen keinen Bezug zwischen den autoritären Tendenzen der Bundesrepublik und einem faschistischen Staat herstellen. Horkheimer, der sich vehement gegen die Übertragung seiner Befunde auf die Gegenwart wehrt mit dem Argument, seine Theorie dürfe nicht aus dem historischen Kontext, dem sie ihre Entstehung verdanke, herausgenommen werden, verteidigt außerdem die gegenwärtige Demokratie, die, wenn auch fragwürdig, bei allen Mängeln immer noch besser sei als die Diktatur. Dies auszudrücken scheint mir … um der Wahrheit willen notwendig zu sein. (Horkheimer 1968a, 349) Adorno konzediert zwar einerseits die autoritären Tendenzen … innerhalb unserer Demokratie. Andererseits jedoch besteht er auf einem Unterschied zwischen einem faschistischen Staat und dem, was ich heute als Potential innerhalb der demokratischen Spielregeln zu beobachten glaube. Dies sei ein Unterschied um das Ganze: […] ich würde sagen, daß es abstrakt wäre und in einem problematischen Sinne fanatisch, wenn man diese Unterschiede übersehen würde, wenn man es deshalb für wichtiger hielte, gegen die wie immer auch verbesserungswürdige Demokratie eher anzugehen als gegen den sich schon sehr mächtig regenden Gegner. (Adorno 1967c, 329)40
Habermas billigt einerseits der studentischen Linken durchaus zu, den drohenden Rückfall in ein autoritäres System verhindern und die Intentionen des Grundgesetzes realisieren zu wollen (Habermas 1968d, 184). Andererseits versteht er wie Horkheimer und Adorno die Bundesrepublik als Demokratie, sein Appell bezieht sich auf sie als sozial rechtsstaatliche Demokratie (ebd.) hinsichtlich der Freiheiten, die in diesem System gewährt sind: […] die Organe dieses Staates, und zwar in der Nachkriegsperiode deutlicher denn je in der deutschen Geschichte, [üben] auch freiheitssichernde Funktionen aus[…]. Man kann nicht ernsthaft die autoritären Gefahren des bestehenden politischen
der legalistischen Transformation zum neuen autoritären Staat [durch die Verabschiedung der Notstandsgesetze]. 40 Wir finden hier einen Beleg für das moderate Einverständnis Adornos mit der Nachkriegsdemokratie, mit der er „offensichtlich Frieden geschlossen“ hat (Milich 2000, 49). Wir kommen darauf zurück.
6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“
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Systems erkennen und bekämpfen, wenn das Klischee des faschistischen Staatsapparates nicht einmal mehr erlaubt, Unfreiheit von Freiheit zu unterscheiden und die Freiheiten zu erkennen, von denen der eigene Protest seit Jahren, und mit Aussicht auf Erfolge, lebt. (Habermas 1969b, 38)
Wir können festhalten: Insbesondere die Aktivisten konstituieren den Staat als Gegner, und indem sie das Phänomen ‚autoritärer Staat‘ in einen prinzipiellen semantischen Kontext zu ‚Faschismus‘ stellen, schaffen sie den Syllogismus autoritär, also faschistisch, für dessen Berechtigung die studentischen Aktivisten durchgängig Anlässe sehen (und schaffen). Die intellektuelle Linke weist diese Konzeption zurück, referiert vielmehr auf eine semantische Inkongruenz zwischen faschistisch und autoritär – das als Kategorie jedoch durchaus der Bundesrepublik zugeschrieben wird.
6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“ Gewalt im Sinn von ‚Aggression, unberechtigter körperlicher und seelischer Zwang, mutwillige Gefährdung bzw. Verletzung von Leib und Leben‘ ist – aus der Sicht der studentischen Aktivisten – eine Eigenschaft der für autoritär gehaltenen Staatsmacht. Und wenn, wie wir sehen werden, der autoreflexive Gewaltdiskurs der studentischen Linken durch semantische Unterspezifizierung gekennzeichnet ist (s. u. Kapitel 7.3), so überspezifiziert sie Gewalt, wenn der Referenzfokus auf den für autoritär gehaltenen Gegenwartsstaat gerichtet ist. Man schreibt dem Staat, wenn die Mittel zur indirekt repressiven Befriedung ausgehen, die Möglichkeit der terroristische[n] Gewaltausübung zu (Altvater / Neusüss 1969, 21). Man bewertet das blutige und brutale Dreinschlagen der losgelassenen und jederzeit gegen die Studenten mobilisierbaren staatlichen Gewaltmaschinerie (Krahl 1967b, 72) – die entsprechenden Prädikationen sind zusammenschlagen, zerschlagen, prügeln. Man appelliert zu […] erkennen, daß im kapitalistischen Restaurationsprozeß nach dem Zweiten Weltkrieg Terror und Gewalt neue, subtile Formen angenommen haben, daß aber das tiefliegende faschistische Potential dieser Gesellschaft in einer verschärften Kampflage umstandslos zu seinen traditionellen Mitteln zurückgreift (Cerutti 1968, 41).
Dieser sehr präsente diskursive Gegenstand ‚Staatsgewalt‘ erfährt ereignisbedingte Schübe und Dynamik. Der 2. Juni kann dabei einmal mehr ebenso wenig überschätzt werden wie die Lesung und Verabschiedung der Notstandsgesetze. Dynamik verleiht außerdem die Auseinandersetzung mit den Medien, also der Springer-Presse, sowie schließlich das Attentat auf Rudi
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Dutschke, das dem Gewaltdiskurs eine weitere gesellschaftliche Perspektive gibt. Der Tod Benno Ohnesorgs ist als diskursives Ereignis Anlass – und zwar für alle am Diskurs Beteiligten –, die Gewalttätigkeit des Staates und der Gesellschaft zu skandalisieren. Der Ablauf des Ereignisses, das Verhalten der Staatsmacht, die Kommentierung dieses Verhaltens durch den Berliner Senat im Sinn einer uneingeschränkten Zustimmung, die Vereinzelung des Sachverhalts und der Beteiligten aus dem Zusammenhang struktureller Defizite, die Rolle der Bild-Zeitung aus dem Hause Springer sind Gegenstand der Empörung.41 Demonstrierende Minderheit, mit unaggressiven Mitteln protestiert – das sind die Elemente der Selbstsicht, dagegen stehen Verantwortlichkeit entzogen, paramilitärischer Polizeieinsatz, brutale Mißhandlungen. Die Sicht auf den Staat und die Interpretation staatlichen Handelns erfährt dabei mit Mord eine Zuschreibung, die als zwar nicht unproblematisch, aber schließlich doch zutreffend reflektiert wird, z. B. von Oskar Negt in seiner Römerbergrede zum 2. Juni 1967: Der Student Ohnesorg ist das Opfer eines Mordanschlags. Es handelt sich um Mord selbst dann, wenn man dem schießenden Kriminalbeamten Mord im Sinne des Strafgesetzbuches nicht nachweisen könnte. Denn Benno Ohnesorg ist das zufällige Opfer einer planmäßigen Polizeiaktion, einer Aktion, die schwere Verletzungen – und solche Verletzungen können immer den Tod zur Folge haben – bewußt in Kauf genommen hat. (Negt 1967a, 241)
Negt reflektiert die Kategorie und erweitert sie gegenüber dem Tatbestand „Mord im Sinne des Strafgesetzbuchs“, indem er die Bezeichnung nicht nur für das individuelle Tatvergehen gebraucht, sondern auch für die billigende Inkaufnahme der Tötung eines Menschen bei der Planung einer kollektiven Polizeiaktion. Diese systematische „Planmäßigkeit“ der Aktionen während des Schahbesuchs sei bereits ein Merkmal, das eine Klassifizierung als 41
Exemplarisch sei die rückblickende Kommentierung von Uwe Bergmann zitiert: Die unfaßbare Tatsache, daß ein Demonstrant erschossen wurde, und die Art, wie sich die staatlichen und universitären Instanzen ihrer Verantwortlichkeit entzogen, wie der Regierende Bürgermeister in zynischer Weise den Tod Ohnesorgs den Demonstranten anlastete, rief bei vielen Studenten ungeheure Erschütterung und das Gefühl der Hilflosigkeit hervor. Sie mussten erkennen, daß in den nachfolgenden Untersuchungen nicht der paramilitärische, für jeden Zuschauer als geplant erkennbare Polizeieinsatz gegen eine demonstrierende Minderheit Gegenstand der Verhandlungen war, sondern „einzelne Ausschreitungen“ auf beiden Seiten. In der Presse und in Stellungnahmen von Politikern wurden die Studenten, die mit unaggressiven Mitteln protestiert hatten, zu Terroristen und Gewalttätigen, die die Schuld an dieser Auseinandersetzung selbst trugen. Die Studenten erfuhren, daß die akademische Verwaltung und der Rektor nicht willens waren, sie vor weiteren brutalen Mißhandlungen zu schützen. (Bergmann 1968b, 30f.)
6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“
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‚Mord‘ rechtfertige. Man unterstellt dem Staat weiterhin den Willen zur physischen Vernichtung der gesamten Protestbewegung, ist überzeugt, dass die hyperbürokratischen Institutionen … die Exekutivgewalten derart programmieren, daß diese mit dem Willen zur physischen Vernichtung dieser Opposition ausgestattet werden (Krahl 1967a, 73). Kurzfristig, unter dem unmittelbaren Eindruck der Erschießung Ohnesorgs, lässt sich auch Habermas herbei, Staatsgewalt in diesem Sinn der Aggression zu interpretieren: In der vergangenen Woche hat die Reaktion der Staatsgewalt auf Studentenproteste eine neue Qualität angenommen, eine Qualität, die wir seit den Tagen des Faschismus in Berlin und in der Bundesrepublik zum ersten Mal wieder kennenlernen. Wenn die Augenzeugenberichte, die zuverlässig dokumentiert sind, nicht Wort für Wort widerlegt werden, hat die Polizei am Freitag, den 2. Juni, vor dem Opernhaus in Berlin Terror ausgeübt, und der Berliner Senat hat am selben Abend diesen Terror gedeckt. Terror heißt: gezielte Einschüchterung, heißt: faktische Einschränkung geltender Rechte. Terror zielt nicht auf die gewaltsame Unterdrückung eines augenblicklichen Protestes, sondern auf die Abschreckung künftiger Proteste. (Habermas 1967a, 138)42
In engem Kontext mit den Bewertungen des 2. Juni als Ausdruck staatlicher Gewalt stehen die zu den Notstandsgesetzen. Von der Demokratie im Stich gelassen – auf Analysen und Interpretationen lässt sich ein bis dahin offensichtlich, trotz einer bereits seit vielen Jahren geführten Debatte zu den Notstandsgesetzen, weitgehendes Zutrauen in die Demokratie ableiten. Dieses ist nunmehr erschüttert, und wir können hier ein zentrales Motiv des Gewalt-Diskurses erkennen.43 Das Vorhaben wird interpretiert als nackte Unterdrückung der herrschenden Gewalt, als brutale Gewalt der herrschenden Klasse44, die staatliche Reaktion auf den Widerstand als Bereit-
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Wir haben oben unter dem Aspekt der rhetorischen Strategie der Analogisierung diese Aussage bereits kommentiert und darauf verwiesen, dass diese ambitionierte Interpretation des Todes von Ohnesorg als ausgeübte Staatsgewalt Habermas nicht daran hindert, staatliche Reaktionen auf studentische Widerstandsaktionen als Antworten des Rechtsstaats auf Provokationen der Studenten zu deuten (vgl. Habermas 1968a, 199). 43 Beispielhaft ist die Analyse Wolfgang Lefèvres: Die Studenten begriffen plötzlich, daß nicht erst die legale Ermöglichung des Notstands die Demokratie in Frage stellt; daß ein Protest gegen Notstandsgesetze, der sich auf die bestehenden demokratischen Institutionalisierungen beruft, illusionär ist, da er den demokratiefeindlichen, latent gewalttätigen und nur allzu schnell terroristischen Charakter des politischen Bürokratenapparats verkennt. … [Die Studenten] begriffen und formulierten, daß notwendig selbständige, spontane und entschieden demokratische Betätigung einer Personengruppe auf gewaltsame Unterdrückung durch einen Apparat stoßen müssen, der seine Interessen „reibungslos“ nur mit einer Bevölkerung verfolgen kann, die sich widerstandslos verwalten und manipulieren läßt. (Lefèvre 1967a, 13) 44 Aus Angst, daß die Massen der Lohnabhängigen über kurz oder lang die Machtfrage stellen, wirft die herrschende Gewalt den liberalen Schleier ab und präsentiert ihre
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schaft der Staatsgewalt, einen Oppositionsversuch mit den entsprechenden Gewaltmitteln zu beantworten45. Während die mit dem Staat identifizierte Gewalt konzeptuell durchaus als Konkretum verstanden werden soll, stellt sich die der Medien in einer Vermittlungsfunktion dar. Ihre als Meinungsmanipulation interpretierte Berichterstattung entspreche Gewaltaufrufen, davon sind die Akteure überzeugt. Der plakative Topos „Bild schoss mit“ etwa konstruiert Kausalität zwischen der Verurteilung von Protestaktivisten durch die Medien, Aufwiegelung der Leserschaft und der individuellen Gewaltanwendung des Einzeltäters Joseph Bachmann, als er auf Dutschke schoss: BILD-Leser Bachmann versuchte das ihm zu Ohren gekommene Gerücht der kommunistischen Gefahr auf die ihm von eben jener Zeitung vorgezeichnete Weise zu lösen. (Blanke 1968a, 34) Die These von der Mittäterschaft der Springerpresse war bereits vor dem Dutschke-Attentat ein bekanntes Argumentationsmuster. So machen die Autoren eines SDS-Flugblatts nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 die Taktik der formierten und faschistoiden Presse West-Berlins für den Todesfall des Studenten verantwortlich: Bereits im Dezember 1966 forderte die „Berliner Morgenpost“ im Anschluß an eine Demonstration auf dem Kurfürstendamm ultimativ: „Störenfriede ausmerzen!“ Fünfeinhalb Monate später wurde ein Westberliner Student vor der Deutschen Oper „ausgemerzt“. Der Schönheitsfehler dieses Blutfreitags war allerdings, daß Benno Ohnesorg keiner politischen Hochschulgruppe angehört hatte und daher nicht unter der sonst üblichen Rubrik „Wirrköpfe“ abzulegen war. Desungeachtet hetzte die Springer-Journaille und der größte Teil der anderen Zeitungen am Morgen nach der mit äußerster Brutalität durchgeführten Notstandsgeneralprobe die Westberliner Bevölkerung gegen die Studenten auf und empfahl unterschwellig, Gewalt anzuwenden. (Berliner Manuskripte 1967)
Die Akteure reflektieren die Zuschreibungen, mit denen ihr Handeln etwa von der Bildzeitung interpretiert wird, auch mit wissenschaftlichem Anspruch. Das „SDS-Autorenkollektiv / Springer-Arbeitskreis der KU [Kritischen Universität]“ stellt seine Untersuchung ‚Der Untergang der Bildzeitung‘ u. a. unter das Zeichen der Gewalt. Die Bildzeitung interpretiere
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Bereitschaft zur nackten Unterdrückung als Gesetz. (Erklärung 1968); Die radikal demokratische Opposition sieht sich heute dem zynischen Versuch gegenüber, brutale Gewalt der herrschenden Klasse formal in der Verfassung zu verankern. (Wolff 1968a) Nach der Osteroffensive reaktualisierte sich die Notstandsopposition – das Erlebnis der österlichen Notstandsübungen hatte gezeigt, daß die Staatsgewalt bereit ist, jeden praktisch werdenden Oppositionsversuch als einen Kampf um die politische Macht im Staat zu interpretieren und mit den entsprechenden Gewaltmitteln zu beantworten. (Claussen 1968, 8f.)
6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“
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Befreiungsversuche aus den Zwängen des Spätkapitalismus als tatsächliches Gewaltverbrechen, ohne auf die Umstände, unter denen diese Versuche unternommen wurden (soziale Situation und psychologische Motivation des Täters), zu verweisen, andererseits werden die so entwickelten Diffamierungsstereotypen … ungebrochen gegen die politischen Befreiungsbewegungen, ohne Verweis auf das geschichtliche Recht der Befreiungsbewegungen, reduziert auf die Sensation und: Der politische Revolutionär erhält die Attribute des Gewaltverbrechers. Der politische Kampf erscheint als individualistischer und abstrakter Terror, die imperialistischen Verhinderungsfeldzüge als Ungeziefer-Vertilgungsaktion. (Untergang der Bildzeitung 1968, 8) Die studentische Linke deutet die Berichterstattung als mediale Radikalisierung der studentischen Bewegung zu manipulativen Zwecken und schafft sich strategisch so die Möglichkeit, den Referenzbereich Medien / Bildzeitung in das Diskurssegment ‚Gewalt‘ einzulassen. Unter dieser Interpretationsbedingung schließlich stellt die Diskursgemeinschaft der studentischen Linken die Verbindung zu ihrem Demokratie-Konzept her: Die Haltung zur Springerpresse gilt als Ausweis – Der Fall Springer ist zu dem Prüfstein geworden, durch den sich die Demokraten von den Antidemokraten endlich wieder unterscheiden lassen (Untergang der Bildzeitung 1968, 4) – und die Entmachtung Axel Springers wird als Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse (Brückner 1968, 77) interpretiert.46 Das Attentat auf Rudi Dutschke schließlich – wie der Tod Ohnesorgs und die Notstandsgesetze eint die Bewertung dieses Ereignisses die Generationen derjenigen, die sich am Diskurs beteiligen. Das Attentat wird als Ausdruck und Beleg für die in nazistischer Tradition stehende Gewaltbereitschaft der deutschen Nachkriegsgesellschaft gedeutet. Der linke Diskurs handelt daher weniger von der individuellen Tötungsabsicht des Schützen und der daraus ableitbaren Schuld, als von der Frage, welche gesellschaftlichen Bedingungen als Voraussetzungen für das Attentat zu identifizieren seien. Oskar Negt stellt seine Römerbergrede vom 13. April 1968 in diesen Kontext der Aufklärung und benennt als Verantwortliche: Redaktionsbüros und Regierungen, Parlamente und Parteien, als Sachverhalt einen politischen Tatbestand[…].47 Als stereotypes Gewaltmoment macht er die postfaschisti-
46 Zu „linguistischen Aspekten der Erzeugung von Gewaltbereitschaft“, durchaus auch in Bezug auf Presse, vgl. Hermanns 1996. 47 Wovon wir uns in dieser Stunde nicht abdrängen lassen sollten, ist die unnachsichtige Aufklärung eines politischen Tatbestandes; daß der Mordanschlag auf Rudi Dutschke ein notwendiges Glied in der Kette sorgfältig präparierter und seit langem angedrohter Gewalttätigkeit ist, die mit der studentischen Protestbewegung das Existenzrecht der gesamten außerparlamentarischen Opposition treffen sollte. Name und Herkunft
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sche Disposition geltend. Zeitgenössische Eliten und die Verantwortlichen an den Verbrechen des Dritten Reiches werden als Handlungsträger parallelisiert, der Anschlag auf Dutschke und die Verbrechen des Dritten Reiches geraten so in einen identischen juristischen Kontext. In den Argumentationszusammenhang Gesellschaft – gewalttätiges Klima – Presse – Nationalismus stellen schließlich auch die vierzehn prominenten Intellektuellen der älteren Generation das Attentat in einer in der ‚Zeit‘ am 19. April 1968 veröffentlichten Erklärung: Öffentliche Stellungnahme zum Mordanschlag auf Rudi Dutschke und zur Pressepolitik des Springerkonzerns: So isoliert die Hintergründe des Mordanschlags auf Rudi Dutschke auch scheinen mögen, sie enthüllen den Zustand unserer Gesellschaft. Angst und mangelnde Bereitschaft, die Argumente der studentischen Opposition ernst zu nehmen, haben ein Klima geschaffen, in dem die gezielte Diffamierung einer Minderheit zur Gewalttätigkeit gegen sie aufreizen muß. Dieses Klima ist systematisch vorbereitet worden von einer Presse, die sich als Hüterin der Verfassung aufführt und vorgibt, im Namen der Ordnung der Mehrheit zu sprechen, mit dieser Ordnung aber nichts anderes meint als ihre Herrschaft über unmündige Massen und den Weg in einen neuen, autoritätsbestimmten Nationalismus. (Erklärung der Vierzehn 1968)48
Das auf die Gesellschaft, den Staat und sein Handeln referierende Segment des Gewaltdiskurses ist bestimmt von der Polysemie der Bezeichnung. Gewalt ist sowohl eine Handlungs-, als auch eine Zustandsbezeichnung, außerdem sowohl eine staatsrechtliche Kategorie als auch eine den entsprechenden Sachverhalt negativ bewertende Bezeichnung. Demzufolge bleibt im Diskurs die Semantik, wir dürfen voraussetzen: kalkuliert, diffus. Die studentische Linke verweist zum einen auf konkretes, u. U. selbst – man sagt dann sinnlich – erfahrenes, als Aggression empfundenes staatliches Handeln, zum andern auf das demokratische Prinzip der gesetzgebenden Funktion des Staates. Dann ist Staatsgewalt zunächst einmal in der neutralen,
des Attentäters sind demgegenüber ebenso belanglos wie die harte Bestrafung, die ihm der Berliner Innensenator, als wäre er bereits der oberste Gerichtsherr, angedroht hat. Vor allem müssen wir erkennen, daß die wirklich Schuldigen an dem infamen Mordanschlag in den Redaktionsbüros, in Regierungen und Parlamenten und Parteien sitzen; sie wissen sich frei von aller Schuld, weil ein individualistisches Strafrecht in unerbittlicher „Objektivität“ ihnen den gleichen Schutz gewährt, dessen schon die Verantwortlichen an den Verbrechen des Dritten Reiches sicher sein konnten. In einem System abgesicherter Kompetenzen konnte das Verbrechen der Gesellschaft stets auf den unmittelbaren Täter abgewälzt werden. (Negt 1968a, 10) 48 Unterzeichnet haben Professor Theodor W. Adorno, Professor Hans Paul Bahrdt, Heinrich Böll, Professor Peter Brückner, Professor Ludwig von Friedeburg, Professor Walter Jens, Professor Eugen Kogon, Professor Golo Mann, Professor Alexander Mitscherlich, Hans Dieter Müller, Professor Heinrich Popitz, Professor Helge Pross, Professor Helmut Ridder, Professor Hans-Günther Zmarzlik.
6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“
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die Gewaltenteilung repräsentierenden Lesart zu interpretieren, während als Mitbedeutendes mitzulesen ist ‚unerlaubte (körperliche) Aggression der Obrigkeit‘. Schließlich wird Gewalt auch verwendet in Bezug auf das, dem Staat unter bestimmten Umständen verfassungsmäßig zustehende Recht der Anwendung von Zwang. Das kalkulierte Spiel mit dieser Polysemie ist dann offensichtlich und explizit, wenn sich gleichzeitig auch Freude am sprachlichen Gleichklang, an der phonetischen bzw. morphologischen Parallele ausdrückt: Es ist nicht zu bestreiten, daß die gewaltsame Zerschlagung der Politischen Universität für die Staatsgewalt ein Erfolg gewesen ist (Claussen 1968, 15) – so beschreibt Detlev Claussen das Scheitern der Politischen Universität, und Oskar Negt weist in seinem den Anschlag auf Rudi Dutschke kommentierenden Beitrag die staatliche Beteuerung zurück: Wir finden auch keine Befriedigung in der beruhigenden Versicherung aller herrschenden Gewalten, daß Gewalt kein Mittel der Politik sei. (Negt 1968a, 10) Vor allem aber ist auf die implizite Version dieses berechnenden semantischen Spiels zu verweisen, und zwar in Formeln und Wortbildungen wie polizeiliche / Polizei- / Exekutivgewalt, staatliche Gewalt, staatliche Gewaltmaschine(rie), Staatsgewalt, Gewaltorganisationen des Systems, Gewaltapparate.49 Wer wie Oskar Negt auf der Suche nach den Ursachen für die Anwendung massiver Gewalt durch den Staat weiterfragt, findet eine einmal mehr mit sprachkritischer Analyse erarbeitete Erklärung in einem Gewaltanwendung legitimierenden Prozess der Umdeutung, hier natürlich der Kontrahenten. Negt, der der Überzeugung ist, dass Ohnesorg das – so der Titel seines Beitrags – „Opfer eines Mordanschlags“ ist (Negt 1967a, 242), nimmt diese Erschießung zum Anlass, das Verhältnis von Staatsgewalt und Akteuren unter dem Zeichen einer Sprachkritik zu analysieren. Er bezieht
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[werden] die etablierten Machtpositionen gefährdet …, so reagieren diese liberalen Herren mit Disziplinarmaßnahmen, Strafverfahren, Aussperrung, schließlich mit dem Einsatz unmittelbarer staatlicher Gewalt. (SDS 1968d, 89); das blutige und brutale Dreinschlagen der losgelassenen und jederzeit gegen die Studenten mobilisierbaren staatlichen Gewaltmaschinerie (Krahl 1967b, 72); Entlarvungspropaganda gegen die staatliche Gewaltmaschine (Dutschke 1967f, 258); der Staat hat erwiesenermaßen auf den Protest unbewaffneter Gruppen mit dem Einsatz seiner Gewaltmaschine geantwortet, als handle es sich um den faktischen Kampf um die Macht im Staat. (Krahl 1968a, 244); Nachdem sich die Staatsgewalt wieder gefestigt hat und ihrerseits zum Angriff übergeht, können wir uns Hochstapelei länger nicht leisten. (Schmierer 1968, 21); Kampf mit den Gewaltorganisationen des Systems, mit der staatlich-gesellschaftlichen Bürokratie, mit der Polizei, mit der Justizmaschine, den industriellen Bürokratien in den Oligopolen (Dutschke 1968c, 86); die demokratischen politischen Institutionen selbst decouvrierten sich den Studenten als Gewaltapparate, die sich so lange demokratisch geben, wie die einzelnen Menschen an eigene selbständige demokratische Betätigung nicht denken. (Lefèvre 1967a, 13)
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sich dabei auf das sog. Puddingattentat, das die Kommune I dem amerikanischen Außenminister Humphrey zugedacht hatte. Solche Aktionen der sogenannten Anarchisten seien ein Versuch, die Überdimensionalität des Polizeiaufgebots bei nichtigsten Anlässen der Lächerlichkeit preiszugeben und damit die Vernunftlosigkeit des Systems [zu] treffen. Negts Erkenntnis aus dieser Analyse lautet: Übertriebenes staatliches Agieren ist Resultat eines Prozesses der diese Überreaktion legitimierenden Uminterpretation. Man habe es mit einem – wir können sagen: konstruktivistisch beschreibbaren – Komplex zu tun, der die gewalttätigen Reaktionen (der Polizei) auf harmlose Aktionen (der Aktivisten) als Ergebnis eines Legitimierungsprozesses interpretiert: Da die Reaktion der Staatsapparatur mit kompakter Gewalt der Legitimierung bedarf, setzt ein, was wir unter die Kategorie ‚sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit‘ fassen müssen. Die Staatsgewalt sei […] gezwungen, die harmlosen, ohnmächtigen, isolierten Proteste in bewaffnete Aktionen zu übersetzen, sie muß klassische Anarchisten produzieren, um ein gutes Gewissen zu haben, die Gewalt des Staates gegen sie einzusetzen: aus Pudding wird hochexplosiver Sprengstoff, aus ohnmächtiger Gegenwehr werden Messer. (Negt 1967a, 242)
Staatsgewalt ist in dieser Analyse des Habermas-Doktoranden Erscheinung einer sprachlich konstituierten Zwangslegitimierung, mindestens aber Gewissensberuhigung: sogenannte Anarchisten werde deshalb uminterpretiert in klassische Anarchisten, Pudding in hochexplosiver Sprengstoff, ohnmächtige Gegenwehr in Messer. Der strategisch-argumentative Grund ist für Negt klar: Die Konstruktion der Akteure als politische Kriminelle erlaubt die Anwendung von Gewalt, der tatsächliche Sachverhalt (harmlose, ohnmächtige, isolierte Proteste) verbietet dies. Klar ist ebenfalls aus heutiger Sicht die binäre Weltsicht: Gewalttätig ist der Staat, harmlos-aufklärerisch sind seine Gegner – dieser David-und-Goliath-Topos ist Voraussetzung des GewaltKonzepts vor allem der studentischen Linken (und er wird auch funktionalisiert, wenn ein Konzept eigener Gewalt zu legitimieren ist, wie wir unten Kapitel 7.3 noch sehen werden). Einen solchen Prozess sprachlicher Manipulierung beschreibt Herbert Marcuse grundsätzlich im Zusammenhang mit seiner politischen Sprachtheorie, die eine Kritische Sprachkritik ist (wir haben sie oben, Kapitel 5.2, vorgestellt), denn ihr Befund lautet: das etablierte Vokabular diskriminiert die Opposition von vornherein – es schützt das Establishment. Im Rahmen dieses Befunds stellt er die traditionelle Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt in Frage, um dann die Referenzbereiche von gesetzliche Gewalt zu überprüfen: unbegrenzte Verbrennungen, Vergiftungen und Bombardierungen. Solchen Ausdruck von
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Staatsmacht und die Aktionen der radikalen Opposition, ganz gleich, wie ungesetzlich sie sein mögen unterschiedslos mit demselben Ausdruck zu belegen, solche Vergleichbarkeit sei ausgeschlossen,50 eine Neubestimmung der Begriffe (Marcuse 1969, 114f.) daher nötig. Potestas und violentia – aus der Sicht der studentischen Aktivisten besteht hier kein Unterschied, sie nehmen die Staatsmacht potestas als Staatsund Polizeiaggression violentia wahr. Wir können sagen: Strategisch hat das Konzept der Gewalt in dem Diskurssegment, das auf Staat und staatliches Handeln referiert, die Funktion, eben dieses mehrdeutige semantische Potenzial zu evozieren, dessen skandalisierenden Effekt zudem die Widersprüchlichkeit erzeugt, in der die Lesarten zueinander stehen: Während das Konzept der Gewaltenteilung mit der Lesart ‚Legislative‘, ‚Exekutive‘, ‚Judikative‘ durch und durch demokratischen Ursprung hat, ist manifeste staatliche Brutalität und Aggression natürlich Merkmal totalitärer diktatorischer Regime – und entspricht insofern der Diskurslogik der studentischen Diskursbeteiligten durchaus, sehen sie doch in der Bundesrepublik ein wie immer auf den Hitler-Faschismus bezogenes autoritäres politisches System, das gelegentlich gewalttätig wird und Terror ausübt. Der auf den Staat bezogene Gewaltdiskurs hat noch eine weitere Dimension, die sich in der Unterscheidung zwischen sublimer (oder auch abstrakter oder auch latenter) und manifester Gewalt niederschlägt: abstrakte Gewalt des Systems (Dutschke / Krahl 1967, 290), die in den Institutionen und ihren Spielregeln latent vorhandene[…] Gewalt (Krippendorff 1968, 168) – diese Formeln sind Ausdruck eines Gewaltkonzepts, das das Vorhandensein dieser Dimension impliziert. Walter Benjamin hat sie latente Gewalt genannt51, Habermas unterscheidet in diesem Sinn zwischen sublimer
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Kann es einen hinsichtlich der Größenordnung und Kriminalität sinnvollen Vergleich geben zwischen den von den Rebellen begangenen ungesetzlichen Handlungen in den Ghettos, auf dem Campus, in den Straßen der Städte einerseits und andererseits den von den „Streitkräften der Ordnung“ verübten Taten in Vietnam, in Bolivien, in Indonesien und in Guatemala? Kann man sinnvollerweise von einer Straftat sprechen, wenn Demonstranten den Betrieb der Universität, der Wehrerfassung, des Supermarkts und den Fluß des Verkehrs stören, um gegen die weit wirksamere Störung des Geschäftslebens unzähliger Menschen durch die Streitkräfte von Gesetz und Ordnung zu protestieren? (Marcuse 1969, 114f.) „Schwindet das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit der Gewalt in einem Rechtsinstitut, so verfällt es.“ (Benjamin 1921, 92) Peter Schneider, der irrtümlich Herbert Marcuse für den Schöpfer dieser Kategorie hält, bewertet sie als einen „linguistischen Taschenspielertrick, eine[…] lyrisierende[…] Metapher. Wenn man so gut wie jedes Regelwerk der spätkapitalistischen Gesellschaft als ‚latente Gewalt‘ definierte, konnten sich Unterdrückungs-Seismographen wie ich legitimiert fühlen, mit Gewalt gegen diese Regelwerke vorzugehen, und dann zeigen, dass sich die ‚latente Gewalt‘ der Institu-
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und manifester Gewalt, z. B. in seinem Einwurf gegen Rudi Dutschke, im Zuge dessen er die Formel linker Faschismus prägt.52 Basis dieser Interpretation ist die Lesart ‚dem Staat unter bestimmten Umständen verfassungsmäßig zustehendes Recht der Anwendung von Zwang‘.53 Der studentische Gewaltdiskurs zeigt, dass man dieses staatsrechtliche Konstrukt (mit den lexikalischen Verdichtungen sublime, abstrakte, latente Gewalt) akzeptiert, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil man in ihm eine Möglichkeit erkennt, die niedrige Toleranzschwelle und das tiefe Misstrauen auszudrücken, die man überhaupt gegenüber jeglicher Form von institutioneller staatlicher Repräsentation mitbringt. – Ein solches Beispiel für die Gleichsetzung von Staat und als auch psychische Gewalt empfundener Zwang jeglicher Art ist Dutschkes Parallelisierung von Gewalt und Bürokratie: Die Bürokratie als Gewaltorganisation muß zerstört werden. Die Tausende und Zehntausende von menschlichen Arbeitsvermögen, die heute in der Bürokratie absorbiert sind, müssen aber produktiv ausgebildet werden. … wir haben … zigtausende von Menschen, die ausgebildet werden müssen, und zwar sehr schnell, sobald die Gewaltorganisationen zerstört sind. (Gespräch 1967, 166)
Wir dürfen annehmen, dass sich Habermas auf solche Empfindlichkeit bezieht, wenn er erklärt: Das Weltbild dieser Studenten ist von dem Eindruck
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tionen im Fall des Angriffs prompt in ‚manifeste Gewalt‘ zurückverwandelte.“ (Schneider 2008, 272) […] wir können über die progressive Rolle von Gewalt diskutieren, und es ist in der Theorie, der ich nicht eben fern stehe, sehr ausführlich darüber diskutiert worden. Es gibt eine progressive Rolle der Gewalt, und die analytische Unterscheidung zwischen progressiver und reaktionärer Gewalt hat seinen [!] guten Sinn eben für die Analyse. Aber ich meine, daß in einer Situation, die weder objektiv revolutionär ist, noch in einer Situation, nachdem eine Revolution gewonnen ist und nun naturwüchsige Gewalt durch politische Planung ersetzt werden muß, ich meine, daß in einer Situation, in der weder der eine noch der andere Fall gegeben ist, es nur eine subjektive Anpassung sein kann, nun für die Studenten, die in der Tat nichts anderes als Tomaten in den Händen haben können, eine Strategie vorzuschlagen, die … darauf abgelegt ist, eine sublime Gewalt, die notwendig in Institutionen impliziert ist, manifest werden zu lassen. (Habermas 1967d, 102f.) Staatsrechtlich ist damit das „so genannte besondere Gewaltverhältnis“ gemeint, das „die intensivere Unterworfenheit Einzelner unter die öffentliche Gewalt“ bezeichnet. „Die öffentliche Gewalt wird dem Staat nicht als Selbstzweck eingeräumt, sondern im Interesse des Gemeinwohls. Daraus zieht sie ihre Legitimität, die wiederum bewirkt, dass die Staatsgewalt normalerweise nicht zu Gewaltmitteln greifen muss, um ihren Anordnungen Achtung zu verschaffen. … Soweit der Staat selber zur Gewaltanwendung greift, um seine Aufgabe zu erfüllen, ist aber regelmäßig nicht von Gewalt, sondern von Zwang die Rede, so etwa, wenn er jemanden verhaftet, einsperrt, ins Ausland abschiebt oder sein Eigentum beschlagnahmt etc.“ (Grimm 2006, 19f.) Normalerweise – den Aktivisten von der APO dagegen ist es hochwillkommen, dass sie zur Bezeichnung dieser Lesart das Synonym Gewalt verfügbar haben: Sprachspiel und Evokation ist Strategie.
6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“
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geprägt, daß die gesellschaftlichen Institutionen zu einem relativ geschlossenen, konfliktfreien und selbstregulativen, dabei gewaltsamen Apparat geronnen sind. (Habermas 1967b, 171) Dieses Weltbild hat man von der dominanten Referenztheorie, z. B. von Marcuse übernommen, der Gewalt der Maschine und Gewalt des Fortschritts ebenso als zivilisatorische Defizite beschreibt, wie die physische (nur physische?) Gewalt der Maschine (Marcuse 1967a, 23). Marcuse ist der Überzeugung, dass die Gewalt des Fortschritts … Vernunft in Unterwerfung unter die Lebenstatsachen und unter das dynamische Vermögen, mehr und größere Tatsachen derselben Lebensweise herzustellen (ebd. 31) verwandelt. Aus dieser Überzeugung leitet er wiederum Gewalttätigkeit als in die Wesensstruktur dieser Gesellschaft eingebaut (Marcuse 1969, 113) ab.54 Die fachsprachliche, lexikalisch-semantische Verdichtung dieses Gesellschaftskonzepts ist Repression (mit der adjektivischen Entsprechung repressiv), indem es von der Kritischen Theorie und vor allem von Marcuse im Sinn von ‚Behinderung der freien Entfaltung der Persönlichkeit, jegliche Form von Gewalt‘ übernommenen Leitwortstatus im Diskurs hat.55 Während jedoch etwa Adorno offenbar einen allgemeinen Begriff von repressiv hat, wenn er das Adjektiv in den globaleren strukturellen Kontext von Barba-
54 An dieser Stelle ist darauf zu verweisen, dass diese dritte Dimension des Gewaltbegriffs aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Johan Galtung (1975) hat für das Phänomen die Kategorie ‚strukturelle Gewalt‘ geprägt und meint damit jegliche Beeinträchtigung potentiell realisierbarer individueller Bedürfnisse. 55 Beibehaltung der kapitalistischen Produktions- und Distributionsweise, die … der repressiven Anpassung bedarf (Reiche / Gäng 1967, 21); eine entpolitisierte Öffentlichkeit … und deren repressiven Charakter wegen ihrer implizit freiheits- und humanitätsgefährdenden Möglichkeiten, ja Wahrscheinlichkeiten zu enthüllen (Krippendorff 1968, 163); Der Mechanismus von Aktion und Repression als entscheidender Organisationsfaktor mußte versagen, wenn die Bürokratie auf spektakuläre Repressionsmaßnahmen verzichtete. (SDS 1968f, 113); in der Organisation der Familie … vermitteln sich die verschiedenen Elemente der Repression zur Aufrechterhaltung der irrationalen Produktionsweise (Gäng / Reiche 1968); die funktionale Beherrschung der Menschen durch Manipulation und angedrohte (potentielle) direkte Repression. (Dutschke 1967g, 99); Das weltweite Netz der organisierten Repression, das Kontinuum der Herrschaft (Dutschke 1968c, 119); allgemeinpolitische Diskussionen und Auseinandersetzungen … von den Universitätsadministrationen mit massiven Repressionen … beantwortet … manifesten Repressionsversuchen durch das Bündnis von Justiz, Universitätsadministration und Korporierten … verstärkten sich die illegalen Repressionen gegen die SDS-Gruppen … direkte und indirekte Repressionen (SDS 1968h, 72– 79) Den Grund für seine Karriere sieht Reimut Reiche rückblickend darin, dass dieser Terminus „eine Vermittlung zwischen der ökonomischen Kategorie der Ausbeutung und den psychoanalytischen Begriffen im Spannungsfeld von Triebansprüchen, Bedürfnisentwicklung und Triebunterdrückung versprach, ja diese Vermittlung als eingelöste suggeriert. Mit seiner Hilfe schien es uns möglich, die immer schwerer greifbar und begreifbar zu machenden Kategorien und Tatbestände von Ausbeutung und Verelendung zeitgemäß zu aktualisieren. Unter der Hand nahm die Kategorie der Repression, insbesondere in der sprachlichen Form des allgegenwärtigen Adjektivs repressiv,
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rei, Kultur und Erziehung stellt56, versteht es Marcuse in spezifizierter Bedeutungsverengung als gesellschaftstheoretischen Terminus.57 Insbesondere sein Konzept der repressiven Toleranz gerät zur dankbar angenommenen Bestätigung, zur Argumentationshilfe und zur Unterstützung bei der Begriffsfindung.58 Repressive Toleranz diene dem Schutz und der Erhaltung einer repressiven Gesellschaft, ihre Funktion sei es, die Opposition zu neutralisieren und die Menschen gegen andere und bessere Lebensformen immun zu machen. Repressive Toleranz sei pervertierte Toleranz (Marcuse 1966, 121f.) – ohne Frage: die studentische Protestbewegung findet sich in diesem Konzept wieder. Den Einfluss dokumentiert zum einen Dutschkes Bericht59, zum andern die Tatsache, dass das Revolutionslexikon (Weigt 1968) die Bezeichnung aufgenommen und erklärt hat. Es unterscheidet zwei Lesarten, eine weitere und eine engere. Repression … im weiteren Sinne meine die politische Unterdrückung von Volksmassen oder Teilen einer Bevölkerung (Neger in den USA) durch einen anderen Teil der Bevölkerung oder eine herrschende Klasse mit Hilfe staatlicher oder gesellschaftlicher Gewaltanwendung.60 Formen von Unterdrückung bestünden in neuester Zeit in Bewußtseins-Manipulation: Unter dem Einfluß der Massenmedien … gelingt es weitgehend den Beherrschten ihre objektiv unwürdige Lage … subjektiv als befriedigend erscheinen zu lassen. Insofern sei Repression eine antikapitalistische Beschreibungskategorie, als diese repressive Manipulation im Dienst des Konsums geschehe, denn: Die Manipulation ist gelungen, wenn
die Lücke ein, die im ‚saturierten‘ Kapitalismus die uns entschwindende physische Verelendung hinterlassen hatte.“ (Reiche 1988, 52) 56 Daß … im Begriff der Erziehung, und gerade auch in dem Begriff der angeblich kultivierenden Erziehung, barbarische Elemente, nämlich unterdrückende, repressive Momente vorhanden sind, bin ich der letzte zu bestreiten. Ich glaube – und das ist guter Freud –, daß gerade diese repressiven Momente der Kultur in den der Kultur Ausgelieferten die Barbarei produzieren und reproduzieren. (Adorno 1968b, 122) 57 Im gegenwärtigen Zeitalter ist der Sieg über den Mangel noch immer auf kleine Bereiche der fortgeschrittenen Industriegesellschaft beschränkt. Ihr Wohlstand verdeckt das Inferno innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen; er verbreitet auch eine repressive Produktivität und „falsche Bedürfnisse“. Er ist genau in dem Maße repressiv, wie er die Befriedigung von Bedürfnissen fördert, die es nötig machen, die Hetzjagd fortzusetzen, um mit seinesgleichen und dem eingeplanten vorzeitigen Verschleiß Schritt zu halten, wie er es fördert, die Befreiung davon, sein Hirn zu benutzen, auch noch zu genießen und mit den Destruktionsmitteln und für sie zu arbeiten. (Marcuse 1967a, 252) 58 Wiggershaus fragt zu Recht, warum Marcuse „in allgemeiner Form von Gewalt“ sprach, warum er auch „gewaltlose Formen des bürgerlichen Ungehorsams, Formen passiven Widerstandes, das Besetzen von Plätzen oder Gebäuden oder andere nicht verletzende Aktionen“ unter die Kategorie Gewalt gefasst hat. Ein oppositioneller Philosoph musste damit „in den hochentwickelten Industriegesellschaften des Westens Mißverständnisse heraufbeschwören“ (Wiggershaus 1986, 680). 59 Dieser Aufsatz brachte unser Unbehagen über die Permanenz der Diskussion, die keine praktischen Konsequenzen hatte, auf den Begriff. Wir begriffen, daß die Bourgeoisie, die herrschende Klasse in jedem Lande der es sich leisten kann, daß kritische Minoritäten über Probleme der eigenen und fremden Gesellschaft diskutieren, daß sie bereit sind, jede Diskussion zu gestatten, jede Diskussion, die theoretisch bleibt. Marcuses Aufsatz wurde so für viele Studenten eine sehr wichtige Produktivkraft in der Verarbeitung der Probleme des Spätkapitalismus am Beispiel der Dritten Welt, in diesem Falle Vietnams. (Dutschke 1968b, 73) 60 Diese Form von Repression nennt Dutschke die sinnlich-manifeste Erfahrung der Repression in den Metropolen (Dutschke 1968b, 73).
6.3 Spezifizieren: Der Staat als „Gewaltmaschinerie“
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die Wünsche und Sehnsüchte von Bevölkerungsmassen auf Ziele gelenkt werden können, die mit den Zielen der Herrschenden vereinbar sind bzw. diese fördern. Repression wird zum Beispiel als Steuerung von Konsumentenverhalten verstanden, die sich in der Weise auswirke, dass die Wünsche von Käufern nicht mehr allein von ihren Bedürfnissen, sondern von den durch Reklame geschaffenen Anreizen bestimmt werden. Daneben und im engeren Sinn sei Repression eine psychologische Kategorie und bedeute Unterdrückung menschlicher Triebe und Entwicklungsmöglichkeiten zugunsten einer möglichst weitgehenden Anpassung des Individuums an gesellschaftliche Normen (Konformismus) (Weigt 1968, 49). Dieser Wörterbuchartikel repräsentiert den Gebrauch von Adjektiv und Substantiv. Signifikant häufig belegt sind Partnerwörter des Adjektivs, die auf den Hochschulbereich referieren61, sowie Abstrakta mit hohem Allgemeinheits- und Unbestimmtheitsgrad62, die repressiv als ökonomische Kategorie ausweisen63 sowie als psychoanalytischen Terminus.64 Schlagwortcharakter bekommt repressiv, wenn es gleichsam tautologisch verwendet wird, etwa in Verbindungen wie repressiver Gruppenzwang, repressive Gewalt der Gesellschaft, oder repressive Zwänge. Das Substantiv ist produktiv als Bestimmungswort65, gekennzeichnet von Zuschreibungen, die Existenz und Intensität bezeichnen (faktische, überflüssige, illegale, massive, akkumulierte, zusätzliche, verschärfte Repression), die auf Wirkungsbereiche referieren (politische, ökonomische, gesellschaftliche, staatliche und universitätsadministrative Repression), die Erscheinungsformen bewerten (direkte, indirekte, organisierte, ausbeuterische, offene Repression), die den Wirkungsradius abstecken (internationale, globale Repression). In reihenden und-Syntagmen werden teilsynonyme Partnerwörter zur (z. T. tautologischen) Intensivierung des semantischen Potenzials verwendet (Unterdrückung und Repression, Repression und Destruktion, Disziplinierungen und Repression, Repression und politische Verfolgung). Definitionsgenitive dienen als präsupponierende Existenzaussagen.66 Wie für das Adjektiv lassen sich auch für das Substantiv quasi-tautologische Verwendungen belegen – man verirrt sich gleichsam in der Semantik in einer Formel wie Repression des gesellschaftlichen Zwangszusammenhangs.67 Deutlich ist jedenfalls: Die Gebrauchsweisen identifizieren Repression als ein Gewalt bezeichnendes Stigmawort,
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repressives Studium, Juristerei als repressives Instrument, repressiver Wissenschaftsbetrieb, repressive Strukturen und Ziele des herrschenden Lehrbetriebs, repressive Ordinarienpositionen, repressiver und versklavender Gebrauch der Wissenschaft. 62 repressive Institutionen, Maschinerie, Konstruktion, Situationen, Bedingungen, Funktionen, Gesellschaft, Gesamtstruktur, Maßnahmen, Totalität des Institutionswesens, Macht des Ganzen, repressives System, Instrument, repressiver Staatsapparat, Gesamtzusammenhang. 63 repressive Umverteilung des Sozialprodukts, Erfolgskontrollen, Arbeitsteilung, Produktivität, Vergesellschaftung des Kapitals. 64 repressive und aggressive Bedürfnisse, Sozialisationsmechanismen, Anpassung, unter repressivem Bedürfnisverzicht, repressive gesellschaftliche Moral, Vorherrschen repressiver Bedürfnisse. 65 Repressionseinsatz, -mechanismen, -versuch, -maschinerie, -prozeß, -mittel, -maßnahmen, -bedingungen, -instrumente, -institute. 66 nackte Repression einer faschistischen Gewalt, Repression der Studentendemonstration, krude Formen der Repression, Organisiertheit der Repression, Höhepunkt der Repression, Repression des Spätkapitalismus, Repräsentanten der Repression, gesamtgesellschaftliche Aufgaben der Repression, Zunahme der Repression, weltweites Netz der organisierten Repression 67 […] er [Adorno] spürt den Repressionen des gesellschaftlichen Zwangszusammen-
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das dazu dient, die Gegenwartsgesellschaft in allen ihrer Stabilisierung und Konservierung dienenden Hinsichten zu repräsentieren. Wir können Repression und Gewalt deshalb als Synonyme verstehen, Emanzipation (wir werden seinen Gebrauch unten Kapitel 8.3 rekonstruieren) als Gegensatz.
Wir sehen also: Wenn im studentischen Diskurs Gewalt auf den Staat (egal in welcher Ausprägung und Erscheinungsform) referiert, haben wir es mit einer dreidimensionalen Polysemie zu tun, mit der Lesart der Handlungsbezeichnung im Sinn von ‚Aggression‘, und mit den beiden Lesarten der Zustandsbezeichnung für ‚Legislative‘, ‚Exekutive‘, ‚Judikative‘ einerseits, ‚latent angelegter potenzieller staatlicher Zwang‘ andererseits. Alle drei Lesarten werden aktualisiert, aber nicht eindeutig voneinander separiert: Der Diskurs der Akteure steht in Bezug auf den Referenzbereich ‚Staat‘ unter dem Zeichen der Lesartendiffusion. Es ist vor allem das Diffundieren der ersten und zweiten Lesart, das den Diskurs bestimmt. Denn die Lesart ‚Aggression‘ stellt ein hoch willkommenes aktivierbares Evokationspotenzial bereit, das von den Diskursbeteiligten genutzt wird, nicht nur, um Aussagen über den gewaltbereiten Staat, zu denen sie stets bereit sind, Überzeugungskraft zu verleihen. Darüber hinaus und vor allem wird dieses Evokationspotenzial den Aussagen untergelegt, die im Kontext des Referenzbereichs Gewaltenteilung stehen. Wenn kontextuelle Disambiguierung der „Normalfall“ ist, stellt sich die in diesem Segment praktizierte kontextuelle Ambiguierung als „Spezialfall“ der kommunikativen Praxis dar, wenn Gegenstand dieser Kommunikation der Staat ist.
6.4 Aspektualisierung: Die „manipulierte Gesellschaft“ Während die diskursive Aktualisierung des Gewaltkonzepts dazu dient, den Faschismuskomplex zu spezifizieren, konstituiert man die Kategorie der manipulierten Gesellschaft als einen Aspekt der für demokratisch defizitär gehaltenen Gegenwart. Gesellschaftliche Defizite sind aus der Sicht der Diskursbeteiligten insbesondere ein Problem der aufgrund einseitiger Informierung durch die Springerpresse praktizierten Manipulation. Insofern ist Manipulation (mit manipulieren und manipulativ)68 Ausdruck des Faschis-
hangs entlang den Entstellungen des objektiven Geistes gleichsam inwendig nach. (Habermas 1969b, 42) 68 Manipulation wird im 18. Jahrhundert aus dem Französischen manipulation, einer Ableitung von frz. manipuler, bereits in der übertragenen Lesart ‚zum eigenen Vorteil beeinflussen‘ entlehnt. Um 1968 dominiert die psychologisch-politische Lesart ‚ver-
6.4 Aspektualisierung: Die „manipulierte Gesellschaft“
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mussyndroms und insofern eine die Gegenwartsgesellschaft entdemokratisierende Kategorie und Ausdruck des Faschismus-Syndroms, mit der die Diskursbeteiligten auf diese, als gesellschaftliches Defizit konzipierte Gegebenheiten referieren. Stil und Inhalte der Berichterstattung dieser Presse sind das Skandalon und mit der Schmähvokabel Hetze (und der Wortfamilie) hat man eine entsprechende traditionsreiche lexikalische Verdichtung verfügbar, mit der man auf diesen als antidemokratisch bewerteten Sachverhalt referieren kann. Hetze – als Bezeichnungskategorie brauchbar immer dann, wenn es ein Reden eines tatsächlichen oder vermeintlichen Gegners zu bezeichnen gilt, das als unwahrhaftig, verleumderisch und Hass erzeugend wahrgenommen wird.69 Formeln wie Hetze des Hauses Springer, Hetze der BILD-Zeitung, Hetze der SpringerPresse gegen die Studenten können als Standardformulierungen dieses medienkritischen Diskurssegments gelten.70 Auch Adorno stattet seine Analyse mit diesem Terminus aus: […] wenn Sie einmal denken etwa an das Einleuchtendste, nämlich an die Hetze, die die SpringerPresse gegen die Studenten über einen erheblichen Zeitraum vorgenommen hat, dann wäre ja wieder diese Hetze selbst nicht wirksam geworden, wenn ihr nicht auch ein bestimmtes Potential der Empfangenden entsprochen hätte. Denn es gehört ja unter anderm auch zu der gegenwärtigen Gesellschaft hinzu, daß sie – und das gilt gerade für die sogenannte Boulevardpresse –, daß sie Informationen in Konsumgüter verwandelt, d. h. also, daß die Informationen selber in einer
deckte Beeinflussung der Bevölkerung‘, die verschiedenen Ansätzen der Totalitarismus- und Kulturkritik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstammt (vgl. DFWB s. v. Manipulation und Paul 102003 s. v. Manipulation). 69 Traditionsreich soll heißen, dass, ohne natürlich eine Parallele behaupten und einen Bezug zur nationalsozialistischen Propaganda herstellen zu wollen, auf diese hinzuweisen ist: Im Kontext mit der nazistischen Sprachregelung, die Propaganda als ausschließlich auf den Nationalsozialismus zu beziehende Bezeichnung vorschreibt, wird als entsprechende, ausschließlich auf den Gegner referierende negativ konnotierte Kategorie Hetze festgelegt (mit Zusammensetzungen wie Greuelhetze, Lügenhetze usw.): „Propaganda ist im Sinne des neuen Staates gewissermaßen ein gesetzlich geschützter Begriff geworden und soll nicht für abfällige Dinge Verwendung finden. Es gibt also keine ‚Greuelpropaganda‘, keine ‚bolschewistische Propaganda‘, sondern nur eine Greuelhetze, Greuelagitation, Greuelkampagne usw. Kurzum – Propaganda nur dann, wenn für uns, Hetze, wenn gegen uns.“ (Presseanweisung vom 28.7.1937; zit. nach Schmitz-Berning 1998, 480) 70 daß die Springerpresse mit ihrer systematischen Hetze gegen die linke Opposition erst das Klima geschaffen hat, in dem ein einzelner diese Tat planen und durchführen konnte (Forderungen der APO 1968); Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer (Meinhof 1968a); Die radikaldemokratische Empörung der Studenten über die Hetze der BILD-Zeitung nach dem 2. Juni stieß gerade beim proletarischen Teil der BILD-Leser auf eine Mischung von Aggression, Hohn und Langeweile, die die Studenten sich nicht erklären konnten (Untergang der Bildzeitung 1968, 115).
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gewissen Weise denen, an die sie gerichtet sind, Genuß oder, richtiger, Ersatzgenuß, Ersatzbefriedigungen gewähren. (Adorno 1968d, 376) Adornos Analyse nimmt die Hetze [der] Springer-Presse als Exempel, das einen Prozess dokumentiert, den Adorno und Horkheimer im Rahmen ihrer umfassenden Kulturkritik analysiert haben: ein zum Konsum disponiertes Publikum, eine Presse, die diese Disposition ausnutzt und Information als Ware (Konsumgut) offeriert – das sei die obligatorische Konstellation, die bewirke, dass Hetze … ja von kommerziellen Motiven gar nicht ganz abzutrennen ist (ebd.). Es gibt in Bezug auf die Wortfamilie Hetze kaum einen anderen Referenzbereich, als Springer (mit Bezeichnungsalternativen): Das gilt für die präfigierten Ableitungen Aufhetzung und Verhetzung.71 Das gilt für das Verb hetzen, vor allem in der Präfixform aufhetzen.72 Das gilt für das rechtserweiterte Kompositum Hetzjagd und für die linkserweiterten Komposita Pogromhetze und Minoritätenhetze.73 Als Kategorie mit einem besonderen Stellenwert hat in diesem medienkritischen Kontext die Straftatsbezeichnung Volksverhetzung zu gelten. Gewalt, das ist die Volksverhetzung der Bild-Zeitung (Krahl 1968c, 151) ruft Hans-Jürgen Krahl seinen Zuhörern auf dem Frankfurter Römerberg zu, als er dort am 27. Mai 1968 gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze spricht. Er benutzt damit eine Kategorie, die bereits in der Weimarer Verfassung das Verbot verleumderischen Redens unter Strafe stellte und die als Reaktion auf zahlreiche öffentlich vorgebrachte Antisemitismen seit 1960 in revidierter Form in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde.74 Insofern kann die Humanistische Studenten-Union (HSU) einen Strafantrag gegen die Chefredakteure einiger SpringerZeitungen wegen Vergehens gegen den 130 StGB (Volksverhetzung) stellen (Unruhe 1967).75
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Die Aufhetzung der Bevölkerung fand seit dem 6.6. in den Leserbriefspalten statt (Heinemann 1967); die blanken Aufhetzungen der Springer-Presse (Habermas 1967a, 138); Der Springer-Konzern … entfaltet … eine planmäßige Verhetzung aller Kräfte (Dutschke 1967g, 97). Die Springerpresse wird weiter hetzen können (Meinhof 1968a); der Springer-Konzern hetze die Massen faschistisch gegen die Studenten auf (Reiche 1968a, 29); Reaktionen, die die BILD-Zeitung … verarbeitet, um … so die Unterdrückten gegen die Unterdrückten aufzuhetzen. (Untergang der Bildzeitung 1968, 117) Seit der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin bis hin zum Mordanschlag auf Rudi Dutschke haben die Regierenden und Springers Bild eine regelrechte Hetzjagd gegen Studenten entfacht. (Krahl 1968c, 150f.); Daß … die Presse also ihre entscheidend zu dem Massaker beitragende Pogromhetze gegen die Studenten … fortsetzte (Lefèvre 1967b, 12); Der Erfolg von Springers Massenblättern … wäre nicht denkbar ohne das täglich massenhaft reproduzierte Bewußtsein der eigenen Unterdrückung und dessen tägliche Verwandlung in Minoritätenhetze (Untergang der Bildzeitung 1968, 66). „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ (Abs. 1 § 130 Volksverhetzung StGB) Von besonderer Brisanz ist, dass auf der anderen Seite die Aktivisten natürlich von ihrer Präsenz in den etablierten Medien lebten. Ohne solche Zeitungs- und Medienpräsenz hätte es 68 nicht gegeben. Vgl. zu diesem symbiotischen Verhältnis Lachenmeier (2007) mit weiterer Literatur. Öffentlichkeitsorientiertheit ist obligatorische Konstitu-
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Die Kategorie Manipulation ist in früheren Schriften der Kritischen Theorie als zentrales kulturkritisches Deutungselement geprägt. 1947 erschien in „Dialektik der Aufklärung“ der Essay Theodor W. Adornos und Max Horkheimers über die „Kulturindustrie“, der den Untertitel „Aufklärung als Massenbetrug“ trägt. Mit ihrer Formulierung „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“76 schließen Adorno und Horkheimer an die Bedürfnisbegriffe von Karl Marx und Sigmund Freud an: Nach der Marx’schen Konzeption von Bedürfnis im System des Privateigentums spekuliert jeder Mensch darauf, „dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn […] in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses […] zu verleiten.“ (Marx 1844a, 546f.) In der Freud’schen Psychoanalyse steht der Begriff des Bedürfnisses dem des Triebes nahe, der direkt auf Befriedigung angelegt ist. ‚Kultur‘ wird unter diesen Bedingungen als Ersatzbefriedigung von Trieben verstanden, welche wegen der Geltung gesellschaftlicher Verhaltensnormen nicht ausgelebt werden können. Dieses Triebverbot führt zu Verdrängung, Sublimierung und Verinnerlichung von Bedürfnissen.77 Adorno und Horkheimer beziehen in diese Konzeption Massenmedien als Stabilisator eines kapitalistischen Gesellschaftssystems ein. Als konstitutive Elemente des „Manipulationszirkels“ identifizieren sie einerseits die konkreten Medieninhalte, die eine Scheinrealität vorgeben, und andererseits das manipulierte Konsumbedürfnis einer Bevölkerung, deren Rolle auf die einer unkritischen Konsumentenmasse reduziert werde. Mit der Metapher „ökonomische Riesenmaschinerie“ (Horkheimer / Adorno 1947, 135) wird eine Allgegenwart massenmedialer Produkte als Mittel einer unablässigen Zerstreuung und Beeinflussung zum Ausdruck gebracht, eine Vorstellung, die mit Max Horkheimers Konzept des „Integralen Etatismus“ korrespondiert.78 Die Funktionsweise dieser Maschinerie bestehe da-
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ente sozialer Bewegungen, insofern ihnen „andere Ressourcen, etwa institutionelle Zugänge zum politischen Entscheidungssystem, formelle Vetorechte, Geld, Expertise – nicht oder nur in geringem Maß zur Verfügung stehen“ (Rucht 2008, 156). „In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt. Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft.“ (Horkheimer / Adorno 1947, 129) Vgl. Brunner / Conze / Koselleck 1974, Band 1, s. v. Bedürfnis S. 440–489. Vgl. hierzu Kraushaar: „Beim Theorem des integralen Etatismus, das in ökonomischer Hinsicht maßgeblich auf Überlegungen des Horkheimer-Freundes Friedrich Pollock zurückzuführen ist, geht es um eine Theorie des Monopolkapitalismus, in der der Staat zum Gesamtkapitalisten wird. Bei Beibehaltung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel wird der Konkurrenzmechanismus ausgeschaltet, direkt in die
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rin, dass sie den Konsumenten über die Steuerung seiner Bedürfnisse selbst als systemkonforme Größe reproduziere. Der kulturindustrielle Medienapparat bewirke beim Konsumenten ein „falsches Bewusstsein“ von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung, das im Gesamtsystem „Kulturindustrie“ kontinuierlich reproduziert werde: Entscheidend heute ist nicht mehr der Puritanismus, … sondern die im System liegende Notwendigkeit, den Konsumenten nicht auszulassen, ihm keinen Augenblick die Ahnung von der Möglichkeit des Widerstandes zu lassen. Das Prinzip gebietet, ihm zwar alle Bedürfnisse als von der Kulturindustrie erfüllbare vorzustellen, auf der anderen Seite aber diese Bedürfnisse vorweg so einzurichten, dass er in ihnen sich selbst nur noch als ewigen Konsumenten, als Objekt der Kulturindustrie erfährt. (Horkheimer / Adorno 1947, 150)
Die Konzeptbildung wurde weiterhin von Habermas’ Ausdeutung wesentlich mitgeprägt, und zwar im Rahmen seiner Analyse zu ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ (Habermas 1962). Habermas unterscheidet zwei Typen von Öffentlichkeit im demokratisierten Sozialstaat: eine „manipulative Publizität“ und eine „kritische Publizität“. Diese Alternativen seien dadurch bedingt, dass in der gegenwärtigen Situation die soziale Schwelle zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre nivelliert sei, so dass sich Öffentlichkeit im Sinne von ‚öffentliche Meinung‘ nicht mehr durch konvergente Meinungsäußerungen freier Bürger konstituieren könne: Die politische Öffentlichkeit des Sozialstaates ist durch zwei konkurrierende Tendenzen geprägt. Als Zerfallsgestalt bürgerlicher Öffentlichkeit gibt sie einer, von Organisationen über die Köpfe des mediatisierten Publikums entfalteten, demonstrativen und manipulativen Publizität Raum. Andererseits hält der Sozialstaat, soweit er die Kontinuität mit dem liberalen Rechtsstaat wahrt, am Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit fest, demzufolge das von Organisationen mediatisierte Publikum, durch diese selbst hindurch, einen kritischen Prozeß öffentlicher Kommunikation in Gang setzen soll. (Habermas 1962, 337f.)79
Im Kontext dieser von der Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule vorgedachten Konzeption ist Manipulation / manipuliert / manipulativ eine produktive lexikalisch-semantische Verdichtung und eine der zentralen Konstituenten des kritischen Demokratiediskurses Ende der 1960er Jahre, mit
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Steuerung des Produktionsprozesses eingegriffen und die Verteilung des Mehrwerts dirigistisch geregelt. Die Massenloyalität wird durch Manipulation der Informationsmedien, letztlich der öffentlichen Meinung, hergestellt. Manipulation tritt, soweit es irgend geht, an die Stelle offener Repression.“ (Kraushaar 2001, 22f.) Wir kommen unten (s. u. Kapitel 8) im Zusammenhang des Modells einer Partizipationsdemokratie auf die Kategorie der Öffentlichkeit zurück.
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dem die Diskursbeteiligten unter dem Zeichen des spätkapitalistischen Faschismus die Gesellschaft entdemokratisieren. Manipulation erfährt im Diskurs eine explizite und ideologische funktionale Ausdeutung als Legitimation des Systems – Manipulation, die mit der Legitimation des Systems weitgehend sich deckt, entfaltet sich auf zwei Ebenen (Rolshausen 1968, 151) – und ist im kritischen Denken der späten 1960er Jahre gleichzusetzen mit Unmündigkeit. Damit wird dokumentiert: Manipulation ist ein hoch evokationshaltiges Stigmawort, das kaum adjektivische Bestimmungen benötigt80, dessen kollokative Vielfalt in Bezug auf Handlungsbezeichnungen und synonymische Reihungen und dessen Wortbildungsproduktivität (als Grundwort in Sprach- und Bewußtseinsmanipulation, als Bestimmungswort in Manipulationsinstrumente, -mittel, -spielraum, -zusammenhang) umso bewegter ist.81 Wenn wir nach antonymischen Relationen fragen, können wir feststellen: Manipulation steht hinsichtlich seiner Oppositionsbeziehungen auf einer Skala zwischen Aufklärung, Selbstorganisation und demokratische Willensbildung82 einerseits, Terror andererseits.83 Manipulation (manipulieren / manipulativ) ist also Leitkonzept, in dem sich auf Presse und vor allem auf Springer referierende die, diesen Diskurs
80 durch konzentrierte Manipulation … dem Bewußtsein der Beherrschten unzugänglich … machen (Kröger 1969, 60); Die Apathisierung der Massen wäre dann keine Frage der ideologischen Manipulation (Schmierer 1968, 10). 81 Kampf gegen die Manipulation (Blanke 1968a, 44); Emanzipation der Menschen von Unterdrückung, Mangel und Manipulation (Ziele und Organisation 1967); Durchbrechen der Manipulation (Reiche / Gäng 1967, 27); Unsere Gewalt gegen die unmenschliche Staatsmaschinerie, gegen die Manipulationsinstrumente … die Zentren manipulativer, bürokratischer oder militärischer Beherrschung der Menschen (Salvatore / Dutschke 1967); um Personalisierungen und Manipulationen von vornherein auszuschließen (Cerutti 1968, 44); Erziehung, Manipulation und exekutiver Indoktrinierung (Krahl 1968b, 461); langer Arbeitszeit, Manipulation und Elend (Dutschke 1968c, 86); der moralische Protest der Studenten gegen Ungerechtigkeit, Entmündigung, Manipulation usw. (Rabehl 1968b, 47); Von Problemen der Ideologie und der Bewußtseinsmanipulation war dabei nicht mehr die Rede. (Untergang der Bildzeitung 1968, 2); die Vermittlung … wird durch Sprachmanipulation als Problem aus der Welt geschafft. (Schmierer 1968, 13); das Idiom des „Pluralismus“ [ist] Manipulationsinstrument (Rabehl 1968b, 33); Die Germanistik … verfällt dem Manipulationszusammenhang der Kulturindustrie (Basisgruppe Walter-Benjamin-Institut 1968, 160); Entwicklung und Handhabung … brutalisierender und entmündigender Manipulationsmittel (Lefèvre 1968c, 189); der Manipulationsspielraum ist … begrenzt (Rolshausen 1968, 147). 82 Wie läßt sich die Willensbildung auf den teach-ins wahrhaft demokratisch-plebiszitär ausbauen, um Personalisierungen und Manipulationen von vornherein auszuschließen? (Cerutti 1968, 44); Der Prozeß der Revolution, von dem viele von uns träumen oder ihn vorbereiten, ist ein Prozeß, der über die Selbstorganisation geht und nicht über die Manipulation. (Dutschke 1967h, 65); das Parlament [wird] selbst von der Exekutive zu einem Manipulations- und Verschleierungsinstrument herabgesetzt …, das die Massen nicht aufgeklärt (Krahl 1967c, 328). 83 was ich historisch bezweifeln muß, … ist, ob der Faschismus in allen Ländern und in allen Zeiten wirklich offen terroristisch ist, …, oder ob das Eigentümliche, das Widersprüchliche gerade darin besteht, daß selbst der Faschismus streckenweise Formen produziert hat, in denen sich nur die Manipulation als notwendig erwiesen hat. (Agnoli 1968c, 55)
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dokumentierende Demokratiekritik verdichtet.84 Exemplarisch ist hier die sog. Springerkampagne, deren Initiatoren diese verstehen als Kampagne gegen die Sphäre der Manipulation (Untergang der Bildzeitung 1968, 1), als Kampagne gegen Manipulation (ebd. 2), in deren Rahmen eine Diskussion über Manipulation geführt werde (ebd. 1), mit der Aufgabe Entlarvung der Manipulateure (ebd. 2) – indes: „man musste … nicht Student sein um zu meinen, dass Springers Boulevardzeitungen die Öffentlichkeit ‚manipulierten‘“ (Frei 2008, 116). Auf Springer referierende Medienkritik drückt sich darüber hinaus insbesondere in den Zusammensetzungen aus (Presse-, Informationsmanipulation, Manipulationsinstrument, -zentrale, -apparat, -medien, -zentrum, -struktur 85), und vor allem darin, dass Manipulation und Springer (der Name des Hassobjekts schlechthin) hoch frequent belegte Partnerwörter sind.86 Derselbe Befund ist in Bezug auf (offenbar jedoch wesentlich seltener gebrauchtes) Verb und Adjektiv mitzuteilen.87 Das Verb ist insbesondere in der Perfektform attributiv attraktiv: Die
84 Dieser mediale Referenzbereich ist quasi lexikalisiert, wenn Manipulation definiert wird zum einen als „die sachlich unangemessene und folglich unzulässige Gestaltung von Medienberichten“, zum andern als „die gezielte, verdeckte und damit unbewusste Beeinflussung der Bürger“ (Politische Kommunikation 1998, 677f., s. v. Manipulation) Dieser Lesart entsprechen Verwendungen wie Manipulation in ihrer direkten Ausprägung der Massenkommunikationsmittel (SDS 1968e, 57) und: Die Organisation der Presse als privates Profitunternehmen und ihre überwiegende Finanzierung durch die Industrie- und Verbrauchswerbung stellen die Kommunikationsmittel in den Dienst der Manipulation. (SDS 1968b, 7) 85 Meinungsbildung durch Konsumzwänge und Pressemanipulationen (Abendroth 1968, 138); Unsere Gewalt gegen die … Manipulationsinstrumente (Salvatore / Dutschke 1967); Aufklärung der verschiedenen Bevölkerungsschichten über die Manipulationszentrale (Lefèvre 1968b, 50); gegen die Manipulationszentrale Springer (Rabehl 1968b, 44); beobachten, wie der Manipulationsapparat Dutschke in klassischer Weise klassenspezifisch verarbeitet. (Blanke 1968a, 41); Massenmedien, Reklame, direkte[…] politische[…] Manipulation. (Reiche / Gäng 1967, 21); Risse in der Manipulationsstruktur … überall dort …, wo die berühmten „unbeteiligten Passanten“ in Demonstrationen hineingerieten und anderntags feststellen mußten, daß „die Zeitungen lügen“. (Reiche 1968a, 28) 86 Manipulationszentren wie Springer-Hochhaus oder SFB, Amerika-Haus, Botschaften der Marionettenregierungen, Armeezentren, Polizeistationen etc.! (Dutschke 1968b, 84); die Manipulationszentren, die Augstein und Springer (Dutschke 1968c, 88); Die Manipulationszentrale des Springer-Konzerns (SDS 1968h, 70); die Informationsverzerrung und -manipulation der Springerpresse (SDS 1967f, 312); Unsere peinlich naiven Vorstellungen über den Eilmarsch „Enteignet Springer“ sollten wir uns nochmals in Erinnerung rufen: … dabei sollte ein umfassendes Aktionsprogramm zur Aufklärung der verschiedenen Bevölkerungsschichten über die Manipulationszentrale beschlossen werden (Lefèvre 1968b, 50); Gegenöffentlichkeit …, die der jahrelangen Manipulation von seiten der Springerpresse begegnen sollte … Schaffung eines Tribunals, auf dem durch Gutachter die Manipulation des Konzerns bewiesen werden sollte … Der Entzug der Springerzeitungen sollte bei den Lesern Aufklärung schaffen über die Manipulation. (Rabehl 1968b, 48); die Springer-Kampagne lehrt, daß die … (politische, gesellschaftliche, ökonomische) Ohnmacht der Lohnabhängigen der eigentliche Garant des manipulativen Zusammenhangs ist. (Brückner 1968, 76f.); die Informationsverzerrung und -manipulation der Springerpresse (SDS 1967f, 312). 87 von keiner Zentrale organisiert beziehungsweise manipuliert (Dutschke 1968c, 90); Die Verdrängung der deutschen Niederlage und des Faschismus muß notwendig Schuldgefühle und Angst unterdrücken und manipulieren. (SDS 1968b, 8); Manipula-
6.4 Aspektualisierung: Die „manipulierte Gesellschaft“
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Formeln manipulierte Gesellschaft, manipulierte Masse, manipulierte Opfer können als fest gelten.88
In Bezug auf den gesellschaftskritischen wissenschaftlichen Terminus Manipulation (mit manipulieren und manipulativ) können wir also feststellen: Die Bereitschaft, ihn zu adaptieren und damit auf die Gegenwartsgesellschaft der späten 1960er Jahre zu referieren war groß. Ihre Dialektik der Aufklärung hat etwa die Basisgruppe Walter-Benjamin-Institut gelernt: Die Germanistik … verfällt dem Manipulationszusammenhang der Kulturindustrie, die vorgibt, ihre Produkte befriedigten gesellschaftliche Bedürfnisse, deren Qualität sie in Wahrheit verschleiert. (Basisgruppe Walter-BenjaminInstitut 1968, 160f.) Und auch die Analyse Reimut Reiches ist Beispiel für den hohen lexikalisch-argumentativen Adaptionsgrad, den die Übernahmen durch die studentischen Beteiligten aufweisen: Das gesamte System der gesellschaftlichen Anpassung, der psychischen und der politischen Manipulation, der gesteuerten Information, der gesteuerten Bedürfnisweckung und der Lenkung und Kanalisierung der Bedürfnisbefriedigung beruht zentral auf einer Atomisierung der Bevölkerungsgruppen in je Einzelne, Konsumenten, Empfänger, Wähler, Arbeiter die nicht direkt miteinander in Kontakt treten, sondern nur über die technischen und psychologischen Vorschaltorgane der Manipulation. (Reiche 1968a, 28)
Die relevanten Bedeutungselemente der Öffentlichkeitstheorie sind vorhanden: Bedürfnis, gesteuerte Information, Kommunikation. Wir sehen also: Man macht sich die vorgedachte Theorie zu eigen und nutzt ihre Terminologie als Instrument, das der Analyse wissenschaftliche Dignität verleiht. Was wird gegen die negativ konnotierte Kategorie ge-
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tive Führung bedeutet Ausbeutung und objekthafte Benutzung der Demonstranten, Frustration und Resignation. Emanzipierende Führung bedeutet eine Aktualisierung und Realisierung der potentiellen praktisch-kritischen Tätigkeit der beteiligten Menschen (Dutschke 1968b, 81f.); Diese Teilprobleme können zwar vorläufig nur pragmatisch gelöst werden, was aber nicht bedeutet, daß ihre inhaltliche Bestimmung mit technischen Kniffen und moralischen Appellen manipulativ verdrängt werden dürfte. (Schmierer 1968, 16); Einebnung gesellschaftlicher Interessendivergenzen mittels manipulativer Formierungsmaßnahmen durch wohlfahrtsstaatliche Korrumpierungsmanöver (Altvater / Neusüss 1969, 21); Verschleierungsinstrument …, das die Massen nicht aufgeklärt, sondern im Gegenteil sie bloß schichtenspezifisch von den eigenen Parteien her manipulativ dem immanenten Abbau der Demokratie gefügig machen will. (Krahl 1967c, 328) die Masse der Polizei … als manipulierte Opfer des Systems zu sehen. (Leserbrief 1969, 114); In einer weitgehend manipulierten Gesellschaft kann demokratische Opposition nur durch anti-manipulatives Denken und Handeln … wirksam sein. (Schmiederer 1968, 6); In der Theorie der Rädelsführer und der manipulierten Masse offenbart sich die Unfähigkeit zu begreifen, daß Menschen unmanipuliert aus der verordneten Passivität ausbrechen können (Lefèvre 1967a, 8f.).
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setzt? Das Antonym von Manipulation ist Gegenmanipulation. Als innovative Wortneuschöpfung benutzen etwa Johannes Agnoli und Peter Brückner (1968) Gegenmanipulation, von ihnen u. a. als organisiertes Nein (Agnoli / Brückner 1968, 74) umschrieben. Gegenmanipulation entstehe durch das Auftreten einer linken Partei außerhalb des oligarchischen Kreislaufs (oder durch das Ausscheren aus ihm) (ebd. 75), sei Begleiterscheinung einer fundamental[en] oppositionelle[n] Organisation, die sich gegen die vom Verfassungsstaat gestützten Strukturen und gegen jede Art oligarchischer Transformation wendet (ebd. 73). Im weiteren Verlauf ihrer Argumentation erhält die Formel linke Gegenmanipulation dann durch die Kontextualisierung mit den entsprechenden Chiffren Vernünftigkeit, Vernunft, aufklären, praktische Aufklärung den aufklärerischen Bedeutungsakzent: Die linke Gegenmanipulation – das … organisierte Nein – ist deshalb so gefährlich, weil sie von der Vernünftigkeit der Massen ausgeht und sich konsequent an die Vernunft wendet: Sie klärt über die Unvernünftigkeit von Herrschaft und Ausbeutung auf und darüber, daß das Volk sich doch selbst regieren kann; und weil sie in der Konsequenz der Vernunft zur praktischen Aufklärung wird und zur politischen Praxis übergeht (ebd. 75).
Gegenmanipulation – wie Gegengewalt (s. u. Kapitel 7.3) und im Unterschied zu Gegenöffentlichkeit (s. u. Kapitel 8.3) eine problematische Kategorie, weil sie den im Diskurs inkriminierten Ausdruck (Manipulation) nicht ersetzt, sondern durch einfache Präfigierung semantisch umkehrt. Dialektisches Denken, das Denkprinzip der Diskursbeteiligten Ende der 1960er Jahre schlechthin, ermöglicht hier die affirmierende Konstruktion – und damit Legitimation: Sieht sich die Gegenmanipulation allerdings vor einer integrierten und für die Argumente der Vernunft taub gewordenen Gesellschaft, so kann sie zunächst zum Gebrauch von manipulativen Mitteln genötigt werden. Es gibt Situationen, in denen die Aufklärung nur in Form der Agitation Erfolg hat. Selbst wenn die Gegenmanipulation in diesem Sinne technisch und politisch das Bewußtsein und das Verhalten steuern will, greift sie die Geschlossenheit des Herrschaftssystems an und setzt dadurch Emanzipationskräfte frei (ebd. 75f.).
Vernunft ist die Anspruchsvokabel, Emanzipationskräfte freisetzen die Zielvokabel, zwischen diese ist die durch das Präfix gegen- approbierte Version von Manipulation eingelassen, der außerdem die Prädizierung genötigt werden zusätzliche Affinität verleiht. Das Stigmawort Manipulation wird so, über die affirmierende Komposition, zum Fahnenwort gewendet mit positiv ausgedeuteter Lesart. Wir können feststellen: Manipulierte Gesellschaft ist im kritischen Diskurs Ende der 1960er Jahre, als gegenwartsbezogene Kategorie zur Be-
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zeichnung einer durch einseitige Informierung nach Herrschaftsinteressen gelenkten unfreien Gesellschaft, zentraler Antidemokratismus: Er widerspricht der Vorstellung einer mündigen, durch Öffentlichkeit ihres Diskurses wohlinformierten und daher nach Vernunftgründen urteilenden Gesellschaft.
6.5 Abstrahieren: Das System Im Zeichen des faschistischen Deutungsmusters evaluiert man Staat und Gesellschaft und legitimiert einen demokratischen Anspruch. Als zweite Gründung ist dieser Prozess einer intellektuellen Demokratisierung bezeichnet worden.89 Diese zweite Gründung dient der Nachfolgegeneration als Anschauung, denn „in ihr formte sich das Bild, das sich die Spätgeborenen von ihrem Staat und ihrer Aufgabe in diesem Staat machten“ (ebd.). Auf wie sicherem Boden der Aufklärung sie steht, drückt sich in dem „feste[n] Glaube[n]“ aus, „dass die Vergangenheitsbewältigung keine ein für allemal zu erbringende Leistung sei, sondern eine permanente Anstrengung und Wachsamkeit erfordere“ (ebd.) – zu verweisen ist auf Adornos Hörfunkreihe ‚Erziehung nach Auschwitz‘, die ebenso als zentrales Dokument dieser Überzeugung gelten kann wie seine demokratische Pädagogik (s. u. Kapitel 8.1). Das ökonomische und politische System der Bundesrepublik, „die soziale Marktwirtschaft und eine formale Demokratie“ seien, dessen waren die Beteiligten sicher, „hierfür wenn nicht schlechthin ungeeignet, so doch ungenügend … vielmehr [sei] ein tiefgreifender Wandel von Erziehung, Gesellschaft und Kultur nötig“ (ebd.). Damit haben wir auch eine Begründung dafür, dass nicht nur „in den NS-Prozessen, sondern vor allem in der Vielzahl der tiefgreifenden Reformen, die in den 60er und 70er Jahren dann auch tatsächlich stattfanden, … sich die politische Substanz dieser intellektuellen Gründung der Bundesrepublik [kristallisiert]“ (ebd.) Das Ergebnis der Evaluierung lautet in einer radikalen Version: „Die gesellschaftliche und politische Beschaffenheit der Bundesrepublik Deutschland ist die Version eines postfaschistischen autoritären und gewaltbereiten Staats und einer durch eine monopolisierte Presse manipulierten Gesellschaft.“ Dieser Befund stellt insbesondere die argumentative Basis
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„Aus dem Willen, den Mängeln der bisher stattgefundenen Vergangenheitsbewältigung abzuhelfen, entstand so etwas wie die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik.“ (Bock 1999, 558)
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der studentischen Linken dar – während die intellektuelle Linke solche Urteile entradikalisiert. Insbesondere die studentische Linke konstituiert mit den Elementen autoritärer Staat, Gewalt und Manipulation ein negatives Demokratiekonzept. Mit diesem Konzept erklärt sich, dass niemandem der Diskursbeteiligten einfällt, die Gegenwart der späten 1960er Jahre etwa in die Tradition der Weimarer Demokratie zu stellen. So defizitär diese war – hätte man nicht die demokratischen Grundelemente, die für Weimar kennzeichnend waren, in den kritischen gesellschaftspolitischen Diskurs der Jahre 1967 / 68 aufnehmen und die Bundesrepublik in diesem Sinn als – wie immer verbesserungsbedürftige – demokratische Weiterentwicklung von Weimar deuten können? Hätte man sich nicht selbst als Erben der Weimarer Idee, des „Geistes von Weimar“ konstituieren können, dem immerhin die Überführung der monarchistisch-autoritären Gesellschaft der wilhelminischen Epoche in die demokratische Moderne gelungen ist – wenn auch defizitär und zunächst nur für vierzehn Jahre? Beides ist nicht der Fall.90 Vielmehr gilt die Bundesrepublik als dasjenige System, das, in marxistischer Gesetzmäßigkeit, die in bestimmter Weise auf den Faschismus verweisende autoritäre, scheindemokratische Version des Spätkapitalismus darstellt. Diese Version analysiert man, strukturell-abstrahierendem Denken entsprechend, unter dem Zeichen der Abstraktionskategorie System. Der Diskurs Ende der 1960er Jahre hat mit System ein Element, das als Analysekategorie seit der Antike, inflatorisch seit der Aufklärung, auf Staat und Gesellschaft bezogen wird.91 Eine Reihe von Verwendungen lassen System
90 Eher schon wird eine Traditionslinie zu 1848 gezogen, bereits früh von Ulrike Meinhof: „Die Linke … verhält sich noch heute so republikanisch wie 1848, als sie den Rechtsstaat erkämpfte, den es heute noch gibt“ (Meinhof 1962). Diese Traditionskonstruktion hält bis zum Ende der Dekade an: Wer ohne Verdrängungen und Stilisierungen die gegenwärtige Studentenbewegung sinnvoll in den Zusammenhang der deutschen Geschichte einordnen will, muß an die Periode des Vormärz und an die gescheiterte Revolution von 1848 anknüpfen (Negt 1968d, 169); zum ersten Mal seit 1848 steht die große Mehrzahl der deutschen Studenten und Schüler nicht auf der Barrikadenseite der Reaktion (Wolff 1968a); die empirischen Anhaltspunkte sprechen für die Richtigkeit der Behauptung, daß heute zum ersten Mal seit den Tagen des Vormärz wieder eine „linke“ Studentengeneration an deutschen Universitäten vorherrscht. (Habermas 1969b, 28) Vergleichsmotive seien dabei u. a. die Globalisierung der Widerstandsbewegung sowie die herausragende Rolle der Intellektuellen, die auf 1848 wie auf 1968 zuträfe. (Vgl. Della Porta 2008, 173f.) 91 Vgl. Schmitz-Berning 1998, 598; Brunner / Conze / Koselleck 1990, Band 6, s. v. System, Struktur S. 285–322. Auf den nazistischen Gebrauch ist, weil er lexikalisiert ist, zu verweisen. Klemperer beschreibt ihn in der ausschließlichen „Spezialanwendung“ „System der Weimarer Verfassung“: „Für die Nazis war das Regierungssystem der Weimarer Republik das System schlechthin“ (Klemperer 1947, 105).
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zwar weitgehend unbestimmt, etwa im Sinn von ‚allgemeine bestehende Ordnung‘: Kampf / Opposition gegen das System, das bestehende / herrschende / repressive System, Gewaltorganisationen des Systems, das System beseitigen, gegen das System kämpfen.92 Ende der 1960er Jahre dominiert jedoch die signifikant negative Konnotation. System, ein Leitwort des Diskurses, kommt am häufigsten mit negativ bestimmten, auf die gegenwärtigen, als defizitär gedeuteten Zustände der bundesrepublikanischen Demokratie bezogenen Partnerwörtern vor.93 Unabhängig davon, worauf System referiert (hoch frequente Referenzen sind ‚Kapitalismus‘, ‚Gesellschaft‘, ‚Herrschaft‘), wird es stets in der allgemeinen Bedeutung ‚defizitäre, unmenschliche Organisation; Ordnung der herrschenden Kapitalisten und Politiker in der gegenwärtigen Scheindemokratie‘ verwendet, die je nach Kontext ergänzt bzw. spezifiziert wird. Der Referenzbereich ‚Herrschaft‘ – der seit der Französischen Revolution „immer schwerer legitimierbare[…] Begriff“ (Brunner / Conze / Koselleck 1982, Band 3, s. v. Herrschaft S. 3) – etwa wird in Formeln wie System der Herrschaft, bestehendes Herrschaftssystem, Stabilität der Herrschaftssysteme, Herrschaftsformen des Systems, System der Klassenherrschaft, herrschendes System als Zentrum des politischen Kampfs
92 der Jungakademiker von heute [hat] wenig Aussichten …, in die höheren Stäbe des Systems aufzusteigen. (Abendroth 1968, 139); Seit dem Mittelalter vielleicht hat sich akkumulierte Repression noch nicht wieder in solch weltweitem Ausmaß in organisierter Aggression gegen jene außerhalb des repressiven Systems entladen (Marcuse 1969, 114); eine Opposition gegen den ganzen sogenannten way of life dieses Systems … Diese Opposition gegen das System als solches (Marcuse 1967c, 51); progressive Gewalt zur Zerstörung des bestehenden Systems (neue kritik 1969, 39); Aufgabe …, die Stellen des Systems ausfi ndig zu machen, wo verändernde Praxis am ehesten ansetzen kann. (Meschkat 1968, 203); im Kampf mit den Gewaltorganisationen des Systems, mit der staatlich-gesellschaftlichen Bürokratie, mit der Polizei, mit der Justizmaschine, den industriellen Bürokratien in den Oligopolen usw. (Dutschke 1968c, 86); Lächerlichkeit soll die Vernunftlosigkeit des Systems treffen (Negt 1967a, 242); vor einer selbstzerstörerischen, vom System leicht integrierbaren Formalisierung der provokativen Gewaltanwendung warnen … die gegen Systeme, Apparaturen, Institutionen (nicht gegen Menschen) gerichteten Aktionen der studentischen Protestbewegung (Negt 1968b, 189); welche gesellschaftlichen Schichten bereit wären, bis zur radikalen Gewalt zu gehen, indem sie versuchen, das System zu beseitigen. (Gespräch 1967, 154); die Aktualität der Weltrevolution für jeden von uns, der gegen das System kämpfen möchte, aber noch von der Unüberwindbarkeit der bestehenden Ordnung innerlich tief überzeugt ist (Salvatore / Dutschke 1967); jenes Gefühl der Ohnmacht des einzelnen dem bestehenden System gegenüber (Dutschke 1968b, 75). 93 Ausnahme ist z. B. die Referenz ‚Rätedemokratie‘, auf die Dutschke mit System Bezug nimmt: Ich denke, daß wir uns nicht zu Unrecht als außerparlamentarische Opposition begreifen. Wenn wir sagen außerparlamentarisch, soll das heißen, daß wir ein System von direkter Demokratie anzielen – und zwar von Rätedemokratie (Dutschke 1967l, 13).
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konstituiert.94 Dasselbe gilt für den Bezugsbereich der politischen Ordnung (politisches System), des Parlamentarismus (parlamentarisches System), des autoritären Staats (autoritäres System), des Imperialismus (imperialistisches System)95. Der Bezugsbereich
94 der totalen Befreiung der Menschen von Krieg, Hunger, Unmenschlichkeit und Manipulation oder Wiedererstarken des in Gefahr geratenen Systems der Herrschaft von Menschen über Menschen (Salvatore / Dutschke 1967); dem Nachweis von Stabilisierungselementen des bestehenden Herrschaftssystems … dem stationären, „geschichtslosen“ Zustand der bestehenden Herrschaftssysteme … Ohnmachtsreaktionen, als die eine die Systeminteressen bedrohende Praxis stets verstanden wurde. (Negt 1968c, 21f.); Rückwirkungen auf die Stabilität der Herrschaftssysteme (ebd. 24); das taktische System der Herrschenden … sprengen (Falkenberg / Dabrowski 1968, 20); funktionelle Herrschaftsformen des Systems (Lefèvre 1968c, 197); Lavieren mit residual-brauchbaren Positionen innerhalb des institutionellen Systems der gegenwärtigen Klassenherrschaft (ebd. 195); die bestehende Macht- und Herrschaftsstruktur des Systems. (Dutschke 1968b, 77); Als bezahlten temporären Parasiten des Systems vermittelt die bestehende Herrschaftsstruktur der studentischen Intelligenz den Schein der Unabhängigkeit, der elitären Geborgenheit. … organisierte kollektive Wendung in der Aktion gegen das System … Ohne organisierte Widerstandskraft ist eine Schwächung des Systems in den Metropolen nicht möglich (ebd. 81); die einzige schwache Stelle des legitimationsbedürftigen Herrschaftssystems (Habermas 1968a, 192); Der Student als theoretischer Arbeiter hat bisher … seinen Status im bestehenden Herrschaftssystem behauptet; nun ist es an der Zeit, … daß die wissenschaftliche Produktion … gegen jede Verwertung durch das System sich sperrt bezw. soziale Herrschaft bekämpft. (neue kritik 1969, 35); die sozialökonomische Bestimmung des herrschenden gesellschaftlichen Systems als eines staatsmonopolistischen Kapitalismus (Lederer 1968, 115). Auf den hoch frequenten Gebrauch von herrschend als gegenwartsbezeichnendes Temporaldeiktikum kommen wir unten (Kap. 8) zurück. 95 Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. (Enzensberger 1967, 257); die autoritären Gefahren des bestehenden politischen Systems erkennen und bekämpfen (Habermas 1969b, 38); Solange der Widerstand keine absehbaren Chancen hat, faktisch neue Bedingungen zu setzen, die das politische System zur Veränderung zwingen, solange er allenfalls das System zwingt, auf die in ihm eingebauten Zwangsmechanismen zurückzugreifen stehen alle Aktionen in der Ambivalenz zwischen Willenskundgebung und Systemveränderung. … eine Konzeption, die unter gegenwärtigen Bedingungen eine „Zerschlagung“ des Systems ins Auge faßt. (Offe 1968a, 102); Wissenschaft, die durch ihre gesellschaftliche Funktion immer schon einem bestimmten politischen System dient, ist von uns nirgends umstandslos zu akzeptieren. Langfristig ist es notwendig, ihre gesellschaftliche Funktion, nämlich theoretisch akkumulierte Erfahrung der Beherrschung materieller wie menschlicher Natur auf eine systemstabilisierende Weise zu organisieren und zu verwalten, daraufhin zu kritisieren und im Sinne gesellschaftlicher Emanzipation zu verändern. … Der Student als theoretischer Arbeiter hat bisher … seinen Status im bestehenden Herrschaftssystem behauptet; nun ist es an der Zeit, … daß die wissenschaftliche Produktion … gegen jede Verwertung durch das System sich sperrt bezw. soziale Herrschaft bekämpft. (neue kritik 1969, 34f.); die Vermittlung von Bevölkerung und Staatsgewalt durch das parlamentarische System selbst und vor allem durch das Wahlsystem (Agnoli 1968d, 49); Faschismus … wird institutionell im Zentrum des parlamentarischen Systems selbst vorbereitet. (SDS 1967b, 321); Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. (Dutschke 1967a, 43); das System ohne politischrechtlichen Legitimationsbruch in den Faschismus zu transformieren (Krahl 1968e, 54f.); den drohenden Rückfall in ein autoritäres System verhindern (Habermas 1968d, 184); die zunehmende Befriedigung der Bedürfnisse durch ein autoritäres oder ein
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‚Gesellschaft‘ ist der der Soziologie (System unserer Gesellschaft, Gesellschaftssystem) und wird vor allem in den Kontext von Analyse und Theorie gestellt.96 System ist gleichsam Bezeichnung für einen Komplex, der sämtliche eine Gesellschaft konstituierende wirtschaftliche und politische Aspekte, die in einem Ordnungsverhältnis zueinander stehen, mitbezeichnet, so etwa wenn Habermas die Formel konkurrierende Gesellschaftssysteme verwendet97, oder wenn Adorno gesellschaftliche Komplexität und Zusammenhang der verschiedensten Momente als das Wesen eines von einer kritischen Theorie darzustellenden Systems beschreibt.98 Die Mehrzahl der Verwendungen referiert erwartungsgemäß auf ‚Kapitalismus‘ und System meint dann ‚ungerechte Form der privatund marktwirtschaftlichen, kapitalistischen Ordnung‘ (kapitalistisches System, System des (Spät)Kapitalismus).99 Diese Ordnung ist das herausragende Ziel widerständischen politischen Handelns: gegen das kapitalistische System kämpfen, Kampf gegen das kapi-
nichtautoritäres System … die Nichtübereinstimmung mit dem System als solchem (Marcuse 1967a, 22); der mangelnden Analyse der vielfältigen Vermittlungen, Fraktionen, Eingriffsmöglichkeiten innerhalb des imperialistischen Systems (Blanke 1968b, 8); der Imperialismus, der die Befreiungsbewegung in Vietnam zu zerschlagen sucht, [ist] ein weltweites System (SDS 1968c). 96 erklärt, warum das Gesellschaftssystem so viel schwerer als bisher durch Individuen angreifbar ist. (Dörner 1968, 64); Während in den berufsbezogenen Fächern stramm fürs Examen gearbeitet, und deshalb … kein Gedanke gedacht wurde, der mit dem herrschenden System hätte in Widerspruch geraten können, hatten die luxurierenden Wissenschaften die Möglichkeit, die Widersprüche der Gesellschaft zumindest in der Theorie zu erfahren. … die Regeltechniker … verkennen … ihre Tätigkeit als Fortschritt und sind somit unfähig, mit dem System in Widerspruch zu geraten, das diesen Fortschritt ermöglicht. (Greiff 1969, 58); das institutionelle System unserer Gesellschaft, das die materielle Bedingung der politischen Passivität und damit Unmündigkeit der Massen ist (Lefèvre 1968b, 51). 97 […] wir müssen Reformen um klarer und öffentlich diskutierter Ziele willen betreiben, auch und erst recht, wenn deren Nebenfolgen mit der Produktionsweise des bestehenden Systems unvereinbar sind. Die Überlegenheit einer Produktionsweise über die andere kann unter den gegebenen militärtechnischen und strategischen Rahmenbedingungen so lange nicht sichtbar werden, als … technischer Fortschritt und privater Wohlstand, die einzigen Kriterien des Vergleichs zwischen konkurrierenden Gesellschaftssystemen sind. (Habermas 1969b, 49f.) 98 Will man über Autorität diskutieren, so muß man diese ganze gesellschaftliche Komplexität mitdenken, vor allem dessen sich versichern, daß eine kritische Theorie der Gesellschaft nicht monistisch sein darf, nicht aus einem einzigen abstrakten Prinzip alles hervorspinnen. Sie stellt den Zusammenhang der verschiedensten Momente zu einem System, dem der heute herrschenden Gesellschaft, dar. Nur innerhalb dieses Systems haben die einzelnen Kategorien, auch die der überwertigen Autorität, ihren Stellenwert. (Adorno 1968a, 459) 99 Entwicklung klassenpolitischer Alternativen zum bürgerlich-kapitalistischen System (Lederer 1968, 130); Integration und Funktion der Produktivkraft Wissenschaft im spätkapitalistischen System (Lefèvre 1968c, 188); kaum ein Argument für eine höhere ökonomische Lebensfähigkeit des kapitalistischen Systems (Neusüss 1968, 51); strukturelle[…] Identitätsbedingungen des spätkapitalistischen Systems (Offe 1968b, 110); Wir haben in Zukunft einen Zweifrontenkrieg zu führen gegen das kapitalistische System auf der einen und gegen den bürokratischen Sozialismus auf der anderen Seite. … Unsere Hauptgegner bleiben nach wie vor die Herrschenden des kapitalistischen Systems (AStA 1968); Trotzdem ist es ein Trugschluß, daß damit das kapitalistische System widerspruchsfrei oder unangreifbar geworden wäre. (Reiche / Gäng 1967, 20);
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talistische System.100 Kontextpartner, aus denen außerdem diese Lesart von System dann zu erschließen ist, wenn das Leitwort ohne Zusatz verwendet wird, sind die marxistischen Kategorien: Produktivkräfte, Privateigentum, Produktionsmittel, Arbeiterklasse, Arbeiterbewegung101. Auch kommunistisch kann Partnerwort sein.102 In diesem Kontext etabliert sich dann auch der absolute Gebrauch, wenn man Kapitalismus und Kommunismus bezeichnet – die beiden Systeme, Systemkonkurrenz.103 Wenn die, sozusagen lexikalisierte, pejorative Bedeutungskomponente von kapitalistisches System konkretisiert werden soll, bildet den Kontext auffallend häufig das die Gesellschaftsanalysen der 1960er Jahre beherrschende Stigmawort Widerspruch: Die Gesellschaftskritik der Diskursbeteiligten beruht wesentlich auf der in der marxistischen Lehre ausformulierten Vorstellung von Gegensätzen. Mit diesem dialektischen Konstrukt werden die gesellschaftlichen ökonomischen und politischen Phänomene der deutschen Nachkriegsgesellschaft erklärt, die aus der Sicht der Beteiligten Erscheinungen des autoritären demokratiefeindlichen Systems sind. In der von der marxistischen Gesellschaftstheorie geprägten Bedeutung ‚von der kapitalistischen Produktionsweise verursachter gesellschaftlicher Gegensatz, Ungleichheit der Klassen‘ verwenden die Diskursbeteiligten diesen Ausdruck daher als Legitimationskategorie zur Stützung ihres kritischen Gesellschaftsentwurfs.104
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Die Studenten … rechnen damit, daß die materielle Integration ebenso brüchig ist wie das spätkapitalistische System (Rolshausen 1968, 152). Die Theorie, die im SDS entstand, versuchte beide Elemente, Bedürfnisse des Einzelnen und den Kampf gegen das kapitalistische Herrschaftssystem, zu einer Einheit zu bringen. (Rabehl 1968b, 40); Revolte dieser Studenten gegen das kapitalistische System (ebd. 46); die Weiterführung und Erweiterung des Kampfes gegen das kapitalistische Herrschaftssystem (Gäng 1969, 15). nicht die Technik, sondern die gesellschaftliche Organisation der Produktivkräfte [ist] für die Differenz der Systeme entscheidend … einer Arbeiterklasse …, deren Bedürfnisse und Aspirationen dem kapitalistischen System der Bedürfnisse in Nachahmung und Anpassung verhaftet sind. … dort, wo die Unterdrückten gegen das System rebellieren. (Marcuse 1967e, 3); Sind in der Geschichte der Arbeiterbewegung „revolutionäre“ Ratschläge doch allzuoft von denen gekommen, die eine Systemänderung aus dem Arsenal der von ihnen als möglich erachteten Perspektiven längst gestrichen hatten. (Lederer 1968, 113) Es handelt sich in Vietnam darum, einen der strategisch und ökonomisch wichtigsten Bereiche der Welt nicht unter kommunistische Kontrolle fallen zu lassen. … Wenn in diesem Sinne Vietnam … mit dem Wesen des Systems verbunden, so ist es vielleicht auch ein Wendepunkt in der Entwicklung des Systems, vielleicht sogar der Anfang vom Ende. (Marcuse 1967c, 52) der „Hauptwiderspruch“ zwischen sozialistischem Lager und kapitalistischem System. … Der Begriff des Klassenkampfes wurde reduziert auf den Wettbewerb beider Systeme (Rabehl 1968b, 29); Systemkonkurrenz zwischen den kapitalistischen und sozialistischen Staaten (Abendroth 1968, 137). Wir wissen gut genug, … daß es darauf ankommt, alle Risse und Widersprüche im System auszunutzen (Meschkat 1968, 209); Die inneren Widersprüche des Systems schlagen in Aggression nach außen um. (Neusüss 1968, 51); Im Weltmaßstab werden die Widersprüche ebenso wie der negative Charakter des kapitalistischen Systems manifest (Rolshausen 1968, 152); Das System wird sich auf sie einzurichten wissen, längst dürfen sich innerhalb seiner Institutionen die Widersprüche scheinbar bekämpfen (Dreßen 1968); Ein System, dessen innere Widersprüche sich immer von neuem in unmenschlichen und unnötigen Krisen manifestieren (Marcuse 1967c, 54); Er [Habermas] sieht immerhin ein unlösbares Systemproblem, das wohl den sich verschärfenden
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Wir sehen: Die Denotate und Kontextpartner von System weisen die Komplexität der Begriffsstruktur und Art und Umfang der Referenzbereiche nach. Damit allerdings ist System als zentrales Diskurselement, mit dem die Beteiligten so allgemein und abstrakt wie möglich auf die gegenwärtigen Gegebenheiten Bezug nehmen, noch nicht erfasst. Die Funktions- und Leistungsfähigkeit von System im Diskurs reflektiert insbesondere der Gebrauch gleichsam als einen Anthropomorphismus.105 Ihm werden Bedürfnisse und Interessen zugeschrieben.106 System erhält in personifizierenden Formeln den Status eines handlungsmächtigen Wesens107, eines reagierenden Gegenübers108, eines aggressiven Gegners, der gelegentlich monumentalen Drohcharakter erhält.109 Das Denken in abstrakten Kategorien sei signifikanter und symptomatischer Denkstil Ende der 1960er Jahre? Die stilistische Pra-
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Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung subjektiv widerspiegelt (Meschkat 1968, 203). Das System wird sich auf sie einzurichten wissen (Dreßen 1968); das System [kann] den Abbauprozeß und die Produktion von Arbeitslosen heute vereinnahmen, ohne mit der Wimper zu zucken. (Gespräch 1967, 157); Opposition gegen den allgegenwärtigen Druck des Systems, das durch seine repressive und destruktive Produktivität immer unmenschlicher alles zur Ware degradiert (Marcuse 1967c, 51); [es] ist … schädlich …, Defätismus und Quietismus zu predigen, die nur dem System in die Hände spielen können. Tatsache ist, daß wir uns einem System gegenüber befi nden, das seit dem Beginn der faschistischen Periode und heute noch durch seine Tat die Idee des geschichtlichen Fortschritts selbst desavouiert hat. … Ein solches System … ist nicht immun. Es wehrt sich bereits gegen die Opposition, selbst gegen die Opposition der Intelligenz, an allen Ecken der Welt (ebd. 275). die Bedürfnisse und Interessen des kapitalistischen Systems (Marcuse 1968a, 454); die vom System erforderten Bedürfnisse – auch die Triebbedürfnisse. (Marcuse 1967e, 5); ökonomische Bedürfnisse des Systems (Neusüss 1968, 51). Je komplexer und umfassender ein System wird …, um so mehr entzieht sich das System unmittelbaren Eingriffen (Habermas 1967a, 143f.); Das System behält sich die Entscheidung vor, ob und wann es den „Sieg“ durch totale Verbrennung und totale Vergiftung beschließen wird. (Marcuse 1967e, 2); das System des Spätkapitalismus [stellt sich] … als aktives, autonomes, allein Einheit stiftendes Zentrum der geschichtlichen Entwicklung dar. (Negt 1968c, 24); Die Kontrolle und Verwaltung der Individuen durch das System wird durch unsere politische Arbeit, durch unsere Aufklärung, durch unsere Provokationen und Massenaktionen strukturell in Frage gestellt. (Dutschke 1968c, 89); Solange der Widerstand keine absehbaren Chancen hat, faktisch neue Bedingungen zu setzen, die das politische System zur Veränderung zwingen, solange er allenfalls das System zwingt, auf die in ihm eingebauten Zwangsmechanismen zurückzugreifen stehen alle Aktionen in der Ambivalenz zwischen Willenskundgebung und Systemveränderung. (Offe 1968a, 102). […] den vom bekämpften System konzidierten Spielräumen (Lefèvre 1968c, 198). Erzeugt die Selbsterhaltung des Systems dessen zunehmende Brutalisierung, so sind die unterprivilegierten Länder der Dritten Welt, deren Befreiungskämpfe niedergeknüppelt werden, davon zunächst unmittelbar betroffen. … Indirekt ist der Kampf der Dritten Welt gegen den strategischen Imperialismus … ein Kampf gegen die Selbstbehauptung des kapitalistischen Systems. (Neusüss 1968, 51); die abstrakte Gewalt des Systems (Dutschke / Krahl 1967, 290).
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xis der Vermenschlichung des Abstraktums bestätigt diesen Befund. Anthropomorphismus, also die Übertragung menschlicher Eigenschaften auf ein Abstraktum, spiegelt eine Maxime der Kritischen Theorie wider, nämlich: nicht personengebunden individualistisch, sondern strukturbezogen denken und handeln. Weltverbesserern der späten 1960er Jahre stehen in diesem Sinn also Systeme gegenüber. Sie sind zu verändern, zu verbessern, abzuschaffen. Und: Sie sind die handelnden Antagonisten im politischen Kampf. Gleichsam als Bewertungsgrundlage dient die von den Beteiligten im Zeichen des allumfassend wirkenden Faschismussyndroms analysierte Nachkriegsgesellschaft. „Faschismus“ ist das erste und einzige Deutungsmuster, und der als autoritär, als entdemokratisiert, als in faschistischer Tradition stehend konzipierte Staat gibt die Folie ab für das Gegenkonzept einer für eine wirkliche Demokratie gehaltenen Ordnung. Die als entdemokratisiert konstituierte Gesellschaft bietet nicht nur die Möglichkeit, Widerstand gegen sie zu formulieren und zu praktizieren, sondern diese Konstruktion ist auch Folie zur Konstituierung des zu erreichenden politisch-gesellschaftlichen Ideals einer radikalen Demokratie. Insofern ist diese Konstituierung gleichsam das Motiv des Demokratie-Diskurses der späten 1960er Jahre. Damit schaffen insbesondere die studentischen Akteure die Argumentationsbasis zur Plausibilisierung ihres zukunftsbezogenen radikalisierten Demokratiekonzepts. Deren Konstituierungsregel könnte lauten: ‚Je undemokratischer die Gegenwart, umso mehr ist die radikalisierte Alternative legitimiert.‘ Es scheint, als hätten sich die Beteiligten von 1967 / 68 mit diesem gegenwartsbezogenen Faschismus-Konzept dasjenige diskursive Konstrukt verschafft, dem 1945ff das der Kollektivschuld entspricht – eine zum Zweck einer ‚plausiblen‘ Argumentation konstruierte Wirklichkeit (vgl. Kämper 2005, 277ff).
7 Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits Wir hätten es nicht mit einer aktionistischen Bewegung zu tun, wenn nicht ihre Demokratiekonzeption in hohem Maß auch als sprachliche Repräsentation eines Handlungskonzepts darzulegen wäre. Gegenstand dieses Diskurssegments ist die Thematisierung sprachlichen und nichtsprachlichen Handelns, dessen Legitimation die Auseinandersetzung mit der Referenztheorie der Frankfurter Schule herstellt und damit einen neuen Praxisbegriff schafft. Dieser ist die semantische Bewertungsfolie widerständischen politischen Handelns, und zwar (seitens der studentischen Linken) bis hin zur Legitimierung von Provokation, Aktion und Gewalt – im Sinn einer offenen Semantik. In funktionaler Perspektive ist dieses Segment eine strategisch angelegte diskursive Bearbeitung desjenigen Konzepts, das sich kommunikations- und diskursgeschichtlich als die größte Kontroverse der beiden Beteiligtengruppen darstellt. Es ist insofern als zentrales Segment des Demokratiediskurses zu beschreiben, als seine Kompatibilität bzw. Nichtkompatibilität mit Demokratie zur Disposition stand. Eine Renaissance der adornitischen generellen Praxisfeindlichkeit ist durchaus zu erwarten; vor allem dann, wenn die unmittelbaren Folgen der Studentenbewegung vorläufig nichts als einige Reformen sein sollten, die die gruppenspezifische Situation zu erleichtern scheinen. Der Rückfall auf eine Bewußtseinsstufe, die durch die Praxis und die Aktionen schon tendenziell überwunden war, wird zur objektiven Unmöglichkeit der Revolution hypostasiert. (Schmierer 1968, 11)
Dieser Autor (Joscha Schmierer war Mitglied im Bundesvorstand des SDS) reflektiert eine Phase praxisfreundlichen revolutionären Handelns der Studentenbewegung, die in Gefahr zu sein scheint. Diese Analyse formuliert die Kritik der studentischen Akteure an der Kritischen Theorie, die da heißt adornitische Praxisfeindlichkeit: als Berufungsinstanz zur Veränderung der Gesellschaft untauglich, als theoretische Hilfe bei der Revolution ungeeignet. Die studentische Linke, die Soziologie und Philosophie, Politologie und Psychologie studiert, versteht Adorno und Horkheimer, von Friedeburg und Habermas als ihre Lehrer, deren Theorie im Grundsatz als Referenztheorie – wir rekonstruieren die diskursiven und semantischen Repräsentationen dieser Rezeption. Gleichzeitig verwirft die studentische Linke die Kritische Theorie als praxisfeindlich. Diese aporetische Konstellation der
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späten 1960er Jahre – die Kritische Theorie als Referenztheorie und als Gegenstand manifester Kritik zugleich – reflektiert Jürgen Habermas. Er skizziert sie und ihre Wirkung zu diesem Zweck als Teil seiner persönlichen Erfahrung. Den Einfluss der Kritischen Theorie auf die Protestbewegung grundsätzlich, aber kritisch voraussetzend1, zielt er mit seinem Beitrag darauf, falschen Konstruktionen entgegen[zu]treten, und zwar der einen Seite wie der anderen Seite: Der einen Seite stellt es sich so dar, daß jene Theorie von den jungen Aktivisten nur beim Wort genommen und dadurch als haltloses intellektuelles Spiel entlarvt worden sei. Das ist die komplementäre Version zu dem Vorwurf der anderen Seite, die Lehrer zögerten, aus ihren Analysen die fälligen praktischen Konsequenzen zu ziehen. Eine Legende stützt so die andere. (Habermas 1969b, 40)
Während also die Väter der Kritischen Theorie ihren Söhnen, den studentischen Rezipienten, vorwerfen, sie gleichsam als Anweisung zur Weltverbesserung verkannt zu haben, indem diese eine einfache Umsetzung in ihre aktionistische Lebenswirklichkeit versucht hätten, kritisierten eben diese die Nichtbereitschaft der Theoriebegründer, ihre Lehre praktisch anzuwenden. Soweit der von Habermas abstrahierte Sachverhalt. Habermas schließt dann eine Erklärung an, mit der er das Konzept der Praxisferne plausibel machen möchte, allerdings durchaus kritisch. Zunächst ordnet Habermas die Kritische Theorie und ihre theoretische Basis historisch ein: An den Arbeiten des alten Instituts für Sozialforschung lässt sich ablesen, daß die kritische Anknüpfung an marxistische Ökonomie, die zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und des heraufziehenden Faschismus wesentliche Konflikte noch zu erklären schien, in den Hintergrund getreten ist. Seit dem Ende der Dreißiger Jahre sind es nicht die Antagonismen des Spätkapitalismus, sondern die Integrationsleistungen eines veränderten Systems, auf die sich in erster Linie die analytische Kraft richtet.
Die benannten Integrationsleistungen sind diejenigen, die Horkheimer und Adorno in ‚Dialektik der Aufklärung‘ im Sinn einer Kritik der instrumentellen Vernunft beschreiben und die für Marcuse das Motiv der Eindimensionalität abgeben. Habermas reformuliert in diesem Sinn die These Horkheimers und Adornos, die da lautet: technische Rationalität [verschmilzt]
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Für die Protestbewegung in der Bundesrepublik ist schließlich auch die „Kritische Theorie“ von Einfluß gewesen. Pauschale Zurechnungen halte ich freilich für naiv; die Vorstellung, dass eine Handvoll Autoren eine Welle des Jugendprotestes von San Francisco bis Tokio, von New York bis London, Rom und Paris hervorgebracht haben könnte, hätte Ähnlichkeit mit Omnipotenzphantasien. Ebenso unsinnig wäre es andererseits, einen Zusammenhang der Kritischen Theorie mit Auffassungen zumal der älteren und der durch ein Studium in Frankfurt oder Berlin geprägten Mitglieder des SDS in Abrede zu stellen. (Habermas 1969b, 40)
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heute mit der Rationalität der Herrschaft selber, und er verweist auf die Ergänzung: Diese Kritik der instrumentellen Vernunft verbinden sie mit einer Untersuchung der Massenmedien, welche im Scheine subjektiver Freiheit autoritäres Potential binden und zugleich stabilisieren. Es folgt die Bewertung im Sinn des Einerseits – Andererseits: Einerseits habe dieses Verfahren – Habermas nennt es charakteristische[n] Vorgriff auf die Totalität des Lebenszusammenhanges – den Vorteil, die Mechanismen der zwanghaften Integration eines hochgradig interdependenten Gesellschaftssystems freizulegen. Andererseits erlaube diese totalisierende Perspektive … nicht, partielle Vorgänge so weit zu isolieren, daß sie in die Reichweite eines verändernden Zugriffs rücken. Das Fazit, das Habermas formuliert, heißt Entmutigungseffekt: Forschungsstrategisch hat sie deshalb einen unbeabsichtigten Entmutigungseffekt, der das ganze Unwahre gegen praktische Veränderungen unterhalb des Niveaus der Veränderung des Ganzen immunisiert. Die Kategorie des Attentismus ist dann seine abstrahierende und durchaus wertende Verdichtung, der er die Erklärung politische Resignation anschließt – es ist seine politische Resignation und erklärt tatsächlich zu Teilen seine Haltung zur studentischen Protestbewegung: Insofern war die Kritische Theorie, wenn man auf die indirekten Folgen achtet, eher von einem gewissen Attentismus begleitet; in dieser Weise ist sie auch in Deutschland nach dem Kriege rezipiert worden. Sie hat, wenn diese autobiographische Nebenbemerkung gestattet ist, unter uns jüngeren eine politische Resignation bekräftigt, die sich mit der durch die Bundestagswahlen von 1953 besiegelten Niederlage der Opposition ausgebreitet hatte. (Habermas 1969b, 40f.)
Außerhalb der Reichweite eines verändernden Zugriffs – an dieser Stelle manifestiert sich die aufklärerische Tradition, in der die Kritische Theorie steht: Kritik oder Revolution lautet die Lehre Kants.2 Kritik ist das Konzept der Vernunft, es steht dem der Gewalt entgegen, so dass „die Forderung nach Freiheit der Kritik zum Präventiv der politischen Revolution“ wird. „Es ist diese politische Valenz des Kritikbegriffs, daß er in Deutschland gerade nicht zum Begriff der politischen Sprache wird, sondern lediglich wissenschaftsimmanent verwendet wird.“ (Brunner / Conze / Koselleck 1982, Band 3, s. v. Kritik S. 651–675) In diese Konvention bricht die studentische Linke mit ihrem Anspruch der Vermittlung von Theorie und Praxis, mit ihrer Idee des „Praktisch-Werden[s] der Theorie, ihre[r] Überführung in Aktion“ (Gilcher-Holtey 2008, 235) ein und bringt sich so in Opposition zu
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„Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.“ (Kant 1781, 9 Anm.)
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dieser ihrer Leitphilosophie. Im Zeichen der Geschichte des kritischen Diskurses Ende der 1960er Jahre ist also ‚Theorie und Praxis‘ ein zentrales Diskurssegment. Als Subdiskurs zum Demokratie-Diskurs repräsentiert er den theoriegestützten gesellschaftsverändernden Anspruch der Protestbewegung. Dies bedeutet, dass die lexikalischen Chiffren Theorie und Praxis, deren Diskurssemantik es im Folgenden zu rekonstruieren gilt, insofern Elemente eines Demokratiekonzepts sind, als sie gleichsam argumentativ den Übergang herstellen von der rein theoretischen Auseinandersetzung mit den demokratischen Defiziten der Gegenwartsgesellschaft (das ist die Kritik, s.o. Kapitel 5 und 6) zur praktischen politischen Tat zur Behebung eben dieser Defizite (die dann strategisch zu legitimieren ist, wie wir sehen werden). Hans-Jürgen Krahl erzählt auf der Podiumsdiskussion im Frankfurter Haus Gallus am 23. September 1968, an der u. a. auch Adorno, von Friedeburg, Habermas und KD Wolff teilnehmen, eine Begebenheit. Die Bewertung dieser Begebenheit als Symbol für das Verhältnis der Lehrer zu Theorie und Praxis durch den Studenten betrifft den Kern des Konflikts: Als wir vor einem halben Jahr das Konzil in der Frankfurter Universität belagerten, kam als einziger Professor Herr Adorno, zu den Studenten, zum Sit-in. Er wurde mit Ovationen überschüttet, lief schnurstracks auf das Mikrophon zu und bog kurz vor dem Mikrophon ins philosophische Seminar ab; also kurz vor der Praxis wiederum in die Theorie. Das ist im Grund genommen die Situation, in der die kritische Theorie heute steht. Sie rationalisiert ihre resignative und individualistisch-subtile Angst vor der Praxis dahin, Praxis sei gewissermaßen unmöglich, man müsse sich ins Gehäuse der Philosophie zurückziehen. (Krahl 1968b, 462)
Dass die Lehre der Kritischen Theorie das Konzept der Praxis nicht als Komplement interpretiert, sondern als unvereinbar ausschließt, ist dasjenige Motiv, mit dem die studentische Linke ihre Argumentation wider die Kritische Theorie ausstattet. Sie thematisiert das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis, und die Formel Theorie und Praxis (oder auch adjektivisch theoretisch und praktisch) ist ein zentrales Element des Diskurses. Zwar: Die teils antonymische, teils komplementäre Wortverbindung Theorie und Praxis ist keine neue lexikalische Erscheinung.3 Aber es ist die hohe Frequenz, die sie als Signum des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre ausweist. Dass Theorie und Praxis Antagonismen sind, belegen die Formeln. Leitformeln sind diejenigen Wendungen, in denen der Gegensatz expliziert wird: der historische Dualismus von Theorie und Praxis (Dutschke 1968i, 40), Widerspruch zwischen Theorie und Praxis (Nevermann 1967d, 75), Theorie und Praxis sind eben nicht identisch (Cerutti 1968, 40). Dieser
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Vgl. Paul 102003 s. v. Theorie.
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Antagonismus überträgt sich auf den Gebrauch der Ableitungen und auch auf die Kollokatoren. Und es ist ein signifikantes Diskursphänomen, dass das Wortpaar in syntaktischen Parallelismen die (antonymische oder komplementäre) semantische Relation, die zwischen Theorie und Praxis, zwischen theoretisch und praktisch besteht, auf die jeweiligen adjektivischen oder substantivischen Kollokatoren übertragen wird – wenn es sich nicht, wie in der kollokativen Paarung theoriezerstörendes Moment – praxiszersetzendes Moment4, oder in der syntaktischen Parallelisierung in der Theorie nicht gelang – in der Praxis auf sich warten lässt5 um synonyme Konstruktionen handelt: theoretische Beflissenheit – praktischer Kampf6 abstrakte theoretische Reflexion – praktisch-sinnliche Erfahrung7, sozialistische Theorie – gesellschaftliche Praxis8, praktische Erfahrungen – theoretische Erkenntnis9, wissenschaftliche Theorie – gesellschaftliche Praxis10, mit theoretischem Anspruch erörtern – mit praktischen Folgen betreiben11, theoretische Prinzipien – praktische Realisierung12, falsche Theorie – richtige Praxis13,
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Der formalisierte Antiautoritarismus, für den die Absetzung des etablierten Lehrbetriebes nur den Raum schaffen sollte, neue Diskussionsformen mit sinnvolleren Inhalten zu kreieren, sah von den machtpolitischen Risiken, die notwendig mit der Bekämpfung des bestehenden Lehrbetriebs verbunden sind, vollkommen ab. Er produzierte innerhalb der Arbeitsgruppen auf der einen Seite ein theoriezerstörendes, auf der anderen ein praxiszersetzendes Moment. (Claussen 1969, 10) Was in der Theorie noch nicht recht gelang und in der Praxis vorerst auf sich warten läßt, die Vermittlung zwischen konkreten Interessen der Studenten und Arbeiter, wird durch Sprachmanipulation als Problem aus der Welt geschafft. (Schmierer 1968, 13) Die professionellen kritischen Kritiker der Frankfurter Schule legen mit theoretischer Beflissenheit linke theoretische Bekenntnisse ab. … [Sie] verschleiern, daß die Auseinandersetzung nur im praktischen Kampf geführt werden kann. (Basisgruppe Soziologie 1968b, 499) Die abstrakte theoretische Reflexion über die Folgenlosigkeit bisheriger Reformbemühungen und die praktisch-sinnliche Erfahrung der Studenten mit einer reaktionären staatlichen und universitären Bürokratie und deren Gewaltmaßnahmen (Knapp 1968, 819). [Habermas ignorierte] diejenigen, die sozialistische Theorie nicht nachträglich einer Aktionspraxis aufpropften, sondern aus der gesellschaftlichen Praxis selbst vermittelten (Lederer 1968, 115). […] mit den praktischen Erfahrungen [werden] die Bezugspunkte einer geschichtlichen Dimension in der theoretischen Erkenntnis ergänzt (Wolf 1968, 160). Die … Revolutionstheorie zeichnet sich gerade darin aus, daß sie die einzelwissenschaftliche Trennung von Ökonomie, Politik, Ideologie, wissenschaftliche Theorie und gesellschaftliche Praxis nicht kannte. (Dutschke 1966, 48) Zunächst ist heute jeder, der mit einem gewissen theoretischen Anspruch Politik erörtert und mit praktischen Folgen betreiben möchte, einem Mißverhältnis zwischen seiner Kritik und den Chancen der Umsetzung dieser Kritik gegenübergestellt. (Habermas 1967a, 143) […] denjenigen, die versuchen, den Widerspruch zwischen den theoretischen Prinzipien der Revolte und deren praktischen Realisierung in der praktischen Aktion aufzulösen, [wird] Stalinismus und Faschismus vorgeworfen. (SDS 1968g, 521) […] durch eine kritisierbare oder gar falsche Theorie (etwa die ontologischdogmati-
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theoretische Arbeit – organisierte Praxis14, theoretische Analyse – praktische Solidarität15, intensiv-praktische Arbeit – politisch relevante Theorien16, kritische Theorie – gesellschaftliche Praxis17, kritische Theorie – praktische Konfrontation18. Solche Paarungen sind Ausweis für analogisierendes Denken: Die von der festen Formel Theorie und Praxis bereits ohnehin vorgegebene Parallelisierung motiviert zu morphologischer, syntagmatischer und semantischer Parallelisierung, erst recht, weil wir es mit sprachbewussten und analytisch denkenden Sprechern zu tun haben. Diese Formeln nehmen die inhaltliche Binarität der Antagonismen – Dutschke nennt sie historische[n] Dualismus zwischen Theorie und Praxis – auf und heben sie z. T. durch ausdrucksseitige bzw. durch Parallelität der Konstruktion hervor: Bemühen um den semantischen Ausgleich – das ist die Funktion der Parallelismen, die semantische Approximation von Theorie und Praxis die Folge. Die Bemühung um Vereinbarung ist explizit in der wohl am häufigsten vorkommenden Belegung mit dem Partnerwort Vermittlung (oder Ausdrucksalternativen) ausgedrückt. Formeln wie Vermittlung von / zwischen Theorie und Praxis19,
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schen Aspekte im Denken Mao-Tse-Tungs) [wird] die Möglichkeit richtiger Praxis nicht unbedingt präjudiziert (Cerutti 1968, 40). In dieser Spannung aber kann eine emanzipatorische theoretische Arbeit nur defi niert werden. Gerade an den Bruchstellen zur organisierten Praxis muß sie ständig problematisiert werden (Wolf 1968, 161). […] kooperative Formen der theoretischen Analyse und praktischen Solidarität zwischen Arbeitern und Intellektuellen (Lederer 1968, 129). […] intensiv praktische Arbeit getrieben und politisch relevante Theorien entwickelt werden (Greiff 1969, 60). ]…] welche Relevanz [hat] die kritische Theorie der gesellschaftlichen Praxis, sofern sie auf Veränderung zielt, jemals zuerkannt (SDS 1967c, 231). […] das antiautoritäre Bewußtsein [wird] nicht zuerst geschärft … durch kritische Theorie, durch Referat plus Koreferat, sondern … wir [sind] von dem letzten Glauben an das Gute in diesem System befreit worden … durch unmittelbare, sinnlich erfahrene praktische Konfrontation mit den Agenturen des Staatsapparates. (SDS 1969b, 12) [Habermas ignoriert diejenigen,] die, zwischen demonstrationsscheuen Seminaristen und seminarmüden Demonstranten, seit Jahren revolutionäres Engagement als Vermittlung zwischen Theorie und Praxis begreifen (Lederer 1968, 115); auch die revolutionäre Arbeiter- und Studentenbewegung [muß] ihre organisatorische Struktur als Form der Vermittlung von Theorie und Praxis fi nden …, um an den Kampf um die Macht überhaupt nur denken zu können (ebd. 129); Kennzeichen dieser Institute ist es, daß eben die Vermittlung von Theorie und Praxis gegenwärtig kaum über spärliche Ansätze hinausgehen kann. (Huisker 1968, 121); Lernprozesse bestehen obendrein nicht allein in der Akkumulation von Kenntnissen und Zusammenhängen, sondern zudem darin, die Vermittlung von Theorie und Praxis zu lernen, d. h. die theoretisch fundierte Analyse von Aktionen etc. durchzuführen und wieder einfließen zu lassen in die Vorbereitung und Durchführung weiterer Aktionen (ebd. 124); die kritische Theorie der Industriegesellschaft [gewann] Konkretion in einer geschichtlichen Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, Werten und Tatsachen, Bedürfnissen und Zielen. (Marcuse 1967a, 14f.)
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Einheit von Theorie und Praxis20, Verbindung von Theorie und Praxis21 sind Beleg einerseits für die semantische Antonymie der beiden Kollokatoren, anderseits für das Bestreben, diesen Antagonismus, ja diese Disparatheit aufzuheben. Man argumentiert mit Marx, der bekanntlich die Komplementarität des Begriffs von Theorie und Praxis in die Formeln „Waffe der Kritik“ und „Kritik der Waffe“22 fasst, um den Gegensatz in dieser Dialektik aufzuheben. Das ist auch Kennzeichen des studentischen Diskurses, und dieses Bemühen der Beteiligten um Vereinbarkeit drückt das Wollen und Sollen der Sprecher aus: Wissenschaftlich-theoretischer Anspruch und aktives politisches widerständisches Handeln sollen sich nicht ausschließen.
Worum es der studentischen Linken vor allem geht, ist der theoretisch legitimierte bzw. legitimierbare praktische Gesellschaftsbezug, um eine Theorie mit sozialer Relevanz. In Frankfurts „Kritischer Theorie“ dagegen: Die ideengeschichtliche Erarbeitung von Kommunikationsstrategien, in Hegelschen Elegien die Beschwörung des ohnmächtige[n] Individuum[s], Ausschluss alle[r] in der Tat Gewalt fordernde[r] Momente emanzipatorischer Praxis von wissenschaftlicher Reflexion und vor allem Ausschluss der Möglichkeit eines praktischen politischen Widerstands gegen diesen autoritären Staat von unten, der Basis her, keine wirkliche Vermittlung von Wissenschaft und Politik, von Theorie und Praxis – solange diese Situation vorherrscht, müsse man Frankfurts Soziologie, die bürgerlichen Wissenschaften und ihren Betrieb ablehnen. Denn so lange bleibt diese Wissenschaft und diese Soziologie ideologiebildend, zersetzt sie die Möglichkeiten eines künftigen herrschaftsfreien Verkehrs von nicht untereinander isolierten Individuen. (Entwurf 1968, 517)
Politische Resignation – von dieser von Habermas benannten Befindlichkeit (s.o.), die noch den jüngeren Lehrer bestimmt, kann bei der studentischen Linken keine Rede sein. Die Rezeption der Kritischen Theorie durch
20 […] eine zentrale Kommunikation …, die Vorbedingung einer Neukonstituierung der Einheit von Theorie und Praxis ist, die bis jetzt jeder SDS-Ideologe für sich beansprucht hat, ohne zuzugeben, daß es eines bestimmten verallgemeinerbaren Niveaus der Praxis bedarf und auf der anderen Seite eines Fortschritts in der Theorie des Historischen Materialismus, der bis heute noch nicht geleistet ist, um Theorie und Praxis überhaupt erst vermitteln zu können. (Claussen 1969, 14) 21 Unsere Aufgabe ist Aufklärung, aber Aufklärung in einem neuen Sinn. Als Verbindung von Theorie und Praxis, und zwar politischer Praxis, ist Erziehung heute mehr als Diskussion, mehr als bloßes Lehren und Lernen und Schreiben. (Marcuse 1967d, 280) 22 „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen.“ (Marx 1844b, 380)
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die kritischen Studenten der späten 1960er Jahre ist gleichbedeutend mit kritischer Argumentation. Ihr Gegenstand ist die semantische Vereinbarung von Theorie und Praxis, und man nimmt damit die Argumentation in das Kritikkonzept der Kritischen Theorie auf: revolutionäre Praxis als Konsequenz aus kritischer Erkenntnis. In der Ausdeutung der studentischen Diskursbeteiligten hat insofern Vermittlung von Theorie und Praxis deontisches Potenzial, das sich dann ausdrückt, wenn Nichterreichen als Versagen interpretiert wird23, wenn sie Gegenstand einer Definition ist24, wenn die Einheit von Theorie und Praxis mit Bedingungen kontextualisiert wird25, wenn die Komplementarität der Konzepte herausgestellt wird26, und insbesondere, wenn diese Vermittlung als zu Leistendes formuliert und als Ziel vorgegeben wird.27 Die Diskursbeiträge belegen: nicht nur, dass man theoriebeflissen und praxisorientiert ist zugleich, nicht nur, dass man nach der semantischen Vereinbarung der beiden Konzepte sucht, sondern auch, dass man es als originäre Aufgabe versteht, diesen Ausgleich herzustellen.28 Für die Vertreter der Frankfurter Schule kommt ein konzeptioneller Ausgleich – der da hieße: Theorie und Praxis nicht als selbstständige antonymische Einheiten, sondern das Begriffspaar Theorie und Praxis verstehen als einen ein Ganzes bildenden komplexen Begriff, als unmittelbare Einheit (Adorno 1969b, 766) – für sie kommt ein solcher Ausgleich nicht in Frage. Adorno ist zutiefst überzeugt von der Überlegenheit der Theorie gegenüber der Praxis29 und hält den Kindern in einem Brief an Günther Grass bornier-
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[…] weil es bei ihnen selbst anscheinend mit der Vermittlung von Theorie und Praxis nicht so recht „klappt“ (Huisker 1968, 120). Vermittlung von Theorie und Praxis …, d. h. die theoretisch fundierte Analyse von Aktionen etc. durchzuführen und wieder einfließen zu lassen in die Vorbereitung und Durchführung weiterer Aktionen (Huisker 1968, 124). […] es [bedarf] eines bestimmten verallgemeinerbaren Niveaus der Praxis … und … eines Fortschritts in der Theorie des Historischen Materialismus, …, um Theorie und Praxis … vermitteln zu können (Claussen 1969, 14). […] mit den praktischen Erfahrungen [werden] die Bezugspunkte einer geschichtlichen Dimension in der theoretischen Erkenntnis ergänzt (Wolf 1968, 160). […] zeig[en], daß auch die revolutionäre Arbeiter- und Studentenbewegung ihre organisatorische Struktur als Form der Vermittlung von Theorie und Praxis fi nden muß … (kooperative Formen der theoretischen Analyse und praktischen Solidarität zwischen Arbeitern und Intellektuellen entwickel[n] (Lederer 1968, 129). Mentor Marcuse nennt diese Aufgabe Aufklärung in einem neuen Sinn, und Verbindung von Theorie und Praxis bedeute über das College, die Schule, die Universität hinausgeh[en], … Geist und Körper, Vernunft und Phantasie, die Bedürfnisse des Intellekts und der Triebe einbegreifen (Marcuse 1967d, 280). Nirgendwo eindrücklicher vielleicht formuliert er diese Überzeugung, als in seinen „Diskussionen über Theorie und Praxis“, die er mit Max Horkheimer führt: „Die Theorie ist gerade durch das Herausgenommensein selber so etwas wie die Stellvertretung des Glücks. Das Glück, das durch die Praxis herzustellen wäre, findet in der heu-
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ten Praktizismus vor, der bereits in abscheulichen Irrationalismus übergehe. Bestärkt würde er von der Situation der Gegenwart und ihrer objektive[n] Aussichtslosigkeit von Praxis (zit. nach Müller-Doohm 2003, 700). Es ist dies eine alternative Formel für revolutionäre Situation, auf die wir bereits eingegangen sind und die also auch das „Praxisproblem“ betrifft. Adorno argumentiert als Theoretiker, der sich gegen das Dogma des Praxisbezugs behaupten muss, und es ist dies eine Argumentation, die ihm von den studentischen Aktivisten aufgezwungen wird. Seine gelegentlichen gegenwartsbezogenen Emphatisierungen deuten darauf hin, etwa, wenn er in seinem Spiegel-Interview vom Mai 1969 das Unglück im Verhältnis von Theorie und Praxis bezeichnet. Dieses bestehe heute gerade darin, dass die Theorie einer praktischen Vorzensur unterworfen wird. (Adorno 1969c, 724f.) Auf der Podiumsdiskussion, die im Rahmen seiner Ästhetik-Vorlesung stattfand und die das Go-in in die Vorlesung Carlo Schmids zum Anlass, die Reform der Hochschule aber zum Thema hatte, plädiert Adorno dafür, dass diskutiert wird um der Sache willen, gegen die Diskussion als bloßes Mittel einer Aktion, die ihrerseits erst der theoretischen Reflexion bedürfte. Hans-Jürgen Krahl, der auch auf dem Podium sitzt, widerspricht, dass es ja nicht nur um die Diskussion, sondern um praktisch wirksame Diskussion gehe. Darauf erwidert Adorno: Sie haben mir das Selbstverständnis unterstellt, daß die Diskussion keine bloß theoretische sein dürfe, sondern daß sie praktische Wirkung haben solle. Im Zuge seiner weiteren Darstellung rekonstruiert Adorno dann die Genese des Praxis-Dogmas, ausgehend von der berühmten Feuerbach-These Karl Marx’30: Nun scheint mir allerdings die Feuerbachthese von Marx, die später in der Tradition der Arbeiterbewegung sehr stark durchgeführte These von der Einheit von Theorie und Praxis, inhaltlich auch in einer spezifischen Weise ein pervertierendes Moment unterlegt zu haben, durch das dem Denken schon immer der Haß abverlangt wird, welche praktische Konsequenz es haben muß.
Auf die Gegenwart übertragen argumentiert Adorno gegen diese Prämissen, weil sie zu einer Fesselung des Denkens führen, die gerade in einer Situation, in der es auf eine gründliche Analyse der Verhältnisse ankommt, sehr
tigen Welt gar keinen anderen Reflex als das Verhalten des Menschen, der auf dem Stuhl sitzt und nachdenkt“ (zit. nach Müller-Doohm 2003, 697). 30 Die Formulierung der zweiten These etwa lautet: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage.“ (Marx 1845, 533)
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bedenklich ist. Zwar kann auch Adorno dann zunächst dem Versuch einer Vereinbarung nicht widerstehen, um dann aber doch sozusagen die Theorie von der Praxis zu befreien: Ich glaube, daß nur dann der Gedanke noch eine Chance hat, irgendwie praktisch zu wirken, wenn er nicht von vornherein sich von den Möglichkeiten und den Postulaten einer sich daran anschließenden Praxis gängeln läßt. (Adorno 1967c, 328) Diese Überzeugung reformuliert Adorno in seinen, postum im Herbst 1969, erschienenen „Marginalien zu Theorie und Praxis“, womit er wiederum explizit in den Diskurs eingreift. Er nimmt Bezug auf Theoriefeindschaft als Schwäche der Praxis, die ohne Theoriebezug zum Wahnhaften verurteilt sei: das anzusprechen ist praktisch an der Zeit. Kollektivbewegungen … verschafft das Quentchen Wahnsinn ihre sinistre Anziehungskraft (Adorno 1969b, 776f.). Das Ideal wäre ein Bewußtsein von Theorie und Praxis, das beide weder so trennt, dass Theorie ohnmächtig würde und Praxis willkürlich; noch Theorie durch den von Kant und Fichte proklamierten, urbürgerlichen Primat der praktischen Vernunft bricht. In seiner Feststellung Denken ist ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis hebt Adorno dann den Gegensatz dergestalt auf, dass er Denken und Theorie in eine Handlungsdimension einrückt, der Praxis per se natürlich angehört (ebd. 765). Keinen Zweifel indes lässt er am Prinzipiellen: unmittelbare Einheit von Theorie und Praxis gebe es nicht (ebd. 766), vielmehr markiere ihre Trennung die Stufe eines Prozesses, der aus der blinden Vorherrschaft materieller Praxis hinausführt, potentiell hin auf Freiheit (ebd. 768), ja, diese Trennung sei Ausweis des Menschseins: Mit der Trennung von Theorie und Praxis erwacht Humanität; fremd ist sie jener Ungeschiedenheit, die in Wahrheit dem Primat von Praxis sich beugt (ebd.). Die Relation zwischen diesen beiden Konzepten stellt Adorno schließlich her, indem er die Kategorie der Diskontinuität einführt: Sind Theorie und Praxis weder unmittelbar eins noch absolut verschieden, so ist ihr Verhältnis eines von Diskontinuität. Kein stetiger Weg führt von der Praxis zur Theorie … Theorie aber gehört dem Zusammenhang der Gesellschaft an und ist autonom zugleich. Trotzdem verläuft Praxis nicht unabhängig von Theorie, diese nicht unabhängig von jener (ebd. 780).
Adorno beendet diesen Argumentationsgang dann mit einer Schlussfolgerung (undialektisch), die in der Wolle gefärbte Marxisten als Ehrabschneidung empfinden mussten: Das Dogma von der Einheit von Theorie und Praxis ist entgegen der Lehre, auf die es sich beruft, undialektisch: es erschleicht dort simple Identität, wo allein der Widerspruch die Chance hat, fruchtbar zu werden (ebd. 780). Wie die Dialektik von Theorie und Praxis beschaffen sein könnte, formuliert Adorno dann sentenzhaft: Diejenige
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Theorie dürfte noch die meiste Hoffnung auf Verwirklichung haben, welche nicht als Anweisung auf ihre Verwirklichung gedacht ist (ebd.). Mit diesem Argument vor allem belegt Adorno, dass die Kritische Theorie auf „alles andere denn auf Revolution“ (Frei 2008, 93) zielte, dass sie als alles andere, denn als anwendungsbezogene Gesellschaftskritik gedacht war – sie war im Gegenteil zunächst einmal eine Philosophie, ihre Väter zunächst einmal Philosophen.31 Den Bezug zur Kritischen Theorie stellt Adorno dann abschließend her: Praxis ist Kraftquelle von Theorie, wird nicht von ihr empfohlen. In der Theorie erscheint sie lediglich, und allerdings mit Notwendigkeit, als blinder Fleck, als Obsession mit dem Kritisierten; keine kritische Theorie ist im einzelnen auszuführen, die nicht das Einzelne überschätzte; aber ohne die Einzelheit wäre sie nichtig (ebd. 782).
Habermas unternimmt zwar ebenfalls einen Vermittlungsversuch. In seiner Rede auf dem Kongress in Hannover, der am 9. Juni 1967 im Anschluss an die Beisetzung Benno Ohnesorgs stattfand, spricht er den Studenten eine zentrale Rolle in der demokratischen Gesellschaft zu, nicht ohne auf die Schwierigkeiten beim Versuch, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern zu verweisen. Die größte Schwierigkeit benennt Habermas als die Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und praktischen Folgen – er verdichtet in dieser Formel die studentische Perspektive, um dann die sich daraus ergebende Situation zu bewerten, die die Vereinbarung zwischen Theorie und Praxis aber schließlich doch nahezu unmöglich mache: Zunächst ist heute jeder, der mit einem gewissen theoretischen Anspruch Politik erörtert und mit praktischen Folgen betreiben möchte, einem Mißverhältnis zwischen seiner Kritik und den Chancen der Umsetzung dieser Kritik gegenübergestellt. Lassen Sie es mich so ausdrücken: die Durststrecke zwischen Theorie und Praxis ist ungewöhnlich lang. (Habermas 1967a, 143)
Habermas also macht mit seiner Aussage deutlich, dass es ihm nicht um die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis geht, er scheint vielmehr theoretischer Anspruch und praktische Folgen als Komplemente vorauszusetzen, um allerdings ihr Spannungsverhältnis zu konzedieren, so die Formulierung im weiteren Verlauf seiner Argumentation, die er dazu verwendet, auf
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Das gilt auch für Habermas. Zwar sah er den Praxisbezug im „instrumentellen Charakter der Sozialwissenschaften“, d. h. darin, „dass letztere auf die Entwicklung von Techniken abzielen, die uns erlauben sollten, gesellschaftliche Probleme zu lösen.“ (Pinzani 2007, 56) Dass diese Techniken jedoch alles andere als revolutionäre waren, versteht sich von selbst.
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7 Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits
die etwaigen Folgen von aus diesem Spannungsverhältnis resultierenden Frustrationen zu verweisen.32 Theorie und Praxis, ihr Verhältnis zueinander, vermittelbar oder nicht, das eine prädominant über das andere, der Theorie-und-Praxis-Subdiskurs mithin, ist ein zentrales Element eines demokratiebezogenen Handlungskonzepts Ende der sechziger Jahre, was sich in der hohen Frequenz der Kollokation und ihrer Kontextualisierungen, sowie der konzeptuellen Problematisierungen manifestiert. Die studentische Linke stellt sich vor das Problem, einen Ausgleich zu schaffen zwischen ihrem zweifellos hohen Wissenschafts- und Theorieanspruch und einem aktionistischen Drang nach praktischem widerständischem Handeln. Diesen Ausgleich sucht sie im Konzept der (von Marx vorgedachten) Vermittlung von Theorie und Praxis zu schaffen, will in diesem Kontext heißen: der Prädominanz der Praxis vor der allerdings obligatorischen Theorie, m.a.W. der Aufhebung des Praxisdefizits. Damit erhalten die weiteren Ausdeutungen der Handlungskonzepte ihr Motiv, der kritische Diskurs Ende der 1960er Jahre hat zur Voraussetzung diese Konstituierung eines defizitären Theoriekonzepts. Provokation, Aktion und Gegengewalt sind solche Ausdeutungen und indem sie legitimierende Funktion haben sind sie in höchstem Maß strittiger Gegenstand der beiden Beteiligtengruppen. Die polyseme Struktur dieser Diskurselemente wird im Zuge dieser Argumentation extensiv genutzt. Provokation, Aktion, Gewalt bilden semantisch eine Klimax, die von ‚demonstrativ und gewaltfrei erzeugter politischer Zwang zur Legitimierung
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In seiner 1971 neu eingeleiteten Ausgabe von „Theorie und Praxis“ (Erstauflage 1963) formuliert Habermas „Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln“ (Habermas 1971, 9). Seinen Ansatz definiert er darin als „eine[…] in praktischer Absicht entworfene[…] Theorie der Gesellschaft“ (ebd.) – eine Konzeption, die die studentische Linke der Kritischen Theorie abspricht. Habermas reflektiert dann weiterhin das Verhältnis von Theorie und Praxis in Bezug auf die Kritische Theorie: „Die Theorie erfasst also eine doppelte Beziehung zwischen Theorie und Praxis: sie untersucht einerseits den geschichtlichen Konstitutionszusammenhang einer Interessenlage, der die Theorie gleichsam durch die Akte der Erkenntnis hindurch noch angehört; und andererseits den geschichtlichen Aktionszusammenhang, auf den die Theorie handlungsorientierend einwirken kann“ (ebd. 10). Diese Einbeziehung eines „Verwendungszusammenhangs“ sei der Unterschied zwischen „Kritik“ und „dem, was Horkheimer traditionelle Theorie genannt hat“ (ebd.). Die Kontroverse zwischen studentischer und intellektueller Linken kann nur – das können wir aus dieser Bestimmung ableiten – aus der unterschiedlichen Auslegung von Praxis resultieren. Es ist die Anschauung zunehmender Gewalt im Verlauf des Jahres 1968, die Habermas dazu veranlasst, Praxis und Militanz gleichsam gleichzusetzen: „Es kann sinnvollerweise keine Theorie geben, die per se, ohne Ansehen der Umstände, auf Militanz verpflichtet“ (ebd. 37).
7.1 „Demokratischer Widerstand“ oder „Spiel mit dem Terror“?
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politischen Handelns‘ (eine Lesart von Provokation) bis ‚konkrete körperliche Ausübung von Aggression‘ (eine Lesart von Gegengewalt) reicht.
7.1 „Demokratischer Widerstand“ oder „Spiel mit dem Terror“? Provokation / provozieren – der Ausdruck hat Gewalt bezeichnendes Potenzial, das im Kontext vage gehalten werden kann. Darauf bezieht sich Habermas’ sprachkritische Analyse, die er in seinem auf dem Schüler- und Studentenkongress vom 2. Juni 1968 gehaltenen Vortrag darlegt. Er besteht auf einem semantischen Unterschied zwischen Gewaltanwendung und Provokation. Während Habermas jene einem semantischen Feld Agitation – Konfrontation – faktische Gewaltanwendung zuweist, ordnet er diese in das Feld Diskussion – symbolische Erpressung – Techniken des gewaltlosen Widerstandes.33 Diese Auslegung von Provokation erlaubt das Konzept der demonstrativen Gewalt, das als legitime, ja erwünschte Form widerständischen partizipativen politischen Handelns gedeutet wird. Die Gleichsetzung von Provokation und demonstrative Gewalt ist allerdings eine Festlegung, die Habermas ein Jahr zuvor noch akzeptiert, wiewohl als unkonventionell kommentiert hat: Er unterstellt eine Interpretation und bewertet sie (Soweit Sie mit Provokation die Ausübung demonstrativer Gewalt meinen, ist sie hier völlig legitim), er definiert das Gemeinte (Demonstrative Gewalt ist die Gewalt, mit der wir uns Aufmerksamkeit für Argumente erzwingen, und d. h., dort die Herstellung von Bedingungen für eine Diskussion erzwingen, wo sie stattfinden sollte), er kommentiert diese Ausdeutung (Das hat man bisher nicht Provokation genannt), und er formuliert schließlich die konventionelle Lesart, die er um einen Einstellungskommentar und eine wertende Paraphrase ergänzt: Provokation nannte man und nennt man folgendes: Was die Probleme in den Institutionen selbst verankert, wird Gewalt, auf die sich herrschende Positionen stützen, herausgefordert zu Aktionen, die diese sublime Gewalt zu einer manifesten Gewalt
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Wie in den letzten Wochen deutlich zu beobachten war, nimmt Agitation den Platz der Diskussion ein. … Die Konfrontationspolitik vollzieht sich in jenem sorgfältig gehüteten Zwielicht zwischen symbolischer Erpressung, die Aufmerksamkeit tatsächlich erzwingt, und faktischer Gewaltanwendung, mit der man Machtpositionen zu gewinnen sich einbildet. Dieses Zwielicht verhindert seit einem Jahr die klare Distinktion zwischen Gewaltanwendung und Provokation, obgleich in unserer Situation die Beschränkung auf Techniken des gewaltlosen Widerstandes selbstverständlich sein müßte. (Habermas 1968a, 198)
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7 Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits
machen, um sie dadurch zu deklarieren und zu denunzieren. Wenn ich Provokation in diesem Sinne verstehen darf, dann heißt systematisch betriebene Provokation von Studenten ein Spiel mit dem Terror, mit faschistischen Implikationen. (Habermas 1967e, 75)
Provokation im Sinn von ‚bewusste Herausforderung von materieller staatlicher Gewalt‘ – diese Lesart ist nicht mit dem Selbstverständnis der studentischen Linken vereinbar, wenn wir z. B. einen Beitrag von Ende 1968 mit dieser Auslegung Habermas’ konfrontieren. Der Autor unterscheidet zwei Protestphasen und bewertet sie: die argumentative Phase war bestimmt … durch folgenloses Verhandeln der Studenten innerhalb der bestehenden Institutionen, ihr folgte die Phase der Provokationen, die gekennzeichnet sei durch provokative direkte Aktionen (sit-ins) um die zuständigen universitären Institutionen zur verbindlichen Diskussion zu zwingen. (Knapp 1968, 81) Diese Gleichsetzung von sit-in und provokative direkte Aktion zeigt: Die Aktivisten interpretieren Provokation / provozieren (gelegentlich mit Erzwingung / erzwingen gleichgesetzt) tatsächlich als legitimen Akt demokratischen Widerstands, sie rücken damit Gewalt nicht explizit in den semantischen Fokus von Provokation – freilich nehmen sie die Bezeichnung auch nicht ausdrücklich heraus im Sinn von Provokation schließt Gewalt aus. Die Bezeichnungen Provokation / Erzwingung erfahren durch den Gebrauch der Aktivisten also eine Umdeutung von der Standardlesart ‚Nötigung, Störung‘ zu einem demokratischen Begriff legitimen und moralisch notwendigen politischen Handelns – Habermas’ erste Version.34 In dieser Lesart werden sie zu an Friedfertigkeit nicht überbietbarem Demonstrationsformen abgetönt.35 Provokation ist eine Notwendigkeit (Krahl 1967b, 71) – mit diesem Argument legitimen politischen Handelns begegnet man daher den fortgesetzten Invektiven Habermas’36, und indem man
34 Provokation bezeichnet übrigens eine Handlung, die nicht nur um der Sache, sondern auch um der Aufmerksamkeit willen geschieht, als Inszenierung zur Erzeugung medialer Aufmerksamkeit (vgl. Lachenmeier 2007, 64) – eine Bewegung ohne öffentliche Wahrnehmung ist keine. In diesem Sinn formuliert Peter Schneider die zu lernende „Grundregel jedes erfolgreichen Protests in der Mediengesellschaft: Nur wer die Regeln verletzt, nur wer von der genehmigten (Demonstrations-)Route abweicht, wird bemerkt und schafft es in die Schlagzeilen. Diesen Lernvorgang hat Rudi Dutschke später in einen – für ihn untypisch handlichen – Merksatz übersetzt: ‚Ohne Provokation werden wir überhaupt nicht wahrgenommen.‘ Es war diese Lektion, die die folgenden Jahre der Rebellion prägte“ (Schneider 2008, 103). 35 […] diese Demonstrationsformen [beschränken] sich darauf …, „heilsame Schocks“ oder „erstauntes Nachdenken“ zu provozieren … eine Strategie des Schockierens, des Aufrüttelns, der virtuellen Vorführung von Alternativen (Offe 1968b, 107). 36 Natürlich handelt es sich bei den meisten der offen ausgetragenen Konflikte um Provokationen gegenüber herrschenden Gruppen oder etablierten Apparaten, die ihre
7.2 „Aufklärung der Massen“ oder „euphemisierende Camouflage“?
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Provokation / Erzwingung in den Kontext demokratischen Handelns stellt, legitimiert man etwa den Versuch, die Notstandsgesetze zu verhindern als provokativen Protest und … politische Demonstration gegen die Vorbereitung des Notstandsterrors (SDS 1967b, 321). Man legitimiert die Handlung, die man Methoden des SDS nennt und die die andere Seite faschistische Methoden genannt hat, durch ihre Zielsetzung, die mit der Hochwertformel (rationale) Diskussion repräsentiert wird.37 Man argumentiert mit dem Prädikat Wissenschaftlichkeit.38 Derart ausgedeutetes Provokation steht nicht nur in unmittelbarer semantischer Beziehung zu Aktion39, sondern vor allem zu der hochwertigen Zweckbezeichnung Aufklärung, die als Partnerwort von Provokation diesem jegliches materielle Gewalt und Aggression bezeichnende Potenzial nimmt.40
7.2 „Aufklärung der Massen“ oder „euphemisierende Camouflage“? Ein bedeutendes, das Gewalt-Konzept spezifizierendes Diskurselement ist Aktion. Aus dem sog. Organisationsreferat von Rudi Dutschke und Hans
Machtpositionen mittels der Normen und Spielregeln verteidigen zu können glauben. Aber das heißt doch nicht, daß die politische Strategie außerparlamentarischer Opposition in der Provokation um ihrer selbst willen bestünde, oder zugespitzter, um die „nackte Repression einer faschistischen Gewalt“ hervorzulocken, also das Spiel der self-fulfilling prophecy zu spielen. (Krippendorff 1968, 168); der überwiegende Teil der Aktionen der studentischen Protestbewegung [ist] gerechtfertigt durch das, woran er [Habermas] … keinen Zweifel ließ: daß die „demonstrative Gewalt“ zur Erzwingung einer vom politischen Aufklärungsinteresse bestimmten Öffentlichkeit auch die Verletzung repressiv gewendeter Regeln einschließen kann. (Negt 1968b, 189) 37 Am 20.11.1967 veranstaltete der SDS ein Go-in in die Vorlesung von Carlo Schmid, um eine Diskussion über die Notstandsgesetze zu erzwingen. … Die Methoden des SDS … wollen eine rationale Diskussion … in Gang bringen und die Träger von Herrschaft dazu herausfordern, sich zu legitimieren oder mangels Legitimation auf ihre Privilegien zu verzichten … kritische Studenten ihre Lehrer zu rationaler Diskussion provozieren (Zum richtigen Gebrauch 1967, 322). 38 Wissenschaftlichkeit stellt sich erst in der Konfrontation … politischer Positionen miteinander her. Im speziellen Fall Prof. Schmids … ist jene Konfrontation von Theorie und Praxis um so notwendiger. Unter diesem Aspekt und weiter im Hinblick darauf, dass die Möglichkeit solcher Diskussion überhaupt noch nicht besteht, ist deren Erzwingung legitim. (Moldenhauer 1967, 319f.) 39 Nur die Provokation dieses Staatsapparates durch die Aktion, die Überraschungsangriffe … des Polizeiapparates … schufen … eine vorrevolutionäre Situation (Rabehl 1968b, 45). 40 […] das durch diese Aktionen provozierte Bedürfnis nach Aufklärung … aufzufangen und zu befriedigen (Neusüss 1968, 55).
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7 Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits
Jürgen Krahl ist das für die studentische Linke gültige Aktion-Konzept rekonstruierbar. Die Autoren leiten ihre marxistische Argumentation u. a. aus der von Horkheimer entwickelten Theorie des Integralen Etatismus ab. Als Bezeichnungsalternative für „Staatssozialismus“ ist dies eine Umschreibung Horkheimers „für die nie beim Namen genannte Sowjetunion“ (Wiggershaus 1986, 315). Dutschke und Krahl adaptieren die Kategorie, um damit dem Gewaltbegriff eine strukturelle Lesart zu geben, mit der sie die Geschichte des Kapitalismus interpretieren.41 Das in diesem Text repräsen-
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Der Integrale Etatismus ist die Vollendung des Monopolkapitalismus. Außerökonomische Zwangsgewalt gewinnt im Integralen Etatismus unmittelbar ökonomische Potenz. … die objektive Selbstbewegung des Begriffs der Warenform, ihres Wertes, konstituiert sich in dem Maße zu den Naturgesetzen der kapitalistischen Entwicklung, als die ökonomische Gewalt im Bewußtsein der unmittelbaren Produzenten verinnerlicht wird. Die Verinnerlichung ökonomischer Gewalt erlaubt eine tendenzielle Liberalisierung staatlicher und politischer, moralischer und rechtlicher Herrschaft. Der naturwüchsig produzierte Krisenzusammenhang der kapitalistischen Entwicklung problematisiert in der Aktualität der Krise die Verinnerlichung ökonomischer Gewalt, die in der Deutung der materialistischen Theorie zwei Lösungen kennt. Die Krise ermöglicht einerseits die Möglichkeit zu proletarischem Klassenbewußtsein und dessen Organisierung zur materiellen Gegengewalt in der autonomen Aktion der sich selbst befreienden Arbeiterklasse. Andererseits nötigt sie objektiv die Bourgeoisie im Interesse von deren ökonomischer Verfügungsgewalt zum Rückgriff auf die physisch terroristische Zwangsgewalt des Staates. … Nach 1945 wurde diese außerökonomische Zwangsgewalt keineswegs abgebaut, sondern in totalitärem Ausmaß psychisch umgesetzt. … Die manipulativ verinnerlichte außerökonomische Zwangsgewalt konstituiert eine neue Qualität von Naturwüchsigkeit des kapitalistischen Systems. … Wie paßt der Überbau, außerökonomische Gewalt von Staat, Recht etc. als ein institutionelles System von Manipulation in die Substanz der Warenproduktion, die abstrakte Arbeit selbst ein? … Außerökonomische Zwangsgewalt, Staat und andere Überbauphänomene greifen derart in die Warenzirkulation ein, daß die abstrakte Arbeit durch ein gigantisches institutionelles Manipulationssystem artifiziell reproduziert wird. … Diese Hypothesen lassen grundsätzliche Folgerungen für die Strategie revolutionärer Aktionen zu. … Die revolutionären Bewußtseinsgruppen, die auf der Grundlage ihrer spezifischen Stellung im Institutionswesen eine Ebene von aufklärenden Gegensignalen durch sinnlich manifeste Aktion produzieren können, benutzen eine Methode politischen Kampfes, die sie von den traditionellen Formen politischer Auseinandersetzung prinzipiell unterscheidet. Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die mobilisierenden Faktoren in der Verbreiterung der radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell einen Bewußtseinsprozeß für agierende Minderheiten innerhalb der passiven und leidenden Massen, denen durch sichtbar irreguläre Aktionen die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewißheit werden kann. Die „Propaganda der Schüsse“ (Che) in der „Dritten Welt“ muß durch die „Propaganda der Tat“ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler GuerillaTätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen. Die Universität bildet seine Sicherheitszone, genauer gesagt, seine soziale Basis, in der er und von der er den Kampf gegen die Institutionen, den Kampf um den Mensagroschen und um die Macht im Staate organisiert. (Dutschke / Krahl 1967, 288–290)
7.2 „Aufklärung der Massen“ oder „euphemisierende Camouflage“?
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tierte Gewalt-Konzept folgt dem antagonistischen Denken der Autoren, Kraushaar nennt es „struktureller Dualismus“ (Kraushaar III 26). Es bedeutet, dass die Autoren mit der stigmatisierenden Bezeichnung Gewalt in den Wendungen außerökonomische Zwangsgewalt, ökonomische Gewalt, ökonomische Verfügungsgewalt, physisch terroristische Zwangsgewalt des Staates, außerökonomische Gewalt von Staat, Recht etc., abstrakte Gewalt des Systems, staatliche Exekutivgewalt, abstrakte Gewalt des Systems
als Überbauphänomen auf den Staat referieren. Aggressionspotenzial ist hier eindeutig bezeichnet und selbst unter der Voraussetzung, dass der spätkapitalistische postfaschistische Staat der Bundesrepublik die außerökonomische Zwangsgewalt des Staates in totalitärem Ausmaß psychisch umgesetzt hat – also in latente, sublime Gewalt gewandelt hat – ist die Vorstellung des aggressiven, seine Bürger massiv unterdrückenden Staates dominant. Die herausgestellten Bezeichnungen und ihr Evokationspotenzial stehen im Dienst dieser Konstituierungsabsicht, und Gewalt ist ihre lexikalisch-semantische Verdichtung. Im Gegensatz zu diesem Aggression und Unterdrückung explizit bezeichnenden lexikalischen Feld repräsentieren die Autoren die Autoperspektive mehr oder weniger euphemistisch: materielle Gegengewalt, autonome Aktion, revolutionäre Aktionen, sinnlich manifeste Aktion, Agitation in der Aktion, sichtbar irreguläre Aktionen, „Propaganda der Tat“, Irregularität, Destruktion des Systems der repressiven Institutionen, Kampf gegen die Institutionen, Kampf um den Mensagroschen, um die Macht im Staate.
Während der Handlungsbereich des Staats stets und ausschließlich von dem Stigma-Wort Gewalt repräsentiert wird und die Autoren damit in bewährter Strategie einen Übergangsbereich schaffen, der die Grenze zwischen ‚Macht‘ und ‚Aggression‘ bewusst verwischt (s.o. Kapitel 6.3), erlauben sie sich zur Bezeichnung eigenen Handelns lexikalische Vielfalt handlungsbezeichnender Ausdrücke, die euphemistisch etwaiges Aggressionspotenzial camouflieren. Man gebraucht das Adjektiv sinnlich (sinnlich manifeste Aktion, sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer) in der Bedeutung ‚unmittelbar, direkt, konkret, körperlich‘, um Aggression gleichsam zu einer willkommenen Erfahrung geraten zu lassen. Man nutzt die Allgemeinheit und Vagheit des Ausdrucks Auseinandersetzung (sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt) sowie der Bezeichnung Tat (Propaganda der Tat), ebenso die Unverbindlichkeit von Sich-Verweigern (Sich-Verweigern in den eigenen Institutionenmilieus). Man kann offen lassen, was eine Methode des politischen Kampfes, die sie von den traditionellen Formen poli-
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tischer Auseinandersetzung prinzipiell unterscheidet, tatsächlich bedeutet und macht sich das verharmlosende Potenzial von irregulär / Irregularität zunutze (sichtbar irreguläre Aktionen, schlechthinnige Irregularität), und sogar die Formel Destruktion des Systems der repressiven Institutionen ist vage und implizit, insofern ihr Referenzbereich umfassend und unbestimmt bleibt. Dieser Text ist eine Manifestation der Rollenzuweisung. Die zentralen lexikalischen Antagonisten sind Gewalt einerseits, Aktion andererseits. Während das selbst in einer Verbindung wie abstrakte Gewalt des Systems stigmatisierende und Aggression bezeichnende Potenzial von Gewalt festgelegt ist, wird Aktion hier in äußerster polysemer Vielfalt verwendet: Diese reicht von allgemein ‚politische Handlung‘ (autonome Aktion), über ‚revolutionäre politische Tat‘ (revolutionäre Aktionen) zu ‚materiell / körperlich sich auswirkende Handlung‘ (sinnlich manifeste Aktion) und ‚normverletzende Handlung‘ (sichtbar irreguläre Aktionen) – die Lesart ‚Zerstörung‘ scheint hier nicht ausgeschlossen zu sein. Dieser Gebrauch ist ein den Diskurs repräsentierendes Phänomen. Aktion ist eins der am häufigsten verwendeten Leitwörter des Diskurses und äußerst produktiv als Grundwort ebenso wie als Bestimmungswort: Notstands-, Oster-, Sabotage-, Universitäts-, Springer-, Massen-, Protest-, (Klassen-)Kampfaktion(en), Aktionsgruppe, -grüppchen, -einheit, -formen, -zentrum42. Aktion ist eine zentrale Kategorie zur Bezeichnung politischen Handelns im Sinn von ‚Maßnahme, Vorgehen‘ – eine Lesart, deren Allgemeinheit und Vagheit die durch sie repräsentierte Bezeichnung so überaus geeignet macht, wenn es darum geht, jedwede Form einer widerständischen politischen Handlung, von gewaltfrei bis gewalttätig, zu benennen. Bewegungssoziologisch ausgedrückt konstituiert die Kategorie Aktion, insofern Aktion Ausdrucksform von Protest ist, den „Schlüsselvorgang, durch den eine Bewegung mit ihrer Umwelt kommuniziert“ (Rucht 2008, 163). „Schlüsselvorgänge“ müsste es heißen, denn Aktion ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedlichste Akte politischen Widerstands (Formen von Aktionen bzw. Aktionsformen), die vorzugsweise im Plural verwendet wird.
Das Spektrum der mit Aktion(en) bezeichenbaren Handlungen ist groß, und die Bedeutungsstruktur von Aktion ist so beschaffen, dass das Wort, anders
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unmittelbar nach Verbot der Demonstration über Kampfaktionen gegen dieses Demonstrationsverbot beraten (Dutschke 1967e, 82); die Oster- und Anti-Notstands-Aktionen, die auf die Arbeiterklasse übergriffen (Schmierer 1968, 12); Osteraktionen und Antinotstandsstreiks waren Stufen dieser Konkretisierung des Kampfes (ebd. 18); Die überraschenden Erfolge zu Ostern und in den Notstandsaktionen bringen die Gefahr einer Fehleinschätzung dieser Problematik mit sich und drohen bestimmte Aktionsformen, zur Aktion schlechthin zu hypostasieren (ebd. 19); die oberflächliche Subsumtion der Osteraktionen und der Notstandsaktionen unter dem Begriff „Massenaktionen“ enthält diese Gefahr, weil dieser von dem spezifischen Inhalt der betreffenden Aktionen, dem jeweils besonderen Exempel das sie statuierten, absieht (ebd. 20); Aktionszentren … diese räteartigen Gebilde (Dutschke 1967e, 81).
7.2 „Aufklärung der Massen“ oder „euphemisierende Camouflage“?
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als etwa Aggression, Deutungsspielraum lässt und auch eine Lesart ermöglicht, die zweifellos ‚Nicht-Gewalt‘ heißen müsste: Aktionen z. B., die die Macht entlarven, statt die sinnlose Konfrontation mit ihr zu suchen (Schmierer 1968, 21) etwa ist eine Formulierung, die darauf schließen lässt, dass der Referenzbereich von Aktion durchaus Gewaltlosigkeit einschließen kann. Gleichzeitig aber ist in der Bedeutungsstruktur von Aktion auch angelegt ‚Gewalt‘ nicht zu bezeichnen, wo dies opportun erscheint: Die Konzeption der Aktionen gegen Springer … war in der Strategie folgendermaßen angelegt: Schaffung eines Tribunals, auf dem durch Gutachter die Manipulation des Konzerns bewiesen werden sollte, Aufklärungsveranstaltungen bei den Studenten und anderen Teilen der Bevölkerung, Demonstrationen und schließlich Blockierung der Auslieferung der Zeitungen, zugleich geheime Aktionen gegen die Maschinerie dieses Konzerns. (Rabehl 1968b, 47)
Aktionen gegen Springer ist die hier kollektivierende Bezeichnung, die fünf verschiedene Akte widerständischen politischen Handelns zusammenfasst, von Tribunal bis geheime Aktionen, letzteres Kulminationspunkt der Klimax. Während diese Kontextualisierungen Aktion als handlungsbezeichnendes Konkretum ausweisen, lassen Reihungen wie wissenschaftliche Arbeit, emanzipatorische Bedürfnisse und Aktionen (Rabehl 1968b, 49) oder die bei Dutschke belegte Formel Die tendenzielle Beseitigung der studentischen Opposition durch exemplarische Bestrafung und Relegierung … muß … mit adäquaten Aktionsformen beantwortet werden (Dutschke 1967c, 71 und 1967e, 79) auf die offene Lesart schließen. Dagegen kann die semantische Relation zwischen den beiden politiksprachlichen Kategorien Aktion und Kampf hyponymisch sowohl wie synonymisch sein.43 Weiter können wir aus den Dokumenten rekonstruieren, dass Aktion eine materiell manifeste Handlung meinen kann, im Gegensatz z. B. zu einer verbalen, etwa Diskussion, in Wendungen wie Aktion und Diskussion, die politischen Aktionen und die Diskussionen.44 Auch das Teach-In ist offensichtlich keine Aktion, dient vielmehr zu ihrer Vorbereitung.45 Dagegen besteht ein syno-
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Die Aktionen der Studenten sollten konkrete Solidarisierung mit den Partisanen sein, doch zugleich auch ein Signal für neue Kämpfe in den hochkapitalistischen Ländern. (Rabehl 1968b, 39); Da der Kampf vorerst gesellschaftlich isoliert gegen den Staatsapparat geführt werden sollte und die Aktionen Signalcharakter für andere sozialrelevante Schichten hatten (ebd. 46f.). 44 durch provokative direkte Aktionen (sit-ins) um die zuständigen universitären Institutionen zur verbindlichen Diskussion zu zwingen. (Knapp 1968, 81); Die Aufklärung in der Aktion entlarvte besser die … Gesellschaft als unzählige Aufklärungsveranstaltungen. (Rabehl 1968b, 41) 45 das teach-in … in seiner Beziehung auf Erfolgskriterien (Abstimmungssiege, Überführung in die direkte Aktion) (Schmierer 1968, 19).
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nymisches Verhältnis zwischen Demonstration und Aktion.46 Eine im Diskurs vehement vertretene Kausalbeziehung besteht zwischen Aktion und Aufklärung. Aktion – in welcher Lesart immer – und Aufklärung stellen sich als Partnerwörter dar und unabhängig davon, welche Konnektoren sie verbinden (Aufklärung und Aktionen, keine Aufklärung ohne Aktion, keine Aktion ohne Aufklärung47) stehen sie in einer instrumentellen, ein Bedingungsverhältnis bezeichnenden Beziehung: Aufklärung durch Aktion48 repräsentiert die Grundidee, ihr wird durch Prädikationen wie entlarven, aufdecken, bloßstellen entsprochen. Bewusstseinsveränderung stellt sich als Ziel der Aktion dar, die man versteht als die entscheidende Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderungen, ja Bewusstseinsveränderung wird bisweilen als derart bedeutend emphatisiert, dass sie als das eigentliche Ziel politischen Handelns erscheint. Bewußtsein(sbildung) ist Bezeichnung für ein Handlungskonzept, das den mündigen Bürger zum Ziel hat, Aktion bezeichnet den Weg zu diesem Ziel. So lautet Dutschkes ambitioniertes Plädoyer: […] die ununterbrochene Aktualisierung und Konkretisierung der objektiv gegebenen Konfliktmöglichkeiten durch direkte Aktionen verändern die strukturelle Grundlage und die für die Veränderung so entscheidende Produktivkraft Bewußtsein; sie schaffen die Voraussetzung für eine qualitativ neue, humanere Gesellschaft: den bewußtgewordenen reichen Menschen (Dutschke 1967f, 260).
Man ist, ganz im idealistischen Sinn, von der Erziehbarkeit der Menschen überzeugt, sie ist gleichzusetzen mit der Herstellung von Bewusstsein, so dass der Autor des ‚Revolutionslexikons‘ festschreiben kann: Aktionen [verändern] den Bewußtseinsstand der Beteiligten und werden daher von Anhängern der direkten Aktion als ein sehr wichtiges Erziehungsmittel angesehen (Weigt 1968, 4). 46 Diese Aktionen wurden zeitlich getrennt, Demonstrationen vor dem Gericht und ein halbes Jahr später Besetzung der Universität (Rabehl 1968b, 46). 47 der Prozeß der Veränderung geht über diesen Weg des – wie ich es mal genannt habe – des langen Marsches durch die bestehenden Institutionen, in denen durch Aufklärung, systematische Aufklärung und direkte Aktionen, Bewußtwerdung bei weiteren Minderheiten in- und außerhalb der Universität möglich werden kann. (Dutschke 1967d, 15); Bewußtseinsschärfung … durch Aktion und Aufklärung (Dutschke 1967c, 70); Aktionszentren … für die Expandierung der Politisierung in Universität und Stadt durch Aufklärung und direkte Aktion (Dutschke 1967e, 82); wir haben die Hoffnung, daß diese räteartigen Gebilde [der Aktionszentren] an allen westdeutschen Universitäten in den nächsten Tagen gegründet werden, denn die rationale Bewältigung der Konfliktsituation in der Gesellschaft impliziert konstitutiv die Aktion, wird doch Aufklärung ohne Aktion nur zu schnell zum Konsum, wie Aktion ohne rationale Bewältigung der Problematik in Irrationalität umschlägt. (Dutschke 1967e, 81f.) 48 die aufklärerische Funktion direkter Aktionen [ist] nicht platt an den unmittelbaren Reaktionen der Bevölkerung abzulesen (Neusüss 1968, 55).
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Schließlich die Attribuierungen, durch die Aktion kategorisiert wird. Die Partnerwörter praktisch und konkret bezeichnen den materiellen Aspekt von Aktion, bundesweit und gemeinsam beziehen sich auf ihre Verbreitung, spontan impliziert Unmittelbarkeit, kämpferisch und politisch verweisen auf den Kontext ‚gesellschaftliche Veränderung‘.49 Allerdings lassen Zuschreibungen wie anarchisch oder koordiniert, sowie die Wendung sorgfältige Vorbereitung der Aktion50 darauf schließen, dass hier widerständisches politisches Handeln nicht als spontaner Aktionismus verstanden wird.51 Die Verbindung direkte Aktion, seit dem frühen 20. Jahrhundert im Kontext politischen Widerstands allgemein verwendet, aber auch speziell auf Arbeitskämpfe bezogen im Sinn von ‚Streik‘, ist die präzisierende Version.52 Dutschke legt diese in seinem Spiegel-Interview dar. Nachdem er
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praktische Aktionen auf der Straße (Dutschke 1967e, 80); die Krise [sollte in der Lehre Marx’] politische und menschliche Emanzipation durch kämpferische Aktion ermöglichen (Dutschke 1967j, 81); Ich fordere die Aktionszentren auf, dass sie koordinierte politische Aktionen … mobilisieren (Dutschke 1967e, 82); er [der SDS] versuchte, auf spontane Protestaktionen prägenden Einfluß zu nehmen … Relevante Kritik hätte an der Frage anzusetzen, wieweit dieser Zielsetzung durch einzelne Aktionen gedient war oder nicht (Neusüss 1968, 55); westdeutsche Aktionszentren …, um dort gemeinsame Aktionen zu beschließen und im ganzen Bundesgebiet durchzuführen (Dutschke 1967e, 82); allgemeinpolitisch motivierten Aktionen, wie zu Ostern und bei den Notstandsaktionen (Schmierer 1968, 19); „Massenbasis“ [muss] jeweils durch spezifische Aktionen und Argumentationen immer aufs neue wieder hergestellt werden … in diesem Zusammenhang [können] durchaus Aktionsformen wieder wichtig werden …, die abgetan schienen (ebd. 21); Die Entwicklung des SDS vom akademischen Verband zur politischen Organisation, die konkrete Aktionen durchführt (ebd. 22); Die Springerkampagne kam nicht vorwärts ehe durch das Attentat auf Rudi Dutschke das auslösende Zeichen für bundesweite Aktionen gegeben wurde (ebd.). Der anarchische Charakter und die unkontrollierte Form der jüngsten direkten Aktionen waren deshalb nicht Ausweis einer fi xen Idee von Revolutionären, Revolution zu machen, sondern Ausweis dessen, daß wir noch im Anfangsstadium der Politisierung breiter Bevölkerungsschichten stecken (Neusüss 1968, 56); Ich fordere die Aktionszentren auf, daß sie koordinierte politische Aktionen in der ganzen Bundesrepublik und Westberlin in den nächsten Tagen und Wochen mobilisieren (Dutschke 1967e, 82); der sorgfältigen Vorbereitung der Aktionen … Jeweils hatte die Analyse die Bedingung für koordinierte Aktionen gegeben und hatten Ereignisse außerhalb des Verbandes die Aktionen ausgelöst. (Schmierer 1968, 21) Insofern können wir den Befund von Pavel A. Richter, nämlich die Existenz unterschiedlicher Aktionsbegriffe, nicht bestätigen. Es ist nicht erkennbar, dass die Neue Linke „Aktion als Ergebnis einer gezielten Planung“ verstand, während das antiautoritäre Lager „auf das in der spontanen Aktion freigesetzte kreative Veränderungspotenzial“ setzte (Richter 2008, 70). Jedenfalls scheint Aktion in den hier untersuchten Texten auch der sog. Antiautoritären zur Bezeichnung des Ergebnisses eines Handlungskonzepts zu dienen. Ein früher Beleg von (direkte) Aktion im Kontext der Protestbewegung findet sich in dem im Dezemberheft 1963 der ‚neuen kritik‘ abgedruckten, „Falsche Alternativen“ betitelten Beitrag von Michael Vester, der hier seine amerikanischen Erfahrungen mitteilt. Insofern lässt sich sagen, dass dem aktionistischen direkte-Aktion-Konzept von
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als Handlungspostulat formulierte: wir müssen mehr tun als protestieren. Wir müssen zu direkten Aktionen übergehen fragt der ‚Spiegel‘ nach: Was sind direkte Aktionen? Dutschkes Antwort eröffnet ein weites Spektrum, sozusagen die Extension von direkte Aktion, zunächst äußerst vage – eine große Solidarisierungswelle seitens der bewußten Studentenschaft –, was der ‚Spiegel‘ zu konkretisieren bittet, worauf Dutschke Beteiligung am Streik repliziert. Auf nochmaliges Nachfragen ergänzt Dutschke: Hilfsfunktionen übernehmen, soll heißen Geldsammlungen, Aufklärung der Bevölkerung, Einrichtungen von Kindergärten und Großküchen. Eine weitere Nachfrage des ‚Spiegel‘ nach anderen direkten Aktionen beantwortet Dutschke zunächst wiederum ausweichend, indem er die politische Forderung der Enteignung Springers formuliert. Auch hier erweist sich der Spiegel als beharrlich: Und die entsprechende direkte Aktion? Dutschke antwortet wiederum ausgreifend, um schließlich, ebenso wenig konkret, zu erwidern: direkte Aktionen gegen die Auslieferung von Springer-Zeitungen in West-Berlin. Wiederum besteht der Spiegel auf Erklärung (Welche?), die Dutschke dann endlich gibt: Wir wollen zu Tausenden vor dem SpringerDruckhaus durch passive Formen des Widerstandes die Auslieferungsprozedur verhindern. Am Tage dieser Aktion, die wir zuvor durch Flugblätter ankündigen werden, wollen wir selber kritische und informative Zeitungen für alle Teile der Bevölkerung herausbringen. Die anschließende Frage des Spiegel, ob das Modell der Gegen-Universität ebenfalls eine Form direkter Aktion darstellt, bejaht Dutschke und führt zwei Konzepte einer solchen Universitätsform aus (Dutschke 1967b, 268–271).53 Tomaten, Rauchbomben, Steine – allesamt ohnmächtige Mittel zum Zeichen des Protestes und lediglich als Vorformen wirklicher Auseinandersetzungen zu bewerten. Sie unterscheiden sich von der, sozusagen politisch wertvollen, Widerstandsform der direkten Aktion.54 Wir können, bei aller Festigkeit und Terminolo-
1967 / 68 eine längere, bereits Anfang der 1960er Jahre begonnene und von Michael Vester mit Argumenten versehene Strategiediskussion vorangeht (vgl. Klimke 2007). 53 Ja, da gibt es zwei Konzeptionen. Die eine Form der Gegen-Universität ist begriffen als Appendix, als Anhängsel der bestehenden Universität. Das heißt: Wir versuchen, im nächsten Semester Vorlesungskurse zu initiieren von Doktoranden, von Studenten mit guter Ausbildung, von Assistenten und Professoren. Inhalt des Programms sind Diskussionen, Referate und Seminare über Themen, die bisher innerhalb der Universität nicht diskutiert wurden. (Dutschke 1967b, 269) 54 In diesem Sinn definiert das ‚Revolutionslexikon‘: Direkte Aktion bezeichnet eine Einstellung, der das Reden, Theoretisieren, Fordern nicht mehr genügt und die eine Veränderung bestehender Zustände nur durch Handlungen ermöglicht sieht. Da die APO den Parlamentarismus bürgerlicher Prägung nur für staatlich sanktionierten Lobbyismus hält, statuiert sie, daß Parlamentsdebatten zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht beitragen. Die direkte Aktion der Straße aber, Demonstrationen,
7.2 „Aufklärung der Massen“ oder „euphemisierende Camouflage“?
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giehaftigkeit der Verbindung direkte Aktion, annehmen, dass im Gebrauch ein Unterschied zu Aktion – etwa im Sinn einer Bezeichnung, die allgemeiner auf eine politische Handlung referiert – kaum besteht.55 Halten wir fest: Aus dem Gebrauch von (direkte) Aktion in unterschiedlichen Kontexten ist keine eindeutige Festlegung ableitbar, so dass als Lesart sehr allgemein angegeben werden könnte ‚(geplante, vorbereitete) Form des kollektiven sprachlichen oder materiellen / körperlichen Ausdrucks von politischem Protest, der sich auf einzelne Maßnahmen, wie etwa ein Sit-in, auf einen Handlungskomplex, wie etwa die Enteignet-Springer-Aktionen oder auch auf eine institutionelle Form, wie die Gegenuniversität, beziehen kann‘. Soviel ist deutlich: Resultierend aus dieser offenen Struktur ist (direkte) Aktion sehr geeignet, etwaige Gewalt von Handlungen zu verhüllen. (Direkte) Aktion kann Euphemismus für Gewalt sein, kann nämlich ein Gewalt bezeichnender Ausdruck sein, wenn Gewalt jedwede Form von manifester Aggression meint.56 Auch das ist festzuhalten: Als Element des Demokratisierungsdiskurses hat das Diskurselement (direkte) Aktion die Funktion, das Demokratiekonzept mit Dynamik zu versehen, praktisches politisches Handeln zu bezeichnen, das einen Beitrag zur Bewusstseinsveränderung leisten soll, das auf, für undemokratisch gehaltene Sachverhalte verweist. Aktion wird von den Akteuren insofern als eine semantische Repräsentation des Demokratiekonzepts verstanden.
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Unruhen, Streiks, notfalls auch Gewalt gegen Sachen und Institutionen, können erfolgreich sein (Weigt 1968, S. 4). Die wenigen Aufklärungsveranstaltungen über diesen Konzern, aber vor allem die Wut nach dem 2. Juni waren der Motor der Demonstrationen, die ihren militanten Charakter durch das Abbrennen von Autos und in der Aufstellung von Straßenbarrieren erhielt. Zum ersten Mal wurde eine Aktion auch eskaliert, indem sie in die 1. Mai oder in die Notstandskampagne überführt wurde. (Rabehl 1968b, 51) Auch die in demselben Text getroffene Feststellung Eine militante Demonstration gegen Tschombe, Ende 1964, war die Einleitung der Periode der direkten Aktionen. Die Studenten hielten sich an keine Auflagen der Polizei (ebd. 41) lässt keinen Zweifel. Auch an dieser Stelle ist ein Verweis vonnöten, der wiederum selbstverständlich nicht eine Nähe zum Nationalsozialismus behauptet, sondern als ein Beleg dafür gelesen werden kann, dass jegliches zielgerichtete Handeln im politischen Kontext ohne Unterschied deshalb mit Aktion bezeichnet werden kann, weil es, als gleichsam neutrales Denotat, keine Rückschlüsse zulässt auf die Art dieser so bezeichneten Handlung. Für den nationalsozialistischen Gebrauch etwa unterscheiden Brackmann / Birkenhauer (1988, s. v. Aktion, S. 12ff.) vier Lesarten von Aktion, und setzen außerdem von Aktion B bis Aktion Wolkenbrand separat elf verschiedene Handlungseinheiten an.
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7 Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits
7.3 „Legitimer Druck von unten“ oder „aggressive Willenskundgabe“? Wenn die Trias Provokation – Aktion – Gegengewalt als Klimax verstehbar ist, bezeichnet Gegengewalt die manifeste und aggressive Version dieser drei Handlungskonzepte. Dies ist das Verständnis der intellektuellen Linken, mit dem sie ihre Argumentation wider den aggressiver werdenden Widerstand der studentischen Linken ausgestattet hat. Aus studentischer Perspektive hat Gegengewalt zwei weitere Ausdeutungen, woraus wiederum zu entnehmen ist: Gewalt bezeichnet ein komplexes polysemes Konzept. Zwei aktuelle Ereignisse belegen aufs neue, daß der studentische Protest gegen eine autoritäre und undemokratische Hochschule nicht zu lösen ist von dem Kampf um eine demokratische Gesellschaft. Die gewaltlos geführte Demonstration von Studenten und Schülern gegen den Völkermord in Vietnam am letzten Montag wurde von der Polizei als aggressivste Demonstration seit Kriegsende bezeichnet. (Flugblatt-Aufruf 1968, 340)
Ende der sechziger Jahre – man redet über die Gewalt der einen wie die der anderen. Die einen – das sind die, die von den andern in die Kategorien Herrschende, Establishment, Bürger gefasst werden. Die andern – das sind die, die von den einen mit den Zuschreibungen Radikale, Krawallmacher, Rädelsführer versehen werden. Der Wirklichkeitsausschnitt ‚Gewalt‘ wird also aus unterschiedlichen Perspektiven konstituiert, entsprechend gegensätzlich fallen die Bewertungen aus.57 Wohl kaum ein anderes Segment des die späten 1960er Jahre prägenden Diskurses ist so von Kontroversität der Diskursbeteiligten und von Heterogenität des Diskursgegenstands gekennzeichnet wie dieses – am Gewaltkonzept entlang läuft die prinzipielle Trennlinie der Handelnden und ihrer Positionen, der Generationen und ihrer politischen Ziele, der Haltungen.58 Es gibt, m.a.W., gute Gründe, Gewalt als Segment des Demokratisie-
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Ingrid Gilcher-Holtey beschreibt insofern Gewalt als „Trumpf in der politischen Auseinandersetzung. Über die Zuschreibung von Gewalt werden politische Kämpfe ausgetragen: Situationen und Ereignisse dramatisiert und skandalisiert, aber auch Abgrenzungen und Ausschließungen vorgenommen.“ (Gilcher-Holtey 2006, 201) Zu Gewalt als zentralen Forschungsgegenstand der Soziologie, Politologie, Geschichtswissenschaft vgl. u. a. von Trotha 1997, Heitmeyer / Soeffner 2004, Anders / Gilcher-Holtey 2006. Exemplarisch ein Beitrag von Max Horkheimer, der das Prinzipiell-Weltanschauliche bestätigt, sich vom Praktisch-Handelnden ausdrücklich abgrenzt: Nicht wenige meiner Impulse sind denen der Jugend in der Gegenwart verwandt, Sehnsucht nach dem Besseren, nach der richtigen Gesellschaft, mangelnde Anpassung an das Bestehende. Auch teile ich die Bedenken gegen die Bildungsarbeit an Schulen, Hochschulen und Universitäten. Der Unterschied betrifft das Verhältnis zur Gewalt, die in ihrer Ohn-
7.3 „Legitimer Druck von unten“ oder „aggressive Willenskundgabe“?
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rungsdiskurses zu verstehen – mit einer Dynamik, die gesellschaftlichen und politischen Ereignissen geschuldet ist, mit einer Struktur, die vom jeweiligen Referenzbereich abhängig ist, mit einer Semantik, die den Akteursperspektiven entspricht und die Haltungen und Einstellungen dokumentiert. Gegengewalt ist insofern eine Konstituente des Demokratiekonzepts, als die studentischen Aktivisten das Konzept als einen Aspekt von praktizierter radikaler Demokratie, die intellektuelle Linke jedoch im Gegenteil von Aktivisten ausgeübte und von ihnen herausgeforderte Gewalt als ein Hindernis im Kampf um Demokratie verstehen. Während die studentische Linke Gegengewalt insofern semantisch mit Demokratie vereinbart, als sie jene mit dem Bedeutungselement ‚legitime Form der Erzwingung radikaldemokratischer Verhältnisse‘ versieht und so mit ihrem Demokratiekonzept solidarisiert, schließt die intellektuelle Linke Gegengewalt in der Bedeutung ‚unangemessene, aggressive, mit den Prinzipien der Demokratie nicht zu vereinbarende Form politischen Willen zu dokumentieren‘ als nicht kompatibel aus ihrem Demokratiekonzept aus. Aus dieser oder jener Perspektive – Demokratie und Gewalt sind jedenfalls Ende der 1960er Jahre zwei semantisch aufeinander bezogene Konzepte. Oskar Negt weist dem Thema dasselbe Gewicht zu wie dem der Demokratie. „Das Thema ‚Demokratie‘ steht – neben dem der Gewalt – im Mittelpunkt von Aktionen und Ideen, um die 68 gekämpft wird“ (Negt 2001, 135). Diskurs- und konzeptgeschichtlich können wir entsprechend sagen: Das Thema ‚Demokratie‘ steht in der Version des Gewaltthemas im Zentrum des Diskurses und die lexikalische Verdichtung dieses Diskurses, Gewalt, erfährt dementsprechend spezifische diskurssemantische Ausdeutungen. Beiträge und Vorträge Ende der 1960er Jahre heißen Das Problem der Gewalt in der Opposition (Herbert Marcuse), Politik und Gewalt (Oskar Negt), Probleme der Gewalt und Gegengewalt (Peter van Spall), Die Auferstehung der Gewalt (Heinz Grossmann / Oskar Negt), 1967–1969 Gewalt und Gegengewalt (Klaus Schroeder / Siegward Lönnendonker). Es sind dies Gewaltreflexionen aus der Autoperspektive und ihre diskursive Dichte dokumentiert: Gewalttätiges Handeln gehört nicht zu den revolutionären Gewissheiten der Aktivisten, die Ausdeutung des Leitworts Gewalt, wenn es auf eigenes Handeln referiert, steht mithin zur Disposition, und das heißt, das Gewaltkonzept ist neu zu deuten, im Sinn semantischer Unbestimmtheit. Es ist ein komplexes
macht den Gegnern gelegen kommt. Offen zu sagen, die fragwürdige Demokratie sei bei allen Mängeln immer noch besser als die Diktatur, die ein Umsturz heute bewirken müßte, scheint mir jedoch um der Wahrheit willen notwendig zu sein. (Horkheimer 1968a, 349)
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Konzept, das sich im Sinn einer semantischen Klimax darstellen lässt. Diese Klimax reicht von der Problematisierung gewaltlosen Widerstands über das Konzept der reaktiven Gewalt bis zum Aufruf zu Gewalt und zu der von Rudi Dutschke und Hans Jürgen Krahl ausgerufenen Propaganda der Tat. Das zeitliche Kontinuum dieser semantischen Klimax bildet die Zeit zwischen dem 2. Juni 1967 (Tod Ohnesorgs) und dem 11. April 1968 (Attentat auf Dutschke). Ebenso gibt es aber auf der Ebene der subjektiven Äußerungen Widersprüche, bei Dutschke etwa, der sich (womöglich je nach Redekonstellation) sowohl als Ireniker als auch als kampfbereiter Revolutionär äußert.59 Komplex meint also tendenziell sowohl diachronisch als auch synchronisch partiell aporetisch, was aber nicht bedeutet, dass aufs Ganze gesehen, dass auf der Zeitachse dies Diskurssegment nicht eine zunehmende Gewaltbereitschaft der studentischen Beteiligten repräsentiert. Diachrone und synchrone Aporie manifestiert sich in der lexikalischsemantischen Verdichtung, und das lexikalisch-semantische Zentrum dieser Ambiguierungsstrategien heißt Gegengewalt. Gegengewalt – ein höchstwertiger, theoretisch legitimierter und polysemer Ausdruck, der jeden der drei im Folgenden darzustellenden Aspekte des autoreflexiven Gewaltdiskurses der Aktivisten (Gewaltlosigkeit, politische Gewalt, manifeste Gewalt) im Sinn entsprechender kontradiktorischer Lesarten semantisch repräsentiert. Seinen argumentativen, die unterschiedlichen Formen des politischen Widerstands legitimierenden Wert im Diskurs dokumentiert z. B. der Eintrag im ‚Revolutionslexikon‘. Der Artikel heißt Gewalt – Gegengewalt und beginnt mit der Feststellung: Alle bisherigen menschlichen Gesellschaften beruhen in mehr oder weniger großem Maße auf Gewalt. Diese Grundaussage wird erläutert: Staat als Herrschaftsinstrument und Ordnungsmacht kann letzten Endes nur mit Hilfe von Justiz, Polizei und Militär existieren. Staat, Justiz, Polizei und Militär – alle vier sind Instanzen von Gewalt, die Grenze des semantischen Spiels mit der Lesart ‚Legislative‘, ‚Exekutive‘, ‚Judikative‘ ist bereits hier erreicht. Bemerkenswert ist auch die nun anschließende conclusio: Daher stellt sich jeder nicht ins System integrierten Opposition wie der APO die Frage der Gewalt, denn ihre Aktionen treffen notwendig auf die Staatsmacht. Diese Schlussfolgerung dekodiert endgültig die Lesart ‚Aggression‘ und ist dann die Grundlage für 59
In Bezug auf die hohe Gewaltbereitschaft und -anwendung der RAF verweist Wolfgang Kraushaar auf „eine aufwendige Gratwanderung“ Dutschkes, einerseits der Dynamisierung politischer Konflikte, andererseits der Verurteilung der RAF als politische Degeneration, wobei nach Kraushaar Dutschkes Gewaltkonzept eindeutig die Grenze von Gewalt gegen Menschen nicht überschritt. Dutschkes vehemente Verurteilung des RAF-Terrorismus sei ein weiterer Beweis (Kraushaar 2007).
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die Formulierung einer weiteren, der in Bezug auf die sprachliche Selbstkonstitution entscheidenden Konsequenz: Insofern versteht die APO ihre Maßnahmen als Gegengewalt gegen die etablierten Herrschaftsmächte (Establishment), zu denen z. B. auch das vom Springer-Konzern ausgeübte Meinungsmonopol gehört. Der die Plausibilität der Argumentation behauptende suggestive Konnektor insofern legitimiert dann das widerständische Handeln der APO, das der Autor in den an Vagheit und Allgemeinheit kaum überbietbaren Ausdruck Maßnahme fasst. Wie zur Beschwichtigung schließt sich dann die Einschränkung (mit einem Autoritätsverweis) an: Gegengewalt kann aber nach allen bisherigen verantwortlichen Äußerungen von Seiten der APO nur gegen Sachen, nicht gegen Personen angewendet werden, da das nicht nur mit den eigenen humanitären Zielen unvereinbar, sondern auch der „irrsinnigste Rat wäre, der in diesem Augenblick gegeben werden könnte“ (Gollwitzer).
Hier unternimmt der Autor den Versuch einer Vereindeutigung: Gegengewalt bedeutet ‚Gewalt gegen Sachen‘ – die berühmte so entlastende wie zweideutige Formel, denn: Wie lässt sich Gewalt gegen Personen zuverlässig ausschließen, wenn Steine und Molotowcocktails fliegen? Diese vielgestellte Frage konnte der Humanismus der Akteure bekanntlich nicht beantworten.60 Gollwitzer, der theologische Freund der APO, gibt dann den Gewährsmann für eine Aussage, der die argumentative Substanz fehlt: Warum wäre Gewalt „der irrsinnigste Rat“? Die Antwort auf diese Frage bleibt der Artikel schuldig. Der Autor lässt dann die Darstellung des bekannten Szenarios folgen: Diese Regel wurde eingehalten, obwohl bekanntlich demonstrierende Studenten die repressive Gewalt in äußerst sinnlicher Weise erfuhren – diese Formulierung reflektiert die Selbstsicht der Gewaltlosigkeit unter dem Zeichen der Gegengewalt, die er mit einem sentenzhaft vorgetragenen Argument, das aus dem Revolutionshandbuch zu stammen scheint, weiterführt: denn die Macht einer relativ kleinen Gruppe kann sich nur in der Form der Gewaltlosigkeit äußern. Tiefe Überzeugung von der Gewaltlosigkeit des praktizierten widerständischen Tuns wäre dieser Formulierung eingeschrieben, wenn der Autor seinen Artikel nicht endete mit einem Szenario aus dem politischen Alltag der Protestbewegung: Das schließt Gegengewalt gegen technische Werkzeuge, z. B. Wasserwerfer, nicht aus. Wenn Menschen dabei zu Schaden kommen, ist das aber mehr als ein
60 Rückblickend fragt Peter Schneider: „Aber wenn dann doch … ein Wärter oder Gärtner … mit hochgegangen wäre?“, um dann die „Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen“ als „intellektuelle[n] Strohhalm“ auszumachen, „der bei der ersten Belastungsprobe knickte“ (Schneider 2008, 206).
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„Betriebsunfall“. (Weigt 1968, 20) Die Leitidee ‚Gewalt gegen Sachen‘ wird hier dokumentiert, ebenso wie ein Bewusstsein möglicher Grenzüberschreitungen. Im Fall einer solchen – das ist die Botschaft – verharmlost man sie nicht als Betriebsunfall. Das war die als zynisch-gleichgültige Kommentierung des Todes von Benno Ohnesorg empfundene Bezeichnung, die der politische Gegner verwendet hat. Soviel wird mit dieser Bedeutungskonstitution deutlich: Das Konzept der Gegengewalt soll Argument sein im politischen Kampf der studentischen Linken, das Legitimierung aus der Konstitution physisch erfahrener staatlicher Gewalt erhält. Nachzuvollziehen sind im Folgenden die konzeptuellen Ausdeutungen dieser Idee der Gegengewalt. Diese Ausdeutungen sind im Sinn von semantischen Spielen zur Erzeugung von Vagheit des Gewaltkonzepts zu beschreiben.
7.3.1 Gewaltlosigkeit: „Unsere Gewalt – unbewaffnete Leiber“ Die Konstituierung des 2. Juni als verfassungsrechtlich legitimierter Akt einer Meinungsäußerung wehrloser unbewaffneter Demonstranten, der durch brutale und hochgerüstete Polizeigewalt beantwortet wurde, evoziert das David-und-Goliath-Muster und also Stereotype: das Heterostereotyp der gewaltbereiten Staatsmacht, das Autostereotyp der gewaltlosen Demonstranten. Der übermächtige hoch armierte Staat steht da den mit bloßen Händen, allenfalls mit lächerlichen Tomaten bewaffneten Kämpfern für eine gerechte Welt gegenüber. Wenn die studentischen Akteure das Handeln des Staates im Sinn von Zwang und Aggression ausdeuten, wenn sie ihr eigenes Handeln dagegen als Akte der Aufklärung konstituieren, dann dokumentieren sie diese binäre Grundstruktur ihrer Weltsicht: die Zuschreibung von Gewalt in Bezug auf staatliches, polizeiliches Verhalten, die Abwehr des Gewaltvorwurfs in Bezug auf das eigene Protestverhalten. Diese Opposition ‚gewalttätiger mächtiger Staat‘ versus ‚friedfertige schwache Protestbewegung‘ ist ein den Diskurs konstant bestimmendes Muster. Als Beispiel mag die berühmte Römerbergrede von Hans Jürgen Krahl dienen. Er stellt die Antagonisten einander gegenüber – die Herrschenden und die Bild-Zeitung einerseits, die mit wir und Geschlagener bezeichnete Gruppe der Widerständler andererseits: Die Herrschenden wollen der Bevölkerung mit allen Mitteln einreden, unsere Aktionen seien Terror; um dies zu beweisen, schrecken sie auch vor offenen Lügen nicht zurück. Wir aber erwidern ihnen: Gewalt, das ist die Volksverhetzung der Bild-Zeitung. Gewalt, das ist die Vorbereitung der Notstandsdiktatur. Und dagegen nehmen wir das Recht des Geschlagenen in Anspruch, das elementare Recht auf Notwehr und Widerstand. (Krahl 1968c, 151)
7.3 „Legitimer Druck von unten“ oder „aggressive Willenskundgabe“?
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Dieser Text definiert die Rollen und weist sie zu, Argumentationsfolie ist der moralische Anspruch, im Recht zu sein. Die sich hier manifestierende binäre Weltsicht, die in diesem Fall lediglich die Verfassung mächtig oder schwach kennt, ist die diskursive Einstellungsgrundlage, auf der der Wirklichkeitsausschnitt ‚Gewalt‘ und das begriffliche Konzept Gewalt konstituiert wird.61 Ihr entspricht die Unterscheidung zweier gegensätzlich bewerteter Gewaltkonzepte. Von der marxistischen Revolutionstheorie herkommend unterscheidet man (wie zwischen positiv und negativ konnotierter Autorität, s.o. Kapitel 4.2) sozusagen gute und schlechte Gewalt: Man unterscheidet zwischen progressiver Gewalt und reaktionärer Gewalt (Negt 1968a, 20), zwischen revolutionärer und reaktionärer, befreiender und unterdrückender Gewalt (Untergang der BILD-Zeitung 1968, 41), zwischen Gewalt der Verteidigung und Gewalt der Aggression (Marcuse 1968b, 493). Diese Selbstzuweisung der Rolle ‚unbewaffnete nicht gewalttätige Demonstranten‘ motiviert also dieses Diskurssegment und lässt darauf schließen, dass Gewaltlosigkeit im Jahr 1967 noch ein selbstverständlicher Modus politischen Handelns ist. Jedoch erweist sich die Frage, wie dieser Modus zu erreichen ist, als Gegenstand des Diskurses. Exemplarisch ist die Diskussion, die am 13. Juli 1967 im Anschluss an den Vortrag Herbert Marcuses zu dem Thema ‚Das Problem der Gewalt in der Opposition‘ an der FU Berlin stattfand. Hans Jürgen Krahl entwirft das Szenario einer Demonstration, auf die bei dem geringsten Ansatz zur Organisation eines politisch normabweichenden Verhaltens die Institutionen mit ihrer Tendenz zur Hyperbürokratie mit dem Willen zu physischen Vernichtung teilweise
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Es spricht einiges dafür, die 68er-Bewegung – wie es Ingeborg Villinger tut – unter dem Zeichen des Mythos zu beschreiben, und zwar speziell das symbolische Handeln der 68er, anschließend an Ernst Cassirers Semiotik des Symbolischen. Cassirer unterscheidet die symbolischen Formen Mythos, Sprache und kausallogisches Denken. Danach „dominierten in der Phase der eigentlichen Bewegung in den Jahren 1967 / 68 die mythische Form des Symbolischen und der Teil der Sprache, der in den Mythos hineinragt: das auf dem Prinzip ‚pars pro toto‘ beruhende Sprechen und Schlußfolgern“ (Villinger 2008, 321). In Bezug auf die im Gewaltdiskurs mit besonderer Evidenz zutage tretende Binarität der Weltsicht manifestiert hier, was als Kennzeichen mythischen Denkens definiert wurde: „Seine mit asymmetrischen Polaritäten operierende Denkstruktur schafft eine räumliche Ordnung der Deutungsmuster, die die Methoden und Verfahren der Welterklärung regeln. Das heißt, es errichtet Identitäten (‚die Studentenschaft‘, ‚die Arbeiterklasse‘) durch positive Besetzung und Abgrenzung von als negativ ausgewiesenen Einheiten (wie der ‚repressive Staat‘). Es regelt Tabu-Zonen (Vietnamkrieg, Ausbeutung der Dritten Welt u. a.) und Grenzen wie Oben / Unten, Innen / Außen, Heiliges / Profanes; es organisiert Ein- und Ausschlüsse wie ‚wir‘ und ‚die Anderen‘ und ordnet Vertrautes / Unvertrautes, Eigenes / Fremdes, Gutes / Böses, Richtig und Falsch. Diese Einheiten werden in der rituellen Wiederholung wie beispielsweise der Demonstration bestätigt und fixiert.“ (ebd. 322)
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antworten. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios problematisiert Krahl das Konzept der gewaltlosen Gegengewalt, er fragt nach der Möglichkeit materiell-manifester Gewaltlosigkeit: Wie ist es möglich, eine materiell-manifeste Gewaltlosigkeit darzustellen, die den Anspruch auf eine revolutionäre Gegengewalt vertritt? … Wie ist es möglich, eine materiell-manifeste Gewaltlosigkeit zu organisieren im Hinblick auf eine Bürokratie, die selbst in toto in diesem System zu einer suprakonventionellen Waffe wird? Wie ist es möglich, eine waffenlose Opposition mit konkret revolutionärem, gegengewaltigem Anspruch darzustellen? (Krahl 1967a, 74)
Diese Frage erweist sich als Zentrum des Problems, das nicht etwa lautet ‚Wie halten wir es mit der Gewalt?‘, sondern ‚Wie erreichen wir, dass unsere Aktionen bei der Konfrontation mit konkreter Staatsmacht die Prädikate >gewaltlos< und >revolutionäre Gegengewalt< erhalten?‘ Revolutionär muss sie sein, denn das politische Tun steht natürlich im Zeichen von Karl Marx und seiner Revolutionstheorie. Dass diese allerdings die „Kritik der Waffe“ als legitime revolutionäre Strategie vorsieht, ist womöglich der Konflikt, auf den Krahl verweist und dessen Disparität er in den leicht paradoxen Formulierungen materiell-manifeste Gewaltlosigkeit und waffenlose Opposition mit konkret revolutionärem, gegengewaltigem Anspruch wortkreativ emphatisiert – wortkreativ, denn die wohl im Augenblick der Diskussion zu Gegengewalt gebildete Adjektivableitung gegengewaltig nutzt die Semantik von gewaltig ‚groß, mächtig‘, die auch in dem Neologismus wirkt. Wie entsteht der Konflikt? Man ist nicht nur Marx verpflichtet, sondern auch der urdemokratischen, von Habermas dann mit Unerbittlichkeit vertretenen Überzeugung einer gewaltfreien, ausschließlich mit dem Wort Konsens herstellenden Gesellschaft. Physische Gewalt ist in dieser demokratischen Konzeption tabu – die Erfahrung des Nationalsozialismus und der in der Diktatur legitimen Staatsgewalt wirkt einstellungsprägend. Außerdem gibt es das Vorbild im Westen, die Bürgerrechts-62 und die Hippiebewegung63, die nicht ohne Einfluss auf diese irenische Haltung gewesen sein dürften. So ist Knut Nevermanns an den von Hans-Jürgen Krahls 62
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Habermas gewinnt ihr seinem Credo entsprechend viel ab: Die neuen Techniken der begrenzten Regelverletzung stammen aus dem Repertoire des gewaltlosen Widerstandes, das während der letzten Jahre in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung erprobt und erweitert worden ist. Diese Techniken gewinnen gegenüber einem bürokratisierten Herrschaftsapparat und angesichts eines publizistischen Bereichs kommerzieller Massenbeeinflussung einen neuen Stellenwert. (Habermas 1968a, 191) Marcuse interpretiert ihren Friedenswillen: die Umkehrung des Sinns, die bis zum offenen Widerspruch getrieben ist: man überreicht der Polizei Blumen („flower power“ ist die Neubestimmung und genaue Negation des Sinnes von „Gewalt“) (Marcuse 1969, 60).
7.3 „Legitimer Druck von unten“ oder „aggressive Willenskundgabe“?
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anschließender Beitrag zu verstehen. Er findet die Theorie, daß Gewaltlosigkeit bereits die institutionalisierte Gewalt reproduziert und damit bereits in Frage gestellt ist habe einen zynischen Beigeschmack und er fragt deshalb nach dem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis des Prinzips der Gewaltlosigkeit: Es ist sicherlich in der Theorie richtig, daß Gewaltlosigkeit bereits die institutionalisierte Gewalt reproduziert und damit bereits in Frage gestellt ist. Diese Theorie hat aber dann, wenn sie praktiziert werden sollte, einen zynischen Beigeschmack, der in seinen Folgen eventuell auch unmenschlich sein könnte. Ich sehe hier einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis des Prinzips der Gewaltlosigkeit: einmal den Verzicht darauf und das andere Mal aus humanitären Bewegungen das Festhalten am Prinzip, und ich wäre sehr dankbar, wenn Prof. Marcuse diesen Widerspruch beim gewaltlosen Protest klären helfen könnte. (Nevermann 1967d, 75)
Auch Nevermann bemüht sich, wie Krahl, um die Vereinbarkeit von Gegensätzen, sucht nach der Möglichkeit von Gewaltlosigkeit in der Konfrontation mit der Staatsmacht. Wir erkennen hier die Furcht, dass ein auf Pazifismus und Humanismus gegründeter Wille zu Gewaltlosigkeit (Theorie) in Widerstreit geraten könnte mit der potentiell Gewalt fordernden Wirklichkeit (Praxis). Der angesprochene Marcuse versteht diese Frage als Vorwurf, dass er zu Gewaltlosigkeit als Prinzip der Strategie im Interesse der Humanität aufgerufen habe. Er habe jedoch im Gegenteil von Situationen gesprochen, in denen es genau im Interesse der Humanität liegt, zur Gewalt überzugehen (Marcuse 1967c, 77). – Die als Aufruf vielgeschmähte Überzeugung Marcuses, die Unterdrückten hätten ein Naturrecht auf Widerstand, mit der er seinen Essay ‚Repressive Toleranz‘ beendet, ist gemeint: Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. (Marcuse 1966, 127) – Im weiteren Verlauf seiner Replik mahnt Marcuse zur Antizipation: Man müsse, auch bei einer friedlich-gewaltlosen Demonstration, stets der institutionellen Gewalten gewärtig sein und damit rechnen, daß das Bestehende die ihm zustehende institutionalisierte Gewalt einsetzt (Marcuse 1967c, 77). Seine Mahnung lautet deshalb: Formen der Demonstration finden …, die diese Konfrontation mit der Gewalt, in der wir in der augenblicklichen Situation unterliegen müssen, vermeiden (ebd.). Gewalt vermeidende Formen der Demonstration – das ist z. B. der Gebrauch von Tomaten und Eiern, der unter dem Gewaltaspekt analysiert und legitimiert wird. Am 9. Juni 1967 setzt sich Hans-Jürgen Krahl mit dem Vorwurf Habermas’ auseinander, man fordere mit Aktionen die manifeste Gewalt des Staates heraus. In seiner Replik stellt Krahl in Form einer rhetorischen Frage – Provozieren Tomaten im Ernst die Gewalt – eine Relation zwischen Tomaten und hoch
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ausgerüsteter Exekutivgewalt her, der er als Antwort eine weitere rhetorische Frage folgen lässt: […] oder ist das nicht vielmehr so, daß der sich überbürokratisierende Staatsapparat die Studenten zur Provokation insofern zwingt, als ihre Opposition gegenüber einer technisch hoch ausgerüsteten und entsprechend armierten Exekutivgewalt, als ihre Opposition dieser technologisch hoch ausgerüsteten Gewalt, der sie mit blanken Händen gegenüberstehen, objektiv sie auf die Verhaltensweise primitiver Völker zurückzwingt?
Mit dieser suggestiven Interpretation der von der Staatsmacht herausgeforderten Opposition, die aufgrund unterschiedlicher Kräfteverhältnisse zu archaischen Verhaltensweisen gezwungen wird, hat Krahl seine anschließende Argumentation vorbereitet, die die „Erfolge“ der Staatsmacht und die Nichtorganisiertheit der Studentenschaft in einen kausalen Zusammenhang bringt.64 Aus dieser Situationsanalyse leitet Krahl dann seine Schlussfolgerung ab: Von daher würde ich sagen, ist es notwendig, daß wir, die wir nicht bewaffnet sind mit materiellen Waffen, ritualisierte Formen … der Provokation finden, und mittels dieser ritualisierten Formen eine nicht nur idealisch, sondern materiell manifeste Gewaltlosigkeit demonstrativ auf der Straße in der Öffentlichkeit darstellen. (Krahl 1967b, 72)
Ritualisierte Formen der Provokation – Sit-In und Go-In werden als eine solche verstanden worden sein, und in dieser Auslegung von Gewaltfreiheit wird man mit Habermas übereinstimmen. Er benutzt diese Kategorie der demonstrativen Gewalt, um sie als legitime Praxis demokratischer Willensbildung herauszustellen: Die demonstrative Gewalt, welche die politische Aufklärung in unserer Situation, also in einer nichtrevolutionären Lage, allein in Anspruch nehmen darf, ist definiert durch das Ziel der Aufklärung. Durch Demonstration erzwingen wir Aufmerksamkeit für unsere Argumente, weil wir sie für die besseren halten. Wir erzwingen Diskussion dort, wo sie uns durch informellen Zwang verwehrt wird. Eine Gewalt hingegen, die verwundet, kann diesem Ziel nicht dienen. (Habermas 1967a, 146)
Setzen die vorgestellten Konzepte auf Gewaltlosigkeit? Lässt sich behaupten, dass der Gewaltdiskurs der Aktivisten in den späten 1960er Jahren auch ein Diskurs über Gewaltlosigkeit war? Wir müssen voraussetzen, dass
64 Ich würde von daher sagen, daß das blutige und brutale Dreinschlagen der losgelassenen und jederzeit gegen die Studenten mobilisierbaren staatlichen Gewaltmaschinerie nur möglich ist auf Grund einer nicht organisierten und chaotisch reagierenden Studentenschaft. (Krahl 1967b, 72)
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man es Mitte 1967 ernst meinte mit ihr. Anders wäre die Parteinahme Adornos für die studentische Bewegung und gegen Habermas’ Vorwurf des Linksfaschismus unter dem Zeichen der Gewaltlosigkeit nicht zu erklären. Die Zuschreibungen sind eindeutig.65 Zur Bestätigung lässt sich darüber hinaus ein Beitrag Rudi Dutschkes interpretieren (Dutschke 1967f). Er entwirft darin den Plan der langandauernden Kampagne, die zu dem Thema ‚Enteignet Springer!‘ veranstaltet werden soll. Diese Kampagne soll ihren Höhepunkt erreichen mit der Blockierung der Produktion bzw. Verteilung von Springerzeitungen, und Dutschke fasst sie im Kontext auch unter die Kategorien direkte Aktion (Die direkte Aktion wird sich primär auf WestBerlin und Hamburg konzentrieren) und völlig andere Form von Gewalt. Die Erklärung bezieht sich auf strukturelle Unterschiede: Während man die Diktatoren in der Dritten Welt hassen und daher einen militärischen Kampf gegen diese führen könne, seien unsere Herren66 an der Spitze völlig fungibel, jederzeit durch neue bürokratische Charaktermasken ersetzbar. Wir können sie nicht einmal hassen. Aus dieser Konstellation entwickelt Dutschke sein gleichsam tautologisches Gewaltkonzept: Unsere Gewalt gegen die unmenschliche Staatsmaschine, gegen die Manipulationsinstrumente ist die organisierte Verweigerung. Wir stellen uns mit unseren unbewaffneten Leibern, mit unserem ausgebildeten Verstand den unmenschlichsten Teilen der Maschinerie entgegen, machen die Spielregeln nicht mehr mit, greifen vielmehr bewußt und direkt in unsere eigene Geschichte ein, werden die Räder der Vorurteile, Halbwahrheiten und Mordberichte zum Stillstand bringen (Dutschke 1967f, 258).
Dutschke leistet hier Spracharbeit. Gewalt benutzt er als Autostereotyp, indem er pronominal die Zuordnung markiert: unsere Gewalt. Unsere Gewalt setzt er gleich mit organisierte Verweigerung67 und erhält die Interpretamente unbewaffnete Leiber, ausgebildeter Verstand, machen die Spielregeln
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eine Bewegung, die nicht mit Mitteln des physischen Terrors operiert und die ausdrücklich nicht auf eine elitäre oder Minderheitenherrschaft aus ist, sondern die sich zum Ziel die Aufklärung der demokratischen Majorität gemacht hat, die ist eben auch dann mit dem Faschismus nicht zu identifizieren, wenn einzelne Dinge vorkommen, die mit unseren traditionell demokratischen Spielregeln nicht ganz übereinstimmen. … Die Aktionen selbst haben ja bis jetzt nicht den Charakter der zertrampelnden physischen Gewalttätigkeit gehabt, sondern haben sich durch den eigenen Charakter qualitativ von den faschistischen Aktionen unterschieden. (Adorno 1967c, 327) 66 Unsere Herren ist eine von Dutschke häufiger verwendete Formel, die er von Marx übernommen haben wird: „Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten.“ (Marx 1844b, 379) 67 Diese Formulierung basiert auf einer Wortschöpfung Marcuses, der in ‚Der eindimen-
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7 Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits
nicht mehr mit, greifen bewußt ein, bringen die Räder zum Stillstand. Gewalt bedeutet also in dieser Auslegung tendenziell das Gegenteil, nämlich ‚Gewaltlosigkeit‘. Es ist dies natürlich das seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannte Modell des zivilen Ungehorsams (civil disobedience) des Engländers Henry Davis Thoreau, das Dutschke unter sein Konzept der Gewaltlosigkeit fasst – die Protest- und Widerstandsform des Bürgers, der der kritische Student mit dem Selbstverständnis des Revolutionärs nicht sein wollte. – Können wir, abgesehen von der Marxschen Propagierung revolutionärer Gewalt, auch darin die Begründung sehen für die schwach entwickelte Bereitschaft, Gewalt explizit und eindeutig abzulehnen? Denn es ist auffällig, wie weit man die Extension fasst, wie bedacht man darauf ist, dieses Reizwort – genauer: seine Ausdrucksseite – zu bewahren, als wolle man unter allen Umständen vermeiden, durch den Gebrauch entsprechenden Vokabulars, den Eindruck einer irenischen Haltung hervorzurufen. Friedlich etwa gehört nicht zu den herausragenden Diskursrepräsentationen und die Kontexte lassen darauf schließen, dass wir es nicht mit der Bezeichnung für eine Eigenschaft zu tun haben, der die studentischen Aktivisten den Wert einer Tugend zuschrieben.68 – Welchen Wirklichkeitsausschnitt konstituiert Dutschke als Motiv für den Widerstand? Unmenschliche Staatsmaschinerie, Manipulationsinstrumente, unmenschlichste Teile der Maschinerie – das mit diesen Kontextpartnern entwickelte Szenario veranschaulicht: Die mit Gewalt bezeichneten Sachverhalte sind vertauscht, dies nicht zuletzt übrigens – einmal mehr – mit offensichtlicher Freude an semantischer Paradoxie und Sprachspiel. Halten wir fest: Diese Konzeption des Handlungsideals der Gewaltlosigkeit und seine sprachliche Konstituierung sind schwach entwickelt, und die Kategorie der offenen Semantik meint in diesem Kontext: Es bleibt semantisch ambig, wie Formeln wie materiell-manifeste Gewaltlosigkeit oder machen die Spielregeln nicht mehr mit zu deuten sind. Wir werden jedenfalls in Bezug auf letztere feststellen, dass sie ebenso – wie auch die Kate-
sionale Mensch‘ zu der Großen Weigerung der Unterdrückten und Entrechteten aufruft. Große Weigerung versteht er als Protest gegen das, was ist (Marcuse 1967a, 83). 68 Diskussionstrauben, deren Friedlichkeit und Harmlosigkeit offenkundig war (Lefèvre 1968b, 47); die autoritäre Organisation ihrer Lehrveranstaltungen und ihr leistungsdiktatorisches Prüfungssystem [sind] es …, die uns zu friedlichen Dummköpfen ausbilden. (Basisgruppe Soziologie 1968b, 499); bestimmte studentische und außerparlamentarische Aktionen, so z. B. die sicherlich von Habermas begrüßte „machtvolle und friedliche“ Maikundgebung in Berlin (Lefèvre 1968c, 195); die lohnabhängigen und im Arbeitsprozeß stehenden Teile der Bevölkerung würden dann schneller als die Studenten lernen, daß mit friedlichen Demonstrationen allein Veränderungen nicht zu erzielen sind. (Claussen 1968, 27)
7.3 „Legitimer Druck von unten“ oder „aggressive Willenskundgabe“?
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gorie Gegengewalt – im tendenziell gewaltbejahenden Kontext eine Funktion haben kann.
7.3.2 Politische Gewalt: „Demonstrative und provokatorische Gegengewalt“ Auf die Frage des ‚Spiegel‘ nach Dutschkes Haltung zu Gewalt (Ihre Reden wurden gelegentlich … als versteckte Aufforderungen zur Anwendung von Gewalt gedeutet. Predigen Sie Gewalt?), entwickelt dieser, nachdem er Gewalt mit Mord und Totschlag gleichsetzt, auf der Grundlage der Strukturunterschiede in der Dritten und in der Ersten Welt einen politischen Gewaltbegriff: Aufruf zur Gewalt, zu Mord und Totschlag in den Metropolen hochentwickelter Industrieländer – ich denke, das wäre falsch und geradezu konterrevolutionär. Denn in den Metropolen ist im Grunde kein Mensch mehr zu hassen. Die Regierenden an der Spitze – ein Kiesinger, Strauß oder was auch immer – sind bürokratische Charaktermasken, die ich ablehne und gegen die ich kämpfe, die ich aber nicht hassen kann, wie einen Ky in Vietnam oder Duvalier in Haiti.
Der ‚Spiegel‘ schließt eine paraphrasierende Erklärung an (Diese Differenzierung – Gewalt dort, keine hier – erklärt sich für Sie ….), die Dutschke, den Interviewer unterbrechend, komplettiert (…. aus dem prinzipiellen Unterschied im Stand der geschichtlichen Auseinandersetzung) und fortführt: In der Dritten Welt: Haß der Menschen gegen die Form der direkten Unterdrükkung, repräsentiert durch Marionetten; darum Kampf gegen diese. Bei uns: Attentat auf unsere Regierungsmitglieder – das wäre absoluter Irrsinn; denn wer begreift nicht, daß bei uns heute jeglicher an der Spitze austauschbar ist. Die terroristische Gewalt gegen Menschen ist in den Metropolen nicht mehr notwendig.69
Während ein moralisierendes Gewaltkonzept Gewalt gegen Menschen grundsätzlich ausschließt, ist dieser politische Gewaltbegriff Dutschkes,
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In anderem Zusammenhang bewertet Dutschke die Zustimmung der studentischen Linken zu diesem Konzept der, wie wir es nennen können, bedingten Gewaltlosigkeit am Beispiel des Vietnamkrieges: Der Widerspruch zwischen einem abstrakten moralischen Humanismus auf der einen Seite und dem Sich-Freuen über die amerikanischen Verlustziffern in Vietnam auf der anderen Seite, brachte eine erste tiefe Diskussion über das Problem der Gewalt im revolutionären Kampf. … In der Abwehr der Gewalt durch die Studentenmehrheit lag die richtige Einsicht, daß es in den Metropolen keinen revolutionären Terror mit Waffen gegen Menschen geben könne. (Dutschke 1968b, 72)
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7 Legitimieren: Aufhebung des Praxisdefizits
wie wir sehen, von Opportunität und Situationismus gekennzeichnet. Nachdem Dutschke mit dieser Analyse den Gewaltbegriff mit einem historischen Stadium der Gesellschaftsgeschichte kontextualisiert und die positiv bewertete Lesart aus den Konditionen der Dritten Welt ableitet, die negativ bewertete aus denen der Ersten, bittet der ‚Spiegel‘ um explizite Klärung (Sie verneinen also Gewalt nicht grundsätzlich, sondern nur unter den obwaltenden Umständen?). Dutschke kommt der Bitte nach und seine Antwort ist nicht die eines unbedingten Pazifisten: Ganz sicher wird niemand behaupten können, daß es überhaupt keine Gewalt innerhalb des Prozesses der Veränderung geben wird. Damit richtet Dutschke den Redegegenstand Gewalt auf den politischen Gegner, der die Reaktion herausfordert: Gewalt ist Konstituens der Herrschaft und damit auch von unserer Seite mit demonstrativer und provokatorischer Gegengewalt zu beantworten. Hier gibt Dutschke die den politischen Widerstand der Protestbewegung bewertende Sprachregelung vor, um dann – ganz im Sinne Marx’ – die Form von Gewalt und Gegengewalt zu problematisieren: Die Form bestimmt sich durch die Form der Auseinandersetzung. In Berlin hat sich die Gewalt auf seiten der Senatsexekutive exemplarisch in der Erschießung von Benno Ohnesorg tatsächlich gezeigt. Wir können nun innerhalb dieser Auseinandersetzung nicht sagen: Greifen wir mal zu den Maschinengewehren und führen wir die letzte Schlacht. (Dutschke 1967b, 269ff)70
Das Konzept der Gegengewalt kann in dieser Interpretation keine gleichwertige Entsprechung meinen, kann nicht die Bewaffnung der politischen Auseinandersetzung bedeuten, möglich ist indes: demonstrative und provokatorische Gegengewalt – diese Überzeugung lesen wir aus Dutschkes Gewaltkonzept des Jahres 1967. Es ist dies ein offenes Konzept in der Hinsicht, dass natürlich die entscheidenden Kennzeichnungen, demonstrativ
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Ähnlich eindeutig äußert sich Dutschke in dem berühmten Gaus-Interview. Von dem Interviewer gefragt, ob er „notfalls auch mit der Waffe in der Hand“ für seine Ziele eintreten würde, antwortet Dutschke: Klare Antwort: Wäre ich in Lateinamerika, würde ich mit der Waffe in der Hand kämpfen. Ich bin nicht in Lateinamerika, ich bin in der Bundesrepublik. Wir kämpfen dafür, daß es nie dazu kommt, daß Waffen in die Hand genommen werden müssen. Aber das liegt nicht bei uns. … wenn 1969 nicht der NATO-Austritt vollzogen wird, wenn wir reinkommen in den Prozeß der internationalen Auseinandersetzung – es ist sicher, dass wir dann Waffen benutzen werden, wenn bundesrepublikanische Truppen in Vietnam oder in Bolivien oder anderswo kämpfen – dass wir dann im eigenen Land auch kämpfen werden. … Wer hat das Leid dann heraufbeschworen? Nicht wir, wir versuchen, es zu vermeiden. (Dutschke 1967a, 52) Und weiter: Diejenigen, die Leid heraufbeschwören, die Höhe der Gewalt wird bestimmt von der anderen Seite, nicht von uns. Und das ist der Ausgangspunkt unserer eigenen Einschätzung – der Rolle der Gewalt in der Geschichte (ebd.).
7.3 „Legitimer Druck von unten“ oder „aggressive Willenskundgabe“?
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und provokatorisch, unkonkret bleiben, und weil die Aussage eine kausale wenn-dann-Struktur hat: Der gewalttätige Staat ist Impulsgeber, das Aggressionsniveau der Gegengewalt hängt vom Ausmaß seiner Gewalt ab – dieses Konzept erlaubt es, den auf das eigene Handeln bezogenen Gewaltbegriff vollkommen offen und unbestimmt zu lassen.71 Ein Weiteres bestimmt die Semantik: Die Absolutheit des Konzepts der Gegengewalt – diese Aussage Dutschkes macht es überdeutlich – ist ein Konzept moralischer Legitimierung. Es wird semantisch repräsentiert durch die unbedingte Zuschreibung des schlecht bewerteten Gewaltbegriffs unbegründeter und unerlaubter Aggression, wenn der Staat als Akteur erscheint, des positiven der legitimierten herausgeforderten Gegengewalt, wenn eigenes politisches Handeln den Gegenstand der Aussage darstellt. Es ist dies das Gewaltkonzept der APO, das dann im weiteren Diskursverlauf eine Modifizierung (und mit der RAF seine schließliche Auflösung) erfährt. Der, moralisch entlastende, Topos repräsentiert dabei stets die Vorstellung des Reiz-Reaktions-Mechanismus: Eigene Gewalt ist nie initiativ, die des Gegners ist es immer, und das Konzept der strukturellen, manifesten oder latenten Gewalt des Staates stützt dieses Legitimationskonstrukt. Insofern ist man durchaus überzeugt von der potentiellen bzw. situationellen Notwendigkeit revolutionärer Gewalt, ein Argument, das die studentische Linke in Opposition zur intellektuellen Linken bringt. Die abstrakte Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie, die persönliche Kontroverse, die man vor allem mit Jürgen Habermas austrägt, ist ganz wesentlich der Streit um die Legitimität von Gewalt, die Ablehnung der Kritischen Theorie ist ganz wesentlich die Ablehnung ihrer Gewaltabstinenz als Ausdruck ihrer Praxisferne, die Kontroverse mit Habermas ist ganz wesentlich bestimmt von dessen unbedingter, jegliche andere Form als die der verbalen Auseinandersetzung ausschließender Kommunikationsethik: Solange in Frankfurts „Kritischer Theorie“ nur ideengeschichtlich Kommunikationsstrategien erarbeitet werden, in Hegelschen Elegien das ohnmächtige Individuum beschworen wird, und prinzipiell alle in der Tat Gewalt fordernde Momente emanzipatorischer Praxis von wissenschaftlicher Reflexion ausgeschlossen bleiben,
71
Norbert Frei weist einen Unterschied aus gleichsam zwischen passiver und aktiver Gewaltbereitschaft: „Auf der Suche nach politischen Bündnispartnern dreht sich letztlich alles um die Frage der Gewalt. Wo diese nicht prinzipiell verworfen wurde, setzte sich die Eskalation … fast unausweichlich fort. Daran mitzuwirken aber war am Ende nur ein kleinerer Teil von den Zehntausenden bereit, die den Protest bisher getragen hatten. In diesem Sinne geriet den Gewaltbereiten die ‚Schlacht am Tegeler Weg‘ am 4. November 1968 zu einem klassischen Pyrrhussieg.“ (Frei 2008, 149). Wir kommen am Ende dieses Kapitels auf diese ‚Schlacht‘ zurück.
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… müssen wir Frankfurts Soziologie, die bürgerlichen Wissenschaften und ihren Betrieb ablehnen. (Entwurf 1968, 517)72
Man sucht Legitimation bei dem Argument Gewalt fordernde Momente – das sind solche, die der Kampf um das Ziel verlangt, den man als emanzipatorische Praxis versteht, das sind Momente praktischen politischen Widerstands von unten. Es geht in dieser Kritik an der Kritischen Theorie um fehlende wissenschaftliche Reflexion – zunächst mit Verweis auf eine Situation, in der Gewalt unvermeidlich sein könnte (Gewalt fordernde Momente), dann mit Verweis auf Gewalterfahrung (aus gesellschaftlicher Gewalt unabweisbaren Probleme) und mit der als Warnung gemeinten Erkenntnisdarstellung: […] eine rein wissenschaftlich erarbeitete Theorie … verweigert dieser politischen Praxis durch Aktion grundsätzlich und daher tendenziell auf Dauer die Chance wissenschaftlicher Reflexion, zwingt sie [ihre Studenten] dadurch in das Ghetto propagandistisch-manipulativer, willkürlich aktionistischer Gegengewalt (ebd. 516f.).
Das oben als Aufhebung des Praxisdefizits dargestellte Diskurssegment, das die studentische Linke zugunsten des praktischen Handelns ausführte, wie wir gesehen haben, erfährt hier eine explizite Pointierung: Es sind nicht die Studenten die Verantwortlichen ihres Tuns, sondern es ist die Praxisabstinenz der reinen Wissenschaft, die sie zu Handlungen zwingt, die sie ausführen.
7.3.3 Manifeste Gewalt: „Propaganda der Tat“ Gewalt ist durchaus auch ein Autostereotyp, eine Selbstzuschreibung – vorzugsweise nicht nur in der Zusammensetzung Gegengewalt, sondern auch mit dem typischen, Verantwortung und selbstbestimmtes Tun abwehrenden Kontextpartner gezwungen werden.73 Denn Ursache und Wirkung sind zu
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Der Autor unterschlägt, dass die von ihm mit Imponiergehabe formulierte Ablehnung der Frankfurter Schule enge Grenzen hat. Im Diskurs erweist sich natürlich, wie wir gesehen haben, auf vielfältige Weise der enge Bezug zu den Werken der Frankfurter Schule, die Referenzwerke sind. Nach 1961 wurden die Studenten durch die von der Großindustrie angestrebte „Hochschulreform“ zum offenen Widerstand gezwungen. (Rabehl 1968b, 38); die Studenten … wurden gezwungen, sich innerhalb der Universität gegen die Maßnahmen der Universität [zu] wehren. (Bergmann 1968c, 22); Der Staat und seine Versuche, die Gesellschaft zu kasernieren, zwingen die außerparlamentarische Opposition in den Widerstand. Für diese Phase hat sie bislang nur „die Waffe der Kritik“, aber nicht „die
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repräsentieren, die Überzeugung, dass man mit entsprechenden Aktionen reagiert auf einen von Grund auf gewalttätigen – weil bzw. daher faschistischen, mindestens aber autoritären – Staat: In Termini des klassischen Marxismus – Die Konterrevolution erzeugt die Gegengewalt der aufständischen Klassen (Rabehl 1967) – ist dieses Konzept von Gegengewalt im Sinn reaktiver Gewalt das allgemein akzeptierte, wenn es darum geht, die Semantik in Bezug auf eigenes Handeln zu meliorieren. Dann bilden in binärer Weise offene Gewalt (des Staats) und ganze Gewalt (der Justiz) einen Gegensatz zu offen bekämpfen, dann sind die ungleichen Akteure der mächtige kapitalistische Staat, der organisierte Polizeiapparat, militärische und paramilitärische Organisationen, die gegen Arbeiter, Schüler und Studenten stehen.74 Wenn der tabubrechende Gewaltdiskurs einen datierbaren Beginn hat, dann ist dies der 5. September 1967. In dem so genannten Organisationsreferat, das Rudi Dutschke gemeinsam mit Hans-Jürgen Krahl verfasst hatte und das Dutschke an diesem Tag in der Frankfurter Mensa vorträgt, rufen die Autoren zur Propaganda der Tat auf, eine Parallelbildung zu der Formel Propaganda der Schüsse, die Che Guevara geprägt hat und mit der er sich auf die Befreiungskämpfe der Dritten Welt bezieht. Man stellt zunächst die Begegnungen mit der Polizei (staatliche Exekutivgewalt) als den Kampf befördernde Ereignisse dar – wobei die Formulierungen sinnliche Erfahrung und sinnliche Gewißheit wenig Zweifel lassen daran, dass hier nicht ein gewaltloses Rencontre gemeint ist: Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt bilden die mobi-
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Kritik der Waffen“ ausgebildet. (Krahl 1968a, 244); ist das nicht vielmehr so, daß der sich überbürokratisierende Staatsapparat die Studenten zur Provokation insofern zwingt, als ihre Opposition gegenüber einer technisch hoch ausgerüsteten und entsprechend armierten Exekutivgewalt, als ihre Opposition dieser technologisch hoch ausgerüsteten Gewalt, der sie mit blanken Händen gegenüberstehen, objektiv sie auf die Verhaltensweise primitiver Völker zurückzwingt? (Krahl 1967b, 72); „Kritische Theorie“, die solche Aufarbeitung von Praxis institutionell verweigert, verweigert grundsätzlich – und damit tendenziell auf Dauer – politischer kollektiver Praxis die Chance wissenschaftlicher Reflexion und zwingt ihre Studenten in das Ghetto propagandistisch-manipulativer, willkürlich aktionistischer Gegengewalt. (Streikkomitee Spartakus-Seminar 1968, 525) Wann greift dieser Staat zur offenen Gewalt? Wenn er in seiner Grundlage erschüttert wird. […] Wir alle haben erfahren, daß wir genau in dem Augenblick mit der ganzen Gewalt, die der Justiz im organisierten Polizeiapparat und dem kapitalistischen Staat insgesamt in den militärischen und paramilitärischen Organisationen bis hinunter zum Werkschutz in den Fabriken zu Gebote steht, gegen die Massenbewegung der sozialistischen Arbeiter, Schüler und Studenten rechnen müssen, wenn wir die Agenturen des kapitalistischen Staats an ihren empfi ndlichen Stellen treffen, wenn wir sie offen zu bekämpfen beginnen. (SDS 1968a, 115f.)
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lisierenden Faktoren in der Verbreiterung der radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell einen Bewußtseinsprozeß für agierende Minderheiten innerhalb der passiven und leidenden Massen, denen durch sichtbar irreguläre Aktionen die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewißheit werden kann. (Dutschke / Krahl 1967, 290)
Es schließt sich ein Szenario an, das dem Traum der deutschen studentischen Aktivisten von 1967 / 68 entspricht: Teil zu sein einer weltweit agierenden internationalen Widerstandsbewegung, um mit Che Guevara und Fidel Castro gemeinsam den Kampf der Gerechtigkeit zu kämpfen. So ist zu verstehen, dass die Autoren die Handlungsbezeichnungen Propaganda der Schüsse und Propaganda der Tat, sowie die Toponyme in der „Dritten Welt“ und in den Metropolen parallelisieren, um dieser Gemeinschaftsidee eine ausdrucksseitige Entsprechung zu verschaffen: Die „Propaganda der Schüsse“ (Che) in der „Dritten Welt“ muß durch die „Propaganda der Tat“ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen. (Dutschke / Krahl 1967, 290) Von besonderem sprachgeschichtlichem Interesse und als Element der semantischen Struktur des studentischen Gewaltkonzepts evident ist die erstmals belegte Kategorie städtischer Guerillero, die dann in der komponierten Form Stadtguerilla in die Gewaltgeschichte der Bundesrepublik eingegangen ist. War von diesem Text die 1971 verfasste Programmschrift Ulrike Meinhofs „Das Konzept der Stadtguerilla“ beeinflusst? Stadtguerilla wurde zwar zu einer Identifikationsbezeichnung der militanten linken Gruppierungen, die sich bekanntlich in den siebziger Jahren als „Gruppe 2. Juni“ und „Rote-Armee-Fraktion“ konstituierten, ob jedoch über das Organisationsreferat eine legitime Verbindung zwischen APO und RAF zu ziehen ist, wird auch bezweifelt. Wolfgang Kraushaar etwa korrigiert die Kolportage: Es „wäre … verfehlt, hier im nachhinein von einer intellektuellen Vorwegnahme der Roten Armee Fraktion (RAF) zu sprechen“. Dies wäre „in einem konkret historischen Sinne falsch“ sowohl wie wegen einer „unübersehbar qualitative[n] Differenz“ (Kraushaar 1987, 23). Dennoch: Die „destruktiv-materiale Bedeutung“ des Stadtguerillakonzepts „lässt sich keineswegs hinwegdisputieren“ (ebd. 24). Während die Landguerilla es mit offensichtlicher Unterdrückung, mit Elend und Terror zu tun habe und sie daher von bewusstseinsbildenden Aktionen entlastet sei, sei genau dies die Funktion der Stadtguerilla. Sie habe die „bewußtseinskonstituierende[…] Rolle der provokativen, die Hermetik des Manipulationssystems durchbrechenden Tat“ inne (ebd. 23). Als „ideelle[n] Begründer der Stadtguerilla in Deutschland“ weist Kraushaar (2007) Dutschke aus, und zwar nicht erst 1968. „Der Begriff ‚Stadtguerilla‘“ sei bereits in Notizen Dutschkes aus dem Februar 1966, die man im Nachlass gefunden habe, dargelegt.
Haben wir es hier noch mit offener Semantik zu tun? Natürlich nicht: Die Parallelisierung, die einen Gegensatz zwischen Schüsse und Tat suggerieren soll, und damit zwischen Gewalttätigkeit und Gewaltlosigkeit, ist vielmehr
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eine Legitimationshandlung, denn der entscheidende Ausdruck ist vervollständigen. Insofern ist diese obskure Proposition mit Gewalt bezeichnenden Ausdrücken instrumentiert: Mit irreguläre Aktionen, Irregularität und Destruktion des Systems der repressiven Institutionen referieren die Autoren auf widerständisches Handeln, das mit Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit eine ebenso dunkle wie abwegige Verdichtung erfährt – Camouflage durch extensiven Gebrauch exklusiver Fremdwörter heißt hier das Prinzip einer Semantik, die nicht mehr offen ist, Gewalt gerät zu einem Element des Widerstands, das nicht mehr verneint wird – verbal realisierter Pazifismus Dutschkes, den er unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus äußert, hin oder her. Ein solcher Pazifismus müsste sich in derartigen zur politischen Tat aufrufenden Texten anders ausdrücken, nämlich z. B. durch eine Parole wie keine Gewalt!. Eine solche Parole fehlt. Insofern kommt dieser Text „einer Legitimation potentiell terroristischer Gewalt“ nicht nur „bedenklich nahe“ (Klimke 2007, 130), sondern überschreitet die Grenze. Der weitere Diskursverlauf dokumentiert diese Aggressivierung – und damit die Vereindeutigung und daher Reduzierung der Begriffselemente von Gewalt: Sicher ist …, daß es nicht im Bereich unserer politischen Möglichkeiten liegt, dieses sozialpsychologisch vorhandene Potential vor seinem kollektiven Aufbrechen etwa dadurch zu bewahren, daß wir selbst zu den sog. nichtradikalen und zu den sog. gewaltlosen Methoden und Aktionen zurückkehren. Der Weg, den wir bis jetzt erfolgreich eingeschlagen haben, beinhaltet in sich die Gefahr eines von oben einberufenen faschistischen Konter-Engagements gegen uns. (Reiche 1968a, 31)
Reimut Reiche ruft zu Gewalt auf – anders ist diese Aussage nicht zu verstehen. Das von ihm zitierte sozialpsychologisch vorhandene Potential ist dasjenige, das den Nationalsozialismus und seine Verbrechen möglich gemacht hatte und das auch zwanzig Jahre nach dessen Ende noch das Denken der Deutschen bestimmt. Entscheidend hinsichtlich der Frage des Gewaltkonzepts ist das Verb zurückkehren: Hiermit ist der Wandel ausgedrückt, der die Haltung zur Gewalt kennzeichnet, die einstige Gewaltlosigkeit erscheint im Kontext eines solchen teleologischen Konzepts als Rückschritt, der Weg hat ein Ziel, die Erreichung dieses Ziels erfordert Gewalt – das ist Reimut Reiches Botschaft. Horkheimer interpretiert in solcher Logik Gewalt als Sinnsuche: Hinter dem Haß und der Gewalttätigkeit steckt offenbar auch die Sehnsucht nach dem sinnvollen Leben (Horkheimer 1968b, 488), während Löwenthal die zunehmende Gewaltbereitschaft der studentischen Linken aus der marxistischen Tradition herausnimmt und in die anarchisti-
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sche Tradition Bakunins hineinstellt.75 Sein Fazit nimmt dem Gewaltbegriff dann endgültig jegliche Legitimationsgrundlage, die in der Nähe von Anarchie und Faschismus begründet sei: Doch Bakunins Panslawismus, sein Rassenhaß auf Deutsche und Juden und seine unversöhnliche Feindschaft gegen allen Liberalismus … bilden ein Bindeglied zu anderen anti-modernen Gewaltideologien, die nicht auf egalitäre Anarchie, sondern auf die Diktatur einer Elite im Namen des Nationalismus gerichtet sind. (Löwenthal 1970, 70)
Die Auseinandersetzung um Gewalt als legitimes Mittel des politischen Kampfes findet auf der Folie einer Legitimität schaffenden bzw. Legitimität absprechenden Interpretation statt: Wann ist Gewalt revolutionär und also legitim? Auch diese Kontroverse trägt man mit Jürgen Habermas aus, der sich auf die Instanz Rosa Luxemburg beruft: Gewalt kann legitim nur in dem Maße gewollt und emanzipatorisch wirksam werden, in dem sie durch die drückende Gewalt einer als unerträglich allgemein ins Bewusstsein tretenden Situation erzwungen wird. Nur diese Gewalt ist revolutionär; die das ignorieren, tragen das Bild Rosa Luxemburgs zu Unrecht über ihren Häuptern. (Habermas 1968e, 444)
Es ist dies die sogenannte revolutionäre Situation, die also Gewalt legitimiere.76 Befindet man sich Ende der sechziger Jahre in einer solchen revo-
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[…] der Zusammenbruch der historisch-rationalistischen Konstruktionen, durch die Marx den revolutionären Endkampf um die Utopie „vermittelt“ hatte, und die dadurch bedingte Rückkehr zur Unmittelbarkeit der Utopie und der Gewalt [verknüpft] die gegenwärtige „Neue Linke“ mit einer älteren revolutionären Tradition – einer Tradition, die im Gegensatz zu Marx dem romantischen Widerstand gegen das Vordringen der mechanisierten Industrie und die Zerstörung „natürlicher“ Gemeinschaften durch den Prozeß der Modernisierung direkten Ausdruck gab und die Werte des „lebendigen Lebens“, des Gemeinschaftsgefühls und der spontanen, gewaltsamen Aktion der „rechenhaften“ Vernunft entgegenstellte. … sein Glaube, daß die Häufung unkoordinierter, spontaner örtlicher Gewaltakte sowohl das zaristische Regime wie auch das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu Fall bringen könnte (der freilich mit Phantasien einer superzentralistischen Geheimorganisation abwechselte, die nie in die Praxis umgesetzt wurden); und seine Neigung, den entwurzelten Bauern (den „Räuber“ oder „Briganten“) als den wahren Revolutionär zu betrachten und auf die rückständigen Länder am Ost- und Südrande Europas – Rußland, Spanien, Süditalien – für den letzten revolutionären Ansturm auf den bereits von Kapitalismus und Bürokratie korrumpierten modernen Kern des Kontinents zu setzen. (Löwenthal 1970, 68–70) Dieser marxistischen Vorstellung ist auch Adorno verbunden. Im Zusammenhang mit seiner Definition von Barbarei – Mein Verdacht ist, daß Barbarei überall dort vorliegt, wo ein Rückfall in primitive physische Gewalt stattfi ndet, ohne daß er in einer durchsichtigen Beziehung zu vernünftigen Zwecken der Gesellschaft steht, wo also die Identifikation mit dem Ausbruch physischer Gewalt gegeben ist – konzediert er, über die Gleichsetzung von Barbarei und Gewalt, das Nichtvorhandensein von Barbarei dort, wo sich Gewalt und Humanismus treffen: Während Gewalt dort, wo sie in einem trans-
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lutionären Situation? Nachdenken über Zeit, das stets dynamische gesellschaftliche Prozesse begleitet, bedeutet Ende der 1960er Jahre das pointierte Hervorheben der Gegenwart. Die Einstellung zur eigenen Gegenwart, die Zuordnung von Geschehen in ein Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft, oder seine Bewertung als Ende von Vergangenheit bzw. Beginn von Zukunft ist stets eine Voraussetzung für die Konstituierung von Diskursthemen, so auch Ende der 1960er Jahre. Für die studentische Linke war die „Zeitemphatik Benjamins“, ausformuliert in seinem Essay „Der Sürrealismus“ in diesem Sinn einflussreich. Zu folgen ist hier der Darstellung Karl-Heinz Bohrers: „Witterung für das Aktuelle“, „sich von der ‚Jetztzeit‘ erfüllt“ fühlen, war die Botschaft. „Es komme nicht auf die absehbare Analyse der vom Fortschritt perspektivierten Zukunft, sondern auf die Wahrnehmung des ‚Jetzt‘ an, dessen revolutionäre Möglichkeit es zu erfassen gelte“ (Bohrer 1997, 392). Dieses Gegenwartskonzept der „revolutionären Möglichkeit“ indes ist kennzeichnend für den Diskurs der studentischen Linken. Die zeitreflexive Überzeugung der intellektuellen Linken dagegen war im Gegenteil geprägt von der Vorstellung, dass die Gegenwart gerade nicht einer revolutionären Situation entspreche – Habermas trägt auch diesbezüglich einen Disput mit den Akteuren aus, er verneint die Frage natürlich, Gewaltanwendung in der gegenwärtigen Situation sei kein vertretbares Mittel des politischen Kampfes. Denn: Eine revolutionäre Situation, die von der Masse der Bevölkerung als unerträglich empfunden wird, erzeugt Gewalt und reaktiv auch Gegengewalt. Dagegen in einer Lage, […] die nicht revolutionär ist und deren Unerträglichkeit keineswegs allgemein ins Bewußtsein getreten ist, kann die gleiche Strategie nicht nach denselben Maßstäben beurteilt werden. In diesem Falle müssen sich die handelnden Subjekte, gleichviel, ob sie politisch zu handeln glauben, inhumane Folgen ihres Handelns moralisch zurechnen lassen. (Habermas 1968f, 151f.)
Einzig legitim sei daher in der gegenwärtigen Situation die demonstrative Gewalt, mit dem Ziel der politische[n] Aufklärung, in der Form der Diskussion. Dieser Form demonstrativer Gewalt – sie heißt so, weil auch sie mit Zwang zu tun hat, denn durch Demonstration erzwingen wir Aufmerksamkeit für unsere Argumente, weil wir sie für die besseren halten – steht gegenüber eine Gewalt …, die verwundet. Sie kann diesem Ziel nicht dienen.
parenten Zusammenhang zu der Herbeiführung menschenwürdigerer Zustände auch in ganz eingeengten Situationen führt, nicht ohne weiteres als Barbarei verurteilt werden kann. (Adorno 1968b, 124)
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(Habermas 1967a, 146) Das also ist die revolutionäre Gewalt rechtfertigende und für die Gegengewalt der späten 1960er Jahre nicht in Frage kommende Legitimationsgrundlage – sie wird von der studentischen Linken im Prinzip, da sie das revolutionäre Konzept Karl Marx’ rekapituliert, akzeptiert. Nicht akzeptiert wird allerdings die von Habermas gezogene Konsequenz der Beschränkung: Organisierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz, nicht „organisierte Abwiegler“ á la H. – diese Überzeugung formuliert Rudi Dutschke nach seiner Rückkehr vom Kongress in Hannover und also, nachdem sein Aktionskonzept von Habermas mit dem Prädikat linker Faschismus versehen wurde.77 Dieses Konzept, das Gewaltbereitschaft eher ausdrückt als Ablehnung von Gewalt, lässt sich indessen ebenfalls, wie das Konzept der reaktiven Gewalt, mit dem von Dutschke geprägten Euphemismus Durchbrechung der Spielregeln verdichten. Es ist der Kontext, der diese Lesart erschließt (s. u.). Jedoch: Diese Strategie, und damit der Begriff der Gegengewalt erfährt Kritik. Gewalt und Gegengewalt ausschließlich als Folge von Gewaltmanifestationen des Staates legitimieren, bedeutet Abhängigkeit, der in organisierter Form zu begegnen ist. Reaktive Praxis ist die Bezeichnungsalternative Dreßens, deren Botschaft in dem nichtausgedrückten aktive Praxis im Sinn von ‚aktive Gewalt‘, deren Botschaft also im impliziten Gewaltaufruf liegt: Eine Avantgarde, die sich auf direkte Aktionen beschränkt, mag anfangs fähig sein, die latente Gewalt des autoritären Staates zu entlarven. Wenn sich für sie allerdings die einzige organisatorische Autorität aus der direkten Macht des Gegners ergibt, bleibt ihre Praxis reaktiv. (Dreßen 1968)
Zweifellos argumentiert der Autor für ein autonomes Handlungskonzept (direkte Aktion, Praxis), das aktiv, nicht reaktiv sein soll. Damit stellt er das Konzept der Gegengewalt in Frage und leistet einen Beitrag zur Radikalisierung des Gewaltbegriffs – so implizit in Form der Camouflage, wie Dutschke mit seiner Legitimationsformel Durchbrechung der Spielregeln zur Aktion aufruft.78 Der Handlungsbereich der studentischen Linken heißt
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Der Eintrag lautet: hörte die Habermas-Anklage auf Band. Der Vorwurf reduzierte sich darauf, daß ich, der ich durch Aktionen die sublime Gewalt zwinge, manifest zu werden, bewußt Studenten „verheizen“ wolle [...] H[abermas] will nicht begreifen, daß allein sorgfältige Aktionen Tote sowohl für die Gegenwart als auch noch mehr für die Zukunft vermeiden können. Organisierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz, nicht „organisierte Abwiegler“ á la H. (Dutschke 1967i, 44f.) Die Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kapitalistischen Ordnung führt nur dann zur manifesten Entlarvung des Systems als , wenn wir zentrale Nervenpunkte des Systems in mannigfaltiger Form (von gewaltlosen offenen Demonstrationen bis zu konspirativen Aktionsformen) angreifen – so zum Beispiel
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Durchbrechung der Spielregeln, Entlarvung des Systems, Nervenpunkte in mannigfacher Form angreifen. Der Zielbereich heißt herrschende kapitalistische Ordnung, Diktatur der Gewalt, Nervenpunkte des Systems (mit Abgeordnetenhaus etc.). Die Form der Handlung? In mannigfacher Form – Dutschke entfaltet ein Spektrum, das reicht von gewaltlose offene Demonstrationen bis konspirative Aktionsformen. Insofern das Epitheton gewaltlos ausdrücklich Kontextpartner von Demonstrationen und insofern konspirative Aktionsformen also nicht durch dieses Epitheton gekennzeichnet wird, können wir annehmen – nicht unbedingt, dass diese durch Gewalttätigkeit gekennzeichnet, wohl aber, dass Gewalt auch nicht ausgeschlossen wird, ja als Akt politischen Widerstands erwünscht ist. Das Prinzip Gewalt gegen Sachen soll hier, mit der Aufzählung der Nervenpunkte des Systems, als Handlungskonzept suggeriert werden. Solche Affinität zu Gewalt dokumentiert auch Detlev Claussen, indem er Gewaltfreiheit und vorpolitische Illusion gleichsetzt.79 Und wenn der SDS eine tabuierte Gewaltdiskussion denunziert und seine Haltung mit der abwertenden Formulierung diffus-liberal dem Schein parlamentarisch gesicherten rechtsstaatlichen Interessenausgleichs nachtrauerte ausdrückt80, dann macht auch dieser Autor deutlich: Die Einstellung zu Gewalt hat sich im Vergleich mit der im Jahr 1967 deutlich wahrnehmbar verändert i.S.v. radikalisiert. Das Gewaltkonzept zur Bezeichnung einer Handlungsoption ist nicht mehr negativ konnotiert, sondern im Gegenteil mit einer affirmativen Bedeutungskomponente versehen. Man kann jetzt Gewalt als reguläres Instrument widerständischen politischen Handelns konstatieren: Die Kritik der Studenten an der BILD-Zeitung, die nach dem 2. Juni massiv einsetzte
das Abgeordnetenhaus, Steuerämter, Gerichtsgebäude, Manipulationszentren wie Springer-Hochhaus oder SFB, Amerika-Haus, Botschaften der Marionettenregierungen, Armeezentren, Polizeistationen etc.! (Dutschke 1968b, 84) 79 Da die organisationsbedürftigen Interessen der Studenten einerseits gegen die feudale Ordinarienstruktur, andererseits gegen die heteronomen Ansprüche von Staat und Kapital zu wenden sind, mußte die Studentenbewegung, als durch die verschärfte Repression die individuelle Einheit moralischen Protests und demokratischen, an Gewaltfreiheit orientierten Bewußtseins mehr und mehr sich als vorpolitische Illusion der Akteure der Protestbewegung herausstellte, in verschiedene Fraktionen zerfallen. (Claussen 1969, 7f.) 80 Die Beschreibung der qualitativ neuen Möglichkeiten nach der Ausweitung der Osteraktionen auf junge Arbeiter und Angestellte war noch nicht geleistet. In nicht reflektierter Furcht vor der eigenen Praxis wurde die Offensivstrategie von Ostern in der tabuierten Gewaltdiskussion teilweise wieder zurückgenommen. Mit dem 11. Mai ist eine Form der Opposition zuende gegangen, die bis zuletzt nicht genügend an den Widerstandsaufgaben orientiert war, sondern auch diffus-liberal dem Schein parlamentarisch gesicherten rechtsstaatlichen Interessenausgleichs nachtrauerte. (SDS 1968h, 74)
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[wurde] in den Osteraktionen gegen die Springerhäuser zur materiellen Gewalt (Untergang der Bildzeitung 1968, 114). Damit referiert der Autor auf die Situation, die nach dem Attentat auf Dutschke jegliche friedfertiggewaltlose Ansprüche aufgibt. Nach dem 11. April 1968 ist der Moment der Verabschiedung etwaiger gewaltfreier Ambitionen erreicht – die Sprache des Krieges hält gründlich Einzug in den Diskurs der studentischen Akteure, man gibt jegliche Scheu, mit der man 1967 den Gewaltdiskurs führte, auf: Die Osteroffensive auf Springer brachte für Frankfurt die Verbreiterung in die Jungarbeiterschaft. In den Schlachten vor der Societätsdruckerei und im Gallusviertel begann sich für die Studenten die Notwendigkeit des Übergangs vom Protest zum Widerstand, von der Gewaltlosigkeit zur Gegengewalt sehr viel praktischer zu zeigen als bei den monatelangen vorangegangenen Diskussionen in der Universität, ohne die allerdings die Praxis der organisierten Gegenaktionen gar nicht möglich gewesen wäre. Die Vermittlung zu den Jungarbeitern gelang in den Straßenschlachten relativ schnell, denn Arbeiter protestieren nicht – sie kämpfen. (Claussen 1968, 8)
Von der Gewaltlosigkeit zur Gegengewalt – man hat inzwischen das Stadium des Bekenntnisses erreicht: Wenn in diesem Kontext Gewaltlosigkeit das eine Ende, Gegengewalt das andere einer imaginierten Skala bezeichnet ist klar: Gegengewalt ist Antonym von Gewaltlosigkeit und bezeichnet also Aggression. Diese ist auch repräsentiert in der Bezeichnungsalternative Widerstand. Vom Protest zum Widerstand – in der Formulierung mindestens ist man Ulrike Meinhof verpflichtet – in der Parallelisierung von protestieren und kämpfen drückt sich die Gewaltaffinität in neidvoller Bezugnahme auf den revolutionären Wunschpartner Arbeiter aus. Am 11. April 1968 erscheint in der ‚konkret‘ Meinhofs berühmter Beitrag zum Gewaltdiskurs, den sie unter dem Eindruck der Demonstrationen schreibt, die auf das Attentat auf Rudi Dutschke folgten. Sie kommentiert zunächst den Widerstand der Studenten, indem sie Handlungen listet: Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Springerhochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen, Autos haben gebrannt, Wasserwerfer sind besetzt worden, eine BILD-Redaktion ist demoliert worden, Reifen sind zerstochen worden, der Verkehr ist stillgelegt worden, Bauwagen wurden umgeworfen, Polizeiketten durchbrochen. (Meinhof 1968a)
Diese fasst Meinhof dann mit der Handlungsbezeichnung Gewalt zusammen: physische Gewalt wurde angewendet. Auf die dann folgende Feststellung Machtverhältnisse sind nicht verändert worden schließt sie die Frage an: War das alles deshalb sinnlose, ausufernde, terroristische, unpolitische, ohnmächtige Gewalt? Diese Frage lässt sie zunächst unbeantwortet. Statt-
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dessen benutzt sie den Widerspruch-Topos, den sie bezieht auf opponente Wirklichkeitsausschnitte: Steinwürfe und Brandstiftung vs Hetze des Hauses Springer, Bomben auf Vietnam vs Terror in Persien und Folter in Südafrika, Enteignung Springers vs Große Koalition, die Wahrheit über BILD und BZ verbreiten vs Halbwahrheiten über die Studenten verbreiten.81 Diese abstrakte Feststellung personalisiert sie dann, dasselbe rhetorische Muster des Antagonismus benutzend: Johnson, der Martin Luther King zum Nationalhelden erklärt, Kiesinger, der den Mordversuch an Dutschke telegrafisch bedauert – sie sind die Repräsentanten der Gewalt, gegen die King wie Dutschke angetreten sind, der Gewalt des Systems, das Springer hervorgebracht hat und den Vietnam-Krieg. (Meinhof 1968a)
Es folgt eine weitere rhetorische Konfrontation. Die Autorin stellt gegenüber Leute, die als verbale Protestler und Oppositionelle reden, aber nicht handeln, deren eigene Phrasen persiflierend zitierend (die Terror und Gewalt nicht nur verurteilen und heimlich dagegen sind und auch mal was riskieren und den Mund nicht halten können und sich nicht bange machen lassen) denjenigen, die handelnd Wirkung erzielt haben (die bereit und fähig sind, Widerstand zu leisten, so daß begriffen werden kann, daß es so nicht weiter geht). Das ist eine implizite Bewertung, deren explizite Proposition lautet: Diejenigen, die Wirkung erzielt haben, sind diejenigen, die nicht nur geredet haben. Außerdem: Der Parallelismus setzt Terror und Gewalt und Widerstand leisten ebenso implizit wie eindeutig in eine synonymische Bedeutungsbeziehung. Indem die Autorin aber nicht die Handlungsbezeichnung Terror und Gewalt, sondern Widerstand leisten positiv bewertet, schützt sie sich vor dem Vorwurf des Gewaltaufrufs. Meinhof hütet sich vor dem expliziten Ausdruck von Affinität zu Gewalttätigkeit. Stattdessen bleibt sie im Unausgesprochenen und Vagen.82 Aber sie evoziert Fragen: andere Mittel – welche? nicht nur Demonstrationen – was außerdem? die versagt haben – welche versagen nicht? Fesseln von Sitte &
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Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika, diejenigen, die die Enteignung Springers tatsächlich betreiben könnten, stattdessen Große Koalition machen, die in den Massenmedien die Wahrheit über BILD und BZ verbreiten könnten, stattdessen Halbwahrheiten über die Studenten verbreiten, deren Engagement für Gewaltlosigkeit ist heuchlerisch, sie messen mit zweierlei Maß. (Meinhof 1968a) Nun, nachdem gezeigt worden ist, daß andere Mittel als nur Demonstrationen, Springer-Hearing, Protestveranstaltungen zur Verfügung stehen, andere als die, die versagt haben, weil sie den Anschlag auf Rudi Dutschke nicht verhindern konnten, nun, da die Fesseln von Sitte & Anstand gesprengt worden sind. (Meinhof 1968a)
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Anstand gesprengt – inwiefern? Gegen Ende des Beitrags fordert die Autorin dann zu einer Überprüfung des Gewaltbegriffs auf (nun … kann und muß neu und von vorne über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden), bewertet die in diesen Ostertagen praktiziert[e Gegengewalt] als nicht geeignet, Sympathien zu wecken, nicht, erschrockene Liberale auf die Seite der Außerparlamentarischen Opposition zu ziehen – was sie, das ist aus ihrer Aussage abzuleiten, als einen erfreulichen Befund bewertet, und entwirft dann das Szenario der zu Gewalt mutierenden Gegengewalt.83 Redet hier die Pazifistin Ulrike Meinhof, die vor den Folgen von Gegengewalt warnt? Nein, denn ihre Bewertungen, die sie durch die Gegenüberstellung von antagonistischen Kategorien vollzieht, sind so implizit wie eindeutig. Der Text endet mit einer Warnung: Das Establishment aber, die „Herren an der Spitze“ – um mit Rudi zu reden –, in den Parteien, Regierungen und Verbänden haben zu begreifen, dass es nur ein Mittel gibt, „Ruhe & Ordnung“ dauerhaft herzustellen: Die Enteignung Springers. Der Spaß hat aufgehört. (Meinhof 1968a)
Der Spaß hat aufgehört – die Autorin sucht ihrem Text Wirkung zu verschaffen mit der Phrase, die sich zwar im Kontext auf Enteignung Springers bezieht – insofern ist sie zu lesen als der Enteignungsforderung lediglich Nachdruck verleihende Formel. Sie hat aber auch ein Evokationspotenzial, das über diese schlichte Emphatisierung weit hinausgeht: Der Spaß hat aufgehört – diese Phrase ist Warnung. Den endgültigen Schluss des Beitrags bildet dann das Eingangsmotto, das die Autorin wiederholt – sie hat es auf der Berliner Vietnam-Konferenz im Februar 1968 „so ähnlich … von einem Schwarzen der Black-Power-Bewegung“ gehört: Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht (ebd.). Die Botschaft Meinhofs ist nunmehr eindeutig: Gewalt bedeutet die Überschreitung der Grenze, die zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand verläuft, Gewalt also entspricht hier einem Konzept physischen Widerstands und legitimen Ausdrucks politischen Protests. Verschlüsselung, Euphemisierung und Implizitheit sind keine sprachlichen Strategien mehr, mit denen man Gewaltaffirmationen unsichtbar zu machen sucht. Stattdessen: offene Zustimmung zu Aggression, explizite Ablehnung von Diskussion und nicht-körperlicher Auseinandersetzung.
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[…] wo die Brutalität der Polizei das Gesetz des Handelns bestimmt, wo ohnmächtige Wut überlegene Rationalität ablöst, wo der paramilitärische Einsatz der Polizei mit paramilitärischen Mitteln beantwortet wird. (Meinhof 1968a)
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Endgültig dann seit der sogenannten ‚Schlacht am Tegeler Weg‘ am 4. November 1968, bei der 130 Polizisten z. T. schwer verletzt wurden und man den Ausgang als Sieg über die Polizei gefeiert hat, […] wurde von Teilen der APO die Gewaltanwendung gegen Sachen und Menschen planmäßig als Mittel revolutionärer Veränderungsstrategie eingesetzt und schließlich bis zum „bewaffneten Kampf“ gesteigert. Die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der APO in der „Gewaltfrage“ wurden dadurch bis zur unüberbrückbaren Spaltung vertieft (Otto 1989, 386).
Habermas nennt diese Tegeler Steinwurfdemonstration den Beginn einer neuen Phase. Seither habe sich die Gewaltrhetorik der Ostertage in eine Taktik des begrenzten Vandalismus umgesetzt, eine Verzweiflungstaktik, mit der die aktionistischen Gruppen einen immer drückender werdenden Legitimationszwang abgeschüttelt hätten. Habermas’ empörtes Fazit lautet: Nun bedarf die einzelne Aktion einer bestimmten Rechtfertigung unterhalb der Ebene von Globaldenunziationen überhaupt nicht mehr. (Habermas 1969b, 10) Diese Zäsur, die Habermas mit dieser Demonstration als Beginn nicht legitimierter Gewalttätigkeit setzt, setzen die Akteure auch selbst. Repräsentativ – und als zentrales Diskurselement daher gar nicht zu überschätzen – ist die Diskussion, die am 6. Dezember im Republikanischen Club in Berlin stattfand und an der u. a. Knut Nevermann, die Brüder Kadritzke und Johannes Agnoli teilnahmen. Die Diskutanten reden von Aktion am Tegeler Weg, von Aktion vom Tegeler Weg, von Aktion vor dem Landgericht, von Tegeler-Weg-Aktion, von Landgerichtsaktion und problematisieren unter diesem Zeichen den Sachverhalt ‚Gewalt‘. Was ist das Gewalt repräsentierende Moment dieser Demonstration, inwiefern hat man mit ihr eine neue Phase der Militanz erreicht? Es ist die Tatsache, dass Steine, statt die ursprünglich geplanten Farbeier flogen. Es sei die Eigendynamik, die die Demonstration in ihrem Verlauf erhalten habe (in der Tat ist das Werfen von Steinen nur zu erklären aus dem Verlauf der Aktion selbst) und die zu dieser Eskalation führte: mit dem gewaltsamen Widerstand [ist] eine neue Qualität erreicht worden. Diese Situationsanalyse hebt man ins Grundsätzliche, sucht die Legitimation theoriebeflissen mit der Marxschen Kategorie emanzipatorischer Gewalt84, problematisiert den Mechanismus höheren Gegendrucks bei gesteigertem Druck85, um schließlich mit dem Argument Tabu-
84 […] wir [müßten] schon darüber diskutieren …, ob nicht in ganz kleinem Raum und in einer ganz kleinen Aktion, die nur erste Ansätze zum gewaltsamen Widerstand gezeigt hat, ob nicht da diese [von Marx beschriebenen] emanzipatorischen Ansätze von Gewalt realisiert worden sind. (Über Demonstration und Gewalt 1968) 85 Wenn wir meinen, daß wir die Formen der gewaltsamen Aktionen steigern können, so
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bruch – es ist dieser aus der Perspektive der Akteure ein politisches Handlungsziel und eine Tugend der Handelnden – die Anwendung von Gewalt, zu der man sich nunmehr explizit und ohne versuchte Camouflage bekennt, zu rechtfertigen. Legitimationsgrund ist wie stets die staatliche Gewaltanwendung, aus der man, das staatsrechtlich legitimierte besondere Gewaltverhältnis ignorierend, ein eigenes Recht zur Gewalt ableitet. Johannes Agnoli gibt die Anweisung: […] was wir in Deutschland wieder zerschlagen müssen: Nämlich der [!] Gedanke, daß nur die staatliche Gewaltanwendung legitim ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass am Tegeler Weg einer [!] der interessantesten und schwerwiegendsten deutschen Tabus gebrochen wurde, daß nämlich Demonstranten in Deutschland nie militant werden dürfen gegen die Polizei.
Im weiteren Verlauf führt Agnoli dieses Argumentationsmuster weiter aus: […] im Bewusstsein der Öffentlichkeit in Deutschland wie in den Forderungen der Politiker … verbietet sich die Methode der Gewalt nur für die Außerparlamentarische Opposition, für den demokratischen Protest, auf alle Fälle für sozialistische Umwälzungsversuche. Sie versteht sich aber von selbst für die Polizei, für die Richter, die unverhältnismäßig hohe Strafen willkürlich verhängen – oder für Ordnungsbürger, die neuerdings die Anweisung zur Gewalt sogar als Verfassungstext unter dem Arm tragen dürfen. (Über Demonstration und Gewalt 1968)
Damit spielt Agnoli auf den Artikel 20 der Notstandsgesetze an. Der diesem Artikel neu hinzugefügte Absatz, der das Widerstandsrecht regelt, und der lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ (17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968, verkündet am 27. Juni 1968 [„Notstandsgesetze“]) wird als Aufforderung „zu Pogrom und Terror“ (Weigt 1968, 42) verstanden. Agnoli schließt mit dem Bild: Es ist schlicht die Infamie der konstituierten Ordnung zu nennen, dass sie mit der Feuerwaffe in der Hand ihre Gegner zur Gewaltlosigkeit auffordert. Ungeachtet der Tatsache, dass Knut Nevermann (SPD) in dieser Diskussion vor einer Fetischisierung der Gewaltanwendung warnt: Diese Diskussion vom Ende des Jahres 1968 repräsentiert einen diskursiven Meilenstein. Sie markiert das Ende der konzeptuellen Entwicklung von anfänglicher Tabuisierung unter dem Zeichen von Gewaltlosigkeit über die Relativie-
müssen wir uns darüber im klaren sein, daß dann auch eine Eskalation der Repression eintreten wird. … Dann werden die Leute … für ein oder mehrere Jahre im Gefängnis sitzen, und dann ist einfach der Ofen aus. (Über Demonstration und Gewalt 1968)
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rung bezüglich Gewalt gegen Sachen hin zur Brechung des Tabus mit dem Argument legitimierter Gewaltanwendung. Wir sehen: Provokation, Aktion und Gegengewalt schaffen einen Bedeutungszusammenhang, der sich durch Vagheit und Implizitheit auszeichnet. Die Semantik von Provokation, Aktion und Gegengewalt schillert, wie wir gesehen haben, zwischen Camouflage und Explizitheit von ‚Aggression‘. Wir haben das Phänomen als offene Semantik klassifiziert und offene Semantik meint: diachrone und synchrone Aporie. Diese offene Semantik ist eine Strategie der Ambiguierung. Sie hat damit zu tun, dass sich die „Handlungspraxis [der Neuen Linken] im Grenzbereich von Legalität und Illegalität“ bewegte (Gilcher-Holtey 2006, 212) – Aufruf bzw. Propagierung von Gewalt bedeutet so gesehen natürlich die Überschreitung der Grenze zur Illegalität. Welche Spielart immer aber Gegenstand der Aussage ist – man fühlt sich moralisch legitimiert. Das Gewaltkonzept der studentischen Linken scheint – aus ihrer Perspektive – zu allererst ein moralisch motiviertes Konzept zu sein. Moral trägt die Bewegung.86 Mit dieser Legitimation verschafft sie sich das Widerstandspotenzial, das sie benötigt, um ihre selbstgestellte Aufgabe, die sie massenhafte Aufklärung nennt, erfüllen, vor allem aber, um dem als übermächtig und gewaltbereit verstandenen Staat Widerstand leisten zu können: Die radikalen Aktionen schaffen erst die Basis massenhafter Aufklärung. Unbewaffnet einer hocharmierten Staatsgewalt gegenüberzustehen – ohne eine rigorose Moral würde der Protest schnell zusammenbrechen! Die kompromißlose Moral erweist sich als die Keimzelle des Widerstands für Studenten und Schüler. (Claussen 1968, 8)
Es ist diese Selbsteinschätzung, die die Bewertungsgrundlage bildet, wenn es gilt, den Gewaltvorwurf abzuwehren oder auch sich zu Gewalt zu entschließen. Mit dem Anspruch einer kompromißlosen Moral als Handlungsmotiv entlastet man sich und legitimiert widerständisches Handeln, mit diesem Anspruch scheint das Gewaltkonzept im Sinn von ‚konkrete physische Gewalt‘ approbiert. Und: Auch mit dem Rechtfertigungsargument ‚Moral‘
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Exemplarisch die Aussage von Detlef Claussen: Um der Kompromißlosigkeit der staatlichen und inneruniversitären Gewalten nicht weichen zu müssen, so hat sich gezeigt, muß zu dem ersten konstitutiven Element der plebiszitären Diskussion ein zweites hinzutreten, auf das Oskar Negt hingewiesen hat: eine kompromißlose Moral. Wenn es heute Mode geworden ist, den Studenten Eskapismus vorzuwerfen, muß man darauf antworten, daß ohne diese Moral, die sich an den heroischen Kämpfen der Guerilleros in der Dritten Welt orientiert, es zu den Massenmobilisierungen nach dem Mordversuch an Rudi Dutschke und zum Kampf gegen die Notstandsgesetze gar nicht gekommen wäre. (Claussen 1968, 8)
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hat man Anschluss an die Referenztheorie. Eines der Postulate der Kritischen Theorie ist das der Moral, wir haben exemplarisch auf Marcuse verwiesen, der zur Rückkehr zu Moral als gesellschaftliche Kraft aufruft (s.o. Kapitel 5.2). Als eine Konsequenz des Befundes aus Kapitel 6 – die Konstruktion einer entdemokratisierten Gesellschaft – kann dasjenige Diskurssegment verstanden werden, in dem die Beteiligten Formen politischen Handelns diskursiv aushandeln – die studentische Linke mit dem Ziel der Legitimierung von widerständischen verbalen und auch jeglichen nonverbalen Praktiken, die zu delegitimieren die intellektuelle Linke bestrebt ist. Dabei benutzt die studentische Linke das Argument einer Überlegenheit der Praxis gegenüber der Theorie, um Demokratie als ein Modell aktiver Teilhabe zu etablieren. ‚Gewalt‘ thematisiert die studentische Linke (in einer spezifischen, semantisch offenen Ausdeutung) als legitime, die intellektuelle Linke als illegitime Strategie zur Entlarvung nicht-demokratischer Verhältnisse.
8 Modellieren: Partizipationsdemokratien Insofern die diskursiven Anlässe Ereignisse wie der 2. Juni 1967 und die Lesung der Notstandsgesetze sind und diese als Erscheinungen eines Demokratiedefizits konstituiert werden, sind die expliziten Gegenwartsreferenzen als Konstituenten des, in diesem Fall negativ ausgedeuteten, Demokratiekonzepts zu bewerten. Autoritärer Staat, Gewalt und Manipulation sind, wie wir gesehen haben, die lexikalisch-semantisch repräsentierten Verdichtungen zur Konstituierung dieser Gegenwartsreflexionen (s.o. Kapitel 6). Diese Konstituierung hat für die Diskursgemeinschaft die Funktion, die Gegenwartsgesellschaft derart als antidemokratisches Gemeinwesen zu konzipieren – damit zu entdemokratisieren –, dass das Gegenkonzept als folgerichtige Antizipation einer demokratischen Gesellschaft Plausibilität erhält. Das Zukunft bezeichnende diskursive Defizit indes ist ein Monitum, das die Geschichte des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre konstant begleitet: Die oft zitierten ‚konkreten Utopien‘ bleiben … blass. … Der Horizont der Gesellschaftsveränderung sollte offen bleiben. Dabei war häufig unklar, ob diese Einstellung programmatischen Charakter besaß oder nur das Resultat einer weit verbreiteten Verlegenheit war. (Kraushaar 2001, 15)
Der „offene Horizont“ ist erklärbar. Die Verweigerung eines Zukunftsbezugs ist begründet in der Zukunftsabstinenz der für die Studentenbewegung zentralen Referenztheorie der Frankfurter Schule. Die Kritische Theorie ist diejenige Gesellschaftstheorie, die die Misere der Gegenwart bearbeitet, denn die kritische Analyse der Gesellschaft bezeichnet das herrschende Unrecht. (Horkheimer 1966–1969, 215) Als grundsätzliche Perspektive der Kritischen Theorie definiert Horkheimer die auf das Schlechte, das in Relation zu einem künftigen Guten nicht definierbar sei. Kritische Theorie erklärt, das Schlechte … lasse sich bezeichnen, nicht jedoch das Gute, das in der Zukunft liegt. Die dialektisch hergeleitete Begründung lautet: Der Begriff des Negativen, sei es das Relative oder das Böse, enthält in sich das Positive als seinen Gegensatz. Im Praktischen folgt aus der Denunziation einer Handlung als schlecht zumindest die Richtung der besseren Handlung. Herbert Marcuse legt dieses Zukunftsdefizit, als ein Strukturmerkmal
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der Kritischen Theorie, als Begriffsdefizit dar: Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. (Marcuse 1967a, 268) Horkheimer reflektiert in diesem Sinn in einer Notiz über die Kritische Theorie, die das Schlechte, Negative, Böse, Unrechte als Gegenwärtiges benennen muss, um daraus ableitend auf das Gute verweisen zu können: Der Begriff des Negativen, sei es das Relative oder das Böse, enthält in sich das Positive als seinen Gegensatz. Im Praktischen folgt aus der Denunziation einer Handlung als schlecht zumindest die Richtung der besseren Handlung. – Das Beharren auf dem Unterschied der Wahrheit der beiden Urteile beruht auf vielen Momenten, eines der wichtigsten liegt in der Beziehung zur Geschichte, zur Zeit überhaupt. Das Schlechte gilt wesentlich für die Gegenwart, das Gute hat jeweils als solches sich zu bewähren, die Bewährung vorwegzunehmen überschreitet die Fähigkeiten des Urteilenden, stellt die Verabsolutierung einer Hypothese dar.
Unmöglichkeit einer Antizipation ist mithin auch das Argument Horkheimers, mit dem er die Zukunftsabstinenz der Kritischen Theorie begründet. Insofern sei Aufgabe der kritische[n] Analyse der Gesellschaft … das herrschende Unrecht zu bezeichnen, nicht aber, es abzuschaffen: der Versuch, es zu überwinden, hat wiederholt zum größeren Unrecht geführt. (Horkheimer 1966–1969, 215) Im Gegensatz zum Diskurs der frühen Nachkriegszeit, in dem die dominierenden Zeitbezüge Vergangenheit und Zukunft sind, und die Gegenwart lediglich den Status der die Gegenwart gleichsam rasch übergehenden, vielmehr vor allem die Zukunft fokussierenden Wendezeit erhält (vgl. Kämper 2005, 163ff.), ist es Ende der 1960er Jahre umgekehrt die Gegenwart, auf die die Themen des Diskurses signifikant referieren. Ihr gilt die Analyse, Struktur- und Systemfehler der Gegenwart sind ihr Gegenstand, in der Formulierung Horkheimers: Das Schlechte gilt wesentlich für die Gegenwart, das Gute hat jeweils als solches sich zu bewähren, die Bewährung vorwegzunehmen überschreitet die Fähigkeiten des Urteilenden. Daraus lässt sich die Lehre der Kritischen Theorie ableiten. Sie definiert das Gute als den Versuch, das Schlechte abzuschaffen (Horkheimer 1966–1969, 215). Das herrschende Unrecht bezeichnen als Aufgabe der Kritischen Theorie – an dieser Formulierung klärt sich das Verhältnis der studentischen Linken zu dieser Gesellschaftslehre: Gefragt nach ihren Motiven ist dies ihr Argument für ihren Kampf um eine bessere Welt, veranlasst diese von Horkheimer formulierte Grundidee der Kritischen Theorie die ausgeprägten Gegenwartsreferenzen ihres Demokratisierungsdiskurses. Wir sehen also: Der kritische Diskurs ist ein signifikant auf die Gegenwart bezogener Diskurs mit geringen Anteilen von Vergangenheits-
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bezug und mit ausgesprochen selten formulierten prospektiven Elementen. Die studentischen und intellektuellen Beteiligten der späten 1960er Jahre führen den Diskurs unter den Bedingungen eines ausgeprägten Gegenwartsbewusstseins, das sich in der ideologisierten Realisierung des herrschend-Konzepts manifestiert – wir kommen unten darauf zurück. Haltungen zur Gegenwart, die emphatisierende Topikalisierung der Gegenwart im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre ist insofern von entscheidender konzeptueller Bedeutung als sie sich auf die Analyse der für entdemokratisiert gehaltenen Gesellschaft bezieht. Im Oktober 1967 führt Hans Magnus Enzensberger mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler ein „Gespräch über die Zukunft“.1 Gegenstand ist die Möglichkeit einer Revolution, die weltweite Ausbreitung eines revolutionsbereiten Proletariats, die durch die Gesellschaftsschichten verstreute Verteilung kritischen oppositionellen Potenzials, die Bedingungen, Zukunft in der Gegenwart zu konzipieren und die Frage der Gewalt. Eingeleitet von der Frage Enzensbergers: Gibt es für hochindustrialisierte Länder eine revolutionäre Zukunft, und wie könnte diese Zukunft aussehen? konkretisiert Dutschke mit explizitem Gegenwartsbezug: Wir sollten über den Transformationsprozeß, also über eine Zukunft in der Gegenwart sprechen. Bemerkenswerterweise dann mit einem hohen Vergangenheitsbezug – Dutschke verweist auf die Pariser Kommune, die erste[…] Revolution in einer Metropole (Gespräch 1967, 146), als Modell – ist dies also ein Gespräch über die Gegenwart, auf die man im Zuge der Diskussion explizit und mit Emphase referiert. Gegen Ende des Gesprächs versucht Enzensberger einen tempusbezogenen Perspektivenwechsel. Dazu kommentiert er zunächst den bisherigen Gesprächsverlauf: Es hat sich gezeigt, daß keiner von euch in der Lage ist oder Willens ist, wahrscheinlich weder das eine noch das andere, einen reinen Zukunftsentwurf auszubreiten. (Gespräch 1967, 162) Es sei stattdessen die ganze Zeit vom Transformationsprozeß die Rede gewesen (ebd.) – m.a.W. von der Gegenwart. Dies trifft, wie die vielen heute-Referenzen dieses Gesprächs belegen, zu.2 Dieses Gespräch ist hinsichtlich seiner hoch frequenten gegen-
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Abgedruckt ist es in Kursbuch 14 / August 1968, 146–174. Wesen der heutigen Produktionsweise; Heute noch viel mehr als 1871; der heutigen Technologie; Heute … muß man feststellen; Heute wäre das „Auf-die-Füße-Stellen“, daß all das, was falsch ist, … abgeschafft werden muß; Heute … setzt Entfesselung Zerstörung … voraus; das Problem des Bewußtseins hat sich heute … radikalisiert; ein … Bedürfnis, das heute nur in ganz pervertierter Form artikuliert wird; die Verlängerung dieser alten … Solidaritätsparolen sehen wir heute in der Friedenspropaganda; Wir unterscheiden ja heute im Spätkapitalismus zwischen expandierenden und stagnierenden Industriezweigen.
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wartsbezogenen Zeitreferenzen ein typisches Element des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre. Demokratiekonzepte der späten 1960er Jahre entwickeln sich ihrem wissenschaftlichen Anspruch folgend aus Gegenwartsanalysen, denn: Der Diskurs sowohl der studentischen wie der intellektuellen Linken ist gekennzeichnet von einem ausgeprägten Gegenwartsbewusstsein. Eine wesentliche Voraussetzung dieser Analysen ist die explizite Konzeption der Gegenwart mit Zeit repräsentierenden Kategorien – die hohe Ereignishaftigkeit ist dabei Impulsgeber. An „jene[m] unselige[n] 2. Juni 1967“ hatte Gerd Koenen wie viele seiner Altersgenossen „das flashartige Gefühl …, jetzt hätten ‚sie‘ auf ‚uns‘ geschossen“ (Koenen 2002, 14). Die Erschießung Benno Ohnesorgs ist Auslöser nicht nur einer Radikalisierung von Denken und Handeln, sondern auch von Epochen-, von Umbruchbewusstsein, die sämtliche am Diskurs Beteiligte betreffen: […] eines scheint nach dem staatlich organisierten Mordanschlag auf Ohnesorg und nach dem individuellen Mordanschlag auf Dutschke sicher zu sein: wir befinden uns in einer Umbruchphase der Gesellschaft, in der die zu Existenzfragen der Nation aufgewerteten politisch-juristischen Fiktionen zu zerbrechen beginnen. (Negt 1968a, 11)
Die Aggressionen der Polizei anlässlich der Demonstrationen gegen den Schahbesuch, die schließlich die Tötung des Studenten am 2. Juni 1967 zur Folge hatten, die Kommentierung dieser Tötung durch den die Tat uneingeschränkt rechtfertigenden Berliner Senat, der die Verantwortung den Studenten zuschreibt und der in dieser Auslegung von der Bild-Zeitung und anderen Produkten der Springer-Presse unbedingte Unterstützung erfährt – all dies ist Gegenstand der Empörung und damit Thema des Diskurses quer durch die Beteiligtengruppierungen: [Studenten] … machten klar, daß heute Studenten die Opfer sind und morgen streikende Arbeiter (Heinemann 1967) lässt ein Redner auf einer Trauerveranstaltung zum Gedenken an Benno Ohnesorg verlauten und Jürgen Habermas fasst die gegenwartsbezogene Zäsurhaftigkeit des 2. Juni in die Formel seit den Tagen des Faschismus … zum ersten Mal wieder (Habermas 1967a, 138). Ebenso als Einschnitt, als Einbruch im Sinn eines Epochenphänomens wie überhaupt die Prozesse der Entdemokratisierung werden die Notstandsgesetze konstituiert. Oskar Negt interpretiert diese Erscheinung mit Abbau des Liberalismus3, eine Stellungnahme des Republikanischen Clubs mit Liquidation
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[…] was wir heute im Anfangsstadium erleben, ist der geplante Abbau des Liberalismus, die innenpolitisch gewendete Aggression auf allen Ebenen. … Auch diejenigen, die heute noch nicht bereit sind, die politische Tragweite der Erschießung eines De-
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[der formaldemokratischen Einrichtungen]4, und in der Demokratiediskussion, die Peter Szondi und Theodor Adorno führen, kommt Szondi zu dem Urteil: der Staat heute [genügt] einem Ideal … von Demokratie nicht. (Adorno / Szondi 1967, 305) Ausgesprochen pointiert bereitet ein Autor der ‚neuen kritik‘ im August 1968 seinen Appell zu. Zunächst konstituiert er die politischen Gegner der Gegenwart, die sich als Feinde der Demokratie auszeichneten und die ein wirkungsvolles parlamentarisches System heute in Wahrheit nicht mehr brauchen können. Diese Form von Entdemokratisierung erfordere die notwendige Erneuerung der parlamentarischen Formen als Teil jener allgemeinen Demokratisierung unseres öffentlichen Lebens …, um die es heute geht. Dann folgt die Personenkonstituierung Demokrat ist heute, wer die Verfassungsordnung unseres Landes … erneuern … will, die die vorhergehende Aussage bereits vorbereitet hat. Das gegenwartsbezogene den Appell stützende Fazit lautet: Der Prozeß fortschreitender Bewußtseinsentwicklung im Handeln … entscheidet heute darüber, ob unser Land zu seinen Möglichkeiten finden wird. (Hoffmann 1968, 109) Die Lesart, die das gegenwartsreferierende Zeitdeiktikum heute durch diese Kontextualisierungen erhält, lautet: ‚im gegenwärtigen, zu seinen Machtmitteln greifenden und hinsichtlich künftiger Reaktionen unberechenbaren autoritären Staat‘. Diese mit heute repräsentierte wertneutrale lexikalische Konstituente der Gegenwartskonzeption hat mit herrschend eine gleichsam ideologisierende und insofern für den Diskurs relevantere Entsprechung. Denn: Dieses Leitwort ist natürlich nicht nur Zeit denotierendes Deiktikum, sondern Ausdruck eines Deutungsmusters, dessen Evokationspotenzial die Weltsicht der Diskursgemeinschaft repräsentiert. Es wird in zwei eng aufeinander bezogenen Lesarten verwendet, denn seine Verwendung als Temporaldeixis ist natürlich direkt anschließbar an herrschen ‚Macht, Gewalt haben, regieren‘. In diesem Sinn wird herrschend mit typischen Kollokatoren verwendet, die den Staat und seine Struktur bezeichnen. Die typischen Kollokatoren stammen aus dem umfangreichen Lexikon desjenigen Wortschatzbereichs, der den Staat und seine Struktur bezeichnet (wie Oligarchien, Apparat, Institution(en), System(e)5). Außer-
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monstranten zu begreifen, sollten bedenken, dass bei jedem Streik ähnliches geschehen kann. (Negt 1967a, 243f.) Weil eine durchgreifende Demokratisierung unserer Gesellschaft unterblieb, weil man alsbald im bloßen Antikommunismus eine postfaschistische Ersatzideologie zugestanden bekam, verwundert es nun nicht, daß heute schon wieder die formaldemokratischen Einrichtungen in die Liquidation geraten (Seeliger 1968, 26). die sozialökonomische Bestimmung des herrschenden gesellschaftlichen Systems als eines staatsmonopolistischen Kapitalismus (Lederer 1968, 115); Kriterien zur Analyse herrschender Systeme (Grunenberg / Steffen 1969, 48.); der letzte verzweifelte Versuch der herrschenden Oligarchien, die strukturellen Schwierigkeiten des Systems zu lösen
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dem referiert herrschend auf wirtschaftlich bedingte Vormachtstellungen (Kollokator ist dann z. B. Großkapital 6). Referenzbereiche sind weiterhin Personen(gruppen) und Personen(gruppen) metonymisierende Abstrakta, zur Bezeichnung gesellschaftlicher Größenverhältnisse etwa (mit Minorität und Eliten7) oder zur Bezeichnung von Vormachtstellung überhaupt (mit Exponenten, (Macht)clique(n), Gewalt(en), Macht8). Dominant aber und von höchster Evidenz ist natürlich der gleichsam klassische, aus dem historischen Materialismus übernommene Kollokator Klasse(n)9 und – weniger marxis-
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(Dutschke 1968c, 88.); hohe Subventionen abgerungen, die die herrschende Oligarchie unter den damaligen Bedingungen durchaus verkraften konnte. (Dutschke / Krahl 1967, 288); Die Straßenaktionen der Studenten verwandelten die latente Gewalt des herrschenden Apparats in manifeste. (Claussen 1969, 7); Konkretion des Widerstands (von der Straße zur Universität, um eine herrschende Institution anzugreifen) (ebd.); die „außerparlamentarische Opposition“ [wird] … für die herrschenden Institutionen zunehmend zu einem kalkulierbaren und dann auch zu einem „verwaltungstechnisch“ bewältigbaren gesellschaftlichen Faktor. (Lefèvre 1968b, 53) in einem Staat des herrschenden Großkapitals und eines schwindenden Freiheitsraumes (Hofmann 1968, 107). die Ideologie der tatsächlich herrschenden Eliten. (Negt 1968a, 15); Auf sie [rassische, nationale und politische Minderheiten ] kann die tatsächlich herrschende Minorität gefahrlos Aggressionen der Mehrheit lenken, die sich ohne sorgfältig gesteuerte Abreaktionen auch gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse richten könnten (ebd. 14). eine Gewalt, die die herrschende Macht verteidigt und deren Ziel das Recht der Mächtigen ist. (SDS 1968b, 8); von den herrschenden Exponenten und Gremien der Hochschulen behindert oder ausgeschlossen (Ziele und Organisation 1967); eine für die herrschenden Cliquen adäquatere Herrschaftsform (Claussen 1969, 7); Das Verhältnis des Konzerns zu seinen Lesern und zu den herrschenden Machtcliquen (Rabehl 1968b, 47); Es ist … utopisch, wenn die herrschende Clique meint, unsere Zukunft auf Dauer verhindern zu können. (Wolff 1968a); Die Konfrontation von herrschender Gewalt und unserer Opposition (Wolff, KD und Frank 1968, 4); Versicherung aller herrschenden Gewalten, daß Gewalt kein Mittel der Politik sei. (Negt 1968a, 10); die herrschende Gewalt [wirft] den liberalen Schleier ab und präsentiert ihre Bereitschaft zur nackten Unterdrückung als Gesetz. (Berliner Extradienst 1968) Flugblätter, die der herrschenden Klasse die Möglichkeit geben, von den studentischen Forderungen abzulenken (Heinemann 1967); Ideologie der jeweils herrschenden Klasse (Bloch 1968, 80); Jetzt … braucht der bundesdeutsche Staat und die herrschende Klasse keine Rücksichten mehr zu nehmen auf diese „abstrakte Weltöffentlichkeit“ (Rabehl 1968b, 43); den herrschenden Klassen [ist es] in der Epoche des Faschismus und danach extrem gut geglückt …, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und ihre Reste zu beugen (Reiche / Gäng 1967, 27); Wir begriffen, daß die Bourgeoisie, die herrschende Klasse in jedem Lande der es sich leisten kann, daß kritische Minoritäten über Probleme der eigenen und fremden Gesellschaft diskutieren (Dutschke 1968b, 73); brutale Gewalt der herrschenden Klasse (Wolff 1968a); einer Gesellschaftsordnung, deren herrschende Klasse auch den Krieg Amerikas in Vietnam offen und auf Schleichwegen unterstützt. … diese Unterdrückungsmaschinerie der herrschenden Klasse … die Machenschaften der herrschenden Klasse (Fried 1968, 261); während die herrschenden Klassen in einer Welt des Überflusses leben. (Gäng 1969, 19); die Gegenmaßnahmen der herrschenden Klasse (Rabehl 1967); die Universität als Ausbildungsinstitution für die herrschende Klasse (Grunenberg / Steffen 1969, 42); Repräsentanten der herrschenden Klasse (Reiche 1968a, 26); die herrschenden Klassen nach dem Zweiten Weltkrieg zu erheblichen materiellen Konzessionen an ihre Un-
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tisch orientiert – Kräfte.10 Sie sind die beiden meistgebrauchten, letzteres immer im Plural verwendet. Herrschende Klasse(n) bzw. herrschende Kräfte ist eine, eine ökonomische und / oder politische Vormachtstellung bezeichnende Kategorie und als solche und sui generis von den Sprechern schlecht bewertet.
Die herrschende Klasse – das ist aus Sicht der Akteure eben diejenige, die das Ziel des Protestes darstellt, das Objekt ihrer gesellschaftsverändernen Utopie, die Ursache für Repression und Entdemokratisierung. Der Temporaldeixis im Sinn von ‚heute, gegenwärtig, bestehend‘ wird dieses Evokationspotenzial mitgeteilt, das Bezeichnungspotenzial ‚Macht innehabend‘ wird auf die Lesart des Temporaldeiktikums übertragen mit dem hochwillkommenen Effekt, das so bezeichnete Zeitphänomen gleichzeitig ideologisch als Erscheinung undemokratischer hierarchischer Machtverhältnisse bewerten zu können. Wolfgang Fritz Haug rekonstruiert sprachkritisch den Mechanismus, der dem Partizip zum Status eines Temporaldeiktikums verhilft (und umgekehrt), und damit zu einem Synonym von gegenwärtig, bestehend und heutig geraten lässt. Auf die, an der Einstellung des Autors keinen Zweifel lassende Einführung (Linke Phrasen stellen … unter Beweis, daß sie nicht weniger Phrasen sind als die bürgerlichen) folgt die Beschreibung des Vorgangs: Der Ausdruck „die gegenwärtigen repressiven Gesellschaften“ meint in seiner nicht näher bestimmten Mehrzahl gleicherweise Kapitalismus und Kommunismus. Wer noch wähnt, der Ausdruck „repressiv“ sei mehr als ein blosses Reizwort, den belehrt der Text im Fortgang rasch eines Besseren: da heißt es nur noch „die gegenwärtigen Gesellschaften“, dann „die bestehenden Gesellschaften“. Dann wieder wird „Herrschaft“ als Reizwort herbeigezogen, um den marxistischen Schein zu wahren; so entsteht der Name „die herrschenden gesellschaftlichen Zustände“; der angestrebte Sozialismus heißt dementsprechend: „andere als die herrschenden gesellschaftlichen Zustände“. (Haug 1969, 92)
Zwar ist Gegenstand dieser Sprachkritik die Vagheit der Bezeichnung Gesellschaften. Was wir ihr aber außerdem entnehmen können, ist der Nachvollzug eines Wortspiels, das die Polysemie von herrschend erlaubt und das
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terklassen genötigt (Abendroth 1968, 137); Manipulationen der herrschenden Klasse zum schnelleren Produzieren von profitfunktionalen Fachidioten (Lederer 1968, 124); die adäquate Reaktion der herrschenden Klasse zu entlarven (Blanke 1968a, 35). den herrschenden Kräften neue Schlagworte anbietet. (Abendroth 1968, 133); den herrschenden Kräften die von ihnen determinierten Handlungsspielräume abschaffbar sein werden (Lefèvre 1968c, 193); Im Kampf um die Notstandsgesetze haben die herrschenden Kräfte eine Ahnung davon erhalten, welche Energien unser Volk freisetzen kann. (Hofmann 1968, 109); Die herrschenden Kräfte der Bundesrepublik haben den letzten Schleier fallenlassen … die herrschenden Parteien haben sich dem Volke gänzlich entfremdet. (Aufruf 1969, 103)
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seinen Ursprung in der marxistischen Gesellschaftstheorie hat.11 In diesem Sinn interpretiert Herbert Marcuse die herrschende Sprache von Gesetz und Ordnung, die von den Gerichtshöfen und der Polizei für gültig erklärt wird. Sie sei nicht nur die Stimme, sondern auch die Tat der Unterdrückung (Marcuse 1969, 110) – und damit die Sprache der Herrschenden. Wenn herrschend in diesem Sinn verwendet wird, schillert seine Bedeutung also zwischen ‚Macht habend‘ und ‚gegenwärtig‘, mit der so geschaffenen Möglichkeit, das bezeichnete Zeitphänomen gleichzeitig ideologisch als Erscheinung undemokratischer hierarchischer Machtverhältnisse bewerten zu können. Als Zeitdeiktikum entfaltet die Bezeichnung ihr polysemes Potenzial weiterhin in Wortverbindungen mit Abstrakta bezeichnenden Kollokatoren. Diese Abstrakta referieren z. B. auf den Zustand der Gesellschaft im Sinn von Ordnung12, auf allgemeine Gegebenheiten im Sinn von Bedingungen, Verhältnisse13, auf Haltungen und Meinungen im Sinn von Anschauungen, Positionen, Interessen.14 11
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Die bereits seit Luther belegte Lesart „längere Zeit überwiegend gelten“ (Paul 102002 s. v. herrschen) ist Voraussetzung für die Entwicklung des Partizips zu einer Verwendung wie „die augenblicklich herrschende ansicht“ (DWb s. v. herrschen). Als Beispiel für diesen Gebrauch des Partizips bei Karl Marx sei eine Passage aus der „Deutschen Ideologie“ zitiert, in der Marx das in Rede stehende Adjektiv gleichsam kumuliert: „die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. … die Klasse, die die Mittel der materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zu geistigen Produktion. … Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.“ (Marx / Engels 1846, 46). die radikale Wendung der besten Vertreter der westdeutschen Intelligenz gegen die herrschende Ordnung (Meschkat 1968, 207); Gruppen jüngerer Menschen, deren Integrierung der herrschenden Gesellschaftsordnung schwerfällt (Fried 1968, 261); Die Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kapitalistischen Ordnung (Dutschke 1968b, 84); Wer die herrschende Ordnung gegen unsere Kampagnen verteidigen will, muß nach den wirklichen Gewaltverhältnissen in dieser Ordnung fragen. (SDS 1968b, 8) Das Argument, dass unter den herrschenden Bedingungen materieller und geistiger Unreife Befreiung notwendigerweise das Werk von Gewalt und Verwaltung sein muß (Marcuse 1967a, 60.); Prozesse im Wahrnehmungsfeld gliedern sich immer so gut, wie die herrschenden Bedingungen es gerade zulassen. (Brückner 1968, 88); Unter den herrschenden Bedingungen in diesem Lande erfüllt die Toleranz nicht die zivilisierende Aufgabe, die ihr von den liberalen Vorkämpfern der Demokratie zugesprochen wurde (Marcuse 1968c, 332); wenn anders Aktionen unter den herrschenden Bedingungen nicht Selbstmordunternehmen werden wollen. (Lefèvre 1968c, 186); Ich hielte es für falsch und für beschränkt, wenn man alle gesellschaftlichen Probleme unter jenen Begriff subsumieren wollte, der ja selber nur eine subjektive Reflexionsform der herrschenden Verhältnisse ist. (Adorno 1968a, 459) Die Selbstverständlichkeit, die Sie bezeichnet haben, ist keine, wenn man sich die
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Ein kurzer Blick auf die Kontexte, in denen das Teilsynonym gegenwärtig verwendet wird, bestätigt den Befund: herrschend wird polysem verwendet. Abgesehen von konventionellen usuellen Verwendungsweisen15 ist signifikant die Verwendung von Abstrakta, die als Kollokatoren dienen, und zwar zur Bezeichnung der Statik der Gegenwart, wie Situation (in der gegenwärtigen Situation, gegenwärtige politische Situation), Stadium (im gegenwärtigen Stadium), Zustand / Zustände (der gegenwärtige Zustand). Seltener wird dagegen die Gegenwart hinsichtlich einer Dynamik konstituiert, etwa mit Phase (in der gegenwärtigen Phase, die gegenwärtige Phase, gegenwärtige Phase der gesellschaftlichen Entwicklung). Signifikant ist darüber hinaus der typische marxistisches Denken annoncierende Kollokator Herrschaft, der eine Zuschreibung mit herrschend aus stilistischen Gründen natürlich verbietet (institutionelle Form der gegenwärtigen Herrschaft, gegenwärtige Herrschaftsinteressen / -zustände, das gegenwärtige Herrschaftssystem).16 Indes: Der am häufigsten belegte Kollokator Gesellschaft / gesellschaftlich dokumentiert evident, worin der spezifische semantische Unterschied zwischen herrschend und gegenwärtig besteht: Beide stehen im Kontext von Kritik, während jenes jedoch den gekennzeichneten Sachverhalt als ein Phänomen von Machtverhältnissen impliziert, als Erscheinung von Unrecht und Unterdrückung (nach dem Muster herrschende Mächte), ist gegenwärtig nichts weiter als ein neutral verwendeter Kollokator im Kontext einer Sachverhaltskonstitution ohne Implikat einer Haltung oder Meinung zu sein.17 Halten wir fest: Die Okkurrenzen von herrschend weisen dieses gleichzeitig aus als Synonym von gegenwärtig, bestehend oder heutig einerseits und von dominant, Macht ausübend, mächtig andererseits – beide lassen das gleichzeitig als temporale und als Zustandsbezeichnung fungierende Adjektiv zu einem deontischen Ideologem geraten. Denn sowohl was gegenwärtig als auch was dominant ist, gehört aus der Sicht der Aktivisten abzuschaffen, wenn die Zuschreibung auf die autoritären politischen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Vertreter referiert.
So hoch präsent der Gegenwartsbezug der Diskurssegmente also ist, so unterrepräsentiert sind Zukunftsreflexionen – abwesend sind sie jedoch nicht und ihr Gegenstand ist ein Programm, das Elemente von Partizipationsdemokratie aktualisiert.
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herrschenden Anschauungen über Erziehung, zumal die in Deutschland herrschenden, ansieht, in denen ja Vorstellungen eine große Rolle spielen wie etwa, daß die Menschen … sich anpassen sollen an das herrschende System (Adorno 1968b, 120f.); Die in den Institutionen selbst verankerte Gewalt, auf die sich herrschende Positionen stützen (Habermas 1967a, 146); der Zusammensetzung des Parlaments, in dem nur die herrschenden Interessen einen Platz haben … von den herrschenden Gruppierungen selbst als Gefahr empfunden (Hofmann 1968, 109). unter den gegenwärtigen Bedingungen, gegenwärtige gesellschaftliche Bedingungen / Voraussetzungen, die gegenwärtigen Verhältnisse. Kollokatoren sind außerdem: Realität, Wirtschaftssystem, Auseinandersetzung, Konfliktsituationen, Sozialordnung, ökonomische Formationsperiode, autoritäre Staat, Machtverhältnisse, industrielle Zivilisation. gegenwärtige Gesellschaft, gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, gegenwärtige Gesellschaft(sordnung), gegenwärtige (spät)kapitalistische Gesellschaft(sformation), das gegenwärtige industrielle Gesellschaftssystem, die gegenwärtige hochtechnisierte Gesellschaft.
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„Die Jugendrevolte am Ende der sechziger Jahre trug allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft bei.“ Am 3. Oktober 1990, zum Tag der deutschen Einheit, nobilitiert der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Protestbewegung der späten 1960er Jahre zu einer gesellschaftlichen Instanz, die die demokratische Kultur verändert hat. Das Zitat belegt, worin man sich in der wissenschaftlichen, biografischen, essayistischen Publizistik nicht immer einig ist, was jedoch hier vorausgesetzt wird: Wie jeder Emanzipationsbewegung18 ging es der Protestbewegung Ende der 1960er Jahre, zumindest der hier vorgestellten, tatsächlich um Demokratie, um die vorfindliche, in den zwanzig Nachkriegsjahren gefestigte parlamentarische Regierungsform der verachteten bürgerlichen Kanzlerdemokratie, der formalen, der Pseudo-, der Scheindemokratie, und um die vorgestellte, die aus den Lehren des Sozialismus abgeleitete direkte, radikale, reale Demokratie von unten. Das Demokratiekonzept des kritischen Diskurses ist daher darstellbar als ein sprachliches Konzept mit unterschiedlichen Funktionen – der Funktion einer gegenwartsbezeichnenden Zustandskategorie zur Bewertung des fragwürdigen Systems der Bundesrepublik, wie oben gesehen, wie auch der einer zukunftsbezogenen deontischen Sollkonzeption zur Konstruktion eines politischen Ideals, um die es im Folgenden gehen soll. Oskar Negt, seinerzeit Habermas-Doktorand und engagierter Beteiligter, sieht in seiner retrospektiven Analyse das Thema Demokratie (neben dem der Gewalt) […] im Mittelpunkt von Aktionen und Ideen, um die 68 gekämpft wird. Es ist ein Suchen und Ausprobieren, welche Organisationsformen, Maßverhältnisse, Kommunikationsnetze geeignet sind, um möglichst viele Menschen in Meinungsbildungsprozesse und Aktionen so einzubeziehen, daß sie in kollektiven Zusammenhängen ihre ganz individuellen Interessen wiedererkennen. (Negt 2001, 135)
Der konservative Politologe und Demokratieforscher Wilhelm Hennis überprüft im Jahr 1969 die Rolle von Begriff und Problematik der Demokratisierung bei „jener ungeheuren Bewußtseinsveränderung, deren Zeuge wir sind, die als ‚Kulturrevolution‘ zu bezeichnen vielleicht ein noch zu schwaches Wort ist für einen Vorgang solcher Tragweite.“ (Hennis 1970, 9) Er stellt fest, dass Demokratisierung „am bündigsten prägnant und doch um-
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„Demokratie und Sozialismus sind die Eckpfeiler jeder Emanzipationsbewegung in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, soweit sie aus der Durchsetzung von Grundund Menschenrechten ihre Kraft beziehen.“ (Negt 2001, 160)
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fassend den Generalanspruch unserer Zeit zum Ausdruck bringt“ (ebd.). Und: Er fragt, ob ein die gesamte Gesellschaft und ihre Erscheinungsformen regelndes Demokratieprinzip nicht eine Parallele habe zum eben erlebten Totalitarismus und seinem Gleichschaltungsprinzip (ebd. 14). „Schon die simple gedankenlose Verwendung des Demokratisierungsbegriffs bringt … eine prinzipielle Angespanntheit in das Gesamtbild der Politik, die für die ernstesten Agenden sich aufzusparen ein Gebot der praktischen Vernunft sein sollte“ (ebd. 16). Dass Hennis’ Konservatismus ihn dazu veranlasst, die allenthalben sich manifestierenden Demokratisierungsansprüche vehement zu verwerfen, versteht sich von selbst: „das, was sich hinter diesem Begriff verbirgt, [läuft] auf die Preisgabe von Grundlagen der abendländischen politischen Kultur hinaus[…], wie sie einschneidender nicht gedacht werden kann“ (ebd. 22). Die abendländische Sozialordnung – Hennis argumentiert mit Aristoteles – sei bestimmt von der „Unterscheidung von Politischem und Nichtpolitischem (ebd. 24), von häuslicher und politischer Herrschaft und der Grenzziehung zwischen diesen. Dabei geht es Hennis um die Wortwahl: „Formen des menschlichen Miteinanders“ seien durchaus zu ändern, „freier, auch ihre rechtlichen ‚Strukturen‘ weniger hierarchisch [zu] gestalten“ (ebd. 33), demokratisieren aber solle man diese Vorgänge nicht nennen. Ohne hier nun weiter auf das konservative Demokratiekonzept einzugehen: Deutlicher als im Vergleich mit diesem, lässt sich das politische Wollen der späten 1960er Jahre und seine sprachlichen Repräsentationen nicht profilieren. Die Fokussierung auf das Kernthema ‚Demokratie‘ ist Ausdruck der „moralischen Empörung gegen bestimmte Verhältnisse und Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft.“ (Straßner 1992, 244) Dies gilt für alle am Diskurs Beteiligten. Aus dieser Konstellation leitet sich der Grundgedanke der Analyse ab. Den generationellen Unterschieden (die Altersdifferenz beträgt bis zu fünfzig Jahre), die sich auch in den dargestellten partiellen Unterschieden der Milieuzugehörigkeiten spiegeln, und den unterschiedlichen politischen Richtungen innerhalb der Gruppe der Aktivisten (man denke an die sich deutlich von den dominierenden Marxisten abgrenzenden, allerdings hinsichtlich eines verwertbaren Demokratiebegriffs indiskutablen Stalinisten) entsprechen hinsichtlich der Prädikationen natürlich disparate Wertzuschreibungen der unterschiedlichen Kohorten und Gruppierungen. Andererseits gibt es das die Vielfalt der Stimmen, Richtungen und Meinungen zusammenhaltende, Kohärenz stiftende diskursive Moment, das sich thematisch in der Unzufriedenheit mit der Gesellschaft der Gegenwart ausdrückt, in der Überzeugung, dass die gesellschaftlichen und politischen Missstände abzuschaffen gehören, in der Einsicht in die Notwendigkeit universitärer Reformen und in der
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Besorgnis um die deutsche Nachkriegsdemokratie. Dieses sind die Kritik-, Protest- und Widerstandsmotive, die die Diskursthemen der politischen und gesellschaftlichen Opposition, ihrer Analysen und Befunde ausmachen. Es besteht eine Einigkeit, die sich in einer gemeinsamen urdemokratischen Grundvorstellung von Bedürfnisartikulierung, Partizipation, Beteiligung ausdrückt.19 Das diskursive Grundproblem der Stimmen-, Meinungs- und auch Schulenvielfalt (denken wir auch an die unterschiedlichen Ansätze, die z. B. Adorno und Marcuse trennen) löst sich innerhalb dieser einheitlichen Grundkonzeption auf der thematischen Ebene auf.20 Dass dieses Phänomen natürlich nichts aussagt über abweichende Bewertungen, über Unterschiede hinsichtlich von Haltungen und Konzepten, sei nochmals ausdrücklich gesagt. Horkheimer, Adorno, Habermas – die intellektuelle Linke war mit der bundesrepublikanischen Nachkriegsdemokratie ebenso prinzipiell einverstanden wie mit der bundesdeutschen Verfassung. Die Tatsache, dass Formeln wie Scheindemokratie, formale Demokratie, Pseudodemokratie dem Lexikon der studentischen Linken zugehören, deutet darauf hin. Und der Einschätzung Dutschkes hinsichtlich der dominanten Rolle der studentischen Bewegung werden alle Beteiligten zugestimmt haben: Die bewußteste und aktivste Opposition gegen die Entdemokratisierung der Gesellschaft geht von den Universitäten aus. (Dutschke 1967c, 71) Obwohl die autoritären Tendenzen der bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie auch den Frankfurter Lehrern ein Gegenstand der Sorge waren, ist
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„Es ist diese Veränderung in den Vorstellungen von Politik und Demokratie, wodurch der Begriff der Interessen und Bedürfnisse Erweiterungen erfährt, die die Emanzipationsbewegungen zu einem einheitlichen Prozeß werden lassen.“ (Negt 2001, 151) 20 Allein in Bezug auf die Frankfurter Schule / Kritische Theorie stellt Behrmann fest: „Die Alten, also Adorno, Horkheimer und Marcuse, die Schüler der fünfziger Jahre, also Jürgen Habermas, Ludwig von Friedeburg und die etwas jüngeren SDS-Genossen wie Oskar Negt und Alfred Schmidt, schließlich Claus Offe und die anderen um Habermas gescharten jüngsten Nachwuchswissenschaftler, sprachen mit so vielen Stimmen, daß sich für die verschiedensten Positionen ein Angehöriger der Schule finden ließ, der diese Position vertrat.“ (Behrmann 1999, 337) Jürgen Link erkennt als „wichtige[n] gemeinsame[n] Nenner des gesamten Phänomens“ unter der Voraussetzung, dass man „unter ‚Achtundsechzig‘ nicht bloß die Explosion des Mai und auch nicht bloß die sogenannten ‚Studentenunruhen‘ der sechziger Jahre insgesamt, sondern das gesamte Geflecht ‚neuer sozialer Bewegungen‘ bis in die frühen achtziger Jahre hinein“ versteht „seine[n] anti-normalistischen Impetus“ (Link 2002, 70f.) Auch Gerd Koenen erkennt einen Kernbestand an Ideen: „Von einer ‚internationalen Jugendbewegung‘ als einem tatsächlichen Gesamtphänomen kann nur schwerlich die Rede sein. Aber inmitten aller faktischen Unterschiede und ideologischen Differenzen gab es doch vage Identifizierungen und Affinitäten, die sich aus einer generationellen Gemeinsamkeit der Anlässe und der Motivationen speiste. Oder jedenfalls gab es die enthusiastische Vorstellung einer solchen Gemeinsamkeit – die insoweit dann auch eine Realität war.“ (Koenen 2002, 68)
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jedoch ein diskursiver Konsens mit den radikalen rätedemokratischen, sozialistischen Modellen der Aktivisten dennoch nicht herstellbar, erst recht nicht hinsichtlich eines nicht gewaltfreien Instruments zur Erreichung dieses Ziels. Ein Demokratiekonzept außerhalb der bestehenden Demokratie ist für die etablierte intellektuelle Linke undenkbar. In diesem Sinn mahnt Adorno die Aufklärungsbewegung um Anstrengungen zum Wohle einer Redemokratisierung der verbesserungswürdigen Demokratie21, in diesem Sinn prägt Max Horkheimer sein berühmtes Diktum von der schlechtesten Demokratie als immer noch jeglicher Diktatur überlegen – um der Wahrheit willen.22 Die Kernaussage des gegenwartsbezogenen Demokratiediskurses der studentischen und der intellektuellen Linken lautet: ‚Die Bundesrepublik ist in Gefahr ein autoritärer Staat zu werden, es zeigen sich Tendenzen der Entdemokratisierung‘. Weniger Vorsichtige sind der Überzeugung: ‚Die Bundesrepublik ist ein autoritärer Staat.‘ Wenn die studentische und die intellektuelle Linke Ende der 1960er Jahre gegenwartsbezogen über Demokratie redet, redet sie daher über Demokratiedefizite. Entsprechende Formeln sind: Krise der politischen Demokratie; Mangel an Demokratie in der Bundesrepublik; verbesserungswürdige Demokratie; Unzufriedenheit mit der gesellschaftlichen Realisierung dessen, was man sich unter Demokratie vorstellt; Ideal von Demokratie nicht genügt; unvollkommene Formen der Demokratie; kümmerlicher Ansatz von Demokratie in Deutschland; steigende Fragwürdigkeit der Demokratie; fragwürdige Demokratie.
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ich glaube, daß der Unterschied zwischen einem faschistischen Staat und dem, was ich heute als Potential innerhalb der demokratischen Spielregeln zu beobachten glaube, ein Unterschied um das Ganze ist. Und ich würde sagen, daß es abstrakt wäre und in einem problematischen Sinne fanatisch, wenn man diese Unterschiede übersehen würde, wenn man es deshalb für wichtiger hielte, gegen die wie immer auch verbesserungswürdige Demokratie eher anzugehen als gegen den sich schon sehr mächtig regenden Gegner. Wieweit unsere Möglichkeiten gehen, innerhalb der Demokratie die Verhältnisse selbst zu verändern, das ist zum Teil auch eine Frage der Energien für eine Aufklärungsbewegung, die über die bisher üblichen Mittel hinausgeht. (Adorno 1967c, 328f.) Nicht wenige meiner Impulse sind denen der Jugend in der Gegenwart verwandt, Sehnsucht nach dem Besseren, nach der richtigen Gesellschaft, mangelnde Anpassung an das Bestehende. Auch teile ich die Bedenken gegen die Bildungsarbeit an Schulen, Hochschulen und Universitäten. Der Unterschied betrifft das Verhältnis zur Gewalt, die in ihrer Ohnmacht den Gegnern gelegen kommt. Offen zu sagen, die fragwürdige Demokratie sei bei allen Mängeln immer noch besser als die Diktatur, die ein Umsturz heute bewirken müßte, scheint mir jedoch um der Wahrheit willen notwendig zu sein. (Horkheimer 1968a, 349)
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Entschiedenere Urteile sprechen der Gegenwart jegliches Demokratischsein ab – Es herrscht keine Demokratie – und die Wortbildungen (demokratiefeindlich, antidemokratisch, undemokratisch) sind ganz überwiegend Repräsentationen des negativen Demokratiekonzepts: demokratiefeindliche Politik / Tendenzen; in demokratiefeindlicher Weise; Härte und Demokratiefeindlichkeit; antidemokratischer Charakter der politischen Institutionen; antidemokratische Entwicklung; autoritäre und undemokratische Hochschule; undemokratischer Terrorismus und Totalitarismus; undemokratische Herrschaftsfunktionen; undemokratische Staatsgewalt; eine undemokratisch ausgebildete Polizei; undemokratische Autoritätsformen; wissenschaftsfeindlich und undemokratisch; undemokratische Entscheidungsstruktur; Verhärtung undemokratischer Verhältnisse; Verschleierung undemokratischer Absichten. Dieses negative Demokratiekonzept repräsentieren auch solche Kollokationen, in denen die Zuschreibungen, die Demokratie darin erfährt, aus linker Weltsicht Stigmatisierungen gleichkommen: bürgerlich, autoritär, kapitalistisch sind die meistgebrauchten Partnerwörter in diesem Sinn, um einen als demokratisch defizitär ausgemachten Zustand zu repräsentieren.23 Es sind diejenigen marxistischen Kategorien, mit denen Horkheimer bereits Ende der 1930er Jahre nichtdemokratische Prinzipien erklärt hat, und sie sind Systembezeichnungen.
Gesellschaftspolitische Abwertung drücken die Beteiligten aus mit Formulierungen, die das zeitgemäße Ideal der Wahrhaftigkeit, der Ehrlichkeit, der Echtheit, kurz: der Widerspruchslosigkeit zwischen Sein und Sollen als unerreicht bezeichnen. Auf dieser Folie wird die Gegenwartsdemokratie bewertet als pseudodemokratisch, demokratisch genannt, scheindemokra-
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die formelle Freiheit der bürgerlichen Demokratie (Dreßen 1968); die Lebenslüge der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie (Krippendorff 1968, 164); „Involutionsprozeß“ der bürgerlichen Demokratie (Offe 1968c, 370); Kardinalwiderspruch der bürgerlichen Demokratie (SDS 1968f, 103); die bürgerlich-demokratischen Formen der Kapitalherrschaft (Untergang der Bildzeitung 1968, 20); die bürgerliche Demokratie, in der wir leben (Dutschke 1967e, 79); der studentische Protest gegen eine autoritäre und undemokratische Hochschule (Anonym 1968b, 340); ein treuer Reflex der autoritär-demokratischen Leistungsgesellschaft (Marcuse 1967c, 48); jedes restaurative, kapitalistisch-demokratische System (Reiche 1968a, 25); die kapitalistischen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse durch demokratische Verhältnisse zu ersetzen (Negt 1968a, 22); des Übergangs von der indirekten Demokratie des korporativen Kapitalismus zur direkten Demokratie (Marcuse 1969, 103) Den Gegensatz zwischen Demokratie und Kapitalismus pointiert Franz-Josef Degenhardt sinnfällig in seinem prominenten Refrain: Und um es genau zu sagen ohne alle Poesie: Weg muß der Kapitalismus, her muß die Demokratie (Degenhardt 1968, 113f.) Das Demokratiedefizit verdichtet Rudi Dutschke mit dem Kompositum Interessendemokratie: Ich denke, daß die Parteien und das Parlament nicht mehr die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse von vielen Menschen repräsentieren. Wir haben eine Interessendemokratie. Eine Vielfalt von Interessengruppen trifft sich an der politischen Börse und macht in der Anerkennung des bestehenden Staates nur noch einen Scheinkampf um den Anteil am Brutto-Sozialprodukt. (Dutschke 1967k, 145)
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tische Fassade oder auch als formale, als formalisierte Demokratie.24 – Übrigens: Freiheitlich-demokratisch ist kein Element des studentischen oder intellektuellen Demokratiediskurses, es ist dies die Kategorie der amtierenden politischen Kaste, unserer Herren an der Spitze, um die Formulierung Marx’ und Dutschkes zu gebrauchen, und die Begründung für die Vermeidung mag im inflationären Gebrauch und in der Referenz auf den für autoritär und undemokratisch gehaltenen Staat liegen – wiederum also in dem Phänomen des Widerspruchs zwischen Sollen und Sein.25 Wenn wir danach fragen, wie das Defizite ausweisende Demokratiekonzept argumentativ kontextualisiert wird, stellen wir fest, dass das Grundgesetz zentrale Berufungsinstanz ist. Die Diskursbeteiligten, auch die studentischen, geben sich als Verfassungspatrioten in dem Sinn, dass sie ihr Demokratiekonzept ganz wesentlich auf diejenigen begrifflichen Elemente abstellen, die das Grundgesetz vorgibt, um so die Wirklichkeit einer anfangs demokratischen und dann zunehmend un- bzw. nichtdemokratisch werdenden Bundesrepublik zu konstruieren. In zahlreichen Belegen berufen sich deren Verfasser daher auf die bundesdeutsche Verfassung als zu bewahrende Instanz, auf den demokratischen Rechtsstaat als zu schützende
24 der hinter einer scheindemokratischen Fassade herrschenden Bürokratien (Weller 1967, 98); fadenscheiniges freiheitlich-demokratisches Mäntelchen (Berliner Manuskripte 1967); das pseudodemokratische Synchron (SDS 1968f, 102); pseudo-demokratische Ornament an einem Gesetzeswerk, das von den Studenten insgesamt bekämpft werde und das vor allem ein Mittel ihrer Domestizierung sein solle (ebd. 109); aus den Fehlern des faschistischen Pluralismus hat der demokratisch genannte schließlich auch gelernt (Agnoli 1968b, 26); Aktionen, in denen die Westberliner Pseudodemokratie entlarvt wird (Heinemann 1967); Diese Form der Herrschaft (oft euphemistisch als „pluralistische Demokratie“ bezeichnet) (Gäng / Reiche 1968); wir sind in dieser Pseudo-Demokratie von einer sich selbst bestätigenden Mehrheit umgeben (Marcuse 1968e, 497). Diese Bewertung nimmt Horkheimer zum Anlass einer Polemik gegen Dutschke: wenn Herr Dutschke in unzähligen Versammlungen ungestört die Demokratie als bloßen Schein denunziert, dann führt er sich selbst ad absurdum. (Horkheimer 1968c, 336); eine demokratisierte Struktur des Clubs unter Vermeidung formaler Demokratismen der traditionellen Institutionen (Republikanischer Club 1968); intensive Diskussionen über die Durchbrechung der Spielregeln der formalen Demokratie (Dutschke 1968b, 74); Bedingungszusammenhang zwischen formaler Bürokraten-Demokratie und Faschismus. (SDS 1968f, 102); Entleerung der formalen Demokratie, die nur an der gesellschaftlichen Basis bekämpft werden könnte (ebd. 109); das eigentliche alles beherrschende Problem, nämlich wie, ob überhaupt und in welcher Weise formale Demokratie zu einer inhaltlichen werden kann. (Adorno / Szondi 1967, 304); einer im Ritual verharrenden formalen Demokratie (Lefèvre 1967a, 4). 25 „Wer die zu dinglicher Gewalt geronnene Formel von der ‚freiheitlich-demokratischen Grundordnung‘ im Kopf hat und daran denkt, wie gerade die autoritärsten westlichen Regierungen darauf bedacht gewesen sind, aus inszenierten Menschenrechtskampagnen Kapital für aggressive Feinderklärungen zu schlagen, der wird moralische Hemmungen haben, mit solchen Worten in aller Unschuld umzugehen.“ (Negt 2001, 160f.)
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Staatsform, auf die Demokratie als verfassungsmäßig vorgesehene Regierungsform. Formeln wie Entwertung der Grundrechte; den demokratischen Rechtsstaat in einen Polizeistaat umwandeln; demokratische und rechtsstaatliche Formen beiseite lassen; Verfassungsordnung aus dem Geist des Grundgesetzes erneuern; Abbau der Demokratie; Sünden gegen die Demokratie; Vergehen / Verstoß gegen Verfassung und Demokratie; Aushöhlung / Transformation / Rückbildung / Erschütterung der Demokratie
belegen: Die Demokratie von Grundgesetz und Verfassung ist, wenn es die bundesrepublikanische Gegenwart zu konstituieren gilt, nicht nur nicht Ziel von Protest und Widerstand, sondern im Gegenteil Berufungsinstanz, mit der man Protest und Widerstand legitimiert. Dieser Befund wird für die Neue Linke überhaupt bestätigt. Sie „sah sich nicht nur als im Rahmen des Grundgesetzes operierend, sondern sie verstand sich zugleich als die konsequente Hüterin der Grundwerte dieser Verfassung.“ (Richter 2008, 57) So erklärt sich die dichte Belegung der Stigma- und Kampfvokabel entdemokratisieren / Entdemokratisierung, eine Wortbildung, die ausdrückt, dass ein ursprünglicher Zustand der Demokratie oder, genauer, des Demokratisiert- bzw. Demokratischseins, im Sinn eines Prozesses rückgängig gemacht ist.26 Ebenso leitet sich aus diesem Kontext der Gebrauch der handlungsbezeichnenden Leitvokabel Demokratisierung ab.27 Zur Ausdeutung des Leitworts Demokratie wagt Hans Maier […] die These …, daß sich die enge Gemengelage dieses Begriffs mit rechtsstaatlichen, parlamentarischen, parteistaatlich-pluralistischen Formelementen (die wiederum für das Grundgesetz charakteristisch sind) in den späten 60er Jahren mehr und mehr aufgelöst hat, daß die radikal-demokratischen Begriffsinhalte sich isoliert haben – so sehr, daß das Wort heute, vor allem in der dynamisierten Form der ‚Demokratisierung‘, dabei ist, ein Kampfbegriff gegen rechtsstaatliche und parlamentarische status-quo-Befestigung schlechthin zu werden. (Maier 1979, 33f.)
26 aufklärende Aktionen und Diskussionen der fortschreitenden Entdemokratisierung der Bundesrepublik entgegenzuwirken. (Republikanischer Club 1968); Die bewußteste und aktivste Opposition gegen die Entdemokratisierung der Gesellschaft geht von der Universität aus. (Dutschke 1967e, 81); die allgemeine Situation von West-Berlin … ist spätestens seit dem Tod von Benno Ohnesorg klar: kopfloser Senat, entdemokratisierte Polizei (Dutschke 1967b, 268); Der Ruf der studentischen Opposition nach Demokratisierung der Hochschulen ist von dem geschichtlichen Prozeß der Entdemokratisierung der Gesellschaft nicht zu trennen. (Dutschke 1967c, 61); eine eingehende Analyse des Grundgesetzes müßte zunächst klären, ob und in welchem Ausmaß die Entdemokratisierung der Bundesrepublik schon grundgesetzlich intendiert wurde (Agnoli 1968b, 29). 27 Straßner stellt die begriffliche Konsequenz dar: „Der ‚Reform‘-Begriff der SPD bekam eine neue Qualität mit Hilfe des Dynamik enthaltenden APO-Terminus ‚Demokratisierung‘.“ (Straßner 1992, 249)
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Demokratisierung als Kampfbegriff – das entspricht dem (Selbst-)Verständnis der Aktivisten, die diese Handlungsbezeichnung vorzugsweise verwenden in Verbindungen wie Demokratisierung der Hochschule / Universität, der Gesellschaft / der gesellschaftlichen Bereiche, Demokratisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft, Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Verbindungen sind, insofern sie einen Zukunftsbezug haben, vorzugsweise Referenzen der Handlungsausdrücke Forderung, Ruf nach.28 Wir können sagen: Unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer der beiden am Diskurs beteiligten Gruppen bedeutet Demokratisierung in sehr allgemeinem Sinn ‚Ermöglichung politischer Teilhabe‘. Kontextpartner sind kritische Rationalität, rationaler Legitimationszwang, Verhältnisse durchsichtig machen, gerechtere Formen menschlichen Zusammenlebens, Mitbestimmung, Emanzipation, Kontrolle, Selbstbestimmung – es sind dies die im kritischen Diskurs Ende der 1960er Jahre allgemein approbierten Hochwertkonzepte.29 Die Wortbildung impliziert als Bezeichnung eines zu erreichenden Zu-
28 Forderung nach Demokratisierung der Universität … Demokratisierung der Universität impliziert, dass politische Sachverhalte als solche behandelt werden … Demokratisierung in diesem Sinn schließt eine Effizienzsteigerung der wissenschaftlichen Forschung und Lehre nicht aus (Wellmer 1968, 115f.); die Unmöglichkeit wirklicher Demokratisierung ihres Arbeitsplatzes Universität ohne Demokratisierung der Gesellschaft … die Notwendigkeit der Demokratisierung der Gesellschaft (Knapp / Schweichel 1968, 83f.); objektives Interesse: die Demokratisierung der Hochschulen, die Demokratisierung der Gesellschaft! (Negt 1967a, 244); Eine Reform … mit dem Ziel der Demokratisierung der Hochschule (Habermas 1969b, 12); unseren Forderungen nach radikaler Demokratisierung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Dutschke 1967n, 86); es geht … um die politische Rolle der Studentenschaft, um die Reorganisation des Lehrbetriebs und um die Demokratisierung der Hochschule im ganzen. (Habermas 1967c, 109); tägliche[…] Auseinandersetzung um Demokratisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft, auch des Parlaments (Aufruf 1968, 104); Der Ruf der studentischen Opposition nach Demokratisierung der Hochschulen ist von dem geschichtlichen Prozeß der Entdemokratisierung der Gesellschaft nicht zu trennen. (Dutschke 1967c, 61); Versuche der Demokratisierung der gesellschaftlichen Bereiche … Forderungen für Demokratisierung des Unterrichts (Reiche / Gäng 1967, 34); radikale Veränderung des Systems, … umfassende Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft (Seeliger 1968, 144); Forderung nach Demokratisierung der wissenschaftlichen Produktion in der Hochschule … diese Forderung nach Demokratisierung der Hochschule (Lefèvre 1968a, 94). 29 Demokratisierung der Universität … zielt … auf eine Organisation des Wissenschaftsbetriebes, die der innersten Intention der wissenschaftlichen Forschung selbst entspricht: der Intention auf Ausbreitung kritischer Rationalität. Demokratisierung der Universität impliziert, daß politische Sachverhalte als solche behandelt werden und daß hochschulpolitische Entscheidungen unter einen rationalen Legitimationszwang gestellt werden. (Wellmer 1968, 115f.); Die unmittelbare Forderung geht auf eine stärkere Integration des angebotenen Stoffes mit den eigenen, im Rahmen der Protestbewegung selbst erworbenen Erfahrungen und Interessen … Eine Reform …, die mit dem Ziel der Demokratisierung der Hochschule solche Initiativspielräume erst einmal schaffen und institutionell sichern muß (Habermas 1969b, 12); Kampf um Öffentlichkeit und Kontrolle auf allen Schauplätzen des gesellschaftlichen Lebens … die Verhältnisse überall durchsichtig machen … die notwendige Erneuerung der parlamentarischen Formen … Teil jener allgemeinen Demokratisierung unseres öffentlichen Lebens (Hofmann 1968, 105f.); Ruf der studentischen Opposition nach Demokratisierung der Hochschulen … ihre Auseinandersetzung als Fortsetzung des bald hundertjährigen Kampfes um gerechtere Formen menschlichen Zusammenlebens in Deutsch-
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stands etwas nicht Vorhandenes: Dass die Bundesrepublik allenfalls in formaler Hinsicht dem entspricht, was man sich unter einer wirklichen Demokratie vorstellt, dass sie autoritäre, post- oder präfaschistische Merkmale hat, darüber war man sich weitgehend einig – das haben wir gesehen. Dass dann, wenn die Zukunft mit einem neuen Demokratiekonzept auszustatten ist, die studentische Linke den Boden der Verfassung verlässt, werden wir anschließend sehen (s. u. Kapitel 8.3).
Dieser Befund ist die Voraussetzung für die Modellierung von Demokratiekonzepten – es geht um Partizipationsdemokratie, und zwar unter den Bedingungen eines Staates, dessen Verfassung Elemente direkter Demokratie nur sehr begrenzt vorgesehen hat. Das Grundgesetz widerspricht insofern den Ideen der radikalen Demokratie, als es geprägt ist von Verzicht „auf alles, was eine plebiszitäre Führerdemokratie im Weber’schen Sinne einschließlich direktdemokratischer Arrangements hätte fördern können“ (Schmidt 2008, 338). Das sich damit ausdrückende „tiefe[…] Mißtrauen gegenüber dem Volk“ (Boch 1999, 531), das plebiszitäre Elemente aus der Verfassung heraushielt, ist natürlich wohl begründet in der Erfahrung der Massenhysterien der Nazizeit. Was wird dagegen gesetzt? Die ein kritisch reflektiertes Demokratiekonzept entwerfen, stellen Demokratiemodelle vor, die sämtliche Lebenskreise durchwirken:30 Die Bewegung zur Erneuerung der Demokratie etwa deutet Demokratie als Lebensform, als Kampf um Öffentlichkeit und Kontrolle auf allen Schauplätzen des gesellschaftlichen Lebens, sie will die Verhältnisse überall durchsichtig machen: im Staat wie in den Wirtschaftsbetrieben, in den Schulen und Hochschulen wie in den Verbänden und Parteien (Hofmann 1968, 106). Fehlende Möglichkeit der Teilhabe an der Gestaltung von Politik und Gesellschaft ist das Monitum, in dem sich die junge, mittlere und ältere Generation (mit ihrem entsprechenden Weltbild), in dem sich orthodoxe bis gemäßigte Linke (mit ihrer entsprechenden Gesellschaftstheorie) zusammenfinden.
land (Dutschke 1967c, 61); Forderungen für Demokratisierung des Unterrichts, für Mitbestimmung in Lehrplangestaltung und bei Zeugnisgebung (Reiche / Gäng 1967, 34); Forderung nach Demokratisierung der wissenschaftlichen Produktion in der Hochschule … Emanzipation der lebendigen Produktivkraft Mensch zur Bestimmung und Aneignung des gesamten Produktionsprozesses seines Lebens. (Lefèvre 1968a, 94); Demokratisierung … Kontrolle … Selbstbestimmung (Lederer 1968, 117). 30 „Der Forderung ‚Demokratie hier und jetzt! an Ort und Stelle!‘ lag das legitime Bedürfnis zugrunde, ein neues Politikverständnis zu entwickeln, Politik als einen auf Lebensinteressen bezogenen Produktionsprozeß zu begreifen und im überschaubaren Umkreis der eigenen Erfahrung überprüfbar zu machen, worin der Befreiungsgehalt politischen Handelns und demokratischer Selbstorganisation besteht und was demgegenüber Ausdruck modernisierter Herrschaftspraktiken ist.“ (Negt 2001, 162)
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Die Konzepte dreier herausragender Vertreter jeweils einer Generation, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Rudi Dutschke / SDS, können als exemplarisch gelten. Sie sind – auf je spezifische Weise – in den Horizont des Modells einer Partizipationsdemokratie zu stellen. Das ist der ihnen gemeinsame aufklärerisch bestimmte demokratische Grundgedanke. Dass dieser Grundgedanke nicht ausreicht, um von einem homogenen kohärenten Demokratie-Konzept Ende der 1960er Jahre sprechen zu können, dass Vorstellungen von Teilhabe und Teilnahme in hohem Maße divergieren, ist ebenso darzustellen.
8.1 Pädagogisieren: Theodor W. Adorno – „Der mündige Mensch“ Dass der Akademiker die Politik nicht sich selbst überlassen darf, gehört zu Adornos Selbstverständnis als Hochschulprofessor. Er äußert sich etwa zu dem Thema ‚Demokratisierung der deutschen Universitäten‘: der Rückzug [der Akademiker] von der Politik selber negiert das demokratische Prinzip auch dann, wenn man es kontemplativ gelten lässt. Das ist die Achillesferse der Demokratisierung der deutschen Universitäten. (Adorno 1952 / 53, 336f.) Unter dieser Voraussetzung lässt sich Adornos demokratische Grundüberzeugung rekonstruieren, die auf weitere Implikationen verweisen muss, zum einen natürlich auf seine Biografie. Adornos Demokratiekonzept ist motiviert von seinen Erfahrungen, die er als Emigrant mit der amerikanischen Demokratie machte – der democratic way of life, Demokratie als gesamtgesellschaftliches Lebensprinzip, entspricht, bei aller Distanz, die er ansonsten zu der amerikanischen Gesellschaft einnahm, seinem Demokratieverständnis.31 Zum andern sind seine gesellschaftskritischen Analysen der fünfziger Jahre als Analysen der deutschen Nachkriegsdemokratie beschreibbar, insbesondere ‚Schuld und Abwehr‘ von 1955. Sie erhalten durch den Wiederauftritt des manifesten Antisemitismus Weihnachten 1959 (vgl. dazu Albrecht 1999a, S. 393ff.) einen weiteren Schub. Die Analysen stehen im Zusammenhang dessen, was gemeinhin „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ genannt wird und damit mit einem Ausdruck belegt ist,
31
Darin unterscheiden sich Adorno und Horkheimer aufs entschiedenste: Während Horkheimers Amerika-Verhältnis stark geprägt war von Dankbarkeit gegenüber seinem Gastland, aber auch von seiner tiefen sachlich begründeten Überzeugung von der Richtigkeit amerikanischer Politik und Gesellschaft, hat Adorno ein distanziert-kritisches Verhältnis.
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8 Modellieren: Partizipationsdemokratien
den Adorno als „höchst verdächtig[es]“ Schlagwort (Adorno 1959, 125) verwirft. Er setzt dagegen ein erzieherisches Demokratiekonzept, eine demokratische Pädagogik (ebd. 141).32 Darauf ist näher einzugehen. Adornos Demokratiekonzept, das – wiewohl er seinen Frieden mit der Nachkriegsdemokratie gemacht zu haben schien – eine prinzipielle Skepsis bzgl. Stabilität und Qualität der deutschen Nachkriegsdemokratie zur Voraussetzung hat, ist ein Komplex, in dem sich die Axiome seines Antikapitalismus, seiner Theorie der autoritären Persönlichkeit sowie seines Faschismuskonzepts bündeln. Diese Skepsis scheint empirisch begründet, denn Adorno führt Experimente, sprich: Gruppendiskussionen durch. Der Befund: Diejenigen, die eine Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus ablehnen, drücken gleichzeitig eine kritische bzw. negative Haltung zum Westen und zur Demokratie aus. Aus dem diesem Befund zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse können wir ableiten: Adorno bindet Demokratie an die Bereitschaft der Deutschen, ihre Vergangenheit zu bearbeiten – Vergangenheitsbearbeitung und Demokratie bilden für ihn insofern eine Ligatur. Damit lässt sich eine Verbindung zum westdeutschen Schulddiskurs der frühen Nachkriegszeit herstellen. Kennzeichen des Diskurses der ersten Nachkriegsjahre ist ebenfalls ein Konnex zwischen Demokratie und Schuld, wie ihn etwa Adolf Grimme pointiert: „Demokratie und Mitschuld … sind zwei Begriffe, in denen sich die Zukunft und die Vergangenheit wie in einem Brennpunkt auffangen.“ (Grimme 1946, 93; vgl. dazu Kämper 2005, 442ff.) Die Struktur der autoritären Persönlichkeit manifestiert sich hier, deren Kontinuität Adorno ebenso an der deutschen Nachkriegsdemokratie zweifeln lässt, wie, auf der Ebene des ökonomischen Systems, der Fortbestand des Kapitalismus, der zu verantworten hat, dass der Faschismus nachlebt. Denn: Die ökonomische Ordnung und, nach ihrem Modell, weithin auch die ökonomische Organisation verhält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermag, und zur Unmündigkeit. Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von
32
Mit seinem höchsten Anspruch an diese demokratische Pädagogik erklärt sich etwa die Sorgfalt, mit der er in dem Interview mit einer Schülerzeitung die Aufgaben eines politischen Unterrichts formuliert: Auf der einen Seite soll er die jungen Menschen zur Demokratie erziehen, auf der anderen Seite, wenn er sich ernstlich mit der Frage beschäftigt, was verwirklichte Demokratie heißt, kann ihm sofort vorgeworfen werden, daß er parteipolitische Propaganda betreibt. Insofern sind die Vorwürfe gegenüber dem politischen Unterricht zum Teil unberechtigt, weil derjenige, der ihn erteilt und es mit der Demokratie ernst meint, von vornherein einer Art Quadratur des Kreises gegenübersteht. (Horkheimer / Adorno 1968, 337)
8.1 Pädagogisieren: Theodor W. Adorno – „Der mündige Mensch“
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Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten. (Adorno 1959, 139)
Diese Konvergenz des ökonomischen Systems mit, wie wir sagen können, mentalen Dispositionen (die Adorno mit den Bezeichnungen Abhängigkeit, anpassen, sich fügen, autonome Subjektivität durchstreichen repräsentiert) leitet zu der demokratischen Grundüberzeugung Adornos, deren Basis nicht anders denn aufgeklärt ist: Autonomie und Selbstbestimmung sind Kernelemente seines Demokratiekonzepts – wir kommen darauf zurück. Zunächst jedoch muss noch auf ein weiteres Element demokratischen Denkens bei Adorno hingewiesen werden, nämlich das Element des Anti-Antisemitismus. Denn: Insofern autoritäre Persönlichkeit und Faschismus und über diesen auch autoritäre Persönlichkeit und Antisemitismus aufeinander bezogen sind, stehen im Denken Adornos umgekehrt Demokratie und AntiAntisemitismus zueinander in Beziehung. Diesen Konnex exemplifiziert er in Bezug auf das Denken der sog. Ambivalenten. Sie […] verbinden nicht Antisemitismus mit Antidemokratismus, sondern suchen gerade von der Demokratie her gegen die Juden zu argumentieren, ohne dabei die Frage aufzuwerfen, ob ihr Prinzip der Herausgliederung der Juden aus dem Universum der Staatsbürger nicht grundsätzlich gegen eben jenes demokratische Prinzip verstößt, auf das sie sich berufen. Die Reaktionsweise ist: wir haben nichts gegen die Juden, wir wollen sie nicht verfolgen, aber sie sollen nichts tun, was einem … Interesse des Volkes widerspricht. Sie sollen insbesondere keinen überrepräsentativen Anteil an hochbezahlten und einflußreichen Berufen haben. (Adorno 1955, 294)
Das Demokratiekonzept Adornos ist Produkt seiner Faschismusanalysen, wir können sagen: Es ist das Komplement zu seiner Faschismustheorie. Die wiederum basiert auf seinen Erkenntnissen, die er in Bezug auf den autoritären Charakter formuliert hat. Autoritätsgebundenheit und Ichschwäche hält Adorno für die psychologischen Faktoren, die Nationalsozialismus und damit Auschwitz ermöglichten, es sind diejenigen Faktoren, die nach dem 8. Mai 1945 noch wirksam sind und die Demokratie gefährden.33 Autoritäre Charakterstrukturen sind nach seiner Überzeugung weiterhin Ursache für die „fortdauernde faschistische Bedrohung“ (Bock 1999, S. 559).
33
Das Erkenntnisinteresse der „Studien zum autoritären Charakter“ formuliert Adorno in diesem Sinn: „Wenn es ein potentiell faschistisches Individuum gibt, wie sieht es, genau betrachtet, aus? Wie kommt antidemokratisches Denken zustande? Welche Kräfte im Individuum sind es, die sein Denken strukturieren? Wenn es solche Individuen gibt, sind sie in unserer Gesellschaft weit verbreitet? Und welches sind ihre Determinanten, wie der Gang ihrer Entwicklung?“ (Adorno 1950, 2)
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8 Modellieren: Partizipationsdemokratien
Schauen wir nun, wie mit diesen Voraussetzungen sich Adornos Demokratiekonzept Ende der 1960er Jahre dokumentiert. Sein Monitum ist das eines Defizits – es gebe keine inhaltliche Demokratie: Adorno formuliert als das eigentlich beherrschende Problem, … wie, ob überhaupt und in welcher Weise formale Demokratie zu einer inhaltlichen werden kann (Adorno / Szondi 1967, 304). Zwar steht diese Aussage im Kontext des Themas ‚Demokratie und / in der Hochschule‘, über das Adorno mit Peter Szondi diskutiert, jedoch hat Adorno damit zugleich das den Demokratiediskurs der späten 1960er Jahre überhaupt dominierende Motiv formuliert: Man hält die praktizierte Demokratie für eine formale, die Gegenwartsgesellschaft und -politik damit für tendenziell demokratiefeindlich. Wir haben gesehen, dass die nazistische Vergangenheit und die Demokratisierung der Gesellschaft zwei Obligos seines demokratischen Konzepts sind. Insofern entwickelt Adorno sein Demokratiekonzept insbesondere im Kontext seiner Auschwitzreflexionen, vor allem in den beiden Radiodiskussionen ‚Erziehung – wozu?‘ und ‚Erziehung zur Mündigkeit‘, die er für den Hessischen Rundfunk in den Jahren 1966 und 1969 mit Hellmuth Becker, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, geführt hat. Ein weiterer wichtiger Referenztext ist der ebenfalls im Hessischen Rundfunk ausgestrahlte Vortrag ‚Erziehung nach Auschwitz‘ (1966). Mit diesen Radio-Beiträgen ist Adorno wesentlich an der Entwicklung der nachkriegsdeutschen politischen Kultur und dem Selbstverständnis der Nachkriegsgenerationen beteiligt.34 Ihren Erfolg sollten wir nicht zuletzt in der Methode suchen, mit der Adorno sein Demokratiekonzept darlegt und vermittelt. Es ist die Methode äußerster sprachlicher, genauer, lexikalisch-semantischer Präzisierung. Adornos Kategoriengerüst zur Konstituierung seines Demokratiekonzepts besteht aus einem überschaubaren Register aufklärerischrationalistischer Termini: Erziehung und Mündigkeit, Selbständigkeit, Bewußtsein und Willensbildung, Erfahrung und Verstand sind seine zentralen Elemente, deren Vermittlung einmal mehr der Sprachbezogenheit, dem Sprachdenken Adornos unter dem Zeichen höchstmöglicher Erkenntnis entspricht. Diese Konzeptelemente stehen zum Teil in einem Kausalitätsverhältnis zueinander. Die für seinen Demokratiebegriff entscheidende indes ist die Ligatur von Mündigkeit und Demokratie: Die Forderung zur Mündigkeit scheint in einer Demokratie selbstverständlich – mit dieser Überzeugung nimmt Adorno explizit Kants Definition von Aufklärung auf, die dieser in seiner Abhandlung ‚Beantwortung der Frage: Was ist Aufklä34 Clemens Albrecht wertet diese Rundfunkvorträge als Adornos „Beitrag zur politischen Bildung in den 60er Jahren“ (Albrecht 1999a, S. 404).
8.1 Pädagogisieren: Theodor W. Adorno – „Der mündige Mensch“
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rung?‘ gibt: Da definiert er, so Adorno, die Unmündigkeit und impliziert dadurch auch die Mündigkeit. Kant sagt, selbstverschuldet sei diese Unmündigkeit, wenn die Ursachen derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegen, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Mündigkeit ihrerseits wiederum ist Konstituente des entscheidenden Demokratieaspekts der Willensbildung: Den Bezug zu seinem Demokratiebegriff stellt Adorno derart her, dass er Willensbildung als Voraussetzung von Demokratie versteht und Mündigkeit als Form von Willensbildung interpretiert. Dies ist eine Interpretation, die es ihm erlaubt, z. B. die Institution der repräsentativen Wahl zu begründen: Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl zusammenfaßt – eine Begründung, auf die er im Sinn einer Voraussetzung und als Paraphrase von Mündigkeit weiterhin Bezug nimmt: Soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so sind die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt. (Adorno 1969d, 133) Willens-Bildung – das Grundwort der Komposition drückt es aus: Willensbildung ist Gegenstand von Erziehung, und Erziehung im Sinne Adornos ist auf jeden Fall nicht sogenannte Menschenformung. Erziehung ist vielmehr die Herstellung eines richtigen Bewusstseins. Dieses wiederum ist ohne politische Implikation nicht zu denken, ist von eminenter politischer Bedeutung. Die Idee des Bewusstseins ist politisch gefordert und damit ist endgültig die Verbindung zum Demokratiekonzept hergestellt: […] eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen. Wer innerhalb der Demokratie Erziehungsideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbständige bewusste Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet sind, der ist antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert. (Adorno 1966b, 107)
Was also, so muss die letzte Frage lauten, sind mündige Menschen, was bedeutet Erziehung zur Mündigkeit? Adorno erklärt auch diesen Begriff, und zwar im definitorischen Dreischritt, mit der Kategorie Bewußtmachung – Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie Bewußtmachung35 –,
35
Vielleicht in Bezug auf kein anderes Leitwort des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre ist die enge konzeptuelle Bezogenheit der studentischen Linken auf die Kritische Theorie so eindeutig wie hinsichtlich des Leitkonzepts Bewußtsein (mit Bewußtmachung, -werdung etc.). Dutschkes Diskursbeiträge zur Gegenwartsgesellschaft und den Möglichkeiten ihrer Veränderung sind ohne diese Kategorie nicht zu denken.
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8 Modellieren: Partizipationsdemokratien
die er dann mit Rationalität gleichsetzt: Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie Bewußtmachung, Rationalität, die er ihrerseits schließlich definiert: Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realitätsprüfung, und diese involviert regelmäßig ein Moment von Anpassung. (Adorno 1966b, 108f.) Nehmen wir eine letzte Kategorie hinzu, die Adorno im weiteren Verlauf dieses Gedankengangs einführt, es ist die Kategorie der Erfahrung. Adorno versteht Erfahrung als eine aufklärerische Leitidee, die er mit dem Demokratiemoment Mündigkeit gleichsetzt. Zunächst: Erfahrung – es ist dies eine Bewusstseinskategorie, meint Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt. Dieser tiefere Sinn von Bewußtsein oder Denkfähigkeit … stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überein. Die Konklusion dieser nach den Regeln der semantischen Kunst angelegten Analyse, die wir Begriffsanalyse nennen können, lautet: Denken und geistige Erfahrungen machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit … miteinander identisch. (Adorno 1966b, 115–116) Insofern, so dürfen wir ergänzen, sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit und Erziehung zur Demokratie miteinander identisch. Diesen positiven entsprechen die negativen Bestimmungsstücke des Demokratiekonzepts Adornos. Es sind dies insbesondere die Kategorien autoritär und repressiv. Seiner Begründung für das Scheitern der Weimarer Demokratie etwa legt Adorno sein aufklärerisches Modell der Mündigkeit zugrunde. Er nimmt an, […] daß der Faschismus und das Entsetzen, das er bereitete, damit zusammenhängen, daß die alten, etablierten Autoritäten des Kaiserreichs zerfallen, gestürzt waren, nicht aber die Menschen psychologisch schon bereit, sich selbst zu bestimmen. Sie zeigten der Freiheit, die ihnen in den Schoß fiel, nicht sich gewachsen. Darum haben dann die Autoritätsstrukturen jene destruktive und – wenn ich so sagen darf – irre Dimension angenommen, die sie vorher nicht hatten, jedenfalls nicht offenbarten. (Adorno 1966a, 91f.)
Autoritär ist dann auch Argument in Bezug auf die Defizite der Gegenwartsdemokratie. Ich verkenne gar nicht die autoritären Tendenzen in einer ganzen Reihe von Punkten innerhalb unserer Demokratie lautet sein Statement auf einer Podiumsdiskussion (Adorno 1967c, 328). Das Argument repressiv benutzt Adorno im Zusammenhang mit seiner Rede wider die Notstandsgesetze: Auf die unsägliche deutsche Geschichte verweisend, die die Einführung verbiete36, seien es die repressiven Tendenzen, die diese Ge36
Obwohl es in anderen Staaten analoge Gesetze gibt, die auf dem Papier sich keineswegs humaner lesen, ist in Deutschland die Situation so durchaus verschieden, daß
8.2 Idealisieren: Jürgen Habermas – „Herrschaftsfreier Dialog“
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setze enthielten und die ein Ausweis seien dafür, dass Demokratie kein deutsches Lebensprinzip sei: Hierzulande enthalten derlei Gesetze unmittelbar repressive Tendenzen in sich, anders als etwa in der Schweiz, wo Demokratie unvergleichlich viel substantieller das Leben des Volkes durchdrungen hat. (Adorno 1968e, 392) Adorno plädiert für das Prinzip einer Partizipationsdemokratie, die sich in einem entwickelten Petitions- und Plebiszitsystem wie dem der Schweiz manifestiert. Adornos „demokratische Pädagogik“ ist zu beschreiben als Vermittlung eines Demokratiekonzepts, dessen Elemente semantisch präzise und eindeutig gefasst und aufeinander im Sinn einer Bedeutungsbeziehung bezogen werden. „Demokratische Pädagogik“ ist damit wenn nicht als eine sprachanalytische, dann doch eminent sprachbezogene Methode zu bezeichnen, mit der Adorno sein gesellschaftliches Grundanliegen, dass „Auschwitz nicht noch einmal sei“ in Beförderung demokratischen Bewusstseins umsetzt. Adornos positives Demokratiekonzept ist instrumentiert mit der klassischen Aufklärungsterminologie, und es ist Immanuel Kant nachgeschrieben – Mündigkeit. Demokratie im Verständnis Adornos ist eine Haltung bzw. Weltsicht, die vermittelt, zu der erzogen werden kann – Willensbildung. Echte Demokratie ist ein vom Einzelnen gelebtes Gesellschaftsprinzip, das auf einem entsprechenden Bewusstsein beruht – Bewußtmachung. Partizipationsdemokratie im Sinn Adornos können wir als den Ausdruck des selbständigen bewussten Willens jedes Einzelnen verstehen.
8.2 Idealisieren: Jürgen Habermas – „Herrschaftsfreier Dialog“ Adornos Schüler Jürgen Habermas (dies im weiteren Sinn zu verstehen, insofern Habermas nie bei Adorno studiert hat) gründet sein demokratisches Konzept selbstverständlich auf dieser Idee der Aufklärung. Demokratie ist ein Gegenstand der Kritischen Theorie. Die versteht Habermas „als Arbeit an einer Theorie der Demokratie, in welcher Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft von den für den Faschismus anfälligen Strukturen befreit
daraus keine Rechtfertigung des Vorhabens abgeleitet werden kann. Was in der Vergangenheit geschehen ist, zeugt gegen den Plan, gar nicht erst die Ermächtigungsgesetze, sondern bereits der Paragraph 48 der Weimarer Verfassung. Er erlaubte es, die Demokratie den autoritären Absichten des Herrn von Papen in die Hände zu spielen. (Adorno 1968e, 392)
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8 Modellieren: Partizipationsdemokratien
sind“ (Bock 1999, S. 562f.). Habermas erweitert das aufklärerische Demokratie-Konzept Adornos um einen kommunikativen Akzent: Es ist die Zeit der kommunikativen Wende, der (Wieder-)Entdeckung eines Gesellschaftskonzepts, das die menschliche Kommunikation als den eigentlichen, den wesentlichen Ort beschreibt, wo Gemeinschaft stattfindet.37 Habermas ist diesem Paradigma verpflichtet – er formuliert seinen kommunikativen Imperativ und versteht ihn als notwendiges Interpretament von Demokratie. Wir können uns einerseits auf seinen frühen Beitrag ‚Reflexionen zum Begriff der politischen Beteiligung‘ (1961), anderseits auf seine 1962 erschienene Habilitation ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit, schließlich auf seinen Vortrag ‚Universität in der Demokratie – Demokratisierung der Universität‘ berufen, den er am 20. Januar 1967 an der Freien Universität Berlin anlässlich der Universitätstage gehalten hat. Das Kategoriengerüst Habermas’, mit dem er seinen Demokratiebegriff entwickelt, besteht, außer aus den bereits von Adorno eingeführten Elementen Willensbildung und Vernunft außerdem aus kommunikative Akte bezeichnenden Kategorien wie Konsensus, herrschaftsfreier Dialog, Öffentlichkeit, Argument, kritische Erörterung. Elemente des Gegenkonzepts, also des negativen Demokratiebegriffs, sind bloßes Objekt, Selbstentmündigung. Seine Grundüberzeugung formuliert Habermas bereits 1958 in seiner berühmten Einleitung zu der zusammen mit v. Friedeburg und anderen veranstalteten Studie über den Politisierungsgrad der gegenwärtigen Studentengeneration. In dieser Einleitung legt Habermas sein demokratisches Ideal dar. Das Kriterium des Gleichgewichts der sozialtechnischen Demokratieauffassung aufnehmend, postuliert er: Zu den Gleichgewichtsbedingungen einer funktionierenden Demokratie gehört auch die Beteiligung der Staatsbürger an der Politik (Habermas 1958, 14) – eine verlorene Selbstverständlichkeit, begründet in der Verselbständigung der Parteien gegenüber dem Parlament [und den] Wählern (ebd. 29) und einem damit einhergehenden Verlust an Öffentlichkeit (ebd. 32). Auch Habermas verfolgt die Idee der Demokratie als Lebensform des mündigen Bürgers, wenn er als Ziel die Überführung personaler in rationale Autorität bestimmt.
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Indes: 1965 ist das Wieder-Geburtsjahr eines alten Paradigmas, denn die Idee der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit (Berger / Luckmann) bestimmt zwar die geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Forschung, sie ist jedoch natürlich vorbereitet: bereits dreißig Jahre zuvor von Bühler („einer dem anderen über die Dinge“) im Jahr 1930, von der Wiener Schule der 1920er Jahre und ihre konstruktivistische Überzeugung, von Nietzsche und endlich: von Immanuel Kant natürlich und seiner in der Kritik der reinen Vernunft formulierten Überzeugung von der vom Subjekt abhängigen, weil von ihm konstituierten Erkenntnis des Dings.
8.2 Idealisieren: Jürgen Habermas – „Herrschaftsfreier Dialog“
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Dieses Ziel sei erreicht, wenn mündige Bürger unter Bedingungen einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, durch einsichtige Delegation ihres Willens und durch wirksame Kontrolle seiner Ausführung, die Einrichtung ihres gesellschaftlichen Lebens selber in die Hand nehmen (ebd. 16). Dann sei die Sphäre einer durch politische Teilnahme und soziale Teilhabe dauerhaft gesicherten Autonomie erreicht, wo die, ihrer Funktion nach längst öffentlichen Beziehungen privater Gruppenmächte der Beurteilung und Aufsicht einer mündig gesprochenen öffentlichen Meinung erschlossen würden (ebd. 43). Es ist dies die politische Gesellschaft – Demokratie als Lebensform! –, die die Verwirklichung von Demokratie bedingt (ebd. 45). Wie die Antizipation der zehn Jahre später manifesten Erscheinungsformen solcherart praktizierter Demokratie, wie die Antizipation der APO und ihrer Demokratie fordernden demonstrativen Praktiken liest sich dann zunächst sein Postulat, Organisationen zu beteiligen, die außerhalb des Parlaments über ein Feld politischer Wirksamkeit verfügen. Zu diesem Feld zählen außerparlamentarische[…] Aktionen, die die Staatsorgane unter den ‚Druck der Straße‘ setzen können. Wohl bemerkt aber: Habermas stellt sich Organisationen (z. B. Gewerkschaften) vor ebenso wie ‚funktionelle[…] Eliten‘, die über die Apparate der staatlichen und privaten Bürokratie verfügen – höhere Beamte, Angestellte, Manager und Spezialisten in den großen Apparaten der Industrie, der Verwaltung und in den Verbänden (ebd. 51f.). Studenten kommen in diesem Konzept nicht vor, sie verfügen eben nicht über jenes Feld politischer Wirksamkeit – im Diskurs der späten 1960er Jahre wird Habermas nicht müde, dieses Argument dann zu verwenden, wenn er sich veranlasst sieht, die studentische Linke vor ihren Illusionen zu schützen. Bereits in diesem Entwurf weist Habermas dem Kriterium der Öffentlichkeit höchste Bedeutung im Kontext seines Demokratiemodells zu. Eine maßgebliche, und erste, sozialwissenschaftliche Prägung erhält der Begriff der Öffentlichkeit dann in seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas 1962). Darin bestätigt sich: Öffentlichkeit und Demokratie sind zwei in hohem Maß aufeinander bezogene Diskurselemente.38 Öffentlichkeit ist eine demokratietheoretische Bezugsgröße – linguistisch übersetzt: Öffentlichkeit und Demokratie stehen in einer konstitu-
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In der Formulierung des Vorworts zur Neuauflage 1990: „Die sozialstaatlichen Massendemokratien dürfen sich, ihrem normativen Selbstverständnis zufolge, nur solange in einer Kontinuität mit den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaates sehen, wie sie das Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit ernst nehmen.“ (Habermas 1990, 33)
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tiven Bedeutungsbeziehung zueinander.39 Die autoritäre Demokratie der Nachkriegszeit hat ihre Entsprechung in der entpolitisierten Öffentlichkeit – beides normativ bestimmte Kategorien mit hohem deontischen Potenzial. Und: Beide haben, als normative Konzepte, ein Komplement, das seinerseits die bundesrepublikanische Nachkriegsgegenwart beherrscht. Im Fall von Öffentlichkeit heißt diese Realität Springer. Öffentlichkeit also ist eine herausragende Kategorie der Kritischen Theorie Habermas’ und Bezeichnung ihrer aufklärerischen und daher demokratischen Leitidee. Aus der „demokratietheoretische[n] Perspektive“ (Habermas 1990, 35) definiert der Philosoph „einen Typus bürgerlicher Öffentlichkeit“, den er unter den Aspekten der ‚historischen Herausbildung‘, der ‚Strukturen‘, der ‚Funktionen‘, des ‚sozialen Strukturwandels‘, des ‚politischen Funktionswandels‘ und der Zusammenhänge der ‚öffentlichen Meinungsbildung‘ untersucht. Habermas reflektiert zunächst über die Polysemie von Öffentlichkeit, und die Lesartenunterschiede deutet er als historische Prägungen aus unterschiedlichen Kulturzusammenhängen: Der Sprachgebrauch von „öffentlich“ und „Öffentlichkeit“ verrät eine Mannigfaltigkeit konkurrierender Bedeutungen. Sie stammen aus verschiedenen geschichtlichen Phasen und gehen, in ihrer synchronen Anwendung auf Verhältnisse der industriell fortgeschrittenen und sozialstaatlich verfassten bürgerlichen Gesellschaft, eine trübe Verbindung ein. Allerdings scheinen dieselben Verhältnisse, die sich gegen den überkommenen Sprachgebrauch zur Wehr setzen, eine wie immer konfuse Verwendung dieser Worte, ja ihre terminologische Handhabung doch zu verlangen (Habermas 1962, 54).
Habermas nimmt die wortgeschichtliche und die sozialgeschichtliche Perspektive ein, um das komplexe und teils widersprüchliche Bedeutungsspektrum von Öffentlichkeit zu klären, mit dem Ziel, über eine soziologische 39
Diese Beziehung besteht seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, „da erst aufgrund der hier erfolgten Um- und Aufwertung Öffentlichkeit zu einem entscheidenden Kriterium politischer Vernunft geworden ist.“ (Brunner / Conze / Koselleck Band 4, s. v. Öffentlichkeit, 413f.) Die Kategorie ist demnach seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts insofern ein Element des Demokratiekonzepts, als sie seither „nicht nur den Geltungsbereich staatlicher Autorität, sondern zugleich den geistigen und sozialen Raum, in dem diese sich legitimieren und kritisieren lassen muß“ bezeichnet (ebd. 438). Als „Ausdruck einer republikanischen, bzw. liberalen Gesinnung gewann das Wort nach 1800 die semantische Prägnanz eines politisch-sozialen Begriffs, dem seit 1815 eine Schlüsselstellung in der deutschen Verfassungsdiskussion zufiel“ (ebd. 446). Die Begriffsgeschichte weist auch darauf hin, dass das Öffentlichkeitskonzept seinen Platz insbesondere im bürgerlich-liberalen Denken hat (und dort bisweilen überhöht wurde) (vgl. ebd. 458), während die marxistische Theorie kein eigenes Konzept entwickelt habe (ebd. 461ff.). Den vorläufigen Abschluss dieser Geschichte bildet wohl die „Verbindung von manipulativer Beeinflussung und kritischer Teilhabe der Öffentlichkeit“, die „zum signifikanten Merkmal demokratischer Regierungssysteme“ wurde (ebd. 465).
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Klärung des Begriffs hinaus, unsere eigene Gesellschaft von einer ihrer zentralen Kategorien her systematisch in den Griff zu bekommen (ebd. 58). Deutungsmoment der Analyse ist das Modell des ‚Strukturwandels‘. Seit dem Ende des Mittelalters sei eine liberale bürgerliche Öffentlichkeit als Forum der gesellschaftlichen Partizipation und Konsensbildung entstanden, wodurch die feudalistische Herrschaftssymbolik der ‚repräsentativen Öffentlichkeit‘ zunehmend abgelöst worden sei. Mit der Herausbildung des Sozialstaats, durch Interessenverbände und die zunehmende Bedeutung der Massenmedien sei jedoch eine Art Refeudalisierung eingetreten. In der erweiterten öffentlichen Sphäre des Sozialstaats werden nun Prozesse öffentlicher Meinungsbildung durch die Arbeit institutionalisierter Repräsentationsorgane ersetzt, mit dem Effekt, dass die Institutionen des gesellschaftlich-geselligen Verkehrs, die den Zusammenhang des räsonierenden Publikums sicherten, … die Kraft [verloren] oder [ganz] zerbrachen. Dass Öffentlichkeit und Demokratie zwei eminent aufeinander bezogene Kategorien sind, manifestiert sich in dem Maß, in dem sie [die kritische Publizität] sich durchsetzt. Dieses Maß bezeichnet den Grad der Demokratisierung einer sozialstaatlich verfaßten Industriegesellschaft – nämlich Rationalisierung des Vollzugs sozialer und politischer Gewalt. (Habermas 1962, 338) Wir sehen: Die Grundelemente seines Demokratiebegriffs, Beteiligung, Öffentlichkeit, mündige Bürger, Selbstbestimmung, hat Habermas bereits sehr frühzeitig aktiviert – sie bestimmen sein politisches Denken unverändert, erweitert dann um den kommunikativen Akzent, der Habermas’ gesellschaftlich-demokratisches Wollen in einer Weise prägt, die Wolfgang Abendroth gelegentlich als Besessenheit empfindet.40 In seinem Konzept einer Universität in der Demokratie, das er 1967 anlässlich der Universitätstage an der Freien Universität Berlin vorträgt, plädiert Habermas für eine politisierte Hochschule, für eine Universität in der Demokratie.41 Er
40 Abendroth sieht in dieser Emphase, mit der Habermas für das Konzept des herrschaftsfreien Dialogs als ausschließliche Form der Konsensfindung plädiert, eine Gefahr, „für Habermas [droht] der Glaube an nur durch Überzeugung der Machtträger, nicht durch Kampf erwirkte Reformen der Institutionen zum Fetisch zu werden“, um gleichzeitig zu prophezeien: „Erliegt er dieser Gefahr, so wäre sein eigenes Denken gescheitert. Er hätte dann aufgehört, Bundesgenosse der studentischen Opposition zu sein“, und zu raten: „Gefahren können dadurch gebannt werden, daß man sie rational analysiert, statt durch verfehlte Terminologie psychologisch ein Freund-Feind-Verhältnis zu schaffen.“ (Abendroth 1968, 141) 41 „Die ‚Universitätstage‘ 1967 der Freien Universität Berlin standen unter dem Titel ‚Universität und Demokratie‘. Für die Veröffentlichung meines am 20. Januar gehaltenen Vortrages in der Zeitschrift ‚Merkur‘ (Mai 1967) habe ich … die hochschulpolitische Lage, wie sie sich mir nach den ersten zwei Jahren der Protestbewegung darstellte, einleitend kurz charakterisiert.“ (Habermas 1967c, 108)
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begründet dieses Konzept mit parallelen Prozessen, und zwar, hier nimmt er die Kategorie Adornos auf, mit Prozessen der Willensbildung: Habermas beschreibt eine Affinität und innere Beziehung des universitären Wissenschaftsbetriebs zu der demokratischen Form des Willensbildungsprozesses (Habermas, 1967c, 122). Willensbildung ist dann, wie bei Adorno, zentrales Element seiner weiteren Begriffsentwicklung: Demokratische Willensbildung sei das Prinzip, nach dem Entscheidungen von einem in herrschaftsfreier Diskussion erzielten Konsensus abhängig sind.42 Dabei soll das Prinzip der Öffentlichkeit … jede andere Gewalt als die des besseren Argumentes ausschalten.43 Den Prozess demokratischer Willensbildung unterscheidet Habermas dann, wenigstens unter analytischen Gesichtspunkten, nach zwei Aspekten: a) die Diskussion der Vorschläge und Begründungen und b) die Demonstration eines Willens mit Berufung auf vorangegangene Argumentationen (ebd. 127). Diese Engführung demokratischer und wissenschaftlicher Willenbildungsprozesse läuft über diejenige Kategorie Kants, mit der wiederum auch Adorno argumentiert – Vernunft ist wie bei Adorno so auch bei Habermas die entscheidende Voraussetzung politischer Willensbildung, die ihrerseits als das demokratische Grundelement festgeschrieben ist:
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In dieser Hinsicht sieht man Habermas dann auch ohne Einschränkung auf der Seite der studentischen Protestbewegung: Die Politisierung, deren Ansätze wir heute beobachten können, ist mit den verfassungsmäßigen Grundsätzen einer demokratischen Willensbildung nicht nur vereinbar, sie wird von diesen Prinzipien gefordert. (Habermas 1968d, 178) Dieses Prinzip der demokratischen Öffentlichkeit allerdings ist ein Ideal, ist Utopie. Was fehlt, ist die allgemeine und herrschaftsfreie Diskussion – man beachte den Habermasschen Konjunktiv: Eine demokratische Öffentlichkeit wäre erst dann gegeben, wenn alle politisch folgenreichen Entscheidungen an den Mechanismus allgemeiner und herrschaftsfreier Diskussion gebunden wären. Dieses „utopische Ziel“ könnte nicht ohne eine vollständige und effektive Trennung von wirtschaftlicher und publizistischer Macht realisiert werden. Es ließe sich das Modell von Zeitungen vorstellen, die als öffentliche Einrichtungen organisiert sind und deren Benutzung an bestimmte Qualifikationen und auch an Erfolgskriterien gebunden wäre. Analog könnten öffentlichrechtlich konstituierte Rundfunk- und Fernsehanstalten Programmzeiten an Publikumsgesellschaften vergeben, wenn diese entsprechende Voraussetzungen erfüllen. (Habermas 1968g, 400) Andererseits aber lässt Habermas das Stereotyp der Utopie, des Utopisten wiederum nicht gelten: Ich halte es nicht für sinnvoll, diejenigen Utopisten zu nennen, die den institutionellen Rahmen industriell entwickelter Gesellschaften demokratisch verändern möchten. Das Ziel läßt sich auch so formulieren: die Verwendung technologisch verfügbarer Potentiale für die Befriedigung zwanglos artikulierter Bedürfnisse soll so weit als pragmatisch möglich Maximen folgen, über die in öffentlicher Diskussion und herrschaftsfreier politischer Willensbildung ein Konsensus herbeigeführt werden kann. (Habermas 1968d, 183)
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Dieses Prinzip, daß, kantisch gesprochen, allein Vernunft Gewalt haben solle, verbindet die demokratische Form der politischen Willensbildung mit jener Art Diskussion, der auch die Wissenschaften ihren Fortschritt verdanken – denn in diesem Fortschritt dürfen wir das Moment der Willensbildung nicht übersehen. (Habermas 1967c, 222)44
Dieses Demokratiekonzept konkretisiert Habermas dann schließlich in Bezug auf die Hochschule und ihre Demokratisierung, indem er ein Modell andeutet, das als Modell eines demokratischen Willensbildungsprozesses gelten kann: Er schlägt die Bildung gemeinsamer Kommissionen an den Hochschulen Berlins und der Bundesrepublik vor, in denen die Professoren mit Assistenten und Studenten ohne Einschränkung alle, auch die gravierenden, hochschulpolitischen Forderungen diskutieren. Das Moment der Öffentlichkeit bezieht Habermas im Sinn einer Berichtspflicht ihr gegenüber ein: Über die Resultate wäre zunächst die Öffentlichkeit zu informieren. (Habermas 1967c, 132) Es ist dies, wie wir sehen, ein durch und durch auf Kommunikation, Rationalität und Vernunft setzendes Prinzip – ein ideales Prinzip, das die idealen Beteiligten voraussetzt: einsichtig, rational, vernunftgesteuert, ohne jene als Emotionen und Eitelkeiten etwa sich ausdrückenden menschlichen Unzulänglichkeiten, die Handeln stets auch begleiten und die ausschließlich rationale sachbezogene Entscheidungen nahezu unmöglich machen. Auf ein weiteres Hindernis verweist Habermas selbst, wenn er zur Erreichung dieses „utopische[n] Ziel[s]“ [einer demokratischen Öffentlichkeit] die vollständige und effektive Trennung von wirtschaftlicher und publizistischer Macht nennt. Habermas gehört zu den Hauptvertretern der deliberativen, als einer Spielart der partizipatorischen Demokratietheorie. Ihr Grundmodell ist die umfassende gesellschaftliche Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und politischer Administration, sowie „die argumentativ abwägende,
44 An anderer Stelle paraphrasiert Habermas das demokratische Prinzip der in der Diskussion erlangten Willensbildung mit dem der Rationalisierung: Auch Tagespolitik muß Bestandteil der universitätsinternen Öffentlichkeit sein dürfen. Ich sage das, obwohl an der Universität Frankfurt soeben ein NPD-Hochschulbund gegründet worden ist. Und ich glaube, diese These vertreten zu dürfen, weil das Prinzip, durch das politische Erörterungen an Universitäten allein legitimiert sind, dasselbe Prinzip ist, das die demokratische Form der Willensbildung bestimmt: nämlich den Grundsatz, Entscheidungen in der Weise zu rationalisieren, daß sie, der Idee nach, von einem in herrschaftsfreier Diskussion erzielten Konsensus abhängig gemacht werden können. (Habermas 1967c, 127) Diesen Prozess versteht Habermas als Emanzipation: dem eigentlich politischen Ziel der Emanzipation, d. h. der Durchsetzung eines im Ernst demokratischen Willensbildungsprozesses in allen gesellschaftlichen Bereichen. (Habermas 1968a, 200)
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verständigungsorientierte Beratschlagung“ (Schmidt 2008, 237). Dieses Modell hat den mündigen Bürger nicht zum Element, sondern vielmehr zur Voraussetzung, es ist angewiesen auf in politischen Dingen nicht apathische, zu einem hohen Einsatz von Zeit bereite Bürgerinnen und Bürger – sie ist deswegen idealistisch, erst recht angesichts der in jeder Hinsicht zunehmenden Komplexität der modernen Gesellschaft. Was ihr jedoch zuzuschreiben ist, liegt eben in diesem idealistischen Denkmuster: Sie formuliert ein demokratisches Ideal, das von der demokratischen Wirklichkeit weit entfernt ist (vgl. Schmidt 2008, 251). Sie erinnert an „unterbilanzierte[…] Werte“ und an die „Distanz zwischen dem jeweils aktuellen und dem darüber hinaus möglichen Verwirklichungsgrad“ (Scharpf 1973, 117) Das heißt, sie schafft Bewusstsein für die demokratischen Defizite – und damit die Grundvoraussetzung für Veränderung. Das Demokratiekonzept Habermas’ ist im Gegensatz zu dem Adornos weniger ein auf Erziehung, als vielmehr ein auf Kommunikation und Sprache setzendes – herrschaftsfreier Dialog. Demokratie bedeutet im Rahmen dieses Konzepts ein Lebensprinzip – politische Gesellschaft. Demokratie hat ein Forum – Öffentlichkeit. Partizipationsdemokratie im Sinne Habermas’ ist die umfassende gesellschaftliche Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen und politischer Administration unter den kommunikativen Bedingungen argumentativer Konsensfindung nach dem Prinzip der demokratischen Willensbildung.
8.3 Radikalisieren: Rudi Dutschke / SDS – „Direkte Rätedemokratie“ […] jetzt mich gleich zu fragen – gib doch die Antwort. Ein Dutschke will keine Antwort geben, (große Heiterkeit) das wäre genau die manipulative Antwort, die ich nicht zu geben bereit bin, denn was soll es bedeuten, als einzelner Antworten zu geben, wenn die gesamtgesellschaftliche Bewußtlosigkeit bestehen bleibt. (Dutschke 1967d, 16)
Das ist die Antwort Dutschkes auf die Frage Augsteins, „welches System“ er an die Stelle des alten setzen wolle. Augstein, auf dieser Podiumsdiskussion von Dahrendorf sekundiert, nimmt den allgemein herrschenden Vorwurf auf, die studentische Protestbewegung habe kein Zukunftskonzept.45
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Barbara Sichtermann bestätigt: „Eindeutig war überhaupt nichts, am allerwenigsten die Begriffsreihe … Aufstand, Empörung, Verweigerung, Revolution. Gewiß war nur der Bruch mit dem Überkommenen, die Negation im allgemeinen also. Was geschehen sollte und wie, das wußte niemand, aber man sah darin weniger einen Mangel als ein
8.3 Radikalisieren: Rudi Dutschke / SDS „Direkte Rätedemokratie“
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Die demokratische Rhetorik mag der Anlass sein, etwa wenn Dutschke den politischen Kampf der Protestbewegung als das Stellen von Forderungen nach radikaler Demokratisierung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Dutschke 1967n, 86) definiert, oder wenn er aus dem 2. Juni als Programm ableitet: die spontane Bewußtheit anläßlich der Ermordung unseres Kommilitonen in politisch kontinuierliche Bewußtseinswachheit gegen undemokratische Gesellschaftsstrukturen zu verwandeln (ebd. 87), und dann versichert, daß wir, der kritische Teil der Studentenschaft, ein ernsthaftes Bündnis für die Schaffung eines West-Berlin, das sich durch politische und soziale Demokratie von unten und für unten auszeichnet, wahrhaftig wollen (ebd. 88), oder wenn er in dem ‚Gespräch über die Zukunft‘, das Enzensberger mit Christian Semler, Bernd Rabehl und ihm führt, sein Credo formuliert: Selbstverwaltung der Produzenten, Produzentengesellschaft, direkte Demokratie: das ist ja nun ein Modell, das auch für unsere Gegenwart zukunftsträchtig ist (Gespräch 1967, 147). Die Weigerung Dutschkes indes, Augstein und dem Publikum Auskunft zu geben, ist womöglich weniger in einem fehlenden Konzept begründet, als vielmehr darin, dass er, in seiner Rolle als (ungewollte?) Leitfigur der Bewegung, nicht Gefahr laufen will, dass seine Aussagen als verbindliche und umzusetzende Konzepte missverstanden werden. Dennoch: Natürlich lassen sich sprachliche Repräsentationen zusammenstellen, die zumindest Grundelemente des Demokratiekonzepts, wie es der SDS und Rudi Dutschke präferierten, explizieren und paraphrasieren. Ein explizites und relativ elaboriertes Demokratiekonzept Dutschkes findet sich zum einen in dem Interview, das der ‚Spiegel‘ am 10. Juli 1967 veröffentlicht, zum andern in seinem Aufsatz ‚Zum Verhältnis von Organisation und Emanzipationsbewegung – Zum Besuch Herbert Marcuses’ vom 12. Juni 1967. Dutschke hat eine Vorstellung von einer besseren Welt. Kennzeichen dieser besseren Welt sind eine neue Gesellschaft, Glück, Befriedigung, Versöhnung, Entfaltung der individuellen Fähigkeiten des Menschen, in ihr sind Manipulation, Verdrängung, Krieg, Hunger, Elend, ist Herrschaft von Menschen über Menschen, von Menschen über die Natur (Dutschke 1967f, 256) abgeschafft. Wie ist diese Welt (Dutschke scheut
historisches Glück: denn die leere Tafel, die 1968 in die Höhe hielt, sollte nun endlich mit dem ‚ganz Anderen‘ beschriftet werden.“ (Sichtermann 1988, 36) War es wirklich eine leere Tafel, die die 68er hoch hielten? Man mag es bezweifeln angesichts einiger Entschiedenheit, mit der man die Architektur einer besseren Welt vorbringt, z. B. auch die bessere Welt eines Rätesystems, wie es Rudi Dutschke darlegt.
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sich nicht, sie im Spiegel-Interview Garten Eden zu nennen46) zu erreichen? Den Plan des Weges dorthin stattet Dutschke, zumindest terminologisch, mit Vorgedachtem aus, Adornos Konzeptelemente Mündigkeit und Bewußtwerdung / Bewußtsein insbesondere finden sich wieder ebenso wie Habermas’ Kategorie des herrschaftsfreien Dialogs. So heißen bei Dutschke die, im Sinn Adornos als Ausdruck von Mündigkeit verstandenen Seinsformen politischer Arbeit, Formen der objektiv möglichen Entfaltung von Selbsttätigkeit und Bewußtwerdung von Menschen und die für die Veränderung so entscheidende Produktivkraft Bewußtsein (Dutschke 1967f, 260). Habermas’ Kategorie herrschaftsfreier Dialog nimmt Dutschke in der Version herrschaftslosere Kommunikation auf. Die Kategorie findet ihren Platz z. B. in der Utopie eines kritisch-befreienden Studiums, zu organisieren in der Form von Institutsassoziationen, in denen durch solidarische Zusammenarbeit die wissenschaftliche Ausbildung verbessert, gemeinsame Forschungs- und Arbeitsgebiete etabliert würden, durch „gegenseitige Hilfe“ (Kropotkin) eine herrschaftslosere Kommunikation sich herstellen könnte: in denen die Vertreter der verschiedensten Wissenschaften und sozialen Gruppen jenseits der Alternative zwischen Einzelwissenschaftler und Parteibürokrat ihre politische Arbeit nach außen, die Entfaltung der Selbsttätigkeit von anderen „Minderheiten“ beginnen könnten. (Dutschke 1967f, 259)
Wir sehen: Das von Habermas formulierte kommunikative, auf gleichberechtigte Gemeinschaft setzende Prinzip einer Demokratie findet sich unverändert in Dutschkes Konzept wieder. Ein weiteres vorgedachtes Element ist das der Mündigkeit und das des Bewusstseins. Anlass des revolutionären Kampfes seien die in Unmündigkeit gehaltenen Menschen (ebd. 256), die in Unmündigkeit und leidender Passivität gehaltenen Massen (ebd. 259). Ihre Befreiung besorge ein immer bewußter werdende[r] Kampf[…], ein langwieriger Prozess der Bewußtwerdung von vielen und immer mehr werdenden Menschen, die nicht mehr bewußtlos als unpolitische Objekte von oben durch die Bürokratie, durch das Parlament oder durch was auch immer manipuliert werden. (Dutschke 1967b, 13)
46 Dutschkes Paradies besteht aus Reduktion von Arbeit, Entwicklung sinnlicher Phantasie, Abschaffung von Elend und Krieg, es ist der biblische Garten Eden, ist die phantastische Erfüllung des uralten Traums der Menschheit, dem man nah ist: noch nie in der Geschichte war die Möglichkeit der Realisierung so groß. Rüstung, unnütze Verwaltung und Bürokratie, unausgenutzte Industriekapazitäten, Reklame bedeuten eine systematische Kapitalvernichtung. Die wiederum macht es unmöglich, den Garten Eden historisch zu verwirklichen. (Dutschke 1967b, 13)
8.3 Radikalisieren: Rudi Dutschke / SDS „Direkte Rätedemokratie“
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Nehmen wir schließlich noch das von Habermas entworfene Konzept der demokratischen Öffentlichkeit hinzu: Dieses Konzept „wurde von keiner anderen Hochschulgruppe so ernst genommen wie dem SDS“. Es enthält die Forderung „nach Öffentlichkeit und Diskussion“ und formuliert mit der „Vorstellung einer ursprünglichen Einheit von Demokratie und Öffentlichkeit“ (Kraushaar 2001, 18) eine Grundüberzeugung der studentischen Linken: Auf dem Schild der Studenten stand eine Forderung, die einst die bürgerliche Wissenschaft gegen den Feudalismus formuliert hatte: Öffentlichkeit und Diskussion. Diesem Prinzip von Öffentlichkeit ist die Studentenbewegung verpflichtet geblieben: ihr Organisationsprinzip ist das der großen Diskussion mit anschließender plebiszitärer Abstimmung. (Claussen 1968, 7)
Solche inhalts- und z. T. wortidentischen Aussagen veranlassen dazu, Einverständnis der studentischen Linken mit dem Theoriegeber anzunehmen, was der Diskurs reflektiert: In dem von Habermas vorgelegten ersten soziologischen Konzept von Öffentlichkeit sind die zentralen Leitideen des Demokratiediskurses festgelegt. Öffentlichkeit ist, wie etwa auch die den Diskurs repräsentierenden lexikalisch-semantischen Verdichtungen Kritik und Diskussion, Mündigkeit und Bewußtsein, eine normativ-deontische Kategorie.47 „Normativ“ bedeutet: Wir haben es mit einem binären Konzept zu tun, bestehend aus Bedeutungskomponenten, die dem normativen Ideal entsprechen und aus solchen, die ihm widersprechen. Die dem Ideal entsprechenden Repräsentationen finden sich in Formeln wie demokratische, aufgeklärte Öffentlichkeit 48, in den Zusammensetzungen Uröffentlichkeit, (organi-
47
In seiner Einleitung zur Neuauflage von ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ aus dem Jahr 1990 bestimmt Habermas Öffentlichkeit als „staatsrechtliche Fiktion“, die „in der normativen Demokratietheorie die Einheit einer kontrafaktischen Größe“ behalte (Habermas 1990, 31). 48 Die liberale Forderung nach einer demokratischen Öffentlichkeit kann inhaltlich sich nur revolutionär umsetzen. Das Institut des Privateigentums an Produktionsmitteln ist direkt zum Teil der Machtauseinandersetzung geworden. (KD und Frank Wolff 1968, 4); Politisierte, aufgeklärte Öffentlichkeit kontra staatsmonopolitischen Herrschaftsapparat: diese Gegenüberstellung zeigt, daß auch die revolutionäre Arbeiter- und Studentenbewegung ihre organisatorische Struktur als Form der Vermittlung von Theorie und Praxis fi nden muß, um an den Kampf um die Macht überhaupt nur denken zu können. (Lederer 1968, 129) Im Frühjahr 1968 wird ein Kuratorium für eine demokratische Öffentlichkeit gegründet, eine Gliederungseinheit der 1960 gegründeten Kampagne für Demokratie und Abrüstung. Ziele sind: „Abrüstung in West und Ost (insbesondere in Bezug auf Atomwaffen), Pflege der internationalen Beziehungen zwischen den Menschen, Erhaltung bzw. Wiederherstellung des Friedens in aller Welt (Naher Osten, Vietnam).“ Die Kampagne beteiligt sich u. a. „an der Enteignet-Springer-Aktion und am Widerstand gegen die Notstandsgesetzgebung.“ (Weigt 1968, 28f.)
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sierte) Gegenöffentlichkeit, Öffentlichkeitskampagnen49. Dem Ideal widersprechende Repräsentationen – die den Diskurs in einer ungleich höheren Frequenz repräsentieren – sind in den Formeln entpolitisierte, industrialisierte, etablierte, institutionalisierte, zerstörte, zensierte Öffentlichkeit dokumentiert.50 Pseudoöffentlichkeit der Massenmedien ist die Formel, die den Gegenstand in ein typisches Schema bringt: Sachverhalt und Verursacher werden benannt und bewertet.51 Darüber hinaus hat das Konzept der Öffentlichkeit eine Handlungsdimension. Öffentlichkeit ist zum einen Bezeichnung für das gleichsam personalisierte Objekt politischen Handelns, Erzwingung von Öffentlichkeit, Öffentlichkeit entlarven sind die entsprechenden Repräsentationen.52 Und: Öffentlichkeit ist nicht nur die Bezeichnung eines Zustands, sondern auch eines Produkts. Es entspricht dem kritisch-antiautoritären Denken der späten 1960er Jahre, dass die Leitkonzepte dieses Denkens ein Moment des Handelns, der Tat erhalten – wir haben es oben als Aktion im Kontext des Gewalt-Diskurses rekonstruiert (s.o. Kapitel 7.2). Dieses Moment drückt sich aus in der neuen Formel Öffentlichkeit herstellen53.
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in einer dritten Phase [sollte Schwerpunkt] die Etablierung von kleinsten schichten-, branchen- und topografisch-spezifischen Gegenzeitungen, die Entfaltung vielfältiger „Uröffentlichkeit“ sein (Lefèvre 1968b, 50); Gegenöffentlichkeit wird nur in wenigen Fällen als den organisatorisch vorgegebenen Rahmen transzendierendes Moment fungieren können (außer als Medium der Expansion der anderen Bereiche in Kampagnen). Ansonsten hat sie mehr die Funktion der ideellen Reproduktion der Linken. Gerade deshalb aber hat das Moment der Kommunikation besondere Bedeutung für die Organisation des SDS. (SDS 1968e, 60); Die Fixierung des Kampfes für Gegenöffentlichkeit auf das Problem Springer muß aufgehoben werden in gruppenspezifische Gegenöffentlichkeitskampagnen. (Blanke 1968a, 43); Ausweitung der Opposition durch eine organisierte Gegenöffentlichkeit (SDS 1968h, 68f.); es galt, die Irreführung der Bevölkerung durch improvisierte Öffentlichkeitskampagnen zu vereiteln (Lefèvre 1967a, 13f.). Beat und Pop, Filmstars und Politikerimage als die hohlen Kunstprodukte der Marketingabteilungen einer industrialisierten Öffentlichkeit. … Die etablierte Öffentlichkeit machte sich an die Ausbeutung jener Bewegung (Blanke 1968a, 37f.); Brauchbarkeit auch einer institutionalisierten Öffentlichkeit als „Sender“ einer revolutionären Bewegung (ebd. 40); Die demokratische Öffentlichkeit ist zerstört … Der Springer-Konzern ist nicht allein das Symbol, sondern ebenso der Motor der Zerstörung von Öffentlichkeit. (SDS 1968b, 7); mit zwei Beinen in der zensierten Öffentlichkeit (Dutschke 1967d, 17). Die Mobilisierung der Pseudoöffentlichkeit der Massenmedien gegen uns ist unvermeidbar, aber relativ unwichtig. (Dutschke 1967e, 81) die „demonstrative Gewalt“ zur Erzwingung einer vom politischen Aufklärungsinteresse bestimmten Öffentlichkeit [kann] auch die Verletzung repressiv gewendeter Regeln einschließen (Negt 1968b, 189); Damit der Kampf gegen die Manipulation aus der Sphäre der Spekulation in die Praxis umgesetzt werden kann, muß die etablierte Öffentlichkeit entlarvt werden, indem man … diese Öffentlichkeit zwingt, in der Auseinandersetzung mit Springer Einblick in die Bewegungsgesetze der Gesellschaft zu geben. (Blanke 1968a, 44f.) Daß Tomaten und Eier sehr gut geeignet sind, Öffentlichkeit herzustellen, wo andernfalls die Sache totgeschwiegen worden wäre, ist seit dem Schahbesuch sattsam bekannt. (Meinhof 1968b); Die politische Publizistik veröffentlicht die Ereignisse, ohne selbst noch Öffentlichkeit ernsthaft herzustellen. (SDS 1968b, 8); wir [müssen] sie [Öffentlichkeit] aber immer wieder durch Diskussion und Aktion herstellen (Dutschke 1967d, 17).
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Wir können also festhalten, dass die von Habermas konzipierte zentrale Kategorie des Demokratiediskurses Öffentlichkeit von der studentischen Linken adaptiert und weitgehend approbiert ist. Man nutzt sie im Sinn der Kritischen Theorie zur Gesellschaftskritik, als Kriterium zum Aufweis demokratischer Defizite und zur Projektierung der Alternative. Diese Alternative verdichtet man lexikalisch in der durchsichtigen Wortbildung Gegenöffentlichkeit, eine Kategorie, die konzeptionell ebenfalls von Habermas, mit seiner Formel „kritische Publizität“, vorbereitet ist. Gegenöffentlichkeit ist der Name, den die Protestbewegung – mit einem ihrer Standardmorpheme – für den zu konstituierenden Sachverhalt findet. Dutschke gebraucht die Wendung Gegenöffentlichkeit produzieren. In der Resolution zum Kampf gegen Manipulation und für die Demokratisierung der Öffentlichkeit, die der SDS auf seiner Delegiertenkonferenz im September 1967 verabschiedet, ergeht der Appell: eine aufklärende Gegenöffentlichkeit zu schaffen. In einem Strategiepapier schreibt der SDS Gegenöffentlichkeit die Funktion der ideellen Reproduktion der Linken zu (SDS 1968e, 60). Ein Autor der ‚neuen kritik‘ plädiert dafür, die Fixierung des Kampfes für Gegenöffentlichkeit auf das Problem Springer aufzuheben in gruppenspezifische Gegenöffentlichtkeitskampagnen (Blanke 1968a, 43), und in seinem Rechenschaftsbericht stellt der SDS einen Widerspruch von einerseits aktionistischer Kampagne und andererseits Ausweitung der Opposition durch eine organisierte Gegenöffentlichkeit und Syndikalisierung von Nicht-Studenten fest (SDS 1968h, 68f.). Manifestationen von Gegenöffentlichkeit, das sind die alternativen Öffentlichkeitsformen Flugblatt und Informationsschriften, Broschüren, Alternativpresse und Diskussionsrunden (vgl. Lachenmeier 2007). Öffentlichkeit also erhält mit Gegenöffentlichkeit ein – wenig spezifiziertes – Antonym, das Rudi Dutschke in seiner Diskussion mit Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf und anderen über die Studentenbewegung und ihre Ziele erklärt. Er teilt zunächst seine Wahrnehmung mit (Ich denke, daß Öffentlichkeit nicht existiert), um dann seinen Öffentlichkeitsbegriff zu definieren: zur Öffentlichkeit gehören bewußte Individuen mit kritischer Einsicht, die fähig wären, die Herrschenden zu kritisieren, sie unter Kontrolle zu nehmen und wirklich Öffentlichkeit herzustellen. Es folgt die – gleichsam tautologische – Zustandsbeschreibung: die Öffentlichkeit in Form und Gestalt der Massenmedien, der Manipulationszentren, der täglichen Produktions- und Reproduktionsorgane [hat] geradezu die Öffentlichkeit abgeschafft, der sich die Formulierung der aus diesem Zustand folgenden Aufgabenstellung und die begriffliche Verdichtung anschließt: wir [müssen] sie aber immer wieder temporär durch Diskussion und Aktion herstellen … als Bedingungen für die Möglichkeit, daß tendenziell sich in der ganzen Ge-
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sellschaft Öffentlichkeit durchsetzt, wo sie nicht existiert. … Darum der Begriff der Gegenöffentlichkeit. Dieser Zustandsbeschreibung lässt Dutschke schließlich eine Interpretation der momentanen Podiumssituation folgen – die Anwesenheit Augsteins als (wir dürfen Dutschke diese Haltung zu Augstein unterstellen) so herausragenden wie politisch nicht gänzlich indiskutablen Vertreter der Medienöffentlichkeit sei ein Ansatz für Gegenöffentlichkeit und zu loben: Und insofern ist hier Gegenöffentlichkeit mit Momenten von Öffentlichkeit, wie Augstein und andere, die hier nur drin sind mit einem Bein, aber im Grunde mit zwei Beinen in der zensierten Öffentlichkeit stehen. (Beifall) Ich finde es gut, daß Sie hier sind. Und ich bin sehr froh, daß Sie hier sind.
Die Sequenz schließt mit der Erinnerung an die politische Aufgabe einer mit wir konstituierten Gruppe: […] wir sollen klar den Weg, den wir begonnen haben, durch Aktionen und Aufklärung Gegenöffentlichkeit zu produzieren, den fortsetzen, um wirklich diejenigen, die innerhalb der zensierten Öffentlichkeit noch Momente von kritischer Rationalität mit uns zusammen diskutieren, in der Frage immer weiterzudrängen, in den Institutionen kritisches Bewußtsein zu erzwingen. (Dutschke 1967d, 16f.)54
Indes, Dutschkes und des SDS Demokratiekonzept stößt schnell an die Grenze der Vereinbarkeit mit den Lehrern. Diese ist erreicht, wenn Dutschke das Ziel formuliert. Dies sei die Herausbildung einer neuen gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsform, sei die unabhängige Assoziation freier Individuen, mit einem Gemeinwesen, das nicht mehr Staat sei, sondern der Zusammenschluss von Menschen, die selbsttätig von unten in der Form der Räte die Geschicke ihrer Stadt bestimmen (Dutschke 1967f, 257). Dieses Konzept nennt Dutschke direkte Rätedemokratie, ihr Kennzeichen seien freie[…] Individuen, die in direkter Wahl in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens die ständig rotierende und nur temporäre – jederzeit durch Räteversammlungen absetzbare – Führung wählen, so in den Betrieben, den Schulen, Universitäten, Verwaltungen etc. (ebd.).55 Die Formen
54 Gegenöffentlichkeit ist seither lexikalisiert als „sich gegen eine als öffentliche Meinung geltende oder als solche dargestellte Ansicht artikulierende Gegenmeinung“ (3GWB 3, 1415, s. v. Gegenöffentlichkeit). 55 Ging es wirklich darum? Decken sich sprachlicher Ausdruck und politisches Wollen, hat diese diskursive Wirklichkeit eine außersprachliche Entsprechung? Ein erinnernder Zeitzeuge verneint diese Frage: „Ich behaupte nun, dass das früh gelegte Fundament der Bundesrepublik von der Bewegung von 1968 – vielen verbalen Bekundungen zum Trotz – nicht wirklich angegriffen wurde; es stand nie ernsthaft zur Disposition. ‚68‘ hat darauf gebaut, nicht dagegen Einspruch erhoben. … im Traum ging es uns nicht um Sozialisierung und all die anderen Ungetüme aus dem Museum der Planwirtschaft.
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dieses Gemeinwesens entsprechen einem durchpolitisierten Lebenskonzept. Dutschkes Traum reicht von der Einrichtung juristischer, medizinischer oder pädagogischer oder sexualaufklärender Beratungsstellen über die Gründung von Preis- und Mietüberwachungskomitees durch die betroffenen Teile der Bevölkerung in Wechselwirkung mit der politischen Arbeit der Institutsassoziationen bis hin zur Bildung von Haus- und Straßenkomitees gegen die Anmaßungen und Übergriffe von Exekutive und Verwaltung (Dutschke 1967f, 259f.). Ein wichtiges Element dieser Konzeption, das die Medienkritik Ende der 1960er Jahre aufnimmt, sind außerdem demokratische Urzeitungen: Die hoffentlich „freiwillige“ Stillegung der Springerschen Rotationsmaschinen würde einen historisch einzigartigen Modellfall abgeben: Wie werden „demokratische Urzeitungen“, von der Opposition gegen das System finanziert und publiziert, von den Massen aufgenommen werden? (Dutschke 1967g, 98) Dutschke und der SDS also lassen die Räteidee wieder auferstehen. Gemeint ist damit das in der Sowjetunion und während der Anfangsphase der Weimarer Republik realisierte radikale Konzept, das Dutschke ein System von direkter Demokratie nennt: Dann würde sich die Herrschaft von Menschen über Menschen auf das kleinstmögliche Maß reduzieren. (Dutschke 1967b, 13) Dieses Konzept lässt sich mit dem Demokratiebegriff der älteren Generation nicht vereinbaren. Denn: Im Unterschied zur intellektuellen Linken geht es der studentischen Linken damit nicht um eine Einbindung in das bestehende demokratische System des Parlamentarismus. Rätedemokratie, als ein Gemeinwesen, das durch die solidarische Kooperation und gegenseitige Hilfe, durch die direkte Demokratie mündiger Menschen – in der Form von Komitees bzw. Räten – getragen wird, mache Parlament, Parteien und Exekutive … überflüssig (Dutschke 1967f, 260). Im Vergleich mit einem ähnlich radikalen Konzept, demjenigen Wolfgang Abendroths, zeigt sich der fundamentale Unterschied unmittelbar. Abendroth plädiert vehement für umfassende Partizipation: wirkliche Demokratie – und wirkliche Demokratie gibt es nur bei Politisierung der Gesamtgesell-
Intuitiv wußten wir, daß die Ehe zwischen (praktiziertem) Sozialismus und Unfreiheit keine zufällige Mesalliance ist.“ (Schmid 1988, 18) Freilich, das wusste man, nicht umsonst hat man sich fern gehalten von den westdeutschen Freunden der SED und den orthodoxen Kommunisten. Stimmt aber, dass 68 „Radikalität auf der Suche nach einem Rendezvous mit der Realität“ war, „in einem explosiven Aufbruch der erste Versuch, das ethische Feuer der Linken auf nachsozialistische Projekte und Visionen zu übertragen“, und zwar „lange bevor die Gebrechen nicht der kapitalistischen, sondern der Industriegesellschaft überhaupt Eingang in die offiziellen Diskurse fanden – ein erster Blick und ein erster Ruf in die Räume, die sich auf der Basis der durchgesetzten Konsumgesellschaft eröffnen“ (ebd. 19)?
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schaft – [ist] nur dann möglich …, wenn wir eben die Bevölkerung an der Demokratie unmittelbar beteiligen. Wenn er aber als Ziel des Kampfes nennt: Verteidigung des Grundgesetzes und der Demokratie, dann ist hier die Grenze erreicht. (Abendroth 1967b, 68) Das SDS-Konzept verlässt mit der Idee der Auflösung der Gewaltenteilung, des Parlaments und der Parteien den Boden des Grundgesetzes – womit sich auch die Funktion von Grundgesetz / Verfassung als Argument im politischen Diskurs klärt. Wenn die Aktivisten sich darauf berufen, dann tun sie dies, um den Staat und sein verfassungswidriges Handeln zu denunzieren – etwa, wie wir gesehen haben, im Zusammenhang mit dem polizeilichen Widerstand gegen die Demonstrationen vom 2. Juni, den sie als Verstoß gegen das Grundrecht der freien Meinungsäußerung interpretieren. Das Grundgesetz als Modell allerdings einer Demokratisierung der Gesellschaft, wie es Abendroth proponiert, ist für die studentische Linke keine Alternative. Ist dieses Konzept revolutionär? Die Verweigerungs-, wir können auch sagen Umsturzformeln, mit denen Dutschke seine Ideen konzipiert, könnten darauf schließen lassen. Sie heißen: Kampf gegen ‚unsere‘ bestehende Ordnung, Emanzipationsprozeß, Befreiung der Menschen von innerer und äußerer Unterdrückung. Marx zitierend heißt das demokratische Ziel und der Weg dorthin: […] alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes … Wesen ist, Herausbildung einer neuen gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsform, Aufhebung und Auflösung der Widersprüche, Schaffung einer … ‚Assoziation freier Individuen‘, die gesellschaftlichen Apparate und Institutionen … tief erschütter[n], Zusammenbruch der etablierten Apparate, prozessuale[r] Zusammenbruch des etablierten Systems von Institutionen.
An anderer Stelle kategorisiert Dutschke in der nämlichen revolutionären Diktion die parlamentarische Demokratie … nach dem Faschismus als eine Übergangsperiode (Dutschke 1967c, 73). Dass diese Diskurselemente den Begriff des Revolutionärs dokumentieren und damit sein Selbstverständnis steht außer Frage – ob der Realist Dutschke solche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen als Ziel widerständischen politischen Handelns Ende der 1960er Jahre verstand, mag indes bezweifelt werden. Denn: Als grundlegendes Element des demokratischen Zielkonzepts der Akteure ist das des Prozesses auszuweisen, der Evolution und langsamen Entwicklung. Das Moment des Umsturzes ist mit diesem Konzept nicht vereinbar. Revolution und Emanzipation entsprechen daher zum einen dem Selbstverständnis der Beteiligten als revolutionär und antiautoritär, zum andern ihrem Ziel einer demokratischen Gesellschaft von Gleichgestellten. Dieses Handlungskonzept hat eine gemeinsame Zeitdimension. Es ist die des Prozesses. Wir
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sollten über den Transformationsprozeß, also über eine Zukunft in der Gegenwart sprechen (Gespräch 1967, 146) – diese Sentenz Rudi Dutschkes aus dem ‚Gespräch über die Zukunft‘ dokumentiert: Prozess ist derjenige Ausdruck, der das gesellschaftsverändernde politische Handeln sozusagen hinsichtlich seiner zeitlichen Qualität bestimmt. Er bezeichnet Verstetigung und ist damit eine Version des Konzepts der permanenten Revolution von Leo Trotzki: die Massenhaftigkeit und die Dauer des revolutionären Prozesses, der auch in der Theorie schon als ein permanenter begriffen wurde. (Dutschke 1968c, 85) Revolution und Emanzipation sind nicht Handlungskonzepte des raschen Umbruchs, des plötzlichen Wechsels und der schnellen Veränderung. Handlungsziel der Bewegung ist weniger die direkte Veränderung der Gesellschaft, als vielmehr vor allem die des Bewusstseins. Dass dieser Zustand eines geänderten Bewusstseins nicht umbruchartig zu erreichen ist, gehört zu den Überzeugungen der Protagonisten und diese Überzeugung verdichtet sich lexikalisch in dem Diskurselement Prozess, das die bezeichneten Handlungskonzepte hinsichtlich ihrer modalen Qualität bestimmt. Rudi Dutschke, befragt zum Begriff der Revolution, legt dar, dass er darunter nicht eine plötzliche, schlagartige umbruchartige Veränderung versteht, sondern im Gegenteil einen langen und langsamen Prozess gesellschaftlichen und politischen Wandels. Nach dieser Vorstellung erfährt das Konzept der Revolution seine Ausdeutung: Revolution ist nicht ein kurzer Akt, wo mal irgendwas geschieht und dann ist alles anders. Revolution ist ein langer, komplizierter Prozeß, wo der Mensch anders werden muß. Diesen Vorgang nennt Dutschke Prozeß der Veränderung, er entspreche dem langen Marsch[…] durch die bestehenden Institutionen, in denen durch Aufklärung, systematische Aufklärung und direkte Aktionen, Bewußtwerdung bei weiteren Minderheiten in- und außerhalb der Universität möglich werden kann. (Dutschke 1967d, 15) An anderer Stelle gebraucht Dutschke die Formel Prozeß der Revolution56, in dem Interview mit der Zeitschrift ‚konkret‘ setzt er Veränderung und Umwälzung mit Prozeß der Befreiung
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Der Prozeß der Revolution, von dem viele von uns träumen oder ihn vorbereiten, ist ein Prozeß, der über die Selbstorganisation geht und nicht über die Manipulation. Selbstorganisation heißt: Man organisiert die eigenen Interessen, Bedürfnisse und vielleicht auch Leiden. (Dutschke 1967h, 64f.) Wenige Tage später dann, nachdem er in dem Interview, das Günter Gaus mit ihm führte, die Zielbedingungen formuliert, Die Gesellschaft, die wir anstreben, ist ein langfristiges Prozeßresultat (Dutschke 1967a, 43), verwendet er dieselbe Formel: unser Prozeß der Revolution [wird] sehr lang sein …, ein sehr langer Marsch sein. (Dutschke 1967a, 48)
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8 Modellieren: Partizipationsdemokratien
gleich.57 Es ist dies das dominante Revolutions-Konzept der studentischen Linken Ende der 1960er Jahre58 und das Motiv für die Gelegenheitsbildung Verweigerungs-Revolution – wo die Überzeugung herrscht, dass die „politische Machtergreifung“ … für die gegenwärtige Phase der gesellschaftlichen Entwicklung keine Möglichkeit mehr ist, wird dieses Defizit durch Obstruktion ersetzt: Der Prozeß der organisierten Verweigerungs-Revolution ist ein für die Menschen sichtbarer und von ihnen verursachter tendenzieller Zusammenbruch der etablierten Apparate. Die selbsttätigen Massen werden ihre eigenen Kräfte dann endlich als die gesellschaftlich mächtigen erkennen, werden ihre erlittene Unmündigkeit und Apolitizität im Verlaufe ihres immer bewußter werdenden Kampfes verlieren. (Dutschke 1967f, 259)
Wir sehen: Das Konzept der Revolution erfährt im Diskurs der späten 1960er Jahre eine von der studentischen Linken vorgegebene Ausdeutung, die einer Neubestimmung gleichkommt. Der Begriff des Umsturzes, der radikalen Veränderung – er wird zwar nicht aufgegeben, aber er wird auf eine Zeitachse gesetzt. Diese Verzeitlichung nimmt ihm das temporale Moment des Plötzlichen und Schnellen (und damit des Radikalen und Aggressiven) und ersetzt es durch das des Kontinuierlichen und Evolutionären. Der Begriff der Revolution wird damit entradikalisiert. Prozess, Umgestaltung, Veränderung sind die mit diesem Konzept korrespondierenden lexikalischen Verdichtungen59, die die berühmte Formel Dutschkes, langer Marsch durch die Institutionen, variieren. Die Leitformeln widerständischen politi-
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Die Frage der Veränderung und Umwälzung der bestehenden Gesellschaft als Prozeß der Befreiung aller Menschen von Krieg, Ausbeutung und Angst ist nur als sehr langer und komplizierter Weg zu begreifen. (Dutschke 1967o, 19) wir [treiben] im globalen Maßstab auf eine revolutionäre Situation zu …, deren Eintreten wir fördern können; daß dies nur langfristig zu denken ist, sollte sich von selbst verstehen, nachdem die Rede vom „langen Marsch“ zu einem Schlagwort geworden ist. Alle Analysen rechnen mit langfristigen Prozessen (Neusüss 1968, 52); Revolution ist nicht (dieses anarchistische Mißverständnis scheint Habermas zu teilen) der bloße Vorgang einer faktischen Machtergreifung, sondern ein kollektiver Lernprozeß, in dem Aktionen eine Waffe der Kritik sind, weil sie die Naivität einer Kritik der Waffen in den Metropolen nicht teilen; ihr Pathos ist die Befreiung des Bewußtseins, ihr Mittel eine pragmatische Opposition, die objektiv gegebene Konfliktmomente mit Strategien verbindet. (Rolshausen 1968, 153) Ganz sicher wird niemand behaupten können, daß es überhaupt keine Gewalt innerhalb des Prozesses der Veränderung geben wird. (Dutschke 1967b, 270); im Prozeß der Umwälzung unserer Gesellschaft (Salvatore / Dutschke 1967); Die Revolte der sozialistischen Studenten versteht den Kampf gegen die technokratische Hochschulreform als einen Teil des Kampfes zur revolutionären Umgestaltung dieser Gesellschaft. (SDS 1968j, 528); vielmehr handelt es sich um einen globalen Prozeß der Revolutionierung, in dessen Anfängen wir stecken (Neusüss 1968, 52).
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schen Handelns Ende der 1960er Jahre, Bewußtsein schaffen, bewußt machen entsprechen ebenfalls dieser Idee der revolutionären Verstetigung.60 Dieses Verstetigung bezeichnende Element deutet auch die zweite Kategorie des demokratischen Handlungskonzepts aus. Emanzipation wird, wie Revolution, als langsamer Prozess konzipiert, Emanzipationsprozeß ist in diesem Sinn zentrale Zielkategorie der Aktivisten.61 Dutschke prophezeit: Es wird keine deutsche Revolution geben. Es wird aber einen weltweiten Prozeß der Emanzipation in einem langen Sinne geben. (Dutschke 1967d, 15) Es ist dies eine Ausdeutung, die übrigens der von Jürgen Habermas, dem antagonistischen Mentor, vollkommen entspricht.62 Insofern also dieses Verständnis von Emanzipation als einem langsamen Prozess der Befreiung mit dem revolutionären Konzept der Aktivisten korrespondiert, insofern Emanzipation wie Revolution eine Prozessbezeichnung ist, können Revolution und Emanzipation widerspruchsfreie Kontextpartner sein, insbesondere in der Formel revolutionäre Emanzipation.63 60 Das ist die entscheidende Voraussetzung für eine wirkliche Veränderung unserer Situation, und nicht nur der universitären, daß immer mehr – und da stellt sich jetzt auch die Frage nach der Theorie der Revolution – daß immer mehr Menschen erkennen; es gilt erst mal, ein Bewußtsein des Mißstandes zu schaffen … was soll es bedeuten, als einzelner Antworten zu geben, wenn die gesamtgesellschaftliche Bewußtlosigkeit bestehen bleibt. Die muß durchbrochen werden. (Dutschke 1967d, 16); wir müssen ganz klar sehen, daß unsere Chance der Revolutionierung der bestehenden Ordnung nur darin besteht, daß wir immer größere Minderheiten bewußtmachen (Dutschke 1967b, 271). Der absolute Gebrauch des Verbs mag Ausdruck für seinen hohen Stellenwert als Diskurselement zur Bezeichnung des zentralen Handlungsziels sein. 61 dem bornierten Hochschulreformismus, der unter Abstraktion von der politischen Zentralisierungstendenz des Autoritären Staates den Emanzipationsprozeß der Wissenschaft auf die Akademie beschränkt (Claussen 1969, 11); Der Beitrag der Revolutionäre aus den Metropolen – innerhalb des internationalen Emanzipationsprozesses – ist doppelter Natur (Salvatore / Dutschke 1967); der Emanzipationsprozeß muß sich intrasubjektiv fortsetzen. (Brückner 1968, 87); Ein Emanzipationsprozeß von einer Reihe jüngerer Genossen wurde … eingeleitet … Die Analyse selbst, ihre Diskussion und auch die genannten voraufgegangenen Ereignisse selbst bildeten den ersten und entscheidenden Teil des Emanzipationsprozesses. (Huisker 1968, 117) 62 Wenn dieses Potential [der Protestbewegung] sich nicht selbstzerstörerisch im Wege steht und wir Älteren nicht vollends ohne Verstand reagieren, kann es vielleicht zur Antriebskraft eines langfristigen Transformationsprozesses werden, der international die vorhersehbaren Katastrophen noch verhindert und im Inneren einen Schritt Emanzipation ermöglicht. (Habermas 1969b, 48f.) 63 Es gibt keine revolutionäre Emanzipationsbewegung, die ohne derartige Diskussionen ausgekommen wäre. (Abendroth 1968, 132); sollte eine sich der Notwendigkeit revolutionärer Emanzipation bewußte Bewegung intendiert werden, die die Möglichkeit hätte, ihre Opposition inhaltlich zu bestimmen als Taktik im Hinblick auf das Ziel, die positiven Bedingungen sozialer Emanzipation zu realisieren … Ziel der revolutionären Emanzipation (Falkenberg / Dabrowski 1968, 19); Die Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und an der menschlichen Emanzipation arbeiten. (Dutschke 1968c, 85)
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Emanzipation (mit emanzipativ und emanzipatorisch) – seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Kampfvokabel der Arbeiterbewegung im Sinn von ‚Befreiung aus Unterdrückung mit dem Ziel des Gleichgestelltseins von Unterprivilegierten‘ (vgl. DFWB 5, 99ff., s. v. Emanzipation) – ist in diesem Sinn handlungsbezeichnende Kategorie des kritischen Diskurses Ende der 1960er Jahre.64 Ihr semantischer Konnex zu der Leitidee des Diskurses, Demokratisierung, drückt sich nicht zuletzt in dem konzeptueller Nähe entsprechenden Kompositumspaar Emanzipations- und Demokratisierungsprozeß aus, sowie in Kontextpartnern wie Autonomie / autonom, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Abbau von Herrschaft und Unterdrückung.65 Es sind dies die relevanten konzeptdefinierenden Partnerwörter. Emanzipation hat, als Fahnenwort, hohes Identifikationspotenzial, das das Selbstverständnis der Beteiligten (explizit im Sinn einer antiautoritären Emanzipationsbewegung66) reflektiert. Diese Identität bestätigt Habermas aus der Außensicht:
64 die Möglichkeit der Befreiung, die ja vielleicht schon zur Zeit der Pariser Kommune als reale Möglichkeit der Emanzipation der Produzenten da war (Gespräch 1967, 148); der Imperialismus, der die Befreiungsbewegung in Vietnam zu zerschlagen sucht, [ist] ein weltweites System …, dessen Ausprägung zwar verschieden, seine wesentliche Bestimmung aber, Repressionsmaschinerie gegen die Emanzipation der Menschheit zu sein, überall identisch ist. (SDS 1968c); Selbstorganisation als Ausdruck der politischmenschlichen Organisation der Interessen, Bedürfnisse, Wünsche und Leiden der um ihre Emanzipation kämpfenden Menschen steht dabei im Mittelpunkt. (Dutschke 1968g, 103); Die Spaltung der I. Internationale im Jahre 1872 bildete einen erneuten Rückschlag für die Emanzipationsbestrebungen der unterdrückten Klassen (Dutschke 1966, 53); Die Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und an der menschlichen Emanzipation arbeiten. Die Unterprivilegierten in der ganzen Welt stellen die realgeschichtliche Massenbasis der Befreiungsbewegungen dar, darin allein liegt der subversiv sprengende Charakter der internationalen Revolution. (Dutschke 1968c, 85) 65 Der folgende Textausschnitt, der im Zusammenhang mit dem Programm einer Kritischen Universität formuliert wurde, ist insofern prototypisch: Überall dort, wo bestimmte Inhalte und Methoden der Wissenschaft, ihrer Anwendung und ihrer Vermittlung mit gesellschaftlicher Praxis, die dem Emanzipations- und Demokratisierungsprozeß der Gesellschaft dienen, von den herrschenden Exponenten und Gremien der Hochschulen behindert oder ausgeschlossen werden, sollten Studenten in Verbindung mit interessierten Assistenten, Dozenten und Experten aus der Berufspraxis dazu übergehen, die Arbeit an diesen Themen selbst zu organisieren. Diese autonome kooperative Tätigkeit dient dem stets gefährdeten Versuch einer subjektiven Emanzipation und Selbstverwirklichung der Studenten und jungen Wissenschaftler gegen den herrschenden akademischen Lehrund Forschungsbetrieb. Sie kann sich aber auch auf lange Sicht als nützlich für den Kampf um subjektive befriedigende und emanzipatorische Arbeitsformen und Arbeitsziele in der späteren Berufspraxis erweisen … Ausgehend von ihrer Arbeit an Strategien der demokratischen gesellschaftlichen Veränderung zum Abbau von Herrschaft und Unterdrückung und auf Grund ihrer eigenen experimentellen Studienveranstaltungen und kleineren Forschungsobjekte will sich die Kritische Universität darum bemühen, daß neue emanzipatorische und kritische Fragestellungen in die offiziellen Programme der Forschung und des Studiums, aber auch der Lehrerbildung, der akademischen Fortbildung und des Schulunterrichts aufgenommen werden. (Ziele und Organisation 1967) 66 erreichen, daß sich die ethische Opposition in eine sich politisch klassenkämpferisch begreifende Emanzipationsbewegung umwandelt (Falkenberg / Dabrowski 1968, 23); eine emanzipatorische Umgestaltung der Hochschulen nur in einer gesamtgesellschaftlichen Emanzipationsbewegung (Claussen 1968, 11); Das antiautoritäre Bedürfnis nach Emanzipation gegenüber unausgewiesenen Autoritäten entfaltete sich orga-
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Die neue Protestbewegung verdankt ihre Überlegenheit dem Umstand, daß sie auf dem gegenwärtigen Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung unterscheiden kann: zwischen dem privatistischen Ziel des gesicherten Lebensstandards und dem eigentlich politischen Ziel der Emanzipation, d. h. der Durchsetzung eines im Ernst demokratischen Willensbildungsprozesses in allen gesellschaftlichen Bereichen. (Habermas 1968a, 200)
Eine solche Bestimmung dürften die Aktivisten akzeptiert haben, entspricht sie doch ihrem Selbstbild und Selbstanspruch, eine gesellschaftsverändernde Instanz zu sein. In der Funktion als Identifikationsvokabel ist Emanzipation eine Kategorie mit unterschiedlichen Referenzen, nämlich der der (historischen) Arbeiterbewegung, in deren Tradition man die Befreiungsbewegungen der sog. Dritten Welt stellt.67 Es sind dies diejenigen politischen Kontexte, in denen sich die studentische Bewegung Ende der 1960er Jahre gern sieht, Verbindungen zu ihnen werden diskursiv hergestellt. Dominant referiert Emanzipation jedoch auf den studentischen Lebensbereich.68 Insbesondere in diesem Kontext unterscheiden die Akteure
nisatorisch in den plebiszitären Massenversammlungen an der Universität. (Claussen 1969, 9); aus dem antiautoritären Begriff der Emanzipation Kriterien für die politische Führung der Bewegung zu gewinnen (SDS-BV / VDS 1969, 14); auf dem Hintergrund dieses antiautoritär-emanzipatorischen Ansatzes (ebd. 15). 67 Die Dritte Welt als die Gesamtheit der unter dem Terrorismus des von den „giantcorporations“ bestimmten Weltmarktmechanismus leidenden Völker, deren Entwicklung vom Imperialismus verhindert wurde, hat in den vierziger Jahren mit diesem [Emanzipations-] Kampf begonnen, schon ganz unter dem Eindruck und der Erfahrung der ersten „verratenen“ (Trotzki) „proletarischen Revolution“ in der Sowjetunion. (Dutschke 1968c, 85); die Volkskriege in Asien, Lateinamerika und Afrika als Fortsetzung des Emanzipationskampfes des Proletariats, als die entscheidenden Impulse für die sozialistische Weltrevolution zu deuten (Rabehl 1968b, 40); der innenpolitische Gebrauch marxistischer Schlagworte (um mehr handelt es sich nicht) würde nicht einmal für den internen Verkehr glaubwürdig sein, wenn nicht die Emanzipationsbewegungen der Dritten Welt der Imperialismustheorie neuen Auftrieb gegeben hätten. (Habermas 1969b, 18); Diese Form des nationalen Befreiungskampfes als Teil der internationalen Emanzipationsbewegung ist nicht zu trennen von dem erreichten Stand der weltweiten Entwicklung der Produktivkräfte, von der Gesamtbewegung des Kapitals … Damit ergab sich für die Revolutionäre, für die Völker die historische Möglichkeit, den emanzipierenden Kampf um die nationale Selbstbestimmung, um die Beseitigung des massenhaften Elends, um die Überwindung der Abhängigkeit in ihren verschiedensten Formen zu beginnen (Dutschke 1968i, 57). 68 Die Studenten zogen nach den Ereignissen des 2. Juni die Konsequenz und begannen mit der Selbstorganisation eines praxisorientierten Wissenschaftsbetriebes, der beispielhaft neue demokratische Formen und Inhalte kritischer Wissenschaft vorstellen und eine wissenschaftlich untermauerte emanzipatorische Gesellschaftspraxis der Studenten in Zusammenarbeit mit anderen sozialen Gruppen ermöglichen sollte. (Knapp / Schweichel 1968, 81); Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, demokratische Übernahme und Kontrolle der Produktionsmittel durch die Produzenten ist eine der entscheidenden, wenn nicht gar die entscheidende programmatische Forderung als Voraussetzung zur Emanzipation. Das gilt auch für die Universität (Krippendorff
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im Diskurs die von Karl Marx vorgegebene Trennlinie zwischen persönlicher, individueller und kollektiver, gesellschaftlicher Emanzipation. Persönliche Emanzipation – diese feste Wendung ist Karl Marx und seinem Leitwort geschuldet: „Wir müssen uns selbst emancipieren, ehe wir andere emancipieren.“ (Marx 1843, 348) Auf diese Leitidee der persönlichen Emanzipation bezogen kann z. B. Bernd Rabehl die Entstehung des Typus Revolutionär beschreiben: Die vitalen Bedürfnisse der persönlichen Emanzipation und das humanistische Interesse an Gerechtigkeit, menschlicher Entfaltung und Frieden erzeugten bei den Studenten den Typus Revolutionär, der die sozialrevolutionäre Haltung zuerst auch als persönliche Verweigerung dem unmenschlich kapitalistischen System gegenüber betrachtete und deshalb zwischen Haß und Verzweiflung schwankte, der sah, daß die gesellschaftliche Isolation nicht durchbrochen werden konnte. (Rabehl 1968b, 46)
Wir können festhalten: Revolution und Emanzipation bezeichnen den Weg zum politischen Ziel einer direkten Demokratie, den die studentischen Beteiligten als einen prozesshaften konstituieren, und zumindest hinsichtlich der Kategorie der Emanzipation dürfte insofern Konsens mit der intellektuellen Linken bestehen, als die Idee der Aufklärung darin enthalten ist. Festzuhalten ist aber natürlich ebenfalls, dass ein diskursiver Konsens mit der am Diskurs beteiligten Gruppe der intellektuellen Linken über das radikale rätedemokratische, sozialistische Modell der Aktivisten nicht herstellbar ist. Dutschkes69 und des SDS, der Idee des dogmatischen Marxismus folgende Vorstellung, dass ein solches Gemeinwesen die urdemokratischen, dem kapitalistischen System verbundenen Instanzen von Parlament, Parteien und Exekutive verabschiedet (vgl. Vilmar 1973 II, 89), mag als Ausdruck einer Blochschen konkreten Utopie interpretiert werden. Wer aber, wie Adorno und Habermas, die nationalsozialistische Diktatur erlebt hat, kann natürlich diese Form einer fundamentalen Demokratie nicht wollen. Dutschkes und des SDS Vorstellung einer direkten Demokratie mündiger
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1968, 170); Die Fachborniertheit muß durchbrochen werden, um die Emanzipation aller Studenten im politischen Kampf zu erreichen. (Arbeitsgruppe ‘Kollektive Lernprozesse’ 1969, 28); während der Hochschulrevolte [hatten sich] emanzipatorische Interessen nach autonomer Neuorganisation wissenschaftlicher Interessen herausgebildet (SDS 1969c, 4). Norbert Frei bewertet Dutschkes demokratische Ideen als den Traum eines naiven Idealisten, mit romantischen „unterkomplexe[n] Vorstellungen von der Funktionsweise moderner Gesellschaften und Volkswirtschaften“ (Frei 2008, 218). Andererseits jedoch wurden Argumente der Bewegung aufgegriffen von einer Wissenschaft, die mit ihnen eine Gesellschaftstheorie ausstattete, „die über das bis dahin Geläufige substantiell hinauswies“ (ebd.).
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Menschen drückt sich aus als selbsttätiges Handeln freier, sich zusammenschließender Individuen – Selbstorganisation. Sie durchdringt alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und ist gekennzeichnet von Gegenseitigkeit – Kooperation. Die traditionellen demokratischen Instanzen Parteien, Parlament und Exekutive werden zugunsten direkt wähl- und abwählbarer Räte aufgegeben – Rätedemokratie. Partizipationsdemokratie ist in diesem Kontext das Modell eines für alle Lebensbereiche zuständigen parteiunabhängigen Gremiums von auf Zeit gewählten Räten. Unter dem Zeichen der Modellierung repräsentiert der Diskurs zukunftsbezogene Demokratiekonzepte, also nunmehr das positiv ausgedeutete Konzept. Die Vorstellung von Partizipationsdemokratie Ende der 1960er Jahre verdichtet sich theoriegestützt und praxisbezogen in dem pädagogischen Konzept Adornos, in der deliberativen Demokratietheorie Habermas’ sowie in dem an das sowjetische des frühen 20. Jahrhunderts anknüpfenden Modell einer direkten Rätedemokratie, das die studentische Linke (insbesondere der SDS und Rudi Dutschke) als Zukunftsentwurf konstituiert. Alle drei Ansätze sind den Grundideen der Aufklärung verpflichtet. Mündigkeit ist zentrale Kategorie, ebenso Vernunft und Willensbildung. Indem Habermas die Kriterien der kommunikativen Konsensfindung und der Öffentlichkeit an seinen Demokratiebegriff bindet, erweitert er Partizipationsdemokratie zu einem umfassenden auf Kommunikation setzenden gesellschaftlichen Prinzip, während Dutschke und der SDS Partizipationsdemokratie mit Rätedemokratie gleichsetzt und damit Parteien und Parlamente aus diesem Konzept ausschließt.
9 Demokratie – Diskurssemantische Umbruchkonstellationen In den vorangegangenen Kapiteln haben wir – ausgehend von dem Modell eines im Diskurs aspektualisierten und spezifizierten Superkonzepts „Demokratie“ – seine diskursiven Einbettungen, seine Stellung im Diskurs, die Kontexte seiner Realisierungen sowie das Konzept als Gegenstand von Beund Aushandlungsstrategien der Diskursbeteiligten rekonstruiert. Unter der Voraussetzung, dass Diskurse, als Sprachgebrauchsphänomene, ereignisbedingte gesellschaftliche Phänomene sind, haben wir den Fokus der Darstellung auf die späten 1960er Jahre gerichtet. Der öffentliche kritische Diskurs dieses Zeitraums ist, ereignisbedingt, mit der Bezugsetzung vor allem auf die Erschießung Benno Ohnesorgs, auf die Lesung und Verabschiedung der Notstandsgesetze und auf die Berichterstattung über die Protestbewegung in der (Springer-)Presse von hoher Dynamik gekennzeichnet. Diese Dynamik wird thematisch von hoher diskursiver Kohärenz begleitet. Denn die diskursiven Ereignisse wurden von der Diskursgemeinschaft unter dem Zeichen einer Gesellschaft bearbeitet, die sie für demokratisch defizitär hielten, ihre Thematisierungen sind damit Repräsentationen von Demokratiekonzepten. Anders gesagt: Diese Ereignisse sind die initialen bzw. prozessualen diskursiven Momente der späten 1960er Jahre, die unter dem Zeichen von Demokratie und ihren Defiziten von den Diskursbeteiligten, ihren Beteiligtenrollen entsprechend, bearbeitet wurden. Diese Bearbeitungen machen als Komplex ein dominantes Segment, nämlich das Demokratisierungssegment, des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre aus. Abschließend geht es nun darum, die Idee einer Diskurssemantik systematisch wiederaufzunehmen und in die Perspektive eines sprachlichen Umbruchs zu rücken – hinsichtlich der entscheidenden Faktoren Topik, Beteiligte und Konzeptualisierungen. Wir haben diese Arbeit mit einem Überblick über die sprachhistorischen Forschungen eingeleitet, deren Grundtenor ist: 1968 war eine sprachgeschichtliche Zäsur. Sprachliche Innovationen sind in lexikalischer, stilistischer und kommunikativer Hinsicht Belege, die diesen Befund stützen. Der Nachweis wurde geführt, dass Innovation und Nachhaltigkeit der Inno-
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vation die Rede von der zweiten sprachlichen Zäsur in Bezug auf die Sprache der APO, der Protestbewegung, der studentischen Revolution berechtigt ist (vgl. insbesondere Straßner 1992, Stötzel 1995a, Wengeler 1995). Lässt sich die Frage auch in Bezug auf die Demokratiekonzepte bejahen, die den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre bestimmen und die im Zuge dieses Diskurses geprägt und geprobt wurden? Die Antwort auf diese Frage, wie sich ein Konzept sprachlich manifestiert, das Ende der 1960er Jahre unter das Signum Demokratie bzw. Demokratisierung gestellt wurde, ist von erheblichem gesellschafts- und damit sprachgeschichtlichem Interesse. Interpretationsvoraussetzung ist eine Sicht auf den Diskurs, die dessen Protagonisten zuschreibt, bereits existierende Tendenzen und Strömungen aufgegriffen und dann verdichtet, profiliert bzw. radikalisiert und transportiert zu haben. Der Diskurs der späten 1960er Jahre als Katalysator – diese Kategorie relativiert die des Umbruchs, ohne den Umbruchgedanken zu verabschieden. Denn: Umbruch, und erst recht sprachlicher Umbruch, kann nicht nur verstanden werden als eine plötzliche umfassende Veränderung, als schlagartiger Wandel von Bestehendem, von sprachlichen Traditionen. Umbruch kann vielmehr auch sein, und dies sei die Lesart, mit der die Erkenntnisse der Untersuchung zu bewerten sind, ein Bündel von Strömungen verstärkenden, Impuls gebenden, Vorhandenes aufnehmenden gesellschaftlichen Handlungen bzw. Praktiken (vgl. Kämper 2008). Diskurstheoretisch formuliert: Umbruch kann auch bedeuten eine Summe von, existierende Diskurse aufnehmenden und sie intensivierenden, ihre Themen exponierenden und dirigierenden kollektiven, kommunikativen Akten, die lexikalisch bzw. konzeptuell repräsentiert bzw. verdichtet werden. So ist der Ende der 1960er Jahre einsetzende Modernisierungsschub in Politik und Gesellschaft Ergebnis eines Prozesses, der Ende der 1950er Jahre einsetzt (vgl. Schildt 2003) und von den Diskursbeteiligten der späten 1960er Jahre dynamisiert wird. Es ist die Macht ihres Diskurses, der wirklichkeits- und sprachprägende Kraft entfaltet. Insofern scheint unübersehbar und evident, dass es die studentische und intellektuelle Linke der späten 1960er Jahre war, die den öffentlichen Diskurs der Protest- und Reformthemen etablierte, den die Protestbewegungen der frühen 1960er Jahre vorbereitet haben. Gerhard Schulze ist hier zu folgen, der aufzeigt, dass zwischen „der spätindustriegesellschaftlichen sozialen Landschaft in der Zeit des Wiederaufbaus und der voll entwickelten Erlebnisgesellschaft am Anfang der neunziger Jahre … eine Distanz [liegt], die kaum überbrückbar scheint“, dies „obwohl an der sozialen Konstruktion der unterschiedlichen Wirklichkeiten in den verschiedenen Stadien teilweise sogar dieselben Menschen beteiligt sind und waren“ (Schulze 1993, 544).
9.1 Thema – Demokratie als Praxis und Vorstellung
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Dieser Befund einer grundlegenden Mentalitätsveränderung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die Ende der 1960er Jahre einsetzt, drückt aus, was diskurs- und sprachgeschichtlich nachzuweisen war. Dieser Nachweis wurde geführt auf der Ebene der Thematik und vor allem auf der Ebene der Beteiligten und der semantischen bzw. konzeptuellen Diskursstruktur: Der diskurs- und sprachgeschichtlich manifeste Umbruch der späten 1960er Jahre drückt sich insbesondere in der Zentrierung des Diskurses auf den thematischen Fokus einer Demokratisierung der Gesellschaft aus, in der Konstellation der Diskursbeteiligten der studentischen und intellektuellen Linken und semantisch-konzeptuell in der Manifestierung neuer Demokratiekonzepte. Dass diese Konstellation aus Faktoren besteht, die einander bedingen, versteht sich von selbst.
9.1 Thema – Demokratie als Praxis und Vorstellung Dass ein öffentlicher gesellschaftlicher Diskurs von dem Thema „Demokratie“ bestimmt ist, stellt als solches natürlich keine diskursgeschichtliche Innovation des 20. Jahrhunderts dar (vgl. Kämper 2008). Mindestens die Diskurse der frühen Weimarer Republik (vgl. Kämper 2009) und die der frühen Nachkriegszeit nach 1945 (vgl. Kämper 2005) prägen eine Topik, die es rechtfertigt, diese Diskurse als Demokratiediskurse zu beschreiben. Unter Einbeziehung der spezifischen Kontextbedingungen jedoch sind diese Diskurse zu spezifizieren: 1. Der Demokratiediskurs der frühen Weimarer Zeit ist von einem Stimmengewirr der Vielen geprägt, die Partizipation beanspruchen (und die zur Zeit der Monarchie z. T. systematisch vom Diskurs ausgeschlossen waren). Diese Vielen statten den öffentlichen Diskurs je nach Perspektive thematisch aus. Für die frühe Weimarer Zeit kann also von einer thematisch stabilen und homogenen Struktur keine Rede sein (vgl. auch Fritzsche 2000). 2. (Westlichen) Diskursbeteiligten der frühen Nachkriegszeit bietet sich nach 1945 – vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse – gar keine Alternative, als das Thema „Demokratie“ diskursiv zu bearbeiten, das sie mit der Ligatur von Demokratie und Schuld mit einem moralisierenden Akzent, mit der Ligatur von Demokratie und (christliches) Abendland mit einem geistesgeschichtlichen Akzent versehen. 3. Die Demokratiediskurse von 1918 / 19 und von 1945ff. beziehen sich konzeptuell nicht auf existierende demokratische Strukturen, auf die die Beteiligten referieren und demokratische Konzepte von ihnen abgrenzen könnten. Dagegen kennzeichnet den diskursiven Kontext der späten 1960er Jahre thematisch die Bezugnahme auf eine seit zwanzig Jahren etablierte demo-
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kratische Praxis und eine Demokratiekonzeption, die die Folie abgibt – zur Modifizierung, zur Spezifizierung, zur Radikalisierung, jedenfalls zur Abgrenzung. Unter dieser Voraussetzung lässt sich der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre darstellen – und als Diskurs einer das Ziel gesellschaftlicher Veränderung verfolgenden politischen Bewegung muss er dargestellt werden – als ein ein demokratisch-kritisches Bewusstsein erzeugender Diskurs, den wesentliche Teile der studentischen Linken ebenso realisierten wie die erste und zweite Generation der Kritischen Theorie. Die Realisierung besteht natürlich auch darin, dass die beiden Beteiligtengruppen Kontroversen austragen, so etwa, wenn die studentische Linke das Handlungskonzept ‚Praxis‘ gegen das Handlungskonzept ‚Theorie‘ ausspielt, oder wenn der Handlungsmodus ‚Gewalt‘ von der studentischen Linken als demokratische Option diskursiv etabliert wird und damit unweigerlich an die Grenze dessen stößt, was die intellektuelle Linke argumentativ zu bestätigen bereit ist. Als thematisches Umbruchmoment können wir festhalten: Der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre lässt sich hinsichtlich Dichte und Ausdifferenziertheit seiner Topik in die Reihe der demokratiebezogenen Umbruchdiskurse des 20. Jahrhunderts stellen, mit der Einschränkung: Er hat, anders als die von 1918 / 19ff und von 1945ff weder einen radikalen gesellschaftlichen Umbau (von der Monarchie bzw. von der Diktatur zur Demokratie) zur Voraussetzung, noch demzufolge ein nichtdemokratisches System, von dem er sich abgrenzen könnte, sondern die seit rund zwanzig Jahren bestehende erste Nachkriegsdemokratie. Diese prinzipielle systemische Identität zwischen dem Vorfindlichen und dem Gewollten – auf beide referiert man mit der Nomination Demokratie – hat konzeptuelle Folgen der Ausdifferenzierung und Spezifizierung, wie wir unten (s. u. Kapitel 9.3.) sehen werden.
9.2 Beteiligte – Der kritische Diskurs als Soziolekt Die intellektuelle Linke ist distanzierter Kompagnon der studentischen Linken, man befindet einander der unmittelbaren zwar konfrontativen, immer aber auch im konsensuellen Bemühen ausgetragenen Diskussion würdig. Nicht zuletzt diese Konstellation der Beteiligten weist den kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre nicht nur als einen Jugend- bzw. Studentendiskurs aus, sondern, da an ihm ebenso die etablierte intellektuelle Linke beteiligt ist, als einen Intellektuellendiskurs. Angehörige dieser beiden Beteiligtengruppen haben ab Ende der 1960er Jahre für einige Jahre die Diskurshoheit und prägen in dieser Zeit Denken, Wollen und Sollen der
9.2 Beteiligte – Der kritische Diskurs als Soziolekt
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Gesellschaft. Es ist diese Beteiligtenkonstellation, die die Ende der 1960er Jahre konstituierten Demokratiekonzepte als sprachliche Innovationen in sprachpragmatischer Hinsicht etabliert: Einer relativ kleinen Gruppe jugendlicher, zumeist studentischer Aktivisten gelingt es für einen bestimmten Zeitraum, die Diskurshoheit zu erobern, bis zu einem gewissen Grad assistiert von den Theorielieferanten, die dem politischen Ziel gleichsam wissenschaftliche Dignität verleihen, und zwar in kritisch-distanzierter Auseinandersetzung. Diese Konstellation lässt sich als diskursiver Bruch bezeichnen: Bis 1967 / 68 waren die das nachkriegsdeutsche Demokratiekonzept repräsentierenden Diskursmächtigen vor allem die Funktionseliten von Politik und Verwaltung, in deren Zuständigkeitsbereich die Konzeptausdeutungen fielen. Die Beiträge der bereits seit Ende der 1950er Jahre aktiven Protestbewegungen hatten offensichtlich noch nicht die diskursive Kraft, um die Diskurshoheit zu übernehmen. Neu also ist: Ende der 1960er Jahre ändert sich diese Konstellation relativ abrupt (und einmal mehr mit dem 2. Juni) und es ist nunmehr die jugendliche und intellektuelle Linke, der es gelingt, öffentlich ihre gesellschaftskritischen und fundamentaldemokratischen Konzepte zu verbalisieren, moralisch zu legitimieren und zu praktizieren in einer Signifikanz, die als umbruchrelevant zu bezeichnen ist.1 Hinsichtlich dieser Beteiligtenkonstellation ist die den kritischen Demokratiediskurs Ende der 1960er Jahre repräsentierende sprachliche Variation als ein milieubedingter Soziolekt der Diskursbeteiligten zu beschreiben – wir nehmen die milieutheoretischen Einordnungen, die wir oben zur Charakterisierung der Diskursbeteiligten vorgenommen haben (s.o. Kapitel 3.1), wieder auf.2 ‚Sprache‘ und ‚Milieu‘ werden eng geführt mit dem Le1
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Hier zeigt sich, dass Diskurse „nicht nur soziale Verhältnisse abbilden, sondern [dass] die sozialen Strukturen dynamische Gebilde sind, die im Diskurs durch Kontextualisierungsprozesse generiert … werden.“ (Warnke / Spitzmüller 2008, 22) Mit Bezug auf von Hymes’ konzipierte, von Blommaerts weiterverfolgte Idee der „Voice“ („the ways in which people manage to make themselves understood or fail to do so“, Blommaert 2005, 68), auf die die Autoren verweisen, ist natürlich vor allem Foucault als Ideengeber zu nennen: Der Diskurs ist entscheidend abhängig von der Macht der Sprecher, der „Position des Subjekts“, die „durch die Situation definiert [ist], die es seinen Möglichkeiten nach im Verhältnis zu verschiedenen Gebieten oder Gruppen von Gegenständen einnehmen kann“ (Foucault 1973, 78). Wir folgen damit zugleich einer Vorgabe Klaus J. Mattheiers (2001, 79) – freilich bezogen auf die Sprache der „Achtundsechziger“, die nicht Gegenstand unserer Untersuchung ist: „Eine angemessene Untersuchung dieses Phänomens steht noch aus. Sie greift zu kurz, wenn sie … bei Wortschatz- und Wortbedeutungsanalysen ansetzt. Zur Achtundsechziger-Sprache gehört eine Achtundsechziger-Gesellschaft. Will man diesem sprachhistorischen Phänomen nahekommen, dann wird man die Perspektive der historischen Soziolinguistik wählen müssen.“
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bensformmodell, das sich auf Wittgenstein beruft: „eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“ (Wittgenstein PU §19) – Lebensformen werden von Milieus determiniert und von Sprache repräsentiert.3 Ein weiterer Aspekt ist zu ergänzen, nämlich der der lebensformbedingten Gruppensprache. Wenn wir unter Gruppensprachen mit Jakob (1994) „die Sprachvarianten von gesellschaftlichen Teilgruppen, die hinsichtlich ihrer Wertsysteme, Verhaltens- und Handlungskonventionen und ihrer spezifischen Symbolsysteme spezifisch abweichende Normen aufweisen“ verstehen, die „durch die Sprecher anderer Gruppensprachen (also von außen) eine Bewertung“ erfahren, also die Zuschreibung eines „positive[n] oder negative[n] Prestige[s]“ (Jakob 1994, 199)4, dann lässt sich eine Darstellungsperspektive des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre wie folgt formulieren: Milieuspezifische Lebensformen sind Ausdrucksweisen eines Kollektivs und manifestieren sich als solche in Gruppensprachen. Innerhalb dieser soziolektalen, lebensformmotivierten Rahmung ist die Sprache hinsichtlich der Beteiligtenkonstellation der späten 1960er Jahre bestimmt von den Faktoren Alter, Weltanschauung, Fach / Profession und Ort. Alter Die „antiautoritären Kreationen der Studenten- oder Jugendsprache“ wertet Jakob als Erscheinungen „transitorischer Gruppensprachen“.5 Sie „sind in subkulturellen Milieus zu Hause, in die man im Laufe seines Lebens hineinwächst, die man aber auch nach wenigen Jahren wieder verläßt.“ (Jakob 1994, 204) Kennzeichen sind „Innovation, Tabuverletzung, Regelverletzung und spielerische Kreativität“. Dabei generieren diejenigen „Gruppen, 3 4
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In der Formulierung Löfflers: „Alltagswissen und Alltagskommunikation sind … an gruppenspezifische und kleinräumliche Erfahrungen und Wertesysteme (Subkulturen) gebunden.“ (Löffler 2005, 100) Dieses Verständnis von Gruppensprache geht auf die Definition von Heinrich Löffler zurück, hier nach der 3. Auflage zitiert: „Wo immer eine nach sozialen, beruflichen, fachlichen, status- und ansehensbedingten Merkmalen gekennzeichnete Gruppe auch ein sprachliches Erkennungssymbol oder eine grammatisch-lexikalisch-intonatorische Varietät besitzt, sollen diese ‚soziolektal‘ oder ‚Soziolekt‘ heißen.“ (Löffler 2005, 116) Der Terminus stammt von Heinrich Löffler, der transitorische, temporäre und habituelle Soziolekte unterscheidet: „Die Gruppenzugehörigkeit und damit der Status der Sondersprachlichkeit kann als transitorisch, temporär und habituell angesehen werden. Transitorisch (mit Durchgangs-Status) sind die Altersstufen- und Alterssprachen, die Schüler-, Jugend- und Studentensprachen, die Sprache des Militärs und der Gefängnisse. Temporär, das heißt nur jeweils für eine gewisse Zeit im Tages- oder Jahresablauf geltend, sind Jargons von Freizeitgruppen … Habituell sind solche Soziolekte, deren Träger eine dauernde gesellschaftliche Gruppierung bilden wie die Nichtsesshaften“ (Löffler 1989, 117).
9.2 Beteiligte – Der kritische Diskurs als Soziolekt
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die in einer teils bedrohlichen, teils konfliktreichen, teils belasteten Ausgrenzungssituation leben, … die auffälligsten gruppensprachlichen Sonderentwicklungen“ (ebd.). Konfliktreich und belastet – wenn eine Gruppensprache unter diesen Bedingungen konstituiert und praktiziert wurde, dann die der studentischen Aktivisten Ende der 1960er Jahre. Halten wir fest: ‚Transitorische Gruppensprache‘ ist die das Alter der Akteure fokussierende soziolinguistische Klassifizierung der Sprache studentischer Oppositioneller Ende der 1960er Jahre. Weltanschauung Das Politischsein ihres Diskurses, ihre linke politische Einstellung ist klassifizierbar mit der soziolinguistischen Kategorie der ‚Gesinnungsgruppensprache‘. Unabdingbarkeit, Unerbittlichkeit, „Frömmigkeit“, die die Haltung der Aktivisten in Bezug auf ihre politische Existenz bestimmen, sind Kennzeichen dieser soziolektalen Variante. Hundsnurscher ordnet den „Bereich der religiös-weltanschaulichen Sektenbildung“ und „der politischideologischen Kollektivbildung“ dieser Kategorie zu (Hundsnurscher 2002, 905). Beide Bereiche seien durch die Kommunikationsmuster „destruktive Invektiven gegenüber abweichenden Auffassungen, missionarische Tendenzen mit dem Ziel der Bekehrung anderer“ sowie „indoktrinierende und überzeugungsstabilisierende Sprachformen im gruppeninternen Umgang“ gekennzeichnet (ebd.). Als Beispiel politisch-ideologischer Kollektivbildung nennt der Autor zwar Kommunismus und Faschismus bzw. Nationalsozialismus, zu Teilen jedoch lässt sich die Kategorie durchaus auf die studentischen Beteiligten des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre beziehen. Fach – Profession Insofern das Selbstverwirklichungsmilieu der studentischen Diskursbeteiligten, wie wir gesehen haben, von hohem wissenschaftlichem Anspruch gekennzeichnet ist, ist Wissenschafts-, bzw. Fachsprache eine dritte soziolinguistische Kategorie, die auf die Sprache der studentischen Linken als ‚Sprachspiel‘6 beziehbar ist: „Wissenschafts- und Fachsprachen sind auf die jeweiligen Gruppen beschränkt, die sich die fachlichen und terminologischen Kenntnisse durch eine längere Ausbildung angeeignet haben.“ Ihr Gebrauch kann „gruppenstabilisierend wirken und zur beruflichen Identifikation beitragen“ (Löffler 2005, 107). Wenn wir die Merkmale „längere 6
„Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll … hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (PU 23)
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Ausbildung“ und „beruflich“ weiter auslegen, können wir sagen: Die studentischen Aktivisten zeichnen sich durch ein hohes Maß wissenschaftlicher und theoretischer Bildung aus. Dieser Bildungsanspruch spiegelt sich in ihrer Sprache, in Abstraktion, Fremdwortreichtum, wissenschaftlicher Fachlexik. Ort Insofern die Protestbewegung in den großen Universitätsstädten stattfand, vorzugsweise in Berlin und Frankfurt, ist schließlich ihre Sprache auch als Stadtsprache zu klassifizieren. Dieser areale Aspekt ist unbedingt dem soziolektalen Konzept hinzuzufügen. Areale Dialekte sind Stadtdialekte und -sprachen, sie sind „die Sprachvariation einer städtischen Kommunikationsgemeinschaft“ (Löffler 2005, 137f.), m.a.W. sprachliche Varianten unter den Bedingungen urbaner Lebensweisen: jederzeitiger Zugang zu Informationen (Presse), hohe Dichte sozialer Kontakte bei gleichzeitiger Anonymität der Existenz sind u. a. diejenigen Voraussetzungen des sprachlichen „Varietätenraum[s] ‚Stadt‘“ (Schlobinski 1987, 27), die die Sprache der studentischen Linken Ende der 1960er Jahre prägen. Wir haben mit den vier Kategorien ‚transitorische Gruppensprache‘, ‚Gesinnungsgruppensprache‘, ‚Wissenschaftssprache‘ und ‚Stadtsprache‘ den Soziolekt der studentischen Aktivisten charakterisiert. Bis auf die Kategorie ‚transitorische Gruppensprache‘ lassen sich diese Merkmale auf die zweite Beteiligtengruppe, die des intellektuellen Establishments, übertragen: Insofern Sprecher wie Adorno oder Habermas – ihrer Zugehörigkeit zum Niveaumilieu (vgl. Schulze 1993, 283) entsprechend – mit hoher Anteilnahme und Veränderungswillen über gesellschaftliche Missstände reden, manifestieren sie ihre Gesinnung. Insofern sie dies als Wissenschaftler auf der Folie der von ihnen ausgearbeiteten gesellschaftlichen Theoriemodelle tun, reden sie wissenschaftssprachlich, insofern sich dies unter der arealen Voraussetzung von Urbanität und Großstadt vollzieht, ist ihr Reden als stadtsprachlicher Soziolekt zu kennzeichnen.7 Soweit kann das Reden der
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Wir kennen Adornos Überzeugung, dass Ländlichkeit eine dem Nazismus Vorschub leistende, antiaufklärerische und antihumanistische Lebensbedingung darstellt: „Die immer noch fortdauernde kulturelle Differenz von Stadt und Land ist eine, wenn auch gewiß nicht die einzige und wichtigste, der Bedingungen des Grauens. Jeder Hochmut gegenüber der Landbevölkerung ist mir fern. Ich weiß, daß kein Mensch etwas dafür kann, ob er ein Städter ist oder im Dorf groß wird. Ich registriere dabei nur, daß wahrscheinlich die Entbarbarisierung auf dem platten Land noch weniger als sonstwo gelungen ist.“ (Adorno 1966a, 93f.) Dieses urbane Bewusstsein kann als Einflussfaktor auf den Adornoschen Idiolekt gelten und ist übertragbar auf die intellektuellen Diskursbeteiligten überhaupt.
9.2 Beteiligte – Der kritische Diskurs als Soziolekt
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studentischen und der intellektuellen Linken als ein den beiden Gruppen gemeinsamer Soziolekt betrachtet werden. Diese Gemeinsamkeit hat ihre Grenze dort, wo für die Sprache der studentischen Aktivisten das altersspezifische Merkmal ‚transitorisch‘ bzw. ‚jugendsprachlich‘ geltend zu machen ist. Wenn wir das Merkmal ‚jugendlich‘ auch als ein Kriterium für die Position in der Gesellschaft nehmen – ohne Verantwortung, ohne Beruf, ungebunden – dann lässt sich als Entsprechung die Sprache der intellektuellen Linken als Intellektuellensoziolekt klassifizieren. Dies entspricht der Funktion der Intellektuellen in der Gesellschaft, in einer zeitgenössischen Deutung: derjenigen, für die „eine Übereinstimmung von Ethik und Politik zum Postulat der praktischen Vernunft geworden“ ist (Seeliger 1968, 16), mit hohem Informiertheitsgrad und erzieherischem Anspruch öffentliche Kritik an Missständen äußern und damit „das persönliche Risiko der Provokation auf sich nehmen“8, zur Beachtung der Grundwerte mahnen, gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen suchen. Wenn wir den kritischen Demokratiediskurs Ende der 1960er Jahre unter dem Zeichen dieser soziolektalen Ausprägungen mit ihren konzeptuellen bzw. semantischen Verdichtungen bzw. Entsprechungen darstellen, so erhalten wir folgenden Befund: 1. Der transitorische Soziolekt der jugendlichen Diskursbeteiligten im Sinn einer Jugendsprache manifestiert sich in diesem Sinn in der Selbstsicht der Akteure als junge Revolutionäre einer politischen Bewegung (Wir Jungen, revolutionär / Revolutionär, Bewegung) und in der Konstituierung von Staat und Gesellschaft in dem kompromisslosen Konzept des Faschismus als das negative Referenzsystem (mit enthistorisierend-analogisierenden semantischen Ausdeutungen von Faschismus), zu dem sie altersbedingte (und damit moralisch legitimiert) Distanz haben; in der Konzeption ihres widerständischen politischen Handelns unter der Leitidee einer Aufhebung des Praxisdefizits und der damit legitimierten Radikalisierung ihres Gewaltkonzepts (mit Provokation und Aktion, Gewalt und Gegengewalt als semantisch ambig gedeuteten lexikalischen Entsprechungen); in der Modellierung eines, Parteien, Parlament und Gewaltenteilung als überflüssig deklarierenden und als fundamentale direkte Demokratie verstandenen radikalen Sys-
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Dieses weist der Adorno-Biograf als Identitätsmerkmal aus: „Wiesengrund-Adornos Selbstbild war das eines Intellektuellen: nicht das eines notwendigerweise einsamen, aber das eines das persönliche Risiko der Provokation auf sich nehmenden Geistes.“ (Müller-Doohm 2003, 68)
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9 Demokratie – Diskurssemantische Umbruchkonstellationen
tems einer Rätedemokratie (mit lexikalischen Entsprechungen wie direkte Demokratie, Selbstorganisation, Gegenöffentlichkeit). Wenn Jugendsprache die Funktion hat, nach außen abzugrenzen, nach innen Identifikation herzustellen (vgl. Henne 1986), so stellt sich die Abgrenzungsfunktion im Diskurs der studentischen Linken als sprachliche Repräsentation radikaler Kompromisslosigkeit, die Identifikationsfunktion als sprachliche Repräsentation ihres revolutionären Selbstverständnisses dar. 2. Die Entsprechung des transitorischen stellt in der Beteiligtenkonstellation des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre die als Intellektuellensoziolekt klassifizierbare Redeweise der intellektuellen Linken dar. Die im Intellektuellenstatus aufgehobene Generationendifferenz wird manifest in ihrer Thematisierung der Jugendlichkeit der studentischen Aktivisten und einer entsprechenden Abgrenzung mit entsprechenden Stereotypisierungen (ihr Jungen – wir Älteren), in der Thematisierung einerseits studentischer Widerstandspraktiken (faschistische Terrormethoden), anderseits in Bezug auf das auf die studentische Linke gerichtete Handeln der Gesellschaft (die Juden von heute) – beides in Kategorien des Antifaschismus. Als Ausdruck eines intellektuellen Denkmodells ist dagegen ihre Verteidigung einer der Praxis überlegenen Theorie (Theorie, Praxis) zu verstehen, während schließlich ihre auf Aufklärung, Rationalismus und Idealismus zurückzuführende Konzeption einer Partizipationsdemokratie (mit Erziehung, Bewußtsein, Mündigkeit, Willensbildung, Vernunft, Konsens als Schlüsselwörtern) ihren moderaten gesellschaftskritischen und -verändernden Anspruch repräsentiert. 3. Gesinnungsgruppensprachen dokumentieren die Haltung tiefer politischer Überzeugungen. Entsprechung im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre ist die Thematisierung der von Marxismus und Kritischer Theorie formulierten Leitideen Kapitalismus / Spätkapitalismus, autoritärer Staat, repressive Gesellschaft, manipulative Presse mit ihren lexikalischen Repräsentationen (u. a. autoritär / Autorität, Spätkapitalismus, Repression / repressiv, Manipulation / manipulativ, Öffentlichkeit). 4. Diese Kategorien sind auch Anlass, den Soziolekt mit dem Prädikat Wissenschaftlichkeit zu versehen. Wissenschaftssprache / Fachsprache kategorisiert das im sprachlichen Ausdruck manifeste hohe wissenschaftliche und theoretische Bildungsniveau, das sich im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre außerdem manifestiert in der Adaption insbesondere der psychoanalytisch und soziologisch beein-
9.2 Beteiligte – Der kritische Diskurs als Soziolekt
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flussten Konzepte der Kritischen Theorie. Damit ist die wissenschaftssprachliche Repräsentation des kritischen Demokratiediskurses hinsichtlich der Reetablierung des lexikalisch-semantischen Potenzials der Kritischen Theorie als innovativ zu bezeichnen. Die Neuerungen bestehen in der diskursiven Repräsentierung von lexikalischen Konstituenten, mit denen die Begründer der Kritischen Theorie in den 1930er und 1940er Jahren ihre gesellschafts- und demokratietheoretischen Entwürfe lexikalisch instrumentiert haben (Faschismus, autoritär / autoritärer Staat / autoritäre Persönlichkeit, repressiv / Repression, Manipulation / manipulativ / manipulieren diskutieren / Diskussion, Öffentlichkeit, Willensbildung), mit Kategorien der Freudschen Psychoanalyse (Bewußtsein) und der marxistischen Überzeugungen ((Spät)Kapitalismus, Theorie, Praxis) ergänzt und unumschränkt dem Denken der Aufklärung verpflichtet (Aufklärung / aufklären, mündig / Mündigkeit / mündige Bürger, Emanzipation, Kritik / kritisch), m.a.W. in lexikalischen Wiederaufnahmen. 5. Nicht auf der Ebene der Lexik, sondern auf der der Textmedien und Kommunikationsformen darstellbar ist der stadtsprachliche Aspekt des Soziolekts. Stadtsprache bezieht sich auf die areale Tatsache der Großstadt als Forum des Soziolekts, die die Bedingungen für die thematische und lexikalisch-semantische Ausgestaltung des Diskurses darstellt. Als ein Ausdruck dieser Bedingungen können die nur in der (Universitäts-)Stadt vorstellbaren neuen kommunikativen Großformen (Go-in, Teach-in, Sit-in, Demonstrationen, Podiumsdiskussionen, Kongressdebatten, Flugblätter) gelten, die die von demokratischem Denken geprägte Leitethik der Kritik repräsentieren. Insofern die Redekonstellation durch eine hoch politisierte Phase der Nachkriegsgeschichte bestimmt ist, insofern diese Phase von demokratischen Grundgedanken und der Idee der Öffentlichkeit getragen wird, insofern die Sprecherkonstellation geprägt ist von studentischen und intellektuellen Diskursbeteiligten, sind es diese Textmedien und -sorten, die für eine Diskursanalyse unter diesen Bedingungen der Urbanität obligatorisch sind. Als beteiligtenbedingter Umbruchfaktor können wir festhalten: Der Diskurs wird realisiert in einem Soziolekt, der die politische Sprache Ende der 1960er Jahre verändert im Sinn von ergänzt. Wohl kaum zuvor lassen sich Versionen politischer Sprache in dieser Form als komplexer Soziolekt nachweisen. Wenn wir voraussetzen, dass Sprache der Politik bis Ende der 1960er Jahre vor allem als ideologisch polyseme Parteiensprache (Walther Dieckmann) oder als terminologisch festgelegte Organisations- und Fach-
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9 Demokratie – Diskurssemantische Umbruchkonstellationen
sprache9 in Erscheinung tritt, können wir für die 1960er Jahre diese auf die neue Beteiligtenstruktur des politischen Diskurses zurückzuführende, sich als Soziolekt manifestierende politiksprachliche Variante als Umbrucherscheinung verweisen.
9.3 Konzeptionen – Kontextuell-semantische Familienbande Wir haben oben auf die Idee der Familienähnlichkeit Bezug genommen, mit der Ludwig Wittgenstein semantische Relationen erklärt, und vorausgesetzt, dass Konzepte durch semantische Beziehungen der Konzeptelemente entstehen, genauer: durch semantische Kongruenz bzw. Inkongruenz derjenigen Elemente, deren Gesamtheit das Konzept positiv und negativ konstituiert. Wir haben in das Analysemodell weiterhin einbezogen, dass diese Bedeutungsrelationen kontextuell bestimmt sind – sprachliche Äußerungen sind kontextgebunden. Als kontextuelle Bezüge haben wir oben (s.o. Kapitel 3.2) tentativ eine Reihe von unmittelbar und mittelbar konstitutiven Faktoren unterschieden und genannt. Wir können nunmehr aus dem kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre die Konstellation der Kontextfaktoren konkretisieren und spezifizieren: Handlungsbeteiligte, Handlungsmodus, Binarität der Leitidee, Zeitrelation der Diskursaussagen, Gegenwartsbezug des Demokratiekonzepts und Zukunftsbezug des Demokratiekonzepts. Unter dieser Perspektive der Konzeptualisierung und der Kontextspezifizierung lassen sich die Befunde zusammenfassen. 1 Handlungsbeteiligte Die Diskursbeteiligten konstituieren mit gruppenbezeichnenden und -abgrenzenden Diskursaussagen die Akteure zur Aushandlung und Etablierung ihrer Demokratiekonzepte. 1.1 Das Demokratiekonzept des kritischen Diskurses Ende der 1960er Jahre hat einen expliziten Bezug zu den diesen Diskurs führenden Handlungsbeteiligten der intellektuellen und der studentischen Linken. 1.2 Die gruppenkonstuierenden Stereotype verweisen auf generationenbedingte Eigenschaften oder sind politisch motiviert.
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Vgl. die Unterscheidung nach Institutions-, Ressort-, allgemeines Interaktions- und Ideologievokabular, mit der Joseph Klein die Struktur des politischen Wortschatzes klassifiziert (Klein 1989).
9.3 Konzeptionen – Kontextuell-semantische Familienbande
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1.3 In ihrem Selbstverständnis weist sich die intellektuelle Linke tendenziell die generationenbedingte Rolle der Bewahrer, Mediatoren und Entschleuniger (wir Älteren, Leute über Dreißig) zu. 1.4 Die studentische Linke konstituiert die intellektuelle Linke generationenbedingt hinsichtlich ihrer diskursiven Rolle (Ordinarius, professoral) und hinsichtlich ihrer Funktion im Kontext außerparlamentarischen politischen Handelns (Autorität). 1.5 Von den die Handlungsbeteiligten konstituierenden Stereotype lassen sich die auf die studentische Linke referierenden als politische ausweisen. 1.5.1 Aus der Sicht beider Handlungsbeteiligter stehen die stereotypen Zuschreibungen links, oppositionell, außerparlamentarisch in einer solidarischen kongruenten Bedeutungsrelation zu Demokratie. 1.5.2 Die studentische Linke schreibt sich das Ideal der antiautoritär geprägten Einstellung und die Rolle der gesellschaftlichen und politischen Aufklärer und Veränderer zu. Die Stereotype antiautoritär und Revolutionär / revolutionär werden nur von der studentischen Linken als Konstituenten eines Demokratiekonzepts etabliert. 2 Handlungsmodus Das Demokratiekonzept des kritischen Diskurses Ende der 1960er Jahre hat einen expliziten Bezug zu einem Handlungsmodus. 2.1 Aus dem Verständnis der Beteiligten heraus lassen sich die ihre grundsätzliche Rezeptionshaltung bezeichnenden Realisationen (Kritik / kritisch, diskutieren / Diskussion) als handlungsbezeichnende Konzeptspezifizierungen zu Demokratie dergestalt in Beziehung setzen, als sie die für die am kritischen Diskurs Beteiligten entscheidenden Momente der mündigen politischen, und damit demokratischen, Lebensform, nämlich Urteil und gesprächsweise Meinungsfindung, bezeichnen.10 2.2 Während in Hinsicht auf die gewaltfreien Handlungsperspektiven im demokratischen Kontext Konsens der beiden Beteiligtengruppen besteht, ist die Ausdeutung derjenigen Konzeptelemente, die die manifesten Formen politischen Widerstands betreffen, von Dissens bestimmt. 2.2.1 Die intellektuelle Linke akzeptiert keine andere als die redende Form zur demokratischen Artikulation und Durchsetzung politischer Ansprüche und schließt insofern das Moment der Praxis aus diesem Handlungsmodell aus.
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Dass die studentische Praxis diesem Ideal widerspricht, haben wir ausführlich dargestellt.
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9 Demokratie – Diskurssemantische Umbruchkonstellationen
2.2.2 Die studentische Linke propagiert die Vereinbarung zwischen den beiden Kategorien Theorie und Praxis, um damit eine Legitimierung der aus ihrer Sicht demokratisch geforderten Formen praktischen widerständischen Handelns zu erreichen. Die Konkretionen dieses praktischen Handelns manifestieren sich in der Klimax Provokation – Aktion – Gegengewalt, die die studentische Linke als legitime Einschlusselemente, die intellektuelle Linke als tabuisierte Ausschlusselemente eines Demokratiekonzepts konstituiert. 3 Binarität Der Diskurs lässt sich hinsichtlich seiner beiden dominanten Schlüsselideen, Demokratie und Faschismus, als binäres Modell darstellen. 3.1 Demokratie und Faschismus sind als lexikalisch-semantische Antagonisten einander gegenüber gestellt. 3.2 Die lexikalisch-semantischen Repräsentationen des Faschismuskonzepts (autoritär, repressiv, Spätkapitalismus, Gewalt, Manipulation usw.) stehen entsprechend zu den Elementen des Demokratiekonzepts (Mündigkeit, Aufklärung, Öffentlichkeit, herrschaftsfreier Dialog usw.) in einer antonymischen Bedeutungsbeziehung. 4 Zeitrelation Das Demokratiekonzept ist hinsichtlich seiner semantisch-konzeptuellen Struktur prinzipiell abhängig von der Zeitrelation, auf die im Diskurs Bezug genommen wird. Insofern ist das Demokratiekonzept prinzipiell zweigeteilt nach einem Gegenwarts- und einem Zukunftsbezug. 4.1 Der Gegenwartsbezug des Demokratiekonzepts ist der im Diskurs dominante. Der kritische Diskurs der späten 1960er Jahre ist im Wesentlichen ein die Gegenwart analysierender und kritisierender Diskurs. 4.1.1 Demokratie wird in den späten 1960er Jahren in einer Version, die die Beteiligten für formal und unwahr halten (und die daher in einen Bezug zum Autoritär- und Repressivsein der politischen Gegebenheiten zu stellen ist), als eine politische Tatsache konstituiert. 4.1.2 Das gegenwartsbezogene Demokratiekonzept ist bestimmt von einer im Diskurs realisierten teilsynonymen Beziehung zu Faschismus. Faschismus (mit der Wortfamilie) hat für die Diskursbeteiligten als konzeptueller Platzhalter zur Konstituierung der politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Gegenwart, die sie für demokratisch defizitär halten, Diskursfunktion. Diese gegenwartsbezogene Faschismus-Ausdeutung radikalisiert gleichzeitig das zukunftsbezogene Demokratiekonzept der studentischen Linken.
9.3 Konzeptionen – Kontextuell-semantische Familienbande
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4.1.3 Bezeichnungsalternative für Faschismus ist die abstrakte Kategorie autoritärer Staat, die insofern in kohyponymischer Relation zu Faschismus steht. 4.1.4 Voraussetzung dieser Bezugsetzung von Faschismus zur Gegenwart ist die sprachstrategische Umdeutung der Kategorie, die eine Referenzebene schafft, die die semantische Adaption möglich macht: Mit dem enthistorisierten und analogisierenden gegenwartsbezogenen Gebrauch von Faschismus schaffen die Beteiligten die Voraussetzung zur Delegitimierung der Gegenwartsdemokratie sowie die legitimierende Voraussetzung eines neuen Demokratiekonzepts. 4.1.5 Eigenschaften von Gegenwartsstaat und -gesellschaft werden repräsentiert von den Konzeptelementen Gewalt, Repression und Manipulation. Sie sind Spezifizierungen von autoritärer Staat. Damit stehen sie zu Demokratie in antonymischer Relation. 4.2 Demokratie ist auch – in einer im Diskurs von den Beteiligten als echt, direkt und partizipatorisch vermittelten Version – ein zukunftsbezogenes Konzept. Jedoch ist der Anteil zukunftsbezogener Aussagen im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre zur Konstituierung eines Demokratiekonzepts gering. 4.2.1 In synonymischer Relation zu dem Superkonzept stehen die zukunftsbezogenen Gesellschaftseigenschaften bezeichnenden Repräsentationen, die als Spezifikationen bzw. Ausdeutungen eines zukunftsbezogenen Demokratiekonzepts Funktion haben. 4.2.2 Diese Ausdeutungen haben hinsichtlich der Beteiligten eine gemeinsame, durch das Traditionsvokabular der Aufklärung (Erziehung, Mündigkeit, Vernunft, Verstand) bzw. von der kritischen Theorie (Öffentlichkeit, Bewußtsein, Willensbildung, Selbstbestimmung) gebildete Basis, die von der studentischen Linken mit der Idee einer direkten Demokratie radikalisiert wird (Räte).
10 Fazit Die konzeptuelle Struktur des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre bildet, wie wir sehen, ein Netz von aufgrund von Familienähnlichkeit aufeinander bezogenen semantischen Elementen. Die lexikalisch-semantischen Einheiten dieses Netzes sind darstellbar als Elemente bzw. Repräsentationen eines neuen Demokratiekonzepts, der diskursiven Grundfigur ‚Demokratie‘. Vergegenwärtigen wir uns nochmals die Bedingungen des Diskurses: – – – –
„Demokratie“ stellt das diskursive Zentrum des kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre dar. Demokratie bezeichnet insofern ein politisches Grundkonzept des kritischen Diskurses. Demokratie und Faschismus sind die beiden diskursiven Antipoden. Konzepte werden von einer mehr oder weniger großen Vielzahl von zueinander in unterschiedlichen Relationen stehenden Einzelelementen realisiert.
Unter diesen Bedingungen lässt sich das im kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre etablierte Demokratiekonzept als komplexes kontextuell definiertes System konzeptueller Elemente darstellen, die als Demokratismen sowohl paradigmatisch als auch syntagmatisch ein Beziehungsgefüge bilden. Als umbruchgeschichtliche Essenz lässt sich mit diesen Voraussetzungen abschließend festhalten: Zwar steht die kommunikative und semantische Praxis des studentischen kritischen Diskurses der späten 1960er Jahre partiell in Widerspruch zu ihren theoretisch reflektierten demokratischen Idealen und denen ihrer Ideengeber. Wir haben die Defizite dieser Praxis dargestellt. Eine positive Wertung, die den Anteil der intellektuellen Akteure – Adorno, Horkheimer, Habermas – einbezieht, kann allerdings den Befund formulieren: Das auf Mündigkeit und Kommunikation, auf aufgeklärte Vernunft und Unmittelbarkeit setzende Demokratiekonzept Ende der 1960er Jahre ist eine neue, aufklärerische, rationalisierte und fundamentalisierte Demokratieversion. Die „tiefgreifenden Reformen, die in den 60er und 70er Jahren dann auch tatsächlich stattfanden“ (Bock 1999, 558) kön-
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nen auch als Resultat dieser Demokratie-Konzeption der späten 60er Jahre verstanden werden. Der kritische Diskurs Ende der 1960er Jahre ist insofern ein Beitrag zur Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts, seine semantischen bzw. konzeptuellen Repräsentationen sind ein Beitrag zur sprachlichen Demokratiegeschichte. Wenn der Erfolg der Bewegung darin gesehen wird, dass sie „Öffnungen … zustande gebracht hat“, die „inzwischen zur Normalität geworden sind“ (Bude / Kohli 1989, 18), wenn bestätigt wird, dass sie „auch, nein: eigentlich vor allem, das Lebensgefühl einer Generation“ (Frei 2008, 131) veränderte, wenn „68 das Datum war, an dem der zivile Staat sich in der Bundesrepublik durchgesetzt hat – gegen die Vertreter der deutsch-autoritären Tradition“ und hierin „die nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung von ’68 für die westdeutsche Gesellschaft“ (Bohrer 1997, 401) liegt, dann spiegelt sich diese Bewertung diskurs- und sprachgeschichtlich in Bezug auf den hier rekonstruierten kritischen Diskurs der späten 1960er Jahre wider: Das Konzept Demokratie (mit dem Komplex konzeptueller Ausdifferenzierungen, die wir rekonstruiert haben) erhält Ende der 1960er Jahre hohe Evidenz mit Auswirkungen auf der gesellschaftlichen, mentalitätsverändernden Ebene. Dabei wird das Leitbild des gebildeten ersetzt durch das „des autonomen, sich selbst verwirklichenden Menschen“ (ebd.). Kein Zweifel: Das urdemokratische Vorbild des autonomen, mündigen Bürgers ist die Leitfigur dieses Prinzips. Dieses Bild des mündigen, selbstbestimmten autonomen Menschen prägt dann insbesondere die vielleicht – auch sprachgeschichtlich – bedeutendste Folgeerscheinung des kritischen Demokratisierungsdiskurses der späten 1960er Jahre. Es ist das semantische Netz mündig / autonom / selbstbestimmt, das die sich in den 1970er Jahren anschließende Frauenbewegung motiviert.1 Wir haben die Thematisierung und Konstituierung dieser Leitfigur auf der Ebene der Identitätskonstitution rekonstruiert: Die antiautoritäre Selbstperspektive der studentischen Aktivisten, verdichtet in den Stereotypen links / Linke, Opposition / oppositionell und insbesondere antiautoritär entspricht diesem Konzept ebenso wie die Konstituierung des Gegenkon-
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Das entspricht dem Selbstbild auch noch zwanzig Jahre später, wie die pointierte Erfolgsdarstellung Reimut Reiches dokumentiert: „Unsere Überlegungen, Forderungen und Aktionen im Zusammenhang der ‚Revolutionierung des bürgerlichen Individuums‘ haben einen kulturellen Innovationsschub von gewaltigem Ausmaß ausgelöst, der bis heute noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Wir riefen: ‚Zerschlagt die bürgerliche Kleinfamilie!‘ – und wurden zur Avantgarde einer demokratischen Modernisierung im Bereich von Erziehung, Wohnform, Geschlechterbeziehung, Eheform, Kleider- und Tischsitten – und sexuellen Sitten. Ich sage nicht: es wäre das alles ohne uns nicht gekommen. Aber zweifellos hat die Studentenbewegung diesen Modernisierungsschub ausgelöst.“ (Reiche 1988, 58)
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zepts, das in den Leitwörtern Faschismus und autoritärer Staat repräsentiert ist, die als Ausdruck von Unmündigkeit, Abhängigkeit und hierarchischen Strukturen bewertet werden. Auf der Handlungsebene der Kritik entspricht dieser Leitidee der Mündigkeit der Anspruch einer auf kritischer Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Phänomenen beruhende Lebensform, die in der demokratischen Form der (öffentlichen) Diskussion und Kommunikation ihren Platz hat (mit Schlüsselwörtern wie Kritik und Diskussion und handlungsbezeichnenden Formeln wie Öffentlichkeit herstellen). Schließlich können vor allem die intellektuellen Konzepte von Partizipationsdemokratie als Repräsentationen des Mündigkeitsideals gelten. Hier wurden Mündigkeit, Autonomie und Willensbildung ausdrücklich als Elemente des neuen Demokratiekonzepts thematisiert (mündig, Vernunft, Willensbildung, autonom).
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