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German Pages [551] Year 2023
Christine Frank, Sugi Shindo (Hg.)
Konstellationen
österreichischer Literatur:
Ilse Aichinger © 2024 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH https://doi.org/10.7767/9783205216698 | by-nc/4.0/
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Literaturgeschichte in Studien und Quellen Band 36 Gegründet von Klaus Amann, Hubert Lengauer und Karl Wagner Herausgegeben von Barbara Beßlich Werner Michler Norbert Christian Wolf
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Christine Frank, Sugi Shindo (Hg.)
Konstellationen österreichischer Literatur: Ilse Aichinger
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Umschlagabbildung : Foto: Fayer, Wien Korrektorat : Gabriele Fernbach Einbandgestaltung : Michael Haderer / Gerhard Spring Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21669-8 (OpenAccess)
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Inhalt Konstellationen österreichischer Literatur : Ilse Aichinger. Zur Einführung in den Band. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 KANON – ODER DIE LITERATUR DER VÄTER Deborah Holmes »Wir sind vorgewarnt.« Franz Grillparzer, ein unglaubwürdiger Reiseleiter. . . 19 Kotaro Isozaki »Jetzt ist Schwung darinnen.« Zum Erinnerungsgedanken bei Adalbert Stifter und Ilse Aichinger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Thomas Pekar Weiterschreiben mit / nach Musil. Robert Musil und Ilse Aichinger. . . . . . . 37 Yukiko Sugiyama »Wir wollten Ihnen danken.« Ilse Aichingers Antwort auf Stefan Zweigs Abschiedsbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Christine Frank »Wir ziehen nun am selben Karren.« Ilse Aichinger und ihr Vater, der Schriftsteller Ludwig Aichinger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Vivian Liska Ilse Aichinger und Franz Kafka. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Rüdiger Görner Dem Schweren und Schweigen ein Maß : Ilse Aichinger und Georg Trakl . . . 86
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Inhalt
SPRACHKRITIK, PSYCHOLOGIE UND MODERNE Reika Hane Kritik der Sprachkritik. Ilse Aichinger antwortet Hugo von Hofmannsthal..
97
Claudia Fahrenwald Sprache und Spiel bei Ilse Aichinger und Ludwig Wittgenstein. . . . . . . .
108
Christine Frank »›fort‹ heißt fort.« Ilse Aichinger mit Sigmund Freud lesen. . . . . . . . . . .
118
Sugi Shindo Ausreise, Flucht, »trotzdem Nein zum Leben sagen«. Ilse Aichinger in drei Konstellationen : Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor E. Frankl.. . . . . . .
136
BRUCHLINIEN Wolfgang Straub Ilse Aichinger innerhalb/außerhalb der Wiener Netzwerke um 1950. Anmerkungen zu drei Fotos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Desiree Hebenstreit »Es begann mit Ilse Aichinger.« Die literarischen Anfänge Aichingers in der Nachkriegszeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Wakiko Kobayashi Zwei Ansätze von sprachlichem Anarchismus : Jandls Gedicht chanson (1957) und Aichingers Erzählung Mein grüner Esel (1960 – 62). . . .
171
Sugi Shindo Schneefall in Breitensee. H. C. Artmann und Ilse Aichinger. . . . . . . . . .
182
Stefano Apostolo Die Hoffnung auf eine neue Sprache. Ilse Aichinger und die Wiener Gruppe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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Stefano Apostolo Zwischen rettender Präsenz und latenter Bedrohung. Ilse Aichingers Besuche bei Thomas Bernhard. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Sabine Apostolo Schreiben statt Beten. Robert Schindels und Ilse Aichingers Versuche, der Welt beizukommen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212
Hiroshi Yamamoto Der Engel des Verschwindens im Kristallgitter. Zu Ilse Aichingers Laudatio auf den Erich-Fried-Preisträger Gert Jonke. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224
Stefano Apostolo, Franz Haas »Da flog das Wort auf.« Schreiben und Schweigen bei Josef Winkler und Ilse Aichinger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
Deborah Holmes Scheintod und Geschichtsvergessenheit : Ilse Aichinger und Robert Menasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
Helga Schreckenberger »Geisterwelt der österreichischen Inseln«. Die Topographie des Verbrechens bei Ilse Aichinger und Wolf Haas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260
Andreas Dittrich Textkompositionen. Richard Reichensperger und Ilse Aichinger . . . . . . .
269
SCHREIBEN AUS DER DISTANZ Roberta Ascarelli Der Wind und die Tauben. Canetti in Aichingers England.. . . . . . . . . .
285
Ruth Vogel-Klein Gruppenbild mit London. Ilse Aichinger und H. G. Adler. Co-starring : Bettina Adler, Helga Aichinger, Günter Eich nebst Elias Canetti und Erich Fried. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Christine Frank »Eine öffentliche Umarmung«. Heinz Politzer liest Ilse Aichinger. . . . . . .
305
Thomas Wild Ilse Aichinger und Jean Améry. Poetiken der Unversöhnlichkeit.. . . . . . .
323
Barbara Wiedemann »Dichtungen anstelle von theoretischen Äußerungen ?« Ilse Aichinger, Paul Celan und die Wirklichkeit des deutsch-französischen Schriftstellertreffens in Vézelay. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
Christian Däufel »Als wärst du der Notausgang von dem du schreibst«. Lebensgeschichtliche und literarische Berührungspunkte zwischen Erich Fried und Ilse Aichinger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
352
Theresia Prammer »Andeutungen von Räumen«. Ilse Aichinger und Peter Handke. . . . . . . .
368
FRAUEN, GESCHICHTE, SCHREIBEN Susanna Brogi Englischlernen. Die Schildkröten (1939/1999) von Veza Canetti und Die größere Hoffnung (1948/1960) von Ilse Aichinger . . . . . . . . . . . . .
397
Christine Frank Im Schreiben weiter leben. Drei Generationen weiblicher HolocaustÜberlebender aus Wien im Jahr 1988 : Hilde Spiel, Ilse Aichinger, Ruth Klüger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
408
Veronika Schuchter »Zwei am Topfmarkt«. Annäherung an die besondere Bekanntschaft von Ilse Aichinger und Gertrud Fussenegger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
423
Veronika Schuchter Ilse Aichinger bestaunt Glühbirnen. Ilse Aichingers, Marlen Haushofers und Doris Mühringers Verortung in der österreichischen Literaturlandschaft. . . 431
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Inhalt
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Alexander Schwieren Verhandlungen mit dem Schlusspunkt. Zeit und Schrift bei Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
440
Irene Fussl Der »dritte Zwilling«. Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann. . . . . . . . .
455
Theresia Prammer Die Kunst des Konterns. Ilse Aichinger und Ruth Klüger. . . . . . . . . . .
465
Christa Gürtler Blitzlichter auf zwei Dichterinnen. Zu Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl ..
476
Asako Fukuoka Sprache als Akteurin. Resonanzen zwischen Ilse Aichinger und Elfriede Jelinek. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
486
Hiroshi Yamamoto Zwischen Sozial- und Sprachkritik. Marlene Streeruwitz liest Aichingers Gedicht »Findelkind«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
492
Wynfrid Kriegleder Falsche und richtige Großeltern. Ilse Aichingers Die größere Hoffnung und Eva Menasses Vienna im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
499
Kurt Neumann Kleinere und größere Abstände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
509
Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
518
Kurzbiographien der BeiträgerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Konstellationen österreichischer Literatur : Ilse Aichinger Zur Einführung in den Band Literatur in Konstellationen zu betrachten, heißt das Werk einer Autorin oder eines Autors gleichzeitig mit Werken anderer AutorInnen in den Blick zu nehmen, um Konturen und Kontraste zu erfassen, Nähen und Distanzen einzuschätzen, Einzelphänomene in Kontexte zu stellen, imaginäre Verbindungslinien zu ziehen. Literaturgeschichten, die einen Überblick vermitteln wollen, produzieren notgedrungen Abbreviaturen, stützen sich auf eine repräsentative Auswahl, skizzieren in großen Zügen, sind linear angelegt, um einen festgesetzten Zeitraum literarischer Produktion zu rekapitulieren. Statt Entwicklungslinien nachzuzeichnen, wollen wir Konstellationen betrachten, die nicht zwingend, aber auch nicht beliebig erscheinen, die aus Kontakten zwischen Texten oder Personen entstehen können, aber die sich noch nicht zu Netzwerken ausgebildet haben müssen, oder die im Akt der Gegenüberstellung allererst sichtbar werden. Es sind Konstellationen, die auf Spuren einer wechselseitigen Auseinandersetzung beruhen oder die im Akt des Betrachtens hergestellt werden und vom Standpunkt des Betrachters abhängen. Im Betrachten von Konstellationen versuchen wir das Einzelwerk wahrzunehmen, indem wir es auf seine Umgebung beziehen, und es zu evaluieren, sowohl im Hinblick auf simultane Phänomene wie auch auf die historische Tiefe, in der es erscheint. Literatur in Konstellationen zu betrachten, heißt nicht rekonstruieren, was geschah, sondern erproben, welche Bezüge im Lesen hergestellt werden können und welche Einsichten sich ergeben, wenn einzelne Texte oder ganze Werkzusammenhänge kontrastiv in den Blick genommen werden. Gemeinsam ergeben die diversen Konstellationen, die hier diskutiert werden – es sind nicht die einzig möglichen, sie könnten noch um ein Vielfaches ergänzt werden – die Fragmente eines Gesamtbilds, dessen vollständige Rekonstruktion oder korrekte Abbildung gar nicht erst beabsichtigt wird. Hingegen erlaubt diese Vorgehensweise Blickpunkte einzunehmen, die Unbeabsichtigtes oder Unerwartetes mit durchscheinen lassen ; und sie ermöglicht Durchblicke, die Überlappungen oder Überlagerungen sichtbar machen können, ohne dass die verschiedenen Schichten dabei zur Deckung kommen müssen. Das Gesamtwerk eines Autors oder einer Autorin in Konstellationen zu betrachten soll verhindern, dass es ausschließlich nach Maßgabe der ihm immanenten Poetik wahrgenommen und eingeschätzt wird. Aus möglichst vielen Perspektiven soll ein Ganzes betrachtet werden, das dabei uneingegrenzt bleibt, dessen Teile Autonomie
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Konstellationen österreichischer Literatur : Ilse Aichinger
bewahren, das keinen Anfang und kein Ende kennt, und das nie Abgeschlossenheit erreicht, weil es immer noch andere Blickpunkte offen lässt. Dieses Ganze lässt sich mit Namen bezeichnen und kartographieren, aber nur in der Unendlichkeit von Raum und Zeit immer anderer Lesarten, nur als ein System voneinander unabhängiger Größen, die dennoch in der Betrachtung aufeinander beziehbar sind und sich aufeinander beziehen. Um ein sehr altes, konventionelles Bild zu bemühen : Man denke sich die Literatur als Sternenhimmel, zu dem man aufschauen kann und den man kartographieren mag. Es bleibt die Gewissheit, dass der Kosmos unabsehbar ist, ohne Anfang und ohne Ende ; dass er als Ganzer aus einzeln wahrnehmbaren Himmelskörpern besteht, die jedoch nie vereinzelt und immer nur in Konstellationen erfasst werden können ; dass deren Entstehung und deren Leuchten zeitlich wie räumlich weit auseinanderliegen können, auch wenn sie gleichzeitig sichtbar sind ; dass sie einander nahe stehend erscheinen und doch nie ineinander aufgehen ; und dass die Beschreibung von Konstellationen das Werk des Betrachters ist, nicht der Betrachteten selbst. Warum österreichische Literatur, warum Ilse Aichinger Österreichische Literatur lässt sich nicht definieren. Sie lässt sich aber betrachten in Konstellationen von Autorinnen und Autoren und deren Werken. Jede Definition im Sinne einer Ein- und Abgrenzung österreichischer Literatur als Teilmenge deutschsprachiger Literatur, als Literatur aus Österreich oder von Österreicherinnen und Österreichern, erregt ebenso berechtigten Widerspruch wie die Zuordnung einzelner Autoren und Autorinnen zur österreichischen Literatur zur Streitfrage werden kann. Der schon klassisch gewordene Beschreibungsversuch von Wendelin Schmidt-Dengler Die Literatur aus Österreich ist gewiß zum überwiegenden Teil in deutscher Sprache abgefaßt, aber sie gehorcht auf Grund der historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ganz anderen Gesetzen, auch im Bereich der reinen Form und des Inhalts. (Schmidt-Dengler 1999)
dokumentiert in seinem Sprachgestus vorsichtiger Unbestimmtheit mehr österreichisches Abgrenzungs-Wunschdenken als er die Andersgesetzlichkeit österreichischer Literatur (gegenüber dem Feld deutschsprachiger Literatur) konkret zu bezeichnen vermag – es sei denn im explizit betonten Hinweis auf den ›Gehorsam‹ in Bezug auf ›ganz andere Gesetze‹ und in der Hervorhebung und Separierung von ›reiner Form‹ und ›Inhalt‹. Das Spannungsverhältnis von Inhalt und Form, Sprache und Norm, Gesetz und Gehorsam – und dem notwendigen Akt der Freisetzung daraus, der Literatur konstituiert – mag österreichische Literatur zum überwiegenden Teil kennzeichnen,
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Zur Einführung in den Band
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wenn auch nicht nur die Literatur aus Österreich oder Literatur, die von Österreicherinnen und Österreichern verfasst wurde. Im vorliegenden Band bildet das Werk einer einzelnen Autorin – Ilse Aichinger – den Fixpunkt von etwas mehr als vierzig Konstellationen mit dem Werk weiterer Autorinnen und Autoren aus Österreich, die hier stellvertretend für viele andere wahrgenommen und genauer betrachtet werden. Aichingers Texte werden dadurch neu ausgeleuchtet. Die Betrachtung wird aber aus der jeweiligen Konstellation heraus auch ein Licht auf die sie umgebende österreichische Literatur werfen. Die hier präsentierte Auswahl der bearbeiteten AutorInnen geht auf Vorschläge der Herausgeberinnen zurück und wurde durch Vorschläge unserer BeiträgerInnen ergänzt. Nicht alle von uns ins Auge gefassten Konstellationen konnten ausgearbeitet werden. Und auch die in den Band aufgenommenen Konstellationen stellen nur mehr Versuche dar, ausgehend vom Werk einer Autorin österreichische Literatur in Kon stellationen zu betrachten. Es sind vorläufige und vorsichtige Ausleuchtungen. In ihrer jeweiligen Zugangs- und Darstellungsweise unterscheiden sie sich ebenso wie in der jeweils gewählten Perspektive. Sie verstehen sich nicht als abschließende Betrachtungen, vielmehr als Einladungen, neue Blickpunkte einzunehmen – auch in Bezug auf die offene Frage danach, wie österreichische Literatur zu bestimmen wäre. In einem bestimmten – bestimmbaren – historischen Moment und unter bestimmten – bestimmbaren – gesellschaftlichen Rahmenbedingungen »begann« die österreichische Literatur »mit Ilse Aichinger«. Das bis heute immer wieder zitierte, im Rückblick von zwei Jahrzehnten auf die Anfänge der österreichischen Nachkriegsliteratur formulierte Diktum von Hans Weigel, »Es begann mit Ilse Aichinger« (Weigel 1966/1967), ist Teil einer Legendenbildung, die mehr die Literatur Österreichs als das Werk der Autorin im Auge hatte. Weigel beim Wort nehmend geht der vorliegende Band mit seinen über vierzig Beiträgen der Frage nach Konstellationen österreichischer Literatur nach, die sich von hier aus erkennen lassen. Was begann mit Ilse Aichinger ? Wie ging es weiter ? Und wie lesen sich ihre Texte im Verhältnis zu den Texten anderer Österreicherinnen und Österreicher, im Verhältnis zu Texten, die innerhalb und außerhalb Österreichs entstanden sind, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, vor der Jahrhundert- und nach der Jahrtausendwende ? Ilse Aichingers Werk begann im Mai 1942, als sie die Transporte jüdischer Bürger und Bürgerinnen Wiens, unter ihnen ihre nächsten Verwandten, auf offenen Lastwagen über die Schwedenbrücke zu den Deportationszügen am Aspangbahnhof mitansehen musste. Dass die Züge die Entrechteten zu den Todeslagern Weißrusslands brachten, wurde erst nach Kriegsende zur Gewissheit. Die Herkunft von Ilse Aichingers Werk ist dieser Ort in Wien und dieser Moment in der österreichischen Geschichte, von denen es nicht zu trennen ist. Über sechs Jahrzehnte hinweg hat Ilse Aichinger
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Konstellationen österreichischer Literatur : Ilse Aichinger
Texte verfasst und publiziert – innerhalb und außerhalb Österreichs. Sie reichen von der auf den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs bezogenen Prosaskizze »Das vierte Tor« – ihrer ersten Veröffentlichung am Jahrestag des Kriegsausbruchs in dem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg beendet wurde, am 1. September 1945 – bis zu einer letzten Würdigung des von Aichinger hochgeschätzten Linzer Schriftstellers und Malers Adalbert Stifter, die im Oktober 2005 in einem Dossier aus Anlass von dessen 200. Geburtstag erschien. Zwei Jahrhunderte umfassen die Konstellationen österreichischer Literatur, die hier ausgehend vom Werk Ilse Aichingers betrachtet werden. Wir haben sie in fünf Abschnitten zusammengefasst. K anon, oder die Literatur der Väter Im ersten Abschnitt wird ein Blick in den historischen Raum der österreichischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geworfen. Die Bezugnahme auf literarische Vorgänger oder Traditionsbildner der österreichischen Literatur lässt sich bei Aichinger vielfach an Texten belegen, die sie diesen Autoren selbst gewidmet hat, so im Falle von Grillparzer, Stifter, Zweig, Kafka oder Trakl. In anderen Fällen finden sich nur marginale Spuren oder Hinweise auf kanonisch gewordene Autoren, wie etwa auf Musil. Gelegentlich stehen die Spuren ihrer Lektüren in ihren Texten im Widerspruch zu ihren eigenen Aussagen (so im Falle Kafkas), oder die Lektüre wird angesichts des Mangels an expliziten Zitaten oder intertextuellen Hinweisen fraglich. Dennoch lassen sich Konstellationen erkennen. Aichinger, die weitaus häufiger als österreichische die Namen amerikanischer und anderer englischsprachiger Autoren und Autorinnen nannte ( Joseph Conrad, Agatha Christie), steht mit ihrer Schreibweise in kritischer Distanz zu den Vätern der österreichischen Literatur – und wird damit zum paradigmatischen Fall für die österreichische Literatur der Nachkriegszeit. Eine besondere, ja einmalige Konstellation bildet hier die Beziehung zum Werk ihres Vaters, des oberösterreichischen Schriftstellers Ludwig Aichinger, der kurz nach der Jahrhundertwende mit Publikationen auf sich aufmerksam machte, die der Wiener Moderne zuzurechnen sind, und der sich in späteren Jahren eher als deutschösterreichischer Heimatdichter hervortat. Sprachkritik, Psychologie und Moderne Österreichische Literatur wird immer wieder durch ihr besonderes Verhältnis zur Sprache charakterisiert. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Österreich entwickelten Theorien, die Sprache, Psyche und Gesellschaft auf ganz neue Weise zu analysieren begannen,
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Zur Einführung in den Band
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hatten wesentlichen Einfluss auf die Literaturen der Moderne, weit über die Grenzen Österreichs hinaus. Einige von Aichingers Texten lassen sich in Konstellationen mit Hofmannsthal, Wittgenstein, Freud, Adler, schließlich Viktor Frankl lesen. Sie bilden einen Referenzrahmen, auf den sich die Autorin immer wieder eher kritisch bis deutlich ablehnend bezog, so etwa in einem Text, in dem sie die Anmaßung von Hofmannsthals Chandos-Brief vehement zurückweist. Hinter biographischen Anekdoten (Freud, Adler) oder persönlichen Reminiszenzen (so ihre Begegnung mit Viktor Frankl) verbergen sich meist grundlegendere Stellungnahmen zu Sprache, Geschichte, Gesellschaft und Individuum, aber auch zu den Grundkonstanten ihres – und nicht nur ihres – Schreibens und ihrer Auffassung von Sprache im Spannungsverhältnis von Wahrheit oder Lüge, Repräsentation und Identität, Erkenntnis und Grenze, Leben und Tod. Bruchlinien Seine Vorlesungen zur österreichischen Literatur nach 1945 hat Wendelin SchmidtDengler 1995 unter den Leitbegriff »Bruchlinien« gestellt. Wir greifen den Begriff auf, um in diesem Abschnitt Konstellationen zwischen Aichinger und Autoren zu betrachten, die genau diesen, von Schmidt-Dengler fixierten Bereich der österreichischen Literatur repräsentieren. Die Liste umfasst mehrere Generationen. Sie reicht vom väterlichen Mentor Hans Weigel (geb. 1908) bis zum wesentlich jüngeren Gesprächs- und Lebenspartner Richard Reichensperger (geb. 1961). Hier ermöglichen die gewählten Konstellationen einen differenzierenden Blick auf den zeitgenössischen Literaturbetrieb und darauf, wie die jeweiligen Autoren den Geschichtsbruch erlebt und gestaltet haben und welche neuen Ästhetiken daraus erarbeitet wurden. Mit einigen von ihnen stand Aichinger in persönlichem Kontakt (Thomas Bernhard) oder hat sich zu ihnen geäußert (Gert Jonke, Josef Winkler), bei anderen waren die Begegnungen eher sporadisch, aber von gegenseitigem Respekt geprägt (Ernst Jandl, H. C. Artmann), bei wieder anderen kritisch bis polemisch (Robert Menasse). Schreiben aus der Distanz Eine nicht unbeträchtliche Anzahl österreichischer Autoren der Nachkriegsepoche lebt und schreibt in bewusst gewählter Distanz zu Österreich. Auch Aichingers von den 1950er bis zu den späten 1970er Jahren verfasstes literarisches Hauptwerk entstand jenseits von Österreich oder im deutsch-österreichischen Grenzraum, vor allem aber jenseits von Wien. Auch in diesem Bereich werden die wahrgenommenen
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Konstellationen österreichischer Literatur : Ilse Aichinger
Konstellationen methodisch ganz unterschiedlich betrachtet, je nachdem es sich um Konstellationen handelt, die auf einen distanzierten Raum bezogen bleiben (Elias Canetti, H. G. Adler, Erich Fried), oder um Konstellationen mit in Distanz zu Österreich lebenden Autoren (Heinz Politzer, Paul Celan, Peter Handke). Frauen, Geschichte, Schreiben Haben Frauen Geschichte anders erlebt, schreiben sie anders ? Auf jeden Fall ist ihre Präsenz innerhalb des Literaturbetriebs davon geprägt, dass sie als Frauen wahrgenommen werden. Im letzten Teil des Buches wird das Werk Ilse Aichingers im Kontrast zum Werk anderer Autorinnen im Feld der österreichischen Literatur gelesen. Das Spektrum der hier behandelten Texte umfasst Autorinnen eines ganzen Jahrhunderts von Veza Canetti bis Eva Menasse. Keine von ihnen ist auf weibliches Schreiben festzulegen. In den verschiedenen Konstellationen wird aber deutlich, in welchem Maße die historischen Rahmenbedingungen ihr Leben und damit ihr Schreiben bestimmen, wie die Autorinnen diese Bedingungen in ihren Texten reflektieren und wie sie in der literarischen Öffentlichkeit Österreichs aufgenommen werden. Das letzte Wort hat Kurt Neumann, der ehemalige Leiter der Alten Schmiede Wien, in deren Veranstaltungsprogramm seit mehreren Jahrzehnten Konstellationen österreichischer Gegenwartsliteratur betrachtet werden – immer wieder auch mit Ilse Aichinger als Fixpunkt. Literatur Schmidt-Dengler, Wendelin (1995) : Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 – 1990. Salzburg, Wien. Schmidt-Dengler, Wendelin (1997) : »Österreich und Mitteleuropa«. In : Streitenberger, Wolfgang (Hg.) : Österreichs Zukunft ist Europa. Wien, S. 80 – 90. Wieder in http://www.kakanienrevisited.at/beitr/fallstudie/Wschmidt-Dengler1.pdf [Stand : 01.05.2023] Schmidt-Dengler, Wendelin (2012) : Bruchlinien II : Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1990 bis 2008. Herausgegeben von Johann Sonnleitner. St. Pölten, Salzburg, Wien. Weigel, Hans (1966/1967) : Es begann mit Ilse Aichinger. Fragmentarische Erinnerungen an die Wiedergeburtsstunde der österreichischen Literatur nach 1945. In : Protokolle 1 (1966), S. 3 – 8. Wieder abgedruckt in : Otto Breicha, Gerhard Fritsch (Hgg.) : Aufforderung zum Mißtrauen. Literatur, bildende Kunst, Musik in Österreich seit 1945. Salzburg, S. 25 – 30.
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Kanon – oder die Literatur der Väter
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Deborah Holmes
»Wir sind vorgewarnt.« Franz Grillparzer, ein unglaubwürdiger Reiseleiter Franz Grillparzer hinterließ wenig sichtbare Spuren in den überlieferten Schriften Ilse Aichingers. Dass sie sich mit ihm dennoch nachhaltig auseinandersetzte, bezeugt vor allem ein kurzes ›Reisefeuilleton‹, »Mit Franz Grillparzer in die Brigittenau«, das am 13. September 2002 in der Wiener Tageszeitung Der Standard erschien. Drei Jahre lang, einmal in der Woche, veröffentlichte Aichinger Prosaminiaturen im Standard unter der Überschrift »Unglaubwürdige Reisen« – unglaubwürdig, weil es darin meistens um ›Reisen‹ innerhalb der Stadtgrenzen Wiens ging, aber auch, weil diese vertraute Wiener Heimat die Autorin doch immer wieder zu Neuem anregte, viel eher als ein fremder Ort dazu imstande gewesen wäre. In »Eine Zigarre mit Churchill« (datiert auf den 30. November 2001), dem Text, der die Auswahl aus diesen Feuilletons in der gleichnamigen späteren Buchausgabe eröffnet, schreibt Aichinger, es sei ihr lieber, »immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst, bringt Ruhe und neue Aufbruchsmöglichkeiten« (UR 2005, S. 15). Konkreter Anlass des Grillparzer-Textes war ein Spitalsaufenthalt. Aichinger erlitt Anfang September 2002 einen Schenkelhalsbruch und musste sich im Lorenz-BöhlerUnfallkrankenhaus in der Brigittenau, dem 20. Wiener Gemeindebezirk, einer Röntgenkontrolle unterziehen. Bei der Schilderung dieser ›Reise‹ wird die eigene missliche Lage großteils ausgeblendet beziehungsweise über eine – im wörtlichen Sinne – Nebenfigur abgehandelt. Aichinger – oder vielmehr das Ich des Textes – befasst sich mit der Frau, die auf der Krankenbahre nebenan liegt : »… eine fast noch unglaubwürdigere Reisende, als ich es bin«. Mit ihrem »violettroten Sonntagskleid, hellen Socken und schwarzem Unterrock« – vor allem aber mit ihrem schwer zu deutenden Blick – zieht sie die ganze Aufmerksamkeit des erzählenden Ich auf sich. In einer dichten, mit scheinbaren Widersprüchen durchwirkten Beschreibung wird uns die Frau nähergebracht und gleichzeitig ferngehalten. Unmöglich festzustellen, zum Beispiel, worauf sich die Aufmerksamkeit dieser violetten Dame selbst bezieht. Von ihrer Krankenbahre aus versucht sie zwar »ihre Lage zu überschauen«, ihr Blick aber »nahm von dem, das sie umgab, nichts zur Kenntnis«. Dieser Blick wiederum ändert sich »so wenig wie der Deckenanstrich und so wenig wie das mit dem wachsenden Vormittag beschleunigte Tempo der Pfleger« (ebd., S. 60). Vorgänge werden hier angedeutet, die nicht
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sofort sichtbar werden (können) : Aus ihnen ergibt sich ein Ist-Zustand, der scheinbar unverändert bleibt, sich jedoch ständig weiterentwickelt. Grillparzer wird hier noch nicht erwähnt. Das Paradoxe dieser Beschreibungen verweist aber bereits auf Verbindungen zwischen Aichingers ›Reisefeuilleton‹ und Grillparzers Der arme Spielmann. Zu Beginn seiner Erzählung evoziert Grillparzer ähnlich widersprüchliche Zustände, die Stillstand und Fortbewegung in sich vereinen. Der lahmgelegte Wiener Verkehr am Tag der Brigittenauer Kirchweih zum Beispiel, der sich dann doch auflöst : »… wie denn in dieser Welt jedes noch so hartnäckige Stehenbleiben doch nur ein unvermerktes Weiterrücken ist« (Grillparzer 2002, S. 4). Aber auch in der Titelfigur des Spielmanns erleben wir einen scheinbaren Stillstand, der zeitgleich mit den gravierendsten Lebensveränderungen einhergeht. Von seinem Vater als Nichtsnutz abqualifiziert und in einer Hinterstube des noblen Familienhauses versteckt, gibt Jakob keine Zeichen der Aufregung von sich, verspürt scheinbar auch kaum solche : »Ich dachte auf das und jenes und war nicht traurig und nicht froh« (ebd., S. 21). Im Fall der ›violetten Dame‹ betont Aichinger vor allem ihre »fast vollkommene Ungezieltheit«. Diese bestehe nicht in »Ziellosigkeit«, sondern in einer »wie von Geburt mitgegebene[n] Existenz ohne Ausrichtung« (UR 2005, S. 60). Auf der Suche nach Vergleichen, um ihre Schilderung genauer zu gestalten, gibt die Autorin zugleich zu erkennen, dass sich aus solchen Vergleichen nur eine ungefähre Annäherung ergeben kann : Die violette Dame ist »fast wie die Aufräumfrauen, die in sich versunken sind und fast verwachsen mit den polierten Rändern von Glasschränken, in die sie immer tiefer einzusacken scheinen« (ebd., Hervorhebung d. V.). Die übergreifende Metapher des Reisens, die die Feuilletonserie Aichingers mitbestimmt, trifft hier auf eine Gestalt ohne Dynamik. Die »Reiseausrüstung« der violetten Dame – den »Körper und alles andere« – beschreibt die Autorin als »unzureichend«. Es bleibt offen – muss offen bleiben –, ob diese »Existenz ohne Ausrichtung« äußerlichen Einflüssen oder einem vorgegebenen Naturell zuzuschreiben ist. Die violette Dame ist bedeutsam, ohne aufschlussreich zu sein, sie tritt wie eine Metapher oder ein Symbol auf, ohne dass sie entziffert werden kann. Überlegungen und Assoziationen der Autorin umkreisen sie, fassen sie aber nicht. Trotz der sehr spezifischen Situation, in der sich sowohl das Ich als auch die violette Dame befinden, soll Letztere nicht auf diese festgelegt werden : »Immer wieder war ich in Gedanken versucht, ihre unglückliche Figur und ihre Lage auf der Krankenhausbahre in eins zu setzen. Das besorgten statt mir kurz darauf die raschen Träger« (ebd.). Das Ich verliert diese zeitweilige Nachbarin aus den Augen, rätselt aber weiterhin über ihr Wesen und die Umstände ihrer Existenz. Hilfe – oder vielmehr Abhilfe – dabei bietet eine weitere Figur, die erst an dieser Stelle, in der Mitte des Textes, explizit das Versprechen des Feuilletontitels einlöst :
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[…] noch ein Beobachter tauchte auf, der arme Spielmann von Franz Grillparzer, den ich gleich darauf wieder las : Wie er die Brücke in die Brigittenau überquert, in die ›mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbrochener Lustreihe zusammenhängende Brigittenau, die ihre Kirchweih feiert. Eine wogende Menge erfüllt die Straßen. Geräusch von Fußtritten, Gemurmel von Sprechenden, das hie und da ein lauter Ausruf durchzuckt.‹ (Ebd.)
In Grillparzers Novelle wird uns allerdings nicht erzählt, wie der arme Spielmann selbst den Weg in die Brigittenau zurücklegt. Die Überquerung wird uns stattdessen aus der Sicht eines autobiographisch angehauchten Ich dargestellt. Dieses Stilmittel stellt eine sofortige Verbindung zwischen Der arme Spielmann und Aichingers Feuilleton her, die Autorin betreibt zugleich nicht nur ein intertextuelles, sondern ein metonymisches Spiel. Grillparzers Novelle, Grillparzer selbst und seine Figur gehen ineinander über, die Bezüge verrutschen leicht, aber ständig. Es geht um den österreichischen Klassiker als Vorbild, aber auch um seinen Jakob, den armen Spielmann, und zugleich um die Lektüreerfahrung der gleichnamigen Erzählung – alle mitsamt literarische Reisebegleiter des Aichinger’schen Ich. Sie bieten einerseits einen weiteren Vergleichsrahmen für die Schilderung der violetten Dame, retten andererseits das Ich vor der Versuchung, diese hilflose Erscheinung narrativ festlegen zu wollen. Grillparzers Spielmann ist ebenfalls eine Gestalt ohne Dynamik, die in sich ruht und für die Anforderungen eines Daseins in der modernen, wirtschafts- und erfolgsorientierten Welt schlecht ausgestattet ist. Er tritt zwar erstmals in Verbindung mit einem rauschenden Volksfest auf, jedoch als unabsichtlicher Störfaktor oder Gegenpol zu diesem, wie Aichinger anmerkt : »Diese Stimmung der Gemeinsamkeit wird konterkariert vom einsamen Spielmann und von seinem jetzigen hageren Gegenstück, der violetten Dame auf der Bahre« (ebd.). Beide Figuren fallen durch ihre Kleidung, ihre Selbstgenügsamkeit und Zartheit auf. Zerbrechlich und unscheinbar machen sie trotzdem ungewollt auf sich aufmerksam, just in einer Gegend der Stadt, in der, so Aichinger nach Grillparzer, »›zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, sich kreuzend quer unter- und übereinander‹ bewegen« (ebd.). Beide Figuren haben jedes Recht, da zu sein, wo sie sind – der Spielmann musiziert beim Kirtag, die violette Dame wartet auf eine Spitalsbehandlung. Wie sie aber dazu kommen, was sie in diese Lage gebracht hat und warum sie dabei so auffallen (müssen), obwohl sie so unscheinbar sind, erschließt sich dem Beobachter aber keinesfalls. Grillparzers Ich identifiziert sich als begeisterter und routinierter Deuter von Gesichtern und Gestalten, denen er auf öffentlichen Plätzen förmlich auflauert. Aichinger zitiert nochmals : »[…] wie aus dem Plutarch lese er ›aus den heitern und heimlich bekümmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedrückten Gange die Biographien der unberühmten
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Menschen zusammen‹« (ebd.). Im Falle des armen Spielmanns scheitert dieses Ich aber als Erzählfigur. Nur Jakob selbst kann seine eigene Geschichte darlegen. Die Binnenerzählung, die er als weiterer Ich-Erzähler von sich gibt, macht beinahe die ganze Novelle aus. Sie wird daher von seiner Stimme dominiert, obwohl diese genauso unscheinbar ist wie der Spielmann selbst, und genauso ungewollt auffällt : Grillparzers autobiographischer Ich-Erzähler drängt Jakob dazu, von sich und seinem Leben zu sprechen. Die Möglichkeiten des Deutens und Erklärens stellen sich gleichwohl am Schluss der Novelle als unzulänglich heraus, trotz dieses Selbstnarrativs : Jakob kann nicht vom eigenen Ende erzählen. Die anderen Figuren messen seiner einzigen Hinterlassenschaft, seiner Geige, große Bedeutung zu, diese bleibt aber in einer Art mise en abyme der Symbole letztendlich rätselhaft (Grillparzer 2002, S. 48). Die violette Dame bekommt keine Gelegenheit, von sich selbst zu erzählen und die Überlegungen zu und mit Grillparzer halten Aichingers Ich rechtzeitig davon ab, Weiteres zur Figur auf der Krankenbahre hinzudichten. Das Ich fragt sich zwar, was Grillparzer »zu dieser Frau in ihrem violetten Kleid am Spitalsgang sagen würde ?«, lässt die Frage aber stehen und geht, statt eine Antwort zu versuchen, ein letztes Mal auf Grillparzers Novelle ein : »Zum Geigenspiel des Spielmannes bemerkt Grillparzer, daß die Töne seiner Violine ›jetzt bis zur Ununterscheidbarkeit gedämpft‹ seien« (UR 2005, S. 61). Jakobs eigensinniges Musizieren wird im Laufe der Novelle viele Male und sehr unterschiedlich dargestellt. Aichingers Wahl fällt auf die offenste, unbestimmteste von all diesen Schilderungen, die darüber hinaus unmittelbar vor der Binnenerzählung zu finden ist – an der Stelle also, an der sich das Rätsel um die Figur des Spielmanns am akutesten stellt (Grillparzer 2002, S. 14). Ausgerechnet hier unterbricht Aichinger ihre Auseinandersetzung mit Grillparzer : Sie hört auf, bevor die Binnenerzählung anfängt, und verfährt daher mit Jakob genauso wie mit der violetten Dame. Statt zu erzählen oder zu erklären, bringt sie das Feuilleton zum Abschluss : »Bei dieser Ununterscheidbarkeit wird es Zeit, die gemeinsame Reise aufzugeben. Noch mehr für den, der schon seit elf Tagen zu den Brigittenauern gehört : ein Status, der ihm bisher unerreichbar schien« (UR 2005, S. 62). Mit diesem Hinweis auf den eigenen Krankenhausaufenthalt bringt die Autorin sich selbst erneut in das intertextuelle, metonymische Spiel ein. Grillparzers Spielmann tritt als ausdrückliches Pendant zur violetten Dame auf, die zwei Gestalten sind in ihrer Einsamkeit vereint, die sie als Gegenpol zu den meisten anderen ›Reisenden‹ in die Brigittenau auszeichnet. Zur gleichen Zeit stellt sich Aichingers autobiographischer Ich-Erzähler durch seine Faszination für beide Figuren selbst als Außenseiter oder Grenzfall dar, der gleichfalls der Gemeinsamkeit nicht ohne Weiteres zugezählt werden kann. Das Ich ist, sowohl in Aichingers Feuilleton als auch in Grillparzers Novelle, keine neutral beobachtende Instanz. Es weist in beiden Fällen eine subtile, nicht immer näher zu bestimmende
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Verwandtschaft mit der ›unglücklichen Figur‹ auf, die den scheinbaren Fokus des jeweiligen Textes abgibt. Die Brigittenau stellt in beiden Texten mehr als einen bloßen Schauplatz dar. Zu Grillparzers Lebzeiten ein Überschwemmungsgebiet, im 21. Jahrhundert im Normalfall nicht mehr gefährdet, ist sie nach wie vor von Wasser umgrenzt. Erst durch die Regulierung der Donau ab 1870 wurde die Brigittenau endgültig zum Festland : Ihre Geschichte wie ihre Topographie sind durch einen ständigen Wandel, das Zusammenspiel von Fluss und Festigkeit, geprägt worden. In Der arme Spielmann erscheint die Donau zu Beginn als mögliche Bedrohung, gegen Ende als unentrinnbare, tödliche Gefahr : Der Erzählrahmen schließt ziemlich unmittelbar nach der katastrophalen Überschwemmung des Jahres 1830. Im August 2002, kurz vor Aichingers Krankenhausaufenthalt, kam es erneut zu einer Flutkatastrophe, von der aber Wien dank der Hochwasserschutzanlage der Neuen Donau verschont blieb. Die Brigittenau liegt zwischen der Donau und dem Donaukanal ; hier bilden Flussarme klare, gleichbleibende und dennoch sich stetig verändernde Grenzen. Narrativ wird weder Aichingers violette Dame noch Grillparzers armer Spielmann endgültig festgehalten, dafür umso genauer lokalisiert, sowohl zeitlich wie auch räumlich. Die Verortung bietet allerdings auch keinen festen Halt, sondern ruft eine paradoxe Mehrdeutigkeit hervor. Dieses Grenzgebiet Wiens stellt eine Gegend des Übergangs dar, weiter zugespitzt im Falle des heterotopen Krankenhauses in Aichingers Text. Beide Figuren, Dame wie Spielmann, werden letztendlich vom Strom ihrer Zeit weggetragen. Die jeweilige Erzählinstanz bleibt unverrichteter Dinge zurück : Am Ende von Grillparzers Novelle bekommt der namenlose Erzähler Jakobs Geige nicht und versucht sich nicht an einer Deutung der Tränen, die dem Spielmann »stromweise« nachgeweint werden (Grillparzer 2002, S. 49). Aichingers Ich stellt sich als ›Brigittenauer‹ dar – »ein Status, der ihm bisher unerreichbar schien« –, aber nur auf Zeit ; es will oder muss diese »unglaubwürdige Reise«, begleitet von den gedämpften, ununterscheidbaren Tönen des Spielmanns, bald wieder aufgeben. Grillparzer schützt Aichinger also vor der Versuchung, gegen die »fast vollkommene Ungezieltheit« der violetten Dame zu verstoßen : Sie darf eine Chiffre bleiben, »nicht außer sich, nicht bei sich und nicht für sich« (UR 2005, S. 60). Nichtsdestotrotz dürfen wir als Leser:innen kurz überlegen, welche Bedeutungen der augenfälligen Farbe »violett« beziehungsweise »violettrot« eventuell zugeschrieben werden können. Laut Sarah Goldschmidt gelten Aichingers »Sympathien den Mittlerwesen und Zwischenzuständen […], zu denen auch das Farbadjektiv lila zählt« (Goldschmidt 2021, S. 306). In dieser Hinsicht befindet sich Aichingers Nachbarin auf der Krankenbahre im farblichen Einklang mit dem Dazwischen der Brigittenau. Die »Ununterscheidbarkeit« im Geigenspiel Jakobs findet sein Pendant im Kleid der Dame, das weder rot noch blau
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ist, dabei aber zu einem quasi namensgebenden Hauptmerkmal wird. Darüber hinaus hat violett eine lange liturgische Tradition als Farbe der Buße und des Leidens – eines Leidens mit transzendenten Dimensionen, das Auferstehung verspricht. Jakob hat durchaus etwas vom heiligen Narren an sich, einer Figur, die durch ihre bloße Existenz »ohne Ausrichtung« wie ein Fingerzeig auf anderes, Höheres wirkt. Weder in ihm noch in der violetten Dame wird aber das Versprechen einer Erneuerung oder Läuterung eingelöst. Beide Texte führen ins Ungewisse : Ob das Leiden einen Sinn hat ? Ein weiterer, noch kürzerer, aber vielsagender Hinweis auf Aichingers Beschäftigung mit Grillparzer findet sich in Aichingers Aufsatz »Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter«. Die Autorin will gleich zu Beginn mit der Vorstellung aufräumen, Stifter sei der Dichter eines bloß »sanften Gesetzes« der Ordnung und Beruhigung. Zu diesem Zweck stellt sie an den Beginn ihres Essays zwei Zitate : »Was für ein aufregender, außerordentlicher, alle Augenblicke ins Extreme, man kann schon sagen : ins Pathologische vorstoßender Erzähler«, so zitiert der Stifter-Biograph und Herausgeber Urban Roedl Thomas Mann. Und Grillparzer schreibt in einem Brief an Stifter : »Da kann denn doch nur ein Narr seiner so sicher sein, daß ihn der gemeinsame Lärm seiner Zeit nicht ins innere Wanken brächte.« (KMF 1991, S. 93)
In diesem einen Satz von Grillparzer finden wir einiges wieder, das auch im späteren ›Reisefeuilleton‹ durchschimmert. So sehr ihn andere Figuren in der Erzählung dazu bringen wollen – vor allem sein Vater und seine einzige Liebe, Barbara –, ist der arme Spielmann nicht dazu imstande, sich selbst untreu zu werden, sich seiner Zeit anzupassen. Er ist also der Narr, der seiner sicher sein kann, auch hinsichtlich des »gemeinsamen Lärms« seiner Zeit. Ob Volksfest oder tödliche Donauüberschwemmung, der unscheinbare Jakob schwimmt gegen den Strom, weg vom Eigennutz und Alltäglichen, hin zum Extremen und zur Gefahr – unter anderem im Dienst einer Gemeinschaft, der er trotzdem nicht angehören kann. Aichingers Kommentar dazu im Stifter-Essay : »Wir sind vorgewarnt« (ebd.). Grillparzer tritt nicht nur hier, sondern auch im Feuilleton »Mit Franz Grillparzer in die Brigittenau« als Warner auf. Er mahnt dazu, die Wichtigkeit von scheinbar unbedeutenden Figuren zu würdigen, auch indem man ihnen keine allzu bestimmte Bedeutung zumisst. Literatur Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger).
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Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Goldschmidt, Sarah (2021) : violett/lila, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 306 – 310. Grillparzer, Franz (2002) : Der arme Spielmann [1848]. Anmerkungen und Nachwort von Helmut Bachmaier. Stuttgart
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Kotaro Isozaki
»Jetzt ist Schwung darinnen.« Zum Erinnerungsgedanken bei Adalbert Stifter und Ilse Aichinger Adalbert Stifter und Ilse Aichinger vergleichend zu untersuchen, erscheint auf den ersten Blick wie ein tollkühnes Unternehmen, denn unterschiedlicher könnten zwei Autoren kaum sein. Stifters Schreiben ist mehr oder weniger in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts verankert. Seine langen Erzählungen wirken auf manche heutigen Leser oft einmal langweilig. Aichingers Werk hingegen setzt sich mit der eigenen Erfahrung der Verfolgung der Juden vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Besonders ihr Spätwerk beschränkt sich auf kurze Texte. Dennoch kann eine nähere vergleichende Betrachtung der beiden Werke Gemeinsamkeiten entdecken, die gerade deshalb aufschlussreich erscheinen, weil die Unterschiede nicht zu übersehen sind. Die jüngste Aichinger-Forschung macht darauf aufmerksam, dass Stifters Texte einen wesentlichen Anstoß zu ihrer Literatur gegeben haben. Nach Gisela Steinlechner ist Stifters Erzählen die hohe Kunst des Im-Verzug-Seins« und »auf dem Grund dieses Erzählens ist freilich die Angst […] zu entdecken eines, ›der unter das Gesetz geraten ist, der seine Wörter aus dem Schweigen holt‹. Und hier, in diesem Unwegsamen der Sprache, war auch Ilse Aichinger schreibend und suchend unterwegs. (Steinlechner 2021, S. 43)
Des Weiteren schreibt Christine Ivanovic, Aichinger hat es dem Dichter aufgegeben, die Erde zu tragen, für uns alle, und damit festen Boden, Heimat zu schaffen. Es ist die größte denkbare Würdigung, wenn Ilse Aichinger dem Linzer Dichter Adalbert Stifter in ihrem Essay von 1955 genau dieses Vermögen zuspricht. (Ivanovic 2021, S. 312)
Die vorliegende Arbeit beabsichtigt, zunächst anhand von Aichingers Essays Betrachtungen über Stifters Texte anzustellen. Die darin thematisierten Tätigkeiten wie das Definieren oder das Erinnern wirkten auf Aichingers Poetik selbst zurück. Daher werden diese Konzepte besonders berücksichtigt. In der Auseinandersetzung mit einigen Essays aus Aichingers Buch Film und Verhängnis (2001), in denen der Erinnerungs-
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gedanke im Vordergrund steht, geht dieser Beitrag der Frage nach, welche Resonanz Stifters Poetik bei Aichinger hervorruft. 1. In ihrem Radio-Essay »Über Adalbert Stifter« (1955) berichtet Aichinger, dass sie Stifters Bergkristall »zum ersten Mal als Kind« und »zum zweiten Mal fünfzehn Jahre später« gelesen habe (Fv 2021, S. 155). Sie kommentiert diese Lektüre-Erfahrung folgendermaßen : Als ich zu Ende war, hatte ich wieder wie als Kind das Gefühl, daß es eine lange dunkle Geschichte war, aber lang und dunkel in einem andern Sinn : das Dunkel war aufgehoben in Klarheit, die Länge in einer Spannung, die schwer ermessen läßt : einer Spannung innerhalb der Sprache. Die Spannung des »So und nicht anders«, die Linie des Blitzes mitten in der Behäbigkeit und Lehrhaftigkeit – mitten darin. (Ebd., S. 155)
Was Aichinger mit der »Spannung innerhalb der Sprache« meint, wird in Bergkristall (1853) aus der Erzählstruktur ersichtlich : Je mehr der Bruder Auskünfte und Versicherungen gibt und die Schwester sie bejaht, umso mehr gehen die Geschwister in die Irre und entfernen sich immer weiter von ihrem Ziel. Ihr Schicksal, das mit ihren unzuverlässigen Worten und den daran anschließenden Irrwegen angedeutet wird, scheint weniger zum Ziel der Erlösung fortzuschreiten, als vielmehr zu dem der Katastrophe. Peter Küpper allerdings argumentiert : »[…] sie kommen in der Frostnacht nicht zu Schaden, weil und solange sie miteinander sprechen. Redend, wie spärlich auch immer, überleben sie« (Küpper 1968, S. 181). Der Dialog zeugt also nicht auf der Inhaltsebene, sondern vielmehr auf der Zeichenebene von ihrer ungebrochenen Lebenstätigkeit. Es ist gerade die Differenz zwischen Signifikaten und Signifikanten, die jene »Spannung innerhalb der Sprache« hervorbringt. Sie kann dem Leser das Verständnis erschweren. Am Ende der Erzählung kommt die Rettung dann von außen, d. h. durch die Eltern und die anderen Mitglieder der Gemeinde, die sich in der Suche nach den Kindern zusammengetan haben. Sannas Wort »Mutter, ich habe […] den heiligen Christ gesehen« (HKG 2, 2, 239) fungiert zwar als Begründung für die Erlösung, stellt aber im Hinblick auf die erzählte Wirklichkeit eine mit dieser unvereinbare, unlogische Lösung dar. Zu Stifters Verfahren, die Sache »[s]o und nicht anders« darzustellen, schreibt Aichinger Folgendes :
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Stifter beschreibt niemals – so sehr es bei ihm manchmal den Anschein hat –, sondern er definiert die Landschaft. Er betrachtet sie wie ein Mönch das Geheimnis eines Rosenkranzes, und er betrachtet sie so lange, bis sie ihm aufgeht, bis sie ihre eigensten Gestalten herausgibt, und diese Gestalten ihrem eigensten Sinn nach zu handeln beginnen. (Fv 2021, S. 165)
Das Verfahren des ›Beschreibens‹ ist dadurch charakterisiert, dass es sich möglichst eng an den konkret vorliegenden Gegenstand hält, den es zu erfassen gilt. ›Definieren‹ hingegen – aus dem Lateinischen ›definire‹ (›abgrenzen‹) – meint in einem allgemeinen Sinne ›begrifflich bestimmen‹. Die ›Landschaft zu definieren‹, wie Aichinger schreibt, bedeutet somit, dass die Landschaft auf Stifters eigene Weise begrifflich bestimmt und »[s]o und nicht anders« zur Darstellung gebracht wird. Diese Stifter’sche Erzählweise erkennt Aichinger nicht nur in Bergkristall, sondern auch in anderen Erzählungen der Bunten Steine (1853) : Ich las die Bunten Steine, zuerst »Turmalin«, und es war fast nicht, als läse man. Es war, als nähme man einen Stein nach dem andern, Granit und Katzensilber, Kalkstein und Bergmilch, betrachtete sie lange […] und sich sagte : Ja. So ist Granit. So ist Turmalin. So sind sie. (Ebd., S. 158f.)
Die Beziehung zwischen den einzelnen Erzähltexten der Bunten Steine und ihren mit Steinnamen versehenen Titeln ist immer noch nicht befriedigend geklärt. Aber als grundlegende Struktur der gesamten Erzählungen wäre festzuhalten, dass es sich zumeist um Erzählungen handelt, in denen Kinder Gefährdungen ausgesetzt sind, aus denen sie gerettet werden oder sich selbst retten. Dabei werden gestörte Ordnungen wiederhergestellt und die Kinder in diese Ordnung integriert bzw. reintegriert. (Begemann 2007, S. 72)
Diese Relation der Gefährdungen und die Reintegration der Kinder scheint Aichingers Opposition von »Dunkel« und »Klarheit« zu entsprechen. Ebenso wird die von Aichinger festgestellte »Spannung innerhalb der Sprache« in der heutigen StifterForschung in Verbindung gebracht mit den »Schwierigkeiten der richtigen Lektüre von Zeichen«, die »in Stifters Texten eine maßgebliche Rolle« spielen (ebd., S. 75). Dabei fällt zugleich auf, dass der kontinuierliche Erzählprozess bei Stifter, der ja auf »Klarheit« abzielt, oft mittels der Erinnerung, also als erinnerte Welt inszeniert wird. So heißt es etwa in Granit : »Wie es aber auch seltsame Dinge in der Welt gibt, die ganze Geschichte des Großvaters weiß ich, ja durch lange Jahre, wenn man von schönen Mädchen redete, fielen mir immer die feinen Haare des Waldmädchens ein«
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(HKG 2, 2, S. 60). Diese Erinnerung des Erzählers ist zweideutig : Sie geht einerseits von seinem Angstgefühl aus, weil »die ganze Geschichte des Großvaters« vor allem die Katastrophe der Pest behandelt. Aber andererseits wird sie vom erwachsenen Erzähler ausgesprochen und demgemäß als Sublimierung verstanden, weil der Erzähler unterdessen seine Angst bewältigt hat und herangewachsen ist. Ebenso denkwürdig ist das Motiv der Rauchsäule, die Aichinger beachtet und erwähnt : »Von einer schmalen Rauchsäule aus gewinnt alles neue Bedeutung«, von »jede[r] Föhre« bis zum »ganzen Horizont« (FuV 2001, S. 160). In der Erzählung fungiert die Rauchsäule, auf die der Großvater den Erzähler aufmerksam macht, einerseits als Merkzeichen, an dem man ablesen kann, dass das Leben der Waldleute ordnungsgemäß abläuft, aber andererseits als Ansatzpunkt für die grauenhafte Pestgeschichte. In der Rauchsäule begegnen sich somit die helle und die dunkle Seite des menschlichen Lebens. Aichinger betont ganz besonders die Funktion der Erinnerung in Bergkristall : Die Situation der im Eis verirrten Kinder – kann man jemals aus ihr errettet werden, selbst wenn man gefunden und heimgebracht wird ? Bleibt sie nicht im wahrsten Sinne des Wortes Erinnerung, »in einem« bis ans Ende der Welt ? (Ebd., S. 158)
In der Erzählung wirkt die Todesgefahr tatsächlich auf die Erinnerung des Jungen ein, da er in der Steinhütte des Schneebergs sagt : »Sanna, du mußt nicht schlafen ; denn weißt du, wie der Vater gesagt hat, wenn man im Gebirge schläft, muß man erfrieren, so wie der alte Eschenjäger auch geschlafen hat […]« (HKG 2, 2, S. 225). Die Todesangst könnte zu einer nicht leicht zu bewältigenden, traumatischen Erinnerung werden. In der Geschichte aber bleibt sie vage, letztlich unausgesprochen. Und der Abschluss der Erzählung legt ganz bewusst den Akzent auf eine andere Erinnerung, die die Erinnerung an die Todesangst der Kinder suggestiv ersetzen soll : Die Kinder aber werden den Berg nicht vergessen, und werden ihn jetzt noch ernster betrachten, wenn sie in dem Garten sind, wenn wie in der Vergangenheit die Sonne sehr schön scheint, der Lindenbaum duftet, die Bienen summen, und er so schön und so blau wie das sanfte Firmament auf sie hernieder schaut. (Fv 2021, S. 240)
In Stifters Erzählung bilden die Naturerscheinungen nicht einfach die Umgebung der Erzählfiguren, sondern es sind zu erinnernde Gegenstände. Sie weisen unveränderliche, beständige Züge auf. Mit der zitierten Erinnerungsszene wird eine Annäherung ans »Allgemeine« (ebd., S. 11) inszeniert. Der Annäherungsprozess läuft allerdings recht langsam ab. Ein typisches Beispiel dafür lässt sich aus Stifters Roman Der Nachsommer (1857) anführen. Der Protagonist Heinrich, der die Schönheit der Bildsäule
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im Rosenhaus bemerkt hat, fragt Risach, wieso er ihn nicht schon vorher darauf hingewiesen habe. Darauf erwidert der Mentor : »Jemanden [sic !] sagen, daß etwas schön sei,« antwortete er, »heißt nicht immer, jemanden [sic !] den Besiz der Schönheit geben. Er kann in vielen Fällen blos glauben. Gewiß aber verkümmert man dadurch demjenigen das Besizen des Schönen, der ohnehin aus eigenem Antriebe darauf gekommen wäre. Dies sezte ich bei euch voraus, und darum wartete ich sehr gerne auf euch.« (HKG 4, 2, S. 76)
Risachs Credo des Wartens lässt sich nach Cornelia Blasberg auf Platons AnamnesisLehre zurückführen. Dieser Lehre zufolge sei jedes Erkennen Wiedererkennen der Idee, allerdings bleibe bei Stifter »die Systemstelle, die das Urbild, die Idee (der Schönheit) in Platons Philosophie einnimmt, leer […] : Was Risach über ›Schönheit‹ zu sagen hat, beschränkt sich auf Rezeptions- und Beurteilungsweisen von Kunstwerken […]« (Blasberg 1998, S. 336f.). Damit verhält es sich nicht anders als bei den Erzählungen in Bunte Steine, in denen es weniger um die Schönheit von Kunstwerken als um Rezeptionsformen des »Gesez[es] des Rechtes und der Sitte« geht (HKG 2, 2, S. 14). Da die sich dem unerreichbaren Urbild annähernde Erinnerung immer als anhaltender Prozess dargestellt wird, neigt Stifters literarisches Schaffen meist eher zu längeren Texten. Seine Gewissheit über das »Allgemeine« versteckt sich hinter paradoxen Zeichen und bleibt so implizit, wie die traumatische Erinnerung nur bruchstückhaft erscheint. 2. Der Gegensatz von ›definieren‹ und ›beschreiben‹ ist für die Poetik von Ilse Aichinger von grundlegender Bedeutung. In ihrer Rede zum Großen Österreichischen Staatspreis »Der Boden unter unseren Füßen« (1996) sagt sie : Wo Ordnung geschaffen werden muß, liegt Willkür immer nahe genug. Der Staat verlangt nach Staatstheorien, Theorien verwandeln sich leicht in Devisen, Devisen in Maximen und Maximen in Willkür. Da ich nicht die sogenannte »Gnade der späten Geburt« hatte – eine absurde Formulierung, die wie »Holocaust« überdeckt und verfälscht, anstatt zu definieren –, wurden mir diese Übergänge massiv klar. (FuV 2001, S. 23)
Nach Aichinger kann »Ordnung«, so folgerichtig und plausibel sie zunächst klingen mag, an »Willkür« grenzen. Denn Ordnung stütze nur zu leicht »fragwürdige« Staats-
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theorien, die sich schließlich auf »Willkür« verlegen können. Aichinger übt hier an einer spröden Logik Kritik, die nur zum Schein Wahrheit und Objektivität simuliert, tatsächlich aber von den Interessen bzw. dem Willen der Machthaber gesteuert wird. Ihr Prototyp sei »eine absurde Formulierung« wie »Holocaust«, die aus fingierter Logik entstehe und aus der Sicht Aichingers der Notwendigkeit, etwas »zu definieren«, entgegengesetzt sei. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) erkennt Hannah Arendt ein wesentliches Merkmal des Totalitarismus in der »außerordentlichen Wirkung, welche Unfehlbarkeit auf die Massen ausübt« und dem »schlagende[n] Erfolg dieser Pose« (Arendt 2022, S, 741). Für totalitäre Bewegungen sei »nur die eigentümliche Form wichtig, in welche alle Ideologien ihre Aussagen einkleiden, die Form der unfehlbaren, allwissenden Voraussage« (ebd., S. 740). Diese Einkleidungsform entwickelt sich in scheinbar durchgängiger Logik und lässt die breite Masse von einer »unbestimmt gehaltene[n] Zukunft« träumen (ebd., S. 735). Arendt sieht das Wesen des Totalitarismus nicht in der Propaganda selbst, sondern in der Fähigkeit, eine große Masse zu mobilisieren und zu organisieren. Um die Masse zu bündeln, bedarf es einer verhetzenden, scheinbar logischen Behauptung, auf die Aichinger hinweist. Der schweizerische Kulturphilosoph Max Picard seinerseits hat anhand einer Medienszene der NS-Zeit den Realitätsverlust der modernen Menschen dargestellt : »Das Radio hat den maschinellen Betrieb der Zusammenhanglosigkeit übernommen. 6 Uhr : Frühturnen. 6.10 Uhr : Schallplattenkonzert. […] – und so weiter bis abends 22.10 Uhr : Spanischer Kurs« (Picard 1946, S. 14f.). Die Welt des Radios »produziert die Dinge so, daß sie von vornherein nicht miteinander zusammenhängen und daß deshalb eines nach dem anderen vergessen wird, schon ehe sie verschwunden wird […]« (ebd., S. 15). Sie verursacht damit »die innere Diskontinuität«, »die Zusammenhanglosigkeit des Menschen« (ebd.). Mehr als ein halbes Jahrhundert später kommt auch Aichinger genau auf diesen Punkt zu sprechen. In ihrem Essay »Die Farben des Erinnerns« (2001) bemerkt sie unter Hinweis auf Walter Benjamin : »Information deckt Erinnerung zu«, und damit stelle sich die Frage, »von wem man sich informieren läßt : von den Medien rund um die Uhr (und um sonst nichts) […]. Oder vom eigenen Vergessen, von den Verschwundenen einer nicht mechanisch ablaufenden, nicht leeren Zeit« (FuV 2001, S. 108). Aichingers Augenmerk richtet sich auf die menschliche Erinnerungsfähigkeit, die sich von der mechanischen Information unterscheidet. Allerdings – anders als bei Picard, der die moderne Medienwelt aufs Schärfste verurteilte – wird diese bei ihr als Quelle menschlicher Erinnerung nicht unbedingt verneint, da etwa Filme und Fotos sich als immer wieder geeignete Medien erweisen, um bei ihr Erinnerungen hervorzurufen : »So informiert dieser Film [Luchino Viscontis Il Gattopardo], und das schadet keiner Erinnerung, selbst der nicht, die man nie gehabt hat. Wir leben von nie bewußt gewordenen Erinnerungen«
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(ebd.). Auf die »nie bewußt gewordenen Erinnerungen« geht sie in der »Vorbemerkung zum Journal des Verschwindens« dann noch genauer ein : Erinnerung hat eine [dem in zeitlicher Folge dauernden Atemzug] entgegengesetzte Ökonomie : Sobald sie sich begreift, kommt sie in Gefahr, sich zu verfallen, ihren Abläufen, Datierungen, Scheinkonsequenzen : ihrer Chronologie. So langsam sie die begreift, um so rascher sollte sie sie vergessen. Sie ist an diejenigen Augenblicke gebunden, in denen sie aus sich
herausgerät : Sie muß alles und darf doch nichts behalten wollen : wie einer, der Steine dem Wasser anvertraut, damit sie darauf springen. (Ebd., S. 70)
Die Erinnerung ist flüchtig und vergänglich. Desto mehr bildet sie mit dem Vergessen zwei Seiten derselben Medaille und wird von Aichinger daher mit »Blitzlichtaufnahmen« verglichen (ebd., S. 70). Obendrein habe die Erinnerung eine unbändige Natur : »Die Erinnerung splittert leicht, wenn man sie zu beherrschen versucht. Selbst die Frage nach der Möglichkeit ihrer Existenz überläßt sie nicht dem, der darauf besteht« (ebd., S. 69). Sie sei den »entscheidende[n] Fetzen von Filmen« ähnlich (ebd., S. 107). Auch in den Bruchstücken der Erinnerung gehe es darum, Landschaft zu ›definieren‹ : Keine Chronologie des Glücks. Die ist ihm so wenig gemäß wie der Erinnerung, die auch imstande ist, zu reißen, zu stocken oder auszubleiben. In der Malerei könnte man sie mit den Landschaften von Corot vergleichen : jeder Punkt definiert ihre Präsenz. Aber ihr unvorhersehbarer Ablauf bleibt jedem Betrachter neu überlassen. (Ebd., S. 69)
Damit wird weniger der Künstler als »jede[r] Betrachter« ermächtigt, die Präsenz der Landschaften zu definieren. Der Akt des Definierens muss bei Aichinger wohl so verstanden werden, dass der Betrachter den Gegenstand der Betrachtung auf je eigene Art und Weise intuitiv verbildlicht. Er ähnelt daher in seinem Kern dem Akt des Erinnerns. Aber zugleich hat Definieren das Merkmal, dass es erst aufgrund von längerer Betrachtung erzeugt werden kann, wie Aichinger im bereits oben angeführten Zitat über Stifter bemerkt hat : »[…] er betrachtet sie [die Landschaft] so lange, bis sie ihm aufgeht, bis sie ihre eigensten Gestalten herausgibt, und diese Gestalten ihrem eigensten Sinn nach zu handeln beginnen.« In dieser Hinsicht scheint sich das Definieren von der Erinnerung zu unterscheiden, die stetig – und unvorhersehbar – momentane und fragmentarische Bilder produziert.
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3. Am Ende ihres Essays »Über Adalbert Stifter« schreibt Ilse Aichinger : […] je mehr ich mich in Stifter vertiefte und ihn kennenlernte, desto mehr schien es mir, als würden breite helle Straßen oder stille grüne Wege nur eine Seite von Stifters Wesen hervorheben […]. Und je mehr ich Stifter lese, desto mehr muß ich an die Gasse mit den Planken und den schmutzigen Kindern in der Nähe des Kanals denken, und es scheint mir, als hätte die Stadt ohne ihren Willen richtig gewählt, als würde hier die Dunkelheit, die Unergründlichkeit benannt, die Trauer, die den hellen, freundlichen und klaren Worten Stifters erst ihren Wert gibt, die die Währung deckt. (Fv 2021, S. 170)
Als die andere Seite »von Stifters Wesen« erkennt Aichinger die Welt der Dunkelheit und Trauer. Diese Welt tritt in ihrem Essay an den von ihrem Partner, dem »Sprecher«, vorgelesenen Textpassagen hervor, d. h. Passagen aus »Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842« (1842), Bergkristall, Der Hochwald (1842/1844) und Granit (1853). Interessant erscheint, dass die Dunkelheit und die Trauer in diesen Texten als eine Art notwendiges Übel angesehen werden. Denn in Bergkristall erscheint das Unglück der Kinder gewissermaßen als notwendiger Prozess, um die Kinder endlich in die Dorfgemeinschaft aufzunehmen ; in Hochwald wird am Ende der auferstehende großartige Wald dargestellt, der die Zerstörung des Schlosses und die darauf folgende menschliche Katastrophe vollständig zudeckt ; in Granit fungieren die Strafe der Mutter und die vom Großvater erzählte Pestepidemie als zu überwindende Aufgabe im Bildungsgang des Erzählers. In der »Sonnenfinsternis« ruft die von der Eklipse verdunkelte Welt zwar beim Betrachter Trauer hervor, aber »auch eine solche Erhabenheit, ich möchte sagen Gottesnähe, war in der Erscheinung dieser zwei Minuten, daß dem Herzen nicht anders war, als müsse er irgendwo stehen« (PRA 15, S. 12). In all diesen Fällen handelt es sich also bei Stifter nicht um den einfachen Gegensatz zwischen dem Hellen und dem Dunklen, sondern eher um einen Kontakt mit der schrecklich schönen Welt, die auch eine dunkle, ungewöhnliche Seite der Dinge in sich enthält. Und es ist genau diese Welt, die den Autor zum literarischen Schaffen provoziert – so die Lesart Ilse Aichingers. Das Phänomen der Eklipse scheint tatsächlich seine Wissbegier zu wecken : Diese Erscheinung »dauerte zum Glücke sehr kurz, gleichsam nur den Mantel hat er von seiner Gestalt gelüftet, daß wir hineinsehen, und augenblicks wieder zugehüllt, daß Alles sei wie früher« (ebd., S. 13). Nun stellt sich die Frage, wie dieser ›gelüftete Raum‹ zu entdecken bzw. zu erreichen wäre. In Stifters später Erzählung Nachkommenschaften (1864) geht es um ein Kunstideal, über das der malende Protagonist Roderer folgendermaßen räsoniert :
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[…] warum hat denn Gott das Wirkliche gar so wirklich und am wirklichsten in seinem Kunstwerke gemacht und in demselben doch den höchsten Schwung erreicht, den ihr auch mit all euren Schwingen nicht recht schwingen könnt ? In der Welt und in ihren Theilen ist die größte dichterische Fülle und die herzergreifendste Gewalt. Macht nur die Wirklichkeit so wirklich wie sie ist, und verändert nicht den Schwung, der ohnehin in ihr ist, und ihr werdet wunderbarere Werke hervorbringen als ihr glaubt, und als ihr tut, wenn ihr Afterheiten malt, und sagt : Jetzt ist Schwung darinnen. (HKG 3, 2, S. 65)
Roderers Versuch, ›den Schwung‹ in der Wirklichkeit zu bemerken und in seiner Malerei wiederzugeben, ist gescheitert. Daher verzichtet er auf seine Malerei. Der ›Schwung‹ muss selbst aus der Wirklichkeit hervortreten, und demgemäß soll das lebhafte Wesen in der Natur selbst existieren, aber es verdient nähere Betrachtung. Denn es ist kein anderer als der beobachtende Mensch, der beurteilt, ob der ›Schwung‹ in Erscheinung tritt. Dieses Urteil muss einerseits dem Zustand des Naturobjekts entsprechen ; andererseits muss es sich auf die (gelungene) Wiedergabe durch den Künstler beziehen. Im ›Schwung‹ treffen mithin der Zustand des Objekts und die Aktion des reproduzierenden Subjekts zusammen. Der ›Schwung‹ des Objekts wird umso mehr mit dem Wesen des Künstlers verbunden, als hier auch noch die Rede von »all euren Schwingen« ist. Die Schlusswendung »Jetzt ist Schwung darinnen« bringt ein Hochgefühl zum Ausdruck, das sich nun der Übereinstimmung beider Seiten, des Objekts und des Subjekts, gewiss ist. Bemerkenswert bleibt, dass auch bei Aichinger die Rede vom ›Schwung‹ ist. »Die Erinnerung splittert leicht«, schreibt sie. Zu solcherart leicht zu verlierenden Erinnerungsbildern zählt »die Freude an dem Tisch, um den die Schwestern Brontë liefen, um ihren Utopien auf die Sprünge zu helfen« (FuV 2001, S. 69). Die menschliche Erinnerung verstärkt sich durch gefühlsmäßige Momente wie hier »die Freude«, die es den Schwestern in ihrer vorgestellten Welt ermöglicht »ihren Utopien auf die Sprünge zu helfen«. Die Differenz zwischen der Wirklichkeit und »ihren Utopien« kann durch »Sprünge« überwunden werden. Trotz des Unterschieds zwischen der persönlichen Farbe ihrer Erinnerung und der gegenstandsnahen Perspektive in Stifters Text bestehen insofern Gemeinsamkeiten, als der »Schwung« oder die »Sprünge« als Mittel zum Erreichen ihrer höheren Ziele fungieren und ein Hochgefühl produzieren, dass letztlich deren Verwirklichung erst ermöglicht. Im Essay »Foto des Jahrhunderts« (1998) äußert sich Aichinger zu Bill Brandts Foto der »amüsierten Kinder« (ebd., S. 131) : Sein Foto definiert, was es zu schildern versucht. Und das gelingt in diesem Bereich nur selten. Die Ambition Bill Brandts gilt dem Bild, fast hat man den Eindruck, daß es ihm gleichgültig ist, ob es seine Augen oder die eines anderen sind, die es wahrnehmen. Er läßt
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es fliegen, wie er als Junge vielleicht Drachen fliegen ließ, nicht nur mit dem Wunsch, sie steigen zu sehen, sondern auch mit dem selteneren und verborgenen Wunsch : daß sie wegbleiben, daß sie nur so hoch steigen, um nicht wiederzukommen. Er hat sein Foto verschenkt. Es erinnert mich an diejenigen, die ihr Leben im selben Jahr verschenkt haben. (Ebd., S. 132)
»Der verwegene Blick der Anführerin, des Gogogirls der Szene, […] das Gelächter der Freundin« sind auf dem Foto sichtbar (ebd.). Das Hochgefühl der Aufnahmeobjekte ist so offenkundig, dass es davon unabhängig wäre, wer sie ansieht und fotografiert. Das Gefühl strahlt dementsprechend von den Gegenständen selbst aus und »definiert« eine Situation vor dem Kriegsende im Jahr 1943. Das Gefühl wird mit »Drachen« verglichen. Der sichtbare Höhepunkt der steigenden Drachen, der auch ihr Verschwindenspunkt werden könnte, deutet einen Augenblick der emotionalen Klimax an. Wer diesen Höhepunkt erreicht, sind in erster Linie die Objekte der Fotografie, aber auch der »Ambition[en]« hegende Fotograf und eventuell andere Betrachter des Fotos. Das momentane Bild des Schwungs, das sich auf dem Foto abzeichnet, evoziert bei der Betrachterin Aichinger eine andere ›definitive‹ Erinnerung an »Sophie und Hans Scholl, die 1943 hingerichtet wurden« (ebd.) und an deren älteste Schwester, Inge Scholl. Es ist die sprühende Lebendigkeit der hier mit der Kamera beobachteten und festgehaltenen Kinder, die Aichinger zu ihrem eigenen Erzählen motiviert. Das Porträtfoto und das Gemälde – es sind ganz verschiedene Gattungen, die im Mittelpunkt der Betrachtung bei Aichinger und Stifter stehen, aber seine Kunstanschauung weist doch auch Gemeinsamkeiten mit ihrem Erinnerungsgedanken auf. Es handelt sich dabei nicht um die Frage nach dem Gehalt der ›Utopien‹, sondern um den Weg, um von der platten und gewöhnlichen zur erhabenen Welt fortzuschreiten. Die Antwort darauf scheint das Moment des Schwungs zu sein : die Fähigkeit, den inneren Schwung des Betrachters durch das lebhafte Wesen des Objekts hervorzurufen und dabei die Objektivität und Subjektivität gewissermaßen in einen einheitlichen Zustand zu bringen. Gleichgültig, ob Stifters »Sonnenfinsternis« von seiner Begeisterung für die Eklipse ausgeht oder Aichinger anhand von Bill Brandts Fotos auf die Geschwister Scholl zu sprechen kommt – bei beiden regt das Moment des Schwungs das literarische Schaffen an. Während Aichinger in ihren Essays der Spätzeit diesen Schwung in Gestalt fragiler Erinnerungsbilder aufnimmt, folgt ihm Stifter vor allem in seinen längeren Erzählungen. Die beiden auf den ersten Blick so vollkommen verschiedenen Autoren versuchen doch in ähnlicher Weise, einen Katalysator für ihr kreatives Schreiben zu finden.
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Literatur Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Fv 2021) : Die Frühvollendeten. Radio-Essays. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Arendt, Hannah (2022) : Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München. Begemann, Christian (2007) : Adalbert Stifter und die Ordnung des Wirklichen, in : Ders. (Hg.), Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt, S. 63 – 84. Blasberg, Cornelia (1998) : Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. Freiburg i. Br. Ivanovic, Christine (2021) : Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921 – 2016). Linz. Küpper, Peter (1968) : Literatur und Langeweile. Zur Lektüre Stifters, in : Lothar Stiehm (Hg.), Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Heidelberg, S. 171 – 188. Picard, Max (1946) : Hitler in uns selbst. Erlenbach-Zürich/Stuttgart. Steinlechner, Gisela (2021) : Beerensuchen, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 40 – 44. Stifter, Adalbert (PRA) : Sämtliche Werke. 25 Bd. Begründet und hg. v. August Sauer u. a. Prag 1901ff., Reichenberg 1927ff., Graz 1958ff., Hildesheim 1972. Stifter, Adalbert (1978ff.) (HKG) : Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hgg. Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald/Hartmut Laufhütte. Stuttgart u. a.
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Weiterschreiben mit / nach Musil Robert Musil und Ilse Aichinger Robert Musil gehört für Ilse Aichinger nicht nur zu den Schriftstellern, die sie genau und umfassend gelesen hat – ihre Musil-Kenntnisse beziehen sich sogar auf seine Tagebücher, wie ein Zitat daraus bezeugt (vgl. St 2006, S. 18) –, sondern er wird von ihr auch mit höchstem Lob bedacht : In einem Interview nennt sie ihn einen »der genialsten und von mir am meisten bewunderten Schriftsteller« (Interviews 2011, S. 108). Obwohl Musils Hauptwerk, sein Roman Der Mann ohne Eigenschaften, bekanntlich recht umfangreich ist, hält ihn Aichinger für ein Musterbeispiel von »sprachliche[r] Dichte und Verknappung« (ebd., S. 99). Aichinger lernt Musils Texte und auch diesen Roman wahrscheinlich erst nach dem Krieg kennen ; in einem Brief an Ingeborg Bachmann vom 30. Dezember 1953 bedankt sie sich bei ihr, dass sie ihr »den Musil« – und da sie von einem »dicke[n] Buch« und einer »alte[n] Ausgabe« spricht (IB/IA/GE Briefe 2021, S. 47), wird es wahrscheinlich der Band der ersten Musil-Ausgabe von 1930 oder 1938 gewesen sein (vgl. Musil 1930 und Musil 81938) – geschenkt habe. Dann fügt sie hier noch hinzu, dass sie schon »vier Babybücher« habe (sie war damals mit ihrem ersten Kind schwanger), aber »lieber den Mann ohne Eigenschaften oder die chassidischen Geschichten« lese (IB/IA/GE Briefe 2021, S. 62). Die besondere Bedeutung dieses Romans für Aichinger geht auch daraus hervor, dass sie dieses geschenkt erhaltene Buch sogar zu einer Art Freundschaftszeichen zwischen sich und Bachmann erklärt, nämlich zu einem »Zeichen der Abkürzung zwischen allen Orten (…), in denen wir noch landen (…)« (ebd., S. 47). Aichinger und Musil gehören unterschiedlichen Generationen der österreichischen Literatur an : Das Ende von Musils schriftstellerischer Tätigkeit mit seinem Tod 1942 und Aichingers Anfang der 1940er Jahre beginnende Arbeit als Autorin fallen ungefähr zusammen. Aichinger sieht eine wesentliche Gemeinsamkeit mit Musil auf einer komplexen, genealogischen Ebene, die mit dem von ihr geteilten jüdischen Schicksal, d. h. mit der Shoah, verknüpft ist. Dabei bezieht sie sich auf die Einleitungssätze aus Musils Erstlingsroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), die sie zitiert : Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes ;
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neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich. (St 2006, S. 14, und GW 6, S. 7)
Wie Aichinger bekannt war, verarbeitete Musil in diesem Roman Erfahrungen, die er zwischen seinem 13. und 16. Lebensjahr als Internatsschüler in der Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen (Hranice) gemacht hat. Als Musil diesen Roman schreibt, gehört Mährisch-Weißkirchen zu Österreich-Ungarn und ist, wie es im Roman heißt, eine »kleine Stadt (…) weitab von der Residenz, im Osten des Reiches« (GW 6, S. 8), genauer gesagt, an der Grenze zu dem mehrheitlich von Tschechen und Slowaken bewohnten Mähren, welches als Markgrafschaft ein Kronland Österreich-Ungarns ist. Von den im Jahre 1910 ca. 2,6 Millionen Bewohnern Mährens sind 1,8 % Juden (also rund 44.000), zu denen auch Aichingers Großmutter, Gisela Kremer, gehört, die in Zauchtl (Suchdol nad Odrou), welches sich ca. 20 km östlich von Mährisch-Weißkirchen befindet, aufwächst. Während, wie Aichinger hier weiter erwähnt, Sigmund Freud, der ebenfalls in Mähren geboren ist, und zwar in Freiberg (Přibor), welches wiederum ca. 20 km östlich von Zauchtl liegt, der Shoah im letzten Augenblick durch seine Emigration nach London entkommen kann, wird die Großmutter (und zwei ihrer Kinder, die jüngeren Geschwister von Aichingers Mutter) im Mai 1942 auf einem offenen Lastwagen zum Wiener Aspangbahnhof gebracht und von da aus mit der Eisenbahn ins Vernichtungslager Maly Trostinez (unweit der heute belarussischen Stadt Minsk gelegen) deportiert (vgl. u. a. St 2006, S. 49). Aichinger ist als junges Mädchen Augenzeugin dieses Abtransports der Großmutter auf diesem Lastwagen, der über die Wiener Schwedenbrücke fährt, was für sie ein traumatisches Erlebnis ist ; sie nennt dies später einen Anblick, den sie eigentlich nicht überleben kann (vgl. Interviews 2011, S. 112f.). Von den genannten mährischen Städten aus gesehen befindet sich Minsk auf einer schnurgeraden, in nordöstlicher Richtung verlaufenden Linie, auf der im Übrigen auch Auschwitz liegt, wo – wie Aichinger in ihrem späten Essay-Band Subtexte ausführt – der Vater ihrer Großmutter, Israel Rabinek, Mitte des 19. Jahrhunderts Eisenbahnstationsvorsteher war (vgl. St 2006, S. 15). Musils »Eisenstränge«, die »endlos gerade« in den Osten nach Russland laufen, deuten für Aichinger also auf die traumatische Erinnerung an die Shoah hin, auf die Ermordung ihrer Angehörigen, unter denen ihre Großmutter von besonderer Bedeutung für sie ist ; Aichinger nennt sie die »wichtigste Person« in ihrem Leben (Interviews 2011, S. 108). Die Eisenbahn ist somit die Verbindungslinie, die Idylle und Tod untrennbar miteinander verknüpft – »die äußerste Bedrängnis« vermittelt sich »mit der äußersten Geborgenheit« (KMF 1991, S. 22) –, weshalb die großmütterliche Küche auch »quer auf die Bahnlinie« zuläuft (ebd., S. 11).
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In Verbindung mit der Großmutter bedeutet Mähren für Aichinger auf der positiven Seite eine Art kreativen (Groß-)Mutter-Boden, was im Übrigen der in der Forschung vertretenen These, die lautet, dass »der Osten Europas« bei Aichinger »praktisch keine Rolle« spiele (Schmid-Bortenschlager 2001, S. 183), widerspricht. Aichinger schreibt : »Zauchtl : eine frühe Konsequenz für ein Leben und einen Stil, der für mich entscheidend bleibt« (UR 2005, S. 84). Deshalb kann sie in Hinsicht auf Mähren auch von einem »Familienroman« sprechen (ebd., S. 83). Die enge familiäre Bindung an Mähren mag nicht nur daran liegen, dass diese Region ein mitteleuropäisches Mischgebiet von verschiedenen Kulturen und Religionen ist, sondern vor allem daran, das Mähren für Aichinger das Ideal eines vollkommen unpatriotischen Landes verkörpert, ähnlich dem Musil’schen »Kakanien«, das er als den Staat bezeichnet, »der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte« und in dem man deshalb »negativ frei« war, weshalb dann auch Kakanien »ein Land für Genies« gewesen sei (GW 1/MoE, S. 35). Aichinger beruft sich bei ihrem Mähren-Verständnis auf eine Bemerkung des mährischen Dichter Jan Skácel über die Nationalhymne Mährens, die nämlich aus »absoluter Stille« bestehe (Skácel 1993, S. 161, und UR 2005, S. 83) ; dies liegt daran, dass die Nationalhymne der früheren Tschechoslowakei aus einem böhmischen Teil (»Kde domov můj« / »Wo ist meine Heimat ?«) und einem slowakischen Teil (»Nad Tatrou sa blýska« / »Über der Tatra blitzt es«) bestand ; diese beiden Lieder spielte man hintereinander – und die winzige Pause zwischen diesen Lieder wurde von humorvollen Menschen als die dann eben stille Hymne Mährens angesehen. Was Österreich und Wien betrifft, so haben sowohl Musil als auch Aichinger dazu eine komplizierte Beziehung : Aichinger muss in Wien, in ihrer Geburtsstadt, die nationalsozialistische Begeisterung und den Antisemitismus großer Teile der Bevölkerung während des Kriegs ertragen. 1950 verlässt sie diese Stadt und kehrt erst 1988 zurück, um dort bis zu ihrem Tod 2016 zu leben. Mit Wien und den Wienern bzw. Wienerinnen verbindet sie eine Art Hassliebe. Obwohl Aichingers topographisches Zentrum zweifellos Wien ist, ist doch Wien für sie nur eine Heimat, »die heimatlos macht«, die aber damit für ihre »Poetik des Exils« – mit den Grunderfahrungen »der kulturellen Fremdheit und des Unbehaustseins« – ein idealer Ort ist (Thums 2013, S. 206). Für den in Klagenfurt geborenen Musil ist Wien, wo er ab 1911 mit Unterbrechungen lebt (wie durch die Kriegsjahre 1914 – 1918, in denen er Soldat ist, oder auch die Berlin-Aufenthalte 1920 und von 1931 – 1933), vor allem der Haupthandlungsort seines großen Romanprojekts Der Mann ohne Eigenschaften, der im August des Jahres 1913 einsetzt, um die Vorgeschichte der Ersten Weltkriegs und den Zerfall der Habsburger Monarchie, im Roman »Kakanien« genannt, zu schildern. Für Aichinger wie für Musil ist die Kriegsthematik sowohl in Hinsicht auf ihr literarisches Werk wie auch für ihr persönliches Leben von entscheidender Bedeutung,
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allerdings mit dem Unterschied, dass diese für Musil im Vorfeld des Ersten Weltkrieges einsetzt, während Aichingers erster und einziger Roman Die größere Hoffnung den gewaltsamen »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 zur Voraussetzung und die damit verbundene Ausdehnung von offenem Antisemitismus und Judenverfolgungen auch auf Wien und damit auf ihr eigenes Leben zum Thema hat. Dieser Roman ist, wie Aichinger selbst sagt, »ein Buch über diese Verfolgungszeit« bzw. »ein Bericht (…) darüber, wie es wirklich war« (Interviews 2011, S. 27 und S. 44). In diesem Kriegs-Zusammenhang sieht Aichinger die Eröffnungssätze von Musils Novelle Grigia stehen, die sie zitiert und die lauten : »Es gibt im Leben eine Zeit, wo es sich auffallend verlangsamt, als zögerte es weiterzugehn oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, daß einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt« (GW 6, S. 234, und UR 2005, S. 59). Musil habe, so Aichinger, diese Sätze »im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg und in der Ahnung eines kommenden« geschrieben – und dies beruht auf ihrer eigenen Erfahrung mit dem Ausbruch des Weltkriegs, denn sie schließt hier unmittelbar an : »Ich erinnere mich an die Bilder vom Kriegsausbruch : Rowdies, die endlich ihre Langeweile loszuwerden glaubten, indem sie auf andere trampelten« (UR 2005, S. 59). Musil ist insofern von der nationalsozialistischen Herrschaft betroffen, als er wegen seiner politisch-literarischen Haltung und seiner jüdischen Ehefrau Martha Marcovaldi, geborene Heimann, im Spätsommer 1938 Österreich verlässt und ein prekäres, von den Behörden kaum geduldetes Exil in der Schweiz – erst in Zürich, dann in Genf – führen muss, wo er im April 1942, erst 61-jährig, einem Gehirnschlag erliegt, ohne seinen monumentalen Roman Der Mann ohne Eigenschaften beenden zu können, an dem er bis zu seinem Todestag arbeitete. Aichinger wurde gemäß der Klassifikation der Nationalsozialisten als jüdischer »Mischling« eingestuft und war deshalb gezwungen, sich zusammen mit ihrer jüdischen Mutter den diskriminierenden Maßnahmen der nationalsozialistischen Machthaber in Wien zu beugen. Dies bedeutete den Verlust der Wohnung, Zwangseinquartierung in ein Zimmer gegenüber dem Gestapo-Hauptquartier, Zwangsarbeit und vor allem, neben dem erwähnten traumatischen Verlust von nahen Angehörigen, die Trennung von der Zwillingsschwester Helga, die im Sommer 1939 mit einem sogenannten »Kindertransport« nach England entfliehen kann. So müssen beide, Musil und Aichinger, wenn auch auf unterschiedliche Weise, als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft angesehen werden ; obwohl »Opfer« eines der Wörter ist, die Aichinger »gerne aus dem Sprachgebrauch nehmen« würde (Interviews 2011, S. 90) ; gleichwohl hat man ihre literarischen Texte treffend unter den Titel der »Bergung der Opfer in der Sprache« gestellt (Reichensperger 22003, S. 83).
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Als eine weitere Gemeinsamkeit Aichingers und Musils sind ihre Reaktionen auf die sie so unmittelbar und brutal betreffenden Zeitverhältnisse anzusehen. Beide sind weniger direkt politisch engagiert, sondern versuchen, durch ihre künstlerisch-literarischen Arbeiten mehr zu einer, wie dies Musil einmal ausgedrückt hat, »geistigen Bewältigung der Welt« beizutragen (GW 7, S. 942). Aichinger steht allerdings zunächst einem direkten politischen Engagement aufgeschlossen gegenüber : Während des Krieges schöpft sie aus den Aktivitäten der »Weißen Rose«, der Münchner studentischen Widerstandsgruppe um Hans und Sophie Scholl, »eine unüberbietbare Hoffnung« (Interviews 2011, S. 25) und schätzt deren Handlungen als den »vielleicht (…) geglücktesten Widerstand im Dritten Reich« ein (ebd. und S. 31). Auch Aichingers erste Publikation überhaupt, die nach dem Krieg veröffentlicht wird, ist politisch engagiert : So erscheint am 11. September 1945 im Wiener Kurier ihre kurze Erzählung »Das vierte Tor« (vgl. GrH 1991, S. 272 – 275), die mit Nennung von Begriffen wie »Konzentrationslager«, »Emigranten« und »gelber Stern« eine hohe politische Relevanz hat ; man sagt, die Erzählung sei »vermutlich der erste deutschsprachige Prosatext, in dem das Wort ›Konzentrationslager‹ gedruckt wurde« (Stellenkommentar in IB/IA/GE Briefe 2021, S. 149). Auch ihr wenig später publizierter Aufruf zum Mißtrauen (1946) ist als ein engagierter Appell zu lesen (vgl. AuzMi 2021, S. 21f.). Nach ihrer Heirat mit Günter Eich 1953 lässt sich bei Aichinger das Nachlassen direkter politisch-engagierter Äußerungen, ein Rückzug in eine geistige Distanz zum politisch-literarischen »Betrieb« beobachten. Dieser Rückzug verbindet sich mit ihren dörflich-provinziellen Wohnorten, an denen sie von 1953 bis 1984 lebt, was aber gelegentliche politische Stellungnahmen nicht ausschließt, wie ihre Unterschrift unter einer Stellungnahme von Wissenschaftlern gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr 1957 (vgl. IB/IA/GE Briefe 2021, S. 114). In dieser Zeit radikalisiert sich jedoch ihre künstlerische Position, was besonders eine vertiefte Sprachreflexion und eine fortschreitende Sprachskepsis bedeutet. Aichinger überträgt sozusagen ihr widerständiges Engagement auf ihre Spracharbeit und führt dazu aus : Sprache und Engagement stellen sich mir nicht als Gegensatz dar, ich verstehe einen solchen Gegensatz nicht. Sprache ist, wo sie da ist, für mich das Engagement selbst, weil sie kontern muß, die bestehende Sprache kontern muß (…). (Aichinger, zit. in Schafroth 2003, S. 35)
In Hinsicht auf diese Ausrichtung auf Sprache stellt der symbolistische belgische Schriftsteller Maurice Maeterlinck ein Verbindungsglied zwischen Aichinger und Musil dar, nimmt Aichinger in diesem Zusammenhang doch Musils Eingangszitat aus seinem oben genannten Törleß-Roman auf, welches aus Maeterlincks mystischer
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Essaysammlung Le Trésor des humbles (1896) (dt.: Der Schatz der Armen) stammt. Maeterlinck schreibt in seinem »Die Moral des Mystikers« betitelten Kapitel : Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. (Maeterlinck 1898, S. 25 ; GW 6, S. 7 ; St 2006, S. 23)
Diese mystische Dimension der Sprachskepsis verbindet Aichinger mit Musils Törleß, der durchweg von einer mystischen Thematik durchzogen ist, die sich besonders in bestimmten mystisch-epiphanischen Augenblicken verdichtet, was auf Aichingers Konzept »mystischer Augenblicke« hindeutet, »die als Resonanz auf Krisenerfahrungen der Moderne und ein auf Fortschritt gepoltes Zeitregime entworfen und reflektiert werden« (Komfort-Hein 22021, S. 33). Bei Aichinger zeigt sich allerdings in diesen besonderen Augenblicken gerade nur die Abwesenheit von etwas Göttlich-Epiphanischem, nur das von Gott gewünschte »Loch« (GrH 1991, S. 23), von dem Ellen in Die größere Hoffnung spricht, weshalb man in dieser Hinsicht von einer »umgekehrten Epiphanie« sprechen kann, die »ein Nachbild der Beklemmung hinterlässt« (Prammer 22021, S. 88). Auf die zentrale Bedeutung der Mystik bei Musil, vor allem in seinem Mann ohne Eigenschaften, wo unter dem Stichwort der »taghellen Mystik« (GW 4/MoE, S. 1089 und S. 1091) der Versuch einer »rationalen Infragestellung« (Wagner-Egelhaaf 2016, S. 709) von allen möglichen, scheinbar selbstverständlichen Gegebenheiten unternommen wird, kann hier nur hingewiesen werden. Aichinger knüpft mit ihrem aufgeklärten Mystik-Verständnis daran an, wenn sie sagt, dass »Mystik auch mit Logik zu tun« habe (Interviews 2011, S. 71). Darüber hinausgehend spielt die Mystik bei ihr im Zusammenhang mit sprachskeptischen, sprachkritischen bzw. sprachinnovativen Überlegungen eine zentrale Rolle, was neuere Forschungsarbeiten aufgezeigt haben ; so erkennt z. B. Barbara Thums bei Aichinger »magisch-mystische[] Sprachkonzeptionen«, die sie als »Einspruch gegen die ›Sprache der [nationalsozialistischen] Mörder« und gegen »restaurative Tendenzen der Nachkriegszeit« wertet (Thums 2000, S. 303). Allgemeiner gesagt kann Aichingers Verhältnis zur Sprache einerseits als distanziert und skeptisch angesehen werden – so spricht sie z. B. davon, »dass sich Sprache entzieht, dass sie Widerstände entgegensetzt«, oder sie behauptet, »dass die Sprache zerbrochen« sei (Interviews 2011, S. 14 und S. 108). Andererseits sind bei ihr immer wieder Bestrebungen zu finden, diese Skepsis produktiv zu überwinden, was man mit Begriffen wie z. B. »Sprachartistik« oder »Sprachfindung« bezeichnet hat (Herrmann/
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Thums 2001, S. 14f.). Die Forschung hat dies u. a. als Aichingers dekonstruktivistische Spracharbeit bezeichnet (vgl. z. B. Erdle/Pelz 22021, S. 10). Es kann hier nicht der Ort sein, die zahlreichen Forschungsarbeiten, die sich mit Aichingers Sprach- und Literaturformen beschäftigen, zu resümieren (vgl. z. B. Müller 1999 ; Herrmann/Thums 2001 ; Ratmann 2001), sondern es sollen im Folgenden unter vier Punkten einige Ähnlichkeiten zwischen Musil und Aichinger in Hinsicht auf die Erzählweise bzw. Sprachgestaltung aufgeführt werden : 1. Dekonstruktion des chronologischen Erzählens Diese Dekonstruktion betrifft in erster Linie konventionelle Erzählverfahren, wie z. B. das chronologische Erzählen, welches, wie Aichinger bemerkt, bereits von Musil überwunden worden sei (vgl. Interviews 2011, S. 108). Die neuere Musil-Forschung spricht in dieser Hinsicht von der Dekonstruktion als »Kennzeichen der Moderne« bei Musil (Reichensperger 22003, S. 91), die bereits mit seinen Erzählungen Vereinigungen (1911) oder seinen Novellen Drei Frauen (1924) beginnt, die als Texte anzusehen sind, in denen er die chronologisch-zeitliche Abfolge des Erzählens überwindet (vgl. z. B. Zeller 1981, S. 78), was dann im Mann ohne Eigenschaften (der gleichwohl konventioneller als z. B. die Vereinigungen erzählt ist) zur Thematisierung des Verlustes jenes »berühmten ›Faden[s] der Erzählung‹« führt, der zugleich als »der Lebensfaden« angesehen wird (GW 2/MoE, S. 650). Demgegenüber steht – sowohl im fiktiven Leben des Romanhelden Ulrich wie in der Darstellungsweise des Romans selbst – die Ausbreitung in eine »unendlich verwobene Fläche« (ebd.). Die Überwindung einer chronologischen Erzählweise ist bereits in Aichingers Erstlingsroman Die größere Hoffnung mit seinen »nicht linearen, sondern kreisenden Kapiteln« zu beobachten (Reichensperger 2007, S. 11). Reichensperger hat ihn – auch wegen seiner vielfältigen Bedeutungsebenen und seiner Weigerung, feststehende Täter-Opfer-Zuschreibungen vorzunehmen – zum »erste[n] dekonstruktive[n] und sprachthematisierende[n] Roman der österreichischen Literatur« erklärt, wobei Musils Mann ohne Eigenschaften ihm in gewissen Partien (wie z. B. den darin befindlichen Moosbrugger-Studien) vorangehe (ebd., S. 12). Daran anschließend kann man im Hinblick auf die Erzählverfahren einen weiteren Anknüpfungspunkt finden : Die in Aichingers Roman favorisierte »Sicht der Kindheit« (Fässler 2001, S. 51) als Erzählperspektive entspricht in gewisser Weise Musils berühmt gewordenem »Möglichkeitssinn«, der von ihm definiert wird »als die Fähigkeit (…), alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist« (GW 1/MoE, S. 16). Wenn z. B. Ellen am
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Anfang von Aichingers Roman die Unmöglichkeit, ein dringend benötigtes Visum beim Konsul zu bekommen, dadurch aufzuheben versucht, dass sie sich selbst eines malt, welches der Konsul nur noch zu unterschreiben braucht (vgl. GrH 1991, S. 17f.), dann erweist sie sich dadurch als ein wirklicher ›Möglichkeitsmensch‹ (vgl. GW 1/ MoE, S. 16), der erstarrte Verhältnisse durch ungewöhnliche Vorschläge in Bewegung zu bringen versucht. Geht man weiter zu Aichingers erstmals 1949 veröffentlichter »Spiegelgeschichte« (vgl. Ge 1991, S. 63 – 74), so breitet sich diese zwar nicht – wie Musils fragmentarisch gebliebener Roman – in einer nahezu unendlichen Fläche aus, da sie klar abgegrenzt ist und nur wenige Seiten umfasst, aber bricht doch insoweit mit dem von Musil sogenannten »primitiv Epische[n]« (GW 2/MoE, S. 650), als sie die Lebensgeschichte einer Frau, die durch eine Abtreibung stirbt, rückwärts, genauer gesagt in »gegenchronologischen Stufen« erzählt (Markus 2020, S. 43), also von ihrem Tod her. Diese Umkehr der Chronologie bedeutet in Hinsicht auf damalige nachkriegszeitliche Literaturkonzepte – wie sie z. B. von der einflussreichen Literaturvereinigung der Gruppe 47 vertreten wurden, die bis in die 1950er Jahre hinein ein schlicht-realistisches Literaturverständnis hat – eine für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der Gruppe dringend benötigten Innovationsschub. Deshalb erhält Aichinger bei der Gruppen-Tagung in Niendorf an der Ostsee 1952 den Literaturpreis der Gruppe für ihre »Spiegelgeschichte«, der sie »nahezu schlagartig berühmt« macht – »vier Jahre nach der Veröffentlichung ihres Debütromans Die größere Hoffnung, der weitgehend ohne Resonanz geblieben war« (Herrmann/Thums 2001, S. 9). Die weitaus komplexere Struktur ihrer »Spiegelgeschichte«, die sich nicht in einer einfachen Umkehrung der Chronologie erschöpft und auch in Hinsicht auf eine Auseinandersetzung mit der Shoah gelesen werden kann, wird erst in gegenwärtigen Forschungsarbeiten aufgezeigt (vgl. z. B. Meiser 2017 und Markus 2020) und wurde so damals sicherlich nicht von den Gruppenmitgliedern durchschaut. 2. Bruch mit der Konventionalität Neben der Überwindung des chronologischen Erzählens sieht Aichinger in Musil weiter einen Schriftsteller, der mit der Konventionalität der Sprache gebrochen habe. So sagt sie über zeitgenössische Schriftsteller, dass »[i]hre Sprache (…) viel zu konventionell und zu beliebig [ist] ; es ist, als hätte Musil nie existiert« (Interviews 2011, S. 108). Ein herausragendes Beispiel für die Unkonventionalität der Musil’schen Sprache ist seine intensive Verwendung von sprachlichen Bildern, Vergleichen, Gleichnissen,
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Analogien etc., in denen er überhaupt die »Hauptmittel (…) des dichterischen Denkens« (GW 9, S. 1679) sieht (vgl. dazu u. a. Mülder-Bach 2016). Aichinger benutzt in einer langen Phase ihres Lebens, die man auf die Zeit zwischen 1947 (nach dem Erscheinen ihres Romans Die größere Hoffnung) und 1987 (dem Erscheinen ihres Erinnerungsbandes Kleist, Moos, Fasane) datieren kann, eine schwer entschlüsselbare und »vom Autobiographischen abstrahierende Bildsprache« (Thums 2013, S. 189), für die die Literaturwissenschaft im Grunde bis heute noch keine erhellende Beschreibungssprache gefunden hat. Aichinger selbst schlägt für die Rezeption ihrer Texte ein Verfahren vor, welches in seinem Verzicht auf das (chronologische) Lesen sehr einem Rezeptionsvorschlag Musils ähnelt : So sagt sie, dass man ihre Texte »betrachten muß, wie einen Meditationsstoff« (Aichinger, zit. Kaindl 2007, S. 50), was Musils Bemerkung über seinen Novellenband Vereinigungen nahekommt, man solle »zwischen Glasplatten ein paar Seiten davon ausbreiten u[nd] sie von Zeit zu Zeit wechseln« (Musil 21983, S. 347). 3. Genauigkeit Genauigkeit ist für Musil, der seinen Helden Ulrich im Mann ohne Eigenschaften den allerdings ganz »unsinnigen Versuch« (GW 2/MoE, S. 596) unternehmen lässt, »ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« vorzuschlagen (ebd., S. 597), ein hohes Ideal, gerade in den vagen, seelischen Fragen. Für Aichinger ist Exaktheit und Genauigkeit der Sprache, die Stimmigkeit der Sätze oberstes Kriterium der Literatur ; nahezu zahllos sind ihre Äußerungen dazu, z. B.: »[A]uf die Genauigkeit des Berichtes kommt es an, auf die Präzision in der Sprache« (Interviews 2011, S. 87). Ungenauigkeiten in der Sprache wirft sie z. B. ihrer zeitweiligen engen Freundin Ingeborg Bachmann vor, deren Titelwort für ihr großes nachgelassenes Romanprojekt »Todesarten« (vgl. Bachmann 1995) Aichinger ablehnt, da es diese nicht gebe, sondern nur »Sterbensarten. (…) Der Tod hat keine Art. Der Tod ist autark, läßt sich nicht zu leicht deklinieren« (UR 2005, S. 107). Beispiele für Genauigkeit sind für Aichinger z. B. Kafkas Roman Das Schloß, in dem die Sätze »stimmen«, wie auch die Romane ihres Lieblingsschriftstellers Joseph Conrad (vgl. ebd., S. 183). Genauigkeit bedeutet für sie weiter, »kleine Dinge (…), Details, Punkte« zu beobachten (Interviews 2011, S. 117). Genau dies hat vor ihr Musil unternommen, wenn er in seinem Nachlaß zu Lebzeiten (1936) einige, wie er es nennt, »Bilder« einfügt (GW 7, S. 476 – 500), die anhand kleiner, unscheinbarer Dinge, wie z. B. dem »Fliegenpapier Tangel-foot« (ebd., S. 476)
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oder auch anhand von Tieren (wie Affen, Fischen, Pferden, Schafen, Hasen, Mäusen), nicht nur »die Grenzen der Beschreibbarkeit [und] auch (…) der Wahrnehmung« erkunden (Müller 2016, S. 401), sondern in denen vor allem auch ganz grundsätzliche Fragen, wie z. B. die nach dem Verhältnis von Zivilisation und Barbarei, verhandelt werden. Dies wird auch an seiner »Hasenkatastrophe« deutlich (GW 7, S. 486 – 488), wo der Schoßhund einer vornehmen Dame ein »Hasenkind« verfolgt und grausam tötet (ebd., S. 487). Eine Anknüpfung daran mag man – darauf hat zuerst Andreas Dittrich hingewiesen (s. S. 271 in diesem Band) – in den Hasen bei Aichinger erkennen, vor allem in ihrer kurzen Erzählung »Port Sing« (EE 1991, S. 128 – 136), in der Vivian Liska im Zusammenhang mit dem Gejagtwerden und der Verfolgung eine jüdische Thematik auffindet (vgl. Liska 22021, S. 128 – 131). 4. Schweigen/Nicht-Schreiben Als radikalste Form der Sprachskepsis steht bei Aichinger das Schweigen, in dem sie zunächst eine »Gefahr« sieht, wenn sie 1952 schreibt : So liegt auch heute für den Erzählenden die Gefahr nicht mehr darin, weitschweifig zu werden, sie liegt eher darin, daß er angesichts der Bedrohung und unter dem Eindruck des Endes den Mund nicht mehr aufbringt. (Ge 1991, S. 9)
In späteren Zeiten bewertet sie allerdings das Nicht-Schreiben bzw. das Schweigen wesentlich positiver, sieht sie darin doch sogar die wesentliche Tätigkeit des Schriftstellers. So sagt sie, »dass der schwierige Teil dieses Berufes das Nicht-Schreiben ist« (Interview 2011, S. 108) oder sie äußert den Wunsch : »Ich möchte schweigsam werden« (KMF 1991, S. 62). In Aichingers Leben gibt es einen langen Zeitabschnitt, in dem sie sehr wenig oder nur, wie man ihr vorwirft, manieristisch-esoterisch schreibt, der von den 1970er Jahren bis Mitte der 1990er Jahre reicht ; danach setzt ihr produktives »Spätwerk« ein (Fässler 2007, S. 91). In Musils Schreibbiographie sind immer wieder Phasen der Arbeitshemmungen, ja der vollständigen Schreibblockade zu finden, bei der er »tagelang rauchend um seinen mit einer Decke verhängten Schreibtisch herumgegangen« sei (Corino 22005, S. 968). Musil unterzieht sich sogar zur Lösung seiner Schreibprobleme einer individualpsychologischen Behandlung. Anders als Aichinger kann er dem Nicht-Schreiben also nichts Positives abgewinnen, sondern sieht darin lediglich einen zu überwindenden psychischen Defekt.
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Bei allen hier aufgelisteten Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten zwischen Aichinger und Musil sind doch die Unterschiede zwischen ihnen unübersehbar : Aichingers Schreiben ist weitaus radikaler und moderner als Musils ; ihre Texte verabschieden sich streckenweise ganz von einem mimetisch orientierten Erzählen bzw. einer die Sprache steuernden Erzählinstanz, die Musil grundsätzlich nicht aufgibt. Aichinger ist natürlich von Entwicklungen und Strömungen betroffen, die erst nach Musils Tod in der Nachkriegszeit einsetzen, wie Existenzialismus, Surrealismus, Sprachexperimente (wie in der Konkreten Poesie), oder auch, in ihren späteren Jahren, die Intensivierung des Shoah-Diskurses, die sie vielleicht dazu gebracht hat, wieder (nach ihrem Erstlingsroman) auf dieses – ihr vielleicht ursprünglichstes und eigentliches – Thema zurückzukommen, nämlich auf die Verfolgung und Bedrohung des Menschen in der Welt, die sich in der Nazizeit konkretisiert. Die Erfahrung dieser grundsätzlichen Bedrohung macht für Aichinger das Wesen des Dichterischen aus : Dichter fühlen sich auf der Welt gewöhnlich nicht so sehr zu Hause. Sonst würden sie nicht dichten. Der Mensch umgibt sich gewöhnlich mit vier Wänden, macht sich kleine Wohnungen aus einer geistigen Sicherheit, die nicht existiert, und merkt nicht, dass er ungeheuer bedroht ist (Interviews 2001, S. 78).
Genau diese Erfahrung liegt auch dem dichterischen Verständnis Musils zugrunde, der dem Dichter die Fähigkeit zuspricht, dasjenige wahrzunehmen, was die meisten anderen Menschen ignorieren, nämlich das »lautlose Lodern der Welt um die vier Wände« (GW 1/MoE, S. 188). Literatur Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (Ge 1991) : Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948 – 1952). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (GrH 1991) : Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (St 2006) : Subtexte. Wien.
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Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. (IB/IA/GE Briefe 2021) : »[…] halten wir einander fest und halten wir alles fest !« Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich. Briefe. Hg. Irene Fußl und Roland Berbig. Mit einem Vorwort von Hans Höller. Frankfurt/M. Bachmann, Ingeborg (1995) : »Todesarten«-Projekt. Kritische Ausgabe. Unter Leitung von Robert Pichl, hg. v. Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München u. a. Corino, Karl (22005) : Robert Musil. Eine Biographie. Hamburg. Erdle, Birgit/Pelz, Annegret (22021) : Vorwort, in : Dies. (Hgg.), Ilse Aichinger. Wörterbuch. Göttingen, S. 8 – 17. Fässler, Simone (2001) : Die Sicht der Entfremdung. Über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel, in : Ilse Aichinger (FuV 2001), Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M., S. 51 – 78. Fässler, Simone (2007) : Erinnerung auf dem Sprung. »Film und Verhängnis« und »Unglaubwürdige Reisen« – Ilse Aichingers Spätwerk, in : Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 175 (Ilse Aichinger), S. 91 – 101. Herrmann, Britta/Thums, Barbara (Hg.) (2001) : »Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit«. Zum Werk Ilse Aichingers. Würzburg. Herrmann, Britta/Thums, Barbara (2001) : Einleitung, in : Dies. (Hgg.), »Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit«. Zum Werk Ilse Aichingers. Würzburg, S. 9 – 25. Kaindl, Klaus B. (2007) : Gegensätze ? Ilse Aichingers Hörspiele, in : Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 175 (Ilse Aichinger), S. 49 – 56. Komfort-Hein, Susanne (22021) : Augenblicke, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 33 – 36. Liska, Vivian (22021) : Hasen, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 128 – 131. Maeterlinck, Maurice (1898) : Der Schatz der Armen. Leipzig. Markus, Hannah (2020) : »Schnell, solang du noch tot bist.« Ilse Aichingers »Spiegelgeschichte«, in : Mona Körte (Hg.), Rückwärtsgänge. Retrogrades Erzählen in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Sonderheft Zeitschrift für deutsche Philologie 138, S. 43 – 63. Meiser, Katharina (2017) : Die Dimension ›Auschwitz‹ in Ilse Aichingers »Spiegelgeschichte«, in : Weimarer Beiträge 63.1, S. 44 – 58. Mülder-Bach, Inka (2016) : Gleichnis, in : Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hgg.), RobertMusil-Handbuch. Berlin/Boston, S. 751 – 759. Müller, Dominik (2016) : Feuilletons und kleine Prosa, in : Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hgg.), Robert-Musil-Handbuch. Berlin/Boston, S. 396 – 414. Müller, Heidy Margrit (Hg.) (1999) : Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Bielefeld. Musil, Robert (1930) : Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1. Berlin.
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Musil, Robert (81938) : Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1. Wien. Musil, Robert (21981) (GW 1 – 9) : Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg (bei Zitaten aus dem Mann ohne Eigenschaften zusätzlich die Angabe MoE). Musil, Robert (21983) : Tagebücher. Hg. Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg. Prammer, Theresia (22021) : Entsetzt … der Sinn, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 85 – 89. Ratmann, Annette (2001) : Spiegelungen, ein Tanz. Untersuchungen zur Prosa und Lyrik Ilse Aichingers. Würzburg. Reichensperger, Richard (22003) : Die Bergung der Opfer in der Sprache. Über Ilse Aichinger – Leben und Werk (1991), in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Frankfurt/M., S. 83 – 97. Reichensperger, Richard (2007) : Ilse Aichingers frühe Dekonstruktionen, in : Klaus Kastberger/ Kurt Neumann (Hgg.), Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Erste Lieferung. Wien, S. 11 – 17. Schafroth, Heinz F. (22003) : Gespräche mit Ilse Aichinger (1972), in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Frankfurt/M., S. 31 – 35. Skácel, Jan (1993) : Das elfte weiße Pferd. Klagenfurt/Salzburg. Schmid-Bortenschlager, Sigrid (2001) : Die Topographie Ilse Aichingers, in : Britta Herrmann/ Barbara Thums (Hgg.), »Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit«. Zum Werk Ilse Aichingers. Würzburg, S. 179 – 188. Thums, Barbara (2000) : »Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede«. Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers. Freiburg i. Brsg. Thums, Barbara (2013) : Zumutungen, Ent-Ortungen, Grenzen. Ilse Aichingers Poetik des Exils, in : Doerte Bischoff/Susanne Komfort-Hein (Hgg.), Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin/Boston, S. 183 – 209. Wagner-Egelhaaf, Martina (2016) : Mystik, in : Birgit Nübel/Norbert Christian Wolf (Hgg.), Robert-Musil-Handbuch. Berlin/Boston, S. 705 – 710. Zeller, Rosmarie (1981) : Zur Modernität von Musils Erzählweise am Beispiel der Novellen »Vereinigungen« und »Drei Frauen«, in : Musil-Forum 7, S. 75 – 84.
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Yukiko Sugiyama
»Wir wollten Ihnen danken.« Ilse Aichingers Antwort auf Stefan Zweigs Abschiedsbrief Einleitung : Die junge Ilse Aichinger schreibt an Stefan Zweig Der 1881 in Wien geborene jüdische Schriftsteller Stefan Zweig genoss bis Anfang der 1930er Jahre große Popularität. Seine Werke wurden dann jedoch durch das NSRegime verboten. Er selbst emigrierte 1934 von Salzburg nach London und von dort nach Brasilien, wo er sich schließlich 1942 das Leben nahm. Der Tod des Schriftstellers, der im Exil ein Leben unter relativ guten Konditionen zu führen schien, wurde von anderen Exilanten mit Schrecken und teilweise auch mit Verärgerung aufgenommen. Schon zu seinen Lebzeiten war Zweig wegen seiner passiven Haltung gegenüber den faschistischen Regierungen kritisiert worden. Er war zwar Pazifist, aber niemals politisch engagiert ; vielmehr wollte er sich ins Innere zurückziehen und seine persönliche Freiheit verteidigen. Jene Exilanten, welche öffentlich gegen den Nationalsozialismus kämpften und sich nicht vor politischen Aktivitäten scheuten, sahen in seinem Freitod folglich lediglich den Verzicht auf Widerstand und die Flucht vor der Realität. Als Stefan Zweig mit 60 Jahren in Brasilien aus dem Leben schied, war Ilse Aichinger gerade einmal 20 Jahre alt und lebte in Wien, in beständiger Angst vor der Verfolgung durch die Nazis. Beide kannten einander nicht. Auch die späteren Werke Aichingers haben nicht viel mit dem literarischen Stil Zweigs gemeinsam. Die Verbindung zwischen ihnen erscheint daher nicht besonders stark. Doch 1946, als sie erstmals zu publizieren beginnt, widmet Aichinger dem viel älteren jüdischen Kollegen einen emphatischen Text. Der Zeitungsbeitrag mit dem Titel »Bitte, Stefan Zweig !« ist eine dankbare Botschaft an den großen Dichter, an den sie sich gleich nach dem Ende der schwierigen Zeit des Kriegs und der Verfolgungen wendet. Der vorliegende Aufsatz versucht, vornehmlich anhand eben dieses Texts, die Beziehung der jungen Ilse Aichinger zu Stefan Zweig zu beleuchten und die Bedeutung ihrer Lektüre im Kontext der Zweig-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg zu evaluieren.
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»Wir wollten Ihnen danken.«
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1. Begegnung mit Stefan Zweig 1.1 Der verbotene Dichter In »Bitte, Stefan Zweig !« erzählt Aichinger davon, wie sie während des Krieges dem verbotenen Autor Stefan Zweig ›begegnete‹. Es bleibt freilich unsicher, ob sie tatsächlich in der hier geschilderten Weise Bekanntschaft mit den Werken Zweigs machte. Der episodisch ausgestaltete Rückblick zeigt vielmehr, wie Aichinger ihr Verhältnis zu Stefan Zweig im Nachhinein darstellt. Aichinger benutzt in ihrem Artikel die erste Person Plural, während ich hier zunächst die Autorin als singulär hervortretende Stimme verstehen möchte. Die Bedeutung des »Wir« wird dann erst im zweiten Teil meiner Analyse reflektiert. Aichinger blickt auf ihre erste Begegnung mit den Büchern von Stefan Zweig in folgender Weise zurück : Sie habe »zu Beginn des Kriegs« in einer »kleinen, alten Leihbibliothek« stattgefunden (AuzMi 2021, S. 16). Aichinger will Zweigs Buch zuerst neben E. Wallace und F. M. Dostojewski in die Hand genommen haben, »weil es verboten war« (ebd.). »Bitte – Stefan Zweig !« lautete der Satz, mit dem sie beim Bibliothekar um Zweigs Bücher gebeten habe. Im Dritten Reich hätte man den jüdischen Schriftsteller »längst verbrennen müssen«, aber seine Bücher seien dennoch erhältlich geblieben. Damit wird bereits angedeutet, dass Aichinger diesen ›verbrannten Autor‹ für »doch nicht verbrannt« halten will – d. h., dass sein Werk über die Verfolgung hinaus immer noch lebt und leben wird. In der Tat offenbart sich das Wesentliche an ihrem Zweig-Verständnis darin – wie im Folgenden gezeigt werden soll –, dass sie ihn nicht als einen Dichter der Vergangenheit, sondern als einen für die Zukunft wegweisenden Autor zu betrachten versucht. Die im Essay genannten Werke Zweigs, Joseph Fouché (1929), Marie Antoinette (1932) und Maria Stuart (1935) – in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung –, sind biographische Romane über historische Personen, die auf den ersten Blick keinen besonderen Bezug zur Lage Aichingers in den damaligen Tagen erkennen lassen. Jedenfalls handeln sie weder von aktuellen politischen Themen noch vom Schicksal der Verfolgten oder Exilierten – wenngleich die Biographie Maria Stuarts im Exil in London verfasst und in Wien beim Reichner Verlag und nicht mehr beim Leipziger Insel-Verlag veröffentlicht wurde. Zweig musste nämlich die langjährige Verbindung mit dem Insel Verlag beenden, nachdem er mit dessen Geschäftsführer Anton Kippenberg Unannehmlichkeiten wegen dessen Beziehungen zum Nationalsozialismus bekommen hatte. Danach publizierte Zweig einige neue Bücher, darunter Maria Stuart, sowie mehrere frühere Werke beim Reichner Verlag. So ist es denkbar, dass nicht nur Maria Stuart, sondern ebenso Fouché und Marie Antoinette, die Aichinger gelesen haben soll, ihr in dieser Wiener Edition vorlagen.
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Unter den beim Reichner Verlag publizierten Büchern gibt es zudem einige, die eine noch aktuellere Thematik aufweisen, z. B. Sternstunden der Menschheit oder Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, die Aichinger jedoch nicht erwähnt. Wir wissen nicht, ob sie diese Werke während der Kriegszeit gekannt oder gelesen hat. Hier möchte ich mich auf die Tatsache konzentrieren, dass Aichinger die scheinbar unpolitischen, eher unterhaltsamen Werke, die Biographien über Fouché und die Königinnen, als die für sie entscheidenden darzustellen versucht. Der verbotene Schriftsteller wird für sie »der Gebotene«, und seine Werke bedeuten nun »die schwer erkämpfte Reife« (ebd.). Für sie, die sich am Anfang des Essays selbst als eines der »verzweifelten Kinder« (ebd.) bezeichnet, bedeutet die Zweig-Lektüre also die Reife, das Erwachsenwerden. 1.2 Der Abschiedsbrief Die Werke Stefan Zweigs allein wären allerdings kein ausreichender Grund für Aichinger gewesen, um einen solch leidenschaftlichen offenen Dankesbrief an den Schriftsteller zu richten. Was ihn für sie so besonders macht, ist sein Freitod. Ihre Beziehung zu Zweig wird rückblickend durch die Tatsache interpretiert, dass sich der Autor 1942, also wahrscheinlich gerade zu jener Zeit, in welcher sie seine Werke las, das Leben nahm. Diese Tatsache und deren emotionale Auswirkung bedingen eine ganz persönliche Haltung gegenüber Stefan Zweig. Aichinger spricht den Dichter direkt an. Sie formuliert nämlich den Text als eine Antwort auf seinen Abschiedsbrief : »Es bleibt ungewiß, ob Sie diese Antwort wünschten« (ebd.), so beginnt sie. Zweigs Testament, Declaração genannt, wurde mit der Nachricht seines Todes in den Medien verschiedener Länder publiziert (Zweig 2005, S. 345). Aichinger selbst hat von Zweigs Freitod wohl erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges erfahren und auch erst dann seinen letzten Brief gelesen. Eben daraufhin schreibt sie nun eine Antwort : In einem Brief, der seinen Adressaten niemals erreichen wird, redet sie den großen Dichter an, den sie in der Realität niemals kennengelernt hat : »Wir wollten einen dicken Brief schreiben, aber Sie haben nicht darauf gewartet. Sie sind weggegangen und haben keine Adresse hinterlassen« (AuzMi 2021, S. 17f.). Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Aichinger beim Verfassen des Essays tatsächlich Zweigs ›Brief‹ bei sich hatte. Mehrere Stellen referieren auf diesen Abschiedsbrief, was auch manche Leser ihrer Zeit sehr wohl bemerkt haben dürften. Im Folgenden werden die Stellen, an denen Aichinger die Ausdrücke im Abschiedsbrief Zweigs zitiert, mit dem ursprünglichen Wortlaut Zweigs verglichen.
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»Wir wollten Ihnen danken.«
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Diese Antwort aus Nebel und Wehen und zitternder Morgenröte, der Sie entflohen sind in ein besseres Licht. (AuzMi 2021, S. 16) […] die wir hier mit von Tränen, Staub und Pulverdampf entzündeten Augen die Morgenröte sehen. (Ebd., S. 16) Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht ! (Zweig 2005, S. 345) […] unsere Herzen aber zogen mit Ihnen Jahrhunderte zurück und fanden im Schoß der Zeiten das Unvergängliche : Haltung (AuzMi 2021, S. 17). Statt dessen das Beispiel Ihrer Haltung bis zuletzt […] (Ebd., S. 18) So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen. (Zweig 2005, S. 345) Wir wollten Ihnen sagen, wie sehr Sie in der Selbstvernichtung Europas geistige Heimat geblieben sind. (AuzMi 2021, S. 17) […] nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. (Zweig 2005, S. 345) […] als Ihr Heimweh und Ihre Erschöpfung den Höhepunkt erreicht hatten, Kraft und Heimat wurden in unseren Herzen ! (AuzMi 2021, S. 17) Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. (Zweig 2005, S. 345) Sie grüßen Ihre Freunde. […] Vielleicht meinen Sie auch uns, Ihre jüngsten, unbekanntesten und dankbarsten Freunde. (AuzMi 2021, S. 18) Ich grüße alle meine Freunde ! (Zweig 2005, S. 345)
Aichinger will an jeder dieser Stellen Zweigs letzte Worte als eine ganz persönlich an sie gerichtete Botschaft verstehen. Wie sie diesen Artikel als eine Antwort auf den Abschiedsbrief Zweigs schreibt, so stellt sie durch die Zitate ihr eigenes Überleben fast als eine Antwort auf Zweigs Tod dar. Während sie an seine Verzweiflung angesichts
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der Zerstörung Europas und seiner eigenen Heimatlosigkeit denkt, versichert sie, dass seine Werke für sie zu einer Quelle der Kraft geworden seien, um gerade diese Zerstörung und Heimatlosigkeit selbst zu überstehen. Sie bezeichnet sich selbst als einen der »Freunde«, die Zweig am Ende seines Lebens »grüßte«, zumal sie sich dazu bereit erklärt, seine Ideen in der Zukunft fortzuführen. So will sie den Namen Zweigs nicht mehr heimlich, wie es am Ende heißt, sondern »stolz und deutlich« (AuzMi 2021, S. 18) aussprechen, und zwar als Bekenntnis zum Menschlichen. Sie erklärt damit, dass dieser Name keinen Humanisten der Vergangenheit, sondern einen Wegweiser der erneuerten Humanität für die kommende Zeit bezeichnet. 2. »Haltung« als Widerstand 2.1 Die hingerichteten Königinnen Der wichtigste der aus dem Abschiedsbrief zitierten Begriffe ist »Haltung«. Aichinger schildert, wie die Romane Zweigs, u. a. das Bild der zwei Königinnen, die Leserin »gestalteten« (ebd., S. 17). »Haltung« ist das entscheidende Charakteristikum der beiden Königinnen angesichts ihrer Hinrichtung. Zu diesem Kontext passt Joseph Fouché weniger gut als die anderen Romane. (Dass Aichinger trotz dieser Abweichung auch Fouché erwähnt, lässt die Vermutung zu, dass sie damals tatsächlich gerade diese drei Werke, und nicht andere, gelesen hat.) Jedenfalls benutzt Zweig in den anderen beiden Biographien tatsächlich das Wort »Haltung«, unter anderem in Bezug auf die Hinrichtung der Königinnen : Dulden, das sich in Trotz verwandelt, Leiden, das innen zur Kraft geworden ist, gibt dieser gequälten Gestalt eine neue und furchtbare Majestät. Selbst der Haß kann auf diesem Blatte die Hoheit nicht leugnen, mit der Marie Antoinette die Schmach des Schinderkarrens durch ihre großartige Haltung bezwingt. (Zweig 2007a, S. 553) Zweimal hatte sie selbst als junge Königin zusehen müssen, wie ein Edelmann unter dem Beil stirbt, also früh schon erfahren, daß das Grauen eines solchen unrettbaren unmenschlichen Aktes nur überwunden werden kann durch heroische Haltung. Die ganze Welt und die Nachwelt, Maria Stuart weiß es, werden ihre Haltung prüfen, wenn sie als die erste gesalbte Königin den Nacken über den Block beugt, jedes Zucken, jedes Zaudern, jedes feige Erblassen in dieser entscheidenden Minute wäre Verrat an ihrem königlichen Ruhm. So sammelt sie still in diesen Wochen des Wartens all ihre innere Kraft. Auf nichts im Leben hat sich die sonst impulsive Frau so ruhig und zielbewußt vorbereitet wie auf diese ihre letzte Stunde. (Zweig 2004, S. 445)
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Aichinger aber spricht dann von »Ihrer Haltung« und zielt damit auf Zweig selbst. Er habe statt seiner Adresse »das Beispiel Ihrer Haltung bis zuletzt« (AuzMi 2021, S. 18) hinterlassen. Wie das Zitat des Abschiedsbriefs oben zeigt, bezeichnet Zweig mit diesem Begriff der »Haltung« seinen Entschluss, »rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen« (Zweig 2005, S. 345). So ist es zu verstehen, dass »Haltung« vor allem die Todesbereitschaft impliziert – diesen entscheidenden Moment gelassen anzunehmen, behauptet Aichinger von Stefan Zweig gelernt zu haben. Oder genauer : Die Haltung der Königinnen in den Romanen erscheint in Anbetracht der letzten »Haltung« von Zweig selbst, über die sie erst nach dem Krieg in seinem Abschiedsbrief liest, in einem neuen Licht als etwas ganz Entscheidendes. Und diese Todesbereitschaft bedeutet für Aichinger gleichzeitig die »Reife«. Als sie »zu Beginn des Kriegs« anfing, Zweig zu lesen, befand sie sich am Ende ihres Teenageralters zwischen Kindsein und Erwachsensein. Im Bewusstsein der zunehmenden Lebensgefahr lernt sie von der »Haltung« der historischen Personen, sich nicht vor dem Tod zu fürchten und ihm aufrecht zu begegnen – und darin erkennt sie ihre Reife. Genau das habe sie niemand anderes als Zweig gelehrt, so erinnert sie sich : »[…] mitten im Taumel des Todes noch die Feinheiten und Chancen des Menschlichen zu beobachten, die vom Göttlichen zeugen« (AuzMi 2021, S. 17). Dieser Tod ist freilich kein bloßer Tod. Marie Antoinette und Maria Stuart werden als Königinnen beide von der damaligen Macht verurteilt und hingerichtet. Zweig sieht in ihrer Haltung einen Beweis für den Widerstand der Humanität, die sich der Gewalt nicht unterwerfen will. Joseph Fouché war zwar ein kalter »politischer« Mensch, doch am Ende greift er wieder auf den Glauben zurück, vernichtet die Dokumente, die andere gefährden könnten, und stirbt versöhnt mit der Welt (vgl. Zweig 2007b, S. 284f.). Alle drei sterben zwar als Besiegte, jedoch voller Stolz. Ihre Haltung ist der Kampf der Besiegten gegen die unmenschliche Gewalt. Stefan Zweig zeigte stets eine klare Neigung zu den »Besiegten« und thematisierte immer wieder solche Figuren, angefangen vom frühesten Drama Tersites (1907) bis hin zu den späteren Biographien. Und ihnen folgend, so wird auch Zweig selbst von der diktatorischen Macht aus der Heimat vertrieben und scheidet aus dem Leben, für das »die geistige Arbeit die lauterste Freude gewesen« sei (Zweig 2005, S. 345). Seine Haltung zum Tod spiegelt nichts weniger als den starken Willen wider, sich freiwillig für ein aufrechtes Ende zu entscheiden, um seine menschliche Würde zu verteidigen. Auch seine Haltung ist damit ein Beispiel für die Humanität und gegen die Unmenschlichkeit.
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2.2 Hans Scholls Zweig-Lektüre und die Haltung der Weißen Rose In diesem Sinne ist es sehr bedeutungsvoll, dass auch für Aichinger selbst die ZweigLektüre von Anfang an eine Art Widerstand bedeutet. Sie begegnet Zweig aus dem Verlangen nach dem »Verbotenen« heraus. In diesem Zusammenhang soll eine bemerkenswerte Übereinstimmung erwähnt werden : Einer ihrer Vorgänger nämlich, der verbotene Dichter, u. a. Zweig, als Zeichen des Widerstands gelesen und aufgenommen hat, heißt Hans Scholl. Eine persönliche Beziehung von Ilse Aichinger zu der Familie Scholl entwickelte sich erst einige Jahre nach Kriegsende durch Inge Scholl, die älteste Schwester der hingerichteten Geschwister Hans und Sophie. Es gibt also keine unmittelbare persönliche Verbindung zwischen Aichingers Zweig-Essay und den Geschwistern Scholl. Dennoch existiert eine Verbindung, die zufällig ist und doch mehr als ein Zufall sein könnte : Stefan Zweig war einer der Lieblingsdichter Hans Scholls (Scholl 1993, S. 16). In den 1930er Jahren wurde Hans Scholl verboten, Zweig und andere jüdische Autoren zu lesen, und gerade das schuf eine besondere Gelegenheit für ihn, den Nationalsozialismus skeptisch zu betrachten (ebd.). Noch während er zur Hitler-Jugend gehörte, leistete er sich mehrere »rebellische« Aktivitäten. Auch nach der kurzen Verhaftung 1937 wollte er nicht aufhören, verbotene Lieder zu singen oder Zeilen aus Stefan Zweigs Werken vorzulesen (Geyken 2014, S. 77). Für ihn hatte der Autor schon vor der Weißen Rose die symbolische Bedeutung des Widerstands. Aichinger erinnert sich in ihrem Essay »Nach der Weißen Rose« (1987) an den Tag, an dem sie von der Hinrichtung der Geschwister Scholl erfuhr, und schreibt : »Ich kannte keinen dieser Namen, aber ich weiß, daß von ihnen eine unüberbietbare Hoffnung auf mich übersprang« (KMF 1991, S. 32). Und tatsächlich, wie Christine Ivanovic ausgeführt hat (Ivanovic 2011, S. 3), hat Aichinger in ihrem Tagebuch am 21. März 1943 – wenige Wochen nach der Hinrichtung der Mitglieder der »Weißen Rose« – von der »Hoffnung« geschrieben, und zwar von der »größeren Hoffnung«. Ungeachtet des Umstandes, dass ihr damals keine konkreten Informationen über die Geschwister Scholl zugänglich waren, teilte sie schon zu dieser Zeit unwissend eines mit ihnen : den verbrannten Dichter Stefan Zweig als Zeichen des Protests zu lesen. Zwischen ihnen spinnt sich somit ein Faden des friedlichen Widerstands im Namen Stefan Zweigs. In einem weiteren Text über die »Weiße Rose«, »Die Geschwister Scholl« (1961), schildert Aichinger mit Bewunderung, dass sich die Geschwister Scholl und ihr Gefährte Christoph Probst aufrecht und tapfer dem Tod gegenüberstellten, sodass selbst der Scharfrichter von ihnen beeindruckt war (AuzMi 2021, S. 121f.). Es bleibt unklar, ob Hans Scholl von seinem Lieblingsautor Stefan Zweig ebenso die »Haltung« gelernt hatte – jedenfalls hält Aichinger die »Weiße Rose« für lobenswert, nicht nur wegen
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ihres politischen Widerstands, sondern ebenfalls wegen ihrer Haltung im Angesicht des Todes. Diese Idee prägt sie unverändert. Aichinger ist keine Aktivistin, wie Hans Scholl einer ist, doch ihr Widerstand anhand des verbotenen Dichters zeigt sich im Ort der Lektüre. Sie steckt die ausgeliehenen Bücher zuerst »unter unsere[…] Kopfpölster« (ebd., S. 16), danach liest sie die Bücher auf der Kaimauer, »im Schatten der Gestapo, die schwer und drohend den Kai beherrschte« (ebd.). Nicht heimlich, sondern vielmehr in hautnaher Gefahr wagt sie es, die verbotenen Bücher zu lesen, und zwar am tiefen, »schmutzig-grünen« Wasser – am Abgrund des Todes, auch im symbolischen Sinne. Nur so und nicht anders lernt sie die Haltung. »Wie sehr die ›Fackeln der Geschichte‹ auch in ihrem leisesten Flackern uns erwärmt und durchglüht und bewahrt haben, zu erstarren im Licht der deutschen Scheinwerfer, die unruhig und mißtrauisch über den Himmel strichen, um den Feind zu suchen. Sie fanden nicht in unsere Herzen. Sie konnten uns nicht entblößen, denn wir hatten Halt gefunden an den Sockeln der Geschichte, Halt an den bleibenden Maßstäben, Halt an den erbettelten Büchern aus der kleinen, alten Leihbibliothek !« (ebd., S. 17). Die Lehre der historischen Personen wird ihr zum »Halt«, zur menschlichen Stütze gegen den Hass der Deutschen. Dieser Halt wird, wie sie später definiert, nichts weniger als »Kraft und Heimat in unseren Herzen« (ebd.), die Heimat der Heimatlosen. Während Zweig selbst seine »geistige Heimat Europa« für verloren erklärt, will Aichinger diese gerade in ihm als eine neue Heimat wiederfinden. Auch hier liest man ihren klaren Willen, den Dichter Zweig nicht als vergangenheits-, sondern als zukunftsorientiert zu interpretieren ; und dies charakterisiert, wie wir später sehen werden, ihre Zweig-Lektüre per se. Ein weiterer Aspekt scheint hier bemerkenswert zu sein : Aichinger erwähnt die »deutsche[n] Scheinwerfer« und behauptet, diese hätten ihr Herz, ihr Inneres nicht erreichen können, weil sie in Zweigs Werken »Halt« gefunden habe. Man muss hierzu wissen, dass das wichtigste Motto Stefan Zweigs stets »die innere Freiheit« war und blieb, die er das ganze Leben unbedingt verteidigen wollte. In der Zeit der Diktatur bedeutete diese Freiheit für ihn die einzige Zufluchtsstätte und das Zeugnis der Humanität. Obwohl diese Idee in den Biographien über Fouché oder die Königinnen nicht unmittelbar thematisiert wird, stellt er in ihren Bildnissen doch immer wieder die Möglichkeit der geistigen Freiheit dar, die nur die Besiegten, die Verfolgten bezeugen können (Sugiyama 2016). Indem Aichinger sich an ihren Triumph über den deutschen Hass an der Kaimauer erinnert, bestätigt sie, bewusst oder unbewusst, die letzte und wesentlichste Idee Zweigs.
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2.3 Hotel Métropole : Über die Schachnovelle hinaus in die Zukunft Ein weiterer Bezugspunkt befindet sich wieder beim Donaukanal, an dem Aichinger »die Beine baumelnd« Zweig gelesen haben will. Zwischen der Wiener Marc-Aurel-Straße, in der Aichinger und ihre Mutter während der Kriegsjahre wohnten, und dem Donaukanal liegt der Morzinplatz. An diesem Platz stand das ehemalige Hotel Métropole, das 1938 von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und als GestapoLeitstelle benutzt wurde. Das einstige Luxushotel, dessen jüdische Besitzer enteignet worden waren, ist nichts weniger als der Schauplatz der letzten Novelle Stefan Zweigs, der Schachnovelle (1942). Zweig war der Ort auch dadurch vertraut, dass die Zentrale der Webwarenfabrik seines Vaters in unmittelbarer Nähe des Hotels lag. In seiner Novelle nutzt Zweig das Hotel als Symbol des von der nationalsozialistischen Gewalt beherrschten Wien und erzählt die düstere Geschichte eines Wiener Rechtsanwalts, der hier durch seelische Folter zerstört wird. Natürlich konnte Aichinger diese posthum publizierte Novelle bei Kriegsende noch nicht kennen. Es ist zudem unklar, ob sie das Werk bereits gelesen hatte, als sie 1946 ihren Essay verfasste. Doch wenn sie Gelegenheit hatte, diese Novelle kennenzulernen, musste sie sehr stark auf sie gewirkt haben. Es ist das Werk, das Zweig buchstäblich am Vorabend seines »aufrechten« Todes vollendet hat – Zweig schickte die Novelle am Tag vor seinem Selbstmord an seinen Verleger. So war das Hotel Métropole, neben dem Aichinger Tag und Nacht in Angst lebte, durch Zweigs Feder in seinen letzten Tagen in dieser Novelle verewigt worden. Dieses Hotel Métropole ist dann auch der Punkt, an dem Aichinger Stefan Zweig übertroffen hat. Zweig konnte angesichts der kaltblütigen Gewalt dieses Ortes, die er sich in der Ferne bloß vorstellte, nur den Ausweg in den freiwilligen Tod sehen. Aichinger dagegen überstand diese Gewalt, die buchstäblich ihr Nachbar war, um »die Morgenröte«, die für Zweig nicht mehr zu erleben war, noch zu erblicken. Gerade deshalb, so könnte man sagen, dankt sie ihm derart pathetisch. Während die Autorin Stefan Zweig stets mit »Sie« anredet, nennt sie sich konsequent »wir«. Einer der Gründe für diese Perspektivierung wird gegen Ende des Essays angedeutet. Sie will auf den Anruf Zweigs an »Freunde« im Namen eines »Wir« antworten, indem sie diesen Satz so versteht, dass Zweig damit »auch uns meinte«. Wen umfasst aber dieses »Wir« ? Freilich nicht bloß die jüngere Generation. Es sind die überlebenden Kinder, die unter der von den Erwachsenen hervorgebrachten Terrorherrschaft gelitten haben ; es sind die Verfolgten, die die Nacht überstanden und die Morgenröte sehen durften ; und es sind die Nachfolger Stefan Zweigs, die seinen Willen zum Widerstand, seinen Wunsch zur Menschlichkeit zu übernehmen bereit sind. Wenn Aichinger sich in dieser Weise zu einer Verpflichtung gegenüber Zweig bekennt, ruft sie gleichzeitig die Op-
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ferkinder, die im Österreich der Nachkriegszeit keine richtige Anerkennung erhalten, als »Freunde von Stefan Zweig« zur Solidarität auf. 3. Eine neue Perspektive in der Zweig-Rezeption Abschließend soll die Einzigartigkeit der Sicht Aichingers auf Stefan Zweig im Kontext der Zweig-Rezeption der Nachkriegszeit betont werden. Aichinger versteht Zweig als einen stillen »Freund« derer, die Widerstand geleistet haben, was in der deutschsprachigen Welt ziemlich einzigartig ist. Schon die meisten seiner Zeitgenossen – Thomas Mann, Carl Zuckmayer oder Hannah Arendt – hielten seinen Freitod für einen Akt der Feigheit ; sein Entschluss erschien in ihren Augen bloß als die verzweifelte Flucht aus der Wirklichkeit in den Tod. Und als nach dem Krieg seine Texte wieder in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien zu erscheinen beginnen, behandelt man ihn nicht selten, besonders in Österreich, als einen »Dichter der Welt von Gestern« (Sugiyama 2022, S. 1f.). Man sieht in Zweig viel weniger einen Exildichter als einen nostalgischen Vertreter des Habsburgerreiches. In dieser Weise benutzt man Stefan Zweig, einen Exilanten und ein Opfer des Nationalsozialismus, einen »verbrannten« Dichter, ironischerweise oft als eine Art Stütze zur Wiederherstellung der österreichischen Nationalidentität. Merkwürdigerweise ist eine solche Neigung nicht nur bei Konservativen, sondern gleichermaßen bei den aus dem Exil Zurückgekehrten zu bemerken (Sugiyama 2022, S. 4 – 6). Doch Aichingers Blickwinkel ist völlig anders : Ihr Stefan Zweig ist, wie oben dargelegt, nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft hin ausgerichtet. Für Aichinger ist er ein Freund der jungen Opfer, Heimat der Heimatlosen und Wegweiser des kommenden Humanismus. Eine solche Perspektive auf den Dichter ist im damaligen Österreich, und teilweise noch bis heute, einzigartig und sehr bemerkenswert. Später sollte Aichinger zwar als Dichterin in ihrem Stil der Spur Zweigs nicht mehr folgen, aber der Umstand, dass sie am Anfang ihrer Karriere in Zweig einen »Freund« gefunden zu haben glaubte, wodurch sie ihre Erlebnisse während des Kriegs in einem neuen Licht zu sehen begann, bedeutete für sie bestimmt eine große Ermutigung. Aus der Sicht der Zweig-Forschung sollte auch ihre Interpretation stärker berücksichtigt werden. Denn sie erfasst eine wesentliche Seite des Schriftstellers, die die ZweigRezeption der Nachkriegszeit oftmals übersehen hat : seine »Haltung« bis zuletzt als Widerstand der Besiegten im Geiste der Humanität.
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Literatur Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Geyken, Frauke (2014) : Wir standen nicht abseits. Frauen im Widerstand gegen Hitler. München. Ivanovic, Christine (2011) : Ilse Aichinger in Ulm. Spuren 93. Marbach. Scholl, Inge (1993) : Die Weiße Rose. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt/M. Sugiyama, Yukiko (2016) : Die Entwicklung der Idee der »inneren Freiheit« bei Stefan Zweig. Dissertation. Universität Salzburg. Sugiyama, Yukiko (2022) : Stefan-Zweig-Rezeption in Österreich nach 1945. Von einer Persona non grata zum Dichter der Welt von Gestern, in : Beiträge zur österreichischen Literatur 38, S. 1 – 13. Zweig, Stefan (2004) : Maria Stuart. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. Knut Beck. Frankfurt/M. Zweig, Stefan (2005) : Briefe 1932 – 1942. Hgg. Knut Beck/Jeffrey B. Berlin/Natascha Weschenbach-Feggeler. Frankfurt/M. Zweig, Stefan (2007a) : Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. Knut Beck. Frankfurt/M. Zweig, Stefan (2007b) : Joseph Fouché. Bildnis eines politischen Menschen. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. Knut Beck. Frankfurt/M.
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»Wir ziehen nun am selben Karren.« Ilse Aichinger und ihr Vater, der Schriftsteller Ludwig Aichinger Meine liebe Ilse ! Wir ziehen nun am selben Karren. Bloß die Ladung ist verschieden. Dein dramatisches Fahrzeug birgt Edelware, meines nur leichten Unterhaltungsstoff. Ich schreibe augenblicklich an einem ländlichen Lustspiel »Die Richtige« und einer bäuerlichen Posse »Wer ist der Vater ?« Du steigst in olympischen Höhen herum, ich bewege mich im Flachland des kleinen Alltags. Eine Erschwernis ist die drängende Eile des Schaffens, denn die beiden Stücke sollen bis zum Spätherbst fertig sein, weil bereits fünf spielfreudige ländliche Bühnen darauf warten. Schreibe mir bald und schreibe mir viel ! Auf Euer Kommen freue ich mich jeden Tag mehr ! Viele liebe Küsse ! Dein Bauerndichter Papschi
Diesen enthusiastischen Gruß sendet Ilse Aichingers Vater, der »Heimatforscher, Theaterkritiker, Schriftsteller« Ludwig Aichinger, wie er sich zur selben Zeit an anderem Ort beschrieben hat, am 9. Juli 1948 an seine Tochter Ilse, die er am 25. August 1948 zusammen mit ihrer Mutter in Grein im Strudengau treffen will (vgl. die Abbildung des Dokuments in : Ivanovic 2022, S. 101). Die mit der Schreibmaschine auf die Rückseite einer Ansichtskarte aus Grein getippte Botschaft beginnt mit einem sprechenden Bild : »Wir ziehen nun am selben Karren.« Offensichtlich meint der Vater die österreichische Literatur, zu der sie und er nach Kriegsende so Unterschiedliches beitragen. Dabei gerät schon das erste Bild gehörig in die Schieflage. Ludwig Aichinger kann sich nicht zwischen den Idiomen »Wir ziehen am selben Strang« und »Wir ziehen den Karren (aus dem Dreck)« entscheiden. Das so humorig imaginierte Autorengespann entstammt einem Wunschdenken, dessen Abgründigkeit ihm durchaus bewusst ist. Ganz klar vermag er den ›Wert‹ der Ware, um die es hier geht, zu unterscheiden – oder auch wieder nicht. Denn wenn er den eigenen »leichten Unterhaltungsstoff«, mit dem er sich »im Flachland des kleinen Alltags« bewegt, selbstironisch von den »olympischen Höhen« abgrenzt, in der die Tochter ›herumsteigt‹, reproduziert er von der alpenländischen Rhetorik bis zur antiken Mythologie bildungsbürgerliche Klischees, die den wahren Beweggrund von Ilse Aichingers »dramatische[m] Fahrzeug« mehr oder weniger ungeschickt übermalen. Weder sind die Metaphern stimmig (›drama-
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tisch‹ passt nicht zu Fahrzeug und Fahrzeug nicht zu ›klettern‹), noch passen sie zu dem bezeichneten Gegenstand, Aichingers erst wenige Monate zuvor erschienenem Roman Die größere Hoffnung. So ›dramatisch‹ die Ereignisse und Erlebnisse auch gewesen sein mögen, die Ilse Aichingers Roman zugrunde liegen, verfehlt der Begriff doch Form wie Gehalt dessen, was sie in ihrem Buch gestaltet. Hingegen wirken die Titel der von Ludwig Aichinger projektierten Lustspiele im vorliegenden Kontext auf komische Weise aufschlussreich : »Die Richtige« und »Wer ist der Vater ?« Sind es ganz und gar ausgedachte Titel ? Belegt sind sie unter seinen Werken jedenfalls nicht. Letztlich schwingt in diesen wenigen Zeilen zusammen mit dem Stolz und der aufrichtig empfundenen Freude über die Leistung der Tochter auch eine tiefe Verunsicherung mit – und gleichzeitig die nach Kriegsende trotz dieser Leistung ungetrübte Bereitschaft, Bildungsgut zur Stütze einer naiv-beschönigenden Weltauffassung einzusetzen. Wer war der Vater ? Der Schriftsteller Ludwig Aichinger (1882 – 1957) Im Biographischen Archiv von Oberösterreich hat sich ein Personenblatt von Ludwig Aichinger aus eben diesem Jahr 1948 erhalten, aus dem auch die zitierte Postkarte stammt. Es ist ein vorgedrucktes Formular, in das er als seine Profession »Heimatforscher, Theaterkritiker, Schriftsteller« eintrug und auf dem er genaue Angaben zu seiner Herkunft und seinem Werdegang machte (siehe die Reproduktion in : Ivanovic 2022, S. 38 – 41). Ludwig Aichinger wurde in Linz geboren und absolvierte hier auch seine schulische und berufliche Ausbildung. Schon 1903, im Alter von 21 Jahren, erhielt er die Lehrbefähigung für Volksschulen, vier Jahre später für Bürgerschulen. 1929 (im selben Jahr, in dem seine Frau Linz endgültig verlassen hatte ; die Zwillinge waren schon 1927 nach Wien übersiedelt) erreichte er eine gesundheitsbedingte Frühpensionierung. Ab den 1930er Jahren lebte er in Pensionen an verschiedenen kleineren Orten im Mühlviertel, bevor er Anfang der 1950er Jahre nach Hadersdorf bei Wien übersiedelte. Ludwig Aichinger muss ein charismatischer Lehrer gewesen sein, der auf Elternabenden auch als Vortragender auftrat ; immer wieder findet er positive Erwähnung in einschlägigen Berichten der örtlichen Zeitungen. Neben seiner engagierten Tätigkeit als Schullehrer trat Ludwig Aichinger vor allem aber als Autor und Herausgeber literarischer Texte, als Vortragender und Rezitator sowie als Organisator literarischer Veranstaltungen hervor. Dieses Engagement reicht weit zurück in die Zeit vor der Geburt der Zwillinge – und die Kunde davon reicht erstaunlicherweise auch weit über den Raum Oberösterreich hinaus. So konnte man im Januar 1903 in der Neuen Freien Presse in Wien lesen :
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Man berichtet uns aus Linz : Vergangenen Samstag, den 17. d.[M.], fand im Vortragssaale des kaufmännischen Vereinshauses ein interessanter literarischer Abend zu Gunsten des »Kinderhorts« statt. Schriftsteller Ludwig Aichinger in Linz hielt eine schwungvolle Eröffnungsansprache und machte sich im Laufe des Abends durch Rezitationen aus oberösterreichischen Schriftstellern, Keim, Samhaber, Stelzhamer u. s. w. verdient. (Ivanovic 2022, S. 46)
1903 erschien in Linz, so die Angabe von Ludwig Aichinger auf dem Personenblatt, eine »Schrift über die moderne Dichtung« unter dem Titel »Die Moderne«. Im selben Jahr gab er im Verlag der Oberösterreichischen Buchdruckerei- und Verlagsgesellschaft Linz die Anthologie Heimat heraus : »Ein Buch heimischer Dichtung«, wie es im Untertitel heißt, »Dem Heimatlande Oberösterreich in Liebe und Treue gewidmet«. In seinem Geleitwort schreibt Ludwig Aichinger : »Ein Bild der literarischen Entwicklung unseres Landes und seiner Leute der Feder zu entwerfen, war ich in diesem Buche bemüht.« Dabei hat er vor allem die Dichtung »aus den letzten Jahren von Franz Keim angefangen bis in unsere Tage« im Auge. Das Buch ist seiner Zeit voraus : Jahrzehnte später wird die Stadt Linz bis in die Formulierungen hinein dasselbe Anliegen in ihrem Literarischen Almanach Stillere Heimat verfolgen, in dem Ilse Aichinger selbst zwischen 1952 und 1981 regelmäßig publizierte (ausführlich dokumentiert in Ivanovic 2022). Ähnlich wie die späteren Jahrbücher ist auch Ludwig Aichingers Anthologie mit zeitgenössischen Illustrationen von Max Pauly ausgestattet, stellt Texte von bereits etablierten Autor:innen neben Erstlingswerke, Prosa neben Lyrik, und Traditionelles neben moderne Texte, die dem Naturalismus und dem jungen Wien verbunden sind. Die Anthologie ist sorgfältig untergliedert in vier Abteilungen : »Vor dem Erwachen der Provinz« mit Lyrik und Prosa u. a. von Hermann Bahr, Leopold Hörmann und Franz Keim, »Erwachen der Provinz« mit Texten u. a. von Arnold Hagenauer, Gustav Streicher und Susi Wallner, »Neues Werden«, das mit acht Gedichten und dem Prosatext »Martin« von Ludwig Aichinger beginnt, und »Im Dialekt – Humoristisches« mit Texten u. a. von Norbert Hanrieder. Die Kritik reagiert wohlwollend : »Es sind prächtige Sachen in diesem Buche. ›Provinz-Literatur‹, wieviel Kraft und ehrliches Wollen steckt in dem Worte. Ein frischer junger Zug durchzieht das Ganze, so dass man seine Freude daran haben kann« (Wienerwald-Bote 2. April 1904). In den folgenden 17 Jahren – das heißt in den beiden Jahrzehnten vor der Geburt der Zwillinge – engagierte sich Ludwig Aichinger unermüdlich im literarischen Leben der Stadt Linz. Er organisierte zahlreiche Vorträge und Rezitationsabende, teils in Verbindung mit musikalischen Darbietungen, und verfasste Literatur- und Theaterkritiken. Der Rahmen der Veranstaltungen ist weit gefächert, das Programm bunt. Bevorzugt trug Aichinger »Humoristisches« vor (Hans Thoma, Wilhelm Busch), oft
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mit regionaler Ausrichtung (»Wiener Humor«). Am 2. November 1914 organisierte er einen Abend über »Kriegslyrik«, bei dem er Texte von Rosegger, Ganghofer und Sudermann las. 1918 veranstaltete er einen Hugo-Wolf-Abend mit Vortrag und Liedbegleitung ; 1919 kündigte er einen Kurs über »Deutsche Dichter der Gegenwart« an ; weitere Vorträge widmet er u. a. Werken von Gerhart Hauptmann, Enrica von Handel-Mazzetti, Karl Kraus. Von den 1910er bis in die frühen 1920er Jahre begleitete Ludwig Aichinger das Linzer Theaterleben mit regelmäßigen Rezensionen und Beiträgen. 1919 schließlich gründete er eine eigene Theaterzeitschrift, Die Maske. Erschienen sind drei Ausgaben in zwei Bänden (1919/1920). Die Zeitschrift, die die Bühnensaison begleiten soll, »will dem Dichter, dem Darsteller und dem Publikum dienen. Die Bühne und ihre Umwelt, das Leben als bald scherzhaftes, bald ernstes Spiel betrachtet, sollen in diesen Blättern sich spiegeln«. Zur Veröffentlichung kommen literarische Texte und Kritiken, Humoristisches und Karikaturen sowie ein Bücherspiegel und der Bühnenspielplan. Im ersten Heft findet sich unter anderem eine Abhandlung von Ludwig Aichinger über »August Strindberg und das Weib«. Es eröffnet mit dem »Geleitspruch« : »Wahrheit wird durch Masken offenbar. / Masken sind die Wahrheit, die wir wollen.« Das dritte Heft ist Ludwig Anzengruber gewidmet. Hand in Hand mit diesen vielfältigen Aktivitäten ging Aichingers Engagement im literarischen Vereinsleben der Stadt. Von 1919 – 1922 war er Mitglied der literarischen Gruppe in der Vereinigung von Künstlern und Kunstfreunden »Der Ring«, 1920 gehörte er bereits zum Vorstand und agierte als Schriftführer der gesamten Vereinigung. Ein besonderes Anliegen war ihm die Gründung einer Vereinigung von Künstlern und Kunstfreunden »zur Pflege der Kulturinteressen Deutschösterreichs«. Geplant war auch eine entsprechende Zeitschrift unter dem Titel »Die Scholle«. Der Verein stellte sich als »Eichendorff-Bund« am 18. Juni 1919 in einer öffentlichen Versammlung vor. Auch hier übernimmt Ludwig Aichinger wieder die Funktion des Schriftführers und Organisators. Erklärtes Ziel ist es, »am geistigen Wiederaufbau zerstörter deutscher Kulturgüter mitzuarbeiten«. In den folgenden Jahren veranstaltete der EichendorffBund eine ganze Reihe von Lesungen und Vorträgen, ab 1921 auch Kammerspielabende mit Stücken regionaler Gegenwartsautoren. Bis Ende der 20er Jahre gilt der Eichendorff-Bund als »die literarische Gesellschaft von Linz« (zitiert nach Ivanovic 2022, S. 56). Als die Vereinigung in den 1930er Jahren zunehmend deutschnational wird, erscheint der Name Ludwig Aichingers nicht mehr. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Stadt bereits verlassen und sich aus deren literarischem Leben offensichtlich zurückgezogen. Von 1929 bis 1950 lebte er im Mühlviertel. Das dokumentierte öffentliche wie literarische Engagement von Ilse Aichingers Vater reicht also im Wesentlichen von der frühen Zeit nach der Jahrhundertwende bis
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in die Zeit der Trennung der Familie. Inhaltlich ist er um »Pflege« und Erhalt einer traditionellen, bodenständigen »deutschösterreichischen« Kultur bemüht ; andererseits zeigt er sich modernen Strömungen gegenüber aufgeschlossen. Seit den frühen 1930er Jahren sind nur noch ganz wenige literarische Aktivitäten oder Publikationen von Ludwig Aichinger belegbar. Erst nach Kriegsende versucht er sich noch einmal als Literat : 1948 tritt er als Autor von bäuerlichen Festspielen hervor, deren Aufführungen dokumentiert sind, die sich aber als Texte nicht erhalten haben. Trotz seiner vielfältigen Aktivitäten über mehrere Jahrzehnte hinweg ist Ludwig Aichingers eigenes literarisches Werk schmal. Neben den Texten in der Anthologie Heimat von 1903 konnten außer einer ganzen Reihe von Rezensionen und einigen kleineren kulturgeschichtlichen Abhandlungen mit regionalem Bezug (so ein Text über »Die oberösterreichische Donau« in dem von Franz Berger 1925 herausgegebenen Band Oberösterreich. Ein Heimatbuch für Schule und Haus) nur wenige kurze Prosatexte eruiert werden, darunter »Sommerreise 1921. Eine Humoreske von Ludwig Aichinger« in der Linzer Tages-Post vom 27. August 1921, das Gedicht »Eingesendet. Einem Kinde. (Der kleinen Anni L. in Baden zugeeignet)« sowie eine Prosaskizze über den bekannten Kurort Baden bei Wien : »Ein Wiedersehen nach zwanzig Jahren«. Zwei Opernlibretti sind zwar durch Presseberichte belegt, aber bisher nicht aufgefunden worden ; eines der beiden, Die indische Tänzerin, wurde 1910 in italienischer Übersetzung in Venedig und 1912 in der deutschen Originalfassung in Linz uraufgeführt. Das letzte literarische Werk, das Ludwig Aichinger nach eigenen Angaben auf dem Personalbogen von 1948 vor dem Zweiten Weltkrieg verfasst hat, war das Opernlibretto »Die Bauernkomteß« (1925). Am literarischen Leben der Stadt Linz war Ludwig Aichinger seit den 1930er Jahren nicht mehr beteiligt, obschon er den dort agierenden ›Kulturgrößen‹ auch nach Kriegsende durchaus noch ein Begriff war. So war etwa ein Freund Ludwig Aichingers aus den 1920er Jahren, der die Familie auch privat besuchte, wie Ilse Aichinger sich später erinnert (UR, S. 20 – 21), Dr. Ernst Koref, 1945 Bürgermeister von Linz geworden ; er blieb bis 1962 im Amt. Auf Korefs Initiative geht auch die Wiederbelebung des 1940 erstmals herausgegebenen literarischen Jahrbuchs der Stadt Linz, Stillere Heimat, zurück, zu dem Ilse Aichinger seit dem ersten Nachkriegsjahrgang 1952 kontinuierlich beigetragen hat und dessen Herausgeber Karl Kleinschmidt sich intensiv um Zusendungen bemühte. Hier scheint weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg der Name Ludwig Aichinger auf. Nach Kriegsende versuchte der unterdessen über sechzigjährige Ludwig Aichinger noch einmal an sein früheres literarisches Engagement anzuknüpfen. Er – der einstige Bohémien der Theaterstadt Linz – beschränkte sich dabei sowohl thematisch wie auch organisatorisch auf den ländlichen Raum. An seinem damaligen Wohnort Waldhau-
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sen im Strudengau engagiert er sich für die Gründung eines »Fremdenverkehrs- und Verschönerungsvereins«, zu dessen Obmann er gewählt wird. Bei der 800-Jahr-Feier der Gemeinde 1948 wird das von ihm verfasste ländliche Festspiel Das Mühlviertler Bauernspiel aufgeführt ; ein weiteres Festspiel Unsa Landl schreibt er zur 800-JahrFeier von St.-Georgen am Walde. Die Oberösterreichischen Nachrichten vom 7. Februar 1949 melden, dass bei einer Feier des Stelzhamerbunds auch eigens zu diesem Anlass eingesandte Verse von Ludwig Aichinger vorgelesen wurden. Und in derselben Zeitung ist am 4. Oktober 1950 zu lesen : Waldhausen : Der wälderreiche, freundliche Markt im unteren Mühlviertel verzeichnete heuer starken Fremdenbesuch. In der Schloßpension hielt Ludwig Aichinger gutbesuchte Vorträge über Ginzkey, Thoma und Humor aus dem Landl ab. (zitiert nach Ivanovic 2022, S. 96)
Ein plastisches Bild des Fachlehrers im Ruhestand, des immer noch charismatischen ›Büchernarren‹ und immer noch emsigen Literaturvermittlers in Waldhausen zeichnet ein nicht namentlich ausgewiesener Bericht vom 1. Februar 1951 im Linzer Voksblatt über die »Begegnung mit Ludwig Aichinger«. Auch hier wird Aichinger als leicht verschrobener, aber »immer junge[r], allem aufgeschlossene[r] Geist« geschildert, der zwischen einer Unmenge von Büchern in einem »Raum eines schlichten Landgasthauses in Waldhausen« lebt. Hier wird Ludwig Aichinger als ehemaliger Theaterdirektor (1908 – 1923) bezeichnet, der sich als »Mitarbeiter verschiedener Zeitungen und Zeitschriften […] einen bekannten Namen« gemacht habe : Trotz seiner Zurückgezogenheit pflegt er einen anregenden Briefverkehr mit namhaften Persönlichkeiten aus der Kunstwelt und bereitet zwei Bücher vor, das »Kleine Wanderbuch«[,] eine lyrische Sammlung, und eine Biographie der ersten österreichischen Journalistin Christine v. Thaler. (Zitiert nach Ivanovic 2022, S. 97)
Die hier genannten, wohl nie verwirklichten Projekte vermitteln vielleicht am ehesten ein Bild von Ilse Aichingers Vater : Er war ein passionierter »Waldgänger«, liebte die Lyrik und die Frauen – und war durchaus in der Lage, engagierte, selbständige, emanzipierte, moderne Frauen wie Ilse Aichingers Mutter Berta zu würdigen. Ludwig Aichinger muss eine einnehmende Persönlichkeit gewesen sein. Noch in der Provinz, so ist dem Zeitungsbericht zu entnehmen, veranstaltete er »mit seinen Freunden kleine literarische Abende, die sehr gerne besucht wurden. So sprach er über Franz Karl Ginzkey und Ludwig Thoma. Beide Vorträge wurden von einem interessierten Publikum mit dankbarem Beifall aufgenommen«. In zwei Nachrufen der Linzer Tagespost
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und der Salzburger Nachrichten wird Ludwig Aichinger dann anlässlich seines Todes im Oktober 1957 ein letztes Mal gewürdigt, vor allem als »Gründer und Obmann des Eichendorff-Bundes und Herausgeber der Zeitschrift ›Die Maske‹« – und als »Vater der Schriftstellerin Ilse Aichinger« (zitiert nach Ivanovic 2022, S. 107). Weihnachtsbäume und Bücherschulden – Der Vater der frühen Kindheit Weder der Schriftsteller noch der emsige Rezitator und Literaturvermittler Ludwig Aichinger findet in den späteren Erinnerungen seiner Tochter Erwähnung. Hier dominiert vor allem ein Eindruck das Gesamtbild des Vaters : die Bibliomanie des Bürgerschullehrers, die die Familie in ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten bringt und die Mutter schon nach wenigen Jahren zur Trennung nötigt : »Was ein Bürgerschullehrer war, mußten wir nicht fragen, das war, ehe er die Beiträge für die Schulausflüge in den Kauf der dritten oder vierten Ausgabe von Ibsen, Stelzhamer oder Stifter eintauschte, sehr kurzfristig unser Vater« (UR 2005, S. 102). Die Bücherschulden des Vaters werden zum Scheidungsgrund. »Er hat so viele Bücher gekauft«, erzählt Aichinger Jahrzehnte später in einem Interview, »dass sein Gehalt – er war Lehrer – und das Gehalt meiner Mutter – sie war damals städtische Ärztin – nicht gereicht hat ; und dann auch die Möbel – es waren überall Pfandzettel. Ich erinnere mich immer noch an diese Pfandzettel. Meine Mutter hat ihn einfach vor die Alternative gestellt : die Bücher oder die Kinder und ich ; beides geht nicht, es geht finanziell nicht« (Interviews 2011, S. 124). Später wird der Vater »vorsichtshalber, wegen seiner Bücherschulden, in die Nervenklinik gebracht« (UR 2005, S. 103). Rückblickend meint Ilse Aichinger : »Er hatte einen Bücherwahn und tat uns leid, weil es in dieser Welt damals ja noch viel Wahnsinnigere gab als einen, der sich zwölf identische Ausgaben von Jean Paul kauft« (Interviews 2011, S. 210). Wenn Ilse Aichinger vom Vater ihrer Kindheit erzählt, geht es auch immer wieder um den Christbaum und das Weihnachtsfest : In der frühen Zeit wuchsen die Weihnachtsbäume aus dem Linzer Boden und wurden von einem Jahr zum andern höher. Keiner von ihnen wurde bezahlt, und die Händler an der Linzer Landstraße sahen der leicht gebeugten Gestalt unseres Vaters nach, der den Baum wegzerrte, sie ließen ihn gehen. Es war ein altes Spiel, und sie kannten es. Von der Herz-Jesu-Kirche – sie sah aus, als hätte Kaiser Franz Joseph sie in Auftrag gegeben – bis zur Donaubrücke gab es genug Christbaumhändler, stille und nicht marktschreierische. Keiner versuchte, dem unbezahlten Baum hinterherzulaufen.
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Von der Brücke schaute unser Vater kurz auf die breite, reißende Donau und warf einen Blick auf den Pöstlingberg. Er hatte den Baum ergattert und den Instanzenweg vermieden. Seine Instanz war der Pöstlingberg, auf den er ein Gedicht geschrieben hatte : In den dunklen Momenten »die Perle der Provinz«, um die Sonnenwende die »Akropolis von Linz«. Diese Reime las er uns öfter vor und erzählte von einem Freiherrn von Gilm. Dieser Freiherr von Gilm und die überlisteten Christbaumhändler waren die ersten maßgeblichen Schatten. Wo die Glaskugeln und der Stern auf der Spitze herkamen und von wem sie nicht bezahlt wurden, erfuhren wir nicht, und wir fragten nicht danach. (UR 2005, S. 120 – 121)
Dies ist die einzige Stelle im Werk von Ilse Aichinger, wo sie den Vater als Autor anspricht. Das zitierte bekannte Gedicht allerdings stammt nicht von ihm, sondern von dem hier ebenfalls erwähnten Freiherrn von Hermann Gilm (1812 – 1864) selbst. Es ist auf einer Steintafel an der Bergstation des Pöstlingbergs oberhalb von Linz zu lesen : O Pöstlingberg, du Landeshort, Du Perle der Provinz, Du Segensquell und Gnadenort, Akropolis von Linz ! (vgl. Abbildung in Ivanovic 2022, S. 77)
Die Literatur des Vaters mit den Texten der von ihm verehrten oberösterreichischen Autoren eines vergangenen Jahrhunderts gehören kaum zu dem literarischen Kanon, an dem sich Ilse Aichinger später in ihrem eigenen Schreiben orientierte, mit einer Ausnahme : Adalbert Stifter. In dem Dialog »Das neue Lied« (ZkSt 1991, S. 103 – 121), den Ilse Aichinger 1956 zunächst an Karl Kleinschmidt zur Veröffentlichung im Linzer literarischen Jahrbuch Stillere Heimat schickt, dann aber wieder zurückzieht (Ivanovic 2022, S. 195), kann man unschwer eine Groteske auf die Verehrung Stifters in der Stadt Linz erkennen. Man kann ihn aber auch im Lichte von Aichingers liebevoll-distanzierter Auseinandersetzung mit dem eigenen Dichter-Vater lesen (Ivanovic 2022, S. 311). Ilse Aichingers erste literarischen Versuche stammen aus der Zeit des Krieges. In ihrem im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrten Nachlass sind vor allem Gedichte, aber auch kurze Prosatexte erhalten, die sie seit den frühen 1940er Jahren verfasste. Ein selbst hergestelltes kleines Büchlein, vermutlich eine Gabe zu Weihnachten, enthält einige dieser Texte in Reinschrift. Es ist dem Vater gewidmet. Ludwig Aichinger seinerseits nahm die literarischen Versuche seiner Tochter ernst, sprach ihr während der Kriegsjahre Mut zu und bemühte sich im Kreis seiner Bekann-
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ten auf die angehende Schriftstellerin aufmerksam zu machen, indem er Abschriften anfertigte und private Lesungen ihrer Texte veranstaltete (siehe dazu Ivanovic 2022, S. 78 – 80). Der Kontakt zwischen Vater und Tochter brach auch während der Zeit der Verfolgungen nicht ab, wie zahlreiche Briefe und andere Dokumente im Nachlass Ilse Aichingers bezeugen. Nach Kriegsende kam es sogar aus wirtschaftlichen Gründen zeitweise wieder zu einem kurzfristigen Zusammenleben von Ilse Aichinger und ihren Eltern, die ihre Ehe 1949 wieder erneuerten (Ivanovic 2022, S. 75). »Mein Vater« Ende November 1950 meldet Ilse Aichinger an ihre Tante Klara Kremer nach London : »Papa wird wieder nach Wien übersiedeln, er hat eine Pension in HadersdorfWeidlingau entdeckt, die angeblich sehr gut sein soll, und auch billig, warten wir’s halt ab« (zitiert nach Ivanovic 2022, S. 102). Seine letzten Lebensjahre verbringt Ludwig Aichinger in der Pension Enzian in der Stinglgasse 10 in Hadersdorf. Dort befindet sich ein barockes Wasserschloss, das der unter Maria Theresia zu Ehren gekommene Freiherr von Laudon erworben hatte, um hier bis zu seinem Tod zu leben. Am Rande des das Schloss Hadersdorf umgebenden einst prachtvollen Landschaftsgartens befindet sich das monumentale Grabmal des Feldherren mit der lebensgroßen Statue eines trauernden Ritters an seiner Seite. In Aichingers spätem Werk wird »Laudons Grab« zur Chiffre für ein Charakterbild des Vaters : Laudons Grab Da der Rest jeder Konzentration vermutlich bis zuletzt dem Kino gehören wird – und innerhalb der ausgewogenen und zerfetzten Grenzen dieser Leidenschaft dem Film Das Verhör mit Lino Ventura –, erinnerte ich mich am letzten Julitag dieses an Exzessen und Verunglückungen bisher fast unübertreffbaren Jahres an meinen Vater, der heute Geburtstag hätte. Vielleicht hätte er mir jetzt endlich erklären können, weshalb ihm Laudon und sein Grab schon sehr früh und bis zuletzt offenbar mehr am Herz lagen als der Rest seiner Welt. Er war kein mittelmäßiger Irrer, eher lag ihm daran, von dem, was er nicht wusste, noch weniger zu erfahren. Sicherlich auch von Laudons Meriten und seinem Grab in Hadersdorf-Weidlingau bei Wien, das er Haweii nannte. Über Jovinius und den heiligen Basilius war er informiert, aber solche Informationen unterliefen konsequent seine eigentlichen und letzten Ziele : endlich eine vierzehnte – und mit den dreizehn anderen auf seinem Schrank identische – Jean-Paul-Ausgabe, den Stechlin von Fontane, den er vor dreiundzwanzig Jahren nicht zurückbekommen hatte, weil ihn keiner
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mehr fand, den in grünes Leder gebundenen Nachsommer von Stifter oder einige zerfetzte Seiten der Gedichte von Franz Stelzhamer wiederzuentdecken. Ob seine wochenlange, von der Intensivstation des Linzer Landeskrankenhauses wenig beachtete Agonie ihn von der Sorge, der Stechlin könnte für immer dahin sein, befreien konnte, wird keiner mehr herausfinden. Er hätte ihn ohnehin nicht mehr gelesen. Auch die Bemerkung Ciorans, jeder besiegte Wunsch mache stark, hätte er nicht weiter bedacht, er besiegte keinen seiner Wünsche. Jedes Leseerlebnis, wie er es vielleicht genannt hätte, Fontane, Brentano oder Stifter, blieb aus. Stattdessen kamen Pfänder, Gerichtsboten und die zornigen Eltern der Kinder, deren längst bezahlter Schulausflug nicht stattgefunden hatte. Daraufhin verbrachte er drei oder vier Tage in der Linzer Landesirrenanstalt, wo ihn Freunde untergebracht hatten, da man ihn sonst verhaftet hätte. […] (Aichinger 2004)
Der kleine, in Bezug auf den Vater so aufschlussreiche Text, in dem Ilse Aichinger sich 47 Jahre nach dessen Tod des Geburtstags ihres Vaters entsinnt, erschien am 6. August 2004 in Der Standard, wurde aber nicht in eines ihrer aus den Zeitungsglossen hervorgegangenen Bücher aufgenommen. Was Aichinger hier noch einmal über den von seiner Büchermanie getriebenen Vater notiert – es sind immer wieder dieselben Merkmale, die sie in den wenigen publizierten Erinnerungen an den Vater hervorhebt –, wird zu einem doppelten Erinnerungsakt. Unter dem Eindruck des Films Das Verhör und der unglücklichen Ereignisse des Jahres 2004 (ihr langjähriger Freund Richard Reichensperger war am 22. April verstorben, sie selbst gesundheitlich angeschlagen) vergegenwärtigt sich Ilse Aichinger nicht allein eine zurückliegende Begegnung mit ihrem alt gewordenen Vater in »Haweii«. Evoziert wird dabei auch die zwei Jahre nach dessen Tod festgehaltene Skizze dieser Begegnung in dem Gedicht »Mein Vater«, das schon seit längerem die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen hat : Mein Vater
My father
Er saß auf der Bank, als ich kam. Der Schnee stieg vom Weg auf. Er fragte mich nach Laudons Grab, aber ich wußte es nicht.
He sat on the bench As I came The snow rose from the path he asked me after Laudon’s [G]rave, but I didn’t know it.
(VR 1991, S. 25)
(unpublizierte Übersetzung von Helga Michie)
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In der 1999 angefertigten, nahezu interlinearen Übersetzung durch Ilse Aichingers Zwillingsschwester Helga Michie – der zweiten, nach England emigrierten Tochter desselben Vaters – entfaltet das Gedicht ein anderes, weicheres Timbre. Snow – rose – path – grave lassen zudem einen christlich getönten Leidensweg mitanklingen, der in der deutschen Fassung weit weniger bemerkbar ist. Wichtig erscheint, dass Michie die Wendung »er fragte mich … nach« genauso beibehält wie im Deutschen, und dementsprechend auch gerade nicht vereindeutigt im Sinne der Frage danach, wo sich Laudons Grab befindet. Seit Dagmar Lorenz’ ausführlicher Reflexion (Lorenz 1981, S. 222 – 224) über das 1959 entstandene, 1971 erstmals in Dialoge, Erzählungen, Gedichte 1971 publizierte, in den 1970er Jahren mehrfach wieder abgedruckte und schließlich in den Band verschenkter rat (1978) aufgenommene Gedicht wird »Mein Vater« im Vergleich vor allem mit zwei Thematisierungen der Vatergestalt in Aichingers Werk gelesen : der Begegnung Ellens mit ihrem Vater in Offiziersuniform in Aichingers früherem Roman Die größere Hoffung (GrH 1991, S. 48 – 51) und der 1962 entstandenen Erzählung »Mein Vater aus Stroh« (EE 1991, S. 13 – 18). Auffällig ist dabei einerseits die Beteuerung der InterpretInnen, die hier auftretenden Vaterfiguren nicht auf Ludwig Aichinger beziehen zu wollen, und andererseits die Tendenz, Aichingers Vaterfiguren im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit den Nazi-Vätern insbesondere in den ihnen gewidmeten »Vaterbüchern« der Epoche zu lesen (vgl. u. a. Neumann 1990, S. 117). Dadurch ist die Figur des realen Vaters in der Forschung erstaunlich vielen Projektionen ausgesetzt worden, selbst wenn nicht alle in Aichingers Gesamtwerk auftretenden Vaterfiguren mit Blick auf Ludwig Aichinger gelesen werden. Einige Interpretinnen identifizieren den Vater im Gedicht nicht allein als Ilse Aichingers Vater, sondern explizit als »Nazi«, und übertragen ihre Lesart auf das Trauma, das Ilse Aichinger durch »das frühe Erleben des privaten Verrats des Vaters« erfahren habe (Rabenstein-Michel 2009, S. 142), »der seine Familie früh verlassen und sich in dem späteren historischen Kontext von ihr distanziert hatte« (ebd., S. 137 – 138). Solche an Verleumdung grenzende Behauptungen – Rabenstein-Michel kann auf kein Dokument verweisen, das sie stützen würde – verfehlen sowohl die historischen Tatsachen als auch das im Gedicht Gesagte. Auch Dagmar Lorenz formuliert Spekulationen und legitimiert diese Vorgehensweise, indem sie in Bezug auf das Gedicht »Mein Vater« sagt : »Gerade das nicht Gesagte ist der überwältigende Faktor. Der Leser wird gezwungen zwischen den Zeilen zu lesen und die unausgesprochenen Gefühle von seiner eigenen Perspektive und Erwartung her miteinzubringen« (Lorenz 1981, S. 215). Und keineswegs selbstkritisch spricht Vera Neuroth von der »Emotion des Lesers, der seine eigenen Empfindungen auf die Darstellung projiziert« (Neuroth 1992, S. 271). In der Perspektive von Dagmar Lorenz zeichnet das Gedicht »Mein Vater« eine generationsbedingte »totale
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Entfremdung nach, die nicht mehr zu überwinden ist« (Lorenz 1981, S. 224), woraus sie schlussfolgert : Die Absage an den Vater muß in weiterem Kontext als eine Einstellung zu der Generation der Väter, der deutschen und österreichischen Väter, aufgefaßt werden. Die individuelle Kritik und Beziehungslosigkeit zu einer Mentalität, der der Sprecher sich nicht zu fügen gewillt ist, deren Manifestationen er ablehnt und von deren Repräsentanten er sich distanziert. (Lorenz 1981, S. 224)
Neuroth hingegen ist der Auffassung, dass sich das Gedicht »vollständig aus dem zeitgeschichtlichen Bezug löst bzw. darüber hinausweist«. Nichtsdestotrotz konstruiert sie am Ende ihrer Interpretation eine Lesart nicht allein von »Entzug und Verweigerung« auf Seiten des sprechenden Ich, sondern nachgerade dessen Revanche : »[…] mit einem Schlag ver-nichtet es die versuchte Annäherung« des Vaters (Neuroth 1992, S. 272). Damit reproduziert die Interpretin eine auf ›Vernichtungsschläge‹ intendierende Geisteshaltung, die man Ilse Aichinger eher nicht unterstellen möchte. Peter Horst Neumann und ihm folgend Bettina Knauer andererseits lösen in ihrem andeutungsreichen feinen Verschweigen des realen Vaters die historisch-biographische Verbindlichkeit von Aichingers Text in ein bedeutungsloses allgemeines Vater-Image auf, das im Gedicht ein »trostloses Ende« findet (Knauer 1996, S. 312). Neumanns Feststellung, »dieses Gedicht dürfte […] eines der kürzesten, härtesten, nüchternsten, traurigsten« in der langen Geschichte der Väter-Literatur sein, leitet die Lektüre bereits mit einer Verurteilung ein. Sie schiebt eine Wertung vor das genaue Hören auf das, was das Gedicht sagt, und wie es spricht. Hier will – im Gegensatz zu den oben zitierten Interpretinnen – jemand, der selbst ein Vater ist, nicht hinhören, selbst und vor allem, weil er es besser weiß. Neumann weiß im Gegensatz zum Ich im Gedicht die Antwort auf die Frage des Vaters. Aber obwohl er herausgefunden hat, wo Laudons Grab liegt (was nicht wirklich die Frage war), biegt er das schlichte Wissen um in die Behauptung : Nein, diese Antwort ist viel zu genau, sie berührt kaum den Sinn dieser Frage. Laudons Grab liegt auf den Friedhöfen des toten Wissens : in einem zerfledderten Lesebuch der Geschichte, in einem alten Lexikon. Aber wer weiß das noch, außer den verstorbenen Vätern […]. (Neumann 1990, S. 118)
Mit solcherart Abwinken wird Aichingers Poetik genau die Realität abgesprochen, auf die sie sich bezieht, die Klarheit der Aussage vernebelt, das im Gedicht festgehaltene, Lebenszeit und historische Zeit umgreifende Gespräch, das einen konkreten Ort am
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Rande von Wien benennt, mit wegwerfender Geste deponiert in einem »zerfledderten Lesebuch der Geschichte«. Aichingers Gedicht enthält nicht weniger explizit als die späte Glosse in Der Standard eine Reminiszenz an den eigenen Vater, der die letzten Jahre seines Lebens in der Nähe von Laudons Grab verbrachte. Aus den vielen historischen Informationen, die es zu dem einstigen Generalfeldmarschall Maria Theresias gibt, haben die bisherigen InterpretInnen willkürliche Details herausgegriffen (so etwa Rabenstein-Michel, S. 139). Die Frage des Vaters »nach Laudons Grab« betrifft jedoch nicht die Suche nach einem Denkmal, dessen Position nicht bekannt ist ; sie bezieht sich auf den Ort, an dem Ludwig Aichinger sich tatsächlich damals befand, nämlich in HadersdorfWeidlingau, und auf das hier, an Laudons Grab, stattfindende Gedenken. Es ist der Versuch einer Situierung in einer Zeit und einem Raum, denen der Vater schon fast entglitten ist, der Versuch einer Orientierung am manifesten Grab und legendären Ruhm eines Helden eines längst vergangenen Österreich – man erinnere sich auch an den aus dem Grab auferstandenen Dichter in Aichingers Dialog »Das neue Lied« (ZkSt 1991, S. 103 – 121). Dass und wie der Büchernarr, der ihr Vater war, aus der Zeit gefallen war, unterstreicht Ilse Aichinger ein letztes Mal in der späten Glosse, die paradigmatisch mit der Frage nach »Laudons Grab« überschrieben ist. Hier erscheint das Dilemma der Antwort, die das Ich des Gedichts nicht wusste, in einem anderen Licht, nämlich nicht im Sinne einer bewussten Verweigerung der ›entfremdeten‹ Vaterinstanz gegenüber, sondern als Ausdruck echter Ratlosigkeit angesichts der als fatal erlebten Fixierung des Vaters auf seine Bücher : Vielleicht hätte er mir jetzt endlich erklären können, weshalb ihm Laudon und sein Grab schon sehr früh und bis zuletzt offenbar mehr am Herz lagen als der Rest seiner Welt. Er war kein mittelmäßiger Irrer, eher lag ihm daran, von dem, was er nicht wusste, noch weniger zu erfahren. Sicherlich auch von Laudons Meriten und seinem Grab in Hadersdorf-Weidlingau bei Wien, das er Haweii nannte.
Aichingers Gedicht »Mein Vater« ist einige Jahre nach seiner Entstehung in den Band »Verschenkter Rat« aufgenommen worden, dessen Titel mit dem ambivalenten Prädikat »verschenkt« auch an jene Bestimmung der Dichtung erinnern mag, die Paul Celan in einer emphatischen Geste am Ende seiner Büchner-Preis-Rede 1960 formuliert hatte : »[…] diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst !« (Celan 1983, S. 289). Aichingers Gedicht lässt sich als genau eine solche »Unendlichsprechung« verstehen. Die publizierten Erinnerungen Ilse Aichingers an ihren Vater betonen vor allem und fast ausschließlich dieses eine Merkmal : seine Bibliomanie und die damit verbundene narzisstische Kränkung ; die Familie erfuhr immer wieder
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schmerzhaft, dass dem Vater die Bücher »offenbar mehr am Herz lagen als der Rest seiner Welt« (vgl. noch einmal die entsprechenden Formulierungen Aichingers in Interviews 2011, S. 124 und S. 210 ; UR 2005, S. 103). Aichingers späte Glosse liest sich auch wie eine Warnung, die Welt der Bücher, vor allem ihre materielle Manifestation, nicht zu überschätzen. Möglicherweise liegt hier auch der Grund dafür, dass bis zuletzt in Ilse Aichingers Werk der Schriftsteller Ludwig Aichinger keine Würdigung erfahren hat. Der große Abstand, der die beiden als Autoren voneinander trennte, ist evident. Ebenso unbestreitbar konnte Ilse Aichinger aber als Autorin der ungeteilten Anerkennung ihres Vaters gewiss sein (vgl. dazu u. a. die Dokumente in : Ivanovic 2022, S. 89, 93, 98 – 99). Dass sie als Tochter des oberösterreichischen Schriftstellers Ludwig Aichinger aus einem »Heim« kam, »das Kultur atmet«, wie es der spätere Bürgermeister von Linz, Dr. Ernst Koref, am 2. Mai 1922 in das Gästebuch der Familie notierte (Ivanovic 2002, S. 60 – 61), sollte zumindest nicht ganz außer Acht gelassen werden. Die oben stehende Darstellung folgt in den ersten drei Abschnitten meiner ausführlichen Dokumentation im Teil »Amtlicher Heimatgeruch – Mein Vater« im Katalog der von mir kuratierten Ausstellung Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921 – 2016) im StifterHaus des Landes Oberösterreich, Adalbert-Stifter-Institut 2021 (Ivanovic 2022). Literatur Aichinger, Ilse (1971) : Dialoge, Erzählungen, Gedichte. Hg. Heinz F. Schafroth. Stuttgart. Aichinger, Ilse (GrH 1991) : Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (ZkSt 1991) : Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (2004) : Laudons Grab. Der Standard, Print-Ausgabe, 6. August 2004 ) [Stand : 30.06.2023] https://www.derstandard.at/story/1749540/laudons-grab Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Celan, Paul (1983) :Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. Beda Allemann unter Mitarbeit von Stefan Reicher. Frankfurt.
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Ivanovic, Christine (2022) : Das grüne Märchenbuch aus Linz. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im StifterHaus Linz. Knauer, Bettina (1996) : Vaterbilder. Zu einem Motiv im Werk Ilse Aichingers. In : Holger Helbig/ Bettina Knauer/Gunnar Och (Hgg.) : Hermeneutik – Hermenautik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann. Würzburg : Königshausen & Neumann, S. 311 – 319. Lorenz, Dagmar C. G. (1981) : Ilse Aichinger. Königstein/Ts. Neumann, Peter Horst Neumann (1990) : Fünf Zeilen Prosa. Ein Gedicht von Ilse Aichinger. In : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 117 – 119. Neuroth, Vera (1992) : Sprache als Widerstand. Anmerkungen zu Ilse Aichingers Lyrikband »Verschenkter Rat«. Frankfurt a. M. Rabenstein-Michel, Ingeborg (2009) : Vater/Figuren bei Ilse Aichinger. In : Dies., Françoise Rétif, Erika Tunner (Hgg.) : Ilse Aichinger. Misstrauen als Engagement. Würzburg : Königshausen & Neumann, S. 137 – 145.
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Ilse Aichinger und Franz Kafka Seit Ilse Aichinger nach ihrer Lesung der »Spiegelgeschichte« vor der Gruppe 47 im Jahre 1952 den Beinamen »Fräulein Kafka« erhielt (vgl. Endres 1995, S. 114 ; Beck 1983, S. 565 ; Steinwendtner 1993, S. 147), wurden immer wieder Affinitäten zwischen ihrem Werk und jenem des Prager Autors aufgezeigt. Man bezeichnete Kafka als einen ihrer Schutzpatrone (Piontek 1995, S. 224), behauptete, dass Kafka, der »Prophet«, für Aichinger alle überragte, obwohl sie seine Genauigkeit und seinen Ernst kaum ertrug (Maidt-Zinke 2016), und sah in ihrer Weltsicht einen Blick »wie durch Kafkas Augen« (Neumann 1995, S. 260). Man las ihre Erzählungen als Reaktion auf Erzählungen Kafkas (Nicolai 1997 ; vgl. auch Hoffer 1993, S. 90 ; Arnold 1995, S. 255 ; Holthusen 1995, S. 195) und schrieb, dass Teile ihres Werks »ohne den Einfluss Kafkas nicht zu denken« sind (Arnold 1995, S. 255). Als Aichinger 1983 den Kafka-Preis entgegennahm, hielt sie eine Rede mit dem Titel »Die Zumutung des Atmens« (KMF 1991, S. 102 – 107), in der sie versicherte, von Kafka nur eine einzige kurze Briefstelle je gelesen zu haben. Sie berichtet dort, dass diese Lektüre sie in einen derartigen Zustand der Angst versetzt hatte, dass sie das Buch zuschlug und entschloss, nie wieder eine Zeile von Kafka zu lesen. »Nein, solange ich es ertrage«, so Aichinger am Schluss ihrer Rede, lese ich nicht weiter, solange nur der Schatten einer Erinnerung mich streift, wenn ich an dem Regal mit seinen Büchern vorbeigehe, nehme ich keinen Band mehr heraus. Und dieser Schatten wird mich streifen, solange ich atme und die Bücher dort stehen sehe. Nein, ich lese nicht weiter. Solange ich atme, lese ich nicht weiter. Eins oder das andere. (Ebd., S. 107)
Wenn der Name Kafkas immer wieder in Kommentaren zu Aichingers Werk erwähnt wird, so ist dies nicht nur aus ihrem eigenen »Schatten der Erinnerung« an die Lektüre einiger Kafka-Sätze zu erklären. Da von einem von ihr »autorisierten« Einfluss Kafkas auf Aichinger in einem engeren Sinn offenbar kaum die Rede sein kann, ist davon auszugehen, dass diese immer wieder bemerkte Verwandtschaft einen weniger unmittelbaren Ursprung hat. In ihrer Kafka-Rede gibt Aichinger jedoch gerade dort, wo sie von der Weigerung spricht, mehr von Kafka zu lesen als die von ihr genannten Zeilen, einen Anhaltspunkt für einen Einblick in die Verwandtschaft der beiden Autoren. Die Stelle, von der Aichinger erzählt, sie habe ihr den Atem verschlagen und es ihr unmöglich gemacht, auch nur eine weitere Zeile Kafkas zu lesen, beschreibt ein Gespräch zwischen zwei Frauen :
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Als ich an einem anderen Tag nach einem kurzen Nachmittagsschlaf die Augen öffnete, meines Lebens noch nicht ganz sicher, hörte ich meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen : »Was machen Sie ?« Eine Frau antwortete aus dem Garten : »Ich jause im Grünen.« Da staunte ich über die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen. (Kafka 1983, S. 29)
Kafka hat diese Stelle, eine Kindheitserinnerung, die er Max Brod in einem Brief erzählte, mit geringfügigen Änderungen in seine frühe Erzählung »Gespräch mit dem Beter« (Kafka 1995, S. 14) aufgenommen. Diese Erzählung inszeniert eine Konfrontation zwischen zwei Männern, dem Ich-Erzähler und einem unheimlichen, ekstatisch Betenden, der eines Tages in der Kirche erscheint. Der Erzähler, der zunächst das Prinzip der Normalität und Stabilität verkörpert, wird vom Beter herausgefordert, die Illusion der Sicherheit, in der er sich wiegt und an der er festhalten möchte, aufzugeben. Die »Balkonszene«, das Gespräch zwischen der Mutter und ihrer Nachbarin, bildet die vom Beter formulierte Offenbarung eines fundamentalen existenziellen und ontologischen Zweifels, der ihm ein Leben in der stabilen Normalität des Alltags unvorstellbar erscheinen lässt. Der Beter beendet seine Nacherzählung der Szene mit einer eindringlichen, fast schon flehenden Frage an denjenigen, der bisher mit selbstsicherer Bestimmtheit auf seiner unerschütterlichen Festigkeit bestand : »Sie glauben nicht daran, dass die Leute so reden ?« Die verneinende Antwort des Erzählers, mit der dieser in die Wahrnehmungsweise des Beters einstimmt, führt zu einem kurzen Moment des Einklangs, in dem die beiden Männer in der Erkenntnis des abgründigen Wahnsinns, der sich hinter dem Schein der normalen Alltäglichkeit verbirgt, zueinanderfinden. Nachdem jedoch der Beter, ermutigt vom Einverständnis, das sein Gesprächspartner ihm bezeugt hat, seine Visionen einer zur Gänze schwankenden, bedrohlichen und bedrohten Welt ausmalt, schrickt der Erzähler zurück und widerruft seine frühere Antwort, indem er behauptet, dass er sich durchaus mit den Worten der Mutter und ihrer Nachbarin identifizieren könne. Die Erzählung endet mit der beglückten Reaktion des Beters, der in diesem Widerruf das klarste Geständnis sieht, dass er den Anderen auch wahrlich erreicht hat. Das Glück des Beters erfolgt aus seiner Einsicht, dass Angst sein Gegenüber dazu gebracht hat, sein Einverständnis zurückzunehmen, und dass es gerade diese Angst ist, die bezeugt, dass dieser seine Vision einer vollends ungesicherten Welt empfangen hat. Wie der vergebliche Versuch des Erzählers, seine Nähe zum Beter wieder zurückzunehmen, um die durch ihn verursachte Verunsicherung zu bannen, ist Aichingers »Widerruf«, ihre Entscheidung, das Buch zuzuschlagen um weiter atmen zu können, das tiefste Eingeständnis ihrer Betroffenheit. In diesem Licht ist, unabhängig von Fragen des direkten Einflusses, der Schatten Kafkas zu lesen, der Aichingers Schreiben streift.
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Die Nähe zu Kafka wurde zumeist nur in Aichingers Frühwerk erkannt, unter anderen Vorzeichen ist sie jedoch auch in ihrer späteren Prosa zu finden, die sich, wie Heinz Ludwig Arnold schreibt, »von ihren eigenen Anfängen emanzipiert [hat], in denen sie nahe bei Kafka war« (Arnold 1995, S. 258). Die größere Entfernung zu Kafka in Aichingers späterem Werk bedeutet allerdings weniger ein Schwinden seines Schattens als eine veränderte Umgangsweise mit ihm. Die existenzielle Erschütterung ihrer Kafka-Lektüre findet zunehmend Eingang in die sprachliche und sprachreflexive Dimension ihrer Prosa und führt auf diesem Wege zu einer Hinterfragung der gesellschaftlichen Voraussetzungen und Machtverhältnisse, die hinter dem Schein der Gewissheiten verborgen sind. Aichinger vollzieht mit diesem Wandel jene Wende in den Auffassungen vom Verhältnis zwischen Sprache und Macht, die den Übergang vom frühen zum späten 20. Jahrhundert, von der Moderne zur Spät- oder Postmoderne markiert. Aichinger schreibt in ihrer Preisrede, dass sie von der Existenz Kafkas »kurz nach dem Krieg erfuhr« und verweist indirekt auf den Zeitpunkt ihrer Lektüre der Briefstelle mit den Worten : »[…] gerade jetzt, wo ich den Schergen dieser Welt entronnen war« (KMF 1991, S. 102 – 104). Ob ihre 1972 – also elf Jahre zuvor und sicher nach ihrer Lektüre von Kafkas Briefstelle – entstandene Erzählung »Zweifel an Balkonen« (SchW 1991, S. 19 – 25) unmittelbar auf die Zeilen Kafkas zurückgreift, ist nicht auszumachen. Die Verwandtschaft zwischen dieser Erzählung und Kafkas »Gespräch mit dem Beter« lässt sich allerdings unschwer aufweisen. Ähnlich wie bei Kafka mündet in Aichingers Erzählung die Gegenüberstellung eines Sicheren, Verankerten, Festen mit einem Fremdem und Ungesicherten in eine nicht wieder rückgängig zu machende Erkenntnis der fundamentalen Haltlosigkeit der Dinge. »Balkone«, schreibt Elisabeth Pulver, verweisen auf »trügerische Sicherheit« und »unentwegte Harmlosigkeiten, die gerade zum bürgerlichen Wohnen gehören« (Pulver 1995, S. 269 – 278, hier S. 273). Dennoch macht Aichinger Unterscheidungen. Da sind die »Balkone der Heimatländer«. Sie sind »besser befestigt«, erlauben, dass man ohne Bedenken »rasch hinaustreten« und sich jederzeit und ohne Hindernis ins häusliche Zimmer zurückziehen kann, sie sind »identisch mit einer gefährlichen Treue, die sich nicht kennt«, einer blinden, unhinterfragten Zugehörigkeit, und »strahlen ihre eigene Sicherheit schon von ferne aus«. Sie sind, wie das Gespräch der Frauen in Kafkas »Balkonszene«, »ahnungslos«, werden von »Harmlosigkeiten« bestimmt und »lenken vom Denken« ab (SchW 1991, S. 20 ; in der leicht veränderten Version der »Balkonszene« in »Gespräch mit dem Beter« hat Kafka nach der Antwort der Nachbarin, »Ich jause im Grünen«, hinzugefügt : »Sie sagten es ohne Nachdenken und nicht allzu deutlich, als müsste es jeder erwartet haben« ; Kafka 1995, S. 14). Im Gegensatz zu den Heimatbalkonen sind die fremdländischen Balkone »unsicher«, sie sind von einer Schwelle, über die man »stürzt«,
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vom geschützten Innenraum des Hauses getrennt und laden nur zu flüchtigen Aufenthalten ein. Anders als die Balkone der Heimatländer, die sich von der Außenwelt abschotten, sind die ausländischen Balkone von ihrer Umgebung gezeichnet und allen Windstößen ausgesetzt. Von bedrohlichen Windstößen, die den selbstgefällig spazierenden Damen und Herren den Boden unter den Füßen wegfegen, spricht schon Kafkas Beter (ebd., S. 15). Auch seine Klage, dass er niemals »durch sich selbst von seinem Leben überzeugt war« (ebd., S. 13), sich also nie als eine in sich geschlossene, autonome Einheit erlebte, stellt ihn in Gegensatz zu Aichingers Heimatbalkonen, die ihrerseits sehr wohl »durch sich selbst bestimmt sind« (SchW 1991, S. 19). Auf die Beschreibungen der zwei Balkonarten folgt eine kurze selbstreflexive Stelle, die nach den Folgen der soeben gemachten Unterscheidung fragt und deren Willkür herausstreicht : »Niemand hat es von uns verlangt. Unterscheidungen von Aus- und Inländerbalkonen führen zu einer Zersplitterung, die nicht abzusehen ist« (ebd., S. 22). Diese Zersplitterung fährt mitten durch das gesicherte, in sich abgeschlossene Identitätsprinzip und eröffnet demjenigen, der sie einmal erfahren hat, für immer den Blick ins Ungewisse : Aber können wir zurück ? Kann, wer einmal die Balkone der Heimatländer als die Balkone der Heimatländer gesehen hat, diese Erkenntnis abweisen ? In ihre Grenzen rufen ? […] Das ist zu bezweifeln […] Er wird unsicher bleiben, er ist in seinem Heimatland. (Ebd., S. 23)
Diese Sätze spielen mit Tautologie und Widerspruch und rennen gegen die Gesetze der Logik an, vermitteln aber gerade auf diesem Wege die beunruhigende Erkenntnis, die sie beschreiben. Gleichzeitig registrieren sie jene Verunsicherung, die Aichinger in ihrer Kafka-Rede zum Ausdruck bringt und die sie hier in die Sprache selbst eingehen lässt. In der Unterscheidung zwischen Heimat und Ausland, in der Konfrontation des Eigenen mit einem Fremden, wird das Eigene, das bislang zu vertraut war, um überhaupt in Erscheinung zu treten, erst wahrgenommen. Im Prozess dieser Wahrnehmung geschieht jedoch bereits jene nicht mehr rückgängig zu machende Distanzierung, die dem wahrnehmenden Ich eine »innere Außensicht« verleiht und die vermeintliche Ganzheit seines Ichs zersplittert. Indem diese Erfahrung den Heimatbegriff untergräbt, der ja gerade auf der unhinterfragten Selbstverständlichkeit des Vertrauten beruht, findet der nunmehr endgültig Heimatlose, im Unsicheren Verbleibende sein neues, bodenloses – und daher sich selbst aufhebendes – Heimatland. Der Prozess dieser Verunsicherung erfolgt aus der Bewusstmachung einer Instabilität, die das unbeständige Verhältnis zwischen Wort und Ding preisgibt. »Heimatbalkone als Heimatbalkone zu erkennen« deutet auf die Einsicht, dass der Begriff »Heimatbalkon« die Wahrnehmung des Dings ändert, das es lediglich vorgibt zu benennen, ja dass es ein solches Ding, losgelöst von diesem Signifikanten, gar
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nicht gibt. Auch der Begriff »Heimatland«, der zuvor noch das Sichere, Verankerte bezeichnete, wird von seinem Signifikat losgelöst und im Zusammenhang mit demjenigen, der nunmehr in der Verunsicherung seine Bleibe hat, seiner Bedeutung beraubt. »Aber wer ist es, wer sind sie, die Balkone der Heimatländer ?« Es sind die »grossen unsichtbaren Täuscher« (ebd., S. 24), es sind die Worte selbst, die den Dingen eine Ordnung auferlegen, die ihnen nicht innewohnt, die vortäuschen, dass »Heimatland« etwas auf sich selbst Beruhendes, Wesenhaftes ist, dass zwischen Heimat und Fremde, Eigenem und Anderem eine naturgegebene, eher als eine durch den Begriff erst hervorgebrachte Unterscheidung ist. Das Auseinanderfallen von Wort und Ding wird hier als Möglichkeit einer Bewusstwerdung verwertet, die nicht nur existenzielle, sondern auch politische Konsequenzen hat. Derjenige, der »einmal die Balkone der Heimatländer als die Balkone der Heimatländer erkannt hat«, der einmal die Täuschung der Worte durchschaut hat, wird »unsicher bleiben«. Doch gerade diese Unsicherheit bewirkt jenen wachsamen Widerstand, der verhindert, dass er »mit den Balkonen der Heimatländer gemeinsames Spiel macht«. Wer einmal die Sprache der Sprüche und Parolen erkannt hat, die auf Eindeutigkeit baut und Transparenz verspricht, wer einmal die Voraussetzung, dass in ihr Wort und Ding zusammenfallen, als Täuschung entlarvt und die »Undurchschaubarkeit der Balkone der Heimatländer« erfahren hat, ist zum Mitmachen, zum Mitläufertum nicht mehr zu bewegen : »Sollen sie die Engelsflügel, die himmlischen Hausmauern, die ewigen Heimatländer besetzen. Er wird nicht dabei sein« (ebd.). Dass Aichinger das in diesen Zeilen inszenierte Gleiten der Bedeutungen gerade am politisch und geschichtlich beladenen Begriff »Heimat« vorführt, lässt jene subversive Indienstnahme der Willkür der Zeichen erkennen, die sie in »Schlechte Wörter«, dem poetologischen Eingangstext des gleichnamigen Bands, dem »Zweifel an Balkonen« entnommen ist, implizit programmatisch macht. Auch in Kafkas »Die Sorge des Hausvaters« (Kafka 1995, S. 188 – 190) wird ein sich gefestigt Wähnender einer fundamentalen Verunsicherung ausgesetzt. Des Hausvaters Sorge ist die Möglichkeit, dass Odradek, ein unnützes Ding, das sich in den dunklen Nebenräumen des Hauses aufhält und aussieht »wie eine flache sternartige Zwirnspule«, bezogen mit »alten, aneinandergeknoteten, aber auch ineinander verfitzten Zwirnstücken von verschiedenster Art und Farbe« (ebd., S. 188), nicht sterben kann, denn »alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben ; das trifft bei Odradek nicht zu« (ebd., S. 189). Daher die »fast schmerzliche Vorstellung« des Hausvaters, dass Odradek »noch vor den Füssen« seiner »Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern« (ebd., S. 190) und ihn selbst überleben könnte.
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Im Laufe seiner Verwandlung vom Wort zum lebendigen Ding mutiert Odradek vom »Es« aus weiblicher Spule und männlichem Stern, zum »Er«, zu einem kleinen männlichen Wesen, das aufgrund der Sorge, die es dem Hausvater bereitet, auch als abtrünniger Sohn betrachtet werden könnte, der dem Vater seine Sterblichkeit und mit ihr die Unbeständigkeit seiner Ordnung vor Augen führt. Odradek, das kleine, an sich unmaßgebliche Wesen, verstört die Selbstsicherheit des Hausvaters und bringt dadurch die eingesessenen, hierarchischen Machtverhältnisse ins Schwanken. Auch Aichingers Erzählung »Flecken« (SchW 1991, S. 15 – 18) inszeniert eine durch eine kleine, unförmige Erscheinung verursachte Störung der häuslichen Umgebung und bedroht die in ihr herrschende Hierarchie. »Flecken« beginnt mit der Feststellung einer Verunreinigung der Sitzmöbel : »Wir haben jetzt Flecken auf unseren Sesseln.« Die Sessel, die an Sesshaftigkeit denken lassen und zudem noch mit einer »Ledernachahmung« überzogen sind, evozieren die falsche Sicherheit bürgerlichen Wohnens, in dem Reinlichkeit erwartet und jegliche Verunreinigung als Bedrohung abgegrenzter Einheiten empfunden wird. Die Feststellung der Flecken leitet detektivische Fragen ein, die den ersten Versuchen, Odradek in den Griff zu bekommen, nicht unähnlich sind : Woher kommen sie, wie sind sie entstanden, und wann ist es geschehen ? Diese Fragen nach Ursache und Herkunft bleiben vorerst unbeantwortet und geben zu Überlegungen Anlass, die das Fragen überwuchern. Allein die hypothetische Frage »Und wäre die Welt anders ohne diese Flecken ?« erhält eine apodiktische Antwort : »Das ist eine müssige Frage. Sie wäre anders.« Zwar versetzen die Flecken keine Berge – es gäbe »trotzdem die Rocky Mountains und die Catskillberge« – und schaffen weder Zweifel an netten Verheißungen wie »das hübsche Haus, in dem Longfellow seine hübschen Töchter heranwachsen sah« noch Heilmittel für »Hoffnungslosigkeiten aller Art«, aber sie ändern die »Hierarchie der Bestände«. Denn »man kann sie nicht einreihen«, die Flecken sind, wie Kafkas Odradek, nicht in vorgefasste Kategorien zu bringen, sind nicht weiter »aufzuschließen«. Auch »wenn es dämmert«, also mit dem Schwinden ihrer Wahrnehmbarkeit – oder ist es die geschwächte Sehkraft, die abnehmende Lebenskraft des Betrachters ? – »gehen die Flecken nicht weg«. Könnten sie ihren Betrachter etwa überleben ? Die Betrachtung Odradeks bewirkt die Verunsicherung des Kafka’schen Hausvaters. Von Aichingers Flecken heißt es : »Vielleicht hilft es, sie zu betrachten.« Wozu sollte das Betrachten der Flecken helfen ? Sind sie etwa nicht nur, wie zu erwarten wäre, aus Unachtsamkeit, sondern aus Achtlosigkeit, aus Nichtbeachtung, aus »Mangel an Betrachtung« entstanden ? Dann hätten die Flecken, wie Kafkas Odradek für Walter Benjamin, die »Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt« (Benjamin 1988, S. 262). Auch Aichingers Flecken entstellen die Sessel und
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sind selbst »unerträgliche Formen«. Welchem Vergessen wären sie entsprungen und was bewirkte es, sie zu betrachten ? Für Benjamin ist Kafkas Odradek ein Verwandter des Buckligen, dieses »Urbilds der Entstellung«, der das Verdrängte auf dem Rücken trägt. Denn »handgreiflich«, schreibt Benjamin in seinem Kafka-Essay, »geht hier das Beladensein mit dem Vergessen zusammen« (ebd.). Diese Last entspricht dem »Verleugneten«, das wir, Aichinger zufolge, »auf dem Hals« haben (SchW 1991, S. 75). Für Benjamin ist das Vergessen, das die Dinge entstellt und von Odradek versinnbildlicht wird, mit der Schuld verbunden, »die Fülle der Welt für das allein Wirkliche zu halten« (Benjamin 1988, S. 260). Es ist das Vergessen der Möglichkeit einer anderen Ordnung der Dinge, einer Ordnung, die erlöst wäre von der Unterdrückung durch die Welt der Väter mit ihren Uniformen, die, wie es bei Walter Benjamin heißt, »über und über fleckig« sind (ebd., S. 250). Dieses Vergessen – und mit ihm das entstellte Leben – werde, so Benjamin weiter, verschwinden, »wenn der Messias kommt« (ebd., S. 263). Bei Aichinger ist kein Verschwinden in Aussicht, die Flecken bleiben, sie selbst sind »was eingetreten ist und nicht vorhergesehen war« und könnten daher fast schon eine Art Rettung bedeuten. Die Flecken gehören nicht, wie es mitten im Text heißt, zu den einbezogenen Veränderungen wie etwa der Tod. Zu den listigen Winkelzügen des Daseins, für die der Raum von Anbeginn an freigehalten wird, wenn auch manchmal zu gering bemessen. Das hat so zu sein. Wussten Sie das nicht ? Hören Sie endlich zu zittern auf. (SchW 1991, S. 16)
Warum dieses Zittern, und wer wird hier plötzlich – und einmalig in dieser Erzählung – angesprochen ? Zittert der Angesprochene etwa, weil die Flecken ihm eine ähnlich schmerzliche Einsicht vermitteln wie Odradek dem Hausvater, dass nämlich die Flecken, diese unerträglichen, ihn überleben könnten ? Dass sie also, wie Odradek, Zeugen des väterlichen Todes sein könnten, Beweise der Verletzbarkeit seiner Vorherrschaft und der Hierarchie, die von ihr bestimmt wird ? Denn, heißt es bei Aichinger, die Hierarchie »ist da einsturzgefährdet, wo man es am wenigsten erwartet« (ebd.). Gefährdet ist sie von scheinbar unmaßgeblichen Störungen, von Flecken eben. Warum Flecken ? Von den Flecken lesen wir : »In Worten nicht bildbar« (ebd.,S. 17). Flecken widersetzen sich dem Zugriff der Sprache aufgrund der Willkür ihrer Formen. Diese Willkür ist es, die sie »unerträglich« macht : Weil die Flecken nicht eingeordnet werden können, verweisen sie auf dasjenige, das aus der Ordnung herausfällt, das aus ihr ausgegrenzt wird, um die Ordnung mitsamt ihrer Hierarchie aufrechtzuerhalten. So werden sie zu Sinnbildern des Verdrängten. Indem sie aufgrund der Beliebigkeit und der
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Spezifik ihrer jeweiligen Formen mit den Mitteln der symbolischen Ordnung nicht abgebildet werden können, offenbaren sie die Unzulänglichkeit der sprachlichen Referenzialität und mit ihr das Auseinanderfallen von Wort und Ding. Die Aufforderung zur Betrachtung der Flecken entspricht Aichingers Ankündigung, sie wolle »zusehen, wie jedes seine rasche unzutreffende Bezeichnung bekommt«. Diese Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Worte wird dort verdrängt, wo die Ordnung gewahrt werden soll. Wer könnte diese Ordnung und die Verdrängung, auf der sie beruht, herausgefordert haben ? Woher die Flecken ? Odradek, heißt es, behandelt man seiner Winzigkeit wegen wie ein Kind. Auch Aichingers Flecken machen sich »nicht sehr breit« und könnten zudem noch von einem Kind stammen : »War es nicht doch ein Kind ? Diese Kinder. Damit könnte man sich trösten. Kinder, kurz ehe sie die toten Väter finden.« Inmitten der unbeantworteten Fragen und fragmentarischen Überlegungen entsteht hier kurz vor dem Ende der Erzählung aus elliptischen Sätzen eine Szene wie eine Filmsequenz, mit einer blinden Stelle. Nachlässig und zuversichtlich treten »die Kinder, kurz ehe sie die toten Väter finden« über die Schwelle, stellen den Becher in Sesselhöhe ab und stoßen daran, »ehe sie wieder nehmen, was ihnen gehört und sich vorsichtig verziehen, Schritt für Schritt, mit dem Rücken zur Schwelle und dann darüber« (Hervorhebung V. L.). Die Kinder treten den Rückzug an, nachdem sie etwas, das unausgesprochen bleibt, wahrgenommen haben. Zurück bleiben die toten Väter und die Flecken : »Keine Zeit mehr, fortzuwischen, was verschüttet wurde. Kein Blick mehr. Die toten Väter siegen. Die Flecken auch« (ebd.). Die Flecken, die die Hierarchie zum Schwanken bringen ; wären sie etwa entstanden, nachdem die Kinder die toten Väter gefunden haben, wären sie im Anblick der toten Väter entstanden, im Anstoß, im Augenblick des Schreckens, und kurz vor dem verstohlenen Rückzug, vor dem verweigerten Blick ? Haben die Kinder die toten Väter gesehen und sind vor diesem Anblick geflohen, haben ihn verdrängt, weil er bedrohlich, weil er – wie die Form der Flecken, die die symbolische Ordnung sprengen – unerträglich ist ? Haben die Kinder vor ihrem Rückzug eine Welt im Zustand der »toten Väter« gesehen ? Die Flecken wären dann aus der buchstäblich erschütternden Erfahrung dieses Anblicks entstanden, sie wären die Zeugen der toten Väter und des Endes der väterlichen Hierarchie. Doch haben die Kinder diese Möglichkeit einer anderen, ordnungslosen Welt wahrgenommen und diese Verunsicherung nicht ertragen, haben sie sie widerrufen und sich vorsichtig, allzu vorsichtig, verzogen ? Verdrängt und vergessen wäre dann die Erkenntnis der Haltlosigkeit der Hierarchie, der vertikalen Ordnung, deren Maßstäbe, deren »Höhenmaße« von den Vätern bestimmt sind. Mit dem erschrockenen Rückzug – »kein Blick mehr« –, mit dem Vergessen und Verdrängen dieser Urszene einer anderen, ebenso ungeordneten wie ungesicherten Seinsweise,
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mit diesem Widerruf aus Angst siegen die Väter noch als Tote, behält die Vertikale das letzte Wort. Gäbe es da nicht die Flecken auf den Sesseln, die Erinnerungsspuren des Verdrängten. Die Flecken bleiben und, so die letzten Worte der Erzählung, »[s]ie siegen auch«. Das Betrachten Odradeks bringt dem Hausvater das von ihm Verdrängte – das Zwecklose, das Ungeordnete, das Entstellte, vor allem aber seine eigene Vergänglichkeit – vor Augen und lässt dadurch die Hierarchie ins Schwanken geraten. Die Wirkung von Aichingers Flecken ist vergleichbar, doch die Reaktion auf die Störung der Hausordnung ist in den beiden Erzählungen grundlegend verschieden. Im letzten Satz von Kafkas Erzählung löst Odradek im Hausvater die »fast schmerzliche Vorstellung« seiner Sterblichkeit aus. Am Ende von Aichingers Erzählung bejaht hingegen die anfangs eher bestürzt klingende Stimme die Flecken : »Vielleicht«, lautet es dort ebenso zaghaft wie hoffnungsvoll, »sind sie überhaupt Anfänge von Vorstellungen.« Doch so einfach macht Aichinger es den »Trostversuchen«, die sie hier anspricht, nicht. Die Flecken, heißt es im letzten Satz, »könnten Anfänge von Vorstellungen sein. Weil es Anfänge nicht gibt. Diese Flecken siegen. Sie siegen auch.« In Anbetracht der möglichen Entstehung dieser Flecken werden der enigmatische Schlusssatz der Erzählung und seine Aufhebung des Oppositionsprinzips vielleicht verständlicher. Diese Flecken sind kein zufälliger Anlass für beliebige Einfälle der Einbildungskraft, sie sind Spuren des Verdrängten. Weil sie in die Verhältnisse verstrickt sind, deren Verdrängtes sie bezeugen, sind auch die Vorstellungen, die sie hervorbringen können, von diesen Verhältnissen gezeichnet. Die Möglichkeit von Anfängen, von anderen Vorstellungen und der Vorstellung einer anderen Ordnung liegt in einem veränderten Umgang mit ihr. Vielleicht hilft es, deren Erscheinung bei Kafka und Aichinger gemeinsam zu betrachten. Literatur Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Arnold, Heinz Ludwig (1995) : Schlechte Wörter, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 255 – 259. Torton Beck, Evelyn (1983) : Kafka’s Traffic in Women : Gender, Power and Sexuality, in : The Literary Review 26/4, S. 565 – 576. Benjamin, Walter (1988) : Franz Kafka, in : Ders., Angelus Novus. Frankfurt/M., S. 248 – 263.
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Endres, Elisabeth (1995) : Ilse Aichinger, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 114 – 121. Hoffer, Klaus (1993) : Der Beginn der Aktion, in : Kurt Bartsch/Gerhard Melzer (Hgg.), Ilse Aichinger. Graz, S. 88 – 101. Holthusen, Hans Egon (1995) : Im Rücken des Todes, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 194 – 197. Kafka, Franz (1983) : Briefe 1902 – 1924. Frankfurt/M. Kafka, Franz (1995) : Erzählungen. Stuttgart. Maidt-Zinke, Kristina (2016) : Voller Sehnsucht nach dem Verschwinden, in : Die Süddeutsche Zeitung. https://www.sueddeutsche.de/kultur/zum-tode-von-ilse-aichinger-voller-sehnsucht-nach-dem-verschwinden-1.3246336 [Stand : 17.08.2022]. Neumann, Peter Horst (1995) : Genauigkeit im Ungewissen, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 259 – 260. Nicolai, Ralf R. (1997) : Ilse Aichinger’s Response to Kafka : »The Bound Man« in : Frank Philipp (Hg.), The Legacy of Kafka in Contemporary Austrian Literature. Riverside CA. Piontek, Heinz (1995) : Über die Poesie in Ilse Aichingers Prosa, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 224 – 226. Pulver, Elisabeth (1995) : Genaue Ahnungen, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 269 – 278. Steinwendtner, Brita (1993) : Sammle den Untergang. Zu Ilse Aichingers Kurzprosaband »Schlechte Wörter«, in : Kurt Bartsch/Gerhard Melzer (Hgg.), Ilse Aichinger. Graz, S. 138 – 147.
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Rüdiger Görner
Dem Schweren und Schweigen ein Maß : Ilse Aichinger und Georg Trakl Er hob die Leier auf, wo Hölderlin sie hatte sinken lassen. […] Trakl ist die dunkelste Stimme in meinem Chor. Ist es noch Gesang, was er vernehmen läßt ? Oft klingt es wie ein Lallen. Stammelnden Mundes kündet er die Schauer der Auflösung, des Verfalls. Die Form zerfließt bei ihm in purpurner Dämmerung. Er führte mich in die Mysterien des Zwielichts ein.
Diese poetische Wertung Georg Trakls könnte von der jungen Ilse Aichinger stammen, trifft sie doch haargenau ihre Einschätzung dieses »verborgenen Fürsten deutscher Poesie«. Sie stammt aber von Klaus Mann, als er ahnungsvoll früh seine Lebensbilanz zog (Mann 1979, S. 145f.). Vermutlich hätte Aichinger das Wort »Zwielicht«, das etwas zu sehr an Eichendorff ’sche Romantik erinnert, umgedeutet in »Zwiesprache« oder in »Zwiewort«, eine farbvokalhaft aufgeladene Zwiesprache mit dem Schweigen meinend. Wenn es eine Ontologie der Vokale gibt, dann sind Trakls Gedichte ihre verbalen Figurationen. Und sofern wir von einer Lyrik des Flüsterns sprechen können, dann findet sie in den Gedichten Aichingers ihren gehauchten Ton als Entsprechung. Wie aber verträgt sich das Vollmundige des vokalischen Intonierens bei Trakl mit dem sparsamen Pneumatisieren der schmallippigen Gedichte Aichingers ? Wie erklärt sich Aichingers Interesse an diesem Salzburger Rimbaud, dessen todestrunkener Gesang scheinbar zu allem querliegt, was diese Dichterin des Konterns zu gestalten verstand ? Natürlich ist die anachronistische Frage, wie Trakl die Lyrik Aichingers gelesen hätte, literaturwissenschaftlich unerlaubt. Sie gehört in den Bereich einer spekulativen Essayistik, und doch führt sie ex verbo ins Zentrum der Sache. Dem Ernüchtern durch Sprache geht die Ernüchterung der Sprache voraus, etwas, womit Trakl nicht einmal experimentierte, bedeuteten doch für ihn vokalisch dominierte Worte nichts weniger als Opiate. Von einem solchen Verhältnis zur Sprache kann bei Aichinger schwerlich die Rede sein. Ihr Schreiben war angewandte Sprachkritik, verbunden mit dem Aufspüren ›schlechter Wörter‹. Bei Trakl äußerte sich diese Form der Kritik in dem, was er das »Umarbeiten« seiner Gedichte nannte, dem sich seine zahlreichen Fassungen einzelner Dichtungen verdanken. Man mag in der folgenden brieflichen Aussage eine psychophysische Entsprechung zu diesem »Umarbeiten« erkennen, wenn er am 19. Novem-
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ber 1913 dem Freund Karl Borromaeus Heinrich gesteht : »Seltsame Schauer von Verwandlung, körperlich bis zur Unerträglichkeit empfunden, Gesichte von Dunkelheiten, bis zur Gewißheit verstorben zu sein, Verzückungen bis zu steinerner Erstarrtheit ; und Weiterträumen trauriger Träume« (Trakl 2012, S. 230). Diese Sätze sind nicht länger vollständig, dafür ist es die melancholische, wenn nicht schwermütige Stimmung. Trakls Entwerfen und Verwerfen im Dichten korrespondiert mit dem Wechsel von Selbstentwurf und Selbstzerwürfnis, ein Wechselverhältnis, das sich in dieser Form bei Aichinger nicht aufspüren lässt. Sie haben jedoch das Motiv des »stillen Hauses« gemeinsam und die Tendenz zum Verstummen, das bei Trakl jenes des »trunkenen Saitenspiels« einschließt, wie es in der zweiten Fassung seines Gedichts »An Novalis« heißt (Trakl 2012, S. 155). »Man gewinnt oft den Eindruck, als wollte er am liebsten zwischen den eigenen Zeilen verschwinden.« Diese Bemerkung Aichingers könnte auf Trakl gemünzt sein ; sie betrifft aber Felix Hartlaub, den in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges im Inferno von Berlin verschollenen jungen Schriftsteller, über den sie 1957 geschrieben hatte (Aichinger 2022, S. 468). Sie bescheinigt ihm eine »seltsame Leisigkeit und Zurückgenommenheit über der Landschaft des Lebens« (ebd.) – auch das ein Wort, das sich mit ihrer Einschätzung Trakls in Verbindung bringen ließe. Die Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks (NDR), für die Aichinger diesen Essay verfasst hatte, hieß »Die jungen Gefährten«, zu denen für sie auch Trakl gehörte. Gleichfalls für den NDR, wohl im Umfeld dieser Sendereihe, verfasste Aichinger im Jahr 1957 einen biopoetischen Text über Trakl, der sich auch trefflich in seiner Schreib- und Darstellungsmethode als »bioskopisch« bezeichnen ließe (vgl. Ivanovic 2011) ; er sei hier näher untersucht (Aichinger 2021). Mit diesem Text bediente Aichinger ein nach 1945 neu einsetzendes Interesse an Trakls Dichtung und Leben (in dieser Reihenfolge), ausgelöst durch Egon Viettas Werkbetrachtung (Vietta 1947), durchwirkt von biographischen Elementen (fundierter wurde die Beschäftigung mit Trakl durch die Biographie von Otto Basil 1965 [Basil 2003] ; auf sie bezog sich dann auch Aichinger in ihrer Rede zum Trakl-Preis), aber maßgeblich befördert durch Martin Heideggers sprachontologische Deutung von Trakls Gedicht »Ein Winterabend« im Text »Die Sprache« (1950 ; Heidegger 1979, S. 11 – 33) und seiner Ortung der Sprache in dem, was er schlicht »eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht« nannte (1953 ; Heidegger 1979, 37 – 82), wobei »Gedicht« hier als Sammelbegriff für Trakls Dichtungen überhaupt steht (vgl. Görner 2014, bes. S. 298 – 305). Die biographischen Anmerkungen zu Trakl in Aichingers Rundfunktext entsprachen im Wesentlichen dem Kenntnisstand der Zeit, der sich nur partiell durch seither aufgefundene Dokumente erweitert hat, die aber für diese Untersuchung von Aichingers Text keine Bedeutung haben (umfassend informiert Weichselbaum 2014). Von Interesse dagegen
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ist Aichingers interpretatorischer Ansatz, der auffallend wenige sprachessentialistische, also von Heideggers wortontologischer Vorgehensweise beeinflusste Elemente aufweist. In ihrem Rundfunkessay über Trakl nutzt Aichinger die medialen Möglichkeiten nur spärlich – so sieht sie bis auf die beiden Stimmen von Sprecher und Sprecherin keinerlei akustische Elemente vor. Es gilt, so könnte man sagen, das gesprochene Wort und nichts außer dem. Diese Medienmittelabstinenz mag bei der hörspielerfahrenen Autorin überraschen, hat aber im Fall ihrer Darstellung Trakls einen besonderen Sinn ; denn Aichinger vermeidet auffallend jeglichen Bezug zu Trakls Sprachmusik. Sofern sie die Musik und das Akustische überhaupt erwähnt, ohne es wirklich zu thematisieren, betont sie, dass Trakl damit nie ein Klischee bedient habe – so in Bezug auf die im atmosphärischen Sinne gemeinte ›Musik‹ Salzburgs. Zudem konstatiert Aichingers Sprecherin : Nein, Georg Trakl ist keiner [,] der die Glockenspiele neu aufputzt und die Glöckchen wieder in Gang setzt, der Kirchen und Festungen mit künstlichem Licht beleuchtet und es dem Betrachter leicht macht. Wer mit ihm durch die Städte und Dörfer geht, muss wie Trakl selbst seinen eigenen Tod an der Hand nehmen. (Aichinger 2021, S. 12)
Ein Rundfunkessay über einen Dichter für eine öffentliche Sendeanstalt, also ein auf Öffentlichkeit hin orientiertes Feature, ist kein Literaturseminar, in dem es um hermeneutische Exegese geht. Er soll in erster Linie bei den Hörern Interesse an einem Dichter wecken, will das Wesentliche seines Schaffens vermitteln. Deswegen wäre es auch verfehlt, von Aichingers Radioversuch über Trakl tiefschürfende Gedichtanalysen zu erwarten. Dafür gelingen ihr eingängige Metaphern für bestimmte Phänomene im kurzen Leben des Georg Trakl : »Wie Fieberkurven muten seine Reisen zwischen diesen Städten an, wie Fieberkurven seine Gemütszustände, das Auf und Ab zwischen Mut und tiefster Verzweiflung« (ebd., S. 16). Dieser biographische Zugang folgt einer eigenen Logik, etwa dann, wenn Aichinger ihre Sprecherin befinden lässt, Trakl sei von früh auf »mit einer tiefen und großen Begabung für die Furcht« ausgestattet gewesen. Nun erfolgt der Sprung in der Logik : »Aber Furcht ist kein Schulfach, und so fährt die Lebensbeschreibung nicht mehr ganz im Sinne einer Chronik fort« (ebd., S. 14). Es ist letztlich die wiederholte drogenerzeugte »Selbstbetäubung«, die eine konventionelle biographische Chronologie suspendiert. Aichinger zeigt in diesem gesprochenen Essay, dass die Paradoxie nur eine scheinbare ist, wenn Trakl trotz Rauschzuständen klarsichtig und präzise war. »Prägnanz und Prophetie« paarten sich in seiner Weltwahrnehmung, ebenso wie ihm »die Erschütterung zur Genauigkeit und die Genauigkeit wieder zur Erschütterung« wurde (ebd., S. 29). Entsprechend habe Trakl
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»schon die Flammen knistern« hören können, in denen die Welt der »guten Bürger, die damals an den Sonntagnachmittagen die Prater-Kaffeehäuser und Spree-Wirtshäuser bevölkerten, […] untergehen sollte« (ebd., S. 25). So empfindungs- und sprachgenau wie Aichinger sah Trakl zu jener Zeit niemand. Entscheidend für das hier von Aichinger entworfene Bild Trakls ist die Auswahl der zitierten Gedichte. Neben einigen bekannten Gedichten, darunter »Musik im Mirabell«, »Verklärter Herbst«, »Verfall« und »Ein Winterabend« (auch sie sind diachronisch angeordnet), bildet das Gedicht »Klage« zusammen mit letzten Briefzitaten Trakls aus dem Garnisonsspital zu Krakau den Abschluss dieses Hörporträts – »Klage«, aber nicht Trakls bekanntestes Gedicht »Grodek«. Denn das letzte Wort hat erneut eine Metapher der Autorin : »Er hat die grüne, halbhelle Kugel, die uns beherbergt, immer gegen die Finsternis kreisen sehen, die sie umgibt und die Zeit, diese schwere Mütze, hing ihm tiefer über die Augen als den meisten von uns.« Ihm sei keine Zeit vergönnt gewesen, »seinen eigenen Schatten abzuwarten, ihn zu sich zurück finden und sich von dem dunklen aber stillen Glanz seiner Bilder trösten zu lassen« (ebd., S. 36). Aichinger spart nicht mit Kritik, was die demütigende Behandlung angeht, die Trakl zuletzt widerfuhr, er, der die Situation nicht verkraften konnte, nach der Schlacht bei Grodek in einer Scheune neunzig Schwerverletzte ohne ausreichende medizinische Mittel betreuen zu sollen. Einem Selbstmordversuch Trakls folgte die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik. Aichingers Sprecherin dazu : »Wir aber haben uns zu fragen nach der sogenannten ›normalen‹ Reaktion angesichts einer Scheune mit neunzig Sterbenden. Wie so oft hat sich auch hier die Mitwelt, wo sie selbst des Psychiaters bedürftig gewesen wäre, zum Psychiater aufgespielt.« Und nun die Perspektive künftigen Grauens, woran 1957 zu erinnern längst wieder nottat : Denn der zuständige und sicherlich korrekte Stabsarzt war wohl nur das Symptom einer Welt, die sich, ohne sich darüber klar zu sein, schon bereit machte, starken Mutes und festen Blickes Folterkammern und Gasöfen zu betrachten. (Ebd., S. 34)
Ist es derartigen Zusammenhängen geschuldet, dass Aichinger das ostinate Reimen bei Trakl nicht kommentiert, ein Reimen wider alle Einsicht in die krassen Dissonanzen seiner Zeit, ein Reimen, das ihm dann freilich in den letzten Gedichten, aber auch bereits im Gedicht »In Venedig« abhandenkam ? Oder besteht Aichingers ›Kommentar‹ gerade darin, dass sie gereimte mit reimlosen Gedichten Trakls im Wechsel zitiert, worauf sich dann der Leser selbst seinen Reim machen soll ? Und noch ein weiteres Wort zum Problemfeld ›Musikalisierung der Sprache‹ : Aichingers eigene Lyrik darf ja geradezu als ein Zeugnis musikwiderständigen Dichtens
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gewertet werden. Um so erstaunlicher ihre Hinwendung zu Trakl, dem musikaffinsten unter den deutschsprachigen Dichtern in der literarischen Moderne bis 1914, wie umgekehrt Ingeborg Bachmann, deren lyrische Musikalität ihr Schaffen kennzeichnet, sich zu Trakl nur beiläufig geäußert hat. Darin mag man ein Paradoxon sehen oder eine eigentümliche Folgerichtigkeit, poetologisch stimmig ist dieser gelinde Widerspruch in beiden Werkfällen. Selbst in Gedichten, die zumindest akustische Momente anklingen lassen, beharrt Aichinger – oder genauer : ihr poetisches Ich – auf Sprachklangabstinenz. Dies lässt sich beispielhaft an und in ihrem Gedicht »Danach« zeigen. In seiner ursprünglichen Fassung trug es die Überschrift »Versuch« mit dem entscheidenden Widmungszusatz »für Georg Trakl«, der dann in der Sammlung Verschenkter Rat als Teil der Werkausgabe bezeichnenderweise fehlt. Versuch für Georg Trakl Hinausgehen auf den Flecken, der still ist, unter der Sonne, die heute das Lärmen läßt, das sanfte Geprahle. Herausfinden, jetzt herausfinden, wo die hinrannten, die hier verwegen und leise waren, in welchen Gestalten, Chören, Verfänglichkeiten sie unauffindbar sind. (VR 1991, S. 76 ; Erstfassung in : SALZ 1977, S. 7 ; Wiederabdruck mit Widmung in Weichselbaum 2013, S. 16)
Dieser auf Trakl zugeschriebene »Versuch« hatte ein betontes Anliegen : das Herausfinden, versehen mit einem Präsens-Akut, wenn man so will, einem »Jetzt«, die Dringlichkeit dieses Vorhabens unterstreichend. Es gilt offenbar Menschen, die wie aus dem
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Nichts kommen, plötzlich auftauchen, ohne wirklich sichtbar zu werden. Ihre Identität besteht aus dem, was sie getan haben und vermeintlich tun werden. Es handelt sich um ein kleines, aber offenbar markantes Geschehen auf einem stillen Lichtflecken. Die Sonne »tönt« hier nicht »nach alter Weise mit Brudersphären Wettgesang« wie im »Prolog im Himmel« zu Faust, sondern sie hat »heute« wohl ausnahmsweise einmal ihr »Lärmen« gelassen. Dadurch erst konnte das verwegene Leise-Sein derjenigen, die sich auf diesem Flecken befanden, merklich werden. Der Zustand des Leisen intensiviert sich dadurch, verdoppelt sich gleichsam wie dieses »Herausfinden«. Gegenstand dieses »Versuchs« ist dann, die Metamorphosen dieser kurzzeitigen Lichtgestalten zu erfassen und zu untersuchen ; zu ihnen gehören die »Chöre«. Als Choristen aber wären »sie«, diese Namenlosen, schwerlich mehr »leise«. Genauer aber geht es um eine ganz bestimmte Zustandsform oder Verfassung dieser »Gestalten«, ihre »Unauffindbarkeit« ; sie steht demnach bereits vor dem »Versuch« fest. Im »Verfänglichen« nun treffen sich Reiz und Verhängnis, Lockung und Verfangen-Sein ; es steht für etwas Unentrinnbares, zu dem ihre Unauffindbarkeit gehört. Es ist ein Gedicht, dem das Sprachmusikalische hörbar entzogen wurde. Und eben das hatte Aichinger mit Blick auf Trakl geschrieben ; ihn hatte sie bei diesem »Versuch« im Sinn, sein jetzt des Sprachklangs beraubtes Dichten, das aber auf etwas ausgesprochen ›Traklhaftes‹ zuläuft : das Verschwinden, die Unauffindbarkeit von denjenigen, auf die es ankäme. Dass Aichinger dieses Gedicht widmungslos zu einem von Trakl-Zusammenhängen abstrahiertem »Danach« werden lassen konnte, zeugt von der allgemeinen Gültigkeit, die sie diesem Vorgang zuschrieb : Das Licht der Sonne erhellt die Tatsache des Unauffindbaren im Hier und Jetzt, das jedoch immer ein »Danach« enthält, in diesem Fall einen Zustand nach dem Akzeptieren des nur zu verfänglichen Verschwindens. Aus der poetischen Versuchsanordnung ist ein temporal feststellbarer Zustand geworden : Der »Versuch«, das Experiment, um das Unbestimmbare »herauszufinden«, ist gescheitert ; gelungen ist, den beabsichtigten Ablauf beinahe stichwortartig zu beschreiben. Die Mutmaßung sei erlaubt, dass dieses Gedicht die Selbstversuche Trakls paraphrasiert, besser gesagt : analogisiert, aber nicht persifliert. Nun gibt es im lyrischen Werk Aichingers ein zweites Gedicht mit dem Titel »Versuch«, das dann auch mit dieser Überschrift in Verschenkter Rat aufgenommen wurde. Es handelt sich dabei um ihren Beitrag zur Heidegger-Festschrift von 1959. Man hat dieses Gedicht im Zusammenhang mit Aichingers existenzialistischer Frühphase interpretiert, was Marie Luise Kaschnitz gar zu der Bemerkung im Tagebuch verleitete : »Ilse Aichinger, ›ein weiblicher Heidegger‹« (Kaschnitz 2000, S. 480 – 482), wobei sie aber die relative Nähe zu dem Trakl gewidmeten »Versuch« nicht weiter reflektierte (Kühn 2010, bes. S. 65 – 67).
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Versuch Zwischen Leiter und Nordwand, Besuch am Nachmittag und verworfenem Holz, Apfel- und Schneeresten ein Verhältnis herzustellen, das unaufhebbar ist. (Neske 1959, S. 298)
Auch hier kommt ein besonderes Anliegen Aichingers zum Ausdruck : der lyrische Relationismus, man sollte präziser sagen, eine durch das Lyrische erzeugte Verhältnisbestimmung zwischen scheinbar entlegenen oder nicht zusammengehörigen Elementen. Was nun diesen »Versuch« mit jenem zwanzig Jahre später Trakl zugedachten verbindet, ist das Interesse an einer Versuchsanordnung, um Verhältnisse zu ermitteln. Die Hoffnungsperspektive des ersten Versuchs, Unaufhebbarkeit in den Verhältnissen durch dieses Experiment herzustellen, verändert sich zum Unauffindbaren. Beide Gedichte laufen somit auf ein »Un-« zu, einer Verunmöglichung also. Vorzeigbar wäre, sofern der erste Versuch glückte, sein Ergebnis (die Herstellung der bezeichneten Verhältnisse), wogegen beim späteren Versuch das »Herausfinden« als Aufgabe bleibt und es unbestimmt wäre, was sich damit wirklich zeigen ließe. War der Grund für die Titeländerung von »Versuch« zu »Danach« der, dass Aichinger nicht zwei Gedichte dieses Titels »Versuch« in ihrem Band Verschenkter Rat haben wollte ? Gewiss ist aber, dass bei der Zusammenstellung oder Komposition des Bandes (1978) sie sich wieder mit dem Gedicht für die Heidegger-Festschrift konfrontiert sah in »Relation« zu ihrem »Versuch«-Gedicht, das Trakl im Sinn hatte (vgl. Markus 2015, bes. S. 10 – 25 ; sowie pionierhaft zu Verschenkter Rat als Werkkomposition verstanden : Lorenz 1981, bes. S. 214 – 252. Weiterführende interpretatorische Aufschlüsse zum Trakl-Motiv finden sich jedoch in beiden Arbeiten nicht). Die Titeländerung signalisierte damit auch zumindest mittelbar, wie im zuvor hier beschriebenen Sinne entfernt ihre Deutung Trakls von jener Heideggers war. Zumindest in ihrem Verhältnis zu Trakl war Aichinger damit keineswegs ein »weiblicher Heidegger« gewesen. Es ist wie eine sich selbst potenzierende Quersumme von Aichingers Auseinandersetzung mit Trakl, wenn man ihr Dankeswort zum Trakl-Preis würdigt : »Der geheime Leonce. Zu Georg Trakl« (KMF 1991, S. 98 – 101). Reinhard Urbach geht in seinem Kommentar zur Verleihung des Trakl-Preises an Ilse Aichinger kaum auf dieses ihr Verhältnis zu diesem Dichter ein und beschränkt sich nur auf einen Blick auf ihr Gedicht »In einem« (vgl. Urbach 1979, S. 1 – 2). In fünf poetisch dichten und poetologisch enthüllenden Deutungsschritten nähert sich Aichinger ihrem Gegenstand,
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einem Dichter, der die Katastrophe von Grodek bereits in sich hatte – und das von Anfang an, dieses grausige Bild des Endes. Aber, der paradoxe Umschlag, der keine Dialektik ist !, kann sich vollziehen : »Die Offenheit allen Möglichkeiten des Endes gegenüber, die Anfänge wieder möglich macht« (KMF 1991, S. 98). Auch das kann Trakls Dichtung für Aichinger leisten. Die fünf Hauptthesen ihrer fünf Deutungsschritte des Phänomens Trakl präsentieren sich wie folgt : (1) Trakls Sprache sei eine »Form der Askese« (ebd., S. 98) ; (2) Noch im Entsetzen habe dieser Dichter ›die Stille beschwört‹ (ebd.) ; (3) »Was Trakl mitteilt, gibt ihn nie preis, selbst und gerade dort nicht, wo es ihn zerstört« (ebd., S. 99) ; (4) Trakl habe Valerios auf Leonce gemünztes Wort in Georg Büchners Spiel mit den Lüsten Leonce und Lena erfüllt, das im Narrsein den unweigerlichen Sinn des Seins behauptet ; und (5) Aichingers Sympathie, ja »Liebe« gilt Trakl, der »auszieht, das Fürchten zu lernen« und »die Norm verläßt, um das Maß zu setzen« (ebd., S. 101). Das Übergreifende dieser Thesen benannte Aichinger gleich zu Beginn ihrer späten Entsprechung zum Rundfunkessay über Trakl. Das Schweigen müsse in der Lage sein, »jedes Wort zu decken« (ebd., S. 98). Das kann bedeuten : zu überdecken oder den Wert eines Wortes zu garantieren, so wie ein Sachwert oder (Gold- oder Devisen-) Reserven den Wert einer Währung decken. Aichingers Auseinandersetzung mit Trakl illustriert ihr wortbezogenes Wertebewusstsein, das bis in die Materialität ihrer Vergleiche reicht. So findet sich eine Maxime in ihren Aufzeichnungen aus dem Jahr 1951, die einen Zusammenhang von psychischer Verfassung und Analogizität im Materiellen prägnant benennt, der aufs Engste mit ihren späteren Überlegungen zu Trakl in Verbindung stehen könnte : »Schwermut ist unser letzter Besitz und ein gutes Tauschmittel« (KMF 1991, S. 50). Aichinger war der Mut gegeben, die Schwere der Wörter zu wägen und – zumindest phasenweise – gegen das von Trakl gesetzte »Maß« zu halten. Literatur Aichinger, Ilse (1977) : Versuch, in : SALZ – Salzburger Literaturzeitung 2.7, S. 7. Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (2021) : Georg Trakl, in : Dies., Die Frühvollendeten. Radio-Essays. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (2022) : Notizen zum Werke Felix Hartlaubs. Mit einer Vorbemerkung von Andreas Dittrich und Jannis Wagner, in : Sinn und Form 74.4, S. 463 – 469.
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Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Basil, Otto (182003) : Georg Trakl in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek. Görner, Rüdiger (2014) : Georg Trakl. Dichter im Jahrzehnt der Extreme. Wien. Heidegger, Martin (61979) : Unterwegs zur Sprache. Pfullingen. Ivanovic, Christine (2011) : Masse. Medien. Mensch. Ilse Aichingers bioskopisches Schreiben, in : Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.), Absprung zur Weiterbesinnung. Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger. Tübingen, S. 173 – 184. Kaschnitz, Marie Luise (2000) : Tagebücher aus den Jahren 1936 – 1966. Bd. 1. Hgg. Christian Büttrich/Marianne Büttrich/Iris Schnebel-Kaschnitz. Mit einem Nachwort von Arnold Stadler. Frankfurt/M. Kühn, Walter (2010) : Ein weiblicher Heidegger. Ilse Aichinger im literarisch-philosophischen Leben der fünfziger Jahre, in : Berliner Hefte. Zur Geschichte des literarischen Lebens 9, S. 55 – 68. Lorenz, Dagmar C. G. (1981) : Ilse Aichinger. Königstein. Mann, Klaus (21979) : Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht (1949). Berlin/Weimar. Markus, Hannah (2015) : Ilse Aichingers Lyrik : Das gedruckte Werk und die Handschriften. Berlin/ Boston. Neske, Günther (Hg.) (1959) : Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag. Pfullingen. Trakl, Georg (2012) : Werke. Entwürfe. Briefe. Hgg. Hans-Georg Kemper/Frank Rainer Max. Nachwort und Bibliographie von Hans-Georg Kemper. Stuttgart. Urbach, Reinhard (1979) : Zum Trakl-Preis von Ilse Aichinger, in : SALZ – Salzburger Literaturzeitung 5.18, S. 1 – 2. Vietta, Silvio (1947) : Georg Trakl. Eine Interpretation seines Werkes. Hamburg. Weichselbaum, Hans (Hg.) (2013) : Trakl-Echo. Poetische Trakl-Spuren aus 100 Jahren. Edition Brenner-Forum Bd. 8. Innsbruck. Weichselbaum, Hans (2014) : Georg Trakl. Eine Biographie mit Bildern, Texten und Dokumenten (1994). Erweiterte Neuausgabe. Salzburg.
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Sprachkritik, Psychologie und Moderne
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Reika Hane
Kritik der Sprachkritik Ilse Aichinger antwortet Hugo von Hofmannsthal 2002 erschienen zwei Texte Ilse Aichingers, die unmittelbar auf Texte Hugo von Hofmannsthals Bezug nehmen : »Hofmannsthal und Viennabikes« und »Ein Brief«. Beim ersteren handelt es sich um einen Feuilleton-Artikel, der am 9. August 2002 in der Wiener Zeitung Der Standard erschien und später in die Sammlung Unglaubwürdige Reisen (2005) aufgenommen wurde. Der letztere ist enthalten im Band »Lieber Lord Chandos«, der zum 100. Jubiläum des Erscheinens von Hofmannsthals »Ein Brief« (1902) veröffentlicht wurde und zu dem 34 Autor*innen mit Antworten auf diesen »Brief« beitrugen. Bei Hofmannsthals Text handelt es sich bekanntlich um einen fiktiven Brief, den die erfundene Figur Philipp Lord Chandos an den englischen Philosophen Francis Bacon adressiert. Aichinger hat ihre Antwort mit der Überschrift »Ein Brief« versehen, die sich in Bezug sowohl auf ihren eigenen, in Briefform geschriebenen Text als auch auf dessen thematischen Gegenstand verstehen lässt. Den »Brief«, in dem sich Aichinger mit dem Hofmannsthal’schen »Brief« auseinandersetzt, adressiert sie dabei nicht an den fiktiven Verfasser Chandos, sondern an den Autor. Und sie schreibt ihn nicht als einen fiktiven Antwortbrief Bacons, sondern unter ihrem Namen. »Ein Brief« Hofmannsthals gilt als literarisches Zeugnis für die Sprachkrise bzw. Sprachkritik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Wolfgang Riedel präzisiert, welche Krise der Sprache darin thematisiert, welcher Aspekt der Sprache kritisiert wird : »Keiner allgemeinen Sprachkrise setzt Hofmannsthal seinen Helden aus, sondern einer Krise der Begriffssprache.« Infrage gestellt ist nicht die Sprache überhaupt, sondern »das Sprachfeld und die Sprachfunktion des Begriffs, das idiomatische Werkzeug des Denkens, Schließens und Urteilens, und damit die Fähigkeit zu diesen Verstandesoperationen selbst«. Der Verlust dieser Fähigkeit drängt Chandos jedoch nicht ins Verstummen, sondern er vermag über seine Krise zu berichten, indem er sie in der »Sprache der Bilder und Vergleiche, der Metaphern und (zum Teil topischen) Gleichnisse« beschreibt wie etwa in der folgenden, allzu bekannten Stelle : »[…] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze« (Riedel 1996, S. 4 ; Hofmannsthal 1991, S. 48f.). Insofern die Sprachkrise Chandos’ eine »produktive Seite« hat und »eine Kritik der geläufigen Wissenschaftsauffassung mit den Mitteln der Dichtung beabsichtigt« (Günther 2016, S. 317), unterscheidet sich die Sprach-
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kritik Hofmannsthals von der Fritz Mauthners, die »in den Nihilismus [mündet]« (Le Rider 2016, S. 18). Riedel rekapituliert Hofmannsthals Auffassung der Metapher, welche der von Hamann, Goethe oder Jean Paul verwandt ist, und weist darauf hin, dass der »Brief« Hofmannsthals mit der oben genannten Gegenüberstellung der Begriffs- und der Bildersprache, bei der der ersteren eine Absage erteilt, die letztere performativ befürwortet wird, »einer argumentativen Tradition« zuzuordnen ist, »die als Rechtfertigung des Bildes gegenüber dem Begriff, der ästhetischen Synthesis gegenüber der Analysis des Intellekts, weit zurückreicht und alles andere als ein Novum der Jahrhundertwende ist« (Riedel 1996, S. 11). Mit Hinblick auf diese wissenschaftliche Auslegung von Hofmannsthals »Brief« soll es in der folgenden Lektüre von Aichingers »Brief« zum einen darum gehen, wie Aichinger den Hofmannsthal’schen »Brief« liest, welche Punkte sie thematisiert, problematisiert oder kritisiert. Gegen Ende ihres »Brief« schreibt Aichinger : »Zu früh und viel zu spät ist Ihnen der Gebrauch der Wörter fragwürdig geworden. Sie haben sich auch nicht daran gehalten, sondern den Erfolg mit schönen Wörtern gesucht, Libretti eignen sich auch nicht für schlechte Wörter« (Aichinger 2002, S. 30). Schlechte Wörter heißt die 1976 veröffentlichte Sammlung Aichingers, die von ihrer intensiven Beschäftigung mit der Sprache selbst zeugt. Im Hinblick auch auf die darin enthaltenen Texte, aus denen Aichinger in ihrem »Brief« zitiert, soll zum anderen nach den Charakteristiken der Sprachkritik Aichingers gefragt werden. In der Eingangspassage ihres »Brief« macht Aichinger eine ironische Bemerkung zum Standesbewusstsein Hofmannsthals und erwähnt im Zusammenhang damit seine jüdische Herkunft und ihren eigenen Großvater : Und einer der zahllosen übrigen Briefe, die Sie, Herr von Hofmannsthal, an Aristokraten und vor allem Aristokratinnen schrieben, auch wenn Sie, Sohn eines Bankiers, sich nur in der Vorstellung als »jüngerer Sohn des Earl of Bath« fühlen konnten : Mehr durften Sie nicht, kein Jude konnte in der Monarchie in einen höheren Adels- oder Offiziersrang aufsteigen, auch mein Großvater nicht, der immer ein »Rechnungsunteroffizier« blieb, aber dergleichen Ränge kommen in Ihrem Werk nicht vor. (Ebd., S. 27)
Von ihrem jüdischen Großvater, dessen Offiziersrang wegen seiner Religionszugehörigkeit niedrig blieb, schreibt Aichinger unter anderem auch in ihrer Rede zum Großen Österreichischen Staatspreis »Der Boden unter unseren Füßen« (1996). Darin kontrastiert sie das Lebensende ihres Großvaters, den ihre Mutter zu Hause pflegen konnte, mit dem ihrer jüdischen Großmutter, die zusammen mit den jüngeren Geschwistern ihrer Mutter von Wien nach Minsk deportiert und dort ermordet wurde (FuV 2001, S. 23). Darauf, was ihren Verwandten und vielen anderen jüdischen
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Kritik der Sprachkritik
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Menschen angetan wurde, weist Aichinger im »Brief« hin, wenn sie das Datum des Hofmannsthal’schen »Brief« – sowohl die Datierung des fiktiven Schreibens (»A. D. 1603, diesen 22. August«, Hofmannsthal 1991, S. 55) als auch das Erscheinungsjahr des Textes – thematisiert : »Oder liegt noch etwas anderes zwischen uns : nicht nur zwei erfundene Jahre, sondern ein nicht erfundenes Jahrhundert, mit allem, was in diesem Jahrhundert geschah ?« (Aichinger 2002, S. 28 ; Chandos’ »zweijähriges Stillschweigen« – s. Hofmannsthal 1991, S. 45 –, das er zu Beginn seines Briefs erwähnt, schreibt Aichinger hier Hofmannsthal zu). Im Anschluss an den Hinweis auf die Geschehnisse im 20. Jahrhundert macht Aichinger dann die Erinnerung zum Thema : »Sie sprechen von Erinnerung. Aber wer verzichtet nicht leicht und ohne Skrupel auf die angepriesene Schärfe seines Gedächtnisses, sobald sie ihm die Vergeßlichkeit nimmt, nach der er aus ist ?« (Aichinger 2002, S. 28) Im fiktiven Schreiben bewundert Chandos »die unglaubliche Schärfe Ihres [Bacons] Gedächtnisses« (Hofmannsthal 1991, S. 46). Aichinger rückt seine Einschätzung in einen Zusammenhang mit historischen Ereignissen, bei denen die Erinnerung zum Gebot wurde, und zieht in provokanter Weise und mit einem ironischen Unterton die »Vergeßlichkeit« vor : Ich lernte die meine [Vergeßlichkeit] flüchtig in St. Ives kennen, aber ich will Sie damit nicht behelligen. Wieviel wissen Sie von Aberdeen, dem ich verfallen bin, von Privas, Albany oder St. Ives, wo die Vergeßlichkeit wächst ? (Aichinger 2002, S. 28)
Aberdeen, Privas, Albany und St. Ives sind Ortsnamen, die alle mit Texten Aichingers zu tun haben. »Das Aberdeenspiel« wird ein Feuilleton-Artikel vom 2. Juli 2004 heißen, der später in die Sammlung Unglaubwürdige Reisen (2005) aufgenommen wird ; »Privas«, »Albany« und »Die Vergeßlichkeit von St. Ives« lauten die Titel dreier Kurztexte, die in Schlechte Wörter aufeinanderfolgen. Den Anfang aus »Die Vergeßlichkeit von St. Ives« zitiert Aichinger mit einigen Auslassungen und leichten Änderungen in ihrem »Brief« : Sie ist dort groß, bewegt sich in unverkennbaren ovalen Nebenfeldern sacht auf und ab. Es wird angedeutet, daß die Erde hier fast noch eine Scheibe ist oder doch gleichgültig gegen ihre Form, anstandslos oder nicht. Die Vergeßlichkeit von St. Ives nimmt keine Rücksicht auf Ungerechtigkeiten, die Ertrunkenen, über die Sie in einem Gedicht mit »Manche freilich müssen drunten sterben« hinweggehen werden, würden hier auch gefallen, aber nicht für lange. (Ebd.)
Die entsprechende Stelle in »Die Vergeßlichkeit von St. Ives« lautet :
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Sie ist dort groß, bewegt sich in unverkennbaren ovalen Nebenfeldern sacht auf und ab. Diese Felder bleiben sinkend und steigend doch immer waagrecht, zu schiefen Ebenen kommt es nicht. Es wird angedeutet, daß die Erde hier fast noch eine Scheibe ist oder doch zumindest gleichgültig gegen ihre Form, zustandslos oder nicht. Die Vergeßlichkeit von St. Ives nimmt keine Rücksicht auf Ungerechtigkeiten, die Ertrunkenen werden hier auch gefeiert, aber nicht lang und nicht alle. (SchW 1991, S. 55)
Mit der »Palme« (ebd., S. 57), den »Bojen« (ebd.) und den »Seehundsbänken« (ebd., S. 58) scheint St. Ives ein Ort am Meer zu sein. Man ist dort vergesslich : »Zu St. Ives gehört die Vergeßlichkeit wie zu anderen Plätzen die Zärtlichkeit gehört. Oder die Furcht, die Zuversicht, der Verstand« (ebd., S. 55). Die Erinnerung wird dort nicht gepflegt, wird nicht für wichtig gehalten wie anderenorts : »Man ist es in St. Ives nicht gewohnt, mit der Erinnerung zu hantieren wie anderswo, man möchte es auch nicht gewohnt sein« (ebd., S. 56). Die Vergesslichkeit betrifft dabei nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart : Der Unterschied verliert an Wichtigkeit, obwohl es sich nicht so anhört. Es ist ein totaler Verlust. […] St. Ives wehrt sich auf seine Weise gegen die unnütze Vielfalt, gegen die Schattierungen, die von Gegensatz zu Gegensatz führen. (Ebd., S. 58)
Diese Vergesslichkeit und den dadurch verursachten Verlust verkörpert Aichingers Text in seiner textuellen Verfasstheit : Die Vergesslichkeit, ein mentales Phänomen, hat eine physische Größe, deren Bewegungen optisch erkennbar sind. Der Unterschied zwischen dem Psychischen und dem Physischen scheint aufgehoben, was das Physische destabilisiert : Die »sinkend[en]« und »steigend[en]« Felder bleiben trotzdem »waagrecht«. Auch der Unterschied zwischen Singular und Plural ist fließend. »Der Junge aus L.«, der auf seine anscheinend ertrunkene Schwester wartet, sagt : »Ich kann eine ganze Horde sein, wenn ich will. Ich allein. Ich bin dabei, weil ich mich nicht mehr erinnern muß, bin aus St. Ives« (ebd., S. 57). Gleich im Anschluss an diese Worte, die Aichinger in ihrem »Brief« zitiert, kommen »die Jungen aus L.« im Plural vor (ebd.). In das Zitat aus »Die Vergeßlichkeit von St. Ives« schiebt Aichinger eine Gedichtzeile ein : »Manche freilich müssen drunten sterben«. Entnommen ist die Zeile einem Gedicht Hofmannsthals aus dem Jahr 1896. Es beginnt mit dem Gegensatz von »Manche[n]« und »Andre[n]«, Untertanen und Herrschenden : »Manche freilich müssen drunten sterben, / Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, / Andre wohnen bei dem Steuer droben, / Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.« Dieser Gegensatz, der auch in der zweiten Strophe erhalten bleibt, wird jedoch in der dritten Strophe
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aufgelöst : »Doch ein Schatten fällt von jenen Leben / In die anderen Leben hinüber, / Und die leichten sind an die schweren / Wie an Luft und Erde gebunden«. In der vierten Strophe tritt dann das lyrische Ich als Agent der Erinnerung auf : Ganz vergessener Völker Müdigkeiten Kann ich nicht abtun von meinen Lidern, Noch weghalten von der erschrockenen Seele Stummes Niederfallen ferner Sterne, Viele Geschicke weben neben dem meinen, Durcheinander spielt sie alle das Dasein, Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens Schlanke Flamme oder schmale Leier. (Hofmannsthal 1984, S. 54)
Tamara Reitmeier weist darauf hin, dass die Attribute »Schlanke Flamme« und »schmale Leier« das lyrische Ich als Dichter erkennbar machen, und erläutert im Anschluss an Jörg Schönert, für dieses Ich, dem »[i]m Bewusstsein des universalen Zusammenhangs von allem mit allem […] alles nah, gleich- und gegenwärtig« ist, stelle »das ›Mit-Erleiden‹ […] zeitlich und räumlich noch so ferner Schicksale […] sein Los und seine Aufgabe« dar (Reitmeier 2016, S. 156). Das lyrische Ich des Gedichts bzw. der Autor Hofmannsthal geht also keineswegs über die »Ertrunkenen« hinweg, eher im Gegenteil. Im Unterschied zur Vergesslichkeit von St. Ives, die »keine Rücksicht auf Ungerechtigkeiten« nimmt, macht es eben die Wahrnehmung und Erinnerung auch der zeitlich-räumlich entfernten »schweren« Leben zu seiner Aufgabe. Insofern scheint Aichinger weniger die Ignoranz, sondern vielmehr die Position des DichterIchs zu problematisieren, das zunächst über die »Ertrunkenen« »hinweggeh[t]« (Aichinger 2002, S. 28) – statt etwa bei den »Ertrunkenen« zu bleiben oder gar mit ihnen unterzugehen –, um anschließend an dem Punkt zu bleiben, von dem aus die »Vielfalt« bzw. die »Schattierungen, die von Gegensatz zu Gegensatz führen« (SchW 1991, S. 58), wahrgenommen, erinnert und geschrieben werden. Dem steht die Position Aichingers als Schreibende entgegen, die einmal ihr eigenes Verschwinden das Ziel ihres Schreibens nannte : »[…] ich glaube, dahin hat auch mein ganzes Schreiben gezielt, auf dieses Verschwinden« (Interviews 2011, S. 140). Die »Ertrunkenen« sind bei Aichinger Figuren, die mit der Flüchtigkeit bzw. dem Verschwinden zu tun haben. In der »Vorbemerkung zum Journal des Verschwindens« (2001) schreibt Aichinger von ihrer Schulzeit, in der sie »die frühe Neigung zur Seefahrt« entwickelte :
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Ich hatte eine Identität gefunden und begann, in meinen ersten Büchern nach Booten und Bootszubehör zu suchen. So entdeckte ich die ersten Rettungsboote, während Lastzüge und Straßenbahnen vorbeifuhren, und versuchte, sie nachzuzeichnen, zu zählen, abzuhaken. Möglicherweise hing die Affinität zu Schiffen mit ihrer Chance zu versinken zusammen, die mir jede Existenzform begreiflicher machte. (FuV 2001, S. 66)
Der Untergang als Rettung scheint ein Paradox, ist aber keines, sofern der Untergang ein Modus des Verschwindens darstellt und das Verschwinden für Aichinger »die Freiheit wegzubleiben« bedeutet (ebd., S. 65). Boote verkörperten diese Freiheit zum Nicht-da-Sein mit ihrer Möglichkeit unterzugehen : »Die Flüchtigkeit hatte […] die Gestalt eines Bootes, das sie mitnahm, vielleicht auch in den Untergang zog, auf den sie aus war. Und was mir am meisten einleuchtete : Sie hatte wenig Lust, sich zu retten« (ebd., S. 67). Sofern die Vergesslichkeit ebenfalls ein Modus des Verschwindens ist, erscheint es konsequent, dass in St. Ives »die Ertrunkenen« und »[a]uch die ertrunkenen Fische, Möwen, kleinen Katzen« für die nicht »allzu komplizierte Ökonomie« der Vergesslichkeit sorgen (SchW 1991, S. 56). Der Wunsch zu verschwinden, den Aichinger in der »Vorbemerkung« und anderswo wiederholt erwähnt, stellt einen Widerstand gegen aufgezwungene Existenz dar. Dieser Wunsch, der Aichingers »erster leidenschaftlicher Wunsch« seit der frühen Kindheit gewesen sein soll (Interviews 2011, S. 111), trägt vor allem aber die Spuren ihrer Erfahrungen während der Nazi-Zeit. Gegen Ende der »Vorbemerkung« schreibt Aichinger : »Born to be murdered« (The Third Man) sollte nicht nur im Fall meiner eigenen Familie in »born to disappear« übersetzt werden. Keine Milderung, auch kein Ausweg : aber ein Ausblick. Ich mache den Ermordeten ihr Verschwinden nur stümperhaft nach : ich gehe ins Kino. (FuV 2001, S. 71)
Mit der Übersetzung von »be murdered« in »disappear«, vom Passiv ins Aktiv, wird das Wort, das die Folge erlittener Gewalt benennt, zugleich zur Bezeichnung einer Tat, die die Hinterbliebenen vollziehen können als eine Art negative Aktion, deren Vollzug die Aktivität der Agierenden zwar mit vernichtet, aber darum nicht wirkungslos bleibt. Wenn Aichinger das Verschwinden der Ermordeten zu imitieren versucht, wäre das nicht nur ein Akt des Gedenkens, sondern auch, wie Christine Ivanovic in Bezug auf die »lautlose[] Erstarrung« des lyrischen Ichs in Aichingers Gedicht »Schneeleute« (1978) zeigt, ein »Akt der Solidarisierung« (Ivanovic 2009, S. 188 ; Hane 2018, S. 109). Als Ort solch eines Verschwindens bezeichnet Aichinger das Kino, aber auch den Text : »Eigentlich ist in jedem meiner Texte der Tod enthalten, der Tod ist ja eine sehr konsequente Art des Verschwindens …« (Interviews 2011, S. 36).
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Das lyrische Ich von »Manche freilich …« erscheint in seinem Vermögen allumfassender Wahrnehmung Chandos verwandt, der im Brief von seiner empfindenden Teilhabe am Dasein der »nichtige[n]«, »stummen und manchmal unbelebten Kreaturen« schreibt (Hofmannsthal 1991, S. 52). In seiner Geistes- und Gedankenlosigkeit erlebe er manchmal doch »freudige und belebende Augenblicke«, in denen »etwas völlig Unbenanntes und auch wohl kaum Benennbares«, »irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäß erfüllend, mir sich ankündet«. Das Gefäß solcher Erfahrung, die er »Offenbarung« nennt, könne »[e]ine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus« sein (ebd., S. 50). Wie Riedel bemerkt, macht Chandos seine Offenbarungserfahrung »[n]icht in einem Höheren, welches über ihm stünde, […] sondern im Niedrigen unter ihm« und verkehrt so die Richtung der mystischen Gotteserfahrung (Riedel 1996, S. 24). Solche Momente können, so heißt es im Chandos-Brief, auch durch »die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes« herbeigeführt werden (Hofmannsthal 1991, S. 50). Als Beispiel beschreibt Chandos eine Vision von vergifteten Ratten : Alles war in mir : die mit dem süßlich scharfen Geruch des Giftes angefüllte kühldumpfe Kellerluft und das Gellen der Todesschreie, die sich an modrigen Mauern brachen ; diese ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht, durcheinander hinjagenden Verzweiflungen ; das wahnwitzige Suchen der Ausgänge ; der kalte Blick der Wut, wenn zwei einander an der verstopften Ritze begegnen. (Ebd., S. 51)
Die Erfahrung, die Chandos durch diese Vision macht, nennt er »ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und Todes, des Traumes und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist« (ebd.). Die Brisanz dieser Offenbarungserfahrung liegt unter anderem darin, dass Chandos derjenige ist, der die Vergiftung der Ratten befahl. Es handelt sich also um »die Offenbarung einer Identität, die nicht allein die biologische Kluft zwischen Mensch und Tier überwindet, sondern zugleich die moralische zwischen Täter und Opfer« (Riedel 1996, S. 32). Riedel zeigt, dass die Rattenepisode Schopenhauers Philosophie des Willens widerspiegelt, deren Einfluss auf den »Brief« Hofmannsthals er eingehend erörtert. Im Hinblick auf »ein nicht erfundenes Jahrhundert, mit allem, was in diesem Jahrhundert geschah« (Aichinger 2002, S. 28), erscheint Hofmanns thals »Brief« in diesem Punkt aber recht prekär : »Nicht die Sprache, beziehungsweise eine Sprachkrise, ist das Thema des Chandos-Briefes, sondern das Leben«, bemerkt Riedel (Riedel 1996, S. 21). Die Erfahrung des Leidens und Entsetzens, die Chandos in der Identifikation mit seinem Opfer macht, führe – abweichend vom Pessimismus
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Schopenhauers – zu einer »Liebe zum Leben« (ebd., S. 33), die eine Bejahung des Leidens einschließt. Dabei bleibt die von Chandos eingenommene Position wie die des lyrischen Ichs von »Manche freilich …« ein Ort mit dem Status eines Zentrums, an dem sich die Offenbarung des »höheren Lebens« zuträgt und von dem aus darüber bildermächtig erzählt wird. In Erstickte Worte (Paroles suffoquées, 1987) fragt Sarah Kofman im Zuge ihres Nachdenkens über die (Un-)Möglichkeit, »[ü]ber und nach Auschwitz« zu erzählen (Kofman 1988, S. 31) : Sprechen – es muß darüber gesprochen werden – ohne Macht ; ohne daß die zu mächtige, souveräne Sprache die schlechthin aporetische Situation, die absolute Ohnmacht und die Hilflosigkeit selbst beherrschen und sie in die Helligkeit und das Glück des Tages einsperren würde ? (Ebd., S. 27)
Wenn Aichinger vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse, deren Zeugenschaft sie mit Kofman teilt, vom Tod spricht, der in ihren Texten enthalten sei, vom Tod als »eine[r] sehr konsequente[n] Art des Verschwindens« und vom Verschwinden als Ziel ihres Schreibens (Interviews 2011, S. 36), scheint es dabei ebenfalls um die Machtlosigkeit der Sprache und der Schreibenden zu gehen. Die Art und Weise, wie Aichinger in ihren Texten die Macht der Sprache infrage stellt, ist spielerisch, ohne einen Machtanspruch zu stellen. Im Vergessen des normativen Sprachgebrauchs lässt sie Wörter und Sätze los in den Freiraum am Abgrund der Bedeutung. »Wult wäre besser als Welt. Weniger brauchbar, weniger geschickt« – so beginnt der Text »Dover« im Band Schlechte Wörter (SchW 1991, S. 41). Ein Wort, das weniger von dem hat, was für gewöhnlich positiv bewertete Eigenschaften sind, sei vorzuziehen. Dies wird nicht im Indikativ, sondern konjunktivisch formuliert. Der erste und der zweite Satz sind zudem nicht verbunden. Es heißt nicht etwa : »Wult wäre besser als Welt«, weil, obwohl oder sofern »[w]eniger brauchbar, weniger geschickt«. Im titelgebenden Text »Schlechte Wörter« sagt die Ich-Stimme : Ich bin auch bei der Bildung von Zusammenhängen vorsichtig geworden. Ich sage nicht während der Regen gegen die Fenster stürzt, schleifen wir die Untergänge vor uns her, sondern ich sage der Regen, der gegen die Fenster stürzt und die Untergänge vor sich her schleifen und so fort. (Ebd., S. 12)
Die gleiche Vorsicht scheint auch in »Dover« zu gelten. Indem darauf verzichtet wird, feste Zusammenhänge zwischen den Sätzen herzustellen, tauchen Möglichkeiten auf, sie so oder anders zu verbinden oder aber unverbunden zu lassen. In »Die Vergeß-
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lichkeit von St. Ives« ist von der »Freiheit« die Rede, welche die Vergesslichkeit ermöglicht : »Die Erinnerung ist abgelegt. Süße Freiheit. Was einem hier alles einfällt« (ebd., S. 58). Nicht verbundene Sätze sind ebenfalls frei, offen für Einfälle, die ihnen verschiedene Beziehungen zueinander gestatten – oder für »Ausfälle«, wie dem Ich in »Schlechte Wörter« als Alternative zum Wort »Einfälle« einfällt (ebd., S. 13). In »Dover« heißt es über Dover : »Von diesem, wie viele sagen, unbeträchtlichen Ort sind alle Bezeichnungen und das, was sie bezeichnen, leicht aus den Angeln zu heben« (ebd., S. 41). Wie Dover sich selbst aus den Angeln hebt, zeigt Thomas Wild in seiner Aichinger-Monographie, in der er dieses Wort über zwei Seiten spielerisch variiert – ein Spiel, das »die konventionelle, vermeintlich feststehende Referenz […] auflöst in seine Bestandteile, in seine Buchstaben, Phoneme, Anklänge, Assoziationen, Grapheme«. Dabei treten »[n]icht-identische Möglichkeiten des identischen Sprachmaterials« hervor (Wild 2021, S. 85). Dover vollzieht dieses Spiel mit sich selbst, ohne es gewaltsam auf andere zu übertragen : »Aber Dover, beharrlich und sehr am Rand, nützt seine Macht nicht. Das eben ist sein Gütezeichen« (SchW 1991, S. 41). Darin erinnert Dover wiederum an das Ich von »Schlechte Wörter« : Ich könnte statt dem Erstbesten leicht dem Besten auf der Spur bleiben, aber ich tue es nicht. Ich will nicht auffallen, ich mische mich lieber unauffällig hinein. Ich schaue zu. Ich schaue zu, wie alles und jedes seine rasche, unzutreffende Bezeichnung bekommt, ich tue sogar seit kurzem mit.« (Ebd., S. 13)
Der Verzicht darauf, die bestehende Sprache zu ändern, versteht sich auch hier als ein Abstand-Halten gegenüber der Macht durch Stärke : »[…] ich beginne eine Schwäche für das Zweit- und Drittbessere zu bekommen« (ebd., S. 12), denn »Gebote jagen mir Angst ein. Deshalb bin ich auch zum Zweitbesseren übergegangen. Das Beste ist geboten. Deshalb« (ebd., S. 13). Es handelt sich gleichermaßen um eine Weigerung, sich von der Macht einschüchtern zu lassen, und um eine Weigerung, mit Macht andere einzuschüchtern. Das Ich spricht von seiner unauffälligen Einmischung. Diese besteht darin, nicht »die besseren Wörter« zu benutzen (ebd., S. 11) : Indem das Ich bei der Kritik schlechter Wörter selber schlechte Wörter gebraucht, untergräbt es zugleich die Autorität seines eigenen Sprechens und vermeidet so, dass seine Kritik der Sprachmacht ihrerseits Macht anstrebt. Wie die Unterlassung im Text »Schlechte Wörter«, mittels derer das Ich die Macht seiner Sprache suspendiert, so finden sich in Aichingers Texten verschiedene Modi des »Nichttuns«, die das Geschriebene zugleich bis zu einem gewissen Grad zurücknehmen, es zum Verschwinden bringen und auf diese Weise die auch der literarischen Sprache inhärente Macht untergraben (Hane 2018). In »Hemlin« im Band Schlechte
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Wörter wird Hemlin wie ein Lebewesen beschrieben, zugleich aber als Ding, Ort oder Gefühl definiert, was den Akt der Definition ad absurdum führt. Im Hörspiel »Gare maritime« (enthalten in der Erstausgabe von Schlechte Wörter) werden die Figuren namens Joan und Joe, die atmen und sprechen, als »Puppen« bezeichnet (Au 1991, S. 270), deren Körper beim Zerfallen »das Geräusch von Knochen oder Hölzern« machen (ebd., S. 318). So geben Aichingers Texte die Fähigkeit auf, etwas endgültig oder eindeutig zu definieren, zu bezeichnen oder zu beschreiben. Sie kommen nicht ohne ein identifizierendes Sprechen aus, aber durchkreuzen immer wieder dessen Macht. Mit Kofman könnte man auch sagen, sie holen »den Verlust des Todes, der Differenz, des Außen, der Fremdheit« wieder in die Sprache herein. Mit einem Zitat aus Das unendliche Gespräch (L’Entretien infini, 1969) Maurice Blanchots spricht Kofman »das der Sprache inhärente Unglück, die in ihr versteckte Lüge« an, den Verlust des Todes, der Differenz, des Außen, der Fremdheit, die sie zudeckt und mittels schöner Namen beherrscht, da ja »jede Sprache darauf eingerichtet ist, das Existierende zu enthüllen, nicht das, was verschwindet, sondern das, was immer bestehen bleibt, und in diesem Verschwinden bilden sich die Bedeutung, die Idee, das Universelle«. (Kofman 1988, S. 43)
Die Sprache der Texte Aichingers lässt, indem sie sich selbst zum Verschwinden bringt, im Gegenzug den Tod, das Differente, das Äußere, das Fremde wieder auftauchen, das im konventionellen Gebrauch der Sprache zugunsten universeller Bedeutung ausgeblendet wird. Aichinger versucht ein »Schreiben unbedingter Gastfreundschaft« (Wild 2021, S. 271) für das Verschwindende – ein Schreiben, das die Sprachkritik radikaler auf sich selbst bezieht als bei Hofmannsthal und sich im Untergraben der eigenen Macht dem Anderen öffnet. Literatur Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (Au 1991) : Auckland. Hörspiele. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (2002) : Ein Brief, in : Roland Spahr/Hubert Spiegel/Oliver Vogel (Hgg.), »Lieber Lord Chandos«. Antworten auf einen Brief. Frankfurt/M., S. 27 – 30.
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Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Günther, Timo (2016) : »Ein Brief« (1902), in : Mathias Mayer/Julian Werlitz (Hgg.), Hofmannsthal Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 316 – 320. Hane, Reika (2018) : Iki wo tatsu gei to »warui kotoba«. Ilse Aichinger ni okeru hikōi to gengohihan [Kunst zu ersticken und »schlechte Wörter«. Nichttun und Sprachkritik bei Ilse Aichinger], in : Neue Beiträge zur Germanistik, 158, S. 104 – 118. Hofmannsthal, Hugo von (1984) : Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 1 (Gedichte 1). Hg. Eugene Weber. Frankfurt/M. Hofmannsthal, Hugo von (1991) : Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 31 (Erfundene Gespräche und Briefe). Hg. Ellen Ritter. Frankfurt/M. Ivanovic, Christine (2009) : Ilse Aichingers Poetik des Verschwindens, in : Symposium. A Quarterly Journal in Modern Literatures, 63.3, S. 178 – 193. Kofman, Sarah (1988) : Erstickte Worte. Übers. Birgit Wagner, Vorwort von Jürg Altwegg. Hg. Peter Engelmann. Wien. Le Rider, Jacques (2016) : Philosophie, in : Mathias Mayer/Julian Werlitz (Hgg.), Hofmannsthal Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 16 – 19. Reitmeier, Tamara (2016) : »Manche freilich …« (1896), in : Mathias Mayer/Julian Werlitz (Hgg.), Hofmannsthal Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, S. 155 – 157. Riedel, Wolfgang (1996) : »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York. Wild, Thomas (2021) : ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger. Frankfurt/M.
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Claudia Fahrenwald
Sprache und Spiel bei Ilse Aichinger und Ludwig Wittgenstein Was wir wirklich brauchen, um ästhetische Rätsel zu lösen, sind bestimmte Vergleiche – das Zusammengruppieren bestimmter Fälle. Ludwig Wittgenstein
Spuren sprachkritischer Selbstreflexion ziehen sich durch Philosophie und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Im Rahmen des linguistic turn wird Sprache von einem weltabbildenden, monistischen und systematischen in ein weltkonstituierendes, pluralistisches und spielerisches Modell überführt (vgl. Fahrenwald 2000). Diese Entwicklung soll am Beispiel des Themas ›Sprache und Spiel‹ bei Ilse Aichinger und Ludwig Wittgenstein exemplarisch rekonstruiert werden. Ilse Aichinger (1921 – 2016) ist wie Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) in Wien geboren und beide verbindet somit die Herkunft aus einem für die Sprachkrise zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hochsensiblen Umfeld. Wittgensteins Diktum über die Philosophie kann leicht abgeändert auch als eine Charakterisierung des poetischen Selbstverständnisses von Ilse Aichinger herangezogen werden : Alle Literatur ist Sprachkritik, »das heißt in diesem Zeitalter, in dem alles erzählt und nichts angehört wird, alles auf den Kopf stellen« (KMF 1991, S. 91). Aichingers Werk gilt nicht als von Wittgenstein beeinflusst, sondern steht eher etwas abseits des literarischen Kanons und in dem Ruf, hermetisch und schwer zugänglich zu sein. Gerade durch diese Sperrigkeit rückt es in die Nähe der Philosophie Wittgensteins und ihrer widersprüchlichen Rezeptionsgeschichte. Ziel des Beitrags ist es, Ilse Aichingers Beziehung zu österreichischen Autorinnen und Autoren um einen sprachphilosophischen Aspekt zu erweitern. Sprache und Schweigen Der Name Ludwig Wittgenstein gehört »zum intellektuellen Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts« (Sloterdijk 1996, S. 7). Unbestritten ist die Bedeutung seines Werks für die Erkenntnis- und Sprachtheorie sowie für die Logik. Doch beschränkt sich der Wirkungsbereich seiner Texte nicht nur auf die Philosophie :
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Sprache und Spiel bei Ilse Aichinger und Ludwig Wittgenstein
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Wenige Denker interessieren und faszinieren so wie er nicht nur Philosophen. Seine Werke gehören über den Textbestand der Philosophie hinaus zur Weltliteratur. Sie beeinflußten Literaten, Künstler, Psychologen und Sozialwissenschaftler. (Vossenkuhl 1995, S. 9)
Die Ergebnisse seiner Sprachanalyse weisen teilweise eine erstaunliche Affinität zu poetologischen Reflexionen innerhalb der modernen Literatur auf. Etwa zeitgleich zum Tractatus (1921), der als eines der »Schlüsselwerke« seiner Zeit angesehen werden kann ( Janik/Toulmin 1987, S. 15), avancierte die Sprachkrise zu einem literarischen Topos der Moderne (so bei Hofmannsthal, Kafka, Rilke, Musil, Valéry, Mallarmé, Joyce und anderen). Das traditionelle Sprachmodell verlangte offensichtlich nach einer umfassenden Revision. Der Tractatus (1921), diese einzige zu Lebzeiten veröffentlichte philosophische Schrift Wittgensteins, »eines der ungewöhnlichsten Bücher der philosophischen Weltliteratur« (Mersch 1991, S. 11), entwickelte sich zu einem kanonischen Text des zwanzigsten Jahrhunderts. Kaum ein bedeutendes philosophisches Werk eröffnet sich dem direkten Verständnis jedoch schwerer. Bereits der Name führt in die Irre : Der Tractatus logico-philosophicus stellt keine philosophische Abhandlung im strengen Sinn dar, er entwirft kein philosophisches System und entfaltet keine philosophische Lehre. Vielmehr endet er abrupt in der Aporie. Trotz der strengen dezimalen Nummerierung handelt es sich eher um eine Sammlung von Aphorismen, und bereits diese aphoristische Struktur weist über die Logik hinaus. Seine prinzipielle Auffassung von Philosophie formuliert Wittgenstein für ein traditionelles Philosophieverständnis eher ungewöhnlich : »Alle Philosophie ist Sprachkritik« (T 4.0031). Das Denken wird somit reduziert auf Sprachanalyse, die sich am Ideal einer absolut klaren Sprache zu orientieren hat. In diesem Programm manifestiert sich der klassisch moderne Impetus des Sprachmodells, das sich zugunsten einer utopischen Zielvorgabe auf nur eine Sprachfunktion, nämlich die des beschreibenden Aussagesatzes reduziert : »Die Welt ist alles, was der Fall ist« (T 1). Die Struktur der Sprache ähnelt demzufolge in sinnvoller Weise der Struktur der Welt. Gemäß einer streng binären Logik können Sätze nur entweder wahr oder falsch sein. Die Summe aller wahren Elementarsätze enthält eine vollständige Beschreibung der Welt. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (T 5.6). Wittgensteins Tractatus kann somit als die Vollendung der neuzeitlichen Rationalisierungstendenz in der Philosophie angesehen werden. Doch bricht der Tractatus mit diesem Befund nicht ab. Gegen Ende der Schrift tauchen unvermittelt Aussagen zum »Mystischen«, zum »Tod«, zu den »Lebensproblemen« und letztlich zum »Schweigen« auf. Der ebenso berühmte wie lapidare Schlusssatz des Textes lautet : »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« (T 7). Diese rigide Begrenzung des Denkbaren und Sagbaren hat zur Folge, dass weite
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Teile der traditionellen Philosophie aus dem rationalen Diskurs herausfallen. So könnte zum Beispiel auch eine vollständige Beschreibung der Welt keine genuin ästhetische Aussage enthalten. Die Wirklichkeit zerfällt in (mindestens) zwei Teile : Jenseits der Welt des Sagbaren, die durch sinnvolle Aussagen abgedeckt ist, eröffnet sich ein Raum des Unsagbaren, der nicht der Welt der Tatsachen angehört und die humane Existenz doch auf subtile Weise tangiert. Die Perspektive ändert sich radikal : »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische« (T 6.522). Auch die Welt des Mystischen lebt von den Zeichen, aber von Zeichen, die nicht positiv unter den Kategorien von Welt und Erfahrung formuliert werden können. Das Unsagbare soll gerade dadurch bewahrt bleiben, dass man nicht versucht, es auszusprechen. Wie steht es vor dem skizzierten sprachtheoretischen Hintergrund um die Möglichkeiten von literarischer Sprache ? Gemäß der Sprachlogik des Tractatus endet die Sprache als Modell der Wirklichkeit an den Grenzen ihres Darstellungsvermögens im Schweigen. Das Sagbare wird an die (wissenschaftliche) Abbildung von Welt geknüpft. Fiktionale Sätze haben demzufolge keinen Sinn, sie sagen nichts aus, da ihre Sprachbilder keine direkten Übersetzungen der Realität darstellen. Die Literatur richtet sich jedoch in ihrem sprachkritischen Impuls grundsätzlich gegen das (Ver-)Schweigen und transzendiert in ihrem Selbstverständnis den Horizont empirisch verifizierbarer Tatsachen. Die Gesetze der wissenschaftlich-beschreibenden Formalsprache werden durch das Schweigen außer Kraft gesetzt. Das Schweigen rettet auf diese Weise sowohl die Sprache als auch die Welt, da es sie vor dem Versuch einer vollständigen rationalen Erschließung bewahrt. Sprache und Grenze(n) Auch Ilse Aichingers Schreiben lässt sich als eine »reflexive Arbeit an und mit Sprache« verstehen (Schmitz-Emans 2007, S. 65). Zahlreiche ihrer Texte handeln explizit von der Sprache und dekonstruieren das traditionelle Sprachmodell in seinen logischen Strukturen. Jede sprachliche Abbildtheorie wird mit der poetischen Sprache als einem Gegenmodell der Wirklichkeitskonstruktion konfrontiert. So reflektiert beispielsweise Ilse Aichingers frühe Erzählung »Wo ich wohne« (1952) genau diesen erkenntnistheoretischen (Um-)Bruch und kann als eine sprachphilosophische Grenzreflexion gelesen werden. Bereits der erste Satz schreibt die krisenhafte Verschiebung des Referenzhorizontes fest : »Ich wohne seit gestern einen Stock tiefer« (Ge 1991, S. 93). Erzählt wird im weiteren Verlauf die Geschichte einer Person, die eines Abends nach einem Konzert nach Hause zurückkehrt und feststellen muss, dass sich ihre Wohnung plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund ein Stockwerk tiefer befindet. Dieses Ereignis ist auf einer rationalen Ebene nicht nachvollziehbar : »Ich
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wollte auf die Tafel schauen, die das Stockwerk bezeichnete, aber gerade da ging das Licht aus« (ebd.). Mit dieser verfremdeten Lichtmetaphorik wird das Paradigma der rationalen Erkenntnis ausgeschaltet. Das traditionelle Zeichenmodell zerbricht (»die Tafel […] die das Stockwerk bezeichnete«). Die Wohnung selbst scheint unverändert : »Alles war wie sonst. In der Küche lag das Brot, das ich zum Abendessen nicht mehr gegessen hatte, noch in der Brotdose. Es war alles unverändert« (ebd., S. 93f.). Nur die Namensschilder an der Tür zeigen bei einem erneuten Feststellungsversuch nicht mehr das an, was sie bisher angezeigt haben : Dort stand : Dritter Stock. Ich lief hinaus, drückte auf den Lichtknopf und las es noch einmal. Dann las ich die Namensschilder auf den übrigen Türen. Es waren die Namen der Leute, die bisher unter mir gewohnt hatten. (Ebd., S. 94)
Dieses Verrutschen der vertrauten Zeichenordnungen bewirkt eine existenzielle Bedrohung des Subjekts und reißt es nachhaltig aus seinen gewohnten Lebenszusammenhängen heraus. Die Grenzen von Raum und Zeit, die Gesetze der Kausalität, alle bislang scheinbar selbstverständlichen Sicherheiten des täglichen Lebens werden plötzlich infrage gestellt. Die ganze Wirklichkeit kippt : Ich wollte dann die Stiegen hinaufgehen, um mich zu überzeugen, wer nun neben den Leuten wohnte, die bisher neben mir gewohnt hatten . . . fühlte mich aber plötzlich so schwach, daß ich zu Bett gehen mußte. Seither liege ich wach und denke darüber nach, was morgen werden soll. (Ebd.)
Der unerklärliche Abstieg setzt sich fort, sodass die Protagonistin nach einigen Tagen mit ihrer Wohnung im Keller angekommen ist und befürchten muss, auch noch bis in den Kanal weiterzuwandern. Ein Ende der Reise ist nicht in Sicht. Der rätselhafte und an einen Alptraum erinnernde Vorgang entwickelt eine eigene, zwingende Logik, die jede bekannte Logik außer Kraft setzt. Auch wenn im Keller die Fenster nun um die Hälfte kleiner wirken, gibt es keinen Maßstab für eine genaue Standortbestimmung mehr : »Ich könnte ja nicht sagen, daß ich es nicht gewohnt bin, weil ich noch vor kurzem im vierten Stock gewohnt habe. Da hätte ich mich schon im dritten Stock beschweren müssen. Jetzt ist es zu spät« (ebd., S. 98). Die Veränderung eines kleinen Details (der »falsche« Platz des Namensschildes) bewirkt die Infragestellung eines ganzen Weltbildes. Alte Ordnungen erweisen sich als nicht mehr tragfähig. Die Zeichen befinden sich in einer grundsätzlichen Disproportionalität zu dem, was sie eigentlich bezeichnen sollten. Der sprachlich vermittelten Wirklichkeit ist grundsätzlich nicht mehr zu trauen.
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Der Text »Meine Sprache und Ich« (1968) impliziert eine ähnliche sprachtheoretische Grenzreflexion und stellt das Bild eines Sachverhalts im Wittgenstein’schen Sinne dar (vgl. Ivanovic 2022, S. 262). Er wirkt wie eine Art Protokoll der Entfremdung zwischen einem Erzähler-Subjekt und seiner Sprache. »Meine Sprache«, so beginnt die Ich-Erzählerin, ist eine, die zu Fremdwörtern neigt. Ich suche sie mir aus, ich hole sie von weit her. Es ist aber eine kleine Sprache. Sie reicht nicht weit. Rund um, rund um mich herum, immer rund um und so fort. (EE 1991, S. 198)
Eine solche Logik des Widerspruchs ist charakteristisch für Ilse Aichingers Schreiben. Ihre Wirklichkeit ist eine radikal subjektive und auf Auslöschung der Sprache in ihrer alltäglichen Brauchbarkeit ausgerichtet : »Daß sich die Sprache entzieht, daß sie Widerstände entgegensetzt, halte ich fast für eine Begründung des Metiers« (Schafroth 1989, S. 2). Die hier präsentierte Sprache setzt von Anfang an auf das Schweigen. Ihre Verweigerung ist total, nicht nur gegenüber institutionell legitimierter Macht (»die Zöllner«), sondern auch gegenüber dem Sprecher-Subjekt : »Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen« (EE 1991, S. 199). Mit diesem Satz vollzieht sich eine radikale »Umwertung jeglichen Sprachwertes« (Görner 1986, S. 12). Zunächst wehrt sich das Erzähler-Ich gegen die Erbarmungslosigkeit dieses Schweigens, doch die Sprache bleibt unbeirrbar, und nur der Küstenwind als ein gleichsam vor-sprachliches Ur-Geräusch dringt in die kommunikationslose Konfrontation. Die poetologische Funktion des Schweigens wird somit offensichtlich (vgl. Fahrenwald 2021). Es gilt sowohl philosophisch als auch literarisch einen Ausweg aus diesen »Aporien der Sprache« (Fahrenwald 2000) zu finden. Sprache und (Sprach-)Spiel Das Spätwerk Wittgensteins besteht aus einer losen Sammlung von Reflexionen, einer »Menge von Landschaftsskizzen« (PU, S. 231), die tendenziell eine Dekonstruktion der frühen Philosophie betreiben. Es präsentiert sich »das Bild einer gesprengten und zersprengten Landschaft, deren Gebäude sich bis auf die Grundmauern in Ruinen und deren Orientierungszeichen sich in weitgehend blinde Wegweiser verwandelt haben« (Kroß 1993, S. 161). Die logische Stringenz des Tractatus ist verschwunden und durch einen gewissen Pragmatismus in der Analyse ersetzt, exemplarische Beschreibung verdrängt systematische Begrifflichkeit. Die irreduzible Vielfalt von Sprachspielen tritt an die Stelle der Utopie von Einheit und Versöhnung. Die Einführung eines neuen
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Denkstils schlägt sich auch in der Schreibweise nieder. Die einzelnen Beiträge sind oftmals in Dialogform verfasst und nicht mehr straff durchnummeriert, was schon rein formal auf eine veränderte Art des Philosophierens verweist. Sprache wird nicht mehr allein als ein Instrument der rationalen Denkform aufgefasst, sondern als ein Handlungszusammenhang, der sich an der realen Dynamik des Lebens orientiert : »Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück« (PU § 116). Mit seiner Hinwendung zur Sprache des Alltags verabschiedet Wittgenstein den Anspruch einer umfassenden und systematischen Sprache als Repräsentationsmedium einer prinzipiell vorgängigen und erschließbaren Wirklichkeit. An seine Stelle tritt die Vorstellung von Sprache als einem gesellschaftlich verankerten Spiel, das potenziell ständiger Veränderung unterliegt und dessen Aussagemöglichkeiten kontextabhängig sind. Das geschlossene Weltbild bricht auf. Die Perspektive der Sprachbetrachtung verschiebt sich grundlegend – weg von einer Analyse der Form hin zur Praxis der Sprache, die logische Stringenz wird überführt in die »Kontingenz des Spiels« (Mersch 1991, S. 36). Es gibt keine apriorischen logischen Regeln, nach denen sich die Sprache zu richten hat. Nicht mehr die Logik, sondern die historisch und kulturell variabel verankerten Sprachspiele sind transzendental. Die neue Codierung des Zeichens ist sein spezifischer Gebrauch innerhalb eines Sprachspiels. Mit der bereits im deutschen Idealismus und auch bei Nietzsche zentralen Kategorie des Spiels wird ein radikaler Perspektivenwechsel angezeigt, der eine Wiederkehr von über lange Zeiten hinweg aus dem philosophischen Diskurs verbannten sprachlichen Potenzialen ermöglicht. Der Vergleich der Sprache mit einem Spiel überführt diese grundsätzlich in einen ästhetischen Gebrauchsmodus : Das Spiel stellt ein eigenes Wirklichkeitsmodell dar, da es einzelne Aspekte der Wirklichkeit in seine eigenen Regeln übersetzt und auf diese Weise (spielerisch) reproduziert. Mit dieser Erweiterung des Sprachbegriffs greift Wittgenstein in traditionelle philosophische Hierarchien ein und holt seit Aristoteles in die Rhetorik und Poetik verbannte Sprechweisen in den Gegenstandsbereich sprachphilosophischer Reflexionen zurück. Von nun an konstituieren die (Spiel-)Regeln der Grammatik den syntaktisch und semantisch möglichen Wirklichkeitsraum. Die Grammatik ersetzt in der Spätphilosophie die Elementarsätze als Basis des sprachlichen Systems, an denen der Tractatus gescheitert ist. Die Grammatik geht jeder Erfahrung voraus und ist auch nicht durch Erfahrung legitimierbar. Sie kann weder selbst zum Inhalt des Spiels werden, noch unterliegt sie den Regeln des Spiels, sondern stellt diese vielmehr erst bereit. In der deskriptiven Hinnahme der unterschiedlichsten Sprachspiele manifestiert sich ein Verlust des Herrschaftsanspruchs gegenüber der Sprache. Sprache ist nicht mehr allein Instrument der rationalen Denkform, sondern Ausdrucksmedium der menschlichen Existenz in ihrer Pluralität. Dennoch wendet sich Wittgenstein gegen einen
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totalen sprachlichen Relativismus und betont die Notwendigkeit einer sozialen Fundierung von Sprache durch die Einbeziehung des außersprachlichen Kontexts : »Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen« (PU § 19). Nur ein gemeinsamer kultureller Hintergrund garantiert die Anerkennung der für einen sinnvollen Sprachgebrauch notwendigen Regeln. Diese Verankerung von Sprache in einem interaktiven Beziehungsgeflecht bedeutet in ihrer Konsequenz für die literarische Produktion : Traditioneller Sinnvorgaben beraubt, befindet sich auch die Literatur nicht in einem leeren Raum totaler ästhetischer Freiheit, sondern bleibt in einem gewissen Maß stets in einen bestehenden kulturellen Horizont eingeschrieben. Ungeachtet der jeweils aktuellen poetologischen Programmatik gestaltet sich der ästhetische Prozess stets ambivalent, ist rekonstruktiv und dekonstruktiv zugleich und umfasst neben der Fixierung bestehender (Wirklichkeits-) Konventionen auch die Notwendigkeit zu ihrer Durchbrechung : »Nichts ist doch wichtiger als die Bildung von fiktiven Begriffen, die uns die unseren erst verstehen lernen« (VB, S. 555). Am Ende der Erklärungen erweisen sich die Sprachspiele als autonom und als die einzige Gewissheit, die wir haben : »Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt ›auf etwas verlassen kann‹.)« (ÜG, S. 509). An die Stelle unendlicher Reflexion treten Reflexionen der Endlichkeit : »Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine : Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben« (ebd., S. 559). Nur die permanente Sprachlichkeit des menschlichen Lebens bezeugt die Unhintergehbarkeit der Sprache stets aufs Neue. Damit ist die Sprache als Medium der Wirklichkeitskonstruktion legitimiert. Es stellt sich die Frage nach einem neuen Verhältnis von Sprache und Poesie. Sprache und Poesie Vor diesem Hintergrund wirkt der Text »Schlechte Wörter« von Ilse Aichinger wie eine unmittelbare Weiterführung ihrer vorangegangenen Sprachreflexionen. Er präsentiert ein Erzähler-Subjekt, das den Bruch mit tradierten literarischen Sprachnormen zum Programm seines Schreibens erhebt : »Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr« (SchW 1991, S. 11). Ein paar Zeilen später heißt es : »Ich beginne eine Schwäche für das Zweit- und das Drittbessere zu bekommen […] Niemand kann von mir verlangen, dass ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind« (ebd., S. 12). Diese Aussage distanziert sich von jedem klassischen Sprachideal und bekennt sich zu einer unvollkommenen und ungenauen Sprachverwendung. Die einzelnen Wörter beziehen ihre semantische Legitimation jenseits konventioneller Be-
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deutungsebenen aus ihrem poetischen Gebrauch. Das kann als ein Versuch verstanden werden, das Sprechen zu befreien von allen Aufgaben, die es im Alltag haben kann. Am Ende verzichtet der Text, der Präzision und Tauglichkeit von Rede so sehr wie von Schweigen hinterfragt, aus sprachkritischen Gründen aufs Verstummen (Hart Nibbrig 1981, S. 264) : »So läßt es sich leben und so läßt es sich sterben und wem das nicht ungenau genug ist, der kann es in dieser Richtung ruhig weiter versuchen. Ihm sind keine Grenzen gesetzt« (SchW 1991, S. 14). Mit ihrem »Entgegenschreiben gegen die beherrschende Sprache, die die herrschende ist« (Moser 1995, S. 14) reklamiert Ilse Aichinger eine neue Bezeichnungspraxis, die sich mit dem Verlust verbindlicher begrifflicher Ordnungsstrukturen abfindet und eine Fragmentierung allen Erkennens und Erlebens akzeptiert : Ich bin auch bei der Bildung von Zusammenhängen vorsichtig geworden. Ich sage nicht während der Regen gegen die Fenster stürzt, schleifen wir die Untergänge vor uns her, sondern ich sage der Regen, der gegen die Fenster stürzt und die Untergänge vor sich her schleifen und so fort. Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind. (SchW 1991, S. 12)
Hier manifestiert sich die Radikalität eines Sprachverständnisses, das mit subtil rebellischen Vorgaben arbeitet und »programmatisch alle übergeordneten Deutungs- und Sinnsysteme« (Reichensperger 1991) ablehnt. Die scheinbar ›zweite Wahl‹ der Wörter erweist sich bei genauem Hinsehen als relativ und von durchaus sprachkritischer Intention : Im herrschaftsfreien Raum des literarischen Diskurses gewinnen die Wörter eine andere und vieldeutige semantische Präsenz, die letztlich die Wirklichkeit neu dimensioniert. Schreiben wird zu einem Spiel mit der Sprache. Wenn hier der Regen, entgegen der üblichen Sprachverwendung, nicht gegen die Fenster prasselt, sondern stürzt, dann verändert sich durch diese zunächst kaum wahrnehmbare Abweichung auch die ›beschriebene‹ Wirklichkeit : Dieses Stürzen wirkt bedrohlich, erinnert beinahe an das Motiv der Sintflut und rückverwandelt den ›Regen‹ in das (sprachlich) ungebändigte Urelement ›Wasser‹. Auch die nächste, unvermittelt auftauchende Redewendung bleibt innerhalb dieses apokalyptischen Bildfeldes : Den Untergang vor sich her schleifen, das fiel mir auch ein, es ist sicher noch viel angreifbarer als der stürzende Regen, denn man schleift nichts vor sich her, man schiebt es oder man stößt es, Karren zum Beispiel oder Rollstühle, während man andere Dinge wie Kartoffelsäcke nachschleift, andere Dinge, keinesfalls Untergänge, die werden anders befördert. Ich weiß das und die bessere Wendung lag mir auch schon auf der Zunge, aber nur um zu fliehen. Ich trauere ihr nicht nach. (SchW 1991, S. 11)
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Claudia Fahrenwald
Die Aufhebung alltäglicher, vertrauter Ordnungen eröffnet die Chance einer poetischen (Re-)Konstruktion neuer Ordnungen. Selbst die Menschheitsgeschichte kann – ausgehend von einzelnen Wörtern – komplett umgeschrieben bzw. neu buchstabiert werden. So heißt es in extremer Sprach- und Wirklichkeitskritik in der Erzählung »Dover« : »Wult wäre besser als Welt. Weniger brauchbar, weniger geschickt. Arde wäre besser als Erde« (ebd., S. 41). Durch diese »Neuschöpfung in den Bruchstellen der Wirklichkeit« (Reichensperger 1991) wird die Sprache auch in der Literatur in eine weltkonstituierende und spielerische Funktionsweise überführt. Sprache
als
Spiel
Mit dem Thema ›Sprache und Spiel‹ bei Ilse Aichinger und Ludwig Wittgenstein lassen sich strukturelle Analogien in der Entwicklung von philosophischer und poetologischer Sprachkonzeption im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts aufzeigen. Die traditionelle Abbildtheorie der Sprache als Medium der Wirklichkeitsrepräsentation erweist sich nicht länger als tragfähig. Sowohl die Philosophie als auch die Literatur antworten auf diesen Befund zunächst mit Schweigen. Erst nach einem erneuten Ausloten der Grenzen von Sprache und mit einer Entdeckung von Sprache als Spiel eröffnet sich sowohl aus philosophischer als auch aus literarischer Perspektive die Möglichkeit eines Neubeginns. Literatur Aichinger, Ilse (Ge 1991) : Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948 – 1952). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. 1991 (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Fahrenwald, Claudia (2000) : Aporien der Sprache. Ludwig Wittgenstein und die Literatur der Moderne. Wien. Fahrenwald, Claudia (2021) : Schweigen, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 232 – 236. Görner, Rüdiger (1986) : Die versprochene Sprache. Über Ilse Aichinger, in : Neue Rundschau 4, S. 8 – 21.
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Sprache und Spiel bei Ilse Aichinger und Ludwig Wittgenstein
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Hart Nibbrig, Christiaan L. (1981) : Die guten und die schlechten Wörter der Ilse Aichinger, in : Ders., Rhetorik des Schweigens. Frankfurt/M., S. 264 – 267. Ivanovic, Christine (2022) : Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921 – 2016). Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im StifterHaus Linz. Janik, Allan/Toulmin, Stephen (1987) : Wittgensteins Wien. München. Kroß, Matthias (1993) : Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über Philosophie, Religion, Ethik und Gewißheit. Berlin. Mersch, Dieter (Hg.) (1991) : Gespräche über Wittgenstein. Wien. Moser, Samuel (Hg.) (1995) : Ilse Aichinger – Leben und Werk. Informationen und Materialien zur Literatur. Frankfurt/M. Reichensperger, Richard (1991) : Die Bergung der Opfer in der Sprache. Ilse Aichinger – Leben und Werk. Beiheft zur Werkausgabe. Frankfurt/M. Schafroth, Heinz F. (1989) : Ilse Aichinger, in : Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München. Schmitz-Emans, Monika (2007) : Schlechte Wörter, lebendige Wörter. Poetologie und Poesie bei Ilse Aichinger, in : Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Text + Kritik Ilse Aichinger. München, S. 57 – 66. Sloterdijk, Peter (1996) : Vorbemerkung, in : Thomas H. Macho, Wittgenstein. München, S. 7 – 9. Vossenkuhl, Wilhelm (1995) : Ludwig Wittgenstein. München. Wittgenstein, Ludwig (1984) (T) : Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M. (= Werkausgabe, Band 1). Wittgenstein, Ludwig (1984) (PU) : Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M. (= Werkausgabe, Band 1). Wittgenstein, Ludwig (1984) (VB) : Vermischte Bemerkungen. Frankfurt/M. (= Werkausgabe, Band 8). Wittgenstein, Ludwig (1984) (ÜB) : Über Gewißheit. Frankfurt/M. (= Werkausgabe, Band 8).
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Christine Frank
»›fort‹ heißt fort.« Ilse Aichinger mit Sigmund Freud lesen […] mit der Kraft des Anfangs und der Kraft des Endes. Das heißt nicht, aus dem Spiel bleiben, sondern im Spiel sich selbst aus dem Spiel lassen. (KMF 1991, 92)
In einem Interview von 1982 bemerkt Ilse Aichinger : »Mich hat schon als Kind das Verschwinden interessiert, einfach, dass etwas verschwinden kann« (Interviews 2011, S. 35). Aichingers Aufmerksamkeit für das Verschwinden erinnert an Sigmund Freuds berühmt gewordene Überlegungen zum Spiel eines allgemein als besonders brav eingeschätzten eineinhalbjährigen Kindes, seines Enkels, dessen Mutter berufstätig ist und der während ihrer Abwesenheit eine Garnspule immer wieder verschwinden und kurz darauf wieder auftauchen lässt, begleitet von Sprechakten, die Freud im Sinne von »fort« und »da« interpretiert (Freud 1975b, S. 224 – 227). Im Folgenden sollen Freuds Überlegungen zum Fort-Da-Spiel des Kindes fruchtbar gemacht werden, um das Verschwinden als Leitkonzept von Ilse Aichingers Poetik (vgl. Bannasch 2007 ; Platen 2008 ; Wolf 2008 ; Ivanovic 2009 ; Platen 2010 ; Rabenstein-Michel 2011 ; Ivanovic 2011 ; Zischler 2011) im Hinblick auf die von ihr betonte Endgültigkeit von »fort« zu präzisieren. In einem zweiten Schritt und mit einem Seitenblick auf Freuds Überlegungen zur Verdrängung (Freud 1975a) soll skizziert werden, wie es Aichinger in ihrem Werk gelingt, das erfahrene Trauma des Verschwindens der Deportierten im Sinne Freuds zu erinnern, zu wiederholen und durchzuarbeiten (vgl. Freud 1982, S. 205 – 215) und es zu überführen in das anarchische Bekenntnis zu einer Poetik der »schlechten Wörter« (SchW 1991). Wenn Aichinger in ihren Texten Freud erwähnt, geschieht dies immer im Zusammenhang von Tod und Verschwinden. Zu Freuds individualpsychologischen oder kulturkritischen Theorien hat sie sich nie explizit geäußert. Gleichwohl lassen sich seine analytischen Ansätze auch für die Lektüre ihrer Texte nutzen.
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»›fort‹ heißt fort.«
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Fort – Da Laut Freud bearbeitet das von ihm beobachtete Kind im wiederholten Akt des WiederHolens des verschwundenen Objekts (und der dabei erlebten Freude/Lust) spielerischperformativ und im symbolischen Zeichen des sprachlichen Ausdrucks die Trauer über die Abwesenheit der Mutter, die, wie ihm offensichtlich bewusst war, zuverlässig nach einiger Zeit wieder zu erscheinen pflegte (vgl. Freud 1975b, S. 224 – 227). Als wesentlich hebt Freud dabei neben der Wiederholung hervor, dass das Kind im spielerischen Durcharbeiten seine Rolle wechselt : Es ersetzt das passive und schmerzvolle Erleben des Verschwindens der Mutter durch die eigene Aktion, indem es sich selbst in die Position eines souveränen Agenten setzt, der Objekte nun gezielt verschwinden und wieder auftauchen lassen kann und der dies in der Wiederholung lustvoll ausagiert. Die kleine Szene ist Teil von Freuds Abhandlung »Jenseits des Lustprinzips« (1920), einer »Spekulation und Meditation über das ›Binden‹ und ›Entbinden‹ von Erregung – einer organischen und psychischen Erregung, die durch das Fremde und rätselhafte Andere, das von jenseits der äußeren oder inneren Grenze hereinbricht, hervorgerufen wird«, wie Franz Wellendorf anlässlich einer Revision von Freuds Text im Rahmen einer Konferenz der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft zusammenfasst (Eith/ Wellendorf 2003, S. 17 – 18). Dass es für Freud in der analytischen Bearbeitung der von ihm schon einige Jahre zuvor beobachteten Szene nicht »nur um die Verarbeitung alltäglicher Trennungserfahrungen zu gehen scheint«, wird von den Veranstaltern der Konferenz eigens betont (ebd., S. 1). Im Hintergrund der Arbeit an seiner Studie steht nämlich auch die eigene Trauer über den unvermuteten Tod seiner jüngsten Tochter Sophie im Januar 1920, der Freud tief bewegte. Sie war die Mutter des kleinen Buben. Die Erinnerung an und die Beschäftigung mit der einige Jahre zurückliegenden Szene des Fort-Da-Spiels ihres Sohnes, in dem das Kind die damals nur vorübergehende Abwesenheit seiner Mutter bearbeitete, wird zum Spiegel der Trauerarbeit, die Freud nun selbst in Bezug auf den endgültigen Verlust seiner Tochter leisten muss. Sie führt ihn schließlich zu einer intensiven Beschäftigung mit dem »Todestrieb«. Mit der Kombination zweier Aktionen – der verworfenen und wieder zum Erscheinen gebrachten Garnspule mit dem Ausdruck von Unlust oder Lust – steht für Freud mehr auf dem Spiel als ›nur‹ die abstrakte Erfassung des »Fortseins« in sprachlichen Zeichen, und damit die Möglichkeit, eine alltägliche Erfahrung als jederzeit und mit anderen Bezugsgrößen wiederholbare zu verallgemeinern. Der die Aktion begleitende sprachliche Ausdruck (zugleich der Ausdruck eines Empfindens) löst sich schon bald von der Nur-Repräsentation der Abwesenden durch die Garnspule ; das Kind kann von nun an das »Fortsein« als solches sprachlich artikulieren und lustvoll ›durchspielen‹. Freud notiert in einer Anmerkung, das Kind habe nur wenige Tage nach dem von ihm
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Christine Frank
zunächst beobachteten Verhalten seiner heimkommenden Mutter in ähnlicher Ausdrucksweise berichtet : ›Baby fort‹, und damit ein zurückliegendes Erlebnis des Tages erzählt, als es nämlich sein eigenes Spiegelbild entdeckt und dessen Entfernung aus dem Spiegel beobachtet hatte (Freud 1975b, S. 225, Anm.1). Dieser Übergang von der Repräsentation der Verschwundenen zum allgemeinen sprachlichen Zeichen scheint mir auch für die Bearbeitung des Verschwindens bei Ilse Aichinger von Bedeutung zu sein. Das Verschwinden, mit dem Aichinger konfrontiert war – nämlich das traumatische Erleben des buchstäblichen ›Verschwindens‹ der Verwandten vor ihren Augen, über deren Ermordung sie erst Jahre später Gewissheit erlangte –, widersetzt sich einer sprachlichen Verallgemeinerung, wie sie der Enkel Freuds leistet. Aufgrund der Ungeheuerlichkeit ihres Verschwindens und ihrer anschließenden Ermordung an für die Zeugin des Verschwindens unbekanntem Ort, auf unbekannte Weise und zu einem unbekannten Zeitpunkt – ein Akt der Auslöschung, der die Trauerarbeit verhindert – kann das Verschwinden nicht im Akt des Erinnerns kompensiert und können die Verschwundenen nicht ohne weiteres in einem Zeichen repräsentiert werden. Aichinger bearbeitet das Verschwinden in ihren literarischen Texten zunächst in verschiedenen Figurationen, bis sie das Geschehene zuletzt mimetisch zu wiederholen sucht, wenn sie sagt : »Ich mache den Ermordeten ihr Verschwinden nur stümperhaft nach : ich gehe ins Kino.« (FuV 1991, S. 71) Möglicherweise hat Aichinger als kleines Kind eine ähnliche Erfahrung gemacht wie der von Freud beobachtete, nur wenige Jahre ältere Bub (es handelt sich um W. Ernest Freud, 1914 – 2008). Auch Aichingers Mutter, eine im Gesundheitsdienst der Stadt Linz engagierte Ärztin, die nach der Geburt der Zwillinge nicht lange pausierte, war immer schon »fort« und wieder »da«. Auffälligerweise findet die Mutter in den zahlreichen Reminiszenzen an die frühe Kindheit in Linz, die Aichinger in ihren späten Jahren veröffentlicht hat, keine Erwähnung. Auch die Tatsache, dass sich Berta Aichinger durch ihre ärztliche Aufklärungsarbeit in Linz einen Namen gemacht hatte, würdigt die Tochter später an keiner Stelle (vgl. dazu die Dokumentation der Tätigkeiten der Mutter in Ivanovic 2022, S. 88 – 135). Stattdessen wird in Ilse Aichingers Erinnerungstexten die Mutter durch eine von außen her ›eindringende‹, fremde und zugleich auch etwas unheimliche »Aufsichtsperson« ersetzt : Meine Schwester und ich sollten eine Aufsichtsperson bekommen, und wir bekamen die erstbeste. Das erfuhren wir damals nicht gleich, aber wir erfuhren vermutlich doch um einige Augenblicke zu früh das Phänomen Emma Schrack. Sie war kurzfristig und auf Probe aus der Linzer Landesirrenanstalt entlassen worden, und sie kannte offenbar vor allem die Griffe der Wärter. (UR 2005, S. 152)
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»›fort‹ heißt fort.«
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In den festen Griffen des Kindermädchens, von dem Aichinger an anderer Stelle schreibt, »ihr Blick glich dem der Mutter Hitlers : hell, glasig, entschlossen und quer durch« (Aichinger 2003), manifestiert sich eine Vorahnung der kommenden Schreckenszeit, die sich schon in ihrem Namen ankündigt. Emma Schrack sei, so Aichinger, schizophren gewesen. Tag für Tag führte sie die Zwillinge wieder zurück an den Ort ihrer erst kurz zuvor aufgehobenen Internierung in der Linzer Irrenanstalt in Niedernhart, die wenige Jahre später ein berüchtigtes Euthanasiezentrum der Nazis wurde (vgl. Kepplinger/Marckhgott/Reese 2008). Die beschriebene Szene, in der die internierten ›Irren‹ im Gegensatz zum einschüchternden Verhalten des Kindermädchens von den Zwillingen als harmlos und freundlich wahrgenommen werden, wird in Aichingers späten Texten wiederholt erinnert, so auch in der Glosse »Freuds verschwundene Nachbarn« (ebenfalls von 2003), wo sie über Emma Schrack schreibt : Was sie mit Sigmund Freuds verschwundenen Nachbarn – jetzt in einer Ausstellung in der Berggasse 19 – gemein hatte, das war schon damals unsere Vorstellung, sie und alle anderen könnten verschwinden. Aber sie blieb eine Weile. Nachbarn gab es nicht, aber viele Gäste, zu lange und zu beschwingte Abende, die noch kein Verschwinden ankündigen wollten und denen wir nicht trauten. Später wurde unser Vater vorsichtshalber, wegen seiner Bücherschulden, in die Nervenklinik gebracht. Dort halfen ihm damals freundliche Nachbarn, irre Patienten. Und ehe auch sie verschwanden, verschwanden wir aus Linz. (UR 2005, S. 102f.)
Die auf Erfahrung beruhende Angst, dass jemand oder etwas verschwinden kann, gehört offenkundig ebenso sehr zu den conditiones humanae wie die Erfindung von Strategien zu ihrer Bewältigung. Der von Freud bei seinem Enkel beobachtete Umgang mit der realiter erfahrenen Abwesenheit der Mutter verweist auf eine grundlegende Konstitution, die in der Philosophie entsprechende Aufmerksamkeit gefunden hat. In seiner umfangreichen Untersuchung zur »Figur des Verschwundenen in der Literatur der Moderne und Postmoderne« (in der das Werk Aichingers keine Erwähnung findet) fasst Sascha Seiler 2016 zusammen, dass »bei dem Begriff des Daseins die Angst um das Nicht-Sein (nach Heidegger) stets implizit ist. So ist jener ›seienden‹ Anwesenheit (im Sinne des Daseins) stets die Vorstellung (bzw. die Angst) vor einer möglichen Abwesenheit (und somit auch der nicht mehr möglichen Wahrnehmung) und damit vor dem Prozess des Verschwindens eingeschrieben, der den Übergang von der Präsenz zur Absenz oder gar vom Dasein zum Nicht-Sein bedeutet« (Seiler 2016, S. 31). In der wie bei Walter Benjamin das Kommende bereits antizipierenden Dar-
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stellung der prägenden Erfahrungen ihrer frühen Kindheit geht es für Aichinger jedoch um mehr als eine anthropologisch gegebene Konstante. Es geht um die zentrale traumatische Erfahrung ihres Lebens, als sie am 6. Mai 1942 sprachlos mit ansehen muss, wie ihre nächsten Angehörigen vor ihren Augen ›verschwinden‹, wie es eine gängige zeitgenössische Formulierung zum Ausdruck brachte. Es ist nicht allein die Tatsache selbst, sondern gerade auch der Sprachgebrauch, den Aichinger bereits in ihrem frühem Roman dokumentiert, wo »Tante Sonja« erwähnt wird, die erst vor kurzem weggegangen war, um ihren Hut umformen zu lassen. Aber sie war nicht wiedergekommen. ›Verschwunden‹, sagten die Leute, und tatsächlich war Tante Sonja verschwunden wie eine glänzende Münze in einem rostigen Kanalgitter. Der Hut blieb ungeformt. (GrH 1991, S. 163).
In ihrem Erinnerungstext von 2003 kann Aichinger das frühkindliche befürchtete Verschwinden, das sie möglicherweise in der Abwesenheit der Mutter erlebt und auf das Kindermädchen projiziert hat, nicht ohne die spätere Erfahrung des Verschwindens der jüdischen Bürger Wiens rekapitulieren. Es verbindet sich an der zitierten Stelle einerseits mit der Internierungspraxis, der auch der bibliomane Vater für kurze Zeit unterworfen wurde. Andererseits deutet es im Rückblick bereits voraus auf das endgültige Verschwinden von Freuds Nachbarn, das Verschwinden der ›irren Patienten‹ aus Niedernhart und das Verschwinden der eigenen Angehörigen – ein Darstellungsverfahren der Überblendung von Ereignissen, die in Raum und Zeit weit voneinander getrennt sind, das Aichinger in den meisten ihrer späten Erinnerungen an ihre Kindheit in Linz um 1920 anwendet und das deutliche Parallelen zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert aufweist (Benjamin 2000). Ausgenommen vom Verschwinden, und das erscheint auffällig, wird an der zitierten Stelle allerdings der Vater, der »vorsichtshalber«, also zu seinem eigenen Schutz und nur vorübergehend, »in die Nervenklinik gebracht« wurde. Und entgegen einer heimlichen – nun explizit gemachten – Hoffnung verschwinden gerade nicht jene Gäste, denen die Kinder ohnehin »nicht trauten«. Stattdessen wird in einem mimetischen Zugriff (vgl. eine ebenfalls späte Formulierung Aichingers, in der sie sagt »Ich mache den Ermordeten ihr Verschwinden […] nach«, FuV 2001, S. 71) die nach der Trennung vom Vater erfolgte Rückkehr der Mutter und der Zwillinge nach Wien von Aichinger als Verschwinden ihrer selbst aus der Welt ihrer Kindheit in Linz apostrophiert. In einer 1987 erstmals veröffentlichten Notiz von 1951 hält Aichinger eine weitere Szene des Verschwindens fest :
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»›fort‹ heißt fort.«
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Ich sehe den kleinen Jörg vor mir, abends, im Spitalshof. Sein Vater ist gerade im Eingang verschwunden und ich führe ihn im Wagen herum, immer die Anhöhe hinauf und wieder hinunter, und er ist ganz still und möchte gar nicht mehr aus dem Wagen heraus und lacht auch noch über meine Späße, und ich denke, so brav ist er schon lange nicht gewesen – aber in diesem Augenblick verzieht sich sein Gesicht und er beginnt zu schreien. In diesem Augenblick hat ihm das Gefühl der Fremdheit und Verlassenheit, das ihn in Wirklichkeit so still werden ließ, die Kehle abgeschnürt. So kommt mir die Tugend und Ausgeglichenheit mancher Menschen vor – als würden sie gleich zu schreien beginnen. Als würden sie sich im nächsten Augenblick erst klar darüber werden, daß der Vater fort ist, verschwunden ist. (KMF 1991, S. 49)
Anders als der Enkel Freuds kann das hier von Aichinger beobachtete Kleinkind die vorübergehende Abwesenheit des Vaters nicht im Vertrauen auf dessen Wiederkehr bearbeiten und damit bewältigen. Was dieses Kind zum Schreien bringt, ist der Horror angesichts des erst mit zeitlicher Verzögerung plötzlich als endgültig erfassten Verschwindens – »daß der Vater fort ist« –, eine Erfahrung, die inkommensurabel bleibt. An dem Verhalten des Kleinkinds erkennt Aichinger dann per Analogie in der »Tugend und Ausgeglichenheit mancher Menschen« einen äußeren Schutzmechanismus für die traumatisch gelähmte Sprachlosigkeit angesichts des erfahrenen Schreckens, die jederzeit in einen nicht zu stillenden Schrei ausbrechen könnte. In der kleine Glosse »Eine Reise nach fort« schließlich, wiederum aus ihrem Spätwerk, lässt Aichinger keinen Zweifel an der Endgültigkeit des Verschwindens, die in dem kleinen Wörtchen »fort« präzise zum Ausdruck kommt : Eine Reise nach »fort« »Fort« heißt fort. Kein Weg zurück. Ob ins Kino, zum Skifahren oder zum nächsten Badesee, ob nach Venedig oder ins Salzkammergut – man ist »fortgegangen«. »Ich verabschiede mich«, hörte ich unlängst im Stadtpark. Das könnte heißen : »Ich gebe mir den Abschied, einen ohne Wiederkehr.« Ob ich im Mondsee ertrinke – was in Zeitabständen immer wieder ganzen Familien passiert – ein Schneebrett lostrete oder rund um Verdun liegenbleibe : »Fort« braucht keine Namen, es muß sich nicht schmücken, nicht feierlich aus der Taufe gehoben werden, keine Freuden- oder Schmerzenstränen auslösen : Es steht für sich. Aus Agatha Christies Biographie erfährt man, dass sie einmal drei Wochen lang verschwand, wieder an die ihr gemäße Oberfläche kam und nicht gefragt werden wollte, wo sie war. Entscheidend bleibt zuletzt doch : Sie war fort wie eine ihrer Figuren, zum Beispiel
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Hochwürden (später Kanonikus) Pennyfather oder die amerikanische Freundin Mrs. McAllister aus Boston, in den Zimmern Nr. 1 und Nr. 22, mit oder ohne Bad, in »Bertram’s Hotel« im Herzen Londons, in der Nähe des Hyde-Parks. Auch Agatha Christie hatte eine Wohnung in dieser Gegend, nicht weit von »St. Theresa’s Home«, wo spanische Nonnen, die seit Jahrzehnten dort leben, immer noch ein sehr gebrochenes Englisch sprechen. Doch kein Zentrum, keine Metropole kann sich mit »fort« messen. Man kann nichts daran steigern oder abschwächen : Fort ist fort. (20. 9. 2002) (UR 2005, S. 64)
Was Aichinger hier formuliert, unterscheidet sich kategorisch von dem zuvor beschriebenen Erleben des Verschwindens anderer. Agatha Christies ›Fortsein‹ beruht auf ihrer bewussten Entscheidung und artikuliert sich als autonome Handlung, die ebenso autonom ihr ›Wiedererscheinen‹ regeln kann. Sie ist ihr eigenes ›Fortsein‹, das durch keine symbolische Repräsentation überbrückt wird und auch im Nachhinein keine Erklärung findet, sondern sich als reine Abwesenheit manifestiert – und als solche Anerkennung fordert. Agatha Christies persönliches Verhalten, die Entscheidung einmal selbst eine Zeit lang fortzubleiben und ohne jede Erklärung wieder aufzutauchen, ›da‹ zu sein, kehrt als Verhaltensmuster dann auch im literarischen Text bei einigen von Christies Romanfiguren wieder. Aichinger, die ihre späten Texte fast immer über Oppositionen strukturiert, entdeckt das dem Verhalten Agatha Christies entgegengesetzte Modell in alltäglichen sprachlichen Floskeln wieder. Was gar nicht so endgültig gemeint ist, antizipiert im symbolischen Sprechakt zumindest die Möglichkeit eines ›Abschieds ohne Wiederkehr‹. Es ist das Feststellen der Tatsache als solcher im schlichten »Fort«, das die Endgültigkeit des ›Verschwundenseins‹ bezeichnet : »›fort‹ braucht keine Namen, […] Es steht für sich« (UR 2005, S. 64). »Fort« sucht nicht nach Erklärungen. Es bezeichnet das ›Verschwundensein‹, den nicht mehr revidierbaren, nicht wieder in das Auftauchen zurückführbaren Zustand, dem keine Bewegung, weder im aktiven noch im passiven Sinne mehr abgelesen werden kann. Es ist ein Zustand, der kein Wiedererscheinen der Verschwundenen erwarten lässt, keine Chance auf lustvolle Auflösung im ›Da‹ bietet – und der keine sprachliche Beschönigung erlaubt. In seinem unhintergehbaren Charakter gehört »Fort« in Aichingers Werk zu den Worten, die ›definieren‹ wie »Dover« (1974), »Schnee« (1975) oder »Heu« (1988). Obwohl zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und in verschiedenen Büchern erschienen, reflektieren alle drei genannten Texte in vergleichbarer Weise das Charakteristikum des jeweiligen Titelwortes, das sich der sprachlichen Funktion, symbolisch etwas zu repräsentieren, entzieht (auch und gerade Dover ist mehr als das Toponym eines realen Ortes), indem es eine Form der Endgültigkeit markiert, in der alle Möglichkeiten enthalten und zugleich aufgehoben sind :
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»›fort‹ heißt fort.«
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Weshalb betrachten wir unsere Augenblicke, wenn nicht in Dover ? Weshalb schätzen wir sie hoch oder gering ein, lassen sie uns stehlen oder nicht ? Und wie ? Wie bestehst du einen Augenblick, der noch vor dir liegt und doch schon ein für allemal verloren ist ? Von den gewonnenen, die hinter uns liegen, wollen wir schweigen. Wie verlernen wir es, unlängst und später zu sagen, eben noch und gleich ? Wie, wenn nicht hier ? Alles in Dover. Dover kennt die Vielfalt der Disziplinen, die den Augenblicken dienen. (SchW 1991, S. 43) Schnee ist ein Wort. Es gibt nicht viele Wörter. Es gibt nicht viele, die nicht bezeichnen, womit sie eins sind, weil sie es nicht bezeichnen. Die nicht eins sind mit dem, was sie nicht bezeichnen, weil sie damit eins sind. Aber Schnee ist ein Wort. (KMF 1991, S. 114) Heu Heu, Heu in den Kinderscheuern, wo zu verbrennen oder sich für immer zu verlieren gleich leicht ist. Gebündeltes Heu, Heu auf den Feldern, Heu als die bei der tödlichen Vielfalt der Möglichkeiten gerade so zueinander gegebenen Buchstaben, diese Richtung, aber keine andere. Heu, das im Wind fliegt, auf den dürren Stoppeln bleibt, für immer von den anderen getrennt, das den Schnee erwartet, der ihm den Himmel nehmen wird, sein unbewegtes, mattes Ebenbild. Die Gewißheit, daß es keinen Trost gibt, aber den Jubel, Heu, Schnee und Ende. (VR 1991, S. 35)
»Heu, Schnee und Ende« – in dieser Reihe könnte auch »Fort« stehen. Angesichts des stumm, passiv erfahrenen und die Betrachterin überwältigenden realen ›Verschwindens‹
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der Juden aus Wien, unter ihnen die nächsten Angehörigen, ist eines gewiss : »dass es keinen Trost gibt«. Was ist dann aber gemeint, was für ein ›Enden’ ist gemeint, wenn das Gedicht zuletzt dagegenhält : »[…] aber den Jubel, / Heu, Schnee und Ende« ? Möglicherweise die Einsicht, dass Worte wie »Heu, Schnee und Ende«, oder auch »Dover« und »Fort« (»Dover« auch zu lesen als Anagramm zu »Fort«) das eine wie das andere enthalten, aber nicht bezeichnen : »Fort« und »Da«, Abwesenheit und Anwesenheit. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten In Aichingers Werk lässt sich Buch für Buch das immer wieder von Neuem unternommene ›Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten‹ (vgl. Freud 1982, S. 205 – 215) der traumatisch erlebten Szene auf der Schwedenbrücke verfolgen, eine Form der Trauerarbeit im poetischen Text, in deren Verlauf sich der sprachliche Zugriff auf das Erlebte verändert. Weil Aichinger ›Fort‹ dem Bezeichnen entzieht und es mit Agatha Christie auffasst als das, was es ist : »fort heißt fort«, lässt es sich vom Verschwinden unterscheiden. In ihrem Insistieren auf den aktiven Vorgang des Verschwindens öffnet sich Aichinger dafür, den traumatischen Gehalt von »Fort« zu bearbeiten. Wie das von Freud beobachtete Kind, aber im Gegensatz zu dem von ihr selbst beobachteten kleinen »Jörg«, der erst nach einer Latenzphase das ›Verschwundensein‹ seines Vaters erfasst hat und daraufhin in den Schrei ausbricht, bearbeitet Aichinger das Trauma, Zeugin der Deportationen geworden zu sein und damit leben zu müssen, dass die Verschwundenen endgültig »fort« sind, indem auch sie sich zumindest intentional aus der passiven Rolle der Beobachterin in eine aktive Rolle versetzt. In der 1960 niedergeschriebenen Erzählung »Mein grüner Esel« (EE 1991, S. 79 – 82) geschieht dies auf paradigmatische Weise. Der grüne Esel ist dadurch definiert, dass er »jeden Abend« erscheint, »grün« über die Brücke geht und »im rechten Moment« wieder verschwindet (EE 1991, S. 81). Schon im ersten Satz begründet sich das sprechende Ich als Agent gegenüber dem beobachteten Geschehen, dessen Ablauf und Fortgang es nachsinnt : Ich sehe täglich einen grünen Esel über die Eisenbahnbrücke gehen, seine Hufe klappern auf den Bohlen, sein Kopf ragt über das Geländer. Ich weiß nicht, woher er kommt, ich konnte es noch nie beobachten. Ich vermute aber, aus dem aufgelassenen Elektrizitätswerk jenseits der Brücke, von wo die Straße pfeilgerade nach Nordwesten geht […] er kommt mit dem ersten unmerklichen Nachlassen des Lichtes, da sehe ich ihn, meistens schon oben auf dem Steg oder während er die Stegtreppen hinaufsteigt. […] Ist er jenseits der Mitte der Brücke angelangt, so verschwindet er nach einigem Zögern, ohne umzukehren. Darüber, nämlich
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»›fort‹ heißt fort.«
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über die Art seines Verschwindens, täusche ich mich nicht. Ich verstehe das auch ganz gut, weshalb sollte er sich die Mühe nehmen und umkehren, da er den Weg doch kennt ? (EE 1991, S. 79 – 80)
Dem regelmäßigen Auftauchen des Esels, über das das sprechende Ich Vermutungen anstellt, folgt ebenso regelmäßig sein Verschwinden, kaum dass er »jenseits der Mitte der Brücke angelangt« ist. So merkwürdig es auch erscheinen mag, dies allein steht außer Frage : »Darüber, über die Art seines Verschwindens, täusche ich mich nicht.« Nicht das Auftauchen, das Verschwinden ist das Moment, das den Esel definiert. Im Gegensatz zur Puppe in der etwa drei Jahre später entstandenen gleichnamigen Erzählung, in der das »Fort« der Menschen, die eben noch »da« waren, zur Erfahrung des Unheimlichen wird (EE 1991, S. 87 – 92 ; vgl. dazu Leitgeb 2020, S. 95 – 98), vermag sich die Erzählstimme in Mein grüner Esel am zyklischen »Fort« und »Da« des Esels positiv zu orientieren – und sich zugleich von ihm abzugrenzen. Sie stellt Vermutungen an über seine Befindlichkeit und sein Leben – oder sogar seinen Tod : […] er benötigt die Ruhe. Es könnte sogar sein, daß er jedesmal den Tod benötigt, ich weiß es nicht. Ich halte es für anstrengend, jeden Abend so grün wie er über die Brücke zu gehen, zu schauen wie er und im rechten Moment zu verschwinden. (EE 1991, S. 81)
Vor allem aber beginnt die Erzählstimme, sich den Esel über das Beobachten anzueignen und emotional zu besetzen : »Mein Esel […] Für meine Augen, mein Esel also« (EE 1991, S. 80). Mit der Aneignung im Anschauen und dem in die Reflexion eingebundenen ›Lernen‹ vom Esel wird schließlich auch der mögliche Verlust antizipiert, die Angst vor dem »Ausbleiben« des Esels, seinem endgültigen Verschwinden : »Und so werde ich es vielleicht auch ertragen lernen, wenn er eines Tages nicht mehr kommt, denn das befürchte ich« (EE 1991, S. 82). Wenn sich die Erzählstimme das Leben des Esels jenseits seines täglichen kurzen Erscheinens auf der Brücke ausmalt, bleibt ihr am Schluss eine Hoffnung : »Daß er manchmal schläft, anstatt zu sterben« (ebd.). Damit wird die Erzählung Mein grüner Esel lesbar als ein dem »Fort« – »Da« von Freuds Enkel strukturell vergleichbarer Versuch, das Trauma vom (einmaligen) Auftauchen und (endgültigen) Verschwinden der Deportierten auf der Schwedenbrücke im Raum einer poetischen Konstruktion zu bewältigen. Es ist die Autorin, die das wiederholte, regelmäßige Auftauchen und Verschwinden des grünen Esels auf der Brücke sprachlich generiert. Und es ist diese Konstruktion, die es (stellvertretend) der Erzählstimme ermöglicht, das beobachtete Geschehen emotional zu besetzen, den Esel zu appropriieren (»mein grüner Esel«) – und schließlich das begehrte Objekt auch wieder loszulassen, sich mit dessen Leben (oder Sterben) im anderen Raum – und schließlich sogar
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mit der Möglichkeit seines endgültigen Ausbleibens, seinem »Fortsein« – abzufinden ; ein geradezu klassischer Prozess des »›Binden[s]‹ und ›Entbinden[s]‹ von Erregung – einer organischen und psychischen Erregung, die durch das Fremde und rätselhafte Andere, das von jenseits der äußeren oder inneren Grenze hereinbricht«, wie Freuds »Fort-Da«-Paradigma gelesen wird (Eith/ Wellendorf 2003, S. 17 – 18). Auffallend ist, dass es in der Erzählung kein Anzeichen einer versuchten Intervention der Erzählinstanz in das Geschehen auf der Brücke gibt : Weder nähert sie sich dem Esel oder wird der Esel angesprochen, noch wird in irgendeiner Weise versucht, den Esel in den eigenen Bereich ›herüberzuholen‹. Die Erzählstimme bleibt in der Position reglosen, dem Esel gegenüber stummen Beobachtens. Es ist der Text selbst, der bedeutend wird als Raum der Verhandlung dessen, was da auf der Brücke geschieht und wie es von der Erzählstimme reflektiert wird. In der regelmäßig auftauchenden Gestalt des Esels wird das real erlebte Trauma in einem traumartigen Setting wiederholt und ermöglicht zuletzt in der Appropriation »mein grüner Esel« eine Bearbeitung in der Sprache und durch die Sprache. Das Gesamtwerk Aichingers ist durchzogen von Texten, die das Verschwinden als aktiven Vorgang reflektieren, die auf den Moment des Verschwindens fixiert sind und die die Verschwindenden in diesem Wesenszug zu erfassen versuchen, um sie nicht als Verschwundene der Verlorenheit preiszugeben (vgl. dazu Ivanovic 2021 ; Ivanovic 2023). Wie aber lässt sich die unhintergehbare Endgültigkeit des »Fort«, auf das kein »Da« mehr folgen kann, erfassen ? Es scheint, als ob Aichinger in ihrem spätesten Werk das konstruktive Schema des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens weiter entwickelt hat im Sinne jener oben zitierten, an Agatha Christie beobachteten bewussten Entscheidung für das Verschwinden, wie sie es vor allem in den Interviews ihrer letzten Jahre immer wieder als Wunschvorstellung und Lebenshaltung formuliert : »Ich will verschwinden« (Interviews, S. 110). In dem Band Schlechte Wörter (1976) findet sich zwar immer noch die Auseinandersetzung mit dem »Fort« – nun als vergebliche Hoffnung auf das Wiederauftauchen, auf das »Da« in »Die Vergeßlichkeit von St. Ives«, wo »der Junge aus L. […] vergebens« (SchW 1991, S. 55) auf seine im Meer verschwundene Schwester wartet (möglicherweise eine literarische Reminiszenz und zugleich Umkehrung von St. Ives als dem Erinnerungsort per se für die aus London stammende Autorin Virginia Woolf, vgl. »A Sketch of the Past«, Woolf 1985, S. 61 – 159). Der Junge wartet so lange, bis er »die Vergeßlichkeit von St.Ives« gelernt hat und sich »nicht mehr erinnern muß« (SchW 1991, S. 57). Zunehmend kommen so in Aichingers Texten neben dem Verschwinden weitere, verwandte Begriffe ins Spiel : das Aufgeben, Aufhören, Weglassen ( Joan in Gare maritime versucht ihren Atem ›wegzulassen‹, vgl. Au 1991, S. 278), schließlich explizit die Untergänge (vgl. vor allem den Text »Schlechte Wörter« in SchW 1991, S. 11 – 14). Es sind keine Worte mehr mit der Vorsilbe ver-.
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In Schlechte Wörter (1976) widmet sich Aichinger bevorzugt dem akuten Moment, dem Hier und Jetzt, und befragt die Namen und Begriffe, die Orte und ihre Bezeichnungen. Es ist die Sprache selbst, die hier befragt wird im Hinblick auf ihre Möglichkeit die conditio humana im Spannungsverhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit zu erfassen und symbolisch zu repräsentieren. Während Günter Eich in einem viel zitierten Diktum beim Schriftsteller-Treffen in Vézelay noch 1956 die Überzeugung formuliert hatte : »Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen« (Eich 1991, IV, S. 613), differenziert Jacques Lacan in seinem Seminar 11 (1964), ausgehend von Freuds »Fort« – »Da«, zwischen der symbolischen Repräsentation des begehrten Objekts und der Repräsentation der Vorstellung (des/der Verschwundenen) : »Ce qu’il vise, c’est ce qui, essentiellement, n’est pas là, en tant que représenté — car c’est le jeu même qui est le Repräsentanz de la Vorstellung« (Lacan 1973, S. 61). Aichinger (er)findet in ihrer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Repräsentation von »Fort« – »Da« schließlich die Figur »Hemlin«, die (wie die Worte »fort«, »Dover«) das ist, was sie bezeichnet : Titel des Texts, der Text selbst und das, was in diesem Text angesprochen, in die Sprache gerufen wird. »Verschwinde nur nicht hinter deiner bescheidenen Figur, lass sie auspendeln«, ruft das Erzähler-Ich »Hemlin« zu. Ausgependelt – durch Pendeln erschlossen – wird im Text unter dem Namen Hemlin Verschiedenstes : ein Ort »im Staate Jackson«, eine »von Veronese skizziert[e]« weibliche Gestalt, ein »Briefkopf« (SchW 1991, S. 81). Hemlin, den oder die oder das die Erzählstimme anspricht, ja, ruft (»Hemlin, Hemlin, wo bist du ?«, SchW 1991, S. 82), ist abwesend und – im Monolog des Textes – präsent zugleich. Hemlin könnte in jeder Figur aufscheinen – oder in keiner. Hemlin, selbst sprachlos, ist dann auch keine Figur mehr. Hemlin »braucht keine Namen, […] muß sich nicht schmücken […] steht für sich« (UR 2005, S. 64 ; Hervorhebung CF). Wie der grüne Esel schließlich als »Mein grüner Esel« erkannt wird, ist Hemlin die Befindlichkeit dessen, der hier spricht, »eine Art unvernünftige[r] Freude aus in sich unvernünftigen Anlässen« (SchW 1991, S. 82), etwas, das man in den unterschiedlichsten Erscheinungen erfahren kann und das sich auch wieder entzieht : »Da läuft er.« Was auftaucht, kann auch wieder verschwinden, das ist das Grundprinzip, dem Aichinger von klein auf mit Interesse nachforscht : wo »Da« war, kann »Fort« werden. Hemlin ist wie »Dover«, »Schnee« oder »Heu« kein Name ; »Hemlin« steht für sich. Vivian Liska hat bereits 2002 in einer eindrucksvollen Analyse Kafkas Figur Odradek im Kontrast zu Aichingers Hemlin gelesen, wobei nochmals darauf hinzuweisen ist, dass Aichingers Text »Hemlin« heißt und von Hemlin spricht, während Odradek im Titel von Kafkas Erzählung als »Die Sorge des Hausvaters« bezeichnet wird – ein entscheidender Unterschied, wenn man bedenkt, dass hier das Verhältnis von sprachlichem Symbol und der damit ins Leben gerufenen symbolischen Ordnung
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infrage steht, einer Ordnung, die sich hier in der kaum zu fassenden, beständig sich wandelnden und jedem Zugriff sich entziehenden ›Figur‹ Hemlin manifestiert, die allein in ihrer Ansprechbarkeit besteht. Und darin erkennt Liska das Differenzmerkmal überhaupt : »Was bei Kafka hier über Odradek gesagt wird, ist in Aichingers Text gleichzeitig szenisch angedeutet und sprachlich vollzogen« (Liska 2002, S. 282). Der Sprechmodus der Textstimme, die zwischen herrischem Gestus, schmeichelnden Bitten und gelinder Verzweiflung schwankt, ist ebenso aussagekräftig wie die Hemlin immer wieder von neuem einkreisenden und verfehlenden Definitionsversuche einerseits, die Ansätze, ihn laufen zu lassen, andererseits. Der Text entfalte sich, wie Liska darlegt, »aus der Gegenbewegung zwei einander widerstrebender Stimmen, einer, die Hemlin festzulegen versucht, und einer anderen, die den semantischen Freiraum, den er schafft, offenhält« (ebd., S. 283). Nach einem minutiösen Durchgang durch die einzelnen Abschnitte, die sich jeweils wie eine »Umkehrung des vorausgehenden« zueinander verhalten, interpretiert Liska Hemlin abschließend als ein Verschwinden anderer Ordnung, als Verwirklichung der Möglichkeit »das Bild der vorhandenen Vorstellungen zu verlassen. Hemlin ist – und behält dabei das letzte Wort, seinen Namen, der das Einzige ist, das Hemlin ist. In seiner semantischen Leere und deutungslosen Fülle wird das Wort als Name zum Ding aus Sprache« (ebd., S. 287). Was bei Kafka noch als »Sorge« auf den »Hausvater« bezogen war, ist hier aufgehoben im Sprechakt der Textstimme ; es steht für sich. Damit ist implizit ein weiterer elementarer Unterschied zu Kafkas Text markiert. Am Beginn ihres Vergleichs argumentiert Liska, das menschliche Bestreben »die Dinge in den Griff [zu] bekommen« (Liska 2002, S. 276), entspringe dem (wie eine narzisstische Kränkung erfahrenen Miss-)Verhältnis zwischen der Sterblichkeit der Lebenden und der Dauer der leblosen Dinge : »Begriffen und erfasst aber werden sie in Sprache. Indem wir die Dinge benennen, erteilen wir ihnen eine Rolle und machen sie uns dienstbar« (ebd.). Dass Odradek, so desolat seine Erscheinung auch wirkt, sich dieser Dienstbarkeit nicht nur verweigert, sondern »dass er mich auch noch überleben sollte«, ist dem Hausvater – dem Ich-Erzähler in Kafkas Text, eine »fast schmerzliche« Vorstellung. In Aichingers »Hemlin« hingegen ist – ganz im Gegensatz zu so vielen anderen ihrer Texte – vom Sterben keine Rede. Denn Hemlin ist weder ein Lebewesen noch eine Sache, sondern eine sich unterschiedlich manifestierende (Wunsch-) Vorstellung. Könnte es sein, dass Ilse Aichinger in diesem Text – doch auch – die Sprache der Psychoanalyse Freuds aufs Korn nimmt ? Das Erkennen von Anlässen, die zu Symptombildung führen, Symptome, die die Wiederkehr von Verdrängtem anzeigen und die auf ihre Ursprünge hin befragt werden ? Dass sie in »Hemlin« das Ad-absurdum-Führen von Vernunft im Plädoyer für »eine Art unvernünftiger Freude« durchspielt ? Und deren existenzielle Macht unter Beweis stellt ? Dann wäre auch die-
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ser Text letztlich wieder bei der – nun genau entgegengesetzt bewerteten – »Sorge des Hausvaters« angelangt. Hemlin, eine Art unvernünftiger Freude aus in sich vernünftigen Anlässen. Die eigenartigen, lange bekannten Anzeichen finden sich am stärksten an den Nordost- beziehungsweise Ostküsten. Vogelartiges Gelächter, sich überschlagendes Wachstum, die Freude, durch die Zähne zu sprechen und so fort. Das alles, schon vor Lawrence bis zum Überdruß beschrieben, hat seinen Ursprung in der menschlichen Neigung, Anlässe unterzubewerten. Diese unterbewerteten Anlässe wachsen heimlich und brechen dann aus. Wir ersparen uns Quellennachweise. (SchW 1991, S. 82)
Vivian Liska liest diesen fünften Abschnitt von »Hemlin« gewissermaßen im Gegensinn zu Freuds »Wiederkehr des Verdrängten« (Freud 1975a, S. 115) als »Ausbruch des Verdrängten« (Liska 2002, S. 10) und interpretiert insbesondere das »Wir« im zuletzt zitierten Satz als Akt der Solidarisierung mit »Hemlin, mit der unvernünftigen Freude und ihrem Ausbruch ins Offene. Keine Nachweise von Herkunft und Identität sollen sie wieder in die Referentialität, in Bekanntes einbringen. Sie sollen fremd bleiben, und schwer zu fassen« (Liska 2002, S. 10 ; Hervorhebung CF). Dennoch ist auch diese »Art unvernünftiger Freude aus in sich vernünftigen Anlässen« nicht gegen das Verschwinden gefeit (wiederum im Gegensatz zu Odradek, der keinen Anfang und kein Ende kennt, nur die unregelmäßige Wiederkehr in das Haus des Hausvaters) ; die »unterbewerteten Anlässe« »wachsen heimlich« wie auch »die Quellen wachsen« und drohen Hemlin zu »ersäufen«. Hier kehrt auch die Angst wieder : die Angst, Hemlin könnte verschwinden, äußert die Erzählstimme in abwehrender Geste bereits zu Beginn : »Verschwinde nur nicht hinter deiner bescheidenen Figur […]« (Schw 1991, S. 81). In seiner Schrift über »Die Verdrängung« [1915] weist Freud genau auf diese Verwandlung des Affekts in Angst hin (vgl. Freud 1975a, S. 114). Die beiden knappen Absätze, die den Schluss von »Hemlin« bilden, machen es unverkennbar, wie weit Aichinger von der Gewinnung der Macht über das Verschwindenlassen, die das Kind im Spiel von »Fort« und »Da« lustvoll erlebt, entfernt ist, und in welchem Maße die Angst vor dem Verschwinden das Sprechen antreibt : Hemlin, Hemlin, wo bist du ? Komm doch Hemlin, sie ersäufen dich, die Quellen wachsen. Hemlin muß ein Monument sein, rund, macht Schwierigkeiten. Hemlin. (SchW 1991, S. 82)
Was bleibt, ist im Angesicht des permanenten Pendelns zwischen »Fort« – »Da« die Anrufung des Namens, des Namens als »Monument« – Gedenkort ; nein, nicht des Namens, sondern »Hemlins« selbst – ein geradezu Beckett’sches Ende.
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Auf rotem Teppich in die Emigration – Distanzierte Rückblicke Nur gelegentlich und eher nebenbei taucht Freuds Name in Aichingers Texten auf ; seine Schriften finden, wie schon gesagt, bei ihr keine Erwähnung. Es ist eben dieser Name mit seinem Anklang an die von Aichinger eher mit Skepsis betrachtete »Freude« (vgl. »Wir müssen uns fürchten, von uns ist die Freude verlangt« [Aufzeichnung, 1950]« [UR 2005, S. 173]), der wie kein anderer einsteht für den Tod und das endgültige Verschwinden, die Deportation und die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Wiens, darunter die Großmutter von Ilse Aichinger, Gisela Rabinek. Im Gegensatz zu ›Freuds verschwundenen Nachbarn‹ oder zu Aichingers Verwandten gehörte Freud zu den wenigen Privilegierten, die im letzten Augenblick noch gerettet werden konnten ; die Ausreise wurde zunächst entgegen seinem Willen organisiert. Sie bedurfte der finanziellen Unterstützung von außen und des raschen Eingreifens oberster politischer Instanzen, den amerikanischen Präsidenten eingeschlossen. Freud schritt, so schreibt Aichinger 1995, »auf rotem Teppich in die Emigration« (AuzM, S. 172). Sie selbst hingegen erreichte London erst zwei Jahre nach Kriegsende. Dort erschien ihr alles »als neues Glück […] ohne dass ein einziger Penny in Sicht kam«. Zu diesem Zeitpunkt hatte Freud, so Aichinger, »schon das großbürgerliche Grab in Golders Green bezogen« (UR 1991, S. 135). Aichinger wird nicht müde, die Distanz, die zwischen Freud und ihr resp. dem Schicksal ihrer Verwandten liegt, zu betonen. Auch in dieser Perspektive bleiben der Tod und das Verschwinden die konstanten Bezugspunkte, die ihre Äußerungen zu Freud bestimmen, so zuletzt in einer für ihn wenig schmeichelhaften Zeitungsglosse aus der Folge »Schattenspiele«, »Das Aberdeenspiel« vom 2. Juli 2004, in der Aichinger an Alfred Adlers unerwarteten Tod während einer Vortragsreise in Aberdeen am 28. Mai 1937 erinnert : Dieser »Tod in Aberdeen« wird mich bis zuletzt beschäftigen, seine Absurdität, seine Abgelegenheit, seine Verlassenheit. Und nicht nur mich. Andere auf andere Art. Am 22. Juni 1937 schreibt Sigmund Freud an Arnold Zweig über den Tod Adlers in Aberdeen : »Für einen Judenbub aus einer Wiener Vorstadt ist ein Tod in Aberdeen schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Beweis dafür, wie weit er es gebracht hat. Tatsächlich hat ihn die Welt reichlich dafür belohnt, daß er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat.« Tod in London, Tod in Aberdeen. Die Frage, welcher von beiden spektakulärer ist, bleibt vermutlich eine sekundäre Frage. Aber für mich bleibt der abseitige Tod im abseitigen Aberdeen doch eher ein konsequent zu Ende definiertes Schattenspiel. Falls Schattenspiele überhaupt zu Ende definiert werden wollen und nicht lieber aus allen Szenen verschwinden, ehe die Nacht keine Schatten mehr zuläßt. Selbst aus der Szene, die Aberdeen allein gehört. (UR 1991, S. 118 – 119)
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»›fort‹ heißt fort.«
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Der dezidiert persönliche Standpunkt, den Aichinger in ihren späten Glossen bezieht, ist gerade angesichts dessen, ›was geschah‹, immer auch ein ethischer. Das »Spiel« des Verschwindens bleibt der Schatten, der aus ihrem Leben nie mehr wegzudenken war. Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1991), Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (EE 1991), Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991), Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. Richard v. Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991), Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (Au 1991), Auckland. Hörspiele. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (VR 1991), Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001), Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (UR 2005), Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Interviews 2011), Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021), Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Bannasch, Bettina (2007) : Der Tod des Autors und das Überleben der Autorin. Ilse Aichingers Poetik des Verschwindens. In : Künzel, Christine/Schönert, Jörg (Hgg.) : Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg, S. 93 – 110. Benjamin, Walter (2000) : Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. Eich, Günter (1991) : Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Hg. Axel Vieregg, Frankfurt/M. Eith, Thilo/Franz Wellendorf (Hg.) (2003), Fort – Da. Trennen und Verbinden im psychoanalytischen Prozess. Heidelberg. Freud, Sigmund (1975a), Die Verdrängung [1915], in : Alexander Mitscherlich/Angela Richards/ James Strachey (Hgg.), Sigmund Freud-Studienausgabe, Band III : Psychologie des Unbewußten, S. 102 – 118. Freud, Sigmund (1975b), Jenseits des Lustprinzips [1920], in : Alexander Mitscherlich/Angela
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Richards/James Strachey (Hgg.), Sigmund Freud-Studienausgabe, Band III : Psychologie des Unbewußten, S. 213 – 272. Freud, Sigmund (1982), Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II [1914], in : Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey (Hgg.), Sigmund Freud-Studienausgabe, Ergänzungsband : Schriften zur Behandlungstechnik. Frankfurt/M., S. 205 – 215. Ivanovic, Christine (2009) : Ilse Aichingers Poetik des Verschwindens. Symposium. A Quarterly Journal in Modern Literature. Bernhard, Aichinger, Grünbein, Kehlmann, and Jelinek : Literature and Austro-German Cultures of memory (Guest editor : Karl Ivan Solibakke). Volume 63, Nº 3 (Fall 2009), 178 – 193. Ivanovic, Christine (2011) : Masse. Medien. Mensch. Ilse Aichingers bioskopisches Schreiben, in : Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.) : Absprung zur Weiterbesinnung : Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger. Tübingen, S. 172 – 184. Ivanovic, Christine (2021) : Verschwinden, in : Annegret Pelz/Birgit Erdle (Hgg.) : Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen : Wallstein, S. 297 – 301. Ivanovic, Christine (2022) : Das grüne Märchenbuch aus Linz. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im StifterHaus Linz. Ivanovic, Christine (2023) : Konstellationen des Verschwindens, in : Stefano Apostolo/Matteo Iocavelli/Luca Licciardi (Hgg.), Aichinger-Konstellationen. (im Erscheinen) Kepplinger, Brigitte/Gerhart Marckhgott/Hartmut Reese (Hgg.) (2008). Tötungsanstalt Hartheim. 2., erweiterte Auflage. Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus, Band 3. Oberösterreichisches Landesarchiv Linz. Lacan, Jacques (1973) : Le séminaire, livre XI. Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. 1964. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Paris. Leitgeb, Christoph (2020) Unheimliche Erinnerung – erinnerte Unheimlichkeit. Nationalsozialismus im literarischen Gedächtnis. München. Liska, Vivian (2002) : Odradeks Schwestern, in : Gisela Ecker/Claudia Breger/Susanne Scholz (Hgg.) : Dinge. Medien der Aneignung – Grenzen der Verfügung. Königstein, S. 276 – 299. Platen, Edgar (2008) : »[…] sie und alle anderen könnten verschwinden.« Flucht, Flüchtigkeit, Verflüchtigungen und andere Mobilitäten in Ilse Aichingers Unglaubwürdige Reisen, in : Martin Hellström/Edgar Platen (Hg.) : Zwischen Globalisierungen und Regionalisierungen. Zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. München, S. 75 – 89. Platen, Edgar (2010) : Autobiographischer Rückblick und/oder autobiographische Vorausschau ? Zum Verschwinden des Ich in Ilse Aichingers autobiographischem »Projekt«. Germanoslavica, Vol. XXI (1 – 2), S. 190 – 198. Rabenstein-Michel, Ingeborg (2011) : Motive im Wandel. Zu Aichingers »Journal des Verschwindens« und der Inszenierung von Erinnerung und Abschied im Medium Presse, in : Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.) : Absprung zur Weiterbesinnung : Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger. Tübingen, S. 185 – 196. Seiler, Sascha (2016) : Zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Die Figur des Verschwundenen in der Literatur der Moderne und Postmoderne. Berlin.
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»›fort‹ heißt fort.«
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Wolf, Uljana (2008) : »Geht aus dem Bild, damit eure Hoffnung darin bleibt«. Ilse Aichinger und das Kino. Magisterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra Artium (M.A.) im Fach Neuere deutsche Literatur. Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät II, Institut für deutsche Literatur. Berlin 2008 [unpubliziert]. Woolf, Virginia (1985) : Moments of Being, San Diego, New York, London. Woolf, Virginia (1985) : Moments of Being, San Diego, New York, London. Zischler, Hanns (2011) : »[…] sprach vom Kino seiner Kindheit … und so fanden wir uns im Verschwinden«. Jenseits der Filmkritik – Ilse Aichinger im Kino, in : Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.) : Absprung zur Weiterbesinnung : Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger. Tübingen, S. 163 – 171.
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Ausreise, Flucht, »trotzdem Nein zum Leben sagen« Ilse Aichinger in drei Konstellationen : Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor E. Frankl Aberdeenspiele : Sigmund Freud und Alfred Adler Ilse Aichinger wuchs als Tochter einer Ärztin in Wien auf, zu einer Zeit, als die Stadt das Zentrum der Psychoanalyse und der modernen Psychologie war. Ihre Mutter Berta Aichinger (geb. Kremer, 1891 – 1983) war eine der ersten Frauen, die an der Universität Wien Medizin studierten (zwischen 1909 und 1915). Als überraschend fortschrittliche und gesellschaftlich engagierte Ärztin arbeitete Berta Aichinger nach ihrer Eheschließung zunächst als Schulärztin in Linz und später wieder in Wien. Dabei suchte sie stetig sich weiterzubilden, besonders auf dem Gebiet der Individualpsychologie, die von Alfred Adler (1870 – 1937) begründet worden war : »Unsere Mutter interessierte sich für seine Individualpsychologie, er besuchte uns«, erinnert sich Ilse Aichinger später in »Das Aberdeenspiel« (UR 2005, S.118). Berta Aichinger suchte Adlers Praxis in Wien mehrfach auf, während sie bereits in Linz als Ärztin tätig war, und nahm auch am IV. Internationalen Kongress für Individualpsychologie teil, den Adler 1927 in Wien organisiert hatte. Adler unterstützte sie bei ihrem beruflichen Werdegang. Als Berta Aichinger sich 1925 um die Stelle der ersten hauptberuflich tätigen Jugendamtsärztin der Stadt Linz bewarb, konnte sie ihrer Bewerbung unter anderem ein Empfehlungsschreiben von Alfred Adler beilegen (alle Angaben nach Ivanovic 2021, S. 97 – 105, 109 – 115). Adlers Individualpsychologie legt großen Wert auf die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls. Berta Aichingers Bewunderung für Adlers Theorie und seine offene Praxis, wo er zahlreiche Vorträge und Besprechungen hielt, zeigt sich in ihrer Arbeit als engagierte Ärztin. Gerade in der Zeit zunehmender sozialer Not und öffentlicher Bedrängnis hielt sie ihre Praxis offen für alle, die ihre Zuwendung suchten. In einem späten Interview mit Cornelius Hell erinnert sich Aichinger an diese Einstellung ihrer Mutter : Geld war nie bei uns, weil sie erstens so viele Patienten gehabt hat, die arm waren oder mit diesen Krankenkassenzetteln. Sie hat alle umsonst behandelt und sich über jeden sehr viel Gedanken gemacht. (…) Aber eigentlich habe ich sie immer sehr bewundert, vor allem des-
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Ausreise, Flucht, »trotzdem Nein zum Leben sagen«
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halb, weil sie so wenig verlangt hat, obwohl mir klar war, dass es sich wieder nicht ausgehen wird. So um den 28. ist es immer knapp geworden bei uns. (Interviews 2011, S. 123)
In Aichingers spätem Text »Das Aberdeenspiel« (UR 2005, S. 117 – 119) kommen Alfred Adler und Sigmund Freud gemeinsam vor – mit der offenkundigen Absicht, den großen Abstand zwischen beiden zu vergegenwärtigen. Der Text beginnt mit einem Zitat von John Milton, »das Freud seiner Traumdeutung voranstellen wollte : ›Let us consult / What reinforcement we may get from hope / If not what resolution from despair‹« (UR 2005, S.117). Zwischen Hoffnung und Verzweiflung hat sich das Schicksal von Freud und Aichinger abgespielt : Während Freud im Juni 1938 nach England flüchten konnte, musste Aichinger zusammen mit ihrer Mutter in Wien in Verzweiflung zurückbleiben. »Ziemlich früh«, in einer »von ›hope‹ und ›despair‹« gleichermaßen geprägten Kindheit half ihr ein Spiel : das Aberdeenspiel : Es heißt das »Aberdeenspiel«, eine Art Schäfchenzählen. Es grenzte an noch ältere Spiele mit Flüssen, Farben, Blumen. Und es grenzte vor allem an Aberdeen. Alphabetisch von Aachen und Aalen über Amberg und Andernach, es ist ein offenes Spiel. (UR 2005, S. 117).
Das »Aberdeenspiel« ist eine Form des Wortspiels. Im Nachlass Ilse Aichingers im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) befinden sich Notizen aus ihren späteren Jahren. Sie enthalten Listen von Namen, die die Kontur des »Aberdeenspiels« aufweisen. Die Aneinanderkettung der Namen wird dabei von persönlichen Assoziationen dominiert (vgl. Shindo 2011). Das Spiel folgt in seinem Konzept der Behandlungsmethode der freien Assoziation, die von Freud entwickelt wurde. Freud schreibt in Die Traumdeutung über die freie Assoziation folgendermaßen : Die freie Assoziation ist das wesentliche Werkzeug, das uns erlaubt, jene unerwarteten, tief unter der Oberfläche liegenden Komplexe von Vorstellungen aufzudecken, die das Symptomatische unseres krankhaften Zustandes ausmachen. (Freud 2014, S. 67)
Während es bei Freud darum geht, einen »krankhaften Zustand[ ]« zu analysieren, führt das »Aberdeenspiel« bei Aichinger zu einem kreativen Akt. Das »Aberdeenspiel« wird tief in der Nacht in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen gespielt. Aichinger verwendet diese Methode jedoch auch als Schreibtechnik, wodurch unwillkürlich entstehende Verbindungen, wie sie dieses Spiel hervorbringt, in den Text eingewoben werden.
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Auch an Freuds Theorien zur frühkindlichen Prägung gibt es Anklänge bei Aichinger : Geboren in Wien, dagegen ist nichts zu machen, aber danach ? Ob Graz, Hütteldorf oder der Jemen – die nach Freud entscheidende frühe Kindheit zeichnet sich sofort ziemlich endgültig ab. Auch die kann keiner wählen. Für mich hieß sie teilweise Linz an der Donau, der Pfennigberg, der Pöstlingberg, der Freinberg. (UR 2005, S. 20)
In mehreren Texten arbeitet Aichinger immer wieder Erinnerungen und Erfahrungen aus ihrer Kindheit auf. Besonders in späten Werken wie Unglaubwürdige Reisen und Film und Verhängnis werden zahlreiche Erinnerungen beschrieben. Wie das Zitat zeigt, ist sich Aichinger sehr bewusst, dass ihre Texte von Freuds Theorien begleitet sind. Freud hat jedoch nicht nur als Theoretiker Einfluss auf sie genommen, sondern auch als symbolische Figur der Emigration nach England eine Rolle gespielt. In einem Interview mit Elisabeth Vera Rathenböck von 2004 erwähnt Aichinger die Freundschaft ihrer Schwester mit Sigmund Freuds Tochter Anna Freud : Meine Schwester war mit Anna Freud, der Tochter von Sigmund Freud, befreundet. Wir bekamen mit, dass Freud von der Gestapo aufgesucht wurde. Er musste angeben, dass er gut behandelt worden sei. Die Gestapo war feige. Sie wussten, dass Freud eine Koryphäe ist. Und Freud hat einen einzigen Satz hingeschrieben : »Ich kann nicht anders, als die Wiener Gestapo jedem bestens zu empfehlen !« Damit hatte er sich aus der Affäre gezogen und eigentlich auch das gesagt, was er sagen wollte. (Interviews 2011, S. 212f.)
Dieses Zitat zeigt, dass Aichinger damals in einer Gesellschaft gelebt hat, die auch der Familie Freud nahestand. Die seit der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 zunehmend gefährliche Situation für Juden in Wien führte dazu, dass Freud schon bald von der Gestapo aufgesucht wurde und gegen seinen Willen einen Satz für die Wiener Gestapo schreiben musste, in dem er angibt, dass er gut behandelt worden sei. Freud formuliert so raffiniert, dass er sowohl der Forderung der Gestapo Genüge tat, als auch die Zwangslage (»Ich kann nicht anders«) zum Ausdruck bringen konnte, in der er diesen Satz schreiben musste. Kurz nach dieser Episode wurde Freud durch Intervention aus dem Ausland die Flucht nach England ermöglicht. Freuds erfolgreiches Exil ist ein wiederkehrendes Motiv in Aichingers Texten und wird in Bezug auf Flucht, Exil und Seereisen beschrieben. So wird auf Freud zum Beispiel auch in dieser Szene angespielt :
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»Dr. Freud an Bord«, höre ich, so oft ich ihn später ansah, im Film »Titanic« mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, dem blassen und etwas aufgeschwemmten Helden der meisten Teenager. Aber Sigmund Freud gehört nicht zur Klientel der Titanic. (UR 2005, S. 29)
In ihrem Text »Ausflug in die Wiener Anatomie« beschreibt Aichinger die Stadtteile rund um die Anatomie der Universität Wien. Hier heißt es : »Sigmund Freud war längst aus der steilen und auf den ersten Blick fast schnurgeraden Berggasse geflohen« (UR 2005, S. 37). In »Nach Mähren – ein Familienroman« wird Freuds Exil explizit mit dem Schicksal von Aichingers Großmutter kontrastiert : Noch weiter entfernt von Mähren ist Freiberg, wo Sigmund Freud geboren wurde. Unsere Großmutter wuchs in Zauchtl auf. Während Freud später glücklicherweise aus Wien fliehen konnte, führte die letzte Reise unserer Verwandten im Viehwaggon zurück in den Osten, »endlos gerade die Eisenstränge«. (UR 2005, S. 83)
Eine imaginäre ›Begegnung‹ mit Freud und seinen Schwestern bedenkt der Text »Freuds verschwundene Nachbarn« (2003). Der Titel folgt einer Ausstellung im Freud Museum in der Berggasse 19 aus demselben Jahr. Hier fragt Aichinger : Ob es möglich ist, die ausgelieferten Schwestern Freuds, die aus der Berggasse deportiert wurden, zu Hilfe zu holen ? Eine von ihnen, Rosa Graf, sieht man auf einer Fotografie von 1927 : Ihre fast majestätische Skepsis kühlt den heutigen Abend entscheidend ab und gibt dem Betrachter eine Hoffnung, die ähnlich unglaubwürdig bleibt wie die der verschwundenen Nachbarn Freuds : Ausreise, Flucht, Leben. (UR 2005, S. 104)
In diesem Text wird nicht direkt über Freud geschrieben, sondern über Menschen in der Umgebung von Aichinger, seien es die Internierten der Landesirrenanstalt in Linz oder die Bewohner der Berggasse 19, die, nachdem das Haus als Massenquartier für Juden genutzt worden war, deportiert wurden. Immer wieder erinnert Aichinger Freud als einen, der aus Wien fliehen konnte. Dementsprechend bedeutend ist dann für Aichinger ihre Gegenüberstellung des Tods in Aberdeen (Adler) und in London (Freud). In »Das Aberdeenspiel« zitiert Aichinger aus einem Brief von Sigmund Freud am 22. Juni 1937, kurz nach dem Tod Adlers, an Arnold Zweig : Für einen Judenbub aus einer Wiener Vorstadt ist ein Tod in Aberdeen schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Beweis dafür, wie weit er es gebracht hat. Tatsächlich hat ihn die Welt reichlich dafür belohnt, dass er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat. (UR 2005, S. 108)
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In seiner Beschreibung von Alfred Adlers Tod klingt Freud fast sarkastisch. Die Tatsache, dass Adler in Aberdeen, weit weg von Wien, jenseits von Dover gestorben ist, scheint Freud mit Genugtuung zu erfüllen. Aichinger lässt in ihrem Text die Beziehung zwischen Freud und Adler als spannungsvoll hervortreten, wobei der lebensvolle Adler selbst im Moment seines Todes deutlich besser wegkommt als der bissig im Exil überlebende Freud. Indirekt kommt damit auch das Schicksal ihrer eigenen Familie in Wien als weitere Konstellation mit ins Spiel. Das Schmalz des Viktor E. Frankl Im Gegensatz zu Freud und Adler, die immer eher beiläufig erwähnt werden, widmete Ilse Aichinger in ihren späten Journalen Viktor E. Frankl einen eigenen Text. Während Adler sich mit dem individualpsychologischen Interesse und der Praxis als sozial engagierter Ärztin ihrer Mutter in Verbindung bringen lässt (und in diesem Sinne waren sie sicher beide ein Vorbild für Ilse Aichinger als Autorin), wird Freud immer im Kontrast zum Schicksal der in Wien Zurückgebliebenen, den Bedrohungen der Nationalsozialisten schutzlos (weil weniger berühmt) Ausgesetzten erwähnt. Viktor E. Frankl hingegen spielte für Ilse Aichinger erst in der Zeit nach Kriegsende eine persönlich bedeutende Rolle. Während Adler 1937 während einer Vortragsreise und Freud 1939 im Exil in Aberdeen und London starben, überlebte Viktor E. Frankl das Konzentrationslager und kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Wien zurück. Aichinger und Frankl schrieben beide frühzeitig über ihre Erfahrungen während der Kriegszeit. In diesen frühen Nachkriegsjahren sind beide auch miteinander in Kontakt gekommen. Frankl begann sofort nach seiner Rückkehr nach Wien Vorträge zu halten, die er schon bald in seinem Werk …trotzdem Ja zum Leben sagen (Frankl 1947) veröffentlichte, das ihn weithin bekannt machte. Zur gleichen Zeit begann Aichinger ein Medizinstudium in Wien. Daneben schrieb sie an ihrem ersten Roman »Die größere Hoffnung«. 1947 brach sie ihr Studium nach fünf Semestern ab und arbeitete intensiv an der Fertigstellung des Romans, der 1948 herauskam. Bevor sie sich jedoch zum Studienabbruch entschloss, suchte sie auf Empfehlung von Hans Weigel die Praxis von Viktor E. Frankl in der Mariannengasse in Wien auf. Sowohl Aichinger als auch Frankl haben über diese Begegnung berichtet. Frankl beschrieb das Gespräch mit der angehenden Autorin als Beispiel für die Technik des gemeinsamen Nenners in seiner späteren Autobiographie Was nicht in meinen Büchern steht, die er 1995 veröffentlichte :
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Wir Logotherapeuten haben die eine oder andere Technik einwickelt. Als solche ist ja die Paradoxe Intention anerkannt, weniger auch die Technik des gemeinsamen Nenners. Zu letzterer fällt mir ein, daß die heute berühmte Schriftstellerin Ilse Aichinger noch als Medizinstudentin zu mir kam – ich glaube, Hans Weigel hatte sie zu mir geschickt. Sie befand sich in dem Dilemma, ob sie einen begonnenen Roman – es war der, der sie dann berühmt gemacht hat – weiterschreiben und zu diesem Zweck ihr Medizinstudium unterbrechen sollte, oder lieber fertig studieren sollte. Wir kamen nach einem längeren Gespräch zu der Entscheidung, daß es wohl weniger problematisch sei, das Studium zu unterbrechen und dann wieder fortzusetzen als die Niederschrift eines Romans aufzuschieben. Der gemeinsame Nenner lautete also : Was wird eher gefährdet, wenn es unterbrochen wird ? (Frankl 1995, S. 79)
In dieser Erinnerung wird Frankls Theorie an einem Beispiel illustriert : Die jetzt berühmt gewordene Ilse Aichinger befindet sich im Dilemma zwischen ihrem Studium und ihrem Schreibprojekt. Im Gespräch mit Frankl wird deutlich, dass es schwieriger scheint, den begonnenen Roman zu unterbrechen als ein Medizinstudium zu unterbrechen. Es wird ersichtlich, dass die Entscheidung für Aichinger damals keineswegs einfach war. In einem Interview mit Peter Zimmermann aus dem Jahr 1990 erwähnt auch sie die damalige Begegnung mit Frankl : »Ich hab nicht leicht Abschied genommen von der Medizin. Ich hab bemerkt, dass nur eins von beiden geht. Aber ich habe immer noch großes Interesse an Spezialgebieten der Medizin« (Interviews 2011, S. 54). Spuren dieses Interesses lassen sich zum Beispiel auch in Aichingers ganz späten Werken wie Subtexte (2006) noch erkennen, in denen es in mehreren Texten um das Spital und um Krankheiten geht ; dabei spielen auch ihre eigenen Krankenhausaufenthalte eine Rolle. Am 19. März 2005 schreibt Aichinger dann den Text »Trotzdem Nein zum Leben sagen« (St 2006, S. 43 – 45) über Frankl, der seinerseits Kolumnen im Rahmen des Jubiläumsjahres der Befreiung von Auschwitz veröffentlicht hatte. Aichinger verfasste damals regelmäßig Texte für die Wochenendausgabe der Presse, und es gibt auch noch einen weiteren Text von ihr mit dem Titel »Laubsägen« (St 2006, S. 40 – 42), der am selben Tag verfasst wurde. Es ist jedoch anzunehmen, dass der Text »Trotzdem Nein zum Leben sagen« speziell als Antwort auf Frankl geschrieben wurde. Erst zehn Jahre nachdem Frankl in seiner Autobiographie ihre frühe Begegnung geschildert hatte, widmete Aichinger ihm ihrerseits einige Zeilen, jedoch im deutlichen Ton des Widerspruchs. Schon der Titel »Trotzdem Nein zum Leben sagen« markiert Aichingers Text als Entgegnung auf Frankls Buch …trotzdem Ja zum Leben sagen. In einer Mappe aus Aichingers Nachlass im DLA befindet sich zwischen den Manuskripten für ihre Kolumnen auch ein Zeitungsartikel von Franz Mayrhofer mit der Überschrift »Am Ende steht der Sinn« aus den Salzburger Nachrichten vom 12. März
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2005. Dieser Artikel wurde Viktor E. Frankl zum hundertsten Geburtstag am 26. März 2005 gewidmet und scheint der direkte Anlass für Aichingers Text »Trotzdem Nein zum Leben sagen« gewesen zu sein. In ihrer ›Entgegnung‹ bezieht sich Aichinger intensiv auf diesen Artikel. So zitiert sie aus dem Untertitel : »›Es gibt keine Lebenssituation, die wirklich sinnlos wäre‹, schreibt Viktor E. Frankl in seiner ›Ärztlichen Seelsorge‹« (St 2006, S.44f.). Während in den Salzburger Nachrichten steht : »Der Sinnlosigkeit des Seins, dem Lebensekel, allem Geworfensein und Hinausgehalten sein ins Nichts stellte er den Menschen als Person mit Würde und Sinnanspruch entgegen«, heißt es bei Aichinger. »Eine solche pauschale Hirnrissigkeit wird gern gehört, auch das Weglassen der entscheidenden Details. Und wie sollte man Ja sagen zu einer Existenz, die einem ungefragt an den Kopf geknallt wird ? (St. 2006, S. 45)« Aichingers Erinnerung an ihr Treffen mit Frankl im zweiten Nachkriegsjahr in Wien wird hier deutlich anders als von Frankl selbst beschrieben : Vor sehr langer Zeit gab mir Dr. Viktor Frankl, Psychiater und Psychotherapeut (und inzwischen von der FPÖ gern zitierter, aggressiver Sinnsucher), nach langen und überstürzten Ratschlägen Schweineschmalz mit auf den Weg, es tropfte aus dem Packpapier, und ich ließ es auf den Gehsteig der Mariannengassen fallen. Mit diesem zerronnenen Schweineschmalz – unverlangt und wenig brauchbar wie die eigene Existenz – und mit zu vielen positiven Ratschlägen in den Ohren blieb ich zurück. Wäre es mir damals um eine Spur weniger gut gegangen, wäre ich rest- und ratlos auf der Strecke geblieben. (St 2006, S. 44)
In Aichingers Frankl-Text wird über den Inhalt des Gesprächs nichts verraten. Die bewusst witzig geschriebene Episode vom geschenkten Schweineschmalz war bei Aichinger zusammen mit den gut gemeinten, ›schmalzigen‹ Ratschlägen Frankls kleben geblieben. Sie begleitet ihr weiteres Leben, auch wenn sie es nicht wollte. So wie sie das ›unverlangte‹ Schmalz dennoch entgegengenommen und sich schließlich mit einer heftigen Entgegnung öffentlich zu Frankl geäußert hat, so hat sie ihr Leben mit einer starken Haltung des Widerspruchs gelebt, wie sie ihn gegenüber Frankl äußerte. In Aichingers Spätwerk treten vermehrt authentische Namen auf, insbesondere seit sie wieder in Wien lebte. Die drei Psychologen haben nicht nur mit ihren Theorien, sondern auch mit ihrer Lebensgeschichte und als Persönlichkeiten den Werdegang und das Schreiben von Aichinger geprägt. Das Exil von Freud und Adler sowie die Deportation von Frankl fanden fast zeitgleich mit dem Exil von Aichingers Schwester und Tante sowie der Deportation von Aichingers Großmutter, Tante und Onkel statt. Daher beschreibt Aichinger die drei Psychologen aus nächster Nähe und verleiht ihnen eine eigene Kontur.
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Ausreise, Flucht, »trotzdem Nein zum Leben sagen«
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Literatur Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (St 2006) : Subtexte. Wien. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Ivanovic, Christine (2022) : Das grüne Märchenbuch aus Linz. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im StifterHaus Linz. Frankl, Viktor E. (1947) : … trotzdem ja zum Leben sagen. Drei Vorträge. Wien. Frankl, Viktor (1995) : Was nicht in meinen Büchern steht. München. Freud, Sigmund (2014) : Die Traumdeutung, in : Sigmund Freud : Gesammelte Werke. Berlin. Mayrhofer, Franz : Am Ende steht der Sinn. in : Salzburger Nachrichten. 12. März 2005. Shindo, Sugi (2015) : Trotzdem Nein zum Leben sagen. Viktor Frankl und Emil Cioran in Texten Ilse Aichingers. In : Kubaczek, Martin/Shindo, Sugi (2015) : Stimmen im Sprachraum. Tübingen, S. 43 – 58. Shindo, Sugi (2011) : Stolpersteine. Analyse zur subtextuellen Konstruktion von Aichingers Texten In : Christine Ivanovic und Sugi Shindo (Hg.) : Absprung zur Weiterbesinnung. Tübingen, S. 65 – 77.
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Bruchlinien
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Abb. 1 Die »Gruppe 50« im Café Raimund, um 1950, Foto : Franz Hubmann (APA/picturedesk).
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Wolfgang Straub
Ilse Aichinger innerhalb/außerhalb der Wiener Netzwerke um 1950 Anmerkungen zu drei Fotos 1. Gruppe 50 Franz Hubmann war noch nicht der einflussreiche und prägende Fotograf, als er die für Österreichs Literaturgeschichte durchaus ikonische Fotoserie im Café Raimund anfertigte. Zu einem Doyen der österreichischen Fotografie wurde der Bildjournalist, wie er sich selbst bezeichnete (vgl. Heimberger 2003, S. 21), ab 1953, als er die Zeitschrift magnum mitgründete. 1950, als die Raimund-Fotos wahrscheinlich entstanden, war der 36-jährige Hubmann frisch gebackener Absolvent der Wiener Grafischen Lehr- und Versuchsanstalt und im Brotberuf »Bildstellenleiter« der Österreichischen Fremdenverkehrswerbung. Was auf diesem Foto zu sehen ist, ist die Inszenierung einer »künstlerischen Kaffeehausrunde«, einer »Künstlerjugend« mit dem Mentor in der Mitte. Auf dem Abzug mit sechs Negativen, den die Fotoagentur imagno verwahrt, ist Hans Weigel, der Mann mit dem Mascherl, stets im Fokus. Das ist kein Schnappschuss, keine ungestellte Kaffeehausszene, wie sie Hubmann etwa auf seinen bekannten Hawelka-Fotos der 1950er Jahre ablichtete (vgl. u. a. Hubmann 2004), das ist ein Auftragswerk. 1950 hatte sich Hans Weigel, fünf Jahre nach seiner raschen Remigration 1945, sehr gut in den Wiener Kulturbetrieb integriert. Er war ein bekannter Kritiker, Kolumnist der Zeitung »Welt am Montag«, schrieb für verschiedenste Zeitungen und Zeitschriften im deutschsprachigen Raum, war Bearbeiter von Theaterstücken und Drehbüchern, Co-Autor von satirisch-humoristischen Abendprogrammen. Für Weigel war der Stammtisch im Café Raimund eine Nebenbeschäftigung, die ihm ökonomisch nichts einbrachte. Er erhöhte dadurch aber sein soziales und symbolisches Kapital, stärkte seine »Marke« und institutionalisierte sich als »Förderer der Jungen«. Als solcher ist er in Literaturlexika festgeschrieben (vgl. Herkommer/Feilchenfeldt 2009, S. 306 ; Strasser 1992, S. 220 ; Bolbecher/Kaiser 2000, S. 673 ; Handbuch 2002, S. 1431). An der Kanonisierung als Mentor und Förderer hatte Weigel mit seiner Arbeit an der Selbstbiographie großen Anteil – mit zunehmendem zeitlichen Abstand vergrößerte er in Erinnerungstexten seine Rolle. 1958 erwähnt er noch andere Mentoren
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wie Hans Loew oder Rudolf Felmayer (vgl. Weigel 1958), 1966 stellt sich Weigel bereits alleine in den Mittelpunkt : »Ich suchte die junge österreichische Literatur und fand eine Generation« (Weigel 1966, S. 6). Die zunehmende Unbescheidenheit drückt sich auch in der Metapher des Untertitels aus : »Fragmentarische Erinnerungen an die Wiedergeburtsstunden der österreichischen Literatur nach 1945«. Weigel suggeriert hier seinen Status als Geburtshelfer, und als sein erstes Baby schreibt er Ilse Aichingers Roman »Die größere Hoffnung« fest, für dessen Veröffentlichung er den Kontakt zum Bermann-Fischer-Verlag herstellte. Diesen Umstand setzt Weigel gleich im Titel fest : »Es begann mit Ilse Aichinger«. Zu Weigels paternalistischem Inventar gehört auch der Topos des Mauerblümchens, des dem erfahrenen Mann mittleren Alters gegenübersitzenden verschüchterten Mädchens : »Kurz darauf saß Ilse Aichinger, sehr jung, sehr scheu und von Hemmungen strotzend, vor mir« (Weigel 1966, S. 3). 1979 wird er über die erste Begegnung mit Ingeborg Bachmann ganz ähnlich schreiben : »Im Herbst 1947 tauchte […] ein sehr junges, höchst unvorteilhaft angezogenes Mädchen auf und bat mich mit vor Verlegenheit immer wieder versagender Stimme um ein Interview« (Weigel 1979, S. 14). In dem Buch, dem diese Erinnerung entstammt, inszeniert sich Weigel als Entdecker der österreichischen Nachkriegsliteratur : »[…] ich habe tatsächlich die Aichinger, die Bachmann, den Celan, den Dor, die Ebner, den Federmann, den Guttenbrunner, die Haushofer entdeckt beziehungsweise gefördert und weiter im Alphabet noch viele andere bis Zand und Zusanek« (Weigel 1979, S. 12). Und Jeannie Ebner stilisiert Weigel zu dieser Zeit gar zum Demiurgen : »Wir haben damals, nicht zu unrecht, behauptet, Hans Weigel habe eine ganze Generation österreichischer Dichter einfach aus dem Boden gestampft : erfunden« (Ebner 1982). Eine Zeit lang bestand der Plan, die Raimund-Runde als österreichisches Pendant zur Gruppe 47 zu institutionalisieren (»Gruppe 50«). In der Erinnerung verniedlicht Weigel diese Bestrebungen, aber de facto war die Runde nicht ohne Einfluss. Sie war ästhetisch gegen die Avantgarde und politisch links, aber klar antikommunistisch ausgerichtet, sie brachte als auffälligstes Ergebnis das von Weigel mit Milo Dor und Reinhard Federmann initiierte und in der Folge gemeinsam mit Jeannie Ebner herausgegebene Jahrbuch »Stimmen der Gegenwart« hervor, sie übte als Netzwerk Einfluss auf die Programmierung einiger Kulturveranstaltungen (auch außerhalb Wiens) aus und blieb im Literaturbetrieb, etwa in Jurys, über Jahrzehnte von Bedeutung (vgl. McVeigh 2015 ; Straub 2016, S. 257 – 270). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Hubmann-Foto im Zusammenhang mit der Konstituierung dieser ›pressure group‹ entstanden ist – als Illustration der »Gruppe 50«. Am Foto sind, von Weigel aus links gegen den Uhrzeigersinn, zu sehen : Helmut Schwarz, Walter Toman, Jeannie Ebner, Brigitte Klahr (oder Christine Busta ?), Kurt Absolon, Milo Dor, Reinhard Federmann, Harald Zusanek, Anton Hegner (2. Reihe
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vorne), Wolfgang Kudrnofsky (2. Reihe hinten) sowie Raimund Berger (stehend) – mit Absolon und Hegner sind auch zwei bildende Künstler anwesend. Auffällig ist, dass mit Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann die beiden literaturhistorisch prominentesten Vertreter :innen des »Weigel-Kreises« am Foto fehlen. Vielleicht war Aichinger zu jener Zeit bereits in Ulm. Und es kann sein, dass beide – so wie Friederike Mayröcker, die ebenfalls früh Kontakt mit Weigel hatte – solche »Betriebsversammlungen« mieden. Weigel war für Aichinger zweifellos ein wichtiger Bezugspunkt ihrer Wiener Nachkriegsjahre. In der Korrespondenz des Weigel-Nachlasses finden sich zwei Beispiele dafür, wie sich Weigel für Aichinger einsetzte : 1947 hatte er sich offensichtlich bei der US-amerikanischen Exilzeitschrift »Austro American Tribune« beschwert, dass Aichingers Text »Das vierte Tor« ohne Anfrage abgedruckt worden sei. Die Zeitschrift antwortete Weigel brieflich, dass man eine »Austauschvereinbarung« mit österreichischen Zeitungen habe, man aber »in diesem speziellen Fall Ihre Anregung« befolgen werde. Was Weigel angeregt hatte, war damals wichtiger als Geld : die Zusendung eines Lebensmittelpakets (vgl. Weigel 1947). Und beim bestens vernetzten, »minderbelasteten« Siegfried Melchinger hatte Weigel wegen Unterstützung für Aichinger angefragt ; er antwortete : »Vielen Dank für Ihren Brief in Sachen Ilse Aichinger. Es ist selbstverständlich, dass ich alles tun werden, was ich kann. Leider gilt dies aber im Moment nicht sehr viel« (Melchinger 1948). Für Aichinger ist Weigel in den Jahren 1947 und 1948 ein wichtiger Korrespondenzpartner – vor allem während der Abwesenheit beider aus Wien, also während Aichingers England- und Weigels USA-Reise. Es gibt eine vertrauensvolle Gesprächsbasis. So kann Aichinger Weigel über ihre Schwierigkeiten im Schreibprozess nach Amerika berichten : »Ich wollt’, ich könnte nur manchmal so klar bleiben [wie Weigel, WS], aber es gibt keinen Central-Park in mir, in dem ich Atem holen könnt’. Das Schauspiel arbeitet sehr an mir. Es wird heißen : ›Wer ist gerettet ?‹« (Aichinger 1948b). Einen Monat später schreibt sie davon, dass es nun »[m]it dem Stück und mir […] zwei zu null gegen mich und für das Stück« stehe, die Hälfte des heute verschollenen Stücks sei fertiggestellt (Aichinger 1948c). Aichingers Veröffentlichungen in der »Wiener Tageszeitung« 1949, darunter die Erstpublikation der »Spiegelgeschichte«, dürfte auf den Raimund-Kreis zurückgehen – Joseph McVeigh schreibt von der Einladung eines Redakteurs in die Runde (vgl. McVeigh 2015, S. 68), auch Bachmann und Federmann veröffentlichten dort. Die »Wiener Tageszeitung« war ein ÖVP-Blatt, Weigels Kontakte waren sonst eher SP-nahe (»Welt am Montag«, »Heute«). Auch am »Zentralorgan« der »Gruppe 50«, dem Jahrbuch »Stimmen der Gegenwart«, war Aichinger beteiligt – in insgesamt drei Jahrgängen. Vor der ersten Publikation der Reihe, dem gemeinsam mit Milo Dor und Reinhard Federmann herausgegebenen
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Jahrgang 1951, legte Weigel ein Dossier zu den ins Auge gefassten Schriftsteller :innen an, ein wenig an Zuckmayers »Geheimreport« erinnernd (vgl. Zuckmayer 2002). Vielleicht war diese Art der Rechtfertigung der Auswahl vom Verlag erwünscht : ein politisches Unbedenklichkeits- (keine KP-Nähe) und künstlerisches Qualitätszeugnis. Zu Aichinger notierte Weigel : »Ungeheuer begabt, aber menschlich schwierig und auf fast unerträgliche Weise disziplinlos« (Weigel o. D.). Weigel hatte 1949 die Autor*innen offensichtlich gebeten, Kurzbiographien und eine Beschreibung ihrer Einkommenssituation einzuschicken, um Material für den ihm wichtigen Hinweis auf die prekäre materielle Situation der Schreibenden zu bekommen. Bei Aichinger steht, dass sie ohne Einkommen sei und mit ihrer Mutter in einem Dienstzimmer lebe, »das sie als Anstaltsarzt eines Pflegeheims bewohnt, da wir bisher keine Wohnung bekommen konnten« (Weigel o. D.). Bei Aichingers zweitem Beitrag für das Jahrbuch muss Weigel einen Monat auf ihre Zusage warten ; dann schreibt sie, dass sie mit dem Wiederabdruck ihres Vorworts zu der von Weigel herausgegebenen Textsammlung »Rede unter dem Galgen« (vgl. Aichinger 1952) einverstanden sei – »das wirst du ja auch inzwischen aus meinem Schweigen entnommen haben« (Aichinger 1951). Die »fast unerträgliche Disziplinlosigkeit«, von der Weigel schreibt, wendet er gegenüber Aichinger ins Ironische, als er sie um einen Beitrag für den Jahrgang 1953 bittet. Im Juni 1952 schreibt Weigel, dass die Redaktion »schon jetzt auf das Demütigste um rechtzeitige […] Übersendung eines in sich abgeschlossenen Teiles […] aus dem neuen Hörspiel« bitte und sich gewiss sei, »diese Bitte noch recht oft wiederholen zu müssen«. Weigel im August : »Stell’ Dir bitte vor, ich hätte Dich schon viermal ermahnt und mahne Dich nun zum fünften Mal und Du bewunderst meine Geduld, daß ich noch immer nicht schimpfe, und beschließt sie zu belohnen, indem Du mir das, worum ich Dich seit Monaten bitte, nun baldigst schickst.« Und im September : Wir werden in den allernächsten Tagen – sollte kein Manuskript eintreffen – höhere und höchste Stellen sowohl geistlicher als auch weltlicher Natur um Intervention bitten und sind bereits zu diesem Zweck bei seiner Eminenz Kardinal Fürsterzbischof Dr. Theodor Innitzer und beim hochwürdigen Herrn Erzbischof-Koadjutor vorstellig geworden. Auch laufen aussichtsreiche Verhandlungen mit dem Ballhausplatz und der oberösterreichischen Landesregierung. (Weigel 1952a)
Diesmal antwortete Aichinger – allerdings nur, um eine Verzögerung anzukündigen : »Lieber Hans, […] Leider ist es mit dem Hörspiel nicht so weit, daß ich Dir einen Abschnitt daraus schicken kann, da es teilweise geändert werden muß und ich es vorher nicht aus der Hand geben möchte« (Aichinger 1952). Wie es doch noch zur Ver-
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öffentlichung kommen konnte (vgl. Aichinger 1953), ist der Korrespondenz nicht zu entnehmen. 2. Elisabeth Liebl Es mag sein, dass Ilse Aichinger, als Franz Hubmann die Café-Raimund-Fotos schoss, nicht mehr in Wien lebte. Aber trotz ihrer Freundschaft zu Weigel wäre sie (wie Bachmann) wohl auch bei einem Verbleib in Wien nicht zur »Gruppe 50« zu zählen gewesen. Das lag an einer anderen, stärkeren Konstellation, in die Aichinger (und Bachmann) eingebunden war(en) : die Freundschaft zum Ehepaar Liebl. Zeno Liebl, niedrigem k.u.k.-Militäradel entstammend, war Kulturkritiker, arbeitete nach dem »Anschluss« beim »Neuen Wiener Tagblatt«, dem journalistischen Feigenblatt eines vorgeblich liberalen Journalismus. 1945 gehörte er der ersten Redaktion des von der US-Besatzungsmacht herausgegebenen »Wiener Kurier« an, wo bekanntlich im September Aichingers erste Publikation »Das vierte Tor« erschien. Zentrum des Freundeskreises war Elisabeth Löcker, ab Sommer 1948 mit Zeno Liebl verheiratet, innerhalb der Clique »Bobbie« genannt. Über Elisabeth Löcker-Liebls Lebensweg vor 1945 ist wenig bekannt : Sie entstammt einer Frankfurter Industriellenfamilie, studierte in Heidelberg Philosophie bei Karl Jaspers und ging 1931 mit ihrem ersten Mann nach Wien. Sie war bereits während des »Dritten Reichs« offensichtlich eine erfolgreiche Netzwerkerin im Kulturbereich (»Mittelpunkt eines oppositionell gesinnten Freundeskreises«, Dubrovic 1985, S. 262) und für Weigel eine wichtige Stütze bei seiner Remigration im Herbst 1945. Für Ingeborg Bachmann war Liebl ein Role Model einer sich im Patriarchat selbstbewusst bewegenden, beruflich eigenständigen Frau, zudem Unterkunftgeberin (Gottfried-Keller-Gasse 13) und 1951 Job-Vermittlerin beim US-amerikanischen Nachrichtendienst AND. Für Aichinger dürfte Liebl ein Rückhalt, eine gute, familiäre Freundin gewesen sein, eine wichtige Anlaufstation. Und sie war eine wichtige Briefpartnerin nach dem Weggang aus Wien ; das zeigt der Briefwechsel im Marbacher Aichinger-Nachlass sowie die veröffentlichte Korrespondenz Aichinger-Bachmann (vgl. Fußl/Berbig 2021), in der »Bobbie« bis zu ihrem frühen Tod 1961 den stets präsenten (Wiener) Bezugspunkt der beiden Freundinnen und Konkurrentinnen bildete. In den Jahren 1947 – 1949 war Aichinger fixer Bestandteil des Freundeskreises um die beiden Netzwerkerinnen Elisabeth Liebl und Hilde Polsterer, einer bildenden Künstlerin, zu dem etwa Viktor Frankl und Inge Mörath (als Fotografin schrieb sie sich bald »Morath«), am Rande auch der katholische Publizist Otto Mauer gehörten (in Mauers Zeitschrift »Wort und Wahrheit« veröffentlichte Aichinger 1950 vier Ar-
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tikel). Beiden Frauen gelang es, eine gewisse Internationalität in das abgeschlossene und sich abschließende Nachkriegsösterreich zu bringen : Polsterer pflegte nach 1945 ihre Kontakte zu Frankreich, wo sie bis 1938 gelebt hatte, was etwa bereits 1946 zu einem Wien-Besuch des Kopfs der Dadaisten, Tristan Tzara, führte ; und Liebl konnte nach 1945 die Beziehungen zu ihrer deutschen Heimat aufrechterhalten und dadurch Veröffentlichungsmöglichkeiten schaffen – in einer Zeit, in der Kontakte zur Bundesrepublik nicht immer opportun waren und Österreichs Kulturpolitik sich auf eine austriazistische Traditionslinie zurückzog. Liebl hatte gute Kontakte zur Zeitschrift »Die Wandlung« (1945 – 1949), die ihr Doktorvater in Heidelberg mit herausgab, und zu den linkskatholischen »Frankfurter Heften«, in denen Aichinger 1951 und 1954 publizierte. 1949 veröffentlichte Liebl in einer deutschen Zeitschrift den wohl ersten Überblick über die Nachkriegsliteratur Österreichs, in dem sie nur in einem Buch mehr als ein Versprechen, nämlich »schon eine Erfüllung« sah : Das sei Aichingers Debüt »Die größere Hoffnung«, ein Roman, der »den Glauben an die Zukunft der kommenden Generation bestätigt« (Frank 1949, S. 171). In Wien redigierte Elisabeth Löcker die Kulturzeitschrift »Der Turm« (1945 – 1948), den die Österreichische Kulturvereinigung, eine ÖVP-Organisation, herausgab. Den Herausgeber, den Kulturmanager Egon Seefehlner, kannte Löcker bereits vom erwähnten »oppositionell gesinnten Freundeskreis«. Im »Turm« besprach Aichinger 1946 eine Aufführung der »Stephansspieler«, einer kurzlebigen Theatergruppe, die sich zu einem christlich begründeten Neuanfang nach dem Nationalsozialismus zusammengefunden hatte (vgl. AuZ 2021, S. 15). In der von Zeno Liebl redigierten Zeitschrift »Europäische Rundschau« (1946 – 1949), die der französische Pressedienst herausgab, veröffentlichte Aichinger 1948 ein Kapitel aus »Die größere Hoffnung«, 1949 erschien hier ein Bericht ihrer England-Reise (vgl. AuzM 2021, 23 – 31). Die Liebls kümmerten sich also um Aichinger. Hans Weigel schreibt in einem Erinnerungsbuch 1979 davon, dass Aichinger von den beiden »betreut, verwöhnt, fast angebetet« worden sei (Weigel 1979, S. 16). Daraus spricht auch Ressentiment, kündigte doch Weigel die Freundschaft mit seiner guten Freundin und Förderin Elisabeth Liebl 1950 aufgrund einer Lappalie auf, wohingegen Aichinger mit den beiden befreundet blieb. Die intensive Betreuung, von der Weigel spricht, ist anhand eines Beispiels nachzuvollziehen : Aichinger wurde offenbar 1948 zur zweiten Auflage der Veranstaltung »Salzburg Seminar in American Civilization« auf Schloss Leopoldskron (heute : Salzburg Global Seminar) eingeladen. Elisabeth Löcker rät ihr von der Teilnahme an dieser Veranstaltung eines »Marshall Plan for the Mind« (vgl. Stecopoulos 2023, S. 55) für Juni ab, weil sie gerade an einem Theaterstück arbeite, wie sie an Weigel schreibt. Man habe daher »gemeinsam den Versuch« gemacht, »die Sache auf August zu verschieben, wo wir sie dann auch dort besuchen könnten. Es ist dann auch
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Abb. 2 Elisabeth Liebl, undatiert, Foto : privat (Nachlass Ingeborg Bachmann, Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Bachmann).
international dort, wogegen es eben nur österreichisch ist, und sie hätte mehr davon« (Löcker 1948). Einen Monat später schreibt Aichinger an Weigel, dass die Teilnahme im August nicht möglich sei : »Mit Leopoldskron ist deshalb nichts geworden, weil ich nicht akademisch genug für die bin« (Aichinger 1948d). In einem Beitrag der Reihe »Journal des Verschwindens« wird Ilse Aichinger 2001 der Tod des Fernsehjournalisten Robert Hochner zum Anlass, sich an zwei Salons um 1950 zu erinnern : Zum einen habe es »abendliche[] Teegespräche[n] auf einer Terrasse über dem Modenapark« gegeben, bei der sich die Anwesenden darüber mokiert hätten, dass der kleine Robert so verwöhnt sei. Zum anderen erinnert sich Aichinger an den »Kreis, den Bobby Euler um sich gebildet hatte« (Euler war Liebls Mädchenname). Möglicherweise waren der Hochner- und der Liebl-Salon eins, oder Aichinger vermengt die beiden aus der Distanz eines halben Jahrhunderts : Die Gottfried-KellerGasse, Wohnsitz der Liebls, schließt an den Modenapark an, und Aichingers Punzierung, dass »die linkskatholischen Jaspers-Anhänger«, die Tee trinkend die Nase darüber rümpfen, dass der »kleine Hochner […] jeden Geburtstag drei Tage lang feiert«,
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ist eindeutig auf die Jaspers-Schülerin »Bobby Euler« gemünzt. Aichinger distanziert sich hier deutlich : Die Linkskatholiken »haben sich, wie oft, getäuscht« (Aichinger 2001). Darin eine Abkehr von ihren eigenen, von religiösen Bildern durchzogenen Schreibanfängen zu erkennen, wäre wohl zu weit gegriffen, eine Distanzierung vom (links)katholischen Publikationsumfeld ihrer Wiener Anfangszeit schwingt in diesem Erinnerungstext allerdings mit. Von Elisabeth Liebls Netzwerk, von ihrem Salon gibt es keine Fotos. Das ist einer der Gründe ihrer Unbekanntheit, ihrer Abwesenheit in Österreichs Kulturgeschichte. Liebl war, anders als Weigel, nicht an öffentlicher Selbstdarstellung oder Eigenpropaganda interessiert, sie schrieb ihre Texte unter Pseudonym, ihre Vernetzungsarbeit fand in privatem Rahmen statt. Bislang sind zwei Fotos Elisabeth Löcker-Liebls bekannt : eines im Nachlass von Milan Dubrović, eines im Nachlass Ingeborg Bachmanns. Letzteres wird hier gezeigt, weder Fotograf noch Datierung sind bekannt. 3. Gruppe 47 Helmut Böttiger präsentiert in seiner Geschichte der Gruppe 47 ein Gruppenfoto von Horst Meyer-Pfundt, das die »Wiener« bei der Tagung 1952 in Niendorf zeigt (Böttiger 2012, 139). Das Foto korrespondiert mit demjenigen Hubmanns aus dem Café Raimund. Wieder ist der Mann mit der Fliege in der Mitte, diesmal aber vom Fotografen abgewandt und auf die Preisträgerin des Treffens, Ilse Aichinger, zeigend. Den eigentlichen Mittelpunkt stellt der einzige Sitzende, der leicht abwesend wirkende Organisator Hans Werner Richter dar. Milo Dor, links neben Weigel, und Reinhard Federmann, rechts neben Aichinger, sind diejenigen, die auch am Versuch, so etwas wie die Gruppe 47 in Wien zu etablieren, beteiligt waren und daher auf dem HubmannFoto abgebildet sind. Die beiden Figuren an den Rändern wirken noch abwesender als Richter : Paul Celan schließt die Augen, Ingeborg Bachmann scheint ihr Interesse auf irgendetwas außerhalb der Gruppe zu richten. Was wir hier sehen, ist keine kohärente Gruppe. Nur Dor, Federmann und Weigel waren um 1950 der Kern von etwas Ähnlichem. Für Aichinger, die wie Dor bereits 1951 an der Jahrestagung in Bad Dürkheim teilnahm, und Bachmann bedeutete Niendorf der Durchbruch in Deutschland (über Aichinger und die Gruppe 47 wurde ausführlich geschrieben, vgl. u. a. Sonnleitner 1999, Briegleb 2003, Jabłkowska 2012, Lundius 2017) und den endgültigen Abschied aus Österreichs Literaturbetrieb. Offensichtlich ordnete man in Niendorf Celan ebenfalls den »Wienern« zu, auch wenn er sich 1947/48 nur einige Monate in der Stadt aufhielt (vgl. Goßens/Patka 2001). Weigel, der Österreich verhaftet blieb, war nicht mehr das Zentralgestirn, um das die
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Ilse Aichinger innerhalb/außerhalb der Wiener Netzwerke um 1950
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Abb. 3 Gruppenfoto der »Österreicher« auf der Tagung der Gruppe 47, Niendorf 1952, Foto : Horst Meyer-Pfundt (Deutsches Literarturarchiv Marbach).
»Jungen« kreisten. Vielmehr war Milo Dor der Vermittler nach Deutschland, er war auch ein damals wichtiger Wiener Freund Paul Celans. Insoweit ist dieses Foto ein Nachhall zu Weigels Wiener Netzwerk. Weigel trat hier nicht als »Förderer«, sondern wie die anderen als Schriftsteller auf. Er las aus seiner Erzählung »Der Knotenpunkt«, die 1969 in einer Sammlung erschien (vgl. Weigel 1969). Der teilweise pathetisch gefasste, mit nicht wenigen geradezu unbeholfen wirkenden Metaphern ausgestattete, märchenhafte Text dürfte völlig untergegangen sein, nur Hans Georg Brenner erwähnt Weigels Lesung in seinem »Tagungsbericht« und fasst das Thema als »die Überwindung der Wirklichkeit durch die Liebe« zusammen (Lettau 1967, S. 76). In seiner nachfolgenden Berichterstattung aus Niendorf verschweigt Weigel dann tunlichst seinen eigenen literarischen Beitrag und spricht von der »rückhaltlose[n] Zustimmung zu den Arbeiten der fünf jungen Österreicher« (Weigel 1952b). Die Aichinger von 1952 scheint nichts mehr mit der Zaudernden zu tun zu haben, die uns in der Korrespondenz mit Weigel vier Jahre zuvor begegnet. Brenners Bericht ist das Selbstbewusstsein zu entnehmen, mit dem sie in Niendorf agierte : Der Lesung
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Wolfgang Straub
Hans Dieter Schwarzes und seinen »Surrealismen« sei sie mit »zorniger Ungeduld« begegnet und habe von »Virtuosität ohne Risiko« gesprochen (Lettau 1967, S. 76). Literatur Aichinger, Ilse [1948a] : Brief (wahrsch. aus Waldhausen im Strudengau, hs.) an Hans Weigel, Wien, 10. 9. [1948]. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 1. Aichinger, Ilse [1948b] : Brief (Wien, maschin.) an Hans Weigel, New York, 10. 6. 1948. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 1. Aichinger, Ilse [1948c] : Brief (Wien, hs.) an Hans Weigel, New York, 26. 7. 1948. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 1. Aichinger, Ilse [1948d] : Brief (Wien, maschin.) an Hans Weigel, New York, 29. 6. 1948. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 1. Aichinger, Ilse [1951] : Brief (Ulm, hs.) an Hans Weigel, New York, 12. 11. 1951. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 1. Aichinger, Ilse [1952] : Brief (o. O., hs.) an Hans Weigel, Wien, 25. 9. 1952. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 1. Aichinger, Ilse : Ophelia und Miß Universum [= Mondgeschichte]. In : Stimmen der Gegenwart 1953, Wien 1953, S. 88 – 96. Aichinger, Ilse (2001) : Der Kramladen des Todes. Journal des Verschwindens, Nr. XXXIII, in : Der Standard, 15. 6. 2001. https://www.derstandard.at/story/613966/der-kramladen-destodes [Stand : 24.03.2023]. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Bolbecher, Siglinde u. Konstantin Kaiser (2000) : Lexikon der österreichischen Exilliteratur, Wien, S. 672 – 673. Böttiger, Helmut (2012) : Die Gruppe 47 Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb, München 2012. Briegleb, Klaus (2003) : Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage : »Wie antisemitisch war die Gruppe 47 ?« Berlin und Wien. Dubrović, Milan (1985) : Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafés, Wien. Ebner, Jeannie [1982] : Wie ich Hans Weigel kennenlernte (Brief an eine polnische Kollegin). Typos. (hs. Vermerk : »1982«). Nachlass Jeannie Ebner, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 1302, Archivbox 4, Mappe 1.5.2.7. Frank, Claudia (d. i. Elisabeth Liebl) (1949) : Österreichische Literatur seit 1945, in : Welt und Wort. Literarische Monatsschrift [Tübingen], Jg. 4, S. 169 – 171. Fußl, Irene/Berbig, Roland (Hg.) (2021) : »[…] halten wir einander fest und halten wir alles fest !« Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich. Der Briefwechsel, München und Zürich.
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Ilse Aichinger innerhalb/außerhalb der Wiener Netzwerke um 1950
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Goßens, Peter/Patka, Marcus G. (Hg.) (2001) : »Displaced«. Paul Celan in Wien 1947 – 1948, Frankfurt/M. Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert. Hg. v. d. Österr. Nationalbibliothek. Bd. 3, München 2002. Heimberger, Verena (2003) : Die Bildsprache im journalistischen Werk Franz Hubmanns, Frankfurt/M. 2003. Herkommer, Hubert u. Konrad Feilchenfeldt (Hg.) (2009) : Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. 29. Bd., Berlin u. a. Jabłkowska, Joanna (2012) : Österreichische Holocaustliteratur ? Oder ein Kafka-Duplikat ? Zu Ilse Aichinger und der Gruppe 47, in : Günter Butzer (Hg.) : Berührungen. Komparatistische Perspektiven auf die frühe deutsche Nachkriegsliteratur, München u. a. 2012, S. 123 – 136. Lettau, Reinhard (Hg.) (1967) : Die Gruppe 47. Ein Handbuch, Neuwied und Berlin. Löcker, Elisabeth [1948] : Brief (Wien, hs.) an Hans Weigel, New York, 30. 5. 1948, Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 20. Lundius, Wiebke [2017] : Die Frauen in der Gruppe 47. Zur Bedeutung der Frauen für die Positionierung der Gruppe 47 im literarischen Feld, Berlin. McVeigh, Joseph (2015) : The Cold War in the Coffeehouse : Hans Weigel and His Circle of Writers in the Café Raimund, in : Journal of Austrian Studies, Jg. 48, H. 3 (Herbst), S. 65 – 87. Melchinger, Siegfried [1948] : Brief (Wien, hs.) an Hans Weigel, Wien, 13. 4. 1948. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 30. Sonnleitner, Johann (1999) : Grenzüberschreitungen. Ilse Aichinger und die Gruppe 47, in : Stuart Parkes (Hg.) : The Gruppe 47. Fifty years on a re-appraisal of its literary and political significance, Amsterdam u. a. 1999, S. 195 – 212. Stecopoulos, Harilaos (2023) : Telling America’s Story to the World. Literature, Internationalism, Cultural Diplomacy, Oxford. Strasser, Alfred (1992) : Hans Weigel, in : Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 12, Gütersloh, S. 219 – 220. Straub, Wolfgang (2016) : Die Netzwerke des Hans Weigel, Wien. Weigel, Hans [1947] : Austro American Tribune, New York, an Hans Weigel, 29. 3. 1947. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 2. Weigel, Hans (1958) : Rückblick auf die »jungen Autoren«. Höchst subjektives und egozentrisches Resümee eines Jahrzehnts, in : Heute, 19. 7. 1958, S. 9 u. 15. Weigel, Hans (1966) : Es begann mit Ilse Aichinger. Fragmentarische Erinnerungen an die Wiedergeburtsstunden der österreichischen Literatur nach 1945, in : protokolle 1/1966, S. 3 – 8. Weigel, Hans [1952a] : Briefe (Wien, maschin.) an Ilse Aichinger, o. O., 25. 6. 1952/20. 8. 1952/20. 9. 1952. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 41. Weigel, Hans [1952b] : Die »Gruppe 47«. Selbstkritik und Selbsthilfe deutscher Schriftsteller, in : Die österreichische Furche, 14. 6. 1952, S. 5. Weigel, Hans [o. D.] : Bemerkungen. Konvolut »Materialien zu ›Stimmen der Gegenwart‹«
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Wolfgang Straub
[wahrsch. 1949/50]. Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, ZPH 847, Archivbox 76. Weigel, Hans (1969) : Der Knotenpunkt, in : Vorschläge für den Weltuntergang. Satiren, Salzburg 1969, S. 105 – 124. Weigel, Hans (1979) : Ingeborg Bachmann, in : Ders.: In memoriam, Graz u. a. 1979, S. 14 – 27. Zuckmayer, Carl (2002) : Geheimreport, Göttingen. Zuckriegl, Margit/Piffl, Gerald (Hg.) (2004) : Franz Hubmann – Photograph, Wien, S. 8 – 21
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Desiree Hebenstreit
»Es begann mit Ilse Aichinger.« Die literarischen Anfänge Aichingers in der Nachkriegszeit Ilse Aichinger zählt zu den wichtigsten Stimmen der österreichischen Literatur in der Nachkriegszeit. Als Tochter einer jüdischen Ärztin wurde sie 1921 in Wien geboren, wo sie die Kriegsjahre mit der Mutter verbrachte, während ihre Zwillingsschwester mit einem Kindertransport nach England gebracht werden konnte. Aichingers frühe Tagebuchaufzeichnungen, die sie ab 1938 verfasste, enthalten bereits narrative Elemente, Kurzprosa, Gedichte und Gedichtentwürfe (Berbig 2010 ; Berbig 2020) ; ab 1945 veröffentlichte sie erste literarische Texte. Schon die Erzählung »Das vierte Tor«, die am 1. September 1945 im Wiener Kurier erschien, beschäftigte sich mit dem Schicksal von jüdischen Kindern im Nationalsozialismus und ist aus der Perspektive der Kinder verfasst. Das gleiche Thema stand im Zentrum ihres Romans Die größere Hoffnung, der 1948 im Verlag Bermann Fischer publiziert wurde. Neben diesem ersten und einzigen Roman erstreckt sich ihr späteres Werk auf Erzählungen, Lyrik und Hörspiele. Aichinger war im Verlauf ihrer Karriere nicht nur im deutschsprachigen Literaturbetrieb erfolgreich, sondern hatte mit feuilletonistischen Texten und regelmäßigen Zeitschriftenkolumnen auch über engere literarische Kreise hinaus ein Publikum. Erste Publikationen in Zeitschriften Der im Herbst 1945 aus dem Exil zurückgekehrte Hans Weigel gilt als wichtiger Netzwerker (Straub 2016), der durch seine markante Aussage »[e]s begann mit Ilse Aichinger« (Weigel 1966) den Neubeginn der österreichischen Nachkriegsliteratur mit dem Werk Aichingers ansetzte. Dieser Zuschreibung folgt auch die österreichische Literaturgeschichtsschreibung : Immer wieder wird die wichtige Rolle von Aichingers frühem Manifest »Aufruf zum Mißtrauen« betont, das bereits 1946 in der von Otto Basil herausgegebenen Literatur- und Kulturzeitschrift Plan erschien (Aichinger 1946a; wieder in AuzMi 2021, S. 21 – 22). Als eine der wichtigsten Zeitschriften der frühen Nachkriegsjahre veröffentlichte der Plan von 1945 bis 1948 nicht nur literarische Texte der internationalen Moderne (u. a. von Louis Aragon, T. S. Eliot, Franz Kafka, Wladimir Majakowski, Boris Pasternak oder Paul Valéry), sondern auch literarische Beiträge junger österreichischer Autor*innen, zu denen u. a. Christine Busta,
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Desiree Hebenstreit
Reinhard Federmann, Friederike Mayröcker oder Walter Toman zählten. Der Plan publizierte die ersten deutschsprachigen Gedichte Paul Celans, außerdem mit Erich Fried und Theodor Kramer wichtige literarische Stimmen aus dem Exil. Die Redaktion der Zeitschrift versammelte jedoch auch Autor*innen der »inneren Emigration« : Ebenso wie Basil selbst waren die Redaktionsmitglieder Rudolf Felmayer, Ernst Jirgal, Johann Muschik und Theodor Sapper in der NS-Zeit in Österreich geblieben. Texte, die zum Teil während des Krieges entstanden sind, aber nicht veröffentlicht werden konnten, erschienen danach im Plan, darunter Lyrik von Basil und Felmayer sowie Prosa von Jirgal und Sapper. Mit der Vielfalt an Texten leistete die Zeitschrift einen sehr wichtigen Beitrag für den literarischen Neubeginn und den österreichischen Identitätsdiskurs nach 1945 (Hebenstreit 2021). Aichingers erster Beitrag, den sie als junge Medizinstudentin an den Plan geschickt hatte, wurde im vierten Heft als »Kollektivbekenntnis der jungen Generation« abgedruckt (Aichinger 1946b ; wieder in AuzMi 2021, S. 13 – 14). Eindringlich beschreibt sie dort die hohen Erwartungen, die nach Kriegsende an die junge Generation gestellt wurden. Die Möglichkeit des Schreibens als Bewältigung der vergangenen Erlebnisse kam erst langsam ins Bewusstsein : So hat uns die ungeheure Gedankenlosigkeit dieser letzten Jahre gerufen, zu denken, so hat uns die Unmenschlichkeit, unter der wir litten wie gequälte Tiere, gerufen, alles Menschliche zu suchen und zu verdichten, so haben wir zu allererst gelernt, Menschen zu sein, bevor wir Dichter wurden. (AuzMi 2021, S. 14)
Die Zweifel, die sie gegenüber dem Schreiben und der Kraft der Worte artikulierte, beschränkten sich nicht auf die Erfüllung der Sehnsucht »nach dem großen Erfolg, nach hohen Auflagen, nach Auto und Haus und Wohlleben«, sondern mündeten in der Bitte um Verständnis für das Zögern der jungen Autor*innen : »Versteht unser Erschrecken ! Denn, was wir heute sagen, war gestern noch unsagbar !« (Ebd.). Aichinger Manifest »Aufruf zum Mißtrauen« war Teil des Jugendheftes, das der Plan 1946 ausschließlich den Stimmen der jungen Generation zwischen 16 und 25 Jahren widmete. Die veröffentlichten literarischen und essayistischen Beiträge setzten sich mit dem politischen System, dem vergangenen Krieg, der Mitschuld der älteren Generation, aber auch der Mitschuld der eigenen Generation auseinander, wobei Basil als Herausgeber im Vorwort des Jugendheftes festhielt : »Ich kann unsere jungen Freunde nur ermahnen, sich an uns Älteren kein böses Beispiel zu nehmen. Sie müssen es anders machen, von Grund aus anders !« (Basil 1946). Während sich die ältere Generation an Karl Kraus orientierte (N. N. 1945), fand die junge Generation im »Bekenntnis zu Georg Trakl« Trost:
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»Es begann mit Ilse Aichinger.«
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Wir wissen nicht, warum wir schweigen und die Jugend nach dem ersten Weltkrieg reden konnte, aber wir glauben, daß die verschwiegenen Verse Trakls uns vor allen anderen gelten. […] Es war die Heiterkeit, die aus dem Leid wächst, die uns tröstete und aufrichtete. (N. N. 1946)
Nicht nur in diesem Manifest artikulierte sich die zentrale Hoffnung der jungen Autor*innen, dass Literatur und Kunst eine wichtige Rolle beim geistigen Wiederaufbau leisten werden. Unter Bezug auf Trakl wurde der Jugend ein gesellschaftspolitischer Auftrag zugeschrieben : Wenn es wahr ist, was wir glauben, daß die Jugend heute gleichsam eine amorphe Masse darstellt, eine ungeordnete Vitalität voll Hoffnung und Gestaltungswillen, der nur bisher niemand geholfen hat, und die es noch nicht wagt, sich selbst zu helfen, und wenn diese schlummernde Kraft nicht in ewigen Schlaf verharren soll, dann braucht sie den Zuruf der Berufenen. (Ebd.)
Auch der im Heft publizierte Beitrag von Hermann Schreiber sah eine wichtige Aufgabe der Literatur in der Erziehung der Jugend, vermisste aber wichtige literarische Stimmen, die auf dem österreichischen Buchmarkt (noch) nicht verfügbar waren : »[…] was Felix Braun, Alfred Mombert, Franz Werfel, Robert Musil und der immer nur zitierte Kafka uns bedeuten würden, ahnen wir mehr, als wir es ermessen können« (Schreiber 1946, S. 597). Rudolf Lind kritisierte in seinem Artikel die politischen Institutionen, Opportunismus und Bürokratie in der Nachkriegszeit (Lind 1946). Das Misstrauen hingegen, das Ilse Aichinger in ihrem Beitrag forderte, richtete sich nicht nur an Politik und Institutionen, sondern war vor allem als Reflexion der eigenen Haltung und der Sprache angelegt. Im Dialog mit den Leser*innen brachte sie ihre Überlegungen zum Ausdruck : Ausgehend von der bereits lange herrschenden »Krankheit des Misstrauens«, die zu Missverständnis, Furcht und Ignoranz geführt habe, plädierte sie dafür, die »Bürger des XX. Jahrhunderts« präventiv zu impfen : Bespötteln wir nicht jede Instanz über uns, jede Behörde, jede Maßnahme, die wir nicht ergriffen, jedes Wort, das wir nicht gesagt haben ? Wir sind erfüllt von Mißtrauen gegen Gott, gegen den Schleichhändler, bei dem wir kaufen, gegen die Zukunft, gegen die Atomforschung und gegen das wachsende Gras. […] An sich sollen Sie die Krankheit erfahren ! Sie sollen nicht Ihrem Bruder mißtrauen, nicht Amerika, nicht Rußland und nicht Gott. Sich selbst müssen Sie mißtrauen ! (AuzMi 2021, S. 21 – 22 ; Hervorhebung im Original)
Dass es für Leute, die »einen vollen Magen und ein weißes Hemd« hatten, im vorigen Jahrhundert leicht gewesen sei, Vernunft, Güte und Menschlichkeit zu zelebrieren,
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Desiree Hebenstreit
konterte sie mit der fehlenden Selbstreflexion dieser Generation : »So wuchs die Bestie unbewacht und unbeobachtet durch die Generationen« (ebd.). Ihre Worte richtete sie sowohl an die ältere Generation als auch an die eigene Generation, die zwar gelitten habe, aber dennoch wieder bereit dazu sei, »selbstsicher und überlegen zu werden« : »Kaum haben wir gelernt, den Blick zu heben, haben wir auch schon wieder gelernt, zu verachten und zu verneinen« (ebd.). Ihre Ausführungen mündeten schließlich in den Appell : Uns selbst müssen wir mißtrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten ! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir mißtrauen ! Schwingt nicht schon wieder Lüge darin ? Unserer eigenen Stimme ! Ist sie nicht gläsern vor Lieblosigkeit ? Unserer eigenen Liebe ! Ist sie nicht angefault von Selbstsucht ? Unserer eigenen Ehre ! Ist sie nicht brüchig vor Hochmut ? (AuzMi 2021, S. 21 – 22)
Es überrascht, wie Aichinger als eine in der NS-Zeit von Verfolgung, Rassismus, Terror und Mord bedrohte junge Autorin die Selbstreflexion und das Verbindende in den Mittelpunkt stellte. Nicht Anklage und Vorwürfe dominierten ihren Aufruf, sondern die Anrufung des gemeinsamen »Wir«, in dem sie eine Generation vereinte. Andreas Dittrich weist anlässlich der Herausgabe von Aichingers verstreuten Publikation darauf hin, dass die Autorin selbst später den Wiederabdruck des Textes vermied, da sie ihn nicht gut geschrieben fand. (Dittrich 2021, S. 283) Wendelin Schmidt-Dengler kontrastierte das oftmals zitierte Misstrauen aus Aichingers Manifest mit ihrer Erzählung »U. S. – Eine kleine Geschichte von der Treue«, die sie am 26. Januar 1946 in der katholisch orientierten Zeitung Die Furche veröffentlichte (Aichinger 1946c; wieder in AuzMi 2021, S. 9 – 12, 285). In der Erzählung, die im Ursulinenkloster in Wien angesiedelt ist, finden Kinder während des Krieges Schutz hinter den Klostermauern. Schmidt-Dengler sah die Erzählung als »Ausdruck des Vertrauens« (Schmidt-Dengler 2009, S. 10), das ebenso eine wichtige Rolle für die Autorin spielte. Dass Aichingers Misstrauen in ein Plädoyer für mehr Vertrauen mündete – als Grundlage der Gesellschaft und des Weiterlebens –, erläutert auch das Stichwort »Mißtrauen« in dem 2021 erschienenen »Ilse Aichinger Wörterbuch« (Pajević 2021, S. 188 – 191). Dabei wird besonders auf Aichingers Schreibweise eingegangen : Infragestellung des Selbst ist Aichingers Programm vor dem Hintergrund der Nachkriegszeit, ein zeitloses Programm der Selbstreflexion, welche ja das Merkmal des Menschen schlechthin ist. Dieses Misstrauen setzt Aichinger in Form ihrer Texte dichterisch und poetologisch um. (Ebd., S. 188)
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»Es begann mit Ilse Aichinger.«
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Abgesehen von den inhaltlichen Schwerpunkten und den poetologischen Aspekten von Aichingers Texten geben die Publikationsorte einen Einblick in die österreichische Medienlandschaft der frühen Nachkriegszeit. Mehrere Erzählungen Aichingers erschienen im Wiener Kurier, der von 1945 bis 1954 unter amerikanischer Kontrolle herausgegeben wurde und wichtiger Bestandteil der US-Medienpolitik in Österreich war. Mit der zunehmend steigenden Auflage spielte das Blatt sowohl für die Literatur der Nachkriegszeit als auch politisch im Kalten Krieg eine wichtige Rolle (Rathkolb 1981 ; Wagnleitner 1991). Zwei Auszüge aus Aichingers Roman Die größere Hoffnung erschienen in der Zeitschrift Die Weltpresse, die von 1945 bis 1950 in Wien durch den britischen Nachrichtendienst herausgegeben und anschließend unter sozialdemokratischer Verlagsleitung weitergeführt wurde. Beginnend mit einer Startauflage von 165.000 Stück war die Zeitschrift im weiteren Verlauf zwar weniger erfolgreich als der Wiener Kurier (Harmat 1999, S. 78f.), durch den Abdruck der Textausschnitte »Abschied vom Bücherkasten« (Aichinger 1949a) und »Kap der guten Hoffnung« (Aichinger 1950) erreichten Teile von Aichingers Roman, abgesehen von der Buchpublikation, eine große Zahl an Leser*innen. Ein weiterer Ausschnitt des Romans wurde unter dem Titel »Und dann ist Nikolaus« (Aichinger 1949b) am 6. Dezember 1949 in der sozialdemokratischen Grazer Zeitung Neue Zeit abgedruckt. Auch in der Wiener Tageszeitung, die ab 1947 als »Zentralorgan der Österreichischen Volkspartei« erschien, publizierte Aichinger mehrere Erzählungen. Hier erschien 1949 »Das Plakat« (Aichinger 1949c), die später mit dem renommierten Preis der Gruppe 47 ausgezeichnete »Spiegelgeschichte« (Aichinger 1949d) sowie »Engel in der Nacht« (Aichinger 1949e). Anfang der 1950er Jahre erschienen mehrere Beiträge in Hans Weigels Anthologie Stimmen der Gegenwart, die er von 1951 bis 1956 zur Förderung der jungen Generation österreichischer Autor*innen herausgab. Die Publikation von Aichingers prämierter »Spiegelgeschichte« erfolgte 1952 in der von Hans Weigel im Wiener Jungbrunnen Verlag herausgegebenen Reihe Junge österreichische Autoren : Gemeinsam mit anderen Erzählungen bildete sie den Band Rede unter dem Galgen, illustriert mit Bildern von Hans Fronius. Wie die online verfügbare Bibliographie Aichingers dokumentiert, wurde die Erzählung seit den 1950er Jahren auch in zahlreiche weitere Sammelbände aufgenommen (Dittrich 2023). Hier wird deutlich, dass für den Neubeginn der österreichischen Literatur nach 1945 Netzwerke, Medien, Verlage und die Literaturkritik wichtige Einflussfaktoren waren und sich der literarische Erfolg nicht auf die Förderung durch eine Einzelperson, aber auch nicht auf eine einzelne Auszeichnung begrenzen lässt. Die frühen Publikationen Aichingers zeigen außerdem, dass eine parteipolitisch orientierte ideologische Zuordnung der jungen Autorin nicht möglich ist und sich die Bandbreite der Veröffentlichungen wohl eher an pragmatischen Aspekten orientierte.
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Desiree Hebenstreit
Publikation und Rezeption des Romans Der Verlag Bermann Fischer, der Aichingers Roman 1948 herausbrachte, konnte nach der NS-Zeit sein Literaturprogramm wieder aufnehmen (Zeller 1990, S. XVIf.). Gottfried Bermann Fischer hatte 1936 einen Teil des arisierten Berliner S. Fischer Verlags in Wien angesiedelt, was noch bis 1938 die Publikation von Autor*innen ermöglichte, die im nationalsozialistischen Deutschland bereits verboten waren. Nach der Flucht aus Österreich im März 1938 setzten die Außenstellen des Verlags in Stockholm, New York und Amsterdam die Publikation von deutschsprachiger Exilliteratur fort, während ein Teil des früheren Verlags in Deutschland weitergeführt wurde (Nawrocka 2000). Aichinger lernte im Juli 1947 Gottfried und Brigitte Bermann Fischer durch Vermittlung von Hans Weigel in Wien kennen. Wie Weigel selbst berichtet, hatte er das Verlegerehepaar bei einem Abendessen auf die junge Romanautorin hingewiesen (Weigel 1966, S. 3 – 4). Mehrere Briefe zwischen Aichinger und den Bermanns zeigen, wie enthusiastisch die junge Autorin auf den Kontakt reagierte. Nach dem ersten Treffen hatte »die ganze Stadt einen neuen Glanz« (IA an GBF und BBF, 29. Juli 1947 ; Stach 1990, S. 331). Aichinger bedankte sich für das in sie gesetzte Vertrauen und fühlte sich auch abseits der Worte verstanden : »Worte können so wenig sagen von dem, was man eigentlich meint, sie bleiben doch immer nur Tore in ein Tieferes. Aber ich weiß, Sie wissen alles, was ich sagen will !« (IA an BBF, 20. August 1947 ; ebd., S. 332). Nachdem Aichinger das lange erwartete Visum zum Besuch ihrer Schwester in England erhalten hatte, versprach sie die Abgabe des Manuskripts noch vor der Abreise : Natürlich fahre ich erst, bis ich das Manuskript abgegeben habe – ungefähr Mitte November. Unsere englische Aufenthaltserlaubnis gilt für 2 – 3 Monate. So sehr ich mich darauf freue, habe ich auch Angst. – Aber ich denke daran, daß Sie da sind und alles wird leichter !« (IA an BBF, 23. September 1947 ; ebd.)
Nach Erhalt des Manuskriptes mischte Gottfried Bermann Fischer das Lob, dass sie eine »außerordentlich begabte Schriftstellerin« sei, mit den Ansprüchen, die er aus der wirtschaftlich orientierten Perspektive des Verlegers hatte. So schrieb er am 15. Januar 1948 an Aichinger : Ihr Manuskript aber ist ein Erstlingsbuch, und Sie stehen nun vor der großen Aufgabe, die Versprechungen, die Sie damit geben, mit einem neuen Buch einzulösen. […] Die Freiheiten, die Sie sich bei Ihrem ersten Buch noch erlauben konnten – gewisse Abschweifungen und
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»Es begann mit Ilse Aichinger.«
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ein gewisses sich-zu-sehr-gehen-lassen in den Seitensprüngen der Phantasie – müssen Sie beim nächsten Buch abstellen. (GBF an IA, 15. Januar 1948 ; ebd., S. 533)
Die bevorstehende Publikation von Aichingers Roman durchzog die frühe Korrespondenz der Autorin mit Hans Weigel. In ihren Briefen berichtete sie von den Diskussionen, die es mit dem Verleger und dem Lektorat gab : Der Bermann ist inzwischen wieder weggefahren und hat etwas davon gesagt, daß er dich in New York treffen könnte, wenn er zurückkommt. Er war sehr lieb und hat, glaub ich, einen guten Einfluß auf den Wickenburg gehabt. Der Wickenburg will mir morgen zeigen, was er geändert haben will, er hat sehr lang dazu gebraucht, es zu korrigieren, behauptet aber, daß es nicht viel ist. (IA an HW, o. D.)
Bei Weigel bedankte sie sich auch für die Unterstützung bei den Arbeiten am Text : »Ich bin so froh, daß Du mir jetzt doch noch beim Korrekturlesen helfen wirst !« (IA an HW, 10. September. o. J.). Verschiedene Rezensionen belegen die internationale Rezeption des Romans (Moser 1995, S. 155 – 182 ; Bartsch/Melzer 1993, S. 174 – 179). Der junge, im Londoner Exil lebende Autor Erich Fried meinte 1949, dass der Roman sowohl in Österreich als auch in England Aufsehen erregt hatte. Er sah den Roman als »tiefreligiöses, christliches Buch […], trotz allem Grauen – eines der schönsten und beglückendsten Bücher unserer Zeit« (zitiert nach Moser 1995, S. 155f.). Während Fried Parallelen zu Texten von T. S. Eliot und G. M. Hopkins bemerkte, stellte Hermann Schreiber eine Traditionslinie zu surrealistischen Schreibweisen her, in denen traumhafte Erlebnisse, Phantasie und Visionen statt realer Erlebnisse dominieren. Die Texte verstand er als »Skizzen«, analog zur bildenden Kunst, die von verschwimmenden Farben geprägt sind. Aichingers Roman sah er als Antwort auf die seit längerem bestehende Suche nach dem Zeitroman ; dennoch hatte er offenbar andere Vorstellungen über das Genre, denn er erwartete noch einen weiteren, »wirklichen Roman« Aichingers (zitiert nach Moser 1995, S. 157). Der deutsche Journalist Friedrich Sieburg kritisierte das mediale Ausschlachten von jungen Talenten, würdigte aber Aichingers Poetisierung der Welt und der Sprache (zitiert nach Moser 1995, S. 160 – 162). Der österreichische Journalist und Autor Jörg Mauthe zeigte sich begeistert über das »großartige« Buch, in dem »ein breites und tiefes Pathos sich langsam zu erstaunlichen Bekenntnissen, Vergleichen und Parabeln aufschwingt. Das ist sehr charakteristisch für dieses Buch : es atmet Gedanken ein und Erlebnisse aus« (Mauthe 1950). Mit Surrealismus hatte Aichingers literarische Technik seiner Meinung nach wenig zu tun, denn »[d]er Surrealist verklausuliert die Realität, er mystifiziert. Aber diese Dichterin […] will die Realität im Gegenteil entmystifizieren, sie läuft ihr nicht davon, sondern
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Desiree Hebenstreit
entgegen« (ebd.). Mauthe interpretierte das Werk als wichtigen Ausdruck einer Generation : »[…] über deren Gedanken und Verhalten gibt es so viele Aufschlüsse, als man nur wünschen kann« (ebd.). Hans Weigel sah Aichingers Roman kurz nach dem Erscheinen als »ein Versprechen und eine Erfüllung« und stellte die Prognose : Wenn man an die literarische Bestandsaufnahme dieser Zeit geht, wird die »Größere Hoffnung« zweifellos hoch oben auf der Liste figurieren. Denn hier ist nicht nur der Anschluss an eine grosse erzählerische Tradition gefunden im Gewicht der Persönlichkeit, in der menschlich-humanistischen Haltung und in der besonders bemerkenswerten Beziehung zur Sprache – hier ist endlich der echte Zeitroman gelungen, jener nämlich, der über seine Zeit hinaus gilt. (Weigel o. D.)
In seinem literaturgeschichtlichen Rückblick und dem Resümee über die Literatur der Nachkriegszeit zeigte er sich 1966 aber über die Rezeption des Romans enttäuscht : »Die größere Hoffnung« erschien im Dezember 1947 und erregte nicht die geringste Sensation. Hier war ein gewaltiger, wenn auch inkongruenter Roman zu bewundern ; der damals und seither immer wieder postulierte »Zeitroman«, mit hohem dichterischen und sprachlichen Rang. Der Verlag liess es an der gehörigen Obsorge fehlen, die Öffentlichkeit blieb indifferent. (Weigel 1966, S. 4)
Dass er damit nicht unbedingt recht behalten sollte, belegt die sehr breite und bis heute andauernde Rezeption von Aichingers Roman und die Wiederauflagen des Textes im S. Fischer Verlag. Erste literarische Preise Aichingers Für die Erzählung »Spiegelgeschichte«, die bereits 1949 in der Wiener Tageszeitung erschienen war (Aichinger 1949d) und die den tödlichen Ausgang eines Schwangerschaftsabbruchs thematisiert, erhielt Aichinger im Jahr 1952 den renommierten Preis der Gruppe 47. Die Geschichte dieser Auszeichnung ist gut dokumentiert, ebenso Aichingers Kontakt zum Gründer und Leiter der Gruppe Hans Werner Richter (Sonnleitner 1999), über den sie selbst ein Gedicht verfasste (Aichinger 2007). Kaum bekannt ist in der Forschungsliteratur hingegen, dass Aichinger im gleichen Jahr den Förderungspreis der Österreichischen Staatspreise erhielt, nachdem sie 1952 den Roman Die größere Hoffnung eingereicht hatte. Er fehlt sowohl in der gedruckten Auflis-
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tung der von ihr angenommenen Preise (Moser 1995, S. 343) als auch in den derzeitigen digitalen Einträgen zu Aichinger (Wikipedia, Wienwiki). Der Förderungspreis wurde nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs vergeben und berücksichtigte jedes Jahr eine andere Gattung. Er war Teil der Österreichischen Staatspreise für Literatur, die bis heute als höchste literarische Auszeichnung der Republik Österreich gelten. Im Jahr 1952 war die Jury für die Begutachtung der Einreichungen mit Otto Basil, Felix Braun, Friedrich Perkonig, Friedrich Schreyvogl und Viktor Suchy besetzt. Während Otto Basil als Herausgeber der Zeitschrift Plan für die Förderung moderner Literatur nach 1945 bekannt war, standen Perkonig und Schreyvogl für eine traditionalistische bis völkisch orientierte Heimatliteratur. Der aus Kärnten stammende Perkonig hatte nicht nur 1934 den Großen Staatspreis erhalten, der in dieser Zeit eine der wichtigsten Auszeichnungen der Dollfuss-/Schuschnigg-Diktatur war, sondern publizierte auch in der NS-Zeit zahlreiche Werke. Perkonig konnte – ebenso wie Schreyvogl, der in der NS-Zeit als Dramatiker sehr erfolgreich war – nach 1945 seine Tätigkeit im österreichischen Literatur- und Kulturbetrieb ohne größere Einschränkungen fortsetzen. Der aus einer jüdischen Familie stammende Lyriker und Dramatiker Felix Braun hingegen war 1939 nach Großbritannien ins Exil gegangen und 1951 nach Österreich zurückgekehrt. Sein Werk gilt als traditionell humanistisch und von der griechischen Antike geprägt. Viktor Suchy, der 1938 wegen politischer Aktivitäten und der Nürnberger Gesetze von der Wiener Universität ausgeschlossen wurde, war in der Nachkriegszeit als Autor, Literaturkritiker und Literaturvermittler tätig und der modernen Literatur gegenüber aufgeschlossen. Trotz der unterschiedlichen ideologischen Hintergründe und literarischen Schwerpunkte waren sich die Jurymitglieder 1952 in ihrer positiven Bewertung von Aichingers Roman einig. Basil lobte : Ein dichterisches Bekenntnisbuch von seltener Reinheit. Die erste und entscheidende Talentprobe der jungen Wiener Dichterin, die inzwischen das grosse Versprechen, welches dieses Buch bedeutet, in bezwingender Weise eingelöst hat. Aeusserst förderungswürdig. Unbedingt : 1. (Basil über Aichinger, Gutachten Förderungspreis 1952)
Perkonig urteilte nicht nur mit literarischen Begrifflichkeiten : »Eine talentierte, aber noch verklemmte Prätention« (Perkonig über Aichinger, Gutachten Förderungspreis 1952). Nach seinem Resümee, »[m]enschliche Einsicht, dichterischer Takt, sprachliche Zucht sind übermaßen groß«, vergab er dennoch Note Eins. Viktor Suchy merkte an : Abgesehen davon, dass das Werk wahrscheinlich schon vor der vorgeschriebenen Frist von 5 Jahren entstanden ist, kann der Referent nur die positiven Urteile, die inzwischen über dieses
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Buch bekannt geworden sind, vollinhaltlich bestätigen. Das erste gültige Zeitbuch mit metaphysischer Tiefe über die Hitler-Ära. (Suchy über Aichinger, Gutachten Förderungspreis 1952)
Wie die im Österreichischen Staatsarchiv erhaltenen Listen der Jurybewertungen dokumentieren, bewerteten auch Braun und Schreyvogl den Roman mit Note Eins. Nach Abschluss der Einzelbewertungen schickte die Jury ein Schreiben an das Bundesministerium für Unterricht, in dem sie ihre Entscheidung begründete und festhielt, dass sich Aichinger mit ihrem Roman »in die Reihe der bedeutendsten jungen Talente Österreichs« stelle (Österr. Staatspreise 1952. Anträge der Literaturjury auf Vergebung von Förderungspreisen). Aichinger erhielt schließlich einen mit 10.000 Schilling dotierten Förderungspreis, ebenso wie Herbert Zand und Fritz Habeck, die mit Nächtliche Ausfahrt und Das Boot kommt nach Mitternacht 1952 ebenfalls Romane eingereicht hatten, in denen die Aufarbeitung der NS-Zeit im Vordergrund stand. Dass der Roman Aichingers sowohl auf inhaltlicher als auch formaler Ebene die Wertschätzung aller Jurymitglieder fand, ist durchaus beachtlich. Aichingers Preise häuften sich ab den 1960er Jahren : Sie erhielt u. a. den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1961), den von der Stadt Dortmund vergebenen Nelly-Sachs-Preis (1971) und den Grazer Franz-Nabl-Preis (1979). Im Jahr 1995 wurde sie schließlich mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. Trotz dieser offiziellen Anerkennung von höchster Stelle brachte sie in ihrer anlässlich der Preisvergabe gehaltenen Rede das tief verwurzelte Misstrauen gegenüber dem Staat und staatlichen Institutionen zum Ausdruck. Ausgehend von ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs reflektierte sie grundsätzlich den Einfluss des Staates auf das Verhalten der Menschen und kam zu dem Fazit, »[…] daß ich kein dem Staat ergebener Dichter bin, auch wenn das nicht unbedingt in diesem Preis impliziert ist« (FuV 2001, S. 24). In diesem Hinterfragen der staatlichen Wertschätzung findet sich schließlich Aichingers tief empfundenes Misstrauen seit ihren literarischen Anfängen wieder. Literatur Aichinger, Ilse [IA] an Hans Weigel [HW ], Brief o. D. (Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Hans Weigel, ZPH 847, Archivbox 1, Korrespondenzen an Weigel) Aichinger, Ilse [IA] an Hans Weigel [HW ], Brief 10.9. o. J. (Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Hans Weigel, ZPH 847, Archivbox 1, Korrespondenzen an Weigel) Aichinger, Ilse (1946a) : Aufruf zum Mißtrauen, in : Plan 1.7, S. 588. Aichinger Ilse (1946b) : Junge Dichter, in : Plan 1.4, S. 309f.
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Aichinger, Ilse (1946c) : U.S. – Eine kleine Geschichte von der Treue, in : Die Furche, 26. Januar 1946, S. 14 https://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno ?aid=dfu&datum=19460126&seite=14 [Stand : 27.03.2023]. Aichinger, Ilse (1949a) : Abschied vom Bücherkasten, in : Die Weltpresse, 22. Dezember 1949, S. 3. https:// anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dwp&datum=19491222&seite=3 [Stand : 27.03.2023]. Aichinger, Ilse (1949b) : Und dann ist Nikolaus, in : Neue Zeit, 6. Dezember 1949, S. 5. https:// anno.onb.ac.at/cgi-content/anno ?aid=awi&datum=19491206&seite=5 [Stand : 27.03.2023]. Aichinger, Ilse (1949c) : Das Plakat, in : Wiener Tageszeitung, 16. Juni 1949, S. 4. Aichinger, Ilse (1949d) : Spiegelgeschichte, in : Wiener Tageszeitung, 7. August 1949, S. 7. / 9. August 1949, S. 5 / 10. August 1949, S. 5. Aichinger, Ilse (1949e) : Engel in der Nacht, in : Wiener Tageszeitung, 25. Dezember 1949, S. 9. Aichinger, Ilse (1950) : Kap der guten Hoffnung, in : Die Weltpresse, 24. November 1950, S. 6. https:// anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dwp&datum=19501124&seite=6, [Stand : 27.03.2023]. Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Der Boden unter unseren Füßen. Rede zum Großen Österreichischen Staatspreis (Wien, 20. 3. 1996), in : Ilse Aichinger, Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben, Frankfurt/M., S. 21 – 24. Aichinger, Ilse (2007) : Mir H.W., in : Hans Werner Richter und die Gruppe 47. München, S. 183. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Bartsch, Kurt/Melzer, Gerhard (1993) : Ilse Aichinger. Graz/Wien. Basil, Otto (1946) : Vorwort, in : Plan 1.7, S. 531. Basil, Otto : Gutachten über Ilse Aichinger, Förderungspreis 1952 (Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Akten BmU, Sammelmappe 155, Österr. Staatspreis 1952–1955, o. S.). Berbig, Roland (2010) : »Kind-sein gewesen sein«. Ilse Aichingers frühes Tagebuch (1938 bis 1941), in : Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 9, S. 15 – 31. Berbig, Roland (2020) : Ilse Aichingers Tagesaufzeichnungen, in : Wiener digitale Revue, Zeitschrift für Germanistik und Gegenwart, 1. Dittrich, Andreas (2021): Editorische Nachbemerkung. In: Ders.: Ilse Aichinger. Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005. Frankfurt/M., S. 283–284. Dittrich, Andreas (2023) : Digitales Ilse Aichinger Literaturverzeichnis, zusammengestellt von Andreas Dittrich. http://dial.aichingerhaus.at, [Stand : 26.03.2023]. Harmat, Ulrike (1999) : Die Medienpolitik der Alliierten und die österreichische Tagespresse 1945 – 1955, in : Gabriele Melischek/Josef Seethaler (Hgg.), Die Wiener Tageszeitungen. Eine Dokumentation. Bd. 5 (1945 – 1955) Mit einem Überblick über die österreichische Tagespresse der Zweiten Republik bis 1998. Frankfurt/M., S. 57 – 96. Hebenstreit, Desiree (2021) : Die Zeitschrift »PLAN« : Österreichischer Identitätsdiskurs, individuelles und kollektives Gedächtnis in der Nachkriegszeit. Göttingen. Lind, Rudolf (1946) : Was sollen wir tun ?, in : Plan 1.7, S. 558 – 562. Mauthe, Jörg (1950) : Junge österreichische Autoren, in : Die Furche, 16. Dezember 1950. Moser, Samuel (Hg.) (1995) : Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M. Nawrocka, Irene (2000) : Verlagssitz : Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der Bermann-
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Fischer Verlag im Exil (1933 – 1950). Ein Abschnitt aus der Geschichte des S. Fischer Verlages, in : Archiv für Geschichte des Buchwesens 53, S. 1 – 216. [N. N.] (1945) : Karl Kraus, in : Plan 1.1, S. 69 – 71. [N. N.] (1946) : Bekenntnis zu Georg Trakl, in : Plan 1.7, S. 554. Österr. Staatspreise 1952. Anträge der Literaturjury auf Vergebung von Förderungspreisen (Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Sign. 15B1, Kunstwesen-Staatspreis 1948 – 1955, Karton 179, GZ 94811-II-4/52) Pajević, Marko (2021) : Misstrauen, in : Birgit R. Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 188 – 191. Perkonig, Friedrich : Gutachten über Ilse Aichinger, Förderungspreis 1952 (Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Akten BmU, Sammelmappe 155, Österr. Staatspreis 1952–1955, o.S.) Rathkolb, Oliver (1981) : Politische Propaganda der Amerikanischen Besatzungsmacht in Österreich 1945 bis 1950. Ein Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges in der Presse-, Kultur- und Rundfunkpolitik. Wien. Schmidt-Dengler, Wendelin (2009) : Aufruf zum Vertrauen, in : Ingeborg Rabenstein-Michel/ Françoise Rétif/Erika Tunner (Hgg.), Ilse Aichinger – Misstrauen als Engagement ? Würzburg, S. 9 – 16. Schreiber, Hermann (1946) : Jugendproblem und Publizistik, in : Plan 1.7, S. 596 – 599. Sonnleitner, Johann (1999) : Grenzüberschreitungen. Ilse Aichinger und die Gruppe 47, in : Stuart Parkes/John J. White (Hg.), The Gruppe 47 Fifty Years on : A Re-Appraisal of Its Literary and Political Significance. Amsterdam/Atlanta, S. 195 – 212. Stach, Reiner (Hg.) (1990) : Gottfried Bermann Fischer/Brigitte Bermann Fischer. Briefwechsel mit Autoren. Frankfurt/M. Straub, Wolfgang (2016) : Die Netzwerke des Hans Weigel. Wien. Suchy, Viktor : Gutachten über Ilse Aichinger, Förderungspreis 1952 (Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Akten BmU, Sammelmappe 155, Österr. Staatspreis 1952–1955, o. S.) Wagnleitner, Reinhold (1991) : Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Wien. Weigel, Hans (1966) : Es begann mit Ilse Aichinger. Fragmentarische Erinnerungen an die Wiedergeburtsstunden der österreichischen Literatur nach 1945, in : Protokolle 1, S. 3 – 8. Weigel, Hans : Einleitung zur RAVAG-Vorlesung Ilse Aichinger, o. D. (Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Hans Weigel, ZPH 1561, Archivbox 19, Sign. 1.6.1.5.) Zeller, Bernhard (1990) : Einführung, in : Reiner Stach (Hg.), Gottfried Bermann Fischer/Brigitte Bermann Fischer. Briefwechsel mit Autoren. Frankfurt/M.
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Wakiko Kobayashi
Zwei Ansätze von sprachlichem Anarchismus : Jandls Gedicht ch a nson (1957) und Aichingers Erzählung M ei n grü n er E sel (1960 – 62)
Einleitung Wenn man Ilse Aichinger (1921 – 2016) und Ernst Jandl (1925 – 2000) zueinander in Beziehung setzt, fallen einige verbindende Merkmale auf. Schon die biographischen Daten weisen auf vergleichbare Erfahrungen während der Zeit des Zweiten Weltkriegs hin. In Wien aufgewachsen, sah Jandl sein Leben bedroht, als er mit 18 Jahren als Soldat zum Militär eingezogen wurde und an nichts anderes als an den Moment der »Befreiung« dachte. Er erlebte sie dann im Moment, als er Anfang 1945 in amerikanische Gefangenschaft geriet ( Jandl/W6 2016, S. 411). Aichinger, die ebenfalls in Wien aufwuchs, musste während der Kriegszeit in der von den Nationalsozialisten beherrschten Stadt Wien als sogenannte ›Halbjüdin‹ in äußerster Bedrängnis täglich um ihr Überleben bangen. In ihrer schriftstellerischen Karriere, die Aichinger Mitte der 1940er Jahre, Jandl etwas später Anfang der 1950er Jahre begann, schien beiden eine gewisse Unabhängigkeit von Bedeutung zu sein. Jandl war durch seinen Beruf als Gymnasiallehrer, den er 1949 bis 1979 in Wien ausübte, finanziell abgesichert. Aichinger hingegen zog sich abseits der Stadt in die Abgeschiedenheit dörflichen Lebens zurück. Seit 1954 lebte sie zunächst in Breitbrunn am Chiemsee, dann in Lenggries. 1963 übersiedelte sie nach Großgmain bei Salzburg, bevor sie 1984 nach Frankfurt am Main umzog, von wo aus sie 1988 nach Wien zurückkehrte. Literarisch gingen Jandl und Aichinger jeweils eigene Wege ; bei literarischen Gruppen blieben sie nur am Rand. So gehörte Jandl nicht richtig zur Wiener Gruppe, wie Aichinger auch nicht im Zentrum der Gruppe 47 stand. »Keine Konzessionen« (FuV 2001, S. 113) – die Schlussworte im Text an Jandl, den Aichinger aus Anlass von dessen Tod 2000 verfasste, können auch für Aichinger selbst gelten, da sie ebenfalls in ihrer sprachkritischen Haltung keine Konzessionen machte. Als Hintergrund dieser gemeinsamen Haltung ist die historische Situation Wiens nach dem Krieg miteinzubeziehen, die Aichinger 1996 wie folgt beschreibt :
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Zwar gab es jetzt einen anderen Staat, einen Staat, in dem man nicht aus dem Haus gezerrt und ermordet werden konnte, aber schon wieder einen Staat mit verschlossenen Türen und mit dem amtlichen Tonfall, der sich in Wien häufiger und rascher als anderswo dem Zynismus nähert. (FuV 2001, S. 22)
Im Folgenden will ich zeigen, wie früh Aichinger und Jandl damit begannen, sich durch ihr Schreiben gegen eine solche Realität zu wehren. Meine These lautet, dass die sprachkritischen, experimentellen Texte von beiden zwar verschiedene Ansätze haben, aber wohl ein ähnliches Ziel verfolgen, nämlich anarchische Räume sprachlich zu erschließen, um Ordnungen ohne hierarchische Herrschaft zu erproben. Sprachlich ist Aichinger ebenso Anarchistin, wie sie Jandl für einen solchen hält, wenn sie 2000 explizit schreibt : »Für mich ist er einer der wenigen Anarchisten« (AuzMi 2021, S. 207). Ernst Jandl : »chanson« (1957) Jandls Gedicht »chanson« entstand im Frühjahr 1957 in einer für ihn etwas komplizierten Situation, da er seine Schreibweise schärfer »zu Groteske und Experiment« ( Jandl/W6 2016, S. 412) entwickelte und insbesondere mit seinen Sprechgedichten bei konservativen Kritikern auf eine »massive Ablehnungsfront« (Siblewski 2000, S. 99) stieß. Jandl sollte fast zehn Jahre dafür kämpfen müssen, um für dieses Gedicht – wie für viele andere, zur gleichen Zeit entstandenen Gedichte – einen Verlag für die Publikation in Buchform zu finden. Das Gedicht »chanson« – »im Französischen ursprünglich eine dem deutschen Begriff ›Lied‹ ähnliche Sammelbezeichnung für Gesänge der verschiedensten Art« (Wicke/Ziegenrücker 2007, S. 137) – hat drei gleich lange Teile. Jeder Teil besteht aus drei Strophen jeweils zu vier Zeilen, denen ein dreizeiliger Refrain folgt. Auf den ersten Blick scheint es im ersten Teil um einen dynamischen Reigen zu gehen, und zwar von vier Elementen, die Zeile für Zeile ihre Reihenfolge ändern, um am Ende im Refrain ohne den Ausdruck »der bauch« ihre Ordnung zu finden : l’amour / die tür / the chair / der bauch the chair / die tür / l’amour / der bauch der bauch / die tür / the chair / l’amour l’amour / die tür / the chair ( Jandl/W1 2016, S. 90)
Mit diesen Elementen geht im zweiten Teil eine Verwandlung vor : Die Nomina werden von ihren grammatikalisch korrekten Artikeln entbunden, und mehrere Versi-
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onen der Kombination werden ausprobiert. Die vier Elemente tauchen nun erneut auf, gleichsam als Patchwork. Sie scheinen noch schneller als im ersten Teil zu tanzen, denn die Artikel springen von Nomen zu Nomen, als ob sie mit der herkömmlichen Verbindung unzufrieden wären : le tür / d’amour / der chair / the bauch le chair / der tür / die bauch / th’amour le bauch / th’amour / die chair / der tür l’amour / die tür / the chair ( Jandl/W1 2016, S. 90)
Im dritten Teil scheint dann der Tanz die höchste Geschwindigkeit zu erreichen : Die vier Elemente, deren Bedeutung im zweiten Teil noch erkennbar ist – z. B. lässt sich »le tür« noch als Tür entziffern –, verschmelzen nunmehr in den Buchstaben. Es scheint so, als ob die Buchstaben durch die Zentrifugalkraft auseinanderstieben, weil die Elemente sich im Kreis so schnell drehen. Wie aus mehreren Farben eine andere entsteht, wenn man sie miteinander vermischt, so wird aus »l’amour« so etwas wie »am’lour«, ein Ausdruck, in dem man vielleicht noch eine Spur von »l’amour« erkennen könnte – oder etwas völlig Neues wie »ber’dour« und »am’thour«, deren phonetische Potenz uns eher an eine neue Art von Tür denken lässt : am’lour / tie dür / che thair / ber dauch tie dair / che lauch / am thür / ber’dour che dauch / am’thour / ber dür / tie lair l’amour / die tür / the chair ( Jandl/W1 2016, S. 91)
Jandls »chanson« ist ein Sprachspiel, das keinesfalls beliebiger Unfug ist. Die Sprache wird hierbei einer bestimmten Ordnung unterworfen : Die Rede ist nur von vier Elementen, in denen man im Übrigen auch den Anfang des Alphabets erkennen könnte – Amour, Bauch, Chair, Door. Der Raum und die Zeit des Gedichts werden ebenfalls von diesen Elementen bestimmt. Die Kraft der Demontierung der Elemente scheint in einer Richtung zu wirken. Dieses Gedicht ist ein Spiel im Rahmen der Ordnung und insofern ein Gedankenexperiment von Jandl, das zeigt, was in dieser Ordnung möglich ist und möglich wird. Welche Möglichkeiten man darin liest – seien es positive, kraftgebende oder negative, zerstörende – ist dabei den Leser*innen überlassen. Jandls Gedicht erscheint wie eine Partitur. Im vorliegenden Kontext will ich »chanson« im Sinne von Aichingers Essay über Jandl als ein sozialkritisches Gedicht interpretieren. Beim Schreiben des Essays anlässlich seines Todes erinnert sich Aichinger an ein anderes Gedicht von Jandl, »im park«
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(1989), das von jemandem zu handeln scheint, der sich auf eine Bank setzen möchte. Ein freier Platz wird ihm jedoch neun Mal verweigert : »bitte ist hier frei / nein hier ist besetzt / danke / bitte ist hier frei / nein hier ist besetzt / danke […]« ( Jandl/W4 2016, S. 77). Als er zum zehnten Mal fragt, darf er sich endlich setzen : »ist hier frei / bitte / danke« (ebd.). Dieses Gedicht erinnert Aichinger an die Diskriminierung während der Kriegszeit – »Die Bänke waren inzwischen kostbar geworden, sie hatten rasch aufgehört, alle Ermüdeten zu erwarten. Auf ihren Lehnen stand mit weißer Schrift ›Nur für Arier‹« (FuV 2001, S. 113) –, aber auch an gegenwärtige Ausgrenzungen. So liest sie im Gedicht die Fremdenfeindlichkeit der Gegenwart und schreibt : »Heute würde ›Ausländer raus‹ auf den Sesseln stehen« (ebd.). Verbindet man »chanson« mit der historischen Situation und liest in »the chair« die Sitzmöglichkeit, die während der Nazi-Zeit den Juden verweigert wurde, taucht die Tür plötzlich als eine Tür auf, vor die die Verfolgten in dieser Zeit tatsächlich gesetzt wurden. Das Groteske und Grausame der Verfolgung während der Nazi-Zeit war ja, dass die sprachliche Metapher ›jemanden-vor-die-Tür-setzen‹ in die Wirklichkeit umgesetzt wurde ; die Juden wurden abgeholt, draußen vor die Tür gestellt, um dann gesammelt, deportiert und getötet zu werden. Wenn »der bauch« im Gedicht für das Physische steht, würde seine Abwesenheit im Refrain Schrecken erregen : Denn dies würde die physische Vernichtung andeuten, was ja tatsächlich historisch auch durch die physische Liquidierung der Juden geschah, die von den Nationalsozialisten mit deren auf Rassentheorien sich berufenden Vaterlands-Liebe argumentiert wurde. So interpretiert, erweist sich das Sprachspiel »chanson« als ein ernstes Spiel, das durchaus mit dem Spiel vergleichbar ist, »das mit uns gespielt wird« (GrH 1991, S. 146), wie es die verfolgten Kinder in Aichingers Roman Die größere Hoffnung offen aussprechen. Jandls Gedicht lässt sich aber auch als Zeitkritik interpretieren. Als ob Jandl der internationalen Linie Österreichs seit der Erklärung für die immerwährende Neutralität 1955 folgen würde, so ist sein Gedicht auf eine gewisse Internationalität hin angelegt, nämlich auf die von drei Sprachen, Französisch, Deutsch und Englisch. Diese waren zur Entstehungszeit des Gedichts Sprachen von Ländern, die sich auf der westlichen Seite des ›Eisernen Vorhangs‹ im Kalten Krieg befanden, nämlich von Amerika, England, Frankreich, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bringt man »l’amour« im Gedicht mit der tendenziösen Liebe zum westlichen System in Zusammenhang, die im Westen Tag für Tag wuchs, so könnte das Gedicht auch als ein Bild gelesen werden, das vor dem möglichen Atomkrieg warnt, in dem die Menschheit binnen einer Sekunde physisch vernichtet werden könnte – eine Befürchtung, die vor dem Hintergrund des Wettrüstens um die Atomwaffen zwischen Amerika und der Sowjetunion in den 1950er Jahren gar nicht unrealistisch war. Jandls Worte, die er 1970 Aichingers Hörspiel »Besuch im Pfarrhaus« widmete, zeigen ebenfalls, worin sein Gedicht sich auszeichnet ;
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nämlich darin, dass es »ein sprachlicher Ablauf« ist, »im Prinzip also etwas Lineares, das aber an jedem Punkt Beziehung aufnahm zu Dingen außerhalb, zur Welt, zum Leben« ( Jandl/W6 2016, S. 62). So gesehen, stellt sich die Ordnung im Refrain ohne »der bauch«, die das Physische eliminiert, als eine problematische dar, die womöglich in der Wirklichkeit fortwährt. Damit gilt es, diese Ordnung kritisch zu hinterfragen. Ilse Aichinger : »Mein grüner Esel« (1960 – 62) Aichingers kurzer Prosatext »Mein grüner Esel« ist zwischen 1960 und 1962, am Beginn ihrer mittleren literarischen Phase entstanden (vgl. hierzu den editorischen Hinweis von Reichensperger in EE 1991, S. 212). Aichinger wohnte damals in der bayerischen Gemeinde Lenggries und erfand von dort aus die Geschichte vom Erscheinen des grünen Esels an einem städtischen Schauplatz. »Mein grüner Esel« ist eine Ich-Erzählung in fünf Absätzen. Sie beginnt mit folgender Feststellung : »Ich sehe täglich einen grünen Esel über die Eisenbahnbrücke gehen« (EE 1991, S. 79). Dieser Esel wird von einem »Ich« beobachtet und aus dessen Perspektive beschrieben. Die literarische Figur dieses grünen Esels ist mit Bildern aus einer vergangenen Zeit besetzt : Das »Ich« vermutet, dass der Esel »aus dem aufgelassenen Elektrizitätswerk jenseits der Brücke« kommt, »in dessen verfallener Einfahrt abends manchmal Soldaten stehen« (ebd., Hervorhebung d. V.). Festgehalten werden ferner Bilder wie »ein schwacher Fetzen Licht über dem rostigen Dach«, die »verlassenen Höfe«, »die Ritzen der vernagelten Fenster« (ebd., Hervorhebung d. V.). Der Text lässt uns wissen, dass der Esel sein eigenes Problem zu haben scheint : »[…] er sah eilig aus, als hätte er sich verspätet« (ebd.). Im zweiten Absatz betrachtet das »Ich« den Esel genauer. Es beobachtet, »aufs äußerste beteiligt wie aufs äußerste unbeteiligt« (KMF 1991, S. 91), was für Gewohnheiten dieser Esel zu besitzen scheint. Es sieht, wie der Esel über die Brücke geht, und merkt : »Oft wendet er den Kopf seitwärts und schaut hinunter, auch zumeist dann, wenn kein Zug kommt, und nie für sehr lange« (EE 1991, S. 79). Dem »Ich« scheint es, » als wechselte er dann einige Worte mit den Geleisen«, aber gleich verwirft es diese Möglichkeit, denn es hält dies für unmöglich und sinnlos : »[…] aber das ist wohl nicht möglich. Und zu welchem Zweck auch ?« (ebd.). Trotz seiner genauen Beobachtung kann das »Ich« den Esel nicht ganz begreifen. Vielleicht hat es mit seinen Vermutungen recht, vielleicht aber auch nicht. Dem Esel könnte ein solches Verhalten im Prinzip möglich sein, das heißt, er verhält sich vielleicht aus bestimmten Gründen so, die dem »Ich« aber nicht zugänglich sind. Was »die Art seines Verschwindens« betrifft, ist sich das »Ich« aber sicher : »Darüber […] täusche ich mich nicht« (EE 1991, S. 80).
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Dem »Ich« ist vieles am Esel fraglich, nicht jedoch seine Identität. Stattdessen interessiert es sich im dritten Absatz für den Ort seiner Herkunft : »Aber wie kommt er, von wo kommt er, wo entsteht er ?« (ebd.). Die Überlegung des »Ich« ruft die Metapher des Blitzes hervor : »Oder entsteht er, wie Blitze entstehen, zwischen den ehemaligen Hochspannungsmasten und den herabhängenden Leitungen ?« (ebd.). »Blitzlichter« – das ist das Bild des Erinnerns in Aichingers späteren Texten (vgl. FuV 2001). Wenn die Entstehung des Esels mit der der Erinnerung vergleichbar ist, ist sein Bild ambivalent : Einerseits erhellt er sich im Licht der Blitze, aber andererseits haftet an ihm etwas Schmerzhaftes : Die Hochspannungsmasten lassen uns nämlich den elektrisch geladenen Zaun um das Konzentrationslager assoziieren, wobei das »Ich« den Zustand des »Esels« wie folgt diagnostiziert : »Er sieht auch nicht schlecht aus, nicht verhungert und nicht gepeinigt – auch nicht besonders gut« (EE 1991, S. 80 – 81). Beim Nachsinnen über die Entstehung des Esels fällt dem »Ich« dann plötzlich »ein großes Wort« in den Mund, und zwar nennt es ihn »mein Esel« (EE 1991, S. 80), als ob es ihn so sehr lieben würde, dass es ohne ihn nicht leben könnte. In der Tat stellt das »Ich« gleich fest : »Weshalb soll ich nicht bekennen, daß ich von dem Augenblick lebe, in dem er kommt ?« (ebd.). Wie wichtig das Motiv des »Augenblicks« damals für Aichinger war, zeigen im Übrigen Aufzeichnungen in ihrem Tagebuch wie die aus dem Jahr 1959 : »Was attackiert wird, ist immer der Augenblick, denn auf ihn kommt es an« (KMF 1991, S. 68). Obwohl der »Augenblick« so wichtig ist, dass das »Ich« davon lebt, will es jedoch »nicht zuviel von ihm verlangen«. Denn : Ich will mich damit begnügen, ihn zu erwarten oder vielmehr : ihn nicht zu erwarten. Denn er kommt nicht regelmäßig. […] Er blieb schon zweimal aus. Ich schreibe es zögernd nieder, denn vielleicht ist das sein Rhythmus, vielleicht gibt es so etwas wie zweimal für ihn gar nicht und er kam immer, er kam regelmäßig und wäre verwundert über diese Klage. […] Verwunderung, ja, das ist es, was ihn am besten bezeichnet, was ihn auszeichnet, glaube ich. (EE 1991, S. 81)
Die Art und Weise, wie das »Ich« vom Esel spricht, wirkt so, als ob Aichinger über die Toten rede. Wenn man Aichingers Konzept reziproken Erinnerns miteinbezieht, von dem sie in einem Interview mit Manuel Esser 1986 gesprochen hat – »die Toten müssen sich an uns erinnern, darauf kommt es an. Wir erinnern uns natürlich an die Toten, aber es muss ein Gegenspiel sein« (Interviews 2011, S. 52) –, sollte das »Ich« den Esel lieber nicht erwarten ; es sollte ihn eher vergessen, denn Sich-Erinnern heißt doch »sich und das Erinnerte für das Vergessen bereit machen«, wie dies Aichinger 1960 notierte (KMF 1991, S. 69). Der Esel würde dann und wann blitzartig erscheinen, nach seinem eigenen Rhythmus, dessen Regelmäßigkeit das »Ich« zwar nicht durchschauen
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kann, aber respektieren will. Die »Verwunderung«, die den Esel »bezeichnet«, ja sogar »auszeichnet«, könnte damit zusammenhängen, dass das »Ich« zwar den Esel »mein Esel« nennt, aber ihn weder füttert noch tränkt (vgl. EE. 1991, S. 80). Der Raum, wo der Esel hingehört, scheint ein anderer zu sein als der, in dem das »Ich« lebt. Es würde sich dann beim Erscheinen des Esels jedes Mal um ein Wunder handeln, zumal das »Ich« nicht selbst bestimmen kann, wann und wie der Esel kommt. Genauer hat es mit einer Verwunderung zu tun, solange das »Ich« es »für anstrengend« hält, »jeden Abend so grün wie er über die Brücke zu gehen und im rechten Moment zu verschwinden« (EE. 1991, S. 81). Das »Ich« bleibt auf jeden Fall bescheiden und will nun lernen, »[s]ich auf Vermutungen zu beschränken, was ihn betrifft, später auch auf weniger« (EE 1991, S. 81). Im vierten Absatz macht das »Ich« sein Ziel klar, das darin besteht, »immer weniger von ihm zu wissen« (ebd.), womit seine Haltung sich dem Gedanken der »belehrten Unwissenheit« von Nikolaus von Kues annähert (vgl. Cusanus 1994), denn dies hat das »Ich« doch gerade : »Von ihm gelernt« (EE 1991, S. 82). Das »Ich« ist sogar bereit, »es vielleicht auch ertragen« zu »lernen, wenn er eines Tages nicht mehr kommt, denn das befürchte ich« (ebd.). Das »Ich« denkt, sein Ausbleiben »könnte ebenso zu seinem Kommen gehören« (ebd.). Im fünften Absatz stellt das »Ich« jedoch fest, dass es noch nicht so weit ist. Die Erzählung endet mit einer Traumvorstellung des »Ich« : »Daß er manchmal schläft, anstatt zu sterben« (ebd.). Wenn man den Text so lesen will, ist »Mein grüner Esel« ein Erinnerungstext, ein Text über die Toten und über das Erinnern an die Toten zugleich. Der grüne Esel könnte als Symbol für die Toten gelesen werden, funktioniert aber auch als ›Eselsbrücke‹ überhaupt (vgl. Reulecke 2021, S. 93), von der einem der »Absprung zur Weiterbesinnung« (FuV 2001, S. 13) gelingt, zu dem Augenblick, worin das Leben und der Tod aufeinandertreffen : Der Esel verschwindet doch »jenseits der Mitte der Brücke« (EE 1991, S. 79, Hervorhebung d. V.), wie die ermordeten Angehörigen verschwanden, nachdem Aichinger sie zuletzt auf der Schwedenbrücke in Wien gesehen hatte. Mit Konkreta wie ›Esel‹, ›Eisenbahn‹, ›Brücke‹ sinnlich-anschaulich erzählt, ist die Erzählung auch eine »große Liebesgeschichte« : »Abschied« und »Liebe« sind nämlich bei Aichinger zusammenzudenken (Reichensperger 1991, S. 10 – 11, 15), wie sie 1951 im Tagebuch schrieb : »Es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf« (KMF 1991, S. 50). Was Aichinger zu dieser Erzählung bewegt haben mag – beim Schreiben ist sie Wartende und Hinhörende (vgl. Interviews 2011, S. 40, 59, 105) ; wir können es ebenfalls nur vermuten. Die Befürchtung des »Ich« in der Erzählung könnte diejenige Aichingers gewesen sein, dass ihr Vergessen angesichts der alltäglichen Hektik des Lebens die Oberhand über das Erinnern gewinnen könnte. 1960 trägt sie in ihr Tagebuch ein : »Die Landschaften des Herzens kontrollieren, ihre Beleuchtung, das Flackern, die Schwärze. Nicht aufhören damit« (KMF 1991, S. 69).
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Sprachlicher Anarchismus bei Jandl und Aichinger Um literarische Texte von Jandl und Aichinger als Praktiken von sprachlichem Anarchismus zu bestimmen, fasse ich zunächst zusammen, was ich unter ›Anarchismus‹ im gesellschaftstheoretischen Kontext verstehe (vgl. Graeber/Kohso/Yabu 2009 ; Matsumura 2021). Die grundsätzliche Idee des Anarchismus findet sich in der Ablehnung jeder hierarchischen Ordnung, in der die ›Oberen‹ die ›Unteren‹ ihrer Freiheit berauben können. Dementsprechend versucht der Anarchismus gesellschaftliche Räume zu entwerfen, in denen Menschen einander frei und gleich treffen können. Solche Räume wären durch »gegenseitige Hilfe« (Kropotkin 2005) bestimmt, und darin würden sich »die Gabe« und ihr Austausch auszeichnen, bei dem es ermöglicht wird, ein Verhältnis, das potenziell in Konkurrenz geraten kann, in ein kooperatives und solidarisches Verhältnis umzuwandeln (vgl. Mauss 2014, S. 450 ; Matsumura 2021, S. 11 – 12, 20 – 23). In solchen Räumen würden sich einzelne Personen mit Gesichtern treffen, und es würde immer etwas »Überfließendes« geben, das »aufgefangen« wird (vgl. Matsumura 2021, S. 192). Es ist so, als ob jemand seine Hand reicht, um dem anderen zu helfen, und der andere erwidert die Handreichung. Es gibt hierbei niemanden, dem nur geholfen wird bzw. der nur hilft – die menschliche Beziehung basiert auf gegenseitigem Helfen, in dem das Helfen zugleich zum Geholfen-Werden wird. Eine solche Beziehung würde die Freiheit und Gleichheit von Menschen voraussetzen, denn ohne diese beiden Elemente würde die Beziehung auf die eine Seite – entweder das Nur-Helfen oder das Nur-geholfen-Werden – kippen, was schließlich wieder zu einer hierarchischen Ordnung führen würde. Wenn man in Jandls Schreiben eine Art anarchischer Praxis sehen will, so intendiert es darauf, die nach der Nazi-Zeit immer noch fortwirkenden Ordnungen bzw. Strukturen sprachlich sichtbar zu machen, um sie sogleich aufzubrechen. Jandls Ansatz ist sprachspielerisch experimentell kreativ : Er verwirft z. B. in »chanson« neben dem grammatikalisch korrekten Genus der Nomina sogar die grammatikalisch korrekte Schreibweise, um dann neue Regeln aufzustellen, wobei diese Regeln keinesfalls willkürlich frei geschaffen sind, sondern im Potenzial von Wörtern, Phonemen sowie Buchstaben entdeckt werden. Bei seiner Weigerung, sich an den herkömmlichen Sprachgebrauch zu halten, ist auf seinen »Zweifel an der – dafür stets beanspruchten – Redlichkeit der Absicht von kollektiven Sprachregelungen« hinzuweisen, »ohne die keine totalitäre Bewegung und kein totalitäres System auskommt« ( Jandl/W6 2016, S. 143). Jandl war nämlich davon überzeugt, […] daß alle derartigen Sprachregelungen in der unredlichen Absicht begründet sind, die Beherrschung einer Majorität durch eine Minorität direkt in den Gehirnen der zu Beherr-
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schenden zu verankern, und zwar so, daß die Beherrschung von den zu Beherrschenden als eine Art Selbstbeherrschung positiv erlebt wird. (Ebd.)
Jandl, der in der Nazi-Zeit aufwuchs, war sich der Notwendigkeit bewusst, die in der Sprache tief verankerten Machtstrukturen sichtbar zu machen, damit die Menschen überhaupt der von ihnen verinnerlichten Machtverhältnisse gewahr werden. Bei Aichinger findet man das Anarchische vor allem darin, dass sie die menschliche Existenz als Gabe darstellte. Für Aichinger, die in ihrem Leben das eine Buch schreiben wollte (vgl. Interviews 2011, S. 18), war das Schreiben eng mit ihrem Wunsch verbunden, zu verschwinden, wobei sie einerseits im Moment des Verschwindens »die Freiheit wegzubleiben« (FuV 2001, S. 65) aus der eigenen Existenz sah, die sie von Anfang an nicht gewollt habe (vgl. Interviews 2011, S. 86, 109) ; andererseits konnte sie in ihrem Versuch des Verschwindens »den Ermordeten ihr Verschwinden […] nach[machen]«, wenn auch »nur stümperhaft« (FuV 2001, S. 71). Die Texte, die sie schrieb, sind voll von Toten, geisterhaften Wesen sowie erfundenen Kreaturen wie dem grünen Esel, der mit magischer, ja sogar spiritueller Kraft lebt und einen Raum eröffnet, in dem Lebende verschwinden können, wie das erzählende »Ich«, das den Esel genau beobachtet und in der Erzählung über ihn hinter ihm zurücktritt. Diese Texte lassen Räume entstehen, die sich durch den Austausch von Gaben auszeichnen : In Räumen, worin Tote und andere, überirdische Figuren erscheinen, als ob sie sich an Lebende erinnern würden, ist die Existenz dieser Lebenden gleichsam von jenen gegeben und diese sind jenen gegenüber schuldig, wie es schon im Roman ausgesprochen wurde : »Sind wir nicht Gaben aus einer Hand, Feuer aus einem Funken und Schuld aus einem Frevel ?« (GrH 1991, S. 52). Es scheint so, als ob die Lebenden ihre Existenz als Gabe, aber gleichzeitig auch als Schuld annehmen. Die Existenz ist an sich etwas, was uns überrumpelt : »Gefragt wird keiner : nicht nach der Bereitschaft zur eigenen Existenz« (FuV 2001, S. 95). Man muss sie in Besitz nehmen, gewollt oder ungewollt, um sie weiterzugeben. Denn : »Man behält nur das, was man hergibt« (GrH 1991, S. 139). Die literarischen Texte von Jandl und Aichinger sind auch in dem Sinne anarchisch, als sie nicht zum Verbrauch gedacht sind, sondern implizit zur Verantwortung aufrufen, indem sie ihren Leser*innen die gleiche Bedeutung beimessen wie der Autorin und dem Autor. So ist der/die Autor*in keine autoritäre Instanz mehr : Derjenige, der in Jandls Sprechgedicht spricht, ist doch nicht Jandl selbst, sondern die Sprache an sich. Aichingers literarische Worte sind ebenfalls weniger ihre eigenen als vielmehr Stimmen, die »einfach auftauchen« (Interviews 2011, S. 40). Bei ihren Texten werden Leser*innen sogleich zum produktiven Lesen herausgefordert : Jandls Sprechgedichte muss man zunächst selbst aussprechen, um sich mit Wörtern sowie Buchstaben, mit Bildlichem sowie Auditivem auseinanderzusetzen, damit man die jeweiligen Spielre-
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geln erfinden kann. Bei Aichinger müssen die Leser*innen genauso imaginativ sein wie die Autorin selbst. Es ist bemerkenswert, dass ausgehend von den Texten Jandls wie auch Aichingers zahlreiche, weitere Schöpfungen entstehen. Heutzutage kann man z. B. auf YouTube mehrere freie Inszenierungen von »chanson« finden (vgl. z. B. Augentröster) – aus Jandls Wörtern gibt es immer weiteres »Überfließendes« : Von der Semantik befreit, kann »die tür« immer mehr als ›die Tür‹ sein. In Bezug auf Aichinger möchte ich auf den Film von Christine Nagel Wo ich wohne (2014) hinweisen (vgl. Nagel 2014). Es handelt sich hierbei nicht um einen Film über Aichinger, sondern für sie. Dieser Film versucht, Aichingers Worte filmisch darzustellen, und ist insofern eine produktive Erwiderung darauf, die dann ihrerseits Zuschauer*innen ebenfalls zum produktiven Betrachten auffordern möchte. Schöpfungen wie diese warten darauf, »aufgefangen« zu werden, und zwar von Einzelnen, die sich für das Leben der anderen engagieren, um so weiter »überzufließen«. Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1991) : Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger) Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger) Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger) Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Augentröster (2002/2009) : jandl chanson. Ein Film von Franz Indra. München, Hamburg, https://www.youtube.com/watch ?v=CxnwRj6dntE, [Stand : 06.04.2023]. Cusanus, Nicolaus (1994) : Gakushiki aru muchi ni tsuite. Übers. Keizō Yamada. Tokio. ( Japanisch) Graeber, David/Sabu Kohso/Shirō Yabu (2009) : Shihonshugi go no sekai no tameni. Atarashii anākizumu no shiza. Tokio. ( Japanisch) Jandl, Ernst ( Jandl/W 2016) : Werke in 6 Bänden. Hg. Klaus Siblewski. München. Kropotkin, Peter (2005) : Gegenseitige Hilfe. Hg. Henning Ritter. Grafenau. Matsumura, Keiichirō (2021) : Kurashi no anākizumu. Tokio. ( Japanisch) Mauss, Marcel (2014) : Zōyo ron. Übers. Takumi Moriyama. Tokio. ( Japanisch) Nagel, Christine (2014) : Wo ich wohne. Ein Film für Ilse Aichinger. DVD. Deutschland.
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Reichensperger, Richard (1991) : Bergung der Opfer in der Sprache. Über Ilse Aichinger – Leben und Werk. Frankfurt/M. Reulecke, Anne-Kathrin (2021) : Esel, in : Erdle, Birgit/Pelz, Annegret (Hg.) : Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S.90 – 93. Siblewski, Klaus (2000) : a komma punkt ernst jandl. Ein Leben in Texten und Bildern. München. Wicke, Peter/Wieland Ziegenrücker/Kai-Erik Ziegenrücker (2007) : Handbuch der populären Musik. Geschichte – Stile – Praxis – Industrie. Erweiterte Neuausgabe. Mainz.
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Schneefall in Breitensee H. C. Artmann und Ilse Aichinger An das fiktive St. Achatz im Walde, »einem Waldgeviert im Waldviertel«, das lange Zeit als Geburtsort H. C. Artmanns galt, glaubt heute niemand mehr ; Artmann wurde am 12. Juni 1921 in Wien/Breitensee als Sohn des Schuhmachers Johann Artmann und dessen Frau Marie geboren. (Fuchs 1992, S. 243f.)
So schreibt Jutta Zniva in ihrer Biographie H. C. Artmanns. Ebenfalls in Wien wurde sechs Monate später, am 1. November 1921, Ilse Aichinger geboren, als eine der beiden Zwillingstöchter des Lehrers Ludwig Aichinger und seiner Frau, der Ärztin Berta Aichinger (geb. Kremer). Aichinger wie Artmann haben mit ihren literarischen Werken die deutschsprachige Nachkriegsliteratur auf je eigene Weise geprägt. Was verbindet und was unterscheidet sie ? Wendelin Schmidt-Dengler erwähnt beide Autoren in seiner Vorlesung zur österreichischen Literatur in seinen Ausführungen zur erzählenden Prosa 1970 – 1980. Zunächst sagt er über Aichinger : Es ist verständlich, daß in der Literatur nach 1945 nicht der Bedarf gegeben war, nicht zu erzählen. Freilich : Die jungen Autoren, allen voran Ilse Aichinger, wollten zunächst nicht erzählen, es verschlug ihnen den Atem ; der Strom des Erzählens – so Ilse Aichinger in ihrer berühmten Rede unter dem Galgen (1950) – sei ein reißender Strom, mit weggerissenen Ufern … Doch gefragt war anderes, und so kamen nach 1950, und zwar auch in der BRD, die auf den Plan, die wieder erzählen konnten, die wieder eine Wirklichkeit zu etablieren verstanden, die jenseits der trüben Erfahrungen standen. (Schmidt-Dengler 2010, S. 230)
Zum Kontrast führt Schmidt-Dengler an dieser Stelle H. C. Artmanns Dracula-Roman an (dracula dracula ; 1988), als Beispiel für jene neuartigen Formen des Erzählens, »in denen alte Erzählformen grundsätzlich über den Haufen geworfen wurden« (Schmidt-Dengler 2010, S. 231). Die Kurzprosa Ilse Aichingers (in den Bänden Der Gefesselte [1953] und Eliza Eliza [1965]) sowie Artmanns Prosa werden von Schmidt-Dengler dann folgendermaßen charakterisiert :
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Schlagwort : Reduktion. Reduktion nicht nur des Umfangs, sondern des geradezu Autorität heischenden Anspruchs, mit dem die Form des Romans, zumal wenn sie als eine klassische sanktioniert erscheint, auftritt. In jedem Falle : Man schließt an an das, was irgendwo geformt erscheint, man baut Gegenmuster dazu auf. (Schmidt-Dengler 2010, S. 231)
Die Entwicklung von Gegenmustern charakterisiert beide Autoren. Sie scheint aber bei Artmann und Aichinger ganz unterschiedlich verlaufen zu sein. Während Aichingers Werk das genaue Betrachten und eine lakonisch reduzierte genaue Beschreibung kennzeichnet, charakterisiert die Texte Artmanns das Verfahren der Maskierung. Peter Pabisch beschreibt dieses Merkmal Artmanns folgendermaßen : Hinter allen Masken und Texten Artmanns – den altertümlichen und barocken ebenso wie den modern skurrilen und surrealistisch fantasmagorischen – steckt das Weltbild des Existentialismus und somit einer profanen Ansicht, die nach und seit Friedrich Nietzsche Gott als tot erklärt hat. Verstärkt wird diese liberale Nüchternheit durch das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs, den Artmann und seine zeitgenössischen Autorenkollegen am eigenen Leibe erfuhren. Der Abstand zur Welt und die Unverbundenheit zur Realität im Sinne des in Zeitungen und Dokumenten festgehaltenen Tagesgeschehens entspricht dem Wunsch der modern schaffenden Autoren jener Ära, eine in Sprache und Bezug davon unabhängige Literatur- und Kultursphäre zu setzen. (Pabisch 2010, S. 44)
Trotz einiger grundlegender Gemeinsamkeiten wurden Artmann und Aichinger lange Zeit verschiedenen literarischen Feldern zugeordnet. Während H. C. Artmann mit seiner Dialektliteratur deutlich als »österreichischer« Autor markiert ist, obwohl er mit seinen Sprachkenntnissen und seinen vielfältigen Experimenten eher ein international versierter Autor war, wurde die im Salzburger Land lebende Ilse Aichinger vor allem als Mitglied der Gruppe 47 angesehen und repräsentierte die deutsche Nachkriegsliteratur als Autorin des S. Fischer-Verlags. Aichinger und Artmann scheinen also in ihrer Generation weit voneinander entfernte Autoren gewesen zu sein. Im Nachlass Ilse Aichingers im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (DLA) lassen sich auch keine Spuren von Kontakten zwischen Artmann und Aichinger finden. Im selben Maße wie sich ihre Schreibweisen unterscheiden, ist auch der Hintergrund beider Autoren verschieden, obwohl sie beide aus Wien stammen. Ilse Aichinger war spätestens seit dem sogenannten ›Anschluss‹ Österreichs der durch die Übernahme der Nürnberger Rassengesetze legitimierten Diskriminierung ausgesetzt und musste der Entrechtung und schließlich der Deportation ihrer jüdischen Verwandten zusehen, während H. C. Artmann im Jahr 1940 als Neuzehnjähriger zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurde und am Oberschenkel verletzt zweieinhalb Jahre in
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der Strafkompanie verbrachte (Fuchs 1992, S. 245). Im Krieg verlor Artmann seinen jüngeren Bruder Erwin. Wie Zniva bemerkt, schrieb Artmann nie über den Krieg. So ist auch in seinen Schriften von seinem Bruder nie die Rede. Nach langem Umherziehen ließ sich H. C. Artmann 1972 in Salzburg nieder, unweit von Ilse Aichinger, die damals in Großgmain lebte. Sie stand in Kontakt mit Thomas Bernhard, der in Oberösterreich wohnte, nicht aber mit Artmann. Und dennoch gibt es Verbindendes. Im selben Jahr, in dem Wendelin Schmidt-Denglers Wiener Vorlesungen »Bruchlinien« im Salzburger Residenz Verlag erschienen (1995), brachte Aichingers Frankfurter Hausverlag S. Fischer die von Richard Reichensperger zusammengestellte Anthologie Vorfreude Wien. Literarische Warnungen 1945 – 1995 heraus. Es war das Jahr, in dem Österreich als erstes deutschsprachiges Land Gastland der Buchmesse in Frankfurt war. Schmidt-Dengler versucht in seinem Buch explizit die Eigenständigkeit und die Unterschiede der österreichischen im Vergleich zur bundesdeutschen Literatur herauszuarbeiten. Reichenspergers Textsammlung deckt fast den gleichen Zeitraum österreichischer Literatur ab wie die Vorlesungsreihe von Schmidt-Dengler. Die auf Wien bezogene Anthologie umfasst Texte von etwas weniger als 30 österreichischen Autoren ; das Spektrum reicht von Heimito von Doderer (geb. 1896) bis zu Josef Winkler (geb. 1954). Reichensperger präsentiert zunächst Texte, in denen die Stadt Wien ›anatomisch‹ beschrieben wird : »Anatomie Wien – Zur Stadtkultur, zu den Texten«, und ordnet sie dann in Kapiteln an, die an den Stadtbezirken ausgerichtet sind. Sie umfassen die »Peripherie 1« vom 9. bis in den 1. Bezirk, und die »Peripherie 2«. Artmann ist in dieser Anthologie mit 13 Beiträgen vertreten, zwei von ihnen hat er gemeinsam mit Gerhard Rühm verfasst. Zehn seiner Texte sind den Peripherien 1 zugeordnet. Von Aichinger findet man 14 Beiträge ; sie betreffen mit Ausnahme von »Das vierte Tor« alle Bezirke vom 9. bis zum 1. Bezirk, wie z. B. »Seegasse« den 9. Bezirk oder »Die Küche meiner Großmutter« den 3. Bezirk. Reichenspergers Anthologie ist deutlich anzusehen, dass Wien nicht gleich Wien ist. Artmanns Sphäre unterscheidet sich auch hier von dem Wien, das Aichinger beschreibt. In den Band wurde neben weiteren Texten Artmanns auch das berühmte Dialektgedicht nua ka schmoez how e xogt ! aufgenommen. Artmanns Dialekt ist nicht allein Wienerisch ; es ist genau der Dialekt, der in Breitensee gesprochen wird. Über diese Breitenseer Lyrik schreibt Hans Weigel wie folgt : Der Schreiber dieses Referates ist ein Nichtbreitenseer, aber durchaus Wiener ; und er bekennt als in Margareten Geborener und auf dem Neubau Lebender bei der Lektüre der Verse seines sehr geschätzten Kollegen häufig gestutzt zu haben, als hätte er Holsteinisches Platt,
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wo es am plattesten ist, vor sich ; wie mag es da wohl den Erdbergern oder Leopoldauern ergehen, von Hinterbrühlern und Gablitzern ganz zu schweigen ? ! (Fuchs 1992, S. 201)
Weigel beschreibt hier die Unverständlichkeit der Mundart, die Artmann in seiner Lyrik verwendet. Diese Unverständlichkeit und die enge Verbundenheit mit seinem Geburtsort lassen sich mit der Unverständlichkeit von Aichingers Texten vergleichen. Aichinger schreibt über ihre Sprache in »Meine Sprache und ich« : Meine Sprache ist eine, die zu Fremdwörtern neigt. Ich suche sie mir aus, ich hole sie von weit her. Es ist eine kleine Sprache. Sie reicht nicht weit. Rund um, rund um mich herum, immer rund um und so fort. (EE 1991, S.198)
Die Sprache, die zu Fremdwörtern neigt, gilt auch für H. C. Artmanns Breitenseer Dialekt, der selbst für Wiener so fremd klingt. Weder der Breitenseer Dialekt noch Aichingers Sprache reichen weit. Im Breitenseer Dialekt lässt Artmann die Sprache klingen, die er mit seinem Bruder und seiner Familie gesprochen hat. Diese schwer verständliche, nicht weit reichende Sprache ist auch eine Gegenaktion zur Propagandasprache, die einfach und leicht verständlich an alle appelliert. Wenn man auf den Spuren Artmanns und Aichingers unterwegs ist und dabei bemerkt, dass die Suche nach Zeugen eines Kontakts zwischen den beiden vergeblich ist, ist man umso überraschter festzustellen, mit welch tiefer Aufmerksamkeit Aichinger sich dem eben verstorbenen Autorenkollegen zuwendet, als sie am 7. Dezember 2000 eine Glosse zum Tod von H. C. Artmann verfasst. Anlässlich der Viennale 2000 hatte Aichinger erst einige Wochen zuvor begonnen, unter dem Titel »Journal des Verschwindens« kurze Prosatexte abzufassen, die Der Standard in wöchentlichen Abständen publizierte. Eine Auswahl dieser Texte erschien (zusammen mit weiteren Erinnerungstexten der Autorin) 2001 im Band Film und Verhängnis, mit dem Aichingers bemerkenswertes Spätwerk einsetzt. In ihrem Erinnerungstext »Der Schneefall der Existenz« beschreibt Aichinger gleichzeitig die Distanz einer nur oberflächlichen Kommunikation zwischen ihr und Artmann und tiefes Verständnis und echte Zuneigung zu dem Verstorbenen. In der Buchpublikation wird Aichingers Text begleitet von einem Foto, das Artmann im Jahr 1928 gemeinsam mit seinem Bruder auf einer Rodel im Schnee zeigt (FuV S.114). Warum hat Aichinger dieses Foto ausgewählt ? In Vorfreude Wien hatte Reichensperger unter anderem einen Text von Artmann aufgenommen, der »Kienmayergasse 43/1/8« überschrieben ist (er befindet sich im Kapitel »Peripherie 1«). Der Titel stammt von Reichensperger selbst (Artmann 1995, S. 54). Es ist die Adresse des Geburtshauses von H. C. Artmann.
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In dem Text schreibt Artmann über eine Erinnerung an seinen ältesten Traum : Mein ältester traum : Ich bin sieben jahre alt, mein haus ist eine schneehütte, die etwa wie eine weißgefrorene kaffeemühlenkuppel aussieht, das blut pocht sanft in meinen schläfen. (Artmann 1995, S. 54)
Artmann war 1928 sieben Jahre alt. Das Foto, das Aichinger für ihren Text ausgewählt hat, bezieht sich offenbar auf Artmanns ältesten Traum. In diesem ältesten Traum beschreibt Artmann eine wesentliche Betrachtung über Leben und Tod. Im Traum musste er erbrechen. Die Wärme des Erbrochenen spürt er an seiner Brust : Später im leben werde ich diese eigenartige wärme in augenblicken, in denen es aufpassen heißt, in kritischen augenblicken, wo es not tut, den kopf einzuziehen, verspüren. Das muß die angst sein, die angst, die man nicht haben will, die man sich absolut ausredet, die aber dennoch durch eine hintertüre in den mund steigt, sich darinnen breitmacht, langsam, wie das licht eines sonnenaufgangs in einer morgendlichen talmulde, die angst, die man vor dem tod oder vor dem erbrechen reichlich genossenen alkohols hat. (Artmann 1995, S. 54)
Das Erbrechen wird zum symbolischen Ereignis. Die Angst, der Artmann in seinem Leben ausgesetzt war, erlebt er in der Erinnerung an seinen ältesten Traum wieder von Neuem. Aichinger bemerkt zu dem Foto von H. C. Artmann und seinem Bruder Erwin : Schnee weht um die beiden. Den Jüngeren wird er bald zudecken, er ist im Krieg gefallen, während der Große das Strafbataillon, das ihn beiseite schaffen sollte, überstand und es fertig brachte, fast 80 Jahre lang auf dem Sprung zu bleiben. (FuV 2001, S. 115)
Die Verluste, die Familien im Krieg erlitten, und das lange Überleben, das Angst und Trauer einschloss, verbindet Aichinger mit Artmann. Die »Existenz« Artmanns kommentiert Aichinger folgendermaßen : »Da bist du«, sagt er zu sich selbst (Bemerkung im Bildband). Auch er hatte Lust zu existieren, die haben erstaunlich viele. Aber die seine war illusionsloser, genauer. Er hatte seine Illusionen im Griff und setzte sie ein, wenn sie bereit waren, ihm wieder auf die Sprünge zu helfen. (FV 2001, S. 115)
Aichinger erkennt in Artmanns maskierter, die eigenen Illusionen ›in den Griff‹ bekommenden Schreibweise ein Mittel, sich selbst »wieder auf die Sprünge zu helfen«, d. h. die eigene Existenz fortzusetzen.
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Aichinger versteckt und verknüpft wie immer in ihren Glossen diverse Subtexte. Hier verbindet sie mit der Adresse Kienmayergasse 43 die Breitenseer Lichtspiele. Dieses Kino, das sich im 14. Gemeindebezirk unweit der Kienmayerstraße 43 und damit unweit des Geburtshauses von H. C. Artmann befindet, besuchte Ilse Aichinger des Öfteren. In ihrem Nachlass gibt es einige Materialien zu den Breitenseer Lichtspielen, wie z. B. Filmprogramme mit Eintragungen Aichingers. In ihrem Text über Artmann, der Teil ihres »Journal des Verschwindens« wurde, bezieht Aichinger dieses Kino als begleitendes Motiv mit ein, wenn sie sich daran erinnert, dass sie dort einmal Artmann begegnet war : Ich habe ihn einmal im Breitenseer Kino gesehen, vor vielleicht fünf Jahren, es war eine Veranstaltung zu seinen Ehren, er hielt sich wie immer zurück und sprach vom Kino seiner Kindheit, er wollte hier nicht im Mittelpunkt stehen, und so fanden wir uns im Verschwinden. (FuV 2001, S.116)
Hier beschreibt sie eine Begegnung in der Distanz, im Verschwinden. Die flüchtige Begegnung kontrastiert gleichwohl mit der scharfen Beobachtung der Autorin. Dann dringt sie immer tiefer in Artmanns Existenz ein : Artmann aber war – er ist – verschneit von Existenz : Sie beginnt, wie immer man sie definiert, mit der Haltung vor der Abfahrt, auf Schlitten, im Leben, im Tod. Was ist daran angeboren ? Woher muß ein junger »Herr aus Oxford« (ein alter Filmtitel) sein und woran erkennt man ihn : jung – an der Jugend ; Oxford – an der Themse ; aber den Herrn ? Das wird schon diesseits und jenseits des Ärmelkanals verschieden definiert. Bei H. C. Artmann konnte man sagen : an der Möglichkeit, von sich abzusehen, wenn es darauf ankommt. (FV 2001, S.116)
Aichinger bezeichnet Artmanns Existenz als »verschneit«. Stets bereit für den nächsten Absprung, reicht seine Existenz jenseits über die Grenze des Lebens und des Todes hinaus. Literatur Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. 1991 (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Artmann, H. C. (1995) : Kienmayergasse 43/1/8. In : Reichensperger, Richard (Hg.) : Vorfreude Wien. Literarische Warnungen 1945 – 1995. Frankfurt/M., S. 54 – 55.
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Sugi Shindo
Bücher der Neunzehn (Hg.) : Neunzehn deutsche Erzählungen. (München 1963). Pabisch, Peter (2010) : »Die vielfältigen Sprachmasken und eigenwilligen Textsorten bei H. C. Artmann«. In : Marc-Oliver Schuster (Hg.) : Aufbau wozu. Neues zu H. C. Artmann. Würzburg. Reichensperger, Richard (Hg.) (1995) : Vorfreude Wien. Literarische Warnungen 1945 – 1995. Frankfurt/M. Fuchs, Gerhard und Rüdiger Wischenbart (Hg.) (1992) : H. C. Artmann. (Dossier 3) Graz. Kaar, Sonja und Marc Oliver Schuster (Hg.) (2021) : H. C. Artmann & Berlin. Würzburg. Schmidt-Dengler, Wendelin (1995) : Bruchlinien. St. Pölten-Salzburg.
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Stefano Apostolo
Die Hoffnung auf eine neue Sprache Ilse Aichinger und die Wiener Gruppe Als Die größere Hoffnung 1948 erschien, wurde Aichingers Erstlingswerk mit großer Begeisterung empfangen : Erich Fried lobte 1949 »den Charakter des Einmaligen«, der Die größere Hoffnung zu einem »der tiefsten und – trotz allem Grauen – eine[m] der schönsten und beglückendsten Bücher unserer Zeit« machte (Fried 1949, S. 156). Walter Maria Guggenheimer bezeichnete es 1951 als »grandioses klingendes Märchen«, ein »Märchen des Weges von der jüdischen Geduld und ihrer Schwermut zur christlichen Tapferkeit ; einer fanatischen, frenetischen, gefährlichen Tapferkeit, die nur in letzter Preisgabe Genüge findet« (Guggenheimer 1951, S. 164f.). Noch 1960, zwölf Jahre nach dem Erscheinen und acht Jahre nach dem Erfolg in Niendorf, das in Aichingers Auszeichnung mit dem Preis der Gruppe 47 kulminierte, war der Roman für Walter Jens »die einzige Antwort von Rang, die unsere Literatur der jüngsten Vergangenheit gegeben hat« ( Jens 1960, S. 172). Allerdings fiel es der Kritik oft schwer, dieses stilistisch innovative Werk einer jungen und bis dahin weitgehend unbekannten Autorin einzuordnen. Wenn der Stoff auf den ersten Blick weniger Schwierigkeiten bereitete und sich zumindest teilweise der Verarbeitung der Schrecken des Kriegs und der Diktatur zuschreiben ließ – worauf sich auch andere Autoren wie Wolfgang Borchert, Heinrich Böll oder Wolfdietrich Schnurre zur selben Zeit konzentrierten –, war es vielmehr die Sprache, die in den zeitgenössischen Besprechungen nicht selten Desorientierung und manchmal gar Irritation auslöste. In manchen Fällen handelte es sich schlechthin um journalistische Irrfahrten, die für einen bestimmten, damals vor allem in Österreich starken literarischen Konservativismus bezeichnend sind. So wurde der Roman für »visionenhaft«, »schwer verständlich geschildert« gehalten, in dem »zu viel Symbolisches« zu »kein[em] Gesamtbild« führe (Dr. R. 1949), oder man bezeichnete die geschilderte Welt als »Fratze totgeborener Gedanken« (Thurnher 1949). Andere Stimmen wollten hingegen in Aichingers Werk einen »symbolischen Stil« erkennen, der »manchmal an Kafka erinnert, manchmal ganz in Expressionismus verfällt, aber stets von gewaltiger Wirkung ist« (S.W. 1949), und der »die sich überstürzend[e] Sprache eines früheren Expressionismus« aufweise (Anonym 1949, S. 2). Nicht zuletzt – in dem Versuch, ihren originellen Stil zu erfassen und nach bekannten Modellen irgendwie einzustufen – glaubten einige Kritiker, Ähnlichkeiten auch mit dem Surrealismus zu sehen, mit surrealistischen
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Stefano Apostolo
›Tendenzen‹ (vgl. Hartl 1949) und surrealistischen ›Träumen‹ (vgl. Ors. 1949). Explizit wurde diese Affinität in einer am 3. Juli 1949 in der Wiener Tageszeitung erschienenen Rezension von Hermann Schreiber so umrissen : Vielleicht stellt man das Buch noch am besten durch einen Vergleich mit dem Surrealismus dar. Auch in den surrealistischen Ausstellungen steht der überraschte Besucher immer wieder vor Bildern, die ihn magisch anziehen, auch wenn sie ihn befremden, und ihn beschäftigen, gerade weil er ihren Sinn fürs erste nicht auflösen kann. (Schreiber 1949, S. 158)
Eine solche Leseart lässt sich wahrscheinlich dadurch erklären, dass in Aichingers Roman die Konturen oft verschwommen und die Grenzen zwischen Traum, Vision und Wirklichkeit absichtlich unscharf sind, was freilich beim Lesen mehr Konzentration erfordern kann, aber zugleich einen größeren Spielraum im Interpretationsprozess ermöglicht. Da sich nun in Wien – vielleicht gerade durch Besprechungen wie diejenige Schreibers oder durch die rätselhafte Landschaft und Geometrie des von Rudolf MüllerHofmann gestalteten Umschlagsbilds des Romans – das Gerücht verbreitet hatte, Die größere Hoffnung sei ein surrealistisches Werk, wurde auch der junge, aufstrebende Künstler Gerhard Rühm darauf aufmerksam und las das Buch mit großer Spannung (Gespräch mit Gerhard Rühm, Wien, Institut für Wissenschaft und Kultur, 21. Oktober 2022). Wer sich Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre in Österreich für experimentelle Literatur interessierte, hatte es nicht gerade leicht, expressionistische, dadaistische oder surrealistische Texte aufzutreiben. Während der Diktatur waren alle literarischen Werke, die explizit nicht im Einklang mit dem nationalsozialistischen Weltbild waren und der sogenannten entarteten Kunst zugeschrieben werden konnten, systematisch vernichtet bzw. aus dem Markt zurückgezogen worden. Die prekäre Lage um die moderne Kunst nach Kriegsende in Österreich schildert Rühm sehr bildhaft : sie [die moderne Kunst] hatte, gerade in österreich, auch vor 1938 nur eine kleine minderheit erfasst ; die grossen bibliotheken hatten es versäumt, rechtzeitig ihre wichtigsten dokumente zu sammeln oder sie waren »gesäubert« worden. wir waren auf verstreute dürftige privatbestände angewiesen. die bruchstückhaften informationen über expressionismus, dadaismus, surrealismus, konstruktivismus wurden gierig aufgenommen, herumgereicht, mühsam zu einem bild zusammengefügt ; es hatte fast etwas sektiererisches an sich. man musste zunächst einmal die wichtigsten namen und titel herausfinden, um überhaupt zu wissen, wonach man näher suchen sollte, das machte jeden hinweis, jedes kleinste zitat zu einer aufregenden entdeckung. (Rühm 1967, S. 7)
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Die Hoffnung auf eine neue Sprache
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Aus diesen Zeilen geht die aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbare, ja fast paradoxe Situation hervor, in der sich experimentelle Künstler wie die Autoren der Wiener Gruppe – Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner, H. C. Artmann und Oswald Wiener – im Österreich der frühen 1950er Jahre befanden : Um an verschollene bzw. schwer auffindbare künstlerisch fortschrittliche Werke zu gelangen, mussten sie erst eine mühsame aber zugleich spannende detektivische Recherchearbeit leisten. Sie waren auf gegenseitige Tipps angewiesen, lasen gierig ihre Funde und besprachen sie dann in kleinen Kreisen von Gleichgesinnten. Zentral waren für die Wiener Gruppe der Ausbruch aus den Konventionen und die Flucht ins Unerforschte, die »Hoffnung, daß ein Durchbruch zu einer anderen Welt möglich wäre über die Kunst«, wie Oswald Wiener erklärte : Es ist uns nicht allein um Kunst als Erkenntniswerkzeug gegangen, sondern da war ja schon eine echt ›surrealistische‹ Einstellung des Überrealen da. Da war eine andere Welt, die eigentlich unsere Welt bestimmt, so eine Welt von Koinzidenzen, wie man das vielleicht mit C. G. Jung nennen könnte. (de Smedt 2012, S. 73)
Unter diesen Voraussetzungen musste Aichingers Roman wie ein unerwarteter und vielversprechender Lesetipp erscheinen, weil ihr Stil alles andere als konventionell bzw. realistisch ist und der Text an vielen Stellen die Grenzen des Wirklichen sowie des klar Definierten überschreitet. Doch als Rühm die Lektüre des Romans Die größere Hoffnung abgeschlossen hatte – in dem so viele Situationen geschildert werden, die der Autor selbst als Kriegskind erlebt hatte und gut kannte, zumal auch er eine jüdische Tante hatte, die in Wien versteckt überlebt hatte (vgl. Janisch 2022, 00:13:08–00:13:52) –, musste er eine gewisse Enttäuschung feststellen : Für sein Empfinden war diese Literatur kein Surrealismus (Gespräch mit Gerhard Rühm, Wien, Institut für Wissenschaft und Kultur, 21. Oktober 2022). Und tatsächlich ist Aichingers Roman streng genommen kein surrealistischer Text, er ist kein Ausdruck jenes ›psychischen Automatismus‹, der den wirklichen Ablauf des Denkens ohne Kontrolle seitens der Vernunft abbilden möchte, wie ihn André Breton 1924 in seinem Manifest beschrieben hatte. Trotz dieser vordergründig enttäuschten Hoffnung sind signifikante Konvergenzen und Übereinstimmungen zwischen der Poetik und den künstlerischen Bestrebungen Aichingers und Rühms sowie der gesamten Wiener Gruppe festzustellen, die es verdienen, ans Licht gebracht zu werden. Als Dichter einer neuen Autorengeneration vertraten sowohl Aichinger als auch Rühm und die anderen Schreibkollegen der Wiener Gruppe den Wunsch, eine Literatur zu erschaffen, die sich von derjenigen der Altvorderen distanzierte, sich vielmehr mit unerforschten bzw. ungewöhnlichen Paradigmen auseinandersetzte und
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neue Kunstwege erschloss. Die Sprache sollte sich eine neue Rolle erkämpfen, das Wort eine neue Kraft gewinnen, die es ihm erlauben würde, auch allein zu stehen und trotzdem prägnant zu sein – wie etwa in Aichingers ›entschwindender‹ Sprache oder in der visuellen Poesie. Bei Rühm und den Autoren der Wiener Gruppe lässt sich eine markante Lust an Provokation beobachten, eine Radikalität, die notwendig war, um gerade jene Radikalität des »lethargischen« und »versumperten« reaktionären Nachkriegsösterreich zu erschüttern und dessen »Verwichtelung« entgegenzutreten, wie Elfriede Gerstl den Kulturbetrieb der 1950er Jahre beschrieb (Gerstl 1981, S. 41). Allerdings handelt es sich nicht, wie die damalige Kritik so oft meinte – was eigentlich die Popularität der Gruppe nur noch mehr steigerte –, um ein »lässige[s] Spiel mit der Zerstörung aller Form jenseits echter Verzweiflung«, um »Kindischkeiten« oder schlechte Kopien von dem, was bereits einige Jahrzehnten zuvor von den Dadaisten erprobt worden war (man sehe die empörten Leserbriefe an die Redaktion von Wort in der Zeit, in Fritsch 1964, S. 1 – 4) : Ihre rigoros kleingeschriebenen Arbeiten unterliegen stets einem strengen Kalkül, das auf das Ausloten der Grenzen von Form und Sprache sowie von deren Mehrdimensionalität ausgerichtet ist, die anhand der semantischen, visuellen und akustischen Komponenten multiple Anwendungsmöglichkeiten anbietet. Auch Aichinger hatte schon einige Jahre früher einen originellen Stil erarbeitet, in dem die Poetik des Verschwindens in eine hochraffinierte und gebändigte Sprache hinübergeht, die in ihrer stark evozierenden Kraft für diese Epoche als revolutionär bezeichnet werden kann. Bereits 1946 hatte sie außerdem zwei Texte in der Zeitschrift PLAN veröffentlicht – »Junge Dichter« und »Aufruf zum Mißtrauen« –, die als programmatisch für ihren Stil und ihre Poetik gelten können : Thematisiert »Junge Dichter« das Zögern der jüngeren Autoren vor der Aufgabe des Schreibens nach den Schrecken der Nazi-Herrschaft, so ist »Aufruf zum Mißtrauen« ein Lob der Skepsis, der Infragestellung des Selbst und im übertragenen Sinne auch des Schreibakts und der Sprache. In dieser Hinsicht ist Aichingers frühes Schaffen als Beginn der österreichischen Avantgarde zu verstehen : Aichinger trug dazu bei, neue Voraussetzungen herzustellen, forderte eigenständiges Denken, ließ das Schreiben sowie dessen Funktion in ein neues Licht rücken und bereitete somit das Terrain auch für die Experimente der Wiener Gruppe vor – in diesem Kontext darf außerdem nicht vergessen werden, dass PLAN gerade für die Wiener Gruppe ein wegweisendes Organ war. Auch Paul Kruntorad wertete Aichingers Werk – ihren Roman sowie die frühen Erzählungen – bereits 1976 als einen »Vorstoß«, in dem ein klarer Zusammenhang mit den Arbeiten der Wiener Gruppe erkannt werden kann, auch wenn dieser Zusammenhang auf den ersten Blick vielleicht nicht sonderlich auffällig erscheint, weil die Autorin »niemals
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ihre poetische Sensibilität zugunsten der strikten experimentellen Konsequenz« aufgab (Kruntorad 1976, S. 162). Gleichwohl ist diese geistige und literarische Verwandtschaft zwischen der Wiener Gruppe und Ilse Aichinger nicht zu bestreiten. Sie wird auch durch die gemeinsame Anlehnung an Wittgensteins Sprachphilosophie und deren Verarbeitung bekräftigt, die so viele Autorinnen und Autoren der österreichischen Nachkriegsliteratur beeinflussen sollte – man denke z. B. an Ingeborg Bachmann, Hilde Spiel, Thomas Bernhard und Peter Handke. Das wird bereits im Roman Die größere Hoffnung ersichtlich, der bei weitem über die autobiographische Literarisierung eines Lebensabschnittes der Autorin hinausgeht. Der Text kann als Versuch verstanden werden, das Dilemma zwischen Fragilität und Notwendigkeit aufzulösen, zwischen zwei konträren Eigenschaften, die sowohl in der menschlichen Existenz als auch in der Sprache beobachtet werden können : So wie die Hauptfigur Ellen zwischen Lebensgefahr und Überlebensdrang oszilliert, so muss die Sprache trotz der konstanten Verstummungsgefahr die Kraft finden, sich zu behaupten und zu erneuern. Geradezu paradigmatisch versucht die Protagonistin, durch Wiederholungen und Neuformulierungen ihre eigenen Gedanken zu klären sowie sprachliche Konventionen und alltägliche Assoziationen infrage zu stellen. So gesehen ist die ›größere Hoffnung‹ des Titels auch eine Hoffnung auf eine Neudefinition der Sprache an sich sowie auf einen neuen Umgang mit der Sprache – nicht nur nach den Verzerrungen der Nazi-Sprachpolitik – und eine Hoffnung auf ihre rettenden Möglichkeiten (vgl. Weissenböck 2018, wo die Konvergenzen zwischen Wittgensteins Philosophie und Aichingers Einstellung zur Funktion der Sprache überzeugend hervorgehoben werden). Darüber hinaus, wie auch Kruntorad noch unterstreicht, ist in Aichingers Roman auch Wittgensteins zentrales Anliegen perfekt dargestellt, nämlich »[d]as Verhältnis des Ungewußten, nicht Aussprechbaren zur unendlichen, aber begrenzten Menge des Wissens, das in sprachlicher Form vorliegt« (Kruntorad 1976, S. 164). Ellens stetes Nachdenken, ihre Fragen, auf die es oft keine Antwort geben kann, sind ein klarer Beweis dafür. Die Wiener Gruppe radikalisierte in ihren Arbeiten diesen Ansatz und versuchte durch »die unendliche Kombinatorik der Sprachspiele die Menge des Sagbaren auszuschöpfen« (ebd.). Oswald Wiener galt in der Gruppe als Theoretiker und Entdecker von Wittgensteins Philosophie, die in den 1950er Jahren in Österreich noch weitgehend unbekannt war und von den jungen Autoren als sensationeller literarischer Fund betrachtet wurde : »[…] daß wir uns gewöhnt hatten, alles gedruckte als dichtung zu lesen, vergrößerte zweifellos unsere empfänglichkeit gerade für dieses buch« (Wiener 1987, S. 49). Bereits Wittgenstein selbst hatte in einem Brief an Ludwig von Ficker aus dem Jahr 1919 seine Arbeit als »streng philosophisch und zugleich literarisch« bezeichnet (Wittgenstein 1980, S. 95). Wiener beschrieb die Sprache als »das ›fremde‹,
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das instrument, die maschine« und strebte ein neues Verständnis davon an, um die herkömmlichen Sprachfunktionen zu überdenken : Das Vertraute sollte zum Unbekannten werden, die eigene Muttersprache zur Fremdsprache (Wiener 1987, S. 58). Unter den von ihm hervorgehobenen Stellen des Tractatus sticht der Satz 3.262 heraus, der für die Gruppenarbeiten wahrscheinlich am produktivsten gewesen ist : »Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung« (ebd., S. 51). Gerade die für die Wiener Gruppe so wichtige Materialität der Sprache, die Fokussierung auf die Diskrepanz zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort sowie die amplifizierende Rolle der visuellen Manipulation von Buchstaben und ganzen Textportionen scheinen diesen Satz zu bestätigen. Bei Aichinger tritt diese sprachliche Materialität z. B. in den Hörspielen stark zutage, die Rüdiger Görner als »eine Hinwendung zum Hinhören« bezeichnet (Görner 2021, S. 137). In Werken wie »Knöpfe« und »Besuch im Pfarrhaus« rückt das Sehen in den Hintergrund zugunsten des konzentrierten Hörens, das nur über die Stille des Rezipienten möglich wird. Das Hörspiel ist eine reduzierte Form, in der sich Aichingers Poetik am besten ausdrücken kann : Auf das Unnötige und Überflüssige wird streng verzichtet, Beschreibungen verschwinden und im Zentrum steht allein das Wort, präzise und vibrierend in seiner akustischen Dimension. Bezeichnend für diese gemeinsame Konvergenz ist außerdem die Tatsache, dass sowohl Aichinger als auch Rühm 1971 jeweils einen Text in der Wittgenstein-Nummer von Ver Sacrum veröffentlichten. Dabei handelt es sich um zwei Texte, die sich sehr spielerisch und zugleich tiefgründig mit sprachlichen Kombinationen und Kommunikationsproblemen auseinandersetzen : das kurze, mit Buchstaben spielende und schwer zu entschlüsselnde Prosastück »L. bis Muzot« und das unmöglich aufzuführende Minidrama im Wiener Dialekt »dings«. Die Namen der Figuren, die in Aichingers Text eigenwillig handeln und aneinander vorbeireden, bleiben bis heute für die Kritik rätselhaft : Während Mazarin und Lasalle sich auf historische Personen zurückführen ließen, könnte die titelgebende Figur ›Muzot‹ mit der von ihr getragenen Mütze zusammenhängen oder eine Anspielung auf Rilkes Schweizer Wohnstätte ab 1921 bei Siders enthalten (einem Ort an der Grenze zwischen dem deutsch- und französischsprachigen Wallis). Unmöglich umzusetzende Theaterstücke wie Rühms »dings« – in dem der Protagonist »fraunz« am Ende »des richtiche wuat« nicht finden kann, sondern nur »dings« wiederholt und stirbt, während die Bühne immer geräuschvoller brennt und das Theaterhaus einstürzt (vgl. Rühm 1971, S. 71) – waren unter den Mitgliedern der damals bereits aufgelösten Wiener Gruppe kein Novum : Zwei Jahre vor Rühms »dings« hatte Oswald Wiener in seiner verbesserung von mitteleuropa das unheimlichgroteske Stück »PURIM« veröffentlicht, in dem die Zuschauer von den Schauspielern mit den unterschiedlichsten Methoden malträtiert und gefoltert werden (vgl. Wiener
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Die Hoffnung auf eine neue Sprache
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1969, S. CV-CXIII). In derselben Nummer von Ver Sacrum wurde auch der viel zitierte Brief Thomas Bernhards an Hilde Spiel publiziert, in dem der Autor seine große Begeisterung für Wittgenstein ausdrückt (vgl. den Beitrag »Zwischen rettender Präsenz und latenter Bedrohung« in diesem Band). Dass Aichinger mit Sympathie und Neugierde auf die Arbeiten Rühms sah, davon zeugt u. a. die Tatsache, dass sie Rühms Publikation BRAVO. ein sittenbild aus den fünziger jahren besaß. Das vom Autor signierte Exemplar enthält die Widmung »IN HERZLICHER VEREHRUNG / FÜR ILSE AICHINGER«, die auf den 12. November 1996 datiert ist und die Ortsangabe »Wiener Volkstheater« enthält. Tatsächlich war dort an diesem Tag in Zusammenarbeit mit der Alten Schmiede ein Abend mit Rühm veranstaltet worden. Wenige Wochen später, am 1. Dezember 1996, wurden auf der Plafond-Nebenbühne des Volkstheaters auch Aichingers Szenen Zu keiner Stunde uraufgeführt (für diese Informationen sei Franz Hammerbacher herzlich gedankt). Vielleicht fand Rühms Besuch bei Aichinger im Kontext dieser Veranstaltungen statt. Rühm erinnert sich, bei dieser Gelegenheit mit freudiger Überraschung ein Plakat mit dem eigenen jetzt-Motiv an der Wand ihres Arbeitszimmers gesehen zu haben (Gespräch mit Gerhard Rühm, Wien, Institut für Wissenschaft und Kultur, 21. Oktober 2022 ; das Plakat, das sich wahrscheinlich in Reichenspergers Wohnung fand, ist heute spurlos verschwunden). Dabei handelt es sich um eine Typocollage, die 1958 als Einladungskarte der Wiener Kunstgalerie Würthle vervielfältigt worden war : Die unterschiedlichen Größen und Schriftarten der Buchstaben, die das Wort »jetzt« als Ausdruck einer dringenden Unmittelbarkeit bilden, sollten die unterschiedliche Intensität und Tonstärke des auditiven Textes visuell wiedergeben (vgl. Fetz 2020). Eine weitere Nähe zwischen Aichinger und den Autoren der Wiener Gruppe ergibt sich durch ihren über die Landesgrenzen gerichteten Blick und die Entscheidung, die kulturelle Stagnation Österreichs hinter sich zu lassen und ihr Glück im Ausland zu versuchen. Aichinger vollzog diesen Schritt sehr früh, als sie 1950 begann, als Lektorin für den S. Fischer Verlag in Frankfurt zu arbeiten. Nach einer kurzen Station 1951 in Ulm, wo sie als Sekretärin von Inge Aicher-Scholl an den Vorbereitungen zur Gründung der Hochschule für Gestaltung mitarbeitete, lebte sie bis 1988 jenseits von Wien : in Deutschland, vor allem in Frankfurt und im österreichisch-bayerischen Grenzland, ab 1963 im österreichischen Großgmain knapp an der Grenze zu Deutschland. Im Klappentext der 1952 im Wiener Jungbrunnen-Verlag erschienenen Sammlung von Erzählungen Rede unter dem Galgen befindet sich der Satz : »Lebt gegenwärtig in Frankfurt am Main als Lektor des S. Fischer-Verlags, weil ihr in Österreich keine Existenzmöglichkeit geboten war« (Aichinger 1952, Klappentext). Für Aichinger war eine Existenz im Nachkriegsösterreich vor allem wegen der traumatisierenden Erfahrungen als Verfolgte des NS-Regimes unmöglich. Nichtsdestotrotz ist Wien in
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ihrem Werk ein häufiger Bezugspunkt, der durch topographische Referenzen, Bilder, Erinnerungen und nicht zuletzt auch durch die Sprache immer wieder durchscheint. Die Worte im Klappentext von Rede unter dem Galgen sind allerdings auch zutreffend für die Schwierigkeiten der gesamten jüngeren Schriftstellergeneration, sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich zu etablieren. Anders als für Ilse Aichinger war es für die Autoren der Wiener Gruppe die Suche nach anderen Lebensstilen, Inspirationsquellen, besseren Entfaltungsmöglichkeiten und nicht zuletzt beruflichen Perspektiven, die sie über die Grenzen brachte. Mit Ausnahme von Achleitner zog es die anderen vier immer wieder ins Ausland, vornehmlich nach Deutschland : Der Kosmopolit und polyglotte Artmann verbrachte die 1960er Jahre hauptsächlich in Berlin und Schweden ; Bayer machte in den frühen 1960ern mehrere Reisen nach Deutschland, vor allem nach Berlin, wo er versuchte, seine Arbeit und die Wiener Gruppe bekannt zu machen ; Rühm zog 1964 nach Berlin und 1975 nach Köln, wo er heute noch lebt ; Oswald Wiener übersiedelte 1969 nach Berlin, um einer gerichtlichen Verfolgung aufgrund der Aktion »Kunst und Revolution« in Österreich zu entgehen, und blieb dort bis 1986. Unter den vier ›Emigranten‹ der Wiener Gruppe sticht die Geschichte Konrad Bayers besonders heraus, der es mit großer Hartnäckigkeit und dank des Einsatzes von Günter Grass schaffte, 1963 von Hans Werner Richter zum Treffen der Gruppe 47 in Saulgau eingeladen zu werden. Bayers Lesung einiger Ausschnitte aus seinem Romanprojekt der sechste sinn erwies sich als fulminanter Erfolg : Der wahrscheinlich strengste Kritiker der Gruppe, Walter Jens, lobte in seiner minutiösen Analyse den Ton »eines genialen Vortrags«, Hans Mayer verwies auf den Charakter einer Kosmogonie und sogar Ernst Bloch, der damals zu Gast bei der Gruppe 47 war, hob mit Entschlossenheit das philosophische Potenzial von Bayers Prosa hervor, einer neuen »Form, von der die Philosophen manches lernen können« (Gruppe 47 1981, S. 83 und S. 88). Aichinger, die seit 1951 an den Treffen der Gruppe 47 teilnahm, ohne je ganz dazuzugehören (vgl. Liska 2011, S. 237), war 1963 nicht anwesend. Auch 1964 beim Treffen der Gruppe 47 im schwedischen Sigtuna war sie nicht dabei, als Bayer, ganz im Unterschied zum vorherigen Jahr, von mehreren Seiten scharf kritisiert wurde. Aichinger selbst – und mit ihr auch Heißenbüttel und Bachmann – war es 1957 auf dem Treffen in Niederpöcking ziemlich ähnlich ergangen. Als sie dort aus Zu keiner Stunde las, stieß sie »mit ihren imaginären Dialogen zwischen Zwergen, Polizisten und Kindern« auf die Ablehnung der ›Realisten-Fraktion‹ : Die träumerische Verspieltheit der immer noch ein wenig wie eine Waldnymphe wirkenden Aichinger forderte schroffen Widerspruch heraus, Angriff und ritterliche Verteidigung. Die Realisten drohten damit, die Tagung zu verlassen. (Bauer 1957, S. 221)
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Dieser Vorfall schadete Aichinger allerdings nicht, noch trübte er in späteren Jahren die Erinnerungen an ihre Teilnahme an den Treffen der Gruppe 47, wie aus zwei ihrer Texte hervorgeht : »Als mich Hans Werner Richter zum ersten Mal einlud« und »Die Gruppe 47« (AuzMi 2021, S. 161 und S. 194f.). In der Tat war 1957 eine Zeit großen Umbruchs : Die ›Urgesteine‹ der Gruppe 47 merkten langsam, dass sie mit den neueren Literaturbegriffen nicht mehr mitkommen konnten, und nur die große diplomatische Kunst Richters vermochte es, die Gruppe, die unterdessen ihren Zenit überschritten hatte, zehn weitere Jahre zusammenzuhalten, bis sie sich endgültig auflöste. Aichingers Abwesenheit in Saulgau und vor allem in Sigtuna ist daher umso bedauerlicher, nicht bloß, weil sie dadurch diese Treffen weder dokumentieren noch literarisch verarbeiten konnte, sondern vielmehr, weil ihre empathische Präsenz und das ähnliche Schicksal vielleicht sogar dazu hätten beitragen können, die Stimmung gegen Konrad Bayer, die einer Hetze gleichkam, zu entschärfen. Eine von Aichingers späteren Arbeiten, eines der eindrucksvollsten Stücke aus dem »Journal des Verschwindens«, sollte jedoch einen anderen Autor der Wiener Gruppe vor dem Verschwinden schützen. Was Aichinger für Konrad Bayer nicht tun konnte, das tat sie für H. C. Artmann : »Der Schneefall der Existenz« (Der Standard, 7. Dezember 2000) ist eine in tiefgründige Gedanken versunkene, andächtige Elegie für den verstorbenen Poet. Allerdings, wie es bei Aichinger so oft passiert, steht im Zentrum nicht das bekannte, vertraute Bild des provokanten Dichters und lebenslustigen Bohemiens, sondern ein profundes Porträt des Menschen Artmann mit seinen humansten Seiten. Ausgangspunkt für ihre Überlegungen ist ein Kindheitsfoto der Brüder Artmann, Erwin und H. C., auf einer Rodel im Winter des Jahres 1928 (vgl. FuV 2001, S. 114). H. C. sei der Glücklichere, weil er den Krieg überleben sollte. Aber wusste er wirklich, »wieviel Glück er mit sich selbst hatte ?«, fragt sich Aichinger (ebd., S. 115). Gemeint ist das mehrfache Glück im Leben und im Schreiben, das Glück eines außergewöhnlichen Künstlers, der sich dem Klang von Wörtern hingegeben hatte, der zugleich versiert war in der praktischen Arbeit und der in seiner Haltung immer darauf eingestellt war, bis auf die Existenz alles zu verlieren : »Artmann aber war – er ist – verschneit von Existenz« (ebd., S. 116). Neben seiner Gedächtnisfunktion – für Artmann, für die Autorin selbst und für das Lesepublikum – zeugt dieser Text davon, dass sich auch Aichinger in ihrem literarischen Schaffen mit der visuellen Ebene beschäftigte, allerdings mit einem anderen Fokus als die Wiener Gruppe und ihre formbezogenen Experimente. Bereits der Einstieg von Die größere Hoffnung, in dem die Protagonistin Ellen, von der Beobachtung einer Landkarte ausgehend, einen Bogen zwischen der Geographie, dem Wetter und der düsteren politischen Situation Europas spannt, stellt ein Beispiel für Aichingers Umgang mit dem Visuellen und für dessen Überarbeitung dar, in diesem Fall durch
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die Augen und die Phantasie eines Kindes ; darin lässt sich außerdem auch ein Widerhall des Einstiegs von Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften beobachten, in dem die Erzählstimme eine komplexe geographisch-meteorologische Beschreibung der europäischen Wetterlage wiedergibt, die zum Schluss in der einfachen Erklärung eines erfreulichen Wetterphänomens kondensiert wird : ein schöner Augusttag im Jahr 1913. Auch in der Artmann-Miniatur und in vielen anderen, die später in den Band Film und Verhängnis Eingang fanden, sind Bilder oft Anlass zu weitschweifenden Reflexionen, die einer konkreten Quelle des Alltags entspringen und sich sehr raffiniert mit Erinnerungen aus vergangenen Tagen vermischen : Sie »bedenken deren Entstehung und gegenwärtige Wirkung und geben ihnen auf diese Weise objektive und subjektive zeitliche Tiefe« (Fußl 2011, S. 9). Im November 2015 war es schließlich Ilse Aichinger, der eine offizielle Hommage seitens eines ehemaligen Mitglieds der Wiener Gruppe und späteren Architekten zuteilwurde. Das geschah anlässlich der Ausstellungseröffnung »wienachauckland ?« des Wiener Ilse-Aichinger-Hauses, an der Friedrich Achleitner teilnahm. Dem jungen, dynamischen Verein gelang es dank seiner Konzeption als Literaturhaus ohne Sitz und ohne Mauern, das ganz auf die Neuentdeckung und Erforschung von Aichingers Werk ausgerichtet ist, den Künstler für den Abend zu gewinnen, der ursprünglich aus Ehrfurcht nicht teilnehmen wollte, zumal er sich eher als Architekt und nicht als Dichter sah (Information von Andreas Dittrich, dem auch für weitere Anregungen zu diesem Text herzlich gedankt sei). Das entscheidende Argument war, dass der Verein einen Architekten benötige, um ein Literaturhaus zu bauen, das es nicht gibt – eine Irritation ganz im Sinne Achleitners und Aichingers zugleich (vgl. Grillmayr 2015). wortgesindel ist der Titel des Werks, aus dem Achleitner an dem Abend las, eine Sammlung von kurzen, sehr pointierten und gewitzten Geschichten, die die häufige Untauglichkeit der Sprache betonen. Eine Untauglichkeit, die natürlich zur Provokation dient, aber die zugleich zeigt, wie Sprache unerschöpfliche Materie ist und trotz aller Versuche, sie mit unterschiedlichen Ansätzen zu modellieren, zu hinterfragen und analytisch zu betrachten, sich entzieht und nicht ganz zähmen lässt. Wie auch durch die als Motto angeführten Worte des Philosophen Fritz Mauthner ersichtlich wird : »Sprache ist ein Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen läßt« (Achleitner 2015, S. 5). Dieselbe sprachliche Ungenügsamkeit wird in Aichingers Roman Die größere Hoffnung manifest, der viele der ersten Kritiker verwirren sollte und der gerade aus dieser Ungenügsamkeit und zugleich aus der Notwendigkeit heraus entsteht, trotz allen unsagbaren Grauens ein Zeichen zu setzen und über die Vergangenheit zu schreiben. Auf diese Untauglichkeit lässt sich nicht zuletzt auch die Bruchstückhaftigkeit der Sprache und des Schreibakts bei Ilse Aichinger zurückführen, das Zögern, das Abwarten, das genaue Hinschauen und Hinhören vor dem Hinschreiben. Alles Eigenschaften, die ei-
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nen Text ausgereift und facettenreicher machen, die Aichingers Werk eigen sind und die sie selbst beim von ihr geschätzten Robert Musil – man denke an den titanischen Entstehungsprozess seines Lebenswerks – beobachtet hat : »Die Sprache ist zersplittert, das müsste man doch wissen. Robert Musil hat das vollkommen durchschaut« (Aichinger/Radisch 2016, S. 42). Literatur Achleitner, Friedrich (2015) : wortgesindel. Wien. Aichinger, Ilse (1952) : Rede unter dem Galgen. Hg. Hans Weigel. Wien (= Junge österreichische Autoren). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse/Radisch, Iris (2016) : Erfüllte Wünsche sind ein Unglück, in : Iris Radisch (Hg.), Die letzten Dinge. Reinbek b. Hamburg, S. 31 – 47. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Anonym (1949) : Zwei Romantypen. »Sturmhöhe« von Emily Brontë / »Die größere Hoffnung« von Ilse Aichinger, in : Neue Zürcher Zeitung 13. Mai 1949, S. 1 – 2. Bauer, Arnold (1957) : Hier kann jeder seine Meinung sagen, in : Der Kurier 5./6. Oktober 1957. Zit. Böttiger, Helmut (2013) : Die Gruppe 47. München, S. 221. de Smedt, Erik (Zusammenstellung) (2012) : Engel, in die Tiefen gestürzt. Erinnerung an Konrad Bayer, in : Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 79 (Spiel auf Leben und Tod. Die Auferstehung des Konrad Bayer), S. 67 – 78. Dr. R. (1949) : Die größere Hoffnung, in : Vorarlberger Volksblatt 19. Februar 1949, S. 8. Fetz, Bernhard (2020) : »jetzt« : Zu einem Zentralbegriff im künstlerischen Universum Gerhard Rühms, in : Forschungsblog der Österreichischen Nationalbibliothek 12. Februar 2020. https:// www.onb.ac.at/forschung/forschungsblog/artikel/jetzt-zu-einem-zentralbegriff-im-kuenstlerischen-universum-gerhard-ruehms, [Stand : 20.01.2022]. Fried, Erich (1949) : Die größere Hoffnung, in : Das Goldene Tor 4, S. 252. Zitiert nach Moser, Samuel (Hg.) : Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 155 – 156. Fritsch, Gerhard (1964) : Sind wir eine Literatur-Boutique ? Aus den Briefen an den Herausgeber Prof. Rudolf Henz, in : Wort in der Zeit 7/8, S. 1 – 4. Fußl, Irene (2011) : Ilse Aichinger, in : Konstanze Fliedl/Marina Rauchenbacher/Joanna Wolf (Hgg.), Handbuch der Kunstzitate. Bd. 1. Berlin/Boston, S. 6 – 9. Gerstl, Elfriede (1981) : Über Bayers Zweifel an der Kommunikationsfähigkeit der Sprache in einem engeren privaten Sinn und inwiefern er verstanden oder mißverstanden wurde, in : Gerhard Rühm (Hg.), konrad bayer. symposion wien 1979. Linz, S. 41 – 45. Görner, Rüdiger (2021) : Hören, in : Birgit R. Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 137 – 139.
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Grillmayr, Julia (2015) : Ilse Aichinger wird ein Literaturhaus ohne Mauern zuteil, in : Der Standard 30. November 2015. https://www.derstandard.at/story/2000026702755/ilse-aichingerwird-ein-literaturhaus-ohne-mauern-zuteil, [Stand : 20.01.2023]. Gruppe 47 (1981) : Kritik nach einer Lesung Konrad Bayers (1963), in : Gerhard Rühm (Hg.), konrad bayer. symposion wien 1979. Linz, S. 83 – 88. Guggenheimer, Walter Maria (1951) : Das Feuer hat Hunger, in : Frankfurter Hefte 6.12, S. 941 – 942. Zitiert nach Moser, Samuel (Hg.) : Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 163 – 165. Hartl, Edwin (1949) : Buch und Leser / Ein Zeitroman ?, in : Die Bühne 3, S. 19. Janisch, Heinz (2022) : Menschenbilder. Gerhard Rühm, in : Ö1 4. Dezember 2022. https://oe1. orf.at/programm/20221204/701504/Gerhard-Ruehm, [Stand : 20.01.2023]. Jens, Walter (1960) : Ilse Aichingers erster Roman, in : Die Zeit 18. März 1960. Zitiert nach Moser, Samuel (Hg.) : Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 169 – 172. Kruntorad, Paul (1976) : Prosa in Österreich seit 1945, in : Hilde Spiel (Hg.), Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Die zeitgenössische Literatur Österreichs. München, S. 131 – 289. Liska, Vivian (2011) : Fremde Gemeinschaft. Göttingen. Ors. (1949) : Ein Experiment, in : Oberösterreichische Nachrichten 18. Februar 1949, S. 2. Rühm, Gerhard (1967) : die wiener gruppe. Reinbek b. Hamburg. Rühm, Gerhard (1971) : dings, in : Ver sacrum. Neue Hefte für Kunst und Literatur 3, S. 71. Schreiber, Hermann (1949) : Die größere Hoffnung, in : Wiener Tageszeitung 3. Juli 1949. Zitiert nach Moser, Samuel (Hg.) : Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 157 – 159. Thurnher, Eugen (1949) : Ilse Aichinger. Die größere Hoffnung, in : Vorarlberger Nachrichten 1. Juni 1949, S. 3. S. W. (1949) : Wir haben gelesen / Die größere Hoffnung, in : Wiener Kurier 4. Februar 1949, S. 4. Weissenböck, Andreas (2018) : Aichinger, Wittgenstein und die Sprache, in : »Die größere Hoffnung«. Masterarbeit. Universität Wien. Wiener, Oswald (1969) : die verbesserung von mitteleuropa. Roman. Reinbek b. Hamburg. Wiener, Oswald (1987) : Wittgensteins Einfluss auf die »Wiener Gruppe«, in : Walter-Buchebner-Gesellschaft (Hg.), Die Wiener Gruppe. Wien. Wittgenstein, Ludwig (1980) : Briefwechsel. Hgg. Brian McGuinness und Georg Henrik von Wright. Frankfurt/M.
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Zwischen rettender Präsenz und latenter Bedrohung Ilse Aichingers Besuche bei Thomas Bernhard »das Helfen, von dem er nie sprach« Liest man Ilse Aichingers ab 1990 veröffentlichte Texte systematisch durch, jene kurzen Artikel, die zum Teil verstreut erschienen, zum Teil in Rubriken mit sehr evozierenden Namen wie »Journal des Verschwindens«, »Unglaubwürdige Reisen«, »Schattenspiele« und »Subtexte« in die Literaturgeschichte eingegangen sind, so staunt man darüber, wie oft der Name von Thomas Bernhard vorkommt, wie oft die Autorin sich in Gedanken mit dem 1989 verstorbenen Schreibkollegen und dessen Werk befasst und die Erinnerung an ihn in ihren literarischen Streifzügen aufblitzen lässt. Auch der zeitliche Rahmen enthüllt Aufschlussreiches : Obwohl sie ihn schon zu dessen Lebzeiten persönlich kannte, begann Aichinger erst nach Bernhards Tod über ihn zu schreiben. Geschah dies aus Ehrfurcht ? Aus Angst, sich vor einem bekanntlich äußerst genauen sowie strengen Wirklichkeits- und Gesellschaftsbeobachter bloßzustellen ? Oder hing dies vielmehr mit dem Wunsch zusammen, wie so oft bei Ilse Aichinger, die Dichte der Vergangenheit zu durchstöbern, um die eigenen Erinnerungen zu ordnen, sie der Flüchtigkeit zu entreißen und in die Gegenwart zu holen ? Wie dem auch sei, die immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard ist ein frappierendes Merkmal in Aichingers später Produktion, das nicht nur für das weitere Nachleben des Ohlsdorfer Autors sorgt, sondern auch als Hommage und Zeichen der Nähe zwischen den beiden verstanden werden kann. Der erste Text über Bernhard, »Bernhard und Stifter«, erschien am 2. November 1990 in der Wiener Tageszeitung Der Standard, obwohl er laut Richard Reichensperger bereits 1989 einige Wochen nach Bernhards Tod entstanden sein soll (vgl. KMF 1991, S. 117). Dabei handelt es sich um einen sehr prägnanten Text, der schon einiges zur Beziehung Aichinger-Bernhard verrät. Neben dem elegischen Ton, der dem Stück den Charakter eines Nachrufs verleiht, hebt Aichinger die bis ins Detail durchdachte Textur von Bernhards Werken hervor : Wenn wir ihn immer wieder lesen, immer weiter lesen, immer neu beim Text bleiben, nicht zwischen die Zeilen dringen […], sondern bei den Zeilen, den Worten, den Haupt- und Nebensätzen, den Satzzeichen bleiben, bei allem in seiner unnachgiebigen Reihenfolge, […]
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geht uns seine und unsere gemeinsame Welt auf. (Ebd., S. 109 ; der Text wurde hier in »Thomas Bernhard« umbenannt.)
Es ist Bernhards minutiöse Sorgfältigkeit bei Sprachwahl und Textkomposition, die Aichinger anzieht und ihrer Meinung nach den Schlüssel zu seiner Poetik und seiner Welt darstellt. Und dieses Bekenntnis formuliert Aichinger gerade mit einem Satz, der in Länge, Struktur und Komplexität Bernhards Stil ähnelt und in mancher Hinsicht imitiert, was als gewollte »Identifikation von Autorin und Leser mit Bernhard« aufgefasst wurde (Scheichl 1996, S. 97). Bernhards beinahe manische Präzision war auch schon Ingeborg Bachmann aufgefallen, die in einem unveröffentlichten Entwurf schrieb : In diesen Büchern ist alles genau, von der schlimmsten Genauigkeit, […] die Adjektive ehren wieder, die Verben sind [von der] größten Vielfältigkeit, die das Deutsche erlaubt, hinunterreden, nicht nur hineinreden, herausreden, überreden, zureden, bei Bernhard wird alles Hinunterreden, ein Hinabreden. (Bachmann 2005, S. 456)
Während Bernhards Bücher für Bachmann von der Idee einer nicht aufzuhaltenden Notwendigkeit durchdrungen sind, sieht Aichinger darin eine sprachliche Unnachgiebigkeit, die sich parallel zur Vehemenz seiner Angriffe und Tiraden entspinnt. Angriffe, die oft gegen das gerichtet sind, »woran er leidet, und er leidet sehr oft an dem, dem er am meisten zugeneigt ist« (KMF 1991, S. 109) : an Österreich, seinen Traditionen, seiner Kultur – und natürlich auch seiner Literatur. Adalbert Stifter wird als Chiffre für diese künstlerischen Angriffe eingesetzt, die zugleich auch eine große Neigung durchsickern lassen : »Die bis zum Exzeß und darüber hinausgehenden Beschimpfungen – zum Beispiel seines Landes – erinnern an die auch bis zum Exzeß gehenden Lobpreisungen Stifters« (ebd.). So werden z. B. die berühmten Schimpftiraden von Alte Meister durch Bernhards Lobesworte für Stifter im Brief an Hilde Spiel kompensiert, der 1971 in Ver Sacrum veröffentlicht wurde : »Was Wittgenstein betrifft : er ist die Reinheit Stifters, Klarheit Kants in einem und seit (und mit ihm) Stifter der Größte« (Bernhard 2015, S. 634). Stifter wirkt in diesem Text als Verbindungsglied zwischen Aichinger und Bernhard, aber nicht einfach, weil er von beiden hochgeschätzt wird, sondern – und vielmehr – weil Aichinger im Rahmen des Leseprozesses sowohl bei Stifter als auch bei Bernhard Ähnliches erlebt, eine Art Oszillation zwischen Gefahr und Rettung, Bedrohung und Geborgenheit. Im Artikel »Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter« evoziert Stifters Literatur bei Aichinger eine Mischung zwischen »ungeheuerliche[r] Sanftmut« und »Zorn« zugleich (KMF 1991, S. 96 ; »Zorn« kommt natürlich auch in »Bernhard und Stifter«
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vor), die sich auch in seinem Stil widerspiegelt : »Mit diesen Sätzen hat zu kämpfen, wer sich mit ihnen einläßt, mit ihrer Geduld, ihrer unnachgiebigen Freundlichkeit, bis er die Spannung des ›So und nicht anders‹, die Linie des Blitzes in ihnen begreift« (ebd., S. 97). Ist Stifters Prosa durch ›unnachgiebige Freundlichkeit‹ charakterisiert, so zeichnet sich diejenige Bernhards durch ›unnachgiebige Reihenfolge‹ aus, und diese Kohärenz, dieses Sich-selbst-treu-Bleiben, die in beiden Fällen durch den Prozess des Weiterlesens zutage tritt, hat auf die Autorin eine äußerst positive Wirkung. Bei Stifter sind es die Sanftmut sowie die Geduld seiner Sprache und nicht zuletzt die rettende und gerettete Welt, die er in seinen Werken heraufbeschwört – man denke an die für Aichinger hochbedeutende Erzählung »Bergkristall« ; bei Bernhard lässt sich das Helfende und Rettende sowohl biographisch – anhand der persönlichen Beziehung zu Aichinger, wie später noch gezeigt werden wird – als auch literarisch durch seine sprachliche Disziplin und konsequente Einstellung zur Welt erklären : »Aber Thomas Bernhard gibt das Helfen, von dem er nie sprach, nicht auf. Indem er geht und rasch geht, holt er den Zorn wieder herauf, der notwendig ist, gibt er den Schmerz zurück, der fehlte, bewahrt er uns davor, zu erstarren« (ebd., S. 109). Auch nach seinem Tod erlischt in Aichingers Augen die erhellende und sozialkritische Wirkung von Bernhards Werk nicht. Von der Bedeutung von »Bernhard und Stifter« zeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass der kleine Text 1991 unter dem Titel »Thomas Bernhard« Eingang in die dritte Sektion der von Richard Reichensperger herausgegebenen zweiten Auflage von Kleist, Moos, Fasane fand, d. h. in die Sektion, in der die Texte zu jenen Autoren zusammengefasst sind – wie eben Stifter, Kafka, Beckett, Trakl, Sachs –, die von Aichinger bewundert wurden und als Inspirationsquellen galten oder mit denen sich die Autorin im Einklang sah. In diese poetologische Konstellation lässt sich Bernhard auch durch eine weitere Konvergenz einbetten, die vielleicht ein wenig überraschend erscheinen mag : die Neigung zur Flüchtigkeit und zur kalkulierten Unvollständigkeit. Aichinger bevorzugte einen kritischen, ja fast ›misstrauischen‹ Umgang mit Wörtern, die stets infrage gestellt und genau gewählt werden müssen. Außerdem steht ihre Sprache – genau wie viele ihrer Figuren – im Zeichen des Verschwindens : Es ist eine heikle Sprache, die sich weigert, die nicht antwortet und dazu tendiert, ins Schweigen zu entschwinden, wie Aichinger in ihrem Text »Meine Sprache und ich« selbst beschreibt. Aber auch Bernhard, der die Prosa ins Unendliche ausdehnte, um die unsichtbaren Gedankengänge seiner Figuren ans Licht zu bringen, neigte immer wieder zu Reduktion und Unvollkommenheit, was seine Verwendung des Fragments am besten verdeutlicht. In der Lyrik und im Theater wird dies schon graphisch nur zu offensichtlich. In seinen Romanen wird das Bruchstückhafte meist auf der inhaltlichen Ebene ersichtlich : Alles ist Andeutung, alles bleibt beim Versuch, eine Geschichte, eine Figur,
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eine Landschaft zu beschreiben, und jede Beschreibung sowie jede Geschichte wird gerade dort unterbrochen, wo der Leser es am wenigsten erwartet. Wenige Jahre nach diesem Monument für Bernhard, das zugleich als programmatisch für Aichingers Verständnis von dessen Werk gelten kann, erschien am 24. Mai 1993 in der Zeitung Der Standard ein weiterer Artikel von Ilse Aichinger zu Thomas Bernhard, eine mutige Apologie seines Denkens : »Die bedrohliche Anhängerschar. Für Bernhard, gegen Bernhardismus«. Aufgeschreckt durch den militanten Fanatismus und die unreflektierte Parteilichkeit einiger Bernhard-Anhänger, die Aichinger vor der Aufführung von Heldenplatz am Burgtheater gesehen hatte, verfasste sie diese starke Verteidigung des genuinen Bernhard’schen Geistes, der stets gegen schwärmende Gefolgsleute und anhängende Massen gedonnert hatte und jetzt gerade von einer solchen Masse mit starrer Unnachgiebigkeit geradezu vergöttert wurde. Für Aichinger war das ein Phänomen, das sie an schmerzhafte Momente ihres Lebens erinnerte, die sich ihr für immer eingeprägt hatten : Wer die Verschleppung nächster Angehöriger oder junger Freunde ertragen mußte, wer sie in Viehwagen Richtung Nordbahn nach Minsk oder andere Vernichtungslager fahren sah, weiß, was ein solcher frenetischer Jubel evozieren kann. (AuzMi 2021, S. 168)
Das Erlebnis vor dem Burgtheater sollte die Autorin intensiv beschäftigen, wie auch mehrere Vorstufen des Artikels zeigen, die sich in ihrem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach erhalten haben (DLA Marbach, HS.2005.0008) – insgesamt acht maschinengeschriebene Blätter mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen (daraus geht u. a. hervor, dass der im Text enthaltene Ausdruck »Thomas-Bernhardismus« auf Reichensperger zurückzuführen ist). Es war wahrscheinlich auch der scharfe Kontrast zwischen der fanatischen Schar und »der selbstverständlichen und stillen Hilfsbereitschaft und Freundschaft Thomas Bernhards« (AuzMi 2021, S. 169), die Aichinger veranlasste, einzugreifen und eine Art Korrektiv zur Interpretation von dessen Werk zu verfassen. Und dieses Werk erweist sich auch in diesem Kontext als rettend, weil es sich nicht auf simple Formeln reduzieren lässt, hingegen das kritische Denken immer wieder fördert. Auch in dieser Hinsicht erklärt sich die Bedeutung von Aichingers Worten in »Bernhard und Stifter«, nämlich dass Bernhard die Leser davor »bewahrt […] zu erstarren« (KMF 1991, S. 109).
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Thomas Bernhard auf der Spur, oder : zur Poetik des Besuchens Im weiteren Verlauf der 1990er Jahre verschwindet Thomas Bernhard aus dem Fokus von Ilse Aichingers Texten. Erst in den frühen 2000er Jahren kommt die Autorin in ihrem literarischen Flanieren wieder zu ihm zurück. In den 2005 für die Samstagsbeilage Spectrum der Tageszeitung Die Presse verfassten »Subtexten« setzt sie sich wie gewohnt mit ihren Erinnerungen auseinander und zugleich mit dem, was der Literatur und der Existenz vorangeht, mit ihrem Substrat, mit ihrem oft verborgenen Sinn. Dieses stete, unermüdliche Forschen ist symptomatisch für Aichingers Poetik, in der sowohl die Vergangenheit als auch deren Verstrickungen mit der Gegenwart akribisch untersucht werden. Darin lässt sich in mancher Hinsicht eine Poetik des Suchens beobachten, die durch das konstante, geduldige Wiederaufgreifen bereits behandelter Themen und Erinnerungen oder das Ins-Gedächtnis-Rufen von Bekannten und Vertrauten, die nicht mehr da sind, zugleich zu einer Poetik des Aufsuchens, des Besuchens wird. Thomas Bernhard ist unter ihnen, und auf ihn bezieht sich Aichinger in vier »Subtexten«. In »Die Pest in Wien« verwendet sie das Wort »Grabenhölle« als vermeintliches Bernhard-Zitat (St 2006, S. 26), um den Wiener Graben zu bezeichnen, auf dem sich die Pestsäule befindet. »Grabenhölle« ist zwar ein sehr evozierender Begriff, kommt allerdings in Bernhards Produktion nicht vor ; stattdessen taucht in Holzfällen – ein Werk, auf das Aichinger noch zurückkommen wird – das Kompositum »Gesellschaftshölle« in Bezug auf den Graben auf, den der Ich-Erzähler des Romans wie die Pest meidet, um nicht versehentlich auf unangenehme Repräsentanten der Wiener Gesellschaft zu stoßen (Bernhard 2007, S. 8). Dieser ›Fehler‹ Aichingers erweist sich dennoch als produktiv : In ihrer Erinnerung kondensiert sie die für Bernhard grauenerregende Wiener Gesellschaft mit dem typischen Ort ihres Auftretens, an dem die Pestsäule steht. Bernhards Name findet auch in »Inkludiertes Happy End« Eingang, in dem Aichinger, vom Songspiel von Bertolt Brecht, Elisabeth Hauptmann und Kurt Weill ausgehend, das gerade im Volkstheater aufgeführt wurde, an das ›Happy End‹ denkt, an die Katharsis, die auch andere Autoren wie Shakespeare, Bernhard oder Gerhart Hauptmann mit ihren Werken erzielen können : »Und ob Shakespeare, Bernhard oder ›Vor Sonnenaufgang‹ – das Happy End ist inbegriffen« (St 2006, S. 29). In »›Bin noch immer positiv !‹ oder Die Pest in Wien, Teil II« – einem Stück zur Wiener »Pest der Verharmlosung und des primitiven Einverständnisses« (ebd., S. 35) – befindet sich u. a. eine deftige, gegen den Philosophen Peter Sloterdijk, einen »der größten Schwätzer«, gerichtete Tirade, der, so Aichinger, nach Wien »nicht zu einem ›künstlerischen Abendessen in der Gentzgasse‹«, sondern zu einem »philosophischen Mittagstisch« beim österreichischen Bundeskanzler kommen sollte (ebd., S. 34). Die Anspielung auf Holzfällen und auf das in diesem Roman stattfindende verhängnisvolle Abendessen ist
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nur zu deutlich. Ein weiteres Bernhard-Zitat bildet den Schluss dieser immer düsterer werdenden Glosse von Ilse Aichinger : Es handelt sich um das Ende der Erzählung Ja, in dem die Perserin zugibt, sich eines Tages das Leben nehmen zu wollen, und somit den Tod bejaht – genau wie Molly Bloom in ihrem Monolog am Ende von Ulysses, deren ›Ja‹ allerdings auf die Liebe und das Leben gerichtet ist. Ein letzter Verweis auf Bernhard in den »Subtexten« findet sich in »Die Stimmgabel des Seins«, nochmals im Zeichen des Todes. Aichinger ist der bedrückenden Atmosphäre der Großstadt entflohen und ins niederösterreichische Hollabrunn gefahren, auf dessen Friedhof »die Gräber so unhysterisch und still wie das Grab Thomas Bernhards [sind], wo sein Name fast nicht zu lesen ist, jeder Gafferei entzogen und jeder verlogenen Pose« (ebd., S. 54). Die Anspielung auf die Haltung der BernhardAnhängerschar ist nicht zu überhören ; in den Augen Aichingers hat diese mit Bernhards beherrschtem Posieren sehr wenig zu tun. Friedhofsbesuche, bei Bernhard ein oft rekurrierendes Motiv, sind mit tiefem Sinnieren verbunden, und in der Ruhe der Gräber gedenkt Aichinger »de[s] arme[n] Thomas« (ebd.; diese Bezeichnung, die Aichinger Inge Scholl zuschreibt, ist auch für einen weiteren, im Folgenden zu erörternden Text titelgebend). Es sind aber drei zwischen 2001 und 2004 im Standard erschienene Artikel, die die Beziehung Aichinger-Bernhard noch schärfer hervortreten lassen als die »Subtexte«, und die die Poetik des Besuchens klarer umreißen. Im 15. Eintrag ihres »Journal[s] des Verschwindens«, der den Titel »Versuch über Thomas Bernhard« trägt, kommt Aichinger nochmals auf die Präzision und auf den Zynismus zurück, die Bernhards Schreibweise charakterisieren : »Man kann sich kaum davor retten. Wie vor seinen Texten, die erst auf den vierten bis fünften Blick die Kompliziertheit und Abgründigkeit freigeben, und damit auch ihre Unnachahmlichkeit«. (Aichinger 2001) Eine formale Strenge, die Aichinger auf die schwere Kindheit des Autors zurückführt, auf die im autobiographischen Band Der Atem meisterhaft geschilderte Krankheit, auf das Umherirren seiner frühen, heimatlosen Jahre – wie ein moderner Odysseus, der in Aichingers Erinnerung »offen«, »listig«, »listenreich« ist (ebd.). Diese Strenge, diese Unbeugsamkeit zeigt sich auch an seinem Haus, an seinen Häusern, die Aichinger gut kannte und die sie sich nun als Gegenstück zur Architektur Richard Wagners ins Gedächtnis zurückruft : Wer Bernhards Höfe gesehen hat, die abweisenden und unerschütterlichen Mauern, hinter denen er sich verschanzte, findet keinen Weg zur Architektur von Bayreuth. Auch nicht zu Wotan. Sein Stil der Selbstinszenierung ließ kaum Konzessionen zu, nicht die geringste Nachgiebigkeit. (Ebd.)
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Wahrscheinlich gerade wegen der unsteten sozialen Umstände, die den jungen Bernhard und seine Familie zu mehreren Umzügen gezwungen hatten, erwarb er 1965, zwei Jahre nach dem großen Erfolg von Frost, den Ohlsdorfer Vierkanthof. Aus einer Ruine wurde eine solide Wohnstätte, eine Projektion des eigenen Ichs, die Bernhard nach eigenem Geschmack und nicht ohne eine gewisse Theatralität sorgfältig einrichtete, wie einen hortus conclusus, in dem er Ruhe und Geborgenheit und damit Schutz vor der Außenwelt fand. Von den Mauern dieses befestigten Hofs umgeben, konnte der Autor dem von ihm oft zitierten Stumpfsinn, dem Kunstdilettantismus, dem Scheitern sowie jenen Fixierungen und Neurosen entgehen, die die moderne Welt ihm zufolge beherrschen und die seine Werke durchdringen. All das bezeichnet Aichinger – sich an Adolf Loos anlehnend – als ›Krempel‹ in ihrem »Schattenspiel« Nr. 13, dem Artikel »Loos trifft Bernhard« : »Dieses Wort würde Bernhards Tonfall, seinen Aus- und Einfällen gerecht. Eigentlich ist alles Krempel. Das Gegenteil dazu sind seine unbewohnten Höfe, sie definieren seine eigene Architektur« (Aichinger 2004) – nicht nur die literarische, sondern auch die menschliche Architektur. Als Bekräftigung von Aichingers Einsichten zum Verhältnis von Loos und Bernhard, zur Parallelität ihres Gestaltungssinns, können auch die Worte des Architekturkritikers Dietmar Steiner zu den Innenräumen von Bernhards Vierkanthof gelesen werden : »Es geht um Klarheit und Reinheit, wie sie auch bei den Shakern und Adolf Loos zu finden sind. Kitsch und Gemütlichkeit haben hier keinen Raum« (Steiner 2019, S. 22). Im Laufe dieser unaufhaltbaren Gedankenwanderungen kam es im September 2004 auch zu einem genaueren Umriss der persönlichen Beziehung zwischen den Autoren, der die vielen oben untersuchten Verweise verständlicher macht. Im »Schattenspiel« Nr. 41, »Der arme Thomas«, blickt Aichinger auf drei Hausbesuche zurück, die sie sich über die Jahre gegenseitig gestatteten. Der erste fand in Großgmain statt, als sich Bernhard in aller Eile zu Aichinger begab, nachdem er gehört hatte, dass es Schwierigkeiten mit Suhrkamp-Verträgen gab : Bernhard hatte mir einmal gesagt, ich solle kommen, wenn ich Sorgen hätte, welche auch immer, und ich rief an, die Verträge von Suhrkamp schienen schwer durchschaubar. Drei Stunden später stand Thomas Bernhard bei uns in Großgmain in der Tür, sein Wagen schräg hinter ihm. (UR 2005, S. 165)
Dieselbe Episode erwähnt Aichinger flüchtig auch 1995 im empörten offenen Brief an das Organisationskomitee »Frankfurt 95« »Das Vergessen der Geschichte im staatlichen (Literatur-)Betrieb« (Österreich war Gastland der Frankfurter Buchmesse 1995) :
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›Rufen Sie mich an, wenn Sie eine Sorge haben‹, sagte er [Bernhard] eines Tages, ›Sie sind den Intrigen nicht gewachsen‹. Einmal hatte ich wirklich eine Sorge mit einem Verlagsvertrag, und eine Stunde später stand Bernhard in der Tür. (Aichinger 1995)
Auch hier wird allerdings weder das Datum noch der genaue Zusammenhang erwähnt. Geht man davon aus, dass das Treffen gegen Mitte der 1960er Jahre stattgefunden hat – der Sohn Clemens ist zu diesem Zeitpunkt dem Text »Der arme Thomas« zufolge 14 Jahre alt –, so könnte es sich bei diesen Verträgen um den im Suhrkamp-Verlagsarchiv dokumentierten Plan Siegfried Unselds handeln, Ilse Aichinger für Suhrkamp anzuwerben. Jedenfalls : Auch das war Thomas Bernhard, auch das ist ein Beispiel für dieses »Helfen, von dem er nie sprach« (KMF 1991, S. 109) und das unterschiedliche Formen annehmen konnte. Hilfsbereit war Bernhard auch im Umgang mit Aichingers Sohn, Clemens Eich, der einer regelrechten Idolisierung des Ohlsdorfer Autors verfallen war : Einige Zeit danach – Clemens’ verzweifelter Blick hatte genügt – rief ich Thomas Bernhard an, und wir fuhren nach Ohlsdorf : Clemens, seine kleine Schwester, zwei Mütter und die Taxifahrerin. Bernhard holte uns herein, bot allen Kletzenbrot und Most an und blieb eine Weile bei uns am Tisch. (UR 2005, S. 167)
Eine andere Aufzeichnung dieses zweiten Besuchs liegt durch das Tagebuch von Karl Ignaz Hennetmair vor, Bernhards Nachbarn, für ein gutes Jahrzehnt eifriger Helfer und enger Freund, der 1972 Tag für Tag alles notierte, was um Bernhard herum passierte und was dieser ihm im Laufe ihrer täglichen Gespräche mitteilte. Im allerersten Eintrag vom 1. Januar 1972 berichtet Hennetmair, dass Bernhard am folgenden Tag nachmittags Besuch von Ilse Aichinger, Günter Eich und ihrem Sohn Clemens erwartet, den er in Zürich bei der Aufführung von Ein Fest für Boris kennengelernt und im Anschluss daran zum Essen mit dem Schauspielhaus-Direktor Harry Buckwitz mitgenommen hatte, »damit so junge Leute gleich sehen, wie scheußlich so was ist« (Hennetmair 2014, S. 22). Am 2. Januar erfolgt der Bericht des Treffens : Aichinger sei mit zwei Stunden Verspätung eingetroffen, die Familie habe unerwartet Besuch bekommen, weshalb Eich zu Hause geblieben sei ; dafür sei Aichinger mit ihrer Mutter, dem Sohn Clemens, der Tochter Mirjam, einem türkischen Mädchen und einer Taxifahrerin nach Ohlsdorf gefahren. Vergleicht man beide Texte, so stimmt die Zusammensetzung der Aichinger-Partie überein, wobei unklar bleibt, ob sich die »zwei Mütter« in Aichingers Text auf Aichinger selbst und ihre Mutter Bertha oder auf Aichinger und das türkische Kindermädchen beziehen. Bernhard sei hocherfreut
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gewesen und habe sich am Nachmittag sehr amüsiert, wie aus Hennetmairs Bericht hervorgeht, der Bernhards Stimme so wiedergibt : Es war wunderbar lustig, dreimal mußte ich Most vom Keller holen. Drei Liter gehen gut hinein, es müssen zehn Liter Most gewesen sein, die wir getrunken haben. Die Wirkung davon hat sich auch schon vor der Abfahrt gezeigt. Es war wunderbar. (Ebd. S. 22 – 23)
Dass dieses Treffen heiter und gemütlich verlief, kann Mirjam Eich heute noch bezeugen, die sich gut an Bernhards Umgänglichkeit und an den Sliwowitz erinnert, den er seinen Gästen – mit Ausnahme der Kinder – einschenkte (Gespräch mit Mirjam Eich, Jüdisches Museum Wien, 8. November 2021). Obwohl laut Hennetmairs Aufzeichnungen an diesem Tag nicht über berufliche Projekte geredet wurde, ist es nicht unwahrscheinlich, dass drei der vier Bücher Aichingers, die Bernhard besaß, gerade an diesem Tag ihren Weg nach Ohlsdorf fanden. Lange wurde vermutet, dass Bernhard wenige Bücher um sich hatte, und der Autor selbst trug zu dieser Mystifizierung durch eigene Aussagen viel bei, wie die Zeile zeigt, die »Der arme Thomas« vorangeht : »Bücher werden Sie bei mir nicht finden. Ich kenn niemand, der so wenig liest wie ich« (Aichinger, zit. Frank 1992, S. 94). Dennoch war seine Privatbibliothek alles andere als leer, und darin befinden sich heute noch folgende Bücher von Ilse Aichinger : Der Gefesselte, S. Fischer, Frankfurt a. M. 1953 Zu keiner Stunde, S. Fischer, Frankfurt a. M. 1957 Besuch im Pfarrhaus, S. Fischer, Frankfurt a. M. 1961 Verschenkter Rat. Gedichte, S. Fischer, Frankfurt a. M. 1978
Im letzten Band, den Bernhard mit Sicherheit nach diesem Besuch bekam, findet sich Aichingers Widmung : »Für Thomas Bernhard ein Gruß aus Großgmain !« (Informationen von Frau Anny und Herrn Dr. Peter Fabjan ; E-Mail vom 22. Juli 2022 ; ihnen gilt mein herzlicher Dank). In diesen sehr dichten Text baut Aichinger noch einen dritten Besuch ein, den sie im September 2004 in Ohlsdorf machte und der zum Ausgangspunkt für dieses »Schattenspiel« wurde. Hier zeigt sie sich von einigen Details von Bernhards eigenwilliger Einrichtung beeindruckt, erkennt die Inszenierung, ja quasi die museale Absicht des Autors, die vom Bruder Dr. Peter Fabjan treu fortgesetzt wurde. Sie lässt originell zusammengesetzte Objekte Revue passieren, wie etwa das »Gewehr auf der Gardinenstange im Schlafzimmer«, den »Totschläger hinter der Küchentür«, den »Hirschfänger auf der Zeitungsnotiz mit der Todesnachricht seiner Mutter« ; sie durchkämmt ihre
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Erinnerungen und fragt sich, ob beim vorherigen Besuch mit ihren Kindern alles schon so aussah, ob das Gemälde von Josef II. »aus seinem Rahmen über uns hinwegschaute«, ob die Rokoko-Dame schon damals »an uns vorbeisah« (UR 2005, S. 167 – 168). Ein Zettel mit Aufzeichnungen von diesem Besuch hat sich in Aichingers Nachlass erhalten und wurde im Band Unglaubwürdige Reisen abgebildet. Darin lassen sich viele der im Artikel erwähnten Objekte entziffern, vor allem das »Gewehr auf der Gardinenstange«, der »Hirschfänger«, die »Todesnachricht der Mutter« (ebd., S. 166). Auf dem Zettel notierte Aichinger allerdings auch zwei weitere sehr signifikante Aspekte, die ihr beim Besuch auffielen : zum einen die »latente Bedrohung«, die die genannten Objekte ausstrahlen, die mit dem Tod und mit dem Töten untrennbar verbunden sind – eine Bedrohung, die auch Bernhards Literatur permanent durchdringt und mit Spannung füllt ; zum anderen den »Mausoleumseindruck«, den der teilweise sehr ostentativ ausstellende Charakter des Hauses vermittelt. Diese zweite Notiz ist sehr bedeutend : Bernhards Vierkanthof ist ein perfekt erhaltenes, sorgfältig und üppig ausgestattetes Haus, das aber wie ein Mausoleum, wie ein Wallfahrtsort gepflegt wird, weil darin paradoxerweise kein Mensch wohnt. Es ist ein Ort der Erinnerung, in dem die Zeit stehengeblieben ist, und in dem man fast den Eindruck haben kann, der Hausherr könnte plötzlich – von einem Spaziergang oder einer Hausbesorgung zurückgekehrt – wieder hereinkommen. Es ist ein Ort, der das innerliche Flanieren Aichingers in Bewegung setzt, der alte Erinnerungen wieder auftauchen lässt, die im Text dann mit Sätzen von Dr. Fabjan zum Tod Bernhards verwoben werden : »Die Nächte schlaflos und durchhustet, die Angst um den Atem«, »Schau, das ist jetzt eigentlich der Todestag vom Großvater« (die von Aichinger zitierten Stellen stammen aus Woisetschläger 1990, S. 118 und S. 117). In diesem Sinne kann »Der arme Thomas« als Verarbeitung eines letzten physischen Besuchs eines Erinnerungsortes betrachtet werden, der weitere Reminiszenzen auslöst und durch andere Lektüren sowie Stimmen ergänzt wird (Bernhard selbst, Johnny Schnurpfeil, Clemens Eich, Dr. Peter Fabjan, Emil Cioran). In diesem Text, so wie in allen hier behandelten Texten, ist Aichinger Bernhard auf der Spur, sie sucht ihn in der Vergangenheit und in der Literatur auf und lässt ihn schließlich »wieder unterwegs« sein (UR 2005, S. 168). Er ist einer der zu früh Verstorbenen, die einen tiefen Eindruck in ihrem Leben hinterlassen haben : »Für immer abwesend, behaupten sie in Aichingers Texten stets von neuem machtvoll ihre Präsenz«, schreibt Simone Fässler zu diesen »kräftige[n] Schattenrisse[n]«, den Protagonisten der »Schattenspiele« (ebd., S. 11). Dass Bernhard zu dieser Reihe großer Vorangegangener gehört, betonte Aichinger noch wenige Wochen nach dem Erscheinen von »Der arme Thomas«, im Dezember desselben Jahres, im NZZ-Artikel »Nobelsonne«, quasi wie eine Abrundung und diesmal den Namen Thomas Bernhards in einem Atemzug mit dem von Ingeborg
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Bachmann aufrufend : Ihnen wurde zu Lebzeiten der Nobelpreis nicht verliehen, aber das spiele keine Rolle, weil keiner ihnen den Ruhm mehr absprechen könne und weil beide nun »›gigantisch‹ und unangreifbar« seien (ebd., S. 169). Literatur Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (1995) : Das Vergessen der Geschichte im staatlichen (Literatur-)Betrieb, in : Der Standard 29. Juni 1995, S. 29. Aichinger, Ilse (2001) : Versuch über Thomas Bernhard, in : Der Standard 9. Februar 2001, S. 12. Aichinger, Ilse (2004) : Loos trifft Bernhard. Schattenspiel Nr. 13, in : Der Standard 13. Februar 2004, S. 26. Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (St 2006) : Subtexte. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Bachmann, Ingeborg (2005) : Watten und andere Prosa / Ein Versuch (Über Thomas Bernhard), in : Dies., Kritische Schriften. Hgg. Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München, S. 453 – 457. Bernhard, Thomas (2007) : Werke. Bd. 7 (Holzfällen). Frankfurt/M. Bernhard, Thomas (2015) : Werke. Bd. 22/1 ( Journalistisches, Reden, Interviews). Berlin. Frank, Niklas (1992) : Ansichten eines unverbesserlichen Weltverbesserers (Stern 4. Juni 1981), in : Sepp Dreissinger (Hg.), Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra, S. 89 – 94. Hennetmair, Karl Ignaz (2014) : Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972. St. Pölten/Salzburg/Wien. Scheichl, Sigurd Paul (1996) : Ilse Aichinger über Thomas Bernhard, in : Studia Austriaca. Sondernummer Ilse Aichinger. Hgg. Fausto Cercignani und Elena Agazzi, S. 93 – 101. Steiner, Dietmar (2019) : Inszenierte Welten. Häuser, Räume, Einrichtungen, in : André Heller (Hg.), Thomas Bernhard Hab & Gut. Das Refugium des Dichters. Wien, S. 8 – 23. Woisetschläger, Karl (1990) : Thomas Bernhard – eine Erbschaft (Die Presse, Spectrum 24. – 25. Juni 1989), zitiert nach : Reiner Marx/Gerhard Stebner (Hg.), Perspektiven des Todes. Heidelberg, S. 115 – 127.
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Schreiben statt Beten Robert Schindels und Ilse Aichingers Versuche, der Welt beizukommen Robert Schindels 2013 erschienener Roman Der Kalte bietet ein Panorama Wiens zur Zeit der Waldheim-Affäre. Der Plot beginnt im Jahr 1985, als die ÖVP Kurt Waldheim zu ihrem Präsidentschaftskandidaten ernannte und sich in Folge ein internationaler Skandal rund um seine mögliche Mittäterschaft bei Kriegsverbrechen als Offizier der Wehrmacht entfachte. Diese Debatten waren für Österreich zweifellos von großer Bedeutung, da sich das Land dadurch nicht mehr länger hinter dem bis dahin kaum hinterfragten Opfermythos verstecken konnte und sich mit der eigenen Täterrolle im NS-Regime auseinandersetzen musste. Zumindest in manchen Teilen der Gesellschaft führte dies zu einem Umdenken und einer kritischeren Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Schindel, der selbst eine aktive Rolle in dieser Zeit einnahm, gelingt es, als Romanautor eine kritische Distanz einzunehmen und seine Figuren in allen Widersprüchlichkeiten zu zeichnen. Sein genauer analytischer Blick auf die damaligen Diskussionen und Akteure offenbart auf ernüchternde Weise das omnipräsente Potenzial von steter Anpassungsfähigkeit. Schindel schildert Eitelkeiten und Machtdenken aller politischer Couleurs sowie »Recht- und Linkhabereien«, wie er dies an anderer Stelle bezeichnet (Schindel 2011, S. 22). So ruft der Roman klar in Erinnerung, dass ursprünglich die Sozialdemokraten Waldheim zusammen mit den Konservativen zum gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten ernennen wollten. Ebenso wird deutlich, wie der folgende politische Rachefeldzug gegen den ehemaligen UN-Generalsekretär, gegen den anfangs niemand etwas einzuwenden hatte, ablief. Die Handlung des Romans zieht sich bis ins Jahr 1989 und nimmt die Wiener Kulturszene als Bühne der österreichischen Politik in den Fokus, im Besonderen das Burgtheater während der Ära Claus Peymann und die Errichtung des antifaschistischen Denkmals Alfred Hrdlickas am ehemaligen Albertinaplatz (heute Helmut-Zilk-Platz). In der Manier eines Schlüsselromans schildert Schindel die Protagonisten dieser Jahre in der Bundeshauptstadt – für Schindel »Vergessenshauptstadt« und »Wortheimat« zugleich (Schindel 2004, S. 295 und S. 318). Mit Paula Williams und Paula Grünhut porträtiert Schindel in seinem Roman auch zwei bedeutende österreichische Schriftstellerinnen : Elfriede Jelinek und Elfriede Gerstl. Beide hatte der Autor in jenen Jahren häufig und oft gemeinsam in den Wie-
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ner Kaffeehäusern angetroffen (Gespräch mit Robert Schindel im Café Prückel am 23. März 2023). Die Hauptfigur des Romans, Edmund Fraul, Widerstandskämpfer und Auschwitzüberlebender, begegnet Paula Grünhut stets im Café Korb. Durch lediglich kurze Beschreibungen und Gespräche wird klar, dass sie als Verfolgte des NS-Regimes mit ihrer Mutter in Wien versteckt überlebt hatte und später eine anerkannte österreichische Dichterin sowie Konstante des Wiener Kaffeehauslebens war. Der Name Grünhut verweist auf Gerstls Leidenschaft für Hüte und Mode im Allgemeinen. Geprägt durch die Jahre des Versteckens, des häufigen Ortswechsels und ein dementsprechend entbehrungsreiches Leben ist das Sammeln von Mode für sie später zu einem Substitut geworden (Gerstl 1995, S. 7 – 25). Diese knappe Charakterisierung Paula Grünhuts lässt auch an eine andere bedeutende Schriftstellerin Österreichs denken : Ilse Aichinger. Auch sie überlebte mit ihrer Mutter die NS-Zeit in Wien, wurde nach Kriegsende eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Österreichs und war seit ihrer Rückkehr nach Wien 1988 ebenso Stammgast in den Wiener Kaffeehäusern – allerdings gibt es in ihren Schriften keine Hinweise auf das Café Korb, während Gerstl dort stadtbekannt war. Doch ebenso wie Gerstl gehörte Aichinger in jenen Jahren zum Wiener Stadtbild und das nicht nur für Robert Schindel (Zetzsche 2016, 00 :01 :30–00 :01 :38). Der Name Grünhut, der nach Aussage Schindels auf Gerstls Passion für Hüte zurückzuführen ist (Gespräch mit Robert Schindel am 23.03.2023), birgt eine weitere Koinzidenz. Denn gerade Grün ist eine bei Aichinger immer wiederkehrende und bedeutende Farbe (Markus 2021). »Lesestoff ist grün« heißt es in ihrem Gedicht »Lesen« (VR 1991, S. 54), was als eine jener Aussagen Aichingers gewertet werden kann, mit der sie die vermeintliche Wirklichkeit – die vom Großteil der Menschheit unhinterfragt hingenommen wird – kontert. Die Behauptung, dass Lesestoff grün sei, hinterlässt wohl bei den meisten Lesern Fragen. Dies könnte als Strategie der Autorin interpretiert werden, darzulegen, inwiefern es ihr nicht möglich ist, die Dinge der Welt als so selbstverständlich hinzunehmen wie sie gemeinhin erscheinen. So wie die Leser irritiert durch diese Aussage zurückbleiben, so bleibt die Autorin stets von der Welt verstört zurück. Gleichzeitig kann darin auch ein Verweis auf die eigene Familiengeschichte gesehen werden, denn grün war auch das Märchenbuch der Familie Aichinger (Ivanovic 2021, S. 12). Von diesem berichtet die Autorin in der Einleitung zu ihrer 2004 erschienenen Textsammlung Der Wolf und die sieben jungen Geißlein : »Sie [die Märchen] wurden uns auch nicht vorgelesen, sondern erzählt, aber wer immer sie erzählte, legte das dunkelgrüne Buch auf die Knie oder neben sich« (Wolf 2004, S. 5). Grün ist in diesem Sinne also nicht nur der Lesestoff, sondern auch die Farbe des Erzählens und die Farbe desjenigen, der das Recht hat zu sprechen – oder der es sich nimmt.
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Dass Paula Grünhut in einer Szene sogar einen grünen Hut trägt (Schindel 2013, S. 197), erinnert an einen weiteren für Aichingers Poetik aufschlussreichen Text. Die Autorin ist bekannt für ihr genaues Beobachten, für wohlüberlegte und präzise Formulierungen. Diese Analysefähigkeit, die sie auch auf scheinbar Gleiches und Unvergleichbares anwendet, besitzt ebenso die Figur des Zwerges im Dialog »Zu keiner Stunde«. Die Geschichte ist auf einem Dachboden angesiedelt, auf dem ein Skripten suchender Student einem Zwerg mit einer grünen, hohen Mütze begegnet, der sich stets zwischen drei und vier Uhr nachmittags auf dem Dachboden aufhält. Auf die Frage des Studenten, was der Zwerg dort treibe, antwortet er : Nichts. Ich schaue über die Stadt. Zur grünen Kuppel des Schlosses hinüber. Deutet auf seine Mütze. Ich ziehe Vergleiche zwischen grün und grün. Das nimmt kein Ende. Umso mehr als diese Gegend auch von Gärten überzogen ist. (ZkSt 1991, S. 15)
Mag diese Aussage fürs Erste absurd wirken, so steckt darin ein ganz genauer Blick auf die Welt, ein scheinbar zu genauer Blick, der unnütz wirken mag. Doch genau darin verbirgt sich die Erkenntnis, wie vieles auf der Welt unnütz ist und dennoch nicht hinterfragt wird, während anderes – zum Teil Wichtigeres – aus allen Überlegungen ausgespart bleibt. So scheint es für den Studenten undenkbar, von seinen bereits fixierten Lebensbahnen abzuweichen und eine andere Perspektive einzunehmen, die ihn vielleicht nicht geradlinig zu seinem Karriereziel bringt, aber andere Sichtweisen offenbaren könnte. Der Zwerg mit der grünen Mütze erlangt durch seine Grünvergleiche in der Geschichte unerwartetes Wissen und versucht den Studenten zu überreden wiederzukommen, damit er ihm mehr über seine Untersuchungen und somit über seine – wohl etwas andere – Weltsicht erklären könne : Sie haben keine Ahnung, wieviel es davon [von Grün] auf der Welt gibt, […] alles ablesbar in Vergleichen. […] Ich könnte es Ihnen beweisen, nur an meiner Mütze, an dem Turm der polnischen Kirche, an diesem Zwiebelturm – oder an dem Grün der Wipfel um das Waffenarsenal. (ZkSt 1991, S. 17f.)
Die polnische Kirche und das Waffenarsenal verweisen auf den dritten Bezirk, den Lebensort von Ilse Aichingers Großmutter und für mehrere Jahre auch Ilse Aichingers selbst. Die Vergleiche des Zwergs, der beim genauen Betrachten von Grün so viele Erkenntnisse gewinnt, erinnern an Ilse Aichinger der 2000er Jahre, die in Unglaubwürdige Reisen ihre Heimatstadt auf ihren alltäglichen Wegen genau unter die Lupe nimmt und dadurch weit mehr erfährt als so mancher Weitgereiste (UR 2005, S. 15). Der Zwerg, der den Studenten fast anfleht wiederzukommen, macht sich am Ende
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wenig aus dessen Ablehnung : Er kichert und begnügt sich damit, weiter über die Stadt zu blicken, ganz so, als hätte er das Ende schon lange vorhergesehen – womöglich durch seine Grünvergleiche – und weiß, er könne dem Studenten respektive der Welt nicht helfen. Die phantastischen Welten und grotesken Szenen, die Aichingers Frühwerk auszeichnen, könnten als Weigerung gesehen werden, sich auf Zeitgeschichtliches einzulassen. Doch lassen sich gerade gesellschaftliche Schilderungen immer wieder in ihren Werken finden – wenn auch etwas verfremdet. Sie vermischt Abstraktes mit Konkretem, Phantastik und Realismus, Widersprüchliches und Unvereinbares (Kaindl 2007, S. 55). Damit legt sie die Absurditäten der allgemein akzeptierten Wirklichkeit offen, indem sie diese mit ihren eigenen Welten und Figuren kontert (Cozic 2009). So agiert auch der Zwerg mit der grünen Mütze : Er kontert die Absurdität eines bereits fix und fertig vorgeplanten Lebens mit der Absurdität, jeden Tag zu einer fixen Uhrzeit Grünvergleiche zu ziehen. Aichinger wollte vermeintlich nicht hinterfragbare Tatsachen oder Selbstverständlichkeiten hinterfragbar machen. Sie entwickelte nicht nur eine Skepsis gegen Moden und Strukturen, sondern auch ein Misstrauen gegen die Welt als solche, gegen vermeintlich nicht zu ändernde Fakten, gegen klare Gewissheiten und lineare Logik (Pajević 2009, S. 42 ; vgl. Schafroth 1995, S. 35). In einem Radiogespräch mit Richard Reichensperger erklärte sie 1996 : Ich meine, es nehmen alle alles so selbstverständlich. […] Aber man könnte auch drei Augen haben und jeder würde es für genauso selbstverständlich nehmen wie jetzt, und es würden auch genügend wissenschaftliche Erklärungen dafür da sein, dass drei Augen absolut notwendig sind, wegen irgendeines Stereogefühls oder so etwas. Ich glaube, es ist alles erfunden, aber es kommt auf die Präzision der Erfindung an. (Studio LCB 1996, Gespräch III, 00 :16 :21–00 :17 :12)
Absurditäten und Zumutungen der Erinnerungskultur Absurditäten, schnell gefundene Begründungen für neu aufgekommene und unhinterfragte Fakten sowie Scheindebatten entlarvt auch Schindel wiederholt in seinen Werken. In seinem Roman Der Kalte fokussiert er auf die mediale Zuspitzung des Waldheim-Skandals. Der dadurch bis zur Peinlichkeit analysierte Politik- und Medienzirkus war Aichinger von Grund auf zuwider. In »Farben des Erinnerns« bringt sie ihre ausgeprägte Skepsis gegenüber (staatlichen) Medien auf den Punkt :
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Information deckt Erinnerung zu, meinte Walter Benjamin, lange bevor es den ORF oder die wöchentlich alten News gab. Fragt sich eben, von wem man sich informieren läßt : von den Medien rund um die Uhr (und um sonst nichts) über das Verhalten in Krisensituationen (Rinderherden, Herzklappenfehler, Wasserrohrbrüche, Politikerehen). Oder vom eigenen Vergessen, von den Verschwundenen einer nicht mehr mechanisch ablaufenden, nicht leeren Zeit. (FuV 2001, S. 108)
Wie schnell die SPÖ vom eigenen Vergessen beim Waldheim-Skandal eingeholt wurde, legt Schindel in seinem Roman offen. Mit allen Mitteln bekämpfen die Sozialdemokraten den ehemaligen Wehrmachtsoffizier, den »Vergessenskaiser«, wie ihn Schindel an anderer Stelle nennt (Schindel 2011) und vergessen dabei ganz, dass sie ihn zu Beginn als gemeinsamen Kandidaten aufgestellt haben. Somit werden sie alle zu Vergessenskaisern. In der Kampagne gegen Waldheim wurde von den Protagonisten auch verdrängt, dass dessen Verhalten während der NS-Zeit »irgendwie auch selbstverständlich war und in der Bandbreite eines anständigen und pflichtbereiten Staatsbürgers lag« (Schindel 2013, S. 392). Dies führte schlussendlich dazu, dass sich viele Österreicher in ihm wiedererkannten und ihn gerade deshalb zu ihrem Präsidenten wählten. Ilse Aichinger erlebte den Waldheim-Skandal nicht in Wien. Sie kehrte erst 1988 in ihre Geburtsstadt zurück, als Waldheim sich bereits in seinem zweiten Amtsjahr befand. In den Jahrzehnten zuvor und auch in den ersten Jahren nach der Rückkehr veröffentlichte Aichinger äußerst wenig. Eine der wenigen Zeilen aus dem Jahr 1985 könnte als Kommentar zur in ihrer Heimat stattfindenden Geschichtsdebatte gelesen werden : »Zum Kranklachen wäre alles, wenn es nicht zum Totlachen wäre. Ob ich euch nicht wiedersehe oder ob ich euch wiedersehe, ich sehe euch wieder« (KMF 1991, S. 87). Eine solch enge Interpretation könnte aber auch in die Irre führen, ging es Aichinger doch um eine Kritik an Strukturen und Gegebenheiten und zumindest in jenen Zeiten nicht um Tagespolitik. Jahre später resümierte sie über die WaldheimJahre : »Ich sah den Heldenplatz in der Realität, und den im Burgtheater. Die Realität war um einiges schlimmer« (FuV 2001, S. 77). Tagespolitischer wurde Ilse Aichinger erst gegen Ende ihres Lebens, ab den 2000er Jahren, als sie begann, Glossen für Tageszeitungen zu verfassen. Bis ins hohe Alter blieb Aichinger eine Mahnerin gegen Oberflächlichkeit und Heuchelei. Insbesondere entwickelte sie eine Skepsis gegenüber der modisch gewordenen Erinnerungskultur : »Wer wird wann und woran beim Anblick der verschiedenen Mahnmale gemahnt ?« (UR 2005, S. 47). Dass Mahnmale einerseits sehr politisch sind, andererseits auch nur Scheinhandlungen sein können, wird auch in Schindels Roman klar, als Herbert Krieglach alias Alfred Hrdlicka tobt, er werde an seinem Denkmal – gemeint ist das Denkmal gegen Krieg und Faschismus – Räder
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montieren, damit die Obrigkeiten »es einmal dahin, einmal dorthin rollen [können], ganz wie die politische Stimmung grad ist in diesem Scheißland. Wäre das nicht eine großartige Idee ?« (Schindel 2013, S. 116). In dem Essay »Echolalie des Erinnerns« thematisiert der Schriftsteller die fehlende Aufrichtigkeit der spät einsetzenden Erinnerungskultur : Jetzt, da die meisten gestorben sind von den Opfern und Tätern, schickt man sich an, nicht nur zu gedenken, sondern gründlich zu gedenken. […] Auf, auf nach Mauthausen, schulklassenweis, gruppenbetroffen am Steinbruch vorüber. […] Niemals vergessen, weil niemals er-
innern ! Gedenken ! Das ist das große Wort im kleineren Mund. Gedenken, das ist die Echolalie des Erinnerns. Gedenken, das ist das Ritual, das uns rührt, ohne zu berühren. (Schindel 2011, S. 118)
Ähnliches äußert auch Aichinger anlässlich der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises 1995. In ihrer Rede weist sie auf die groteske Situation hin, dass ihr – die einst vom selben Staat hätte ermordet werden sollen – nun ein Preis verliehen wird und das so spät, dass nicht mal ihre Mutter, eine der wenigen Überlebenden ihrer Familie, diese Auszeichnung miterleben durfte (FuV 2001, S. 23 – 24). Im selben Jahr war Österreich Gastland bei der Frankfurter Buchmesse. In einem offenen Brief an das Organisationskomitee rechnete Aichinger mit ihrer Heimat und der Heuchelei der Politik und des Kulturbetriebs ab : Meine mir von dem Schicksal meiner Angehörigen her notwendigen Texte sind in der Gesamtausgabe bei S. Fischer in Deutschland erschienen und in Österreich totgeschwiegen worden. Ich bin, wie sie in Ihrem Brief schreiben, ›still‹, das stimmt. Aber ich wurde und werde auch still gemacht. Und ich bin nicht verträumt, keine Poetin, ich schaue nur genau hin, auch auf die Lüge dieses für jedes Leiden blinden Staates. (Interviews 2011, S. 246f.)
Zwei Generationen Schweigen Zwischen Ilse Aichingers und Robert Schindels Geburt liegen mehr als zwanzig Jahre. Somit kann man sie als Vertreter zweier Generationen betrachten. Doch waren sie beide in jungen Jahren von der mörderischen Politik der Nationalsozialisten bedroht. Der große Altersunterschied machte die Wahrnehmung dieser Gefahr sehr verschieden. Während Ilse Aichinger im Jahr des »Anschlusses« bereits 17 Jahre alt war, wurde Robert Schindel erst im letzten Kriegsjahr geboren. Aichinger schaffte es, als »Halbjüdin« zu überleben, ihre Jugend war aber geprägt von Lebensgefahr, von ständiger
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Sorge um die Mutter, von der Deportation und Ermordung ihrer Großmutter, ihrer Tante und ihres Onkels, von der Fremdzuschreibung als Jüdin und dem Wissen um das Potenzial an Grausamkeit, das in der Menschheit steckt. Robert Schindel wurde in eine kommunistisch-österreichische Familie geboren. Seine Eltern waren gemeinsam in der Résistance in Frankreich, als sie 1943 von der kommunistischen Leitung mit falschen Identitäten in ihr Heimatland zurückgeschickt wurden. Seine Mutter, Gerty Schindel, war bereits schwanger und brachte ihren Sohn in Bad Hall zur Welt. Schindel überlebte als Säugling im jüdischen Kinderspital in Wien (Schindel 2011, S. 9), während seine Eltern verhaftet und deportiert wurden. Nur seine Mutter überlebte, kam nach Wien zurück und erzog Robert Schindel zum Kommunisten (ebd., S. 71 – 75). Die frühen Traumatisierungen und seine Prägung durch das kommunistische Umfeld ziehen sich durch sein Werk. Unter anderem in seinem Gedicht »1. Splitter Kindheit« : Da war die Kindheit, war ein Mordstheater / Zuerst erwürgten sie mir glatt den Vater / Dann kam die Mutter zruck aus dem Kazett / Streichelte mich ins ICH, doch ich war weg. […] / Und prallte ab bei Menschenkindern / Stieß rasch hinein in solche Roten Träume, / Sodass Parolen mich umküssten aus Genossenmündern (Schindel 2004, S. 145)
In diesem Gedicht wird klar, wie auch Schindel in seiner Poetik versucht zu irritieren – freilich mit ganz anderen Mitteln als Ilse Aichinger. Durch Einsprengsel des Wienerischen in seinen Gedichten erzeugt er eine große Lebensnähe mit gleichzeitig hohem Formbewusstsein und nicht selten radikalem Inhalt, in dem er menschliche Abgründe und Katastrophen schildert. Für Ruth Klüger hat Robert Schindel damit auf seine eigene Weise Adornos so oft zitiertes ›Auschwitz-Verdikt‹ gekontert (Klüger 2007, S. 17). Obwohl das Judentum in seiner kommunistischen Kindheit und Jugend keine Rolle spielte, wurde Schindel stets von seinem Umfeld wegen seines »jüdischen Aussehens« als Jude wahrgenommen (Schindel 1995, S. 12 – 13). In einer Radiosendung zu Ilse Aichingers 95. Geburtstag spricht er über diese Fremdzuschreibung : Durch die Wucht der ideologischen Zurichtung der Nazis sind ja die Individuen quasi auf ihre Herkunft zurückgeworfen worden, ob sie das jetzt wollten oder nicht. […] Und sie [Ilse Aichinger] ist nun auf einmal auf eine ganz bestimmte Weise punziert und ausgeschlossen gewesen. Das ist ja auch das Thema nicht nur ihres Buches [Die größere Hoffnung] sondern von ihren Gedichte immer wieder. Dass man durch die Umstände von sich selbst fremd wird und dann selbst oft nicht mehr weiß, wer man ist und wohin man zu gehen hat. Und diese strukturelle, existentielle Erfahrung als Halbjüdin hat sie natürlich geprägt und hat auch ihr
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Bild natürlich von Wien geprägt. Wer als Halbjüdin von 1938 bis 1945 in Wien gelebt hat, na der hat schon seinen Zacken abbekommen. (Zitiert nach Zetzsche 2016, 00 :21 :35–00 :22 :37)
In ihrem 1976 erschienenen Text »Schlechte Wörter« geht Ilse Aichinger noch einen Schritt weiter und wehrt sich gegen jegliche Fremdzuschreibungen, die häufig als unhinterfragte Tatsachen präsentiert werden : Die wenigsten können sich wehren. Sie kommen zur Welt und werden sofort von all dem umgeben, was sie zu umgeben nicht ausreicht. Ehe sie ihren Kopf wenden können, werden ihnen, begonnen bei ihrem eigenen Namen, Bezeichnungen zugemutet, die nicht zutreffen. (SchW 1991, S. 13)
Denkt man in literaturwissenschaftlichen Kategorien, so ist die Sprache Aichingers der Überlebendengeneration zuzurechnen und jene Schindels der zweiten Generation. Aichingers Skepsis gegenüber der Sprache und des gefälligen Erzählens, die im Laufe ihres Lebens immer weiter zunehmen sollte, ist ein Charakteristikum der Literaten der ersten Generation von Shoah-Überlebenden. Im oben erwähnten Text »Schlechte Wörter« nimmt Aichinger sogar explizit dazu Stellung : »Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind« (ebd., S. 12). Später im Text, geht sie noch einen Schritt weiter, indem sie sich von der Präzision der Sprache abwendet : Ich könnte statt dem Erstbesten leicht dem Besten auf der Spur bleiben, aber ich tue es nicht. Ich will nicht auffallen, ich mische mich lieber unauffällig hinein. Ich schaue zu. Ich schaue zu, wie alles und jedes seine rasche, und unzutreffende Beziehung bekommt, ich tue sogar seit kurzem mit. Der Unterschied ist nur : ich weiß, was ich tue. Ich weiß, daß die Welt schlechter ist als ihr Name und daß deshalb auch ihr Name schlecht ist. (Ebd., S. 13)
In einem späteren Interview über diesen Text erklärt sie die Schwierigkeit, mit der Sprache Relevantes auszudrücken : In den schlechten Wörtern wird deutlicher, wie schwer es ist, den Mund noch aufzumachen in einer sich exzessiv verwandelnden Welt und wie viel Schweigen dahinter stecken muss, hinter jedem Wort. Das ist wohl Sprödigkeit, damit es überhaupt noch Belang hat, damit es relevant ist, damit es noch was sagt. Das Reden scheint immer leichter zu werden und das Sagen immer schwerer. Dass man diese beiden, weit auseinanderliegenden Felder wieder in eins bringt, das wäre eine Art von Erlösung. (Zitiert nach Zetzsche 2016, 00 :33 :43–00 :34 :23)
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In dem oben bereits erwähnten Radiobeitrag würdigt Robert Schindel Aichinger als eine bedeutende Vertreterin der Nachkriegsliteratur : Merkwürdig, dass sie auf der einen Seite eine Erbin jener Zeit der Kahlschlagliteratur ist und war, also die Verknappung, die Sachlichkeit, keine blumeranten Metaphern mehr, der direkte Weg von Bedeutenden und Bedeuteten und sofort. Auf der anderen Seite hat sie vielleicht im Unterschied zu ihrem Lebensmenschen Eich eine wunderbare, zauberhafte poetische Sprache. D. h. das Protokollarische, das zum Teil die Kahlschlaglyriker ausgezeichnet hat, ist bei ihr überhaupt nicht da. Es gibt zwar die Intention, protokollarisch zu sein, aber tatsächlich hat sie immer, manchmal sogar an Celan anklingende Neologismen, metaphorische Bedeutungen, die aber nicht selbständig dastehen sondern immer in einen Duktus eingebaut sind. Dadurch ist sie unter den Sachlichen die Poetin. (Ebd., 00 :22 :45–00 :23 :46)
Zur Poetin wird sie meist dort, wo sie sich weigert, die Gewissheiten der Realität anzuerkennen und sie, vor allem in ihren Texten der 1950er und 1960er Jahre, mit anderen Wirklichkeiten konfrontiert und somit die Absurditäten unserer Welt bloßstellt. Die magischen Welten der Ilse Aichinger erreichen eine andere Wirklichkeit, eine, die über Alltäglichkeiten und Selbstverständlichkeiten der scheinbaren Realität erhaben ist (vgl. Pajević 2009, S. 43 – 44). Diese Suche nach dem Wirklichem zeichnet bereits Aichingers ersten und einzigen Roman Die Größere Hoffnung aus : Ich wollte eigentlich schreiben, wie es wirklich war, und da bin ich aus dem Schreiben ins Schreiben gekommen, denn ich habe gemerkt, dass diese Wirklichkeit, nach der ich suche, eben eine Wirklichkeit ist, die sich nicht ergibt, nicht aus jedem Satz ergibt, den man da hinschreibt. Die nicht wirklich wird, wenn man nur so Sätze hinschreibt. Der man nachgehen muss, nachschweigen muss, bis sie sich mit einem einverstanden erklärt. (Zitiert nach Zetzsche 2016, 00 :15 :37–00 :16 :00)
In Schindels Texten findet sich keine solche Sehnsucht nach dem Schweigen, im Gegenteil : Das Schweigen der ersten Generation wird von seinen Figuren häufig besprochen und die von verschwiegener Vergangenheit besessene Gegenwart zerredet. Damit wird er zu einem klassischen Vertreter der österreichisch-jüdischen Literatur der zweiten Generation, deren Texte – »ein neurotisches Reden, ein betrunkenes, übertriebenes, provokantes, ein fehlgeschlagenes Reden« (Liska 2001, S. 247) – Versuche der nachgeborenen Generationen, sich in dieser Welt zurechtzufinden, beschreiben. Diese befinden sich in der paradoxen Situation, dass die Sprache nach wie vor nicht ausreicht, um die Grauen der Shoah zu beschreiben, dass aber dennoch oder gerade deshalb gesprochen werden muss (ebd., S. 246 – 249). »Schweigend ins Gespräch ver-
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tieft« bezeichnet Schindel diese grotesken Verhältnisse, in der »notorisches Geplapper« darüber hinwegtäuscht, dass die Ermordeten immer weiter aus den Diskussionen gedrängt werden (Schindel 2004, S. 22). 1946 veröffentlichte Ilse Aichinger ihren häufig zitierten und von ihr selbst später ungern wiedergegebenen – weil ihrer Ansicht nach zu ungenauen – »Aufruf zum Mißtrauen«. Darin appelliert sie an die Gesellschaft, skeptisch zu sein gegen sich selbst und nicht zu versuchen, die eigene Unzulänglichkeit anderen zuzuschieben. Sie sollen nicht Ihrem Bruder mißtrauen, nicht Amerika, nicht Rußland und nicht Gott. Sich selbst müssen Sie mißtrauen ! […] Uns selbst müssen wir mißtrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten ! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir mißtrauen ! Schwingt nicht schon wieder Lüge darin ? […] Werden wir mißtrauisch gegen uns selbst, um vertrauenswürdiger zu sein ! (AuzMi 2021, S. 21f.)
Aichinger warnt hier explizit und eindringlich vor den eigenen Selbsttäuschungen, Selbstgerechtigkeiten und Gewissheiten, um ein Ziel zu erreichen : eine Gesellschaft mit vertrauenswürdigen Mitgliedern und damit eine Zukunft, die sicher ist vor den gerade erlebten Greueln. Schindel entlarvt in seinen Romanen und Essays immer wieder zum Verwechseln ähnliche Selbsttäuschungen und Selbstgerechtigkeiten der Generation der Waldheim-Jahre mit genau demselben Ziel. Die Verwandlung von Antisemitismus in Philosemitismus in den nachfolgenden Generationen erkennt der Protagonist Edmund Fraul als eine Folge der Verbrechen. So hält er einem Zeithistoriker einen hübschen Vortrag über die Exzesse des modernen Philosemitismus, die vor allem von den Söhnen und Töchtern der Nazis verübt werden. Es seien die unentwegten und lächerlichen Versuche, von der Täter- auf die Opferseite überzuwechseln, obwohl sie doch als Nachmalige weder das eine noch das andere sind. (Schindel 2013, S. 45)
Ein normales Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden ist für Schindel in Österreich nur in ferner Zukunft oder im Einzelfall möglich, und zwar nur dann, wenn die Kinder der Täter und Mittäter eine Verantwortung für die Kinder der Ermordeten und Vertriebenen übernehmen, indem sie sagen : »Ich fühle mich für euch verantwortlich und muss mein Leben in der Gesellschaft so einrichten, dass Auschwitz sich nicht wiederholt« (Schindel/Lachnit/Kneihs 2004, 01 :39 :47–01 :39 :56). Sowohl Aichinger als auch Schindel sehnen sich also nach vertrauenswürdigen Mitgliedern der Gesellschaft, wissend, dass Phrasen wie »Niemals vergessen« hohl und oberflächlich geworden sind und dass gerade auch hier Misstrauen angebracht ist. So arbeiten sich beide ab an den Widersprüchen der Vergangenheit und der Gegenwart und versuchen durch ihr
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Schreiben, der unaufrichtigen, furchterregenden und grausamen Welt beizukommen. Für Schindel ist Schreiben eine Bewältigungsstrategie der Angst, die »ein vorherrschender Gott« seiner Kindheit war und die andere versuchen, durch »Beten, Malen oder Aggressionen« zu bekämpfen (ebd.). Aichinger konstatiert lakonisch »Schreiben kann man wie Beten eigentlich nur, anstatt sich umzubringen« (KMF 1991, S. 19). Schreiben ist somit für beide Autoren ein Vehikel, um nicht an dieser Welt zu verzweifeln und ihre Bewohner auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, die vermeintlich immanenten Selbstverständlichkeiten und Selbstgerechtigkeiten zu hinterfragen. Literatur Aichinger, Ilse (ZkSt 1991) : Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse/Gebrüder Grimm (Wolf 2004) : Der Wolf und die sieben jungen Geißlein. Mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Cozic, Alain (2009) : Ilse Aichingers erste Erzählungen (1949 – 1955) : Literatur, um die Wirklichkeit zu »kontern«, in : Ingeborg Rabenstein-Michel/Françoise Rétif/Erika Tunner (Hgg.), Ilse Aichinger – Misstrauen als Engagement ? Würzburg, S. 123 – 137. Gerstl, Elfriede (1995) : Kleiderflug. Texte – Textilien – Wohnen. Wien. Ivanovic, Christine (2021) : Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921 – 2016). Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im StifterHaus Linz. Kaindl, Klaus B. (2007) : Gegensätze ? Ilse Aichingers Hörspiele, in : Roland Berbig (Hg.), Ilse Aichinger (Text + Kritik 175). München, S. 49 – 56. Klüger, Ruth (2007) : Der Lyriker Robert Schindel, in : Ludwig Arnold (Hg.), Robert Schindel (Text + Kritik 174). München, S. 10 – 17. Liska, Vivian (2011) : Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne. Göttingen.
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Markus, Hannah (2021) : grün, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 118 – 122. Pajević, Marko (2009) : Am Rand. Misstrauen als Engagement in der Poetik Ilse Aichingers, in : Ingeborg Rabenstein-Michel/Françoise Rétif/Erika Tunner (Hgg.), Ilse Aichinger – Misstrauen als Engagement ? Würzburg, S. 37 – 52. Schafroth, Heinz F. (1995) : Gespräche mit Ilse Aichinger, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Frankfurt/M., S. 31 – 35. Schindel, Robert (1995) : Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis – Auskunftsbüro der Angst. Frankfurt/M. Schindel, Robert (2004) : Fremd bei mir selbst. Die Gedichte (1965 – 2003). Frankfurt/M. Schindel, Robert (2011) : Man ist viel zu früh jung. Essays und Reden. Berlin. Schindel, Robert (2013) : Der Kalte. Roman. Berlin. Schindel, Robert/Lachnit, Peter/Kneihs, Johann : Diagonal – Radio für Zeitgenossen. Zur Person Robert Schindel. Daheim in der Vergessenshauptstadt, in : ORF Radio 1 27. März 2004. https://www.mediathek.at/katalogsuche/suche/detail/ ?pool=BWEB&uid=1339D0A431F-000FB-00000588-1338E1B9&cHash=c17316003cd8080b289f3c2c326ed77a (Letzter Zugriff am 02.06.2023) Studio LCB (1996) : Studio Literarisches Colloquium Berlin mit Ilse Aichinger im Gespräche mit Richard Reichensperger. https://www.dichterlesen.net/veranstaltungen/detail/studio-lcb-mitilse-aichinger-1081/ (Letzter Zugriff am 02.06.2023) Zetzsche, Cornelia (2016) : »Spiegelgeschichten«. Die Schriftsteller Ruth Klüger, Robert Schindel, Wilhelm Genazino, Peter Handke, Eva Menasse und Uljana Wolf schreiben über und für Ilse Aichinger zu ihrem 95. Geburtstag, in : Bayerischer Rundfunk 1. November 2016. BR, Historisches Archiv, DS/14.
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Der Engel des Verschwindens im Kristallgitter Zu Ilse Aichingers Laudatio auf den Erich-Fried-Preisträger Gert Jonke 1. 1997 fiel die Entscheidung der allein verantwortlichen Erich-Fried-Preis-Jurorin Ilse Aichinger auf den »geniale[n] Nichtpreisträger« (VSch 1997, S. 6) Gert Jonke. Es lassen sich bereits auf den ersten Blick einige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden ausmachen : die Vorliebe für fragmentarische Kleinformen sowie die Neigung zum Schweigen und Verstummen auf der einen Seite, und das Misstrauen gegenüber dem Verwaltungsapparat und der Amtssprache auf der anderen. Auch an der Bibliographie der beiden kann man einige Parallelen ablesen. Die Erstlinge, mit denen beiden jeweils der Durchbruch gelang, haben ihr öffentliches Image so nachhaltig geprägt, dass ihre Arbeiten – mit Ausnahme von Jonkes Debüt Geometrischer Heimatroman (1969) und Aichingers beiden früheren Werken Die größere Hoffnung (1948) sowie Die Spiegelgeschichte (1952) – lange wenig beachtet blieben. Es entsteht der Eindruck, als hätten sie schon am Anfang ihrer Karriere das opus magnum geschrieben, um sich danach aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Dies scheint von der Tatsache bestätigt zu werden, dass sie danach wie verabredet jahre-, ja, jahrzehntelang kaum publiziert haben. Ihr Misstrauen gegenüber der institutionellen Bürokratie ist biographisch erklärbar : Das uneheliche Kind Jonke stand in Klagenfurt unter der Vormundschaft des Oberamtsrats des städtischen Jugendamts. Da es dem jungen Jonke behördlich untersagt war, die Stadt zu verlassen, suchte er im Gedichteschreiben Freiheit. Jedoch wurden die Veröffentlichungsmöglichkeiten durch den Eingriff des Vormunds zunichte gemacht, und damit die ersten Versuche, Autonomie zu erlangen, im Ansatz unterdrückt. In dieser Erfahrung aus seiner Jugend sieht Jonke selbst sein »äußerst gestörtes Verhältnis zu allen Arten von öffentlichen Ämtern« ( Jonke 1996, S. 15) begründet. Ebenso war Aichinger in Wien über die NS-Herrschaft hinaus in der Nachkriegszeit der Grausamkeit der Behörden ausgesetzt. In Erinnerungstexten wie »Heinrich Sablik, Steuerberater 1942« und »Der Dritte Mann« aus Film und Verhängnis äußert sie sich über die »schwer überbietbar[e]« »Mediokrität und Trostlosigkeit« (FuV 2001, S. 199) der Beamten : Das Wohnungsamt hatte ihr und ihrer jüdischen Mutter ein Zimmer ausgerechnet unmittelbar neben der Wiener Gestapo zugewiesen, und die Angestell-
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ten der Krankenkasse waren »auch damals grob und staatstreu« (ebd., S. 48). Trotzdem haben beide, Jonke wie Aichinger, ihre Sozialkritik nicht in einfacher Sprache zum Ausdruck gebracht. Selbst Reden und Essays schreiben die beiden nicht auf konventionelle Art. Aichingers Laudatio enthält – implizit und explizit – verschiedene Anspielungen und Verweise auf die Literatur- und Kulturgeschichte. Es mag zunächst übertrieben klingen, wenn sie Jonke mit einem großen Schriftsteller aus der klassischen Moderne der Weltliteratur vergleicht : »Gert Jonke verhält sich zu Thomas Bernhard wie Joyce zu Beckett. Der eine bricht die Türen auf, durch die der andere erst möglich wird, selbst wenn er der Ältere ist« (VSch 1997, S. 6). Aichinger ist jedoch weder der Versuchung des Wortspiels mit dem Stabreim Be und Jo erlegen, noch bereit, ein Lippenbekenntnis abzulegen. Insofern Aichinger auf der Suche nach einer neuen Sprache oft Anleihen bei Joyce und Beckett nimmt, muss man ihre Bemerkung ernst nehmen und als größtmögliches Lob für den preisgekrönten Schriftsteller werten. Damit weist sie darauf hin, dass Jonke so radikal wie Joyce mit den Konventionen gebrochen hat, jedoch um den Preis, in der Zeitgenossenschaft umso mehr vernachlässigt zu bleiben. Dabei richtet Aichinger ihr Augenmerk darauf, dass Joyces »sprachliche Dichte und Verknappung« (Interviews 2011, S. 99) auch als ein zentrales stilistisches Merkmal bei Jonke auszumachen ist. In den 1990er Jahren, in denen die Preisverleihung stattfand, gab es in den Feuilletons den Trend, die Wiederkehr des Erzählens einzufordern, besonders lautstark vertreten von einigen Kritikern der Tageszeitungen, die die deutsche Erzählliteratur von ihrer vermeintlichen Unlesbarkeit befreien wollten. Darauf geht Aichinger in ihrer Laudatio explizit ein und lehnt diese journalistische Zumutung kategorisch als naiv ab. Sie spricht sich deutlich dagegen aus, dass nun auch Schriftsteller »klar, dem Hörer zugewandt, folgerichtig und fernsehgerecht« (VSch 1997, S. 10) wie die Politiker erzählen sollen. Sie findet es nachgerade unerhört, alles leichtfertig aufzugeben, was seit Joyce und Musil in der modernen Literatur stilistisch erprobt und gewonnen wurde, um sich der historischen Realität gegenüber adäquat zu verhalten. Zweifel am konventionellen Erzählen und insbesondere an dessen chronologischem Prinzip liegt der Poetik Aichingers von Anfang an zugrunde. Selbst im autobiographisch gefärbten Roman Die größere Hoffnung sind die einzelnen Kapitel nur lose miteinander verbunden. Die Spiegelgeschichte, eine ihrer bekanntesten Erzählungen, wird vom Augenblick des Sterbens bis zur Geburtsstunde rückläufig erzählt. In der späteren Phase setzt Aichinger die erzählerische Problematik in einen engen Zusammenhang mit der Erinnerung. Bei ihren Erinnerungstexten Film und Verhängnis und Unglaubwürdige Reisen geht es darum, mit der Chronologie des konventionellen Erzählens zu brechen. Denn die Erinnerung, die »imstande ist, zu reißen, zu stocken oder auszubleiben«, »splittert leicht« (FuV 2001, S. 69), sobald man versucht, sie unter Kontrolle
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zu bringen. In ihren Kurztexten verbindet Aichinger verschiedene Erinnerungsfetzen nicht nur aus der eigenen Biographie und der Biographie ihrer Familienangehörigen, sondern auch aus Lektüren und Kinobesuchen, in der Hoffnung, mit ihren schnappschussartigen Momentaufnahmen die Vergangenheit und die Gegenwart blitzlichthaft zu erhellen. 2. Corot : Aichingers Ekphrasis In der Malerei könnte man sie [=die Erinnerung] mit den Landschaften von Corot vergleichen : Jeder Punkt definiert ihre Präsenz. Aber ihr unvorhersehbarer Ablauf bleibt jedem Betrachter neu überlassen. (FuV 2001, S. 69)
Es mag merkwürdig wirken, dass Aichinger hier, obwohl sie das Punktuelle im Gemälde und dessen Potenzial der Bewegung hervorhebt, nicht auf die Maler des sogenannten Pointillismus wie Georges Seurat, Paul Signac und Camille Pissarro, sondern auf den eine Generation älteren Camille Corot Bezug nimmt. Zwar gilt der bildende Künstler, der mit seinen Pleinair-Studien für die Landschaftsmalerei in eine völlig neue Richtung weist, den Impressionisten als Vorbild, löste im Gegensatz zu diesen jedoch nicht die festgefügten Formen in Licht auf, sondern versucht in seinen Landschaftsgemälden »mit einer Skala kaum sehr abwechslungsreicher Töne ein Kolorist zu sein« (Baudelaire 1977, S. 168). Wenn alle Farbtöne durch eine ungewöhnliche Klarheit und Transparenz harmonisch aufeinander abgestimmt sind, so kommt durch die präzise Beobachtung jedem kleinsten Detail einzigartige Bedeutung zu. Es ist unvorstellbar, dass der Dichterin nicht bewusst war, worauf der Dichter Paul Valéry in seinem Essay »Im Umgang mit Corot« aufmerksam gemacht hat. Während der Theoretiker Delacroix eine einzige und allgemeingültige Sicht der Welt voraussetzt und sich bemüht, »mit tödlicher Sicherheit auf Nerv und Gemüt des Menschen zu wirken« (Valéry 1995, S. 358, Hervorhebung im Original), lässt Corot die Betrachter als Gefährten an seinem glückhaften Schauen teilnehmen. Die Einfachheit seiner Bilder wird nur durch seinen »Wille[n] zum Einfachen« hergestellt, der »die Vielschichtigkeit der Dinge und die Vielheit der möglichen Blicke und der Versuche« (ebd., S. 359) zwar stark reduziert, aber keineswegs nivelliert. Gerade weil er die Natur »unter mehreren Gesichtspunkten« (ebd., S. 361) sieht, können in seiner bildlichen Anordnung »die sichtbaren Dinge gelegentlich beieinanderstehen« (ebd., S. 362). So können seine Landschaftsbilder die Betrachter »jenseits aller Verkettung von Ursache und Wirkung und außer aller Einordungsmöglichkeit anrühren« (ebd.). Was Valéry
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an Corots detailfokussiertem, multiperspektivischem Gemälde erläutert, findet in Aichingers Kunstauffassung zahlreiche Entsprechungen. Als Beispiel für ihre Ekphrasis, bei der durch intensive Beobachtung das Bewegungspotenzial aus dem Gemälde abgelesen wird, kann der Kurztext »Entwurf einer Zukunft« aus dem Band Film und Verhängnis angeführt werden, der auf das Foto »East End Morning« von Bill Brandt aus dem Jahr 1937 referiert. Allerdings verwandelt sie das bildlich dargestellte Geschehen nicht einfach wie in traditionellen Bildbeschreibungen in eine chronologische Handlungsfolge, sondern beobachtet mit großer Aufmerksamkeit die einzige Figur im Foto, eine frisch verheiratete Frau, die mit einem Lappen die Hausdiele putzt. Mit detektivischer Detailbesessenheit werden der umgebende Raum wie die Tür und die Schwelle sowie die Körpersprache und der Körper der Frau mit Details wie ihrem beringten Finger und ihrem scharfen Blick in höchster Genauigkeit beschrieben. Danach hat Aichinger mögliche Zukunftsaussichten der jungen Frau in den kommenden Kriegsjahren vorgestellt, um so den im Foto festgehaltenen Moment in einen großen historischen Kontext zu stellen. Schließlich versetzt sie im statischen Foto die Eingangsschwelle, die eine Grenze zwischen innen und außen, zwischen Gegenwart und Zukunft markiert, plötzlich in Bewegung : »Aber der Betrachter könnte ihrer Existenz so weit zustimmen, daß der Blick auf den blanken Stein sich mit dem auf den Atlantik verbündet und so zum Überfließen bringt, was dem flüchtigen Blick nur blankgerieben erscheint« (FuV 2001, S. 120 – 121). In diesem Gespräch mit dem Bild hat sie konkretisiert, was sie über die Bilder Corots gesagt hat. 3. Webern : Der Engel des Verschwindens Wenn Aichinger auf die visuelle Kunst Bezug nimmt, um die Chronologie im Erzählen infrage zu stellen, so sucht Jonke vor allem in der Musik nach Unterstützung, was in Hinblick auf die beiden Zeitkünste näher liegt. In den Geschichten Jonkes kommen verschiedene Schleifen, Abschweifungen und Umkehrungen zum Einsatz, die dem fortschreitenden Ablauf der Handlung Einhalt gebieten : »Manche Tage fangen«, so lautet der Einführungssatz in der Miniatur »Ausbruchsversuch nach Klosterneuburg«, »morgens so an, als seien sie bereits zu Ende. Der Nebel bildet unüberquerbare Strahlengänge, und das sogenannte ›Licht‹ der schon zerplatzten, ausgeronnenen Nacht belegt schimmelpilzartig die Häuserwände« ( Jonke 1999, S. 47). Der Ausflug verfehlt wie in den meisten seiner Geschichten das eigentliche Ziel, weil unterwegs die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers immer wieder anderswohin gelenkt wird, wie etwa auf das Pissoir im Vorortsbahnhof. Die Bahnfahrt im Roman Der ferne Klang (1979) endet im Ausgangsbahnhof : »Der Zug, mit dem Sie gefahren sind, mußte draußen mitten in der Ebene eine
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Schleife machen und umdrehen, weil das Gleis in Richtung Nachbarstadt unterbrochen ist, nicht passierbar« ( Jonke 2002, S. 185). Die detailbesessene Beschreibung und die Wort- und Satzwiederholungen bringen die Geschichte zum Stottern und Innehalten. Zwar hat Jonke auf literarische Vorbilder wie H. C. Artmann, Ernst Jandl, Robert Musil, Julio Cortázar und Jorge L. Borges hingewiesen. Von einer Geschichte des Letztgenannten ist Jonke besonders fasziniert, in der der Genauigkeitswahn zur absurden Idee eines lebensgroßen Stadtplans führt (vgl. Jonke 1996, S. 35 – 36). Im Hinblick auf die Retardierung und Suspendierung der Zeit sind aber die musikalischen Modelle von ebenso großer oder vielleicht noch größerer Bedeutung. Sowohl im Feuilleton als auch in der Forschung wird Jonke auf der thematischen und stilistischen Ebene und besonders in Hinblick auf die Musik oft mit Thomas Bernhard verglichen. Martin Esslin, der im Manierismus der beiden Österreicher eine fortgesetzte romantische Tradition und damit den politischen Eskapismus nach der 68er-Revolution sieht, zeigt im Vergleich zwischen den Erzählungen Jonkes und den Theaterstücken Bernhards, dass beide ein eng begrenztes Sprachmaterial in einer Reihe von Variationen in immer neuen Relationen wiederholen. Allerdings findet er Bernhards Stücke »vielleicht noch rigoroser nach musikalischen Strukturprinzipien gebaut als Jonkes Prosa« (Esslin 1980, S. 122). Aus heutiger Sicht bedarf diese Beurteilung einer Korrektur, denn dahinter steckt Esslins eigenes konventionelles Verständnis von klassischer Musik. Im musikalisch-poetologischen Essay Die Überschallgeschwindigkeit der Musik geht Jonke davon aus, dass die Musik in der Moderne sich vor die Aufgabe gestellt sah, mit Tönen und Klängen »›Das Unhörbare‹ oder Unhörbares, gewissermaßen ›Unerhörtes‹, unerhört erhörbar, erahnbar bzw. empfindbar zum Fühlen [zu] bringen« ( Jonke 1996, S. 82), ebenso wie schon die Malerei mit Farben und Konturen »Unsichtbares«, die Literatur mit Worten »Unsagbares« auszudrücken begann. Er richtet sein Augenmerk auf die Neue Musik um 1900, als Schönberg, Berg und Webern versuchten, »die bis dahin herrschenden herkömmlichen und allzu bekömmlich gewordenen musikalischen Gesetze umzubauen, umzuwerfen, teilweise auszuschalten« (ebd., S. 83). Ihr genrespezifisches Schicksal, sich so linear wie die Literatur zu entwickeln, habe die Musik seit langem insofern überwinden können, als Komponisten wie Beethoven und Mozart im Kopf »ein genaues, nicht lineares, sondern punktuelles oder viel besser vertikales Klangbild« (ebd., S. 84) eingefroren und konserviert hätten, wenn auch dieses im realen Konzert nicht realisierbar bleibe. Es liege der Neuen Musik gerade daran, den Zuhörern die punktuelle und vertikale Musik hörbar zu machen. Schönberg habe begonnen, Musikstücke zu schreiben, die »weniger linear, sondern beinahe zwangsläufig vor allem vertikal zu hören« sind, »indem eine kurze Akkordfolge immer neuerlich dadurch oszillierend ineinander vorschwebend vernehmlich wird« (ebd., 86). Es sei aber vor allem Anton Webern, der diese Ansätze aufs Konsequenteste entwickelt hat.
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In den stark reduzierten Kompositionsgebilden Anton Weberns ist, so führt Jonke weiter aus, »vertikales Komponieren und auch dessen nicht nur vertikale, sondern manchmal auch quer durch den Raum verspannte Musikwiedergabe und deren meist unbewußte auch vertikale Aufnahme durch den Hörenden« (ebd., S. 87) selbstverständlich geworden. Während herkömmliches Musizieren den Aufbau von Klangeinheiten in einer ganz bestimmten Zeiteinheit bedeutet, sind Anton Weberns musikalisch mikroskopisch akustische Keimzellen gefrorene Zeit. (Ebd.)
Um die Zeit in der Zeitkunst Musik aufzuheben, verwendet Webern Stilmittel wie Krebsgang und Umkehr. Bei ersterem handelt es sich darum, dass sich ein Musikstück »ab genau einem Mittelpunkt« »exakt im Krebsgang rückspiegelt nach hinten zu seinem Schlußanfang oder seiner Anfangsendstation voraus zurückbewegt«, damit »die sogenannte Durchführung eines zuvor erklungenen Expositionsthemas melodisch sich in einem oder zwei übereinandergelagerten Akkordfragmentzersplitterungen vollzieht« (ebd.). Hier entgleitet Jonkes auffällig konzentrierte Sprache dem üblichen Erklärungsmodus und ahmt auf der stilistischen Ebene die Art und Weise nach, wie Webern eine musikalische Reihe und deren Permutationen übereinanderstapelt und den Akkord in Fragmente zersplittern lässt. Im Essay »Anton von Webern« versucht Adorno den österreichischen Komponisten von seinem Image zu befreien, das unter seinen Anhängern in der Nachkriegszeit wie dem seriellen Komponisten Boulez geläufig war, wonach Webern einen radikaleren Traditionsbruch vollzogen habe als sein Lehrer Schönberg. Webern hat zwar durch sein Formgesetz des Schrumpfens die Musik aus dem Bann ihres architektonischen Wesens als Zeitkunst befreit und der augenblicklichen Intensität die zeitliche Ausdehnung und Entfaltung geopfert, aber »seine Werke erschienen gleichsam an ihrem ersten Tag so wie das, was am Ende, durch einen historischen Prozeß, als Gehalt von Musik sonst übrig bleiben mag« (Adorno 1978, S. 113). In der »Phänomenologie des Geistes« verwendet Hegel eine Metapher, um Kritik an der Schreckensherrschaft während der Französischen Revolution zu üben : »Kein positives Werk noch Tat kann also die allgemeine Freyheit hervorbringen ; es bleibt ihr nur das negative Tun ; sie ist nur die Furie des Verschwindens« (Hegel 1980, S. 389). Die Gefahr, dass das Neue stets alles zerstört und vernichtet, was sich in der Tradition bewährt hat, vermeidet Webern insofern, als er nicht völlig mit der Tradition bricht, sondern durch »die Konkretion eines erfüllten Augenblicks« nur »alle bloß abstrakt anbefohlene Entfaltung« (Adorno 1978, S. 113) aufwiegt, die die traditionelle Musik
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nie in Zweifel gezogen hat. Insofern gelingt es Webern, so Adorno, die »Furie des Verschwindens« in seinen Engel zu verwandeln (vgl. ebd.). Im Rekurs auf Webern und in der Anwendung seiner »entfliehenden Musik« (ebd.) in Miniaturformaten auf die eigene Literatur ist Jonke radikaler als der selbstproklamierte »Geschichtenzerstörer« (Bernhard 2015, S. 60) Thomas Bernhard. Jonke hat sich lange mit einem Romanprojekt zu Anton Webern beschäftigt, das angekündigte Buch ist jedoch nie erschienen. Allerdings kommt 1986 das Drehbuch zu dem vom Hessischen Rundfunk produzierten Fernsehfilm »Geblendeter Augenblick – Anton Webens Tod« zustande. In der Zeitschrift Manuskripte wurde 1987 eine veränderte Fassung als »eine Filmerzählung« veröffentlicht, bis die gleichnamige Novelle 1996 schließlich in den Sammelband Stoffgewitter aufgenommen wurde, allerdings ohne editorische Anmerkungen. Darin orientiert sich Jonke auf der stilistischen Ebene an Weberns Modell der äußersten Konzentration, um die Chronologie in der Epik ad acta zu legen. Ein Musterbeispiel dafür ist die Beschreibung vom Umzug des Komponisten von Wien nach Prag, die in der Filmversion gestrichen wurde : Der Möbelwagen muss, bevor er entladen werden konnte, wieder zurück nach Wien : Herr Doktor, sagt er [=Zemlinsky], sehen Sie die Möbel dort, diese Möbel sind doch soeben erst angekommen, nicht wahr, kurz vorhin erst, wie man sagt, kürzlich eben, aber werden sie nicht satt ausgeladen, haustoreinwärts, stiegenhausaufwärts weiter, nun ganz unerwartet jedoch dem Haustor schon wieder krebsgängig umgekehrt, reziprok entfallen, jaja hausauswärts rückfallzurückziehrückdrängend ruckweis gerückt, ruckweis rückend, jawohl, türhinterrücks entrückt, auf die Gasse zurückentrückt, rückverwiesen, abgerückt, jedenfalls deutlich zurückverladen, obwohl der Lastwagen soeben erst angekommen ist, […]. ( Jonke 1996, S. 134)
Der humoristische Effekt ergibt sich nicht nur aus den sich immer stärker akkumulierenden Sprachspielen, die Passage beweist auch die Behauptung des Autors, »um wieviel komischer alles wurde, je intensiver ich es unter die Lupe nahm« (ebd., S. 20). Je genauer etwas beschrieben wird, desto verschwommener kann das Beschriebene auch werden – wie wenn man einen Gegenstand immer näher ans Auge hält –, und die Art und Weise, wie ich etwas durch die Art und Weise der Genauigkeit verschwimmen lasse, ergibt dann den Charakter des Umkippens, Verfremdens oder Abrutschens in die Komik des befreienden Witzes oder der bösen Karikatur. (Ebd.)
Die Webern-Novelle kennt im Unterschied zur konventionellen Biographie keine Klimax im Tod des Helden. Die erste Szene, in der Webern in Mittersill von einem betrunkenen US-Soldaten erschossen wurde, kehrt am Ende in einer variierten Form
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wieder. Diese Geschichte dreht, wie die meisten seiner Geschichten, nicht nur wieder eine Schleife, sondern weist auch eine kurze, einmontierte Passage auf, in der eine geläufige Vorstellung als »die falscheste [Ansicht] aller [um den Tod] behaupteten Gerüchte« abgelehnt wird, nämlich dass »am letzten Punkt eines erreichten Dagewesenseins ihnen alles sich so schnell entgegenverkürzt« (ebd., S. 96). In »Projektor«, einem kurzen Erinnerungstext über einen Kinobesuch in der Jugend, versucht der Kinobesitzer, um die nicht zahlenden Kinobesucher zu bestrafen, nach der Vorführung die Filmrollen wieder zurückzuspulen, und zwar »in einem vielfach verschnellert rasenden Rücklauf des gesamten Films innerhalb weniger Sekunden« ( Jonke 2004, S. 5). Währenddessen begann der ganze Film sich aus den Köpfen der Zuschauer »in voller Länge im Rückwärtsgang wieder aus den Gehirnen heraus zu ziehen« und »in den Köpfen, wo die Erinnerung an den eben gesehenen Film ihren Platz hätte einnehmen sollen, öffnete sich stattdessen ein migränegähnender Hohlraum« (ebd.). Selten wurde die Vorstellung des zielorientierten Lebens als Verkettung von Ursache und Wirkung so radikal außer Geltung gesetzt wie in dieser Szene. Nicht nur innerhalb eines Werks wird der Ablauf der Handlung durch die retardierenden Stilmittel wie Abschweifung und Wiederholung zum Stillstand gebracht. Weder das Romanprojekt Das System von Wien, das für den Autor wichtiger als das erfolgreiche Werk Geometrischer Heimatroman ist, noch das Webern-Projekt konnte er vollenden. Als er 1980 das alte Werk neu editierte, nahm er einige Änderungen vor ; die Fragmente aus Das System von Wien hat er »neu geordnet und redigiert«, an anderen Arbeiten wurden kleine stilistische Änderungen vorgenommen oder »eine Passage neu aufgenommen, die ich damals aus mir heute unverständlichen Gründen ›vergessen‹ habe hineinzugeben« ( Jonke 1980, S. 7) ; und in der Vorbemerkung hat der Autor ein Postskript hinzugefügt : Im weiteren Verlauf stellte sich immer klarer heraus, daß mir große Partien über weite Strecken nicht mehr gefielen und auch nicht mehr genügten. So begann ich mir zu wünschen, das alles schon damals ganz anders gemacht zu haben, und noch ehe ich mich umschaute, hatte ich begonnen gehabt, viele Sachen noch einmal neu und anders zu schreiben. Daß dabei dann auch viel ganz Neues dazugeschrieben wurde, ist für das ursprünglich nur als Revidierungsarbeit geplante Vorhaben nunmehr beinahe selbstverständlich. (Ebd., 8)
Außerdem hat er oft aus demselben Stoff eine prosaische und eine dramatische Fassung hergestellt. Was dem einzelnen Erzähltext verweigert bleibt, wird so durch eine vertikale Simultaneität realisierbar. Ein- und dasselbe Thema zeigt so gleichzeitig viele Gesichter, wenn man die verschiedenen Fassungen wie layers als transparente Glasscheiben mit Bildern übereinander gelagert liest.
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4. Sprache als Kristallgitter Wenn Jonke Weberns Musik als »akustisch wahrnehmbare[s] kristalline[s] Gebilde[] aus gefrorener Zeit« ( Jonke 1996, S. 88) bezeichnet, so erinnert dies an Aichingers Überzeugung, dass Schreiben und Lesen »nicht das geringste mit Gemütlichkeit« zu tun haben, sondern nur »mit Genauigkeit, die wie Jonkes Sätze Kristallgitter bildet und durchsichtig macht« (VSch 1997, S. 8). Der Ausdruck »Kristallgitter« ist zwar kein Neologismus, sondern bedeutet in der nüchternen Fachsprache so viel wie eine dreidimensionale Anordnung von mathematischen Punkten, es ist jedoch nur schwer vorstellbar, dass sich Aichinger bei dieser Wortbildung Paul Celans Poetik nicht bewusst war. Die Begriffe »Kristall« und »Sprachgitter« sind für das Verständnis eines dialogisch ausgerichteten Sprachraums von Relevanz, der »ein durch Leerstellen und Pausen bezeichnetes Schweigen als wesentliche Konstituente mit einbezieht« (vgl. Lehmann 2012, S. 78). Wie bereits erwähnt liegt das literarische Programm Jonkes auch darin, mit sprachlichen Mitteln das Unaussprechliche auszudrücken. Wenn er mit Wörtern und Sätzen wie mit Zaunpfählen und Zäunen einen Bereich einkreist, so geht es nicht um die Artikulierung und Territorialisierung dessen, was unaussprechbar ist, sondern darum, es »wenigstens innerhalb seiner Umrisse scherenschnittartig empfindbar, fühlbar und somit beinahe ersichtlich« zu machen ( Jonke 1992, S. 35). Der Titel von Aichingers Laudatio ist in diesem Kontext zu verstehen : »Das Verhalten auf sinkenden Schiffen.« Aichingers Bemerkung, dass Jonke sich auf einem sinkenden Schiff verhalte, wie es der Crew vorgeschrieben ist, weist zwar zunächst auf die bekannte berufsethische Pflicht der Schiffbesatzung hin. Dieser humanitären Deutung steht jedoch eine andere Bemerkung Aichingers entgegen, wonach Jonkes vertrackte Sprache jedes Pathos entlarve, es splittern und zermahlen lasse (vgl. VSch 1997, S. 11). Aichinger vergleicht deswegen Jonkes Sprache mit den Nadelrissen an den Außenwänden, die angeblich die Titanic zum Versinken gebracht hatten. Mit der Sprache die Basis der Welt und auch der eigenen Existenz zu erschüttern und zu den Abgründen zu führen und zugleich diesen Untergang so gelassen wie die Schiffsbesatzung zu beobachten, darin liege die subversive Kraft seiner Sprache. Sowohl für Aichinger als auch für Jonke ist Heimat keine selbstverständliche Voraussetzung für die Existenz. »Der Ort, an dem man für immer bleibt, wird«, so Aichinger, »ohnehin rasch der fremdeste von allen, ohne Absprungschanze, etwas für Ausbruchsversuche, aber zementiert wie die Hochsicherungs-Haftanstalten in den USA« (UR 2005, S. 49). Auch Jonke glaubt nicht an eine »normale Heimat«, sondern nur an »Heimaten«, »die durch andere Heimaten unterbrochen werden oder auf vielfältige Weise miteinander verknüpft und verknotet sind« ( Jonke 1996, S. 8). Am besten wird ihm »durch die Ansiedelung meiner Person in einem erdachten Landstrich der Spra-
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che« (ebd., S. 7) ein Heimatgefühl verliehen. Allerdings ist auch diese Heimat als ein »ständig vor sich selber flüchtender Ort« (ebd., S. 31) nicht feststellbar, ebenso wenig wie die flüchtende Musik Anton Weberns. Das Verschwinden, das in ihrer letzten Werkphase »im Zentrum von Aichingers Poetik« (Ivanovic 2021, S. 297) steht, ist deswegen von doppelgesichtigem Wert. Die Erfahrung, dass ihre Großmutter nach Minsk deportiert wurde und für immer verschwand, prägt einerseits durchgehend ihr Werk. In ihren Texten fungiert das Verschwinden jedoch »nicht allein als Marker für die Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten« (ebd., 299), sondern auch als Hoffnungsträger. Es bleibt der leidenschaftlichen Leserin des pessimistischen Philosophen Cioran nichts anderes übrig, als selbst so schnell wie möglich aus der Welt zu verschwinden. Ihre Aussage, dass sie im Kino »den Ermordeten ihr Verschwinden nur stümperhaft nach[macht]« (FuV 2003, S. 71), muss wörtlich genommen werden. Wenn sie gelegentlich darauf aufmerksam macht, dass der Film abbricht, kann man dies mit dem Wunsch verbunden verstehen, die fortschreitende Geschichte einzudämmen. Es ist kein Zufall, dass das Wasser und insbesondere die Hochsee, die aufgrund des Überlebensinstinkts Furcht auslösen, in der Topographie Aichingers einen utopischen Ort im Gegensatz zur Heimat markieren. »Hochsee : das ist die einzige Sucht, die meiner Sucht nach dem Kino gewachsen ist : ein Ort ohne Heimatort« (UR 2005, S. 49). Auch bei Jonke spielt das Meer eine wichtige Rolle, und zwar im Kontext der Sprachheimat. Denn wie der für sein Werk zentrale Philosoph Mauthner einmal gesagt hat, bewegt sich die Sprache zwischen den einzelnen Menschen »wie der Ozean zwischen den Kontinenten«. Der Ozean verbindet die Länder, so sagt man, weil ab und zu ein Schiff herüber- und hinüberfährt und landet, wenn es nicht vorher versunken ist. Das Wasser trennt, und nur die Flutwelle, die von fremden Gewalten emporgehoben wird, schlägt bald da, bald dort an das fremde Gestade und wirft Tang und Kies heraus. Nur das Gemeine trägt so die Sprache von einem zum anderen. Mitten inne, wenn es rauscht und stürmt und hohler Gischt zum Himmel spritzt, wohnen fern von allen Menschenländern Poesie und Seekrankheit dicht beisammen. (Mauthner 1923, S. 40)
Selbst auf dem Festland darf die Poesie nicht festverwurzelt sein, sondern muss seekrank bleiben, wie es einmal bei Kafka heißt (Vgl. Kafka 1994, S. 389). Insofern gibt es für Jonke keinen Grund, die vertrackte Sprache als einen weltabgewandten Manierismus abzulegen, sondern er versucht, angesichts der historischen Gegebenheiten, wie Corot, Webern, Celan und vor allem Aichinger durch die sprachliche Reduktion auf Details jede behördliche Herrschaft und deren Amtssprache zu unterlaufen.
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Literatur Adorno, Theodor W. (1978) : Anton von Webern, in : Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 16. Frankfurt/M., S. 110 – 125. Aichinger, Ilse/Gert Jonke (VSch 1997) : Das Verhalten auf sinkenden Schiffen. Reden zum ErichFried-Preis. Salzburg und Wien. Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Baudelaire, Charles (1977).: Juvenilia-Kunstkritik : 1832– 1846. Übers. v. Friedhelm Kemp, München. Bernhard, Thomas (2015) : Drei Tage, in : Ders.: Werke, hg. v. Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Bd. 22 II, Berlin, S. 59 – 60. Esslin, Martin (1980) : Ein neuer Manierismus ? Randbemerkungen zu einigen Werken von Gert F. Jonke und Thomas Bernhard, Modern Austrian Literature. Sonderheft, Vol. 13. No. 1, S. 111 – 128. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1980) : Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen, Hamburg. Ivanovic, Christine : Verschwinden, in : Erdle, Birgit/Annegret Pelz (Hgg.) : Ilse Aichinger Wörterbuch, Göttingen 2021, S. 297 – 301. Jonke, Gert (1980) : Die erste Reise zum unerforschten Grund des stillen Horizonts : von Glashäusern, Leuchttürmen, Windmaschinen und anderen Wahrzeichen der Gegend. Salzburg. Jonke, Gert (1987) : Geblendeter Augenblick – Anton Weberns Tod : Eine Filmerzählung, Manuskripte 27, H. 95, S. 3 – 11. Jonke, Gert (1992) : »Ich verstehe oft auch nicht alles, was ich mache.« Interview mit Gert Jonke, in : Kultur H. 7, S. 34 – 36. Jonke, Gert (1996) : Stoffgewitter. Salzburg. Jonke, Gert (1999) : Himmelstraße – Erdbrustgasse oder das System von Wien. Salzburg/Wien. Jonke, Gert (2002) : Der ferne Klang. Salzburg. Jonke, Gert (2004) : Der Projektor, Manuskripte 44, H. 164, S. 5. Kafka, Franz (1994) : Gespräch mit dem Beter, in : Ders.: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt/M. 1994, S. 384 – 400. Lehmann, Jürgen (2012) : Sprachgitter, in : May, Markus/Peter Großens/Jürgen Lehmann (Hgg.) : Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar, S. 72 – 80. Mauthner, Fritz (1923) : Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Stuttgart/Berlin. Valéry, Paul (1995) : Im Umgang mit Corot, in : Ders.: Werke 6 : Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M., S. 355 – 378.
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Stefano Apostolo, Franz Haas
»Da flog das Wort auf.« Schreiben und Schweigen bei Josef Winkler und Ilse Aichinger Eine »fanatische Genauigkeit« Unter den vielen Interviews, die Ilse Aichinger im Laufe ihres langen Lebens gab, sticht ein Gespräch besonders hervor, das sie im Oktober 1996 in Wien mit der deutschen Literaturkritikerin Iris Radisch führte und das am 1. November – anlässlich ihres 75. Geburtstags – in Die Zeit unter dem Titel »Ich will verschwinden« erschien. Richard Reichensperger, damals Aichingers enger Vertrauter und erster Herausgeber ihrer Werkausgabe, hatte zu dieser Gelegenheit einen Nachmittagstermin im Café Imperial arrangiert, wo die Schriftstellerin und die Kritikerin zusammentrafen und – von Klaviermusik begleitet – sich ausführlich unterhalten konnten. Das Schreiben, das Nicht-Schreiben, das Nachdenken über das Schreiben sowie die Lebens- und Überlebensvorstellungen Aichingers, ihre scharfe Menschenkenntnis, ihre Ansichten zur entblößten menschlichen Natur im Krieg, zur damit verknüpften Hoffnung und zur enttäuschenden Gegenwart sind die Punkte, die während des Gesprächs mehrmals thematisiert werden und Aichinger teilweise stark aufwühlen. Gegen Ende des Interviews, als es um die Rolle guter Bücher im Alltag geht, nennt Aichinger neben dem von ihr geliebten, häufig zitierten Joseph Conrad, bei dem »kein einziger unnützer Satz steht«, auch einen Lieblingsnamen aus der jüngeren Autorengeneration : »Bei den Neueren ist es Josef Winkler. Es ist eine unglaubliche, fast fanatische Genauigkeit in seinem Werk« (Aichinger/Radisch 2016, S. 45). Diese Worte, später von der Kritik öfter wieder aufgegriffen, fanden auch Eingang in Ulrich Weinzierls Laudatio auf Winkler anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises (vgl. Weinzierl 2008), die genau am 1. November 2008 stattfand, wieder an Aichingers Geburtstag. Vor der offiziellen Dankesrede drückte der Autor seine Freude aus, ausgerechnet an diesem Tag den Preis zu erhalten, und zeigte auf einen großen Topf voller Gladiolen, der auf der Bühne war, mit den Worten : »Die Blumen stehen schon da«, was nichts anderes hieß, als dass »es eigentlich an der Zeit ist, dass die Ilse Aichinger den Büchner-Preis kriegt« (Winkler 2021, 00 :04 :50-00 :05 :06). Diese Äußerung kann als Reaktion auf Weinzierls Worte und als Geste der Huldigung für ein literarisches Vorbild interpretiert werden, war aber auch als implizite Zurechtweisung
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Stefano Apostolo, Franz Haas
an die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gemeint, die es bis dahin – und schließlich bis zu ihrem Tod – immer versäumt hatte, die Dichterin auszuzeichnen. Die von Aichinger gerühmte »fanatische Genauigkeit« ist in der Tat ein unübersehbares Merkmal der Prosa des Kärntner Autors. Bereits die rasch hintereinander erschienenen Romane seiner Debüt-Trilogie – Menschenkind, Der Ackermann aus Kärnten, Muttersprache – sind von Sprachbesessenheit geprägt : Josef Winkler bedient sich einer Sprache, die langsam und unermüdlich um ihre eigene Form ringt, einer kreisenden, rhythmischen, wohldurchdachten Sprache voller Wiederholungen und Variationen, die in ihrer obsessiven Reiteration allerdings nie ganz identisch ist. Und mit dieser Sprache, in die fast unauffällig Wörter seines Dialekts, seiner eigentlichen Muttersprache immer wieder eingefädelt werden – die ›Muata‹, der ›Tate‹, die ›Gote‹, die ›Kotz‹ –, reißt er in das Wesen seines Heimatlandes tiefe Furchen : Das Naturidyll wird zerstört, die jahrhundertealten sozialen und familiären Strukturen der tiefsten österreichischen Provinz auf den Kopf gestellt, die unnachgiebige Allgegenwärtigkeit eines mit dem Tod kuschelnden Katholizismus mit einem gleich unnachgiebigen, stark expressionistischen Kreuzzug bekämpft und jene menschlichen Beziehungen, die lange als nicht salonfähig galten, mit kruder und präpotenter Darstellungskraft enttabuisiert. Beim genauen Hinsehen sind diese Motive allerdings nichts anderes als Deklinationen zweier Themen, die die ältesten der Weltliteratur sind, nämlich Eros und Thanatos, zwei Pole, um die sich Winklers Innen- und Außenwelt drehen, »denn der Kosmos, den er [Winkler] in obsessivem Zwang beschreibt, ist zwar sein eigener, doch die poetische Kraft seiner Bilder verleihen dem Geschriebenen jene Universalität, die das Kunstwerk anstrebt« (Haas 1992, S. 97). Diese wahrhafte Poetik der Wiederholung – die auch in den darauffolgenden Büchern wie Die Verschleppung, Der Leibeigene und Friedhof der bitteren Orangen eine Bestätigung findet – geht bei weitem über den überladenen und metaphorischen Sprachgebrauch hinaus und ermöglicht dem Leser, Schritt für Schritt, Buch nach Buch, sich ein haargenaues Bild von Winklers Welt zu machen, ins kreuzförmige Dorf Kamering zu kommen, das Haus mit der sechzehnstufigen Holztreppe zu betreten und schließlich in den intimsten Raum, in das Elternzimmer mit Raffaels Gemälde der Madonna della seggiola einzudringen. Die Vorliebe für die Repetition bringt das litaneimäßige von Winklers Prosa ans Licht, »sichtbar in Wiederholungen ebenso wie in der Syntax mit vielen Einschüben, deren Wirkung besonders deutlich wird, wenn man den Autor bei Lesungen erlebt« (Schwens-Harrant 2015, S. 354). Das ist eine stilistische Eigenschaft, die der Autor mit Aichinger teilt, in deren Werken und Interviews sich oft Wiederholungen verbergen, Ansichten, Details und Anekdoten, die zu verschiedenen Zeitpunkten wieder auftauchen und an mehreren Stellen festgehalten werden. Man denke an persönliche Erinnerungen und autobiographische Episoden, die an mehreren Stellen mit kleinen
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Abweichungen erzählt werden, oder an Autoren wie Bernhard und Stifter, die in ihren Schriften mehrmals aufblitzen. Das Konzept der Wiederholung ist allerdings auch die Chiffre Thomas Bernhards, eines weiteren von Aichinger geliebten Autors, dessen Werk seit den lyrischen Anfängen der 1950er Jahre – eindeutig stärker als bei Aichinger – den hämmernden Ton der Litanei aufweist, der später auch in die Prosa aufgenommen wurde und zum Wahrzeichen seiner Sprache avancierte (vgl. Apostolo 2021, S. 177). Gerade wie Thomas Bernhard vor ihm und mit ihm begibt sich auch Josef Winkler auf eine »sakrale Sprachmission« (Haas 1999), die allerdings nicht nur – wie bei Bernhard – auf das Sezieren und Bloßstellen der österreichischen Seele, sondern in ihrer blasphemischen und homoerotischen Radikalität auf einen noch extremeren Abriss besagter Seele ausgerichtet ist. Wenden sich Bernhards Schimpftiraden gegen ganz Österreich, so stürzt sich Winkler mit der größten Eindringlichkeit auf Kärnten. Das kleine Bundesland, an das die drei größten Sprachregionen Europas angrenzen, kann natürlich als pars pro toto für das gesamte Land gelten, aber es ist vor allem Winklers Heimatland, das ›Weltenstück‹, wie Bernhard es nennt, das Winkler mit seinen präzisen Familiengenealogien und ewiggleichen Bräuchen gründlich kennenlernte und das er überhaupt als ›seines‹ bezeichnen kann – im Unterschied zu Bernhard, der nirgends wirklich Wurzeln hatte, der sich stattdessen in seinen Werken oft eine literarische Heimat erdichtete. Bei Winkler und Bernhard geht es dennoch nicht einfach um Hass und systematisches Zerstören, es ist vielmehr eine Hassliebe, die beide Autoren mit ihrem Land verbindet und ihre Werke durchdringt. Aichinger hat dieses Verhältnis bei Bernhard sehr deutlich geortet, indem sie in »Bernhard und Stifter« (später : »Thomas Bernhard«) schreibt : »Thomas Bernhard attackiert nicht, was ihm auch nur im geringsten Maß gleichgültig ist. Er attackiert, woran er leidet, und er leidet sehr oft an dem, dem er am meisten zugeneigt ist« (KMF 1991, S. 109). Diese Analyse ließe sich auch auf Winkler gut anwenden, und als großer Liebesakt gegenüber Kärnten soll gerade die Rede zum 500. Jubiläum der Stadt Klagenfurt 2018 verstanden werden, mit der der Autor die Abwesenheit einer öffentlichen Stadtbibliothek in der Kärntner Hauptstadt beklagte. Der Text ist durchsetzt mit Übertreibungen und polemischen Provokationen – wie z. B. dem Vorschlag, das sporadisch genutzte Klagenfurter Fußballstadion mit Skeletten aus dem nahen Friedhof zu füllen –, er spielt auf die desaströse Verstaatlichung des Bankkonzerns Hypo Alpe Adria an und fordert nicht zuletzt dazu auf, die Urne von Jörg Haider, dem ehemaligen FPÖ-Landeshauptmann, »in eine bewachte Gefängniszelle zu verlegen, denn es könnte ja sein, daß er wie ein Phönix aus seiner Asche steigt und wieder sein Unwesen treibt und als blaues Wunder verkauft […]« (Winkler 2018). Die Rede löste sofort große Empörung aus, aber es war vor allem die Kritik an Haider, die erbitterte Reaktionen seitens der FPÖ verursachte : Winkler wurde angeklagt und als »linke[r] Hassprediger« (Pohl 2018) bezeichnet.
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Stefano Apostolo, Franz Haas
Angesichts dieses Skandals ließe sich ungefähr 30 Jahre nach Bernhards Tod das nicht gerade reibungsfreie Verhältnis zwischen Politik und Kunst in Österreich – das auch Aichinger in ihrem offenen Brief an das Organisationskomitee »Frankfurt 95« anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1995 sehr scharf kritisiert hatte (Aichinger 1995) – mit einem Bernhard-Zitat resümieren : »In Österreich hat sich nichts geändert« (Bernhard 2015, S. 608). Dabei war Winklers Ansprache einfach darauf ausgerichtet, durch die Übertreibung als künstlerisches Instrument politische Gewalt sowie soziale und kulturelle Widersprüche sichtbar zu machen : Klagenfurt scheine sich alles leisten zu können bis auf eine Stadtbibliothek, und daran habe die Politik gar kein Interesse. Wie er es schon 2009 im Rahmen der Eröffnungsrede zum Ingeborg-Bachmann-Preis angedeutet hatte (vgl. Bartels 2009), wollte Winkler mit seinen Worten die Öffentlichkeit wachrütteln und auf ein paradoxes kulturelles Manko einer Stadt im Herzen Europas aufmerksam machen, die doch mit einigen der größten Namen der Weltliteratur verbunden ist, wie Robert Musil, Ingeborg Bachmann und Peter Handke. Lesen, Schauen, Schreiben Winklers Interesse an der Demokratisierung des Wissens und an der niederschwelligen Zugänglichkeit von Bibliotheken und Büchern geht allerdings bei weitem über das soziale und politische Engagement hinaus. Es ist vielmehr der Ausdruck einer existenziellen Not, deren Wurzeln tief in der Kindheit des Kärntner Autors liegen : »Es gab in diesem im Winter tiefverschneiten, kreuzförmig gebauten Kärntner Dorf Kamering […] keine Romane zu lesen, keine Kinderbücher, keine Bibel, nur Gebetsbücher mit Litaneien« (Winkler 2017, S. 141). Gerade die Absenz von Lesestoff, der kein Gebetsbuch oder Pfarrblatt ist, erschwerte und förderte zugleich die Suche (und die Sucht) nach Büchern. Zu diesem Wissensmedium kam der Bauernsohn Winkler, dessen Familie kein Geld für Bücher ausgeben konnte, nach eigenen Angaben nur über mühsame Umwege, wie mit dem Erlös von Pfarrblättern, die er in abgelegenen Bergdörfern verkaufte, und oft auf sehr abenteuerliche Weise, nämlich durch Diebstahl, wie es in der Trilogie Das wilde Kärnten erwähnt und später in Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär explizit geschildert wird : Jahrelang konnte ich unbemerkt dem Vater Geld stehlen, weit über zweihundert Bücher standen schließlich auf dem selbstgebastelten Bücherregal im Zimmer, […] es muß wohl im Laufe dieser drei, vier Jahre soviel Geld gewesen sein, daß der Vater mindestens den Stier davon hätte bezahlen können […]. (Ebd., S. 165 – 166)
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Auch in vielen Interviews und Gesprächen erzählte Winkler, zu Hause und im Pfarr hof auf kriminelle Mittel zurückgegriffen und Geld gestohlen zu haben, um seine ersten Bücher von Karl May kaufen zu können. Obwohl er später nochmals Mays Bücher las und sie sprachlich uninteressant fand, war es gerade diese erste Lektüre – die vielmehr dem Zufall und der damaligen Mode als einer bewussten Entscheidung zu verdanken war –, die sich für seine Entwicklung als wegweisend erwies, wie der Autor, sich an Elias Canetti anlehnend, erklärte : »[…] vom Zufall des Gelesenen hängt es ab, was man ist« (Vgl. Winkler/Rubinowitz 2014, 00 :08 :19-00 :08 :26). Winklers bewusst autobiographisch abgefasste Werke lassen wiederholt durch sickern, dass es gerade das Lesen war, das ihm neue Welten erschloss und die Flucht aus einer gottergebenen und zugleich gottverlassenen Heimat ermöglichte. Der Umgang mit Büchern hatte somit eine rettende Wirkung, wie dies auch bei Ilse Aichinger beobachtet werden kann. Allerdings waren Bücher schon von der Kindheit an ein wichtiger Bestandteil ihrer Welt : Anders als Winkler wuchs die gut 30 Jahre ältere Aichinger in einer bürgerlichen Familie in Linz auf, ihre Mutter war Ärztin, ihr Vater Lehrer und Schriftsteller mit einer stark ausgeprägten Neigung zur Bibliophilie, die ihn bis zur Verschuldung trieb und 1927 auch die Ehe kostete (vgl. Ivanovic 2021, S. 72). Bücher waren in Aichingers Jugend eine konstante und prägende Präsenz, zu Hause sowie im Urlaub, den sie als Kind oft in Altaussee verbrachte, wo sie sich die Zeit gern mit Lesen vertrieb : »Die Natur des Ausseerlandes war mir fremd, ich begann damals, Piraten- und Gespenstergeschichten zu lesen, und mein Verlangen nach stürmischen und von Wolken verhangenen Nord- oder Ostseelandschaften nahm zu. Friesland, die Halligen, die Mark Brandenburg, dorthin wollte ich. Und auch, daß es endlich Herbst würde« (FuV 2001, S. 26). In diesen Zeilen ist der schönste Zeitvertreib jedes Kindes kondensiert, die Flucht aus dem vertrauten Alltag ins oft idealisierte aber vor allem vielversprechendere Abenteuerliche, jene Sehnsucht nach dem unbekannten Exotischen, das auch die vom jungen Winkler heißgeliebten Bücher Karl Mays durchdringt. Später im Leben hielt Aichinger die Erinnerung an ein für sie bedeutsames Buch schriftlich fest, ein Märchenbuch, »dunkelgrün mit dem abblätternden goldenen Titel«, das »auf dem Linzer Holzfußboden« lag, mit nur wenigen Märchen und »nicht in der Grimmschen Urfassung« : »Sie wurden uns auch nicht vorgelesen, sondern erzählt, aber wer immer sie erzählte, legte das dunkelgrüne Buch auf die Knie oder neben sich« (Wolf 2004, S. 5). Die Verbindung zwischen Lesen und Hören, zwischen genauem Hinsehen und Hinhören, eine starke Dichotomie in Aichingers Poetik, prägt schon ihre Kindheitsjahre. Sowohl bei Aichinger als auch bei Winkler gesellte sich bald ein weiteres visuelles und auditives Erlebnis hinzu, das die Kindheitsphantasie anregen, die Flucht aus der Realität beflügeln und deren Konturen zugleich schärfer machen sollte : das Kino. Die
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Rolle des Films als Erkenntnismittel und des Kinos als Schutzraum für Aichinger wird vor allem im Band Film und Verhängnis sehr deutlich, in dem sie ihre frühen Kinobesuche im 3. Wiener Bezirk, im Sascha-Palast und im Fasankino, in zwei heute verschwundenen Kinosälen, Revue passieren lässt : »Von dort griff ein Fieber über, das bis heute nicht nachläßt. Kinokarten sind auch im Hinblick auf die Ein- oder Ausreisemöglichkeiten, die sie nicht immer bieten, oft zu billig. Selbst für die Enttäuschungen« (FuV 2001, S. 69). Der Kinobesuch als Ausreisemöglichkeit beziehungsweise das Kino als Ort des Verschwindens gewann eine noch höhere Bedeutung in Aichingers späteren Jahren, als sie – endgültig nach Wien zurückgekehrt – zur leidenschaftlichen Kinogeherin wurde und für die Tageszeitung Der Standard ihr »Journal des Verschwindens« verfasste. Bilder, Filme, Musik und die damit verknüpften Erinnerungen wurden zum Ausgangspunkt für ihre Journaleinträge, kurze Reisen in ferne Tage, Streifzüge, in denen die Filmgeschichte des letzten Jahrhunderts – vom Stummfilm bis zu A Hard Day’s Night von den Beatles – mit der eigenen Geschichte verwoben ist. Das filmische Medium war für Aichinger in mancher Hinsicht sogar stärker als die Literatur, weil die Idee von Tod und Vergänglichkeit darin klarer veranschaulicht werden kann : »Der Film beschäftigt sich unaufhörlich mit dem Tod, der Tod ist sein Axiom« (ebd., S. 74). Der Kinosaal wird somit zum exemplarischen Ort des Verschwindens, in dem die gezeigten Szenen, die einzelnen Passagen eines Films vergehen, ohne konkrete Spuren zu hinterlassen, ohne aufgehalten werden zu können. Mit großer Darstellungskraft schildert auch Winkler die Spannung und die Vorfreude auf die Filmaufführungen, die bereits in der Schule stattfanden : »[…] denn ich konnte es nicht fassen, sich bewegende Bilder auf einer kleinen weißen Leinwand, der umgedrehten Landkarte von Kärnten, zu sehen, ich war vollkommen fasziniert davon und süchtig danach« (Winkler 2017, S. 20). Auf diese ersten Erfahrungen folgten schnell richtige Kinobesuche mit den Winnetou-Filmen und den »Jugendverbotfilmen« (ebd., S. 168), mit dem heimlichen Geldstehlen und dem Schulschwänzen in Villach, wo er schon am Vormittag den Kinosaal aufsuchte. Das Kino wurde zum Ort des Eskapismus, in dem für Winkler die Konkretisierung einer anderen Realität möglich war, die gegen die Erwartungen der Familie prallte und oft zu Hause kein Verständnis fand – für den Vater waren Filme nichts anderes als »Augenschmaus« (ebd., S. 26). Gerade als Reaktion auf die bedrückende Dorf- und Familienstimmung sowie als logische Entwicklung von Winklers literarischen Interessen sind daher seine Schreibanfänge zu verstehen. Schreibend konnte der Autor einen Akt der Befreiung sowie der Selbstbehauptung vollziehen, indem er sich von seiner Familie distanzierte und emanzipierte : »Anschlag für Anschlag, schritt- und buchstabenweise nahm ich Abschied von den Eltern und Abschied von der Schule« (ebd., S. 31). In dieser Hinsicht – und mit der Anspielung auf Peter Weiss – lässt sich eine gewisse Affinität zwischen
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Winkler und dem von Aichinger geliebten Philosophen Emil Cioran beobachten, weil die Auseinandersetzung mit der Sprache bei beiden zu einem »Akt der Erlösung aus den Ketten der Vergangenheit« wird (Sarca 2008, S. 111). Während für Cioran diese Erlösung durch die Eroberung einer neuen Sprache – dem Französischen – möglich ist, erlebt Winkler diesen Zustand durch die Rückeroberung seiner eigenen Muttersprache. Durch das Schreiben kann er dem Sprachverlust entgehen und das jahrelange Schweigen seiner Familie – und insbesondere seiner Mutter – kompensieren, wie er in Muttersprache schlussfolgert : »Ob mein Schreiben nichts anderes ist, als das lebenslange, nun aber ausgeformte Schweigen meiner Mutter ?« (Winkler 1995, S. 592). Somit versucht er mit seiner Schreibtätigkeit jene Lücke der Vergangenheit zu füllen, die mit dem Kriegstod dreier Brüder seiner Mutter entstanden war ; und dadurch, dass er in seinen Büchern jene Familiengeschichten immer wieder erzählt, die jahrzehntelang verschwiegen worden waren, kann in seinem Schreiben auch eine Wiederannäherung an die eigene Familie und Herkunft gesehen werden. Poetik der Wiederkehr : Die Distanz suchen, um wieder Nähe zu gewinnen. Auch für Aichinger lässt sich das Schreiben als natürliche Fortsetzung des aufmerksamen Hinsehens und Hinhörens sowie als Reaktion auf die Vergangenheit betrachten. Ihr Schreiben erwies sich als existenziell notwendiger Schritt, um jenes Zögern und Schweigen zu brechen, das – ähnlich wie bei Winkler – seine Wurzeln in den Verwüstungen und in den Traumata des Nationalsozialismus hatte. In einem Interview erklärte Aichinger, was sie mit dem Roman Die größere Hoffnung wirklich beabsichtigte und wie sie die Wirklichkeit darstellen wollte : Ich wollte eigentlich schreiben, wie es wirklich war, und da bin ich aus dem Schreiben ins Schreiben gekommen, denn ich habe gemerkt, dass diese Wirklichkeit, nach der ich suche, eben eine Wirklichkeit ist, die sich nicht ergibt, nicht aus jedem Satz ergibt, den man da hinschreibt. Die nicht wirklich wird, wenn man nur so Sätze hinschreibt. Der man nachgehen muss, nachschweigen muss, bis sie sich mit einem einverstanden erklärt. (Zitiert nach Zetzsche 2016, 00 :15 :37-00 :16 :00)
Aichinger suchte nach einem komplexeren und reflektierteren Schreibmodus, der der erlebten Wirklichkeit durch das ›Nachschweigen‹ als stärkendes Moment gerecht wurde. Das Schweigen – sowie das Zögern und das Abwarten – wird von ihr keineswegs als negative bzw. unproduktive Phase im literarischen Schaffen betrachtet, es ist ganz im Gegenteil unabdingbar und erforderlich, damit das Objekt der Betrachtung genau studiert und infrage gestellt werden kann, bevor es literarisch behandelt wird. Ihr früher Text »Aufruf zum Mißtrauen« ist ein sehr klares Manifest für diese analytische Fähigkeit, die zum Durchschauen der Realität führen soll.
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Im Schreiben wirkt bei beiden Autoren das Heilende, das bereits im Lesen vorhanden ist, potenziert und der Schreibakt wird in ihrer Poetik zur rettenden Instanz. Schon in Muttersprache schreibt Winkler : »Durch die Sprache arbeite ich gegen den Tod, und wahrscheinlich werde ich mein ganzes Leben über den Tod schreiben müssen, um leben zu können« (Winkler 1995, S. 580). Der Zusammenhang zwischen Schreiben und Sterben wurde auch von Aichinger erkannt, wie eine Aufzeichnung in Kleist, Moos Fasane zeigt : »Schreiben ist sterben lernen« (KMF 1991, S. 84). Aber so wie das Sterben unausweichlich ist, so ist auch das Schreiben dringend notwendig, um den Tod, die Stagnation und das Verklingen der eigenen Stimme zu beschwören. In der Tat ist das Schreiben sowohl für Winkler als auch für Aichinger ein Heilmittel gegen das Verstummen und das Verzweifeln : Rebelliert Winkler gegen die schweigende Elterngeneration und vor allem gegen das Schweigen der Mutter, so ist das Schreiben Aichingers ein mutiger Akt gegen die Verstummungsgefahr nach den Greueln des NS-Regimes. Schreiben wurde bei Aichinger sehr früh zum Anliegen, das auch schon während des Krieges eine Flucht aus dem furchterregenden Alltag und somit eine Überlebenschance bedeutete : Noch vor dem Roman Die größere Hoffnung und vor der Erzählung »Das vierte Tor« legte sie zu Weihnachten 1944 ihre erste literarische Probe ab, als sie ein Krippenspiel verfasste, das sie mit anderen verfolgten Jugendlichen der Wiener Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Katholiken aufführte, bei der sie zu diesem Zeitpunkt auch einen Halt gefunden hatte. Dieses Krippenspiel trägt den bedeutsamen Titel »Der Traum vom Frieden« und ist eine Vorstufe zum Kapitel »Das große Spiel« von Die größere Hoffnung (vgl. Ivanovic 2021, S. 93). Auch daran wird die Rolle von Glauben und im Allgemeinen von Religion für die Autoren ziemlich deutlich : Ist der Katholizismus in Winklers Texten mit den düstersten Tönen als bedrückende und bedrohliche Präsenz beschrieben, die für die Verflachung des Geistes in der österreichischen Provinz verantwortlich ist, auf deren »gottlose[m] und blutverschmierte[m] Boden« die Spitzen der Kirchtürme »aufstampfen« (Winkler 2013, S. 27 – 28), so erweist sich Aichingers Einstellung zum Glauben in ihrer Jugend als dem diametral entgegengesetzt. Bevor sie sich später im Leben von jeglicher Ideologie distanzierte und auch die Religion infrage stellte, spielte der Glaube für sie eine wichtige Rolle. Von ihrer sehr gläubigen, konvertierten Mutter katholisch erzogen, fand Aichinger während des NS-Regimes in der Kirche einen Rettungsanker, der ihr zumindest zeitweise einen Bruchteil jener Sicherheit und Geborgenheit bot, die nach 1938 abhandengekommen waren. Gerade die Idee von Geborgenheit und von Existenzmöglichkeit, die am Weihnachtsfest in der Geburt Jesu inbegriffen sind, scheint in Aichingers damals verfassten, nie veröffentlichten Gedichten sehr bedeutsam zu sein (vgl. Ivanovic 2021, S. 92), und gerade in diesem Zusammenhang wird verständlich, welche Rolle für sie Adalbert Stifters Erzählung »Bergkristall« angesichts
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der eigenen Erfahrung als Verfolgte spielte. Neben den Bemühungen um die Rettung von Menschenleben waren es wahrscheinlich auch der Widerstand und zugleich das Stiften von Hoffnung, die Aichinger bei der Wiener Hilfsstelle kennenlernte. Genau das, was auch sie durch die Sprache erzielen wollte, zuerst mit dem Krippenspiel und dann mit dem Roman Die größere Hoffnung. Ein Buch in der Manier Ilse Aichingers Nach der ›indischen‹ Phase seiner Produktion, zu der Bücher wie Domra, das Reisejournal Indien. Varanasi, Harishchandra … und die zwei Tagebücher aus Kalkutta gerechnet werden können, kehrte Josef Winkler Anfang der 2010er Jahre nach Kärnten zurück ins Elternhaus im kreuzförmigen Dorf Kamering. Diese literarische Rückkehr glückte ihm wahrscheinlich am besten 2013 mit Mutter und der Bleistift, einem Requiem für die unterdessen verstorbene Mutter, in dem der Autor deren Geschichte und die Geschichte des Erlöschens ihrer Sprache nach den Schrecken des Krieges reflektiert. In dem zweiteiligen Buch wird die Synthese zwischen sehr unterschiedlichen Welten sowie die Verschränkung von fern und nah, von Reiselust und Heimweh assoziationshaft im Wechselspiel von Reflexionen und Anekdoten betont : Der IchErzähler befindet sich im Ausland, zuerst in Indien, dann in Paris und in Kiew, und von diesen Orten aus sind es Lektüren und Alltagsbegebenheiten, die ihn in Gedanken immer wieder zurück nach Kärnten bringen. Dabei scheint Winkler Aichingers Stil des »Journal des Verschwindens« bzw. der »Schattenspiele« nachahmen zu wollen, in denen Alltag und Reminiszenzen aus der Vergangenheit miteinander verwoben werden, in denen die aufmerksame Beschäftigung mit dem Heute das Gestern umso bewusster aufleben lässt. Diese geistige und literarische Nähe wird vor allem im sehr kurzen ersten Teil dieser Publikation »Da flog das Wort« auf besonders manifest : Darin berichtet der Ich-Erzähler davon, wie er im vorhergehenden Sommer nach Indien gereist war, mit Aichingers Büchern Kleist, Moos, Fasane und Schlechte Wörter, die er immer wieder aufgeschlagen und gelesen hat. An diese Schriften lehnt er sich bei der Komposition seines Textes an, indem er ganze Passagen davon wortwörtlich übernimmt (im zweiten Teil des Buches wird dasselbe Prozedere mittels Zitaten von Peter Handke wiederholt). Dabei handelt es sich um insgesamt 25 kursiv gesetzte Zitate, vornehmlich aus den »Aufzeichnungen 1950 – 1985« von Kleist, Moos, Fasane (23 Zitate), aber auch aus Schlechte Wörter und Der Wolf und die sieben jungen Geißlein (jeweils ein Zitat). Von den 23 Zitaten aus Kleist, Moos, Fasane wurden 17 von Winkler – neben anderen Passagen aus demselben Werk (insgesamt 39 Zitate) – am 2. November 2021 vorgetragen,
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im Rahmen der Veranstaltung »Die Welt ist aus dem Stoff, / der Betrachtung verlangt« – Ilse Aichinger zum 100. Geburtstag in der Wiener Alten Schmiede. Am folgenden Tag wurde der gedenkort winterantwort auf der Schwedenbrücke am Donaukanal eröffnet, eine Gedenktafel mit Aichingers Gedicht »Winterantwort« an jenem Ort, an den im Mai 1942 ihre Großmutter, Tante und ihr Onkel deportiert wurden. Auch bei dieser feierlichen Eröffnung des Gedenkorts, dessen Errichtung er mitinitiiert hatte, war Josef Winkler dabei. Er hielt eine Ansprache und las »Winterantwort« vor. Eine genaue Analyse der Aichinger-Zitate, die in Winklers Text eingebaut wurden, zeigt, dass der Autor bei jeder Übernahme bemüht war, eine Konvergenz bzw. eine Verwandtschaft zwischen dem ursprünglichen Kontext und der Stelle in der Geschichte der Mutter zu finden, in die die jeweils herausgegriffene Passage eingebettet wurde. Nach dem Eingangsmotto »Wenn wir nur das Reich Gottes suchen, soll uns alles andere nachgeworfen werden. Das trifft am Kopf und in den Rücken« (Winkler 2013, S. 8), das als Anklage der provinziellen Religiosität verstanden werden kann, in der Winkler aufwuchs, beginnt der Text mit einem längeren Zitat : In der Kindheit hat es auch schon Spiegel gegeben, aber in größerer Entfernung. Allmählich kommen wir uns immer näher, es bleibt nur wenig Raum mehr um uns, bis wir uns ganz nahe sind. Der nächste Schritt heißt : den Spiegel mit der Faust zu zertrümmern, bluten, sich zerschneiden. Oder wir bleiben stehen. (Ebd., S. 9)
Das Bild des Spiegels kommt in den Aufzeichnungen von Kleist, Moos, Fasane mehrmals vor (vgl. die weiteren von Winkler zitierten Stellen, ebd., S. 27), und die Idee der spiegelverkehrten Reflexion findet in Aichingers Produktion weite Verbreitung, man denke zum Beispiel an die »Spiegelgeschichte«. Die zitierten Zeilen können als Ausgangspunkt für den Erinnerungsprozess gelesen werden, der den ganzen Text Winklers durchzieht : So wie die Annäherung an einen Spiegel das Bild immer schärfer macht und das Zertrümmern von dessen Oberfläche schmerzen kann, so birgt auch die näher und genauer werdende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit die Möglichkeit einer Verletzung. Ausschlaggebend für Winklers gedankliche Ausschweifungen ist auch jener Spiegel, der im Kameringer Elternschlafzimmer hing und in dem sich das gegenüber hängende Gemälde der Madonna della seggiola von Raffael widerspiegelte : Dieser Spiegel ermöglicht die Sicht auf jenes Bild, das wiederum mit Winklers Herkunft aufs Innigste verbunden ist und zur ersten Erinnerung wird. Bei der Lektüre dieser Zeilen fühlt sich der Ich-Erzähler tief betroffen, er muss plötzlich eine starke Parallele zwischen Aichingers Text und der eigenen Situation erkennen und erlebt somit eine Offenbarung, die mit dem titelgebenden Zitat Aichingers – diesmal aus Schlechte Wörter – untermauert wird : »Da flog das Wort auf !« (ebd.,
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S. 9 ; das Ausrufezeichen fehlt in Aichingers Originaltext). Ist ›auffliegen‹ bei Aichinger als ›losfliegen‹ bzw. ›sich erheben‹ zu verstehen (»Da flog das Wort auf, sinnlos in den Rübenhimmel«, SchW 1991, S. 95), so unterstreicht Winkler in seiner Auslegung eher die Bedeutung von ›entdeckt werden‹, die dieses epiphanische Moment gut verdeutlichen kann. Das Wort, der gelesene Text, wirkt auf ihn ein und kann weitere Gedankengänge sowie weitere damit verknüpfte Erfahrungen aufschließen. Die darauffolgenden Zitate Aichingers lassen auf sehr konzentrierte und emotionale Art die Geschichte der Familie mütterlicherseits zutage treten, die nicht immer chronologisch, sondern in einer Reihe von sehr kurzen, miteinander durch subjektive Assoziationen verbundenen Bildern geschildert wird. So beschreibt Winkler folgende Momente der Familiengeschichte : die mit 60 Jahren verstorbene Großmutter, die im Krieg in einem einzigen Jahr drei Söhne verlor (»Wie soll ich denn die Trauer nicht halten wollen, wenn ich mich in nichts anderem mehr finden kann als in ihr ?«, Winkler 2013, S. 10) ; den Großvater, der am Tag der Ankunft der Leiche des dritten Sohnes stundenlang »unter dem blühenden Gravensteinerapfelbaum« mit einem Gebetsbuch wartete (»Die Hölle himmelt mich ein«, »Vater, ich habe Trost gesucht vor dem Himmel und vor Dir«, ebd., S. 13) ; die tiefe Bestürztheit der Großmutter beim Anblick des Heuleiterwagens mit dem toten Sohn (»Nichts erscheint so sehr Heimat als das, wovon man Abschied nimmt«, ebd., S. 14 – 15) ; die Aufbahrung des bereits verwesenden Leichnams im Hausflur (»Versuchen, in diesen tödlichen Augenblicken zu Hause zu sein«, ebd., S. 16). Dieser dritte Tod führte die Familie in ein jahrelanges Schweigen, in eine kommunikative Abkapselung, der der Ich-Erzähler sich nun widersetzen will : Endgültig schweigen kann man nur aus der Freude lernen. Aus dem Nichtempfinden seiner selbst strömt für die andern Trost, aus der vollkommenen Stimmlosigkeit erheben sich die Stimmen. So wie die Lerchen vom Boden aufsteigen, nicht von den Bäumen. (Ebd., S. 23)
Das textuelle Geflecht und die Verwobenheit zwischen Erinnerungen und Wirklichkeit, auf der der Text basiert, steht im Zentrum eines weiteren Aichinger-Zitats, das der Ich-Erzähler mit dem Schreien des großväterlichen Pfaues in Verbindung bringt, das die Nähe des Dorfes verrät, wenn dieses noch gar nicht in Sicht ist : »Warum sich uns alles mit Erinnerung verflicht ? Warum wir immer im Nebel den hören, der uns ruft ? Weinstöcke und Angst« (ebd., S. 26). Tatsächlich weist »Da flog das Wort auf« eine ziemlich komplexe, wohldurchdachte Textur auf, die sich aus drei Hauptstimmen zusammensetzt : 1. die Erinnerungen des Ich-Erzählers, anhand derer sich die Familiengeschichte rekonstruieren lässt ; 2. die Zitate Ilse Aichingers, die ausgewählte Passagen der Geschichte untermauern, in mancher Hinsicht kommentieren und zugleich Winklers Perspektive darstellen ; 3. vier Strophen aus dem Kirchenlied »Seele,
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geh nach Golgatha« des norddeutschen evangelischen Pastors Benjamin Schmolck (1672 – 1737), in denen sich nicht nur die Perspektive der Familie mütterlicherseits sowie ihre religiöse Sensibilität widerspiegeln, sondern auch die Leidensgeschichte der Familie nach dem Tod des dritten Sohnes mit der Passion Christi verglichen wird. Da die Zitate Aichingers und die liturgischen Formeln von starker Lyrizität charakterisiert sind, verleihen sie der Geschichte einen höheren Ton. Die Auseinandersetzung mit der Glaubenssphäre geht auch aus einigen Sätzen Aichingers hervor, die die Religion aus einem kritischen Blickwinkel betrachten und somit zum balancierenden Pendant von Schmolcks Zitaten werden. Ein Beispiel dafür ist neben dem bereits zitierten Motto auch das letzte Zitat von »Da flog das Wort auf«, das in den Augen Winklers die tiefverwurzelte und selten reflektierte Religiosität seiner Herkunftsgegend im letzten Jahrhundert hinterfragt : »Gott, rechne uns das Gute, das wir tun, nicht an« (ebd., S. 28). Am Ende von Mutter und der Bleistift findet sich schließlich ein letztes AichingerZitat – diesmal aus Aichingers Überarbeitung des Grimm’schen Märchens Der Wolf und die sieben jungen Geißlein –, das dem ganzen Text eine kreisförmige Struktur verleiht : »Ich bin das siebente Geißlein. Ich steckte im Uhrenkasten. Als mich meine Mutter fand, war sie schwarz vom Suchen. Wie der Wolf« (ebd., S. 91). Das auf den ersten Blick etwas kryptische Zitat lässt sich mehrfach deuten : Der Ich-Erzähler kann als siebentes Geißlein interpretiert werden, da beide ein anderes Schicksal im Vergleich zu ihren Geschwistern erleben, die sich entweder an die Familie anpassen oder vom Wolf gefressen werden ; Winklers Eltern hatten insgesamt sechs Kinder und vor der Geburt des letzten meinte der Vater, dass »vielleicht nach dem sechsten Kind noch eines kommen könne«, dem die Mutter mit Entschlossenheit widersprach (ebd., S. 78) ; der Uhrenkasten, in dem sich das Geißlein versteckt, kann außerdem auf die zeitliche Dimension verweisen, auf die Vergangenheit und die Erinnerungen, in denen der Ich-Erzähler schwelgt. Es ist aber vor allem die Assoziation zwischen der Geiß von Grimms Märchen und der Mutter des Ich-Erzählers, die in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung gewinnt : Wie die Geiß das versteckte Geißlein sucht, gibt auch Winklers Mutter den Sohn nicht auf, sie kümmert sich um ihn und bleibt bei ihm bis zum Schwarz-Werden trotz der kindlichen Extravaganzen und der Meinungsunterschiede. Zum Schluss könnte die Spekulation angestellt werden, dass sich hinter dem Wolf der Vater des Ich-Erzählers verbirgt, der im Text und in der gesamten Produktion Winklers als kritische, übermächtige, ja manchmal als bedrohliche Figur dargestellt wird. Sechs Jahre nach Roppongi (2007), dem Requiem für den Vater, geistert dieser auch noch durch das Requiem für die Mutter.
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Zurück ins Schweigen ? Ilse Aichinger und Josef Winkler näherten sich beide sehr früh der Literatur an und begannen vor allem zu schreiben, um das Schweigen zu bewältigen und – vor allem bei Winkler – um der Angst entgegenzutreten, die eigene Sprache zu verlieren (vgl. Winkler/Kaindlstorfer 2014, 00 :06 :38-00 :07 :12). Sind die Gründe des Schweigens und der damit verknüpften Angst zu verstummen unterschiedlicher Natur und hängen sie mit der Persönlichkeit sowie mit der Sensibilität beider Autoren zusammen, so ist der Ursprung dieses gefährlichen Stillwerdens ähnlich und liegt in jenen Wunden, die der Nationalsozialismus in ihren Familien und daher auch in ihrem Leben hinterlassen hat. Dieser Parallelismus wird allerdings dadurch relativiert, dass Winklers Vorfahren zur Tätergeneration gehörten, während Aichinger selbst und vor allem ihre Verwandten die Opfer waren. Doch scheint für beide Autoren die Rückkehr ins Schweigen auch ein erstrebenswertes Ziel in ihrer Produktion, auf das hingearbeitet werden soll. Im eingangs zitierten Interview mit Iris Radisch bringt Aichinger es sehr klar auf den Punkt, wie sie schreiben würde, wenn sie erst heute zu schreiben begänne : »Genau sein. Kleine Dinge beobachten, Details. Punkte. Das Schreiben müsste punktueller sein. Ich wäre froh, wenn ich etwas schreiben könnte, das deutlich macht, dass diese Welt hilfsbedürftig ist« (Aichinger/Radisch 2016, S. 44). Hinter diesen Worten verbirgt sich der Wunsch der Autorin, in ein kalkuliertes, sprechendes Schweigen zu geraten, sich von der Öffentlichkeit zurückzuziehen und nur das zu schreiben und zu veröffentlichen, was wirklich wesentlich ist – also genau das, was sie in ihren letzten Lebensjahren sehr konsequent tat. Auch Winkler ist von der Idee des Verschwindens bzw. der Rückkehr ins Schweigen angetan, aus dem er doch durch das Lesen und das Schreiben herausgekommen war. Das wird an seiner Verehrung für Jean Genet ersichtlich, eines seiner größten Vorbilder, vor allem in puncto Schriftstellertum, Homosexualität und Kriminalität – Letzteres drückt sich beim Kärntner Autor im jugendlichen Geldstehlen aus, mit dem er seine ersten Leseeskapaden finanzierte. Winklers Begeisterung für Genet geht natürlich weit über das Biographische hinaus, er ist von den Werken und insbesondere von der kühnen Haltung des französischen Autors fasziniert, der behauptete, vergessen werden zu wollen, sozusagen hinter seinem Werk verschwinden zu wollen : »Auf die Frage, was sein Lebensziel sei, antwortete Genet : ›Vergessen werden !‹« (Winkler 1992, S. 12 ; vgl. auch Winkler/Rubinowitz 2014, 00 :13 :40-00 :14 :02). Doch was in der Poetik eines Autors sehr evokativ ausgedrückt werden kann und als literarischer Wunsch an das Lesepublikum weitergegeben wird, lässt sich in der realen Welt nicht immer leicht umsetzen – geschweige denn von radikaleren Wünschen von Autoren wie Franz Kafka oder Thomas Bernhard, die mit ihren letztwilligen Verfügungen versuchten, ihren Nachlass der Nachwelt zu entziehen. So groß das Verlangen
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nach Verschwinden und Vergessenwerden auch sein mag – was meistens nur als Folge von Unbegabtheit, Misserfolg, politischer Zensur oder schlichtweg durch Zufall möglich ist –, werden Autoren wie Genet, Winkler und Aichinger mit größter Sicherheit noch viele Jahrzehnte überdauern, Generationen von Lesern begeistern und jüngere Schriftsteller beeinflussen, die sie dann vor der Öffentlichkeit als ihre Vorbilder bezeichnen werden. Dies tat schon Josef Winkler 2008 in seiner Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis, indem er auf Ilse Aichinger verwies, und gerade im selben Rahmen erfuhr auch er einige Jahre später eine ähnliche Würdigung. Als Clemens Setz 2021 denselben Preis bekam, nannte er unter den bis dahin ausgezeichneten Dichtern ausdrücklich Josef Winkler, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker – fast wie eine Art österreichische literarische Dreifaltigkeit – als eigene Inspirationsmodelle, ohne die er »nie im Leben selbst zu schreiben begonnen hätte« (Setz 2021) : In inniger Dankbarkeit denke ich da an Josef Winkler, aus dessen Werk mir immer wieder die heiligen Befreiungsformeln der Literatur entgegenkamen, die sich für mich anhörten wie : Schäme dich nicht. Schäme dich für nichts. Es mag dich zermartern, aber es ist nicht peinlich. Du darfst es sagen […]. (Ebd.)
Es ist eine alte Spielregel, dass sich jüngere auf ältere Schriftsteller berufen und sich auf diese Weise eine Reihe leuchtender Ahnen erschaffen, an deren Schreibtradition sie anschließen und die sie mit erneuter Kraft fortsetzen. In dieser Hinsicht bleibt die Frage offen, ob ein kluger und ausgefuchster Autor wie Clemens Setz, der in seinen bisherigen Werken die Möglichkeiten dieser Welt und ihrer Sprache sowie anderer Welten und ihrer Sprachen so fesselnd und tiefgründig erkundet hat, sich in seiner Rede nicht etwa auch auf Ilse Aichinger berufen hätte, wenn auch ihr der GeorgBüchner-Preis zuteil geworden wäre. Literatur Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (1995) : Das Vergessen der Geschichte im staatlichen (Literatur-)Betrieb, Der Standard, 29. Juni 1995, S. 29. Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M.
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Deborah Holmes
Scheintod und Geschichtsvergessenheit : Ilse Aichinger und Robert Menasse Als Robert Menasse mit dem Ende der 1980er Jahre immer mehr ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangte, sorgte er unter anderem mit seinen Aussagen zur österreichischen Nachkriegsliteratur für Aufsehen. In den frühen 1970er Jahren hatte er nur gelegentlich in Zeitschriften veröffentlicht. Nun trat er nach längerer Pause mit einer Romantrilogie auf, die in rascher Abfolge erschien (Sinnliche Gewißheit, 1988 ; Selige Zeiten, brüchige Welt, 1991 ; Schubumkehr, 1995) und von einer streitbaren Essayistik begleitet wurde. In Schriften wie Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik (Sonderzahl, 1990) oder Das Land ohne Eigenschaften. Essay zur österreichischen Identität (Sonderzahl 1992) erarbeitete sich Menasse den Ruf eines ›Nestbeschmutzers‹, indem er unbeirrt die heikelsten Fragen der österreichischen Tages- und Kulturpolitik untersuchte. Bisweilen löste er auch Irritationen unter solchen Kolleg :innen aus, die im öffentlichen Diskurs bereits als kritische Stimmen galten. Menasse behauptete beispielsweise, es habe in Österreich› anders als in der Bundesrepublik Deutschland, »keine relevanten Versuche gegeben, die Erfahrungen mit Faschismus, Krieg und der sogenannten ›Stunde Null‹ literarisch aufzuarbeiten« (Menasse 1990, S. 67). Der österreichischen Literatur nach 1945 warf er eine konservative ›Entpolitisierung‹ vor, die seiner Meinung nach – selbst bei »explizit fortschrittlichen« Texten – in eine »Apotheose des Ich« münde (ebd., S. 93). Gegen dieses »betonte Ich der österreichischen Nachkriegsrestauration« (Boeckl 2015, S. 41) war Aichinger jedoch schon im Jahre 1946 aufgetreten, mit einem programmatischen »Aufruf zum Mißtrauen«, in dem sie gegen die Verdrängungsmechanismen einer erzwungen positiven Wiederaufbaustimmung appellierte. Nicht nur Gemeinschaftsgefühle, sondern das Individuum an sich stellte sie dabei in Frage : »Uns selbst müssen wir mißtrauen.« (Moser 1990, S. 17) Dass ihr ganzes Werk von einem Misstrauen bequemen Selbstbildern gegenüber geprägt ist, gehörte auch in den 1980er und 1990er Jahren zu den unbestrittenen Erkenntnissen der Aichinger-Forschung. Diese fanden allerdings in Menasses literaturhistorischen Ausführungen keine Beachtung. Auf der poetologischen Ebene bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen Aichingers und Menasses Schaffen. Sie können in einem Zusammenhang mit dem polemischen Literaturgeschichtsverständnis des jüngeren Wiener Autors gesehen werden. Für Aichinger war das Erzählen, das sie ohnehin als »primitive« Schreibweise
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bezeichnete (Seiler 1997), durch die Erschütterungen des Krieges und der mörderischen Judenverfolgung höchst problematisch, wenn nicht unmöglich geworden. Der Romancier Menasse hingegen bekennt sich zu einer eher konventionellen narrativen Kunst, die er als bewussten Gegensatz zum avantgardistischen Schreiben einer älteren Generation versteht. In diesem Sinne stellte er die Lage Österreichs in der Zeit seiner eigenen Anfänge als Schriftsteller, als »ästhetisch und literarisch […] sehr trübsinnig« dar : Die sogenannten Avantgardisten und Experimentalautoren haben damals ebenso wie heute, soweit sie noch leben, sich immer gebieterisch und herrschsüchtig als Opfer dargestellt und haben […] ihre eigenen Opfer, nämlich die Autoren, die nicht in ihr ästhetisches Konzept gepaßt haben, dafür bestraft, daß das Publikum einen anderen literarischen Geschmack hatte. (Grohotolsky 2004, S. 11)
Damals sei ihm das Erzählen von diesen »ressentimentgeladenen« älteren Kollegen ausgeredet und verleidet worden. Im Nachhinein fühle er sich in seiner intuitiven Tendenz zum Narrativen bestätigt – als zeitgemäßer Autor, der es versteht, die österreichische Literatur endlich wieder in richtige Bahnen zu lenken : Heute ist das ja auch keine ketzerische These mehr, sondern historisch erwiesen, daß der ganze Avantgardismus der 50er, 60er und 70er Jahre im Grunde damals schon eine Wiederbelebung der 20er Jahre-Avantgarde war, die nur aufgrund der beiden Faschismen in Österreich nicht ihre normale Entwicklung nehmen und schließlich Geschichte werden konnte. (Ebd., S. 11f.)
Es nimmt daher nicht Wunder, wenn sich Aichinger als prominente Vertreterin eines experimentellen, assoziativen, anti-narrativen Schreibens zuweilen durch Menasse gereizt zeigte. Die Spannungen lassen sich besonders deutlich an zwei Ereignissen nachverfolgen, die ein Jahrzehnt auseinander liegen, inhaltlich jedoch klare Gemeinsamkeiten aufweisen : der Österreich-Schwerpunkt der 47. Frankfurter Buchmesse im Jahre 1995 und die Debatten um den sogenannten Austrokoffer 2004 – 2005. Österreichs Auftritt als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse war mehrfach symbolisch aufgeladen. Als neuester EU-Mitgliedsstaat durfte es auch der erste deutschsprachige Staat sein, der nach der sogenannten Wende einen Länderschwerpunkt ausrichtete. Österreich beteiligte sich mit einer Summe, die umgerechnet auf fünf Millionen Euro geschätzt wird. Der Publizist Rüdiger Wischenbart wurde vom Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst mit der Leitung des Organisationskomitees »Frankfurt 95« betraut. Wegen des Aufstiegs der rechtspopulis-
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tischen FPÖ unter Jörg Haider hatte Österreich trotz seines EU-Beitritts noch mit Imageproblemen im Ausland zu kämpfen. Die Buchmesse stellte eine willkommene Gelegenheit dar, sich gleichzeitig als Kulturnation sowie als »modernes, weltoffenes, europataugliches und wirtschaftsförderliches« Land vorzustellen (Moser 2012, S. 163). Bezüglich der Literatur selbst ließ Wischenbart verlauten, er wolle eine neue Autorengeneration präsentieren, die für Österreichs »Normalisierung« als europäische Demokratie einstehe (zitiert nach Beilein 2008, S. 98). Im März 1995 wurde Robert Menasse zum Eröffnungsredner bestimmt. Diese Entscheidung führte im Vorfeld der Buchmesse zu heftigen Diskussionen innerhalb Österreichs, nicht zuletzt wegen Äußerungen Menasses beim Auftaktsymposium in Frankfurt. Dort meinte er unter anderem, »Österreich müsste sich heute wieder Deutschland anschließen«, da der große Nachbarstaat – im Gegensatz zu Österreich – »eindeutig antifaschistische« Institutionen habe (Beilein 2008, S. 99 ; Fian 1995). Menasse wurde daraufhin Opportunismus und Anbiederung vorgeworfen ; im Sommer 1995 – im Zuge weiterer Debatten über die politische Instrumentalisierung der Buchmesse – zogen mehrere österreichische Kolleg:innen ihre Teilnahme zurück. In Form eines offenen Briefs an das österreichische Organisationskomitee griff Ilse Aichinger direkt in die öffentliche Diskussion ein. Er erschien unter dem Titel »Das Vergessen der Geschichte im staatlichen (Literatur-)Betrieb« in Der Standard am 29. Juni 1995 (Interviews 2011, S. 246 – 248). Aichinger lehnte hier entschieden die Einladung ab – die sie anscheinend erst kurz zuvor erhalten hatte –, »einzig einer Vorführung meiner zehnminütigen Szene Belvedere beizuwohnen«. Die kurzfristige Beliebig-, um nicht zu sagen, Lieblosigkeit dieser Aufforderung von offizieller Seite stellte Aichinger als symptomatisch für den zeitgenössischen Literaturbetrieb mitsamt seinen staatlichen Ausläufern und Abhängigkeiten dar. Der ›Literatur-Betrieb‹ sei sowieso eine Verbindung zweier Begriffe, die »sich von ihrem Wesen her absolut ausschließen« ; er habe zudem in Österreich im Jahre 1995 »krankhafte Formen angenommen«. Vor allem in Wien, wo früher Gelassenheit und Wegsehen angesichts der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung geherrscht hätten, stünde nun »eine schwere Hysterie auch intelligenter Leute« auf der Tagesordnung. Eine angemessene Auseinandersetzung mit der Geschichte sei durch Veranstaltungsdichte und Zeitmangel verdrängt worden. Autoren würden durch öffentliche und mediale Verpflichtungen an der Wahrnehmung ihrer ureigensten Aufgaben gehindert, es sei keine klare Sicht der Dinge mehr möglich. Um Letztere vor allem geht es Aichinger hier : um eine Sicht, die weder durch Überbeschäftigung noch durch politische oder sonstige Vereinnahmung verstellt wird. Auf eine Charakterisierung ihres eigenen Auftretens bzw. NichtAuftretens in der Öffentlichkeit anspielend, die sie offenkundig dem Einladungsbrief nach Frankfurt entnommen hat, entgegnet sie trocken : »Ich bin, wie Sie […] sch-
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reiben, ›still‹, das stimmt. Aber ich wurde und werde auch still gemacht. Und ich bin nicht verträumt, keine Poetin, ich schaue genau hin, auch auf die Lüge dieses für jedes Leiden blinden Staates« (ebd., S. 246). Gleich im Anschluss an diese kompromisslose Entgegnung äußert Aichinger ihre Meinung zur Teilnahme Menasses an der Buchmesse, ohne den Kollegen beim Namen zu nennen : »Schon die Auswahl Ihres Eröffnungsredners verdeutlicht die behördlich kommissionierte ›Kritik‹, die als Schmuck auch noch sein darf und eingeplant wird« (ebd., S. 247). Menasse erscheint hier als ›möchte-gern‹ kritischer Geist, Schriftsteller von Staates Gnaden, berechenbar und ohne Berührungsängste. Von ihm ist, laut Aichinger, keineswegs »eine tatsächliche Aufarbeitung österreichischer Geschichte« zu erwarten. Ihr Vorschlag für die Eröffnungsrede in Frankfurt wäre eine Frau, Ruth Klüger, deren Eignung für diese Aufgabe allerdings unter anderem darin besteht, dass sie sie »höchstwahrscheinlich« nie annehmen würde : »Ruth Klünger [sic !][möchte] mit diesem Staat ebensowenig zu tun haben wie ich. Er hat uns gegenüber schon früh genug seine abgründige Effizienz bewiesen.« Aichinger zeichnet im offenen Brief eine direkte kausale Verbindung zwischen ihrer Familiengeschichte und ihrem Schreiben, deren Resultat »meine mir von dem Schicksal meiner Angehörigen her notwendigen Texte« (ebd., S. 246) seien. Diese sind jedoch alles andere als nur persönlich relevant, sowohl was die Vergangenheit als auch was die Gegenwart betrifft. Aichinger setzt den Mord an Familienmitgliedern, die beleidigend unzulängliche Wiedergutmachung an ihrer enteigneten Mutter und die Vernachlässigung ihres eigenen Werks in einen gesamtösterreichischen, verstaatlichten Rahmen von »Brutalität und Taktlosigkeit«. Es sind eben diese Eigenschaften, impliziert sie, verbunden mit dem charakteristischen Wiener Drang, ja nichts zu versäumen, die das offizielle Österreich und seine Vertreter nun zu eifriger und beschönigender Selbstdarstellung in Frankfurt animiere. Der Brief schließt mit der Anmerkung – getätigt mit einer Art morbider Genugtuung –, dass die »Klingelanlage für Scheintote« eine österreichische Erfindung gewesen sei. Diese werde, so Aichinger, bei österreichischen Behörden benötigt, »für diverse Poeten und Funktionäre auf dem kulturellen, aber auch auf dem Wohnungsbereich«. Der Versuch, sie doch noch schnell, aber bloß als Zuschauerin eines eigenen Werks, nach Frankfurt einzuladen, stellt sie mit dem Angebot eines Ehrengrabs zu Lebzeiten gleich. Statt dieses anzunehmen, will Aichinger im offenen Brief die störende Noch-Lebendigkeit einer nationalen Geschichte aufzeigen, die ihrer Ansicht nach beim Österreich-Schwerpunkt der Buchmesse in die Vergangenheit verbannt werden soll. Die Rede, die Menasse am 10. Oktober 1995 in Frankfurt hielt, greift wie Aichingers offener Brief die Themen Geschichte und Geschichtsvergessenheit auf. Im Gegensatz zu Aichinger jedoch nimmt Menasse in seinem Text mit dem Titel »›Ge-
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schichte‹ – der größte ›historische‹ Irrtum« eine Metaperspektive ein, die dem Autor nicht nur erlaubt, sondern ihn geradezu dazu zwingt, spezifisch österreichische Verhältnisse größtenteils unberührt zu lassen. Er relativiert das Geschichtsvergessen in partikulären Fällen durch die Beschreibung von »historischen« Prozessen, die sich in seiner Darstellung zeit- und ortlos wiederholen : Eine Generation macht sich »vor der ›Geschichte‹« schuldig, die nächste verdrängt diese Schuld, die übernächste vergisst sie bzw. soll sie vergessen dürfen (Menasse 1996, S. 26). Dabei ist für Menasse die Idealisierung der ›Geschichte‹ selbst – als beeinflussbares, sinnerfülltes Etwas – der eigentliche Kardinalfehler einer aufgeklärten Moderne ; sich auf die Geschichte zu besinnen werde nie zu einer Besserung des menschlichen Zusammenlebens führen können. Die ›Geschichte‹, die Aichinger in ihrem offenen Brief anspricht und wiederholt in Erinnerung ruft, rufen muss, hat wenig mit der ›Geschichte‹ gemeinsam, die Menasse abschaffen will. Aichingers ›Geschichte‹ soll auf keinen Fall als feste Größe im Kopf der nachkommenden Generationen etabliert werden. Sie soll – ähnlich wie Menasses Abschaffung der Geschichte ! – zur Hinterfragung von öffentlich sanktionierten Prozessen der Sinngebung führen und unsere Aufmerksamkeit auf Brüche und Unsicherheiten lenken. So kommt, bei allen poetologischen Unterschieden, doch eine Verschränkung der Anliegen zum Vorschein. Wenig später, im März 1996, hielt auch Ilse Aichinger anlässlich der Verleihung des ›Großen Österreichischen Staatspreises für Dichtung‹ eine öffentliche Rede zu den Themen Geschichtsbewusstsein, Staat und Literatur (»Der Boden unter unseren Füßen«, FuV 2001, S. 21 – 24). Sie leistete hier, bei großer persönlicher Überwindung (Ivanovic 2021, S. 50), eine eindrucksvolle Verdichtung des Themenkomplexes im Sinnbild eines ›Bodens ohne Gewähr‹, der gleichzeitig Kindheitserinnerung (Boden der großmütterlichen Wohnung, an den die reizbaren darunter wohnenden Nachbarn mit Besenstielen klopften), historische Begebenheit (Drangsalierung von jüdischen Mitbewohnerinnen im Österreich der Zwischenkriegszeit) und literarische Möglichkeit ist (Symbol der ›zweifelhaften Zuordnung von Bezeichnungen‹) (Ivanovic 2021, S. 49). Menasse entließ sein Publikum in Frankfurt mit dem Bild eines versteinerten Embryos aus dem 17. Jahrhundert, ein nie geborenes Geschwisterlein des Amsterdamer Rabbis Samuel Menasse ben Israel, das im Glas auf seinem Schreibtisch stand. Auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit – oder zumindest mit Sicherheiten – erwog der Rabbi eine Auswanderung in die Neue Welt, kam aber beim Betrachten des Embryos endgültig von diesem Plan ab : »Es gibt, wird ihm klar, für dieses Glas mit seinem wohl versteinerten, aber doch so zerbrechlichen Inhalt keinen sicheren Ort.« Zerbrechlicher Stein, Boden ohne Gewähr – in diesen paradoxen Bildern treffen sich Menasse und Aichinger. Zehn Jahre nach dem Österreich-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse sollte ein weiteres Jubiläumsjahr, 2005, unter Berücksichtigung der Literatur begangen wer-
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den. Der sogenannte Austrokoffer wurde als repräsentative Sammlung der österreichischen Dichtkunst nach 1945 geplant, eine Riesenanthologie von tausenden Seiten, die der Allgemeinheit anhand öffentlicher Subventionen möglichst preiswert angeboten werden sollte. Die genaue Entstehung des Projekts ist nicht mehr rekonstruierbar. Der Publizist Günther Nenning war federführend ; es blieb und bleibt unklar, ob die Idee dafür vom Bundeskanzler Wolfgang Schüssel selbst stammte oder von Nenning an den wohlwollenden Kanzler herangetragen wurde. Öffentlich beworben wurde der Austrokoffer zum ersten Mal am 17. August 2004, in einem anonymen Beitrag in der Kronenzeitung : Österreich feiere »60 Jahre Republik, 50 Jahre Staatsvertrag sowie zehn Jahre EU-Beitritt – und seine wichtigsten Schriftsteller«. Einige von diesen wurden hier bereits benannt – Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Peter Handke, auch Nenning als Herausgeber und Peter Pongratz als Designer des Schubers, der die Sammlung umfassen sollte. Die Ambition dieses »Mammut-Projekt[s]« wurde gepriesen, vor allem angesichts seines günstigen Endpreises : »[…] alles nur für € 50 !« (Austrokoffer 2004). Eine Austrian Press Agency-Meldung, die am nächsten Tag in Der Standard erschien, wartete mit weiteren Details auf : Der Austrokoffer sollte 130 Autorinnen und Autoren umfassen ; Ilse Aichinger wurde hier dank einer alphabetischen Auflistung an erster Stelle genannt, Robert Menasse befand sich auch darunter. Es stellte sich jedoch sehr bald heraus, dass viele von den bereits namentlich erwähnten Autorinnen und Autoren entweder nichts oder nichts Genaueres vom Projekt wussten. Zudem behagten seine politischen Hintergründe dem Großteil der Genannten nicht. Die Bundesregierung, die als Sponsor fungieren sollte, hatte bei ihrer Gründung international für negative Schlagzeilen gesorgt, dank der Beteiligung von Jörg Haiders FPÖ. Trotz Rücktritts des umstrittenen freiheitlichen Parteivorsitzenden haftete der ›schwarz-blauen‹ Koalition zwischen seiner FPÖ und der konservativen ÖVP weiterhin eine entschieden nationalistisch-reaktionäre Aura an, vor allem, was die Kultur betraf. Nennings Werbetexte auf der längst deaktivierten Website austrokoffer.at schlugen dementsprechende Töne an : »Das kleine Österreich ist eine kulturelle Großmacht. Der Koffer ist eine patriotische Parallelaktion : Zur Politik läuft parallel die Literatur – da sind wir unübertroffen« (zitiert nach Streeruwitz 2004, S. 30). Die Regierungsnähe des Projekts, Nennings flapsig-populistische Aussagen darüber (Marlene Streeruwitz kritisiert sein »Stammtisch-Inbesitznehmen der Literatur«, ebd.) und nicht zuletzt der tatsächlich sehr unglücklich gewählte Titel »Austrokoffer« führten zu einer Welle von Absagen. Als sich auch der verantwortliche Verlag, Ueberreuter, zurückzog, drohte das Projekt endgültig zu scheitern (Holmes 2011, S. 12 – 15 ; Moser 2012, S. 170). In ihrer Stellungnahme zur geplanten Anthologie »›Austrokoffer‹. Die Angst vor dem Scheintod steigt« in Der Standard vom 7. September 2004 (AuzMi 2021, S. 271)
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Scheintod und Geschichtsvergessenheit : Ilse Aichinger und Robert Menasse
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griff Aichinger mit »Scheintod« die Schlussmetapher ihres offenen Briefes zum Österreich-Schwerpunkt der Frankfurter Messe wieder auf. »Scheintot« zu sein heißt hier erneut, sich den Erwartungen des offiziellen Österreichs zu fügen, sich der Tagespolitik zur Verfügung zu stellen. »Scheintote« lassen nach Aichinger nicht nur das eigene Werk im Dienst der staatlichen Repräsentation instrumentalisieren, sondern sehen zu, wie die Literatur selbst ihrer Störeffekte und kritischer Wirkung beraubt wird. Anfangs zitiert Aichinger eine Definition von Literatur, die Nenning prominent auf der Austrokoffer-Website veröffentlicht hatte : »›Die Geburt des Austrokoffers aus dem Gefühl : Literatur ist, was mein Herz erfreut. Zur bequemen Reise aus dem Reich, wo uns jeder kann, ins Reich, wo uns keiner kann, dient der Austrokoffer‹« (Interviews 2011, S. 271). Ihr beißender Kommentar dazu : »Die Reise mit dem Austrokoffer soll bequem sein, die Literatur auch. Und alles bei der Hand« (ebd.). Diese Kritik saß, auch bei Nenning selbst : Im Vorwort zur endgültigen Sammlung nahm er zwar diese Definition von Literatur nochmals auf, verzichtete aber dabei auf das Wort »bequem«. Nicht bloß die Idee einer Anthologie störte Aichinger zutiefst, sondern alle bekannten Details seiner Ausführung – die Größe und Beliebigkeit der Textauswahl, die Nähe zur Regierung und zu den Feierlichkeiten zum »Jubeljahr«, der bunte Koffer selbst : Wer möchte auch in einem Koffer landen, der von Peter Pongratz, dem ›Meister der Seelenmalerei‹, bemalt und von diesem in den Ferien auf der Insel Korcula geschaffen wurde ? Die Angst vor dem Scheintod steigt : und der Scheintod im von Schüssel konzipierten, handbemalten Gesamtkunstwerk – zugleich mit 130 Autoren und Autorinnen ? (AuzMi 2021, S. 271)
Mit einem weiteren Zitat, diesmal von Heinrich von Kleist, fasst Aichinger am Schluss ihres bündigen Kommentars das ganze Projekt kurz und vernichtend zusammen : »[…] ›die mangelhafte Form [hält] den Geist, wie ein schlechter Spiegel, gebunden[…] und [erinnert] uns an nichts […] als an sich selbst‹« (ebd.). Am gleichen Tag, an dem Aichinger ihre Absage im Standard abdrucken ließ, kritisierte Robert Menasse den Austrokoffer ebenso scharf in einem Interview im Deutschlandradio. Österreich fände sich schwer mit lebenden Autoren ab, die frei ihre Meinung schrieben, mache sich dann aber schnell daran, sie nach dem Tod als Repräsentanten einer »Kulturnation für die Touristen« zu vereinnahmen. Im Austrokoffer sollte dieser Vorgang »ausnahmsweise mal zu Lebzeiten« stattfinden, die österreichischen Autoren würden sich jedoch zu wehren wissen. Der geplante Koffer sei nichts anderes »als ein kleines kulturelles Stückchen Ornament bei dem im nächsten Jahr anstehenden großen Selbstbeweihräucherungsjubelfest der Zweiten Republik« (zitiert nach MarktHuter 2004).
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Solche Absagen von namhaften Autoren wie Aichinger und Menasse führten alsbald zu einer Überarbeitung von Nennings Plänen. Ende September 2004 konnte er bereits eine Neuversion des Projekts präsentieren, zusammen mit einem Team von Mitherausgebern, was die literarische und politische Unabhängigkeit der Sammlung garantieren sollte : Robert Schindel, Milo Dor, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Anna Mitgutsch und Julian Schutting. Eine Umbenennung von Austrokoffer in Landvermessung erfolgte auf Schindels Rat, und die viel kritisierte Kooperation mit der der Boulevardpresse zugehörigen Kronenzeitung wurde aufgegeben. Vieles blieb unverändert – der bunte Schuber, die Mitarbeit und publizistisch-patriotische Fanfaren Nennings sowie eine nach wie vor ausgiebige Förderung aus der öffentlichen Hand, wobei die größte Summe aus dem Gedenkjahr-Fonds des Bundeskanzleramts stammte (Simon 2005). Es entschieden sich nichtsdestotrotz viele ›Koffer-Verweigerer‹ um, unter anderem Robert Menasse, dessen Roman Schubumkehr einen eigenen Band bei der fertigen Landvermessung ausmachte. Er meldete sich weiterhin eher ungeduldig, aber mit verkehrtem Vorzeichen zu Wort. Es bestehe keine wesentliche Beteiligung der Regierung mehr am Projekt, und er verstehe »die ganze Diskussion überhaupt nicht mehr : Das ist eine typisch österreichische Debatte, in der es um alles Mögliche geht, nur nicht um die Realität«. Für ihn sei diese schlicht die eines »ganz normalen Verlagsdeal[s]« (Simon 2005) ; die zusätzlichen Herausgeber und der schiere Umfang des Projekts hätten ihn zudem vom Wert der Anthologie überzeugt. Aichingers Absage hingegen blieb eine endgültige – wie auch die von Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz, Peter Turrini, Gerhard Roth, Gert Jonke und vielen mehr. Ihr kurzer Kommentar im Standard stellt ihre einzige öffentliche Aussage zum Thema dar. Bei diesem Literatur-›Ereignis‹ wie beim Österreichschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse im Jahre 1995 entzog sie sich der Rolle einer repräsentativen österreichischen Autorin – eine Rolle, die Menasse trotz seiner anhaltenden Kritik am österreichischen Staat durchaus zu spielen bereit ist. Literatur Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M., S. 21 – 24. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Anonym (Austrokoffer 2004) : Der Austrokoffer kommt 2005, Kronenzeitung 17. August, S. 20.
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Scheintod und Geschichtsvergessenheit : Ilse Aichinger und Robert Menasse
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Helga Schreckenberger
»Geisterwelt der österreichischen Inseln« Die Topographie des Verbrechens bei Ilse Aichinger und Wolf Haas Ilse Aichinger und Wolf Haas trafen sich im Juni 2001 zu einem Gespräch im Wiener Augarten, dem Handlungsort von Haas’ eben erschienenen Kriminalroman Wie die Tiere. Das Gespräch wurde von Richard Reichensperger protokolliert und erschien unter dem Titel »›Wie schreiben Sie eigentlich ?‹ ›Pubertär.‹ Begegnung im ›Büffet Awawa‹ im Wiener Augarten Ilse Aichinger und Wolf Haas« am 20. Juli 2001 in der Wiener Tageszeitung Der Standard. Die Unterhaltung der beiden drehte sich dann auch um das Schreiben von Kriminalromanen, einem Genre, mit dem sich – wie u. a. ihre in dem Band Film und Verhängnis : Blitzlichter auf ein Leben veröffentlichten Texte »Die Geburt der Leiche. Dashiell Hammett« oder »Der Dritte Mann« bezeugen – auch Ilse Aichinger des Öfteren befasste. Im Laufe des Gesprächs äußerte die Autorin die folgende Überzeugung : »In manchen Landschaften muss man wohl gar nicht recherchieren, weil sie Verbrechen von selbst hervorbringen.« Wie der nächste Satz unmissverständlich klarstellte, war damit die österreichische Landschaft gemeint : Mary Hottinger [schottische Herausgeberin mehrerer Anthologien von Kriminal-, Gespensterund Gruselgeschichten, HS] spricht einmal von der ›Geisterwelt der britischen Inseln.‹ So ließe sich auch von der Geisterwelt der österreichischen Inseln sprechen. (Reichensperger 2001)
Dass Österreich bzw. Wien für Ilse Aichinger eine »Geisterwelt« ist, zeigte sich schon zu Beginn des Gesprächs, denn der Treffpunkt Augarten rief bei der Autorin die Erinnerung an ihre ermordeten Angehörigen wach : Mit dem Augarten, den sie bewundert hätten, hatten sie weniger zu tun, doch mit seiner Umgebung : Sie waren, ehe sie in die Todeslager gefahren wurden, in der Sperlgasse eingepfercht, und gegen Ende der Deportationen taucht auch das Wort ›Castellezgasse‹ auf. (Reichensperger 2001)
Auch in ihren Werken macht Aichinger immer wieder die nationalsozialistischen Verbrechen an bestimmten Orten Wiens fest und schreibt sie so in die Wiener Topographie ein. Ähnlich entwirft Wolf Haas in seinen Kriminalromanen eine österreichische Topographie des Verbrechens. Es geht im Folgenden darum, diesen Topographien des
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Verbrechens in den Werken der beiden Autoren nachzuspüren und im Hinblick auf ihre Gestaltung und Funktion zu untersuchen. Der Topos der »kontaminierten Landschaft«, um Martin Pollacks Begriff zu verwenden, ist spätestens seit der Erscheinung von Hans Leberts Roman Die Wolfshaut im Jahre 1960 bis in die Gegenwart eine Konstante der österreichischen Literatur und steht für die bis in die 1980er Jahre anhaltende Verdrängung der NS-Vergangenheit in Österreich. Nach Pollacks Definition sind es Landschaften, die Orte massenhaften Tötens waren, das jedoch im Verborgenen verübt wurde, den Blicken der Umwelt entzogen, oft unter strenger Geheimhaltung. Und nach dem Massaker unternehmen die Täter alle erdenklichen Anstrengungen, um die Spuren zu tilgen. Lästige Zeugen werden beseitigt, die Gräber werden zugeschüttet, eingeebnet, in vielen Fällen wieder begrünt. (Pollack 2014, S. 20)
Solche Landschaften werden von Hans Lebert, Thomas Bernhard (Der Italiener, 1964) und Gerhard Fritsch (Fasching, 1967) in den Sechzigerjahren als Gegenbilder zu der in Heimatliteratur und Heimatfilm zelebrierten (und tourismusgerecht vermarkteten) idyllischen österreichischen Landschaft gestaltet. In diesen Werken drängen die Verbrechen der Vergangenheit trotz aller Verdrängungsbemühungen an die Oberfläche und lasten bedrohlich sowohl auf der Landschaft als auch auf deren Bewohnern. Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten (1995) kann ebenfalls dieser Traditionslinie zugeordnet werden. Auch die Anti-Heimatliteratur der 1970er und 1980er Jahre – zu nennen sind hier u. a. Peter Turrinis Sauschlachten (1971), Peter Handkes Wunschloses Unglück (1972), Franz Innerhofers Schöne Tage (1974), Gerhard Roths Landläufiger Tod (1984) und Elisabeth Reicharts Februarschatten (1984) – griff diesen Topos auf und zeigte das Nachleben der NS-Vergangenheit in den idyllischen Landschaften in Form von autoritären Dorf- und Familienstrukturen auf. Indem diese Werke die österreichische Landschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Bezug setzten, negierten sie das Bild der aller Geschichtlichkeit enthobenen »heilen« Naturidylle, als die Österreich nach 1945 in Heimatliteratur und Heimatfilm gehandelt wurde. In Ilse Aichingers Texten ist die Verbindung von Orten mit den nationalsozialistischen Verbrechen von Anfang an festzustellen, allerdings handelt es sich nicht um die österreichische Provinz, sondern um die Hauptstadt Wien. Die komplexe Beziehung der Autorin zu Wien und deren Gestaltung im Werk ist von der Forschung vielfach dokumentiert und analysiert worden. In Wien erlebte Aichinger, wenn auch nur kurz, eine glückliche Kindheit, im Alter war die Stadt Ort der Heimkehr, an dem sie nach langer Pause wieder zu schreiben begann (vgl. dazu Steinwendtner 2007). Jedoch ist Wien auch der Schauplatz, »an dem der Nationalsozialismus konkret erlebt worden ist«
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(Schmid-Bortenschlager 2001, S. 180, Anm. 7). Es ist dieses Erlebnis, das Aichingers Bild von Wien sowohl in den frühen als auch den späten Texten immer wieder prägt und die vertraute Heimatstadt zur Mordlandschaft werden lässt. Als solche erscheint Wien bereits in ihrem ersten Werk, dem Roman Die größere Hoffnung (1948/1960). Trotz der fehlenden Ortsbezeichnungen und Straßennamen ist Wien, wie Simone Fässler in ihrem aufschlussreichen Buch zu Aichingers »Geographie der eigenen Existenz« aufzeigt, aufgrund vieler historischer und topographischer Details erkennbar. Fässler ordnet diese Details den konkreten Orten und Daten zu und konkretisiert damit den Handlungsort des Romans als Wien während des Zweiten Weltkriegs (vgl. Fässler 2011, S. 103 – 112). Aufgrund dieser Verortung argumentiert Fässler überzeugend, dass »Wien als Ort der Abwesenden und Toten« den Ausgangspunkt des Textes darstellt (Fässler 2011, S. 103). Die Orte, an denen sich die Protagonistin Ellen und die anderen Kinder bewegen, unterstützen diese These. Im ersten Kapitel ist Ellens Wohnung »jenseits der Verbindungsbahn« (GrH 1991, S. 25) bei der »großen Kreuzung« (GrH 1991, S. 27) als jene von Aichingers von den Nationalsozialisten ermordeten Großmutter im dritten Bezirk identifizierbar. Das zweite Kapitel hat den Kai am Kanalufer des ersten Bezirks zum Schauplatz, an dem sich ab 1938 das Hauptquartier der Gestapo befand. Im dritten Kapitel führt die Straßenbahn die Kinder am vierten Tor des »letzten Friedhofs,« also des Zentralfriedhofs, vorbei, an dem sich die Aufbewahrungshalle der neueren israelitischen Abteilung befand, deren Kuppel im Roman »wie ein trauriger Traum in der Dämmerung« schwebt (GrH 1991, S. 56). In der »Insel«, dem Schauplatz von Kapitel vier bis sieben ist unschwer die Leopoldstadt zu erkennen, das ehemalige Zentrum des jüdischen Lebens in Wien, von dem nach 1945 kaum Spuren übrigblieben. Der Weg des desertierten Soldaten im sechsten Kapitel (GrH 1991, S. 174 – 175) von »dem Gebäude der Nordbahn« unter »dem kleinen Viadukt« hindurch »zu einer Station der Kinderbahn« und zurück zur Nordbahn, dann über »den alten Markt« bis zu »dem Platz vor der Kirche« hat eine genaue Entsprechung : Er führt vom Nordbahnhof zum Prater, dann vom Nordbahnhof über den Karmeliterplatz zur Karmeliterkirche. Auch diese Stationen sind Orte des Verbrechens : Vom Nordbahnhof gingen die Deportationen in die Vernichtungslager ab, und am Platz vor der Karmeliterkirche befand sich in der Kleinen Sperlgasse ein Sammellager für Juden, unter denen sich auch Aichingers Großmutter und Tante befanden. Die Brücke, auf der Ellen am Ende des Romans zu Tode kommt, ist die Schwedenbrücke, also jener Ort, an dem Aichinger ihre Großmutter und die jüngeren Geschwister ihrer Mutter zum letzten Mal sah. Trotz Abstrahierung stellen die Ortsangaben in Die größere Hoffnung einen Bezug zur Wirklichkeit her, nicht nur zu Wien als geographischem Handlungsort, sondern zu den nationalsozialistischen Verbrechen, die an diesen Orten verübt wurden. Aichinger schreibt sie in die Topographie Wiens ein, sie bleiben mit der Stadt verbunden, auch
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wenn ihre Spuren nach dem Krieg getilgt wurden. Darin sieht Christine Ivanovic das Ziel von Aichingers Schreiben in Die größere Hoffnung : »Es mag das Geschehene nicht aufzuheben, wohl aber zur Erscheinung zu bringen« (Ivanovic 2009, S. 190). Es ist jedoch den Leser*innen überlassen – und hier ergibt sich eine Parallele zum Kriminalroman –, die Anwesenheit der Verbrechen in ihrer Abwesenheit zu erkennen. Geht es Aichinger in ihrem ersten Roman vor allem darum, das Geschehene festzuhalten, so beginnt sie in den späteren Texten das Vergangene als Erinnerung zu vergegenwärtigen. Auch in diesen Texten assoziiert Aichinger Wien immer wieder mit den traumatischen Erfahrungen während des Krieges und damit mit den nationalsozialistischen Verbrechen und ihren Opfern. Dies zeigen einige der Texte von 1953/54, die gesammelt in Buchform unter dem Titel Kurzschlüsse. Wien (2001) zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Sie führen die Leser*innen zu Straßen und Plätzen, mit denen Aichinger Verfolgung und Tod assoziiert : Der Rennweg (KW 2001, S. 21) und die Verbindungsbahn (ebd., S. 22) erinnern an die Deportation ihrer Angehörigen, so auch die Castellezgasse (ebd., S. 31), wo sich sowohl die Zentralstelle für jüdische Auswanderung als auch ein Sammellager und die »Verwaltungsstelle für Mischlinge« befand. Trotz der konkreten Benennung der Orte werden in diesen Texten die nationalsozialistischen Verbrechen nur indirekt angesprochen. Der erste Text der Sammlung, »Stadtmitte«, führt die Leser*innen vom Stephansplatz in Seitengassen, vorbei an Knopfgeschäften und Kaffeehäusern in die Judengasse, »in die der Wind weht« (ebd., S. 11) und die nun auf die Abwesenheit ihrer vormaligen Bewohner*innen hinweist. Noch deutlicher ist der darauffolgende Absatz : »Laßt doch die Sonne ruhig matter werden. Es gibt Wolle und Schuhe zu kaufen in den Seitengassen. Und eine Stiege, mit Gras bewachsen, führt hinunter« (ebd., S. 11). Die Stiege von der Judengasse führt zum ehemaligen Hauptquartier der NS und, wie die sich verdunkelnde Sonne andeutet, in finstere Zeiten. Dass die Stiege »mit Gras bewachsen« ist, verweist auf das Vergessen, das die Ereignisse dieser Zeit überdeckt. Wie im Roman Die größere Hoffnung werden in diesem Text die vergangenen Verbrechen durch ihre Verbindung zu den Orten vergegenwärtigt. Ähnlich verfährt Aichinger in dem Text »Landstraße«. Auch er mündet aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück. Es heißt im zweiten Absatz : Nicht weit, auf einer Gasse, die gleichläuft, wurde Mozart im Dunkeln auf den Friedhof gefahren, und in der dritten Quergasse nach unten, wo die Gleise unter den Brücken hinführen, wurden die Juden nach Polen gebracht. Seither ist Zeit vergangen, aber nicht viel. (Ebd., S. 23)
Die Deportation der Juden zur Massenvernichtung nach Polen wird mit Mozarts Verscharren im anonymen Massengrab gleichgesetzt und damit in der Geschichte Öster-
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reichs verankert. Der letzte Satz »Seither ist Zeit vergangen, aber nicht viel« rückt die Vergangenheit in die Nähe der Gegenwart. Auch in späteren Texten rufen bestimmte Orte in Wien die Erinnerungen an die ermordeten Familienmitglieder und die Nazi-Herrschaft hervor, wie zum Beispiel in »Der 1. September 1939« aus dem Band Kleist, Moos, Fasane, dessen Titel auf die Namen von drei Gassen verweist, die die Hohlweggasse umrahmen, in der sich die Wohnung von Aichingers Großmutter befand. »Der 1. September 1939« beginnt mit einem Kinobesuch im Sascha-Palast, dessen Standort sofort an die kommende Katastrophe erinnert : »Die Vernichtungstransporte aus Wien begannen, vielleicht, weil es unauffällig war, auf dem Aspangbahnhof, einem kleinen Bahnhof der Verbindungsbahn, nahe dem Sascha-Palast« (KMF 1991, S. 19). Auch die Großmutter wurde »dort in einen Güterwagon verladen« (ebd.). Am Kino selbst sind schon Schilder mit dem Wort »Judenverbot« angebracht. Der Text endet in der Wohnung der Großmutter, die nahe der Verbindungsbahn liegt, und kehrt damit wieder an den Ort des Verbrechens zurück. Nicht nur der Sascha-Palast, sondern Wiens Kinolandschaft überhaupt ist, wie aus dem Band Film und Verhängnis hervorgeht, für Aichinger mit dem Schicksal ihrer Familie verbunden. Das Fasankino im dritten Bezirk erinnert an ihre Tante, die bis 1938 an der Musikakademie Klavier unterrichtete und eine leidenschaftliche Kinogängerin war. Ihr Kino war das Fasankino, in das sie ging. Sie kam fröstelnd nach Hause und erklärte meistens, es hätte gezogen und man könnte sich dort den Tod holen. Aber sie ließ ihr Fasankino nicht, und sie holte sich dort nicht den Tod. Den holte sie sich und der holte sie gemeinsam mit meiner Großmutter im Vernichtungslager Minsk, in das sie deportiert wurden. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihn sich im Fasankino geholt, denn sie liebte es. (FuV 2001, S. 13f.)
Obwohl der Tod der Tante nicht im Fasankino stattfand, verschränkt Aichinger ihn mit diesem Ort und versucht damit, »den Tod im Vernichtungslager mit dem erwünschteren Tod im Kino zu ersetzen« (Fässler 2011, S. 223). Wiens Kinos werden in Aichingers späten Texten zu Orten der Erinnerung. Sie sind nicht nur mit dem Tod ihrer Angehörigen verbunden, sondern auch Orte, an denen sie die Verbindung zu ihnen herzustellen sucht und das Sterben übt : »Ich mache den Ermordeten ihr Verschwinden nur stümperhaft nach : ich gehe ins Kino«, schreibt sie in der »Vorbemerkung zum ›Journal des Verschwindens‹« (FuV 2001, S. 71). Auch Veränderungen in der Wiener Topographie vermögen die kontaminierten Orte in Aichingers Erinnerungen nicht auszulöschen, sondern bringen sie noch stärker ins Relief, wie der Text »Museumslandschaften für Morde« aus dem Band Unglaubwürdige Reisen (2005) zeigt. Der Ausgangspunkt dieses mit dem 10. August 2001 datierten Textes ist das kurz zuvor eröffnete Museumsquartier im siebenten Bezirk
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nahe der Gumpendorfer Straße, wo Aichinger mit ihrer Mutter und Schwester nach der Scheidung der Eltern bis zu ihrer Delogierung durch die Nazis wohnte. Das neu erstandene Museumsquartier erinnert Aichinger an ein anderes »Quartier«, nämlich daran, dass »der siebente Bezirk ebenso wie der zweite Bezirk als vorübergehendes Quartier vor den Vernichtungstransporten herangezogen wurde« (UR 2005, S. 111). Aber auch eine Mitschülerin, die sich in der Wohnung ihrer Eltern in der Gumpendorfer Straße das Leben genommen hatte und der Aichinger den Text »Die Tochter des Kohlenhändlers« widmete, taucht in dieser Erinnerung auf. Sowohl der Tod der Mitschülerin als auch die Opfer der Vernichtungslager gelten Aichinger als Beweis für Mary Hotingers These, die sie auch im Gespräch mit Wolf Haas zitierte : So schuf diese Landschaft das, was Mary Hotinger in ihren »Britischen Gespenster- und Mördergeschichten« als Definition von Gegenden gibt : daß manche Landschaften fast zwangsläufig Morde, Selbstmorde und Gespenster hervorbringen und daß diese umgekehrt mit der Landschaft vergeschwistert sind. (Ebd.)
Mit dieser Feststellung verbindet Aichinger die Wiener Topographie klar und deutlich mit den Verbrechen der NS-Zeit, nicht nur als deren Handlungsort, sondern auch als deren Auslöser. Eine Verschwisterung von Landschaften mit Morden findet auch in Wolf Haas’ Kriminalromanen statt. Während Ilse Aichinger die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen nicht als Tote zur Schau stellt, tut Haas dies mit spektakulärer Anschaulichkeit. Jeder der ersten sechs Brenner-Romane wird mit einem hochgradig konstruierten Mord eröffnet : So fährt z. B. in Auferstehung der Toten (1996) auf der Tal- und Bergstation eines Sessellifts gleichzeitig je eine gefrorene Touristenleiche vor oder taucht in Silentium ! (1999) eine Leiche in dreiundzwanzig wohlverpackten Teilen im Tischfußballspiel eines katholischen Salzburger Knabenkonvikts auf. Fast wichtiger noch als die Morde sind ihre Schauplätze, die eine Topographie des klischierten Tourismus-Österreichs repräsentieren. Auferstehung der Toten (1996) spielt in der Wintersportidylle Zell am See, Der Knochenmann (1997) in Klöch, einer kleinen Stadt in der gerne als »Steirische Toskana« vermarkteten Oststeiermark, Komm, süßer Tod (1998) und Wie die Tiere (2001) finden in der Kulturhochburg Wien statt, Silentium ! (1999) in der »Mozart-Stadt« Salzburg und Das ewige Leben (2003) in der idyllischen Provinzstadt Graz. Haas legt es besonders darauf an, den tourismusträchtigen Charakter seiner Schauplätze hervorzukehren. In Der Knochenmann wird der Tatort Klöch von einem Reporter auf folgende Weise vorgestellt : Klöch ist ein kleiner verschlafener Ort in der Oststeiermark, knapp an der Grenze zu Ungarn und Slowenien. In Österreich verbindet man mit dieser sanfthügeligen Landschaft eine
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Idylle, wie sie heutzutage kaum noch wo in ähnlich unverdorbener Weise anzutreffen ist. Unweit der bekannten Steirischen Toskana erfreut sich auch die Klöcher Weinstraße von Jahr zu Jahr größerer Beliebtheit. Dementsprechend viele Ausflugs- und Jausenstationen sowie die idyllischen Buschenschanken gibt es in der Gegend. (Haas 1997, S. 29f.)
Die Ansage des Reporters mit ihrer Betonung der unberührten Schönheit dieser österreichischen Landschaft, der Ausflugsmöglichkeiten und der kulinarischen Angebote trägt alle Kennzeichen einer Tourismuswerbung. Das grauenvolle Verbrechen – unter den Abfallbergen von Hühnerknochen eines beliebten Backhendl-Restaurants wurden Menschenknochen gefunden – nimmt jedoch der Gegend ihren idyllischen Charakter, wie auch in den anderen Romanen die Morde die heimische Vertrautheit zerstören, die die Leser*innen mit den Schauplätzen verbinden, was ein inhärentes Ziel des Kriminalromans ist. Daneben sind die Orte geradezu die Ursachen für die Verbrechen, die sich an ihnen ereignen. So stehen die Morde in Auferstehung der Toten in Verbindung mit langjähriger Ausbeutung und kaltblütigem Opportunismus, denen der Ort seinen Reichtum verdankt, während in Silentium ! ein Zusammenhang mit der heuchlerischen Sexualmoral der katholischen Kirche hergestellt wird. Haas wählt seine Schauplätze also nicht nur mit dem Ziel, die österreichische Idylle als Trugbild zu entlarven, sondern seine Kritik zielt auf Österreichs unantastbare Institutionen und Traditionen : die Skiindustrie in Auferstehung der Toten, die katholische Kirche und die Festspiele in Silentium !, die Wiener Rettung in Komm, süßer Tod, die Polizei in Das ewige Leben, die übertriebene Tierliebe der Österreicher in Wie die Tiere und ihre Vorliebe für Backhendl und Fußball in Der Knochenmann. Darüber hinaus beziehen sich Haas’ Kriminalromane auf aktuelle Probleme in Österreich : die schädliche Auswirkung des Tourismus, vor allem der Skiindustrie, auf die Umwelt (Auferstehung der Toten ) ; Aufdeckung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche (Silentium !) ; Österreichs Verwicklung im Balkan-Krieg ; den Sexhandel in den Grenzgebieten zu den ehemaligen OstblockStaaten (Der Knochenmann) und rechtsradikale Angriffe auf die österreichische RomaBevölkerung (Das ewige Leben). Die Verbindung dieser aktuellen Geschehnisse und Entwicklungen mit Verbrechen lässt auch sie in einem kriminellen Licht erscheinen. Wenn Wolf Haas’ Romane Parallelen mit der Anti-Heimat-Literatur aufweisen, so fehlt ihnen auf den ersten Blick der Bezug zur NS-Zeit und deren Verbrechen. Dies scheint Christoph Leitgebs Beobachtung zu unterstützen, dass die in der neueren österreichischen Literatur gestalteten »Un-Orte« zunehmend von der »Fokussierung auf das Trauma der Verbrechen im Dritten Reich gelöst« sind (Leitgeb 2016, S. 420). Im Fall von Haas trifft dies nur zum Teil zu. Wenn die NS-Verbrechen auch nicht mehr »das ungeheure Dahinter« (Baßler 2002, S. 195) der Romanhandlung darstellen, kom-
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men sie indirekt in den Erzählerreflexionen, die den Brenner-Romanen ihre charakteristische Note verleihen, zur Sprache und stehen oft unmittelbar mit den Schauplätzen in Verbindung. So berichtet der Erzähler in Auferstehung der Toten vom Kapruner Staudamm, der nur wenige Kilometer vom Handlungsort Zell am See entfernt liegt : »Symbol der Republik« ist in der Zeitung gestanden, das war 1951, wie sie ihn eröffnet haben. Jetzt kann man natürlich in sechs Jahren keinen Hochgebirgsstausee bauen, oder vielleicht könnte man es heute, aber damals nicht. Die Politiker haben natürlich kein Wort darüber verloren, daß er – aber ich möchte jetzt auch nicht wieder mit der Nazizeit anfangen. (Haas 1996, S. 32)
Der Bericht des Erzählers bringt nicht nur den Beitrag der Nazis zum »Symbol der Republik« zum Ausdruck, sondern verweist auch auf die Art und Weise, mit der auf solche Informationen in Österreich gern reagiert wird : Man will »nicht wieder mit der Nazizeit anfangen«. Der historische Bezug auf die Nazizeit wird zwar nicht zum Sinnzentrum des Textes, jedoch bieten sich gewisse Parallelen zum Fall Brenners an. Der Erzähler berichtet von den ukrainischen Zwangsarbeitern, von denen einige von der österreichischen Regierung zum vierzigjährigen Jubiläum des Staudammes eingeladen wurden, »weil von denen sind natürlich im Krieg Hunderte auf der Baustelle oben ums Leben gekommen« (ebd.). Ausbeutung und vergangene ungesühnte Schuld sind die Hintergründe für das in Auferstehung der Toten begangene Verbrechen. Auch mit dem Schauplatz des Romans Wie die Tiere, dem ehemaligen Nazi-Flakturm im Wiener Augarten, erinnert Haas seine Leser*innen an die unliebsame Nazi-Vergangenheit. Der Anlass für die Morde in diesem Roman, die Umwandlung des ehemaligen Hochbunkers in ein Heim für Hunde versinnbildlicht satirisch die versuchte Tilgung der Spuren der Nazizeit aus der Wiener Stadtlandschaft und hat dabei sogar ein historisches Vorbild : 1956 wurde ein Teil des Flakturms im Esterhazy Park in ein Aquarium verwandelt. So erscheint die NS-Zeit als ein weiteres ungelöstes Problem des von Verbrechen und anderen sozialen Missständen geplagten Österreichs. Mit ihrer Verortung von Verbrechen in der österreichischen bzw. Wiener Topographie variieren Ilse Aichinger und Wolf Haas einen Topos der österreichischen Literatur, der der nach 1945 betriebenen Verklärung der österreichischen Landschaft als geschichtslose Idylle und der damit einhergehenden Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit entgegenzuwirken suchte. Die Texte Ilse Aichingers, die den Nationalsozialismus in Wien hautnah miterlebte, führen an »Un-Orte der Erinnerung« (Leitgeb 2006, S. 225), an denen die traumatischen Erlebnisse während der NSZeit aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart geholt und festgemacht werden. Auch in Wolf Haas’ Kriminalromanen sind die Verbrechen an ihre Schauplätze gebun-
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den, sie können als deren Auswüchse verstanden werden . Damit zerstört Haas ähnlich wie die Anti-Heimatliteratur den Anspruch der »heilen« Welt, den diese Orte für sich beanspruchen. Im Gegensatz zu Aichingers Erinnerungsorten resultieren die an Haas’ Schauplätzen verübten Verbrechen nicht mehr aus der NS-Zeit. Deren Spuren in der österreichischen Landschaft werden jedoch sichtbar gemacht, und ihr Fortwirken in der Gegenwart wird signalisiert. Auf diese Weise konfrontieren sowohl Ilse Aichinger als auch Wolf Haas ihre Leser*innen mit der »Geisterwelt der österreichischen Inseln«. Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1991) : Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (KW 2001) : Kurzschlüsse. Wien. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Baßler, Moritz (2002) : Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München. Fässler, Simone (2011) : Von Wien her, auf Wien hin : Ilse Aichingers »Geographie der eigenen Existenz«. Wien. Haas, Wolf (1996) : Auferstehung der Toten. Reinbek/Hamburg. Haas, Wolf (1997) : Der Knochenmann. Reinbek/Hamburg. Ivanovic, Christine (2009) : Ilse Aichingers Poetik des Verschwindens, in : Symposium 63 :3, S. 178 – 193. Leitgeb, Christoph (2016) : Der Un-Ort der Erinnerung : Ein literarischer Topos bei Lebert, Bernhard, Jelinek – und seine Geschichte, in : Ljiljana Radonic/Heidemarie Uhl (Hgg.), Gedächtnis im 21. Jahrhundert : Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs. Bielefeld, S. 225 – 243. Pollack, Martin (2014) : Kontaminierte Landschaften. St. Pölten. Reichensperger, Richard (2001) : »Wie schreiben Sie eigentlich ?« »Pubertär.« Begegnung im ›Büffet Awawa‹ im Wiener Augarten, Ilse Aichinger und Wolf Haas, in : Der Standard 20. Juli 2001, ohne Seite. Schmid-Bortenschlager, Sigrid (2001) : Die Topographie Ilse Aichingers, in : Brita Hermann/ Barbara Thums (Hgg.), »Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit«. Zum Werk Ilse Aichingers. Würzburg, S. 179 – 188. Steinwendtner, Brita (2007) : Ilse Aichinger. Wien. Und andere Ortlosigkeiten, in : Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Ilse Aichinger. München, S. 3 – 14.
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Andreas Dittrich
Textkompositionen Richard Reichensperger und Ilse Aichinger Richard Balthasar Reichensperger (1961 – 2004) verband mit Ilse Maria Aichinger (1921 – 2016) nicht nur ein kleiner Reim im Nachnamen und eine enge Freundschaft, sondern auch das gemeinsame Interesse an der Anordnung von Texten in Sammlungen. Bevor ich im Folgenden auf spezifische Editionsgeschichten eingehe, erscheint es mir aufgrund der mangelhaften Quellenlage sinnvoll, auch Reichenspergers Leben, Interessen und Tätigkeiten grob nachzuzeichnen. Bei all dem folge ich einer chronologischen Abfolge, der meist ebenso vertraut wird, wie sie unhinterfragt hingenommen wird, und zu der sowohl Reichensperger als auch Aichinger alternative Formen ausprobiert haben : assoziative, topographische und anarchische Kompositionen von Texten. Zu Richard Reichensperger, 1961 – 2004 Es ist nicht geklärt, wann genau sich Ilse Aichinger und Richard Reichensperger das erste Mal begegnet sind. Sie könnten sich 1980 in der »Alten Schmiede« in Wien – beim fünften internationalen Autorenseminar »Über Ilse Aichinger« – erstmals persönlich kennengelernt haben. Kurt Neumann, der die Veranstaltung damals für sein »Fragment für Rundfunkprogramm« aufgenommen hat, ließ das Hörstück später transkribieren und abdrucken. In den Aufnahmen ist Reichensperger leise von weit her zu hören, und im späteren Abdruck ist deutlich zu lesen, wie der damals Neunzehnjährige davon sprach, dass er die erste Aichinger-Geschichte mit zwölf Jahren in einer Bibliothek gelesen und sie ihm »eigentlich überhaupt keine Schwierigkeiten« bereitet habe. Er erklärt das mit seinem »kindlichen Bewusstsein« (Reichensperger, zit. n. Neumann 2017, S. 32f.). Auch wenn Reichensperger den spezifischen Text, auf den er sich hier bezieht, nicht benennt, so lässt sich zumindest der Ort dieser Lektüre annähernd bestimmen (wenn nicht anders angegeben, siehe die biographischen Angaben: Reichensperger 1990, 1992). Denn mit zwölf Jahren befand sich der am 30. Januar 1961 in Salzburg geborene und in Mauterndorf (Lungau) aufgewachsene Reichensperger im »geistlichen Internat«, wie er das Privatgymnasium Borromäum in Salzburg nannte (Reichensperger 1979, S. 152), in dem ausschließlich junge Män-
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ner zugelassen waren. 1972 verstarb sein Vater, ein ehemaliger Gendarmeriebeamter. Dass Reichenspergers Aichinger-»Leseweg« nicht mit der Größeren Hoffnung, sondern mit Schlechte Wörter begonnen habe, wie er am 16. September 1996 in einem Brief an Ruth Klüger schrieb (ÖNB/LIT Klüger), widerspricht also der öffentlich geäußerten ersten Aichinger-Lektüreerfahrung. Das, wie er die Sammlung Schlechte Wörter beschreibt, »aggressivste Buch« Aichingers (SchW 1991, S. 2) erschien erst 1976 und damit zu einer Zeit, in der er das Bundesgymnasium Tamsweg besuchte, wo er 1979 maturierte. Reichensperger, der sich später als »weltfremder Lyrikleser« beschrieb (Reichensperger 2005, S. 203, Hervorhebung von mir) veröffentlichte zwischen 1979 und 1986 vor allem selbst geschriebene Gedichte. Für diese erhielt er u. a. 1987 den Anerkennungspreis des Trakl-Förderungspreises (Reichensperger 1987). Seine erste literarische Publikation findet sich in der oberösterreichischen Literaturzeitschrift Die Rampe 1979, wo seine »Texte«, wie sie überschrieben sind, in dem Abschnitt »Proben junger Autoren« stehen (Reichensperger 1979, S. 135 – 139). Sie werden nicht als Gedichte angekündigt, obwohl sie in (endreimlosen) Versen gesetzt sind und, wie Richard Reichenspergers Name, viele Assonanzen aufweisen. Die Texte sind durchgängig in Minuskeln geschrieben, mit der Ausnahme des letzten Wortes auf der letzten der vier Seiten : »im übrigen jedoch und alles in allem / und durch das nebelauge der zeit betrachtet / bin ich ICH« (ebd., S. 139). Der Achtzehnjährige stellt sich sprachverspielt als umtriebiger, aber erfolgloser Lyrikerschreiber vor, in einem Ton, der vielleicht an Günter Eichs Maulwürfe erinnert : ich bin / witzig ironisch sarkastisch / naiv primitiv explosiv impulsiv / versunken verstunken verlogen verraten & verkauft. / ich bin / belesen gelesen verlesen verlegen verlegen machend. / verleger bin ich keiner, als bettvorleger habe ich’s / versucht, / wurde jedoch fristlos entlassen. (Ebd.)
Nach seiner Matura geht er zunächst nach Wien, um ein Studium der Musikwissenschaft und Germanistik zu beginnen, zwei Fächer, die er im darauffolgenden Jahr aber »suspendiert«, um stattdessen ein Studium der Rechtswissenschaft aufzunehmen, das er in Salzburg fortsetzt und dort am 20. Dezember 1984 mit der Promotion zum Dr. iur. abschließt. Währenddessen beginnt er 1982 zusätzlich Philosophie zu studieren. Die persönliche Bekanntschaft mit Aichinger ist 1983 bereits so eng, dass er in Großgmain bei der Pflege von Aichingers Mutter hilft und die Familie später auch in rechtlichen Angelegenheiten vertritt. Nach dem Tod der Mutter im Dezember 1983 zieht Aichinger nach Frankfurt am Main, wo sie auch von Reichensperger besucht wird. Nachdem er sein Germanistikstudium 1984 wieder aufnimmt, verlegt er seinen Studienort für ein Semester (Wintersemester 1985/1986) nach Bonn, wo er Lehrver-
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anstaltungen u. a. von Beda Allemann, der 1983 Paul Celans Gesammelte Werke in fünf Bänden mitherausgab, besucht. In Salzburg schließt Reichensperger sein Germanistik-Studium mit einer Diplomarbeit über Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten ab (Reichensperger 1990), die er anschließend zu einer Dissertation mit dem Untertitel Metaphorik, Ästhetik und Lebenswelt erweitert (Reichensperger 1992) und die im Musil-Handbuch als Teil der »Wiederentdeckung von Musil als Erzähler« genannt wird (Martens 2016). Mit dem Untertitel der Dissertation knüpft er nicht nur theoretisch an den Lebenswelt-Begriff von Edmund Husserl bzw. Alfred Schütz an. Er möchte damit vor allem darauf hinweisen, dass »Metaphorik, Ästhetik, Erkenntnistheorie und Lebenswelt bei Musil nicht trennbar sind« (Reichensperger 1992, S. I), dass das Schreiben Musils nicht in einem abstrakten Raum geschieht, sondern aus dem lebendigen Alltag stammt (vgl. etwa Musils »Fliegenpapier«). Die einzelnen Texte untersucht er methodisch anhand von sieben Kategorien, die er aus Jurij M. Lotmans Die Struktur des literarischen Textes (Lotman 21986) übernimmt. Dabei bezieht er verschiedene Fassungen der jeweiligen Texte mit ein, soweit sie ihm durch die damaligen Editionen zugänglich waren. In jeweils einem Abschnitt fragt er nach möglichen »Ko(n)texten« der Texte und zeigt da etwa Bezüge zwischen Musils »Die Affeninsel« und Elias Canettis Masse und Macht auf. Historisch spätere Anschlüsse nimmt er nicht in den Blick : Vergleiche zwischen Musils »Die Hasenkatastrophe« und Aichingers »Port Sing« oder zwischen Musils und Aichingers gleichnamigen Text »Die Maus« bleiben aus. Hinsichtlich Musils Konzeption des »andere[n] Zustand[s]« bezieht er sich auf die Dissertation von Christoph Leitgeb (Leitgeb 1989). Walter Weiss, der Germanistik-Professor der Universität Salzburg, der die Dissertation von Reichensperger wie auch die von Leitgeb betreute, initiiert später das literaturhistorisch fundierte Projekt einer »Sprachstilgeschichte österreichischer Literatur : Grillparzer, Musil«, das er bereits 1983 skizzierte (Weiss 1983) und das Reichensperger gemeinsam mit Leitgeb durchführen wird (Reichensperger/Leitgeb 2000). Leitgeb, mit dem Reichensperger ab August 1991 auch in der Kommission für Literaturwissenschaft an der Akademie der Wissenschaften in Wien zusammenarbeitet, verfasste nach dem Tod Reichenspergers einen Erinnerungstext, der ihn als rücksichtsvoll zurückhaltenden, entschieden urteilenden und hilfsbereiten Mensch beschreibt (Leitgeb 2005). Zu einer assoziativen Komposition (1991) Neben kleineren Arbeiten, u. a. über Aichinger, für den österreichischen Rundfunk (vermutlich auf Vermittlung von Brita Steinwendtner, vgl. LAS/Slg. Steinwendtner)
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und parallel zu seiner Arbeit an der Dissertation bereitet Reichensperger die Aichinger-Edition Werke in acht Bänden vor, die im November 1991 zum 70. Geburtstag der Autorin im Fischer Taschenbuchverlag erscheint. Der Haupttitel der in der Programmvorschau des Verlags noch als Gesammelte Werke angekündigten Edition wurde schließlich auf Werke komprimiert. Die Tilgung des Sammelbegriffs und der Plural signalisieren bereits, dass Reichensperger Aichingers Texte hier nicht nach werkexternen Maßstäben (wie etwa eine textgenetische Chronologie oder Gattungszuordnungen) versammelt, sondern dass er den spezifischen Kompositionen der jeweiligen Bücher besondere Beachtung schenken wollte. Jedem Einzelband der Ausgabe ist am Ende eine editorische Nachbemerkung beigegeben, in der Reichensperger immer wieder erläutert, inwiefern er in die Anordnung jeweils (nicht) eingegriffen hat. Die Möglichkeit, diese Fragen mit Aichinger abzusprechen, macht er in den Kommentaren zwar explizit, dennoch wurde vonseiten der deutschen Editionswissenschaft eine textkritische Intransparenz beklagt : [D]ie Einordnung der neuen Gedichte und in mehreren Bänden ›sprachliche Korrekturen‹ werden von der Autorin verantwortet. Der Hrsg., Jurist und Germanist läßt in widersprüchlichen Formulierungen offen, ob die übrigen Entscheidungen gemeinsam oder von ihm allein getroffen wurden. In einer Sprache, wo Sätze wie ›Jeder Rauch sitzt‹ gewöhnlich sind, bleibt darum die Textkonstitution unüberprüfbar. (Zeller 1993, S. 313)
Reichenspergers Recherche-Notizen, die im Nachlass Ilse Aichingers im Deutschen Literaturarchiv Marbach in zwei Mappen erhalten sind (DLA/Aichinger/Konv.), zeugen von seinem Interesse nicht nur für textkritische und literaturwissenschaftliche Fragen (es finden sich in der Mappe etwa Bibliographien von Rezensionen), sondern auch für historische Fragen : So tauchen etwa Exzerpte aus Eugen Kogons Der SS-Staat oder Gerhard Botz’ Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938 bis 1945 in den Aufzeichnungen auf. Auch hat Reichensperger Kontakt zum S. FischerVerlagshistoriker Reiner Stach und zu Inge Scholl aufgenommen, um biographische Fragen in Bezug auf Stationen von Aichingers Lebensweg – Wien, Frankfurt und Ulm – zu klären. Neben den editorischen Nachbemerkungen und Hinweisen bietet jeder Band, noch vor der Titelseite, eine kurze und kleingedruckte, leicht zu überblätternde, aber wertvolle Einführung in das jeweilige Werk und dessen Position im Gesamtwerk. Er selbst beschrieb diese Kurztexte gegenüber dem Verlag als »möglichst fundiert[e], komprimierte und zugleich gut lesbare ›Orientierungshilfen‹« (Reichensperger, ebd., Mappe 1). In dem der Edition beigegebenen, separat gedruckten schmalen weißen Heft mit dem Titel »Die Bergung der Opfer in der Sprache« verortet Reichensperger Aichingers
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Werk mit einem Hinweis auf Paul Celans Geo-Poetik im historischen Spannungsraum von Jerusalem und Auschwitz : »Konkrete Orte sind es, und – ganz im Sinne von Paul Celans Büchner-Rede – konkrete geschichtliche Daten, deren die Dichtung eingedenk bleibt« (Reichensperger 1991, S. 5). Dem Verlag schrieb Reichensperger, dass es ihm darum gehe, »wirklich falsche Rezeptionsweisen zu widerlegen und Ilse Aichinger wegzubringen vom Klischee der ›stillen, scheuen, weltfernen‹ etc. Dichterin« (Reichensperger, DLA/Aichinger/Konv., Mappe 1). Mit der typografischen Ausstattung der Werkausgabe wurde das Büro von Otl Aicher, dem Mann von Inge Scholl, in Rotis beauftragt. Für den Band Eliza Eliza aus dem Jahr 1965 schuf Aicher erstmals eine spezifische Buchgestaltung, die, leicht adaptiert, auch für die Ausgaben Die größere Hoffnung (1966), Schlechte Wörter (1976), Verschenkter Rat (1978), Kleist, Moos, Fasane (1987) und die Neuausgabe von Zu keiner Stunde (1980) genutzt wurde. Allerdings kam, im Unterschied zu diesen Büchern, die Werkausgabe als Taschenbuch heraus, was mit einer Vorliebe Reichenspergers korrespondiert : »Ich wollte Texte immer als Taschenbuch, weil schmuddeliger, billiger zu produzieren« (Reichensperger, zit. n. Philipp/Zintzen 2005, S. 227). Die achtbändige Werkausgabe von Reichensperger orientiert sich im Wesentlichen dennoch an den genannten Büchern : nicht nur in der Gestaltung, sondern auch in der Auswahl und Anordnung der Texte, die Reichensperger und Aichinger ein besonderes Anliegen waren. Die Anordnung stellte eine besondere editorische Herausforderung dar. Zwar sollten auch ›neue‹, später veröffentlichte, Texte in die jeweiligen Bände eingefügt werden, doch sollte dabei zugleich nicht die Komposition des jeweiligen Bandes zerstört werden. So schrieb Reichensperger etwa zum Gedichte-Band : Ilse Aichinger hatte 1978 für ihre Gedichtsammlung Verschenkter Rat Gedichte aus mehr als zwei Jahrzehnten nicht chronologisch, sondern nach ihren inneren Bezügen und Verweisen angeordnet. […] Die sorgfältige Komposition des Bandes schafft allerdings ein editorisches Problem : Seit 1978 sind neue Gedichte entstanden […]. Kann nun in den Band Verschenkter Rat überhaupt irgend etwas neu eingefügt werden, ohne die Einheitlichkeit zu stören ? Immerhin : Anders als die Gedichtbände Rilkes oder Celans, wo jeder einzelne Band in sich abgeschlossen eine Entwicklungsstufe markiert, ist Ilse Aichingers Sammlung über Jahrzehnte hin gewachsen – eine Erweiterung würde also durchaus in der Logik dieser Jahresringe liegen. (Reichensperger, in: VR 1991, S. 109 – 111)
Zu Hilfe kam ihm dabei der Kontakt zu Aichinger selbst, die, wie er schreibt, »die neuen Gedichte in ihre damalige Anordnung eingegliedert« habe (ebd., S. 111).
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Zu einer topographischen Komposition (1995) Als fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs Österreich Gastland der Frankfurter Buchmesse war, wurde Aichinger dazu eingeladen, bei einer kurzen Vorführung einer ihrer Szenen, die sie in den 1950er Jahren geschriebenen hatte, anwesend zu sein (den entsprechenden Programmpunkt bei der Buchmesse konnte ich nicht nachweisen, allerdings wurde bei den Rauriser Literaturtagen 1995 Aichingers »Belvedere« unter der Regie von Klaus Gmeiner aufgeführt). Diese Einladung lehnte Aichinger, die damals bereits seit mehreren Jahren wieder in Wien lebte, in einem offenen Brief in der Tageszeitung Der Standard ab : Der Vorschlag, in Frankfurt »einzig einer Vorführung meiner zehnminütigen Szene ›Belvedere‹ beizuwohnen«, sei ein »mehr als grotesker«, so Aichinger (Interviews 2011, S. 246). Er bringe, wie sie schreibt, das Verhalten von »Staat, Betrieb und Literatur« klar zutage – in anderen Worten : die Mechanismen des staatlich geförderten Literatursystems. Neben der Kritik an den Strukturen des Literaturbetriebs beklagt Aichinger aber auch konkret die Wahl des Eröffnungsredners Robert Menasse, der »die behördlich kommissionierte ›Kritik‹« verdeutliche, die »als Schmuck auch noch sein darf und eingeplant wird« (ebd., S. 247). Menasse, der durch diese Kritik sozusagen nebenbei persönlich getroffen wurde, kommentierte Aichingers Vorwurf mit der Vermutung, sie sei »von Einflüsterern dazu gebracht« worden (ebd., S. 248). In einer Reminiszenz sechs Jahre später wertete Aichinger Menasses Bemerkung explizit als frauenfeindlich : »[…] wenn eine Frau sich kritisch äußert, kann sie das unmöglich selbst gedacht, gewollt, geschrieben haben. Soll lieber schweigen« (ebd., S. 166). Gegen das Etikett »Schweigen« (vgl. ebd.), mit dem sie auf eine triviale Weise identifiziert wurde, wehrte sich Aichinger vehement. In dem oben angeführten offenen Brief lehnte sie eine solche Klassifizierung nicht nur ab, sondern erkannte darin die Absicht, ihr Werk ostentativ zu verschweigen : Meine mir von dem Schicksal meiner Angehörigen her notwendigen Texte sind in der Gesamtausgabe bei S. Fischer in Deutschland erschienen und in Österreich totgeschwiegen worden. Ich bin, wie Sie in Ihrem Brief schreiben, ›still‹, das stimmt. Aber ich wurde und werde auch still gemacht. (Ebd., S. 246)
Fünf Jahre nach dieser Auseinandersetzung wurden wieder Texte von Aichinger veröffentlicht, diesmal auch in Österreich ; sie gelten heute als das sogenannte Spätwerk (Fässler 2007 ; vgl. dagegen Berbig 2011, S. 52). Häufig wird – in einer Wendung, die an Aichingers Kritik an Menasse erinnert – davon gesprochen, dass Richard Reichensperger sie »wieder zum Schreiben gebracht« habe (Sperl 2004 ; auch Ebner 2006), sie »zum Schreiben ermutigt« (Tunner 2009, S. 176) oder »zum Schreiben und Publi-
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zieren animiert« habe (Franz Hammerbacher, zit. Markus 2015, S. 248). Tatsächlich richtete Reichensperger ab der Jahrtausendwende eine Kolumne für Aichinger bei der österreichischen Tageszeitung Der Standard ein, bei der er seit 1989 arbeitete. Schon 1995 war an Aichinger die Einladung ergangen, die »Viennale«, das Internationale Filmfestival in Wien, mit einer Rede zu eröffnen (»Absprung zur Weiterbesinnung« ; Aichinger 1995b). Nur wenige Wochen später wurde bekannt gegeben, dass der Große Österreichische Staatspreis für Literatur 1996 an Aichinger verliehen werden würde. In der Folge erschienen in Der Standard zunächst täglich (»Viennale Tagebuch«, 16. Oktober 2000 – 25. Oktober 2000 bzw. 22. Oktober 2001 – 31. Oktober 2001), dann wöchentlich Glossen Aichingers in mehreren Folgen : »Journal des Verschwindens« (3. November 2000 – 19. Oktober 2001), »Unglaubwürdige Reisen« (30. November 2001 – 8. August 2003) und schließlich »Schattenspiele« (14. November 2003 – 18. Juni 2005). Reichensperger übertrug die von Aichinger meist im Kaffeehaus handschriftlich geschriebenen Texte vom Manuskript in das digitale Format. Christoph Leitgeb notierte später den Eindruck, bei der Lektüre der Texte Aichingers oft noch Reichenspergers Stimme hören zu können – auch »nach seinem Tod« (Leitgeb 2005, S. 16). Da Der Standard die erste deutschsprachige Zeitung war, die ab 1995 neben der Druckausgabe auch im Internet gelesen werden konnte, sind die meisten der dort von Aichinger veröffentlichten Texte noch heute online abrufbar und mit den teils variierenden Zeitungs- und Buchdruckfassungen vergleichbar. Im Rahmen des Österreich-Schwerpunkts der Buchmesse 1995 gab Reichensperger eine Anthologie mit Texten zur Stadt Wien im S. Fischer Verlag heraus : Vorfreude Wien – Literarische Warnungen. Bei einem öffentlichen Gespräch zwischen Aichinger und Reichensperger in Berlin 1996 empfahl sie die »sehr schöne« Anthologie und trug daraus einen Text von H. C. Artmann vor, den sie »sehr sehr gern habe, überhaupt diese Person und die so gar nicht im Getriebe eigentlich ist, obwohl man versucht [habe], immer viel Lärm um ihn zu machen« (Aichinger/Reichensperger 1996, Min. 83). Das Wien-Buch Reichenspergers versammelt Texte österreichischer Autorinnen und Autoren aus der Zeit zwischen 1945 und 1995. Die meisten von ihnen waren bereits publiziert, doch konnte Reichensperger auch einige Originalbeiträge bekommen : von Friedrich Achleitner (»Zur Topographie und [Architektur-]Sprache Wiens«), Elfriede Jelinek (»Mein achter Bezirk, im Erfahren«), Ernst Jandl (»mir gengen nach schenzbrunz«), Friederike Mayröcker (»Wien 1924 bis«), Inge Merkel (»Ruprechtsplatz«) und Georg Schöllhammer (»Das Allgemeine Krankenhaus«). Letzterer, das sei hier am Rande erwähnt, schrieb damit genau über jenes Krankenhaus, in dem Reichensperger neun Jahre später, 2004, verstarb. Auch Ruth Klüger, die Aichinger als Eröffnungsrednerin bei der Buchmesse statt Robert Menasse begrüßt hätte, da dies eine »tatsächliche Aufarbeitung österreichi-
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scher Geschichte« bedeutet hätte (Interviews 2011, S. 247), konnte für das Projekt gewonnen werden : Sie gab Reichensperger zwei Auszüge aus dem Buch weiter leben (1992), dem Buch, das laut ihm das »klischeehafte Bewältigungs-Gewissen der Intellektuellen« zerschlagen habe (Reichensperger/Klüger 1994, S. 156). Ursprünglich hatte Reichensperger mit dem Brief vom 20. Oktober 1994, in dem er Klüger um einen Originalbeitrag für seine Anthologie bat, »ein Gedicht des Emigranten Ernst Waldinger, der die absolute Fremdheitserfahrung bei seiner Rückkehr 1960 macht«, in der Hoffnung geschickt, sie werde dabei auf Waldinger Bezug nehmen (vgl. auch den Brief vom 29. November1994 ; beide in ÖNB/LIT Klüger). Letztlich fehlte Waldinger aber in der Anthologie, was Karl-Markus Gauss in seiner Rezension prompt beklagte ; er sei einer von »ein paar nahezu unabdingbare[n] Namen«, die in dem Buch fehlten (Gauss 1995). Zu den fehlenden Namen gehört auch Thomas Bernhard, dessen Texte, wie Reichensperger explizit bedauert, aufgrund rechtlicher Verbote nicht aufgenommen werden konnte (vgl. Reichensperger 1995b, S. 18), die er in seinem Beitrag aber ausgiebig zitiert. Das Fehlen Ingeborg Bachmanns bleibt unkommentiert. Von Aichinger finden sich relativ viele Beiträge in dem Buch : Neben den auch damals gut zugänglichen Texten (»Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-EugenStraße«, »Belvedere«, »Die Küche meiner Großmutter«, »Der 1. September«, »Gonzagagasse« und »Das vierte Tor«) veröffentlichte Reichensperger auch eine Auswahl der damals noch eher unbekannten Wien-Texte »Döbling«, »Seegasse«, »Bei der Roßauerkaserne«, »Josefstadt«, »Ungargasse«, »Landstraße«, »Parkring«, »Judengasse« und »Im Werd«. Die ab Mitte der 1950er Jahre verstreut publizierten Kurztexte wurden zusammen mit einigen weiteren Wien-Texten 2001 von Simone Fässler in dem Band Kurzschlüsse. Wien gesammelt herausgegeben und bekamen damit erst die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Reichenspergers bibliographische Angaben am Ende seines Bandes deuten darauf hin, dass er mehr Quellen als die dort angeführten kannte ; zumindest ist der Text »Ungargasse« nicht in Lebendige Stadt 1955 zu finden, wie dort fälschlich angegeben. Hervorzuheben ist die unkonventionelle Anordnung der Beiträge im Band ; dem Band, den Aichinger einmal als »eine Gegenanthologie, also kein Sammelsurium, sondern präzise Architektur« beschrieben hat (vgl. dazu Dittrich 2024). Sowohl Fässler wie auch Reichensperger reihen die Texte nicht chronologisch, sondern topographisch. Während Fässlers Textkomposition vom Zentrum Wiens (1. Bezirk) ausgeht und sich gegen den Uhrzeigersinn stadtauswärts bewegt (3., 2., 9., 8., 19. Bezirk), beginnt und endet das Buch von Reichensperger in der Peripherie und umrundet dazwischen die Stadt im Uhrzeigersinn (9., 8., 7., 6., 5., 4., 3., 1., 2. Bezirk). Als Aichinger in ihrer Laudatio auf Gert Jonke zum Erich-Fried-Preis 1997 aus Reichenspergers Wien-Buch zitiert, hebt auch sie hervor, dass es »am Rande, in einem Bezirk, den man fast schon
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zu Doderers entere Gründ’ rechnen kann«, beginne (Aichinger 1997 ; AuzMi 2021, S. 182). Dabei legt es (wie auch das von Fässler herausgegebene Buch) eine tatsächlich mögliche, reale Bewegung im Stadtraum nahe, erkennbar an den nicht strikt der mathematischen Reihe folgenden Bezirksnummern. Reichensperger selbst erläutert seine Anordnung im Vorwort : Die Architektur der Anthologie will diejenige des Stadtkörpers ›Wien‹ strukturell nachzeichnen, die Kreisstruktur der Stadt soll also in der Textanordnung sinnfällig werden. Und zwar in umgekehrter Richtung, von außen nach innen, von der Peripherie aus ins Zentrum und von diesem wieder in die Peripherie zurück : so wird schon in der Textabfolge der klischeehaften Konzentration auf das ›kaiserliche‹ oder ›Fin de siècle‹-Zentrum entgegengesteuert. (Reichensperger 1995b, S. 12)
Die Kreisstruktur des Bandes begründet Reichensperger mit derjenigen Wiens ; und diese führt er eingangs zurück auf den historischen runden Festungsbau, der die Stadt einmal war (ebd., S. 11 ; vgl. Achleitner 1990, S. 9). Für das Wien-Buch stellte Aichinger auch einen Originalbeitrag zur Verfügung : »Der Kai«. Er untergräbt dezent die Anordnung der Texte in der Anthologie, welche der politischen Einteilung des Wiener Stadtplans folgt. Denn während Aichingers Text in den Abschnitt zum 1. Bezirk eingeordnet wurde, verortet Aichinger den entsprechenden Ort aus ihrer Warte in den inselhaften und von vielen Jüdinnen und Juden bewohnten 2. Bezirk : »Der Kai gehört dem Stadtplan nach zur Inneren Stadt. Aber für mich gehört er schon zur Insel hinüber zu ihren Ängsten, nicht zu ihren Hoffnungen« (Aichinger, in: Reichensperger 1995b, S. 271). Über den Franz-JosefsKai, der zwischen dem Schotten- und dem Stubenring verläuft und wo sich einmal das Gestapo-Hauptquartier befand, schrieb sie bereits 1946, dass er für sie und ihre Freunde ein Ort der Bedrohung war. Dort lasen sie ein Buch von Stefan Zweig über die schottische Königin Maria Stuart : »Wir lasen es im Schatten der Gestapo, die schwer und drohend den Kai beherrschte« (AuzMi 2021, S. 16). Zu einer anarchischen Komposition (1995) Eine andere, anarchischere Form versuchte Reichensperger in der Reihe »LiteraturLandschaft Österreich«, die er ebenfalls in der Tageszeitung Der Standard und ebenfalls im Jubiläumsjahr 1995 initiierte. Jede Woche schrieb dort ein(e) Autor(in) über eine(n) selbst gewählte(n) Kollegin/en, der/die wiederum über eine weitere Person schrieb usw.; ein staffellaufartiges Auswahlverfahren, das jede Woche wiederholt
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wurde. »Ziel ist«, so Reichensperger in dem die Reihe eröffnenden Beitrag, »eine literarische Topographie, deren Besonderheit auch ausmacht, daß jeder Porträtierte bestimmt, wer die ›Literatur-Landschaft Österreich‹ fortsetzt« (Reichensperger 1995a). Damit ergab sich eine vollkommen unvorhersehbare Reihung von Texten, die durch die jeweiligen Assoziationen der Beitragenden entstand. Aichinger, mit der Reichensperger die Reihe beginnen ließ, widmete ihren Beitrag Julian Schutting (Aichinger 1995a), der seinen Beitrag Walter Grond widmete, dieser wiederum Marlene Streeruwitz, diese Friederike Mayröcker, diese Andreas Okopenko, dieser Elfriede Gerstl … und so weiter. In dem ersten Beitrag der Reihe, die eine »Literaturlandschaft« zu zeichnen versucht, spannte Reichensperger einen historischen Bogen über das Land Österreich, der von der Zeit des Terrors vor 1945 bis zu seiner Gegenwart reicht : Zentrum der Literaturlandschaft Österreich nach 1945 ist Auschwitz. Als Ort, als Struktur und als Forderung an die Sprache. Für Ilse Aichinger und Thomas Bernhard, für Elfriede Jelinek, Hans Lebert und viele andere ist Auschwitz kein schicksalhaftes Ereignis, sondern die Folge von Denkstrukturen, die aktuell wieder aufbrechen : Gewalt, Gleichgültigkeit, Intoleranz und Diskriminierung der ›Andersrassigen‹ und Fremden. (Reichensperger 1995a, S. 32)
Wie bereits in seiner Wien-Anthologie brachte Reichensperger auch hier Topographie und Literatur zusammen. Die Bezüge von Stadtraum, Erinnerung und Schreiben erforschte er selbst im Rahmen verschiedener geförderter Projekte : etwa mit dem Projekt »Wien als Text der Kultur : Semiotik, Allegorie, Literatur« (IFK_Junior Fellow, von Oktober 1997 bis Ende Juni 1998) oder »Wien als kultureller Text : Johann Nepomuk Nestroys Moderne« (2001). Reichenspergers »kulturwissenschaftliche[n] Lektüren von Stadt und Text« (Reichensperger 2001, S. 54) waren von Walter Benjamins Analysen der modernen Großstadt des 19. Jahrhunderts geprägt und galten einer zu entwerfenden »Stadtsemiotik« (vgl. exemplarisch Reichensperger 2000). Auch bei Aichinger sind entsprechende Verbindungen zwischen dem Stadtraum und ihren Texten beschrieben worden (etwa Fässler 2011). In einem im Literarischen Colloquium Berlin 1996 aufgezeichneten öffentlichen Gespräch fragte Reichensperger Aichinger, was es mit ihren Gedichten auf sich habe, bei denen man ›sich überhaupt nicht auskenne‹. Nach dem Gedicht »Marianne«, das er für einfach hält, zitiert er eine Passage aus dem Gedicht »Mägdemangel« : »Die mit den Löffeln aßen, / haben in den Schuhen / die Steine mitgenommen / und sind lange fort.« Aichinger antwortet : Was mir auffällt, wenn ich jetzt darüber nachdenke, dass diese Gedichte immer topographisch sind. Bei mir spielt die Topographie eine wahnsinnige Rolle. Und zum Beispiel »die,
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mit den Löffeln aßen«, das ist ein bestimmtes [sic], winziges [sic], … ein [sic] Geröllhalde mit Wasser, am Gebirgsrand, wo ich eigentlich gar keine Leute gesehen habe, aber dort ist es. Und auch »Marianne«. Das ist eine ganz bestimmte Gegend. Dieses Kind hat es gegeben, die hat auch Marianne geheißen, aber es ist eigentlich nicht nur sie, finde ich, und auch gar nicht vor allem sie, sondern ein Pl… ein Ort, es ist eine Topographie, also das Wesen einer Gegend, sozusagen, der Geist. (Aichinger/Reichensperger 1996, Min. 65)
Dieser »ganz bestimmte[n] Gegend«, diesem »dort ist es«, das sich zwar auf konkrete Orte und Gegenden bezieht, in dieser Konkretion aber nicht aufgeht, weil es etwas Allgemeineres mit anspricht, diesem Verhältnis von Ort und Wort widmen sich sowohl Aichinger als auch Reichensperger in ihren Arbeiten. Wie schon in seiner Dissertation über Musil war es auch in der Beschäftigung mit den Werken von Ilse Aichinger sein Anliegen, das Werk vor einer einseitigen Rezeption zu bewahren, die es nur »bewundernd-betulich (›diese schöne Sprache‹)« versteht und dabei die »sehr viel weitergreifenden Schichten« übersieht (so Reichensperger in Bezug auf die mögliche Rezeption von Kleist, Moos, Fasane in einem Brief an Brita Steinwendtner vom 19. Juli1987 ; LAS/Slg. Steinwendtner). Eine dieser Schichten ist fraglos die kritische Haltung gegenüber der geläufigen Sprache, die, um am Laufen zu bleiben, das Kleine und Nutzlose missachtet. Sie beansprucht – sowohl im Schreiben wie auch im Lesen – eine (philologische und spielerische) Ernsthaftigkeit, die sich in der Sensibilität für das Unauffällige niederschlägt. Auf die nicht zufälligen Zusammenstellungen der Texte achtzugeben, den Assoziationen, Um- und Abwegen der Kompositionen zu folgen, ist Teil dieses Anspruchs. Literatur Achleitner, Friedrich (1990) : Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer in vier Bänden. Bd. III/1. Salzburg. Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (1995a) : Die Sehnsucht der Erfindung, die Zumutung der Benennung, in : Der Standard 3. März 1995, S. 24. Aichinger, Ilse (1995b) : Absprung zur Weiterbesinnung, in : Der Standard 14./15. Oktober 1995, S. 43. Aichinger, Ilse (1997) : Das Verhalten auf sinkenden Schiffen, in : Die Zeit 25. April 1997, S. 48.
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Textkompositionen
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Schreiben aus der Distanz
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Roberta Ascarelli
Der Wind und die Tauben Canetti in Aichingers England »Es gibt Gegenden, die in der literarischen oft klaustrophobischen Topographie Aichingers eine besondere Bedeutung haben«, wie England, »das nördliche Sehnsuchtsziel der Binnenländerin« (Fässler in UR, S. 10), das aus biographischen und historischen Gründen als Rettungs- und Ersatzland eine besondere Bedeutung annimmt. England ist ein geographischer Ort, der von Ilse Aichinger mit Verweisen auf tatsächlich durchquerte Gegenden beschrieben wird, aber auch ein symbolischer Ort der ›Bergung‹ (Bergung nach einer [Schiffs]katastrophe in dem Sinne, auf den Richard Reichensperger intendiert, wenn er Aichingers Poetik als »Bergung der Opfer in der Sprache« beschreibt ; Reichensperger 1991). Aichinger betrachtet die Küste Englands mit einem staunenden Blick, der die Angst und das Erstarren angesichts des Todes während der Besatzungs- und Kriegsjahre aufhebt : »Aichinger’s focus on England cannot be separated from the emphatically pursued concept of life […] marked by the trauma of annihilation« (Ivanovic 2021, S. 111). England ist auch, so betont Ilse Aichinger in einem Bericht, den sie 1948 nach ihrer ersten Englandreise verfasst hat und der 1949 in der Europäischen Rundschau in Wien erschien (AuzM, S. 23 – 31), »eine Form des Lebens«, weil nur dort der Form und der Ordnung eine Chance gegeben wird : Es verwirklicht »de[n] Versuch der Formgebung, de[n] Willen des Unbegrenzten sich zu begrenzen« (ebd., S. 23). Und wenn Aichinger in einem ihrer letzten Bücher, Unglaubwürdige Reisen, »ein dichtes Wegenetz aus autobiografischen Kindheits- und Jugenderinnerungen an Krieg und Verfolgung, verknüpft mit tagesaktuellen, welthistorischen und popkulturellen Ereignissen« (Thums 2005, S. 205) entwirft, so hat dieses Land hier mehr als in jedem anderen ihrer Bücher, die ebenfalls voll von Anspielungen auf England sind, eine vielfältige Bedeutung. Unglaubwürdige Reisen vollzieht eine Theatralisierung der Vergangenheit, durchzogen von Reflexionen über das langjährige Schweben zwischen Tod und Rettung – wie zum Beispiel in »Eine Zigarre mit Churchill« (UR, S. 15 – 19), wo die Totenmasken der Madame Tussot zum Wegweiser der Englandreise werden, und zugleich dazu dienen, das Schreckgespenst Hitlers als solches zu demaskieren. Die Insel bedeutet für Ilse Aichinger auch das Hin- und Hergerissensein zwischen Trennung und Wiederfinden, was ihre Zwillingsschwester Helga betrifft, die mit einem der letzten Kindertransporte 1939 dieses rettende Land erreichen konnte :
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Roberta Ascarelli
Projektion eines Neubeginns, den Ilse Aichinger persönlich nicht erlebt hat, der aber gerade durch diese Trennung als unauslöschliche Spur der Verschiedenheit und der Einsamkeit bestehen bleibt : Der erste große Eindruck, den ich nach den Kriegserlebnissen hatte, war eine Reise nach England, es war auch das erste fremde Land, das ich sah. Vielleicht ist es mir deshalb gleich vertraut gewesen, weil das Meer dort überall nahe ist, weil einem das Bewusstsein, auf einer Insel zu sein, das Gefühl der Küstennähe dort nie verlässt. Das spiegelt den Abschied im Raum wider und gibt zugleich die Kontur. (AuzM, S. 24)
Als Alternative zur »Heimat« wird England (und vor allem seine Hauptstadt) in intratextuelle Gewebe von Personen – von Freud bis zum Sohn Hofmannsthals – und Mythologeme eingeschrieben. »Es sollte ein Aufbruch aus dem grauen Wien sein, wir alle wollten nach England nachkommen« (UR, S. 68), betont Aichinger auf der Suche nach einer Wiedervereinigung mit der Vergangenheit, die sie ebenso distanziert wie auch fasziniert betrachtet und dabei nach den verbliebenen Wurzeln und nach neuen Vorstellungen sucht. In England lernt Ilse Aichinger durch die Schwester Helga einige Vertreter einer anders erlebten Vergangenheit kennen : neben anderen Elias und Veza Canetti, Erich Fried, H. G. Adler, Robert Neumann, Hilde Spiel. Von den Figuren dieser gemischten Gesellschaft wird nur Canetti in einem ›windigen‹ und ›fröstelnden‹ Bild festgehalten. Canetti war zum Zeitpunkt von Aichingers erster Englandreise Autor eines nicht besonders erfolgreichen Romans, »Die Blendung« (1935), der erst 1946 in England veröffentlicht worden war und der ihn in den kulturellen Kreisen Londons zumindest etwas bekannt gemacht hatte. Schattengleich und distanziert erscheint er zwischen den für sie fremden Schicksalsgenossen der Schwester, die in dem Bericht eine Art provisorischer Gemeinschaft bilden. In Unglaubwürdige Reisen taucht Canetti am Ende einer heiteren Erzählung auf : Sie handelt von der ungeschickten Tätigkeit einiger Mitglieder von Aichingers Familie in einer Knopffabrik, wo die Jungen nicht imstande sind, die durch Namen personifizierten Knöpfe in der richtigen Abfolge anzunähen. Nur die Tante, die als Einzige die Tradition aufrechterhält, kann die chaotische Zusammenstellung der Knöpfe wieder in Ordnung bringen und bekundet damit sowohl eine traditionelle Weiblichkeit als auch das Beibehalten der notwendigen Verknüpfung zwischen Namen und Dingen, die durch die Gewalt der Diktatur zerstört worden war (vgl. Rix 2011). Vielleicht ist es auch ein Eingeständnis Ilse Aichingers in Bezug auf ihre notorische Unfähigkeit fürs Praktische.
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Der Wind und die Tauben
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Canetti im nassen englischen Wind 1948 brach ich, bis heute unglaublich und glaubwürdig, nach England auf, wo meine Schwester und die Schwester meiner Mutter zehn Jahre zuvor – unfreiwillige Reisende, doch für immer freiwillige Engländer – gelandet waren. Von Paddington Station drang der Rauch der Lokomotiven zu uns, in unserer einzigen englischen Silvesternacht pfiffen sie herauf. Das Glück reichte leicht, das Geld nicht. Auntie, wie unsere Tante seit dem März 1938 von uns genannt wurde, brachte mich in einer Knopffabrik unter. Ich höre noch die Rufe von Jane, Joan und June, als »Vernon«, »Jack« und »Emmy« – drei hässliche Porzellanknöpfe : Jeder erzeugte Knopf trug einen Namen – auf den Holzboden der Knopffabrik rollten und dort rascher als erwartet unverwechselbar wurden. »Couldn’t care less«, erklärte Joan, hob sie auf und warf sie in den Korb zurück, aus dem ich sie nehmen und, obwohl ich nie nähen lernen wollte, auf ein Kissen nähen sollte. »Perfect«, erklärte Mr. Salzer, der Leiter der Werkstatt, am nächsten Morgen. Er konnte nicht wissen, dass alle Knöpfe unsere »Auntie« wieder angenäht hatte, wobei es niemandem von uns in der nächtlichen Beratung über Paddington Station gelungen war, die ursprünglichen Namen und die strenge Reihenfolge auf dem Kissen wiederherzustellen. Die Knöpfe waren dort festgemacht, wo sie nicht hingehörten, dem Tag war geholfen. Am Abend stieß wieder Erich Fried in die winzige Wohnung meiner Schwester vor, mit dem kleinen Hansi auf der Schulter, der die partielle Lähmung von ihm geerbt hatte. Dazu kamen noch die Freunde Jim und Dori mit den Kindern André und René und die »Ladies«, zwei Schneiderinnen, die Winterkleider lieferten. René war barfuß, seine Nase tropfte. René wurde später schizophren, André wurde Physiker in Oxford. Ruth, die Tochter meiner Schwester, ging in Notting Hill zur Schule. »Just for a moment I thought, you were mummy«, sagte sie, als ich sie abholte, und warf ihr dunkles Haar zurück. Wir gingen zu Auntie, in Golders Green, mit ihren vielen Katzen, im Viertel, wo damals auch noch Canetti lebte, der öfters auftauchte, aus dem nassen Wind heraus, der durch die Holztüren pfiff : Ruths Stirnfransen brachte das in Gefahr, aber die Glaubwürdigkeit nicht. (UR, S. 74 – 76).
In diesem Kreis von Ausländern, die sowohl die Gefahren der Vergangenheit als auch die Zweifel der Gegenwart teilen, nimmt sich der sonderbare Auftritt Canettis befremdlich aus : Er taucht aus dem Wind auf – und Wind ist in den Berichten Aichingers ein Merkmal für England, das sich über die Jahre nur leicht verändert : »Auf dem Trafalgar Square«, hatte sie 1948 geschrieben, »reißt einem der Wind das Haar aus dem Gesicht. England ist ein kühles stürmisches Land. Ein Land, in dem improvisiert wird und das Improvisierte gegen alle Erwartungen immer bleibt« (AuzM, S. 31). Improvisiert wirkt auch dieses wiederholte plötzliche Auftreten von Canetti, der Gast, der nicht weiter beschrieben wird, der nicht zu Wort kommt und der die Anwesenden
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Roberta Ascarelli
nicht miteinbezieht, außer zaghaft und indirekt die Stirnfransen von Ruth, Helgas sechsjähriger Tochter. Fast unsichtbar bleibt der einsame und ordnungsliebende Canetti am Rande des Kreises der Ausgewanderten und ihrer neuen Freunde. Zu groß sind die Unterschiede : Der Autor, der England als eine zweite Heimat erlebt und, nach schwierigen Jahren, sich endlich als Schriftsteller profiliert, erlebt in dieser Zeit »die Verwandlung eines mitteleuropäischen Dichters (Protagonist der vorangegangenen Autobiographie) in einen Londoner Intellektuellen, der denkt auf dem gleichen Niveau wie die führenden Persönlichkeiten seiner Zeit zu sein« (Adler 2005, S. 186). Er lässt sich zu keiner manuellen Arbeit zwingen und muss sich deshalb nicht mit den von anderen bestimmten Regeln auseinandersetzen. Seine Ziele sind nicht auf das Überleben und die Sicherheit reduziert, und er konzentriert sich weiterhin auf die Niederschrift der epochalen Abhandlung »Masse und Macht«. In Aichingers Erinnerungstext bleibt er zudem ohne jeden persönlichen Kontakt zu anderen (seine Frau Veza wird im Text nicht erwähnt), während die Anwesenden paarweise beschrieben werden, Jim und Dori, André und René, die »Ladies«, zwei Schneiderinnen, die beiden Zwillinge, die einen, die etwas können, die anderen, die etwas nicht können. Und sie alle bezeugen auf unterschiedliche Weise Lebendigkeit, Liebe zueinander und Hoffnung, obwohl sie physisch und geistig zerbrechlich, arm und marginal (geworden) sind. In dem kurzen, fast blitzlichtartigen Erscheinen in Aichingers Reminiszenz stellt Canetti eine stumme, fast negative Präsenz dar, die in dieser vom Visuellen geprägten Erzählung den kommunikativen Wert annimmt, den Roland Barthes dem dritten Sinn zuschreibt : Er kommuniziert nicht, symbolisiert nichts – weder historisch noch individuell, wie in Freuds Traumanalysen der ›Dritte‹, der ›auch dabei war‹, keine Rolle hat, obwohl der Traum eigentlich diesem Dritten galt, der aber in der Entstellung des Traums an den Rand gedrängt wird. Dann wird die Szene des Traums der einen Person zugeschrieben, und die andere – in der Regel wichtigere – tritt als sonst unbeteiligte Anwesende daneben hin […]. Ein solches Element des Trauminhalts ist dann einem Determinativum in der Hieroglyphenschrift zu vergleichen, welches nicht zur Aussprache, sondern zur Erläuterung eines anderen Zeichens bestimmt ist. (Freud 1982, S. 318 – 319)
Und doch ruft er beim Leser Fragen nach dem Sinn seiner bloßen Anwesenheit hervor, und danach, was der nasse Wind Englands bedeuten soll, der mit seinen Böen Canettis Perfektion und Ruths Stirnfransen durcheinanderbringt. Aichingers Text unterstreicht
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Der Wind und die Tauben
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mit diesem Bild eine ihm entgegengesetzte Haltung, die nicht auf Ordnung pocht, die keine Perfektion erreicht, aber die für das Lebendig-Sein, für das Leben selbst steht. Canetti ›taucht‹ hier ›auf‹ (und Auftauchen steht hier für das Gegenteil von Untergehen) wie in Aichingers erstem Bericht die Küste, die die Insel umrandet : Von der Küste […] hat man die Empfindung, in London einzufahren, und auch mitten in London vergisst man die Küste nicht. Sie bleibt gegenwärtig und diese Gegenwart ist wesentlich. Denn so wie angesichts des Todes die Dinge eine neue Perspektive bekommen, viel wichtiger und zugleich viel unwichtiger werden, so werden sie es auch angesichts der Küste. (AuzM, S. 24)
Abgesehen von dieser Erwähnung findet man in den Schriften Aichingers keinen weiteren Hinweis auf Canetti und noch weniger auf eine literarische Auseinandersetzung mit ihm und mit seinem Werk, und dies weder in der Zeit dieser kurzen persönlichen Bekanntschaft noch in den Jahren, in denen der Schriftsteller berühmt wurde : Es fehlen Dokumente einer literarischen oder auch persönlichen Beziehung, mit der einzigen Ausnahme eines kurzen, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrten Briefs von Canetti an Aichinger, der sich auf das Gedicht bezieht, das sie Hans Günther Adler anlässlich von dessen 75. Geburtstag gewidmet hatte (undatiert, ohne Ortsangabe, drei Blätter in Stenographie ; DLA Marbach, Bestand : A :Adler, Hans Günther°Steiner, Franz Baermann, Signatur : HS.1996.0151.00450. Ich danke Ruth Vogel-Klein für diesen Hinweis). Trotzdem werden Aichinger und Canetti immer wieder miteinander in Verbindung gebracht. Aufgrund der oben zitierten Reminiszenz und angesichts der Menge an Themen, die in den Werken beider Autoren auftauchen (und nicht nur in deren Werken), werden sie häufig gemeinsam betrachtet, oft in weitläufigen kritischen Konstellationen, die nicht für eine direkte Beeinflussung bürgen. Diese sind : Die Erinnerung an die Kindheit, die Thematisierung des Hörens als Alternative zur machtstrebenden Rhetorik (Schneider 2008, S. 65), die Zurückhaltung im Urteil über die Vergangenheit (vgl. Lorenz 2000, S. 279), Desorientierung und Suche nach der eigenen Identität in der Nachkriegszeit und die damit verbundene Strategie einer fragwürdigen – oft heuristischen – Neuzusammensetzung des Ichs (GGE, 279). Prägnanter noch ist der Hinweis auf eine humanisierte Präsenz von Tieren (vgl. Lorenz 2000) und – besonders in Aichingers Frühwerk Wo ich wohne (1954), Zu keiner Stunde (1957) und Eliza Eliza (1958) – eine nicht-anthropozentrische Perspektive als Ansatz einer Poetologie des Posthumanistischen und »Postanimalischen«, die eine rationale, klassisch-hierarchische Denkweise kippt (vgl. Kleinhans 2013).
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Abgesehen von diesen Interpretationsversuchen werden Canetti und Aichinger in den einschlägigen Aufzählungen bedeutender deutscher und österreichischer Schriftsteller ihrer Zeit gemeinsam genannt (vgl. Lorenz 1989, S. 7). Sie werden häufig in umfangreichen Listen erwähnt, die darauf abzielen, ein neues Paradigma der Nachkriegsliteratur mühsam zu definieren, das Elemente der prä-nationalsozialistischen Vergangenheit aufweist und zugleich einen Neubeginn manifestiert. In dieser Aufstellung treten die Verschiedenheiten in den Hintergrund, und die beiden Schriftsteller werden zu Bestandteilen einer problematischen Rekonstruktionswerkstatt, ohne dass eine klare und aussagekräftige Verbindung zwischen ihnen hergestellt wird. Eigentlich ist die distanzierte Beziehung sowohl zwischen Aichinger und Canetti als auch zu anderen Autoren ihrer Gegenwart (wie der Vergangenheit) stark von der existenziellen und damit auch der poetologischen Rand-Position beider geprägt : Sie zeigen beide eine kritische Haltung, die Isolation bekundet (und teilweise plausibel macht, vgl. Pajevic 2009), die die Wahrnehmung der eigenen Existenz als die einer exilierten definiert und das Ausgeschlossen- und Verworfensein immer weiter reflektiert. Aichinger wie Canetti sind der »Unzugehörigkeit ausgesetzt« und in der »Herkunftskultur fremd und heimatlos, mithin in einer Position des Dazwischen verortet« (Thums 20132, S. 206). Doch gibt es zwischen ihnen nicht unbedeutende Affinitäten, besonders in dem dichten Gewebe der Überlegungen über die Macht, in der obsessiven Konfrontation mit Tod und Angst, in dem ständigen Sichtwechsel und in der Sehnsucht nach einem brauchbaren Sinn des Lebens. Und wenn Canetti in Ilse Aichingers poetischem Rückblick stumm bleibt, weil eine Distanz herrscht, taucht hingegen die Autorin in seinen Texten als labile, aber auch kritische und unverkennbare Präsenz mit mäßigen Hinweisen einer Annäherung auf (vgl. Hanuschek 2005, S. 514, 550). Interesse zeigt er für die verschiedenartige Entwicklung der Zwillingschwester : Eine wird Schauspielerin, die Andere Dichterin ; eine lebt in London, die andere in Wien ; eine heiratet, die andre bleibt Jungfrau ; eine verabscheut alle Religionen, die andre wird streng katholisch. Sie sehen sich noch immer so gleich, dass man sie nur auseinanderhalten kann, wenn sie Englisch sprechen. (Handschriftliche Notiz vom 2. Januar 1948 im Zürcher Nachlass Canettis, ZB 10 ; zitiert nach Hanuschek, 2005, S. 394)
Und Ilse und Helga sind wahrscheinlich der Ausgangspunkt für einige Überlegungen Canettis zum Thema Zwillinge : Schöne Zwillingsfrauen machen mich traurig ; ist es, weil ich immer nur den einen Teil gesehen habe und sie so zusammengehören, dass man das Fehlende spürt ? (Handschriftliche Notiz vom 3. Juli 1947 im Zürcher Nachlass Canettis, ZB 9 ; zitiert nach Hanuschek, ebd.)
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Der Wind und die Tauben
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Was aber das Literarische betrifft, so liest Canetti gelegentlich und schätzt, was Ilse Aichinger schreibt. Seine späteren Tierkonstellationen zeigen Ähnlichkeiten mit ihren früheren Erzählungen – besonders »Mein grüner Esel« (1960), »Die Maus« (1962), »Port Sing« (1965) –, in denen durch die Dekonstruktion des alltäglichen Gebrauchs der Sprache und den deutlichen Perspektivenwechsel eine entschiedene Machtkritik geübt wird. Besonders zwei »Szenen« aus den fünfziger Jahren, »Belvedere« (1957) und »Tauben und Wölfe« (1957), welche auf Machtmechanismen aufmerksam machen, weisen erhellende Ähnlichkeiten mit dem drei Jahre späteren theoretischen Werk Masse und Macht auf. Man merkt es vor allem in den Passagen, in denen Canetti von der Stierherde schreibt. Sie sind fast wörtlich in Aichingers Beschreibung der Stierherde in der Erzählung »Belvedere« wiederzufinden (ZkSt 1991, S. 33 – 45) : Die Stierherde stellt für beide ein markantes Beispiel für eine Masse dar, die so »nah und gegenwärtig« ist (Canetti 1980, S. 333), die eine präzise Konstellation von Gewalt und Zerstörung evoziert und »reveal[s] an ongoing struggle against the fascist legacy and postwar materialism« (Lorenz 1989, S. 215). Auch die Unterscheidung Canettis zwischen Macht und Gewalt wird von Aichinger schon in dem Dialog »Tauben und Wölfe« thematisiert (ZkSt 1991, S. 91 – 98). Hier geht es um die nur scheinbare Freiheit eines Mädchens, das in eine Taube verwandelt wird. In ihrer progressiven und freiwilligen Unterwerfung stellt sie ein Gegenmodell zur konsolidierten ›Massifizierung‹ der Stiere in »Belvedere« dar. Es bedarf einer langsamen Vorbereitung, eines geschickten und zunehmenden Krafteinsatzes, damit sich das Mädchen auf der Suche nach Nahrung dazu entschließt, ihre Verwandlung fast ohne Widerstand zu akzeptieren. In Bezug auf das Verfahren der Machtergreifung schreibt Canetti in unüberhörbarer Konsonanz : »Es gehört also dazu – im Gegensatz zur Gewalt – eine gewisse Vorbereitung, mehr Raum und auch etwas mehr Zeit« (Canetti 1980, S. 334). Allmählich spürt auch das Mädchen in Aichingers Text die Faszination für die Masse und – wie Canetti ebenfalls betont (Canetti 1980, S. 14) – den unwiderruflichen Wunsch Teil der Masse zu sein. Und kein Wind weht wo die Tauben gedächtnislos und ahnungslos sich vermehren. Literatur Adler, Jeremy (2005) : Postfazione, in : Elias Canetti, Party sotto le bombe, ital. Übersetzung v. Ada Vigliani, Milano, S. 172 – 197. Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen, Frankfurt/M.
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Roberta Ascarelli
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Gruppenbild mit London. Ilse Aichinger und H. G. Adler Co-starring : Bettina Adler, Helga Aichinger, Günter Eich nebst Elias Canetti und Erich Fried H. G. Adler, 1910 noch als österreichischer Staatsbürger in Prag geboren, und Ilse Aichinger, Jahrgang 1921, erlebten in Prag und Wien Antisemitismus, Ausgrenzung und Judenverfolgung. Aichinger als Kind eines nichtjüdischen Vaters blieb unter ständiger Bedrohung mit ihrer jüdischen Mutter in Wien, Adler wurde in vier verschiedene Lager, darunter Auschwitz und Theresienstadt, deportiert und kehrte mit schweren Gesundheitsschäden zurück. Das Überleben war überschattet von dem Verlust liebster Menschen, die von den Nazis ermordet worden waren. Aichingers Großmutter, ihre Tante und ihr Onkel wurden 1942 in Maly Trostinez/Minsk ermordet, Adlers Frau Gertrud starb 1944 in Auschwitz in der Gaskammer, achtzehn andere Familienmitglieder kamen um. Adler lebte ab 1947 im Exil in London. Außer seinen literarischen Werken und einer Anzahl von Essays zu Literatur, Geschichte und Philosophie wurde ein wichtiger Aspekt seines Wirkens eine Reihe von historischen und soziologischen Schriften und Vorträgen zur Judenverfolgung und zu den Konzentrationslagern. 1948 schloss Adler seinen großen historischen Band über das Lager Theresienstadt ab, der ihn nach der Veröffentlichung 1955 – dank einer durch Adorno erlangten Subvention (Atze 1998, S. 137) – schlagartig als Historiker bekannt machte (Adler 1955, Überarbeitung 1960). Gattungsmäßig nehmen Teile dieses Buches eine Zwischenstellung zwischen Literatur und historischer Analyse ein : Sie drücken in literarischer Sprache Empathie, Emotionen und ethische Wertungen aus (Vogel-Klein 2011, S. 192 ; Ottmann in : Vogel-Klein 2010, S. 119 ff.; J. Adler in : Adler 2005, S. 899 ff., 906). Dieses Werk und seine anderen Sachbücher, Essays, Vorträge und Radiosendungen zur Shoah prägten die Erinnerungslandschaft der jungen Bundesrepublik nachhaltig. Adler sah seine Lebensaufgabe und seine moralische Verpflichtung gegenüber den Ermordeten in seiner Zeugenschaft, die historisch-dokumentarische Arbeiten ebenso einschloss wie literarische Werke (vgl. J. Adler in : Adler 2005, S. 897 ff., S. 925). Zwischen H. G. Adler, seiner zweiten Frau – der jüdischen Pragerin Bettina Gross – und der elf Jahre jüngeren Helga Aichinger, die 1939 mit einem Kindertransport aus Wien nach England zu ihrer Tante Klara Kremer geflohen war, entwickelte sich im Kontext des Freundeskreises der in London exilierten jüdischen Österreicher Elias Canetti, Franz Baermann Steiner und Erich Fried (Atze 1998 ; J. Adler/Dane 2014) eine freundschaftliche Beziehung. Ilse Aichinger, die
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durch den Briefwechsel mit ihrer Zwillingsschwester Helga an deren Leben teilhatte und sie ab 1947/48 auch mehrfach in London besuchte (Herweg 2021), wurde in diesen Freundeskreis mit einbezogen und erfuhr in dem Kontext, was das »bittere Brot« des Exils ( J. Adler, 2020) bedeutete : die materielle Not, die sprachliche Isolierung, die »Ent-Ortung« (Thums in : Bischoff 2013, S. 183 – 209ff.), die »gespaltene Identität« ( J. Adler 2015, S. 17), die Trennung von Freunden und Angehörigen und die »Unzugehörigkeit der Überlebenden« (Thums in : Fußl/Gürtler 2013, S. 51). Gleichzeitig fanden diese Exil-Erfahrungen auch ein Echo in der Fremdheit und »Bodenlosigkeit« (VogelKlein 2020, S. 178), die Aichinger in dem antisemitischen Nachkriegs-Wien empfand, mit der bitteren Erinnerung an Wiener ›Bystander‹ bei den Deportationen. Ausgehend von den Zusammenkünften mit Helga in London entwickelte sich im Lauf der Jahre eine Freundschaft auch zwischen Aichinger und Adler, in die die Ehepartner Günter Eich und Bettina Adler, später auch deren Kinder Jeremy, Clemens und Mirjam und die ebenfalls im Londoner Exil lebende Tante Klara Kremer eingebunden waren. Zwei Romane Adler und Aichinger hatten nach 1945 begonnen, unabhängig voneinander die Judenverfolgung und Judenvernichtung in zwei Romanen zu verarbeiten, die zu den bedeutendsten Fiktionen der Shoah in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gehören. In den Romanen Die größere Hoffnung (Erstdruck 1948/überarbeitete Fassung 1960) und Eine Reise (Manuskript 1951/Erstdruck 1962) wird das persönliche Trauma der Shoah literarisch transponiert und verfremdet. Trotz der prinzipiellen thematischen, stilistischen und strukturellen Unterschiede zwischen beiden Romanen bestehen Gemeinsamkeiten : In einer indirekten Schreibstrategie (»écriture oblique«, Lejeune 1991) werden konkrete Elemente und Spuren der historischen Wirklichkeit in einem magisch-realistischen Darstellungsmodus durch imaginäre, surreale Elemente und eine Wirklichkeitsdimension mythischer, mystischer oder poetischer Prägung verfremdet. Die multiperspektivische »unentscheidbare« Erzählinstanz (Palmier 2014, S. 217 ff.; Martínez-Scheffel 2012, S. 107 – 108) schafft thematische Diskrepanzen und narrative Brüche. Für beide Romane gilt, dass die Schreibweise mit der wechselnden Fokalisierung zur »Verunsicherung des Lesers bzw. der Auflösung jeglicher Sicherheit« führt (Betten/Fellner 2013, S. 83). Inhaltlich werden Verunsicherung und Erschütterung durch die verfremdete und eindringliche Darstellung eines grauenhaften und unverständlichen Geschehens ausgelöst, dem Elemente der Hoffnung oder der Poesie gegenüberstehen (Vloeberghs, in : Müller, S. 183 – 184 ; Vogel-Klein 2010, S. 95 – 101). Das reale Geschehen der Shoah
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bleibt unausgesprochen, beide Autoren sind in den Romanen sehr weit von einer dokumentarischen Darstellung entfernt, wie Adler sie 1948 in seinem Band über Theresienstadt geleistet hatte. Adler schrieb 1951 Eine Reise als den zweiten Roman der in London verfassten Shoah-Trilogie, nach Panorama (Manuskript 1948/Erstdruck 1968) und vor Die unsichtbare Wand (Entstehung 1954 – 1961/Erstdruck 1989) (Hocheneder 2010, S. 209 ff.). Elf Jahre lang, bis 1962, hatte Adler vergeblich versucht, einen Verleger für Eine Reise zu finden (Vogel-Klein 2010, S. 90 ff.). Die jahrelangen Zurückweisungen all seiner Romane blieben eine tiefe Enttäuschung für ihn (Adler 1970). Aichinger hatte Eine Reise gelesen (s. u.), aber es ist unbekannt, ob sie die anderen Teile der Trilogie kannte. Sie beendete eine (fast) letzte Fassung ihres eigenen Romans kurz vor der ersten Reise nach London im Dezember 1947 ; er wurde 1948 gedruckt. Erich Fried hatte in London 1948 das Typoskript des Romans mit großer Bewunderung gelesen und durchgearbeitet (»größte Dichterin«) und eine Reihe von Korrekturvorschlägen gemacht (Görtschacher/Malcolm, in : Görner/Ivanovic/Shindo 2011, S. 72 ff ). In einem von V. Kaukoreit publizierten Brief schrieb Fried im März 1948 : »Ich habe nichts geschrieben, was sich annähernd mit dem vergleichen könnte, was Du uns allen schenkst« (a. a. O., S. 73). Adler besaß Die größere Hoffnung in der Erstausgabe und schätzte das Buch sehr ; ihn überzeugte besonders die Darstellung der Shoah aus der Kinderperspektive, wie sein Sohn Jeremy Adler per Mail mitteilte (7. August 2022). Verbundenheit Anfang der fünfziger Jahre entspann sich ein Briefwechsel zwischen den Paaren EichAichinger und Adler, der im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrt wird (Marbacher Archivkästen A I 63 – 65 1985 – 1987 ; A II 23 ; A II 93). Die Briefe stammen vor allem von Ilse Aichinger und H. G. Adler. Bettina Adler, Günter Eich (und später sein Sohn Clemens Eich) schrieben seltener. Auch von Helga Aichinger haben sich einige Briefe an die Familie Adler erhalten. Adlers Briefe, die sich in seinem eigenen Nachlass als Durchschläge erhalten haben, waren mit der Maschine geschrieben, wie sein ganzes hinterlassenes Werk. Ilse Aichingers Briefe, zuerst handgeschrieben und ab 1954 oft getippt, wurden von Adler zusammen mit den Briefumschlägen, auf denen als Absender handschriftlich »Ilse Eich« steht, sorgfältig aufgehoben. Meist ging es um das tägliche Leben mit den Kindern, Ehepartnern und Eltern, um Umzüge, Krankheiten, Reisen und Treffen. Von Politik und Geld, das beiden Paaren oft fehlte, war nicht die Rede. Adler schrieb oft über die eigenen literarischen Werke, ihre Entstehung, Publikation oder Rezeption, im Gegensatz zu Ilse Aichinger. Ein häufiges Thema des Briefwechsels war Helga Aichinger, die jahrelang bei all ihren Sorgen und
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Schwierigkeiten in London immer wieder bei der Familie Adler eine Zuflucht fand. Die Adlers bedeuteten für die sensible Helga Familienersatz, und Ilse Aichinger, die ihrer Schwester nach wie vor sehr nahestand, war zutiefst dankbar dafür, wie man in einer großen Anzahl von Briefen an Bettina und »Günther« Adler nachlesen kann. Die erste Spur des Briefwechsels Adler–Aichinger–Eich ist ein Brief Adlers an »Fräulein Aichinger« in Ulm, wo sie seit 1950 in der Hochschule für Gestaltung mit Inge Scholl zusammenarbeitete. »Ich glaube, Sie werden sich meiner im Zusammenhang mit Canetti oder Steiner noch erinnern. Inzwischen hat Inge Bachmann [die zu dieser Zeit in London bei Helga Aichinger wohnte, R. V-K] meiner Frau und mir öfters von Ihnen erzählt« (12. Juni 1951). Ob Aichinger vielleicht eine Möglichkeit sehe, ihn zu einem Vortrag einladen zu lassen ? Er bittet sie, mit Frau Dr. [sic] Scholl zu sprechen, »der Sie gern sagen mögen, wie nahe mir ihr erlittenes Schicksal ist, zumal ich im Krieg vier Jahre in Nazilagern verbrachte«. Dieser Plan einer Vortragsreise realisierte sich jedoch nicht ; Aichinger verfügte wohl auch über keine realen Möglichkeiten, Vortragende einzuladen. Aus diesem »beruflichen« Kontakt und den gemeinsamen Begegnungen mit Helga erwuchs eine freundschaftliche Beziehung, die im Laufe der Jahre immer enger wurde und ab 1953 auch Günter Eich einschloss. Man traf sich aus Anlass der Besuche bei Helga Aichinger-Singer und ihrer Tochter Ruth in London, oder bei der Familie Eich/Aichinger in Lenggries oder Großgmain. In einem der ersten Briefe Ilse Aichingers an Bettina Adler vom 30. November 1953, nach einem London-Besuch, war die Rede von Dankbarkeit »für das zu Hause, das ich bei Ihnen finden durfte und das auch Helga bei Ihnen findet«, von Humanität, erlittenem und geteilten Leid : »Es bleiben noch so viele Sorgen, und die größte ist vielleicht die, daß man sich bei soviel Ungeborgenheit auf der ganzen Welt eine eigene Geborgenheit fast verwehren möchte. Aber dann sehe ich doch, daß es eine Geborgenheit gibt, die nicht saturiert ist, ein zu Hause, das dem Leiden der andern offensteht, und daß es das gibt, sehe ich am deutlichsten bei Ihnen. […] Es ist ja auch so sehr da und so wirklich, das zu Hause bei Ihnen dreien, wie nur etwas, das erlitten ist, wirklich sein kann. Und das so sehr erlitten ist« (Hervorhebungen von RVK). Aichinger sprach in diesem Brief an Bettina Adler sozusagen die Frage des Wohnens »nach Auschwitz« an, das für sie nicht der Rückzug in eine geschichtsabgewandte Privatheit sein konnte. Ein Zuhause verdient nur diesen Namen, so Aichinger, wenn es das Erlittene und das Leid anderer in sich birgt. Sie hielt hier 1953 fest, was sie mit Bettina und Günther Adler zutiefst verband und die Grundlage ihrer Freundschaft bildete. Fünf Monate später, am 1. Mai 1954, schrieb Aichinger, (wobei sie, wie so oft, auch für die Helga gewährte Unterstützung dankte), von dem »Gefühl von Verbundenheit […], das ich immer zu Ihnen habe, […], froh, daß es auch bei Ihnen so ist«. Dieser gefühlvolle, herzliche Ton kennzeichnet den ganzen Briefwechsel. Vom 23. Juli 1956 stammt eine Karte mit Dank an die
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Künstlerin Bettina Adler für eine kleine Lithographie, verbunden »mit viel Heimweh nach ihr !« Einmal berichtete Ilse den Adlers von ihrem Alltag aus Lenggries : Augenblicklich sind unsere beiden Mütter hier, seit Weihnachten, Günters Mutter hatte eine ziemlich schwere Attacke und meine Mutter hilft uns und spricht mit unserem türkischen Mädchen kroatisch, während wir allmählich beginnen, türkisch zu lernen, also ziemlich babylonisch. Dazwischen versuchen wir auch zu schreiben. Günter grüßt Sie vielmals, jeden von Ihnen, von den Kindern und Müttern alles Liebe, und ebenso und immer von Ihrer Ilse.« (18. 2. 1964)
Adler antwortete am 17. März 1964 : Nur wenige Briefe freuen uns so sehr wie Ihre, denn Sie vermögen es, im Schreiben ganz zu erscheinen, und da ist sofort die Nähe hergestellt, die uns immer wohltätig erwärmt, wenn wir an Sie denken. Wir sind dankbar, Ilsle, daß Ihre Operation so harmlos verlaufen ist.«
Als Adler von Würzburg aus, wo er sich beruflich aufhielt, einen Besuch in Lenggries plante, teilte er mit : »Ich freue mich schon auf Sie alle. Jede Zusammenkunft mit Ihnen ist festlich und froh« (20. Oktober 1962). Gleichzeitig schrieb er von der Diskrepanz zwischen den »grausigen Akten«, die er erforschte, und Würzburg, der »herbstgoldübergossenen barocken Pracht, ein verzierlichtes Prag, weniger unheimlich, freilich auch viel innerlich fremder«. Bei den »grausigen Akten« handelte es sich um die Gestapo-Akten der Stadt, die er im Auftrag des Münchner Instituts für Zeitgeschichte für Der verwaltete Mensch auswertete (Adler 1974). Diese Notiz blieb eine Ausnahme, von Adlers Arbeit als Historiker der Shoah ist ansonsten in dem Briefwechsel nicht die Rede. Ein aufschlussreiches Palimpsest, das gewissermaßen seine Existenz widerspiegelt, ist ein Brief Adlers vom 27. Oktober 1954 : Auf der Rückseite seines blauen Durchschlagpapiers befinden sich Seiten aus seinem Manuskript des Buches über Theresienstadt, in denen es um Tod, Leichen und Zwangsabtreibungen geht (»Selbst die Kinder sehen die schlecht verhüllten, ausgetrockneten und verschmutzten Leichen.«). Das einzige Buch Adlers, das sich in der Bibliothek Aichingers und Eichs erhalten hat, ist übrigens laut der Tochter Mirjam Eich Adlers Band über Theresienstadt, mit zwei eingelegten Rezensionen (Mirjam Eich, Mail vom 30. August 2022). Der Briefwechsel Adler – Aichinger intensivierte sich in den Jahren der schwierigen Trennung Helgas von ihrem zweiten Ehemann Donald Michie, 1960 – 1964, als sich das Ehepaar Adler um die verstörte junge Frau kümmerte und sie sogar ab 29. September 1960 für längere Zeit bei sich aufnahm (die Briefe von Helga Michie an Bettina und H. G. Adler befinden sich in dem Marbacher Archivkasten A I 18
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1960 – 1980). Ilse wurde in einer großen Anzahl von Briefen insgeheim informiert und um Rat gefragt. Am 14. Oktober 1960 bat Bettina um einen Besuch Aichingers : »Wir fürchten, liebe Ilse, daß wir ohne Ihre Gabe, den rechten Weg zu finden, nicht Klarheit schaffen können. […] Wenn Sie wirklich für eine Woche oder 10 Tage kommen könnten, wären wir Ihnen sehr dankbar.« Anlässlich einer Krise Helgas schrieb H. G. Adler besorgt am 17. März 1964 an Ilse : »Wir möchten nicht, daß die Beziehung zwischen uns leide, bloß weil sich Helga […] von uns abgewandt hat. […]. Möge nur diese scheußliche Mißlichkeit nichts in unserer Beziehung trüben ! Wir sind glücklich, daß es uns gelungen ist, die Beziehung zu Ruthi, die sehr glücklich und zufrieden schreibt, völlig unberührt zu erhalten.« In Aichingers Antwortbrief liest man : »Herzlichen Dank für Ihren Brief vom März ! So lieb schreiben Sie – nein, wir möchten keineswegs ohne Ihre Zuneigung leben und noch weniger ohne die unsere für Sie !« Was sie für Helga getan hätten, gehe »über normale Freundesdienste weit hinaus. […] Wir werden hoffentlich über alles sprechen können, wenn Günther uns im Sommer besucht« (6. April 1964). Die Freundschaft blieb über die Jahre bestehen. Nach dem Tod von Aichingers Mutter Berta im Dezember 1983 war Ilse den Adlers dankbar für ihre liebevolle Anteilnahme. »Das Bewußtsein Eurer starken inneren Nähe hilft mir !« (26. Januar 1984), und im Dezember 1985 : »Liebster Günther, liebste Bettina, […] Ich bin in diesem Jahr sehr dankbar dafür, daß es mir ein Wiedersehen mit Euch geschenkt hat und beginne schon, mich auf das nächste zu freuen ! Grüßt Jeremy und seine Frau herzlich von mir und seid in Liebe und Dankbarkeit umarmt von Eurer Ilse. Auch Clemens, Elisabeth und Mirjam grüßen vielmals.« Dass die Kinder, Ehepartner und die Ehefrau von Clemens in die Grüße mit einbezogen wurden, war keine leere Floskel, wie dieser Briefwechsel zeigt, an dem auch Günter Eich, der Sohn Clemens und Helga Aichinger – mit vielen liebevollen Briefen – teilnahmen. Jeremy Adler schreibt : »Wir waren wie eine Familie. Ilse, Guenter, Clemens, Mirjam, Helga, Ruth, Tantchen Kremer und Adlers waren alle seit 1948 auf ’s engste verbunden. Briefe, Telefon, Hausbesuche usw. schufen den Zusammenhang« ( J. Adler, Mail vom 30. Januar 2022). Auch in dem Briefwechsel zwischen H. G. Adler und Ilse Aichinger taucht der Begriff »Familie« auf, als Adler 1957 ein »Familientreffen« im August und 1959 ein »Familienfest« herbeiwünscht. Schreiben, Veröffentlichen Die Existenz Adlers in England, weit entfernt vom deutschen Literaturbetrieb und den Medien, erschwerte berufliche Kontakte und Publikationen seiner literarischen Werke. Aichinger und Eich teilte er seine Enttäuschung über seine mangelnden lite-
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rarischen Erfolge mit : »Es ist sehr hart, wenn man im Alter von 44 Jahren und einem umfangreichen Werk nahezu ein ungedruckter Autor ist« (25. Januar 1954) und : »Der totale Mißerfolg mit allen eigenen literarischen Arbeiten zwingt mich, bei den Dingen zu bleiben, zu denen man mir nun so etwas wie einen bekannten Namen angehängt hat« (18. November 1957). (Zweifellos sprach er von seinen erfolgreichen historischen Arbeiten, die ihm weniger am Herz lagen.) Die freundschaftlichen Antworten von Aichinger argumentieren, dass die Qualität eines Buches nichts mit dessen Veröffentlichung oder Rezensionen zu tun habe : »Die Schwierigkeiten, die die Unterbringung Ihrer Arbeiten verursacht, spricht ja nur für Sie, und Sie dürfen sich dadurch nicht entmutigen lassen« (9. September 1954) ; und zu den (fehlenden) Rezensionen von Eine Reise antwortet sie : »Die […] große Stille, von der Sie schreiben, spricht nur für das Buch !« (18. Februar 1964) und am 23. Februar 1959 : »Daß Ihre Vorlesung in München, Günther, trotz Schweigen in den Zeitungen (viell. gerade deshalb) Ihre (sic) Wirkung getan hat, und noch tun wird, davon sind wir überzeugt.« Die Ermutigungen des exilierten Schriftstellers bestanden auch in der Vermittlung von nützlichen Kontakten im Literaturbetrieb durch Günter Eich (2. Februar 1954), dem Lob einer »so guten« neuen Erzählung, mit ihrer »Zweigleisigkeit des Realen und Irrealen« (22. Juni 1955) und dem Mitgefühl Aichingers für seine beruflichen Enttäuschungen : Oft scheint mir Schreiben, unser aller Beruf, das Seltsamste auf der Welt, vielleicht am verwandtesten den Beschwörungsformeln, die Clemens [3 Jahre, R. V-K] vor sich hin sagt. Aber die Fluten von Büchern, die selbst hier in Lenggries die winzigsten Läden überschwemmen, bedrücken uns eher, besonders wenn wir daran denken, wie darüber das Wirkliche unveröffentlicht bleibt und Sie, Günter – wenn auch mit bewundernswertem Humor – das Jahr 1957 als silbernes Jubiläum eines »ungedruckten« Schriftstellers begehen sollen ! (3. Dezember 1957)
Die Veröffentlichung des Romans Eine Reise einige Jahre später wurde dann von allen mit Begeisterung begrüßt, wie Helga Aichinger berichtete : »Aber die größte Freude hat uns, Günter, Ilse und mir die Nachricht über die ›Reise‹ gemacht, wir sind ja alle so glücklich darüber« (Helga Aichinger an Adler, 1962, o. D.). Ilse Aichinger schrieb über Eine Reise am 27. Februar 1962 : »Herzlichsten Dank für Ihr Buch [Eine Reise], das uns große Freude macht, wir werden die Trommel rühren. Und mit Liebe. Sie wissen es.« Außerdem reagierte sie auf einen nicht erhaltenen Brief Adlers, der sich offenbar über das fehlende Echo des Literaturbetriebes auf Eine Reise beschwert hatte. Sie schrieb am 18. Februar 1964 : »Daß Doderer ›Die Reise‹ so schön und adäquat besprochen hat, freut uns besonders. Eine solche Besprechung ist viel besser als viele mittelmäßige.« Aichinger und Eich schickten regelmäßig ihre eigenen Bücher nach London ; sie sind
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im Nachlass Adlers mit ihren Widmungen erhalten. Die Widmungen gehören zu dem Briefwechsel, denn schon die Zusendung der eigenen Werke bedeutet eine Form der Kommunikation, und die Widmungstexte sind oft persönliche Botschaften. 1957 schrieb Aichinger in das Exemplar von zu keiner stunde : »Für Günter und Bettina als Zeichen der Freundschaft«. Es folgen in den verschiedenen Bänden Aichingers ebenso freundliche Widmungen an die Adlers. 1967 schrieb sie, gerade in London, in den neu aufgelegten Band Die größere Hoffnung : »An einem der schönsten Nachmittage – für Günther und Bettina und Jeremy – in Liebe Ilse«. In Anlässe und Steingärten, eines seiner sechs Bücher, die den Adlers gewidmet waren, schrieb Eich 1966 hinein : »Den lieben Adlers in Freundschaft«. Das letzte erhaltene Widmungsexemplar Aichingers stammt von 1987, es handelte sich um Kleist, Moos, Fasane mit dem Eintrag : »[…] für Bettina und Günther mit den liebsten Wünschen, immer Eure Ilse.« Adler reagierte auf die meisten dieser Sendungen, zum Teil ausführlich. Zu dem Band Eliza, Eliza schrieb er am 12. Dezember 1965, dass er die »herrliche Titelgeschichte« begrüße, so wie viele andere Erzählungen des Bandes. Den »Herodes« habe ich Jeremy [18 Jahre, R. V-K.] und Bettina mit großem Erfolg vorgelesen. […] Stilistisch fällt mir eine Vereinfachung auf, […] ohne daß der Satzbau kunstlos würde, was er der lebhaften Reihung von Hauptsätzen und deren rhythmischen Bau verdankte. Auffallend ist auch die sparsame Reihung des Adjektivs, ohne daß die Texte an Buntheit verlieren, was vor allem der überzeugenden Kraft der Einfälle, zum Teil auch dem Geschick beim Setzen von Adverbien zu verdanken ist. Ich glaube, der Band beweist einen künstlerischen Fortschritt, und ich wünsche nur, daß dies auch die Kritiker bemerken mögen.
Er nahm hier die Haltung des älteren Mentors ein, der analysiert, urteilt und künstlerischen Fortschritt bescheinigt. Zu Schlechte Wörter schreibt Adler am 21. Juli 1976 : Mir bedeutet es eine große Freude, nach Jahren, in denen ich kaum etwas Neues von Dir gelesen habe, die Konsequenz und Entwicklung Deiner Kunst zu bewundern und ein wenig zu studieren. Die Reinheit der Sprache, die Sicherheit des sprachlichen Ausdrucks haben sich noch beträchtlich erweitert und vertieft, was zwei verschiedene Vorgänge sind, deren Harmonie hier aber erreicht ist. […] Die Tragik, die zu dieser Kunst gehört, fühle ich mit, ihr Wesentliches ist mir nicht entgangen.
Jeremy Adler erinnert sich, dass Ilse Aichinger eine Verwandtschaft zwischen ihren Erzählungen und der Kurzprosa Adlers sah und versucht hatte, diese bei Fischer veröffentlichen zu lassen (Mails J. Adler vom 9. März 2022 und vom 6. August 2022). Es habe auch sonst Gespräche über Literatur gegeben, so zum Beispiel über Kleist und
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Grass. Als Kommentar von Zu keiner Stunde notierte Adler am 20. April 1957, es gebe »kaum etwas in der gegenwärtigen deutschen Literatur, was dem Gehalt und der Stimmung nach bestimmten Tendenzen im eigenen literarischen Schaffen näher käme«. Adler beschwerte sich zuweilen, dass seine Post schleppend beantwortet werde und Reaktionen über seine zugeschickten Bücher ausblieben. Am 12. Dezember 1965 fragte er nach, ob sein Erzählungsband Sodoms Untergang (Adler 1965) nicht angekommen sei, und Bettina Adler erkundigt sich am 19. Januar 1966, ob denn die Familie krank sei oder Sorgen hätte, da man gar nichts höre, und spielte auf Aichingers Erzählungen in Eliza, Eliza (Aichinger 1965) an : »Wir sind mit Herodes und dem Löwen umhergestreift, sind mit dem grünen Esel über die Brücke gegangen u. haben mit Eliza auf dem Fächer gesessen – aber es kam kein Blatt von Ihnen. […] Gern wüßten wir von Ihnen.« Nach Erscheinen von Panorama 1968 schreibt Adler am 16. Januar 1969, »daß Ilse leider mit keinem Wort erwähnt, ob Ihr mein ›Panorama‹ erhalten habt, das ungefähr seit Ende Oktober bei Euch sein sollte. Gebt bitte kurz darüber Nachricht, damit ich allenfalls beim Verlag deswegen mahne.« Fast drei Monate nach Veröffentlichung kenne ich noch keine gedruckten Besprechungen, aber auch privat ist bisher kaum ein Widerhall zu spüren, so daß ich mir vorkomme, als hätte ich heimlich bei Nacht das Buch ins Wasser geworfen, wo es am tiefsten ist, und dort liegt es nun im Schlamm. Wenn es aber Euch erreicht hat, kann das nicht ganz stimmen. Darum sagt auch bitte ein Wort, aber die Wahrheit soll es freilich sein, wenn Ihr es nicht mögt.
Da es immer wieder Treffen und Telefongespräche gab, ist es wahrscheinlich, dass eine Reaktion Aichingers/Eichs auf die verschiedenen Werke Adlers in diesem Rahmen stattfand. Es sei hier kurz angemerkt, dass Elias Canetti sich viele Jahre früher, »1949 oder 1950«, an Ilse Aichinger als »Lektorin bei Bermann Fischer« gewandt hatte, um eine Drucklegung von Adlers Panorama zu befürworten. Adler sei ein »Dichter und Gelehrter von großen Talenten«, der auch die Wertschätzung Hermann Brochs erfahren habe. Der Roman habe Canetti »durch seine reiche Substanz großen Eindruck gemacht«. Er schreibt, der Roman müsse »gewissenhaft gelesen« werden, »das Buch und der Mann überhaupt sind die Mühe bestimmt wert […]« (Canetti 2018, S. 72). Dieser Brief ist ein Entwurf in Stenographie, das (eventuell) abgeschickte Original ist nicht erhalten. Eine anderweitige Korrespondenz zwischen Aichinger und Canetti liegt im Übrigen laut Johanna Canetti nicht vor (Mail vom 30. April 2022). Wie sehr Aichinger H. G. Adler bewunderte und schätzte, welch tiefe Dankbarkeit sie ihm gegenüber empfand, hat sie in ihrem Gedicht aus Anlass des 75. Geburtstags festgehalten.
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Ruth Vogel-Klein
Ein Versuch zu danken Die genaue Ahnung, das genaue Wissen, Schutz und Zuflucht. Die Helligkeit beim Eintritt macht gewiß :
Hier ist einer durch die Schwärze gegangen und bleibt. Für Günther Adler zum 2. Juli 1985 (Aichinger 1985/2022, S. 155)
Gedankt wird hier nicht nur für sein Werk mit seiner historischen und literarischen Dimension, sondern auch für seine Menschlichkeit, die »dem Leiden der andern offensteht« und »Zuflucht« gewährt. Der Dank an Adler geht aber noch sehr viel weiter : Er gilt seinem Überleben, dem »Bleiben«. Dies »Bleiben«, hervorgehoben durch die verkürzte Zeile und einen Punkt am Schluss des Gedichts, bedeutet den Sieg über die Vernichtung und das Verschwinden. Aichinger lässt Adler nach seinem Hindurchgehen durch die »tausend Finsternisse« der Shoah (Celan 1958, S. 186) als Lichtgestalt in einer klanglichen und inhaltlichen Helligkeit erscheinen. Diese »Helligkeit beim Eintritt« ist nicht nur ein formaler poetischer Kontrast zu der Schwärze der KZ-Welt. Das Bild taucht schon im Briefwechsel auf. In einer Phase der Überforderung und Übermüdung Adlers bei der Vorbereitung des Theresienstadt-Buches schrieb ihm Aichinger als Trost am 1. Mai 1954 : »Aber es wird bestimmt eine neue Helligkeit dahinter aufsteigen, noch stärker als bis jetzt.« Mein Dank für die Informationen, die Benutzungs- und Zitiergenehmigungen der Briefe gilt Jeremy Adler, Mirjam Eich, Lena Eich und Ruth Rix (Tochter von Helga Aichinger) und Johanna Canetti. Der Bibliothek und der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach, insbesondere der Bibliothekarin Heidrun Fink, bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet.
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Gruppenbild mit London. Ilse Aichinger und H. G. Adler
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Literatur Adler, H. G. (1955) : Theresienstadt 1941 – 1945. Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen. Adler, H. G. (1960) : Theresienstadt 1941 – 1945. Antlitz einer Zwangsgemeinschaft. Tübingen [überarbeitete Neuausgabe]. Adler, H. G. (1962) : Eine Reise, Bonn. Adler, H. G. (1965) : Sodoms Untergang. Bagatellen, Bonn. Adler, H. G. (1968) : Panorama, Olten. Adler, H. G. (1998) : Nachruf bei Lebzeiten [1970], in : Jeremy Adler (Hg.) : Adler, H. G., Der Wahrheit verpflichtet. Interviews, Gedichte, Essays, Gerlingen, S. 7 – 16. Adler, H. G. (1998) : Zuhause im Exil [1981], in : Jeremy Adler (Hg.) : Adler, H.G., Der Wahrheit verpflichtet. Interviews, Gedichte, Essays, Gerlingen, S. 19 – 31. Adler, H. G. (1974) : Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen. Adler, H. G. (2010) : Andere Wege. Gesammelte Gedichte. Kathrin Kohl, Franz Hocheneder (Hg.), Klagenfurt. Adler, Jeremy : Nachwort, in : Adler, H. G. 2005, S. 895 – 926. Adler, Jeremy : Das bittere Brot. H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner im Londoner Exil. Mit einem Nachwort von Michael Krüger, Göttingen 2015. Adler, Jeremy/Dane, Gesa (Hg.) : Literatur und Anthropologie. H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner in London, Göttingen 2014. Aichinger, Ilse (1948) : Die größere Hoffnung. Amsterdam. Aichinger, Ilse (1960) : Die größere Hoffnung. Frankfurt/Main & Hamburg [überarbeitete Neuausgabe]. Aichinger, Ilse (1957) : Zu keiner Stunde. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (1965) : Eliza, Eliza. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (1976) : Schlechte Wörter. Mit einem Nachwort von Heinz F. Schafroth. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (1987) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. 2021 Aichinger, Ilse und Helga Aichinger (HA/IA Briefe 2021) : »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe.« Helga und Ilse Aichinger. Briefwechsel zwischen Wien und London 1939 – 1947. Hg. Nikola Herweg. Wien. Aichinger, Helga/Bettina und H. G. Adler : Briefwechsel (DLA, Marbach). Aichinger, Ilse/Günter Eich, Clemens Eich/ Bettina und H. G. Adler (DLA, Marbach). Atze, Marcel (Bearbeiter) (1998) : ›Ortlose Botschaft’. Der Freundeskreis H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner im englischen Exil. Mit Beiträgen von Jeremy Adler und Gerhard Hirschfeld, Marbach (Marbacher Magazin 84). Betten, Anne/Ute Fellner (2013) : »Und wir haben noch kein einziges Wort verlernt.« Ilse
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Ruth Vogel-Klein
Aichingers ›weiter sprechen‹ in entfremdeter Sprache, S. 79 – 93, in : Fußl, Irene, Gürtler, Christa (Hg.) : Ilse Aichinger »Behutsam kämpfen«, Würzburg S. 79 – 93. Canetti, Elias (2018) : Ich erwarte von Ihnen viel : Briefe 1932 – 1994. Sven Hanuschek und Kristian Wachinger (Hgg.), München. Celan, Paul (2000) : Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen [1958], in : Gesammelte Werke in sieben Bänden, Band 3, Frankfurt/Main 2000, S. 185 – 186. Eich, Günter (1953) : Träume. Vier Spiele, Frankfurt/M. Eich, Günter (1966) : Anlässe und Steingärten, Frankfurt/M. Görtschacher, Wolfgang/David Malcolm (2011) : Ilse Aichingers Lyrik in englischer Übersetzung. Mit einem Exkurs zur Londoner Freundschaft mit Erich Fried, in : Görner, Rüdiger/ Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.) (2011) : Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England, Würzburg, S. 69 – 86. Hocheneder, Franz (2009) : H. G. Adler (1910 – 1988). Privatgelehrter und freier Schriftsteller. Eine Monographie, Wien, Köln, Weimar. Lejeune, Philippe (1991) : La mémoire et l’oblique. Georges Perec autobiographe, Paris. Martínez, Matiás/Michael Scheffel (2012) : Einführung in die Erzähltheorie. 9. erweiterte und aktualisierte Auflage, München. Ottmann, François (2010) : H. G. Adlers Werk ›Theresienstadt 1941 – 1945. Antlitz einer Zwangsgemeinschaft.‹ : Ein gattungsübergreifendes Manifest für den Menschen, in : Ruth Vogel-Klein (Hg.), Die ersten Stimmen, Würzburg, S. 113 – 126. Palmier, Jean-Pierre (2014) : Gefühlte Geschichten. Unentscheidbares Erzählen und Emotionales Erleben, Paderborn. Thums, Barbara (2013) : Zumutungen, Entortungen, Grenzen : Ilse Aichingers Poetik des Exils, in : Bischoff, Doerte/Susanne Komfort-Hein (Hgg.) : Literatur und Exil. Neue Perspektiven, Berlin/New York, S. 183 – 209. Thums, Barbara (2013) : Grenzräume des Schreibens – Blitzlichter des Erinnerns : (Dis)Kontinuitäten in der Poetik Ilse Aichingers, in : Irene Fußl/Christa Gürtler (Hgg.) : Ilse Aichinger : »Behutsam kämpfen«. Würzburg 2013, S. 53 – 65. Vogel-Klein, Ruth (2010) : »Keine Anklage«. Der Deportationsroman »Eine Reise« (1951/1962) von H. G. Adler. Publikation und Rezeption, in : Ruth Vogel-Klein (Hg.), Die ersten Stimmen, Würzburg, S. 79 – 111. Vogel-Klein, Ruth (2011) : H. G. Adler : Zeugenschaft als Engagement, in : Monatshefte 103, vol. 2, S. 185 – 212. Vogel-Klein, Ruth (2020) : Mosaik, Fragment, Leerstelle und Subtext : Ilse Aichingers Evokationen der Schwester und der Großmutter unter dem Zeichen der Judenverfolgung, in : Zwischen Abschied und Ankunft. Between Departure and Arrival. Ilse Aichinger/Helga Michie, Geoff Wilkes (Hg.), Würzburg, S. 175 – 185.
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Christine Frank
»Eine öffentliche Umarmung« Heinz Politzer liest Ilse Aichinger Um die Mitte der 1970er Jahre begegnet der aus Wien stammende US-amerikanische Germanist und Dichter Heinz Politzer in Großgmain der im Salzburger Land zurückgezogen lebenden Autorin Ilse Aichinger – und er erkannte sie. Politzer, der als Student in Prag mit Max Brod an der ersten Werkausgabe Kafkas gearbeitet, der in Jerusalem Martin Buber kennengelernt und der seit den 1960er Jahren als Professor an der Universität Berkeley vor allem über österreichische Autoren gearbeitet hatte – an erster Stelle Kafka, Grillparzer, zuletzt Freud –, erkannte wie kaum ein anderer Zeitgenosse in Ilse Aichingers Schlechte Wörter ([1976] SchW 1991) ein Hauptwerk der zeitgenössischen Literatur. Nahezu zeitgleich mit dem Erscheinen dieses letzten großen Prosabuchs der Autorin publiziert Politzer in der Zeitschrift Merkur eine »Ankündigung«, die ihm ungeheuer am Herzen lag, wie sein Briefwechsel mit dem damaligen Redakteur der Zeitschrift Hans Paeschke dokumentiert ; die Rezension wird hier liebevoll-ironisierend eine »öffentliche Umarmung« genannt (14. Mai 1976 ; Politzer [1976b]). Im selben Jahr 1976 kommt auch eine Neuausgabe von Aichingers Roman Die größere Hoffnung heraus, für die Politzer ein Nachwort schreibt (GrH 1976). Bereits im Jahr zuvor, im Februar 1975, hatte Politzer in der Frankfurter Anthologie der FAZ eine Interpretation von Aichingers Gedicht »Gebirgsrand« veröffentlicht (Politzer 1975a), das er in einer undatierten Widmung des Zeitungsausschnitts an die Autorin als »ein Stück hausgemachter Aichinger-Forschung !« bezeichnet ; zugleich bittet er sie : »sei gnädig« (undatiert ; DLA/A :Aichinger, Ilse). Es sind die einzigen Texte, die Politzer zum Werk Aichingers publiziert hat. Sie alle entstehen im Zeitraum der persönlichen Begegnung mit der Autorin. Aichinger selbst hat sich selten öffentlich zu Rezensionen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihrem Werk geäußert. Politzer, dessen Stellungnahmen sie schätzte, bildet hier eine Ausnahme. Noch 2001 zitiert sie in einem Gespräch mit Brita Steinwendtner zustimmend eine Formulierung aus Politzers Rezension (Interviews 2011, S. 160). Die kurze Phase, in der sie seit dem Sommer 1974 bis zu Politzers Tod im Juli 1978 in losem Kontakt standen und Politzer sich mit Aichingers Texten auseinandersetzte, inspirierte nicht allein den Germanisten zu »hausgemachter Aichinger-Forschung«, auch der Dichter fühlte sich angesprochen. Im Nachlass der Autorin im Deutschen Literaturarchiv in Marbach haben sich datierte Abschriften von acht Gedichten Politzers aus dem Zeit-
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raum zwischen 20. Juni und 2. August 1974 erhalten, in denen Politzer offensichtlich den begonnenen Dialog auf einer weiteren Ebene fortsetzte (Politzer [1974a]). Politzers Lektüren haben aber auch Spuren in Aichingers Gedichtwerk hinterlassen. Im Folgenden sollen einige Eckpunkte dieser Konstellation skizziert werden, in der das Lesen immer wieder Ausdruck im Schreiben findet. »A poet’s style, […] a scholar’s precision« Geboren 1910 in Wien, begann Heinz Politzer 1929 mit dem Studium der Germanistik und Anglistik, das er ab 1931 in Prag fortsetzte, wo er eine Dissertation über Kafka schreiben wollte und wo er eng mit Max Brod zusammenarbeitete. Von 1933 – 1935 wurde Politzer von Brod in die Arbeit an der ersten Werkausgabe Kafkas einbezogen, für die er die Handschriften mit den publizierten Texten verglich. 1938, bald nach dem sogenannten ›Anschluss‹, emigrierte Politzer nach Palästina und schrieb sich an der Hebrew University ein. 1947 ging er in die USA, beendete hier 1950 die in Prag begonnene Dissertation über Kafka und lehrte nach Zwischenstationen in Bryn Mawr und am Oberlin College seit 1960 an der Universität Berkeley (alle Angaben nach Heuer 2011). In den folgenden Jahren machte sich Politzer weit über die Grenzen der USA hinaus einen Namen, vor allem als Kafka-Forscher ; in Österreich wurde er besonders auch als Grillparzer-Forscher gewürdigt. Ein Anfang der 1970er Jahre unternommener Versuch, Politzer mit einem eigenen Institut an die Universität Wien zu verpflichten, scheiterte (vgl. Anon. 1971 ; Hartl 1973). Als einen »great scholar« und »brilliant and dedicated teacher« würdigt Ruth K. Angress (d. i. Ruth Klüger) in einem Nachruf in The German Quarterly ihren ehemaligen Lehrer Politzer : »Those of us who were his graduate students at Berkeley will not forget how well he did succeed in conveying the richness both of his idiom and of the matrix in which it had grown« (Angress 1978, S. 443). Sie erwähnt dabei auch die dichterischen Anfänge von Politzer : »[…] he was a creative writer before he was a Germanist«, eine Haltung, die sich noch in seiner akademischen Tätigkeit zeigte : »He had a poet’s style, coupled with a scholar’s precision« (ebd.). Politzers Versuche als Dichter sind angesichts seiner Reputation als Germanist in der öffentlichen Wahrnehmung eher in den Hintergrund getreten. Dabei gehört Politzer zu denjenigen, deren literarisches Auftreten die Literatur vor und nach dem Zweiten Weltkrieg verbindet. Wendelin Schmidt-Dengler führt seinen Namen fälschlicherweise unter den Autoren an, die nach Kriegsende im PLAN erstmals veröffentlichten (Schmidt-Dengler 1995, S. 29). Regina Weber hingegen verzeichnet 18 Publikationen einzelner Gedichte Politzers zwischen 1928/29 und 1943, und 20 Gedichtpublikationen zwischen 1945/46 und 1978, unter anderem in
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Die literarische Welt, Die Sammlung, das silberboot, Aufbau (N.Y.) und Weigels Stimmen der Gegenwart (Weber 1994, S. 1470 – 1472). Im Inhaltsverzeichnis des zweiten Heftes des ersten Jahrgangs des PLAN im Februar 1938 sind bereits Gedichte von Heinz Politzer aufgeführt ; im dritten Heft desselben Jahrgangs – einer Sondernummer über den Surrealismus – wird eine Studie von ihm über Kafka verzeichnet : »Franz Kafka und der Surrealismus« (die Hefte sind nicht erhalten ; Plan [1938, 1945 – 1948], Inhaltsverzeichnis, S. 2). »[H]e managed to anthologize bits of Kafka in Germany when the Nazis were already in power« notiert Angress anerkennend (Angress 1978, S. 442). Nach der Wiederaufnahme der Zeitschrift PLAN nach Kriegsende findet sich im fünften Heft des ersten Jahrgangs (März–April 1945) ein Gedicht des Autors, der Österreich schon lange verlassen hatte, »Schlaflied für mich selber« (PLAN 1. Jg./Fünftes Heft S. 377) ; das silberboot druckte zwei Jahre später Politzers Gedichte »Sterbender Soldat« und »Vergewaltigung einer Stadt« (Politzer 1947). In Buchform erschienen Gedichte von ihm 1937 in Leipzig (Fenster vor dem Firmament), 1941 in Jerusalem (Gedichte) und 1959 beim Bergland-Verlag in Wien der Band Die gläserne Kathedrale in der Reihe »Neue Dichtung aus Österreich«. Zu diesem Zeitpunkt lebte der Autor bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr im Land, hatte sich aber offensichtlich Kontakte zu einflussreichen Vertretern des österreichischen Literaturbetriebes bewahrt. Die 1953 begründete Reihe »Neue Dichtung aus Österreich« wurde von dem ehemaligen verantwortlichen Lyrik-Redakteur des PLAN, Rudolf Felmayer, herausgegeben. Bis 1970 erschienen in der weit verbreiteten Reihe insgesamt 165 Bände, darunter von Ernst Jandl Andere Augen (1956), von Friederike Mayröcker Larifari – ein konfuses Buch (1956), von Johannes Urzidil Die Memnonsäule (1957), von Ernst Schönwiese Der junge und der alte Chronos (1957) oder von Marlen Haushofer Wir töten Stella (1958). Politzers Buch ›passte‹ durchaus in diese Reihe, hat aber über die Zeit seines Erscheinens hinaus kaum Aufmerksamkeit erlangt (Weber 1994 listet keine Rezension). Erwähnenswert bleibt dennoch, dass der Dichter Politzer gleichwohl bis 1978 kontinuierlich mit Gedichten in deutschsprachigen Anthologien aus Deutschland und Österreich vertreten war (Weber 1994, S. 1471 – 1472) und zwischen 1950 und 1970 immer wieder öffentlich präsentiert wurde, wie sich etwa anhand zeitgenössischer Rundfunkprogramme dokumentieren lässt. So werden am 21. Dezember 1950 von 17 :30 – 17 :45 Uhr »Dichtungen von Heinz Politzer« vorgestellt (laut Radioprogramm in den Salzburger Nachrichten 21. Dezember 1950, S. 6), am 30. Dezember 1965 ist im Zweiten Programm des ORF um 22 :40 Uhr eine Sendung »Zum 55. Geburtstag des Dichters Heinz Politzer« angekündigt (Burgenländische Freiheit 25. Dezember 1965, Nr. 52, S. 14), am 18. Oktober 1967 sendet Österreich 1 von 17 :15 – 17 :30 Uhr »Der Lyriker Heinz Politzer« (Burgenländische Freiheit 13. Oktober 1967, S. 20), und am 2. Januar 1970 gibt es ebenfalls in Österreich 1 von 20 :00 – 21 :00 Uhr »Das Porträt :
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Heinz Politzer« zu hören (Burgenländische Freiheit 23. Dezember 1970, S. 37). Das letzte Gedicht, das Politzer publiziert, ist das Gedicht »Kartenhäuser«, das am 7. Dezember 1976 in der FAZ erscheint (FAZ Nr. 267, 7. Dezember 1976, S. 25). Im Nachlass Ilse Aichingers hat sich neben sieben weiteren Gedichten von Heinz Politzer aus dem Sommer 1974 auch ein Manuskript eben dieses auf den 2. August datierten und »Augustgedicht« überschriebenen Textes erhalten (Politzer [1974b]). Ungeachtet der über die Jahrzehnte hinweg in bescheidenem Maße kontinuierlich fortgesetzten Produktion und Publikation von Gedichten dominierte die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit bei weitem über das Interesse für den Dichter Politzer. Dreimal (1958, 1966, 1974) konnte er als Guggenheim-Fellow nach Europa reisen und hier weiter forschen. Seit den späten 1960er Jahren erhielt Politzer hohe Auszeichnungen auch in Österreich : 1966 das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, 1972 den Grillparzer-Ring und 1974 den Preis der Stadt Wien für Geisteswissenschaften. 1974 wurden auch Ilse Aichinger und Manès Sperber in der Kategorie Literatur mit dem Preis der Stadt Wien ausgezeichnet. 1976 schließlich war Politzer eingeladen, die Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen zu halten – nach Carl Friedrich von Weizsäcker (»Die geheimnisvolle Wirklichkeit des Schönen« ; 1975) und vor Léopold Sédar Senghor (»Österreich als Ausdruck der Weltkultur« ; 1977). Politzers Rede trug den Titel »Musikerlöste Dämonie« (Politzer 1976b). In diesem Umfeld, vor den Toren Salzburgs und seiner Festspielwelt, in der sich Österreich jeden Sommer für einen Moment international gibt und sich als »Ausdruck der Weltkultur« feiern lässt, in einer Lebensphase, in der der 64-jährige Politzer gegen den unaufhaltsamen körperlichen Verfall kämpft und im Kurort Großgmain »von des amerikanischen Lebens Mühen ein wenig auszurasten« sucht (Politzer in einem Brief vom 28. Mai 1974 an Ilse Aichinger ; Nachlass Aichinger, DLA), findet eher zufällig, wie es scheint, die Begegnung mit Aichinger statt. Apokalyptische Ironien – S chl echte Wörter 1976 Als Politzer seinen ersten Kuraufenthalt im Kneipp-Kurhaus St. Rupert in Großgmain im Sommer 1974 plant, nimmt er brieflich Kontakt mit Ilse Aichinger auf. Weitere Kuraufenthalte Politzers in Großgmain im März/April 1975 und im August 1976 folgten. In Aichingers Nachlass haben sich einige Briefe von ihm, Abschriften von Gedichten Politzers und weitere Dokumente erhalten, die belegen, dass sich während dieses ersten Kuraufenthalts in Großgmain eine freundschaftliche Beziehung zwischen beiden entwickelte, die bis zu Politzers Tod im Sommer 1978 gepflegt wurde ; noch zu Weihnachten 1977 muss Aichinger ein Päckchen an Politzer gesandt haben,
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für das er sich in einem Brief vom 24. Dezember 1977 bedankt (Politzer [1974a]). Dem ersten überlieferten Schreiben Politzers an Aichinger vom 28. Mai 1974, in dem er seinen für Mitte Juni angesetzten Kuraufenthalt in Großgmain ankündigt, ist zu entnehmen, dass die beiden einander wohl schon kannten ; dennoch ist der Brief noch vergleichsweise formell abgefasst. Die persönliche Begegnung brachte dann einen raschen Übergang zum »Du« und zu persönlicher Anteilnahme (meist verbunden mit Grüßen an die Mutter und die Kinder Aichingers). In seinem ersten Brief vom Mai 1974, in dem er seinen bevorstehenden Aufenthalt in St. Rupert ankündigt, verbindet Politzer damit die Hoffnung, Aichinger »gelegentlich sehen« und mit ihr reden zu können (ebd.). Dabei erwähnt er auch, dass er während des Aufenthalts einige Vorträge vorbereiten wolle, die er Anfang August bei den Salzburger Hochschulwochen halten sollte. In einem Brief an den Merkur-Redakteur Hans Paeschke vom 18. Juni 1974 nennt Politzer Großgmain dann »einen der schönsten Erdenwinkel […], der mir übrigens der Kindheit an [sic !] vertraut ist« (Politzer [1974c]). Seinen ersten (überlieferten) Brief an Aichinger (Politzer [1974a]) beginnt Politzer mit einem Hinweis auf den gemeinsamen Bekannten Rudolf Bayr (1919 – 1990), der damals bereits Leiter der Hauptabteilung Kultur im ORF Landesstudio Salzburg war, als dessen Intendant er dann ab 1975 fungierte. Bayr stammte aus Linz, war seit 1938 als aktives Mitglied der NSDAP registriert, schrieb vermutlich ab 1939 »als freier Mitarbeiter für die Wiener Ausgabe des Völkischen Beobachters« und kam nach Kriegsende bei den Salzburger Nachrichten unter, die, so Uwe Baur und Karin Gradwohl-Schlacher, »als Auffangbecken für ehemalige NS-Journalisten« galten (Baur/ Gradwohl-Schlacher 2021, S. 81). Politzer war im Salzburger Kulturbetrieb offensichtlich gut vernetzt ; die Wahl von Großgmain als einem der Landeshauptstadt nahe gelegenen Kurort war sicher bewusst gewählt. Dass auch Aichinger dort lebte, scheint dabei nicht ausschlaggebend gewesen zu sein. Seit der persönlichen Begegnung im Sommer 1974 muss Politzer Aichingers Werke jedoch mit größerer Aufmerksamkeit gelesen haben. Eine erste Reaktion ist seine Interpretation des Gedichts »Gebirgsrand«, die am 8. Februar 1975 in der FAZ erscheint (Politzer 1975a). In einem Brief an Hans Paeschke vom 25. August 1975 bittet Politzer den Redakteur der Zeitschrift Merkur, in der er regelmäßig publiziert, um »Hildesheimers Essay über die Aichinger […] Ich suche ihn dringendst« (Politzer [1975d]). Hildesheimer hatte im Merkur eine Collage und einen begleitenden Text über Aichingers Prosa »Der Querbalken« aus dem späteren Band Eliza Eliza (1965) veröffentlicht (Hildesheimer 1963). Ab Anfang Januar 1976 bemüht sich Politzer dann im Briefwechsel mit Paeschke intensiv darum, eine »Ankündigung« des neuen Prosabuchs Schlechte Wörter von Aichinger, das im April 1976 erscheinen soll, möglichst zeitgleich in der Zeitschrift zu platzieren. Auf einer Briefkarte vom 6. Januar 1976 teilt er mit :
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»Am Sonntag rief ich Ilse Aichinger an ; ihr neues Buch erscheint im April bei Fischer. Willst Du mir zwei Seiten ›Merkur‹ dafür geben ?« (Politzer [1976b]) ; gut zwei Wochen später, am 22. Januar 1976, meldet er Paeschke ebenfalls auf einer Briefkarte, dass er die Fahnen des neuen Buches bekommen habe (ebd.). Hier fällt nun erstmals der Titel : »›Schlechte Wörter‹. Es ist ein schmales, aber überaus gewichtiges Buch, zu dem ich eine Menge zu sagen habe« (ebd.). Gleichzeitig bittet Politzer den Redakteur darum, die entstehende »Anzeige« ebenfalls im April im Merkur zu publizieren. Fünf Tage später, am 27. Januar 1976, bestätigt er in einem maschinenschriftlichen Brief an Paeschke : »Die Aichinger-Kritik erhältst Du noch vor der Veröffentlichung des Buches, das wirklich großartig ist« (ebd.). Politzer, dem Leser Kafkas, Grillparzers und Freuds, wird die Rezension von Aichingers neuem Buch zur Herzensangelegenheit. »Warum«, fragt Politzer sich und Hans Paeschke am 5. März 1976, »muß sich der Mensch so schinden müssen [sic], wenn etwas Endgültiges aus ihm zutage treten soll ?« (ebd.). Seine »Ankündigung der ›Schlechten Wörter‹« sendet er mit dem Brief vom 5. März 1976 an Paeschke ab ; es sei, so urteilt er abschließend, »ein bedeutendes Buch« (ebd.). »Überaus gewichtig«, »großartig«, »bedeutend« – der Kontrast könnte nicht größer sein zwischen den Begriffen, die Politzer wählt, um die besondere Qualität des Buches hervorzuheben, und dem Vorsatz, mit dem Aichingers titelgebender Text beginnt : »Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr« (SchW 1991, S. 11). Politzers »Ankündigung« findet bei Paeschke zwar prinzipiell Anerkennung : »[…] grundsätzlich ist Deine Umarmung der Aichinger natürlich groß«, antwortet dieser in einer ausführlichen Stellungnahme am 17. März 1976 (Paeschke [1976]) ; zugleich meint er eher reserviert, dass es sich um »keine Rezension, sondern eine Liebeserklärung« handelt (ebd.), ein Eindruck, der sich bei einem unvoreingenommenen Leser der Druckfassung nicht ohne weiteres einstellt. Immer wieder verwende Politzer Begriffe und Vorstellungen, die dem Redakteur zu weit gehen. Paeschke sucht dessen »Emphase« zu dämpfen. Er schlägt Politzer vor, statt allzu apodiktisch zu werden, lieber »ein paar Sätze nach dem Rezept der Autorin in Frageform« zu formulieren (ebd.). Politzer schickt daraufhin zweimal handschriftlich korrigierte Fassungen an Paeschke (mit den Briefen vom 5. März und 14. Mai 1976). Eines der insgesamt wohl drei an die Redaktion abgegangenen Typoskripte hat sich im Merkur-Konvolut im DLA erhalten, sodass sich einige der Änderungen, die wohl auf den Einspruch Paeschkes zurückgehen, rekonstruieren lassen. Wenn Politzer zum Beispiel aus dem Hörspiel »Gare Maritime« zitiert, das in der Erstauflage Teil des Buches Schlechte Wörter war, und daran die Bemerkung anschließt, man müsse »sein Gehör und Gespür schon ein wenig strapazieren, um das Schweigen zwischen diesen Wörtern zu erhaschen, die ein Geflüster vor Tag sind, vorm Jüngsten Tag«, dann wird daraus in der Druckfassung »[…] ein Geflüster vor Tag sind. Vorm Jüngsten Tag ?« (Politzer 1976, S. 263).
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Paeschke hatte Politzer zu bedenken gegeben, ob er mit seiner »indikatorisch[en]« Formulierung nicht unterstelle, »dass Du damit dem Jüngsten Tag hinter den Vorhang schauen könntest« (17. März 1976 ; Paeschke [1976]). Auch der Titel, unter dem der Beitrag dann im Maiheft des Merkur 1976 erschienen ist, »Ilse Aichingers todernste Ironien«, geht auf einen Vorschlag Paeschkes zurück und ersetzt den von Politzer zunächst gewählten Titel »apokalyptische Ironien« (ebd.). Diese Eingriffe, so minimal sie erscheinen, verschieben Bedeutungen. Im Text selbst lautete die Stelle, auf die der Titel zurückgreift, ursprünglich : »›Zweifeln‹ wie diesen [an Balkonen] entspricht die apokalyptische Ironie der Aichinger«. Daraus wird im Druck : »[…] ›Zweifeln‹ wie diesen entsprechen die geradezu todernsten Ironien der Aichinger«. Was Politzer in seine Lesart einbringt, sind endzeitliche Vorstellungen einer christlich geprägten Welt, die der Merkur-Redakteur abzuschwächen sucht. Für Politzer umfassen aber gerade sie die ganze Wucht jenes »Endspiels«, das die Autorin existenziell betraf und für das sie eine Sprache gefunden hatte, deren Pendants in seiner Sicht bei Kafka und Celan, Beckett und Joyce zu finden sind : Die Zersplitterung dieser schlechten Wörter, ihr apokalyptisches Understatement, legitimiert sie als Geschöpfe der Gegenwart, wohin immer diese Gegenwart auch mündet : als ein ebenso behutsames wie peinlich genaues Zeugnis der Dichtung von heute. (Politzer 1976a, S. 264)
Wo andere Rezensenten Aichinger öffentlich gerade davor warnen »sich zu Paul Celans Sprachgitter zu begeben« (so Wolfgang Weyrauch [1976] 2003, S. 254), da erkennt Politzer den Goldstandard von ›Dichtung nach Auschwitz‹ : Wer an dem Ort angelangt ist, den Paul Celan ›Atemwende‹ genannt hat, entscheidet nichts mehr, am wenigsten sich selbst. Geblieben ist der Aichinger nichts als ihr Atem […] man kann sich auf diesen Atem verlassen […]. (Politzer 1976a, S. 262)
Politzer beschreibt die Autorin als eine verzweifelt immer neue Zweifel Suchende, und sie auch findet, und zwar wiederum in ihrer Sprache. Diese Zweifel aber finden sich selbst an der Grenze einer Welt, die auch die Grenze des Wortes ist, und so die Schwelle, die Schwelle der Tür vor dem Gesetz, über die ein unnahbares Licht bricht. (Ebd., S. 264)
Zuletzt ist es (nach Celan, Beckett und Kafka) James Joyce’ Ulysses, in dessen Nähe Politzer Aichingers Buch rückt, »besitzt es doch eine Vielschichtigkeit, eine Galgenironie
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und ein Karat, die uns erlauben, an Joyces Heldenepos zu denken« (ebd.). Paeschkes intuitive Ablehnung der Emphase Politzers, die er dessen persönlicher Zuneigung zu Aichinger geschuldet sah, galt aber nicht allein jenen Stellen, an denen er Politzer davor warnte, dass »Grenzen des Sinnes nicht überschritten werden sollten«, so Paeschke an Politzer am 17. März 1976 (Paeschke [1976]). Es war wohl eher die weltliterarische Würdigung der Autorin, die Politzer ausgesprochen hatte, die Paeschke Unbehagen bereitete. Am 15. April 1976 schreibt er in dieser Sache abschließend an Politzer : »Von den Korrekturen in der Aichinger habe ich nur teilweise Gebrauch gemacht. Sieh’s mir nach, Du hattest ja nur auf meine Bemerkungen reagiert. Die Sache heisst jetzt ›Ilse Aichingers todernste Ironien‹. Strapazieren wir zu diesem Anlass Joyce und gar Beckett nicht zu sehr« (Paeschke [1976]). Verwandlung der Wirklichkeit in einen Traum – D i e H offn u ng 1976
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Im selben Jahr wie Schlechte Wörter brachte der S. Fischer Verlag 1976 auch Aichingers Roman Die größere Hoffnung noch einmal in neuer Aufmachung heraus. Erst zwei Jahre zuvor, 1974, war er im Fischer Taschenbuchverlag erschienen. Diese Ausgabe wurde die ganzen 1970er und 1980er Jahre hindurch kontinuierlich nachgedruckt ; 1989 war bereits das 61. – 66. Tausend erreicht. Mit der Neuauflage einer gebundenen Ausgabe in der Reihe »Fischer Bibliothek« 1976 wurde andererseits der Status von Aichingers Roman als Klassiker der modernen deutschsprachigen Literatur unterstrichen. Ein ähnliches Anliegen verfolgten die späteren Neuauflagen von Die größere Hoffnung in der von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki betreuten und zusammen mit dem Verlag Gütersloh produzierten Reihe »Bibliothek des 20. Jahrhunderts« von 1993 (das Vorwort schrieb der Augsburger Germanist Helmut Koopmann) sowie die Aufnahme des Titels in die »Sammlung Fischer« 2000 – hierfür wurde die unterdessen zu internationalem Ruhm gelangte Ruth Klüger um ein Nachwort gebeten. 1976 hingegen erschien der seither etwas verblasste Name Heinz Politzer geeignet, die Dignität von Aichingers Werk zu unterstreichen. Politzer wie Klüger, die jeweils eine andere Bekanntheit der Autorin und ihres Erstlingswerkes voraussetzen, beginnen beide ihr Nachwort mit der zeitlichen Situierung des Romans : Die Erstausgabe dieses Romans ist im Jahre Drei nach dem großen Traditionsbruch erschienen. Das Impressum zeigt noch Amsterdam als Sitz des Fischer Verlags und die Zahl 1948. Es war das erste Buch Ilse Aichingers, die 1921 in Wien geboren ist. (Politzer in GrH 1976, S. 301)
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Als Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung im Jahre 1948 erschien, gab es das Wort »Holocaust« noch nicht, zumindest nicht in seiner heutigen Bedeutung. (Klüger in GrH 2000, S. 245)
Die zeitliche Situierung betrifft die Sensation, die das Buch zum Zeitpunkt seines Erscheinens darstellte ; und sie betrifft das Unvorstellbare dessen, wovon es zeugt. Der Begriff »Holocaust« wurde wie bekannt erst durch die 1978 in den USA und Anfang 1979 in Deutschland und wenig später in Österreich ausgestrahlte gleichnamige vierteilige Fernsehserie von Marvin J. Chomsky zur Bezeichnung der systematischen Verfolgung und Vernichtung europäischer Juden durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs gebräuchlich. Politzer, noch weit von diesem Begriff und der sich daran anschließenden öffentlichen Diskussion entfernt, umschreibt das Geschehen unter einem deutlich anderen Blickwinkel als Klüger. Die Rede von »dem großen Traditionsbruch« bezieht sich bei ihm eher retrospektiv auf die Diskussion von ›Kultur und Gesellschaft‹ und die mit dem Namen Adorno verbundene Debatte um die Möglichkeit einer Literatur – im Speziellen von Lyrik – »nach Auschwitz« ; es ist ein Begriff, den Politzer nicht verwendet. Ruth Klüger hingegen, die den »Holocaust« zuerst in Wien und dann in mehreren Konzentrationslagern selbst erlebt hatte, umschreibt nicht, sondern nennt die Situation vor und nach 1945 beim Namen : Der große Judenmord wurde einfach als eine von vielen Kriegsmiseren angesehen oder auch abgetan und vermischte sich mit Flüchtlingselend und Kriegsgefangenschaft. Dabei saß uns allen die »jüngste Vergangenheit« noch ganz anders in den Knochen als heute, nämlich so unbewältigt, dass man sie innerlich hinter sich lassen mußte, was wiederum ganz unmöglich war. Da kam dieses Buch, das für mich geschrieben schien, über eine Wiener Kindheit, von einer Wienerin, die den Krieg dort überlebt hatte. (Klüger in GrH 2000, S. 245)
Während Klüger anschließend betont persönlich rekonstruiert, wie sie 1948 als Leserin und als Überlebende den Roman aufgenommen hatte – »Beim Lesen habe ich mitgeredet, wie ich es immer tue, wenn das Gedruckte mich angeht« (ebd.) –, liest Politzer den Roman aus drei Jahrzehnten Distanz. Aber er liest ihn konkret, er nimmt das Buch von 1948 in die Hand und beschreibt zunächst die 1976 kaum jemandem mehr präsente Zeichnung auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe. Aus der genauen Beschreibung, die immer wieder Worte aus dem Roman aufgreift und in Interpretation überführt (›Wolkenfetzen reiten Manöver‹ ; die Situation scheint ›der Rennenden keine andere Wahl zu lassen als eben ihren Lauf‹), kommt Politzer bereits im dritten Absatz der ersten Seite zu dem Schluss :
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Das Ganze stellt die Verbildlichung eines Satzes dar, der sich auf Seite 111 dieser Ausgabe findet : »Sie warf sich dem Spätherbst entgegen.« Dieser schlichte Satz gehört zu den ›Schlechten Wörtern‹, von denen Ilse Aichinger in ihrem jüngsten Buch sagt, dass es sich mit ihnen leben und sterben lasse. Ihr erstes Buch ist so verschieden nicht von ihrem letzten. […] In den ›Schlechten Wörtern‹ stehen auch die Sätze : »Sammle den Untergang – das klingt mir zu gut.« Was seine Handlung anlangt, sammelt der erste Roman Ilse Aichingers freilich noch den Untergang […]. (GrH 1976, S. 301 – 302)
Als zentrales Thema des Buches benennt Politzer dann Einsamkeit, kein ungewöhnliches Thema, zumal für einen Erstling. Die Umstände dieser Einsamkeit aber, die Wirklichkeit, von der die fünfzehnjährige Ellen umgeben ist, sind, gelinde gesagt, außerordentlich. Außerordentlich ist auch die Art, in der die Halbwüchsige dieser Wirklichkeit begegnet und damit Sprache, Bildgebung und Struktur dieses Romans bestimmt. Um noch einmal die ›Schlechten Wörter‹ anzuführen : »Ob man sagen kann ich entscheide mich dafür ist fraglich. Die bisherigen Sprachgebräuche lassen eine Entscheidung da, wo es sich nur mehr um eine Möglichkeit handelt, nicht zu.« (GrH 1976, S. 302 – 303)
Unübersehbar liest Politzer den zwischen 1945 und 1947 abgefassten Roman (den Aichinger, was hier von ihm nicht berücksichtigt wird, für die Neuauflage 1960, auf der alle weiteren Ausgaben des Textes beruhen, noch einmal redigiert hat) unter dem Eindruck der drei Jahrzehnte später verfassten Schlechte[n] Wörter. Auch in Klügers Nachwort findet sich ein bemerkenswerter Hinweis auf einen Text aus diesem Band. Sie bringt ihn in Verbindung mit dem »Fluchtimpuls«, den auch der Roman bearbeitet (vgl. GrH 2000, S. 253). Unverkennbar ist es die ihn tief beeindruckende Lektüre von Schlechte Wörter, die Politzers Perspektive auf den früheren Roman prägt. Die oben zitierte Stelle diskutierte er bereits am Beginn seiner »Anzeige« von Aichingers Text im Merkur ausführlich ; Aichinger, so heißt es dort, entscheide »sich erbarmungslos gegen Entscheidungen und für die Möglichkeiten, die ihr aus der Sprache unentwegt zuströmen« (Politzer 1976, S. 262). Dementsprechend erkennt Politzer in der Sprachkritik das entscheidende Konzept bereits des frühen Romans wie auch des Wegs, »den Aichinger seit ihrem ersten Buch gegangen ist, einen Weg europäischer Dichtung« (GrH 1976, S. 309). Aichinger gehe es, so Politzer weiter, um »die Verdichtung und Verschweigung stofflicher Inhalte, ihre Verschlüsselung in Symbole, die die Sprache selbst in der Sprache zu setzen scheint« (ebd.). Er situiert Aichingers Roman dementsprechend in der Tradition von Karl Kraus und Franz Kafka. Letzterer habe die
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Sprachkritik »bis an die Grenze des Sagbaren (und bisweilen des Erträglichen) vorgetrieben«. Vor dieser Folie bestimmt er dann Aichingers Position : Der Sinn von Ilse Aichingers stillerer Sprachgebärde besteht darin, dass sie, von eben jener Grenze her, das Wort »Hoffnung« aus Kafkas Ausspruch »Viel Hoffnung für Gott – unendlich viel Hoffnung –, nur nicht für uns« herausgelöst hat, um es den Menschen zurückzugeben. (GrH 1976, S. 310 – 311)
»Von allem Anfang an« werde, so die zusammenfassende Einschätzung Politzers, in dem Roman »die Verwandlung der Wirklichkeit in einen Traum an der Möglichkeit eines höheren Zieles gemessen. Dabei reflektiert die Sprache sich selbst, die heilsamste Form von Sprach- und Werkkritik, die sich denken läßt« (GrH 1976, S. 304). Ob damit Aichingers Roman adäquat beschrieben ist oder gerade in seinem sprachkritischen Impuls – wie in seiner Nähe zu Kraus und Kafka – verfehlt wird, mag dahingestellt bleiben. Politzers Beschreibung des Romans bringt den Kontrast zur Ästhetik von Schlechte Wörter jedenfalls deutlicher zum Vorschein als die behauptete Kontinuität. Im selben Jahr, als Politzer mit seinen Lektüren von Schlechte Wörter und Die größere Hoffnung zwei Eckpunkte von Aichingers Gesamtwerk würdigt, ist er, unweit jenes Ortes, an dem er mit ihr zusammengetroffen war, eingeladen, die Salzburger Festspiele mit einer Rede zu eröffnen. Am 27. Januar 1976, im selben Brief, in dem er schreibt, dass Aichingers neues Buch »wirklich großartig« sei, meldet er an Hans Paeschke, er werde »über Hofmannsthal und Thomas Bernhard, Mozart und Trakl sprechen. Die Rede ist schon fertig und ist, glaube ich, schön geworden« (Merkur/ DLA). Als er dann im Sommer vor der versammelten Festgesellschaft Salzburg als »eine Stätte durch Musik erlöster Dämonie« darstellt (Politzer 1997, S. 220), spricht er zuletzt am Beispiel Thomas Bernhards von der »Tradition österreichischer Erzählkunst« (ebd., S. 219) und »von der selbstverhängten Einsamkeit des Menschen in der gnadenlosen Realität seiner Existenz« (ebd., S. 220). Die Einsamkeit hingegen, die Politzer in seinem Nachwort zu Aichingers Roman als dessen Zentrum hervorgehoben hatte, ist ebenso wenig »selbstverhängt« wie die »gnadenlose Realität [der] Existenz«, von der auch die Schriften Kraus’ oder Kafkas zeugen. Selbst wenn Politzer sein Publikum »zum Schluß bitten [will], der Außenseiter und Armen, der Bitteren, der Trotzigen und Einsamen zu gedenken, die Salzburg in seine Mauern schloß und schließt« – aus der Festrede bleiben diejenigen, die ihnen in der österreichischen Literatur ihre Stimme gegeben haben, ausgeschlossen. Ob Aichingers Texte bei der »Arbeitsgemeinschaft über das Menschenbild in der modernen österreichischen Literatur«, die Politzer im selben Sommer im Rahmen der Salzburger Hochschulwochen zusammen mit Otto Schenk leitete, miteinbezogen wurden, ließ sich nicht belegen.
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Dagmar Lorenz weist auf eine Lesung Aichingers am 5. August 1976 aus dem Band Schlechte Wörter in Salzburg hin (Lorenz 1981, S. 204, Anm. 4 ; gelesen wurde der Text »Zweifel an Balkonen«). Am selben Tag und vermutlich bei derselben Gelegenheit sprach Politzer laut Lorenz unter der Überschrift »Dichtung zwischen Beginn und Ende« über Aichingers Texte (ebd., Anm. 2). In die gedruckte Dokumentation der Beiträge der Salzburger Hochschulwochen 1976, die vom 26. Juli bis zum 7. August 1976 unter dem Leitthema »Menschenwürdige Gesellschaft« an der Universität Salzburg stattfanden, ist ein längerer Beitrag Politzers unter dem Titel »Literatur und menschenwürdige Gesellschaft« aufgenommen worden, dessen vierter und letzter Teil »IV. Ilse Aichinger : An den Grenzen der Sprache« überschrieben ist. Dieser Teil stellt eine leicht veränderte Version der »Ankündigung« von Schlechte Wörter im Merkur dar (Politzer 1977, S. 255 – 263). Wer rief mich heim ? Die Gedichte der Jahre 1975 – 1978 Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf den ersten Text geworfen werden, den Politzer über ein Werk von Aichinger publiziert hat. Es handelt sich um einen Beitrag für die von Marcel Reich-Ranicki betreute Frankfurter Anthologie der FAZ, für die Politzer zwischen 1975 und 1978 insgesamt elf Gedichtinterpretationen verfasst hat. Der Text über Aichinger war der erste von ihnen (er erschien am 8. Februar 1975). Im Nachlass von Ilse Aichinger findet sich aber nicht nur ein ihr handschriftlich gewidmeter Zeitungsausschnitt mit Politzers Interpretation, sondern auch das Typoskript eines weiteren Beitrags von ihm für die Frankfurter Anthologie über Heinrich von Kleists Gedicht »Katharina von Frankreich (als der schwarze Prinz um sie warb)«, auf den er hier handschriftlich »Dem Andenken an Günter E.« notiert hat. Diese Interpretation erschien (ohne Widmung) unter dem Titel »Liebeslied, beinah abstrakt« am 26. Juli 1975 in der FAZ (Politzer 1975b). Kleists erstaunliches Gedicht ähnelt in seiner Diktion Aichingers Lyrik (Abschrift nach dem Typoskript von Politzer, Politzer [1975c]) : Heinrich von Kleist Katharina von Frankreich (als der schwarze Prinz um sie warb) Man sollt ihm Maine und Anjou übergeben. Was weiß ich, was er alles Mocht erstreben.
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Und jetzt begehrt er nichts mehr, Als die eine -- Ihr Menschen, eine Brust her, Daß ich weine !
Das von Politzer arrangierte Zusammenspiel von Kleists Gedichttext, seiner Auslegung und deren Titelgebung, der Widmung an Eich und der Zusendung (oder Übergabe ?) des Typoskripts an Aichinger wird zum Dokument einer Begegnung, die mehr Personen einschließt als die im Text genannten. Ganz offensichtlich führt Politzer hier den dichterischen und den professionellen Diskurs, die respektvolle Reverenz und den persönlichen Annäherungsversuch in einer Weise zusammen, die sich des VorgängerTextes als Maske bedient, ohne sich zu demaskieren. Im März und April 1975, wenige Wochen nach dem Erscheinen seiner AichingerInterpretation in der FAZ, hält sich Politzer erneut zu einem Kuraufenthalt in Großgmain auf. In diesem Jahr verfasste Ilse Aichinger erstmals seit längerer Zeit wieder ein Gedicht, das Gedicht »In einem«, das noch im selben Jahr in der Festschrift Austriaca für Heinz Politzer erschien. Es liegt nahe, auch diesen Text als Teil jenes diskreten Dialogs zu lesen, in dem die beiden Autoren zwischen 1974 und 1978 standen und der die Arbeit an Gedichten mit einschloss. Aichingers kurzes Gedicht ist hier anders gesetzt als alle übrigen Beiträge (kursiv und in viel größerer Schrift) ; es beschließt den Band. Im Sommer 1976 schreibt Politzer in seinem Nachwort zu Aichingers Roman, wie oben erwähnt, von der »Verwandlung der Wirklichkeit in einen Traum« ; der Roman wird von ihm »an der Möglichkeit eines höheren Ziels gemessen« (GrH 1976, S. 304). In seiner vorangehenden Interpretation von Aichingers Gedicht »Gebirgsrand« hingegen (VR 1991, S. 13 ; Politzer entnimmt es der Ausgabe Wo ich wohne von 1963, S. 129) ist die Richtung umgekehrt : »Die Strophe besitzt die Sachlichkeit der Träume, von der sie handelt«, formuliert Politzer, und stellt fest : »Die drei letzten von den fünf Zeilen behaupten die Wirklichkeit, die un-scheinbare der Träume« (Politzer 1975, S. 205). Deren Niedersteigen, so argumentiert er, stehe gerade »nicht in der Möglichkeitsform [der ersten beiden Zeilen], sondern in der ganzen Nacktheit der Realität«. Das wiederkehrende Niedersteigen der Träume bildet aber nicht allein einen Gegensatz zur insinuierten Aufwärtsbewegung eines »höheren Ziels«, die Politzer dem Roman unterlegt. Der Prozess, so wie er ihn in seiner Interpretation beschreibt, das Niedersteigen und regelmäßige Wiederkehren der Träume/Jäger erinnert vielmehr an das regelmäßige Erscheinen des grünen Esels auf der Eisenbahnbrücke in Aichingers gleichnamiger, 1960 entstandener Erzählung (EE 1991, S. 79 – 82 ; ebenfalls enthalten in Wo ich wohne, S. 65 – 67). Es geht um eine Wiederkehr traumatischen Erlebens im
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Traum, in Träumen, denen das Ich des Gedichts sich ausgesetzt – und auf die es sich angewiesen fühlt. »Die Träume sind Jäger«, so Politzer ; »keine Metapher wird angewandt ; es herrscht Identität«. Politzer liest das Gedicht Wort für Wort, tastet seine Lautstruktur ab und kommt zu dem Schluss, es seien »weniger die Wörter, die dieses Gedicht ausmachen, sondern es ist das Schweigen, das diese Wörter zugleich brechen und bewahren« (Politzer 1975, S. 204). 1975, als die Interpretation erscheint, ist Ilse Aichinger noch kaum als Lyrikerin in Erscheinung getreten ; außer wenigen vereinzelt publizierten Gedichten hatte sie lediglich 1959 in der Neuen Rundschau neun Gedichte veröffentlicht. In den Band Wo ich wohne, aus dem Politzer zitiert, sind dann 15 Gedichte von ihr aufgenommen worden (Wo ich wohne 1963, S. 125 – 132). Politzers buchstäblich auf den Wortlaut konzentrierte Gedichtanalyse steht quer zum Verständnis engagierter Lyrik um die Mitte der 1970er Jahre. Er versucht die Autorin auf zweifache Weise zu ›retten‹ : einmal, indem er das Gedicht, »die Strophe« (Politzer 1975, S. 204), in die Tradition »chinesischdeutsche[r] Jahres- und Tageszeit« stellt (ebd.), und ein zweites Mal, indem er es gegen eines der bekanntesten Gedichte österreichischer Lyrik abgrenzt, Hofmannsthals »Manche freilich« von 1895 : »Das erste Wort, das ›denn‹ öffnet das Gedicht, noch ehe es begonnen hat, ins Unendliche«, meint Politzer, und sieht darin einen Beleg dafür, »wie weit hier die Dichtung vom Bewußtsein der Klasse zu dem des Daseins selbst fortgeschritten ist« (ebd., S. 205). Aus heutiger Sicht möchte man »das Dasein selbst«, von dem auch dieser Text Aichingers zeugt, nicht allein im Gegensatz zum »Bewußtsein der Klasse« interpretieren, sondern dessen Prägung durch Verfolgung aufgrund der »Rasse« anerkennen. Jäger sind diejenigen, die ihre Opfer verfolgen. In Träumen – als Träume kehren sie wieder. Es könnte sein, dass Ilse Aichinger auf diese Lesart ihres Gedichts mit einem weiteren Gedicht geantwortet hat, dem Gedicht »In einem« (VR 1991, S. 106), das erstmals in der für Heinz Politzer zum 65. Geburtstag herausgegebenen Festschrift Austriaca. Beiträge zur österreichischen Literatur erschienen ist (Kudszus/Seeba 1975, S. 482). Hannah Markus greift in ihrer umfassenden Auseinandersetzung mit Aichingers Lyrik die entsprechende Angabe von Richard Reichensperger im Anhang zur Neuauflage von Verschenkter Rat in der Werkausgabe auf und bemerkt dazu, das Gedicht sei »u. U. direkt für diesen Anlass geschrieben worden, da Politzer u. a. ein Buch zu Freuds Traumdeutungen mitherausgegeben hatte (›Träume‹ ist eine zentrale Vokabel des Gedichts)« (Markus 2015, S. 47). Dieses Hinweises bedarf es aber gar nicht, um die Relevanz von Träumen für das Werk von Aichinger zu evaluieren. Auch ohne den Bezug auf Politzers Auseinandersetzung mit Freud überzeugt aber Markus’ Frage, »ob das spätere [Gedicht] ›In einem‹ nicht auch als Entgegnung im abgrenzenden Sinn zu verstehen ist« (Markus 2015, S. 42) – Entgegnung wohl eher im Sinne einer Antwort
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auf Politzers Lesart des Gedichts »Gebirgsrand«, die am 8. Februar 1975 in der FAZ erschienen war. Hannah Markus, die Aichingers lyrisches Gesamtwerk einer sehr genauen statistischen Analyse unterzogen hat, unterscheidet auf dieser Basis zwei Werkphasen, wobei »die erste Werkphase 51, die zweite aber nur 42 Gedichte umfasst. Praktisch gleichgewichtig dagegen ist die Gedichtanzahl in den jeweils in quantitativer Hinsicht produktivsten 6 Jahren zwischen 1959 und 1965 (38 Texte ; 1964 Pause) bzw. 1973 und 1979 (37 Texte ; 1974 Pause)« (Markus 2015, S. 85, Anm. 246). Die Mehrheit dieser zweiten Werkphase nach Markus, die 1978 in die Publikation von Aichingers Gedichtband Verschenkter Rat mündet, ist in den Jahren 1977 und 1978 entstanden. In dem Band stellt Aichinger wiederholt auf einer Doppelseite je ein Gedicht aus der ersten Werkphase einem Gedicht aus der zweiten Werkphase gegenüber (»Ortsanfang« und »Ortsende«, S. 50 – 51 ; »März« und »Märzwunsch an den Garten«, S. 74 – 75 ; »Alter Blick« und »Restlos«, S. 78 – 79). Eine diesen Gegenüberstellungen vergleichbare Konstellation verbindet »Gebirgsrand« (S. 13) und »In einem« (S. 106), die den gesamten Band gewissermaßen rahmen, so als ob eine früh gestellte Frage mit einer weiteren Frage abschließend gekontert würde. Es mag übertrieben sein zu behaupten, dass die persönliche Bekanntschaft mit Politzer, dass die Gedichte, die er während seines Kur-Aufenthalts im Juni und Juli 1974 schrieb und von denen sich Abschriften in Aichingers Nachlass erhalten haben (Politzer [1974a]), sowie seine publizierten Auseinandersetzungen mit ihrem Werk dazu beigetragen haben, dass Aichinger im Anschluss daran noch einmal vermehrt Gedichte geschrieben hat. Zumindest das Gedicht »In einem« aber, das 1975 zunächst ohne Titel in der Festschrift für Heinz Politzer publiziert wurde, verdankt seine Entstehung wohl dieser Konstellation. Es formuliert wiederum nur einen einzigen Satz, eine einzige »Strophe.« Sie stellt nun nicht mehr die von den Träumen abhängige Ich-Identität infrage – diese bleibt unhintergehbar. Vielmehr zielt sie mit der in ihrer letzten Zeile explizit gestellten Frage, mit ihrem letzten Wort (›heimgerufen werden‹ im christlichen Sprachgebrauch als Euphemismus für ›sterben‹) noch einmal auf das Äußerste – auf »Schatten«, »heim«, den Tod. Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1976) : Die größere Hoffnung. Mit einem Nachwort von Heinz Politzer. Frankfurt/M. (= Fischer Bibliothek). Aichinger, Ilse (GrH 1993) : Die größere Hoffnung. Hg. von Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki. Mit einem Nachwort von Helmut Koopmann. Stuttgart. Gütersloh. Wien (= Bibliothek des 20. Jahrhunderts).
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Christine Frank
Politzer, Heinz [1974b] : Augustgedicht, 1 Bl. Ms., datiert 2. August 1974 ; im Bestand A : Aichinger, Ilse im Deutschen Literaturarchiv Marbach ; Mediennummer HS010430130. Politzer, Heinz [1974c] : Brief vom 18. Juni 1974 an Hans Paeschke ; im Bestand D : Merkur im Deutschen Literaturarchiv Marbach ; Mediennummer HS002263323. Politzer, Heinz (1975a) : »Die Sachlichkeit der Träume« [Abdruck und Interpretation des Gedichts »Gebirgsrand« von Ilse Aichinger], FAZ Nr. 33, 8. Februar ; auch in : Marcel ReichRanicki : Frankfurter Anthologie, I. Frankfurt/M. (1976), S. 204 – 206. Politzer, Heinz (1975b) : Liebeslied, beinah abstrakt [Abdruck u. Interpretation des Gedichts »Katharina von Frankreich« von Heinrich von Kleist], FAZ, Nr. 170, 26. Juli ; auch in : M. Reich-Ranicki : Frankfurter Anthologie, I. Frankfurt/M.(1976), S. 39 – 42. Politzer, Heinz [1975c] : Liebeslied, beinah abstrakt ; Ts. 4 Bl. o. O., o. Datum, paginiert, mit hs. Zueignung »Dem Andenken/an Günter E.« auf S. 2 ; im Bestand A : Aichinger, Ilse im Deutschen Literaturarchiv Marbach ; Mediennummer HS010430130. Politzer, Heinz [1975d] : Brief vom 25. August 1975 an Hans Paeschke ; im Bestand D : Merkur im Deutschen Literaturarchiv Marbach ; Mediennummer HS002263323. Politzer, Heinz (1976a) : Ilse Aichingers todernste Ironien. In : Merkur, H. 336, S. 486ff. Hier zitiert nach der Ausgabe : Samuel Moser (Hg.) : Ilse Aichinger : Leben und Werk. Frankfurt a. M.: Fischer 2. Auflage 2003, S. 261 – 264. Politzer, Heinz [1976b] : Briefe vom 6. Januar, 22. Januar, 27. Januar, 5. März, 14. Mai 1976 an Hans Paeschke ; im Bestand D : Merkur im Deutschen Literaturarchiv Marbach ; Mediennummer HS002263323. Politzer, Heinz (1977) : Literatur und menschenwürdige Gesellschaft. In : Menschenwürdige Gesellschaft. Hg. Salzburger Hochschulwochen und Franz Kardinal König, S. 215 – 263. Politzer, Heinz (1997) : Musikerlöste Dämonie. Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1976, in : Harald Waitzbauer : Festlicher Sommer. Das gesellschaftliche Ambiente der Festspiele von 1920 bis heute. Festreden seit 1964, hg. v. R. Floimair. Salzburg, S. 214 – 220. Schmidt-Dengler, Wendelin (1995) : Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 – 1990. Salzburg, Wien. Weber, Regina (1994) : Heinz Politzer (1910 – 1978) [Bibliographie]. In : Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Band IV. Bibliographien, Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler in den USA. Teil 3. N–Z. Hg. v. John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt u. a. Bern : K. G. Saur Verlag, S. 1469 – 1485. Weyrauch, Wolfgang (2003) : Entsetzen und Verzweiflung. In : Tribüne H. 60, 1976, S. 7304f. Hier zitiert nach der Ausgabe : Samuel Moser (Hg.) : Ilse Aichinger : Leben und Werk. Frankfurt a. M.: Fischer 2. Auflage, S. 253 – 254.
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Thomas Wild
Ilse Aichinger und Jean Améry Poetiken der Unversöhnlichkeit Aichinger und Améry. Was wäre das für eine Bibliothek, in der die beiden sich so benachbart finden könnten, wie die Anfangsbuchstaben ihrer Autorennamen es nahelegen ? Vielleicht sogar auf demselben Regalbrett : Ai-Am. Es könnte eine Privatbibliothek sein, in der alle Bücher schlicht alphabetisch stehen, beliebig und egalitär. Wie aber erginge es einem jüngeren oder älteren Leser in einer Buchhandlung oder Stadtteilbibliothek – wären Aichinger und Améry da nicht vermutlich in »Literatur« und »Sachbuch« getrennt, ihr beiderseits – anderes – literarisches Schreiben zur Geschichte des 20. Jahrhunderts also nicht als zusammengehörig auffindbar ? Und wie wäre es, wenn eine Regalordnung deutschsprachige und internationale Literatur unterschiede und mit dieser Zuschreibung neben der Sprache auch den Lebensort meinte ? Améry weigerte sich nach 1945 in einem Land zu leben, in dem Deutsch gesprochen wurde, obgleich er in keiner anderen Sprache als Deutsch schreiben wollte. Aichinger wiederum lebte in deutschsprachigen Umgebungen und lässt uns durch ihre Bücher wissen : »Meine Sprache ist eine, die zu Fremdwörtern neigt« (EE 1991, S. 198). Wie verhielte sich das alles in einer Bibliothek österreichischer Literatur ? Zwei, die in Wien geboren wurden : Eine, die dort – nach langen Jahren anderswo – auch starb, aber nicht begraben sein wollte, sondern »ein Seebegräbnis überlegte, was wohl nicht möglich sein wird, zwischen Dover und Calais« (UR 2005, S. 72). Und einer, der seinen Geburtsnamen Hans Mayer ablegte, auf die Tortur in NS-Lagern hin nach Brüssel zog und gezielt nach Salzburg kam, um sich dort das Leben zu nehmen. Hier queren zwei Namen Ordnungen verschiedener Art. Es gibt freilich auch Bibliotheken, die ihre Bücher chronologisch nach Geburtsjahr des Autors sortieren. Demnach stünde Améry neun Jahre vor Aichinger. Und sechs Jahre nach Hannah Arendt. Alle drei quasi in Sichtweite zueinander. Auch eine Art Zufall. Oder kein Zufall. Verbindende Zeit. Mit Blick auf diese drei, bei aller Unterschiedlichkeit, womöglich auch ein verbindendes Projekt : Wie antworten auf die Zeit totalitärer Ideologien, Staaten, Vernichtung ? Eine Frage, mit der deren Texte immer wieder anderes umgehen : unausgesprochen, in der Schreibweise. Offen ist die Frage, ob Aichinger und Améry jemals die Schriften des anderen gelesen haben. Denkbar ist es. Manifeste Spuren gibt es nicht. Auch Begegnungen sind nicht überliefert. Trotz einiger Verbindungen über Dreieck, auch im Schreiben,
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Thomas Wild
etwa via Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Marlene Dietrich. Angesichts all der Namen aus den literarischen Welten der Nachkriegsjahrzehnte, die in beider Essays und Artikeln so zahlreich erwähnt werden, wirkt es fast nicht mehr zufällig, dass gerade der jeweils andere Name fehlt. Eine bedeutsame oder eine unbedeutende Lücke ? Dass heute in der hier vorgestellten Bibliothek gleich welcher Ordnung diese beiden Autorennamen, Aichinger und Améry, stehen anstelle zweier Leerstellen, mag gewiss glücklich und gewiss nicht versöhnlich stimmen. Aichinger überlebte, anders als nahe Verwandte und andere Verfolgte in Wien. Améry entkam Auschwitz. Aichinger und Améry. Zwei, die auf Unsagbares antworten. Mit einem Impuls zu berichten. In einer Sprache, die auf Widerstände stößt. Und die Widerstand leistet. Zwei, denen es um Wirklichkeit geht. Eine Wirklichkeit, der zuliebe sie sich der Versöhnung mit dem Unversöhnlichen widersetzen. Stellen wir uns vor, der Regalabschnitt unserer vorgestellten Bibliothek, wo Aichinger und Améry nun beieinanderstehen, wäre so beschriftet : »Poetiken der Unversöhnlichkeit«. ***
Im September 1935 sitzt Hans Mayer an einem Wiener Caféhaustisch und liest Zeitung. Er überfliegt die Nachrichten des Tages. Da trifft es ihn. Weil es ihn betrifft, dessen ist er sich auch bei nur flüchtiger Lektüre gewahr. Eine Nachricht aus Deutschland. Aus dem erst zwei Jahre jungen, nationalsozialistischen Staat, der von aller Welt als legitime Vertretung seiner Bevölkerung anerkannt wird. Die Zeitungsnachricht handelt von kürzlich in Nürnberg erlassenen Gesetzen. Améry erinnert sie als Worte, die »mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht« haben (Améry 1977, S. 149). Als »Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein« bezeichnete Améry später das unaufhörliche Paradox, das in jenem Moment einsetzte und nicht aufzulösen war, ein Leben lang. »Wenn Jude sein heißt«, mit anderen das »religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischer Kultur- und Familientradition, ein jüdisches Nationalgefühl zu pflegen«, dann befinde er sich in »aussichtsloser Lage«, so Améry. Er glaubte nicht an den Gott Israels, wusste wenig von jüdischer Kultur, hörte erst als junger Erwachsener erstmals von der Existenz einer jiddischen Sprache, stapfte zu Weihnachten durch ein verschneites Dorf in die Mitternachtsmette, hat keine Erinnerung von sich in einer Synagoge, und wenn sich in der Familie ein Unglück ereignete, beschwor keine hebräische Formel den Herrn, sondern die Mutter rief Jesus, Maria und Josef an. Gleichwohl wäre niemand der Mayers auf die Idee gekommen, »das ohnehin Unverschleierbare« abzuleugnen oder vertuschen zu wollen, dass in den Augen der Nachbarn »meine religiös und ethnisch vielfach gemischte Familie als eine jüdische galt« (ebd., S. 146).
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Poetiken der Unversöhnlichkeit
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Unmöglich war es ihm aus freien Stücken seine Zugehörigkeit zur jüdischen Religion und Kultur zu reklamieren. Der Zwang, mit dem ihn die Nürnberger Rassengesetze zum »Juden« machten, ließ Améry wiederum keine Wahl. Sie forderten zugleich seine Entscheidung heraus, sich ihnen auf eine Weise zu widersetzen, die deren politische und gesellschaftliche Wirklichkeit nicht verleugnete. Er verstand, dass es keinen Sinn hatte, sich in Verallgemeinerungen wie die »Leerformel, ich sei eben ein Mensch« flüchten zu wollen (ebd., S. 148). Er war, um eine Formulierung Hannah Arendts aufzunehmen, als Jude angegriffen worden, also hatte er sich als Jude zu verteidigen. Der Einsatz war ihm bewusst, als er am Caféhaustisch die Zeitung in der Hand hielt und »in diesem Augenblick der Gesetzeslektüre« die systematische Entwürdigung und damit »die Todesdrohung, richtiger : das Todesurteil schon vernahm« (ebd., S. 150). Es wird nur wenige Jahre dauern, bis Jean Améry in die Lager von Gurs, Auschwitz und Buchenwald-Dora verschleppt wird. Aus dem KZ Bergen-Belsen wird er im April 1945 befreit, von britischen Soldaten. Vielleicht war es genau um diese Zeit, als Améry im Café in jener Zeitung las, dass Ilse Aichinger mit ihrer Zwillingsschwester Helga in einem Krämerladen des Wiener Fasanviertels auf den gezückten Zeigefinger blickten, mit dem die Besitzerin sie brandmarkte : »Das sind Juden« (FV 2001, S. 21). Das geschäftige Publikum hielt inne, drehte sich um nach den beiden, umringte sie geifernd oder stumm. Rasch verließen die beiden Mädchen das Geschehen. Atemlos kommen sie »bei unserer Großmutter« an und »erzählten kein Wort« von dem, was passiert war (ebd.). »Statt dessen begannen wir, um den Wohnzimmertisch zu laufen«, erinnert sich Ilse Aichinger (ebd., S. 22). Ein Abarbeiten und eine Ausflucht, ein Spaß und eine Gegenbewegung. Lange hielt all das nicht an, denn bald schon klopfte die untere Mietpartei mit dem Besen gegen die Decke. Kinder, die wie wild um einen Tisch rennen – von außen betrachtet ein Bild unaufhaltsamen Glücks. Der pochende Besen aber deutet an, wie fragil der Boden war, auf dem Ilse und Helga Aichinger sich da bewegten, und der Abgrund, in den die Welt jener Kindheit bald stürzen sollte, zieht dem Erinnerungsbild buchstäblich den Boden unter den Kinderfüßen weg. Ähnlich wie Améry, erwähnt Aichinger im selben Kontext – es ist ihre Rede zum Großen Österreichischen Staatspreis – den religiösen und ethnischen Hintergrund ihrer Familie. Einer ihrer Großväter habe es nur zu einem bescheidenen Offiziersrang gebracht, da er sich weigerte, »die ungeliebte und ungeglaubte jüdische Religion« aus opportunistischen Motiven abzustreifen (ebd., S 23). Der Vater ihrer Großmutter sei während der K&K Monarchie eine Zeit lang bei der Bahn gewesen, als »Stationsvorstand eines kleineren und unbekannten Ortes. Auschwitz«. Sein beruflicher Werdegang stagnierte, da er »die jüdische Religion, an die er nicht glaubte, nicht aus Karrieregründen ablegen wollte« (ebd.). Beide seien ruhig gestorben.
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»Meine Großmutter hatte dieses Glück nicht«, so Ilse Aichinger, »sie wurde gemeinsam mit den jüngeren Geschwistern meiner Mutter nach Minsk deportiert, gefoltert und im Mai 1942 ermordet« (ebd.). Ilse Aichinger und ihre Mutter überleben die Nazizeit in Wien. Es ist der Absurdität der Nürnberger Gesetze geschuldet, die die Mutter als »Halbjüdin« vor der Deportation bewahrte, weil sie für ihre schutzbefohlene Tochter, eine »Vierteljüdin«, dem Gesetz nach als zuständig galt. »Wo Ordnung geschaffen werden muß, liegt Willkür immer nahe genug«, begründet Ilse Aichinger, warum sie sich keinen Staat, auch nicht einen guten vorstellen könne (ebd.). »Staat« klinge für sie zugleich starr und amorph. So wie »Dichtung« rasch vage und unpolitisch klingen könne. »Es wird immer um Genauigkeit gehen«, kontert Ilse Aichinger, »die gerade im Bereich der Literatur leicht abhanden kommt« (ebd., 25). »Dem Entwürdigungsprozeß gegen uns Juden, der mit der Verkündigung der Nürnberger Gesetze anhub und in direkter Konsequenz bis nach Treblinka führte, entsprach auf unserer, meiner Seite ein systematischer Prozeß um Wiedergewinnung der Würde. Er ist bis heute für mich nicht abgeschlossen«, schreibt Jean Améry im Kapitel »Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein« in Jenseits von Schuld und Sühne (Améry 1977, S. 154). Jener Prozess beginnt für ihn »in diesem Augenblick« der Caféhauslektüre (ebd., S. 150). Vielleicht so, wie in dem Augenblick, als Ilse Aichinger und ihre Schwester beginnen, um den Tisch zu laufen, etwas Unabschließbares, Widerständiges aufbricht. In einem benachbarten Text spricht Ilse Aichinger von einem »Augenblick«, der »nicht mehr aufzuheben« sei (FV 2001, S. 131). Er manifestiert sich in einem Foto von Bill Brandt, 2. Januar 1943, das aufgenommen wurde, während die Schlacht von Stalingrad tobt und Sophie Scholl mit ihren Freunden von der Weißen Rose ihre Flugblattaktionen planen – acht amüsierte, unschuldig aufmüpfige Kinder irgendwo in England : »Are we planning a new deal for youth ?«, so die Bildunterschrift (ebd., S. 130). Jene Kinder verkörpern für Aichinger eine neue, andere Gangart und Haltung. Auch eine andere Unversöhnlichkeit »[…] in Bewegung und im Aufbruch, siegreich, ohne darauf zu bestehen« (ebd., S. 133). ***
Als Jean Améry 1964/65 zu seinen »Bewältigungsversuchen eines Überwältigten« aufbricht, jenen Essays, die zunächst von seiner Stimme im Rundfunk gesprochen, und später als Buch mit dem Titel Jenseits von Schuld und Sühne erschienen, ist in der deutschsprachigen Öffentlichkeit die Debatte um Verjährung von NS-Verbrechen im Gange. In Jerusalem war vor kurzem das Urteil im Eichmann-Prozess gesprochen worden und die sogenannten Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main und anderen Orten hoben die Gegenwärtigkeit jener Vergangenheit in die Schlagzeilen. In der
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Poetiken der Unversöhnlichkeit
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Bundesrepublik Deutschland rühmte man sich der Bundesentschädigungsgesetze und ihrer Wiedergutmachungspolitik. Und nicht zuletzt stand in Kürze die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel bevor. »Seien Sie vorsichtig«, riet ihm »ein wohlmeinender Freund«, so Améry, auf der Grundlage eigener Erfahrungen über »den Intellektuellen in Auschwitz« schreiben zu wollen : der Text solle von jenem Lager »möglichst wenig und von den geistigen Fragen möglichst viel handeln«, empfahl der Freund ; das Wort »Auschwitz« solle er im Titel tunlichst vermeiden, denn das »Publikum sei allergisch gegen jenen geographischen, geschichtlichen, politischen Begriff« (Améry 1977, S. 19). Zu den von »Versöhnungspathos vibrierenden« Stimmen gehörten für Améry auch Martin Buber, Victor Gollancz und Gabriel Marcel (ebd., S. 119, S. 122). Deren öffentliche Gesten der Verzeihung hatten etwa den Verleger Michael Klett nach der ersten Lektüre von Jenseits von Schuld und Sühne fragen lassen : »Warum vergibt er uns nicht ?« (Améry 2002, S. 666). »Irritierend war das für einen, der in christlichem Ambiente nachgewachsen war«, und schon gar nicht sei ihm in den Sinn gekommen, Amérys Haltung der Unversöhnlichkeit einen »moralischen Wert beizumessen«, so Klett Jahre später in einem Brief an seinen Autor : »Das war ein Irrtum« (ebd.). In derselben Zeitspanne veröffentlicht Ilse Aichinger die Prosasammlung Eliza Eliza, den Hörspielband Auckland und dankt für den Nelly-Sachs-Preis mit den Worten : »Im Namen von Nelly Sachs mit der Freude konfrontiert zu werden, heißt aber zugleich, mit einer Angst konfrontiert zu werden, die sich durchsteht, mit Finsternis, die sich nicht ausweicht, mit Trauer, die allem offenbleibt« (KMF 1991, S. 108). Und in Schlechte Wörter schreibt Aichinger 1976 : »Wir haben jetzt Flecken auf unseren Sesseln. […] Wieder einer, sagt man leichtfertig und schiebt die Reihen zusammen. Aber diese Flecken verändern die Vertikale. Die Hierarchie beginnt zu schwanken, wenn auch nicht aus Angst. […] Es dämmert, aber die Flecken gehen nicht weg« (SchW 1991, S. 15f.). Hier begegnen sich zwei Schreibprojekte in einer Haltung und jeweils eigenen Poetiken der Unversöhnlichkeit. »Nichts ist vernarbt, […] das bricht als infizierte Wunde wieder auf«, ruft Améry im Winter 1976 den anhaltenden Versöhnungserwartungen entgegen (Vorwort zur Neuausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne ; Améry 1977, S. 15). Er spricht aus der Perspektive des Augenzeugen und mit der Stimme desjenigen, den die Erfahrung der »Tortur« nie mehr ganz heimisch lassen werden will in der Welt – nicht ohne Angst und nicht ohne Ressentiment : »Jude sein, […] ich kann es nicht in der Ergriffenheit, nur in Angst und Zorn, wenn Angst sich, um Würde zu erlangen, in Zorn verwandelt« (ebd., S. 89, S. 172). Amérys Augenzeugenschaft ist nicht identisch mit positiver Bestandsaufnahme. Sein Schreiben bringt die Fragwürdigkeit der Welt hervor. Er betrachtet seine Exis-
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tenz, will eine geschichtliche Realität seiner und unserer Epoche erhellen und ist sich bewusst vor einem »finsteren Rätsel« zu stehen (ebd., S. 171, S. 9). Amérys Wunsch nach Aufklärung ist das Gegenteil von Abklärung und seine Idiosynkrasien sind fern jeder Ideologie. »Ich rebelliere : gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren lässt und es damit auf empörende Weise verfälscht«, erklärt Améry (ebd., S. 19). Das Ressentiment ist ein anderes Wort für jene Rebellion. Es widerspricht der zwingenden Logik und Rhetorik vom ›natürlichen Gang der Dinge‹, nach dem angeblich auch alle Wunden im Laufe der Zeit zuwachsen. »Recht und Vorrecht des Menschen ist es, dass er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen«, so Améry ; in diesem Protest zeige sich unsere »sittliche Widerstandskraft« (ebd., S. 129). Während der »faul und wohlfeil Vergebende« sich einem biologischen oder gesellschaftlichen Automatismus unterwerfe, könne der »sittliche Mensch« die Aufhebung der Zeit, die Umkehrung des Geschehenen fordern (ebd.). Das Ressentiment, das die ›natürliche‹ Versöhnung verweigert, nagelt den Untäter auf seine Untat fest. Im »Wunsch nach Zeitumkehrung« könne ein Treffpunkt entstehen, an dem sich die radikal gegensätzlichen Gruppen und Erfahrungen von Überwältigern und Überwältigten begegnen. Eine Begegnung, weiterhin, im Modus der Unversöhnlichkeit. Ein Treffpunkt für Differenz. Da dies »eine moralische Kluft ist, bleibe sie vorläufig weit geöffnet« (ebd., S. 11). Ein Ort für bewegliche Paradoxien und Antinomien. Womöglich auch anhaltende Versuche, mit Ilse Aichinger gesprochen, »ein Verhältnis herzustellen, / das unaufhebbar ist« (VR 1991, S. 31). »Ressentiment« oder »Sittlichkeit« sind keine Wörter in Ilse Aichingers Vokabular. Dafür hat sie umso häufiger ihre Ablehnung und ihr Angewidertsein von dem »Natürlichen« bis hin zum »Leben« selbst kundgetan. Amérys Widerstand ist existenziell an die Erfahrung der Folter und Gewalt im Lager geknüpft, eine nicht mehr wieder auszugleichende Erschütterung, ein Vertrauensverlust in die Welt. Hier liegt auch etwas Unvergleichliches, absolut Singuläres vor. Aichingers Zurückweisungen der Notwendigkeiten des Natürlichen haben auf den ersten Blick einen allgemeineren, philosophisch existenziellen Ton. Doch lassen sich ihre Sätze auch als politische und ethische Verweigerung lesen, ein solch natürliches Verständnis der Welt auf die Geschichte zu übertragen, was etwa die Deportation und Ermordung ihrer Familienangehörigen als ›natürlichen‹, unvermeidlichen Vorgang erscheinen ließe. Hier korrespondieren ihre und Amérys andere Geschichte der Empfindlichkeit wieder. Im Interview wird Aichinger einmal gefragt, auch im Hinblick auf ihre verknappte Schreibweise, wogegen sich denn ihre »fundamentale Haltung der Empörung, des Neinsagens« richte. Aichingers Antwort : »Gegen diese sehr häufige Meinung des ›So ist es eben‹, die, was
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Poetiken der Unversöhnlichkeit
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sie vorfindet, fraglos akzeptiert. Die Welt verlangt danach, gekontert zu werden. Schon das Wesen der Natur ist ein Unwesen, das man nicht genug kontern kann«, so Aichinger. »Etwas so anzunehmen, weil es so ist, bleibt ein verheerender Irrtum« (Interviews 2011, S. 68). Eine Volte und Revolte gegen jene Einstellung des ›So ist es eben‹ formuliert beispielsweise ein Satz, der hier als Pate für Ilse Aichingers Poetik der Unversöhnlichkeit stehen soll : »Erinnerung begreift sich nicht zu Ende.« Auf diese Worte läuft Aichingers Prosatext Kleist Moos Fasane zu (KMF 1991, S. 18). Es ist ein Text, der in der Küche der Großmutter beginnt, dessen Schliche und Sprünge verwobene Zeiten und Räume queren, der am Ende zu einer »viel längeren Nacht« gelangt und zu denjenigen, »die diese Nacht nicht überlebt haben«, zur »Unaufhörlichkeit der frühen Zeit« (ebd.). Erinnerung begreift sich nicht zu Ende. Aichingers Formulierung schreibt der Erinnerung eine anhaltende Unverfügbarkeit ein. Keine erhabene, sondern eine befragte Unverfügbarkeit. Ein grenzenloses Vermögen, das sich als Unvermögen artikuliert : Erinnerung begreift sich nicht zu Ende. Das Positive dieser unfassbaren Kraft tritt als Negation in Erscheinung. Ein Paradox, eine logische Komplikation. Ein performativer Widerspruch, der sich subversiv auch gegen das Gelingen des eigenen Satzes, die eigene Sprache wendet. Und sie so für andere, (noch) ungesagte Sätze öffnet. Mit einem Aichinger-Wort aus dem oben zitierten Interview könnte man diese Geste kontern nennen. Kontern ist das Wort einer Sprache, »die zu Fremdwörtern neigt« (EE 1991, S. 198). In kontern begegnet das Deutsche dem englischen to counter : eine Bewegung abfangen und ihre Kraft umkehren. Unterwegs in der Umgebung von ›to counter’ trifft man en route auch auf ›encounter’, von alt-französisch ›encontre(r)‹, Nomen und Verb. In diesem wunderbaren Wort der Begegnung begegnet uns indes ein Gegner, auf den man, lateinisch in-contrare, frontal trifft. Von vorn sind wir mit diesem Anderen konfrontiert, von Angesicht zu Angesicht. Heißen wir es willkommen ? Auch wenn es uns nicht seinen Namen sagt ? Weisen wir es ab ? Jenes Antlitz, das spricht, auch ohne Worte ? (Lévinas 1983, bes. S. 221 – 226). Darin liegt eine andere Herausforderung und Aufgabe, Gefährdung und Möglichkeit. Eine Aufforderung zum Antworten, ein Aufruf zur Verantwortung. Erinnerung begreift sich nicht zu Ende – um diese Formulierung als Ruf und Aufruf zu lesen, muss man in diesen Worten auch die Klage hören und die Anklage. Im mehrstimmigen, mehrsprachigen Echoraum des Konterns klingt hierbei das Wort grief an. Im Englischen bedeutet es vor allem Schmerz und Trauer, das gleichlautende französische Wort bringt den Klage- und Beschwerdegrund hinzu, wie das Englische grievance. Erinnerung begreift sich nicht zu Ende wäre damit als Satz lesbar, in dem »Anklage und Trauer zur Klage über eine unendliche Verletzung zusammentreten« (Derrida 2000, S. 13).
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Thomas Wild
Im gleichen Klangraum wird der Ruf und Aufruf in Aichingers poetischer Formulierung als Appell vernehmbar, als Zuruf und Anruf sowie als appeal, als Einspruch und Berufung. »Die Entscheidung, ›Berufung einzulegen‹, würde eine Wiederaufnahme des Verfahrens einleiten, eine neuerliche Prüfung der Beweislage« (ebd., S. 15). »Berufung einlegen« heißt im Französischen faire appel. Daneben gibt es prendre appel, »zum Sprung ansetzen«. Dabei würde »ein gekrümmter Körper seine Kräfte sammeln, zunächst über sich selbst gebeugt in einer vorbereitenden Reflexion : vor dem Absprung ohne Horizont und über jeden Prozeß hinaus« (ebd., S. 16). Ilse Aichingers und Jean Amérys Schreiben ist unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit zu lesen. Seit seiner Flucht aus Österreich und nach der Tortur lebte Améry in Brüssel und damit alltäglich auch im Französischen. Für Ilse Aichinger wurden, nicht zuletzt durch die Flucht ihrer Zwillingsschwester Helga nach London, die englische Sprache und Literatur lebenslange Begleiterinnen. Auf je eigene Weise unterlaufen die Schreibweisen beider, obgleich die Oberflächen der Texte vorwiegend deutsch aussehen, das für die Konzeption von Nationalliteratur grundlegende Paradigma der Einsprachigkeit (Yildiz 2012) – eine weitere Dimension ihres Schreibens im Zeichen der Unversöhnlichkeit. Dies kann hier nur angedeutet werden und ist an anderer Stelle weiter zu entfalten. Für Ilse Aichinger ließe sich an eine »Poetik der Gastfreundschaft« denken (Wild 2021, bes. S. 229 – 284). ***
Aichinger und Améry. Das ist, wie anfangs erwähnt, auch eine Geschichte der NichtBegegnung. Oder der Fast-Begegnungen. Man kann es sich vorstellen. In RundfunkRedaktionen. Auf Lesebühnen. Bei Verlagsfesten. Die Imagination muss weiterhelfen : Beide nahmen in den Jahren nach dem Krieg die Ostende-Dover Ferry zwischen Festland und England und beide zitieren in ihren Texten den bekannten Anti-War-Song »The White Cliffs of Dover« (UR 2005, S. 71 ; Améry 2002, S. 436). Vielleicht haben sie den anderen das Lied einmal summen hören, unwissentlich, auf oder unter Deck, nach der Melodie von Vera Lynn ? Oder stellen wir uns eine spätere lesende Begegnung vor. Etwa als Ilse Aichinger Anfang der 2000er Jahre ihre wöchentlichen Kolumnen schrieb und stets auf der Suche nach Anregungen war. Im Jahr 2002 zum Beispiel erschienen die autobiographischen Bücher Jenseits von Schuld und Sühne, Unmeisterliche Wanderjahre und Örtlichkeiten, gesammelt in einem Band in der neuen Jean Améry Werkausgabe (Améry 2002). In welchen Kapiteln hätte Aichinger womöglich geblättert ? An welchen Stellen könnte sie angehalten haben ? Welche Worte hätten ihr womöglich eine Absprungmöglichkeit fürs Schreiben ihrer Blitzlichter auf ein Leben und Unglaubwürdigen Reisen geboten ?
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Poetiken der Unversöhnlichkeit
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Vielleicht wäre sie hier eingestiegen oder hängen geblieben, in den erstmals 1971 erschienenen Unmeisterlichen Wanderjahren, dessen zweites Kapitel »Die scheinbaren Scheinfragen« heißt und so beginnt : »Man kann aus dem Traum erwachen und gleich wieder träumerisch in einen anderen fallen« (Améry 2002, S. 212). Weiter geht es mit dem »Judenboykott« in Berlin 1933, dem niederösterreichischen KZ Wöllersdorf, dem Wiener Kreis und Heidegger und vielem mehr. Améry schildert, wie Österreich wenig später in einen deutsch-faschistischen Rausch und Triumph verfällt, und er erinnert sich selbst in der dritten Person : »Um ihn herum fiel der Schnee wie in Artmanns Gedicht : die Menschen wachten nicht mehr auf in der Frühe. Das Land verdarb« (Améry 2002, S. 229). Als antwortete sie auch auf Amérys Satz, schreibt Ilse Aichinger zum Tod von H. C. Artmann im Dezember 2000 einen Nachruf mit dem Titel »Der Schneefall der Existenz«. Anlass ist ein Foto mit Artmann und seinem jüngeren Bruder Erwin auf einem Schlitten. »Schnee weht um die beiden. Den Jüngeren wird er bald zudecken, er ist im Krieg gefallen«, so Aichinger (FV 2001, S. 115). Von Artmann erinnert sie, wie er während des Zweiten Weltkrieges »das Strafbataillon, das ihn beiseite schaffen sollte, überstand und es fertig brachte, fast 80 Jahre lang auf dem Sprung zu bleiben« (FV 2001, S. 115). Ein ungewollt Widerständiger, ein Unversöhnlicher. Die kostbare Trope vom Sprung greift Aichinger sogleich wieder auf : »Auch er hatte Lust zu existieren, die haben erstaunlich viele. Aber die seine war illusionsloser, genauer. Er hatte seine Illusionen im Griff und setzte sie ein, wenn sie bereit waren, ihm wieder auf die Sprünge zu helfen« (ebd., S. 115f ). Aichinger hätte diesen Satz auch über Ámery sagen können. Aichinger, Améry, Arendt, Artmann – schon sind sie nicht mehr so allein auf dem Regalbrett der »Poetiken der Unversöhnlichkeit«. Ein Anfang ist gemacht. Literatur Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. 1991 (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. 1991 (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M.
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Thomas Wild
Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Améry, Jean (1977) : Jenseits von Schuld und Sühne. Stuttgart. Améry, Jean (2002) : Jenseits von Schuld und Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Örtlichkeiten. Hg. Gerhard Scheit. Bd. 2 Jean Améry Werke. Hg. Irene Heidelberger-Leonard. Stuttgart. Derrida, Jacques (2000) : Politik der Freundschaft. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Frankfurt/M. [Originalausgabe : Politiques de l’amitié, Paris 1994] Lévinas, Emanuel (1983) : Die Spur des Anderen, in : Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Aus dem Französischen von Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg/München, S. 209 – 235. Yildiz, Yasemin (2012) : Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition. Fordham UP. Wild, Thomas (2021) : ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger. Frankfurt/M.
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Barbara Wiedemann
»Dichtungen anstelle von theoretischen Äußerungen ?« Ilse Aichinger, Paul Celan und die Wirklichkeit des deutschfranzösischen Schriftstellertreffens in Vézelay Richard Reichensperger betont in seinem Essay »Bergung der Opfer in der Sprache« von Anfang an die Parallelen zwischen Ilse Aichinger und ihrem nur ein Jahr älteren Dichter- und Schicksalskollegen Paul Celan (Reichensperger 1991, S. 8). Das ist aus der Perspektive von 1991 geschrieben. In den 1950er Jahren sind Vergleiche zwischen Ilse Aichinger und Paul Celan dagegen selten : Aichinger mit ihrem Romandebüt und Celan mit seiner »Todesfuge« scheinen für die damalige Öffentlichkeit wenig miteinander zu tun zu haben. Das gemeinsame Schicksal als Überlebende der Shoah, das sich für thematische Vergleiche angeboten hätte, scheint ein Tabu : Aichinger ist Österreicherin, Celan, wenn nicht Österreicher, dann Rumäne oder Rumäniendeutscher. Es ist also durchaus überraschend, dass Aichinger und Celan 1956 in der Einleitung zu dem Sonderteil, der im Augustheft der Zeitschrift Akzente dem deutsch-französischen Schriftstellertreffen in Vézelay gewidmet ist, zusammen genannt werden. Beide erscheinen dort erstens als Autoren von Gedichten und zweitens als Außenseiter : Die Referate und Diskussionen hatten zum Thema : »Der Schriftsteller vor der Realität«. Die AKZENTE baten Teilnehmer der Tagung, französische und deutsche, ihre Ansichten in kurzen, zugespitzten Stellungnahmen zusammenzufassen. […] Ilse Aichinger und Paul Celan sandten uns Dichtungen an Stelle von theoretischen Äußerungen. (NN 1956, S. 303)
Aichinger war zu diesem Zeitpunkt eher besser als Celan in der österreichischen und westdeutschen Literaturszene eingeführt ; im Gegensatz zu ihm hatte sie bereits Preise erhalten. Die Akzente-Redaktion konnte aber damit rechnen, dass die Leser auch über Celan ausreichend informiert waren : Beide hatten bereits drei Bücher publiziert, je eines davon in Österreich ; und das österreichische – Aichingers Rede unter dem Galgen und Celans Der Sand aus den Urnen – war jeweils in das nächste, in Westdeutschland publizierte Buch ganz oder teilweise übernommen worden. Beide waren in österreichischen und westdeutschen Zeitschriften regelmäßig vertreten. Die Tagung fand vom 28. April bis zum 2. Mai 1956 in der im Burgund gelegenen Gemeinde Vézelay statt. Nach den Treffen in Lahr (1947), Royaumont (1948), Paris (1953) und Bad Griesbach (1955) war es das fünfte dieser Art. Sie gingen auf die
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Barbara Wiedemann
Initiative des Jesuitenpaters Jean du Rivau zurück, der seit 1944 als Militärseelsorger in der französischen Garnison im badischen Offenburg eingesetzt war und das verordnete ›Fraternisierungsverbot‹ für kontraproduktiv hielt. Der engere Kreis der auf deutscher Seite Eingeladenen stand, wie der langjährige Organisator René Wintzen anlässlich des Pariser Treffens, an dem auch Celan teilnahm, bekannte, der Gruppe 47 nahe (Wintzen 1953, S. 693). Die Bemerkung in Akzente von 1956 entspricht, was Celan betrifft, mit Sicherheit nicht den Tatsachen. Denn »Stilleben mit Brief und Wanduhr«, »Heimkehr« und »Unter ein Bild von Vincent van Gogh« (Celan 1956) wurden nicht anstelle eines theoretischen Beitrags eingereicht, sondern bevor sich die Akzente-Redaktion überhaupt zum Abdruck der theoretischen Tagungsbeiträge entschloss. Auf Celans Wunsch hin traf die Redaktion eine Auswahl aus fünf Gedichten (11. Mai 1956 ; Neuhaus 1984, S. 40f.) – »Schliere« und »Unten« sortierte sie aus, die Gründe dafür sind nicht bekannt. Die drei verbliebenen standen dem Tagungsdossier voran, in das sie tatsächlich ja nicht gehörten. Auch Aichingers Gedicht scheint der Redaktion nicht als Stellungnahme zum Thema der Tagung überlassen worden zu sein. Im Nachlass von Walter Höllerer im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg (LSR) gibt es zwar einen kleinen Briefwechsel mit Günter Eich zu seinem Text »Der Schriftsteller vor der Realität« – für den er eine Mitschrift von Höllerer redigiert hat (LSR E8 6309) –, für Aichinger dort aber nur Grüße an die Ehefrau, zu ihrem Gedicht kein Wort. Geplant war, nach jedem theoretischen Beitrag auch ein ›praktisches‹ Beispiel zu drucken, Eich konnte oder wollte aber weder ein Gedicht noch einen anderen Text dazu beisteuern (LSR E7 6308 und LSR E6 6307a). Hat also der Mitherausgeber Walter Höllerer Aichingers Gedicht »Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße« von sich aus dazu gestellt, weil es ihm für seine seit Anfang des Jahres geplante Anthologie Transit möglicherweise schon vorlag (Aichinger 1956a, S. 315 und Aichinger 1956b, S. 140) ? Das ist nicht zu klären. Als ›praktisches‹ Beispiel passte es zumindest gerade unter den Schluss von Eichs Text und kam schließlich ›aus der Familie‹. Die redaktionelle Einleitung in Akzente wurde erstaunlich unaufmerksam gelesen. Annette Ratmann macht 2001 daraus : Als Teilnehmerin am dritten deutsch-französischen Autorentreffen, das im April 1956 in Vézelay stattfindet, äußert sich Aichinger zum Thema des Treffens ›Der Schriftsteller vor der Realität‹ in einer Form, die von den Beiträgen der meisten anderen Autoren abweicht : Während die überwiegende Zahl ihrer Kollegen einen diskursiven Text vorträgt, liest Aichinger ihr Gedicht Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße.
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»Dichtungen anstelle von theoretischen Äußerungen ?«
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Nur Celan habe sich ähnlich verhalten : »Für einen Gedichtvortrag entscheidet sich neben Ilse Aichinger nur Paul Celan, der die Gedichte Stilleben mit Brief und Wanduhr, Heimkehr sowie Unter ein Bild von Vincent van Gogh liest« (Ratmann 2001, S. 93f.). Diese Darstellung wird unbesehen in der Forschung weitergetragen (Hettche 2017, S. 603). Da nach dem 1955 in den Akzenten abgedruckten Gedicht »Der Taxus« (Aichinger 1955a) das im Tagungsdossier publizierte erst das zweite ist, das Aichinger überhaupt der Öffentlichkeit vorstellte, wird mit einer solchen Einordnung suggeriert, dass sie gerade im Zusammenhang mit dem Schreiben von Gedichten zu einem realistischen Schreiben kommt – oder sich gerade damit gegen ein solches stellt. Die französische Berichterstattung über die Tagung zeigt, dass das mit Aichingers Präsenz auf der Tagung wenig zu tun hat. Das Juli-Heft der Zeitschrift Documents, deren Redaktion an der Organisation der Treffen zusammen mit der der Schwesterzeitschrift Dokumente seit 1953 beteiligt war, enthält ein den Akzenten vergleichbares Dossier zur Tagung. Darunter sind zwei Beiträge, die mit Ilse Aichinger zu tun haben. Walter Höllerer gibt in seinem Bericht »Dialogue entre écrivains« nach einer ausführlichen Darstellung der Hauptvorträge von Karl Korn und Roland Barthes einen Überblick über die Diskussionsbeiträge verschiedener Teilnehmer, darunter Ilse Aichinger : »Le réalisme est pour Ilse Aichinger une réconciliation avec le réel. Elle pense que l’écrivain doit créer des liens entre la réalité humaine et la réalité encore inexplorée par l’homme au moyen de définitions« (Höllerer 1956a, S. 743). Wie stark dieser Bericht durch eine Übersetzung beeinflusst ist, ist nicht bekannt – im Nachlass von Walter Höllerer wurden keine Unterlagen dazu aufgefunden. Die Begrifflichkeit ist aber der Aichingers nahe : Schon in ihrem Radio-Essay »Über Adalbert Stifter« verwendet sie 1955 ›definieren‹ positiv im Gegensatz zu ›beschreiben‹ (Fv 2021, S. 165f.). Unmittelbar nach dem Bericht von Höllerer folgt die erste Veröffentlichung überhaupt von Aichingers Dialog »Wiederkehr«, und zwar in der französischen Übertragung von Marielore Rouveyre unter dem Titel »Le retour« (Aichinger 1956c). Aichingers Einstellung zum Umgang mit der Wirklichkeit in der Literatur wird für die französischen Leserinnen also nicht mit ihren Anfängen als Lyrikerin verbunden. Celan beteiligte sich ebenfalls mit theoretischen Äußerungen an der thematischen Diskussion auf der Tagung. Auch bei der Bitte um Einsendung eines Textes wurde er allerdings anders behandelt als manch anderer ; Günter Eich etwa wurde schon vor dem 22. Mai angefragt (LSR E9 6310). Erst am 6. Juni 1956 informierte Hans Bender Celan darüber, dass er und Walter Höllerer am Vortag entschieden hätten, alle in Vézelay zum Tagungsthema gemachten Stellungnahmen in den Akzenten abzudrucken, und bat Celan um die seine : »Sie haben so Richtiges und Wichtiges gesagt, daß ich Sie herzlich bitten möchte, mitzutun. […] Die Gedichte werden das Bekenntnis noch bedeutender machen« (Celan 2005, S. 525).
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In Celans Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) sind undatierte Textfragmente erhalten, die zwar mit großer Sicherheit erst aus dem Oktober 1956 stammen, dem Schriftstellertreffen aber wohl dennoch zugeordnet werden können. Celan hatte im September 1956 in Köln bei einer Tagung des Grünwalder Kreises Teilnehmer aus Vézelay wieder getroffen, u. a. Heinrich Böll und René Wintzen (DLA D :90.1.2643). Vom einen oder anderen mag er aufgefordert worden sein, das dort Gesagte doch schriftlich zu fixieren. Für den Bezug auf den früheren Anlass spricht Celans Einleitung : Das hier Aufgezeichnete entspricht, da es der Möglichkeit, unmittelbar an das es Ansprechende – und vor allem an dessen Gestimmtheit – anzuknüpfen, entraten muß, nur zum Teil dem damals tatsächlich Gesagten.
In dem von Satzbrüchen gekennzeichneten, nicht vollständig überlieferten Versuch formuliert Celan den Gedanken, daß sich das Wirkliche, wie es jeweils vom schöpferischen, wortgebenden Ich verstanden sein mag, im Gedicht neu konstituiert, d.h. mit dem sich anbietenden Wort zusammenwächst und mithin dessen Beziehungssphäre zu der seinen macht – und die Sphäre dieser Beziehungen ist, da sie, wenn auch sozusagen nur ›im Kleinen‹, die der ganzen Sprache ist, schlechthin unbegrenzt.
Der Dichter könne »dies Wirkliche für den Augenblick des Gedichts auch freisetzen«, und zwar jeweils »nur für einen ›Augenblick‹« (Celan 2005, S. 105). Dass sich Celan auf der Tagung theoretisch zum Thema geäußert hat, geht auch aus dem französischen Bericht nicht hervor. Ebenso wenig das Ereignis, das wohl gemeint ist, wenn er am 11. Mai 1956 gegenüber Bender das »in Vézelay Gesagte (und Nichtgesagte)« (Neuhaus 1984, S. 40) anspricht : Die Äußerung einer Anwesenden in privatem Kreis, »Ich kann die Juden nicht riechen« (Celan 2011, S. 376), und die Celan unzureichend erscheinenden Reaktionen der übrigen Teilnehmer darauf, als das »Gesagte« von Dritten in die Öffentlichkeit der Tagung getragen wurde. Der Vorfall wurde in privaten Briefen wie auch in Rundbriefen an die deutschsprachigen Teilnehmer ausführlich diskutiert. Die Betreffende schrieb Entschuldigungsbriefe an Paul Celan und Ilse Aichinger (nur ihr Brief an Celan vom 6. Juni 1956 ist im Wortlaut bekannt) – sie reagierten sehr unterschiedlich. Im Katalog des Historischen Archivs der Stadt Köln (die Originale sind zerstört) wird Aichingers Antwort vom 12. Juni 1956 mit »Dank für den erklärenden Brief : Das jüdische Volk gehört zu den Erscheinungen in der Welt, die Trauer in einem hervorrufen (…)« zusammengefasst ;
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»Dichtungen anstelle von theoretischen Äußerungen ?«
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für ein auf den 15. Juni 1956 datiertes weiteres Dokument ist zudem vermerkt : »Rosemarie Laubach hat von Ilse Aichinger eine sehr feine Antwort bekommen« ( https:// www.stadt-koeln.de/leben-in-koeln). Celan wusste davon ; am 11. Juli 1956 schrieb er an den Teilnehmer Paul Schallück : »Wie ich höre, hat auch Ilse Aichinger einen solchen Brief erhalten und auch beantwortet, so daß ›alles soweit wieder in Ordnung sei‹« (Celan 2011, S. 265). Er aber stellte unbequeme Fragen. Denn ihm reichte Rosemarie Laubachs Entschuldigung dafür, dass sie ihm »weh getan habe« (ebd., S. 378), nicht aus, er wollte Antisemitismus als Antisemitismus benannt wissen. »Ich will gerne verzeihen«, schrieb er am 10. Juli 1956 an den Teilnehmer Paul Schallück, schränkt aber ein : Der Jude P. C. ist als Jude ein (mehr oder minder zufällig) Überlebender. Er darf, wenn er richtig verzeihen soll, nicht vergessen, im Namen wessen er, der als Jude Angesprochene, mitverzeiht. Ein billiges Verzeihen ist dem billig um Verzeihung Bittenden gegenüber kein Verzeihen mehr ; den anderen, also jenen gegenüber, die nicht mehr verzeihen können, und auch jenen, den Juden und Nichtjuden, die um all das wissen gegenüber, ist es Verrat. (Ebd., S. 265)
Der Vorfall in Vézelay ist ein wichtiger Hintergrund für die Aichinger und Celan gemeinsam zugeschriebene Entscheidung, zur Frage der Literatur vor der Wirklichkeit ›nur‹ – denn das ist impliziert – mit Gedichten Stellung zu nehmen, und ihnen nicht, wie etwa Höllerer seinem Gedicht »Ruft ›Seppia‹, kauft den Tintenfisch« mit »Mauerschau«, auch theoretische Ausführungen voranzustellen (Höllerer 1956b). Obwohl in den Akzenten keineswegs von allen Teilnehmern Texte publiziert sind, werden gerade die beiden auf der Tagung als ›Juden‹ zum Verzeihen Genötigten in nur scheinbar sachlicher Weise als Außenseiter hervorgehoben. Ein Verzicht auf eine theoretische Stellungnahme wird denen in den Mund gelegt, die alles dafür taten, sich der aktuellen Wirklichkeit zu stellen, mit der sie es als Überlebende der Shoah zu tun haben. Paul Celan war, als er nach Vézelay fuhr, schon längere Zeit in einer Schaffenskrise, verstärkt durch erneut von Claire Goll verbreitete Vorwürfe, er habe ihren verstorbenen Ehemann Yvan Goll plagiiert (Wiedemann 2022, S. 66f.). Die letzten Gedichte vor der Tagung entstanden um die Jahreswende 1955/1956 – »Heimkehr« und »Stilleben mit Brief und Wanduhr«. Beide gehören zu den fünf im Mai an Höllerer gesandten, zu denen er ausdrücklich bemerkt hatte, er habe zurzeit keine anderen Gedichte als eben diese (Neuhaus 1984, S. 41). Er schickte also – das ist zu bedenken, wenn man die Auswahl in den Kontext der Tagung stellen möchte – nicht gezielt Texte, die mit dem Tagungsthema zu tun haben, sondern die Dokumente seines aktuellen dichterischen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Wie »Heimkehr« in der Akzente-Fassung zeigt (Celan
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1956, S. 301, abweichende Endfassung), ist es eine Wahrnehmung der Wirklichkeit in der Spannung zwischen Präteritum und Präsens, zwischen »wie gestern« (Strophe 1) und »heimgeholt in sein Heute« (Strophe 3). Wenn in der Mittelstrophe von unter einer Schneedecke liegendem Schmerzlichen (»weh tat«, Präteritum) und dennoch aktuell spürbar Werdenden (»stülpt«, Präsens) gesprochen wird, zeigt sich eine bis in die Formulierungen hinein merkwürdige Klarsicht : Darunter, geborgen, stülpt sich empor, was den Augen so weh tat, Hügel um Hügel, unsichtbar. (V. 7 – 11)
Für Celans Blick auf die Gegenwart, für seine Poetik der konkreten Daten, ist das substantivierte Adverb »Heute« der dritten Strophe entscheidend. Auch in seiner Büchner-Rede von 1960 verwendet er das Adverb »heute« mehrfach an prominenter Stelle, jeweils ausdrücklich auf den Tag der Preisverleihung bezogen, dem neue Plagiat-Anschuldigungen vorausgingen : »[…] was ich jetzt, also heute davon zu sagen wage« oder : »Daß ich heute mit solcher Hartnäckigkeit dabei verweile« (Celan 2014, S. 36 und S. 39). Erst Wochen nach der Tagung und vielleicht unter ihrem Eindruck löst sich Celans Schreibblockade. Am 21. und 22. Juli 1956 entstehen die ersten fünf Gedichte des Zyklus Stimmen (1 – 4 und 7 ; Celan 2018, S. 95f. und S. 737) und damit etwas völlig Neues : Ein Zyklus aus kurzen Gedichten in einfachen, der angeschauten Realität entnommenen Worten, Gedichte, die dezidiert auf Jüdisches verweisen und Gedichte, die die Toten nicht aussparen. Mit ihnen beginnt aber auch Celans Aufnahme von Wortschatz und dessen wissenschaftlichem Hintergrund aus geologischen oder botanischen Werken in seine poetische Sprache. Celan wendet sich damit nicht, wie viele Kritiker seines Bandes Sprachgitter dann meinten, von der Wirklichkeit ab, sondern ihr auf neue Weise zu. Aber nicht im Sinne von ›engagierter Literatur‹, die politische Themen direkt anspricht. Er versteht sich als ›Silbenzähler‹ – wie er zornig-ironisch mit Blick auf einen Brief von Heinrich Böll formuliert – und zieht poetische Mittel vor ; zum Stichwort »Stimmhaftigkeit« notiert er im August 1959 : »auch dieses Vibrato der Worte hat semantische Relevanz« (Celan 2005, S. 130). Für Ilse Aichinger gehört das Jahr 1956 ebenfalls zu einer Phase der Umorientierung. Ab 1954 beginnt sie mit drei neuen Gattungen zu experimentieren, die man zu einer einzigen zusammenfassen und ›Gedichte‹ nennen könnte : Gedichte in Versen,
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»Dichtungen anstelle von theoretischen Äußerungen ?«
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in Prosa und in Dialogen. Gedichte sind sie, weil sie alle eine deutliche Tendenz zu Kürze und Dichte zeigen und dadurch bei der Lektüre die Wahrnehmung auch des großen Anteils von Formsemantik an der Aussage ermöglichen (Wiedemann 1995, besonders S. 431). Die drei Varianten können auch insofern als Ausformungen einer gemeinsamen Entwicklung gesehen werden, als sie teilweise ineinander übergehen : Die Prosagedichte »Börsegasse« und »Steingasse« wurden auch in Versform gedruckt (Aichinger 1956d, S. 122), unter eine Folge von Prosagedichten mischt sich auch der Dialog »Hohe Warte« (Aichinger 1955b, S. 664 – 666), und das im Tagungsdossier der Akzente 1956 abgedruckte Versgedicht wäre thematisch unter den Prosagedichten des Zyklus Straßen und Plätze gut aufgehoben. Das in den Zusammenhang mit dem Schreiben »vor der Realität« gestellte Gedicht gibt sich mit dem Titel »Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße« als historisches Dokument im Bereich des Straßenbaus. Betont wird der UrkundenCharakter in der Fassung der Akzente ausdrücklich mit der Andeutung eines historischen Datums im Schlussvers : »Gegeben am –«. Durch die besondere Form des Textes wird realistische Anschauung vermittelt : Das Gedicht ahmt den Querschnitt einer Straße nach – diese graphische ›Realität‹ ist im Abdruck der Akzente deutlich zu sehen : V. 1 und 2, die durch die starken ei-Assonanzen, und V. 10 und 11, die durch die Klammer einer Satzparallele zusammengehalten sind, vertreten den jeweiligen Straßenrand. Die langen Verse 3 und 9 zeigen die Begrenzung zur Straße, V. 4 – 8 deren inneren Bereich, den eigentlichen Fahrweg. Das sich darauf bewegende Subjekt wird durch den zentralen Kurzvers formal betont : »géht der Stáub« mit zwei Hebungen in drei Silben (Ratmann 2001, S. 100). V. 12 steht als Element der ›Urkunde‹ außerhalb dieses ›Bauplans‹. Aichinger hat 1979 auf die Frage der Doktorandin Carine Kleiber nach dem Hintergrund des Gedichts erläutert : »Es ist eine lange Straße beim Belvedere und beim Rothschildpalais. Ein Gedicht gegen die Verplanung« (Kleiber 21984, S. 128). Die Formulierung erinnert an ›engagierte Literatur‹, an Erich Frieds Gedichte gegen den Vietnamkrieg, gegen das Vergessen. Im Kontext von Aichinger erstaunt sie und scheint – das sollte bei viel zitierten Äußerungen wie dieser immer berücksichtigt werden – vor allem am aktuellen Erfahrungshorizont der Fragenden orientiert. Die Leserin ist also aufgefordert, sich mit den Realien zu befassen und über die Funktion der Information für das Gedicht nachzudenken. Aichinger beschreibt gegenüber Kleiber die Straße durch zwei an ihr, und zwar – das sagt Aichinger nicht – auf unterschiedlichen Straßenseiten liegende Gebäude, die beide ihre Geschichte und ihre Wirklichkeit mitbringen. Dass sie regelmäßig in die Straße kam – ihre Mutter wohnte dort, als das Gedicht entstand –, teilte die Autorin der Doktorandin ebenso wenig mit wie Näheres zum Hintergrund der beiden Gebäude.
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Das eine ist das für den habsburgischen Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen-Carignan im 18. Jahrhundert erbaute Schloss Belvedere mit der Hausnummer 27. Das andere das Palais mit der Hausnummer 20 – 22, das im 19. Jahrhundert von einem Mitglied der jüdischen Familie Rothschild erbaut und nach deren Enteignung 1938 zeitweise als »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« und als Dienstsitz von Adolf Eichmann genutzt wurde ; von dort aus wurden Deportation und Vernichtung der ›jüdischen‹ Bevölkerung Wiens geplant und organisiert. So weit ist die Geschichte der Gebäude nach Kleibers Arbeit in den meisten Studien referiert worden. Der Leser sollte sich aber in Kenntnis von Aichingers Informationen mit dieser historischen Einordnung nicht zufriedengeben. Denn beide Gebäude haben zur Zeit der Gedichtentstehung Aktualität. Das Belvedere ist der Ort, wo am 15. Mai 1955 der Staatsvertrag zwischen Österreich und den Siegermächten unterzeichnet wurde, der für das angeblich ›erste Opfer‹ Hitlers die Nachkriegszeit und damit weitere Mitschuld-Diskussionen beendete und die Ausgliederung des nationalsozialistischen Erbes als rein deutsches Problem in Österreich beförderte (Ziegler 1993, S. 68). Im Gegensatz zum Belvedere konnte die Doktorandin von 1979 das Palais Albert Rothschild kaum kennen : Nach Abbrucharbeiten im Innern seit 1954 wurde es am 15. Januar 1955, also noch vor dem Staatsvertrag, gesprengt und an seiner Stelle ab 1957 ein Bürogebäude der Arbeiterkammer Wien errichtet. Der mit der unwahren Behauptung begründete Abriss, das Gebäude sei wegen seiner Baufälligkeit nicht zu retten, erfolgte gegen den scharfen Protest des österreichischen Bundesdenkmalamtes. Aichinger datiert das Gedicht selbst auf 1956 (VR 1991, S. 122), auf das Jahr also, als an der Stelle des Palais eine breite Baulücke zu sehen war. Auch zwischen diesen beiden historischen Spannungsfeldern verläuft die »Straße« des Gedichts. Wir haben es mit einer Überblendung von drei österreichischen Zeitebenen zu tun : dem 18./19. Jahrhundert, als sich Emanzipation und rechtliche Anerkennung der österreichischen Juden vollzogen, den Jahren zwischen 1938 und 1945, in denen die rassistisch Definierten all diese Rechte wieder verloren und vertrieben, deportiert und ermordet wurden, und schließlich der Gegenwart des Jahres 1955 mit ihrer Verweigerung von Erinnerung und Schuldeinsicht. Die Überblendung wird auch an der abgebrochenen ›Datierung‹ in V. 12 sichtbar : Denn ein konkretes Datum wird verweigert, der Wirklichkeitsbezug des Gedichts dadurch in seine Gegenwart hinein und darüber hinaus aber gerade erweitert : in die Gegenwart jeder Leserin »heute oder in hundert Jahren«, wie Aichinger 1952 im Zusammenhang mit dem »Erzählen in dieser Zeit« formuliert (Aichinger 1952, S. 109). Mit dem offengelassenen Datum, das in der ersten Buchfassung dann fehlt (Aichinger 1978, S. 52), verankert sie das Gedicht nicht nur in der historischen Gegenwart des »Baumeisters«, die schon als solche irritierend ist : Ein Baumeister des 18. Jahrhun-
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»Dichtungen anstelle von theoretischen Äußerungen ?«
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derts konnte nämlich nur die Heugasse, nicht die Prinz-Eugen-Straße geplant haben, weil diese erst seit Ende August 1911 so heißt. Verankert ist das Gedicht auch im Heute – darin kommt die Dichterin Celans Poetik nahe –, dem Heute des Gedichts und dem Heute jeder neuen Lektüre. So real der Hintergrund der »Straße« im Gedicht ist, so befremdlich ist das, was dort darüber gesagt wird und wie dies geschieht. Bei der Analyse der Verfahren sind Aichingers poetologische Äußerungen hilfreich, die sie in ihrer ausführlichen Rezension von Ernst Schnabels Reportagen und Kurzgeschichten 1954 unter dem Titel »Die Sicht der Entfremdung« formuliert hat. Obgleich auf Prosatexte eines Dritten bezogen, ist der am Beginn einer Phase vielseitiger Umorientierung geschriebene Text auch als Aussage Aichingers zu ihrem eigenen aktuellen Schaffen zu verstehen. In ihrem Lob für Schnabel plädiert sie für die »Sicht der Entfremdung« : »Er weiß, daß […] der Columbus von heute nicht die fremde Welt bekannt machen muß, sondern die allzubekannte fremd« (Aichinger 1954a, S. 47). Ist nicht das Fremde bzw. Fremdgemachte als Kontrapunkt zur (allzu-)bekannten Wirklichkeit möglicherweise das, was Aichinger in Vézelay – in der Darstellung Höllerers – mit der zu ziehenden Verbindung zwischen der menschlichen Realität und der vom Menschen noch nicht definierten Realität gemeint hat ? Zur Vielschichtigkeit der Wiener Realitäten kommt Irritierendes ins Gedicht : durch sprachliche Ambiguitäten, durch den Versfall erzeugte ungewöhnliche syntaktische Verbindungen sowie durch Umgangssprachliches und literarische Anspielungen. Das Irritierende sollte nicht geglättet werden. Ein »breiter Streifen Wind« ist nicht ohne Weiteres mit der »endlose[n] Weite der KZ-Anlagen« (Hettche 2017, S. 605) gleichzusetzen. Die »Tauben« sind nicht nur als Vögel, gar Friedenstauben zu verstehen, wie einhellig angenommen wird, sondern auch als Wort für Gehörlose zu lesen, für Menschen die nicht hören können – oder wollen. Der »Staub« des Gedichts wird nicht aufgewirbelt (Ratmann 2001, S. 99 ; Hettche 2017, S. 606), sondern »geht«, wie der Versfall zunächst ausdrücklich festhält ; das ist eine aktive Tätigkeit, die auf einer Straße nur als Tätigkeit von Menschen erwartet wird. Im nächsten Vers wird dem Staub – wiederum befremdlich – eine neue Richtung gegeben, die von der Horizontalen der Straße weg in die Vertikale und in psychische Bereiche, in »Träume« führt. Die Formulierung »Sich zu den helleren am Himmel schlagen« hat Nuancen, die sich nicht auf ein kontrastreiches Sich-Vermischen von Wolken (Hettche 2017, S. 606) reduzieren lassen : Beim umgangssprachlichen Ausdruck ›sich zu etwas oder jemandem schlagen‹ geht es um Parteinahme in einer Auseinandersetzung. Und schließlich : Da »beschwört« kein »Baumeister die Träume der Bauleute, sich als Himmelsleitern für den aufwirbelnden Staub zu bewähren« (Ratmann 2001, S. 99), sondern ein Ich spricht eine Schwur- oder Garantieformel.
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Aichingers eigenes Werk sollte als Hintergrund mitbedacht werden. So ist etwa, gerade im Zusammenhang mit der breiten Baulücke durch den Abriss des jüdischen Erinnerungsortes auf der Ebene der Realien, bei »ein breiter Streifen Wind« an ihre Formulierung im Prosagedicht »Stadtmitte« zu denken : »Ich weiß […] von der Judengasse, in die der Wind weht«, mit dem Schlussabsatz und -satz : »Die Orte, die wir sahen [Präteritum ! BW], sehen [Präsens ! BW] uns an« (Aichinger 1954b, S. 276). Der Begriff »Staub« kann genauso wenig wie der Begriff »Wolken« mit dem Hinweis auf Nelly Sachs’ Gedichte »In den Wohnungen des Todes« oder auf Paul Celans »Todesfuge« ›verständlich‹ gemacht und das Gedicht auf diese Weise der »HolocaustLyrik« (Hettche 2017, S. 606) einverleibt werden. Aichingers Gedicht wird damit zum rückwärtsgewandten Hinweis auf eine schreckliche Vergangenheit, die mit der Gegenwart des Gedichts, aber auch der Gegenwart der jeweiligen Lektüre nichts zu tun hat. Es will aber gerade in seiner Offenheit ernst genommen werden : »Gegeben am –«. Anspielungen auf frühe Gedichte Paul Celans sind sorgfältig zu prüfen. Eine recht versteckte Anspielung auf den Anfang von Celans berühmter »Todesfuge«, »Schwarze Milch der Frühe« (Celan 2018, S. 46), könnte man zwar in der Wahl des ungewöhnlichen Baumes sehen, dessen Anpflanzung befohlen wird : Der Essigbaum lässt bei Verletzungen der Zweige eine weiße Flüssigkeit – Milch genannt – austreten, die an der Luft schwarz wird. Sehr viel näher aber liegt für Aichinger, die Celan während seines Wiener Halbjahres 1948 kennengelernt hat, ein Gedicht, das in eben diesen Monaten in Wien entstanden ist und sich mit einer damals und für Aichingers Leser von 1956 nach dem Staatsvertrag wieder aktuellen österreichischen Diskussion auseinandersetzt, nämlich die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und nach vorne zu schauen : »Spät und Tief« (Celan 2018, S. 685). Das »ich schwör es« in Aichingers Gedicht ist durch die einzige Binnenzäsur und die Gedankenstriche (in der Buchfassung ersetzt durch Kommata) als Fremdkörper im Gedicht wahrzunehmen. Derart profiliert ist es als Anspielung markiert : »Wir schwören bei Christus dem Neuen, den Staub zu vermählen dem Staube«, heißt es in Celans Gedicht. Der Schwur wird am Schluss noch einmal bewertend aufgenommen und in eine Schuld-Diskussion gestellt : »Ihr mahnt uns : Ihr lästert ! / Wir wissen es wohl, / es komme die Schuld über uns. / Es komme die Schuld über uns aller warnenden Zeichen« (V. 6 und 19 – 22 ; ebd., S. 44). Von Celan aufgerufen ist eine berühmte Szene für den Umgang mit Schuld : Der Staatsbeamte Pilatus »wusch die Hände vor dem Volk, und sprach : Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten« ; für das angesprochene »Volk« aber ist »Schuld« keine ernstzunehmende, also Furcht erzeugende Kategorie, es antwortet : »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder !« (Mt. 27,24f.: Luther 1897). Die verdeckte Anspielung auf eine vergleichbare Diskussion zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Österreich 1948 geht in Aichingers Gedicht von dem
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einzigen Satz aus, in dem dort ein Ich explizit spricht (Bräutigam 1968, S. 81). Als Einschub unterbricht er die mit »bald« eingeleitete Ankündigung, »Und bald […] / geht der Staub / an euren Träumen hoch«, und stellt sie und ihre Dynamik dadurch infrage : So »bald« wird der Erkenntnisgewinn nicht eintreten, der im Schlussteil des Gedichts versprochen wird. Das auf beiden Seiten der Straße Geschehene wird – vielleicht und irgendwann – sichtbar am »Himmel«. Wenn sich aber »diese Wolken« auf die Seite der »helleren« Wolken »schlagen«, sind sie dort kein Kontrast mehr, sondern Ausdruck von ein und derselben Einstellung zum Geschehen : Ist darin das »Muster« als immer gleiches Denkmuster zu erkennen, das zu »Planung« führt ? Obwohl das Gedicht wahrscheinlich nicht als Beitrag zur Tagungsdiskussion gemeint war, kann es dennoch als ›praktisches‹ Beispiel im Zusammenhang damit gelesen werden. »Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße« geht von der Wirklichkeit aus und lehrt neues Sehen durch sein irritierendes Sprechen über sie. Celan war nach Vézelay bei den Organisatoren der ›jüdische‹ Querulant, der den Frieden der deutsch-französischen Gespräche störte : Zum nächsten Treffen in Marl wurde er 1957 nicht eingeladen. Wie ein Brief an Rolf Schroers vom 14. Mai 1957 zeigt, war ihm klar, was das heißt : »Mit wenig Worten : nur dem Volljuden kann man die Gegenwart von Antisemiten bzw. Antisemiten-Eheherrn nicht zumuten – die anderen, so denkt man, werden sich damit schon abzufinden wissen« (Celan 2011, S. 119). Auch später und in anderem Zusammenhang hat sich Celan nicht vereinnahmen lassen als jemand, der zu pauschaler Versöhnung und Vergebung bereit ist. So beteiligte er sich 1959 nicht an der Festschrift zu Martin Heideggers 70. Geburtstag. Nicht weil er nicht »über die Freiburger Rektoratsrede und einiges andere hinwegsehen kann« (an Ingeborg Bachmann am 10. August 1959 ; Celan 2019, S. 318), sondern vor allem, weil Autoren wie der vom Herausgeber Günther Neske zunächst als Beiträger genannte Martin Buber fehlen und ihm die Nähe Beteiligter wie Friedrich Georg Jünger unangenehm ist. Unter den Beiträgerinnen ist aber auch Ilse Aichinger, die mit ihrem Gedicht »Versuch« eben den Versuch wagt, grundlegende Ambivalenzen auf knappstem Raum zum Ausdruck zu bringen (Aichinger 1959 ; Wild 2021). In dieser Situation ist sie also nur scheinbar weniger radikal als Celan – ihre Mittel sind freilich andere. In Documents wird Aichinger im Tagungsdossier zu Vézelay mit einem Dialog vorgestellt, der jedoch nicht als ein auf der Tagung gelesener Text eingeführt ist. Von öffentlichen Lesungen Aichingers aus diesen damals neuartigen Texten ist eine prominente Gelegenheit bekannt, die Tagung der Gruppe 47 in Niederpöcking im Oktober 1957. Aichinger las damals also vor einem Personenkreis, der dem in Vézelay versammelten zumindest nahestand. Die Reaktion war mehr als kritisch und hatte wiederum mit der damaligen Realismus-Debatte zu tun : »Ilse Aichinger, die Autorin
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des Romans Die größere Hoffnung«, berichtete Arnold Bauer im Berliner Kurier am 5./6. Oktober 1957, las unter dem Titel ›Zu keiner Stunde‹ einzelne imaginäre Dialoge zwischen Zwergen, Polizisten und Kindern. Die träumerische Verspieltheit der immer noch ein wenig wie eine Waldnymphe wirkenden Aichinger forderte schroffen Widerspruch heraus, Angriff und ritterliche Verteidigung. Die Realisten drohten damit, die Tagung zu verlassen. (Lettau 1967, S. 127)
Damit wird die Autorin zu einer Märchenerzählerin gemacht : Es ist unter der Würde ihrer männlichen Realisten-Kollegen, sich mit jenen Kindern und Zwergen näher zu befassen. Berichterstatter wie Joachim Kaiser oder M. R. erwähnten die Lesung Aichingers und die Diskussion darüber nicht einmal. Mehr als »ritterliche Verteidigung« brauchte Aichinger sorgfältige Leser wie die Verlegerin Brigitte Bermann Fischer. Sie nahm gerade das Provokative wahr, das nicht ›Typisch-Weibliche‹ der Texte. »Es ist Dir etwas sehr Einzigartiges gelungen, eine harte, rein geistige Kost, die Mancher zu schlucken sich wehren wird«, schrieb sie der Autorin schon am 25. Juli 1956 und präzisierte : »Was Du tust ist wie mit Stahl hämmern, fast möchte ich sagen, es ist eine Arbeit geleistet worden, die man keiner Frau zutraut, erbarmungslos« (Bermann Fischer 1990, S. 541). Härte und in mehr als einer Hinsicht Widerständiges sah auch Walter Höllerer, ihn faszinierten die Dialoge (an Aichinger, 16. April 1957 ; DLA A : Aichinger). Die Reaktion von Niederpöcking kann Anlass sein, Aichingers im Zusammenhang mit der Tagung zum »Schriftsteller vor der Realität« erstmals für publikabel befundenen Dialog »Le Retour« in seiner deutschen Originalfassung »Wiederkehr« genauer anzusehen. Was da lapidar verhandelt wird, ist keine harmlose Märchenerzählung. Drei durchaus lebendig wirkende Matrosen kommen in das Geschäft zurück, wo sie jene Rettungsringe gekauft haben, durch die sie beim Untergang ihres Bootes nicht nur nicht vor dem Ertrinken bewahrt, sondern durch das zu große Gewicht geradezu in die Tiefe gezogen wurden. Sie stellen den Inhaber zur Rede und geben die untauglichen Rettungsringe zurück, wie man etwas zurückgibt, das den Ansprüchen nicht gerecht worden ist – ein Garantiefall also. Dass die Matrosen vom Tode auferstanden sind, merken Verkäufer und Leserin erst im Laufe des Gesprächs. In dem Dialog geht es um (Nicht-)Erinnerung, um (Nicht-)Rettung von Menschen und um (Nicht-)Bekenntnis von Schuld. Der Garantie-Anspruch kann nicht eingelöst werden. »Ich bleibe in Ihrer Schuld !« (ZkSt 1991, S. 77), sagt der Inhaber am Schluss so formelhaft wie erleichtert – vor Regressforderungen hat er nämlich Angst. Mit »Schuld« meint er dabei nur den von den Matrosen für die Ringe entrichteten Geldbe-
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trag, den er ›schuldig bleibt‹, nicht den Betrug mit untüchtigen Rettungsringen. Diese seine eigentliche Schuld – den dreifachen Mord – gesteht er nicht ein und hat auch kein Problem damit, weiterzumachen wie bisher : »Er legt die Ringe in das Schaufenster zurück« (ebd., S. 78). Der etwa 1954 entstandene Dialog (ebd., S. 182) beginnt mit der erzwungenen Aufforderung an den Inhaber des »Ladens für Schiffszubehör und Fischereiwaren« (ebd., S. 73), sich an seine ehemaligen Kunden und den Verkauf von Rettungsringen an sie zu erinnern. Dabei werden zunächst Sprache und Spannungselemente einer Kriminalgeschichte genützt ; sie binden die Aufmerksamkeit der Leser sofort an sich und bringen den Fall von Anfang an mit einem Verbrechen in Verbindung : »Hände hoch !« und : »Ich bewache die Tür« (ebd.). Wer Opfer und wer Täter ist, scheint klar : Ein alter Ladenbesitzer wird von Banditen bedroht (Schroers 1958, S. 363). Freilich wird diese Klarheit untergraben, weil die Gefahr für den alten Mann von den Matrosen sofort relativiert wird : »Wenn wir auch ohne Waffen sind« (ZkSt 1991, S. 73). Das Gefährliche an der Situation hat für den so Angegriffenen mit dem Inhalt des Gesprächs selbst zu tun. Der Blick der Verfremdung greift auch hier : Die Konfrontation mit Schuld, Grund für die Anwesenheit der Matrosen, wird zu einer Waffe, als solche aber erst vor dem Hintergrund der aufgerufenen Krimi-Szene erkennbar – das OpferTäter-Verhältnis kehrt sich damit um. Die Schuldfrage wird ganz nüchtern in konkretem Für und Wider diskutiert. Es sind ›normale‹ Menschen, die so miteinander sprechen. Die Antworten des alten Mannes im Folgenden erinnern nicht nur an die Antworten der Angeklagten bei den Nürnberger Prozessen und später beim Frankfurter Auschwitz-Prozess. Sie erinnern auch an die Abwehr eigener Schuld in der ›normalen‹ deutschen und österreichischen Bevölkerung nach dem Krieg : »Ich weiß nichts mehr«, »Ich erinnere mich nicht«, »Ich weiß nicht, was Sie meinen« (ebd.). Freilich weist kein Wort im Dialogtext auf historische Ereignisse zurück, das ist nicht ›engagierte Literatur‹ : Von Bedrängten, zur Flucht Gezwungenen ist nicht die Rede, sondern von Seeleuten, zu deren Ausrüstung ein Rettungsring nun einmal gehört. Und dargestellt ist nicht die Situation des Untergangs an sich und der verweigerten Hilfe ; in der Dialoggegenwart geht es vielmehr um die Art und Weise, wie sich die Menschen nach der Katastrophe dazu stellen, dass sie sich (mit-)schuldig gemacht haben. Die Dialogform mit präsentischer, direkter Rede eignet sich besonders gut dazu, das Sprechen darüber zu vergegenwärtigen (Lorenz 1981, S. 105). Die drei auf Erinnerung Drängenden versuchen ihr mit realistischen Details aufzuhelfen : Genannt wird der Zeitraum, das Wetter, der Wochentag, das Ladenklingeln, sogar Teile des damaligen Verkaufsdialogs sind wörtlich zitiert. Der Ladenbesitzer sucht nach Gründen für die Funktionsuntüchtigkeit der Ringe, vor allem aber nach
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anderen Schuldigen als sich selbst : »Ich werde mich an den Fabrikanten wenden !« (ZkSt 1991, S. 74). Außerdem wird von ihm die Verlässlichkeit der Zeugenaussage infrage gestellt : »Wer kann das sagen ?« antwortet er auf die nüchterne Feststellung eines der Matrosen zu den Haien : »Die kamen erst später« (ebd., S. 75). Und schließlich versucht er, die Schuld den Matrosen selbst zuzuschreiben : Die Ringe seien nicht sachgemäß angelegt worden, die Schiffbrüchigen hätten sich nicht gut genug daran festgehalten. Derartige Vorwürfe entsprechen den wiederum ganz realen Erfahrungen von Überlebenden der Shoah im Nachkriegsdeutschland und -österreich : Waren nicht die ›Juden‹ selbst schuld, haben nicht jüdische Organisationen selbst ihren Beitrag zu Deportation und Ermordung geleistet ? Warum haben sich die ›Juden‹ denn nicht gewehrt ? Und stimmt das mit der Ermordung von sechs Millionen überhaupt ? ›Imaginär‹ wird der Dialog vor allem da, wo sich die anfangs einfach »Matrose« Genannten als wiederauferstandene Ertrunkene und das heißt, als Nicht-Überlebende zu erkennen geben ; dort also, wo Paul Celans Verse aus »Spät und Tief« wahr werden : »[…] es komme, was niemals noch war ! / Es komme ein Mensch aus dem Grabe« (Celan 2018, S. 44). ›Imaginär‹ wird der Dialog auch, wo von der Himmelfahrt dieser Matrosen die Rede ist und damit wohlgemerkt dort, wo er gerade christliche Gewissheiten in Szene setzt : Die Matrosen »fahren in den Himmel« (ZkSt 1991, S. 77) – ganz so, wie von Jesus am Ende des Lukas-Evangeliums und in der Apostelgeschichte berichtet wird, »und fuhr auf in den Himmel« oder »als sie ihm nachschauten, wie er in den Himmel fuhr« (Luk. 24.51 und Apg. 1,10 : Allioli 1839). Die Dreizahl der Matrosen wird vor dem religiösen Hintergrund zu einer ›Maritimen Dreifaltigkeit‹, die – wie anfangs die ungewöhnliche ›Waffe‹ in der KrimiSzene – die Anspielung in irritierender Weise aufbricht. Wenn der Verkäufer von den Matrosen befragt wird und abschließend den in den Himmel Fahrenden nachschaut, sollte der inszenierte religiöse Kontext aber dennoch ernst genommen werden : Bei den ersten in den Evangelien und der Apostelgeschichte erzählten Begegnungen mit dem Auferstandenen geht es um Zeugenschaft : Die Frauen am offenen und leeren Grab werden weggeschickt und sollen weitersagen, was sie gesehen haben ; die Emmaus-Jünger und die ausgewählten Zeugen von Christi Himmelfahrt gehen zu den versammelten Jüngern und Jüngerinnen und berichten. Derartige Zeugenschaft aber verweigert der Geschäftsinhaber gerade, über das Gehörte und Gesehene spricht er nicht : »Ich bins nur« (ZkSt 1991, S. 78) ist das letzte, was er sagt – die Ertrunkenen hat es nie gegeben. Auch die imaginären Teile des Dialogs sind gemischt mit realistischen Einwänden : Die Rettungsringe waren schon für ihren Zweck im Meer zu schwer, sie sind es dann natürlich auch für das Auffahren in den Himmel. Sie – die Toten – werden sich im
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›Himmel‹ damit und darüber also nicht beschweren – das Wort ist doppeldeutig zu verstehen. Die Diskussionen in Vézelay um die ursprünglich private antisemitische Äußerung, das ›Drumherumreden‹ im Rundbrief vom 26. Mai 1956 zum Schutz der Urheberin, nicht des Opfers (Celan 2011, S. 377), sind nicht untypisch für die Entwicklung in Westdeutschland und Österreich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre. Wie sehr mit dem Staatsvertrag 1955 ein Abschluss aller Schulddiskussionen und damit aller Entschädigungsforderungen in Österreich gewollt war, wird schon daran deutlich, dass der verhandelnde Außenminister Leopold Figl alles tat, um eine ursprünglich vorgesehene »Verantwortlichkeitsklausel« zur Mitschuld am Zweiten Weltkrieg erfolgreich zu verhindern. Im Bundesverfassungsgesetz vom 14. März 1957 wurden das Nationalsozialistengesetz und das Kriegsverbrechergesetz von 1947 aufgehoben. Damit wurde die Registrierungspflicht für NSDAP-Mitglieder gelöscht und selbst rechtskräftig Verurteilten die noch nicht angetretene Strafe erlassen (https:// www.ris.bka.gv.at/Dokumente). Auch in der Neufassung des Opferfürsorgegesetzes ging es bei als ›Juden‹ Verfolgten vor allem um die Restitution von ›arisiertem‹ Vermögen, nicht um die Entschädigung für berufliche Nachteile, die Haft und deren Folgen oder um ermordete Angehörige ; ›jüdische‹ Opfer sollten auf keinen Fall gegenüber anderen Opfergruppen – Bombenopfer aber auch »ehemalige Nationalsozialisten mit ihren Angehörigen als Opfer der alliierten Entnazifizierungspolitik« – bevorzugt werden (Embacher 1995, S. 143 ; Bailer-Galanda 2001). Der sozialdemokratische Innenminister bis 1959, Oskar Helmer, sprach sich intern für die Verschleppung von Entschädigungszahlungen an die ›jüdischen‹ Opfer aus und setzte sich aktiv für die Förderung von Belasteten und die Begnadigung von rechtskräftig verurteilten Nazis ein (Knight 1988, S. 197 ; Svoboda 1993). Wenn verhandelt wurde, dann mit der israelitischen Kultusgemeinde ; ›Juden‹, die ihr nicht angehörten, hatten keinerlei Vertretung. In der Praxis blieben erfolgreiche Entschädigungsanträge von Überlebenden der Shoah die Ausnahme. Ilse Aichingers 1938 als Schulärztin entlassene Mutter erhielt, nach einer kaum begründeten Ablehnung 1953, erst am 6. Juni 1962 eine Entschädigung von 10.000 ÖS für ihren Einkommensverlust zugesprochen (DLA A :Aichinger) ; der Betrag entsprach etwas mehr als vier Monatslöhnen eines Arbeiters (https:// www.was-war-wann.de). Obwohl Westdeutschland die Verantwortung als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches für sich anerkannte, war die Situation dort nicht grundsätzlich anders. Das zweite Adenauer-Kabinett mit dem Vertriebenenminister Theodor Oberländer und dem Kanzleramtschef Hans Globke, beide erheblich durch ihre Nazi-Vergangenheit belastet, war 1956 noch im Amt – beide wurden 1957 in das dritte Adenauer-Kabinett übernommen. Die Wiedergutmachungsgesetze von 1953 und 1956 schlossen all jene
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Shoah-Überlebenden und Erben von Ermordeten aus, die keine deutschen Staatsbürger waren bzw. nie im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 gelebt hatten. Die Antragsfrist lief dort zunächst am 1. Oktober 1957 aus und wurde 1957 auf den 1. Juli 1958 verlängert (https://www.bundesfinanzministerium.de). Man wollte auch in der Bundesrepublik Deutschland einen ›Schlussstrich‹. Celan gehörte zeitlebens weder in Österreich noch in der BRD zu den Anspruchsberechtigten. Eine Auseinandersetzung mit den geschichtsvergessenen Tendenzen der Zeit gab es in der deutschsprachigen Literatur kaum. Mit dem aktuellen Umgang mit der Vergangenheit wollten sich auch die Realisten der Gruppe 47 ungern befassen. Lieber erzählte man wie Alfred Andersch in Sansibar oder der letzte Grund (1957) davon, dass es damals doch auch Widerstand gegen Hitler und Helfer für ›Juden‹ gab, oder erinnerte wie Heinrich Böll in Billard um halb zehn (1959) an die deutschen Opfer des Bombenkriegs. Celan beobachtete diese Entwicklung mit Sorge und lud Freunde ein, dazu Stellung zu nehmen : Ein Friedrich Sieburg, der sich im besetzten Paris 1941 mit einer ideologisch unzweideutig nationalsozialistischen Rede hervorgetan hatte, erhielt 1957 zusammen mit ihm und zu seinem Entsetzen einen Preis des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie (Celan 2011, S. 349 – 354). 1958 bekam Celan Nachricht von Zeichnungen im Stil des Stürmer, die während seiner Lesung an der Bonner Universität angefertigt wurden (Celan 2019, S. 337 – 342). 1959 verwies er auf seiner Ansicht nach antisemitische Wendungen in einer Rezension seines Gedichtbandes Sprachgitter (ebd., S. 391 – 396). Wer den Finger auf derartige Vorkommnisse im Wirtschaftswunderland BRD legte, war unbequem, denn er verhinderte den gewünschten Schlussstrich. Celan behielt seine Augen offen. Die späten Teile des Stimmen-Zyklus zeugen ebenso davon wie seine Gedichte und Übertragungen aus dem Frühjahr 1958 (Wiedemann 2013). Die Augen offen – das gilt gleichermaßen für Ilse Aichinger. Ihre im Zusammenhang mit der Tagung gedruckten Texte zeigen beide, wie sehr sie gerade in diese Zeit gehören und einen Beitrag zur aktuellen Diskussion leisten. Sie tun es auf eine nur Aichinger zur Verfügung stehende Art und Weise : Sie »spiegeln«, wie sie in ihrer Schnabel-Rezension formuliert, »die Fremdheit des Alltäglichen wider, das neu betrachtet werden muß« (Aichinger 1954a, S. 49), oder – so referiert Höllerer ihren Diskussionsbeitrag in Vézelay – verbinden die noch nicht von Menschen definierte Welt mit der menschlichen Wirklichkeit. Die Mitte der 1950er Jahre – und damit der Augenblick von Vézelay – war für Ilse Aichinger eine Zeit, in der sie sich als ›Schriftstellerin vor der Realität‹ deutlich positionierte : Nicht durch ›engagierte‹, sondern durch höchst irritierende Texte öffnete sie die Augen für die problematischen Kontinuitäten der Vergangenheit in der Gegenwart. Sie war damit nicht weniger unbequem als der ›unengagierte‹ und unangepasste Paul Celan.
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Was sie schrieb, wollte man als Kinderei, als unverständlich abtun oder als surrealistischesoterische Versuche diskreditieren, »die wohl kaum erdacht sind, dem Menschen in diesem Leben zu helfen, sondern vielmehr geschrieben, ihn auf das andere vorzubereiten« (Hühnerfeld 1957). Nicht aber als das, was ihre und Celans Gedichte tatsächlich sind : Beiträge zur Diskussion aktueller Probleme, denen man sich weder in Österreich noch in Deutschland stellen wollte – mit den irritierenden Mitteln der Poesie. Ich verwende einfache Anführungszeichen für das Wort ›Jude‹ und seine Ableitungen dann, wenn es sich um die den NS-Rassegesetzen entsprechende Bezeichnung handelt, unabhängig von der Religionszugehörigkeit oder dem Selbstverständnis der betreffenden Personen. Ich danke Fanny Haker vom Historischen Archiv der Stadt Köln und Michael Peter Hehl vom Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg für ihre Hilfe bei der Recherche.
Literatur Aichinger, Ilse (1952) : Über das Erzählen in dieser Zeit, in : Hans Weigel (Hg.), Stimmen der Gegenwart 2, S. 108 – 109. Wieder in : Ilse Aichinger (Ge 1991) : Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948 – 1952). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. Richard v. Reichensperger), S. 9 – 11. Aichinger, Ilse (1954a) : Die Sicht der Entfremdung. Über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel, in : Frankfurter Hefte 9, S. 46 – 50. Wieder in : Ilse Aichinger (KW 2001) : Kurzschlüsse. Wien. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Frankfurt/M., S. 51 – 62. Aichinger, Ilse (1954b) : Straßen und Plätze, in : Akzente 1, S. 276 – 279. Aichinger, Ilse (1955a) : Der Taxus, in : Akzente 2, S. 227. Wieder in : Ilse Aichinger (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M., S. 60. Aichinger, Ilse (1955b) : Prosastücke, in : Die neue Rundschau 66, S. 663 – 667. Aichinger, Ilse (1956a) : Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße, in : Akzente 3, S. 315. Wieder in : Ilse Aichinger (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. 1991 (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger), S. 60. Aichinger, Ilse (1956b) : Befehl des Baumeisters beim Bau der Prinz-Eugen-Straße, in : Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte. Hg. mit Randnotizen von Walter Höllerer. Frankfurt/M., S. 140. Aichinger, Ilse (1956c) : Le retour, in : Documents 11, S. 744 – 748. Aichinger, Ilse (1956d) : Aus »Straßen und Plätze«, in : Hortulus 6, S. 122 – 123. Aichinger, Ilse (1959) : Versuch, in : Günther Neske (Hg.), Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag. Festschrift. Pfullingen, S. 298. Aichinger, Ilse (1978) : Verschenkter Rat. Frankfurt/M.
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»Dichtungen anstelle von theoretischen Äußerungen ?«
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»Als wärst du der Notausgang von dem du schreibst« Lebensgeschichtliche und literarische Berührungspunkte zwischen Erich Fried und Ilse Aichinger »Nie wieder werde ich so schreiben können wie vor der Begegnung mit Deinem Buch« (Kaukoreit 2009, S. 16), bekundet Erich Fried in einem Brief an Ilse Aichinger aus London vom 12. März 1948, nachdem er das Manuskript ihres Romans Die größere Hoffnung akribisch studiert hatte (Kaukoreit 2003, S. 260). Die in diesem Brief mehrfach geäußerte Bewunderung für das Werk der Schriftstellerkollegin, das 1948 erstmals erschien und 1960 in einer zweiten überarbeiteten Fassung erneut veröffentlicht wurde, ist der Höhepunkt eines sehr persönlichen Dialogs, der Ende 1947 mit der Begegnung von Erich Fried und Ilse Aichinger in London einsetzte. In ihm spiegeln sich aber nicht nur die Faszination des Kennenlernens und der Eindruck der Lektüre. Vielmehr zeugt die Korrespondenz von einem gemeinsamen historisch-biographischen Erfahrungshorizont : Sowohl Erich Fried als auch Ilse Aichinger wurden 1921 in Wien geboren und verbrachten dort ihre Kindheit und Jugend. Nach der Annexion Österreichs durch das NS-Regime waren sie von den antijüdischen Gesetzen und Verordnungen sowie den daraus resultierenden Repressionen betroffen. Engste Angehörige wurden zu Opfern der Verfolgung. Frieds Vater starb 1938 an den Folgen eines Gestapo-Verhörs ; Aichingers Großmutter und die beiden jüngeren Geschwister der Mutter wurden 1942 deportiert und ermordet. Zwar blieb Ilse Aichinger in Wien, während Erich Fried nach London emigrierte, doch eint beide das Erleben einer beispiellosen staatlich verordneten Brutalität, deren Auswirkungen tief in die Familien hineinreichten. Zur persönlichen Bekanntschaft kommt es trotz der lebensgeschichtlichen Berührungspunkte erst nach Kriegsende zwischen Dezember 1947 und März 1948, als Ilse Aichinger mit ihrer Mutter nach London reist, um die durch Verfolgung und Krieg auseinandergerissene Familie wieder zusammenzuführen. In der Wohnung ihrer Zwillingsschwester Helga, nun verheiratete Singer, die 1939 mit einem der letzten Kindertransporte in das Zentrum der österreichischen Emigration gebracht worden war (Herweg 2011, S. 27), macht Aichinger Bekanntschaft mit einer Reihe von Intellektuellen und Kunstschaffenden aus dem ehemaligen Österreich, darunter Elias Canetti und Erich Fried (Görner, Ivanovic, Shindo 2011, S. 7 – 8). Bei einem dieser Treffen muss Aichinger das Romanmanuskript der Größeren Hoffnung, das sie im Juli 1947 bei
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Bermann Fischer unter Vertrag bringen konnte (HA/IA Briefe 2021, S. 312), Fried zur An- oder Durchsicht übergeben haben. Damit löst sie bei ihrem Gegenüber eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk und seiner Verfasserin aus. Sie findet ihren Niederschlag unter anderem in drei kurz nach der Abreise Aichingers aus London verfassten Briefen. Zwar handelt es sich dabei vermutlich um einen eher einseitigen Diskurs (Antworten Aichingers sind bisher nicht aufgefunden worden), der kaum über das Jahr 1948 hinausreicht, doch wird sich Fried noch 1949 durch eine Rezension in der Literaturzeitung Das goldene Tor für den Roman einsetzen und 1981 ausgewählte Gedichte Ilse Aichingers aus dem Gedichtband Verschenkter Rat in der Neuen Rundschau besprechen. Von Aichinger selbst ist bis dato nur eine Postkarte vom 29. Dezember 1949 dokumentiert, in der sie Fried für die einfühlsame Interpretation ihres Romans dankt (ÖLA Nl Fried 4/90, G 1). Angesichts des Umstandes, dass die überlieferten Archivalien nahezu ausschließlich die Perspektive Erich Frieds zu erkennen geben, wird im Folgenden auf der Grundlage ausgewählter Texte den Spuren nachgegangen, die die Begegnung mit Ilse Aichinger und ihrem Roman Die größere Hoffnung in dessen literarischem Werk hinterlassen haben. Dabei richtet sich der Fokus zunächst auf ein zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenes Gedicht mit dem Titel »Gedanken an Ilse Aichinger / (und an Rilke, Eichner, Eliot, Steiner …)« (ÖLA Nl Fried 4/90 G1), das auf das Jahr 1948 datierbar ist und in einem Beitrag von Wolfgang Görtschacher und David Malcom zur Lyrik Ilse Aichingers in englischen Übersetzungen 2011 erstmals aus dem Nachlass veröffentlicht wurde (Görtschacher, Malcom 2011, S. 74 – 75). Im Anschluss rückt Frieds eigener Roman Ein Soldat und ein Mädchen in den Fokus, dessen Textgenese von 1946 bis 1960 reicht und erkennbare Spuren der Auseinandersetzung mit der Größeren Hoffnung aufweist. Dies lässt sich in besonderer Weise am biblischen Motiv des Sündenfalls verdeutlichen, das in Aichingers Roman eine signifikante textstrukturierende Funktion besitzt (Fässler 2011, S. 67ff.) und sowohl in Frieds Gedicht »Gedanken an Ilse Aichinger / (und an Rilke, Eichner, Eliot, Steiner …)« als auch im Roman Ein Soldat und ein Mädchen zentrale Fragestellungen und Themenkomplexe prägt. Schließlich richtet sich der Blick auf einen 1964 in Frieds Warngedichten veröffentlichten Text (Fried 1993, S. 331), dessen Titel »Angst vor der Angst« eine Kapitelüberschrift aus Die größere Hoffnung zitiert. Die Analyse der genannten Werke im Kontext der Begegnung zwischen Fried und Aichinger offenbart, so soll im Folgenden gezeigt werden, neben dem Versuch einer eigenen dichterischen Standortbestimmung bei Fried vor allem einen gemeinsamen Standpunkt in Bezug auf die literarische Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. Beide Schriftsteller versuchen in ihren Texten eine differenzierte Betrach-
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tung der gesellschaftlichen Kategorien von Gut und Böse, Opfer und Täter, Schuld und Verantwortung, die starre Dichotomien unterläuft. Diese poetologische Affinität wirkt sich gleichermaßen prägend auf die persönliche Begegnung aus, wie sie umgekehrt – zumindest bei Erich Fried – Einfluss auf das weitere literarische Schaffen nimmt. Daher soll zunächst den Motiven und Inhalten der privaten Korrespondenz nachgegangen werden. Ausgangspunkt des skizzierten Dialogs ist die erwähnte Begegnung der beiden Schriftsteller in London zwischen Dezember 1947 und April 1948. Erich Fried war zu diesem Zeitpunkt bereits kein ganz unbekannter Autor mehr. Er hatte zwei Gedichtbände unter dem Titel Deutschland (1944) und Oesterreich (1945) sowie mehrere Prosawerke und Bühnenstücke veröffentlicht. Zudem war er als Übersetzer und Journalist tätig und stand durch sein Engagement in großen Exilorganisationen wie dem »Austrian Centre« und der Londoner Sektion des »Freien Deutschen Kulturbundes« mit vielen bedeutenden Exilautor*innen wie dem bereits erwähnten Elias Canetti und seiner Frau Veza Canetti, Hans Eichner, Hans Werner Cohn, Franz Baermann Steiner und H. G. Adler in Kontakt. Ungeachtet dessen zeugen drei überlieferte Briefe aus dem Jahr 1948 (ÖLA Nl Fried 4/90, G 1), in denen der Verfasser über die textkritische Analyse des Romans Die größere Hoffnung hinaus sehr offen seinen Gefühlen für die Adressatin Ausdruck verleiht, von einer derart intensiven Erfahrung, dass Fried sogar sein eigenes Schreiben infrage stellt. So betont er in einem Brief vom 7. April 1948 die Pflicht, die ihm das Zusammentreffen mit Aichinger auferlegt habe, »Bilanz zu halten, [sich] selbst und [sein] Schaffen kritisch zu prüfen« (ÖLA Nl Fried 4/90, G 1). Und in einem weiteren, nicht genau datierbaren Brief (»Samstag am Abend, 9 Uhr«) äußert er selbstkritisch : »Ich stehe mit meiner von Dir gerühmten Fähigkeit alles auszudrücken, ein wenig beschämt da, nun, nach dem Lesen Deines Buches« (ÖLA Nl Fried 4/90, G 1). Offenkundig projiziert Fried die gewonnenen Leseerfahrungen konsequent auf eigene Texte und Werkvorhaben, stellt Unterschiede in Bezug auf Arbeitsweise und stilistische Gestaltung fest, nimmt aber vor allem Verbindendes wahr, das sich aus dem gemeinsamen historisch-biographischen Erfahrungshorizont ergibt. Vor diesem Hintergrund erkennt Fried in Aichingers Roman einen ihm größten Respekt abverlangenden Weg, sich dem erlittenen Grauen literarisch anzunähern. Dabei hebt er in seinem Brief vom 12. März 1948 vor allem die aus seiner Sicht unbegreifliche Selbstverständlichkeit der Darstellung des Unsagbaren unter Verweis auf Friedrich Schillers Abhandlung Über naive und sentimentale Kunst hervor – »Deine[] Einfalt, Deine[] Unberührtheit von vielem« (Kaukoreit 2009, S. 17) – und grenzt diese von seinen eigenen, aus seiner Sicht eher technisch-intellektuellen Bemühungen ab. Ungeachtet solcher Differenzierung, die in dem bereits erwähnten Brief vom 7. April 1948 prägnant he-
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rausgearbeitet wird, bleibt für Fried aber das Verbindende zentral. Er betont am 12. März, wie »nahe verwandt« er sich »den Handlungen selbst« fühle und merkt an : »Kenntest du meine kurze Prosa, du fändest vielmehr das Gleiche, das Versteckspiel bei den Gräbern erst vor einigen Wochen entstanden, nur trostlos nur unerlöst, nur im Grauen suchend« (Kaukoreit 2009, S. 16 – 17). Auf welchen Text Fried hier anspielt, konnte nicht abschließend ermittelt werden, da kein veröffentlichtes Werk den genannten Titel trägt. Allerdings enthält der Roman Ein Soldat und ein Mädchen eine Erzählung, deren Entstehung in die Zeit der Korrespondenz fällt und deren räumliches Setting zu der obigen Bemerkung passt. In Die Ausgrabung, die auf einem Kinderspielplatz einsetzt, der an der Stelle eines ehemaligen Friedhofs situiert ist, entwickelt der homodiegetische Erzähler aus dem kindlichen Spiel eine Lebens- und Familiengeschichte, die im Bild des Grabens und Freilegens der Verstorbenen bzw. gewaltsam Ermordeten eine umfassende Erinnerungsarbeit leistet (Fried 1982, S. 135 – 143). Es wäre denkbar, dass die Lektüre der Friedhofspassage im Kapitel »Das heilige Land« (Die größere Hoffnung), in denen das kindliche Spiel die Schrecken des NS-Terrors vor Augen führt, zu der vergleichenden Bemerkung Anlass gab (Aichinger 1948, S. 70 – 112). Ob die Ausgrabung tatsächlich der im Brief erwähnten kurzen Prosa entspricht, könnte jedoch eine genauere Sichtung des Nachlasses zeigen. Die Abänderung des Titels entspräche immerhin einer gängigen Praxis bei Fried, der immer wieder Texte während ihrer Genese umbenannt hat. Im Anschluss an die Charakterisierung seines eigenen Schreibens im Kontext der Romanlektüre geht Fried auch auf sein aktuelles Romanprojekt ein, das zu diesem Zeitpunkt noch den Titel Die Falle trägt, und hebt erneut die für ihn immense Bedeutung des Aichinger-Textes hervor : »Ich bin glücklich, daß ich meinen Roman ›Die Falle‹ nicht geschrieben habe, bevor ich Dich und Dein Buch getroffen habe« (Kaukoreit 2009, S. 17). Seine Bewunderung begründet Fried mit dem Verstoß Aichingers gegen ein aus seiner Sicht »bitteres unmenschliches Kunstgesetz«, »nicht unmittelbar die Ereignisse der Gegenwart« zu schildern, und empfindet Die größere Hoffnung wie eine »Erlösung« angesichts seiner eigenen mühsamen Versuche, »ins Zeitnahe« vorzustoßen (Kaukoreit 2009, S. 17). Der nicht nur an dieser Stelle verwendete Begriff »Erlösung«, der auch der Abgrenzung gegenüber dem eigenen Schaffen dient, ist beispielhaft für ein religiöses Vokabular, das Fried mehrfach zur Charakterisierung des Romans heranzieht und das mit einer Lesart korrespondiert, die den christlich-religiösen Gehalt des Werkes in den Vordergrund rückt. So bekundet er nicht nur gegenüber Aichinger selbst, dass er ihr Werk »untrennbar« mit ihrer »Religiosität« verbunden sehe (Kaukoreit 2009, S. 17). Auch in einem zeitnah verfassten Brief an Elisabeth Langgässer vom 30. April 1948 bezeichnet Fried den Roman als »ein tiefreligiöses Buch« (Kaukoreit
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1991, S. 188) und wiederholt diese Einschätzung in seiner Rezension von 1949, in der er von einem »tiefreligiöse[n] christliche[n] Buch« spricht, dessen »christliches Empfinden« sich auch »in der Sprache, in den Paradoxen und tiefernsten Wortspielen, in den wundersamen mühelosen Übergängen aus dem Diesseitigen ins Jenseitige offenbart« (Fried 1987, S. 156). Ilse Aichinger antwortet auf diese Darstellung mit einer sehr persönlichen Danksagung auf der oben bereits erwähnten Postkarte aus Wien vom 29. Dezember 1949 : »Ich habe erst vor kurzem Deine Kritik im ›goldenen Tor‹ in die Hand bekommen, und ich wollte Dir sagen, wie sehr ich mich darüber gefreut habe, es hat mich so glücklich gemacht, daß Du darin so klar sagst, was ich gemeint habe mit diesem Buch, ich dank Dir, Erich !« (ÖLA Nl Fried 4/90, G 1). Einige Zeilen zuvor entschuldigt sie sich dafür, auf die Briefe Frieds nicht geantwortet zu haben, da sie die Adresse des Freundes verlegt habe, bittet zugleich aber um die Zusendung weiterer Briefe. Die in der erhaltenen Korrespondenz formulierten Fragestellungen, die die literarische Bewältigung von Extremerfahrungen betreffen, finden bei Fried ihren Niederschlag auch in weiteren zeitnah entstandenen Texten. Besonders auffällig ist dies in einem bereits durch den Titel unmittelbar auf Ilse Aichinger bezogenen Gedicht, das allerdings unveröffentlicht geblieben ist : »Gedanken an Ilse Aichinger«, von dem sich ein Typoskript im Nachlass von Erich Fried in der Österreichischen Nationalbibliothek befindet ; es ist auf das Jahr 1948 datierbar und somit ein Dokument des unmittelbaren literarischen Austausches der beiden Ende der 1940er Jahre (Görtschacher, Malcom 2011, S. 74). Zwar wird der Diskursrahmen durch eine dem Titel untergeordnete Klammer, die mehrere Dichternamen enthält – »(und an Rilke, Eichner, Eliot, Steiner …)« (Görtschacher, Malcom 2011, S. 74) – ausgeweitet, doch steht der Name Aichinger erkennbar an exponierter Stelle. Gedanken an Ilse Aichinger (und an Rilke, Eichner, Eliot, Steiner …) … und nicht die Arme der Schlange, arme Arme, die nie ein Einhorn umschlangen. Sie nur bändigt es, sie nur beendigt es … sie nur erreicht es, ist ihr ein Leichtes.
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Apfel, du unumschlungener, du, voll von herben Gewässern … Ungezwungener, Apfel du, wer wird dich färben ? Tanzt die Orange ! Und wer
wird dich verbessern ? Verwässern ? Wer die Erblühte geniessen ?
Zu keiner Verbesserung kann ich mich entschliessen … Zu keiner Lust. Ich habs gewusst : Mich hat mein Schweigen übervorteilt, ’s ist drum geschehn : Weil ich nicht hoff, mich nochmals umzudrehn. Was du liest, ist dein Eigen, und wenig gilt, was mein Ohr feilt. Ich war sehr schroff … nicht hoffen mehr ! Das offene Meer, das Boot ist umgeschlagen, Seejungfrauen … versehn …
Das Gedicht ist formal in drei Strophen gegliedert, deren Verszahl kontinuierlich zunimmt. In allen Teilen dominiert ein Wortfeld des Wirkens und Formens, das durch sein Vokabular (bändigen, beendigen, erreichen, färben, verbessern, verwässern, genießen, feilen, lesen) deutliche Assoziationen mit dem künstlerischen Schaffensprozess aufweist. In der ersten Strophe wird dieses Gestaltungspotenzial zunächst auf einen als »Einhorn« (V. 2) bestimmten Gegenstand bezogen, dessen vielfältige Symbolik nicht zuletzt einen unbändigen Willen bzw. Unzähmbarkeit einschließt. In Korrelation zu diesem schwer zugänglichen und zugleich äußerst begehrten Objekt werden zwei Positionen der Macht und Ohnmacht aufgezeigt : Einerseits richtet sich der Blick auf eine Schlange, der durch die Negation »und nicht« (V. 1) jegliche Einflussmöglichkeit abgesprochen wird, andererseits wird ein nicht näher bestimmter Akteur apostro-
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phiert, dem durch die dreimalige anaphorische Wiederholung »Sie nur« eine uneingeschränkte, geradezu einzigartige Potenz attestiert wird : »Sie nur bändigt es, / sie nur beendigt es … / sie nur erreicht es, / ist ihr ein Leichtes« (V. 3 – 6). In der zweiten Strophe wechselt der Gegenstand, wobei unter Rückbezug auf den Anfang des Gedichts nun ein Apfel das Prädikat des Unumschlungen-Seins erhält. Der so bezeichnete Zustand unterscheidet sich jedoch deutlich von dem des Einhorns, insofern dieser nicht durch einen mächtigen Akteur eingeschränkt, sondern zum generellen Prädikat (»du unumschlungener«, V. 7) erhoben wird. Zugleich tritt der Apfel nicht mehr als Objekt der Zurichtung in Erscheinung, sondern gewinnt durch die Anrede als Du Eigenständigkeit als etwas Unberührtes, »Ungezwungene[s]« (V. 10), das noch nicht durch Kultivierung verändert bzw. veredelt wurde : »voll von herben / Gewässern …« (V. 8 – 9). Dieser ursprünglichen Erscheinung gegenüber wandelt sich der Ton des sprechenden Ich, das nicht mehr apodiktisch konstatiert (»Sie nur«), sondern ungewisse Fragen formuliert : »wer wird dich färben ? / […] wer wird dich verbessern ? / Verwässern ? / Wer die Erblühte geniessen ?« (V. 13 – 16). Nimmt man die ersten beiden Strophen gemeinsam in den Blick, so wird deutlich, dass es sinnbildlich um die Arbeit des Künstlers geht, dessen ästhetischer Gestaltungwille als Inbesitznahme und Zurichtung problematisiert wird. Dieser Vorgang erscheint durch die biblische Motivik des Sündenfalls zugleich als Tabubruch : Das Färben, Verbessern, Verwässern und schließlich Genießen der (verbotenen) Frucht ist gleichbedeutend mit dem Verlust einer originären Qualität und Ursprünglichkeit. Einer solchen Aneignung und Veredelung widersetzt sich jedoch das sprechende Ich in der dritten Strophe. In deutlicher Abgrenzung zum »Sie« der ersten Strophe, das ohne Anstrengung (»ein Leichtes«) »bändigt«, »beendigt«, »erreicht« (V. 3 – 6), charakterisiert es sich selbst als Zaudernden, der den verführerischen Tabubruch der »Verbesserung« (V. 17) scheut und sich stattdessen vom Schweigen korrumpieren lässt. Gegen Ende mündet der Gedankengang in einen Disput mit einem Du, der von Kränkung (»Ich war sehr schroff«, V. 25) und frustrierter Distanzierung (»Was du liest, ist dein Eigen, / und wenig gilt, was mein Ohr feilt«, V. 23 – 24) sowie Desillusionierung (Weil ich nicht hoff, / nicht hoffen mehr !«, V. 26 – 27) spricht. Bezieht man die Korrespondenz Erich Frieds in die Betrachtung mit ein, so zeigen sich gewisse Übereinstimmungen hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Aichingers Schreiben. Vergleichbar dem »Sie« der ersten Strophe, dem es »ein Leichtes« ist, einen Gegenstand zu beherrschen, attestiert Fried der Kollegin in seinem Brief vom 12. März 1948 eine besondere Gabe im Umgang mit schwierigen Stoffen : »So kommt es, daß Dir gerade das Schwerste am allerbesten gelingt« (Kaukoreit 2009, S. 15). Und ebenso bewundernd wie erschüttert hebt er den Eindruck der Leichtigkeit hervor :
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»Du […] bist die Erlösung. Und es sieht so einfach aus« (Kaukoreit 2009, S. 18). In Abgrenzung dazu versucht Fried eine eigene Standortbestimmung, die in dem Brief von 7. April 1948 sehr differenziert formuliert wird : Mein Wissen und Können (technisches Können, handwerkliches) ist grösser als Deines, glaub ich. Aber ich habe nichts geschrieben, was sich annähernd mit dem vergleichen dürfte, was Du uns allen schenkst. Wo Du Liebe hast, dort hab ich bestenfalls Sehnsucht. Wo Du Erlösung gibst, dort ist in meinen Arbeiten Verzweiflung […]. Wo Du mit dem Glauben überwindest, dort versuche ich mit schrecklich viel Klugheit und Wissen und mit dem Aufgebot beherrschter Technik der gänzlichen Vernichtung zu entgehen. Wo Du Erkenntnis gibst, nein, selber bist !, dort gebe ich scharfe Gedanken und allzuscharfe Gefühle … und nur manchmal kommt aus der Sehnsucht eine Schönheit, komplizierter, weniger einfach und allgemein als bei Dir. Und nachahmen kann und darf ich Dich nicht. (ÖLA Nl Fried 4/90, G 1)
Die Lektüre der Größeren Hoffnung erweist sich für Fried als substanzielle Herausforderung, ja In-Frage-Stellung des eigenen Schaffens, in die sich auch kritische Töne gegenüber der Schriftstellerkollegin mischen (Kaukoreit 2009, S. 15, 16) und die bei aller Bewunderung mit einem Gefühl von eigener Unzulänglichkeit und Beschämung einhergeht, was durch den paternalistischen Gestus nur umso deutlicher hervortritt (Brief vom 7. April ; ÖLA Nl Fried 4/90, G 1). In diesem Kontext ist auch das unveröffentlichte Gedicht »Gedanken an Ilse Aichinger« zu verorten. Die Sündenfallmotivik impliziert, dass es darin konkret um den Roman Die größere Hoffnung geht. Denn der Apfel ist ein signifikantes Objekt in Aichingers Text, dessen mehrfaches Erscheinen wesentliche Entwicklungsstufen der Protagonistin Ellen markiert. So besticht Ellen gleich im Eingangskapitel den Pförtner der Botschaft mit einem Apfel in der Hoffnung, zum Konsul vorgelassen zu werden (GrH 1948, S. 19, 22, 23). Die spätere Begegnung mit dem Konsul gleicht wiederum einer Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit, dessen magisch-mythische Sprache und Weltsicht der Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Grenzen der empirischen Wirklichkeit weichen muss (Fässler 2011, S. 74, 76). Dem Sündenfall der Bewusstwerdung, der zugleich ein Sündenfall der Sprache ist, folgen im Weiteren jedoch wiederholt Momente der Regression, in denen Ellen vergeblich versucht, das ursprüngliche Paradies zurückzugewinnen. Als sie etwa am Morgen nach der Begegnung mit dem Konsul in der Wohnung der Großmutter erwacht, greift sie, im Halbschlaf an keiner Spielzeugfigur Halt findend, nach dem Gesicht der Mutter, die sich jedoch bereits in England befindet. Weil Ellen deren Abwesenheit nicht akzeptieren kann, imaginiert sie die Vorstellung, die Mutter sei lediglich Äpfel einkaufen gegangen, um ihrer Tochter anschließend Bratäpfel zuzubereiten, die sie »am allerliebsten« (GrH 1948, S. 28) hat. Diese paradiesische Vorstellung elter-
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licher Fürsorge und kindlicher Geborgenheit (Shindo 2011, S. 54) endet jedoch jäh in der Erkenntnis : »Aber ihre Mutter war nirgends !« (GrH 1948, S. 30). Im Kapitel »Das Heilige Land«, das unter anderem die Auflösung der großmütterlichen Wohnung zum Gegenstand hat, wodurch das nötige Geld für die erhoffte Ausreise beschafft werden soll, preist Ellen den von ihr offenbar besonders geliebten Bücherschrank mit dem märchenhaft anmutenden Argument an : »Er riecht nach Äpfeln !« (GrH 1948, S. 99). Der Abschluss des Geschäfts gleicht der Veräußerung der Kindheit (Shindo 2011, S. 54f.), wenn es über den das Möbelstück selbst nie abholenden Käufer heißt : »Er hatte den Apfelduft gekauft und Ellens blasses Gesicht« (GrH 1948, S. 100). Nach einem weiteren »Sündenfall« im Kapitel »Die Angst vor der Angst«, der das Überschreiten einer Schwelle zum Erwachsenenalter markiert (GrH 1948, S. 151), beginnt das neunte Kapitel »Wundert euch nicht« mit einer für den Vergleich mit Frieds Gedicht besonders relevanten Adaption des biblischen Paradies-Mythos. Nicht allein das bloße Kosten des Apfels gerät darin zur Schuld, vielmehr verdichtet sich diese zu einem Schuldkomplex durch die Unterlassung, den Apfel vollständig verzehrt zu haben : Adam und Eva sind schuld ! Die Fäulnis nimmt zu. Und der Abfall wiegt schwerer als alle eure Festmähler ! Abfall ? Ist es nicht der Apfel, den ihr nie zu Ende eßt ? Denn es ekelt euch, ihr Unglückseligen, es ekelt euch vor euch selbst ! Gekostet und verfault ! Armer Apfel ! Gekostet und nie zu Ende gegessen ! (GrH 1948, S. 318)
Dem »arme[n] Apfel« stellt wiederum Frieds Gedicht die »armen Arme« der Schlange gegenüber. Wird bei Aichinger im Anschluss an die oben zitierte Textstelle die Möglichkeit des Austritts des Menschen aus einem Weltverlauf der Tyrannei und Unterjochung im Bild einer tanzenden Orange evoziert, die ihre Schale abwirft – »Menschen« gab es, die »tanzten […] und ihre Lasten von sich [warfen] : Orangenschalen wie vom Himmel gefallene Sonnen« (GrH 1948, S. 319) –, so heißt es bei Fried in Vers 12 : »Tanzt die Orange !« Dabei nehmen beide Texte je unterschiedliche Perspektiven ein : Richtet sich im Roman der Blick stärker auf die Folgen des bereits vollzogenen Sündenfalls, so imaginiert Fried einen Zustand der ursprünglichen Unberührtheit. Stellt Aichinger die ethische Frage nach einer Überwindung der durch den Sündenfall aufgerissenen Differenz zwischen Gut und Böse, so thematisiert Fried einen Sündenfall der poetischen Sprache und rückt die damit verbundene Verantwortung des Dichters in den Blick. Ungeachtet dieser Unterschiede zeigt sich aber, dass Fried seine »Gedanken an Ilse Aichinger« unter dem Eindruck der Lektüre des Romans Die größere Hoffnung ver-
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fasst hat, zumal das Sündenfall-Motiv noch in einem weiteren zeitnah entstandenen Text zentral wird, dem kurzen Prosastück mit dem Titel Die Nacht, das in der Fassung von 1951 erstmals im Kontext von Frieds Romanprojekt Ein Soldat und ein Mädchen erscheint (Schäfer 1998, S. 32). Der Text widmet sich einer unerhörten Begebenheit, die im Zentrum einer komplex angeordneten Erzählstruktur mit einer Rahmenhandlung und zahlreichen darum gruppierten Erzählungen, Gedichten, Sprüchen, Fabeln, Parabeln, Fragmenten und Reflexionen steht. Im Kern geht es um die Begegnung eines deutsch-jüdischen Emigranten, der nach dem Krieg als Besatzungssoldat in sein Geburtsland zurückkehrt. Dort nimmt er an einem Kriegsverbrecherprozess mit einer jungen Angeklagten namens Helga teil, die sich als ehemalige KZ-Aufseherin vor Gericht verantworten muss und die schließlich vor allem angesichts ihrer mangelnden Reue zum Tode verurteilt wird. In einem Moment des Trotzes äußert sie als letzten Wunsch, mit dem Soldaten, den sie unter den Zuschauern im Verhandlungsraum gesehen hat, die Nacht vor der Hinrichtung verbringen zu wollen : »Ich will heute Nacht mit wem schlafen. Mit diesem Ami da : mit dir. Ich will heute nach mit dir schlafen« (Fried 1982, S. 21). Im Anschluss an diese Szene schildert das Prosastück Die Nacht in einer assoziativ-bildhaften Sprache die sinnliche Begegnung des ungleichen Paares, bei der sich alle Gegensätze zwischen Gut und Böse, Opfer und Täter aufheben : Der Stab reicht zum Baum des Lebens hinauf wie die Stäbe der Jungen, die Kastanien von den Zweigen schlagen. Aber hier wird nichts abgeschlagen, sondern der Stab trägt Blüte und Frucht : Sein Abfall ist ein Apfel. Die Äpfel von Odin und Idun und Eden rollen am Grund. Der fruchtbringende Stab ist als Zeltstange aufgepflanzt, damit das Sehende bei dem Seienden wohnen kann ; ein Zelt für das Blinde und für das Blonde, für die Braut und den Freier, der kein Befreier mehr ist ; für die Feier und für das Feuer. (Fried 1982, S. 47)
Erneut finden sich Echos des oben zitierten Passus aus Die größere Hoffnung : etwa, wenn durch die Substantivierung der Fallbewegung des Apfels eine signifikante Polyvalenz entsteht. Bei Aichinger stellt die Erzählinstanz die Frage : »Abfall ? Ist es nicht ein Apfel, den ihr nie zu Ende eßt ?« (GrH 1948, S. 318). Bei Fried wird der Höhepunkt der sinnlichen Liebe und die damit einhergehende Auflösung der Differenz über das phallische Motiv des Lebensbaumes als sich lösende Frucht evoziert : »Sein Abfall ist ein Apfel.« Es mag sein, dass auch hier die Bedeutung des Apfels als Unrat anklingt, wie sie bei Aichinger durch den Begriff der Fäulnis weiter expliziert wird, da sich die »Frucht« der Liebe durch die bevorstehende Hinrichtung Helgas als sinnlos erweisen wird. In diese Richtung weist auch der vergebliche Versuch des Soldaten
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nach der Liebesnacht, die Tötung der Geliebten mit dem Einwand zu verhindern, Helga sei schwanger (Fried 1982, S. 53). Gemeinsam ist beiden Romanen ein ausgeprägter Hang zu Wortspielen, der bei Fried explizit als narratives Verfahren vorgestellt wird. So motiviert der Soldat, der zugleich der fiktive Verfasser der Erzählung Die Nacht ist, seine Neigung zu »Wortspielerei« mit der Begründung, dass dadurch »eine Art Gegengewicht [geschaffen werde], wenn alles rund um einen her einstürzt« (Fried 1982, S. 44). Wie konsequent dieses Verfahren zur Anwendung kommt, zeigt die weitere Entfaltung des Apfelmotivs, die einen unbestimmten »Grund« imaginiert, an dem die »Äpfel von Odin und Idun und Eden rollen« (Fried 1982, S. 47). Damit rückt eine weitere Übereinstimmung mit Aichingers Roman in den Blick : das Bild des rollenden Apfels. Im Kapitel »Wundert euch nicht« bedingt diese Bewegung allerdings das Verschwinden in einem dunklen Schacht : »Der Apfel rollte über den Rand […]« (GrH 1948, S. 318). Erweitert man den Blick auf den gesamten Roman Aichingers, so lässt sich Die Nacht zum einen auf den Anfang des Kapitels »Die Angst vor der Angst« beziehen. Dort erfährt Ellen zwischen zwei Spiegeln stehend im Rahmen einer allegorischen Darstellung der Welt als Frau die eigene Körperlichkeit, wobei der Moment der Erkenntnis durch ein bekanntes Bibelzitat markiert wird : »Und sie erkannten, daß sie nackt waren !« (GrH 1948, S. 151). Mit den gleichen Worten lässt Fried die sexuelle Begegnung des Soldaten mit Helga enden : »Und sie erkannten, daß sie nackt waren. Und sie erkannten, daß es Nacht war« (Fried 1982, S. 48). Zum anderen ruft das raum-zeitliche Setting einer letzten Nacht vor dem Tod in einem von der Außenwelt abgegrenzten Raum eine Episode aus Die größere Hoffnung auf, in der die Protagonistin Ellen auf ihrem letzten Weg ins Zentrum der Stadt einem fremden Soldaten namens Jan begegnet, mit dem sie Zuflucht in einem noch unzerstörten Haus sucht. Auch dieser Weg durch die letzte Nacht vor Ellens Tod, der unter dem Vorzeichen des Endes steht, ist durch das Sündenfall-Motiv strukturiert : Nach dem Betreten des Innenraumes legt der Erzähler der dort herrschenden Stille zunächst die Klage in den Mund : »Der du mein Schöpfer bist – warum läßt du es zu ? Warum schaffst du dieses Geschlecht, das mich zerbrechen muß, um zu erkennen. Warum schaffst du es immer neu ?« (GrH 1948, S. 378). Die so aufgezeigte Differenz erfährt im Augenblick der sinnlichen Begegnung zwischen Ellen und Jan jedoch eine zeitlich begrenzte Aufhebung. Als die junge Frau den fremden Offizier anblickt, findet »[a]lles Zerrissene […] wie in einem Spiel zusammen« (GrH 1948, S. 380). Und kurz darauf, als beide sich voller Verlangen in den Arm nehmen, kommt es zu einem Moment der Bewusstwerdung : »›Daß du mich erkannt hast, Jan !‹ – ›Daß du mich erkannt hast, Ellen !‹ – ›Müssen wir uns nicht alle mitten im Finstern erkennen ?‹« (GrH 1948, S. 387).
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Vergleicht man die Raumstruktur, in der dieses Zusammengehörigkeitsempfinden stattfindet, mit Frieds Erzählung, so lassen sich deutliche Korrespondenzen erkennen : Beide Texte bzw. Textpassagen evozieren in einem eng begrenzten Augenblick das Erleben punktueller Aufhebung der Koordinaten von Raum und Zeit. Bei Aichinger markieren dies zwei Formulierungen, die durch die Phrase »[e]s war möglich« eingeleitet werden : »Es war möglich, sich vorzustellen, daß es immer so gewesen war und daß es immer so bleiben würde ! […] Es war möglich, sich vorzustellen, daß alles das erste und das letzte Mal war« (GrH 1949, S. 380). Dem entsprechend charakterisiert die Erzählinstanz in Die Nacht den Zustand der Liebenden mit den Worten : »Und ob es die älteste Nacht ist, und ob es der Jüngste Tag ist […] – das alles wissen sie nicht« (Fried 1982, S. 46 – 47). Und an anderer Stelle heißt es : »Alles ist offen, nicht nur die Zelle. Und alles ist zugefallen und geschlossen, nicht nur die Zellentür hinter dem Soldaten« (Fried 1982, S. 45). Damit greift Fried eine Bewegung der Be- und Entgrenzung auf, die letztlich den gesamten Roman Aichingers strukturiert. So gelangt Ellen beispielsweise am Ende des ersten Kapitels, gerade in dem Moment, als sie im Botschaftsgebäude die Geschlossenheit der realen Räumlichkeiten erfahren muss, zu der neuen Erkenntnis : »Alle Türen standen offen« (GrH 1948, S. 41). Immer wieder wird der Roman in der Folge Momente der Geschlossenheit und Offenheit evozieren, bei denen die innere und äußere Bewegung der Protagonistin in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen (Fässler 2011, S. 71). In beiden Texten geht es, wie dargelegt, um einen Entwicklungsprozess, dessen entscheidende Momente insbesondere durch das Sündenfall-Motiv profiliert werden. Zwar unterscheiden sich die Konsequenzen, die mit der Bewusstwerdung einhergehen, da der Soldat am Morgen die Zelle voller Verzweiflung als ein Gezeichneter verlässt, der jegliche Orientierung verloren hat (Dressler 1998, S. 59, 62), während Ellen zu der Gewissheit einer größeren Hoffnung gelangt ist, die nur im Tod ihre Erfüllung finden kann. Doch verhandeln beide Romane im Rekurs auf den Schuldkomplex des Schöpfungsmythos die existenzielle wie ethische Problematik einer möglichen Standortbestimmung unter dem Einfluss traumatischer Erfahrungen von Vertreibung und Vernichtung (Dressler 1998, S. 62). Diese Identitätssuche findet unter Einbeziehung unterschiedlicher kultureller Orientierungs- und Darstellungsmuster wie Mythen, Märchen, Sagen und Legenden statt, die das individuelle Trauma symbolisch überhöhen und zugleich auf seine sinnstiftende Funktion hin befragen (Dressler 1998, S. 58 – 59). Auf dieser Folie wird eine differenzierte Betrachtung der gesellschaftlichen Kategorien von Gut und Böse, Opfer und Täter, Schuld und Verantwortung möglich. Bei Aichinger ist es die universelle Erfahrung von Dunkelheit, Angst und Unsicherheit bzw. die Suche nach Licht, Glaube und Gewissheit, die die Grenzen zwischen
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Agenten und Verfolgten des Regimes unterlaufen und als ein zentrales psychologisches Motiv des Handelns bestimmt werden. Frieds Text spürt unter Zuhilfenahme psychoanalytischen Wissens den Machtkonstellationen nach, deren Opfer das Subjekt wurde (Dressler 1998, S. 58), und lässt seinen Soldaten schließlich zu der Erkenntnis gelangen, dass auch die »Kriegsverbrecher […] verlorene Kinder [waren], schon bevor sie Kriegsverbrecher wurden« (Fried 1982, S. 11). Erweitert man den Blick auf das Gesamtwerk von Aichinger und Fried, so zeigt sich, dass dieses Durchkreuzen einer starren Opfer-Täter-Dichotomie bei beiden eine poetologische Grundkonstante darstellt (Lubkoll 2003, S. 310). Bei Aichinger geschieht dies durch Aufzeigen eines Geschichtsverlaufs, der von Angst und Furcht regiert wird und daher gleichermaßen alle korrumpiert. Erst das Abstreifen der psychischen Fesseln, so vermittelt dies etwa die Erzählung Rede unter dem Galgen, ermöglicht ein Heraustreten und Erkennen der allumfassenden Schuldverstrickung. Von der Richtstätte aus spricht der Verurteilte, der »dem Land die Furcht zu glauben [verlernt]« (Ge 1991, S. 104) hat, die Schaulustigen als Brüder an, um ihnen die Augen zu öffnen : »Ihr Mörder, die ihr nie gemordet habt, ihr Brandstifter, die ihr nicht brennt, ihr Diebe, die ihr es nicht wagt, zu stehlen […]« (Ge 1991, S. 100). Dass in jedem Menschen ein Potenzial zur Gewalt lauert, betont Aichinger zudem in ihrer 1946 veröffentlichten programmatischen Schrift Aufruf zum Mißtrauen, in der sie zur Vorsicht dem eigenen Ich gegenüber mahnt. Nur so könne die »unheilbare Krankheit« einer »verwundeten« Welt, in der die Angst regiere, überwunden werden : »Sind wir nicht lange genug, von Furcht gelähmt, einander ausgewichen ?« (AuzMi 2021, S. 21). Mit einem vergleichbaren aufklärerischen Impetus etabliert Fried in seinen Prosatexten und Gedichten anhand der dialogischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Täter- und Opfer-Figuren (Soldaten, zivile Kriegsopfer, Opfer der NS-Verfolgung, Kriegsheimkehrern, Exilanten etc.) eine »polyphone Struktur« (Lubkoll 2003, S. 310), die die historische Erfahrung des Faschismus und Nationalsozialismus aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, um den psychischen Kräften und gesellschaftlichen Machtstrukturen nachzuspüren, die einen destruktiven Weltverlauf bedingen (Dressler 1998, S. 117). Dies gilt selbst noch für Frieds spätere Gedichte ab den 1960er Jahren, in denen neue Bedrohungen in den Blick genommen werden. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist »Angst vor der Angst«, das den abschließenden Zyklus »Sprüche und Widersprüche« des 1964 veröffentlichten Gedichtbandes »Warngedichte« einleitet und die Lähmung des Denkens aus Angst vor einer Bedrohung als eigentliche Ursache dieser Bedrohung bestimmt (Menapace 1986, S. 79) : »Wenn es kommt / kommt es wegen der Angst / wegen der Angst vor dem Denken / die mir Angst macht« (Fried 1993, S. 331). Damit greift Fried einen Grundgedanken aus Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung auf, der im gleichlautenden Kapitel »Die
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Angst vor der Angst« ausgeführt wird. Hier ist es ein Mädchen namens Anna, das, um seine unmittelbar bevorstehende Deportation wissend, den anderen Kindern des Figurenkreises den tieferen Grund für die um sich greifende Brutalität mit den Worten erklärt : »›Wenn es finster wird‹ […], ›wenn es sehr finster wird – was geschieht dann ?‹ ›Man hat Angst !‹ – ›Und was tut man ?‹ – ›Man wehrt sich !‹ – ›Man schlägt um sich, nicht wahr ?‹« (GrH 1948, S. 183 – 184). Angst bestimmt nach dieser Annahme nicht nur das Verhalten der Opfer, sondern bedingt auch Täterschaft. Den Kindern wird bewusst, dass selbst die »geheime Polizei […] Angst« hat (GrH 1948, S. 184) und aus solcher Angst heraus agiert. Ein solches Verhaltensmuster zeigen wenig später zwei konkrete Akteure des Systems. So überwindet ein Zugführer, der einen Munitionszug zur Front bringen soll, erst angesichts massiver Gewaltandrohung – »[e]rschießen auf offener Strecke wird man dich« (GrH 1948, S. 281) – seine Selbstzweifel und fügt sich dem Befehl zur Abfahrt. Kurz darauf ringt ein junger Polizist während einer nächtlichen Verfolgungsjagd mit der Furcht, selbst an die Front zu müssen, und erhofft sich von der Gefangennahme Ellens einen Aufschub : »Und dann […] werde ich ausgezeichnet […], dann muß ich nicht an die Front, dann darf ich nicht fallen […]« (GrH 1948, S. 289). In beiden Fällen führt somit Angst zur Mit-Täterschaft und damit zu einer Fortsetzung der Gewaltspirale. Vergleicht man diesen Grundgedanken mit dem Gedicht »Angst vor der Angst«, so wird deutlich, dass bei Aichinger wie bei Fried die psychische Verfasstheit des Menschen eine besondere Relevanz erlangt. Angst als Conditio humana und Urgrund der Entzweiung in einer entfremdeten Welt bedingt eine Betrachtung jenseits statischer Kategorisierungen. Ihr universelles Wirken rückt den Einzelnen, selbst wenn er schuldig geworden ist, immer noch als Menschen in den Blick, der aus psychischen Motiven heraus unter den Bedingungen eines machtvollen gesellschaftlichen Konnexes handelt. Entsprechend bekräftigt Fried in seinem Nachwort zur ersten Auflage des Romans Ein Soldat und ein Mädchen, dass er sich »gegen die unpsychologische Einordnung von Menschen in Scheinkategorien« richte und »für eine Auffassung der Menschlichkeit, die auch im letzten SS-Mann […] noch den Menschen sieht oder sucht […]« plädiere (Fried 1982, S. 233). Obwohl Ilse Aichinger und Erich Fried zunächst unabhängig voneinander zu einer differenzierten Betrachtung der unmittelbaren Vergangenheit und Nachkriegszeit in ihren Werken gefunden haben, setzte, wie gezeigt werden konnte, durch die persönliche Begegnung in London Ende 1947/Anfang 1948 ein Dialog ein, der zumindest dem Schreiben Erich Frieds wesentliche Impulse gegeben hat. Von dessen akribischer Redaktion des Roman-Manuskripts über die Rezension des Romans in der Literaturzeitung Das goldene Tor bis hin zur Besprechung ausgewählter Gedichte aus Verschenkter Rat in der Neuen Rundschau lässt sich die Auseinandersetzung mit dem Werk Ilse Aichingers nachvollziehen. Dass diese aber nicht nur in
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Briefen und Rezensionen ihren Niederschlag gefunden, sondern auch das literarische Werk Frieds substanziell beeinflusst hat, belegen vor allem Textvergleiche zwischen dem zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Gedicht »Gedanken an Ilse Aichinger«, Frieds Roman Ein Soldat und ein Mädchen oder dem Gedicht Angst vor der Angst mit Aichingers Roman Die größere Hoffnung. Angesichts der oben herausgearbeiteten intertextuellen Bezüge, die vor allem den biblischen Paradiesmythos und das Motiv des Sündenfalls einschließlich der damit verbundenen Infragestellung bzw. Aufhebung dichotomer Setzungen betreffen, aber auch vor dem Hintergrund der Bedeutung psychischer Handlungsmotive wie der Angst als Urgrund und Antrieb in einer entfremdeten Welt kann der Einschätzung Volker Kaukoreits, dass »Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung […] viel konkreter mit Fried in Verbindung zu bringen [ist], als man vielfach im Rahmen einer literarhistorischen ›Verortung‹ angenommen hat« (Kaukoreit 2003, S. 260), Nachdruck verliehen werden. In der österreichischen Nachkriegsliteratur markieren die Werke Erich Frieds und Ilse Aichingers eine einzigartige Konstellation. Beide entscheiden sich angesichts des während der Herrschaft der Nationalsozialisten Erlittenen und Erfahrenen dafür, nicht einen fixen (ideologischen) Standpunkt einzunehmen. Vielmehr verfolgen sie beide das erklärte Ziel, ein auf unvereinbaren Gegensätzen aufgebautes Denken auszuhebeln. Fragen nach Täterschaft und Schuld können so aus der Unmittelbarkeit des Erleidens und der Distanz des Londoner Exils neu und überaus provokativ gestellt werden. Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1948) : Die größere Hoffnung. Roman. Amsterdam 1948. Aichinger, Ilse (Ge1991) : Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948 – 1952). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse und Helga Aichinger (HA/IA Briefe 2021) : »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe.« Helga und Ilse Aichinger. Briefwechsel zwischen Wien und London 1939 – 1947. Hg. Nikola Herweg. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (1949) : Postkarte an Erich Fried, Wien, 29. Dezember 1949. Nachlass Erich Fried, ÖLA 4/90, Gruppe 1. Dressler, Christine (1998) : »Nach dem Landlos greift des Landlosen Hand«. Erich Fried – ein Exilautor ? Eine Untersuchung seines nach 1945 entstandenen Werkes. Wien. Fässler, Simone (2011) : Von Wien her, auf Wien hin. Ilse Aichingers »Geographie der eigenen Existenz«. Wien, Köln, Weimar.
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Fried, Erich (Fried 1982) : Ein Soldat und ein Mädchen. Düsseldorf 21982. Fried, Erich (1987) : Ilse Aichinger. Die größere Hoffnung, in : Ders., Nicht verdrängen, nicht gewöhnen. Texte zum Thema Österreich. Hg. Michael Lewin. Wien, S. 155 – 156. Fried, Erich (1993) : Warngedichte. Gedichte 1. Frankfurt/M. (= Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach). Fried, Erich (o. J.) : Briefe an Ilse Aichinger, London, 7. April ; London 12. März ; London, Abend, 9 Uhr ÖLA : Nachlaß Erich Fried, ÖLA 4/90, Gruppe 1. Görtschacher, Wolfgang/David Malcom : Ilse Aichingers Lyrik in englischer Übersetzung. Mit einem Exkurs zur Londoner Freundschaft mit Erich Fried, in : Görner, Rüdiger/Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.), Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England, Würzburg, S. 69 – 86. Herweg, Nikola (2011) : »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe.« Der Briefwechsel der Aichinger-Zwillinge zwischen Wien und London, in : Görner, Rüdiger/Christine Ivanovic/ Sugi Shindo (Hg.), Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England, Würzburg, S. 27 – 43. Herweg, Nikola (Hg.) (HA/IA Briefe 2021) : »Ich Eich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe«. Breifwechsel Wien – London 1939--1947 bschreib für Dich und jedes Wort aus Liebe«. Briefwechsel, Wien – London 1939-1947, Wien 2021. Kaukoreit, Volker (1991) : Vom is zum Protest gegen den Krieg in Vietnam. Frühe Stationen des Lyrikers Erich Fried. Werk und Biographie 1938 – 1966. Frankfurt/M. Kaukoreit, Volker (2003) : Der Bruch und die Bruchstücke. Zu Erich Frieds »Ein Soldat und ein Mädchen«, in : Bernhard Fetz, Klaus Kastberger (Hgg.), Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich, Wien, S. 255 – 265. Kaukoreit, Volker (2009) : Alles Liebe und Schöne, Freiheit und Glück. Briefe von und an Erich Fried. Berlin. Lubkoll, Christine (2003) : Erich Fried : Frühe Gedichte, in : Handbuch der Deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Hgg. Bettina Bannasch, Gerhild Rochus. Berlin, Boston, S. 306 – 313. Menapace, Klaus (1986) : Die Entwicklung der Lyrik Erich Frieds. Innsbruck. Schäfer, Katrin (1998) : »Die andere Seite« : Erich Frieds Prosawerk. Motive und Motivationen seines Schreibens. Wien. Shindo, Sugi (2011) : Zusammenklirrende Leben – zusammenklirrende Werke. Gegenreflexionen in den Werken von Ilse Aichinger und Helga Michie, in : Görner, Rüdiger/Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.), Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England, Würzburg, S. 45 – 55.
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Theresia Prammer
»Andeutungen von Räumen« Ilse Aichinger und Peter Handke »Man hat die Welt nie richtig gesehen, wenn man sie nicht geträumt hat.« (Christensen 2022, S. 315)
Die literarischen Affinitäten zwischen Peter Handke und Ilse Aichinger scheinen auf den ersten Blick leicht zu benennen. Neben dem Bilddenken mit seinen besonderen Ausprägungen spielen dabei die tiefe Verankerung in der Vorstellungswelt der Kindheit eine Rolle, der individuell gewendete Geschichtsbegriff, der poetisch-verwandelnde Blick, der Hang zu Ritualen sowie die Skepsis gegenüber Routinen. Einzelne Bücher miteinander zu vergleichen, erscheint wenig fruchtbar ; so setze ich eher bei den poetologischen Schnittstellen an, wobei sowohl Lektüre-Eingebungen als auch mündliche Aussagen zu gewichten sind. Vielleicht, um die beiden Autoren in ein Gespräch zu verwickeln, zu dem es im »wirklichen« Leben wohl nur ansatzweise gekommen ist. Mehrere Vergleichsebenen werden berücksichtigt : Wie Peter Handke Ilse Aichinger liest (in jedem Fall asymmetrisch, denn für den umgekehrten Vorgang gibt es wenig Indizien), wie die beiden sich als Schriftsteller positionieren, und vor allem : wie die Poetiken sich zueinander verhalten. Peter Handke hat sich zu Aichinger sowohl schriftlich als auch mündlich wiederholt geäußert. 1982 gehört er der Jury des Petrarca-Preises an, mit dem Aichinger im selben Jahr ausgezeichnet wird. 1991 spricht er im Rahmen eines Interviews mit dem Bayerischen Rundfunk über Aichingers Literatur, eine Literatur, die aus Bildern besteht, aus Bildern ihre Wirkung bezieht, aus Bildern, die aus den tiefsten Träumen kommen und vielleicht aus dem größten Wachsein, und zugleich ist es eine Literatur, die sich die Bilder versagt. Diese Spannung zwischen einem […] Bildverbot und einem […] Siegen der Bilder, sowohl in der Poesie als auch in der Prosa, scheint mir bezeichnend zu sein. (Audio CD 2011)
Handkes Ausführungen kreisen zunächst um die Bildregie Ilse Aichingers. »Es braucht nur ein Wort richtig zu sein«, stellt er fest, »und das Bild führt zum Mythos zurück.« Als Beispiel führt er an : »Das Tempelhüpfen gedeiht.« Und er setzt hinzu : »Durch dieses eine Wort wird das Bild fest, wird eigentlich beständig« (ebd.). Das ist biblisch
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»Andeutungen von Räumen«
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genug, um eine buchstäbliche Lesart nahezulegen, nebst einer ursprünglichen Verknüpfung von Bezeichnung und Ding. Jedoch um zu ergründen, worauf dieses leicht orakelnde Sprechen hinauswill, müsste zunächst geklärt werden, was mit »Bild« eigentlich gemeint ist : Die Frage nach dem sprachlichen Bild berührt die Themen der Bildbeschreibung, der Beschreibungsliteratur und der Metapher. Doch während in der Theorie der Bildbeschreibung das intermediale Verhältnis von Bild und Text explizit verhandelt wird, entwirft das sprachliche Bild, insofern es ganz Sprache bleibt, eine nur inszenierte Intermedialität. […] Und während […] die Metapher in einem verwickelten Sinn Bedeutungen vertritt und verschiebt, präsentiert sich das sprachliche Bild zunächst einmal als Bild von etwas ; es muß nicht, kann aber zugleich ein Bild für etwas sein. […] Zudem führt die Rede vom Sprachbild eine ganze Reihe von Oppositionsbegriffen zusammen : Sprache und Bild, Schrift und Anschauung, Lesen und Sehen, Begrifflichkeit und Bildlichkeit. (Borgards 2003, S. 9)
Innerhalb einer Poetik des Sehens, einer Grammatik der Bildlichkeit steht hinter dem poetischen Bild also so etwas wie ein Phantom, das gebannt werden soll, wobei Handke diese Bannkraft einem Verb (»gedeiht«) zuschreibt, das gemeinhin eher mit Beweglichkeit als mit Beständigkeit assoziiert wird. Erschöpft sich »Beständigkeit« in jenem Gefühl der »Dauer«, das aus dem Konservieren des »Guten« kommt, tendiert der Begriff zum Konservativen, aber hier ist er gebrochener. Von Handke wird »Beständigkeit« im Folgenden definiert als »das, was über das Zauberhafte hinausgeht und im beständigen Sinn eine gute Literatur erzeugt. Es ist eine Wortarbeit« (ebd.). Gewiss, so eine Literatur »erzeugt« sich nicht von allein, sie bedarf einer ausführenden Person sowie der Sprache als Austragungsort und Mittel dichterischer Bezugnahme. Fast alle Texte Ilse Aichingers handeln auch von Sprache, ohne dafür Theorie oder These zu bemühen. Unpolitisch ist diese »Wortarbeit« also keineswegs. Ein zeitgeschichtliches Bewusstsein scheint darin auf. Wir kommen darauf zurück. Die noch größere Faszination für Handke scheint freilich anderswo zu liegen, nämlich in der Eigenart einer Stimme, die »in Bildern redet« und trotzdem »eine Literatur schreibt, die sich die Bilder versagt«. In dieser »Spannung zwischen einem Bildverbot« und einem schlussendlichen »Siegen der Bilder« bestimmt er die Eigenart ihrer Texte als »jüdische« (Audio CD 2011). Das verweist auf den gnostischen Gehalt von Aichingers Schreiben, das philosophische oder religiöse Denkgebäude selten explizit bemüht, gleichwohl ständig davon durchwirkt ist. Folgerichtig spricht Handke auch vom »Strahl eines Bildes«, der sich gegen alle Wahrscheinlichkeit »gegen das Bildverbot« (ebd.) durchsetzt. Die Bilder greifen Aichinger, die vom Dunkel ausgeht und auf das Nachbild abzielt, somit eigentlich zu kurz. Bilder sind in ihren Texten auch Platz-
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Theresia Prammer
halter für eine metaphysische Erfahrungsdimension. So wie sie vom Traum in einer Aufzeichnung von 1950 schreibt, »das Eigentliche« sei »nicht sein Inhalt, sondern das Licht, in dem er geträumt wird« (KMF 1991, S. 44.). Offensichtlich lenkt Handke seine Lektüre in eine Richtung, die ihn innerlich angeht. Schließlich wird auch in seinen Notaten und Aufzeichnungen das Bild leitmotivisch beschworen, jenseits seiner alltäglichen oder dokumentarischen Verfügbarkeit. Als Bild der Erinnerung, als Bild der inneren Landschaft, das fixiert sein will, als eine Art Leitstern, ohne den das Erzählen ziellos wäre : »Schreibend, bleib immer im Bild. Wenn du dich von den Wörtern davon wegführen läßt, ist es ganz natürlich, daß diese dir wie modrige Pilze im Mund zerfallen […] ; kehr, sowie du die Gefahr merkst (sie besteht bei jedem Satz), sofort zurück zum Bild (zum Inbild) und schreibe (im Bild) ; ›Heraus aus der Sprache !‹ Erst so wird die Literatur wieder neu anfangen können«, heißt es in Die Geschichte des Bleistifts (Handke 2019, S. 114.) Im Prozess des Schreibens wird Wirklichkeit angeeignet und Sprache personalisiert, wobei Handke dem Dichter rät, sich zu keinem Zeitpunkt »aus der Erfahrung, aus der persönlichen Vergewisserung, aus dem Inbild (oder Innen-Bild)« zu entfernen. »Am Schluß einer Erzählung müßte erreicht sein, daß die bloßen Wörter für die Dinge stehen können« (ebd. S. 212). Wenn »Bild« in diesem Sinne gebraucht wird, auch ohne mit Handkes Engführungen von »Inbild«, »Innenbild« oder gar »Andacht« (Handke 2020, S. 13) mitzugehen, lässt sich ganz gut herankommen an die mit Magie getränkten Mechanismen, die Aichingers Kurzprosastücke vorantreiben. Was daran frappiert, ist – neben dem schon von Walter Benjamin für das Denkbild hervorgehobenen, zeitübergreifenden Konstellationscharakter – die verbale Dramaturgie des Sich-zu-etwas-Hindenkens, den narrativen Abläufen bisweilen sogar vorgelagert. Dann wieder scheint es die Richtung zu sein, die etwas in Bewegung setzt, während die sogenannte Aussage durch das »shifting« wechselnder Zuschreibungen aus dem Blick gerät. Die Schreibende hält sich vorsichtig in dieser Spur, im Bewusstsein, dass davon bisweilen abgewichen werden muss, zum Beispiel um einen Gemeinplatz zu umschiffen. Handke in Noch einmal vom Neunten Land lässt eine vergleichbare Vorsicht erkennen, wenn er davon spricht, dass »ich mich an den Satz anlehne, den ich zuvor geschrieben habe« (Handke 1993, S. 45). Dabei folgt auch er einem unbestimmten Instinkt. Dieses erzähllogische In-Spuren-Gehen, Franz Kafka nennt es »Zweifellosigkeit«, ist ein ebenso strenges wie schwebendes Verfahren, das Widersprüche integriert und doch zu tragenden Wortkombinationen vorstößt. Sein stilistisches Merkmal ist die Definition, die etwas zu fixieren sucht, was sich eben gerade der Definition entzieht. Die von der Dichterin aufgerufenen Wörter »behaupten«, wie Ferdinand Schmatz in einem Gespräch über Aichingers Poetik ausführt, »ihre Stellung«, »verflüchtigen« sich in ihren Bedeutungen aber auch. Überall entstehen Allianzen, Nachbarschaften, un-
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»Andeutungen von Räumen«
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vorhersehbare Reigen und Tänze, kleine Aufsässigkeiten und Leerstellen. Das seien, so Schmatz, »genau die Räume, wo dann eine Erinnerung, eine Vergegenwärtigung einsetzt« (Schmatz 2021). Ferdinand Schmatz zeigt sich frappiert von der Fähigkeit der Dichterin, zu ihren eigenen »Denkbewegungen« auf Distanz zu gehen, auch da, wo die emotionale Involviertheit groß ist. So werden die Momente der Erinnerung einer neuen Lesbarkeit zugeführt, deren Vehikel eben das Bild ist. Doch folgen wir weiter der Auslegungsspur Handkes, die eigentlich ein Selbstgespräch ist. Aichingers Schreibgestus bezeichnet Handke markanterweise als ein »Reden«. In diese Richtung geht er noch einen Schritt weiter, wenn er präzisiert : »Man kann ja nicht sagen, dass das Literatur ist« (Handke, Schriftstellerin 2011). Unschwer lässt sich in dieser Frechheit ein großes Kompliment erkennen, denn Aichingers literarische Empirie hält sich gerade an den Kippmomenten auf, wo das geläufige Sprechen seinen doppelten Boden offenbart. Und auch Aichinger hat dem sogenannten Erzählen wiederholt das »Sagen« vorgezogen. Was jedoch die Frage noch nicht beantwortet : Worum handelt es sich, wenn es nicht Literatur ist ? Handke ist um eine Erklärung nicht verlegen : Es handle sich um ein »wildes kosmisches Reden in der Nachfolge der heiligen Texte«, ein »kalauerndes Reden, das dazugehört zu dem Geheimnis, das sie vielleicht weniger umkreist als … spiralisiert« (ebd.). Dem beigegeben sei ein »kleiner Schuss von Blödsinn, Nonsense, der aber sehr kontrolliert ist, der ganz wenig, manchmal über die Grenze, die ihr vorgegeben ist, hinausgeht«. Mag dazu der Wiener Schmäh auch sein Scherflein beigetragen haben ? Franz Schuh charakterisiert ihn nicht umsonst als »Sprachspiel, das ironische Wurzeln hat«, mit dem Unwägbaren kalkulierend, einer starken jüdischen und dialektischen Komponente verpflichtet, die auch das Gegenteil immer mitdenkt (Schuh 2021, S. 164). Wo Handkes Analyse die Bezugsfelder der mystischen Literatur auslotet, hat Ferdinand Schmatz herausgearbeitet, wie Aichinger in ihren eigentümlichen Prosagedichten »Elemente der Moderne« Verfahren rhythmisch-assoziativer-lautmalerischer Natur gedanklich integriert, ohne sie eigentlich zu realisieren. Man könnte auch sagen : Sie entmaterialisiert die Avantgarde, die doch gerade die mediale Materialität auf ihre Banner schreibt. Ferdinand Schmatz : »Die Prüfung (der Begrifflichkeit) wird aber nicht mit einem Maßstab angelegt : wahr oder unwahr, sondern sie erfolgt in einer Weise der Verschiebung, einer Art Auflösung des Namens, der dann auch das Ich oder die Definition begleitet.« Das würde bedeuten : Die Definition balanciert über diesen Abgrund der Auflösung hinweg, erprobt Kräfteverhältnisse, Momente der Anziehung und Abstoßung zwischen den Worten, wodurch das Verflüchtigte augenblicksweise konkret wird. Was Handke »Spiralisierung« nennt, steht in der Tat in spannendem Kontrast zu seinem poetologischen Leitsatz : »Schreibend, bleibt immer im Bild.« Neuerlich wäre damit eine versponnene, dabei zielstrebige Gewissheit des
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Weitergehens benannt, mit einem inhärenten Willen zur Ent-Wicklung. So hält die Erzählerin einerseits die Fäden fest in der Hand, andererseits lässt sie den Elementen den Spielraum, den sie zu ihrer Entfaltung brauchen. Die zwingend aufeinander aufbauenden Satzfolgen erzeugen eine Art Laborsituation, die zugleich von außen betrachtet und von innen genährt werden kann. Die Notwendigkeit, Anhaltspunkte zu finden, generiert diese Anhaltspunkte mit, gleichsam nach dem Hölderlin’schen Prinzip »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. Dazu Ferdinand Schmatz, einer plötzlichen Eingebung folgend : »Vielleicht wird die Logik bei ihr zur Analogie.« In der Tat ist Aichingers dichterische Empirie mit Analogiebildungen vertraut, auf der Suche nach gedanklichen Symmetrien, die nur in der Spiegelung hervortreten können. Eine Bildpoetik des abwesenden Bilds deutet sich an, frei nach dem Titel des jüngst erschienenen Nachlassbands der dänischen Dichterin Inger Christensen : Sich selber sehen möchte die Welt (Christensen 2022). Aichinger reklamiert einen ähnlichen Blickwinkel für sich, legt das Gewicht jedoch auf das Subjekt der Erinnerung. »Die Orte, die wir sahen, sehen uns an« (KW 2001, S. 14), sinniert sie in Kurzschlüsse. Aber hören wir weiter, wie Handke sich an Aichingers Poetik herantastet : Ich hab’ großes Vertrauen dadurch zu dem, was sie schreibt, dass sie nie über das hinausgeht, was sie als Rhythmus, als Dringlichkeit und als Wahrhaftigkeit in sich spürt. Sie lässt sich nie gehen. Auch wenn sie blödelt, gehört das zu ihrer Art von Dingschau oder Wahrhaftigkeit dazu. (Audio CD 2011)
Die drei hier angeführten Komponenten sind mit Bedacht gewählt : Der Rhythmus als die biologisch-musikalische Konstante, die »Dringlichkeit« als der schöpferische Impuls, der die Mittel schärft, die »Wahrhaftigkeit« als Garant für den ethischen und politischen Anspruch. So etwas wie Dringlichkeit scheint sich auch aufseiten der Rezeption fortzusetzen. Handke entwirft das Bild eines Lesers, der bei der Sache bleibt, obwohl er die Erzählgeste nur bedingt nachvollziehen kann : Es gibt Andeutungen von Räumen, aber mit den Räumen wird eigentlich fast nur gespielt, so als ob es die Räume gar nicht gibt. Die Räume kommen sozusagen nur als Ironie vor bei ihr. Aber Räume selber werden von Ilse Aichinger nie umrissen, nie beschrieben, und es gibt auch kein Vertrauen in Räume bei ihr. (Ebd.)
Eine Vorstellung von Schreiben als Einräumen drängt sich auf, geknüpft an die im Kontext nicht einmal so banale Feststellung, dass die Träume die Räume bereits enthalten. In Hinblick auf die Räume wiederholt sich überdies, was weiter oben für die »Sätze« ausgeführt wurde : In dem angedeuteten Raum gibt es gleichwohl Konturen,
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»Andeutungen von Räumen«
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Vektoren, Ansätze zur Gestaltung innerhalb des Indefiniten. Doch die Erzählräume dienen nicht der Beglaubigung eines Plots. »Für einen, der aufs Erzählen eingestellt ist … und diese Räume braucht … gibt es keine Rettung« (ebd.). Hier lauert ein weiteres Paradox, denn so wie es bei Aichinger einen »Trost« gibt, der um die Untröstlichkeit weiß, scheinen auch diese »angedeuteten Räume« ein Haltgebendes zu entfalten : »Man muss diesen Linien vertrauen und darauf vertrauen, dass sich aus diesen Linien Andeutungen von Räumen ergeben« (Audio CD 2011). Also doch »Vertrauen«, jedoch aufseiten des Aufnehmenden ? Nicht nur Handke hat die Erfahrung gemacht, dass Aichingers Rede in ihrer »Frechheit«, »Unbedingtheit« und »Rücksichtslosigkeit« (eher Attribute der Avantgarde als der mystischen Rede) »etwas Zauberformelhaftes« anhaftet, mit »lyrischem Geschwader oder Geschwafel« nicht zu verwechseln. »Man spürt, dass diese Zauberformeln aus einer starken, vorgezeichneten Realität kommen. Diese Realität ist auf keiner Landkarte verzeichnet« (ebd.). Ferdinand Schmatz’ Hypothese klingt hier neuerlich mit : »Vielleicht wird die Logik bei ihr zur Analogie« (Schmatz 2021). Auffällig ist überdies, wie Handke den aggressiven Charakterisierungen der dichterischen Schreibweise aufseiten des Aufnehmenden »weiche« Konstanten wie »Vertrauen« und lyrisches Gespür entgegensetzt. Kein leichtes Unterfangen, denn Aichingers energisches Plädoyer gegen ein falsches Vertrauen, auf Selbstbetrug gebaut, haben wir noch gut im Ohr : »Sich selbst müssen Sie mißtrauen !« Und weiter : »Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten ! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir mißtrauen !« (AuzMi 2021, S. 21). Dem beschädigten Vertrauen der durch Vertreibung und Verfolgung »aus allen Szenen« Gekippten (AuzMi 2021, S. 200) könnte, der Lesart Handkes gemäß, ein Vertrauen in die Ordnung der Worte entsprechen. Um etwas zu erhalten, das über eine vage Andeutung nicht hinausgeht ! Handkes Äußerungen zu Aichinger weichen den existenziellen Koordinaten nicht aus und haben, zumindest mehr als wir das von uns behaupten können, den Gesichtspunkt des literarischen Schreibens nach 1945 auch biographisch im Blick. Doch bei aller somnambulen Treffsicherheit fängt der Meister nun an, etwas kryptisch zu reden : Ilse Aichinger vertraut nur auf ihre eigene, tiefe – ja : Wildheit […]. Es ist eine sehr wilde Literatur, fast eine ursprüngliche Literatur. Ein Wort genügt, und nicht nur die Seele des Lesers wird gesund, sondern die Seele dessen, der liest, die wird sehend. Das ist das, was über das Zauberhafte hinausgeht und im guten Sinn eine beständige Literatur erzeugt. (Audio CD 2011)
Auch hier spricht Handke zu Teilen für sich. Für ein solches Moment des Aufgehobenseins in Erzählung und Mythos lassen sich auch in seinen Werken zahlreiche
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Beispiele anführen. »Ich sage das Wort, und meine Seele ist geheilt« (Handke 1993, S. 46), heißt es etwa in Noch einmal vom Neunten Land. Mit den Adjektiven »wild« und »ursprünglich« wiederum tippt er archaische Vorstellungsfelder an, abgesehen davon, dass Aichinger allen Grund hat oder hätte, sich gegen die Monstrosität, mit der sie in Kriegszeiten konfrontiert war, mit verbaler »Wildheit« zu wehren. Aber wie steht es um die Beständigkeit ? Sie mag mit der »Lautlosigkeit« zusammenhängen, im Sinne der oft zitierten Worte zu Joseph Conrad, die dem Schweigen gelten, das an die Rede herangetragen werden muss, damit die Worte wieder notwendig werden : »Wenn ein Dialog keine Farce werden soll, muss die Lautlosigkeit mit im Spiel sein. […] Das heißt nicht, aus dem Spiel bleiben, sondern im Spiel sich selbst aus dem Spiel lassen« (KMF 1991, S. 91). Und an anderer Stelle : »Der Autor nimmt sich selbst zurück und ermöglicht so das Offenbarwerden des anderen, jenes ›Persönlichen‹, das Dichtung kennzeichnet« (AuzMi 2021, S. 37). Dieses jugendliche Bekenntnis Ilse Aichingers schließt zum einen an John Keats’ Negative Capability an, zum anderen gemahnt es erneut an Inger Christensen, die in ihrer Poetik eine Erweiterung des Lesbaren durch literarische Kartierung anstrebt. Interessant und gewissermaßen »Handk’isch« an dieser Betrachtungsweise ist, dass sie sich ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit im gleichen Atemzug versichert wie des Verhältnisses zur Literatur. Dabei liegt auf der Hand, dass der geheimnisvolle Glanz der Dauer (oder »Beständigkeit«) auf die Vermittlung der Einbildungskraft angewiesen ist. Diese sollte – noch ein Motiv, das wir von Aichinger kennen – verlernen, vergessen können, um für die Musik der Erscheinungen empfänglich zu sein. Dass die Entrückung oder Versunkenheit den Dichter von der Welt entfernt, ist das weit verbreitete Missverständnis, gegen das auch Handke anschreibt. Mit dem Spiel der Wörter kann ich zwar das Idealbild einer Landschaft schaffen, aber ich will sie nicht abbilden ; ich kann nicht beobachten […]. Auf der anderen Seite aber glaube ich, daß ich die Möglichkeit des instinktiven Bezeichnens habe, des genauen Bezeichnens, und in diesem Sinne macht mich manches auch schrecklich betroffen. […] Nein, ich kann keine mimetische Literatur schaffen. Die Wirklichkeit ist für mich eine Art Tabu. […] Treue zur Sprache ist für mich irgendwo anders, nämlich in ihrem Ideal, nicht in der Abbildung. (Handke 1993, S. 45.)
Nicht umsonst beruft sich Handke auf Novalis, der »das literarisch Figurierte« als »Essenz des Realen« inthronisiert : »Alles muss Märchen werden« (Handke 2008). Hier könnte auch Goethe Gewährsmann sein : »Die Einbildungskraft […] muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen […], sie soll, wenn sie ein Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen, und
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»Andeutungen von Räumen«
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zwar so, daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt« (Goethe 1991, S. 149). Und Handke, fast schon als Echo darauf : »Die schönste poetische Phantasie wäre jene, in der keine Bilder, Rhythmen, Wortspiele oder Geschichten entstünden, sondern bloß die Sprache sich belebte und die Dinge nennbar machte« (Handke 2019, S. 149). Ein Credo, hinter dem zweifellos eine essayistische Haltung steht, die viele von Handkes Prosadichtungen hervorgebracht hat und die sogar in seinen dramatischen Arbeiten erkennbar ist, etwa im Theaterstück Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten, wo die stummen Bewegungen und Gesten der Schauspieler zu neuen Sinneinheiten zusammentreten. Eine weitere Volte der Betrachtung zu Spiel und Widerspiel, gemünzt auf die interpassive Aufmerksamkeit des Übersetzers, findet sich in der Laudatio Handkes auf den Übersetzer Fabjan Hafner : »Mitspielend, läßt er sich aus dem Spiel ; er wird sein Selbstspiel los, indem er mitspielt« (Handke 2007a, S. 435). Einer Literatur, die »aus tiefsten Träumen kommt, vielleicht auch aus tiefstem Wachsein« (Audio CD 2011), hat Handke das Wort geredet, einer Dialektik von Planen und Gewährenlassen – vielleicht im Sinne der »guten Müdigkeit«, die T. W. Adorno in Goethes Gedicht »Ein gleiches« am Werk sieht. Spiel und Müßiggang sind dabei in ein Verhältnis gebracht, zu dem die Erfahrung alles, die Phantasie so gut wie nichts beisteuern kann. Ein Affekt der Treue zu dieser Wirklichkeit ist es auch, der Aichinger wiederholt gegen den Begriff der »Phantasie« aufbegehren lässt. Zu sehr widerspricht er der Verantwortung für die Opfer, zu sehr schmeckt er nach Weltflucht und Fabulierlust, zu wenig beachtet er die Gesetze der Form : »Also das Wort Dichterin, das Wort Phantasie, das hat mich schon als Kind wahnsinnig gemacht und immer zornig. Bis heute. […] Ich wollte genau sein, und das will ich auch jetzt noch. […] Und wenn es jetzt auf Berichte hinausläuft, hab’ ich […] endlich erreicht, was ich wollte« (Dieckmann 2021). Um diesen Affekt in Relation zu dem nämlichen Bilderverbot zu setzen, wäre eine andere Untersuchung vonnöten. Halten wir einstweilen fest : Auch Handke hat sein Hühnchen mit der Phantasie zu rupfen, doch verwirft er das Wort nicht, interpretiert es vielmehr um und gelangt zu ähnlichen Schlussfolgerungen : »Phantasie ist das Höchste an Wirklichkeit« (Handke 1993, S. 89). Immer wieder lobt er die Ernsthaftigkeit der Phantasie, während Aichinger sie gerade aufgrund ihrer mangelnden Ernsthaftigkeit schmäht. Wenn die »wirkliche« Welt in Form und Erfindung aufgehoben ist, so markiert dies nicht nur in Handkes Langsame Heimkehr das utopische Ende des Erzählprozesses. »Jede Bewegung als ein Durch-die-Zeit-Gehen sich bewußt machen, das macht die Epik möglich« (Handke 2019, S. 297). Handke versteht sich auch sonst als ein Gehender, bisweilen Flaneur, und lässt die Erscheinungen der Welt auf sich zukommen.
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In einer frühen Typoskript-Fassung des Buchs Langsame Heimkehr findet sich die vorübergehende Dante-Anwandlung : »Dann, als ich kopfüber den Pfad hinunterstolperte, war da plötzlich eine Form« (https://handkeonline.onb.ac.at/node/835 [Letzter Zugriff : 01.07.2023]). Aichingers Formideal ist statischer, entspricht dem der Insel bei Heinrich von Kleist : »Sie hebt sich aus dem Meer. Das ist der Versuch der Formgebung, der Wille des Unbegrenzten sich zu begrenzen« (AuzMi 2021, S. 23). Wie die Insel aus dem Meer tritt der Geist aus der Form hervor, aus der »echten Form«, während (so Aichinger in Bezug auf den »Austrokoffer«) die »mangelhafte Form wie ein schlechter Spiegel gebunden hält und uns an nichts erinnert als an sich selbst« (AuzMi 2021, S. 271). Bei Aichinger mündet die Abwehr der Phantasie punktuell in die Reduktion des Berichts oder die kristalline Denkfigur, während Handke von seinem eigenen Anspruch, die Dinge der Welt durch seine Phantasie zu verwandeln, so beflügelt ist, dass er seine Notate und Kritzeleien auch schon einmal in die Breite inszeniert. Doch die Stoßrichtung ist klar : Dichterworte bedürfen einer anderen, präzise und gewissenhaft agierenden Vorstellungskraft, weil sie die Bedeutungen neu aufladen, die Welt umdeutend verjüngen (Handke 1993, S. 15), während die Amts- und Verkehrssprache die Welt bloß betäubt. Die konzentrierte Aufmerksamkeit des Schreibenden, die immer mit dem »Gefühl« abgeglichen werden muss, richtet sich klar gegen das Kunstprodukt und bedarf keiner Phantasie. So kann das Erfundene niemals ganz für sich stehen, während das Erlebte stets nachempfunden, nacherfunden werden muss. In dem Maße, wie die Phantasie die Wirklichkeit nachvollzieht, erneuert sie sie. Handkes Journaltitel Phantasien der Wiederholung (2020) nimmt diesen Gedankengang auf. »Phantasie ist nicht Gaukelei, sondern die Erwärmung dessen, was vorher da ist«, ereifert er sich im FilmInterview mit Corinna Belz. In Die Lehre der Sainte-Victoire schließlich illustriert er den Gedanken nicht nur anhand der Betrachtungen über den Maler Cézanne, sondern auch anhand der Entwürfe der »Modeschöpferin« : »Bei der Anfertigung eines Kleids muß jede bereits benutzte Form für die Weiterarbeit im Gedächtnis bleiben. Ich darf sie aber nicht innerlich zitieren müssen, ich muß sofort die weiterführende, endgültige Farbe sehen. Es gibt in jedem Fall nur eine richtige, und die Form bestimmt die Masse der Farbe und muß das Problem des Übergangs lösen« (Handke 1982, S. 236). Die Arbeit der Modeschöpferin und des Wortschöpfers besteht also gleichermaßen im Herausarbeiten (oder, mit Michelangelo, Befreien) einer Form. Wenn Handke in diesem Zusammenhang vom »einzig richtigen« Weg spricht, so bleibt dieser Weg doch intuitiv, ähnlich wie bei Aichinger, deren späteres Werk von epistemologischer Unruhe und wachsender Hinwendung zu kleinen Formen gekennzeichnet ist. In einem Fernsehinterview Mitte der 70er Jahre erklärt Aichinger das Nicht-Wissen zum Ausgangspunkt der Schreibbewegung (Mager/Voswinckel 1976). Wie Paul Valéry be-
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ruft sie sich dabei auf den einen, leitmotivischen Satz, der den Anfang macht und das Kommende trägt, wobei das »Nichtwissen des Inhalts mit dem Wissen um das Stimmen des Satzes« zusammenfällt. Ein musikalisch und rhythmisch anspruchsvoller Prozess, bei dem auf eine »unsichtbare Blaupause« (Ulf Stolterfoht), hingearbeitet wird oder ein »Bogen« sich andeutet, der auf die »Architektur« des Ganzen vorausweist. Ernst Jandl beschreibt einen analogen Prozess anhand eines Hörspiels : »[…] es war ein Stück Poesie, also etwas für sich selbst, keine Wiedergabe von etwas, keine Aussage über etwas. Es war ein sprachlicher Ablauf, eine Folge von Wörtern und Sätzen, getragen von Stimmen, im Prinzip also etwas Lineares, das aber an jedem Punkt Beziehungen aufnahm zu Dingen außerhalb, zur Welt, zum Leben. Auf diese Weise gewann der an sich lineare Ablauf eine neue Dimension. Er wurde flächig, er wurde zu einer gemusterten Fläche, einem unregelmäßigen Muster, einem Bild, aber keiner Abbildung« ( Jandl 2003, S. 245). Und in ihrem Essay über Gert Jonke spricht Aichinger von einer »Genauigkeit, die wie Jonkes Sätze Kristallgitter bildet und durchsichtig macht« (AuzMi 2021, S. 178). Solcherart Stein auf Stein setzend, gelangt die Erzählerin auf ein Terrain, das auch jenen Ort einschließt, der das »Wo« selber ist und so etwas wie die mise en abyme aller Orientierungssuche darstellt : »Dover«. »Dover ist nicht zu verbessern. Dover heißt schon, wie es ist« (SchW 1991, S. 41). Zweifellos ein kostbarer Hinweis, denn das bedeutet, dass alle Orte außer »Dover« (das »Wo« per definitionem) durch die Dichterin einer neuen Benennung zugeführt werden müssen. Die schreibende Neubenennung der Welt, »aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt« (VR 1991, S. 14), kann eben Gestalt nur gewinnen, wenn das Betrachten sie gleichsam zu sich selbst erweckt. Dazu passt, dass die Figuren in Aichingers Szenen oder Hörspielen für die Autorin erst dann »stimmig« sind, wenn sie eigenständig zu sprechen beginnen und »das einzig Richtige« sagen. Sie sind nicht stumm wie Handkes Protagonisten, sie wissen jedoch um den Wert der Rede, die in den Akteuren ruhen muss wie das Bild im Wort. Hier wie dort beeindruckt das Vorhandensein eines richtungsweisenden Spür-Sinns, der doch offenbar ein Wissen um »das einzig Richtige« einschließt. Diese passiv-rezipierende Schreibhaltung wird in Handkes Erzählprosa nachgerade zur Lebensform, zum Beispiel wenn der eremitische Schriftsteller in Die Morawische Nacht auf seinem Hausboot als »ehemaliger Autor« vorgestellt wird. Er habe »das Schreiben sein lassen«, heißt es von diesem gefallenen Helden, es habe sich »ausgebucht«, und er habe »ausgespielt« (Handke 2009, S. 7). Den homerischen Anspruch, vom realen Autor zum Zeitpunkt der Nobelpreisverleihung wieder lebhaft eingeklagt, gibt er rhetorisch weitschweifig auf. Wo Aichinger »die Zumutung des Atmens« anprangert und die Geschichten von ihrem Ende her aufrollt, fasst der Epiker das Erzählen als Vorgang auf und will in den Atem der Geschichten vor ihm einstimmen.
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An diesem Punkt wäre die Dynamik des »Spiralisierens« wieder aufzugreifen, in der das »Bild« weniger als Leitstern, denn als unruhiger Kompass etabliert ist. Auch von daher grenzt Aichingers Poetik sich scharf vom »Erfinden« ab, auf der Suche nach einem (dem »richtigen«) Verhältnis zum Vorgegebenen. Wie ein sensitives Pendel schweben ihre Sätze über dem Material des Wirklichen. Eine Notiz liest sich diesbezüglich besonders aufschlussreich : »Die Orte sind die Träger der Handlung und erfinden sich ihre Gestalten selbst« (Notiz Aichingers zu »Pfingstrosen« und »Französische Botschaft«, ZkSt S. 179). Wieder lässt sich hier eine Versuchsanordnung bestaunen, die sich der genauen Kontrolle entzieht, sich dieser Kontrolle aber nur entziehen kann, weil sie von der Dichterin genau so programmiert wurde. Die Bilder beginnen zu sprechen, könnte man auch sagen. Ungebrochen bleibt jedoch der Anspruch auf Wahrhaftigkeit : »Ich wollte eigentlich schreiben, wie es wirklich war, aber dann bin ich aus dem Schreiben ins Schreiben gekommen, denn ich habe gemerkt, dass diese Wirklichkeit, nach der ich suche, eine Wirklichkeit ist, die sich nicht jedem Satz ergibt, den man da hinschreibt. Der man nachgehen muss, nachschweigen muss, bis sie sich mit einem einverständlich erklärt« (Kußmann 2007). In dieser Variante des bekannten Conrad-Zitats tut sich eine Schreibhaltung kund, die wohl vor allem die Arbeit an dem Roman Die größere Hoffnung charakterisiert hat : »Ich wollte […] schreiben, wie es wirklich war.« Es ist ein bemerkenswerter Satz, der sich weigert, die Kontrolle über die Signifikanten abzugeben, und den schriftstellerischen Auftrag auf die Programmatik der Zeugin zuspitzt, unbehelligt von den Einflüsterungen der Phantasie. Die Falle der Zeichen schnappt natürlich dennoch zu, aber dann ist das Spiel schon eröffnet, und es ist ein Spiel mit den Zeichen, bei dem sich noch weisen wird, wer den Kürzeren zieht. Dem Eskapismus des Rückzugs vor der außersprachlichen Realität wird nicht stattgegeben, weder in Richtung eines unverbindlichen Schwärmens noch in Richtung einer leicht zu bedienenden postmodernen Ironie. Handke unterscheidet übrigens zwischen »Einbildung« und »Phantasie«, wobei er der »Einbildung« (das »Bild« ist in ihr enthalten) mehr Kredit gibt. Während die Erinnerung das Subjekt in sich selber einschließt, hat die Einbildung für ihn befreienden Charakter. Wenn, wie es bei Aichinger heißt, »Erinnerung […] sich nicht zu Ende« (KMF 1991, S. 18) begreift und auf die Einbildung angewiesen bleibt, befreit Einbildung also vielleicht das Beständige an Erinnerung, im Sinne der eingangs erwähnten »beständigen Literatur«. In einer Passage über das Gedächtnis seines Vaters wird die Einbildung von Handke nicht von ungefähr als eine Art tätige Erinnerung beschrieben : Und Erinnerung hieß nicht : Was gewesen war, kehrte wieder, sondern : Was gewesen war, zeigte, indem es wiederkehrte, seinen Platz. Wenn ich mich erinnerte, erfuhr ich : So war
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das Erlebnis, genau so !, und dann wurde mir dieses erst bewußt, benennbar, stimmhaft und spruchreif, und deshalb ist mir die Erinnerung kein beliebiges Zurückdenken, sondern ein Am-Werk-Sein, und das Werk der Erinnerung schreibt dem Erlebten seinen Platz zu, in der es am Leben haltenden Folge, der Erzählung, die immer wieder übergehen kann ins offene Erzählen, ins größere Leben, in die Erfindung. (Handke 1998, S. 101)
Erlebnis – Bewusstsein – Erzählen – Erfinden : Über diese Phänomen-Kette greift literarische Bildsamkeit durch die Form in die Formenwelt ein. Das Unterfangen taucht auch die Figur des Dichters in ein anderes Licht, ja, es zeichnet ihn – Achtung, typisches Handke-Wort – gegenüber den zahllosen »Seins-Nichtsen« aus, »die für ihren Lebenslauf die Geschichte brauchen« (Handke 1982, S. 307) und nicht sehen, dass das Wesentliche chiffriert und für den Dichter folglich gerade das bezeichnend ist, was sich der unmittelbaren Bezeichnung entzieht. »Erfinden ist Materie schaffen«, sagt der Schriftsteller im Filmporträt mit Corinna Belz. Auch sonst dreht sich vieles in Handkes Reflexionen um den Begriff der »Verwirklichung«, der das Prinzip der Konkretion durch die künstlerische Schöpfung umreißt. Manchmal ist es, wie im Roman-Essay Die Lehre der Sainte Victoire am Beispiel des Malers Cézanne und seines wetterleuchtenden Bergs gezeigt, wohl auch hilfreich, einen Gegenstand über einen längeren Zeitraum hinweg zu begleiten. Rilke übersetzt »réalisation« übrigens mit »Dingwerdung«, was Handke nicht entgeht, der in diesem Vorgang die belebende, intensivierende Kraft des Kunstschaffenden gefordert sieht. »Cézanne hat ja anfangs Schreckensbilder, wie die Versuchung des Heiligen Antonius, gemalt. Aber mit der Zeit wurde sein einziges Problem die Verwirklichung (»réalisation«) des reinen, schuldlosen Irdischen […] Das Wirkliche war dann die erreichte Form ; die nicht das Vergehen in den Wechselfällen der Geschichte beklagt, sondern ein Sein im Frieden weitergibt. – Es geht in der Kunst um nichts anderes« (Handke 1982, S. 176 ff.). In der Folge wird das »Allerwirklichste« dem »Allerheiligsten« angenähert und umgekehrt. Auch hier wieder spielt das Wort »Beständigkeit« eine Rolle, auf der Suche nach »Konstruktionen und Harmonien« (ebd., S. 210) parallel zur Natur. Insgesamt ist die Klage über den Bildverlust bei Handke eine kulturkritische ; Bildverlust ist Weltverlust, Anschauungsverlust : »Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.« Und weiter : »Wo ist die Farbe, die noch aus der Substanz des Dings selber kommt ? Welches jetzige Ding ist ein Augenstoff ?« (Handke 1982, S. 213). Bei Aichinger hingegen artikuliert sie sich stärker als ethische. Für beide jedoch gilt : Bilder wollen entwickelt sein, und zwar in einem analogen Prozess. Kein »Narrativ« ohne Stativ, das über einen längeren Zeitraum dasselbe Bild ins Auge fasst. Nur so wird das Bild wahrhaft zur Einschreibung, im Sinne der »Beständigkeit«.
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An diesem Punkt wäre eine Abschweifung zur literaturgeschichtlichen Verortung der beiden Autoren angebracht. Interessanterweise teilen Aichinger und Handke auch diesbezüglich ein ähnliches Los : Es gibt ebenso gute Gründe, sie als atypische Avantgardisten wie auch als zeitgenössische Klassiker zu rezipieren. »Es war oft und zu Recht von Handkes Wende zur Klassik die Rede. Handke selbst gebraucht dieses Wort, um den Moment seiner Abkehr von der Sprachkritik hin zur schöpferischen, revitalisierenden Arbeit an der Sprache zu benennen, die eine eigenwillige Dichtersprache zum Ergebnis hat« (Federmair 2012, S. 38). Handke selbst spart in seiner Darstellung nicht mit Pathos : »Das Wort sei gewagt : Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit ; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der PraxisLehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt« (Handke 1980, S. 157). Periodisierungen sind in beiden Fällen unabdingbar : Steht der frühe Handke noch im Ruch des Außenseitertums und Bürgerschrecks, wendet sich der mittlere gegen die Bild- und Sprachzerstörer, während sich in den letzten zwei Jahrzehnten die Abschiede und Bilanzen häufen. Handkes Entwicklung verlief von den frühen »formalen Utopien«, Montagetexten und experimentellen Theaterstücken zur »epischen Entdramatisierung« fasst Peter Hamm zusammen (Hamm 2017, S. 137). In einem Brief an Siegfried Unseld macht sich Handke, noch liegen seine Versuche in Konkreter Poesie nicht weit zurück, Gedanken über die Frage nach der Geschichtlichkeit des Ausdrucks und weist darauf hin, dass »auch Bilder, Fotos, Filmeinstellungen semantisch, symbolisch geworden« seien und vielleicht »die geschriebene Sprache der (alten) Literatur« ersetzen. Kann ihnen, zu einem Zeitpunkt, wo Theorie und Praxis immer stärker zusammenwachsen, der »Stellenwert von Sätzen, das heißt, Aussagen« zukommen ? Montagetexte interessieren den Dichter zunehmend, bis hin zu einem Plädoyer für »rein praktische Literatur« und ihre »formalen Utopien […], die als Beispiele wirken für die Theorie, die die Theorien jeweils wieder umstoßen können und neue Theorien herausfordern (Fotoromane ? Kreuzworträtsel ? – jedenfalls Texte mit solchen Anfangsreizen, die die Unlustschwelle für Literatur erst einmal beseitigen – optische Reize ?)« (Handke/ Unseld, 2012 ; Brief vom 20. 1. 1969). Aichingers Weg verlief geradezu umgekehrt : Vom surreal-verfremdeten Bericht zur experimentellen Prosa, von der psychologisch-surrealen Genauigkeit in Die größere Hoffnung über die der Endzeit abgetrotzten Erzählungen aus Eliza Eliza und Der Gefesselte bis hin zu Schlechte Wörter, wo die Dichterin frühere ästhetische Errungenschaften akut noch einmal infrage stellt. Durch all diese Erfahrungen ziehen sich, wie ein straff gespannter, blutroter Faden, die Gedichte aus Verschenkter Rat, deren karger Tonfall in der Lyrik der zweiten Jahrhunderthälfte nichts Vergleichbares kennt. Peter
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Handke, so sein Freund Michael Krüger, konnte sie in großer Anzahl auswendig und war ihnen förmlich verfallen. Wo Aichinger experimentell war, war sie es aus historischen und existenziellen Gründen, von einer Sprache des Funktionierens, Befehlens und Gehorchens radikal abgewandt. So antizipierte sie den herrschaftskritischen Topos der »kleinen Sprache« von Gilles Deleuze und setzte Victor Kemperers Aufklärungsarbeit fort, die den grausamen Verschleierungsmechanismen der vermeintlich »besseren Wörter« auf den Grund spürt. Doch bei aller Aufmüpfigkeit der Sprachbewegung mündet ihre Verneinung alltäglicher Rede weder in Dunkelheit noch in den Boykott der Vermittlung. Vielmehr zeichnen sich ihre Werke dadurch aus, dass sie sich mimetischen Diktaten nicht beugen und gerade auf der Suche nach der »Wirklichkeit« des Erlebten schreibend eine unvordenkliche Erfahrung machen : »Es bewegten mich keine Gedanken, diese Geschichte zu schreiben, sonst hätte ich die Gedanken und nicht die Geschichte geschrieben. Was mich bewegt, waren Sätze, Bilder (…)« (AuzMi 2021, S. 135). Und Peter Handke : »Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich nicht schreiben« (Hamm 2002). Das Erzählen hilft beiden Autoren, die Bilder der Erinnerung zu »lesen«, verzichtet dabei seinerseits auf lineare Lesbarkeit. Diese Intentionen lassen sich auch über die literarischen Vorlieben der beiden Autoren nachvollziehen : Joyce, Musil und Beckett galt Aichingers uneingeschränkte Bewunderung, während Handke mit Brecht, Joyce und Musil bisweilen auch haderte. Lenz bewundert er als großen Epiker, Proust liest er mit kritischer Hingabe, ebenso Goethe, Stifter, Flaubert, Kafka, E. Bove und Vergil. Aichingers Bekenntnis zu einer Literatur, die die Übersetzungsanstrengung vom Sagen zum Zeigen und vom Sprechen zum Schreiben als Aufgabe ernstnimmt, fällt übrigens mit wachsendem Alter zunehmend unversöhnlich aus : »Diejenigen, die das Feld beherrschen, weil sie nichts zu sagen haben, verlangen, es müsse wieder erzählt werden« (AuzMi 2021, S. 180). Mehr Geschichten-Denker denn Geschichten-Erzähler bleiben sowohl Aichinger als auch Handke skeptisch gegenüber dem archivarisch gehüteten, enzyklopädischen Wissen, das der poetischen Landschaft äußerlich bleibt. Namentlich der Literaturwissenschaftler Karl Wagner hat auf Handkes »Aversion gegen das byzantinisch-polyhistorische Anhäufen von Wissensbeständen« hingewiesen, auf seine Utopie »von der begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens« (Wagner 2010, S. 42 – 43). Schon in seiner frühen Büchnerpreis-Rede trat dieser Zug emblematisch zutage : »Sowie beim Schreiben auch nur der Ansatz eines Begriffs auftaucht, weiche ich – wenn ich noch kann – aus in eine andere Richtung, in eine andere Landschaft, in der es noch keine Erleichterungen und Totalitätsansprüche durch Begriffe gibt. Und diese bieten sich ja bei jeder Schreibbewegung als das erste Schlechte an […]« (Handke 1974, S. 75 ff.). Was Handke hier als »das erste Schlechte« fürchtet,
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gleicht nicht von ungefähr dem, wogegen Aichingers Schlechte Wörter sich hintergründig wenden. Dabei hat Handke nicht nur philosophische Verschulung, sondern vor allem die politische und journalistische Sprache im Visier, die er – seinerseits arg pauschalisierend – der Sensationslust und Gleichmacherei bezichtigt : »Kapazitäten, Koryphäen, Experten oder weißgottwelche Rollenspieler aus aller Herren Ländern in Anzug und Krawatte […], die […] sagten wir, drei Tage lang der Welt, urbi et orbi, ein Beispiel gaben, man wußte nur nicht, für was« (Handke 2009, S. 159). Derlei Verbalinjurien sind uns von Aichinger nicht bekannt, auch wenn ihr die Wut, von der sie motiviert sind, nicht fremd ist. Doch ihre Anklagen richten sich mehr gegen Symptome als gegen Personen, gegen die »Brutalität« als Sprachvorgang in »Polizeiwachen, Gefängnisse[n], Dienstleistungsstellen, Spitäler[n]« (AuzMi 2021, S. 179), gegen die bürokratischen Ausläufer todbringender Institutionen und andere zynische Zustände der Gesellschaft. »Das Suchen suchen«, lautet einer von Ilse Aichingers wirkmächtigsten Aphorismen (KMF 1991, S. 72). Ein Suchen bringt auch Peter Handke weiter, wenn er seine Essays, die Gattungsbezeichnung wortwörtlich ins Deutsche übersetzend, als »Versuche« betitelt. Kleine Kabinettstücke zwischen Narration, Introspektion und abwägender Interrogation sind sie direkte Weiterentwicklungen seines Erzählens. Die Stimme und der Standpunkt des Autors werden darin hörbar, dann wieder wird die Reflexion in die Narration hineingeholt. Sowohl formal als auch inhaltlich bezeichnend für diese Herangehensweise ist Handkes Versuch über den Pilznarren (2013). Wie bei Aichinger ist hier das Finderglück bereits an die Suche geknüpft, wenn die Paranoia des Protagonisten sich nicht per se auf das Unerreichbare, sondern auf den epiphanischen Reichtum richtet, der gerade das Erreichbare auszeichnet. Ein Verstehen, sofern es überhaupt intendiert wird, wirkt auf einer Ebene der Einsicht, das Außergewöhnliche wiederholend. Das Außergewöhnliche ist das Bleibende ; einmal am eigenen Leib erfahren, wird es zum Maß, das alle umliegende Wirklichkeit relativiert. Und zugleich auflädt, sensibilisiert. Auch hier gilt : Die Phantasie wird nicht »an sich« gebraucht, sie ist eher eine Begleiterscheinung der Epiphanie. Und das Suchen verhält sich zum Sammeln in etwa wie das Betrachten (das eine Spielart des Sammelns ist) zum Erreichen der literarischen Form. Die sich daraus ergebende, trickreiche Frage wäre : Stellt das Sammeln »Zusammenhänge« her oder nicht ? Aichinger hat darauf eine Antwort parat, denn auch sie ist eine Sammlernatur : »Das Beerensuchen hatte sie aus der Zeit gehoben, schon damals mitten in den Raum der Erinnerung hinein. Die Beeren begannen in unseren Träumen, Muster zu bilden, sie verschoben sich lautlos und ohne sich zu berühren gegeneinander, jedes Muster war ein Glück (…)« (KMF 1991, S. 17). Auf eine paradoxe Weise scheint das Sammeln also mit dem Verschwinden im Bund zu stehen, weil es das Subjekt in der Kontemplation der Muster aufhebt und die Sprache vorübergehend zum Schweigen bringt.
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Die überwältigende Kraft der epiphanischen Erscheinung, eine Spezialität der modernistischen Poetik, feiert der Pilzpassionierte Handke als plötzliches Leuchten in einer düsteren Gemütslandschaft. Wie die Hetzjagd des Ulysses, wie Prousts sich magisch öffnende Rose ist es, wenn der Pilzsammler den ersten Steinpilz findet. Im Moment der Entdeckung erblüht die claritas eines Augenblicks. Der »Pilznarr« ist auf diese Momente der Fülle aus, die nur die stoffliche Welt bereitstellen kann. Für seine Suche verfügt er über alle Zeit der Welt, doch im Ernstfall muss er sich sputen, denn er will dort sein, wo etwas sich entzündet, in einem bestimmten Augenblick. Das Schöne erscheint ihm so schön, dass es Halluzination sein muss, »jähe Ahnung«, »andere Gegenwart«. So entdeckt er im Sehen das Leben, im Sinnlichen den Sinn und im Geschehen das Geschick. Den von Bildung und Ehrgeiz genährten Systemen und Methoden erteilt er eine Abfuhr und stellt ihnen ein inwendiges Erkennen gegenüber, das bildhaft, lebendig und bereichernd ist und seinem Gegenstand ohne Vorurteil gegenübertritt : »Ins Herz zurück ! Dort wirst du’s besser finden«, heißt es in Goethes »Marienbader Elegie«. In einem ZEIT-Gespräch fabuliert Handke von der »anderen Geschichte« und bezeichnet sie als »die Historie der Farben, des Versmaßes, der Formen – japanischer Tuschzeichnungen etwa oder romanischer Skulpturen, auch des Geschichtenerzählens. Das ist nicht zu realisieren, außer eben im poetischen Machen«. Frage : »Ist Ihnen das einmal gelungen ?« Handke : »Ich erzähle davon. Darauf geht alles hin, was ich schreibe. Es ist nicht nur Utopie, es ist auch real, das Realste überhaupt. Es ist ein Vorschlag, ein Traum von Geschichte. Sonst gäbe es ja auch die Evangelien nicht, gäbe es das Buch Hiob nicht, wenn das Erzählen nicht auf eine andere Welt zuginge, auf eine Hinterwelt im besseren Sinne, wie eine Hinterglasmalerei.« Das Hören auf die »Weltinnenräume« sieht er durch die »internationale Standardsprache« bedroht (Handke/ Greiner 2006). Eine in sich differenzierte Poetik der »Ahnung« entwirft Handke im Vorwort zu der von ihm herausgegebenen Gedichtsammlung des sorbischen Poeten Kito Lorenc. »Das spezielle Geschichtswissen«, legt er dort dar, sei bei Lorenc »übergegangen in etwas Universelles, die Ahnung. Und diese Ahnung geht, gedichtweise, das heißt : Weise des Gedichts, wiederum über ins Bild, in die Bilder, in den Klang, in die Klänge, und wird so Gegenwart, anders als die Vergegenwärtigungen selbst der lebendigsten Geschichtsschreiber« (Handke 2013a, S. 9 ff.). Damit ist Handkes Idee von Epik, in der Welt-Erkundung über evokative Durchdringung mit literarischer Verwandlung von Welt einhergeht, ziemlich akkurat beschrieben. Denn auch Erzählen ist Wiedererkennen, wobei die Ahnung des Dichters an den schweigenden Anteilen der Geschichte Anteil nimmt. Die Ahnung, schreibt Handke weiter, »grundiert« die Poesie. Sie »kommt aus dem Erinnern«, aber sie greift auch »ein in die Erinnerung, nimmt
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sich ihrer an, übersteigt sie, beflügelt sie, skandiert sie, rhythmisiert sie, reimt sie […]«. Wo ein Ahnen wirksam ist, waltet auch ein Instinkt für das »Unterlassen« und »Seinlassen«, ähnlich wie es für das dem Dichter vorausleuchtende Bild der Fall war, das die Ahnung in »lebendige Materie« (Handke 2009, S. 199) verwandelt. Ist im Versuch über den Pilznarren (Handke 2013b) das Ahnen eher als ein Ahnden gegenwärtig – das Pilzglück des Glückspilzes liegt in der schieren Möglichkeit des Findens –, verzichtet Aichingers »Suchen der Suche« auf die Fetischisierung ihres Objekts. Auch sie spricht von der »ahnenden Intelligenz« (AuzMi 2021, S. 176), den »Nebeneingängen« (AuzMi 2021, S. 182) und tastet die Wörter nach geheimen Gelenkstellen ab. Das Wort »Dover« zum Beispiel, ist es nicht selbst ein Synonym für das Ahnen in seiner unergründlichen, wie ein Fels in der Brandung stehenden Alltäglichkeit ? Gleich der Ahnung fragt es, »den Ort in eine Trope« verwandelnd (Wild 2021, S. 101), nach dem »Wo«, dem »Wie«, dem »Woher« und dem »Warum« und ruht dabei unbeirrbar in sich. So hilft »Dover«, sich zu orientieren, ohne ein mental festgelegter Ort zu sein. Mit seiner Gabe für »genaue Ahnungen« ist es ein Einspruch gegen alle anderen Orte, die sich so spruchreif geben und doch niemals gewusst werden können. Aichinger ahnt : Wo ein Erzählen trachtet, ein Wissen zu belegen und ein Meinen zu behaupten, geht es am Wesen der Orte (und vielleicht auch der darin Wohnenden) vorbei. Um aus der Ahnung künstlerisch zu schöpfen, ist eine lange Weile vonnöten. Handke, der Epiker, beklagt nicht umsonst die Zeit, die im Leben »entweder viel zu schnell oder viel zu langsam« verstreicht. »Im Erzählen dagegen, in meinem anderen Leben […] als ein herrliches Rätsel« (Handke 2009, S. 118). Das Erzählen befreit Zeit und es befreit von der Zeit. Im Erzählen ist die Zeit »auf meiner Seite«. Auch Aichinger reklamiert als Erzählerin die Zeit für sich, wenn sie ihre Geschichte »vom Ende her« aufrollt. Erzählen erscheint dann als Zeitverschieben. Wie Handke genügt es Aichinger nicht, zu konstatieren, dass die Geschichte versagt hat. Sie will als Schriftstellerin mit diesem Versagen arbeiten, es zur Sprache bringen. Jedoch fügt sie sich nicht in den Lauf der Dinge, sondern vollführt einen Kraftakt der Neuanordnung des Gegebenen, scheint es beinahe als Gegenüber zu installieren, als eine Instanz, mit der gerungen werden muss. So gesehen wäre Handkes »Wildheit« erneut der richtige Begriff, denn auf diesen Sturmhöhen des Unbedingten gibt es keine Schonung. »Der Deutlichkeit standhalten« ist die einzig gangbare Losung. Was bei Aichinger das »Vom Ende her«-Erzählen ist, ist bei Handke der Schauder der Dauer. »Die Dauer ist ein Ruck«, heißt es im »Gedicht an die Dauer« (Handke 2007b, S. 171 – 199). Zwar definiert sich die Frage nach der Wirklichkeit bei beiden Autoren als eine ethische und ästhetische, doch eine Unterscheidung gibt es dennoch anzubringen : Wenn Handke auf die »Verwandlung und Bergung der Dinge in Gefahr« aus ist, »nicht in einer religiösen Zeremonie, sondern in der Glaubensform, die des Malers Geheim-
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nis war« (Handke 1982, S. 215), hält Aichinger immer auch an ihrer ganz bestimmten Erinnerung fest und sucht nach Ausdrucksweisen für die »Bergung der Opfer in der Sprache« (Reichensperger 1991). Im posthumen Sammelband Aufruf zum Mißtrauen findet sich der poetologische Text »Zum Gegenstand«, der ein faszinierendes Gegenstück zum Prosatext Schlechte Wörter bildet. Darin heißt es beinahe schnippisch : »Ich bringe nicht gerne ans Licht, was ans Licht gebracht gehört. Ich muß die Karlskirche nicht sehen, wenn ich sie malen soll. Und ich muß die Karlskirche auch nicht malen, wenn ich sie malen will. Da könnte ich ja ebensogut die spanische Botschaft malen, ob ich will oder nicht. Das alles hat seine verborgenen Gesetze. Wenn die Gesetze offensichtlich werden, sind sie nichts mehr wert« (AuzMi 2021, S. 136). Den Rahmen für die kleine Erzählung bildet der Ausflug einer Schulklasse zur nämlichen Kirche, vor der die Aufgabenstellung des Kunstlehrers umgesetzt werden soll. Das schulmäßige Abmalen widerstrebt der Heldin ganz und gar, die nicht gewillt ist, den »spanischen Botschaftsfrauen […] den Schleier vom Gesicht zu reißen«. Wie schon Goethe in seinem Gedicht »Das Wort ist ein Fächer« betont Aichinger die indirekte Natur des poetischen Ausdrucks, der eher diskret aus der Wirklichkeit geborgen als abbildend-illustrativ wiedergegeben sein will. »Mein Lehrer kommt und rüttelt mich und sagt : ›Wenden Sie sich ihrem Gegenstand zu‹« (ebd. S. 136). Der Lehrer scheint mit seiner Funktion sichtlich überfordert, während die Schülerinnen sich der Aufgabe jeweils auf ihre Weise zuwenden. Vor allem jene verunsichern ihn, die sich dem Gegenstand nicht einmal stellen, zum Beispiel indem sie ihre »Nase […] am Kirchentor platt« drücken, die Augen schließen oder gar etwas anderes zeichnen als das, was sie sehen : »Er hat noch nie etwas anderes skizziert, er kennt seinen Gegenstand« (ebd., S. 137). Aber es gibt noch andere Charaktere, die Ach-so-Eifrigen zum Beispiel, die »Gründlichen«, die »Nichtstreuner« und natürlich die »Streuner«. Letztere sind es übrigens auch, die »am ehesten ins Bild geraten«, während die gänzlich Gescheiterten in der Regel vergessen werden. Zu Unrecht, wie es scheint, denn : »Auch das Ungelungene ist als Ziel zu denken, es ist als solches nur noch schwerer zu erreichen« (ebd. S. 139). Eine Variante des Beckett’schen »Besser Scheitern« ? In einer Nebenbemerkung heißt es störrisch : »Wer sagt denn, daß Gedanken vollziehbar sein müssen ?« (ebd. S. 138). Was wie ein ultimatives Echo auf die Sentenz von Schlechte Wörter klingt, mit dem »Zum Gegenstand« vielleicht entstehungsgeschichtlich verquickt ist : »Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind« (SchW 1991, S. 12). All diese Haltungen zum Gegenstand zusammengelesen – auch einen »Statthalter« gibt es –, ergeben einen anarchischen Katalog ästhetischer Positionen, wobei die Sympathie der Dichterin, an Handkes »Seins-Nichtse« anschließend, einerseits den verbummelten Naturen gilt, die niemals wirklich zur Sache kommen, andererseits den-
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jenigen, die den Gegenstand inwendig nachgestalten, anstatt nur seine äußere Form zu wiederholen. Der Wirklichkeit wird mit einem Treueanspruch begegnet, der nicht die wahrheitsgetreue Darstellung des Gegenstands meint, der konventionellen, also realistischen Kunstauffassung des Lehrers genügend. Auf dem Spiel steht die Treue in Hinblick auf jene Zusammenhänge oder Analogien, die den Gegenstand parallel zur Wirklichkeit definieren. »Vertrauen«, so gesehen, wäre so etwas wie das Versprechen auf Entsprechung, ein »beständig« dem Text innewohnendes Bild betreffend. Das gemahnt an Peter Handkes Topos des »erotischen Blicks«, bei dem die Überblendung des Gesehenen mit seinem Wesen ausschlaggebend ist, und zwar einerseits dem Wesen des Gegenstands, andererseits dem Wesen des Sehenden selbst : Plötzlich fällt mir etwas auf, was ich immer übersehen habe. Ich sehe es dann aber nicht nur, sondern kriege gleichzeitig auch ein Gefühl dafür. Das meine ich mit dem erotischen Blick. Was ich sehe, ist dann nicht mehr nur ein Objekt der Beobachtung, sondern auch ein ganz inniger Teil von mir selber. Früher hat man dazu, glaube ich, Wesensschau gesagt. Etwas Einzelnes wird zum Zeichen für das Ganze. Ich schreibe dann nicht etwas bloß Beobachtetes, […] sondern etwas Erlebtes. Deswegen will ich eben gerade Schriftsteller sein. (Handke 1975, S. 46)
Das Filmskript Falsche Bewegung ist nicht das einzige Buch, in dem Handke einer Dingmystik huldigt, mit der sich Erscheinungen oder Orte der Außenwelt bestimmten Bewusstseinszuständen zuordnen lassen. »Die ganze Literatur müßte aus solchen Spiegelungen bestehen.« Womit en passant ein Grund dafür nachgereicht wäre, dass sowohl Handke als auch Aichinger das Wort (oder die Genrebezeichnung) »Betrachtung« schätzen, vielleicht am ehesten dazu prädestiniert, das Ich in den Gegenstand einzuschließen und also »den Spiegel zum Fenster [zu] machen« (AuzMi 2021, S. 47). »Betrachtung heißt : Ich werde dem Gegenstand einverleibt und von diesem beseligt« (Handke 2020, S. 67). Wahrnehmen trifft so auf »Innewerden« (Handke 1990, S. 185). Wenden wir uns nun, gegen Ende dieser schlaglichtartigen Gegenüberstellung, dem sogenannten äußeren Leben der beiden Autoren zu, zeigt sich bald, dass hier gleichfalls mit Spiegelungen zu rechnen ist : Ilse Aichinger hat, in die Fußstapfen ihrer Mutter tretend, ein Medizinstudium vorzeitig beendet, Peter Handke hat vier Jahre lang Rechtswissenschaften studiert. Begriffe wie »Gesetz«, »Gerechtigkeit« usw. sind als ästhetische Vorstellungen in die Werke beider Schriftsteller eingegangen. Peter Handke, der für die Literatur wiederholt eine andere Rechtsordnung geltend macht, beruft sich auf Stifters »sanftes Gesetz«, das doch kaum verhindern kann, »daß Stifters Erzählungen fast regelmäßig zu Katastrophen ausarten ; ja daß oft schon der bloße Stand der Dinge, ohne dramatische Überstürzung, eine Bedrohung wird« (Handke 1982, S. 209).
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Hier ist die literarische Satzung der »bürgerlichen« geradezu entgegengesetzt. In Die Lehre der Sainte Victoire wiederum ist Handke mit dem Maler Cézanne dem »Gesetz« des Berges auf der Spur, »seine[r] selbstverständliche[n], verbindliche[n] Form« (ebd., S. 224). Und im Roman Langsame Heimkehr stößt er auf die von ihm so genannte »gesetzgebende Form«, die als echte Alternative zur äußeren, Schuld und Verheerung auf sich ladenden Geschichte erlebt wird : Ein gemeinsamer Atem erfaßte die Anwesenden. Das Licht wurde Stoff, und die Gegenwart wurde Geschichte ; und Sorger, erst in qualvoller Konvulsion (es gab für diesen Moment ja keine Sprache), dann in Ruhe und Sachlichkeit, schrieb auf, um das Gesehene, bevor es sich wieder verflüchtigte, rechtskräftig zu machen : ›Was ich hier erlebe, darf nicht vergehen. Das ist ein gesetzgebender Augenblick : mich lossprechend von meiner Schuld, der selbstverantworteten und auch der nachgefühlten, verpflichtet er mich, den einzelnen und immer nur zufällig Teilnahmsfähigen, zu einer so stetig wie möglich geübten Einmischung. Es ist zugleich mein geschichtlicher Augenblick : ich lerne (ja, ich kann noch lernen), daß die Geschichte nicht bloß eine Aufeinanderfolge von Übeln ist, die einer wie ich nur ohnmächtig schmähen kann –, sondern auch, seit jeher, eine von jedermann (auch von mir) fortsetzbare, friedensstiftende Form. Ich habe gerade erlebt, wie ich, der bis jetzt Außenstehende (sich manchmal freilich in die anderen ganz Hineindenkende) zu dieser Geschichte der Formen gehörte […]. Zum ersten Mal sah ich soeben mein Jahrhundert im Tageslicht, offen zu den anderen Jahrhunderten, und ich war einverstanden, jetzt zu leben. […] Ich glaube diesem Augenblick : indem ich ihn aufschreibe, soll er mein Gesetz sein. (Handke 1982, S. 138)
Nicht ganz so überzeugt von der Zentralität ihrer Mission hatte Aichinger, wir erinnern uns, den »verborgenen Gesetzen« den Vorzug gegeben. Um wirksam und gültig zu bleiben, sollten die subkutanen Gesetze eben gerade nicht entdeckt und schon gar nicht festgeschrieben werden. Bei ihr stößt man auf das Wort »Gesetz« außerdem an zentraler Stelle in ihrem Essay über Adalbert Stifter, von dem es heißt, er sei »unter das Gesetz geraten«, wobei mit dem Wort »Gesetz« auch die unerbittliche Aufeinanderfolge der Sätze bezeichnet ist. Beliebigkeit wäre Verrat an der Einmaligkeit der Existenz, während in Handkes essayistischem Diskurs die Weihe des Dichters als Vollender der Formen mitunter auf einen Duktus trifft, der suggeriert : Es könnte so, aber auch ganz anders sein. Daher die rhetorischen Fragen, das Retardieren, die Schleifen ziehende Rückversicherung in Hinblick auf das anscheinend unauffällige Wort, um »episch und immer epischer zu werden«. Der Modus des Erzählens ist identisch mit diesem Zweifelsfall, man könnte ihn »Dubitativ« nennen, der die Wirklichkeit in Fragwürdigkeit überführt. Dann wieder scheint es umgekehrt und der Erzähler beeilt sich, das Zweifellose dingfest zu machen, um Halt in der wortlosen Welt der
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Erscheinungen zu finden. Doch dafür muss er es erst herstellen – als Fiktion. Der Radius der Dinge, die auf ihr Erkanntsein warten, ist die unsichtbare Grenze. Die Pilze, heißt es im Versuch über den Pilznarren einmal, fände man an den Rändern oder im Herzen des Waldes (Handke 2013b). So wird auch die Aufgabe des Erzählers benannt. Von einem gedachten Mittelpunkt ausschweifend und an den Rändern des NichtGesagten zugange, obliegt es ihm nicht nur, Sätze zu bilden, er muss Sätze schreibend auch wieder möglich machen. Doch wenn Handke ausruft : »Stille, du Urquell der Bilder !« oder »Stille, du Großes Bild !« oder »Stille, du Mutter der Phantasie !« (Handke 1990, S. 176), dann ist damit einer Rhetorik Tür und Tor geöffnet, die zwar inhaltlich mit Aichingers »die Worte aus dem Schweigen holen« korrespondiert, nicht jedoch im sprachlichen Gestus. Wovon bis dato noch nicht die Rede war : Beide Schriftsteller stammen aus Österreich und sind vom Land ihrer Herkunft nicht nur historisch und geographisch, sondern auch mentalitätengeschichtlich zutiefst geprägt. Ihre ansonsten recht unterschiedlichen Temperamente verbindet eine leicht gereizte, austriazistische Unleidlichkeit, die sich der direkten Konfrontation nicht entzieht. Vielleicht als Kehrseite seines sprichwörtlichen Zorns, den er in einem Interview als einen »epischen« benennt, ist Handkes bevorzugte Haltung die Feier des Tages, während Aichinger ihren schlagfertigen Pessimismus mit leiser Zurückhaltung pflegt. Wo sie ihre moralischen Imperative sanft-ironisch, jedoch standhaft vertritt, gefällt sich Handke bekanntermaßen als Wüterich, der sich über die Zumutungen des Literaturbetriebs ebenso leicht echauffiert wie über begründete Kritik an seinem politischen »Engagement«. Dabei erlaubt gerade die düstere Weltsicht der Autorin, die Brosamen der Hoffnung beizeiten wie unauffällige Wegmarken zu streuen. »Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist«, ist ein Prosatext von 1951 betitelt (AuzMi 2021, S. 47 – 49). Immer dann, wenn zivilisatorisch-kritische und poetische Haltung konvergieren, gibt es freilich auch Momente überraschender Übereinstimmung. So ließe sich Aichingers Bemerkung über den »Columbus von heute«, dem es zufiele, »die allzu bekannte« Welt »fremd« zu machen (KW 2001, S. 53 ff.), mit einer Bemerkung von Handke aus Die Stunde der wahren Empfindung kurzschließen : »Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist ?« (Handke 2012, S. 42). Und neuerlich Aichinger : »Muß nicht alles immer wieder neu entdeckt werden, um zu bleiben ?« (Reise nach England [1949]), in AuzMi 2021, S. 25). Aichingers Aversion gegen eine konsumierende, gedankenlose Art des Reisens, die den Eindrücken keine Zeit zur Verinnerlichung lässt, entspricht bei Handke übrigens die Neigung zu Autobussen, von denen die Atome – wie Platon es für die Schifffahrt geltend machte – »durchgerüttelt« werden. Mehr noch, der Handke des Neunten Landes, der bisweilen dazu tendiert, ärmliche Lebensverhältnisse zu romantisieren, hält
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überall nach Produkten Ausschau, die keinen Markennamen tragen und in vorkapitalistischer Unverfälschtheit mit sich selbst identisch sind. Auf ähnlicher Wellenlänge, doch skeptisch gegenüber den Suggestionen des Authentischen, äußert sich Aichinger in einem kurzen sprachkritischen Text, den Wirklichkeitsbezug der Sprache Mal für Mal neu befestigend. »Wenn neue Wörter auftauchen, so beweisen sie immer öfter, daß das, wofür sie stehen, nicht mehr existiert« (AuzMi, S. 134). Nicht nur in Hinblick auf die Obliegenheiten des Alltags, auch wenn es um die Erörterung historischer Tatsachen geht, zieht der Dichter Peter Handke sein Gefühl zur Richtschnur heran. Die Historie nimmt er gern persönlich, während er die ästhetischen Momente, die ihm zustoßen, schon einmal für historische hält : »Und dann verstand ich : […] die Dinge […] hatten sich in jenem historischen Moment auf der reinen Fläche […] zu einer zusammenhängenden, in der Menschheitsgeschichte einmaligen Bilderschrift verschränkt« (Handke 1992, S. 211). In Langsame Heimkehr wird diese Erfahrung universalisiert : »Der Zusammenhang ist möglich«, schrieb er unter die Zeichnung. »Jeder einzelne Augenblick meines Lebens geht mit jedem anderen zusammen – ohne Hilfsglieder. Es existiert eine unmittelbare Verbindung ; ich muß sie nur frei phantasieren« (Handke 1982, S. 92). Von Neuem bestätigt sich : Nicht die »freie«, von der Wirklichkeit losgelöste Phantasie bildet den Ausgangspunkt der Schreibbewegung, sondern die Befreiung der zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeit. Die Offenbarung existiert nicht »an sich«, sie geht aus den Erfindungs-Visionen des Dichters hervor, mit Attributen ausgestattet, die den göttlichen nicht unähnlich sind. Jedoch warum überhaupt die unentwegte Suche nach Zusammenhängen, wo diese doch allemal »vermeidbar« wären ? Vielleicht, weil der Dichter einfach zu viele davon sieht : »Ich weiß nicht, ob ich ein Dichter bin oder ein Empfindungsgebundener« (Handke 2019, S. 25). So etwas wäre Aichinger schwerlich über die Lippen gekommen, die schon die Bezeichnung »Dichter/in« als unangemessen empfand (AuzMi 2021, S. 173). Handke wiederum weist das ut pictura poeisis zurück, zugunsten der Gleichung »Wie die Poesie, so die Prosa« (Handke 2009, S. 204) – sofern sie Poesie ist. Prosa ist ihm nicht Aktions-Kunst, Handlungs-Beschreibung, sondern immer und überall Sprachproblematik. An seinem emphatischen Begriff von dichterischer Seinsweise hält er fest, auch da, wo diese zum Selbstzweck tendiert : in Form von betulichen Ausschmückungen, nervöser Begriffsskepsis, hyperbolischen Häufungen, Beifügungen wie »bedächtig, nein, bedachtsam ; so langsam wie bedachtsam« ; »unversehens« und »eigentlich« und »sozusagen«. Nicht zuletzt aufgrund dieser Stil-Idiosynkrasien wurde dem Autor im Zuge der Nobelpreisdebatte vorgeworfen, in Sphären »reiner« Sprachlichkeit zu schwelgen, woraus der Philosoph Slavoj Žižek kompromittierende Konsequenzen für das Werk und seinen Autor zog : »Unpolitisches Nachsinnen über die komplizierte Natur der Seele und der Sprache ist der Stoff, aus dem ethnische
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Säuberungen gemacht sind« (Žižek 2019). Nun, wer so den Stab über andere bricht, steht vielleicht selbst im Verdacht, »komplizierte« Zusammenhänge zu übersehen, von der Tatsache ganz zu schweigen, dass für die »Seele« und die »Sprache« gewiss nicht dieselben Kriterien gelten. Darauf wäre wohl am ehesten mit Herta Müller zu entgegnen : »Sprache war und ist nirgends und zu keiner Zeit ein unpolitisches Gehege, denn sie läßt sich von dem, was einer mit dem anderen tut, nicht trennen. Sie lebt immer im Einzelfall, man muß ihr jedesmal aufs neue ablauschen, was sie im Sinn hat« (Müller 2003, S. 39). Welche Konsequenzen auch immer man aus Handkes einseitiger politischer Parteinahme ziehen möchte : Bei Aichinger und Handke stehen das Poetische und das Politische in einem unaufhebbaren Spannungsverhältnis. Ihre literarischen Haltungen stellen nicht Meinungen und Überzeugungen, Kommentare und Zeitdiagnosen aus, sondern bekunden das politische Denken mittelbar durch die Form, deren spezifische Verfasstheit plakative politische Gesten a priori ausschließt oder zumindest ausschließen sollte. In ihren literarischen Werken aktualisiert sich ein von langer Hand gespeistes zeitgeschichtliches Bewusstsein mit allen Uneindeutigkeiten und Widersprüchen. In der Versenkung des poetischen Tuns, für das zuallererst die Sprache »engagiert« werden muss, halten sie das utopische Moment als ein künstlerisches wach. Aichinger über die frühe Gruppe 47 : »Alles war ins Offene gesagt« (AuzMi, S. 161.). Ein Wort noch zu den bewegten Bildern: Im Gegensatz zu Aichinger, die zwar mit Super-8-Filmen experimentierte, jedoch Filme vor allem als Betrachterin liebte, in ihnen aufging und verschwand, hat Handke – in jungen Jahren als Übersetzer des Romans »Der Kinogeher« von Walter Percy hervorgetreten – sogar aktiv an Filmen mitgearbeitet. Sein Drehbuch für »Der Himmel über Berlin« gehört immer noch zu den wertvollsten Beiträgen für ein »Kino der Poesie« (Pier Paolo Pasolini) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. War Aichinger vom »genauen Träumen« der Filme angetan, das dem Sichtbaren seine Selbstverständlichkeit nimmt und das Nicht-Selbstverständliche magisch sichtbar macht, sympathisierte Handke in einem auf Englisch geführten Gespräch mit Wim Wenders mit »soul searching movies«, die das Potenzial einer Gegenwirklichkeit bildnerisch umsetzen. Von der Verwandlung der Kindheitsideen ist da außerdem die Rede, von der Verteidigung der Bilder gegen die Meinung, vom Abenteuer des Auges, das aus dem Geiste der Kindheit erneuert wird (Wenders/Handke 2015). Bezeichnenderweise kann sich das »Kindschaftserlebnis«, das in einem ursprünglicheren Sinn für die »Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungskraft« steht, in Handkes literarischen Texten auch auf ganz geläufige Erfahrungen erstrecken : »Seltsam, daß immer noch Wörter wie ›Mohnplunder‹ genügten, und ich rutsche sofort in ein inneres Sandloch« (Handke 2019, S. 136). Die gleichsam umgekehrte Bewegung wäre jene der »Levitation« wie im Versuch über die Jukebox (1990) dargelegt :
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Wie könnte ich nur den Sinn genauer umschreiben, der mir so fehlte ? – Für jene Einheit von Gewahrwerden und Vorstellungkraft […] gibt es vielleicht nur im Griechischen das entsprechende Zeitwort : dieses besagt zuerst nur ein ›Sehen‹ oder ›Bemerken‹ ; und doch spielen darin die Bedeutungen ›Weiß‹, ›hell‹, ›Glanz‹, ›Leuchten‹, ›Schimmer‹ mit. In mir war geradezu ein Sehnen nach diesem Leuchten, das noch mehr ist als jedes Betrachten. Ich werde mich immer nach jener Art des Schauens sehnen, die auf griechisch leukein heißt. (Handke 1983, S. 179)
Zu diesem Schauen als sinnlichem Erleuchten befähigt ihn eine besondere Disposition des Gemüts, mit Worten nicht annähernd mitteilbar. Handke, dem GoetheLeser der ersten Stunde, gefiel das Goethe-Reimpaar »kindlich/unüberwindlich«, und er verehrte den kindlichen Blick, der vom Glück oder Gelingen noch nichts weiß, weil er selig darin geborgen ist. Auch diese Konstellation hat ein Pendant bei Aichinger, nämlich in ihrem autobiographischen Prosastück »Vor der langen Zeit« (KMF 1991, 19 – 22), das häusliche Erinnerungen aus Vorkriegstagen am Beispiel des singulären Weihnachtserlebnisses beschwört. Weihnachten (als Datum) wird darin mit Weihnachten (als Feier, Gefühl) zusammengedacht. Gehüllt in den Glanz der »guten Selbstverständlichkeit« aktiviert die Dichterin ein rückwärts wiederholendes Erinnern, in dem ein für alle Mal angelegt ist, was sich nicht zu Ende begreift, aber auf geheimnisvolles Geheiß immer neu beginnen kann. Die Formulierung »Die Welt ging mir auf«, die bei der sonst als skeptisch geltenden Autorin ein wenig überraschen mag, lässt diese tiefe Verbundenheit mit Kindheitsmustern anklingen. In ihrem Schutzschirm wird die Kindheit greifbar als die Zeit, in der die eingangs erwähnten Zauberformeln ihre primären Aufladungen erhalten. Sie sind es, die die Übereinstimmung von Gefühl und Erwartung verbürgen. In dem Maße, wie die »lange Zeit« zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter durch die Verbrechen, die in jenem Intervall geschahen, entzweigerissen wird, sortieren sich auch jene komprimierten Erfahrungsräume, die eine literarische Annäherung möglich und eine moralische Auseinandersetzung nötig machen : »Denn vermutlich hat die äußerste Bedrängnis mit der äußersten Geborgenheit mehr zu tun als das Mittlere mit beidem von ihnen« (ebd., S. 22). Beliebigkeit, Gleichgültigkeit, schale Alltäglichkeit sind ihr Gegenteil. Sie löschen das Weihnachtserlebnis grundsätzlich aus, egal, an welchem Tag es sich zeigt. Und von beidem, der äußersten Bedrängnis und der äußersten Geborgenheit, erzählen Aichingers Briefe aus Kriegstagen an ihre Schwester Helga. Vielleicht schwebte Handke ja etwas Ähnliches vor, wenn er seinen Protagonisten in Langsame Heimkehr in einer heimatlichen Aufwallung ausrufen lässt : »Ich war einverstanden, jetzt zu leben !« Was für Aichinger Teile des Wiener Straßennetzes,
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sind für ihn die Erlebnisse im Karst. Auch in diesem »Jetzt« sind Erinnerung und Erwartung in ein Gleichgewicht gebracht, der Formende geht ein in die Form. So weit wäre Aichinger wohl nicht gegangen, hätte mit Cioran gekontert, dem Nachteil, geboren zu sein, oder mit Thomas Bernhards aggressivem Vorschlag der langsamen Auslöschung der Menschheit durch Reproduktionsverzicht. Zwar finden sich auch bei ihr Formulierungen wie »entflammt zu höherer Klarheit« (AuzMi 2021, S. 14), doch der Glaube an Erleuchtung war ihr fremd. Lieber umgab sie sich mit dem diskret heraufbeschworenen Gefühl der Hoffnung, wie es in dem »grünen Esel« aus der gleichnamigen Erzählung verkörpert ist (EE 1991, S. 79 – 82), mit dem nur alle heiligen Zeiten gerechnet werden kann und mit dem doch gerechnet werden muss, weil ihn zumindest die Aura der Verheißung umgibt. Entgegengehen sollte man ihm nicht : Zu fragil ist das Gleichgewicht zwischen der unberechenbaren Erscheinung des Esels und der Erwartung, die er hervorruft. Die Konzentration auf das Uneindeutige kommt ohne den Wunsch nach Mitteilung aus. Welche Mitteilung bliebe uns an dieser Stelle noch zu machen ? Vielleicht diese : Die Wünsche beider Schriftsteller sind nicht erhört worden und zum Glück. Handke ist von seiner Heiligsprechung weiter entfernt denn je und Aichinger ist mit ihrem Projekt des Verschwindens auf dem Feld der Literaturgeschichte fürs erste gescheitert. Aber nur wenige haben die Konturen ihrer außergewöhnlichen Gestalt – und ich gebrauche das Wort bewusst, sowohl für die Dichterin als auch für die Person, die zu uns redet – in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur so gut erfasst wie der Leser Peter Handke. Literatur Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (ZkSt 1991) : Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KW 2001) : Kurzschlüsse. Wien. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Frankfurt/M.
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Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. 2021 Belz, Corinna : »Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte, Filmporträt, 2017. Borgards, Roland (2003) : Sprache als Bild : Handkes Poetologie und das 18. Jahrhundert, Paderborn. Christensen, Inger (2022) : Sich selber sehen möchte die Welt. Gedichte, Erzählungen und Essays aus dem Nachlass., Herausgegeben und aus dem Dänischen von Klaus-Jürgen Liedtke mit einigen Übersetzungen von Hanns Grössel, Münster. Dieckmann, Dorothea (2021) : »Mich wundert, dass sich niemand wundert«, Deutschlandfunk, 1. 11. 2021 ; https://www.deutschlandfunk.de/ilse-aichinger-mich-wundert-dass-sichniemand-wundert-100.html [Stand : 22.08.2022]. Federmair, Leopold (2012) : Die Apfelbäume von Chaville. Annäherungen an Peter Handke, Salzburg. Goethe, Johann Wolfgang von (1991) : Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Stuttgart. Hamm, Peter (2002) : Der schwermütige Spieler – Peter Handke. Ein Porträt, Buch und Regie, 90’. SWR/ARTE 2002. Hamm, Peter (2017) : Peter Handke und kein Ende. Stationen einer Annäherung, Göttingen. Handke, Peter (1974) : Als das Wünschen noch geholfen hat, Frankfurt. Handke, Peter (1975) : Falsche Bewegung, Frankfurt. Handke, Peter (1980) : Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises [1979], in : Ders., Das Ende des Flanierens, Frankfurt. Handke, Peter (1982) : Langsame Heimkehr / Die Lehre der Sante-Victoire / Kindergeschichte / Über die Dörfer, Berlin. Handke, Peter (1983) : Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt am Main. Handke, Peter (1990) : Die Abwesenheit [1987], Frankfurt am Main. Handke, Peter (1993) : Noch einmal vom Neunten Land. Im Gespräch mit Joze Horvat, Klagenfurt. Handke, Peter (1998) : Die Wiederholung, Frankfurt. Handke, Peter (2002) : Der Bildverlust, Frankfurt am Main. Handke, Peter/Ulrich Greiner (2006) : Ich komme aus dem Traum, Interview, in : Die Zeit, 1. Februar. Handke, Peter (2007a) : Vom Übersetzen : Bilder, Bruchstücke, ein paar Namen. Für Fabjan Hafner zu seinem Petrarca-Übersetzerpreis, in : Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln (1967 – 2007), Frankfurt, S. 433 – 437. Handke, Peter (2007b) : Leben ohne Poesie. Gedichte, Berlin. Handke, Peter (2008) : Begegnung mit Gero von Böhm https://www.youtube.com/ watch ?v=TWdA8Kx-Gh8 [Stand : 22.08.2022]. Handke, Peter (2009) : Die Morawische Nacht, Frankfurt am Main. Handke, Peter (2012) : Die Stunde der wahren Empfindung, Frankfurt am Main. Handke, Peter/Siegfried Unseld (2012) : Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor, Berlin.
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Handke, Peter (2013a) : Das Gedicht als Durchreiche oder der Dichter als Durchreicher, Vorwort in : Kito Lorenc, Gedichte. Ausgewählt von Peter Handke, Berlin. Hanke, Peter (2013b) : Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich, Berlin. Handke, Peter (2019) : Die Geschichte des Bleistifts, Berlin. Handke, Peter (2020) : Phantasien der Wiederholung, Berlin. Jandl, Ernst (2003) : Einleitung zu Ilse Aichingers »Besuch im Pfarrhaus« [1986] ; zitiert nach Samuel Moser (Hg.) : Ilse Aichinger. Leben und Werk, Frankfurt am Main, S. 244 – 247. Kußmann, Matthias (2007) : Eine Liebe – Ilse Aichinger und Günter Eich. Feature, gesendet vom SWR2 am 28. Januar. https://www.youtube.com/watch ?v=I-taUWnT8sU [Stand : 02.05.2023]. Mager, Johannes/Ulrike Voswinckel (1976) : Ilse Aichinger : »Schlechte Wörter«, Bücherschau, Bayerisches Fernsehen, gesendet am 12. September im BR. Müller, Herta (2003) : Der König verneigt sich und tötet, Frankfurt am Main. Reichensperger, Richard (1991) : Die Bergung der Opfer in der Sprache. Über Ilse Aichinger, Frankfurt am Main. Schmatz, Ferdinand (2021) : Warum sich uns alles mit Erinnerung verflicht. Haus für Poesie : Gegenwartsproof : Ilse Aichinger, 28. Januar, Berlin. https://www.youtube.com/ watch ?v=zWmCnKEnTAI [Stand : 02.05.2023]. Schuh, Franz (2021) : Schmähführen. Über Lukas Resetarits, in : Ders., Lachen und Sterben, Wien, S. 155 – 170. Wagner, Karl (2010) : Er war sicher der Begabteste von uns allen, Wien. Wenders, Wim/Peter Handke (2015) : Conversation with Ian Buruma | MoMA LIVE, 4. 3. 2015, https://www.youtube.com/watch ?v=HJVE-VjC_ME [Stand : 22.08.2022]. Wild, Thomas (2021) : ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger, Frankfurt. Žižek, Slavoj (2019) : Als Milch noch Milch hieß. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek kritisiert Handkes Blick auf Jugoslawien, Interview mit Lars Weisbrod, in Die Zeit, 17. Oktober. https://handkeonline.onb.ac.at [Letzter Zugriff : 19.07.2023]. O. N. (Audio CD 2011) : Ilse Aichinger. Schriftstellerin, Audio CD, Berlin.
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Frauen, Geschichte, Schreiben
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Susanna Brogi
Englischlernen D i e S childk röten (1939/1999) von Veza Canetti und D i e H offn u ng (1948/1960) von Ilse Aichinger
grösser e
Widmungen Bei ihrem ersten London-Besuch zwischen Weihnachten 1947 und Ostern 1948 begegnete Ilse Aichinger neben anderen Flüchtlingen aus Wien auch Veza und Elias Canetti. Aichinger war gemeinsam mit ihrer Mutter Berta nach England gereist, um zum ersten Mal seit der erzwungenen Trennung 1939 ihre Zwillingsschwester Helga und ihre Tante Klara Kremer, die ältere Schwester der Mutter, wiederzusehen. Die mit großer Sehnsucht (Ivanovic 2011) erwartete Begegnung schloss zugleich ein Kennenlernen neuer Familienmitglieder ein, denn Helga hatte am 8. Juli 1942 Walter Singer geheiratet und im Juli des darauffolgenden Jahres die gemeinsame Tochter Ruth zur Welt gebracht : ein Wunder angesichts der historischen und familiären Katastrophe des Holocausts (Ivanovic 2018, S. 281 – 283). Wie viele andere Flüchtlinge wohnten Singers nahe Paddington Station (Wild 2021, S. 128). Fußläufig lag das Austrian Center (Westbourne Terrace 124) als wichtigste Anlaufstelle für Emigrant*innen aus dem ehemaligen Österreich außerhalb Hampsteads. In Hampstead wiederum lebten, häufig voneinander getrennt und in wechselnden Wohnungen, der auch als »the godmonster of Hampstead« (Lloyd 2007, S. 119) bezeichnete Elias Canetti und dessen Frau Veza (Hanuschek 2005, S. 353 und 376). Sie waren gemeinsam nach den Novemberpogromen zum Jahreswechsel 1938/1939 von Wien über Paris nach London geflohen (Schedel 2005, S. 196). Während der Kriegsjahre – in der Zeit des »Blitz« genannten Luftkriegs (Veza Canetti 2001, S. 190 – 204, Elias Canetti 2003, S. 191 – 210, Sven Hanuschek 2005, S. 315, Lauer/Wachinger 2006, S. 152 – 153) – hielten sie sich immer wieder in Amersham, Buckinghamshire auf (Hanuschek 2005, S. 321 – 329). Wie häufig sich die Wege des Schriftstellerpaars und der Nachwuchsautorin in diesem kurzen Zeitraum von Dezember 1947 bis März 1948 kreuzten, bevor Elias Canetti Ilse Aichinger zum Abschied im »März 1948« die Widmung »Ilse Aichinger zum Englisch- / lernen. E. C.« in einen englischsprachigen Lyrikband schrieb, ist nicht überliefert (Brogi/Schanz 2016, S. 98, Wild 2021, S. 128 f. und 245 – 253). Begegnet war man sich spätestens im Januar 1948 (Hanuschek 2005, S. 392). Die Gespräche dürften von Literatur, vermutlich auch von Sprachbarrieren gehandelt ha-
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ben. Erhaltene Notizen Elias Canettis sprechen von der großen Faszination, die die Zwillingsschwestern auf ihn ausübten. Sie setzte bereits mit dem Kennenlernen von Helga Singer ein : Eine wird Schauspielerin, die Andre Dichterin ; eine lebt in London, die andere in Wien ; eine heiratet, die andre bleibt Jungfrau ; eine verabscheut alle Religionen, die andre wird streng katholisch. Sie sehen sich noch immer so gleich, dass man sie nur auseinanderhalten kann, wenn sie Englisch sprechen. (Hanuschek 2005, S. 392)
Es liegt auf der Hand, dass sich die Englischkenntnisse der Zwillingsschwestern im Jahr 1947 unterschieden, denn »die eine« war bei ihrer Ankunft im Juli 1939 unwillkürlich in die Sprache ihres Aufnahmelandes eingetaucht. »Ich kann mich auch wunderbar verständigen, ich verstehe beinahe alles und kann auch sehr viel selber sagen« (HA/IA Briefe 2021, S. 25), wusste Helga schon in ihrem allerersten Brief an Schwester und Mutter aus London am 6. Juli 1939 zu berichten im Rekurs auf ein zentrales Thema von Flüchtlingen, die in einem anderssprachigen Land einen Neuanfang versuchen. Elias Canettis Widmung klingt belehrend, ›patronizing‹, ein Eindruck, der dadurch relativiert werden könnte, dass er seinerseits vergeblich um literarische Qualitäten des eigenen Sprechens und Schreibens rang. Zu einem englischsprachigen Autor wurde er nie. Wie es die Auswahl seines Geschenks für Ilse Aichinger nahelegt, war nicht von einem Englischlernen für den Alltagsgebrauch die Rede. Denn der um 16 Jahre ältere Prosaautor, der, unterstützt von seiner Frau, in deutscher Sprache an seinem Hauptwerk Masse und Macht arbeitete, schenkte und widmete der am Beginn ihrer Karriere stehenden Kollegin, die bereits einen Verlag für ihren ersten Roman gefunden hatte (HA/IA Briefe 2021, S. 312), einen Band englischer Lyrik des beginnenden 19. Jahrhunderts : English Verse. Sir Walter Scott to Elizabeth Barrett Browning (Wild 2021, S. 128). Er selbst, der schon in Wien erste literarische Erfolge erzielt hatte, aber vorläufig in England ein unbekannter Autor war, machte mit der englischen Übersetzung von Die Blendung, Auto da Fé, die im Mai 1946 erschienen war und 1947 in dritter Auflage vorlag, weithin von sich reden (Hanuschek 2005, S. 378 f.). Angetrieben wurde er gleichwohl von dem Wunsch, sich stetig zu verbessern. »Ich habe den Ehrgeiz, in späteren Jahren, wenn ich Englisch ganz gemeistert habe und es so schreiben kann wie Deutsch, Spanisch zu schreiben«, bekundete er seinem Bruder Georges im Brustton der Überzeugung am 3. Dezember 1945 (Lauer/Wachinger 2006, S. 164), doch noch 1964 hielt er für sich fest : »Im Lesen und Schreiben bin ich nur deutsch am Leben. Es ist nicht wahr, dass ich mehrere Sprachen habe, in anderen Sprachen bin ich nur dasselbe wie alle Anderen« (Hanuschek 2005, S. 310).
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Englischlernen
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Veza Canetti, die sich nach der Matura im Selbststudium Englisch beigebracht haben soll, das sie bei Verwandtenbesuchen in England zu perfektionieren suchte, ließ nichts unversucht, um ganz in die englische Sprache einzutauchen (Schedel 2005, S. 198 – 199). Bereits 1939 bot sie »commercial correspondance in 3 Sprachen« (Schedel 2005, S. 198) an, wie ein Brief vom 22. September 1939 an Franz Baermann Steiner besagt, erteilte Sprachunterricht und übte konstruktive Kritik, nicht nur an der Übersetzung des Titels von Elias Canettis Roman Die Blendung : Dein Bruder mußte seine Arbeit [an Masse und Macht] unterbrechen und arbeitet hart an der Korrektur der Übersetzung der Blendung. Seine Übersetzerin ist eine bekannte Historikerin und bewundert Deinen Bruder sehr. Aber die Blendung zu übersetzen ist natürlich nicht leicht […]. Du kannst Dir denken, daß ich da auch ein Stück Arbeit hab, denn ich lese die deutsche Fassung, und dann vergleichen wir. (Lauer/Wachinger 2006, S. 129)
Wenige Tage später wurde ihre Kritik noch expliziter : »Abgesehen davon, dass ich die passenden Ausdrücke für seine englische Fassung der ›Blendung‹ finden muß (für die wir keinen englischen Titel finden), halt ich die Raubtiere [Canettis Verehrerinnen und Geliebte] fern« (Lauer/ Wachinger 2006, S. 131). Im selben Brief vom 22. Juli 1945 ging sie auf ihre eigene schriftstellerische Arbeit ein, für die keine Übersetzerin gefunden werden musste, weil sie bereits auf Englisch verfasst war, doch fehlte ein Verlag : »Mein zweites Stück, das ich auf Englisch geschrieben hab, ist beinahe fertig, doch es wird ein paar Monate dauern, bis es in die rechten Hände gelangt und ernsthaft geprüft wird. Es ist eine reizende Komödie, geistreich und scharf« (Lauer/Wachinger 2006, S. 131). Jenes erwähnte Theaterstück muss wie andere der im Exil entstandenen Texte Veza Canettis, für die sich zu ihren Lebzeiten weder Verleger noch Aufführungsort fanden, als verschollen gelten (Lauer/Wachinger 2006, S. 391), und noch 1948, in dem Jahr, in dem sie Ilse Aichinger in London begegnete, bemühte sie sich um einen Übersetzungsauftrag eines Romans ins Englische (Schedel 2005, S. 198). Anlass zur Hoffnung, durch ihre Arbeit als Übersetzerin den Lebensunterhalt bestreiten zu können, dürfte bestanden haben, denn 1948 wurde der von ihr gemeinsam mit Bernhard Zebrowski übersetzte Roman von Graham Greene, The Power and the Glory, bei Heinemann & Zsolnay veröffentlicht (Schedel 2002a, S. 168). Aber ihre Ambitionen, sich als Autorin einen Namen zu machen, könnten 1948/49 für sie selbst bereits in weite Ferne gerückt gewesen sein, nachdem der große Anlauf, den sie mit ihrem ersten Roman genommen hatte, jäh ausgebremst worden war. Gerade briefliche Äußerungen und spätere Erinnerungen aus ihrem persönlichen Umfeld lassen erkennen, wie stark die Londoner Anfangszeit, in die die Niederschrift
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von Veza Canettis einzigem Roman Die Schildkröten fiel, durch den Vorsatz, die in Wien begonnene Laufbahn als Autorin fortzusetzen, geprägt war (Schedel 2005, S. 196 – 204). Anders als noch im Juli 1939 gedacht, fand sich kein englischer Verlag für ihren Roman, von dessen Typoskript sich zwei (nicht identische) Exemplare erhalten haben, und der erst mit einer Verspätung von sechs Jahrzehnten 1999 erschienen ist (Schedel 2002a, S. 162 – 164, Veza Canetti 1999). Seit der posthumen Veröffentlichung von Die gelbe Straße (Veza Canetti ²1990) muss immer wieder die Frage gestellt werden, welche Positionen in diesen den Ärmelkanal überbrückenden Konstellationen der Londoner und Wiener Kultur- und Literaturszene die Autorin Veza Canetti besetzte und dabei doch zur »schreibenden ›Stellvertreterin‹« ihres Mannes wurde (Schedel 2005, S. 200). Das »Schicksal der Nichtbeachtung«, das für Emily Dickinson beschrieben worden ist (Wild 2021, S. 151), mag dazu beigetragen haben, dass sie für Ilse Aichinger, als sich ihre und Ilse Aichingers Wege 1947/48 kreuzten, offenbar nicht primär als Autorin in Erscheinung trat. Dabei hatten beide unter dem Schock der unbegreiflichen Ereignisse in Wien ihre ersten Romane verfasst. Besonders Veza Canettis Briefe an ihren Schwager sprechen von ihrer stetigen gedanklichen Beschäftigung mit den unbegreiflichen Dimensionen der Vernichtung der europäischen Juden, die sie in einem Brief aus dem Zeitraum der Nürnberger Prozesse, sechs Jahre nach ihrer geglückten Flucht, auch mit dem Scheitern ihrer literarischen Laufbahn in Beziehung setzt : Verfolgt von dem Gedanken an mein eigenes Scheitern im Leben (als ich heulte, sagte ich zu Deinem Bruder, ich glaub ihm nicht, was er versprochen hat, daß ich nächstes Jahr in einer Loge sitz und die Aufführung meines Stückes in London erleb, denn ein Mensch, der von seinen Hausfrauen so erniedrigt wurde, kann zu keinen Höhen mehr aufsteigen, dafür gibt’s in der Literatur keine Beispiele), verfolgt von dem Gedanken an einen Haufen verbrannter Leichen in Belsen und an die lebenden Gerippe, die einen Teil der Kadaver fressen, und an Gegenwart und die Zukunft der Welt, seh ich es als eine Ehre an, wenn irgendein Mensch mit mir spricht. (Lauer/Wachinger 2006, S. 160)
So selbstverständlich die Widmung des Buchgeschenks für Ilse Aichinger und die ausschließliche Unterzeichnung seitens Elias Canettis im März 1948 auch anmuten mag, so symptomatisch erscheint in diesem Licht doch (bis heute) die Leerstelle, die den Namen Veza Canetti in dieser Dreierkonstellation umschließt und die darüber hinaus auf die mit vielen anderen Schriftsteller*innen geteilten Erfahrungen des Bedeutungsverlustes im Exil beziehbar ist. Jener mit Bleistiftannotationen versehene, von Canetti erst in England erworbene Gedichtband wechselte aus einer der an unterschiedlichen Standorten aufgestellten
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privaten Londoner Bibliotheken der Canettis im März 1948 in eine viel später entstandene, dem damaligen Umfang nach weit bescheidenere Sammlung in Wien hinüber. Elias Canetti, dessen Bibliotheksroman Die Blendung noch in die Wiener Jahre fällt, war weit mehr als das, was man als einen passionierten Buchsammler bezeichnen könnte, schlossen Gespräche über Literatur für ihn doch immer Fragen ihrer Materialität und Provenienz mit ein. Hierzu gehörte auch die vom Stift in der Hand begleitete Lektüre. So wichtig Bücher in jüdischen Lebenswelten schon vor der Flucht aus Österreich gewesen waren – für die ins Exil Getriebenen und aus dem deutschen Kultur- und Sprachraum Ausgestoßenen besaßen sie eine existenzielle Funktion. Obwohl überlieferte Fotografien Veza und Elias Canetti in Amersham umringt von Büchern zeigen (Schlenker 2009, S. 37 und 140) und damit tradierte Formen intellektuellen und bürgerlichen Buchbesitzes zu aktualisieren scheinen, übernahmen Bücher zu diesem Zeitpunkt bereits eine Funktion als Träger eines geteilten und zugleich gefährdeten Gedächtnisses (Gallas 2013, S. 68 – 76). In unterschiedlichen Zusammenhängen hob auch Veza Canettis Roman Die Schildkröten auf diese, über das Autobiographische hinausgehenden Erfahrungen ab, dass Millionen von Büchern jüdischer Privatpersonen und öffentlicher Institutionen vernichtet, zweckentfremdet oder geraubt worden waren. Die Allerwenigsten konnten ihre Bücher retten, diejenigen, denen es gelang, begaben sich wie der Kritiker Kurt Pinthus buchstäblich in Lebensgefahr (Brogi 2018). Versuche, Buchsammlungen nach dem Krieg wieder aufzufinden, scheiterten mehrheitlich. So verlor der mit Elias und Veza Canetti, aber auch mit Helga Michie und Ilse Aichinger befreundete Holocaust-Überlebende H. G. Adler seine Bibliothek, für deren Bewahrung er zuvor größte Vorkehrungen getroffen hatte, fast vollständig (Brogi/Gallas 2021, S. 289). Angesichts dessen erhält eine briefliche Äußerung Veza Canettis am 27. Januar 1945 über den Umfang ihrer im Exil zusammengetragenen englischsprachigen Bibliothek mit rund 1.500 Titeln ihre eigentliche Kontur. Aspekte des Erwerbs und Austauschs von (englischsprachigen) Büchern, mit denen die Aussicht auf Teilhabe am englischen Literaturbetrieb verbunden zu sein schien, stellten auch später noch über Landesgrenzen hinweg ein stetes Thema der Korrespondenz dar, zwischen Veza (und Elias) Canetti mit dem in Frankreich lebenden Schwager George Canetti (Lauer/ Wachinger 2006, S. 121, 164, 176) sowie innerhalb ihres Londoner Freundeskreises (Brogi/Gallas 2021). Dass Veza Canettis Ehemann, der als einer der manischsten Büchersammler seiner Autorengeneration in die Geschichte eingegangen ist und sich in den ersten Nachkriegsjahren mit Kollegen wie H. G. Adler und Franz Baermann Steiner in stetem Wettbewerb um Bücher befand, für Ilse Aichinger ein Exemplar aus der eigenen Bib-
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liothek herauslöste und ihr zum Geschenk übergab, erscheint vor diesem Hintergrund als Geste von besonderem Gewicht, zumal er das Buch, wie Lektürespuren zu erkennen geben, zuvor selbst gelesen und sich zu eigen gemacht hatte (Wild 2021, S. 310). Ein Buch zu verschenken, war im Umfeld des Mangels an sich schon bedeutsam, aber das dauerhafte Herauslösen eines neu erworbenen Einzelbandes aus einer mehrbändigen Ausgabe hinterließ eine nicht zu schließende Lücke, die in der Londoner Nachlassbibliothek als solche sichtbar geblieben ist. Von den von William Peacock herausgegebenen, 1936 und 1939 erschienenen (insgesamt fünf ) Bänden haben sich darin nur die ersten, ebenfalls Annotationen aufweisenden drei Bände mit den Signaturen CAN 1022, 1023 und 1024 erhalten. Nach dem Erscheinen von Die größere Hoffnung erhielt Elias Canetti aus Wien und mit dem Datum des 10. Jänner 1949 versehen als Gegengabe von Ilse Aichinger ein Widmungsexemplar, das in seiner Sammlung den Anfang einer ganzen Reihe späterer Werke Ilse Aichingers bildet (CAN 274). Dem im Vorjahr gemachten Buchgeschenk getreu, wird lediglich Elias Canetti angesprochen : »Für Elias Canetti mit vielen/ herzlichen Grüßen !« Englisch lernen Schon vor der London-Reise Ilse und Berta Aichingers hatten Helga und Ruth Singer Veza Canetti im Umfeld des Austrian Center kennen- und schätzen gelernt. Veza Canetti war, wie Ruth Rix sich noch mit großem zeitlichen Abstand am 19. Januar 2020 erinnern sollte, dafür bekannt, kinderlieb zu sein, und so hatte sie Ruth bisweilen gehütet. Offenbar standen Literatur und Lektüre im Mittelpunkt der gemeinsam verbrachten Stunden : »Veza mostly read stories to me, she was very good with children. My mother introduced Ilse to Veza and Elias Canetti, as Ilse introduced my mother to her friends in Vienna and Germany« (Wild 2021, S. 325). Auch bei der aus Wien angereisten Ilse Aichinger hinterließ das Kennenlernen der um 24 Jahre Älteren einen bleibenden Eindruck. Zu erforschen bleibt jedoch, ob Ilse Aichinger damals auch nur ansatzweise etwas über Veza Canettis unveröffentlicht gebliebenen Wien-Roman erfahren hatte oder ob ihr Austausch über Literatur eher mit anderen Personen stattfand. Die Nachricht vom Tod Veza Canettis am 1. Mai 1963 ging Ilse Aichinger, wie aus einem am 11. Juni geschriebenen Brief an Klara Kremer deutlich wird, sehr nah : »Obwohl ich sie nur zweimal und das vor langer Zeit gesehen habe, hat mich Veza Canettis Tod sehr erschüttert« (Wild 2021, S. 325). In der dazwischenliegenden ›langen Zeit‹ waren von Ilse Aichinger unter anderem der Erzählband Rede unter dem Galgen (1952) und das Hörspiel Knöpfe (1954) mit ihren so
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wichtigen England-Bezügen publiziert worden, sowie eine von der Autorin bearbeitete Neuauflage ihres Romans Die größere Hoffnung und dessen englische Übersetzung Herod’s Children (1963) (Görner/Ivanovic/Shindo 2011, Wild 2021, S. 157 – 158). Ilse Aichinger hatte an Treffen der Gruppe 47 teilgenommen und war 1952 mit dem Preis der Gruppe ausgezeichnet worden. Mit ihrer Heirat am 24. Juni 1953 gründeten Günter Eich und sie eine eigene Familie : Am 22. Mai 1954 kamen der Sohn Clemens und am 1. Januar 1957 die Tochter Mirjam zur Welt. Im selben Sommer 1963, in dem Veza Canetti starb, stand nicht nur der Umzug der Familie Aichinger – Eich nach Großgmain bevor, sondern auch Ilse Aichingers Veröffentlichung mit dem sprechenden Titel Wo ich wohne (Markus/Berbig 2007, S. 105 – 108). Dieser kontinuierlichen, nach außen gleichwohl leisen Entwicklung ihres literarischen Œuvres stand zwischen 1932 und 1963 jenes für die Mehrheit der Außenstehenden verborgene beziehungsweise vom engsten Umfeld in Kauf genommene persönliche In-die-Defensive-Geraten von Veza Canetti entgegen, der bittere Abschied davon, einen Verleger und Anerkennung als Schriftstellerin zu finden. Die anfänglich rasche Abfolge früher Veröffentlichungen war mit dem Exil an ein abruptes Ende gelangt (Schedel 2005, S. 193 – 196). Durch Briefe, Besitzvermerke (wie sie sich in Büchern der Nachlassbibliotheken finden lassen) und Widmungsexemplare deutet sich an, dass Veza Canetti keine unwesentlichen Positionen innerhalb des literarischen Feldes zwischen Wien und London, London und Wien besetzte, aber dass ihrem Werk die notwendige Förderung zu ihren Lebzeiten verwehrt blieb und erst lange nach ihrem Tod einsetzte (Schedel 2002b, S. 83). Zu den wenigen, die bereits damals die Qualitäten ihres Schreibens profund und ausführlich zu würdigen wussten, gehörte H. G. Adler, dessen briefliche, auf Veza Canettis Theaterstück Der Oger bezogene Analysen vom 5. Juni 1950 keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er den Platz der Verfasserin weit vorne sah : Ich habe nun freilich den schönen Vorteil für mich, Sie zu kennen, aber ich glaube nicht, daß dies notwendig sein sollte, um sich mit Ihrem Stück anzufreunden, denn jede handelnde Person, jede Situation, kurz, das ganze Stück spricht für sich selbst, und wer Sie kennt, begreift nur umso besser, wie Humor, Moral, soziales Mitgefühl und Ihre gesamte Lebensauffassung sich ungeziert und phrasenlos in diesem dramatischem [!] Aufbau spiegeln. (Adler 2005, S. 211 – 215, hier S. 211)
Es lässt sich vermuten, dass Aspekte der Konzeption ihres Wien-Romans Die Schildkröten acht Jahre nach der Niederschrift kein Gesprächsthema mehr zwischen den Kolleginnen Veza Canetti und Ilse Aichinger bei ihrem Kennenlernen gespielt haben dürften, weil die Chance auf eine Veröffentlichung vergeben schien. Dabei teilten beide
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Texte den Anspruch einer literarischen Darstellung jener schrittweisen Ausgrenzung, Erniedrigung und Entrechtung, der sprachlichen, psychischen und körperlichen Gewalt, die sich um 1938 mit unvergleichlicher Dynamik entwickelt hatte (Rochus 2013, S. 270). Der Roman Die Schildkröten war wie Die größere Hoffnung unter dem Einfluss dieses unmittelbaren Erlebens entstanden und zeigte das Entkommen in allerletzter Minute als Folge einer Kette von Zufällen – und das Überleben damit als Ausnahme. In diesen zeitnahen, einen eigenen Ton und eine eigene Darstellungsform findenden literarischen Behandlungen der Verfolgung und der Vernichtung der Juden in Wien begegnen sich die beiden Romane von zwei Autorinnen aufeinanderfolgender Generationen, denen es gelingt, die Wirklichkeit mit den Mitteln der Sprache zu kontern. Indem beide Texte einen Bogen zur englischen Sprache schlagen, enthüllen sie einen subversiven Zug ihrer Poetik. So zeigt das letzte Kapitel des ersten Teils von Die Schildkröten eine Verwandlung der Figur Ruth in dem Moment, in dem die Ausreise, die als Auszug erscheint, zur Realität wird. Ohne Bedauern und mit neuem Selbstbewusstsein lässt das Kind die frühere Gartenidylle, die das Zentrum des ersten Teils bildet, zurück : »Denn sie kommt auf ein großes Schiff ins Meer hinaus und in ein weites Land, der Vater ist dort Gärtner und wird Bäume pflanzen, und sie wird durch den ganzen Garten laufen, und niemand wird rufen : Ruthchen, du mußt jetzt Sarah heißen !« (Veza Canetti 1999, S. 142). Ihrem sich gegen die von den anderen Kindern verfochtene Ideologie sträubenden Spielgefährten Horst stellt sie in Aussicht, ihr zum Zeitpunkt des Erwachsenseins, wenn er für sich selbst zu entscheiden vermag, in die Freiheit nachfolgen zu können : »Du mußt Englisch lernen«, sagt sie noch zu Horst, »denn wenn ich jetzt in die neue Welt komme, kann ich Englisch und werde einen englischen Brief schreiben.« »Kann man da gleich Englisch ?« fragt Horst. Aber sie hört es nicht mehr. Sie läuft mit heißen Wangen und zitternd vor Glück davon. Ihr Haar brannte wie Feuer. (Veza Canetti 1999, S. 143)
Auch für Eva im Zentrum des Romans stellt die Verwendung der englischen Sprache das Mittel dar, um dem Geltungsbereich des herrschenden Machtapparats, aus dem es nach menschlichem Ermessen kein Entkommen gibt, zu entfliehen. Gezwungen, Haus und Garten zu verlassen, weigert Eva sich doch, mit Trauer zurückzublicken : »Ich werde nicht ›des Sommers letzte Rose‹ singen, und wenn ich’s sing, dann englisch‹, sagte sie mit harten Worten« (Veza Canetti 1999, S. 144). Im Unterschied zu diesem noch vor dem Krieg verfassten Roman setzt das Geschehen des ersten Kapitels von Die größere Hoffnung in der Nacht vor dessen Ausbruch ein. Jegliche Aussicht auf ein reguläres Visum, wie Ellen es am Textbeginn mit allen
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ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu erringen sucht, ist damit vereitelt. Dass gerade die vollkommene Aussichtslosigkeit, fliehen zu können, das Lernen des Englischen nur umso notwendiger werden lässt, lenkt zum Zentrum des titelgebenden Konzepts der »größeren Hoffnung«. Ein im Regen verlorenes Vokabelheft führt im Kapitel »Im Dienst einer fremden Macht« eine Horde jugendlicher Verfolger auf die Fährte derjenigen Kinder, die – allen Verboten, Erfahrungen und Aussichtslosigkeiten zum Trotz – Englisch lernen. Selbst das Vokabelheft scheint das spätere Schicksal der Kinder vorwegzunehmen : »Die dritte Seite war aufgeschlagen und auf der dritten Seite stand, verwischt wie von Tränen : ›Ich werde liegen – du wirst liegen – er wird liegen – sie werden liegen –‹ Und daneben die Übersetzung« (GrH 1948, S. 116). Einig sind sich die Häscher darin, dass das Heft denen gehören muss, die »keine Uniform tragen« – »Den andern !« –, und sie wollen nicht begreifen, wie diese angesichts der ausweglosen Lage im Krieg so unwissend oder naiv sein können, am Lernen der Sprache eines unerreichbaren Landes festzuhalten : Und die Kinder da oben ? Die ohne Uniform ? Lernen englisch ! Mitten im Krieg lernen sie englisch. »Wissen sie es noch nicht ?« »Keines von ihnen wird auswandern !« »Liegen werden sie, daß wir nicht liegen müssen !« »Wissen sie es noch nicht ?« »Englisch, sie lernen englisch !« »Weshalb lernt man englisch, wenn man sterben muß ?« (GrH 1948, S. 117)
Noch in ihrem Spätwerk wird das Besondere der englischen Sprache für Ilse Aichinger hervortreten, wie die mit ihr gegebenen Möglichkeiten des Kreuzens und Querens von Sprachgrenzen (Wild 2021, S. 82 – 164, 310). Aber auch frühe Erlebnisse und Begegnungen ihrer ersten London-Reisen blitzen für Augenblicke in der Textwirklichkeit auf. So werden in ihrer Glosse »Canetti im nassen englischen Wind«, deren Schlusssatz den Bogen zum Buchtitel Unglaubwürdige Reisen schlägt, den Autoren der ersten London-Reise, Elias Canetti und Erich Fried, durchaus ambivalente Auftritte gewährt. Hinein in die Erinnerung an Namen der Londoner Familienangehörigen, der Figuren Jane, Joan und June aus Knöpfe, an Adressen und englische Äußerungen (»Couldn’t care less«, »Perfect« und »Just for a moment I thought, you were mummy«) betreten Canetti und Fried wiederholt die Bildfläche des Jahres 1948. Während der eine in die winzige Wohnung der Schwester über Paddington Station ›vorstieß‹, tauchte der andere öfter plötzlich in Aunties Viertel Golders Green auf, »aus dem nassen Wind heraus, der durch die Holztüren pfiff : Ruths Stirnfransen brachte das in Gefahr, aber
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die Glaubwürdigkeit nicht« (UR 2005, S. 74 – 75, hier S. 75). Im Kaffeehaus schreibend, Papiergründe wählend, wie sie ihr gerade in die Hände fielen, hatte Ilse Aichinger ihren Platz, der allen Verfolgten in Abrede gestellt worden war, zum Zeitpunkt der ersten Niederschrift am 22. November 2002 längst wieder besetzt. Aber auch inhaltlich machte sie Gebrauch von jenem Spielraum, über den allein die Literatur verfügt und von dem Veza Canetti in Die Schildkröten weiß : »Warum gibst du die Menschen verloren ? Ändere sie, du hast das Zepter in der Hand, den Bleistift !« (Veza Canetti 1999, S. 226). Vielleicht setzte Ilse Aichinger in diesem Sinne mit der Zusendung eines Exemplars der Erstausgabe von Die größere Hoffnung an Elias Canetti ein subtiles, tief im Text verborgenes Zeichen, dass das Überlebensnotwendige des Englischlernens nicht an postalische und reale Grenzen gebunden ist. Literatur Adler, H. G. (2005) : Brief an Veza Canetti vom 5. Juni 1950, in : Spörk, Ingrid/Alexandra Strohmaier (Hgg.), Veza Canetti (Dossier 24), Wien, S. 211 – 215. Aichinger, Ilse (GrH 1948) : Die größere Hoffnung, Amsterdam. Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse und Helga Aichinger (HA/IA Briefe 2021) : »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe«. Helga und Ilse Aichinger. Briefwechsel zwischen Wien und London 1939 – 1947. Hg. Nikola Herweg. Wien 2021 Brogi, Susanna/Magdalena Schanz (Hg.) (2016) : Die Gabe / The Gift. Schmuckstücke der Marbacher Sammlungen, Marbach. Brogi, Susanna/Elisabeth Gallas (2021) : Das »Etwas nach dem Nichts«. Marie-Louise von Motesiczkys Gemälde »Gespräch in der Bibliothek«, IASL, S. 283 – 299. Brogi, Susanna (2018) : Transitzone »Exil«. Kurt Pinthus’ Autorenbibliothek zwischen bibliophiler Repräsentation und politischer Zeugenschaft, in : Gleixner, Ulrike/Constanze Münkner/Hole Rößler (Hg.) : Biographien des Buches, Göttingen, S. 285 – 310. Canetti, Elias (2003) : Party im Blitz. Die englischen Jahre, München. Canetti, Veza (1990) : Die gelbe Straße. Roman, mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel, München, Wien, 2. Auflage. Canetti, Veza (1999) : Die Schildkröten. Roman, München, Wien. Canetti, Veza (2001) : Der Fund. Erzählungen und Stücke, München, Wien. Gallas, Elisabeth (2013) : »Das Leichenhaus der Bücher«. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen. Hanuschek, Sven (2005) : Elias Canetti. Biographie, München, Wien. Ivanovic, Christine (2011) : Nach England ! Zur Geschichte einer Sehnsucht, in : Görner, Rü-
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diger/Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hg.) (2011) : Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England, mit einem Erinnerungstext von Ruth Rix und einer Erzählung von Peter Waterhouse, Würzburg. Ivanovic, Christine (2018) : Künstlerin aus dem englischen Exil/ Artist from British Exile, in : Christine Ivanovic (Hg.), I am Beginning to Want What I Am. Helga Michie Werke / Works 1968 – 1985, Wien, S. 278 – 298. Katalog der Canetti-Bibliothek in London (Zentralbibliothek Zürich) : https://www. zbcollections.ch/home/view/pdf.html ?file=https%3A%2F%2Fwww.zbcollections. ch%2Fhome%2Fapi%2FFile%2FGetFile%2F%3Fid%3Dad3e74c69c44482e8897731e0b2 62c16-29057%26version%3D1%26rendition%3DOriginal%26fileName%3DKatalog_der_ Canetti-Bibliothek_in_London.pdf&app=starclient [Stand : 29.04.2023]. Lauer, Karen/Kristian Wachinger (Hg.) (2006) : Veza und Elias Canetti. Briefe an Georges, München, Wien. Lloyd, Jill (2007) : The Undiscovered Expressionist. A Life of Marie-Louise von Motesiczky, New Haven und London. Markus, Hannah/Roland Berbig (2007) : Vita Ilse Aichinger, in : Roland Berbig (Gastredaktion), Ilse Aichinger (Text + Kritik 175), München, S. 104 – 111. Rochus, Gerhild : Veza Canetti : »Die Schildkröten« (1999), in : Bannasch, Bettina/Rochus, Gerhild (Hg.) : Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur von Heinrich Heine bis Herta Müller, Berlin/Boston 2013, S. 270 – 277. Schedel, Angelika (2002a) : Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien, Würzburg. Schedel, Angelika (2002b) : Vita Veza Canetti, in : Helmut Göbel (Gastredaktion), Veza Canetti (Text + Kritik 156), München, S. 95 – 104. Schedel, Angelika (2005) : »Buch ist von mir keines erschienen …« Veza Canetti verliert ihr Werk und hilft einem Dichter zu überleben, in : Spörk, Ingrid/Alexandra Strohmaier (Hg.), Veza Canetti (Dossier 24), Wien, S. 191 – 210. Schlenker, Ines (2009) : Marie-Louise von Motesiczky 1906 – 1996, A Catalogue Raisonné of the Paintings, with a Selection of Drawings, London. Wild, Thomas (2021) : ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger, Frank furt/M.
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Christine Frank
Im Schreiben weiter leben Drei Generationen weiblicher Holocaust-Überlebender aus Wien im Jahr 1988 : Hilde Spiel, Ilse Aichinger, Ruth Klüger Die österreichische Schriftstellerin Ruth Klüger hat einmal einen fabelhaften Satz geschrieben : »Wien ist die Stadt, aus der mir die Flucht nicht gelang.« (Aichinger Interviews 2011, S. 107 ; Klüger 2006, S. 101)
Hilde Spiel, Ilse Aichinger und Ruth Klüger sind auf je andere Weise der von den Nationalsozialisten betriebenen Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung, Internierung und tödlichen Bedrohung von Menschen jüdischer Herkunft ausgesetzt gewesen. Dementsprechend unterschiedlich verlief ihr ganzes Leben. Unterschiedlich entwickelte sich auch ihr Schreiben. Und unterschiedlich war und ist der öffentliche Umgang mit ihnen und ihrem Werk. Nur jeweils zehn Jahre trennen die in Wien geborenen Autorinnen voneinander – Hilde Spiel wurde am 19. Oktober 1911, Ilse Aichinger am 1. November 1921 und Ruth Klüger am 30. Oktober 1931 geboren –, und dennoch repräsentieren sie drei verschiedene Generationen österreichischer Nachkriegsliteratur. Hilde Spiel besuchte die renommierte Privatschule von Eugenie Schwarzwald und schloss 1936 ihr Studium der Philosophie an der Universität Wien mit dem Doktorat ab. Noch im selben Jahr – kurz nachdem ihr akademischer Lehrer Moritz Schlick auf einer der Stiegen des Universitätshauptgebäudes Opfer eines antisemitischen Anschlags wurde – emigrierte sie mit ihrem Mann Peter de Mendelssohn nach London. 1941 wurde Spiel britische Staatsbürgerin. Schon vor der Emigration hatte sie zwei Romane veröffentlicht ; in England erschienen Erzählungen von ihr in englischen Übersetzungen. Sie arbeitete als Essayistin, Übersetzerin und Theaterkritikerin für englische und (nach Kriegsende) deutschsprachige Medien. Nach dem Krieg machte sie mehrere Versuche, sich in Österreich oder in Deutschland anzusiedeln ; 1963 remigrierte sie endgültig nach Österreich. Von 1966 bis 1971 agierte Hilde Spiel als Generalsekretärin des österreichischen P.E.N.-Clubs. Die vielfach ausgezeichnete und immer wieder als »Grande Dame« der österreichischen Nachkriegsliteratur gewürdigte Autorin verstarb 1990 in Wien. Ihr zwischen 1933 und 1992 in Wien und an verschiedenen Verlagsorten in Deutschland erschienenes literarisches Werk umfasst mehr als 30 Bände mit Texten oder Textanthologien unterschiedlicher Gattungen, von
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Im Schreiben weiter leben
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der Reportage über den Roman bis zum Theaterstück, die vielen Bände mit Übersetzungen aus dem Englischen nicht eingerechnet. Ilse Aichinger hingegen konnte während der Zeit der Naziherrschaft nicht mehr studieren. Nur wenige Monate vor Kriegsbeginn legte sie die Matura an einem der letzten Gymnasien in Wien ab, die nach den Rassengesetzen als ›Mischlinge‹ klassifizierte Schülerinnen noch unterrichteten, nachdem die Privatschule der Ursulinen, die sie zuvor besucht hatte, von den Nazis im Herbst 1938 geschlossen worden war. Die Zwillingsschwester Helga emigrierte am 4. Juli 1939 mit einem der letzten Kindertransporte nach England. Ilse Aichinger selbst blieb in der Stadt zurück und überlebte die Zeit der Verfolgungen und des Krieges gemeinsam mit ihrer jüdischen Mutter, die schon mit dem sogenannten ›Anschluss‹ ihr Wohn- und Arbeitsrecht verloren hatte (sie war zuvor als Ärztin im Dienste der Stadt Wien tätig gewesen). Am 6. Mai 1942 musste Aichinger mitansehen, wie ihre jüdischen Verwandten – Großmutter, Onkel und Tante – zusammen mit unzähligen anderen jüdischen Wienern auf Lastwagen über die Schwedenbrücke zu den Deportationszügen transportiert wurden. Bis lange nach Kriegsende erfuhr sie nichts Definitives über deren weiteres Schicksal. Aichingers Verwandte wurden wie die übrigen damals aus Wien Deportierten nur wenig später in Maly Trostinec bei Minsk erschossen. Während des Krieges war Aichinger zum Arbeitsdienst zwangsverpflichtet. Gleich nach Kriegsende begann sie erste Texte in Zeitungen zu veröffentlichen und ihren Roman Die größere Hoffnung niederzuschreiben, der 1948 im Verlag Bermann Fischer/Querido erschien. Mit Aichinger »begann«, so ein berühmtes Diktum von Hans Weigel, die österreichische Nachkriegsliteratur (Weigel 1967, S. 25). Zu Beginn der 1950er Jahre verließ Aichinger Wien und lebte lange Zeit in Deutschland (zwischen 1963 und 1984 in Großgmain im Salzburger Land), bevor sie 1988 nach Wien zurückkehrte, wo sie 2016 verstorben ist. Aichingers nahezu alle literarischen Gattungen umfassendes Werk erschien zu ihrem 70. Geburtstag im Jahr 1991, gesammelt in acht Bänden. Nach ihrer Rückkehr nach Wien verfasste die hochbetagte Autorin darüber hinaus noch ein bemerkenswertes Spätwerk, das zwischen 2001 und 2006 in mehreren Bänden erschien und vor allem als »Erinnerungsprojekt« (Fässler 2011, S. 178, 261) rezipiert wird. Es verschaffte der bis dahin eher zurückgezogen lebenden Aichinger wieder größere öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. In den einschlägigen Literaturgeschichten werden allerdings nur die Werke der frühen Nachkriegsepoche berücksichtigt (Aufruf zum Mißtrauen ; Die größere Hoffnung ; Erzählungen aus dem Band Der Gefesselte). In der von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel 1992 herausgegebenen Darstellung zur Gegenwartsliteratur seit 1968 findet Aichinger, die in dem Berichtszeitraum sechs Bücher mit Texten aus verschiedenen Gattungen veröffentlicht hatte, nur marginale Erwähnung ; in Wendelin Schmidt-Denglers Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1990 bis 2008 bleibt Ai-
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chinger mit ihrem Spätwerk gänzlich unberücksichtigt ; hier wird sie nur als Referenz für Andrea Winkler erwähnt (vgl. u. a. Briegleb/Weigel 1992, S. 47, 250f., 699 ; Schmidt-Dengler 1995, S. 34f., 46 – 51 ; Schmidt-Dengler 2012, S. 213 ; Zeyringer/ Gollner 2012, S. 621 – 622 ; Kriegleder 2018, S. 464 – 466). Noch brutaler als Hilde Spiel und Ilse Aichinger erfuhr Ruth Klüger die Konsequenzen der Nazigesetzgebung. Als jüngste der drei Autorinnen konnte sie nicht einmal mehr die Schule beenden. Ihr Vater floh kurz nach dem sogenannten ›Anschluss‹ nach Frankreich, wurde aber von dort aus nach Riga deportiert und 1944 ermordet, ebenso wie ihr in Prag lebender Halbbruder. Ruth Klüger wurde gemeinsam mit ihrer Mutter 1942 im Alter von elf Jahren ins Konzentrationslager Theresienstadt verbracht, von dort nach Auschwitz-Birkenau und schließlich nach Christianstadt, ein Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen. Erst kurz vor Kriegsende gelang ihnen die Flucht. Sie blieben zunächst im amerikanisch besetzten Bayern, wo Klüger 1946 mit fünfzehn Jahren das Notabitur machte und ein Studium an der Universität Regensburg aufnahm. Ein Jahr später emigrierte sie mit ihrer Mutter in die USA. Dort wurde Klüger unter ihrem Ehenamen Ruth K. Angress eine anerkannte Professorin für Germanistik, die zuletzt an der Universität Princeton und der UC Irvine wirkte. Seit 1988 war sie auch als Gastprofessorin an der Universität Göttingen tätig. Erst nach einem dort erlittenen schweren Verkehrsunfall begann Klüger in Göttingen die Geschichte ihrer Kindheit aufzuschreiben, die 1992 erschien, als sie bereits 60 Jahre alt war. Ihr literarisches Werk umfasst ihre Autobiographie (1992 und 2008) sowie Gedichte (2013 und 2018). Klüger publizierte den ersten Band ihrer Autobiographie zunächst im Göttinger Wallstein Verlag ; weitere Titel kamen bei Zsolnay in Wien heraus. In ihren späteren Lebensjahren lebte die Autorin abwechselnd in den USA und in Deutschland, nie mehr jedoch in Österreich. Seit 1997 erhielt Klüger aber auch hier hohe Auszeichnungen, zunächst den Österreichischen Staatspreis für Literaturkritik und zuletzt den Paul-Watzlawick-Ehrenring und die Ehrendoktorwürde der Universität Wien, beide im Jahr 2015. Über das schwierige Verhältnis zwischen Ruth Klüger und Wien, wohin die Autorin mehrfach als Vortragende der renommierten Reihe »Wiener Vorlesungen« eingeladen war, reflektieren anlässlich der Preisverleihungen Hubert Christian Ehalt, Konstanze Fliedl und Daniela Strigl in dem gleichnamigen Bändchen aus der Reihe der Wiener Vorlesungen (Ehalt/Fliedl/Strigl 2016). Klüger ist 2020 in Irvine verstorben. Ilse Aichinger bezeichnete Ruth Klüger bereits 1996 ohne Zögern als »österreichische Schriftstellerin« (Interviews 2011, S. 107). Klüger selbst betonte : […] was immer ihr denken mögt, ich komme nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien. Wien läßt sich nicht abstreifen, man hört es an der Sprache, doch Auschwitz war mir so
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wesensfremd wie der Mond. Wien ist ein Teil meiner Hirnstruktur und spricht aus mir, während Auschwitz der abwegigste Ort war, den ich je betrat, und die Erinnerung daran bleibt ein Fremdkörper in der Seele […] (Klüger 1992, S. 138)
Der traumatisch-existenzielle Bezug zu Wien, die Sprache Wiens und die hier erlebte Geschichte verbinden die drei Autorinnen, unterscheiden sie aber auch in hohem Maße. Während Hilde Spiel nach drei Jahrzehnten aus der Emigration zurückkehrte und in Österreich wieder heimisch zu werden versuchte, verließ Ilse Aichinger die Stadt zu Beginn der 1950er Jahre und kam erst 1988, fünfzig Jahre nach dem sogenannten ›Anschluss‹ wieder hierher zurück. Abgesehen von ihrem Roman hat sie ihr literarisches Hauptwerk jenseits von Wien geschaffen, während sie sich mit ihrem Spätwerk expliziter als je zuvor der Stadt und ihrer Geschichte buchstäblich aussetzte – im Akt des Schreibens an öffentlichen Orten, im Caféhaus, wie auch als Flaneurin, Kinogängerin und kritische Beobachterin der alltäglichen Wiener Gegenwart. Allein Ruth Klüger, die ab 1988 immer wieder für längere Zeit auch in Göttingen lebte, ist nur besuchsweise nach Wien zurückgekehrt. Ein Vergleich der drei Autorinnen gelangt schnell an seine Grenzen, zumal die Lagerhaft von Ruth Klüger ihre Lebenserfahrungen jeder Vergleichbarkeit enthebt (vgl. jedoch Fässler, die den autobiographischen Ansatz Aichingers in Film und Verhängnis mit Klügers weiter leben als zeitgenössischem »Referenztext« vergleicht ; 2011, S. 259 – 260). Bei allen dreien entwickelte sich ihr Schreiben in Entsprechung zu ihrer Lebensgeschichte anders ; bei allen dreien war die Resonanz auf ihre Erscheinung im deutschsprachigen Literaturbetrieb – in Österreich wie in Deutschland – eine je andere. Und doch sind alle drei Überlebende jener Ereignisse, die seit Ende der 1970er Jahre unter dem Begriff »Holocaust« subsumiert werden. Alle drei waren aufgrund der Nürnberger Rassengesetze Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt, alle drei haben nahe Verwandte infolge der Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten verloren, alle drei sahen sich nicht erst nach Kriegsende mit der Frage konfrontiert, wie »weiter leben«. Für Ruth Klüger hatte diese Frage allerdings einen anderen Sinn als für Ilse Aichinger und Hilde Spiel. Es war angesichts der massiven Lebensbedrohung, der sie jahrelang ausgesetzt war, der bewusst angenommene Imperativ, unter dem seit der frühen Kindheit ihr gesamtes Leben stand : du musst weiter leben. Ilse Aichinger hingegen hätte schon die Frage nach dem Geborenwerden gerne selbst entschieden. Vor allem in ihren späten Texten und Interviews beklagt sie sich immer wieder, dass man »nicht gefragt« werde, ob man leben oder sterben will, und nennt »die ganze Biologie eine terroristische Überlebensstrategie« (Interviews 2011, S. 111). Spätestens seit dem Verlust ihrer Angehörigen antizipiert sie in ihren Texten immer wieder den eigenen Tod als Möglichkeit, die definitive Trennung von den Ermordeten, nach denen sie
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sich sehnt, zu überwinden, so etwa in dem Gedicht »Widmung«, das so beginnt : »Ich schreibe euch keine Briefe / aber es wäre mir leicht, mit euch zu sterben«, und das mit den Zeilen endet : »[…] das arme Gewimmel der Sterne, das / wir so leicht überschritten, / in eurem Himmel bei euch« (VR 1991, S. 18). Ob mit den Angesprochenen dieser »Widmung« tatsächlich die Toten gemeint sind, mag infrage gestellt werden. Wenn man es aber im Kontext des »Holocaust« liest, macht das Gedicht mehr betroffen als jedes Mahnmal. 1 und 2 : Die Krankheit Exil Hilde Spiel war im Gegensatz zu Ilse Aichinger und Ruth Klüger die Flucht aus Wien nach England 1936 gelungen, frühzeitig genug, um den sogenannten ›Anschluss‹ und dessen Folgen nicht am eigenen Leib zu erfahren ; frühzeitig genug, um sich aus Überzeugung für die Emigration entscheiden zu können und die Ankunft im anderssprachigen Land proaktiv zu gestalten : »Spiel and her husband were intent on integration, and they worked quickly to reorient their writing careers toward England« (Hope Herzog 2011, S. 205). Während ihrer Jahre im Exil publiziert Spiel auf Englisch und ist besonders stolz, als ein Beitrag von ihr über den französischen Klassiker der Moderne, Le Grand Meaulnes (1913), in The New Statesman erscheint : »Heute hielt ich mit Alain-Fournier Einzug in den Statesman«, notiert sie am 11. August 1944 in ihr Tagebuch (Spiel 1989, S. 189). Erst nach Kriegsende, als sie nach Österreich zurückzukehren versucht, beginnt sie in mehreren ihrer Werke die eigene Exilerfahrung zu reflektieren. Die »Krankheit Exil« (Spiel 1976, S. 31) wird zur bestimmenden Größe ihrer literarischen Texte wie ihrer Erinnerungsprosa. Als ein Kunstkritiker in angetrunkenem Zustand sie und ihren »Freundfeind« Friedrich Torberg als »zwei hinausgeworfene Juden« bezeichnet, die sich »›am Grabe eines Nazis‹ (Heimito von Doderer) versöhnt hätten«, ist sie empört : »Welche Pein, derart rüde festgenagelt zu werden auf eine Zugehörigkeit, eine Zusammengehörigkeit, die nur in der Fiktion der Nürnberger Rassengesetze bestand !« (ebd., S. 7). Dass diese absurde Klassifikation Millionen in den Tod geführt hatte, war allerdings noch viel ›peinlicher‹, schmerzvoller, katastrophaler als die merkwürdigen Konstellationen im österreichischen Nachkriegsliteraturbetrieb. Spiel wehrte sich intuitiv gegen die Vorstellung, sich selbst als potenzielles Opfer des »Holocaust« und damit als Überlebende zu sehen (Hope Herzog 2011, S. 204). So sind auch die Werke, mit denen sie sich seit ihrer Rückkehr nach Österreich zu positionieren suchte, keine Texte, in denen sie sich explizit mit der Geschichte der Vernichtung der Juden auseinandersetzt ; stattdessen fokussiert sie auf die Erfahrungen des Exils und des Krieges. Wie wenig Spiel bereit oder in der Lage war, die Situation derer
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wahrzunehmen, die den Terror in Wien erfahren hatten, zeigt beispielhaft ihre Rezension von Ilse Aichingers Gedichtband Verschenkter Rat, der 1978, zwei Jahre nach ihrem letzten großen Prosabuch Schlechte Wörter, herauskam. Letztgenanntes Buch hatte das Vertrauen in die Schreibweise Aichingers bei einigen Vertretern des deutschsprachigen Literaturbetriebs tief erschüttert, so auch bei Hilde Spiel. Sie kann nicht umhin, so bekennt sie, in der Rezension des Gedichtbands zunächst darzulegen, inwiefern sie die Entwicklung von Aichingers Prosasprache für bedenklich hält und dass sie sich von dieser, »Aichingers obskurster und unzugänglichster Prosa«, »so kalt, so sehr im Stich gelassen« fühle (Spiel 2003, S. 305). Im Rückblick auf ihre Leseerfahrung mit Schlechte Wörter rezensiert Hilde Spiel nun Aichingers Gedichtband mit dem Gestus der Erleichterung. Im Gegensatz zu jenem Buch konstatiert sie »eine Fülle makelloser Sprachgebilde von einheitlicher Substanz und Konsistenz« (ebd.) ; Aichinger verharre hier »in einer Schlichtheit, einer Geschlossenheit, die etwas Zeitloses, Überzeitliches hat« (ebd., S. 306). Dass gerade die Kategorie »Zeit« in ihrem akuten, existenziellen wie in ihrem historischen Sinne einer der zentralen Bezugspunkte der Gedichte dieses Bandes – explizit wie implizit – ist, entgeht der Rezensentin. Sie meint (am Beispiel des Gedichts »Hochzeitszug« [Hervorhebung C. F.]) : »es hätte jetzt wie vor dreißig Jahren verfaßt worden sein können, als Ilse Aichinger mit einer berückend arglosen – und heute noch unverminderten – Mädchenhaftigkeit auf die Szene trat« (ebd.). Abschließend äußert sie »die Hoffnung«, Aichinger möge »die labyrinthenen Wege [der Prosa der Schlechten Wörter] wieder verlassen und aus ihrem eigenen Wesensgrund die herzzerreißende Gelassenheit schöpfen […], aus der, unter anderen, das Gedicht Abgezählt entstand« (ebd., S. 307). Besonders ergriffen ist Spiel von dem (oben von mir angeführten und bei Spiel in Gänze zitierten) Gedicht »Widmung«, »in dem eine so kühne wie eindringliche Vision den Übergang zum Tod durch einen Gang in den kosmischen Raum enthüllt« (ebd., S. 305 ; vgl. dazu auch ihre Interpretation in der Frankfurter Anthologie, Spiel 1979). Hilde Spiels – aus heutiger Sicht – nahezu vollständiges Verkennen von Form und Gehalt sowohl der Prosa wie auch der Lyrik Aichingers erscheint paradigmatisch für eine Haltung führender Vertreter:innen des österreichischen Literaturbetriebs der ersten Jahrzehnte nach Kriegsende, die das, wovon Aichingers Texte sprechen, nicht wahrnehmen wollten oder konnten. 1948 war Aichinger mit dem keinesfalls arglosen Roman Die größere Hoffnung auf die Szene getreten, nachdem sie zwei Jahre zuvor öffentlich dazu aufgerufen hatte, »mißtrauisch gegen uns selbst [zu werden], um vertrauenswürdiger zu sein« (AuzMi 2021, S. 22). Der Autorin der Schlechten Wörter 1978 eine immer »noch unverminderte […] Mädchenhaftigkeit« zuzuschreiben, erinnert eher an die Diktion männlicher Autoren der Generation von Hans Weigel, als an die Position weiblicher Autorinnen fünf Jahre nach dem Tod Ingeborg Bachmanns.
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Das Werk von Hilde Spiel wird in jüngeren literaturgeschichtlichen Darstellungen nur noch am Rande erwähnt, wobei auch ihre nicht unbedeutende Rolle als Funktionärin im österreichischen Literaturbetrieb der 1960er und 1970er Jahre unterdessen eher an den Rand gerückt wird. Deutlich mehr Aufmerksamkeit gilt ihr als Vertreterin österreichischer Exilliteratur (bei Kriegleder geschieht dies betont im Umfeld anderer Autorinnen des Exils ; 2018, S. 421 – 425). Dass österreichische Exilliteratur auch noch – oder vor allem – nach 1945 geschrieben wurde, hebt Klaus Zeyringer am Beispiel von Spiels The Darkened Room (1961 ; dt. Lisas Zimmer, 1965) hervor (Zeyringer/ Gollner 2012, S. 606). Es ist vermutlich Spiels bemerkenswertestes literarisches Werk, in dem sie, so Claudia Röser, »eine Ethik des Exils zu entwerfen« versucht (Röser 2013, S. 540). Hier sei nur das späte, erst 1988 veröffentlichte Stück Anna und Anna besonders hervorgehoben. In einem Gedankenexperiment spielt die Autorin zwei Varianten der Reaktion auf den sogenannten ›Anschluss‹ – bleiben oder gehen – durch, indem sie ihre Protagonistin in zwei Figuren aufteilt, Anna 1 und Anna 2, von denen die eine in Wien bleibt und die andere nach London ins Exil geht. Beide Figuren versuchen während der Schreckenszeit des Krieges »ein anständiger Mensch« zu bleiben ; beide überleben, scheitern aber im Privaten. Gleich nach Kriegsende kehrt Anna 2, enttäuscht von ihrer Situation in London, wo sie sich entgegen ihrem eigenen Wunsch nicht aufgenommen fühlt, nach Wien zurück. Am Ende fügen sich beide Figuren wieder in eine Anna zusammen. In Hilde Spiels Stück kann sich die Protagonistin für die eine oder die andere Alternative frei entscheiden ; ihre Entscheidung wie auch ihr Verhalten während des Krieges beruhen auf politischen oder ethischen Erwägungen. Im Gegensatz zu den de facto rassisch Verfolgten ist Anna 2 nicht gezwungen ins Exil zu gehen und ist Anna 1 in Wien nicht von der Deportation bedroht. Das Stück erreicht seinen Kulminationspunkt erst am Ende : Die Frage, wie Anna nun in Wien ›weiter leben‹ soll, weist in einen leeren Raum. Das von Spiel lange Zeit als Roman geplante und erst in den späten 1980er Jahren abgefasste Stück lässt sich »exemplarisch als mentalitätsgeschichtliche Diagnose der Remigranten lesen« (Haider-Pregler 1999, S. 45). Das Dilemma, in dem sich die gespaltene Person Anna nun befindet, ist nicht der Abgrund, der die Überlebenden von den Deportierten und Vernichteten trennt ; es ist das Dilemma derer, die ›das harte Brot des Exils‹ gegessen haben, die hindurchgegangen sind und die nun mit einer doppelten Weltsicht zurechtkommen müssen, wie Hillary Hope Herzog herausgearbeitet hat : Anna will have to reconstitute her fragmented self in an environment of destruction and deprivation. She has gained an awareness of two cultures, which may well play a significant role in sustaining her, but she must also recognize that the act of returning will not be restor-
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ative. The space of exile and the space of origin both contain a mixture of the familiar and the alien, a condition that will shape her environment wherever she chooses to live. (Hope Herzog 2011, S. 212)
Hope Herzog hatte schon zuvor darauf hingewiesen, dass »unlike the Canettis, for example, who were forced to flee the country, Spiel was – at least in 1936 – in a position to freely choose emigration« (ebd., S. 205). Ihre Analyse von Anna und Anna schließt sie mit der Bemerkung ab : »Spiel was quite familiar with this dual condition in her own life, after her return to Austria in 1963. Undoubtedly, however, she played a leading role in Austrian culture from the time of her return, as a writer, cultural critic, and journalist« (ebd., S. 212). In Spiels Fiktion wird die historische Katastrophe zur Bedingung eines gespaltenen, eines doppelten Bewusstseins, Anna und Anna, das die Person nicht mehr wird re-integrieren können, »wherever she chooses to live«. Dennoch bleibt sie noch und gerade über das Ende des Stückes hinaus frei in ihrer Entscheidung zu leben wo sie will. Dass sie diese Entscheidung frei treffen konnte – treffen kann über das Ende des Krieges hinaus –, bleibt konstitutiv für das Selbstbild der Autorin, das auch ihre literarische Perspektive bestimmt. Eben darin unterscheidet sich Hilde Spiels Situation fundamental von derjenigen Ilse Aichingers und Ruth Klügers. Durch die Nürnberger Gesetze war bereits die Freiheit der Entscheidung zu gehen oder zu bleiben aufgehoben worden, lange bevor in Konsequenz dieser Gesetzgebung das Leben der davon betroffenen Menschen ausgelöscht wurde. Skeptisch formuliert Aichinger 1976 : »Ob man sagen kann ich entscheide mich dafür ist fraglich. Die bisherigen Sprachgebräuche lassen eine Entscheidung da, wo es sich nur mehr um eine Möglichkeit handelt, nicht zu« (Aichinger 1976, S. 302 – 303). Nachdem Hilde Spiel jahrelang vergeblich versucht hatte, einen Produzenten für Anna und Anna zu finden, das ursprünglich als Drehbuch abgefasst worden war, griff Claus Peymann Anfang 1988 auf das Stück zurück, um damit erstmals das Vestibül des Burgtheaters als Spielraum zu nutzen. Die Uraufführung wurde gleichzeitig vom ORF für das Fernsehen aufgezeichnet. Das Dilemma der »anständigen Person« Anna und Anna, die weder Opfer noch Täterin ist und offenkundig selbstbestimmt entscheiden kann, eignete sich bestens für die anlässlich des 50. Jahrestages des sogenannten ›Anschlusses‹ anstehende öffentliche Aufarbeitung dessen, was geschehen war, auch wenn bereits die »Tageskritik« »taktvoll« konstatierte, »dass die offenkundig fürs Mahnjahr 1988 maßgeschneiderte, semidokumentarische und als semiautobiographisch eingeschätzte Szenenfolge […] in der Ausführung stellenweise an eine dramatisierte Geschichtslektion erinnere« (Haider-Pregler 1999, S. 43). Für Claus Peymann war Spiels Text allerdings nur ein Probelauf im offiziell ausgerufenen »Bedenkjahr«. Sieben Monate später produzierte er am Burgtheater das von ihm selbst bei Thomas Bernhard in
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Auftrag gegebene Stück Heldenplatz – und damit den größten Theaterskandal in der österreichischen Geschichte (Burgtheater 1989). 1988 war aber auch das Jahr, in dem Ilse Aichinger nach jahrzehntelanger Abwesenheit nach Wien zurückkehrte. Hilde Spiel, die in London flüchtig mit Aichingers 1939 emigrierter Zwillingsschwester Helga in Kontakt gekommen war und die auch Ilse Aichinger persönlich kannte, ist die Parallele in der Wirklichkeit – dass hier zwei reale Personen, identische Zwillinge, als Folge der Nürnberger Gesetze zur radikalsten Trennung ihres Lebens gezwungen wurden – vermutlich nicht bewusst gewesen. Ecke Rote Strasse/Jüdenstrasse »Am Abend des 4. November 1988« (Klüger 1992, S. 269), an dem Abend, an dem in Wien die Uraufführung von Bernhards Heldenplatz eskalierte, wurde in Göttingen Ruth Klüger auf dem Weg zu einer Aufführung von Schillers Don Carlos im Deutschen Theater an der Ecke Rote Straße/Jüdenstraße von einem jugendlichen Radfahrer umgefahren. Sie erlitt bei diesem Unfall eine schwere Kopfverletzung und machte in deren Folge eine lange Zeit der Rekonvaleszenz durch. »Weil ich auf den Kopf gefallen war«, so erzählt sie im Epilog zu ihrem Buch, begann sie ihren Bericht zu schreiben (ebd., S. 279). Ruth Klügers weiter leben. Eine Jugend (1992) hat vier Teile, vier Orte, die vier Richtungen ihres Lebens anzeigen : Wien, die Lager, Deutschland, New York. Dazu kommt noch der Epilog, der die Stadt Göttingen im Titel nennt und mit der oben zitierten Zeitangabe einsetzt. Auf den ersten Seiten dieses Epilogs skizziert Klüger in minutiöser Momentaufnahme, was ihr an diesem Abend passiert ist. Dabei bilden verschiedene, bis zum Moment des Unfalls zusammenlaufende Informationen, Wahrnehmungen, Gedanken und Erinnerungen ein dichtes Netz, das so aussieht, als hätte der Unfall geschehen müssen. Einen Moment hat Klüger den Eindruck, der Fahrradfahrer verfolgt mich, will mich niederfahren, helle Verzweiflung, Licht im Dunkel, seine Lampe, Metall, wie Scheinwerfer über Stacheldraht, ich will mich wehren […] der Anprall, Deutschland, ein Augenblick wie ein Handgemenge, den Kampf verlier ich, Metall, nochmals Deutschland, was mach ich denn hier, wozu bin ich zurückgekommen, war ich je fort ? (Klüger 1992, S. 271 – 272)
Akute Wahrnehmungen überlagern sich mit Erinnerungsresten aus der Zeit der Lagerhaft. In ihrer Darstellung als ganzer besteht Klüger aber darauf, dass der Unfall selbst zwar kein Zufall war, »dass es gerade mich getroffen hat, war jedoch Zufall« (ebd., S. 270).
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Das Netz, das Klüger spinnt, ist ein Netz aus Überlegungen zu Schillers Don Carlos, die sie mit Überlegungen zu Dostojewskis Aufzeichnungen aus eine Totenhaus verknüpft : »Ich überlegte, was dieses klassische Werk der Gefängnis- und daher auch Lagerliteratur mit den Berichten und Fiktionen unserer Zeit, der sogenannten Holocaust-Literatur, gemeinsam hat« (ebd., S. 269 – 270). Es geht um das »der deutschen Aufklärung entsprungene Phantom der Menschenfeindlichkeit«, um »Traditionen des Entsetzens«, um »Schriften über Zwang und Gewalt aus drei Jahrhunderten« (ebd., S. 270). Klügers Überlegungen sind die Reflexionen von jemandem, der gewohnt ist, sich professionell analytisch mit Texten der Weltliteratur zu beschäftigen, der Strukturen erkennt, Gedanken verknüpft. Diese Gedanken haben aber noch einen anderen Rahmen : nicht allein die Theateraufführung an einem der literarischen Bildung verpflichteten Ort, sondern ihr Pendant in Gestalt »einer ortsansässigen christlichjüdischen Gesellschaft«, in der Klüger wenige Tage später einen Vortrag aus Anlass des 50. Jahrestages der sogenannten »Reichskristallnacht« halten sollte, in einer Stadt, in der es bis auf ›ein älteres Ehepaar‹ keine jüdischen Einwohner mehr gab. »Man war froh«, so Klüger, »dass man in der neuen Direktorin des Studienzentrums [die Position, die Klüger hier seit kurzem innehatte] zufällig nicht nur eine Jüdin, sondern dazu noch eine ›Betroffene‹ hatte, also eine biographisch geeignete Rednerin« (ebd., S. 269). In ihrem Gang zum Theater, den von ihr erwarteten ›Betroffenheitsvortrag‹ anlässlich des bevorstehenden Gedenktages, dem 9. November 1988, im Sinn, wird Klüger die Tatsache bewusst, dass »ich jetzt zum ersten Mal in einer Stadt wohnen würde, die praktisch keine Juden vorzuweisen hat, und dass ich bisher […] immer Jüdin unter Juden gewesen war«. Diese Stadt aber hat, was, so Klüger, »[i]n Amerika, wo mehr Juden sind als in Israel«, als »anstößig« aufgefasst worden wäre, eine »Jüdenstraße« (ebd., S. 269). Beim Überqueren dieser Jüdenstraße an der Ecke Rote Straße wird sie von dem auf sie zu- und direkt in sie hineinrasenden Fahrradfahrer umgerissen. »Am Abend des 4. November 1988« befindet sich Klüger in einer Konstellation, die sie in ihrem Bericht erst im Nachhinein in ihrer ganzen Komplexität erfassen und analysieren kann. In diesem Moment laufen die Koordinaten ihres Lebens in einem einzigen Punkt zusammen : die verlorene Geschichte der jüdischen Menschen in einer deutschen Stadt, die Erinnerung an die Lager, die ambivalente Position der Literatur zwischen dem ›Schüren‹ von Menschenfeindschaft und ihrer Möglichkeit, Zeugnis von Gewalt abzulegen, die Verwandlung von Gedanken in der Zuwendung zu einem bereits antizipierten Gegenüber in lebendige Rede, sei es die amerikanische Studentin oder die »geduldig« ihren Vortrag erwartende christlich-jüdische Gesellschaft als gut gemeinter Stellvertreter für die nicht mehr vorhandene jüdische Gemeinde, schließlich das klare Bewusstsein, als ›Betroffene‹ für das öffentliche Gedenken funktionalisiert zu werden. Dass sie dies in verstärktem Maße erfuhr, nachdem sie ihre Erinnerungen publiziert
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hatte, bemerkt sie in anhaltend kritischer Wachsamkeit. Was für Anna und Anna in Hilde Spiels Stück im Rückblick von 1988 auf 1945 auf den Kulminationspunkt einer nicht mehr reintegrierbaren Persönlichkeitsspaltung zugeführt wird, erweist sich für Ruth Klüger als Bewährungsprobe auf Leben und Tod : In dieser deutschen Stadt, die sich ihrer jüdischen Bevölkerung entledigt hat, gelingt es ihr, den in einem akuten Moment, in dem Geschichte und Gegenwart im Bewusstsein aufeinandertreffen, kulminierenden Zusammenstoß mit dem Fahrradfahrer, der sie fast das Leben gekostet hätte, sowohl physisch wie auch psychisch langfristig zu bestehen. Es gelingt ihr nicht allein durch ihren Lebenswillen – ein Freund, der ihr im Krankenhaus zur Seite steht, »meint, er hätte nie jemand gesehen, der sich so ans Leben geklammert hätte wie ich« (Klüger 1992, S. 275) –, sondern durch ihre Fähigkeit, den Dingen ins Auge zu sehen, die Fatalität der Konstellation zu durchbrechen, indem sie sich ihr reflexiv – im Schreiben – zuwendet. »Den Vortrag hab ich erst ein Jahr später gehalten«, schreibt Klüger lakonisch. »Da war der neunte November, noch im Vorjahr der Tag der nationalen Schande, zum Tag der nationalen Freude gediehen. Registerwechsel. Die christlich-jüdische Gesellschaft hat mich trotzdem geduldig noch einmal eingeladen« (ebd., S. 270). Der Unfall, den Ruth Klüger am Abend des 4. November 1988 erlitten hat, setzte bei ihr die Energie frei, den Teil ihrer Lebensgeschichte zu erzählen, der sie »weiter leben« gelehrt hat. Die politischen Entwicklungen der darauf folgenden Jahre haben dazu beigetragen, dass ihre Geschichte öffentlich intensiv wahrgenommen worden ist, wahrgenommen auch als Teil der Geschichte Österreichs. Das Vertrauen in die Sprache wiederherstellen Ganz anders die öffentliche Präsenz und der Sprachgestus von Ilse Aichinger. Im Jahr 1988, dem Jahr ihrer Rückkehr nach Wien, hat Aichinger nur zwei Texte veröffentlicht. Der eine davon, das Gedicht »Heu«, ist allem Anschein nach eigens für die von Jochen Jung 1988 im Salzburger Residenzverlag herausgegebene Anthologie Was mich tröstet abgefasst worden. Wenn diese Textauswahl ebenfalls auf das »Bedenkjahr« bezogen gewesen sein sollte, so ist ihre diskrete Botschaft ein Appell »das Trösten – und das Sich-Trösten-Lassen – [als] eine der menschlichsten Eigenschaften« anzuerkennen, so Joachim Jung in seinem knappen Vorwort zu dem Band, in dem Texte von 32 AutorInnen, darunter Rudolf Bayr, Günter Brus, Bodo Hell, Friederike Mayröcker und Jutta Schutting versammelt sind ( Jung 1988, S. 7). Da die Texte in dem schmalen Büchlein alphabetisch nach den AutorInnennamen gereiht sind, steht Aichingers Gedicht am Beginn. Und am Beginn ihres Gedichts wird konstatiert : »Die Gewißheit, daß es keinen Trost gibt« (VR 1991, S. 35).
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Hannah Markus hat das Gedicht im Rahmen ihrer Dissertation und in zwei weiteren Publikationen im Hinblick auf seine Genese untersucht, die in diesem Fall besonders gut dokumentiert ist. Sie liest die Bearbeitung der verschiedenen erhaltenen Vorstufen im Hinblick auf eine »Reduzierung des Holocaust-Subtexts im Schreibprozess« (Markus 2015, S. 179) mittels Ersetzung von zunächst über Signalwörter identifizierbaren Bezügen auf den Holocaust durch Worte, die vor allem durch ihre Klangstruktur die immanente Sprachreflexion des Gedichts unterstützen (»verbrennen«/ »ersticken« korrigiert in »verbrennen«/ »verbergen« in der Druckfassung). Nicht umsonst hat die Autorin die deutlichen Anspielungen auf die Verfolgungen im NSRegime getilgt ; in Verschenkter Rat ist »Heu« eine Reflexion über die Existenz an sich, mit der sich ein Nachdenken über Sprache und Heilserwartungen verbindet. (Markus 2010, S. 107) Die Druckfassung baut die von vornherein angelegte sprachreflexive Ebene aus, sodass »Heu« nun nicht länger als eine spezifische Auseinandersetzung mit dem Trauma des Holocausts und dem Opfergedenken nach Auschwitz erscheint : Entstanden ist eine vielschichtige Reflexion über den Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat, die Existenz an sich und die Unmöglichkeit des Trosts in der Religion. (Markus 2015, S. 219) In der Genese des 1988 entstandenen Gedichts Heu lauten die Anfangsverse in der ersten Bearbeitungsstufe F1/1 : »H, E, U / in den Kinderscheuneern / wo zu verbrennen oder zu ersticken / gleich leicht ist« (F1/1). In der dritten Bearbeitungsstufe derselben Fassung wird durch Streichungen und Einfügungen aus V. 3f. nun »wo zu verbrennen / oder sich für immer zu verbergen / gleich leicht ist« (F1/3). Neben der natürlich entscheidenden semantischen Verschiebung, die der generellen Reduzierung des Holocaust-Subtexts im Arbeitsprozess an Heu zuzuordnen ist, entsteht so eine (sogar dreisilbige) Assonanz von »verbrennen« und »verbergen«, die nun der beibehaltenen Assonanz »gleich leicht« vorausgeht. (Markus 2016, S. 110)
In der zuletzt genannten Publikation dient »Heu« als ein Beispiel neben anderen für Markus’ Argument, dass bei Aichinger »die Zahl der Klangfiguren, speziell der Assonanzen und Lautdominanzen, im Schreibprozess in der Regel deutlich zunimmt« (ebd.). Im Hinblick auf die Werkgenese Aichingers bildet das Gedicht »Heu« einen Solitär. In seiner Nachbarschaft entstehen keine (von Aichinger publizierten) weiteren Texte ; das Gedichtwerk ist in seinen wesentlichen Teilen früher entstanden. Die Verfahren, die Markus am Schreibprozess beobachtet, finden Parallelen in der zweiten, von Markus unterschiedenen Werkphase. Dennoch scheinen mir die (auch von Markus notierten) Parallelen zu mehreren Prosatexten Aichingers auffälliger (vgl. »Queens«, SchW 1991, S. 97 – 98 ; »Schnee«, KMF 1991, S. 113 – 114 ; man könnte auch »Mein Vater aus
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Stroh« kontrastiv dazu lesen, EE 1991, S. 13 – 18). »Heu« ist ein von Aichinger in diesem Moment mit der ganzen, ihr zur Verfügung stehenden impliziten (technischen) wie expliziten (argumentativen) Überzeugungskraft gesprochenes und geschriebenes Gedicht. Sein tragendes Wort »Heu« ist ein ›Stummelschrei‹, in dem man das Zeitwort »Heu-te« und seine leisere Resonanz im letzten Wort des Gedichts vernehmen kann. »Heu« wird zum expressiven Ausruf, zu einer Art Signatur unter ihr bis dahin verfasstes Werk : »Heu, Schnee und Ende« (VR 1991, S. 35). Im Gegensatz zu Markus lese ich das Gedicht weder in dem zu einer bloßen Verallgemeinerung reduzierten Sinne als eine »Reflexion über die Existenz an sich, mit der sich ein Nachdenken über Sprache und Heilserwartungen verbindet« (Markus 2010, S. 107), noch »als vielschichtige Reflexion über den Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat«, die das sprachliche Verfahren zur Substanz des Textes erklärt (Markus 2015, S. 219). Ich lese es im Zusammenhang mit der Salzburger Anthologie aus dem Jahr 1988, als Stellungnahme zu den Anmaßungen von Literatur und Gesellschaft, von Geschichte und Religion. Ich lese es als Ausdruck der menschlichen vergänglichen Existenz in Erinnerung an Brahms’ Ein deutsches Requiem (»Denn alles Fleisch ist wie Gras«, op. 45 no. 2), eine Existenz, die von Menschen ›gebündelt‹ (lat. fasces) und in eine tödliche Richtung gelenkt worden ist. Ich lese das Gedicht auch aus der Position des ›Bedenkjahrs‹ 1988 (und im Blick auf Aichingers früheren Text Die »Maus«: »Vielleicht besteht mein Jubel darin, daß ich unauffindbar bin.« EE 1991, 44) : […] Die Gewißheit, daß es keinen Trost gibt, aber den Jubel, Heu, Schnee und Ende. (VR 1991, S. 35)
Der zweite von Aichinger in diesem Jahr publizierte Text verdankt sich ebenfalls einer an sie herangetragenen Initiative. Aufgrund seines Publikationsorts ist er bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Er gehört zu den Texten, die Andreas Dittrich mit der Ausgabe von Ilse Aichingers verstreuten Publikationen Aufruf zum Mißtrauen (AuzMi 2021) erst vor kurzem wieder entdeckt und zugänglich gemacht hat. Im Nachlass von Hans Werner Richter in der Berliner Akademie der Künste befindet sich die auf 1987 datierte Kopie eines Texttyposkripts mit handschriftlichen Korrekturen von Ilse Aichinger (Signatur : Richter-Hans-Werner 10131 ; Hinweis Dittrich). Aichingers titelloser Text liest sich wie eine briefliche, kurze, Antwort auf eine Umfrage. Wie Dittrich in seiner Edition mitteilt, war ein Sonderheft der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter des Jahrgangs 1988 einer Revision »gegensätzliche[r] Positio-
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Im Schreiben weiter leben
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nen« gewidmet, die Autoren der Gruppe 47 in den 1980er Jahren entwickelt hatten (AuzMi 2021, S. 305). Ob Aichingers Text in diesem Zusammenhang entstanden ist oder ob es sich um ein schon früher verfasstes Dokument handelt, lässt sich auf dem gegenwärtigen Wissensstand nicht entscheiden. Aichinger zeichnet in ihrer kurzen Erinnerungsskizze ein durchweg positives Bild der Zusammenkünfte der Gruppe 47, die »Spannungen« oder »Rivalitäten« auszuhalten vermochte : »[…] das Maß gab die Freundschaft« (AuzMi 2021, S. 161). Aichingers Text endet mit einem gerade für eine Publikation im Jahr 1988 bemerkenswerten Satz, zumal wenn man bedenkt, welch großes Gewicht das Wort »Zeit« in ihrer eigenen Lyrik, aber auch in der Lyrik ihrer beiden großen Zeitgenossen und Antipoden Paul Celan und Ingeborg Bachmann hat : »Die Gruppe 47 war notwendig. Es war an der Zeit.« Und es war auch an der Zeit, das Vertrauen in eine Sprache wiederherzustellen, das durch vieles Vorhergegangene so schwer erschüttert worden war. (Ebd.)
Im Rückblick führt Aichinger ihre Position in der Gruppe 47 mit ihrer Position in der österreichischen Nachkriegsliteratur zusammen, die mit ihrem »Aufruf zum Mißtrauen« begonnen hatte. Die Literaturen beider Länder verbindet die deutsche Sprache, die »durch vieles Vorhergegangene so schwer erschüttert worden war«, dass man ihr nicht mehr vertrauen konnte. Ilse Aichinger sieht sich bewusst nicht als die einzige, sondern als eine der Autor:innen in Deutschland wie in Österreich, die nach Kriegsende damit begannen, Vertrauen wiederherzustellen. Literatur Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Briegleb, Klaus/Sigrid Weigel (Hg..) (1992) : Gegenwartsliteratur seit 1968. München, Wien Burgtheater Wien (Hg.) : Heldenplatz. Eine Dokumentation. Stadt Wien 1989. Fässler, Simone (2011) : Von Wien her, auf Wien hin. Ilse Aichingers »Geographie der eigenen Existenz«. Wien/Köln/Weimar. Hope Herzog, Hillary (2011) : Vienna Is Different. Jewish Writers in Austria from the Fin-de-Siècle to the Present. New York, Oxford. Jung, Jochen (1988) : Was mich tröstet. Literaturalmanach. Salzburg. Klüger, Ruth (1992) : weiter leben. Eine Jugend. Göttingen. Klüger, Ruth (2006) : Wien als Fluchtpunkt. Dankesrede zur Entgegennahme des BrunoKreisky-Preises, in : Dies., Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen, S. 94 – 103.
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Klüger, Ruth (2008) : unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien. Klüger, Ruth (2013) : Zerreißproben. Kommentierte Gedichte. Wien. Klüger, Ruth (2018) : Gegenwind. Gedichte und Interpretationen. Wien. Kriegleder, Wynfried (2018) : Ein kurze Geschichte der Literatur in Österreich. Menschen – Bücher – Institutionen. 3., korrigierte und erweiterte Auflage. Wien. Markus, Hannah (2010) : Varianten und unbekannte Texte. Aichingers Wien. Lyrik im DLA Marbach. In : Roland Berbig/Hannah Markus (Hgg.) : Ilse Aichinger. Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 9, S. 91 – 107. Markus, Hannah (2015) : Ilse Aichingers Lyrik. Das gedruckte Werk und die Handschriften. Berlin. Markus, Hannah (2016) : Poiesis und Poetik in der Textgenese. Autorvarianten in Ilse Aichingers lyrischem Vorlass. Editio 30, H.1, S. 109 – 121. Röser, Claudia (2013) : Hilde Spiel : The Darkened Room (1961), deutsch : Lisas Zimmer (1965). In : Bettina Bannasch, Gerhild Rochus (Hg.) : Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin, S. 534 – 540. Schmidt-Dengler, Wendelin (1995) : Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 – 1990. Salzburg/Wien. Schmidt-Dengler, Wendelin (2012) : Bruchlinien II : Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1990 bis 2008. Herausgegeben von Johann Sonnleitner. St. Pölten/Salzburg/Wien. Spiel, Hilde (1976) : Kleine Schritte. Berichte und Geschichten. München. Spiel, Hilde (1979) : Ilse Aichinger : »Widmung«. Hier zitiert nach : Marcel Reich-Ranicki. Frankfurter Anthologie, IV. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1979, S. 189 – 192. Spiel, Hilde (1989) : Anna und Anna. Wien. Spiel, Hilde (2003) : Eh die Träume rosten und brechen [1978]. Hier zitiert nach der Ausgabe : Samuel Moser (Hg.) : Ilse Aichinger : Leben und Werk. Frankfurt a. M.: Fischer, 2. Auflage 2003, S. 303 – 307. Weigel, Hans (1967), »Es begann mit Ilse Aichinger« [1966], in : Otto Breicha/Gerhard Fritsch (Hgg.) : Aufforderung zum Mißtrauen. Literatur, bildende Kunst, Musik in Österreich seit 1945. Salzburg, S. 25 – 30. Zeyringer, Klaus/Helmut Gollner (Hg.) (2012) : Eine Literaturgeschichte : Österreich seit 1650. Innsbruck.
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»Zwei am Topfmarkt« Annäherung an die besondere Bekanntschaft von Ilse Aichinger und Gertrud Fussenegger Es ist eine ungewöhnliche Beziehung. Freundschaft mag ein zu großes Wort sein, aber gegenseitige Wertschätzung beschreibt die Tonlage der Bekanntschaft zwischen Ilse Aichinger und der neun Jahre älteren, 1912 in Pilsen geborenen Gertrud Fussenegger wohl am treffendsten. Wie unwahrscheinlich die historisch-biographischen Voraussetzungen diese Wertschätzung erscheinen ließen, zeigt Elfriede Jelineks Annahme, dass Ilse Aichinger zweifellos bereit sein würde, Fusseneggers Auszeichnung mit dem Weilheimer Literaturpreis 1993 öffentlich aufs Schärfste zu verurteilen, so wie sie selbst dies tat – diese Annahme stellte sich als Irrtum heraus. Dass Jelinek sich der Unterstützung Aichingers, der ersten Preisträgerin des Weilheimer Literaturpreises 1988, sicher war, ist zumindest auf den ersten Blick indes wenig überraschend. Während Ilse Aichinger in Wien die NS-Diktatur überlebte, 1942 die Deportation ihrer Großmutter mitansehen musste und die Ermordung ihrer Großmutter, ihrer Tante und ihres Onkels im Vernichtungslager Maly Trostinez zu beklagen hatte und nur ihre Anwesenheit im gemeinsamen Haushalt ihre jüdische Mutter vor demselben Schicksal bewahrte, war Gertrud Fussenegger mehr als nur eine opportunistische Mitläuferin. Schon 1933 während ihres Studiums in Innsbruck, als dies in Österreich noch illegal war, trat sie der NSDAP bei, sie betätigte sich aktiv und verlor 1938 nach dem Anschluss Österreichs keine Zeit, der deutschen NSDAP beizutreten. Doch es war wohl nicht die NSDAP selbst, die Fussenegger so faszinierte, sondern Fussenegger war, wie sie selber später bekannte, »ideologie-süchtig, und leider sehr unkritisch«. So hatte sie sich zuvor noch für die kommunistische Weltrevolution engagiert, war eine begeisterte Marx-Leserin und sollte für ihren Ausruf in der Aula der Innsbrucker Universität : »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch !« von der Universität relegiert werden, was nur mit Mühe mithilfe ihres Professors, Harold Steinacker, verhindert werden konnte. Während Ilse Aichinger in Wien zum Arbeitsdienst verpflichtet wurde, schrieb Fussenegger Propagandagedichte und Beiträge für den Völkischen Beobachter und andere Nazi-Publikationen. Fussenegger war in den 1930er Jahren eine überzeugte Deutschnationale, Textpassagen aus dieser Zeit sind deutlich antisemitisch, auch wenn sie später abstreitet, tatsächlich antisemitisch eingestellt gewesen zu sein (Fussenegger 2005, S. 33). Und in der Tat gab es auch damals schon andere Töne von
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Fussenegger, aufgrund ihrer katholischen Überzeugung humanistischer Prägung, wie sie sich in der Mohrenlegende von 1937 zeigt. Dennoch – die überlebende Halbjüdin Aichinger, die mit Die größere Hoffnung einen der ersten Romane über die Judenverfolgung überhaupt vorlegte, und die begeisterte Nationalsozialistin Fussenegger – wie kann aus diesen biographischen Prägungen heraus eine herzliche und gegenseitig fördernde Beziehung werden ? Eine Antwort auf diese Frage wäre freilich eine rein auf Indizien basierende Spekulation. Der Versuch einer Annäherung muss aber erlaubt sein. Und wie so oft zeigt sich schnell – die Dinge sind komplexer, als sie zunächst erscheinen, und ganz bestimmt sind es die Protagonistinnen dieser Bekanntschaft. Wer den Briefwechsel zwischen Ilse Aichinger und Gertrud Fussenegger kennt, den verwundert Aichingers Weigerung, sich öffentlich gegen Fussenegger zu stellen, allerdings nicht. Überliefert ist ein schmaler Briefwechsel zwischen 1974 und 1994, fünf Briefe von Aichinger, vier von Fussenegger. Die in Gesprächen mit Literaturwissenschaftler :innen häufig geäußerte Vermutung, die gut vernetzte Fussenegger sei Aichinger zu Beginn ihrer Karriere möglicherweise im Literaturbetrieb behilflich oder sei gar eine Mentorin gewesen, liegt zwar auf der Hand, sie stimmt allerdings nicht. Fusseneggers vielfältiger Einsatz für Schriftsteller und Schriftstellerinnen ist gut belegt. So unterschiedliche Autor :innen wie Hilde Domin, Herbert Rosendorfer, Brigitte Schwaiger und Christoph Ransmayr sahen sie als Förderin, wie allein die Korrespondenzen in Fusseneggers Nachlass eindrucksvoll belegen (vgl. Riccabona 2013). Fussenegger saß in sehr vielen Gremien und Jurys (unter anderem bei der Premiere des Bachmann-Preises 1977 als einzige Frau neben zwölf Männern), sie vermittelte zwischen Autor :innen und Verlagen, organisierte Lesungen und Vorträge. Aichinger hingegen war kein Protegé Fusseneggers, die beiden begegneten sich auf Augenhöhe. Ihre Kreise im Literaturbetrieb überschnitten sich nur am Rande. Aichinger und Fussenegger hatten sich 1954 oder 1955 bei einer Lesung Aichingers in Innsbruck durch Lilly von Sauter kennengelernt, wie Fussenegger an Aichinger in einem Brief vom 23. Oktober 1974 erinnernd schreibt, also zu einem Zeitpunkt, als Aichinger schon den Preis der Gruppe 47 gewonnen und als Autorin von Die größere Hoffnung Bekanntheit erlangt hatte. Danach trafen die beiden Autorinnen nicht mehr aufeinander, bis zu einer gemeinsamen Lesung im ORF-Studio in Linz im Oktober 1974, die Fussenegger als Anlass nimmt, zwanzig Jahre nach der ersten und bis dahin einzigen Begegnung einen Brief an Aichinger zu schreiben, in dem sie das Treffen und die gemeinsame Lesung »ein Geschenk für mich« nennt. Dass diese Hochachtung auf Gegenseitigkeit beruhte, illustrierte die weitere Korrespondenz : Am 11. November 1974 zeigt sich Aichinger sehr angetan vom Wiedersehen bei der Lesung und äußert ihr großes Bedauern, dass sie nicht mehr Zeit miteinander verbringen konnten ; außerdem bedankt sie sich für ein Gedicht, das Fus-
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senegger für sie geschrieben habe : »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen für das Gedicht (ich empfinde es als Gedicht) [eingeschoben], das Sie für mich geschrieben haben, danken kann. Ich wollte nur, ich fände Verse wie Sie, um zu sagen, wie ich uns beide sehe !« (Die Bemerkung, dass Aichinger den Text als Gedicht empfindet, bezieht sich vermutlich darauf, dass Fussenegger ihre Lyrik selbst nicht als Gedichte bezeichnete, wie sie beispielsweise bei einer Lesung am 4. November 1974 in Wien darlegte. Bei dieser Lesung las sie im Übrigen auch das Gedicht für Aichinger.) Bei dem Gedicht, für das sich Aichinger bedankt (Fussenegger selbst schreibt von einem »kleinen Text«), meint sie vermutlich das ihr gewidmete Gedicht »Zwei am Topfmarkt«, das u. a. 1975 in Literatur und Kritik abgedruckt wurde (Fussenegger 1975, S. 72). Da es nicht nur Ilse Aichinger gewidmet ist, sondern auch, wie der Paratext der Korrespondenz erahnen lässt, eine Beschreibung Aichingers und des Verhältnisses zueinander ist, sei es hier als Zeugnis wiedergegeben : Zwei am Topfmarkt (Für Ilse Aichinger) Breitbeinig sitz ich auf schwärzlicher Heringstonne in blauer Schürze. Meine Ware ist irden buntes Geschirr aus dem sich der tägliche Haferbrei und die Blutsuppe längst verschollener Feste löffeln läßt. Sie aber leise – eilends vom Sternenwind gescheucht rätselwärts zartesten Kelch umflechtend mit mondenen Fingern.
Ich und sie, es könnte aber auch eine Ansprache sein, Ich und Sie. Die eine hat etwas zu verkaufen, etwas Alltägliches, die andere steht über den Dingen. Ohne hier eine ausführliche Interpretation zu wagen, wird doch durch die Nennung Aichingers ein Bedeutungsraum eröffnet, in dem die feilgebotene Ware literarisch verstanden werden kann. Die erste Strophe, in der das lyrische Ich von sich selbst spricht, ist geprägt von Bildern des Alltäglichen : Haferbrei, eine Schürze, die irdene Ware. In dieser Lesart
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stellt Fussenegger Aichinger als Autorin deutlich über sich selbst. Dem »irdenen« stehen die »mondenen Finger« gegenüber ; hat das lyrische Ich nur buntes Geschirr im Angebot, umflicht die Angesprochene/Beschriebene den »zartesten Kelch« – die eigene Literatur wird als bodenständig, zwischen bunt und düster schwankend, in jedem Fall aber als nahrhaft beschrieben, während Aichinger in die Nähe der Genieästhetik gerückt wird. Auch eine Andeutung von Schuld findet sich in der ersten Strophe, »die Blutsuppe längst verschollener Feste«, während die zweite Strophe sich durch leichte, helle Bilder auszeichnet. Doch trotz aller Unterschiede sind die beiden im Titel miteinander verbunden. Die offizielle Widmung erlaubt es zweifellos, das Gedicht als Hommage auf Aichinger und als bewundernden Gruß an die Kollegin zu lesen. Wie der Brief zeigt, las auch Aichinger das Gedicht biographisch und sah in den Zweien vom Topfmarkt Fussenegger und sich selbst offenbar sehr treffend beschrieben. 1979 führt Fussenegger die Hommage aus ihrem Gedicht interpretatorisch weiter : Im Rahmen von Marcel Reich-Ranickis Frankfurter Anthologie in der FAZ liefert sie eine kluge Interpretation des Aichinger-Gedichts »Briefwechsel«, worüber sich Aichinger, die den Text schon vorher bekommen hatte, sehr freute und sich bei Fussenegger für den »wunderschönen Deutungstext« bedankte (Brief v. 9. März 1979). Fussenegger schreibt : »Eine leise Art zu bezwingen, immer schon hat Ilse Aichinger so bezwungen, sie hat sich immer in eine (ihre) unbestechliche Sanftmut zurückgezogen. Dort war sie – bei aller Verletzlichkeit – unverwundbar« (Fussenegger 1980). »Leiser Austausch« nennt Fussenegger ihre Deutung ; wer um den Austausch der beiden Autorinnen weiß, mag auch hier eine persönliche Schwingung spüren. Am 3. Februar 1979 schreibt Aichinger : »Ihr Brief gehört zu den notwendigen Freuden, die das Atmen leichter machen ! So ging es mir ja schon immer bei unseren viel zu seltenen Begegnungen. Ich fühlte mich ruhig auf der Welt, und nie war es eine billige Ruhe, die ich spürte.« In Folge bleibt die Briefkorrespondenz sporadisch, aber herzlich. Beruflich gibt es immer wieder Verbindungen, wobei gerade Fussenegger sich für Aichingers Werk engagiert. So stellt sie 1977 Aichingers Band Schlechte Wörter im ORF vor, eine Besprechung des Bandes erschien ebenfalls 1977 in Literatur und Kritik (Fussenegger 1977). Auch hier zeigt Fussenegger tiefe Bewunderung für das Werk der jüngeren Kollegin, das Leise und Zarte hebt sie hervor, die Uneitelkeit, die Konzentration auf die Sprache als Thema. Hinter der wohl oft mit Verwunderung gestellten Frage nach der positiven Einstellung Aichingers zu Fussenegger steckt implizit eine größere Frage, nämlich jene des Umgangs von Opfern des NS-Regimes mit jenen, die – in welcher Form auch immer – Teil davon waren. In der Einschätzung der Bekanntschaft von Aichinger und Fussenegger kommt aber noch etwas anderes hinzu : Das eine ist die persönliche Beziehung der beiden, das andere ist Aichingers Agieren in öffentlichen Debatten. Aichinger, das zeigen viele Beispiele, trennte beides penibel. Sie beteiligte sich durchaus
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an öffentlichen Debatten, aber auf Zuruf Zustimmung für eine Sache zu erwarten, war meist vergeblich – in jedem Fall war nicht vorhersehbar, welche Einschätzung die sehr klar analysierende und argumentierende Aichinger treffen würde. Das zeigt sich nicht nur in der Debatte um die Auszeichnung Fusseneggers, die sich schließlich in einem (mehr oder weniger) offenen Briefwechsel im Forum niederschlug. So ergriff sie im Streit um Martin Walsers Tod eines Kritikers nicht Partei für Marcel Reich-Ranicki, sondern zeigte Verständnis für beide Positionen. Roland Berbig hat den Konflikt in den Berliner Heften gut dargestellt (Berbig 2010, S. 168 – 173). Elfriede Jelinek beteiligte sich nicht nur an offenen Briefen gegen die Verleihung des Weilheimer Literaturpreises 1993 an Gertrud Fussenegger, sie schrieb auch einen polemischen, an die Schüler-Jury gerichteten Leserbrief an die taz : Übrigens bin ich durchaus befugt, auch Eure ehemalige Preisträgerin Ilse Aichinger nachträglich in die Reihe der UnterzeichnerInnen unseres Appells einzufügen, aber eine Ilse Aichinger und eine G. F. in einem Atemzug zu nennen – dazu würde ich etwas mehr Phantasie brauchen, und die kann ich mir in meinem Beruf nicht leisten. ( Jelinek 1993, S. 14)
Befugt war Jelinek durchaus nicht, was ihr selbst später auch klar wurde. Ganz aus der Luft gegriffen war die Nennung Aichingers allerdings vermutlich auch nicht, zumindest berichtet Jelinek, Aichinger habe mündlich die Unterstützung eines offenen Briefs kundgetan, allerdings habe sich Jelinek dessen nicht nochmals konkret versichert, was Jelinek sich selbst als unseriös ankreidet (siehe dazu genauer Berbig 2010, S. 171 – 172). Dass Aichinger selbst nicht das geringste Problem hatte, »in einem Atemzug« mit »einer[r] G. F.« genannt zu werden, hatte Aichinger schon mehrmals gezeigt, nicht nur bei der gemeinsamen Linzer Lesung 1974. Allerdings hatte Aichinger, Jelinek zufolge, auch nichts gegen die Veröffentlichung des Leserbriefs, in dem Jelinek Aichinger gegen Fussenegger praktisch als moralisch unantastbare Instanz in Stellung bringt, in Gerhard Oberschlicks Zeitschrift Forum einzuwenden. Sehr viel hatte sie allerdings gegen die redaktionelle Bearbeitung einzuwenden, weshalb sie mit einem Leserbrief an das Forum reagierte. Aichinger ging es nicht darum, die von ihr so geschätzte Fussenegger vorbehaltlos zu verteidigen. Sie konnte auch jemanden schätzen, den sie nicht für tadellos hielt. So schreibt sie bezugnehmend vor allem auf die Beiträger, die nicht nur Fussenegger, sondern auch ihren Sohn, der Fussenegger öffentlich beigesprungen war, zum Teil untergriffig attackierten : Natürlich wäre keiner dieser Schreiber in die Falle getappt, in die Frau Fussenegger vielleicht nicht unverschuldet geraten ist. Darüber nämlich, über die eigene unbezweifelbare Integrität,
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die Fähigkeit, Tatbestände im frühest möglichen Augenblick zu durchschauen, sind sich diejenigen Schreiber, die ich meine, einig, einig auch in einem nicht überhörbaren Jubelton. Wir hätten es besser gewußt, wir wissen es besser. (Brief von Aichinger 1994, S. 33)
Ihr ging es um etwas anderes, wofür der Umgang mit Fussenegger exemplarisch stand, ihr ging es um den »›Ton‹ […] in dem dieser ›Fall‹ abgehandelt wird. Abgehandelt von manchen, die sich als Richter über den Faschismus und seine Hervorbringer fühlen« (ebd.). Aichinger äußert sich mit keinem Wort dazu, ob sie Fussenegger als preiswürdig empfindet, sie nimmt weder für noch gegen sie Stellung. Dass die ihre Wörter so sorgfältig abwägende Aichinger die vage Beschreibung »vielleicht nicht unverschuldet« verwendet, spricht aber Bände. Sie erlaubt sich kein Urteil ; mag es auch eine Schuld gegeben haben, ist es nicht ihre Position, darüber zu richten. Man liest so gern und vor allem, wer schuld war, und das halte ich für gefährlich. Das könnte auch heißen ›Ich nicht, ich doch nicht, ich wäre es unter keinen Umständen gewesen.‹ Mißtrauen gegen sich selbst wird nicht laut. Und wo diese Art von Mißtrauen gänzlich fehlt, beginnen immer wieder die neuen Schrecken. (Ebd.)
Oberschlicks daneben abgedruckte Antwort und noch mehr Christian Michelides’ PS sind in Tonfall und Argumentation polemisch bis beleidigend, was wiederum Richard Reichensperger zu einer Reaktion im Forum veranlasste. Darin bezeichnet er Aichingers Protest als »tollkühn«. Ihr Protest betreffe vor allem die Sprache, von der sie sich distanzieren wolle, »von einer Sprache, die sie offensichtlich an frühere Erfahrungen erinnert. Geantwortet wurde ihr aber, primär von Herrn Michelides, in ebensolchem Ton« (Reichensperger 1994, S. 1). Der kurze, trotz seiner prominenten Protagonistinnen nicht sehr breit rezipierte Konflikt, sagt am Ende mehr über Aichingers Einstellung zum Verhalten der Nachgeborenen, als zu ihrer Beziehung zu Fussenegger aus. Sie stellte die Opfer in den Mittelpunkt und hatte, wie Reichensperger andeutet, ein aus eigener Erfahrung gespeistes, sehr sensibles Sensorium für einen ins Hetzerische abgleitenden Sprachgebrauch. Erst das und die so überheblich wie ungefährdet vorgebrachte moralische Anklage brachten sie dazu, sich zum »Fall Fussenegger« zu äußern. Fussenegger bedankt sich brieflich am 2. Mai 1994 bei Aichinger für deren Leserbrief an das Forum, für »Ihr nobles, und, wie es bei Ihnen nicht anders sein kann, wohlabgewogenes Wort« und weiter : Wie Sie richtig schreiben, bin ich für meine Person ›nicht schuldlos‹ zum Angriffsziel der Gruppe geworden, wenn auch diese Schuld an die 55 Jahre zurückliegt und auch damals
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nicht etwa in Menschenverachtung und Grausamkeit, sondern vor allem im Irrtum und falschen Perspektiven bestand.
Fussenegger wehrt sich in dem Brief dagegen, dass »man mir heute vorwirft, ich hätte mich nie [unterstrichen] von meiner ›Vergangenheit‹ distanziert und sie bedauert«. Sie beschreibt einen langen Prozess der Einsicht und zu welchen Gelegenheiten sie sich geäußert und distanziert habe. Ein Gegenbrief Aichingers ist nicht erhalten oder belegt ; der Brief von Fussenegger vom 2. Mai 1994 ist das letzte bekannte Korrespondenzstück. Wie Aichinger Fusseneggers Agieren im Nationalsozialismus sah, davon gibt es wohl keine Zeugnisse, außer den drei Wörtern »vielleicht nicht unverschuldet«. Das Misstrauen gegen sich selbst, zu dem Aichinger immer und immer wieder aufrief, mag die Grundlage bilden, auf der eine so tiefe Wertschätzung, wie sie zwischen den beiden herrschte, trotzdem möglich war. Während Fussenegger Aichingers Werk schätzte und öffentlich pries, sind umgekehrt keine schriftlichen Äußerungen Aichingers über das literarische Werk Fusseneggers bekannt. Der Tonfall der brieflichen Korrespondenz ist höflich, aber nicht distanziert, sie bleiben bis zum Schluss beim Sie, doch spricht eine schwer greifbare Nähe aus diesen Briefen, deren Basis rätselhaft bleibt. Für die Zitiererlaubnis aus den unpublizierten Briefen von Gertrud Fussenegger an Ilse Aichinger (vom 23. Oktober 1974 und vom 2. Mai 1994 ; Nachlass Ilse Aichinger, Deutsches Literaturarchiv Marbach) und von Ilse Aichinger an Gertrud Fussenegger (11. November 1974 und 3. Februar 1979 ; Nachlass Gertrud Fussenegger, StifterHaus Linz) sei den Rechteinhaberinnen Mirjam Eich und Lena Eich (für Ilse Aichinger) sowie Caroline Juls für Gertrud Fussenegger gedankt. Literatur Aichinger, Ilse (1994) : Leserbrief [ohne Titel], in : Forum 481/484, S. 33. Berbig, Roland (2010) : Aichinger und Fussenegger in einem Atemzuge. Nachtrag zu Elfriede Jelineks Leserbrief zum Weilheimer Literaturpreis für Gertrud Fussenegger 1993, in : Berliner Hefte. Zur Geschichte des literarischen Lebens 9, S. 168 – 173. Fussenegger, Gertrud (1975) : Zwei am Topfmarkt, in : Literatur und Kritik 92, S. 72. Fussenegger, Gertrud (1977) : Ilse Aichinger. Schlechte Wörter, in : Literatur und Kritik 116/117, S. 431 – 432. Fussenegger, Gertrud (1980) : Leiser Austausch, in : Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie 5. Gedichte und Interpretationen. Frankfurt/M., S. 232 – 233.
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Fussenegger, Gertrud (2005) : Ein Gespräch über ihr Leben und Werk mit Rainer Hackel. Wien/ Köln/Weimar. Jelinek, Elfriede (1993) : »Ein paar symbolische Dachteln«. Leserbrief, in : taz 26. November 1993, S. 14. Reichensperger, Richard (1994) : Leserbrief an das Forum [ohne Titel], in : Forum 485/486, S. 1. Riccabona, Christine (2013) : »Das Werden ist nur sinnvoll in Bezug auf ein Sein« – Gertrud Fussenegger als Mentorin (anhand von Korrespondenzen im Nachlass), in : Petra Maria Dallinger (Hg.), Gertrud Fussenegger 1912 – 2012. Dokumentation eines Symposions. Linz, S. 103 – 120.
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Veronika Schuchter
Ilse Aichinger bestaunt Glühbirnen Ilse Aichingers, Marlen Haushofers und Doris Mühringers Verortung in der österreichischen Literaturlandschaft Es trennen sie nur wenige Monate voneinander. Ilse Aichinger wurde 1921, Marlen Haushofer und Doris Mühringer wurden 1920 geboren. Wenige Jahre später, 1926, folgte Ingeborg Bachmann. Allesamt wurden sie in die österreichische Zwischenkriegszeit hineingeboren, und in ein literarisches Klima, in dem Autorinnen höchstens geduldet waren, abhängig von männlichen Förderern, Mentoren, Verlegern, Journalisten, patriarchalen Gatekeepern sozusagen, die zwischen totaler Abwertung und paternalistischem Wohlwollen schwankten, häufig beides in einer Person. Mit einem dieser Gatekeeper waren alle drei verbunden : Hans Weigel, der sich als Förderer und Entdecker vieler Autorinnen hervortat, der, gerade im Fall von Marlen Haushofer, aber auch ein Bremser und Verhinderer sein konnte. Nur eine dieser vier, die Letztgeborene, sollte zum literarischen Superstar aufsteigen. Während von Bachmann vor allem das Bild einer tragischen Ikone blieb, hinter dem die Aufmerksamkeit für ihre Texte bis heute zurücksteht, haben ihre drei Zeitgenossinnen eine wechselhafte Rezeptionsgeschichte hinter sich. Der vorliegende Beitrag versucht diese Rezeption und die unterschiedlichen Mechanismen der Kanonisierung oder deren Scheitern paradigmatisch miteinander in Beziehung zu setzen. Stehen am Ende dieser Kanonisierungs- und Rezeptionsprozesse auch sehr unterschiedliche Ergebnisse, bewegten sie sich doch zumindest über einen gewissen Zeitraum in einem ähnlichen Umfeld und teilten Erfahrungen, litten unter denselben Vorurteilen und Hürden und kämpften mit ähnlichen Produktionsbedingungen im österreichischen literarischen Feld der Nachkriegszeit. Wien, 1940er/50er Jahre Aichinger und Haushofer starteten ihre literarischen Karrieren Mitte der 1940er Jahre, in der sich nach der nationalsozialistisch gleichgeschalteten Literaturpolitik und dem Ende des Zweiten Weltkriegs erst wieder neu formierenden österreichischen Literaturszene. Frei von nationalsozialistischen Altlasten war diese indes keineswegs, viele der alten Protagonisten kehrten rasch wieder, und auch alte Strukturen bekamen nur
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eine recht oberflächliche Politur. Für Doris Mühringer sind in den 1940ern ebenfalls schon drei kleine Publikationen im studentischen Umfeld verzeichnet. Danach arbeitete sie zunächst als Übersetzerin und Lektorin und veröffentlichte ihre ersten Gedichte 1954 in Hans Weigels Literaturzeitschrift Stimmen der Gegenwart, in der auch Aichinger und Haushofer mehrmals publizierten. Eine weitere Publikationsschnittstelle der drei Autorinnen ist die Stillere Heimat, 1970 in Facetten umbenannt, das maßgeblich von Karl Kleinschmidt herausgegebene und am Leben erhaltene literarische Jahrbuch der Stadt Linz. Aichinger, Haushofer und Mühringer gehören zu den dort am regelmäßigsten publizierenden Autorinnen und Autoren (vgl. Ivanovic 2021, S. 158 – 159), wobei sich hier schon die ersten Unterschiede im Status zeigen, wie Ivanovic festhält : Während der Modus vorsah, dass Autorinnen und Autoren Beiträge als Vorschlag einreichten, kam die Initiative im Fall von Aichinger von Beginn an von Kleinschmidt, der Aichinger jährlich schreibt und dringend um Texte von ihr bittet (vgl. ebd.), die Aichinger dann auch bereitwillig regelmäßig schickt. Das erklärt auch, weshalb von Aichinger, im Gegensatz zu Haushofer, nie Texte abgelehnt wurden (vgl. ebd.). Alle drei brachen ihr Studium ab, was wohl mehr über die Zeit als über ihre jeweiligen akademischen Ambitionen sagt, konnten aber erstaunlich schnell literarische Erfolge verbuchen. Schon im Jahr der ersten Veröffentlichung ihrer Gedichte, 1954, wurde etwa Mühringer mit dem Georg-Trakl-Preis ausgezeichnet, den Ilse Aichinger erst mehr als zwanzig Jahre später, 1979, erhalten sollte. Die Erfolge der drei Autorinnen genau in jener Zeit der späten 1940er und frühen 1950er Jahre waren kein Zufall. Johann Sonnleitner spricht von einer »kurzen Phase liberaler Aufbruchsstimmung, die einen gewissen Freiraum für schreibende Frauen bot, der mit der raschen Institutionalisierung des Literaturbetriebs wieder verschwand« (Sonnleitner 1999, S. 197). Auf große, umfangreiche Publikationen und damit auch Erfolge war das literarische Feld der 1950er Jahre in Österreich nicht ausgelegt. Das Verlagswesen lag noch brach, junge Autorinnen und Autoren waren auf Zeitungen und Zeitschriften angewiesen (vgl. Gürtler 2002, S. 206f.) und die Gunst derer, die sie herausgaben, was gerade junge Frauen in äußerst problematische Situationen bringen konnte. Hans Weigel und Hermann Hakel sind bis heute beispielhafte Figuren, an denen die Problematik des österreichischen Literaturbetriebs der Nachkriegszeit für Autorinnen plastisch wird : Sie ermöglichten erste Publikationen und stellten Kontakte her, agierten als Mentoren und Förderer, das Ganze war allerdings ein patriarchal geprägtes, hierarchisches System, in dem die Machtverhältnisse und Rollen klar verteilt waren. Evelyn Polt-Heinzl weist auf die weiblichen Förderinnen und Kulturveranstalterinnen (etwa Jeannie Ebner, Hertra Straub oder Hilda Polsterer) hin, deren Verdienste heute größtenteils aber vergessen sind, da diese sich und ihre eigene Leistung nicht so in den Mittelpunkt
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stellten wie die männlichen Protagonisten der Zeit (vgl. Polt-Heinzl 2018, S. 147f.). Weigel, der sich so sehr als Entdecker und Ermöglicher der Veröffentlichung von Die größere Hoffnung bei Fischer rühmte, als hätte er es selber geschrieben, verhinderte aus heutiger Sicht genauso viel, wie er ermöglicht hatte, was so weit führte, dass Haushofer nach seinem negativen Urteil ein ganzes Romanmanuskript vernichtete (vgl. Strigl 2007, S. 176) und ihm ihre Romane später nicht mehr schickte, um diesen Umstand nicht zu wiederholen. Auch Mühringer ging 1954 nach Wien, um Teil des WeigelKreises zu sein ; genauere Details zu Mühringers Verhältnis zum Weigel-Kreis sind nicht bekannt, anders als bei Aichinger und Haushofer hielt sich das biographische Interesse für die gebürtige Grazerin in Grenzen. Im Gegensatz zu anderen Autorinnen aus dem Weigel-Kreis kam es aber zu keinem Bruch, Weigel besuchte auch später noch Lesungen von Mühringer, und diese verfasste 1998 auch einen Beitrag für den Erinnerungsband Im Dialog mit Hans Weigel (Vujica 1998, S. 190). Trotz aller Gemeinsamkeiten – ähnlichen ersten Schritten, geteilten Förderern, einem ähnlichen Publikationsumfeld – gehen die literarischen Wege der drei Autorinnen bald in unterschiedliche Richtungen, was die Rezeption schon früh in auseinanderstrebende Bahnen lenkt. Ilse Aichinger gelang es im Gegensatz zu Haushofer und Mühringer rasch, dieses Umfeld und die damit verbundenen Abhängigkeiten hinter sich zu lassen und sich nach Deutschland zu orientieren – was ihr Weigel und Hakel durchaus verübelten. Aichingers frühe große Erfolge ermöglichten ihr eine Emanzipation und eine Karriere, die weder Haushofer noch Mühringer zuteilwurde, die sie aber auch nicht unbedingt suchten. Aichinger hatte mit Fischer nicht nur das Renommee eines durch die Exilzeit zwar angeschlagenen, aber prestigeträchtigen deutschen Verlages im Rücken, ihre Teilnahme an den Treffen der Gruppe 47 und der Gewinn des Preises 1952 machten sie über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt und verankerten sie im deutschen Literaturbetrieb, wie es außer ihr in dieser Zeit nur noch ihrer Freundin Ingeborg Bachmann gelang. Auch Mühringer konnte mit dem dritten Preis des Lyrikpreises der Neuen Deutschen Hefte 1956 einen großen Erfolg in Deutschland verbuchen (übrigens hinter zwei weiteren Österreicherinnen, nämlich Christine Busta und Christine Lavant). Mit Gottfried Benn hatte sie auch einen prominenten Bewunderer, dennoch gelang es ihr nicht, im deutschen Literaturbetrieb zu reüssieren. Marlene Haushofer wäre es hingegen, der Einschätzung ihrer Biographin Daniela Strigl nach, wohl ein Leichtes gewesen, eine Einladung zur Gruppe 47 zu erhalten, doch es zog sie nicht nach Deutschland – das Pendeln zwischen Steyer und Wien, zwischen Provinz und Stadt, zwischen zurückgezogenem »Hausfrauenleben« und dem kulturellen Kreis um Hans Weigel war zermürbend genug und fühlte sich wie ein Doppelleben an. Dem noch eine weitere Front hinzuzufügen, wäre allein logistisch schwierig gewesen. So bleibt es müßige Spekulation, welche Richtung Haushofers
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Karriere genommen hätte, hätte sie nach Erfolg auf dem bundesdeutschen Literaturmarkt gestrebt. Ein Blick in die Literaturgeschichte(n) Während Aichinger und Haushofer einen schwankenden Grad an Kanonisierung im gesamten deutschsprachigen Raum erreicht haben, ist Doris Mühringer großteils in Vergessenheit geraten. Gemessen an der Literaturgeschichtsschreibung ist der Kanonisierungsgrad der drei Autorinnen im Vergleich eindeutig zu beantworten : Aichinger wird in fast allen zumindest genannt, oft auch länger behandelt – unter Haushofer findet sich auch meist ein Eintrag, allerdings mit dem Namen Albrecht davor. Der Befund zu Mühringer könnte nicht eindeutiger sein ; sie kommt in Literaturgeschichten schlichtweg nicht vor, auch nicht in Literaturgeschichten, die nur Frauen oder der österreichischen Literatur gewidmet sind, dasselbe trifft auf literaturgeschichtliche Darstellungen der deutschsprachigen Lyrik zu. Nicht einmal in Sigrid SchmidBortenschlagers verdienstvoller Literaturgeschichte Österreichische Schriftstellerinnen 1800 – 2000, in der Aichinger und Haushofer ausführlich behandelt werden, wird ihr Name auch nur genannt. Es ist, als hätte sie nie existiert, was seltsam anmutet angesichts der Tatsache, dass ihr Name in den 1950ern »gleichberechtigt mit jenen von Ingeborg Bachmann und Christine Lavant« (Thuswaldner 2009, S. 10.) genannt worden sei, wie Anton Thuswaldner in seinem Nachruf auf Mühringer 2009 festhält. Auch zu ihrem 70. Geburtstag zählte die Kleine Zeitung Mühringer »zweifellos zu Österreichs wesentlichen Autoren der Gegenwartspoesie« (Kleine Zeitung 1990). An der prinzipiellen Unterrepräsentation von Lyrik in Literaturkritik und Literaturwissenschaft liegt es nicht, auch einschlägige Werke zur deutschsprachigen Lyrik nach 1945 erwähnen die Grazer Autorin nicht. In den großen bio-bibliographischen und werkgeschichtlichen Lexika finden sich Aichinger und Haushofer, Mühringer ist weder im KLG noch im Kindler zu finden. Über Literaturgeschichten hinaus ist die Recherche zwar mühsam, ob der sehr verstreuten Ergebnisse, fündig wird man jedoch sehr wohl. Dabei fällt auf, dass gerade die Auslandsgermanistik größeres Interesse an Mühringer zeigt ; so gibt es neben vielen weiteren Beiträgen eine Bibliographie von Jorun B. Johns ( Johns 1992). Erwähnenswert ist außerdem eine Dissertation von Christian Loidl (Loidl 1983). Dass der rein quantitativ geprägte Blick ins Register allein nicht reicht, zeigt Das Reclam Buch der Deutschen Literatur : Dort gibt es zwei Einträge zu Aichinger, einmal in einer Bildunterschrift, in der festgehalten wird, dass sie, gemeinsam mit Hans Werner Richter, Walter Jens und Ernst Rowohlt »ein Paket mit 150 Glühbirnen [be-
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staunt], die die Firma Osram für das Gruppentreffen 1952 gestiftet hatte« (Meid 2007, S. 445). Im Haupttext zur Gruppe 47 wird Aichinger, immerhin Preisträgerin 1952, nicht erwähnt. Der zweite Eintrag verweist auf eine ganze Seite, die Leben und Werk von Günter Eich gewidmet ist ; in einer Spalte mit seinen wichtigsten Lebensdaten findet man dann Ilse Aichinger : »1953 Heirat mit Ilse Aichinger« (ebd., S. 447). Ihr eigenes Werk bleibt unerwähnt. Darüber könnte man hinwegsehen, wäre es nicht paradigmatisch für die literaturhistorische Rezeption Aichingers und Haushofers. Ein weiterer Befund, der für beide Autorinnen Gültigkeit hat, ist die Reduzierung ihres literarischen Schaffens auf einen Text, während das restliche Werk ignoriert wird. Wird Haushofer überhaupt angeführt, dann als Autorin des Romans Die Wand, ihre anderen Romane Eine Handvoll Leben, Die Mansarde und Himmel, der nirgendwo endet, ihre Erzählungen, Hörspiele und Kinderbücher bleiben unerwähnt. Stattdessen findet der biographische und regionale Hintergrund auffallend häufig Erwähnung. So reiht sich etwa Nürnberger in die lange Reihe derjenigen ein, die Haushofer als Hausfrau bezeichnen ; man erfährt wenig über ihr Werk, aber immerhin, dass sie »das Leben einer bürgerlichen Hausfrau, Mutter und Sprechstundenhilfe« (Nürnberger 2006, S. 624) führte und ihr Ehemann Zahnarzt war. Die Wand, so wird analysiert, sei in den 1980ern deshalb wiederentdeckt worden, weil man es nicht nur »als Darstellung weiblicher Isolation« (ebd., S. 625), sondern auch als Kritik an Technik und Krieg lesen konnte. Erstaunlich daran ist vor allem der mediale Kontext : Dass die zeitgenössische, feuilletonistische Rezeption das Private bisweilen in den Vordergrund rückt, ist nicht weiter verwunderlich, dass allerdings die Literaturgeschichtsschreibung, die auf literarische und literatursoziologische Entwicklungen abzielen sollte, Haushofer – wenn sie sie nicht ignoriert – als Zahnarztgattin und Hausfrau inszeniert, ist doch befremdlich. 2
Rezeption im Feuilleton Die Datenbank des Innsbrucker Zeitungsarchivs zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur spricht eine deutliche Sprache : Fast 500 Artikel sind seit dem Jahr 2000 dort für das deutschsprachige Feuilleton zu Aichinger und ihrem Werk verzeichnet. Marlen Haushofer kommt auf immerhin 155, wobei Julian Pölslers Verfilmung von Die Wand mit Martina Gedeck in der Hauptrolle die Rezeption des Werks und auch das Interesse an seiner Autorin wiederbelebte. Doris Mühringer kommt hingegen nur auf fünf Artikel nach 2000, die Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Kinder- und Jugendliteratur bleibt ohne Resonanz in der Presse. Erst ihr Tod brachte Mühringer wieder ins Feuilleton, eine Handvoll schmaler Artikel erschien, von denen nur einer das Prädikat Nachruf verdient. Alle betonen, dass Mühringer »zu den gro-
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ßen Zukunftshoffnungen der österreichischen Literatur« (Thuswaldner 2009, S. 10.) zählte, aber schon bald in Vergessenheit geraten sei. Als stille Außenseiterin wird sie gewürdigt, der Aufmerksamkeit nicht wichtig gewesen sei : »Es hatte den Anschein, als ob ihr, die sich nie vordrängte, das recht war.« Während die Nachrufe auf die österreichische Presse beschränkt blieben, finden sich Besprechungen ihrer Gedichtbände und Kurzprosa, etwa Tanzen unter dem Netz 1985 oder Reisen wir 1995 auch in der Neuen Zürcher Zeitung ; Staub öffnet das Auge wurde 1979/80 auch in einigen kleineren Deutschen Blättern besprochen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rezeption Mühringers von einer jahrzehntelang andauernden, extrem ausgeprägten Divergenz zwischen der ihr zugemessenen Bedeutung als Lyrikerin und dem Mangel an Aufmerksamkeit, an dem ihr Werk litt, bestimmt wird. Koppensteiner und Bjorklund führen das schon 1979 auf ihr schmales Werk zurück und darauf, dass sie sich keiner Gruppe zuordnen ließ (Koppensteiner/Bjorklund 1979, S. 205). Ruediger Engerth schreibt in seiner Rezension zu Staub öffnet das Auge im Podium treffend : »Doris Mühringer gehört zu den Stillen, den Schweigsamen im Lande, die keine ›Botschaft‹ anbieten und für die niemand die Trommel rührt« (Engerth 1977, S. 36). Aichingers feuilletonistische Rezeption ist die umfangreichste, aber wohl auch durchwachsenste. Neben detaillierten Werkbetrachtungen finden sich Artikel, bei denen einem das Schaudern kommt. Zum Anlass der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur an Aichinger verfasst Reinhard Tschapke einen Erinnerungstext an die Gruppe 47. Da heißt es : Bevor Richter den ›flotten Falter‹ Ilse Aichinger kennenlernte, hatte ihm jemand erzählt, sie sei ein Pummelchen. Doch die in Linz geborene, dann in Wien lebende Frau war in Wahrheit schlank und schön. Einige Tagungsteilnehmer der Gruppe 47 gerieten aus dem Häuschen, vielleicht auch deshalb, weil die Aichinger so schön vorlas. Das brachte ihr gleich das nächste Etikett ein : Märchentante. (Tschapke 1996, ohne Seite)
Tschapke referiert auf die Erinnerungen Hans Werner Richters, er ironisiert zwar, führt seinerseits den sexistischen Ton aber fort. Es folgt ein Bericht darüber, wie Aichinger sich auf einem Treffen der Gruppe über einen nackten Mann in ihrem Bett beschwerte, außerdem wird erwähnt, dass ihr Mann Günter Eich den Preis der Gruppe gewann, während Aichingers eigener Preisgewinn unerwähnt bleibt. Joanna Russ beschreibt in ihrer wenig an Gültigkeit verlorenen Analyse How to Suppress Women’s Writing (Russ 1983) zehn Mechanismen zur Abwertung weiblicher Autorinnenschaft, die fast alle auf die drei Autorinnen, vor allem aber auf Haushofer und Aichinger zutreffen. Unter »False Categorizing« fasst sie die Tendenz, Autorinnen über männliche Bezugspersonen zu definieren. Ist Haushofer die Hausfrau und Zahnarztgattin, wird Aichinger
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als »Frau Eich« und als Familienmutter inszeniert, wie Doris Moser in ihrem Aufsatz »Die Bachmann, die Aichinger, die Mayröcker« herausarbeitet (Moser 2013). Im Gegensatz zu Marlen Haushofer hatte Ilse Aichinger das Glück eines langen Lebens, was sich auch in der Rezeption positiv niederschlug. In den vielen Nachrufen im deutschsprachigen Feuilleton hat sich das Bild der Familienmutter und Ehefrau Günter Eichs drastisch geändert. Die Ehe mit Eich wird zur biographisch beiläufig vorgebrachten Fußnote, der Fokus liegt ganz auf ihrem (meist als schmal bezeichneten) Werk und ihrem sprachlichen Zugang zur Welt. Bis auf wenige Ausnahmen ist der nicht selten paternalistische Tonfall der frühen Rezeption völlig verschwunden, Aichinger wird als präzise Sprachkünstlerin gefeiert, es werden Begriffe wie »magisch« und »zauberisch« für ihr Werk verwendet, die sie in eine genieästhetisch angehauchte Richtung lenken. Interessant ist, dass Aichinger in den Nachrufen, die ja immer eine erste abschließende Einordnung des Werks vornehmen, kaum in der österreichischen Literatur verortet wird. Zwar wird sie als österreichische Dichterin oder Schriftstellerin bezeichnet, darüber hinaus spielt eine Einordnung in die österreichische Literatur aber keine Rolle. Auch hier scheint die Gruppe 47, ihre Jahre in Deutschland und die positive Aufnahme im deutschen Literaturbetrieb die Rezeption langfristig geprägt zu haben. Haushofer hingegen verliert das stark definierende Prädikat der Österreicherin in der Presserezeption erst posthum, verbunden mit der feministischen Neuentdeckung, die in Die Wand eine kollektive, nicht national gebundene, weibliche Erfahrung beschrieben sieht. Arbeitet man sich durch die feuilletonistische Rezeption Marlen Haushofers seit den 1960er Jahren, kommt irgendwann Verwunderung auf, wie oft eine Autorin wieder und neu entdeckt werden kann. Die sich in den 1970ern im deutschsprachigen Raum etablierende feministische Rezeption konnte ein zweischneidiges Schwert sein. Marlen Haushofer brachte sie nicht nur eine ihrer vielen Wiederentdeckungen ein, es war die Frauenliteraturforschung, die Die Wand in den 1980ern groß machte und eine langfristige Kanonisierung Haushofers einläutete – allerdings immer versehen mit dem abwertenden Label der Frauenliteratur, was ihre Rezeption wiederum einschränkte und, so kann man zumindest spekulieren, ihrer Erforschung und ihrem Publikationspotenzial nicht zuträglich war. So wurde ihr Werk, sowohl in der Literaturkritik als auch in der Wissenschaft, vorrangig aus Genderperspektive betrachtet, während andere Aspekte völlig übersehen und ignoriert wurden. Aichinger hingegen fand zunächst wenig Anklang in der feministischen Rezeption, Sigrid Weigel sah den Grund dafür darin, dass »die Thematisierung weiblicher Erfahrungen bei der Lektüre ihrer Texte nicht ins Auge springt« (Weigel 1987, S. 11). Das bringt den Vorteil einer offeneren, weniger von geschlechtlich codierten Rezeptionsschablonen geprägten Werkinterpretation mit, gleichzeitig war es eine feministisch orientierte Literaturwissenschaft,
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die über Jahrzehnte hindurch kritische Kanonarbeit geleistet und an der Sichtbarkeit von Autorinnen gearbeitet hat. Ein feministischer Rezeptionsschub, wie Haushofer ihn in den 1980ern erfuhr, ist für Aichinger daher nicht zu verzeichnen. Langfristig gesehen hat aber auch Aichinger von der feministischen Kanonarbeit profitiert, im Gegensatz zu Doris Mühringer, die unter dem Radar der feministischen Literaturwissenschaft blieb. Will man den Artikel die als Adelung gelten lassen, statt als seltsame Singularisierung einzelner Frauen, die Bachmann, die Mayröcker, die Jelinek (vgl. dazu auch Moser 2013), so verfügt auch hier Ilse Aichinger über am meisten symbolisches Kapital im Vergleich mit Haushofer und Mühringer. Folgt man der literaturhistorischen und feuilletonistischen Rezeption, so wurde Mühringer von der Zukunftshoffnung zum geschätzten Geheimtipp, Haushofer zur feministischen Ikone, für die oft auch Verachtung ob ihres provinziellen Hausfrauenlebens mitschwang, Aichinger aber, das zeigt sich im Jubiläumsjahr 2021 deutlich, wurde »zu einer fast mythischen Figur« (Böttiger 2021, S. 20) verklärt, wie Helmut Böttiger in der SZ festhält. Literatur Böttiger, Helmut (2021) : Die Radikale, in : Süddeutsche Zeitung 30. Oktober 2021, S. 20. Engerth, Ruediger (1977) : Doris Mühringer »Staub öffnet das Auge«. Rezension, in : Podium 24, S. 36. Gürtler, Christa (2002) : »… weil ja fast alle Frauen stumm dabeisaßen«. Debüts österreichischer Schriftstellerinnen 1945 – 1950, in : Christiane Caemmerer, Erfahrung nach dem Krieg : Autorinnen im Literaturbetrieb 1945 – 1950. BRD, DDR, Österreich, Schweiz. Frankfurt/M., S. 203 – 215. Ivanovic, Christine (2022) : Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921 – 2016). Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im StifterHaus Linz. Johns, Jorun B. (1992) : Doris Mühringer : Eine Bibliographie, in : Modern Austrian Literature 25/1, S. 109 – 122. Koppensteiner, Jürgen/Beth Bjorklund (1979) : »Dunkel ist genug« : Zur Lyrik von Doris Müh ringer, in : Modern Austrian Literature 12.3/4 (= Special Issue on Austrian Women Writers), S. 192 – 207. Loidl, Christian (1983) : Wege im Dunkel. Möglichkeiten zur Analyse von Doris Mühringers poetischem Werk. Dissertation. Wien. Meid, Volker (²2007) : Das Reclam Buch der Deutschen Literatur. Stuttgart. Moser, Doris (2013) : Die Bachmann, die Aichinger, die Mayröcker. Zur Konstruktion von Autorinnen-Images in journalistischen Medien, in : Brigitte E. Jirku/Marion Schulz (Hgg.), Fiktionen und Realitäten. Schriftstellerinnen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Frankfurt/M., S. 101 – 123.
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Nürnberger, Helmuth (2006) : Geschichte der Deutschen Literatur. München/Düsseldorf/Stuttgart. O. A. (1990) : Geburtstag. Doris Mühringer, in : Kleine Zeitung 18. September 1990, ohne Seite (zitiert nach dem Innsbrucker Zeitungsarchiv). Polt-Heinzl, Evelyne (2018) : Die grauen Jahre. Literatur nach 1945 – Mythen, Legenden, Lügen. Wien. Russ, Joanna (1983) : How to Suppress Women’s Writing. Austin. Sonnleitner, Johann (1999) : Grenzüberschreitungen. Ilse Aichinger und die Gruppe 47, in : Stuart Parkes (Hg.), The Gruppe 47 Fifty Years on : A Re-Appraisal of Its Literary and Political Significance. Amsterdam, S. 195 – 212. Strigl, Daniela (2007) : »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«. Marlen Haushofer – Die Biographie. Berlin. Tschapke, Reinhard (1996) : Dichter suchen Nähe, in : Die Welt 18. März 1996, ohne Seite (zitiert nach dem Innsbrucker Zeitungsarchiv). Thuswaldner, Anton (2009) : Lyrikerin Doris Mühringer tot, in : Salzburger Nachrichten 27. Mai 2009, S. 10. Vujica, Elke (1998) : Im Dialog mit Hans Weigel. Freunde und Weggefährten erinnern sich. Wien. Weigel, Sigrid (1987) : Schreibarbeit und Phantasie : Ilse Aichinger, in : Inge Stephan/Regula Venske/Sigrid Weigel (Hgg.), Frauenliteratur ohne Tradition ? Neun Autorinnenporträts. Frankfurt/M., S. 10 – 37.
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Alexander Schwieren
Verhandlungen mit dem Schlusspunkt Zeit und Schrift bei Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker Meine erste Berührung mit Ilse Aichinger ist eine frühe, um es genau zu nehmen : eine pränatale. Zumindest legt das der Aufnahmeschein nahe, den meine Mutter in der Nacht meiner Geburt im Krankenhaus ausgefüllt und später in ihrer Ausgabe von Aichingers Erzählungsband Nachricht vom Tag (1970) belassen hat – ob sie die Seiten vor der (mit dem Aufnahmeschein) bezeichneten Stelle tatsächlich in meiner Geburtsnacht, noch früher oder auch (noch) gar nicht gelesen hat, kann ich sie nicht mehr fragen. Annehmen lässt sich allein, dass sie nach dieser Nacht vorerst wenig Zeit zum Lesen gefunden hat. Die wie auch immer zu deutende Lektüreerfahrung vor meiner Geburt führt mich Jahrzehnte später zurück zu Ilse Aichinger und ihrem Wunsch, noch vor ihrer Geburt gefragt worden zu sein, »ob man nicht einfach wegbleiben will«. Aichingers Antwort – »Dann wäre ich weggeblieben« (Interviews 2011, S. 202) – spannt einen Horizont auf, der mich ebenso sehr interessiert wie der – entgegengesetzte – Wunsch Friederike Mayröckers, immer dableiben und weiter schreiben zu können : »Meiner Ansicht nach dürfte das Ende überhaupt nicht kommen« (Kospach 2008, o. S.). Die invertierten Wünsche – nicht leben wollen bei der Geburt, nicht sterben wollen im hohen Alter – markieren die Grenzen zweier Werke, die womöglich mehr verbindet, als Widerstände gegen biologische Grundgesetze der menschlichen Existenz. Immerhin sind beide Werke oftmals als hermetisch beschrieben worden. Und beide Werke zählen zweifellos zu den Meisterinnenwerken der deutschsprachigen Literatur. Dennoch gestaltet sich die Suche nach Korrespondenzen schwieriger als anzunehmen wäre. Zum einen fehlen (mit wenigen Ausnahmen) Spuren einer direkten Auseinandersetzung der Autorinnen mit dem Werk der anderen – ein Umstand, der aufgrund der vielen Überschneidungspunkte überrascht : Mayröcker lebte von ihrer Geburt 1924 bis zu ihrem Tod 2021 fast durchgehend in Wien (in den 1970er Jahren wohnte sie zeitweise auch in Berlin) ; Aichinger, 1921 ebenfalls in Wien geboren, verbrachte dort ab 1927 den größeren Teil ihrer Kindheit und (neben Jahren in Bayern, Salzburg und Frankfurt) auch den größeren Teil ihres späteren Lebens. Mayröcker und Aichinger veröffentlichten ihre Werke von den 1940er Jahren bis in die Nullerjahre (Aichinger) bzw. bis zum Jahr 2020 (Mayröcker). Vor allem zu Beginn erschienen ihre Texte an identischen Publikationsorten wie der (für den Wiederbeginn einer österreichi-
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schen Literatur nach 1945 wichtigen) Zeitschrift Plan (1938, 1945 – 1948) oder der von Hans Weigel herausgegebenen fünfbändigen Anthologie Stimmen der Gegenwart (1951 – 1956). Auch später, bis zur Jahrtausendwende, erschienen ihre Texte immer wieder in denselben Medien, wie etwa in der Wochenbeilage Spectrum der Wiener Tageszeitung Die Presse. Und sie hatten gemeinsame Bezugspunkte im literarischen Leben Wiens, nicht zuletzt die Literatur Ernst Jandls : Der Co-Autor (und Lebenspartner) Mayröckers wurde auch von Aichinger geschätzt (vgl. AuzMi 2021, S. 207 ; FuV 2001, S. 113). Umgekehrt hatte sich Jandl auch mit dem Werk Aichingers beschäftigt (vgl. Jandl 1985a, Jandl 1985b). Zum anderen weisen auch die Sujets ihrer literarischen Arbeiten auf den ersten Blick kaum Überschneidungspunkte auf : Von Aichingers lebenslanger Auseinandersetzung mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Shoah scheinen Mayröckers Texte, die kaum auf politische oder überhaupt historische Kontexte Bezug nehmen, weit entfernt. Und dennoch oder, besser gesagt, aufgrund dieser Diskrepanz zwischen augenfälligen Gleichzeitigkeiten auf der einen, fehlenden Bezugnahmen und inhaltlichen Unterschieden auf der andern Seite möchte ich versuchen, den Blick auf einige Aspekte zu richten, die in den Texten Aichingers und Mayröckers eine wichtige Rolle spielen, um davon ausgehend Differenzen und Korrespondenzen der Werke genauer zu begreifen. Dabei sollen mit der Verhandlung temporaler Narrative, der Arbeit an und mit Sprechpositionen und zuletzt (besonders naheliegend) Figurationen des Ende(n)s drei Aspekte im Mittelpunkt stehen, die nicht zuletzt miteinander gemein haben, dass sie Leben und Schreiben, Sprechen und Schweigen, Präsenz und Absenz zueinander in Bezug setzen. Meine Lektüre setzt dort an, wo diejenige meiner Mutter – vermutlich – endete. Die Zeit der Literatur I : Tag und Augenblick Die Erzählung »Nachricht vom Tag« (1965) erzählt mit dem temporären Protagonisten – dem Tag – vor allem von einer unbegreiflichen Reise, die in Rotterdam beginnt – »Der Tag ist in Rotterdam zu Hause« (EE 1991, S. 146) –, aber schon bald in raumgreifenden Schritten in Bewegung kommt : »Der Tag will weiter« (ebd.). Die Reise führt ihn »nach Mecklenburg«, »zu den Wolgadeutschen nach Saratow«, nach »Biskupice bei Preßburg« und gen »Südpol« ins »Lager M.« : »Das ist mein Ort, sagt der Tag« (ebd., S. 147 – 149). Aber auch dort hält es ihn nicht, sein Ort ist offenbar nicht sein Ziel oder Ende, es zieht ihn weiter nach »Scottsbluff, das schon in Nebraska liegt«, nach »Alaska«, später nach »Peking« und »Hokaido«, um zuletzt im »Anhalti-
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Alexander Schwieren
schen«, genauer in »Zerbst« zu enden (ebd., S. 150 – 152). Aichingers Erzählung hält sich nicht mit den Orten oder (Tages-)Zeiten dieser Reise auf, sie bringt stattdessen – an deren Stelle – eine Rast- und Haltlosigkeit zur Sprache, die nicht weiß : »Wohin ?« Wohin mit dem Tag, wohin »mit einem, der der Tollwut nicht nur verdächtig« ist ? Die Reise des Tages bringt mit ihrer geographischen Hybris eine Stimme zur Sprache, der zu guter Letzt der »Schaum« auf den »Lippen« steht (ebd., S. 156). Denn ihre Sprache »reicht nicht weit«, wie Aichinger in der – nicht im Erzählungsband Nachricht vom Tag, sondern im Erzählband Eliza Eliza (1965) (und dort auch mit der »Nachricht vom Tag«) abgedruckten – poetologischen Miniatur »Meine Sprache und ich« festhält (ebd., S. 198). Da ist es nur verständlich, wenn des Tages Weltreise sie in den Wahnsinn treibt. Sie selbst landet schließlich an der Grenze, »nahe der Zollhütte«, und wird »sich, wie ich vermute, von hier nicht mehr wegrühren« (ebd., S. 200f.). Nicht zuletzt lässt sich mit dieser Personalisierung der Sprache auch die »Nachricht vom Tag« als poetologischer Text lesen, der mit der permanenten Grenzüberschreitung weniger vom Ablauf eines Tages oder der (Lebens-)Zeit und von neuen Orten oder Ländern zu berichten weiß, als vielmehr von sich selbst : einer pulsierenden Annäherung an Grenzen, einem Fortsetzen und -schreiben, das ein Denken der Flucht und der Fluchtpunkte stärker umtreibt, als jede Form der Entdeckung. Und wenn es jetzt […] gleich zwölf schlägt, so möchten Sie doch wissen, wofür ich sprach. Für meine Großmutter und ihr letztes Viertel ? Das ist richtig […] Für das Mitleid mit verlöteten Särgen […] Das auch […] Für die Symphonia domestica, auch […] für die Raben- und Sperlingsschwärme in Gottes alter Luft, für Lorbeerkampfer, die natalensische Wegwespe und den Stimmbruch ? Ja, dafür sprach ich […] Und für die Tollwut. So ausschließlich für sie wie für den Rest. Aber der Schaum steigt mir im Mund und anderswo, ich muß mich eilen. Wollen wir nicht versuchen, alles auf einen Arm zu nehmen, einen der nichts ausläßt. (Ebd., S. 155)
Die »Nachricht vom Tag« spricht für alles und nimmt alles auf den Arm – in einer tollwütigen Raserei, die weiter muss (»ich muß mich eilen«), für die aber, das liegt der Tollwut im Blut, kein Ziel existiert. Die Texte Aichingers sprechen in vielen Stimmen von Wegen und Strecken, die zwangsläufig sind, deren Fluchtpunkte aber vor allem zwangsläufig unerreichbar bleiben. Vor diesem Hintergrund liegt Aichingers spätere Konsequenz nahe : »Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen […]. Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren« (UR 2005, S. 15). Diese Prämisse bildet nicht nur das Leitmotiv der Feuilletons, die Aichinger von 2001 bis 2004 für den Wiener Standard verfasst hat und von denen eine Auswahl 2005 unter dem Titel Unglaubwürdige Reisen auch in Buchform
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veröffentlicht wurde. Sie ist auch vielen weiteren Texten Aichingers eingeschrieben, denen die Erfahrung fremder Orte zwar nicht ganz verschlossen ist (was Titel wie »Auckland«, »Privas«, »Dover« oder »Albany« andeuten mögen), die aber zuverlässig zurückkehren, nicht nur in die Wiener Gassen der Kindheit – wie die Kleistgasse, die Moosgasse und die Fasangasse, die der Prosasammlung Kleist, Moos, Fasane (1987) den Titel geben. Aichingers Texte kehren auch in ihrer Sprache zurück, zurück bis zuletzt zu einem Widerstand gegen die »Pest der Verharmlosung und des primitiven Einverständnisses« (St 2006, S. 35). Anders gesagt : Ebenso gering, wie das Interesse an einer konventionellen Nachricht vom Tag, d. h. an einer zeitlichen Struktur, ist das Interesse an Strecken im Sinne der Geographie. Aichingers Texte erproben das Sprechen nicht als Erzählung, sondern als Fluchtbewegung im Angesicht der individuellen und kollektiven Katastrophen : weg von einem naiven, konventionellen Sprechen hin zur radikalen Überschreitung, weg aus der unhintergehbaren Erfahrung – nicht zuletzt : der Ermordung, Vertreibung und Verfolgung der europäischen Juden und damit auch von Aichingers Familie – in eine Sprache, die widerstandsfähig ist, weil sie mit unmöglich gewordenen Konzepten wie Harmonie, Konsens oder Sinnhaftigkeit bricht, weil sie die Flucht ergreift, wo – im Angesicht der Gewalt – eine einverständige, eingängige und damit selbstvergessene Sprache zu Wort kommen will. Friederike Mayröckers Schreiben verläuft demgegenüber nicht flucht-, sondern reflexartig : »immer wieder = abermals : Abraham : tauchen sie auf die Erinnerungsbilder : deine Füsze im Flüszchen v. D., usw.«, heißt es in Mayröckers jüngstem Buch da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete (Mayröcker 2020, S. 73). Vom Synonym (»=«) zum annähernden Homonym (» :«) und wieder zurück zum Ausgangspunkt (»immer wieder […] tauchen sie auf die Erinnerungsbilder«) : Der Text entsteht nicht als Repräsentation einer Erinnerung, sondern stellt diese durch die reflexartigen Sprünge erst her. »Erfahrungen und Gedächtnisbilder werden erst im Ästhetischen geschaffen« (Arteel 2007, S. 67). Die Differenz dieser Schreibweisen lässt sich auch mit der Unterscheidung von ›Recherche‹ und ›Worteinfall‹ fassen, die sich das Ich bei Mayröcker einsagen lässt : […] was soll es denn sein, über welches Thema soll ich denn recherchieren, nein, sagt sie, würdevolle Worteinfälle geistreiche Gespenster, du brauchst nicht zu recherchieren […] Die Worte als Worte ausstellen, ohne ihren Sinn zu entfalten. (Mayröcker 2020, S. 83)
Michaela Nicole Raß hat diese Ausstellungspraxis als Ekphrasis beschrieben, in der Bilder dem Leser vor Augen gestellt werden (Raß 2014). Dass diese Bilder nicht an Repräsentation, sondern an (unerreichbarer) Präsenz, an »Gegenwärtigkeit« interessiert sind, ist vielfach hervorgehoben worden (vgl. etwa Strohmeier 2009, S. 138).
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Dieses Interesse an der Präsenz und Gleichzeitigkeit eines Bildes, eines Augenblicks, korrespondiert mit dem Desinteresse Ilse Aichingers an chronologischen Narrativen : Beiden Autorinnen gemeinsam ist ein Schreiben, das etablierte Darstellungsweisen durchstreicht. In diesem Sinn spielen – wie bei Aichinger – auch bei Mayröcker Wege und Strecken als »Knotenpunkte« für unterschiedliche Wort- und Bedeutungsfelder eine wichtige Rolle (vgl. Kyora 2009, S. 141) als gleichberechtigte »Worteinfälle« bzw. »Gespenster«. Wenn es möglich (und zudem noch erhellend) sein sollte, die Werke Aichingers und Mayröckers in ihren Korrespondenzen zu begreifen, dann liegt es damit nahe, diesen Zusammenhang im Jenseits von Chronologien zu suchen. Die Zeit der Literatur II : Spiegelungen und Synkopen Bei Ilse Aichinger erlaubt die Reise oder eben der Weg, die Gasse, als Motiv eine Annäherung an eine andere Bedeutung der Zeit. Anders gesagt : Die Reise macht bei Aichinger jeden Zeitbegriff fragwürdig. Mit Jacques Derrida könnte man versuchen, sie als Dekonstruktion der Zeit zu lesen, nicht erst in der »Nachricht vom Tag«. Denn schon in der berühmtesten Erzählung Aichingers, in der »Spiegelgeschichte«, spielen Wege oder genauer : Übergänge eine zentrale Rolle. Aichinger entwickelt mit dieser Geschichte eine eigene Form »rückläufigen Erzählens«, indem sie die Lebensgeschichte einer jungen Frau eben rückwärts, von ihrem frühen Tod ausgehend und bis hin zu ihrer Geburt, als Du-Erzählung zur Sprache bringt (Willer 2015, S. 356). Der Schluss Stefan Willers, insbesondere mit dem Rückgang vor den (letztlich auch für die Mutter tödlichen) Abort einer ungewollten Schwangerschaft und der zunehmenden Entfernung von Alter und Tod lasse sich die »Spiegelgeschichte« »auch als Element einer Kulturgeschichte des ›Anti-Aging‹ lesen« (ebd., S. 359), erscheint in diesem Zusammenhang zumindest fragwürdig. Denn nicht die Jugend oder Kindheit erscheinen als Fluchtpunkt dieser Erzählung. Das liegt schon deshalb nahe, weil die Erzählung auch in ihrer Chronologie nicht einfach rückwärts verläuft. Sie setzt mit dem Tod im Kranken- oder Leichensaal und der Idee der Rückläufigkeit – »Zeit für dich, aufzustehen« (Ge 1991, S. 63) – ein, läuft dann aber erst einmal vorwärts, zur Leichenrede : »Aber da hat er schon begonnen, der Vikar.« Und während etwa der »Sarg wieder herauf« gehoben und der »Kranz vom Deckel« genommen wird, verkehrt sich vielfach nicht nur die Chronologie, sondern auch die Semantik. Die zuvor – in der Erzählungslogik also : danach – vom Vikar gesagten »Totengebete« haben nun einen anderen Sinn : »[…] damit du leben kannst« (ebd.). Entscheidend ist an dieser Stelle die Kausalität : Erst aufgrund der Totengebete, aufgrund des – chronologisch
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endgültigen – Todes wird das Leben möglich. Aus dem Beileid des Vikars gegenüber dem hinterbliebenen Freund der Verstorbenen werden dementsprechend – und einer Logik umgekehrter Chronologie widersprechend – Glückwünsche. Auch am Ende der Erzählung, also bei der Geburt der ›jungen Frau‹, geht die umgekehrte Chronologie fehl – wenn sie denn umgekehrt sein will : »Du kommst zur Welt und schlägst die Augen auf« (ebd., S. 74). Das Ende verrät seine Richtung nicht, es bleibt in der Schwebe zwischen Geburt und Tod : »›Es ist zu Ende‹ – sagen die hinter dir, ›sie ist tot !‹ Still ! Laß sie reden !« (ebd.). Wohin aber führt diese Erzählung, wenn sie nicht auf die Kindheit und nicht auf die Geburt hin zuläuft ? Die Frage nach der Eindeutigkeit von vorher und nachher, von Ordnung, wird in der Erzählung selbst variiert : »Vom Hafen heulen die Schiffe. Zur Abfahrt oder zur Ankunft ? Wer soll das wissen ?« (ebd., S. 66). »Kann das denn sein ? Bevor er weiß, daß du das Kind erwartest, nennt er dir schon die Alte ?« (ebd., S. 69). Und auf die Ankündigung des Endes – »es geht zu Ende !« – folgt sogleich dessen Infragestellung : »Was wissen die ? Beginnt nicht jetzt erst alles ?« (ebd., S. 71). Teresa Präauer spricht von einer »Art unendlicher Drehkippbewegung« (Präauer 2021, S. 58). Die »Spiegelgeschichte« spiegelt eine chronologische Biographie nicht einfach zurück, sie stellt die Idee einer Chronologie grundsätzlich infrage. Damit wird auch die logische Reihung von Anfang und Ende, Geburt und Tod, Leben und Nachleben zur Disposition gestellt. Auch bei Friederike Mayröcker führt die Suche nach einer Chronologie nicht weit – dabei scheint ihre Datierungspraxis auf den ersten Blick gerade für diesen Zusammenhang zu sprechen. Spätestens seit den späten 1990er Jahren ziehen sich Daten – in unterschiedlichen Varianten – durch Mayröckers Texte. Dabei lässt sich aber eben kaum eine »spezifische Engführung von aufgeschriebener Zeit und Zeit der Aufschreibung« und insofern auch keine »Dramaturgie von Zeiterfahrung« entziffern, wie sie in der Tagebuch-Literatur konzeptionell im Zentrum steht (Dusini 2005, S. 172 und S. 179). Bei Mayröcker trägt die Datierung ähnlich wie der – besonders in den letzten Veröffentlichungen fleurs (2016), Pathos und Schwalbe (2018) und da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete (2020) – intensive Umgang mit den Möglichkeiten des Textsatzes eher zu einer Dramaturgie der Schreiberfahrung bei. Die unterschiedlichen Einschübe und Ausrichtungen, Leerzeilen (einfach oder gleich mehrfach hintereinander), Kursivierungen und Kapitalisierungen (einzelner Worte oder ganzer Absätze) führen vor Augen, dass trotz der Linearität jeder Schrift von einer Linearität des Schreibens keine Rede sein kann, dass es in Mayröckers Büchern vielmehr um Brüche geht, die eine buchstäbliche Philologie zur Sprache bringen, eine Liebe zum Wort : »du liebst die Worte, du bist in die Sprache verliebt« (Mayröcker 2020, S. 59). Diese Liebe zu den Worten und der Sprache steht im Mittelpunkt des Textes, keine Geschichte :
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[…] man fragt mich was ist der Inhalt nämlich Schlepptau des neuen Buches, ich sage »verzage nicht !« und sehe aufs Wintermeer hinaus, es geht um NICHTS und es geht um ALLES, vielleicht polyphon, es geht um Sensationen = ich meine Empfindungen. (Ebd., S. 60)
Die Datierung formatiert keine Chronik dieser Empfindungen, sie markiert einen Zusammenhang, der außerhalb der Übertragung von Empfindungen in Schrift (und umgekehrt) keinen Sinn ergibt : Die synkopische Polyphonie der Empfindungen – »Meine Synkopen-Dichtung« (Mayröcker 2018, S. 9) – behauptet, und damit kommt sie der Lyrik sehr nahe – »ich schreibe Prosa mit einem lyrischem touch« (ebd., S. 35) –, keine klassische Struktur. Von einem Anfang kann ebenso wenig die Rede sein wie von einem Ende. Vielmehr markiert die über die Büchergrenzen fortlaufende Datierung – das letzte Datum in Pathos und Schwalbe ist der 19.9.17, das erste Datum in da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete der 22.9.17 – einen Zusammenhang, der auf die Chronologie außersprachlicher Ereignisse kaum referiert (vgl. u. a. Kunz 2004). Diese Überschreibung (oder auch -schreitung) von Textgrenzen wird in den letzten Büchern zu einem immer bestimmenderen Element. Wenn damit aber die Fortschreibung der Literatur anders als die Übersetzung von (außerliterarischen) Erfahrungen im Mittelpunkt steht : Wer oder was bewegt dann dieses Schreiben ? Die Stimme der Literatur, oder : Wer spricht ? Und wovon ? Das mag der Beginn von Pathos und Schwalbe deutlich machen : Das Buch setzt zwar mit einem Thema, nämlich einem Krankenhausaufenthalt ein : »(indes ich 11 Wochen in Klostergarten und Krankensaal,)« (Mayröcker 2018, S. 7). Aber schon in diesem ersten Satz gibt es vielfache Widerstände gegen einen eindeutigen Diskurs, der nun von ebendiesen Wochen zu berichten hätte. Zunächst einmal ist die zitierte Zeile weder ein grammatikalischer Satz noch eine Überschrift, wird doch mit dem abschließenden Komma eine Fortsetzung angekündigt – die nach den folgenden Leerzeilen dann auch noch kaum zu erkennen ist : Mäntelchen ich weine mir die Augen aus …… du bist gezeichnet sagt er, hast du das GRAZGEFÜHL ? ich liebäugelte mit Fenstersturz, wirst du dich hinausschwingen ? das ist ungeheuer, dieses taumelnde Leben, das Belieben des Hegel, Passagen am lichtblauen Firmament. (Ebd.)
Der Verzicht auf grammatikalische, orthographische und interpunktierende Konventionen unterstreicht den Verzicht auf die Vermittlung semantischer Bezüge. Sobald sich ein ›Verstehen‹ einzustellen scheint, biegt der Text ab, indem er zwischen verschiede-
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nen Sprechpositionen springt (»ich weine« und »sagt er«) und damit die Eindeutigkeit einer Sprechposition infrage stellt, indem er Serien bildet, die sich als solche nicht leicht vermitteln lassen (»dieses taumelnde Leben, das Belieben des Hegel, Passagen am lichtblauen Firmament«). Inge Arteel spricht im Hinblick auf diese Schreibweise von einer »Krümmung der Textbewegung«, deren »Anfangspunkt« folgerichtig »nicht feststellbar[]« sei (Arteel 2007, S. 294). Die erste Zeile in Pathos und Schwalbe leitet also weder ein noch betitelt sie das Folgende, das ließe sich auch schon den Klammern entnehmen, in die sie gesetzt ist. Und doch setzt sie sich fort mit der Selbstständigkeit eines Traums, dessen Eigensinn sich zwischen der Unhintergehbarkeit einer Perspektive, die oft durch ein Ich, zumindest aber durch eine Blickrichtung markiert wird, und der Permanenz der Fortsetzung entspannt (vgl. Kunz 2004, S. 34 – 67 und S. 89 – 96). Wie Träume sind Mayröckers Texte um ein Ich zentriert, auch wenn dieses Ich mitunter nicht zu Wort kommt. Und sie zeichnen sich ebenfalls durch eine Fortsetzung aus, die einer eigenen Notwendigkeit folgt : »[…] etwas war übergesprungen auf mich, in meine Schrift wie sie zehrt und zerrt meine Träne mein Herz« (Mayröcker 2018, S. 38). Dieses »etwas« kann und muss sehr unterschiedlicher Herkunft sein, wie Julia Weber in ihrer Auseinandersetzung mit der ästhetischen Subjektivität in Mayröckers Texten hervorhebt. Denn erst »im Durchgang durch Plagiat und Zitat«, das heißt in der markierten und unmarkierten Aufnahme vorhergehender Texte und Erinnerungen, findet Mayröcker zu einer eigenen Form von Identität, einer »vernetzte[n] Identität« (Weber 2010, S. 157) – und damit zu einem Ausgangs- und Konzentrationspunkt ihrer Literatur : »Das im Mittelpunkt stehende […] Subjekt der Texte, das schreibende Ich, kann sich nirgends finden als in den sprachlichen Bewegungen selbst : Es ist der fortschreitende Text« (ebd., S. 160). In brütt oder Die seufzenden Gärten (1998) wird diese Bewegung präzise formuliert : »Das Schreiben weist mir diese und jene Spur, der ich zu folgen habe« (Mayröcker 1998, S. 210). Die Bewegungsform ist dabei durch den Sprung in der zitierten Passage aus Pathos und Schwalbe – »etwas war übergesprungen auf mich« – schon bezeichnet : Sprunghaft setzen sich Stimmen und Zitate zusammen. Diese Subjektivierung einer sprunghaften Sprache macht ihre Vermittlung in Form einer Einordnung unmöglich – die Einordnung würde ein ordnendes Subjekt voraussetzen. Mayröckers Literatur setzt sich stattdessen immer dann, wenn Assoziationen (früher oder später zwangsläufig) ins Leere laufen und erst durch das Zitat oder andere Techniken des Einsetzens fortgesetzt werden, dem Bruch oder, in Inge Arteels Lektüre, der Falte aus (Arteel 2007). Diese Falten, in den jüngeren Büchern häufig als Leerzeilen zu erkennen, sind damit ein konstitutives Element ihres Schreibens : »dieses elliptische Schreiben !« (Mayröcker 2018, S. 89). Es ist vielleicht nicht ganz abwegig, auch in der Literatur Ilse Aichingers Falten zu erkennen, nicht zuletzt weil sie nach ihrem frühen Roman keine längeren Prosatexte
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mehr veröffentlicht hat. Mit den ›kleinen Formen‹, die Aichinger von den 1950er bis in die 2000er Jahre veröffentlicht hat – neben Hörspielen vor allem Erzählungen und Kurzprosa, Gedichte, Essays und Kommentare für das Feuilleton –, hat sie implizit immer wieder Falten aufgeworfen : erkennbar im Nebeneinander dieser kleinen Texte in den Monographien, aber auch an ihrem, nicht zuletzt in Schlechte Wörter (1976) formulierten Widerspruch gegen »Zusammenhänge« innerhalb einzelner Texte, »solange sie vermeidbar sind« (SchW, S. 12). Aichinger spricht an dieser Stelle allerdings nicht von Falten, sondern von »Flecken« (ebd., S. 18). Friederike Mayröcker hat an einer Stelle versucht, sich mit diesen Flecken in der Literatur Ilse Aichingers auseinanderzusetzen : in dem kurzen, gemeinsam mit Ernst Jandl verfassten Text »Auckland – oder : Ein Hörspiel«, der als Vorspiel »den Zuhörer in einen für die Aufnahme des folgenden Hörspiels von Ilse Aichinger günstigen Zustand versetzen« soll ( Jandl 1985b, S. 169). Wenn die Annahme, dass die weibliche Stimme der Hörspiel-Lektüre der Stimme der Co-Autorin nahekommt, stimmt, dann lassen sich Mayröcker immerhin einige Beobachtungen zuschreiben. Denn die Sprecherin (neben der auch ein Sprecher zu Wort kommt) beschreibt Aichingers Auckland als »Kaleidoskop sich verändernder Motive«, das aber »doch immer die gleichen Farben, die gleichen Teilchen« hör- oder eben lesbar – »wir haben es gelesen« – werden lässt und damit als »ein Stück Kunst, in seiner Einzigartigkeit, Einmaligkeit« anzuerkennen ist (ebd., S. 169f.). Die Fragen »Wer spielt ? Wer hört ?« kann die Stimme der Sprecherin nicht auflösen, denn sie führen nicht zu eindeutigen Positionen oder Subjekten, sondern zu »Nicht-Leuten« und an »Nicht-Orte« (ebd., S. 170f.). Diese Gegenfiguren – oder eben Flecken – sind das Symptom einer Schreibweise, der die Flucht als zentrale Bewegungsform eingebrannt ist und die damit zwar häufig klar markierte Ich- und andere Erzählerinnen und Erzähler zur Sprache bringen, die trotz aller Markierung aber doch ungreifbar, ungewiss, flüchtig bleiben. Lena Zschunke hat dieses Schreiben als »Vergegenwärtigung eines Schwellen- und exilischen Schwebezustands zwischen Leben und Tod« bezeichnet (Zschunke 2022, S. 367). Während mit den Falten bei Mayröcker ein fast schon autopoietisches Werk zur Sprache kommt, markieren die Flecken bei Aichinger die Schwelle zwischen Leben und Tod, zwischen Sprechen und Schweigen. Während Mayröckers Schreiben lustvoll ein ästhetisches Subjekt zur Sprache kommen lässt, bestimmt bei Aichinger der Wunsch zu verschwinden nicht nur viele Figuren in ihren Texten, sondern auch die Erzählstimmen und das Schreiben selbst. So setzt der erste Roman Die größere Hoffnung (1948) nicht nur mit der Imagination einer Flucht ein, der Flucht von Kindern, »mit denen irgend etwas nicht in Ordnung war« und die »fliehen mußten« (GrH 1991, S. 9), er endet auch mit der Auslöschung der Protagonistin, die »von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen« wird (ebd., S. 269). Der Erzählstimme bleibt danach
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noch genau ein letzter Satz. Und auch die Romanautorin verschwindet mit diesem Satz als solche : In den annähernd sechzig Folgejahren als publizierende Schriftstellerin erscheint kein einziger Roman mehr. Das Flüchten und Verschwinden bleibt auch in anderen Schreibformen zentral – bis in die späten Feuilletontexte, in denen die Frage nach dem Erfolg der Flucht – »Aber kamen wir davon ?« – offenbleibt : »Ich weiß es bis heute nicht« (FuV 2001, S. 55). Das Ende (der Literatur) Die Vorbemerkung zum – zunächst als Folge von Beiträgen für den Wiener Standard verfassten – »Journal des Verschwindens« umkreist die Flucht als poetologischen Schlüsselbegriff, als Fluchtpunkt der eigenen Poetik : »Weil mir vor allem an der Flüchtigkeit liegt« (ebd., S. 65). Die kurzen Formen, die im Journal des Verschwindens versammelt sind, beschreibt Aichinger in diesem Zusammenhang »als Anlaufstrecken für die Freiheit wegzubleiben«, als »Kontrapunkt, mit dem das Verschwinden erst einsetzen kann« (ebd.). Diese Flucht ist nicht zuletzt eine vor dem eigenen Selbst : »Ich wollte von keinem und schon gar nicht von mir selbst behelligt werden. Auch von keinem abhängig sein, wieder am wenigsten von mir selbst« (ebd.). Christine Ivanovic hat darauf hingewiesen, dass besonders in der »letzten Werkphase […] das Verschwinden im Zentrum von Aichingers Poetik« steht, auch wenn es sich als »zentrale Trope […] im gesamten Werk der Autorin nachweisen« lässt (Ivanovic 2021, S. 297). Das Schwanken zwischen dem Wunsch zu verschwinden und einer Schreibpraxis, die Worte immer wieder ins Werk setzt, les- und damit sichtbar macht, mag widersprüchlich erscheinen. Es lässt sich aber auch als konsequenter Entwurf begreifen, mit dem eine Dialektik von Verschwinden und Erinnern zur Sprache gebracht wird (vgl. ebd., S. 298). In diesem Sinn lesen sich die späten Texte als »Kontrapunkt, mit dem das Verschwinden erst einsetzen kann« und damit als Kontrapunkt der Flucht, als Anfang eines Endes, das schon immer ersehnt war – »der Wunsch, wegzubleiben«–, aber (noch) immer unerreichbar bleibt (FuV 2001, S. 65f.). Diese Dialektik korrespondiert mit Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte (1942), in denen er nicht zuletzt Paul Klees Bild »Angelus Novus« zum Ausgangspunkt der viel zitierten neunten These genommen hatte : Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. […] Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. (Benjamin 1991, S. 697)
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Auch wenn für Aichinger, anders als für Benjamin, weniger der Rückblick auf einen katastrophischen Fortschritt im Zentrum steht, als das Überleben einer Vernichtungsaktion, von dem sie nicht weiß, wie es zu begreifen ist : »[…] kamen wir davon ?« Mit Benjamins Denken verbindet sie die Arbeit an einem Schreiben, das dem Vergangenen kein Denkmal, keine beruhigende Erinnerung gegenüberstellt, sondern es zu retten versucht, indem es nichts zur Ruhe kommen lässt, nicht (ein)ordnet, sondern im Gegenteil : in Bewegung versetzt – in Benjamins Worten : »In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen« (ebd., S. 695). Gerade Aichingers Texte der 2000er Jahre machen den Versuch, (auch) im S chreiben gleichsam das Verschwinden zu imitieren und die Erinnerung vor ihrer (Ein-)Ordnung und damit ihrem Verschwinden zu bewahren, explizit. In ihrer »Vorbemerkung zum Journal des Verschwindens« hat Aichinger diese Perspektive aufgegriffen und durch den Vergleich von Atem und Erinnerung präzisiert : Was den Atem von der Erinnerung – zuweilen auch vom Leben – unterscheidet, ist seine Chronologie. Ein Atemzug nach dem anderen, vom ersten bis zum letzten, keiner schert aus. […] Erinnerung hat eine entgegengesetzte Ökonomie : Sobald sie sich begreift, kommt sie in Gefahr, sich zu verfallen, ihren Abläufen, Datierungen, Scheinkonsequenzen : ihrer Chronologie. So langsam sie die begreift, um so rascher sollte sie sie vergessen. Sie ist an diejenigen Augenblicke gebunden, in denen sie aus sich gerät : Sie muß alles und darf doch nichts behalten wollen : wie einer, der Steine dem Wasser anvertraut, damit sie darauf springen. […] Wer hat noch die Illusion, sein Leben vor- oder zurückblättern zu können ? (FuV 2001, S. 70)
Simone Fässler hat darauf hingewiesen, dass Aichinger an dieser Stelle nicht nur an einer »Erinnerungstheorie« interessiert ist, sondern ihr Schreiben selbst in den Blick nimmt, ein Schreiben, das seinen Ausgang von einzelnen Momenten (und nicht von chronologischen Reihen) nimmt – »Die eine spezifische Erinnerung vergegenwärtigt eine ganze Vergangenheit« (Fässler 2007, S. 93) – und sich dann (eben nicht durch die Zeit, sondern) durch die »inhaltliche und klangliche Assoziationsenergie« (ebd., S. 94) der Sprache selbst in Gang setzt. Es bleibt zumindest fraglich, inwiefern diese Insistenz auf das Verschwinden in den Texten der späten 1990er und der 2000er Jahre eine Zäsur im Werk Aichingers bedeutet, die, wie Roland Berbig schreibt, einen neuartigen »Sprach- und Schreibfluss« nach sich zieht (Berbig 2011, S. 63), oder ob es sich nicht nur um eine (immer) andere Schreibweise für eine alte Sehnsucht handelt. Als früheres Beispiel mag hier etwa Aichingers Hörspiel »Gare maritime« (1976) fungieren, in dem die Flucht und das Verschwinden der Protagonistin Joan im Mittelpunkt stehen :
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Sie […] flieht vor denen, die nach ihr forschen. […] Und sie beherrscht eine Kunst, die ihr dabei helfen könnte, nicht entdeckt zu werden, die Kunst, nicht mehr oder nur höchst selten zu atmen, eine Kunst, die sie vielleicht endgültig unnütz machen, sie ganz aus dem Bereich des Effektiven herausziehen könnte. (Au 1991, S. 264f.)
Wie die Kunst, »nicht entdeckt« zu werden, muss ein Sprechen und Schreiben, das mit dem Verschwinden verträglich ist, den »Bereich des Effektiven« vermeiden. Bei Aichinger begibt es sich dazu permanent an die Grenze, möglichst unmittelbar zum Tod, der nicht kommen will – und schon gekommen ist, wie es in der Rede unter dem Galgen (1952) heißt : »[…] sag meinem Henker lieber, daß er mich hängen soll, damit ich verschwinde« (Ge 1991, S. 104). Doch auch der Henker ist nur nahegekommen, um sich wieder zu entfernen und die Verurteilte »in der geschenkten Trauer« zurückzulassen, »im Schein der Gnade, die kein Erbarmen hat« (ebd.). Wie der unerfüllte und (in der Schrift wie im Leben) unerfüllbare Wunsch zu verschwinden ist auch die Einsicht, »daß es im geeigneten Augenblick geboten sein kann, einen Strich zu ziehen« und »kein Wort mehr hinzuzufügen«, (FuV 2001, S. 39) keine neue : »Form ist nie aus dem Gefühl der Sicherheit entstanden, sondern immer im Angesicht des Endes« (Ge 1991, S. 10). Dass für Ilse Aichinger, die nach dem frenetisch gefeierten Einzug der Nationalsozialisten in Wien einen Großteil ihrer Kindheit unter einer permanenten Todesdrohung aufwuchs, das Schreiben mit dem Ende beginnt, ist in vielen ihrer Texte kaum zu übersehen. In ihrem einzigen Roman Die größere Hoffnung, in ihren Erzählungen, Gedichten und anderen kürzeren Texten ist das Ende(n) oftmals von Beginn an präsent, mitunter ist es schon vom ersten Satz an virulent, etwa wenn – in Die größere Hoffnung – »[r]und um das Kap der Guten Hoffnung […] das Meer dunkel« wird (GrH 1991, S. 9), oder – in der »Spiegelgeschichte« – »[…] einer dein Bett aus dem Saal schiebt« (Ge 1991, S. 63). Die Geschichte von ihrem Ende her zu denken, »unter dem Eindruck des Endes« zu erzählen (ebd., S. 9), »das Antlitz der Vergangenheit zugewendet« (Benjamin 1991, S. 696), diese Blickrichtung, die Walter Benjamin dem Engel der Geschichte und Aichinger ihrer Literatur zuschreibt, prägt Aichingers Gesamtwerk vom berühmt gewordenen Roman Die größere Hoffnung bis zu den vermeintlich leichteren, feuilletonistischen Formen, mit denen Aichinger vor allem um die Jahrtausendwende wieder zu schreiben und zu veröffentlichen begonnen hatte : Der erste Beitrag für das Journal des Verschwindens ist mit »Einübung in Abschiede« überschrieben (FuV, S. 73). Das Erzählen vom Verschwinden ist an dieser Stelle kaum weniger eine Form der Vergegenwärtigung als Friedrike Mayröckers wiederholte Versuche, mit dem Schreiben die Erinnerung – nicht zuletzt : an einen Toten – buchstäblich lebendig und lesbar zu machen. Und damit nicht zuletzt dem Tod zu widerstehen : »[…] ich Debütantin
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des Todes« (Mayröcker 2020, S. 16). Die Frage nach dem Enden formuliert sie nicht zufällig als Frage nach einer Praxis : »[…] wie soll es enden wie soll ich enden ?« (Mayröcker 2010, S. 187) Damit wird die Frage nach dem Enden zu einem (weiteren) Ausgangspunkt von Fortsetzungen, Assoziationen und Textfalten (vgl. Schwieren 2014, S. 376 – 389). Dass damit eine Praxis des Bergens zur Sprache kommt, die sich dem Vergessen und der Auslöschung von Vergangenem entgegenstellt, ist an vielen Stellen zu lesen : […] von einem Augenblick zum nächsten die augenaufschlagenden Worte Sätze gelöscht wohin sind sie umhimmelswillen getaucht: untergetaucht ins tiefe Vergessen und waren doch so wunderschön (Mayröcker 2020, S. 59)
Dem »tiefe[n] Vergessen« entgegen läuft nicht zuletzt das Abschreiben : »[…] schreibe von einst geschriebenen Büchern ab« (ebd., S. 28). Das Selbstzitat bezieht sich aber nicht nur auf Geschriebenes, sondern auch auf den Bestand der Worte selbst : »Ich schreibe lange Listen von, jenen Wörtern die mir ABHANDEN ! kommen und gekommen …« (ebd., S. 31). Diese Praxis lässt sich als solche der Demenz begreifen (vgl. Schwieren 2015), sie kann aber auch als Inbegriff von Mayröckers Poetik gelesen werden : »Die Worte als Worte ausstellen, ohne ihren Sinn zu entfalten.« Das Datum, das dabei so nachdrücklich Texte zu strukturieren scheint, markiert nicht nur die Routine einer Schreibszene, sondern verweist auch auf die ständige Gefährdung des Schreibens, dessen Möglichkeit immer wieder abhanden zu kommen droht. Der Eintrag der Zeit in die Literatur referiert weniger auf die Zeit außerhalb der Literatur, sondern unterstreicht vielmehr eine Schreibweise, der Anfänge und vor allem Enden im Weg stehen. Während bei Mayröcker das Schreiben und Buchstabieren auf ein in der Schrift uneinholbares Ende zuläuft, nimmt es bei Aichinger dort seinen Anfang. Zu Wort kommen in beiden Fällen Schreibweisen, die wie wenige andere umtrieben sind von dem Verlangen, das Nichteinverständnis mit dem Tod zur Sprache zu bringen. Der Kontrapunkt des Todes, oder, weniger dramatisch, der Schlusspunkt setzt das Schreiben bei Mayröcker und Aichinger überhaupt erst in Gang. Schluss Es mag sein, dass die vorgestellten Perspektiven den Blick auf die verschwiegenen Verbindungslinien zwischen den Schreibweisen Aichingers und Mayröckers überzeichnen. Möglich ist aber auch, dass erst diese Perspektiven Lektüren eröffnen, die hier noch kaum erahnt, ganz sicher aber nicht verfolgt werden können. Eine solche
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Lektüre hätte der »Verwandtschaft der Engel« in den beiden Werken zu folgen. Eine andere würde der Farbe Grün und ihren Tönungen bei Aichinger und Mayröcker nachspüren, noch eine andere die Philosophie in den späten Texten in Beziehung zu setzen suchen : E. M. Cioran auf der einen Seite (Aichinger), Jacques Derrida auf der anderen (Mayröcker). Und eine weitere würde sich der Frage aussetzen, ob Friederike Mayröcker nicht doch auch an anderen Stellen von, über und mit Ilse Aichinger geschrieben hat, nicht zuletzt in Pathos und Schwalbe : »Ilse A. brütete den Text in ihrem Kopf erst aus. Ehe sie ihn niederschrieb und schmetterte, aufs Papier, die wunderbaren Strophen« (Mayröcker 2018, S. 12). Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1991) : Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (Ge 1991) : Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948 – 1952). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (Au 1991) : Auckland. Hörspiele. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (UR 2005) : Unglaubwürdige Reisen. Hgg. Simone Fässler und Franz Hammerbacher. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (St 2006) : Subtexte. Wien. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Arteel, Inge (2007) : gefaltet, entfaltet. Strategien der Subjektwerdung in Friederike Mayröckers Prosa 1988 – 1998. Bielefeld. Benjamin, Walter (1991) : Über den Begriff der Geschichte, in : Ders., Gesammelte Schriften. Band I, Teil 2. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M., S. 691 – 704. Berbig, Roland (2011) : »20. März 1996«. Ilse Aichingers unveröffentlichter Initialtext zum Spätwerk, in : Christine Ivanovic/Sugi Shindo (Hgg.), Absprung zur Weiterbesinnung. Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger. Mit der Erstveröffentlichung des Radio-Essays Georg Trakl von Ilse Aichinger. Tübingen, S. 51 – 64. Dusini, Arno (2005) : Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München.
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Alexander Schwieren
Fässler, Simone (2007) : Erinnerung auf dem Sprung. »Film und Verhängnis« und »Unglaubwürdige Reisen« – Ilse Aichingers Spätwerk, in : Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur 175 (Ilse Aichinger), S. 91 – 98. Ivanovic, Christine (2021) : verschwinden, in : Birgit R. Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 297 – 301. Jandl, Ernst (1985a) : Einleitung zu Ilse Aichingers »Besuch im Pfarrhaus«, in : Ders., Gesammelte Werke. Bd. 3 : Stücke und Prosa. Darmstadt/Neuwied, S. 167f. Jandl, Ernst (1985b) : Auckland – oder : Ein Hörspiel. Gemeinsam mit Friederike Mayröcker, in : Ders., Gesammelte Werke. Bd. 3 : Stücke und Prosa. Darmstadt/Neuwied, S. 169 – 171. Kospach, Julia (2008) : Letzte Dinge. Ilse Aichinger und Friederike Mayröcker. Zwei Gespräche über den Tod. Ausgestattet mit Assemblagen von Daniel Spoerri. Wien. Kunz, Edith Anna (2004) : Verwandlungen. Zur Poetologie des Übergangs in der späten Prosa Friederike Mayröckers. Göttingen. Kyora, Sabine (2021) : »ob es nicht mühsam sei, am Rand der Straße zu wandern.« Wandern, Pilgerschaft und Vagabundieren in Friederike Mayröckers Prosa, in : Alexandra Strohmaier (Hg.), Buchstabendelirien. Zur Literatur Friederike Mayröckers. Bielefeld, S. 141 – 155. Mayröcker, Friederike (1998) : brütt oder Die seufzenden Gärten. Frankfurt/M. Mayröcker, Friederike (2010) : ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk. Berlin. Mayröcker, Friederike (2018) : Pathos und Schwalbe. Berlin. Mayröcker, Friederike (2020) : da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Berlin. Präauer, Teresa (2021) : Über Ilse Aichinger. Wien/Berlin. Raß, Michaela Nicole (2014) : Bilderlust – Sprachbild : Das Rendezvous der Künste. Friederike Mayröckers Kunst der Ekphrasis. Göttingen. Schwieren, Alexander (2014) : Gerontographien : Eine Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs. Berlin. Schwieren, Alexander (2015) : Zwischen Demenz und Korrespondenz. Friederike Mayröckers diaristisches Schreiben in »Paloma«, Zeitschrift für Germanistik Neue Folge XXV.3, S. 536 – 550. Strohmaier, Alexandra (2009) : Prosa und/als Performanz. Zur performativen Ästhetik Friederike Mayröckers, in : Dies. (Hg.), Buchstabendelirien : Zur Literatur Friederike Mayröckers. Bielefeld, S. 121 – 140. Weber, Julia (2010) : Das multiple Subjekt. Randgänge ästhetischer Subjektivität bei Fernando Pessoa, Samuel Beckett und Friederike Mayröcker. Paderborn/München. Willer, Stefan (2015) : Altern im Spiegel. Umgekehrte Lebensläufe bei F. Scott Fitzgerald und Ilse Aichinger, in : Zeitschrift für Germanistik Neue Folge XXV.3, S. 345 – 361. Zschunke, Lena (2022) : Der Engel in der Moderne. Eine Figur zwischen Exilgegenwart und Zukunftsvision. Berlin/Boston.
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Irene Fußl
Der »dritte Zwilling« Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann Die gemeinsame Zeit in Wien als Basis der Freundschaft IIse Aichinger lernte Ingeborg Bachmann zwischen Herbst 1947 und dem Frühjahr 1948 in Wien kennen. Dieser Zeitraum lässt sich aus verschiedenen Indizien und Erwähnungen in Briefen sowie aus Hans Weigels Erinnerungen erschließen (vgl. u. a. Weigel 1979, S. 16). Bachmann war damals Studentin der Philosophie und suchte Anschluss unter den jungen Literaten Wiens. Aichinger hatte sich mit der Veröffentlichung von Das vierte Tor und Aufruf zum Mißtrauen bereits einen Namen gemacht. Die Publikation von Die größere Hoffnung stand unmittelbar bevor. Sie begegneten einander wahrscheinlich im Kreis um Elisabeth »Bobbie« Löcker (spätere Liebl) oder in dem um Hans Weigel. Mit Elisabeth Liebl verband beide eine enge Freundschaft. Für Aichinger wie für Bachmann dürfte die promovierte Philosophin Liebl, eine ehemalige Schülerin von Karl Jaspers, eine wichtige Orientierungsfigur gewesen sein. Sie war zehn Jahre älter als Aichinger, fünfzehn Jahre älter als Bachmann und unterstützte beide sehr aktiv (vgl. ebd.). Bachmann wohnte bei ihr zur Untermiete, und Liebl hatte ihr auch den Arbeitsplatz beim Sender Rot-Weiß-Rot vermittelt : »Nachdem sie alles vorbereitet hatte, eilte ich hin, wurde geprüft und auch schon genommen […] die Bobbie ist mein erster Oberchef« (McVeigh 2016, S. 74). Da Aichingers Unterkunft in der Prinz-Eugen-Straße und Bachmanns Untermietzimmer in der Gottfried-KellerGasse relativ nahe beieinanderlagen, konnten sie einander häufig sehen. Später, als sie sich in verschiedene Richtungen aus Wien fortbewegt hatten, schrieben sie einander Briefe. Überliefert sind 104 Korrespondenzstücke aus den Jahren 1949 bis 1962, die in den Nachlässen der Autorinnen im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (LIT, Bachmann) und im Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA, Aichinger) aufbewahrt werden. 2021 wurde der Briefwechsel, der die enge Freundschaft dokumentiert, als Teil der Salzburger Bachmann Edition herausgegeben (IB/IA/GE Briefe 2021). Die Briefsprache spiegelt den Versuch, die Welt über die Sprache zu begreifen und legt damit einen Pfad zum Verständnis des Werks der beiden Autorinnen. Anlässlich eines weihnachtlichen Buchgeschenks erinnert Aichinger im Brief vom 30. Dezember 1953 aus Geisenhausen an die Zeit der nachbarschaftlichen Nähe in Wien :
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Irene Fußl
Obwohl er [Musils Der Mann ohne Eigenschaften] so ein dickes Buch ist, scheint er mir wie die Abkürzung, die von der Prinz Eugenstrasse durchs Belvedere zum Rennweg hinunterführt, an einem Vormittag um diese Zeit. Dass es die alte Ausgabe ist, macht die Freude nur noch grösser. Sie soll immer ein Zeichen der Abkürzung zwischen allen Orten sein, in denen wir noch landen, und nie länger als der Weg durchs Belvedere, ob es jetzt Klagenfurt und Geisenhausen oder Rom und der Chiemsee ist. Und ich will sie als das immer behalten. Wir. Günter hat dieselbe Freude damit ! (Ebd., S. 47)
Die gemeinsam erlebte, materiell entbehrungsreiche Zeit in Wien Ende der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre sowie der Versuch, sich als Autorinnen zu etablieren, verband die beiden. Als Bachmann ein Jahr nach Aichinger der Preis der Gruppe 47 zugesprochen worden war, wandte sich Aichingers Vater Ludwig am 7. Juni 1953 brieflich an sie : »Es freut mich, daß Sie als dritter Zwilling der Familie die Tradition so stark aufrechterhalten« (LIT, Bachmann). Der Begriff des »dritten Zwillings« wurde vermutlich von Berta Aichinger geprägt und kommt im Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger mehrfach vor. Bachmann durfte sich vollkommen in die Familie Aichinger aufgenommen fühlen. Sie wohnte im Jänner/Februar 1951 auch einige Wochen bei Helga Michie und deren Tochter Ruth in London. Ilse Aichinger betonte in ihren Briefen immer wieder Bachmanns Familienzugehörigkeit. In Bachmanns Biographie fällt die Nähe zu überlebenden Juden auf ( Jack Hamesh, Hans Weigel, Ilse Aichinger, Paul Celan, Nelly Sachs …). Sie war in Klagenfurt aufgewachsen und hatte dort die Zeit des Nationalsozialismus und den Krieg erlebt. Obwohl ihr Vater früh der NSDAP beigetreten war, bewies sie bereits als Schülerin einen kritischen Geist und im persönlichen Bereich widerständiges Verhalten, indem sie verbotene Bücher jüdischer Autoren las, nicht zu den Treffen des Bunds Deutscher Mädel ging und Anweisungen von Autoritätsfiguren missachtete (vgl. Bachmann 2010, S. 14, S. 16 und S. 20). Intellektuell orientiert, strebte sie ein Studium an, sobald dies nach dem Krieg wieder möglich war, zunächst an den Universitäten Innsbruck und Graz, ab dem Herbstsemester 1946 in Wien, das sie 1950 mit einem Doktor der Philosophie abschließen sollte. Bachmann und Aichinger verband in dieser Zeit eine enge Freundschaft, die auch von sie umgebenden Menschen dokumentiert wurde (vgl. z. B. Weigel 1979, S. 16 ; Richter 2004, S. 16). Auch in dem Erstreben von literarischen Zielen entwickelte sich ein starkes »Wir«-Gefühl. Dieser Begriff des »Wir« sollte sich durch Aichingers Verheiratung mit Günter Eich und mit der Geburt von zwei Kindern verschieben. So endet der oben zitierte Briefausschnitt mit dem »Wir«, das Aichinger und Eich meint. Bachmann reagierte darauf in ihrem Antwortbrief vom 2. Jänner 1954 :
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Der »dritte Zwilling«
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Doch Ihr seid ja Wir, wie Du groß und gleich mit einem Punkt darunter geschrieben hast – den mutigsten Satz, den man überhaupt schreiben kann – und das ist tröstlich, wenn ich jetzt fortfahre und garnicht weiß, ob ich in all der Zeit werd einmal Deine Hand halten können. Liebstes Ilselein ! (IB/IA/GE Briefe 2021, S. 50)
Schreiben nach 1945 Wenn Bachmann fast drei Monate später, am 30. März 1954, schreibt : »Und Ihr versteht das sicher, weil für uns alle das Wohnen ja durch so viel Jahre gar nicht selbstverständlich war und mehr ein Geschenk, wenn es grad gestimmt hat« (ebd., S. 58), dann setzt sie ihre eigene Erfahrung, jene Günter Eichs und die von Ilse Aichingers auf prekäre Art gleich. Doch Aichinger nimmt das, was den/die heutige/n Leser*in hier irritiert, offenbar nicht übel, reagiert 1957 auch erfreut über das Widmungsgedicht zur Geburt von Mirjam Eich, das tief in die jüdische Geschichte reicht (ebd., S. 108 – 109). In der letzten Strophe heißt es : »Oft wird ein Schnee in deine Wiege fallen. / Unter den Kufen wird ein Eiston sein« (ebd., S. 108). Mit Schnee und Eis sind für Aichinger die Opfer der Shoah, allen voran die eigenen Verwandten in das Gedicht einbezogen, das im folgenden Vers mit der Formulierung »wenn du tief schläfst« auf Richard BeerHofmanns »Schlaflied für Mirjam« und damit auf das Weiterleben in den Kindeskindern anspielt. Auch in der Lyrik Paul Celans sind Eis und Schnee eng mit Trauer, gewaltsamem Tod und Verlusterfahrung verbunden (vgl. z. B. Celan 2018, S. 19 und S. 351). Bachmanns Lyrik ist der Geschichte eingedenk, was in der zeitgenössischen Rezeption jedoch nicht wahrgenommen wurde (vgl. Höller 1987, S. 13f.). Die Begegnung mit Paul Celan dürfte Auslöser dieses Wegs in ihrer Lyrik gewesen sein. Er nahm sie mit bedingungslosem Loyalitätsanspruch in die Pflicht der sekundären Zeugenschaft. Als nicht unmittelbar von der nationalsozialistischen Verfolgung Betroffene fand sich Bachmann nach 1945 in der Rolle der Beobachterin einer unhaltbaren Situation. Durch ihre Nähe zu jüdisch Verfolgten war ihr das brisante Nebeneinander von Opfern und Tätern in der Nachkriegsgesellschaft bewusst, und sie problematisierte es in ihrer Literatur, am eindringlichsten in der Erzählung »Unter Mördern und Irren« (vgl. Bachmann 2020, S. 94 – 122) ; in ihrem »Todesarten«-Projekt tauchen Figuren auf, die der Entnazifizierung entkamen, wie z. B. der in Ägypten praktizierende Arzt Dr. Körner in Das Buch Franza (Vgl. TA 2, S. 123). Für Aichinger war das Schreiben nach 1945 existenziell. Sie spricht über ihr Werk als »von dem Schicksal meiner Angehörigen her notwendige[] Texte« (Interviews 2011, S. 246). In Aichingers Roman Die größere Hoffnung ist es die Großmutter, also die traditionelle Erzählinstanz, die in ihrer großen Angst vor den Verfolgern die Fähigkeit zu erzählen verliert. Ihre Enkelin
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Ellen versteckt das Gift, mit dem sie in den Tod entkommen möchte. Sie verlangt ein Märchen für das Gift und versucht so – vergeblich –, die Großmutter zurück in ihre Rolle der souveränen Erwachsenen zu bringen und durch das Wiederfinden der Erzählfähigkeit das Leben zu bejahen (GrH 1948, S. 247 – 267). Die »Komplikationen« des Schreibens Immer wieder – auch in den Briefen an Bachmann (vgl. z. B. IB/IA/GE Briefe 2021, S. 90) – thematisiert Aichinger ihre Überzeugung, dass die Sprache nicht ausreiche, auszudrücken, was sie ausdrücken möchte. Im Brief vom 12. Februar 1946 an ihre Schwester Helga heißt es : Ich find immer wieder, daß Worte schwächlich sind. Wenn ich wenigstens so schreien und johlen könnt wie der Sturm, der über die kahlen halbverschneiten Äcker fährt oder leuchten wie die kleinen Fenster in den einsamen Bauernhöfen, wenn es zu schneien aufgehört hat und die Nacht kommt, vielleicht würde das alles eher sagen, was ich eigentlich mein, – aber ich kann nicht schreien und leuchten, ich kann mir nur eine alte kratzige Feder von Papa ausborgen u. zu schreiben beginnen, aber das kommt mir so vor wie der Bach der am Dorf vorbeifließt, wenn er gluckst unterm Eis u. nicht hervorkann ! – (HA/IA Briefe 2021, S. 231)
Naturgewalten bzw. Phänomene der Natur werden in diesem Brief mit dem Schreiben verglichen. Der Bach, auch hier Sinnbild des Erzählens, kann sich, durch das Eis gefangen, nicht in freiem Fluss entfalten. Bachmann wie Aichinger arbeiten mit ihrem Werk an einer Erneuerung der Sprache von innen heraus. Ein Wort, das beide für Schwierigkeiten, die mit dem Schreiben zusammenhängen, verwenden, ist die »drift«, ein Begriff, der aus dem Bildbereich des unsicheren, fließenden Grunds im Übergang zwischen Gewässer und Ufer entlehnt ist (vgl. IB/IA/GE Briefe 2021, S. 317). Als Bachmann im Juli 1953 ihren ersten Gedichtband abliefern sollte und verzweifelt war, weil ihr die Zeit bis zum Abgabetermin zu kurz wurde, vergleicht sie diese Arbeit mit jener Aichingers an der Fertigstellung des Romans Die größere Hoffnung im Herbst 1947 : Mir geht es schon viel besser, nur Arbeit habe ich viel, im Büro den Endspurt, und die Gedichte muss ich abliefern – das macht mich ganz verzweifelt, und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie Du das damals mit der grösseren Hoffnung fertiggebracht hast, die doch viel mehr Seiten hatte. Jetzt merke ich erst, dass wir Dich immer viel zu wenig gewürdigt haben, denn das müssen ja die ›menschenmöglichsten‹ Energien gewesen sein. (Ebd., S. 37)
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Bereits im Juni 1950, als Bachmann an ihrem später verworfenen Roman Stadt ohne Namen arbeitete, schrieb sie an Hans Weigel : […] von den Krämpfen beim Schreiben kann ich kaum was sagen, jedenfalls ist es mörderisch und wohin ich schaue, es führt kein Ausweg aus diesem psychischen Chaos heraus. Ich glaub nicht, dass man das ein ganzes langes Leben lang aushalten kann. (Weigel 2015, S. 171 – 172)
Aichinger äußert gegenüber ihrer Schwester Helga am 20. Mai [1952] : Ich denke jetzt oft, dass neben dem Schreiben Leben nämlich sein Leben leben nicht geht, und dann wird mir Angst. Es ist ja auch selten, dass Schreiben und Leben in eins gehen, dann freilich spürt man, dass nichts umsonst ist (DLA, A : Aichinger, Ilse, HS008112961)
Und sie spricht Bachmann im Literarischen Mut zu : »Die Mutlosigkeit ist sicher ein Teil der Arbeit, und wahrscheinlich nicht einmal der kleinste« (IB/IA/GE Briefe 2021, S. 57). Über die »Komplikationen« und die Tiefen des literarischen Schreibens Bescheid zu wissen, scheint für beide eine Grundvoraussetzung für enge Bindungen, sei es in Liebes- als auch in Freundschaftsbeziehungen, gewesen zu sein. Aichinger betont diesen Aspekt in Interviews als ausschlaggebend für ihre Entscheidung, den Schriftsteller Günter Eich zu heiraten (Kußmann 2007). Bachmann suchte ebenfalls ihr Glück in Beziehungen mit Schriftstellern wie Paul Celan oder Max Frisch. Ihren Freunden und Freundinnen wandte sie sich am liebsten exklusiv zu. Aichinger ist eine der wenigen, die sie auch im Umgang mit anderen erlebte, denn sie hatten gemeinsame Freunde, wie z. B. Elisabeth Liebl, Jürgen Eggebrecht, Paul Celan und Uwe Johnson. An die Eltern schrieb Bachmann über Aichinger vermutlich im ersten Jahr ihrer Freundschaft : […] wie herrlich wir uns verstehen, ich bin so glücklich darüber […] sie ist etwas Wundervolles im wahrsten Sinn des Wortes […] jemand Bedeutender [hat] gesagt, er war so erschüttert, wie er ihr Buch gelesen hat, und seit Rilke haben wir wohl niemanden gehabt, der so unerhört ist wie sie. (Ingeborg Bachmann an die Eltern, [vermutlich 1948], Privatarchiv der Erben Ingeborg Bachmanns)
Die grössere Hoffnung und Stadt ohne Namen Hans Weigel und Hermann Hakel berichten, dass Bachmann in den frühen Wiener Jahren jede Gelegenheit nutzte, um von Aichingers Roman Die größere Hoffnung zu
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sprechen (vgl. Hakel 1991, S. 204). In der kleinen Prosa Bachmanns aus den späten 1940er Jahren lässt sich, wie in der Forschung bereits dokumentiert wurde, die Nähe zum Werk Aichingers nachweisen (vgl. z. B. Šlibar 2010, S. 85 – 111). Aus einem Brief Alexander Hartwichs an Ingeborg Bachmann (27. August 1950, LIT 423/B1222/1) geht hervor, dass Aichinger die erste Leserin von Bachmanns fertigem Roman-Manuskript hätte sein sollen. Angesichts der großen persönlichen Nähe der beiden jungen Frauen ist es kaum denkbar, dass Aichinger das Manuskript nicht gelesen und kritisiert hätte. Leider sind davon keine Zeugnisse erhalten. Der Herold-Verlag nahm den Roman schließlich an, verlangte aber Veränderungen, die Bachmann nicht umsetzte, sondern das Manuskript bis auf zwei Kapitel – »Der Kommandant« und das »AnnaFragment« – vernichtete (vgl. Weigel 1979, S. 22). In Bachmanns Nachlass hat sich das nicht gezeichnete Typoskript eines zeithistorischen Rezeptionsdokuments des Roman-Manuskripts erhalten, möglicherweise von Hermann Hakel oder Siegfried Melchinger, in dem die Nähe zu Ilse Aichingers Roman festgestellt wird, wenn der Briefschreiber anmerkt, es würde »bei einer Drucklegung zweifellos ähnliche Urteile provozieren wie der ähnlich gelagerte Roman von Ilse Aichinger« (Unbekannt an Ingeborg Bachmann, [Sommer 1950], LIT 423/B976/1 – 2). Wirft man einen Blick auf die Anfänge von Die größere Hoffnung im Vergleich mit den erhaltenen Teilen von Stadt ohne Namen, so erkennt man tatsächlich bereits zu Beginn ein gemeinsames Motiv. Die größere Hoffnung beginnt mit einem Traum der Hauptfigur Ellen auf der Weltkarte im Vorzimmer des Konsuls, von dem sie das rettende Visum erhofft. Bachmanns Roman begann vermutlich damit, dass S., der später als »der neue Kommandant« identifiziert wird, »schwer aus dem Schlaf« fährt und wieder einschläft. Es folgen mehrere (Traum-)Anläufe, einen Zug zu erreichen bzw. eine Grenze zu passieren – doch jedes Mal bemerkt S. im entscheidenden Moment, dass er die nötigen Ausweispapiere nicht mit sich führt. Sowohl der Konsul bei Aichinger als auch der Kommandant Bachmanns hätte eigentlich die Macht, Ausweise (ein Visum, eine Legitimation) zu erstellen. Doch der Konsul in Aichingers Roman versichert Ellen, dass sie allein ihr eigenes Visum unterschreiben könne, nur dann würde es wirklich gelten : »Wer sich nicht selbst das Visum gibt – « sagte der Konsul, »der kann um die ganze Welt fahren und kommt doch nie hinüber. Wer sich nicht selbst das Visum gibt, bleibt immer gefangen ! Nur wer sich selbst das Visum gibt, wird frei !« […] Sterne, Vögel und bunte Blumen und darunter Ellens große, steile Unterschrift. Das erste wirkliche Visum während seiner ganzen Amtszeit. (GrH 1948, S. 23 – 25)
Bachmanns Kommandant erlebt durch die Erzählung mehrmals, sich selbst nicht legitimieren zu können, denn er trägt die dazu nötigen Papiere nicht bei sich. Dem
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Der »dritte Zwilling«
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Lesenden wird immer stärker bewusst, dass er seine Dokumente brauchen würde, um sich seiner selbst versichern zu können : Es wurde ihm noch rechtzeitig bewußt, daß er seine Ausweispapiere vergessen hatte. Was war ihm nur eingefallen, ohne Ausweis wegfahren zu wollen ! […] er hatte seine Legitimation nicht zu sich genommen, […] er wußte sich wieder ohne Dokumente […] weil er keine Ausweispapiere bei sich hatte […] er hatte seine Papiere zu Hause vergessen. (TA 1, S. 3 – 11)
Der Wind, der Rauch, der Stein und das Wasser aus Bachmanns »Anna-Fragment«, die als ihre Freunde vorgestellt werden, haben dieses Problem hingegen nicht. Die Natur-/Gewalten bestechen durch ihren in ihrem Kern liegenden ›Ausweis‹ : »Auch er wies sich aus, ohne ein Wort zu Hilfe nehmen müssen« (TA 1, S. 13). Die zitierten Textstellen aus den Romanen von Aichinger und Bachmann machen deutlich, dass sich die prekäre Infragestellung der Nationalsozialisten, wer als Mensch gelten dürfe und wer nicht, tief in das Bewusstsein der betroffenen Überlebenden sowie kritischer Zeitgenossen eingegraben hat. Ein kritisches Gegenüber Fand Aichinger bereits in den Texten der unmittelbaren Nachkriegszeit zu ihrer unverwechselbaren literarischen Stimme, so orientierte sich Bachmann in ihrer frühen Wiener Zeit als Schriftstellerin an Vorbildern. Man erkennt die Lektüren, die ihrem eigenen Schreiben vorangegangen sind, und auch die Auseinandersetzung mit Philosophie fließt in ihre schriftstellerische Arbeit ein. Als literarische Vorbilder und kritisches Gegenüber sind Aichinger und Celan maßgebend – an beide bindet sie sich auch persönlich (vgl. auch Šlibar 2010 und Fußl 2020). Ein einziges Mal äußerte sich Bachmann im Briefwechsel kritisch, als sie erfuhr, dass Aichinger ihren Roman nach mehr als zehn Jahren überarbeite : »Hildesheimer, auf der Durchreise, sagte, dass Du Dein Buch umschreibst, ich bin mir nicht klar, ob das recht ist, so gut ichs verstehe – weil Du auch damals Du warst, eben ein früheres« (IB/IA/GE Briefe 2021, S. 128). Umgekehrt ist schriftliche Kritik am Werk Bachmanns innerhalb des Briefwechsels nicht erhalten, auch wenn man von kritischen Gesprächen, z. B. zum Text »Portrait von Anna Maria«, durch einen Brief der Autorin an Joachim Moras vom 16. Juni 1957 weiß. Darin erbittet sie das Manuskript zurück ; er möge es den Setzern des Jahresrings wieder entreißen : »Es tut mir so leid, aber ich habe auch mit Ilse und Günter Eich drüber gesprochen, und dieser Entschluss ist das Resultat dieses Gesprächs und meiner eigenen Zweifel« (DLA, D : Merkur, HS001896716). In Günter Eichs Nachlass
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haben sich kritische Notizen zu den Gedichten aus Die gestundete Zeit erhalten ; es lässt sich aber nicht rekonstruieren, ob sich Eich Bachmann gegenüber dazu geäußert hat (vgl. IB/IA/GE Briefe 2021, S. 207 – 209 und S. 364 – 367). Aichinger schreibt über Die gestundete Zeit an Bachmann : »Ich weiss noch viel zu den Gedichten, die mich zugleich glücklich machen und mir weh tun, aber ich kann es nicht schreiben« (ebd., S. 51). Ihre eigene Arbeit erwähnt sie eher nebenbei. Im Brief an ihre Eltern spricht Bachmann in einem Brief [vermutlich 1954] von dem »Neid und der Kleinlichkeit« fast aller österreichischer Autoren, »mit Ausnahme der Ilse« (ebd., S. 315). Bruch der Freundschaft Die Briefe an ihre Familie bezeugen den Ehrgeiz, mit dem Ingeborg Bachmann ihre Karriere als Schriftstellerin verfolgte. Nach ihrer ersten, durch Aichinger vermittelten Teilnahme an einer Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee 1952 berichtet sie, nun »sehr viel arbeiten« zu müssen, um alle Chancen nutzen zu können, die man ihr gegeben habe. »Mein Name ist mit einem Schlag durch alle Zeitungen gegangen […] und es liegt jetzt nur mehr an mir, weiterzumachen« (ebd., S. 321). Diese Form der Zielstrebigkeit unterscheidet sie deutlich von der (auch medialen) Zurückhaltung Ilse Aichingers, die zudem in jener Zeit mit der Gründung einer Familie einen anderen Lebensweg eingeschlagen hatte. Aichinger und Bachmann schafften es dennoch erstaunlich lange, ihre Freundschaft aufrechtzuerhalten, bedenkt man die Konkurrenzsituation, in der sie sich z. B. als einzige Frauen unter den Preisträgern der Gruppe 47 befanden. Doch Bachmann entfernte sich mit der Zeit für Aichinger spürbar, und zwar »nicht nur räumlich« (ebd., S. 73), was für sie, die Bachmann in ihre Familie aufgenommen hatte, verletzend war, und sie erklärt, daß ich niemals hätte so gekränkt sein können, wenn ich Dich nicht so ins Herz geschlossen hätte. Es schien mir nur plötzlich, als wär es Dir nicht mehr das Wichtigste, oder zählte Dir zum Wichtigsten, Freundschaften zu halten, als wäre Dir vieles wichtiger geworden, und deshalb war ich traurig, und hörte zu schreiben auf. (Ebd., S. 76f.)
Im Briefwechsel gibt es aber nur wenige dieser Krisensignale, der Bruch der Freundschaft ist in den erhaltenen Briefen nicht dokumentiert. Die beiderseitige Kränkung lässt sich jedoch an Texten Bachmanns und an späteren Interviewaussagen Aichingers ablesen. Bachmann notierte Ende der 1960er Jahre zwei Träume, in denen Aichinger auftaucht. Einmal geht es »um meine Krankheit und ihr Nichtkommen« (Bachmann 2017, S. 26), einmal steht sie vor dem »Tor von Ilse und Günter« in dem Wissen, »daß
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Der »dritte Zwilling«
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alle eingeladen sind außer mir« (ebd., S. 54). Auch die »Lily-Briefe« in Malina sind mit Bezug auf die zerbrochene Freundschaft mit Aichinger lesbar, so kommt auch die Zwillingsthematik zur Sprache, wenn es in einem der Briefe heißt : »Es ist wieder mein Geburtstag. Verzeih, es ist Dein Geburtstag …« (TA 3.1, S. 459). Die Auseinandersetzung der Protagonistin mit dem Bruch einer Freundschaft in diesen Briefen (ebd. S. 456 – 461) zeigt deutliche Überschneidungen mit einem Bild, das Bachmann im Brief an Uwe Johnson vom 26. August 1970 verwendet, der das Bedürfnis geäußert hatte, die »zwei auf das verschwenderischste und unpraktischste verfeindete[n] Grossmächte« an der bayerisch-österreichischen Grenze wieder zu versöhnen. Bachmann bittet Johnson, dies nicht zu versuchen (vgl. IB/IA/GE Briefe 2021, S. 332f.). Zum Tod Günter Eichs kondoliert Matthias Bachmann am 27. Dezember 1972 auch im Namen seiner beiden Töchter. Im Herbst 1973 stirbt Ingeborg Bachmann. Zwischen ihr und der einstigen engen Freundin dürfte es zu keiner Aussprache mehr gekommen sein. Mein Dank gilt Mirjam und Lena Eich sowie den Erben Ingeborg Bachmanns für die Abdruckgenehmigung aus nicht publizierten Briefen. Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1948) : Die größere Hoffnung. Amsterdam. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Bachmann, Ingeborg (1995) (TA 1 – 4) : »Todesarten«-Projekt. Kritische Ausgabe. Unter der Leitung von Robert Pichl, hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. 4 Bände in 5 Bänden. München/Zürich. Bachmann, Ingeborg (2010) : Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Hans Höller. Berlin. Bachmann, Ingeborg (2017) : »Male oscuro«. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe. Hgg. Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni. München/Berlin. Bachmann, Ingeborg (2020) : Das dreißigste Jahr. Hg. Rita Svandrlik unter Mitarbeit von Silvia Bengesser und Hans Höller. München/Berlin. Celan, Paul (2018) : Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe. Hg. Barbara Wiedemann. Frankfurt/M. Fußl, Irene (2020) : »Im Quell deiner Augen.« Paul Celan und Ingeborg Bachmann – Begegnung in Gedichten, in : Johann Lughofer (Hg.), Paul Celan : Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Wien, S. 164 – 176 (Ljurik 9).
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Irene Fußl
Hakel, Hermann (1991) : Dürre Äste – Welkes Gras. Begegnungen mit Literaten. Bemerkungen zur Literatur. Wien. Höller, Hans (1987) : Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühesten Gedichten bis zum »To desarten«-Zyklus. Frankfurt/M. (HA/IA Briefe 2021) : »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe.« Helga und Ilse Aichinger. Briefwechsel zwischen Wien und London 1939 – 1947. Hg. Nikola Herweg. Wien. (IB/IA/GE Briefe 2021) : »halten wir einander fest und halten wir alles fest !« Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich. Der Briefwechsel. Hgg. Irene Fußl und Roland Berbig. Mit einem Vorwort von Hans Höller. Frankfurt/M. Kußmann, Matthias (2007) : Eine Liebe – Ilse Aichinger und Günter Eich. Feature. SWR 2, 28. Jänner 2007. McVeigh, Joseph (2016) : Ingeborg Bachmanns Wien 1946 – 1953. Berlin. Richter, Hans Werner (2004) : Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Portraits aus der Gruppe 47. Mit Fotos von Renate von Mangoldt. Berlin. Šlibar, Neva (2010) : Engel in der Nacht und Karawane im Jenseits. Frühe Prosa Ingeborg Bachmanns und Ilse Aichingers (1945 – 1951), in : Dies., Ingeborg Bachmann weiter lesen und weiter schreiben. Ljubljana, S. 85 – 111. Weigel, Hans (1979) : In Memoriam. Graz u. a. Weigel, Hans (2015) : »Ich war einmal …«. Eine Biografie. Hg. Wolff A. Greinert mit einem Vorwort von Elfriede Ott und einem Beitrag von Prof. Dr. Johann Hüttner. Wien u. a.
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Theresia Prammer
Die Kunst des Konterns Ilse Aichinger und Ruth Klüger »Sie hat immer den ganzen Mantel gereicht.« Ruth Klüger über Ilse Aichinger
Irgendwann Mitte der 1990er Jahre – Ruth Klügers weiter leben (1992) war schon erschienen – besuchte ich eine »Wiener Vorlesung« der Autorin, die mit ihrem Erinnerungsbuch binnen weniger Jahre zur Bestsellerautorin avanciert war. Klüger trat energisch und zugleich überlegt auf, wie es ihre Art war. Der Abend gehörte ihr. Unter den vielen Zuhörerinnen im Saal des Wiener Rathauses befanden sich noch zahlreiche Menschen, die den Bericht aus eigener Anschauung hätten ergänzen können. Eine von ihnen war Ilse Aichinger. Sie erhob sich gegen Ende der Veranstaltung von ihrem Platz und, ohne sich vorzustellen oder etwas vorauszuschicken, hakte sie bei der Frage der materiellen Entschädigung der Opfer der Nazi-Verbrechen ein, um in wenigen Sätzen ihre Geschichte zu erzählen, und die Geschichte ihrer Mutter : Wie das Klima für »Judenkinder« in der Stadt unerträglich geworden sei, wie ihre Mutter die Anstellung als städtische Ärztin verloren hatte, wie man nach dem Krieg von einer vorläufigen Bleibe zur nächsten weiterzog, und wie schwer es gewesen sei, auch nur ein Wohnrecht geltend zu machen, geschweige denn zur Ausübung des eigenen Berufs wieder zurückzukehren. Klüger hörte zu, stutzte – und begriff : dass es Ilse Aichinger war, die hier sprach. Zwischen den beiden Frauen entspann sich ein kurzes Gespräch, bei dem zu viele Menschen zugegen waren, doch es war klar, dass ein besonderer Austausch im Gange war. Klüger äußerte ihre Bewunderung, verwies auf ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit Aichingers Werk, schien sehr gerührt und ehrlich überrascht. Aichinger nahm die Hommage entgegen, ließ sich aber nicht auf die persönliche Ebene ein. Vielleicht wollte sie keine weiteren Parallelen herstellen, sondern an ihrer Geschichte festhalten. Vielleicht fürchtete sie auch, die Situation könnte in öffentliche Rhetorik ausarten. Geschrieben hat sie darüber jedenfalls nicht, während Ruth Klüger die Episode später so zusammenfasst :
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Theresia Prammer
[A]ls ich das erste Mal eine Wiener Vorlesung im Rathaus hielt, war mir das ein außerordentlicher Triumph. Ich fühlte mich tatsächlich geehrt, was mir nicht leicht geschieht, denn im Publikum saß – o Stolz und Freude ! – die aus der Ferne seit langem verehrte Ilse Aichinger, die Dichterin eindringlich ausgesparter und eigenwilliger Verse und die Verfasserin des ersten Buchs über ein verfolgtes Wiener Mädchen in der Nazizeit, der Roman »Die größere Hoffnung«, eins meiner Lieblingsbücher. (Klüger 2008, S. 212)
Triumph ! Hat sie das Wort wirklich gesagt ? Aus dem Mund Ilse Aichingers würde es sehr überraschen. Sie hätte den »Jubel« bevorzugt, der keinen äußeren Gegner besiegt und in keine Mehrzahl zu übersetzen ist : »daß es keinen Trost gibt, / aber den Jubel« (VR 1991, S. 35). Heute bin ich froh, dass ich Zeugin dieser Szene wurde. Es war ein denkwürdiges Zusammentreffen vor einer Kulisse, die wienerischer nicht sein konnte. Wien : die Stadt, in der die Biographien der beiden Autorinnen ihren Ausgang und ihre entscheidende Wendung nahmen ; die Stadt, in der die beiden Schriftstellerinnen einander vielleicht schon viel früher begegnet wären, wäre da nicht die Zwischenzeit, die sie zu dem gemacht hat, was sie sind. Mit durchaus unterschiedlichen Temperamenten konterten sie ähnliche biographische Voraussetzungen. Es vergingen einige Jahre – Aichinger sollte in der Zwischenzeit ihr rebellisches Spätwerk verfassen –, bis wir Ruth Klüger mit ihrem gerade erschienenen Band Zerreißproben (Klüger 2013) in Lana zu Gast hatten und kurz darauf ihren lapidaren und elementaren Beitrag für einen geplanten Aufsatzband über Ilse Aichinger entgegennehmen durften (Prammer/Vescoli, Was für Sätze 2023). In diesem kurzen Prosastück, das »Erinnerung als Nachruf« betitelt ist, wird jener Schlüsselszene des lyrischen Werkes gedacht, in der Aichinger einen Bettler auftreten lässt, der auf seiner Würde beharrt und den Mantel des Heiligen Martin nur als »ganzen« gelten lässt (VR 1991, S. 68). Auch uns, ihren Leserinnen, schlussfolgert Klüger, hätte Aichinger immer nur »den ganzen« Mantel gereicht. Diese Haltung sei unverhandelbar. Ich glaube, Ruth Klüger hat hier, ein Bild von Aichinger aufgreifend, einen neuralgischen Punkt ihrer Poetik getroffen, an dessen moralischer Grundsätzlichkeit keine literaturwissenschaftliche Betrachtung vorbeikommt. Schon in ihrem frühen Plädoyer »Junge Dichter« (1946) steht der unumstößliche Satz : »[…] so haben wir zuallererst gelernt, Menschen zu sein, bevor wir Dichter wurden« (AuzMi 2021, S. 14). Und : Besser ein »teurer Tod« als ein »beliebiger Tod und ein beliebiges Leben«, resümiert sie »Fünfzig Jahre nach der Tat der Geschwister Scholl« (1992 ; ebd., S. 167). Das ist die Steilvorlage, die Sprecherposition, wenn man so will. Eine solche Haltung vorausgesetzt, kann sich das Leben im Tod vollenden – und das Werk »im Angesicht des Endes« (Ge 1991, S. 10) dem Leben und seinen Ergebnissen zuwenden.
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Etwas Hohes und Einzigartiges sieht Aichinger in der Haltung der Geschwister Scholl verkörpert, an deren ethisches Vermächtnis ihr Schreiben mit dem gleichen Recht anknüpft wie an die literarischen Ästhetiken ihrer Vorläufer und Vorbilder : Wer Einsicht in die Tagebuchaufzeichnungen und Briefe der Geschwister Scholl bekommt, wird entdecken, daß diese beiden scheinbar so verschiedenen Grundzüge, die Liebe zum Leben und die Bereitschaft zum Tode, hier im Grunde ein und dasselbe sind, daß sie einander decken und ermöglichen wie eine Seite einer Münze die andere. Er wird entdecken, daß hier die Bereitschaft zum Tode niemals mißmutig und hochmütig ist, die Bereitschaft zum Leben nie blind gegen innere und äußere Abgründe, gegen die eigene Trauer und die Trauer des Nächsten. (AuzMi 2021, S. 110)
Decken – entdecken – ermöglichen. Wie das Schweigen, das die Worte deckt, decken die Taten das Denken. Und haben dabei eine Befreiung im Blick, die den Tod als letzte Konsequenz nicht scheut. Aber es ist keine eindeutige Klimax, der hier das Wort geredet wird : Vielleicht fällt von daher auch ein Licht auf die Schwierigkeiten unserer Jahre, in denen Tod und Leben immer mehr von Todesangst und Genuß verdrängt werden, hoffnungslos voneinander geschieden, kein Ganzes mehr, sondern jedes für sich. Und vielleicht lernen wir von den Geschwistern Scholl, die ohne Zögern den Tod auf sich nahmen, nicht nur zu sterben, sondern auch, was uns so not tut : zu leben. (Ebd., S. 110 – 111)
Den mutigen Geschwistern wird Dank gezollt, weil sie ein »Maß« gestiftet haben, schaler Alltäglichkeit, Konsumhedonismus und Todesverdrängung zum Trotz. Dem literarischen Ausdruck leuchtet ihr Beispiel als gelebte Unterweisung voraus : »Ich möchte nicht in Umriß und Pathos auflösen, was sich hier von Tag zu Tag bewahrheitete« (KMF 1991, S. 33). »Umriss«, das sind die Phrasen und Schubladen, die überall bereitstehen und das Ungeheure aneignend verkleinern. »Pathos«, das ist die sentimentale Verschleierung, dem Zugriff des Verstandes enthoben, der allein die »präzisen Fragen« und die »präzisen Antworten« verbürgt (ebd.). Das Ethos der Unbedingtheit, tödlich damals und rettend jetzt, ruht nicht im Entweder- Oder, sondern im Sowohlals-auch : »Man muß einen harten Geist und ein weiches Herz haben« (Sophie Scholl, zit. n. AuzMi 2021, S. 113). Das Klischee von der harten Schale und dem weichen Kern ist hier nicht gemeint, auch wenn die junge Sophie Scholl, allseits von militärischer Disziplin und blindwütigem Kampfgeist umgeben, dem Soldatischen als Maskulinem gegenüber gewiss eine eindeutige Meinung hegte. Ein »harter Geist« wird gebraucht, auch angesichts
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der Todesgefahr und Unbeugsamkeit, ein »weiches Herz« steht für eine Empathie, die keine Abstriche macht. Erst zusammen machen sie, so ließen sich die beiden Bilder miteinander verknüpfen, den »ganzen Mantel«. Sophie Scholl an ihren Verlobten Fritz Hartnagel : »Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zuwenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind« (ebd., S. 108). Diese Sätze könnten ebenso von Ilse Aichinger stammen – oder sie fand in ihnen bestätigt, wofür sie mit ihrem Schreiben eintrat. Über die Hinrichtung der Geschwister wird weiter gesagt : Woher kam ihre Ruhe ? […] Vielleicht weil ihnen die einfache Wahrheit, daß alle Stunden gleich lang und gleich kurz sind, daß jede von ihnen, auch die allererste und die scheinbar gleichgültigste, vom Tod wie von einem Schneezaun begrenzt ist, schon früh aufgegangen und niemals verlorengegangen ist. (Ebd., S. 122)
Das Bild einer Grenze aus Schnee, unerhört trennscharf in seiner stillen Gegenwart, variiert die Auffassung des Schreibens »vom Ende her« (Ge 1991, S. 10), in der Reaktion auf ein Geschehen ebenso wie in der Reflexion auf ein Vergehen. Ilse Aichinger an Helga Singer über die tödliche Erkrankung der Freundin Elisabeth Liebl : »Zu anderen Zeiten denke ich, dass das Eigentliche dort ist, wo die Schmerzen sind« (HA/ IA Briefe 2021, S. 281). Dort ist das unsichtbare Zentrum, das Spannungsfeld, dem alle anderen Kräfte entwachsen, auch wenn es Kräfte der Schwäche sind. Und doch sind weder Kraft noch Schwäche der Realisierung anzusehen. Sie wirken im Inneren des Ausdrucks – wie die Stimme von Dantes Odysseus im Innern der Flamme steckt. Die Dichterin dosiert sie genau, als ginge es darum, sie in Hinblick auf ein übergeordnetes Ganzes zu gewichten : »Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit« (KMF 1991, S. 48). Die Busse in England, die selbst im Bombenhagel ihren Betrieb nicht einstellen, sind solche verlässliche Boten eines zivilen Widerstands. Dass sie das Gewohnte aufrechterhalten, wo das Gewaltige und Gewalttätige tobt, ist ihr ganzer Verdienst (vgl. AuzMi 2021, S. 24). Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem nach England emigrierten Teil ihrer eigenen Familie beobachtet Aichinger ein vergleichbares Phänomen : »Englisch lernen als eine Art von Disziplin, die bis vor die Türen der KZs und der Gaskammern anhielt« (KMF 1991, S. 24). Auch Ruth Klüger hat sich diese Disziplin rasch und mit existenziellem Fleiß zu eigen gemacht. In den USA angekommen, am Hunter-College inskribiert, beginnt sie bereits als 16-Jährige Gedichte auf Englisch zu schreiben. So antwortet sie auf neue Erfahrungen in der neu erworbenen Sprache und begegnet dem Ballast der Erinnerung durch idiomatische Neutralität :
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Meinen englischen Gedichten fehlt die Beziehung, die wir zu derjenigen Sprache haben, die uns zuallererst das Bewusstsein der Umwelt vermittelt. Die Kindheit, an die wir uns nicht erinnern, ist in Hofmannsthals Worten ›uns wie ein Hund unheimlich stumm und fremd‹. Dann kommt die Sprache. Der Mensch in uns schlägt die Augen auf. (Klüger 2013, S. 95)
Das Englische bleibt Klüger geläufiger, doch »die deutsche Sprache latent im Gehirn, aber noch immer robust, hatte mich gewählt, nicht umgekehrt« (Klüger 2006, S. 101). Der Unfall in Göttingen, mit dem Klügers erste Lebenserzählung anhebt, hat die lange verschlossenen Erinnerungen schlagartig befreit. »[E]in deutsches Buch« – so steht es als eine Art Widmung in weiter leben (Klüger 1992, S. 4). Was auch heißt : ein Buch über die deutsche Sprache, die die Geflüchtete, aus allen vertrauten Zusammenhängen gerissen, ins Exil begleitet. Wörter, auf der Flucht zusammengerafft, als »Buckel«, »Makel« oder »Rucksack«, geheimnisvolles Bündel und heimliche Bürde. »Und du wirst dir nehmen, was du schleppen kannst, wenn’s auch nur die ohnmächtigen Wörter sind, die man beim Spielen verwendete« (Klüger 2006, S. 214). Die erst in den USA rezipierte Literatur aus Österreich schließlich sprach zu ihr, der Germanistin, »im bequemen Tonfall einer vertraut hinterfotzigen Kindersprache« (Klüger 1992, S. 65). Durch das Englische in einem neuen Leben angekommen, literarisch in ihrer alten Heimat Wurzeln schlagend, verbindet Klüger so in gewissem Sinn das Schicksal der Schwestern Ilse und Helga in einer Person. Richard Reichensperger nennt Aichingers Haltung ganz zu Recht eine Haltung der »Aggressivität«. Aggressiv, nicht um die Gesetze der Rücksicht gegenüber dem Nächsten zu verletzen, sondern aggressiv, weil es etwas zu verteidigen gibt. Dem Avantgardepostulat eines in der Kunst aufgehenden oder aufs Spiel gesetzten Lebens hält Aichinger, deren avantgardistische Formensprache außer Zweifel steht, ein anderes Prinzip entgegen : die Kunst, die den Toten und ihrem Andenken verpflichtet ist. Hier verläuft die Grenze – der unsichtbare Schneezaun –, dem die Seele und ihre Formen untergeordnet sind. Zu wissen, wann die Menschen den Büchern vorzuzuziehen sind, ist die sich daraus ergebene Prioritätensetzung, von der wiederum die Bücher profitieren. Immer wieder erwähnt Aichinger in ihren späten Texten, aber auch in Interviews, dass ihr Vater seine bibliophile Leidenschaft auf Kosten der Familie pflegte – was schließlich die Mutter zur Trennung bewogen habe (Interviews 2011, S. 124). Ruth Klüger, als junge Frau in den USA sozialisiert, war Aggressivität auch als gesellschaftspolitische Haltung ein Begriff. Eine bodenlose Frechheit dürfe, zumindest einmal im Leben, mit einem Glas Wein oder Bier ins Gesicht pariert werden, »wenn die Situation es verlangt«. Kritik war für Klüger auch Geste, Unversöhnlichkeit ein Prinzip, das Freundschaft nicht ausschließt. Und Ressentiment unter Umständen die »angemessene Weise, mit Ungerechtigkeiten umzugehen, gegen die man nichts machen kann« (Klüger/
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Herpell 2012). Denn in gewissen Fällen, so Klüger nicht ohne Wehmut, sei es geradezu eine Pflicht, »nachtragend« zu sein (Klüger 1992, S. 278). Und »nachtragend« blieb sie auch im Wortsinn, nämlich mit ihrer jahrzehntelangen Weigerung, die KZ-Nummer von ihrem Arm zu entfernen oder vorauseilend zu verstecken, um den Verdrängern oder bloß abstrakt Betroffenen den Anblick zu ersparen (Klüger 2008, S. 11 – 29). Ruth Klügers autobiographische Bücher sind voll von solchen, am eigenen Leib ausgetragenen Befunden zur Lebensrealität nach dem Krieg. Als Wissenschaftlerin und deklarierte Feministin entwickelte sie ein militantes Rollenbewusstsein. Scharfsinnig analysierte sie die Umstände ihrer gescheiterten Ehe, die von Kuriositäten und Rivalitäten, Ohrfeigen und Affronts gesäumte akademische Laufbahn, den Umgang mit fiktiven Darstellungen der KZ-Realität. Verbal zurückhaltender agierte Ilse Aichinger, die sich von lauten Debatten lieber fernhielt, das »Verschwinden« als utopische Haltung pflegte, mit der sich vielleicht »der Banalität entgehen« ließ (FuV 2001, S. 111), ganz sicher der Banalität eines wiedererkennbaren Lebensentwurfs. Umso stärker fielen ihre sporadischen Wortmeldungen ins Gewicht, die immer auch Einsprüche gegen einen entleerten oder diffamierenden Sprachgebrauch waren. Literatur, Sprache und Sprachkritik (später Medienkritik) setzte sie förmlich in eins. Die Fähigkeit, ein Scheingespräch von einem Gespräch zu unterscheiden, vom Schweigen gedeckt und nicht vom Verschweigen untergraben, besaß auch Ruth Klüger in hohem Grad, aber sie trug sie stärker als gesellschaftlich aus. »Nicht wahr ?«, hört man sie in Interviews immer wieder fragen, lieber die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers einholend als dem Publikum zu gefallen. Unpathetisch aus Prinzip, sind Ilse Aichinger und Ruth Klüger niemals Anarchistinnen der Form gewesen, sondern unaufgeregte Apologetinnen der Haltung. Einer Haltung, die sich als literarische am »Ende« orientiert und als menschliche in der Bedrohung am Anderen bewährt, also mit »Zivilcourage« wohl am besten bezeichnet ist. Doch solche Wörter wird man von Aichinger selten hören, ebenso wie den Begriff »Toleranz«. Sie hält es aus, wenn die Dinge keinen Namen haben, was die literarische Suche nur umso stärker vorantreibt. »Formulierung ist Einverständnis« (KMF 1991, S. 60) notiert sie im Jahr 1953. Dem ›Gutes Wollen‹ stellte sie allezeit die reale gute Tat gegenüber, wie sie im Erbe der Widerstandskämpfer bezeugt ist. Unter vertauschten Vorzeichen, das Unvordenkliche aufseiten der Täter verortend, entsinnt sich Ruth Klüger in weiter leben des Beispiels einer SS-Schreiberin, die sie im Zuge der Selektionen entgegen aller Wahrscheinlichkeit in den Arbeitsdienst aufnahm und so »die Kette der Ursachen durchbrach« (Klüger 1992, S.134) : Und deshalb meine ich, es kann die äußerste Annäherung an die Freiheit nur in der ödesten Gefangenschaft und in der Todesnähe stattfinden, also dort, wo die Entscheidungsmöglich-
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keiten auf fast Null reduziert sind. In dem winzigen Spielraum, der dann noch bleibt, dort, kurz vor Null, ist die Freiheit. (Ebd., S. 135)
Bezeichnet Klüger die freie Willensausübung der Beamtin als »das Verblüffende […] ein Sprung über das Vorgegebene hinaus« (ebd.), entdeckt Aichinger die »äußerste Geborgenheit« in der »äußersten Bedrängnis« (KMF 1991, S. 22). Immer da, wo jemand aufs Ganze geht, wird auch das ganz Andere wieder denkbar. Vom »Schmerz« – »ungetröstet« und »ungestillt« – ist Aichinger »überzeugt […], daß er dieser und aller Freude dient, der Kindheit, dem Christfest« (ebd.). Aichingers einzigem Gedichtband Verschenkter Rat (1978) ging eine lange Inkubationszeit voraus, während Klüger ihr poetisches Debüt Zerreißproben erst im Alter vorstellte, im Dialog mit ihrem früheren Selbst und fast ohne Berührungspunkte zur zeitgenössischen Szene. Dabei hatten diese Texte die Biographie ihrer Autorin über Umwege geprägt, war es doch eine Gedichtveröffentlichung, die dazu geführt hatte, dass ein Germanist an die damalige Bibliothekarin herantrat, um ihr eine Promotionsstelle anzutragen. »Wenn ich gut gelaunt bin, sehe ich eine poetische Richtigkeit, wenn nicht Gerechtigkeit, darin, daß gerade von diesen Gedichten der Weg zu meinem passend-unpassenden Beruf geführt hat« (Klüger 1992, S. 200). Nichtsdestotrotz ist da ein Kern, an den weder die ausgewanderte Literaturwissenschaftlerin noch die Autorin herankommt : »Gespenstergeschichten müßte man schreiben können«, formuliert sie in Annäherung an ihren verstorbenen Bruder, der von seinem Transport nach Riga nicht wiederkam. Klügers Zerreißproben mit ihren explizierenden Selbstkommentaren beleben die Gattung des Prosimetrums neu ; ihre früher erschienenen (doch später geschriebenen) Erinnerungsbücher machen die Gedichte zum Kommentar des Erzählten. Beides schmälert den literarischen Anspruch nicht, schweißt ihn vielmehr zusammen mit dem ethischen. »Gedichte sind haltbarer als Prosa«, »unverrückbar«, betont Klüger auch, während Prosa ›vergänglicher‹ sei (Klüger 2013, S. 8). An Aichingers Poetik ließe sich diese Charakterisierung nicht herantragen, sie gehört untrennbar zu Ruth Klügers Konzeption ihrer Gedichte als »Seelenbeistand« und »geistiges Hausgut« (ebd.), ihrem Wesen nach unveräußerlich. Eine ästhetisch avancierte Position ist das nicht, gleichwohl eine legitime, deren Motiv schon im Titel des Buches ausgewiesen ist. Wo ein Leben der äußersten »Zerreißprobe« ausgesetzt ist, obliegt dem Gedicht (und mit ihm dem Metrum) die Wiederherstellung des Maßes. Ihre Kindergedichte versteht Klüger folgerichtig als »Gegengewicht zum Chaos«, »sinnlos und destruktiv« (Klüger 1992, S. 125). Hatte sie in weiter leben das Verdikt, nach Auschwitz keine Gedichte mehr zu verfassen als halbherzige Verbrämung (intellektualistische Bemäntelung) gebrandmarkt, rücksichtslos gegenüber jenen, für die es überlebenswichtig ist,
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solche Gedichte zu schreiben, bekräftigt sie in Zerreißproben den eigenen Anspruch auf lyrischen Ausdruck unumwunden aus ihrer Geschichte heraus : »Die Kommentare handeln von dem, was ich weiß, und dem, was ich glaube zu wissen« (Klüger 2013, S. 9). Und Klüger gewinnt dabei den Eindruck, dass der historischen Wahrheit mitunter die Übertreibung oder Verzerrung am nächsten kommt, so wie ein Albtraum das Unsagbare für Augenblicke erhellt. Auf dem Spiel steht so vielleicht auch die »Zerreißprobe«, die jede I nterpretation für einen Primärtext darstellt. Mit ihr eignet sich Klüger die eigene Erfahrung noch einmal an und nimmt sie vor Appropriationen vorauseilend in Schutz. Selbst ernannte Experten in »Ethik, Literatur und Wirklichkeit« sollten sich, so Klüger, hier keine Deutungshoheit herausnehmen. »Vor meinen alten Kindergedichten wird mir die Forderung hinfällig, man solle die Interpretationen sein lassen und sich nur den Dokumenten widmen. […] Wer mitfühlen, mitdenken will, braucht Deutungen des Geschehens« (Klüger 1992, S. 127). Fremdinterpretation sei vergänglich, mitunter nur »Kulturdünger«, erklärte Klüger etwas pessimistisch in der Dankesrede zum Preis der Frankfurter Anthologie (Klüger 2007, S. 230). Und Selbstinterpretation ? – Eine Frage des Wirklichkeitsbezugs, vielleicht auch der Selbstermächtigung oder heilsamen Profanierung. Weil die Anwendung »rein ästhetischer Kriterien […] auch ein Alibi sein« könne, »das einer vorherrschenden Lebensanschauung dient, zum Beispiel der Männlichen« (Klüger 1996, S. 85). Unantastbarkeitspostulate stünden dann lediglich im Dienst der Verschleierung realitätswirksamer Gleichstellungsforderungen. Diese Argumente hält Klüger jenen entgegen, die den Holocaust und alles damit Zusammenhängende der Beschreibbarkeit entziehen und somit einer »weiteren Ghettoisierung« aussetzen. Aristotelische Werte wie »Gewissen« führt sie dabei ebenso ins Feld wie die sprichwörtliche »Läuterung durch Furcht und Mitleid«. So konterkarieren ihre Erläuterungen einerseits die eigene kindliche Ergriffenheit, andererseits reklamieren sie sie aus moralischer Sicht ein zweites Mal. Und nicht zuletzt verfolgen sie, wie sie es für die Interpretationen in der Frankfurter Anthologie postuliert, eine authentisch kommunikative Funktion : Verbindungen herzustellen zwischen Gedichten und Leserinnen. Unter Verweis auf Bert Brecht pocht Ruth Klüger auf ein deklariertes Ineinandergreifen von Moral und Ästhetik. Damit einher geht die provokante These, die werkimmanente Interpretation nähme die Verdrängung der Vergangenheit billig in Kauf, womit ein »historische[r] Grund für diese besessene Konzentration auf die Sprache« gefunden wäre (Klüger 2007, S. 239). Die vor allem in Österreich verwirklichten Alternativen – Heimrad Bäcker mit seiner Nachschrift, in der Faktizität und ›Treue‹ zum Sprachspiel kein Widerspruch sind – sieht die Autorin nicht oder lässt sie nicht gelten. Unnachgiebig beharrt sie auf der Gleichung zwischen Wort und Ding, wie um den Bannstrahl gegen die Gespenster möglichst präzise auszurichten. Als traute sie den
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Interpretationen und Glossen mehr zu als dem von Mehrdeutigkeiten unterwanderten poetischen Diskurs : »Theresienstadt, Ausschwitz, Groß-Rosen, sprich sie nach !« Namen sind für diese Form des Erinnerns unabdingbar. Ein Anruf bei der eigenen Mutter ist in weiter leben dokumentiert : »Wie haben wir geheißen damals […] ?« (auf den falschen Pässen) »Kalisch haben wir […] geheißen«, gibt die Mutter zur Auskunft (Klüger 1992, S. 179). Wie konnte sie es vergessen ? Einerseits. Andererseits : Wie wichtig war es, den Namen zu vergessen, um weiter leben zu können. Verdrängung, wie die Autorin einmal anmerkt, als erster Schritt zur Bewältigung. Ilse Aichingers wortkarge Gedichte gehen das Risiko der Verdunkelung ein, wenn sie der Chiffre anvertrauen, was als Erfahrung oder existenzieller Befund außer Frage steht : »Wenn die Post nachts käme / und der Mond / schöbe die Kränkungen / unter die Tür : Sie erschienen wie Engel« (VR 1991, S. 22). Ruth Klügers Verse praktizieren das poetische Sagen als Zur-Rede-Stellen, sind Exerzitien in einem abgründigen Sinn. Während der stundenlangen Appelle, erinnert sich die Autorin, hatte sie sich als Kind immerfort zur Gedichtrezitation angehalten. Die Gangart der Verse verlieh ihr Halt und verlangte Haltung ab, war Gesetzgebung, Gedächtnisstütze und zusammengereimte Rettung in einem. Goethes »Es schmilzt das Eis, die Kette bricht entzwei« hätte sich so zum Beispiel als Refrain für das Kriegsende bewährt. Tröstlich sei dieses Aufsagen nicht etwa aufgrund seines »religiösen oder weltanschaulichen Inhalts« oder des »emotionalen Stellenwerts« der Gedichte gewesen. Tröstlich war es, weil die gebundene Sprache das Grauen objektiviert und die von außen aufoktroyierten Zeitabläufe zu neuen Texturen verwebt. »Die ungeheure Unordnung […], die Aufhebung der gesellschaftlichen Regeln im Vernichtungslager […] bekämpfen« (Klüger 1992, S. 126). In weiter leben findet sich auch der bemerkenswerte Satz : »Vielleicht wollte ich mich überhaupt und in erster Linie mit diesen Gedichten bei Gott einschmeicheln, so daß er mich als Ausnahmefall behandeln würde« (ebd.). Die »größere Hoffnung« – bisweilen scheint sie sich zu ihrer Erfüllung einer kindlichen Anmaßung zu bedienen. Klüger, die ihre nachträglichen Selbstinterpretationen als »Tabubruch« bezeichnet hat, beklagte die Vereinnahmung der Auschwitz-Bücher als »escape-story«, fein säuberlich in ein Vorher und Nachher getrennt. Als wären die wahren Opfer nicht die Toten ! Sein ist mehr als Gerettet-Sein ; Wahrheit nicht nur das, was man einmal war : »Ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien« (ebd., S. 138). Es ist die Vertriebene, die auf diesem Unterschied besteht, gleichwohl sie sich, wie Aichinger, zeitlebens gegen das »Hütten bauen« verwehrt hat : »Wiederholt bin ich gestrandet, und so sind mir die Ortsnamen wie die Pfeiler gesprengter Brücken« (ebd., S. 79). Wiederholt gestrandet, unterwegs verloren : Die biographische Erzählung ist durchzogen von Verlustmotiven. Wien ist die verlorene Stadt von Anfang an, »heimatlich unheimlich« (ebd., S. 67) schon vor der Flucht, die »nicht gelang«. In der Erinnerung
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Theresia Prammer
lässt sie sich aufsuchen, doch die Kluft zwischen Evokation und Zeitgefühl ist dabei nicht immer zu überbrücken. Hatte Aichinger als Erwachsene die Erfahrung gemacht, dass Weihnachten nicht mehr auf Weihnachten fiel, weil »Furcht« und »Verlangen die Zeit aus dem Raum« verdrängt haben (KMF 1991, S. 21), wünschte Klüger sich Zeitworte in einem anderen Sinn herbei : Sicher helfen die ausgehängten Bilder, die schriftlich angeführten Daten und Fakten und die
Dokumentarfilme. Aber das KZ als Ort ? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher. (Klüger 1992, S. 78)
Zeitschaft ist vergangene, intuitiv heraufbeschworene Gegenwart. Zeitschaft befähigt dazu, das Vergangene im Gegenwärtigen zu erkennen, als übles Muster oder drohende Gefahr. Zeitschaft ist rechtzeitig eingreifende Zeitgenossenschaft. Über Erich Hackls Zugang zu seinen narrativen Stoffen schreibt Klüger : »In diesem Ineinander von Konjunktiv und Indikativ, von Wirklichkeit und Möglichkeit, ist sowohl der ästhetische wie der ethische Anspruch der Erzählung enthalten. Darin liegt die Wahrheit des Chronisten« (Klüger 1996, S. 182). Jedoch was, wenn die »Wahrheit« der Erinnerung sich im Zuge der literarischen Verwandlung noch einmal anders bewährte ? »Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde ich nicht schreiben«, hat Peter Handke einmal als Bonmot zum Besten gegeben. Aichingers literarische Gesten, in einer Form geborgen, von der sie Freiheit und Bedrängnis zugleich empfingen, haben das Maß für ein aus Erfahrung schöpfendes Schreiben ein für alle Mal geprägt. Dass sie wenig geschrieben hätte, ist nicht mehr als ein dummes Vorurteil. Denn hier hat sich einmal eine den Parametern des gedankenlos Dahingeschwatzten von Grund auf entzogen. Was bleibt, wenn alles Überflüssige abgestreift ist ? Wie kann das Reden neu beginnen, wenn das Unsägliche schon hinter uns liegt ? Aichingers leise, skrupulöse Retizenz schien die Sprache der Überlieferung (und die überlieferte Sprache) gleichsam zu filtern ; ihre Publikationen, oft durch Jahre des Heranreifens getrennt, waren Erscheinungen. Wie Ruth Klüger verstand sie das Schreiben nicht als »Beruf«, sondern legte ihm ein ganzes Leben zugrunde, dessen Erweiterung es förmlich war. Oder war es der Mantel, der die Erfahrung einhüllte und der an jenem Abend im Rathaus als eine einzige geteilte Haltung über den Figuren der beiden Autorinnen lag ? Unauffällig, aber auch unübersehbar, eine »Zeitschaft« bezeugend, in der die Stadt Wien einen unauslöschlichen Platz einnimmt : Aichinger entwarf eine imaginative Kleist-MohnFasane-Topographie. Klüger erinnert sich an phantasievolle Spiele im Esterházypark des 6. Wiener Gemeindebezirks, den sie noch Jahrzehnte später als »Hasipark« oder »Geister-Hasipark« heraufbeschwört (Klüger 1992, S. 65 – 67).
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Ob die heute eingerichteten Stätten der Erinnerung angetan sind, etwas von dieser Zeitschaft zu vermitteln ? Nach Ruth Klüger wurde ein Platz in der Wiener Burggasse benannt, Aichinger wurde mit einem Denkmal auf der Schwedenbrücke geehrt – dem Ort, an dem die Dichterin als junges Mädchen von einem Deportationszug aus ihrer Großmutter zum letzten Mal zuwinkte. Das Motto, das Ruth Klüger dem 2008 erschienenen Erinnerungsbuch unterwegs verloren voranstellt, stammt von Ilse Aichinger : »Ob ich euch nicht wiedersehe oder ob ich euch wiedersehe, ich sehe euch wieder« (KMF 1991, S. 87). Literatur Aichinger, Ilse (Ge 1991) : Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948 – 1952). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse/Aichinger, Helga (HA/IA Briefe 2021) : »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe«. Helga und Ilse Aichinger. Briefwechsel zwischen Wien und London 1939 – 1947. Hg. Nikola Herweg. Wien. (IB/IA/GE Briefe 2021) : »[…] halten wir einander fest und halten wir alles fest !« Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich. Briefe. Hgg. Irene Fußl und Roland Berbig. Mit einem Vorwort von Hans Höller. Frankfurt/M. Klüger, Ruth (1992), weiter leben. Eine Jugend. Göttingen. Klüger, Ruth (1996) : Frauen lesen anders. Essays. München. Klüger, Ruth (2006) : Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen. Klüger, Ruth (2007) : Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik. Göttingen. Klüger, Ruth (2008) : unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien. Klüger, Ruth/Herpell, Gabriela (2012) : »Die 80-jährige Ruth Klüger«. Interview, in : Süddeutsche Zeitung 8. März. Klüger, Ruth (2013) : Zerreißproben. Wien. Klüger, Ruth (2023) : »Erinnerung als Nachruf«, in : Prammer, Theresia/Vescoli, Christine (Hgg.), Was für Sätze. Zu Ilse Aichinger. Wien, S. 13 – 15.
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Christa Gürtler
Blitzlichter auf zwei Dichterinnen Zu Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl Man muß ja nicht alles gleich sagen, was man sagt. Ilse Aichinger alles was man sagen kann, muss schliesslich nicht gesagt werden Elfriede Gerstl
Blitzlichter auf ein Leben ist der Untertitel des Buches Film und Verhängnis (2001) von Ilse Aichinger, einer ungewöhnlichen Art von Autobiographie. Sie setzt in den sprunghaften Momentaufnahmen, die sich einer Chronologie verweigern, das Verhängnis ihrer Familiengeschichte mit der Zeitgeschichte und insbesondere mit der Geschichte des Kinos in Beziehung : »Auch Blitzlichtaufnahmen haben mehr mit der Erinnerung zu tun als Fotoalben : Kurz und grell beleuchtete, erschrockene und oft fratzenhafte Gesichter. Wer hat noch die Illusion, sein Leben vor- oder zurückblättern zu können ?« (FuV 2001, S. 70) Nicht mit der Populärkultur des Kinos, sondern mit der Geschichte der Mode verknüpft Elfriede Gerstl ihre Lebensgeschichte im Lang-Gedicht »Kleiderflug oder lost clothes« (1995). Weder ihr Leben noch die Geschichte der Kleidermoden wird linear erzählt, sondern als Prozess von »ABLAGERUNGEN«, »planvoll und chaotisch« in immer neuen Kombinationen (Gerstl 2014, S. 18 und S. 13). Textilien und Texte sind für Gerstl ein Erinnerungsspeicher : »sich ein bekleidungsmenü komponieren oder mixen / aus erinnertem und gegenwärtigem – schranken verwischend« (ebd., S. 14). Kleidermoden zeichnen sich durch Flüchtigkeit und Vergänglichkeit aus, andererseits bestimmen Zitat und Montage das Spiel mit Bedeutungen in Mode und Literatur. Blitzlichter auf Leben und Schreiben zweier Dichterinnen folgen Spuren ihrer Poetik und verweisen auf augenfällige Parallelen und Differenzen, auch wenn wir wenig über die Begegnungen und Beziehungen zwischen Ilse Aichinger, geboren 1921, und Elfriede Gerstl, geboren 1932, wissen. In den Werken beider Autorinnen finden sich keine Hinweise auf die Schriftstellerkollegin. Doch die beiden Flaneurinnen sind sich in ihren späteren Lebensjahren auf ihren Streifzügen durch die Wiener Innenstadt bisweilen begegnet, auch wenn ihre Lieblingscafés verschiedene waren. Herbert
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Blitzlichter auf zwei Dichterinnen
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J. Wimmer, Gerstls langjähriger Lebenspartner, erwähnt in einem Text, dass sich Ilse Aichinger zu Lebzeiten von Richard Reichensperger manchmal mit Elfriede Gerstl im KIX in der Bäckerstraße traf, in dem Aichinger oft ihre Nachmittage verbrachte (Wimmer 2020, S. 199). Beide Grenzgängerinnen hinterlassen ein schmales Werk : je einen Roman, Erzählungen, Gedichte, Hörspiele, Aufzeichnungen, Essays, Denkkrümel. Beide Dichterinnen sind Meisterinnen der Knappheit und Verdichtung, ausuferndes Erzählen ist ihre Sache nicht. Beide sind geprägt durch ihre traumatischen Erfahrungen als Überlebende jüdischer Familien in Wien, die sie auf ganz unterschiedliche Art und Weise literarisch thematisieren. Während Ilse Aichinger zu Beginn ihrer literarischen Laufbahn in ihrem einzigen Roman Die größere Hoffnung (1948) ihre Erfahrungen in Literatur verwandelt hat, wird Elfriede Gerstls Überlebensgeschichte erst Jahre später literarisch präsent. Nur als biographische Parallele sei erwähnt, dass sie ein abgebrochenes Medizinstudium verbindet. Vom Verschwinden und vom Flüchten Ich hatte ja schon als Kind immer den Wunsch – das war mein erster Wunsch : Ich wollte verschwinden. Ich dachte, das muss man können. Wenn ich die Augen lang genug zumache, dann bin ich weg. Und als ich gemerkt habe, dass ich das nicht kann, ist in mir eine Erbitterung gegen diese Welt gewachsen, in der man nicht verschwinden kann, wenn man will. Und ich glaube, dahin hat auch mein ganzes Schreiben gezielt, auf dieses Verschwinden. (Interviews 2011, S. 140)
Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga wurden in eine katholisch-jüdische Familie geboren, der Vater war Lehrer, die Mutter eine der ersten Ärztinnen Wiens. 1927 erfolgte die Scheidung der Eltern, die Mutter übersiedelte mit den beiden Töchtern in die Wohnung der Großmutter, 1939 emigrierte Helga mit einem Kindertransport nach England. Die Mutter entging der Deportation, weil Ilse als ›Mischling‹ ersten Grades mit ihr in einer Wohnung lebte und sie nach ihrer Volljährigkeit bis zum Kriegsende versteckte. Nach ihrem Romandebüt 1948 gewann Ilse Aichinger 1952 mit ihrer »Spiegelgeschichte« den Preis der Gruppe 47, bei deren Treffen sie Günter Eich kennenlernte, den sie 1953 heiratete. Mit ihren Kindern Clemens und Mirjam lebte die Familie zunächst in Bayern und später in Großgmain bei Salzburg. Ihre Gedichte und Texte schrieb Ilse Aichinger oft am Küchentisch, seit 1988 in Wien in diversen Kaffeehäusern, immer wieder auf Notizzettel, Zigarettenschachteln, Postkarten, Rechnungen, Speisekarten und andere Drucksorten.
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Christa Gürtler
In ihrer Vorbemerkung zum Journal des Verschwindens formuliert Aichinger ihr Konzept des subversiven Schreibens : Weshalb ›Journal‹, weshalb ›Verschwinden‹, weshalb ›Blitzlichter auf ein Leben‹ ? – Weil mir vor allem an der Flüchtigkeit liegt. Und selbst bei der Notiz, der kurzen Feststellung, dem Journal : nur als Anlaufstrecken für die Freiheit wegzubleiben. Als Kontrapunkt, mit dem das Verschwinden erst einsetzen kann. (FuV 2001, S. 65)
Sie kritisiert die Narration der historischen Konstruktion. Erinnerung ist für sie das Disparate, es sind Momentaufnahmen, Fragmente, Assoziationen : Erinnerung hat eine entgegengesetzte Ökonomie : Sobald sie sich begreift, kommt sie in Gefahr, sich zu verfallen, ihren Abläufen, Datierungen, Scheinkonsequenzen : ihrer Chronologie. So langsam sie begreift, umso rascher sollte sie vergessen. Sie ist an diejenigen Augenblicke gebunden, in denen sie aus sich herausgerät : Sie muß alles und darf doch nichts behalten wollen : wie einer, der Steine dem Wasser anvertraut, damit sie darauf springen. (Ebd., S. 70)
In ihren Aufzeichnungen aus dem Jahr 1960 heißt es : »Sich erinnern : sich und das Erinnerte für das Vergessen bereit machen« (KMF 1991, S. 63). Erinnerungsarbeit ist ein Prozess ohne endgültige Antworten. Aichinger richtet sich gegen ein Paradigma der Vergangenheitsbewältigung, das auf stabile Identitäten ausgerichtet ist und deshalb von einer Aneignung der Vergangenheit ausgeht. Die wichtigste Akteurin des Erinnerungsprozesses ist die Sprache, die immer wieder reflektiert und überprüft wird. Erst durch das Schreiben wird der Erinnerungsprozess generiert. Auslöser für die sprachliche Erinnerungsarbeit waren für Aichinger nicht selten Fotos, Bilder und Filme. Ihre Leidenschaft für das Kino begleitete ihr Leben ; in ihren späten Lebensjahren war es ihr Glück, mehrmals täglich ins Kino gehen zu können : »Ich halte es noch immer für ein Privileg, nicht zu existieren. Ich gehe ins Kino, der Vorhang öffnet sich, der Film beginnt, und ich bin für zwei Stunden nicht mehr da. Ich bin verschwunden. Ich bin im Film.« Das Kino ist für Ilse Aichinger ein Ort der »Zuflucht und auch der Flucht vor mir selbst« (Interviews 2011, S. 156, S. 180). Auch wenn das Ziel die Abwesenheit ist : »Verschwinden aber kann nur, wer erst einmal anwesend ist : sichtbar, hörbar« (Fässler 2011, S. 239). »ich bin tüchtig im flüchten« heißt einer jener Sätze, die Elfriede Gerstl selbst als »Denkkrümel« bezeichnet. Unter dem Titel »Die Flüchtige« porträtiert Elfriede Jelinek ihre beste Freundin : »Die Flüchtigkeit des Sprechens war überhaupt sehr wichtig, wahrscheinlich das Wichtigste.« Ihre Sprache ist ein Schutz vor Nähe : »Nichts Gemütliches. Diesem Verschwinden vor sich selbst, dieser Flüchtigkeit einer nervösen
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Blitzlichter auf zwei Dichterinnen
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Existenz, die ständig auf dem Sprung war, wie man sagt.« Elfriede Gerstls Texte – so Jelinek – sind »in dieser Flüchtigkeit […] beharrlich geblieben« ( Jelinek 2012, S. 11, S. 13 und S. 17). Elfriede Gerstl wuchs zunächst in einem großbürgerlichen Haushalt auf, der Vater war Zahnarzt, sein zweiter Arbeitsplatz aber waren die Bridge-Tische im Spielzimmer eines Cafés. Nach der Scheidung der Eltern übersiedelte Gerstl mit ihrer Mutter zur Großmutter. Sie erlebte als Kind, wie die Gestapo die Wohnung mehrmals durchsuchte und überlebte von 1942 bis 1945 gemeinsam mit ihrer Mutter die Jahre der nationalsozialistischen Verfolgung in wechselnden Wiener Wohnungen. Erst 1951 konnte sie die Externistenreifeprüfung ablegen und begann 1952 ihr Medizinstudium, wechselte später zu Psychologie, brach ihre Studien aber ab. »mit 19 jahren schreibe ich meine ersten gedichte« heißt es in einem Erinnerungstext von Gerstl (Gerstl 2015, S. 295). Elfriede Gerstl heiratete 1960 ihren Schriftstellerkollegen Gerald Bisinger, im Jänner 1961 kam ihre Tochter Judith auf die Welt. Im Herbst 1963 erfolgte eine Einladung zur Teilnahme am Arbeitskreis »Prosaschreiben« nach Berlin. Bis 1972 pendelte sie zwischen Berlin und Wien, wo ihre Tochter bei der Großmutter aufwuchs ; 1968 wurde ihre Ehe mit Gerald Bisinger geschieden. Die literarischen Hoffnungen Gerstls erfüllte Berlin nicht, denn ihr experimenteller Gestus des Schreibens, beeinflusst von Autoren der »Wiener Gruppe«, machte sie in Berlin zur Außenseiterin ; dazu kam noch ihre Rolle als Ehefrau und Mutter. »Grass hielt mir die Aichinger vor, Höllerer Herzmanovsky-Orlando, was mir vollständig unverständlich war«, schreibt sie in »Transportables Unglück – ein Städtevergleich« (Gerstl 2017, S. 150). Den Fluchtort Berlin empfand sie als ebenso spießig wie das »miefige« Wien. Auf den langen Zugfahrten entstand ihr einziger Roman Spielräume, der aber nach Publikationsschwierigkeiten erst 1977 in der edition neue texte in Linz veröffentlicht wurde. Das jahrelange Leben in Verstecken, beengte Wohnverhältnisse, häufige Wohnungswechsel, all das beeinflusste Gerstls Schreiben maßgeblich und machte sie zu einer Meisterin der kleinen Form. Sie war eine Sammlerin : Im Nachlass fanden sich Notizhefte und Blöcke ebenso wie Hunderte lose Blätter mit Aufzeichnungen, Gedichten, Denkkrümeln, Textbruchstücken auf Papierservietten, Papptellern, Einladungen, Ankündigungen, Briefumschlägen, Rechnungen – das Flüchtige ist präsent. Neben lebensgeschichtlichen Dokumenten zeigt u. a. ihr Kurzprosatext »Mein Lichtstrahl«, der 1955 in der Zeitschrift Neue Wege erschien, auf sehr eindrückliche Weise, was das Leben als »U-Boot« in einem verdunkelten Versteck bedeutete (Gerstl 2015, S. 82). Aus der historischen Distanz betrachtet, hätte die Aufnahme dieses Textes in eines ihrer Bücher die Rezeption ihres Werkes nachhaltig bestimmt. Sie tat es nicht, denn – wie sie in Interviews mehrmals betont : »Ich möchte nicht als lebend gebliebene Anne Frank gesehen werden« (zitiert nach Kitzmantel 2012, S. 42).
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Christa Gürtler
Erst seit den 1980er und 1990er Jahren erschienen vermehrt Gedichte und Essays von Gerstl zum Thema Erinnerung und Gedenken. Lakonischer kann man »april 1945« aus ihrer Perspektive nicht in Sprache fassen : »a bissal gfiacht / a bissal gfreid / hauptsach ausn kölla aussegräud / 25. 9. 2004« (Gerstl 2014, S. 286). Gerstl plädierte für das »Vergessen« und erlebte das Interesse an den jüdischen Opfern Jahrzehnte nach dem Krieg als »die neuerliche Ausbeutung der Opfer durch die Medien«, so der Titel eines Essays aus dem Jahr 1988 : Zur Zeit werden Opfer gereicht. Man konsumiert ihre Geschichte im Abendprogramm zugleich mit dem Nachtisch. Die jahrzehntelang Unbeachteten, Unbeklagten werden – sofern sie nicht gestorben sind oder emigriert geblieben sind, weil ihnen auch das Nachkriegsösterreich das Arbeiten und Wohnen in ihm nicht eben leicht gemacht hat – diese paar Unbeachteten werden, weil sie jetzt Mangelware geworden sind, von den Medien auf den Markt der Öffentlichkeitsindustrie geworfen. […] Wenn die Medien plötzlich nach den wenigen verbliebenen Greuelzeugen rufen, muss einen das stutzig machen – hier kann nicht massenhafte Aufklärung gewünscht sein, sondern Ablass für die Tätergeneration, […].« (Gerstl 2015, S. 141 – 142)
Ihr Gedicht »neuerliche enteignung« endet so : »ich glaub ja an die wohltat des vergessens / nicht dass erinnerung an schmerz / ihn löscht und wunden heilt« (Gerstl 2014, S. 151). Aus eigener Erfahrung nahm Gerstl für sich das Vergessen in Anspruch, während Aichinger in ihren Werken immer wieder die Erinnerung umkreiste. Vom Boden ohne Gewähr und vom In-Schwebe-Halten In ihrer Vorrede »Das Erzählen in dieser Zeit« (1952) zum Band Rede unter dem Galgen präzisiert Ilse Aichinger ihr Erzählen vom Ende her, das eine anarchische und widerständige Freiheit gegenüber den bestehenden Verhältnissen und den existenziellen Bedingungen des Lebens gewährt : »[…] wir können gerade vom Ende her und auf das Ende hin zu erzählen beginnen, und die Welt geht uns wieder auf. Dann reden wir, wenn wir unter dem Galgen zu reden beginnen, vom Leben selbst.« Aichinger verweigerte sich der Idylle, sah Literatur nicht als Trost, sondern angesichts ihrer Lebenserfahrungen, die Tod und Bedrohung einschließen, als Chance : »Sie können ihre Erfahrung zum Ausgangspunkt nehmen, um das Leben für sich und andere neu zu entdecken« (Ge 1991, S. 10f ). Ilse Aichingers Aufruf zum Mißtrauen (1946) wird eine Konstante ihres Schreibens bleiben. Sie ruft zum Misstrauen auf, nicht nur gegen sich selbst, sondern gegen
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die eigene Sprache. Ihre Suche und ihr Bemühen um die richtigen Worte prägen ihr Schreiben, die Verknappung und Verdichtung in ihrem Werk tendiert jahrelang zur Verkürzung bis zum befürchteten und gefürchteten Schweigen (AuzMi 2021, S. 21). Schreiben ist auch Widerstand und anarchischer Regelverstoß, denn die Freiheit einer Literatur, die sich vom Ende her denkt und die Aichingers poetologisches Konzept bestimmt, kann zu einer Grenzen und Normen sprengenden Spracharbeit werden. Programmatisch stellt Aichinger fest : »Niemand kann von mir verlangen, daß ich Sinnzusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind« (SchW 1991, S. 12). Radikalisiert wird diese Poetik in den späteren Werken, in denen sie Zusammenhänge herstellt, wo es offensichtlich keine gibt, wie wir es vom Surrealismus kennen. Sprachlich eignet sich dafür das Paradoxon. Dabei grenzt sich Aichinger gleichzeitig von den spielerischen Versuchen der »Wiener Gruppe« und Autorinnen der Avantgarde wie Elfriede Gerstl ab. Räume und Zeiten können in der Literatur miteinander in Beziehung gesetzt werden und eröffnen dadurch einen anderen Blick auf unsere Wirklichkeit. Bezugspunkt ihrer Spracharbeit bleibt konkret die Ideologie des Nationalsozialismus und der politische Anspruch ihrer Literatur. Als Aichinger im März 1996 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur erhielt, nahm sie in ihrer Rede »Der Boden unter unseren Füßen« das Motiv des Misstrauens auf und erklärte, dass sie seit ihrer frühen Kindheit ein Misstrauen gegenüber dem Staat begleitet. Sie begründete ihr Misstrauen konkret mit ihrer Familiengeschichte und machte deutlich, dass sie schon vor 1938 Erfahrungen mit dem Antisemitismus gemacht hatte : »Der Boden unter unseren Füßen war also nicht da, um sich darauf zu bewegen. Es war ein fester Boden, aber ein Boden ohne Gewähr.« Aus diesem Fußboden ergab sich für sie »eine deutliche Folgerung für die Beschaffenheit des Staates.« Denn vor und nach dem Krieg waren die Formulierungen der Behörden dieselben : »›Schlafen S’in der Hängematt’n‹, hieß es, als ich, nachdem meiner Mutter Wohnung und ärztliche Praxis genommen worden waren, auf dem Wohnungsamt vorsprach« (FuV 2001, S. 22). Elfriede Gerstls Texte zeichnen vor allem ihre Skepsis, ihr Eigensinn und ihre Eigenständigkeit aus, wie ihre Freundin Elfriede Jelinek immer wieder betont – auch ihr ist das Misstrauen nicht fremd. Sie bringt ihre Ästhetik der Untertreibung so auf den Punkt : »alles was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen (der Altmeister möge mir verzeihen) oder auch : alles was man sagen kann, muss schliesslich nicht gesagt werden« (Gerstl 2012, S. 141). Gerstl formuliert dabei nicht nur ihre ironische Gegenposition zum »Altmeister« Ludwig Wittgenstein, sondern auch zur Übertreibungskunst männlicher Kollegen. Neben der epigrammatischen Zuspitzung und der Verwendung von Verkleinerungsformen, »die schon immer die Skepsis vor dem Großen ins Spiel gebracht haben«, zählen Witz, Ironie und die Bewegung zu den Konstanten ihrer Texte (Fliedl 1995, S. 80). Ihre feministische Abweichung gegenüber
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Christa Gürtler
hegemonialer Geniekunst begründet sich darüber hinaus in biographischen Erfahrungen. Für die heroischen Ansprüche so mancher Kollegen und ihren »weltvernichtungsund -verbesserungsideen« hat Gerstls ästhetische Position im Dazwischen nur Spott übrig. In ihrem Gedicht »schritte« heißt es selbstironisch : »auf blaue nebel fehlt mir der appetit / ferne ziele liegen mir fern / ich kokettiere nicht mit der wahrheit / ich bin nicht klein genug für den grössenwahn« (Gerstl 2013, S. 137). Einer der wichtigen Gesprächsbezirke in Leben und Werk Gerstls ist der Feminismus, zu dem sie – wie zu allen Theorien und Bewegungen – eine ambivalente Position einnimmt, wie zahlreiche Essays, Reportagen und von ihr konzipierte Veranstaltungen zeigen. Die Rezeption ihres Romans Spielräume blieb bescheiden und wurde in seiner historischen Radikalität kaum wahrgenommen. Dennoch ist dem Buch über Jahre hinweg eine »emanzipatorische Frische« haften geblieben, die sich – wie Gerstls Lebenspartner Herbert J. Wimmer schreibt – aus der Tatsache begründet, dass in den SPIELRÄUMEN sozusagen ein wilder Feminismus zutage tritt. […] Sie musste für sich das feministische Denken neu erfinden, es entstand aus ihrem Kampf gegen die einengenden Lebensbedingungen, die auf allen Ebenen, gesellschaftlich wie privat, ihre Schreib existenz bedrohten. […] In Schwebe halten, das Erreichen von Zuständen des Schwebens, gehört zu den hauptsächlichen Motivationen der Autorin und des Textes der SPIELRÄUME. (Wimmer 1998, S. 71 – 95)
Ihre bevorzugten Aufenthaltsorte sind die Spielräume zwischen den Diskursen. Wenige Wochen vor ihrem Tod schrieb Elfriede Gerstl am 11. März 2009 ihren »traum vom luft in der luft sein« : »ich konnte in der luft gehen, zehn zentimeter über dem boden. die sonst so schweren füsse waren ganz leicht – in bewegung aufgelöst. glücksgefühl. habe ich den engelstatus erreicht ?« (Gerstl 2015, S. 32). Für Ilse Aichinger war Feminismus kein Thema, sie bezeichnete sich selbst als zornig und wütend, und über die Gruppe 47 als Herrenrunde vermerkte sie eher lakonisch in einem Interview : Ich hatte nie das Gefühl, dass ich in die Gruppe 47 irgendetwas speziell Weibliches einbringe. Weil ich überhaupt nicht viel übrig habe für das speziell Weibliche. Ich wollte schon als Kind ein Bub sein. Erst wollte ich Ministrant werden und dann Pfarrer. Das alles konnte ich nicht. Ich war eher wütend, dass ich ein Mädchen war. Das speziell Weibliche habe ich nicht eingebracht. (Interviews 2011, S. 73)
Misstrauen und Skepsis bestimmen bei beiden Autorinnen das Verhältnis zur Natur. Der Titel eines Gedichts von Elfriede Gerstl bringt es auf den Punkt : »Natur – nein
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Blitzlichter auf zwei Dichterinnen
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danke.« Ilse Aichinger hält in Interviews mehrfach fest, dass man der Natur nur »kontern« kann : Für mich ist Natur ein Konter-Punkt. Schon als kleines Kind, wenn ich einen kleinen Gladiolenstrauß sah, hätte ich einfach draufspucken können. Die Geschichte der Natur und ihr Wesen ist auch ein Unwesen, das man nicht genug kontern kann. Dass die Natur natürlich ist, ist entsetzlich. (Ebd., S. 162)
Und im Gedicht »Sommerabend« der bekennenden Stadtbewohnerin Elfriede Gerstl heißt es knapp und lakonisch : »Es hat abgekühlt / und die blumen stinken / herein« (Gerstl 2013, S. 14). Als Fremde in Wien Von Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl gibt es zahlreiche Texte, die sich mit der Stadt Wien auseinandersetzen. Wien, das ist für Ilse Aichinger das Zentrum ihres Lebens und Schreibens, auch wenn sie viele Jahre an anderen Orten lebte und feststellt : »Ich kann mir eigentlich keinen Ort auf der Welt vorstellen, wo ich sagen würde, da bin ich wirklich zu Haus« (Interviews 2011, S. 161). In Aichingers letztem Band Subtexte findet sich der Text »Unter Charmeuren«, der auf das Paradox als poetisches Prinzip verweist. Denn als Charmeure erweisen sich die handelnden Personen in diesem Text nicht, auch wenn sie »Gestatten !« sagen : »Aber ich kenne diese Art von Unverwechselbarkeit, sie ist mir nicht fremd. Nicht nur deshalb möchte ich nicht in die Fremde, sondern will in der Fremde bleiben, die mörderisch, aber vertraut ist. In Wien« (St 2006, S. 49). Ebenso wie für Ilse Aichinger zählen die Ruhelosigkeit und der Status der Unbehaustheit zu Elfriede Gerstls Existenz. Ihre Texte entstanden häufig unterwegs, entweder im Zug oder später in der Stadt, die sie als Flaneurin durchkreuzte. In einem Gespräch mit Franz Schuh sagte sie : »Ich benütze die Wohnung nicht so viel anders als ein Hotelzimmer. […] Es ist ein Übergangsort und ich glaube, dass das mit meiner Kindheit zu tun hat, weil ich mich eben in Wohnungen eingesperrt gefühlt habe« (Schuh/Gerstl 2012, S. 261). Wohnungen waren Versteck und Gefängnis, der Fluchtkoffer immer gepackt. Diese Erfahrung ist wohl verantwortlich für die lebenslange Bewegung des Subjekts. Gerstl ist eine Dichterin des Alltäglichen ohne Scheu vor ihren Idiosynkrasien und dem Alter, dem sie mit zunehmender Schnelligkeit und Unruhe, und bezogen auf ihre Texte, Kürze und Leichtigkeit trotzte. Und wie Aichinger war Gerstl eine Wienerin
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Christa Gürtler
ohne sentimentale Beziehung zu ihrer Heimat, die doch nur ein »gemüt-licher käfig« ist (Gerstl 2014, S. 140). Eine erste Fassung des Beitrags erschien in Triëdere #24 (2023) : Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl. Hgg. Peter Clar, Matthias Schmidt, Wien, S. 50 – 59. Literatur Aichinger, Ilse (Ge 1991) : Der Gefesselte. Erzählungen 1 (1948 – 1952). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (SchW 1991) : Schlechte Wörter. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Aichinger, Ilse (FuV 2001) : Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt/M. Aichinger, Ilse (St 2006) : Subtexte. Wien. Aichinger, Ilse (Interviews 2011) : Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien. Aichinger, Ilse (AuzMi 2021) : Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. Andreas Dittrich. Frankfurt/M. Fässler, Simone (2011) : Nachwort. Von den Mühen, die Höflichkeit zu verlernen, in : Ilse Aichinger (Interviews 2011), Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952 – 2005. Hg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler. Wien, S. 235 – 240. Fliedl, Konstanze (1995) : Elfriede Gerstl. Eine Untertreibung, in : Wespennest 98, S. 79 – 97. Gerstl, Elfriede (2012) : Mittellange Minis. Werkausgabe in fünf Bänden, Bd. 1. Hgg. Christa Gürtler und Helga Mitterbauer. Graz. Gerstl, Elfriede (2013) : Behüte behütet. Werkausgabe in fünf Bänden, Bd. 2. Hgg. Christa Gürtler und Helga Mitterbauer. Graz. Gerstl, Elfriede (2014) : Haus und Haut. Werkausgabe in fünf Bänden, Bd. 3. Hgg. Christa Gürtler und Martin Wedl. Graz. Gerstl, Elfriede (2015) : Tandlerfundstücke. Werkausgabe in fünf Bänden, Bd. 4. Hgg. Christa Gürtler und Martin Wedl. Graz. Gerstl, Elfriede (2017) : Das vorläufig Bleibende. Werkausgabe in fünf Bänden, Bd. 5. Hgg. Christa Gürtler und Martin Wedl. Graz. Jelinek, Elfriede (2012) : Die Flüchtige, in : Elfriede Gerstl, »wer ist denn schon zuhause bei sich.« Hgg. Christa Gürtler und Martin Wedl. Wien (= Profile Bd. 19), S. 11 – 19. Kitzmantel, Raphaela (2012) : »Ich möchte nicht als lebend gebliebene Anne Frank gesehen werden.« Elfriede Gerstls jüdische Identität im Licht des Überlebens im Versteck, in : El-
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Blitzlichter auf zwei Dichterinnen
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friede Gerstl, »wer ist denn schon zuhause bei sich.« Hgg. Christa Gürtler und Martin Wedl. Wien (= Profile Bd. 19), S. 42 – 58. Schuh, Franz/Elfriede Gerstl (2012) : »Das Wohnen habe ich nicht gelernt«, in : Elfriede Gerstl, »wer ist denn schon zuhause bei sich.« Hgg. Christa Gürtler und Martin Wedl. Wien (= Profile Bd. 19), S. 259 – 265. Wimmer, Herbert J. (1998) : In Schwebe halten. Spielräume von Elfriede Gerstl. Ein Diskursbuch literarischer und gesellschaftlicher Entwicklungen der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wien. Wimmer, Herbert J. (2020) : Klärwerk – Rezyklopädie der Gegenwart. Wien.
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Asako Fukuoka
Sprache als Akteurin Resonanzen zwischen Ilse Aichinger und Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek ist bekanntermaßen eine Meisterin des Wortspiels. In jedem ihrer Texte findet man Wortspiele, die sich allerdings nicht auf das »Spiel« beschränken. Jelineks literarisches und theatralisches Programm betrifft Sprache als Form. Sie ist alles außer Mimesis, dementsprechend ist in Jelineks Texten kaum eine Handlung zu finden. Stattdessen entwickeln sie sich als Variationsreihe von Wörtern und Wortteilen, die nicht (nur) kausal-semantisch, sondern wortspielerisch so etwas wie eine »Handlung« bilden. Ein Beispiel dafür : »Das Unsagbare wird jeden Tag gesagt, aber das, was ich sage, das soll nicht gesagt werden dürfen. Das ist gemein von dem Gesagten. Das ist sagenhaft gemein« ( Jelinek 2005). Ein anderes Beispiel könnte lauten : »Sie äußert nicht einmal Wünsche. Das wäre nicht das Äußerste […].« Dieses Wortspiel hingegen stammt nicht von Jelinek ; es findet sich in einem Text von Ilse Aichinger (EE 1991, S. 199). Die Technik scheint so ähnlich, dass man versucht wäre, sie Jelinek zuzuschreiben. Wortspiele gelten als ein wesentlicher Teil der Tradition österreichischer Literatur, insofern ist die Ähnlichkeit nicht allzu überraschend. Zudem handelt es sich vielleicht nur um einen Einzelfall. Es ließe sich aber dergleichen mehr anführen. Aichinger und Jelinek teilen nicht allein die Neigung zum Sprachspiel. Es gäbe noch weitere Parallelen zu nennen. Vor allem aber in ihrer Sprachauffassung sind verschiedentlich Resonanzen vernehmbar. Das Sprachspiel ist nur eine davon. Aichinger und Jelinek, via Nobelpreis Aichinger wie auch Jelinek erwähnen einander bei verschiedenen Gelegenheiten (Kaindlstorfer 1995, Jelinek 1996, Jelinek 2004). Ihre Äußerungen waren zunächst von großer wechselseitiger Wertschätzung gekennzeichnet. Was anlässlich der Verleihung des Nobelpreises an Jelinek im Jahr 2004 geschah, erweckt jedoch einen ganz anderen Eindruck. Die öffentlichen Reaktionen auf die Preisvergabe waren allgemein recht unterschiedlich. Auch Aichinger hat sich dazu geäußert, und zwar in einem Ton, der für so angriffig gehalten wurde, dass sich »die Zusammenarbeit« mit der Tageszeitung Der Standard, für die Aichinger seit 2001 re-
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Sprache als Akteurin
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gelmäßig Kolumnen verfasst hatte, »in einem Streit über den Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek zerschlug« (Rebhandl 2016). Diese Eskalation, von der die Fortführung des so produktiven Spätwerks Aichingers maßgeblich beeinträchtigte wurde, förderte die Neugier und führte zu Spekulationen, wie es zwischen den beiden ›eigentlich‹ stehe. Sofern die Literaturnobelpreisvergabe 2004 für die Konstellation Aichinger – Jelinek von Interesse ist, so ist sie es nicht im Hinblick auf private Empfindlichkeiten. Vielmehr lassen sich auch hier Resonanzen erkennen, diesmal zwischen dem Text, den Jelinek anlässlich der Preisverleihung verfasst hat, nämlich der Rede »Im Abseits« (veröffentlicht auf Jelineks Homepage 2005), und der Erzählung »Meine Sprache und ich« (1968) von Ilse Aichinger. Die Sprache als Akteurin In Aichingers kurzem Prosatext »Meine Sprache und ich« wird in der Ich-Perspektive das Verhältnis zwischen »meine Sprache« und »ich« thematisiert. Im Zentrum steht dabei das Konzept der Fremdheit der Sprache. Aichingers Text beginnt mit den Worten : »Meine Sprache ist eine, die zu Fremdwörtern neigt« (EE 1991, S. 198). Die Vorstellung der »Neigung zu Fremdwörtern« als Bestimmungsmerkmal der eigenen Sprache erinnert zunächst an das Gegensatzpaar von Fremdsprache und Muttersprache. Aber wesentlicher ist hier die Feststellung, dass »meine« eigene Sprache selbst eine gewisse Fremdheit in sich einschließt. Hinsichtlich der Wortbedeutung sind das Possessivpronomen »mein« und das Adjektiv »fremd« (»einem anderen gehörend«) unvereinbar. Es ist jedoch eben diese widersprüchliche, verdrehte Spracherfahrung, auf die die Erzählung fokussiert. In Aichingers Text wird »meine Sprache« weder gesprochen noch geschrieben. Vielmehr passiert sie mit dem erzählenden »Ich« zusammen eine (National)grenze, bekommt Essen angeboten, wendet sich aber ab und starrt aufs Meer. Sie wird körperhaft dargestellt, indem ihr verschiedene Motive wie Hunger, die Vorliebe für kalten Kaffee oder ein »lila Schal«, der »ihren zu langen Hals« verdeckte (ebd., S. 200), zugeschrieben werden. Man könnte das für eine typisch Aichinger’sche Personifikation halten, jedoch passt das Schema Subjekt-Objekt, das der Akt der Personifikation voraussetzt, nicht zur Grundperspektive dieser Erzählung. »Meine Sprache« ist kein Objekt von »ich« : Sie hat ihren eigenen Körper und agiert als autonomes, manchmal trotziges Subjekt : »Das vierte Land ist zu Ende, schrie ich ihr ins Ohr […]. Sie folgte mir widerwillig, nicht weiter als hierher« (ebd., S. 200f.). Diese Auffassung von Sprache als autonom agierendem Subjekt klingt in Jelineks Rede (nämlich in ihrem Ich-Erzählen) »Im Abseits« mit an. Der Nachklang von Ai-
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Asako Fukuoka
chingers Text wird auf Jelinek’sche Weise amplifiziert ; die Stufe der Widerwilligkeit der Sprache wird ein Stück höher angesetzt : »Und dieser Hund Sprache, der mich beschützen soll, dafür habe ich ihn ja, der schnappt jetzt nach mir. Mein Schutz will mich beißen. […] ([M]ein einziger Schutz kehrt sich also gegen mich« ( Jelinek 2005). Jelineks Formulierung erinnert an die japanische Redewendung »飼い犬に手を噛まれ る« – »vom eigenen Hund in die Hand gebissen werden«, was bedeutet, von jemandem, der einem nahe steht, enttäuscht zu werden. Ich höre hier eine »Neigung zu Fremdwörtern« mit, was mich wieder zu Aichinger zurückführt. Das Konzept der Sprache als autonomes Subjekt wird bei Aichinger wie auch bei Jelinek durch die Methode der Verbildlichung gestaltet ; so könnte ein erstes Resümee lauten. Aber wie die Personifikation verrät auch die Technik der Verbildlichung zwangsläufig die erst eigentlich zu thematisierende Sprachauffassung, indem sie »meine/die Sprache« (auch grammatikalisch) als Objekt braucht. Für beide Autorinnen ist die Sprache weder Objekt, das dazu dient, das vom Subjekt Gemeinte bieder auszudrücken, noch ein durchsichtiger Behälter, der bestimmte Inhalte ebenso bieder transportiert. Wie anfangs zitiert, beruft sich Jelinek in distanzierender Absicht auf das Wortspiel, wodurch der figurative und der akustische Aspekt der Sprache vor das Gemeinte treten und dieses ständig relativieren und infrage stellen. Auch in »Meine Sprache und ich« wird die Vorstellung der Distanz ›verbildlicht‹, die die Fremdheit der Sprache prägt (»Ich suche sie [=meine Sprache] mir aus, ich hole sie von weit her« EE 1991, S. 198). Gleichzeitig formt sich die Distanz auch wortwörtlich aus, indem Varianten des Wort(teil)s »fern-« entwickelt werden. Zu diesen Varianten gehört die »Entfernung« in der (wiederholten) Szene der »Gehörprobe« : »Ich nehme ein Messer und lasse es vorsichtig auf einen Teller fallen, immer aus derselben Entfernung. […] Meine Sprache blieb ruhig« (ebd., S. 199f.). Das Nomen »Entfernung« hat semantisch nichts mit der Distanz zwischen »meine Sprache« und »ich« zu tun, schließt sich aber an die anderen gleichartigen Wortfetzen an und gestaltet mit ihnen einen Sprachraum der Entfernung. Auch bei Aichinger bewegen sich Wörter mit ihrem Kontext, aber auch unabhängig von diesem. Auf diese Weise gewinnt die Sprache den Status des Subjekts und wird nicht nur als Subjekt verbildlicht. Resonanz – Differenz In Bezug auf die Thematisierung der Distanz soll besonderes Augenmerk auf die folgenden beiden Stellen gerichtet werden :
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Sprache als Akteurin
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Ich suche sie [=meine Sprache] mir aus, ich hole sie von weit her. Es ist aber eine kleine Sprache. Sie reicht nicht weit. Rund um, rund um mich herum, immer rund um und so fort. (Ebd., S. 198) […] [N]icht meine Sprache ruft, die ist ja ebenfalls weg, meine Sprache ist mir weggeblieben, sie muß daher anrufen, sie schreit mir ins Ohr, egal aus welchem Gerät, einem Speicher oder einem Handy, einem Zellentelefon […]. ( Jelinek 2005)
Sowohl Aichinger als auch Jelinek erfassen die Fremdheit der eigenen Sprache als räumliche Distanz. Dabei gewichtet jede der beiden Autorinnen diese ganz unterschiedlich, fast gegensätzlich. Bei Aichinger ist es möglich, die Sprache »von weit her« zu holen ; das Verhältnis zu ihr bleibt jedoch in der Distanz dessen, was die Ich-Instanz »umgibt«. Im Versuch der Annäherung wird eher der Abstand betont, der weder »an« noch »in« erreicht. Im Gegensatz dazu ist und bleibt die Sprache bei Jelinek zwar im Status der Entfernung, des »weg« ; allerdings wird die Distanz jeweils durch ein Gerät, durch ein Medium, hergestellt und gleichzeitig verworfen. Diese Resonanz – oder eher Dissonanz – nimmt zu, insofern Jelineks Formulierung »sie schreit mir ins Ohr« an Aichingers »schrie ich ihr ins Ohr« erinnert. Die Dissonanz ist nicht allein auf die individuell verschiedene Position der beiden Autorinnen zurückzuführen. Hier ist auch der generationelle Kontext zu berücksichtigen. Aichinger gehört zur Generation der Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust miterlebt haben. Die Fremdheit der eigenen Sprache war einer der Topoi, die von dieser Generation geteilt wurden, und zwar nicht nur in Österreich. Geradezu sprichwörtlich geworden ist der Satz von Jacques Derrida : »Meine Sprache, die einzige, die ich zu sprechen verstehe, ist die Sprache des anderen« (Derrida 2004, S. 46). Die Erfahrung, dass Leben, Sprache und Sprachleben bedroht waren und man ihrer beraubt werden konnte, diese Erfahrung gerade anhand der Sprache zu erzählen, wurde eine, wenn nicht die Aufgabe der Nachkriegsliteratur. Für Jelinek als Vertreterin der 68er-Generation gilt es, die Vorstellung, dass das Subjekt die Sprache kontrolliert, zu dekonstruieren. Ihre Skepsis gegen eine solche Sprachauffassung drückt sich in ihrer antimimetischen Methode aus. Auch in ihrer Rede »Im Abseits« wird sowohl die »Wirklichkeit, die ja abgebildet werden soll«, als auch »die Wirklichkeit zu beschreiben« problematisiert ( Jelinek 2005). Unterschiede zwischen den Autorinnen in Bezug auf ihre ästhetischen Verfahren erklärt nicht allein der Generationsunterschied. Vor allem teilt Jelinek mit Aichinger die Problematik der Vergangenheitsbewältigung, in deren Kontext sich auch die Rede
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Asako Fukuoka
»Im Abseits« positioniert (»viele Tote sprechen jetzt mit ihren erstickten Stimmen«, ebd.). Dennoch kann man den generationellen Aspekt nicht übersehen, wenn man den Schluss der beiden Texte betrachtet : Man wird mit der Zeit nichts mehr von ihr [=meiner Sprache] wollen. Und ich werde das meinige dazutun. Ich werde hier und dort einen Satz einflechten, der sie unverdächtig macht. (EE 1991, S. 202) Sie [=die Sprache] hat auf ein neues Stellenangebot geantwortet. Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da. Was bleibt einem also übrig. ( Jelinek 2005)
Während Aichinger darauf abzielt, die Unverdächtigkeit »meiner Sprache« wiederzugewinnen, schließt Jelinek ihre Rede mit dem Hinweis auf den Status »fort« ab (wobei sie dafür das Verb »bleiben« mit auffälliger Betonung verwendet, das unüberhörbar im Kontrast zu »fort« steht). Damit soll kein einfaches Schema wie Hoffnung und Verzweiflung bedient werden. Dennoch zeigt sich in beiden Fällen am Schluss, wie jede Autorin mittels ihrer Sprache auf die Bedingungen ihrer jeweiligen Zeit reagiert und sich damit auseinandergesetzt hat. Resonanz – Korrespondenz »Meine Sprache und ich« und »Im Abseits« kontrastiv zu lesen, ist keine neue Idee ; Konstanze Fliedl etwa hat diesen Vergleich bereits auf eindrucksvolle Weise ausgeführt (Fliedl 2007). Das Verweisungsgeflecht führt aber noch weiter. So wurde »Meine Sprache und ich« zwar in Buchform erst 1978 publiziert, ist aber ursprünglich schon 1968 entstanden, das heißt genau in der Zeit, in der Roland Barthes den »Tod des Autors« proklamiert hat. Literarische Texte sind nicht auf einen einzigen Schöpfer zurückzuführen. Es sind vielmehr Gewebe/Texte (Textilien) aus anderen Texten und nehmen daher geradezu zwangsläufig Bezug auf andere Texte. So hat Ilse Aichinger das Verhältnis zwischen »meine Sprache« und »ich«, einer Sprache, die kein Besitz des »ich« ist oder sein kann, beschrieben, als Julia Kristeva das Intertextualitätskonzept formulierte, das auch Jelineks Methode maßgeblich beeinflusst. »Ich werde hier und dort einen Satz einflechten, der sie unverdächtig macht.« Aichingers »Meine Sprache und ich« schließt auf geradezu paradigmatische Weise an Texte der Vergangenheit an und wird in Texte der Zukunft eingewebt oder besser : eingeflochten werden. Jelineks »Im Abseits« ist einer der zukünftigen Texte, die sich an diesem »Dort« einfinden.
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Sprache als Akteurin
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Aichinger kann ihren Text von 1968 nicht an die von Jelinek 2004 gehaltene Rede gerichtet haben. Und da der Text »Im Abseits« als Rede im Rahmen der Preisverleihung präsentiert wurde, ist Jelineks Gegenüber zunächst einmal das zu diesem Zeitpunkt adressierte Publikum. Aber : irgendwo etwas Unerwartetes zu berühren und unabsichtlich Antwort zu geben – das wäre genau jene unverdächtige Verflechtung des Geschriebenen, in der gleichwohl die Autonomie der agierenden Sprache oder Literatur ihren Ausdruck findet. So wandelt sich die Resonanz zwischen Aichinger und Jelinek in Korrespondenz und führt zu weiteren Texten. Literatur Aichinger, Ilse (EE 1991) : Eliza Eliza. Erzählungen 2 (1958 – 1968). Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Derrida, Jacques (2003) : Die Einsprachigkeit des Anderen. Übers. Michael Wetzel. München. Fliedl, Konstanze (2007) : Elfriede Jelinek im Abseits. Zur Nobelpreisrede, in : РУССКАЯ ГЕРМАНИСТИКА 3, S. 260 – 271. Kaindlstorfer, Günter (1995) : Ich habe mich nie als schön empfunden. Interview mit Aichinger im November 1995. http://www.kaindlstorfer.at/index.php ?id=323 [Stand : 02.04.2023]. Jelinek, Elfriede (1996) : Als Ilse manchmal auftauchte und manchmal nicht aber jedesmal, in : Aichingers Gegenwart. Pressedienst zum 75. Geburtstag. Redaktion Richard Reichensperger. Frankfurt/M., o. S. Jelinek, Elfriede (2004) : Die Erinnerung geht nach Hause (in memoriam Richard Reichensperger). https://www.elfriedejelinek.com [Stand : 02.04.2023]. Jelinek, Elfriede (2005) : Im Abseits. https://www.elfriedejelinek.com [Stand : 02.04.2023]. Rebhandl, Bert (2016) : Schriftstellerin Ilse Aichinger gestorben, in : Der Standard 11. November 2016. https://www.derstandard.at/story/2000047401581/schriftstellerin-ilse-aichinger95-jaehrig-gestorben [Stand : 02.04.2023].
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Hiroshi Yamamoto
Zwischen Sozial- und Sprachkritik Marlene Streeruwitz liest Aichingers Gedicht »Findelkind« Im Jahr 2021, mitten in der Covid-19-Pandemie, bemerkte die feministische Autorin Marlene Streeruwitz in einem Interview mit der Wiener Tageszeitung Der Standard : Die Texte von Ilse Aichinger sind nicht immer noch gültig, sondern gerade gültig, immer gerade. Diese Texte schreiben sich fort und sind jeweils gültig in jedem Augenblick, in dem sie gelesen werden, und das ist die besondere Qualität dieser Autorin. (Streeruwitz/Lacina/ Gmünder/Prinz 2021)
Dies mag überraschen, da die Dichterin im Rahmen der feministischen Diskussion der österreichischen und deutschen Frauenliteratur eher eine Randfigur blieb und nicht so sehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte wie etwa Ingeborg Bachmann. Wenn Streeruwitz im literarischen Diskurs auch vorrangig als »radikale Feministin« rezipiert wird, »um dafür ausdrücklich literarische Aspekte als nachrangig zu behandeln« (Kramatschek/Hanuschek 2019), beschränkt sich ihre Kritik, wie man mehreren Poetikvorlesungen der Autorin, insbesondere jenen in Tübingen (1997), Frankfurt (1998), Paderborn (2017) und Koblenz (2021), entnehmen kann, nicht bloß auf die sozialkritische Ebene, sondern bezieht sich ebenso weitreichend auf die poetisch-sprachliche Ebene. In dieser Hinsicht ist ihre Begeisterung für Aichinger nachvollziehbar. Streeruwitz geht davon aus, dass man zuerst der »grammatischen Geordnetheit« entkommen muss, um die »Weltverhältnisse« abzulehnen, »so wie sie sind« (Streeruwitz 2021, S. 79). Denn die »Aufträge der Gesellschaft« werden schon in jedem Kind »über die verschiedensten Medien« bzw. »über die Eltern« so tief »verankert« (Streeruwitz 2014, S. 26), dass sie zu einer unhintergehbaren Selbstverständlichkeit werden. Deshalb wird bei Streeruwitz auch und gerade die grammatische Konstruktion der einzelnen Sätze hinterfragt : »Die Kolonialisierung unserer Grammatik lässt ja keinen Gedanken außerhalb der Antinomie von Täter und Opfer in aktiv und passiv zu« (ebd., S. 120). Die Schriftstellerin versucht mit »[s]emantische[n] Transformationen und grammatikalische[n] Verschiebungen« (Streeruwitz 2017, S. 46) den sprachlichen Konventionen eine Alternative entgegenzusetzen, insbesondere durch die »Verwendung von ›Ellipse‹ und ›Aufzählung‹« (Neuhaus 2022, S. 89 ; zu ergänzen wäre noch
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Zwischen Sozial- und Sprachkritik
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das Asyndeton) sowie durch das Zerschneiden sprachlicher Einheiten, etwa durch häufiges Einschieben des Punktes, also eines Satzendzeichens, mitten im Satz (vgl. Dröscher-Teille 2022, S. 41 – 42). Solchermaßen unvollständig und zerstückelt wird im Satz die semantische Lücke wahrnehmbar. Auch wird dem »Feingliedrigen, Kleinteiligen, Detaillierten« der Satz- und Wortkomponenten größte Aufmerksamkeit geschenkt, insbesondere den Präfixen, die »etwas sehr Schönes der deutschen Sprache« darstellen (Streeruwitz 2014, S. 239). Wenn Streeruwitz im weiteren Verlauf ihrer Argumentation ihr Erstaunen darüber äußert, »[w]as in so einem ›ver-‹ alles passiert, was sich damit beschreiben, verändern lässt« (ebd.), so fällt es schwer, sie nicht in einen engen Zusammenhang mit Aichinger zu stellen, die ebenfalls ihre Vorliebe für die Vorsilbe ›ver-‹ poetisch zum Ausdruck bringt, etwa in der Prosa »Schnee« (KMF 1991, S. 113 – 114 ; vgl. dazu Markus 2021, S. 289 – 292). In ihrem Gegenentwurf zur »patriarchal geordneten Poetik« (Streeruwitz 2014, S. 100) wird der Lyrik eine bedeutende Rolle zugeschrieben, weil »es am Ende nur der Lyrik möglich ist, den Selbstverständlichkeiten der Herrschaften zu entkommen« (Streeruwitz 2021, S. 81). Streeruwitz, die in der Jugend ihr Vorbild Rilke nachgeahmt hatte und beinahe »der Selbstaufgabe verfallen war«, verhält sich höchst skeptisch gegenüber einem »von der Lyrik ästhetisierten Ausweg« (Streeruwitz 2014, S. 17). Für sie liegt das Verdienst der Lyrik in nichts anderem als ihrem »formbewusste[n], freie[n] und persönlich bestimmte[n] Umgang mit Sprache […], der sich nicht an den Konventionen des ganzen Satzes orientiert« (Streeruwitz 2021, S. 81). So verwundert es nicht, dass Streeruwitz, als sie 2011 im Rahmen der öffentlichen Feierlichkeiten zum 90. Geburtstag von Ilse Aichinger das Gedicht »Findelkind« (VR 1991, S. 94) von Aichinger kommentierte, ihre eigene Auffassung von Lyrik als Sprachkritik in den Vordergrund stellte. In ihrem daraus entstandenen Essay »Beim Lesen von Findelkind« galt Streeruwitz’ Interesse vor allem der »Kongruenz von Bedeutung und Grammatik«, die in diesem Gedicht festzustellen ist (Streeruwitz 2011, S. 178). Mit diesem Fokus wies sich Streeruwitz nicht nur als eine feministische Agitatorin aus, sondern auch als eine in hohem Maße sprachsensible Leserin und Interpretin. Es lässt sich allerdings insofern nicht vermeiden, den Essay seinerseits einer Analyse zu unterziehen, als er eher einen »poetische[n] Kommentar als [eine] Analyse« darstellt und durch eine vielfach sprunghafte Gedankenführung gekennzeichnet ist (Markus 2015, S. 13). Im Essay setzt sich Streeruwitz mit einer der Kardinalfragen der Gegenwart auseinander, nämlich, wer den völlig verlassenen Kindern, den »isolierte[n], von jeder communitas und damit [von] jeder fürsorglichen Zuwendung abgeschnittene[n]« Kindern hilft (Hron 2022, S. 230). In dieser Fragestellung hat man in der Forschung »die ethischen Dimensionen« von Streeruwitz’ Schreiben erkannt (ebd., S. 231). Wenn
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Hiroshi Yamamoto
sich im Gedicht mit Ausnahme des tollwütigen Fuchses niemand des Findlings annimmt, so ist dies sicher als Kritik an mangelnder Hilfsbereitschaft und Solidarität unter den Menschen zu verstehen. Man muss deswegen, so schlussfolgert Streeruwitz, die Anwendbarkeit des Gedichts auf das wirkliche Leben in Erwägung ziehen, weil es das Schicksal des Findelkinds viel genauer als jede soziologische und psychologische »Fallgeschichte« beschreibt (Streeruwitz 2011, S. 178). Streeruwitz’ Interesse für das Findelkind weist eine lange Geschichte in ihrem Werk auf. Bereits im Roman »Kreuzungen« (2008) macht sie einen in Findelhäusern aufgewachsenen Einzelgänger zur Hauptfigur. Im Interview mit Christian Metz, das 2014 den neu editierten Tübinger und Frankfurter Vorlesungen von Streeruwitz statt eines Nachworts angefügt ist, bezeichnet sie die österreichischen Frauen ihrer Generation als »Findelkinder«, »weil wir unseren Eltern ebenfalls keine Fragen stellen konnten, weil wir als Mädchen schon aus solchen Diskursräumen ausgeschlossen waren« (Streeruwitz 2014, S. 247). Das Findelkind steht nämlich für alle diejenigen, die in der Gesellschaft zur Sprachlosigkeit verurteilt sind. Würde man jedoch das Gedicht z. B. in die aktuelle »Debatte um [die] Kinderklappe« einbringen, so würde seine praktische Verwendbarkeit, wie Streeruwitz einräumt, allgemein kaum wahrgenommen werden (Streeruwitz 2011, S. 178). Denn um sich in einer praktischen Sozialkritik zu erschöpfen, sei die lyrische Erzählung zu komplex, die Kongruenz von Bedeutung und Grammatik zu vollkommen, der Gebrauch der Grammatik als die eigentliche Wirklichkeit zu kunstvoll, die Entfesselung des eigenen Sprechens in der Sprache der Lyrik zu überwältigend (vgl. ebd.). Die einseitige Hervorhebung der sozialkritischen Aspekte des Essays verliert vieles aus den Augen, was sich aus der intensiven Auseinandersetzung von Streeruwitz mit der lyrischen Sprache Aichingers ergibt. Ihre Lektüre kommt zum Schluss, dass das Findelkind am Ende Autonomie erlangt. Will man aber die Gültigkeit dieser Schlussfolgerung überprüfen, muss man die Inhaltsebene verlassen, um den Blick auf die sprachliche Ebene richten zu können. Erst dann wird verständlich, dass der eigentliche Reiz des Essays eher darin liegt, dass die ethische Lektüre mitunter von der sprachkonzentrierten konterkariert wird. In ihrem knapp sechsseitigen Essay richtet Streeruwitz die Aufmerksamkeit zunächst auf die verschiedenen lautlichen Assoziationen, die das Titelwort »Findelkind« in Gang setzt : »Das Wort schon. Findelkind. In der Vokalharmonie des I sind alle Koseformen des Kindlichen enthalten« (ebd., S. 174). Den ›I‹- oder ›In‹-Laut, der sich durch die beiden gereimten Wortkomponenten ›find-‹ / ›-kind‹ rhythmisch wiederholt, setzt sie wohl in Beziehung mit dem Diminutivsuffix ›-el‹ mitten im Wort und dann mit dem ›-i‹ in gebräuchlichen Kosewörtern wie Mutti und Baby. Danach geht die Autorin auf die Bedeutungsebene ein und listet Synonyme auf : »Der Fund.
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Findel. Fündel. Das gefundene Kind« (ebd.). Allerdings führt sie keine etymologische Erläuterung des Wortes weiter, sondern hebt den Widerspruch hervor, in dem sich der abgesetzte Findling in der sozialen Realität im Vergleich mit einem ›glücklichen‹ Säugling befindet. Es lohnt sich jedoch, hier einen Augenblick innezuhalten und zur Kenntnis zu nehmen, wie die Komposition »Findelkind« zustande kommt. Dabei muss man die Reihenfolge der Substantive ändern, die Streeruwitz aufgefallen ist. Ursprünglich wurde schlicht der Ausdruck ›Fund‹ verwendet, um das ausgesetzte Kind zu bezeichnen. Beim Kompositum Findelkind wurde diesem laut Friedrich Kluge der Infinitiv ›finden‹ angeschlossen, was dann in der Form ›Fündel‹ (Diminutiv zu ›Fund‹) in Erscheinung trat und durch das hinzugefügte Nomen ›Kind‹ verdeutlicht wurde. Das Kompositum ›Fündelkind‹, das aus beiden semantisch gleichwertigen und gleichbedeutenden Substantiven besteht und das noch im 15. Jahrhundert geläufig war, verwandelte sich im Lauf der Zeit in die verbale Wortbildung, die in der deutschen Sprache so gut wie keine Rolle spielt. Und zwar lässt sich – anders als etwa im Kompositum »Bindfaden« – in dieser Komposition eine gestörte Perspektive beobachten, vergleichbar mit einem kubistischen Gemälde. Ein und derselbe Vollzug, das Finden, wird gleichzeitig in entgegengesetzten Perspektiven dargestellt. Die merkwürdige Bezeichnung ›Findelkind‹, in der der Infinitiv und das Nomen, ein Vollzug und ein Zustand, Aktivität und Passivität zusammengefügt sind, bietet dem Kind als ›Fund‹, einem sprachlosen Objekt, die Möglichkeit, ›Herr‹ eines Verbs und so ein Agens zu werden. Wohl setzt Streeruwitz dies alles stillschweigend voraus, als sie ihre poetische Lektüre des Gedichts folgenderweise beschließt : »Aber. Das Findelkind hat überlebt. […] Das Findelkind wurde zum Kind. Roh und rau. Aber dann doch« (ebd., S. 178). Das Findelkind, das, als ein passives Objekt »in die Substantivierung gebannt« (ebd., S. 176), wie die Frauen im Patriachat »nie in den Besitz eines Verbs« kommt (ebd., S. 175), avanciert hier durch den kleinen grammatischen Trick einer gestörten Perspektive »zum Subjekt im Aktivum« (ebd., S. 176). Eine weitere Kongruenz von Bedeutung und Grammatik lässt sich an der Verwendung des zweiten Partizips beobachten, das im ersten Viertel des Gedichts intensiv eingesetzt wird : »Dem Schnee untergeschoben, / den Engeln nicht genannt, / kein Erz, kein Schutz, / den Feen nicht vorgewiesen, / in Höhlen nur verborgen / und ihre Zeichen behende / aus den Waldkarten geschafft« (VR 1991, S. 94). In diesen Versen nimmt Streeruwitz ein »doppeltes Passivum« wahr (Streeruwitz 2011, S. 175). Denn das »Kind wird in das zweite Partizip verschoben, bevor es dem Schnee untergeschoben wird« (ebd.). In der geläufigen Grammatik gibt es für Streeruwitz, wie oben bereits erwähnt, keine Existenzmöglichkeit »außerhalb der Antinomie von Täter und Opfer in aktiv und passiv« (Streeruwitz 2014, S. 120). »Selbst die Verwandlung des Objekts
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in das Subjekt des Passivs«, so heißt es in der Eröffnungsrede zum »steirischen herbst« 2000, »bleibt täterbezogen« (Streeruwitz 2004, S. 113). So wird schon am Satzbau deutlich, dass das Kind der ungenannten Macht völlig unterliegt. In der Gesellschaft wird dem namen- und herkunftslosen Findelkind ein stummer Objekt- und Opferstatus zugesprochen und das Recht völlig abgesprochen, ein aktives Subjekt zu werden. Wie es allerdings in der Grammatik neben dem Vorgangspassiv des Werdens das Zustandspassiv des Seins gibt, so muss das Subjekt einer Passivkonstruktion nicht immer ein leidendes sein, Objekt einer (bösartigen) Tat. Es ist manchmal dieser Akt eines anderen, der ihm dazu verhelfen kann, einen bestimmten Zustand zu erreichen. In unserem Gedicht blieb das Kind im Schnee bzw. unter seinem aufgeblähten Bauch, wie dem einer Schwangeren, verborgen, »[n]achdem es von dem Handelnden des Textes dem Schnee untergeschoben und die Sinneinheit Kälte in all ihren Bedeutungen in die erste Zeile eingelassen wurde« (Streeruwitz 2011, S. 176). Es ist richtig, dass das Kind nicht nur von der Mutter und der Familie getrennt wird, sondern, weil es nicht amtlich angemeldet und registriert wurde, auch aus der Gesellschaft ausgeschlossen ist. Für das Findelkind können deswegen weder die Eltern noch die gesellschaftlichen Institutionen wie die Kirche oder die staatlichen Behörden sorgen. Es bleiben also nichts anderes als »ein toller Fuchs« – ein ebenso geächtetes Wesen – oder der Schnee im Sinne einer rohen Natur, die dem Kind Hilfe leisten können, da den beiden die Ordnung der menschlichen Gesellschaft fremd ist. Insofern ist das Kind nicht einfach »im zweiten Partizip eingemauert«, sondern vor den elterlichen und institutionellen Eingriffen »[v]ielleicht aber auch geschützt« (ebd.). Es bleibt von jeder zwanghaften Sozialisation verschont. Es ist deshalb »still rund um das Findelkind« (ebd., S. 177). Das ist zugleich eine »lebensraubende Stille« und eine »Kaspar-Hauser-Stille« (ebd.), damit aber zugleich Voraussetzung für eine neue Sprache. Dieses Beispiel zeigt, dass die Grammatik nicht immer wie ein Gefängnis fungiert, das die Freiheit unterdrückt. Im Entwurf der »Friedengrammatik« (Streeruwitz/Jocks 2001, S. 20) verwirft Streeruwitz die Idee, eine radikale Form eigener Sprache durchzusetzen, die »gleich alle sprachlichen Konventionen samt überlieferter Grammatik und Zeichen hinter sich ließe« (Reitzenstein 2022, S. 87). Stattdessen versucht sie die Sprache durch die lyrische Doppel- und Mehrdeutigkeit, die im Titelwort zu erkennen ist, oder durch die Diskrepanz zwischen dem scheinbar wörtlichen und dem intentionalen Sinn zu unterlaufen. Als Beispiel für das letztere Mittel gibt Streeruwitz eine rhetorische Frage an, die im Gedicht von der lyrischen Erzählinstanz gestellt wird : »Wer hilft dem Kind ? / Die Mütter / mit ihrer alten Angst, / die Jäger / mit den verfälschten Kartenbildern, / die Engel / mit den warmen Flügelfedern, / aber ohne Auftrag ?« (VR 1991, S. 94). Der Satz stellt der grammatischen Form nach eine Frage dar, aber sie ist in Wahrheit durch die Intention gekennzeichnet, durch die Benennung
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die genannten Schutzinstanzen als falsche Antwort auszuschließen. Durch diesen Trick bleiben sowohl die Eltern als auch die öffentlichen und religiösen Instanzen »in die Frage vernäht und kommen, in diese Frage gebannt, nicht mehr in Frage« (Streeruwitz 2011, S. 177f.). »Die Grammatikalität nimmt sie gefangen und bindet sie da fest« (ebd., S. 178), damit sie das Kind in Ruhe lassen. Insofern ist die gestellte Scheinfrage so heimtückisch wie »der Rat«, den der gleichermaßen böse wie kluge Fuchs im Märchen den Menschen vor der Kreuzung zu geben pflegt, um sie – wie Streeruwitz der Doppeldeutigkeit des Titels des Gedichtbands Verschenkter Rat folgend richtig auslegt – später aufzufressen und so einen tödlichen ›Ver-Rat‹ zu begehen (vgl. ebd., S. 176 ; vgl. Markus 2021, S. 289). Allerdings wird in diesem Fall die Frage mit Absicht gestellt, um die Vertreter der Ordnung zum Schweigen zu bringen und um das Kind vor deren Eingriffen in Schutz zu nehmen. In diesem Sinn verlässt auch die lyrische Erzählinstanz eine übergeordnete Position und hilft dem Kind durch einen scheinbar kaltblütigen Akt wie die »Nicht-Nennung« und die »Bannung ins 2. Partizip« (Streeruwitz 2011, S. 176), die gerade die Grammatik unterläuft. Es klingt zunächst zwar verblüffend optimistisch, wenn Streeruwitz am Anfang des Essays die Handlung des Gedichts auf ein glückliches Ende hin folgenderweise zusammenfasst : »Das Gedicht schickt das Kind in 30 Zeilen auf den Weg, das Findel abzulegen und ein Kind zu werden. Mitglied der Gemeinschaft der Menschen« (ebd., S. 175). Denn es ist definitiv unvorstellbar, dass das Findelkind, unter dem Schutz der Bestie und der Natur in der Exterritorialität aufgewachsen, eine normale Autonomie erlangen und sich reibungslos in die gesellschaftlichen Normenwelt einordnen kann. Jedoch ist auch an dieser Stelle ein kleiner grammatischer Trick nicht zu übersehen : Streeruwitz macht hier den Bruch zwischen der Subjektwerdung und der gesellschaftlichen Initiation durch eine Punkt- und Schnittsetzung sichtbar. Insofern respondiert sie im eigenen Schreiben auf die vollkommene Kongruenz von Bedeutung und Grammatik, die Aichinger in der Lyrik vollbringt, indem sie die Skepsis gegen jede gesellschaftliche und sprachliche Ordnung nicht nur auf der diskursiven Ebene, sondern auch auf der stilistischen Ebene zum Ausdruck bringt. Schließlich gelingt es Streeruwitz, gerade in der essayistischen Form diese Kongruenz auf performative Weise zur Schau zu stellen. Literatur Aichinger, Ilse (KMF 1991) : Kleist, Moos, Fasane. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger).
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Aichinger, Ilse (VR 1991) : Verschenkter Rat. Gedichte. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Dröscher-Teille, Mandy (2022) : Die vier ›Schönheiten der Literatur‹ – zur Poetik von Marlene Streeruwitz, in : Mandy Dröscher-Teille/Birgit Nübel (Hgg.), Marlene Streeruwitz. Perspektiven auf Autorin und Werk. Berlin, S. 31 – 46. Hron, Irina (2022) : Über. Leben. Marlene Streeruwitz’ literarische Liebesethik, in : Mandy Dröscher-Teille/Birgit Nübel (Hgg.), Marlene Streeruwitz. Perspektiven auf Autorin und Werk. Berlin, S. 229 – 246. Kramatschek, Claudia/Hanuschek, Sven (2019) : Marlene Streeruwitz, in : Munzinger Online/ KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. www.munzinger.de/document/16000000549, [Stand : 02.01.2023]. Markus, Hanna (2015) : Ilse Aichingers Lyrik. Das gedruckte Werk und die Handschriften. Berlin. Markus, Hanna (2021) : ver-, in : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.), Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, S. 289 – 292. Neuhaus, Stefan (2022) : Gegen »Herrschaft«. Zur Dekonstruktion von Machtdiskursen in Marlene Streeruwitz’ Poetik und Dramatik, in : Stefan Neuhaus (Hg.), In den Plural setzen. Marlene Streeruwitz und ihr dramatisches Werk. Baden-Baden. Reitzenstein, Markus (2022) : »Im Kopf. Keine Gefühle. Und nichts im Körper.« Die gebrochene Sprache der Erinnerung in Partygirl. (2002), in : Mandy Dröscher-Teille/Birgit Nübel (Hgg.), Marlene Streeruwitz. Perspektiven auf Autorin und Werk. Berlin, S. 83 – 96. Streeruwitz, Marlene (2004) : Gegen die tägliche Beleidigung. Frankfurt/M. Streeruwitz, Marlene (2011) : Beim Lesen von Findelkind, in : Neue Rundschau 3 (2011), S. 174 – 179. Streeruwitz, Marlene (2014) : Poetik. Frankfurt/M. Streeruwitz, Marlene (2017) : Das Wundersame in der Unwirklichkeit. Frankfurt/M. Streeruwitz, Marlene (2021) : Geschlecht. Zahl. Fall. Frankfurt/M. Streeruwitz, Marlene/Jocks, Heinz-Norbert (2001) : Marlene Streeruwitz im Gespräch mit HeinzNorbert Jocks. Köln. Streeruwitz, Marlene/Ferdinand Lacina/Stefan Gmünder/Martin Prinz (2021) : »Journal des Scheiterns« : Scheitern als Programm für das gute Leben, in : Der Standard 14. Juni 2021. https://www.derstandard.de/story/2000127310991/journal-des-scheiterns-scheitern-alsprogramm-fuer-das-gute-leben [Stand : 26.01.2023].
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Wynfrid Kriegleder
Falsche und richtige Großeltern Ilse Aichingers D i e Vergleich
grösser e
H offn u ng und Eva Menasses V i en na im
Ilse Aichingers rätselhafter Roman Die größere Hoffnung – geschrieben zwischen 1945 und 1947, 1948 bei Bermann Fischer in Amsterdam erstmals erschienen, 1960 für die erste Taschenbuchausgabe bearbeitet – erzählt bekanntlich das Schicksal des »halbjüdischen« Mädchens Ellen, die im nationalsozialistischen Wien zwischen 1939 und dem Frühjahr 1945 zu überleben sucht. Unmittelbar vor Kriegsende wird sie »von einer explodierenden Granate in Stücke gerissen« (GrH 1991, S. 269). Die Forschung hat immer wieder darauf verwiesen, dass sich Aichingers Roman dem herkömmlichen Erzählen verweigert, zwischen Alltagsszenen und surrealen Traumsequenzen changiert und den historischen Hintergrund verfremdet : Die Worte »Nationalsozialismus«, »Juden«, »Deportation« oder »Konzentrationslager« werden ebenso wenig ausgesprochen wie »Wien«, »Donaukanal« oder »Zentralfriedhof« (Kołodziejcyk-Mróz 2017, S. 121). Dass sich die Ereignisse an Aichingers eigene Erfahrungen in diesen Jahren anlehnen, ist aber offensichtlich. Ilse Aichinger, die Tochter eines »arischen« Vaters und einer jüdisch-katholischen Mutter, verblieb mit der Mutter und der Großmutter in Wien, nachdem ihre Zwillingsschwester Helga mit einem Kindertransport nach England ausreisen durfte. Die Großmutter wurde von den Nationalsozialisten ermordet. Die Autorin erhob den Anspruch, das Leben von verfolgten Menschen in der Zeit des Nationalsozialismus zu beschreiben, wie ein Jahre später getaner Ausspruch zeigt : »Ich wollte zuerst nur einen Bericht schreiben darüber, wie es wirklich war. Das ist dabei herausgekommen, aber doch auf eine ganz andere Weise, als ich es mir vorgestellt habe« (Esser 1995, S. 48). Eines der zentralen Motive in dem Roman ist Ellens Versuch, sich einer Gruppe von verfolgten jüdischen Kindern anzuschließen, die sie im zweiten Kapitel kennenlernt. Alle diese Kinder werden gemäß den Nürnberger Rassegesetzen diskriminiert, sie alle sind jederzeit von der Deportation bedroht, sie wissen oder ahnen, dass die Deportation den Tod bedeutet. Über Ellen erfahren wir schon auf der ersten Seite, dass sie zu den »Kinder[n] mit falschen Großeltern« zählt (GrH 1991, S. 9), dass ihre »ausgewiesen[e]« Mutter ein Visum (vermutlich für die USA) bekommen hat und daher ausreisen darf (ebd., S. 15), dass aber Ellen bei ihrer (jüdischen) Großmutter (in Wien) bleiben muss, weil niemand
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Wynfrid Kriegleder
für sie »bürgt« (ebd., S. 16). Ihr Vater, ein »Arier« und Offizier, verleugnet seine Tochter (ebd., S. 49). Weil die »Kinder im Hof nicht mit [ihr] spielen wollen« (ebd., S. 16), sucht Ellen die Gemeinschaft von sieben jüdischen Kindern : Bibi, die vier »falsche Großeltern« hat, Kurt mit »drei falsche[n] Großeltern«, Leon (»vier falsche Großeltern«), Hanna, Ruth, Herbert (»Dreieinhalb falsche Großeltern«) und Georg (»Vier falsche Großeltern«). Ellen kann aber selbst nur auf zwei falsche Großeltern verweisen : »Zwei sind richtig und zwei sind falsch. Unentschieden, das ist das Ärgste« (ebd, S. 35f.). Auf Ellens Bitte : »Laßt mich mitspielen« (ebd., S. 33), reagieren die Kinder zunächst abweisend, akzeptieren sie aber schließlich. Trotzdem bleibt Ellen eine Außenseiterin »[m]it zwei falschen Großeltern ! Das ist zu wenig«. Denn Ellen, die keinen Judenstern tragen muss, darf »ohnedies auf allen Bänken sitzen ! Du darfst ohnehin Ringelspiel fahren« (ebd., S. 37). Schließlich heftet sich Ellen einen gelben Stern auf ihren Mantel, gegen den ausdrücklichen Befehl ihrer Großmutter : »Laß dir das nicht einfallen […] sei froh, daß es dir erspart bleibt, daß du ihn nicht tragen mußt wie die andern !« Aber Ellen will den Stern tragen »dürfen« (ebd., S. 100). Als sie mit dem Stern auf ihrem Mantel in einer Konditorei eine Torte für den Geburtstag ihres Freundes Georg kaufen will, wird sie beschimpft und verjagt : »Geh jetzt, sonst lasse ich dich verhaften«, sagt die Verkäuferin. Die Erzählinstanz erklärt : Ellen »hatte vergessen, daß die Leute mit dem Stern Geschäfte nicht betreten durften, noch weniger eine Konditorei« (ebd., S. 103f.). Ellen »hatte die Kinder mit dem Stern beneidet, Herbert, Kurt und Leon, alle ihre Freunde, sie hatte ihre Angst nicht verstanden« (ebd., S. 104). Ellen gehört nicht dazu, es bleibt bei der Erkenntnis : »[I]ch darf [den Stern] nicht tragen ! Zwei falsche Großeltern zuwenig. Und sie sagen, ich gehöre nicht dazu !« (ebd., S. 117). Noch kurz bevor die Kinder deportiert werden, bekräftigt Georg : »Du gehörst nicht zu uns !« Auf Ellens Frage : »Und weshalb nicht ?« gibt er die unbezweifelbare Antwort : »Du wirst nicht geholt werden« (ebd., S. 132). Und so kommt es auch. Ellen schließt sich zwar ihren verhafteten Freunden an, wird aber »gegen ihren Willen […] aus dem Lager entlassen«. Das Letzte, was sie sieht, ist »das traurige, spöttische Lächeln ihrer Freunde : ;Wir haben dir gleich gesagt, daß du nicht zu uns gehörst !‹« (ebd., S. 161). Die Protagonistin Ellen versucht also alles, um sich der Gruppe ihrer verfolgten Freunde anzuschließen. Dass die Verfolgten Juden sind, ist zwar die historische Realität, spielt aber im Roman und in der Wahrnehmung der Protagonisten keine Rolle. Cornelia Blasberg hat zu Recht darauf verwiesen, dass die Kinder ihren Außenseiterstatus über die Anzahl der »falschen« Großeltern definieren und damit die Sichtweise der Nationalsozialisten – konkret : die Definition der Nürnberger Gesetze – übernehmen. Blasbergs Folgerungen aus diesem Befund scheinen mir freilich fragwürdig. Sie ist etwa irritiert, »daß Großmutter und Enkelin im Romantext kein Morgenlob oder Kaddisch-Gebet zusammen sprechen« (Blasberg 2002, S. 43 – 44), ohne zu berück-
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sichtigen, dass Ellen offensichtlich katholisch sozialisiert wurde, wie bereits das erste Kapitel zeigt, und auch ihrer sterbenden Großmutter die Nottaufe spendet (abgesehen davon, dass »das Kaddisch-Gebet […] nur in der Gegenwart eines Minjan gesagt werden [darf ], das bedeutet, in der Gegenwart von zehn Männern« Guski 2013). Ilse Aichingers eigene Identifikation oder Nicht-Identifikation mit dem Judentum allgemein und der jüdischen Religion im Besonderen ist zweifellos ein interessanter Komplex ; im Roman Die größere Hoffnung spielt aber die jüdische Identität keine besondere Rolle (Lorenz 2013, S. 181 – 186). Sie wird den Kindern (und Ellen) aufgezwungen, und dass Ellen dazugehören will, hängt damit zusammen, dass sie in den verfolgten Kindern ihre einzigen Freunde gefunden hat. Eine umso größere Rolle spielt die jüdische Identität und der Wunsch, dazuzugehören, in einem Roman, der mehr als 50 Jahre nach Die größere Hoffnung erschienen ist – in Eva Menasses Vienna (2005 ; in den folgenden Überlegungen sind einzelne Passagen übernommen aus Kriegleder 2010). Vienna ist eine über weite Strecken durchaus komische Familiengeschichte (WójcikBednarz 2020), in der sich einige auch bei Aichinger wichtige Motive finden. Selbst hinsichtlich der Komik lässt sich eine Nähe zu Die größere Hoffnung behaupten. Denn auch Ilse Aichingers alles in allem tragischer Roman enthält Elemente einer absurden Komik, die sich aus der kindlichen Perspektive der Protagonistin, aber auch aus dem (sprachkritischen) Wörtlich-Nehmen verschiedener Phrasen und Floskeln ergibt, wie Anja Kienz überzeugend analysiert hat (Kienz 2010). Eva Menasses Erstlingsroman erschien 2005 in Köln bei Kiepenheuer & Witsch, nachdem das Buch in der FAZ vorabgedruckt worden war. Es gibt eine namenlose diegetische Erzählerin – ich übernehme diesen Begriff von Wolf Schmid als Ersatz für Genettes »homodiegetischen« Erzähler : Die Erzählinstanz ist als Figur Teil der erzählten Geschichte. Menasses Erzählerin ist allerdings merkwürdig eigenschaftslos, selbst das Geschlecht bleibt lange Zeit undefiniert und wird erst gegen Ende des Romans durch die Erwähnung eines Ehemanns greifbar. Die Erzählerin weist jedenfalls viele Ähnlichkeiten mit der Autorin auf und greift auf die in der Familienerinnerung überlieferten Erfahrungen der Eltern und Großeltern zurück. Dabei verschwimmen, ähnlich wie bei Aichinger, Faktualität und Fiktionalität – auf beide Romane könnte der Begriff »Autofiktion« angewendet werden. Vienna wurde daher oft als Schlüsselroman gelesen. Die Tatsache, dass der Vater der Erzählerin 1938 mit einem Kindertransport nach England ausreisen konnte und nach 1945 zu einem bekannten österreichischen Fußballspieler wurde, trifft auch auf Eva Menasses Vater Hans Menasse zu. Andererseits verfremdet Eva Menasse öfter die Realität. Ihr Bruder, der bekannte österreichische Romancier und Essayist Robert Menasse, tritt etwa im Roman als Historiker auf.
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Wynfrid Kriegleder
Die Protagonisten der (engeren) Familie erhalten im Roman keine Namen, sondern werden durch ihre Funktionen im Familiengefüge definiert. Es heißt nur »mein Vater«, »mein Großvater«, »meine Großmutter«, »mein Onkel« oder »mein Bruder.« Erst gegen Ende des Romans bekommen die beiden Vertreter der Kriegsgeneration, der Vater und der Onkel, Vornamen. Der Onkel wird Bertl genannt (Menasse 2005, S. 259), der Vater von einem seiner Neffen »Onkel Sunny« (ebd., S. 375). Die diegetische Erzählerin erzählt nicht nur, was sie selbst erlebt hat, sondern erweist sich als Archiv der Familienerinnerungen und imaginiert auch oft das Innenleben der älteren Generation (Seemann 2013). Überliefert wird die Familiengeschichte in den Familientreffen der Nachgeborenen. Die Erzählerin schreibt über einen dieser Anlässe : […] ich wartete geduldig auf die Überleitung zu dem, was für mich von Kindesbeinen an die Hauptsache dieser Familienabende gewesen war, auf »Em-Em«, wie die Frau meines älteren Vetters diesen unvermeidlichen Programmpunkt schon vor vielen Jahren getauft hatte, »manisches Mythologisieren.« (Menasse 2005, S. 371)
»Em-Em«, das sind all die späteren Erzählungen, Anekdoten, Übertreibungen, Revisionen und Erfindungen, gegen die vor allem der »Bruder« immer wieder Einwände erhebt. Aber mithilfe des manischen Mythologisierens kann sich die Familie längere Zeit ihrer Zusammengehörigkeit versichern. Die interne Chronologie des Romans und die historische Verankerung sind durch die gelegentliche Nennung von historischen Ereignissen (etwa die Waldheim-Affäre) rekonstruierbar. Manchmal übernimmt die Erzählerin die perzeptive Perspektive einer Figur. So werden die Delogierung der Familie durch die Nazis und der Kindertransport nach England aus der Sicht des damals achtjährigen Vaters geschildert, der die Geschehnisse nicht einordnen kann. Dass England das Ziel der Reise ist, wird den Lesern erst klar, als das Kind nach der Ankunft auf Englisch angesprochen wird. Der Zeitpunkt des Erzählens, die Gegenwart der Erzählerin, ist schwer greifbar. Im Kapitel »Rückblick« beschreibt sie den Vater als jemand, der »das im internationalen Vergleich hohe österreichische Durchschnittsalter längst überschritten hatte« (ebd., S. 346). Vermutlich ist hier mit »Durchschnittsalter« die durchschnittliche österreichische Lebenserwartung gemeint, die 2005 76,5 Jahre betrug, wie man unter https://oesv1.orf.at/stories/183104 [Stand : 02.07.2023] erfahren kann. Da der 1930 geborene Vater dieses Alter schon »längst« überschritten hat, müssen wir uns also einige Jahre nach 2006 befinden. Erst nach dem vermutlich bald darauf erfolgten Tod des Vaters kommt es im Kapitel »Ende« zu einem großen Familienstreit, über den die Autorin dann wieder ein »paar Jahre« später erzählt (Menasse 2005, S. 369). Wir
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befinden uns also nach der textinternen Logik im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Der Roman bietet in 17 Kapiteln die anekdotenreiche, annähernd chronologisch dargebotene Geschichte einer Wiener Familie. Die älteste, kaum agierende Generation sind ostjüdische Zuwanderer nach Wien, die in bescheidenen Verhältnissen im zweiten Bezirk, der »Mazzesinsel«, leben und als alte Leute von den Nazis ermordet werden. Die zweite Generation besteht vor allem aus dem Großvater, einem gewieften Geschäftsmann, dem ein gewisser sozialer Aufstieg gelingt ; er zieht in den Nobelbezirk Döbling, freilich in den weniger attraktiven Teil nahe dem Gürtel. Der Großvater ist ein Lebenskünstler, der immer wieder am Rand der Legalität wandelt und diesen Rand auch gelegentlich überschreitet. Seine Schwester Gustl heiratet einen einflussreichen christlichen Bankier mit Verbindungen zu den Christlichsozialen. Sie konvertiert und denkt nicht daran, ihrem Bruder während der Nazizeit zu helfen. Der Großvater überlebt das siebenjährige Reich nur dank seiner Ehefrau, einer aus einem sudetendeutschen Dorf stammenden Christin. Er wird nicht deportiert, muss in Wien allerdings die »reichsdeutsche Hundemarke« tragen (ebd., S. 86) und Zwangsarbeit leisten, die er »Überschwangsarbeit« nennt (ebd., S. 89). Die zentralen Figuren des Romans stellt die dritte Generation. Der »Vater« wird 1938 als achtjähriges Kind nach England geschickt, wo er bei einer Pflegefamilie aufwächst. Erst nach 1945 kommt er zu seiner natürlichen Familie zurück und wird bald zu einem prominenten österreichischen Fußballspieler. In der Folge ist er ein wenig ehrgeiziger Lebenskünstler, der über seine eigene und die österreichische Vergangenheit kaum nachdenkt. Sein sieben Jahre älterer, wesentlich kritischerer Bruder, »mein Onkel«, kommt ebenfalls als Jugendlicher nach England, wird 1939 zunächst auf der Isle of Man interniert, darf sich schließlich der britischen Armee anschließen, kämpft in Burma und kehrt ebenfalls nach Wien zurück, wo er zunächst ein großer Geschäftsmann wird, ehe er durch Bankrott sein gesamtes Vermögen verliert. Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau, der »kleinen Engländerin« (ebd., S. 199), heiratet er seine Sekretärin, die in der Familie nur »Tante Ka« genannt wird. Die ältere Schwester Katzi schließlich, der ein Name zugestanden wird, emigriert 1938 mit ihrem Ehemann nach Kanada und stirbt nach kurzer Zeit an einer Lungenkrankheit. Die vierte Generation ist die Generation der Erzählerin – die aus verschiedenen Ehen stammenden Kinder des »Vaters« und des »Onkels.« Der »Bruder«, ein linker Historiker, steht der österreichischen Verschweige-Mentalität besonders kritisch gegenüber. Die »Schwester« ist eine gelangweilte Wiener Gesellschaftsdame. Die Erzählerin bildet als Frau ohne Eigenschaften den Mittelpunkt der großen Familie. Zur vierten Generation gehören auch die beiden Söhne des »Onkels«, Vetter Eins und Vetter Zwei. Während Vetter Eins, ähnlich wie der Bruder der Erzählerin, keinen Frieden
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mit der Familiengeschichte macht, wird Vetter Zwei zu einem das Familienleben ironisch kommentierenden aktiven Mitglied der Wiener israelitischen Kultusgemeinde. Eine fünfte Generation wird gegen Ende eingeführt. Es handelt sich um die inzwischen verheirateten und zu Müttern gewordenen (damit ist sogar eine sechste Generation anzitiert) Töchter von Vetter Eins und Vetter Zwei, die »Enkel«, junge Frauen, die der familiären Fixierung auf die Vergangenheit verständnislos gegenüberstehen, allerdings die fußballerischen Heldentaten des »Vaters« und damit die Familienlegenden weitertradieren. Die Erzählerin erwähnt auch »meine Kinder« als Teil dieser Generation (ebd., S. 373). Zum entscheidenden Streitpunkt in der Familie, der zu ihrem Zerbrechen führt, wird das Problem der falschen Großeltern, also die Debatte um die eigene jüdische Identität. Der Roman greift hier ein wichtiges Thema aus der Größeren Hoffnung auf : »Falsche Großeltern« haben Konsequenzen. Freilich dreht Eva Menasse die Gewichtung um. Was bei Ilse Aichinger tödliche Folgen hat, ist in Vienna ein zwar die Familiengemeinschaft zerstörendes, aber letztlich komisches, auf die Rechthaberei einiger Protagonisten zurückzuführendes Problem. Dem Familienstreit liegt natürlich eine durch den Nationalsozialismus bewirkte Situation zugrunde : Eine selbstverständliche jüdische Identität ist nach 1945 der dritten Generation, den Kindern der vom Nationalsozialismus Betroffenen, nicht möglich (Hakkarainen 2001 und Hamidouche 2011). Andrea Reiter hat darauf aufmerksam gemacht, dass es bei den wenigen »österreichisch-jüdischen Autoren« der Zeit »nach Waldheim« häufig um die Frage geht, »wer oder was heutzutage als jüdisch erachtet wird« (Reiter 2018, S. 151). Die Frage, »was ein Jude ist« (Menasse 2005, S. 282), wird im zwölften Kapitel, »Rollenspiele«, virulent. Der »Bruder«, der ohne jede religiöse Bindung aufgewachsen ist, interessiert sich nach einer Epoche als marxistischer Student für seine jüdische Identität, was der »allem Religiösen oder Spirituellen herzlich abgeneigt[e]« »Onkel« als »seine […] jüdische […] Phase« bezeichnet. Der Bruder nimmt Hebräischunterricht und informiert sich über die Religion, »weil er es zunehmend peinlich fand, Yom Kippur und Rosch Haschana nicht auseinanderhalten zu können« (ebd.). Eines Tages verkündet er der Familie, »daß wir gar keine Juden seien« (ebd., S. 281), und beruft sich auf die »Halacha«. Weil »bei den Juden nur zähle, was die Mutter gewesen sei«, und »weil unsere Großmutter keine Jüdin gewesen sei«, seien »wir« »nicht einmal Halbjuden«, da »der Vater schon keiner sei« (ebd., S. 291). Natürlich widerspricht diese Auffassung der gefühlten Familienidentität, aber der »Vater« fühlt sich zumindest verpflichtet, sich in der Wiener jüdischen Gemeinde »in der Seitenstettengasse« die Zusicherung zu holen, er sei sehr wohl Jude, weil dort im Register »seine Geburt […] zusammen mit dem Tag seiner Beschneidung« vermerkt sei (ebd., S. 293). Die Frage scheint damit geklärt :
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Mein Vater war ohne jeden Zweifel Jude. Nur das zählte. Die Frau in der Gemeinde hatte es gesagt, mein Vater war überall eingetragen, mehr war dazu nicht zu sagen. Auf diesem dünnen Eis richteten sich mein Bruder und mein Vater fortan ein, hatten aber immer ein schlechtes Gewissen. (Ebd., S. 294)
Das dünne Eis wird nicht lange tragen. Der »Bruder« vertuscht die nicht-jüdische Identität seiner Großmutter (ebd., S. 306) und schließt sich der »Selbsthilfegruppe ›Mischlinge 2000‹« an, an der auch ein älterer Mann teilnimmt, »der einen Großteil seiner Familie im Holocaust verloren hatte, der aber jetzt, halachisch gesehen, gar kein Jude war« (ebd., S. 327). Die Erzählerin hält fest : Mein Bruder wußte aus eigener Erfahrung, daß es die mit den dezidiert jüdischen Namen meistens schwerer hatten. Sie hießen wie Juden, weil sie die Namen ihrer Väter trugen, sie wurden wegen des Namens öffentlich als solche angesehen und fühlten sich als Juden, aber bei den Juden durften sie keine Juden sein, weil sie keine jüdischen Mütter hatten. (Ebd., S. 320)
Sein Debakel erlebt der »Bruder«, als er auf einem Kongress in Toronto einem jüdischen Kollegen von seiner (sudetendeutschen) Großmutter erzählt : Wäre sie selbst Jüdin gewesen, wären gewiß beide [die Großmutter und der Großvater] umgebracht worden, das hätte für die Familiengeschichte eine Menge mehr Blut und Gewalt, aber auch eine Menge mehr Identität und Klarheit bedeutet. (Ebd., S. 327)
Die Reaktion des kanadischen Kollegen wechselt auf dieses Geständnis »von erschrockenem Staunen zu höflicher Verachtung«, und er bemerkt »leichthin […] ›Oh ! Then you are only a quarter Jew‹« (ebd.). Wie Ilse Aichingers Ellen hat auch der »Bruder« die falschen Großeltern. Zum Eklat kommt es dann im vorletzten Kapitel, bei einem Familientreffen zwischen dem Bruder und »Vetter Eins«, dem älteren Sohn des »Onkels«, der mit der jüdischen Religion genauso wenig anfangen kann wie der »Bruder«, im Gegensatz zu diesem aber auf eine jüdische Mutter verweisen kann und damit auch im Sinn der »Halacha« ohne Zweifel Jude ist. Sein jüngerer Bruder, »Vetter Zwei oder Zwi, wie wir ihn seit einigen Jahren nannten« (ebd., S. 380), der einzige religiöse Mensch in der Familie, sieht den Streit spöttisch als »Revierstreitigkeiten […] wer der bessere Jude ist« (ebd., S. 379), trägt aber nicht zur Deeskalation bei. Der Bruder und der Vetter schreien sich an diesem »verhängnisvollen Abend« an (ebd., S. 388), jeder hat eine andere Auffassung davon, was die jüdische Identität eigentlich ausmache, und
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die Erzählerin kann sich nicht durchsetzen, als sie »mit der Kraft der Verzweiflung« herausschreit, was mir unwiderlegbar erschien : Die Verschickung der beiden Kinder und ihre Rückkehr zu fremden, gebrochenen Eltern, die Hundemarke des Großvaters, die Überschwangsarbeit, die nach Theresienstadt abgereiste Großmutter, genüge das nicht, um für diese Kleinfamilie im Jahre 1947, da war mein Vater zurückgekehrt, eine klare Identität als Juden, als Verfolgte zu konstituieren ? (Ebd., S. 383f.)
Der Erzählerin, die sich im Roman sonst mit Reflexionen sehr zurückhält, versucht am Ende des Kapitels ein Fazit : Solange mein Vater, meine Mutter, mein Onkel, die Tante Ka und die kleine Engländerin lebten, die die Widersprüche und Ungereimtheiten unserer Familie verkörperten, als Beweis für alles, was möglich ist, so lange konnten wir Kinder die besten Freunde sein und Mitglieder einer Familie. Doch als diese Generation tot war, kämpften wir traurigen Diadochen um eine Deutungshoheit, die vor uns keiner gebraucht hatte. Und so muß es hier eben zu Ende gehen, mit meiner lustigen Familie und mit dem ganzen herrlichen »Em-Em«. (Ebd., S. 392f.)
Der Roman ist freilich letztlich doch eine Komödie und endet daher nicht mit diesem Zwist, sondern mit dem Kapitel »Nachruf«, einer novellistisch abgeschlossenen Episode um das Begräbnis des Großvaters in den späten 1970er Jahren im Krematorium am Zentralfriedhof. Hier werden alle Hauptfiguren und auch so manche im Lauf des Romans erwähnte Nebenpersonen noch einmal vereint, und all die Konflikte kommen auf eine komische Art noch einmal zur Sprache. Doch schon vorher wird angedeutet, dass der Kampf um die eigene jüdische Identität ein Generationsproblem sein könnte, das die um 1980 geborenen Kinder von Vetter Eins und Vetter Zwei nicht mehr betrifft. »[…] ihr habts doch alle einen Vergangenheitswahn«, konstatiert die Tochter von Vetter Zwei, die Familiengeschichte bestehe »doch nur aus geschönten Anekdoten einerseits, aus um so auffälligeren Lücken andererseits« ; das alles biete »keinen Zusammenhalt« und sei »nur blödes Gerede« (ebd., S. 391). Für die nächste Generation sind die alten Geschichten mittlerweile vielleicht wirklich alte Geschichten geworden. Eva Menasses Roman kehrt also auf paradoxe Weise ein Motiv Ilse Aichingers um. Das Mädchen Ellen wird von ihren jüdischen Spielgefährten zunächst ausgeschlossen, weil sie nicht genügend jüdische Großeltern – »falsche« Großeltern im Nazi-Jargon – hat. Andererseits rettet ihr diese Tatsache zunächst das Leben, sie wird nicht deportiert. Bei Eva Menasse streiten die Familienmitglieder um die »richtigen« Großeltern,
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zumindest darum, ob eine jüdische Großmutter die Voraussetzung für eine jüdische Identität sei. Es ist ein Streit, dessen Wurzeln in der Vergangenheit liegen, wie die jüngeren Familienmitglieder erkennen. Der Roman lässt zumindest die kleinere Hoffnung aufblitzen, dass solche von außen vollzogene Identitätszuschreibungen, die an der selbstgewählten Identität der Betroffenen nicht interessiert sind, ein Ding der Vergangenheit sein könnten. Literatur Aichinger, Ilse (GrH 1991) : Die größere Hoffnung. Roman. Frankfurt/M. (= Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, hg. v. Richard Reichensperger). Blasberg, Cornelia (2001) : »Ein unentschiedenes Spiel« ? Über Juden und Judentum in Ilse Aichingers »Die größere Hoffnung«, in : Britta Herrmann/Barbara Thums (Hgg.), »Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit.« Zum Werk Ilse Aichingers. Würzburg, S. 39 – 57. Esser, Manuel (1995) : »Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch dunkel ist.« Auszug aus einem Gespräch mit Ilse Aichinger im Anschluß an eine Neueinspielung des Hörspiels ›Die Schwestern Jouet‹, in : Samuel Moser (Hg.), Ilse Aichinger. Leben und Werk. Aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Frankfurt/M., S. 47 – 57. Guski, Chajm (2013) : Das Kaddisch-Gebet. https://www.talmud.de/tlmd/das-kaddisch-gebet [Stand : 25.06.2023] Hakkarainen, Marja-Leena (2001) : Melange of Memories. Negotiating Transcultural Identities in Eva Menasse’s Vienna, in : Orbis Litterarum 66/6, S. 468 – 486. Hamidouche, Martina (2011) : The New Austrian Family Novel : Eva Menasse’s Vienna (2005), in : Austrian Studies 19, S. 187 – 199. Kienz, Anja (2010) : Schrecklich komisch – Komik-Verfahren und das Phänomen Lachen in Ilse Aichingers »Die größere Hoffnung«, in : Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 9, S. 32 – 54. Kołodziejcyk-Mróz, Beata (2017) : Poetik des Schweigens – zum Roman »Die größere Hoffnung« von Ilse Aichinger, in : Aleksandra Bednarowska/Beata Kołodziejcyk-Mróz (Hgg.), Verschwiegenes, Unsagbares, Ungesagtes sagbar machen. Der Topos des Schweigens in der Literatur. Berlin, S. 115 – 123. Kriegleder, Wynfrid (2010) : Österreichische Geschichte als Familiengeschichte. Eva Menasses »Vienna« und Arno Geigers »Es geht uns gut«, in : Gunda Mairbäurl/Susanne Blumesberger/ Hans-Heino Ewers/Michael Rohrwasser (Hgg.), Kindheit. Kindheitsliteratur. Kinderliteratur. Studien zur Geschichte der österreichischen Literatur. Festschrift für Ernst Seibert. Wien, S. 225 – 238. Lorenz, Dagmar C. G. (2013) : Selbstfindung nach der »Symbiose«. Das Erschreiben jüdischer Identitäten in den Werken von Ilse Aichinger und Vladimir Vertlieb, in : Norbert Honsza/
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Przemysław Sznurkowski (Hgg.), Deutsch-jüdische Identität Mythos und Wirklichkeit. Ein neuer Diskurs ? Frankfurt/M. u. a., S. 173 – 193. Menasse, Eva (2005) : Vienna. Köln. Reiter, Andrea (2018) : Jüdische Literatur in Österreich nach Waldheim. Wien. Seemann, Daphne (2013) : The Re-Construction and Deconstruction of a Family Narrative : Eva Menasse’s Vienna, in : Valerie Heffernan/Gyllian Pye (Hgg.), Transitions. Emerging Women Writers in German-language Literature. Amsterdam/New York, S. 35 – 51. Wójcik-Bednarz, Monika (2020) : Humorstrategien im Erinnerungsdiskurs einer jüdisch-österreichischen Familie. Eva Menasses Roman »Vienna«, in : Andrea Rudolph/Gabriela JelittoPiechulik/Monika Wójcik-Bednarz (Hgg.), Geschlecht und Gedächtnis. Österreichische Autorinnen prüfen Geschichtsmythen. Wien, S. 113 – 129.
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Kleinere und größere Abstände Von Vertrautheit brauchte man nicht unbedingt auszugehen, wenn man in Wien Verbindungen zwischen Ilse Aichinger und österreichischen Autorinnen und Autoren fünfundvierzig Jahre nach dem zum Vorschein bringen wollte, was 1951 in einem Brief geschrieben stand : Ich will Dir sagen –, wie gerne ich mit Dir teilen möchte – gerade jetzt – die Bangigkeit und das Maschinschreiben und die öden Mittagspausen und all das Halbe, von dem Du schreibst, die Irrtümer und Mißverständnisse, die dazu gehören ! Und daß ich es mit Dir teile und das für wichtiger halte, als vieles von dem Wirbel und dem Betrieb, den ich für gefährlich halte, sobald er einem keine Zeit mehr lässt Heimweh zu haben und diese Verlassenheit zu spüren, die mit uns allen identisch ist und die auf der anderen Seite den Glanz ausmacht, wenn wir ihn auch selbst in diesem Augenblick nicht sehen.
Das hatte Ilse Aichinger an Ingeborg Bachmann geschrieben, und nie war sie einer Schriftstellerin oder einem Schriftsteller – die große Ausnahme war freilich Günter Eich, den sie zwei Jahre später heiratete und mit dem sie eine Familie gründete – näher gekommen, wie das »Ilselein« ihrem »Ingelein« in dem guten Jahrzehnt, in dem sie einander vorwiegend geschwisterlich-innige Briefe geschrieben hatten, in denen auch Berta Aichingers, Ilses Mutter, Bekundungen der Zuneigung und Anteilnahme als »Ersatzmutti« und »Mutti« für Ingeborg Bachmann zu lesen sind. Informelle Verbindungen zu anderen österreichischen Autorinnen und Autoren und damit akzentuierte Lesarten und Resonanzen ihres Werkes sollten als Besonderheit, die den üblichen Rahmen einer Einzellesung wesentlich erweitern würde, eine zu Ilse Aichingers Ehren kurz nach ihrem 75. Geburtstag und unter ihrer Mitwirkung im Wiener Akademietheater verabredeten Veranstaltung bereichern. Das zumindest schwebte dem damaligen Chefdramaturgen des Burgtheaters, Hermann Beil, und mir, der ich für die Alte Schmiede diese Kooperation mit dem Burgtheater verantwortete, vor. Wir hatten Richard Reichensperger, Ilse Aichingers vertrauten Gefährten seit den 80er Jahren, gebeten, zusammen mit ihr eine Auswahl der Texte zu treffen, die bei dieser Gelegenheit gelesen werden sollten. Nun tauchte im Zuge der Vorbereitungen ein Einwand auf, den ich bis heute nicht verstehe – »Irrtümer und Mißverständnisse, die dazu gehören« ?
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Jener grundsätzliche Vorbehalt, den Ilse Aichinger 1951 in dem Brief an Bachmann dem »Literaturbetrieb« gegenüber geäußert hatte, schien mir für die Situation 1996 eigentlich nicht zutreffend, zumal es sich nicht mehr um Zeiten einer individuellen literarischen Formierung und auch nicht einer epochalen Neuordnung der Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft handelte. Zudem hatte sich Aichinger längst als vom »Betrieb« kaum anfechtbar erwiesen. Sie hatte auch, aus meiner Sicht klarer Weise zu Recht, meine erste Einladung 1974 nach Gmunden, Urbachs Einladung zur allerersten Lesung einer Autorin in die neu gegründete und gänzlich auf die Notwendigkeiten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern ausgerichtete Alte Schmiede 1975 und fünf Jahre später meine Einladung zu einer fünftägigen Konferenz, die sich ebendort mit ihrem Werk beschäftigen wollte, angenommen. Dazu scheinen mir heute und in Verbindung mit den folgenden Überlegungen zwei wie nebensächlich wirkende Begebnisse im Lauf jener fünf Tage erwähnenswert : Am 19. Oktober 1980 war für den frühen Abend im Café Museum ein dann fröhlich geratendes Treffen zwischen Ernst Jandl und Friederike Mayröcker mit Ilse Aichinger verabredet, sie war in Begleitung ihres Sohnes Clemens und seiner Frau Elisabeth gekommen, ich sollte ebenfalls dabei sein. Es war meiner Erinnerung nach die erste Gelegenheit der drei, einander etwas näher kennenzulernen, was Jandl und Mayröcker durchaus wollten, und Aichinger offenbar auch. Seit sie Anfang der 1950er Jahre von Wien aufgebrochen war, hatten sich ihre literarischen Kontakte mehr und mehr nach Deutschland verlagert. Das blieb auch nach 1988, als sie wieder nach Wien zurückkam, und in Abstimmung mit Richard Reichensperger, weitgehend so. Dieser hatte übrigens am 20. Oktober 1980 in der Alten Schmiede mit dem folgenden Diskussionsbeitrag, ohne die Konsequenzen, die sich später daraus ergaben, auch nur ahnen zu können, seine persönliche Annäherung an Ilse Aichinger eingeleitet : Mir ist gerade etwas eingefallen, und zwar, was vielleicht auch interessant wäre – von einer persönlichen Leseerfahrung, um das weiterzuführen : Ich habe die erste AichingerGeschichte, sie ist mir in die Hände gefallen, da war ich glaube ich zwölf Jahre alt – das war Zufall, also das ist irgendwo gestanden, in der Bibliothek. Und ich habe das damals gelesen und habe eigentlich überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt. […] Also ich hätte wahrscheinlich nicht einmal gewusst, warum man Schwierigkeiten haben sollte, damals, aus diesem kindlichen Bewusstsein heraus – weil ich alles so nahm, wie es da war, wie es da stand. Und wenn ich mich jetzt zurückerinnere, dann nahm ich das damals als eine Erweiterung meiner Welt auf ; als eine völlig andere Welt. Und damals, nämlich noch als Kind
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und mit kindlichem Bewusstsein, da war ich noch viel, viel leichter bereit das aufzunehmen und diese Welt in meine Welt einzubauen. Und jetzt gibt es schon viel mehr Barrieren, jetzt wird es schwieriger.
Er war damals ein neunzehnjähriger Jus-Student, und in den darauffolgenden Monaten und Jahren war es nach und nach zu ihrer bis zu seinem jähen Tod im Jahr 2004 währenden vertrauten Freundschaft gekommen. Nun wendete 1996 Richard Reichensperger – und mit ihm vielleicht auch Ilse Aichinger – ein, eigentlich solle nur Aichinger alleine die Lesung im Akademietheater bestreiten. Denn die Mitwirkung weiterer Autorinnen und Autoren betrachtete er eher als Störsignal des Literaturbetriebs, dem Aichinger sich fremd fühlte, denn »das Leben ist anderswo«, wie er mir schrieb. Beil hingegen war der Ansicht, dass so viele österreichische Autorinnen und Autoren wie möglich lesen sollten. Seine Verständigung mit Reichensperger führte schließlich zu folgender Vorschlagsliste von Lesenden, die mir dieser dann zukommen ließ : Aichinger, Artmann, Achleitner, Gerstl, Jelinek, Jonke, Phettberg, Rühm, Ransmayr, Schutting und Winkler. Beil wollte dann wegen dieser in seiner Sicht eingeschränkten Zahl von Mitwirkenden noch Mitglieder des Burgtheater-Ensembles mit einbeziehen. Jandl und Mayröcker waren auf dieser Liste nicht zu finden. Friederike Mayröcker hatte – eher überraschend – zwei Jahre nach der vergnügten Begegnung im Café Museum einen poetisch verschlüsselten Widmungstext »für Günter Eich« geschrieben, den sie erst in einer Literaturzeitschrift und dann in ihrem Sammelband Magische Blätter I (1983) veröffentlichte. Und 1991 hat sie »für Ilse Aichinger zum siebzigsten Geburtstag« geschrieben, wo u. a. zu lesen war : »Deine große Kunst habe ich immer bewundert und Dich habe ich immer verehrt und liebgehabt, auch wenn wir einander selten begegnet sind in der Wirklichkeit.« Diese empfundene Nähe blieb also auf einen enger begrenzten Echoraum verwiesen, der sich nicht auf die Bühne des Akademietheaters erweitern sollte. Der Text wurde auch in keiner Einzelpublikation Mayröckers veröffentlicht. Ob und wie oft sie einander in ihren drei letzten gemeinsamen Wiener Jahrzehnten dann noch getroffen haben, wissen andere vermutlich besser als ich. Letztlich war es also dazu gekommen, dass mit Ilse Aichinger und den Ensemblemitgliedern Therese Affolter, Karl Menrad, Brigitte Furgler, Maria Happel, Peter Matić und Martin Schwab zwei Autorinnen und fünf Autoren, Friedrich Achleitner, Elfriede Gerstl, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Gerhard Rühm, Julian Schutting und Josef Winkler, über die abgedunkelte Bühne des Akademietheaters verteilt saßen. Ilse Aichinger saß etwas neben der Bühnenmitte und war stets von einem Spot in ge-
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dämpftes Licht gesetzt. Ein gebündelter Lichtstrahl erhellte sie und alle Mitwirkenden nur dann, wenn sie gerade lasen. Die Beteiligung von Ensemblemitgliedern brachte immerhin einen schönen und Ilse Aichinger am Herzen liegenden Zugewinn. Dadurch konnte in die Würdigung der Tochter auch ihre Mutter Berta Aichinger posthum mit einbezogen werden. Wie das ? Berta Aichinger war nicht nur eine beseelte Ärztin, sondern auch eine begeisterte Komponistin von stimmungsvollen Liedern und kleinen Klavierstücken. Drei ihrer Kompositionen haben Maria Happel, Peter Matić und der Pianist Anton Gisler als Mittelstück des Programmablaufs intoniert und gesungen. Aber wie stand es tatsächlich um die Verbindungen und Affinitäten zwischen den da Mitwirkenden und Ilse Aichinger. Entsprang es nur meinen Wunschvorstellungen, solche mochten tatsächlich gegeben sein ? Dass Aichinger und Hermes Phettberg, der schließlich genauso wenig wie Christoph Ransmayr und H. C. Artmann mitwirken konnte, einander mochten, war mir bekannt. Dass Gerstl, Jelinek, Jonke, Schutting und Winkler Ilse Aichingers Werk und, sofern sie mit ihr in direktem Kontakt standen, sie als Person schätzten, war mir ebenfalls bekannt. Aber Achleitner ? Aber Rühm ? Für Rühm gab es zumindest im Vorfeld der Staatspreisentscheidung im Jahr 1995 einen äußeren Anlass zur Befassung mit Aichingers Werk, Achleitner hatte sie offenbar bei anderer Gelegenheit kennengelernt. Beide waren, eher zu meiner Überraschung, ebenfalls sofort zur Mitwirkung bereit, und für Elfriede Jelinek spielte eine frühere Divergenz mit Aichinger in Hinblick auf eine von Jelinek mitinitiierte Protestaktion gegen Gertrud Fussenegger, von der ich damals auch nichts wusste, offenbar keinerlei Rolle mehr. Aber wenn es keine tiefer wirkenden Gründe einer Affinität zwischen den Mitwirkenden und Aichinger gab, war dann der Literaturbetriebs-Vorbehalt, den Richard Reichensperger geäußert hatte, nicht doch berechtigt ? Mit diesen tiefer liegenden, meist informellen und selten genug explizit zu Tage tretenden Affinitäten zwischen literarisch Tätigen ist es eine merkwürdige Sache. Davon hatte ich erstmals gut zehn Jahre früher eine schemenhafte Vorstellung gewinnen können, als sich der sterbenskranke Dichter und Essayist Reinhard Priessnitz, ein Exponent der sogenannten avantgardistischen oder experimentellen Literatur, bereit erklärt hatte, seinem fatalen Leiden zum Trotz für die Alte Schmiede ein »Autorenprojekt« auszuarbeiten, in dem seine literarischen Interessen einen anschaulichen Ausdruck finden sollten. Neben den erwartbaren Vorschlägen zu Veranstaltungen mit den für ihre experimentierenden Schreibweisen bekannten Schriftstellern Oswald Wiener, Ferdinand
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Schmatz und Felix Philipp Ingold und einer Einladung an den Hölderlin-Forscher D. E. Sattler waren zwei von Priessnitz’ Vorschlägen doch überraschend : Eine Veranstaltung sollte dem ausufernden Großroman Sonne und Mond des Malers Albert Paris Gütersloh gelten, die andere dem als humoristischer Erfolgsautor bekannten deutschen Schriftsteller Eckhard Henscheid. Wegen seiner schweren Krankheit und da er in der Nacht vor der ersten Veranstaltung des Projektes verstarb, konnten diejenigen, die für ihn als Moderatoren der Veranstaltungen einsprangen, von Priessnitz selbst auch keine Begründung seiner Entscheidungen in Erfahrung bringen. Doch eines schien klar : die Wahl war mit Bedacht getroffen und hatte gute Gründe, die aber im Unausgesprochenen verblieben. So begann ich zu vermuten, es könnte die unterschiedlichsten literarischen Anziehungskräfte zwischen Autorinnen und Autoren geben, die einander auf den ersten Blick ganz fern und fremd scheinen, und dabei doch von diesen im schriftstellerischen Tun verankerten Kräften verbunden wären. Hilft diese Vermutung beim Nachdenken möglicher Verbindungen zwischen den damals im Akademietheater mitwirkenden Autorinnen und Autoren und Ilse Aichinger ? Bei Gert Jonke, beispielsweise, ist Ilse Aichingers Wertschätzung seines Werkes und eine Art innerer Nähe spätestens ein Jahr nach diesem Lesungs- und Liederabend offenkundig geworden, als sie, alleinige Jurorin des Erich-Fried-Preises 1997, zur Preisverleihung über Jonke und sein Werk sprach. Sie sah ihn – letztlich genau so wie sich selbst – in die »Falle der Existenz« geraten, und aus dieser Perspektive spürte sie Jonkes Sensorium für die immanente Erniedrigung und Demütigung der Schwachen nach, für die von der Verwaltungssprache unerbittlich dekretierten Nebensächlichkeiten, die den Wehrlosen zu existentiellen Hauptsachen werden. Sprachanalytische Genauigkeit bedeutet für Aichinger und Jonke gleichermaßen soziale und geschichtliche Genauigkeit, die aus ihrer Sicht mit dem einfachen »Erzählen von Geschichten« nicht zu erreichen wäre. Nun wundert es nicht, dass Jonke Aichingers schneidend unterhaltsame Parabel des sozialen Abstiegs »Wo ich wohne«, in der sich die erst im vierten Stock eines Gebäudes gelegene Wohnung der erzählenden Person plötzlich und scheinbar sonst unverändert im dritten, bald darauf aber schon im Keller befindet, für seinen Lesungsbeitrag im Akademietheater gewählt hat. Also doch eine Art Vertrautheit, von beiden Seiten her empfunden, aber vor allem auf der Ebene der literarischen Grundhaltung und des gemeinsamen »Erschreckens« und der »Gelassenheit in der Sprache«, mit der Jonke und Aichinger ohne jede Beschönigung ihre Textgebäude errichten. In der Anwendung wieder unterschieden, einerseits die äußerste Reduktion, andererseits die musikalisch schwingende opulente Variation.
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Eine deklarierte Verbundenheit also, auf dem Feld des Literarischen. Lässt sich wirklich so einfach sagen : »das Leben ist anderswo« ? Es lässt sich sagen und es ließ sich schreiben, aber bleibt Apodiktik für immer haltbar ? Auf dem Feld des Literarischen immerhin, aber dieses Feld wird auch von den Vorgängen in der eben sich wechselnd artikulierenden Gesellschaft mit abgesteckt. Kein »Elfenbeinturm« also, um den es Aichinger ohnehin nie zu tun war. Ob und wie weit eine gegenseitige Werkkenntnis bei Ilse Aichinger und Friedrich Achleitner vorlag, kann ich nicht einmal vermuten. Dass Achleitner Aichinger respektierte und auch schätzte, weiß ich. »Form ist nie aus dem Gefühl der Sicherheit entstanden, sondern immer im Angesicht des Endes.« Vielleicht war es dieser Satz aus dem ursprünglichen Vorwort der Autorin zu ihrer frühen Textsammlung Rede unter dem Galgen, 1952 in Hans Weigels Reihe Junge österreichische Autoren in Wien erschienen, ein Jahr später unter dem programmatischen Titel »Das Erzählen in dieser Zeit« der Erzählungssammlung Der Gefesselte bei S. Fischer vorangestellt, der Achleitner bewog, diesen Text im Akademietheater zu lesen. Vielleicht auch deshalb, weil Aichinger darin ihre Skepsis gegen das herkömmliche Erzählen artikuliert und von seinen Grenzen und Begrenzungen spricht. Hatte Achleitner nicht genau dieses Thema zum Leitmotiv seines spielerisch-subversiven »Romans«, quadrat-roman u. andere quadrat-sachen ; 1 neuer bildungsroman, 1 neuer entwicklungsroman etc. etc. etc., 1973 erschienen, gemacht ? Gewiss, der Abstand zwischen dem sozialen und literarischen Leben Aichingers und dem Achleitners war, auch in Wien, groß, aber in dem beschriebenen Zentralimpuls ihres Schreibens wirken sie in den ersten Jahrzehnten ihres Schaffens einander nah. Gar kein Zweifel kann an einer Verbundenheit zwischen Elfriede Gerstl und Ilse Aichinger aufkommen, in der Lebenserfahrung früher Bedrohung durch ein Regime radikaler Menschenjägerei, in ständig durchlebter Angst vor Verfolgung und Denunziation. Und nicht an ihrer Übereinstimmung, gar nicht oder so wenig wie möglich darüber zu sprechen und zu schreiben, es sei denn, über literarische Umwege und Überschichtungen. Analogien lassen sich auch in der Tendenz zur Reduktion und Verknappung, der Konzentration auf das Wesentliche feststellen, in der das Gedicht »An einen jungen Gerber« das Leben von Mensch und Tier, Lebensmut und Verschwinden miteinander legiert. Elfriede Gerstl hat es im Akademietheater gelesen und auch den Prosatext »Parkring« ; hier wird zudem der beiden eigene Spürsinn für die Komik mitten im Aussichtslosen sichtbar, weil der Kater mit einem Ruck vom Schrank sprang, während im Radio die Einnahme von Paris durch die deutsche Wehrmacht gemeldet wurde. Es gibt etwas zu Lachen und zu Hoffen, das wusste auch Elfriede Gerstl, indem
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sie dieses Prosagedicht las, das zentrale Motive von Aichingers Roman Die größere Hoffnung nochmals aufleuchten lässt. Julian Schutting, der, so darf man wohl behaupten, Ilse Aichinger und ihr Werk verehrt, hatte drei Gedichte aus dem einzigen Gedichtband Aichingers Verschenkter Rat für seine Lesung ausgewählt : das Heinrich Böll gewidmete »Lose Sprossen«, sowie »Widmung« und »Briefwechsel«. Auch hier lassen sich Strukturelemente auffinden, die für Schuttings Arbeiten nicht untypisch sind : das Umschlagen von Bildlichkeit in Gegenständlichkeit und das »Gedankenspiel« – bei Schutting wird dieses ausgeweitet werden und zu einem wichtigen Element seines Personalstils, bei Aichinger bleibt es in knappest möglicher Form wirksam, die Anspielungen auf konkrete Lebenszusammenhänge bleiben schwebend. Gerhard Rühm hat den erstmals 1955 veröffentlichten Dialog zweier Zwerge, »Hohe Warte«, aus dem am schwierigsten zu deutenden Buch Aichingers, Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge, gelesen. Was könnte ihn an diesem Text, in dem es so lange um das Fragen geht, bis keine Antworten mehr gegeben werden, interessiert haben ? Wirft man einen Blick auf Rühms in dem Band Ophelia und die Wörter gesammelte Theaterstücke 1954 – 1971, so fällt auch bei ihm als Erstes die Sprengung des herkömmlichen »realistischen« Bühnendialogs mit ganz unterschiedlichen sprachlichen oder auch außersprachlichen Mitteln auf. In dem Begleittext zu einem seiner Stücke stellt er fest : die fabel erscheint uns heute weitgehend verbraucht. Und weiter : die fabel beschränkt sich auf sonderfälle. Sie beschäftigt sich nicht mit der existenz, den erscheinungen und wirkungen an sich und zueinander, also der phänomenalen gegenwart, sondern mit »schicksalen«, bereits vergangenem […].
Und Ilse Aichinger notierte zu einer Rundfunkrealisation zweier ihrer Szenen, dass diese »ihre Orte nicht als Umgebung« nähmen, »sondern machen sie zur Voraussetzung, zum eigentlichen Thema«. Da wie dort geht es um komplexere Phänomenologien, mit durchaus unterschiedlichen Instrumenten versuchen Aichinger und Rühm, diese anschaulich, begreifbar werden zu lassen. Aber Aichinger setzte noch Eins drauf : »Die Dialoge sind nicht weiter auszulegen«. Selbst wenn uns das schwer fallen würde, das wäre leicht. Dass Elfriede Jelinek das Glanzstück der lakonischen Aichinger’schen Sprachkritik und Sprachskepsis, den programmatischen Titeltext des Prosabandes Schlechte Wörter, für ihren Lesebeitrag wählen würde, kam eigentlich gar nicht überraschend. Wenngleich sich die Werkzeuge ihrer Sprachkritik aus anderen Bezugsfeldern herleiten las-
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Kurt Neumann
sen und sie die Zerstörungskräfte des »gewohnten« gesellschaftlichen Sprachgebrauchs vor allem durch musikalische Aufladung, Variation und Deformation gleichsam aus sich selbst heraus entlarvt, liegt ihre Affinität zu Aichingers radikal komödiantischer Attacke gegen die besten und erstbesten Wörter nahe. Mit der List einer zur Schau gestellten Schwäche für angreifbare zweit- und drittbeste Wörter hebelt Aichinger die sprachlichen Vehikel der strahlenden »Phalanx der Benenner« aus ihren Angeln, und das, ohne deren Wortgebrauch im Detail attackieren zu müssen. Statt jetzt lange nach einem Haar zu suchen, an dem ich Josef Winklers Werk in eine strukturelle Nähe zu Ilse Aichingers Werk ziehen könnte, möchte ich einen Schritt auf eine andere Ebene setzen. Winkler hatte im Akademietheater nämlich eine Auswahl der Aufzeichnungen 1950 – 1985 aus dem Band Kleist, Moos, Fasane gelesen, sicher auch diesen Eintrag aus dem Jahr 1962 : »Ich kann getröstet nicht leben«. Das wäre allerdings kein Haar, sondern eher ein rauer Strick, den lasse ich lieber liegen. Der wäre auch nicht weiter auszulegen. Den Schritt also wohin setzen ? Dorthin, »wo das Leben ist« ? Josef Winklers Wertschätzung Ilse Aichingers ist nämlich seit deren 100. Geburtstag in das Wiener Stadtbild eingeschrieben. Denn er war die treibende Kraft, der Autorin ein öffentliches Erinnerungszeichen in ihrer Geburts- und Sterbensstadt zu setzen, das ihrem Werk und ihrer Lebenshaltung, nicht aber den üblichen Registern der Denkmalskunst entsprechen sollte. So war es mit seiner Unterstützung als Präsident des Österreichischen Kunstsenats gelungen, der Stadt Wien die Erlaubnis abzuringen, eines von Aichingers markantesten Gedichten mit einigen Erläuterungen zu einem integralen Bestandteil des Geländers der Schwedenbrücke über den Wiener Donaukanal werden zu lassen, Seite stromabwärts : WINTERANTWORT Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt : keine Augen mehr, um die weißen Wiesen zu sehen, keine Ohren, um im Geäst das Schwirren der Vögel zu hören. Großmutter, wo sind deine Lippen hin, um die Gräser zu schmecken, und wer riecht uns den Himmel zu Ende, wessen Wangen reiben sich heute noch wund an den Mauern im Dorf ?
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Kleinere und größere Abstände
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Ist es nicht ein finsterer Wald, in den wir gerieten ? Nein, Großmutter, er ist nicht finster, ich weiß es, ich wohnte lang bei den Kindern am Rande, und es ist auch kein Wald.
Gedenkort Winterantwort An dieser Stelle sah die Schriftstellerin Ilse Aichinger (Wien 1921 – 2016) am 6. Mai 1942, wie ihre Großmutter, ihre Tante und ihr Onkel auf einem offenen Lastwagen vom Sammellager im 2. Bezirk zum Aspangbahnhof gebracht wurden. Sie wurden nach Maly Trostenez bei Minsk deportiert und dort ermordet. Die Erinnerung daran spiegelt sich in Aichingers Gedicht »Winterantwort« (1978). Dieser Transport zählt zu den 45 Deportationstransporten, mit denen mehr als 45.000 Österreichische Jüdinnen und Juden in den Jahren 1941/42 vom Aspangbahnhof in nationalsozialistische Ghettos, Vernichtungslager und Mordstätten deportiert wurden. Nur wenige überlebten.
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Auswahlbibliographie Zusammengestellt von Andreas Dittrich Monographien Seidler, Miriam. »Sind wir denn noch Kinder ?« Untersuchungen zur Kinderperspektive in Ilse Aichingers Roman »Die größere Hoffnung« unter Einbeziehung eines Fassungsvergleichs. Frankfurt am Main u. a., 2004. Felip, Eleonore De. Die Zumutung einer Sprache ohne alle Gewähr. Ilse Aichingers Szenen und Dialoge »Zu keiner Stunde«. Innsbruck, Wien und Bozen, 2005. Osterried, Ernst und Peter Osterried. Spiegelungen der Hoffnung in der Moderne. Ingeborg Bachmanns Gedicht »An die Sonne« und Ilse Aichingers »Spiegelgeschichte«. Berlin u. a., 2007. Brassat, Julia S. Filling the Silence. An Iserian Reading of Ilse Aichinger’s Works. Saarbrücken, 2009. Fässler, Simone. Von Wien her, auf Wien hin. Ilse Aichingers »Geographie der eigenen Existenz«. Wien, Köln und Weimar, 2011. Ivanovic, Christine. Ilse Aichinger in Ulm. Marbach am Neckar, 2011. Faure-Godbert, Sylvaine. Les lieux et le temps dans l’oeuvre en prose d’Ilse Aichinger. Saarbrücken, 2013. Firtina, Özlem. Ilse Aichingers »Die grössere Hoffnung« als Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Ankara, 2014. Markus, Hannah. Ilse Aichingers Lyrik. Das gedruckte Werk und die Handschriften. Berlin und Boston, 2015. Wiltshire, Gail. A spatial reading of Ilse Aichinger’s novel »Die größere Hoffnung«. Würzburg, 2015. Berbig, Roland. Landschaft und Ort bei Günter Eich und Ilse Aichinger. Bremen, 2017. Weissenböck, Andreas. Aichinger, Wittgenstein und die Sprache in »Die größere Hoffnung«. Masterarbeit Universität Wien 2018. DOI 10.25365/thesis.5117 Wotschal, Xenia. Schreiben und Reisen über Gattungsgrenzen hinweg. Gattungsmischung und -bildung bei Rolf Dieter Brinkmann, Ilse Aichinger und Herta Müller. Heidelberg, 2018. Görner, Rüdiger. Die versprochene Sprache. Über Ilse Aichinger. Wien, 2021. Ivanovic, Christine. Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger (1921 – 2016). Linz, 2021. Präauer, Teresa. Über Ilse Aichinger. Wien und Berlin, 2021. Sauer, Jutta. »Wie nur ein Haifisch trösten kann«. Ilse Aichinger. Ein Porträt. Berlin, 2021. Wild, Thomas. »ununterbrochen mit niemandem reden«. Lektüren mit Ilse Aichinger. Frankfurt am Main, 2021. Iacovella, Matteo (2023): Ilse Aichinger: la po-etica diffidenza della lingua. Interrogare, ricercare, ridurre. Pisa. [2023]
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Auswahlbibliographie
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Sammelbände Berbig, Roland, Hg. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 175 (2007) : Ilse Aichinger. Rabenstein-Michel, Ingeborg, François Rétif und Erika Tunner, Hg. Ilse Aichinger – Misstrauen als Engagement ? Würzburg, 2009. Yamamoto, Hiroshi, Hg. Ilse Aichinger und die kanonisierte ›Nachkriegsliteratur‹. Verhängnisse, Erinnerung, Sprache. Tokio, 2009. Berbig, Roland und Hannah Markus, Hg. Berliner Hefte. Zur Geschichte des literarischen Lebens 9 (2010) : Ilse Aichinger. Der Hammer. Die Zeitung der Alten Schmiede 50 ( Juni 2011) : Aus dem österreichischen Autorenalphabet. A : Aichinger, Ilse. Görner, Rüdiger, Christine Ivanovic und Sugi Shindo, Hg. Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England. Würzburg, 2011. Ivanovic, Christine und Sugi Shindo, Hg. Absprung zur Weiterbesinnung. Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger. Mit der Erstveröffentlichung des Radio-Essays »Georg Trakl« von Ilse Aichinger aus dem Jahr 1957. Tübingen, 2011. Kritikfabrik und uniT, Hg. Kritikfabrik. Bericht 1, u. a. zu Ilse Aichinger. Graz, 2012. Fußl, Irene und Christa Gürtler, Hg. Ilse Aichinger : »Behutsam kämpfen«. Würzburg, 2013. Kubaczek, Martin und Sugi Shindo, Hg. Stimmen im Sprachraum. Sterbensarten in der österreichischen Literatur. Beiträge des Ilse-Aichinger-Symposions Tokio [2014]. Tübingen, 2015. Lughofer, Johann Georg und Irene Samide, Hg. Ilse Aichinger. Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen. Wien, 2015. Erb, Andreas und Christoph Hamann, Hg. die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 66.284 (2021) : furchtlos schreiben. Das Politische der Literatur 1. Erdle, Birgit R. und Annegret Pelz, Hg. Ilse Aichinger Wörterbuch. Göttingen, 2021. Feneberg, Carina und Veronika Schuchter, Hg. Ilse Aichinger in der deutschsprachigen Presse (2000 – 2021). Eine bibliographische Dokumentation. Innsbrucker Bibliographien zur Literaturkritik 3 (2021). Knott, Marie Luise und Uljana Wolf, Hg. Die Hochsee der Ilse Aichinger. Ein unglaubwürdiger Reiseführer zum 100. Geburtstag. Heidelberg am Neckar, 2021. Wilkes, Geoff, Hg. Zwischen Abschied und Ankunft. Between Departure and Arrival. Ilse Aichinger, Helga Michie. Würzburg, 2021. Clar, Peter und Matthias Schmidt, Hg. Triëdere. Zeitschrift für Theorie, Literatur und Kunst 24 (Feb. 2023) : Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl.
Einzelbeiträge Lubkoll, Christine. »Ilse Aichinger — Günter Eich. Begegnungen in der Dichtung«. In: BiTextualität: Inszenierungen des Paares. Ein Buch für Ina Schabert. Annegret Heitmann, Sigrid Nieberle, Barbara Schaff, Sabine Schülting, Hg. Berlin 2001, S. 220–235.
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Auswahlbibliographie
Barner, Wilfried. »Spiegelgeschichte«. In : Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hg. von Werner Bellmann. Stuttgart, 2003, S. 76 – 88. Böll, Heinrich : »Die größere Hoffnung (1951)«. In : Heinrich Böll : Werke. Kölner Ausgabe, Bd. 5 : 1951. Hg. von Robert C. Konrad. Köln, 2004, S. 330 – 332. Holmes, Amanda. »Residential Unhomes in Short Stories by Julio Cortázar and Ilse Aichinger«. In : Neophilologus. An International Journal of Modern and Medieval Language and Literature 87.2 (Apr. 2003), S. 247 – 264. König, Nicola. »Dekonstruktive Hermeneutik moderner Prosa. Ein literaturdidaktisches Konzept produktiven Textumgangs«. In : Dekonstruktive Hermeneutik moderner Prosa. Ein literaturdidaktisches Konzept produktiven Textumgangs. Baltmannsweiler, 2003, S. 65 – 69. Nürnberger, Helmuth. »Historische Landschaft«. In : Zeitschrift für Kultur- und Bildungswissenschaften 17 (2003) : Mündliche Kommunikation, Interaktion, Mediennutzung : Arbeitstagung am 23. und 24. Juni 2003. Hg. von Marianne Polz, S. 98 – 100. Reichensperger, Richard. »Die geöffnete Order«. In : Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hg. von Werner Bellmann. Stuttgart, 2003, S. 107 – 114. – »Seegeister«. In : Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hg. von Werner Bellmann. Stuttgart, 2003, S. 126 – 134. Renner, Ursula. »›Das Leiden definieren‹ – Spiel-Räume und Sprach-Spiele in Ilse Aichingers Roman ›Die größere Hoffnung‹«. In : Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien. Hg. von Ariane Huml und Monika Rappenecker. Würzburg, 2003, S. 207 – 222. Rezboynikova-Frateva, Maja. »Ilse Aichinger : ›Die größere Hoffnung‹. Die Überwindung von Realität im Schweigen der Erinnerung«. In : »Uns selbst mussten wir misstrauen«. Die »junge Generation« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Hg. von Hans-Gerd Winter. Hamburg und Ebenhausen bei München, 2003, S. 292 – 307. Sepp, Emily. »Rethinking Resistance. Children in the Holocaust and in Ilse Aichinger’s ›Die größere Hoffnung‹«. In : Focus on German Studies. Journal on and beyond German-language literature 10 (1. Okt. 2003), S. 69 – 98. Desbrière-Nicolas, Brigitte. »›Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …‹. Ilse Aichingers Erzählungen in den 40er Jahren«. In : Germanica 34 (2004) : Mosaïques littéraires. Hg. von Bernard Bach, S. 61 – 70. Fetscher, Justus. »Hiob in Gath. Deutsch-jüdische Lektüren von Lessings Nathan der Weise«. In : Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 57.3 (2005), S. 209 – 231. Fußl, Irene. »Ein Lektüreweg durch Ilse Aichingers ›Meine Sprache und ich‹«. In: Sprachkunst, Jg. XXXVI/2005, 2. Halbband, S. 263–287. Kosler, Hans Christian. »Im Licht des Abschieds. Zu ›Gonzagagasse‹ von Ilse Aichinger«. In : Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Bd. 28. Frankfurt am Main, 2005, S. 158 – 159. Pelz, Annegret. »Ilse Aichinger, Die größere Hoffnung (1948)«. In : Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Hg. von Claudia Benthien und Inge Stephan. Köln, Weimar und Wien, 2005, S. 20 – 32.
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Auswahlbibliographie
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Auswahlbibliographie
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Auswahlbibliographie
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Auswahlbibliographie
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Hoffnung‹«. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37.1 ( Juni 2012). Hg. von Norbert Bachleitner u. a., S. 165 – 178. Petrič, Tanja. »Ilse Aichingers Roman ›Die größere Hoffnung‹ in slowenischer Übersetzung«. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37.1 ( Juni 2012). Hg. von Norbert Bachleitner u. a., S. 213 – 226. Rainer, Miriam. »Zu Hannah Arendt«. In : Kritikfabrik (2012), S. 52 – 59. Shindo, Sugi. »Übersetz mich über das Meer. ›Die größere Hoffnung‹ auf Japanisch«. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37.1 ( Juni 2012). Hg. von Norbert Bachleitner u. a., S. 179 – 190. Siguan, Marisa. »›Die größere Hoffnung‹ in spanischer Sprache. Adan Kovacsis’ Übersetzung von 2004«. In : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37.1 ( Juni 2012). Hg. von Norbert Bachleitner u. a., S. 227 – 236. Waterhouse, Peter. »Anfangen ist eine Form der Kontinuität«. In : Kritikfabrik (2012), S. 27 – 36. – »›Echte Polizei‹. Oder : Mehr wollen, als wir wissen«. In : Kritikfabrik (2012), S. 9 – 22. Willer, Stefan. »Altern im Spiegel. Umgekehrte Lebensläufe bei F. Scott Fitzgerald und Ilse Aichinger«. In : Zeitschrift für Germanistik (Neue Folge) 22.2 (2012), S. 345 – 361. Wolf, Uljana. »Leben ? Nicht nötig. Augenmerk für stille Katastrophen : Ilse Aichinger in ihren Interviews«. In : Der Tagesspiegel (24. Juni 2012). Agazzi, Elena. »Ilse Aichinger : ›Die größere Hoffnung‹ (1948)«. In : Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945 – 1962). Hg. von Elena Agazzi und Erhard Schütz. Berlin, 2013, S. 166 – 168. Berbig, Roland. »›Ich wollte das Ende ändern‹ – Eine ›unglaubwürdige‹ Archivreise zu Ilse Aichinger«. In : Fußl/Gürtler (2013), S. 11 – 34. Berbig, Roland und Vanessa Brandes. »›Ich begrüsse Ilse Aichinger und Günther [sic] Eich‹ – Höllerers Hörsaal-Lesereise 1959/1960. Ein Beitrag zur Typologie von Dichterlesungen«. In : Poetik im technischen Zeitalter. Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs. Hg. von Achim Geisenhanslüke und Michael Peter Hehl. Bielefeld, 2013, S. 65 – 88. Betten, Anne und Ute Fellner. »›Und wir haben noch kein einziges Wort verlernt‹ – Ilse Aichingers ›weiter sprechen‹ in entfremdeter Sprache«. In : Fußl/Gürtler (2013), S. 79 – 94. Brogi, Susanna. »Ilse und Helga Aichingers intermediale Korrespondenz«. In : Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für neuere deutsche Literatur 57 (2013), S. 350 – 371. Drynda, Joanna. »›Die Erlösung war das Kino‹. Ein Versuch über intermediale Konstanten in der Poetik bei Ilse Aichinger«. In : Fußl/Gürtler (2013), S. 67 – 78. Fässler, Simone. »Das Etikett ›Schweigen‹. Ilse Aichingers Interviews«. In : Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview. Hg. von Lucas Marco Gisi, Urs Meyer und Reto Sorg. München, 2013, S. 179 – 192. Fußl, Irene und Christa Gürtler. »Vorwort«. In : Fußl/Gürtler (2013), S. 7 – 9. Görtschacher, Wolfgang. »›Ich bin dort, wo ich immer hinwollte, im ›Herz der Finsternis‹‹‹‹ – Ilse Aichingers Privat-/Arbeitsbibliothek zur englischen Literatur«. In : Fußl/Gürtler (2013), S. 111 – 118.
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Auswahlbibliographie
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Auswahlbibliographie
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Auswahlbibliographie
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– »Leeres lesen. Von der Lektüre typographischer Zwischenräume, Wort- und Zeilenumbrüche«. In : Wilkes (2021), S. 123 – 133. Eich, Mirjam. »Sommer 63«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 242 – 243. Erdle, Birgit. »punktueller sein«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 201 – 205. – »Wind«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 319 – 323. – »Ilse Aichinger : Schlechte Wörter«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 20 – 23. Erdle, Birgit R. und Annegret Pelz. »Vorwort«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 8 – 17. Fahrenwald, Claudia. »Schweigen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 232 – 236. Fässler, Simone. Nachwort. In : Aichinger, Ilse. Die Frühvollendeten. Radio-Essays. Hg. und mit einem Nachw. vers. von Simone Fässler. Wien, 2021, S. 173 – 188. – »Reisen, unglaubwürdige«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 215 – 218. – »Schule«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 224 – 227. Frühwirth, Timo. »Auden«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 29 – 32. Fußl, Irene. »›Dein Amt als »dritter Zwilling‹ : Ilse Aichinger, Helga Michie und Ingeborg Bachmann«. In : Wilkes (2021), S. 81 – 90. – »Querbalken«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 206 – 209. Gasser, Katja. »Eich«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 76 – 79. Gisbertz, Anna-Katharina. »Tag/Stunde/Zeit«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 258 – 262. Goldschmidt, Sarah. »violett/lila«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 306 – 310. Görner, Rüdiger. »Dover«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 72 – 75. – »Hören«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 137 – 139. – »›Schlechte Wörter‹ in ›Dover‹ und ›St. Ives‹ oder ein poetisches England-Bild als Mosaik«. In : Die versprochene Sprache. Über Ilse Aichinger. Wien, 2021, S. 56 – 70. Görtschacher, Wolfgang und David Malcolm. »Conrad«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 58 – 61. Hawkey, Christian. »Ilse in Puzzleland«. In : Knott/Wolf (2012), S. 20 – 23. Hell, Bodo. »›Spuren‹…von Bloch«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 248 – 250. Heller, Lynne. »Ilse Aichinger und Helga Michie : ihr familiäres Umfeld«. In : Wilkes (2021), S. 23 – 38. Herweg, Nikola. »Der 1. September«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 68 – 71. – Querverbindungen. Briefe und Werke von Ilse Aichinger und Helga Michie. In : Aichinger, Ilse und Helga Michie. »Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe«. Briefwechsel, Wien-London 1939 – 1947. Hg. und mit einem Nachwort von Nikola Herweg. Wien, 2021, S. 339 – 357. – »zwei/Zwilling«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 339 – 343. Holl, Ute. »Der dritte Mann«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 62 – 67. Höller, Hans. Vorwort. In : Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann und Günter Eich. »halten wir einander fest und halten wir alles fest !« Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger und Günter Eich : der Briefwechsel. Hg. von Roland Berbig und Irene Fußl. Mit einem Vorw. von Hans Höller. Salzburger Bachmann Edition. Berlin, München und Zürich, 2021, S. 7 – 11. Homer, Stephanie. »Helga Michie and the ›Kindertransport‹ : Home, Belonging, and Identity in Helga Michie’s Poetry«. In : Wilkes (2021), S. 187 – 194.
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Auswahlbibliographie
Iacovella, Matteo. »Spuren des Traumas, Latenzen und Zäsuren im Spätwerk von Ilse Aichinger«. In : Wilkes (2021), S. 165 – 174. Ivanovic, Christine. »A Form of Life : Ilse Aichinger’s ›Journey to England‹ (1949)«. In : Wilkes (2021), S. 111 – 122. – »Aus der Geschichte der Trennungen. Die Zwillinge Ilse und Helga Aichinger«. In : Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien. Hg. von Sabine Apostolo. Wien, 2021, S. 92 – 101. – »Boden ohne Gewähr«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 49 – 52. – »›Heimat, Heimat ? My country. Es krachte, als wir heimkamen‹. Zum Konzept Heimat im Gesamtwerk von Ilse Aichinger«. In : treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 17 (2021) : Heimat und Fremde. Hg. von Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner und Sven Hanuschek. – »verschwinden«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 297 – 301. Kinsky, Esther. »Rot«. In : Knott/Wolf (2012), S. 14 – 16. Kleinhans, Belinda. »Hai/Fisch«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 123 – 127. – »Twin Leaps : The Figure of the Animal in Ilse Aichinger’s and Helga Michie’s Oeuvres«. In : Wilkes (2021), S. 47 – 54. Kniep, Matthias. »Ilse Aichinger. Vom Aufruhr in den Spiegeln«. In : Erb/Hamann (2021), S. 140 – 144. Knott, Marie Luise. »Namen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 192 – 196. – »Über das Wasser. Drei Hinweise zu Ilse Aichinger«. In : Erb/Hamann (2021), S. 134 – 139. Knott, Marie Luise und Uljana Wolf. »Vorwort«. In : Knott/Wolf (2012), S. 5 – 7. Köhler, Barbara. »GEZEICHNET«. In : Erb/Hamann (2021), S. 132. Komfort-Hein, Susanne. »Augenblick«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 33 – 36. Körte, Mona. »kalte Küche«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 150 – 154. Kraus, Dagmara. »füllm vom lampenschürm«. In : Knott/Wolf (2012), S. 47. Kreidl, Margret. »ES SIND SÄTZE«. In : Erb/Hamann (2021), S. 146 – 150. Kreuzer, Stefanie. »Fessel, Strick, Schnur«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 103 – 107. Leitgeb, Christoph. »Maulwurfsgänge mit Hölderlin : Zu einer Theorie des Zitats am Beispiel von Ilse Aichingers ›Ende der Silbergasse‹«. In : Wilkes (2021), S. 91 – 102. Liska, Vivian. »Engel«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 80 – 84. – »Hasen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 128 – 132. Macho, Thomas. »Kinder/Wien«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 160 – 164. – »Untergang, Untergänge«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 276 – 280. Markus, Hannah. »grün«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 118 – 122. – »ver-«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 289 – 292. Middelhoff, Frederike. »Tierbändiger/Zoodirektor«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 263 – 267. Moser, Samuel. »Ilse Aichingers und Helga Michies Orte«. In : Wilkes (2021), S. 55 – 60. – »verkehrt«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 293 – 296. Müller, Mathias. »Verlegte Zungen und vergossene Pudel«. In : Wilkes (2021), S. 135 – 142. Neumeyer, Thomas. »Atlantik«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 24 – 28. Nieberle, Sigrid. »Kino«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 165 – 169.
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Auswahlbibliographie
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Oesterle, Günter. »Wolf/Märchen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 329 – 333. Pajević, Marko. »Mißtrauen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 188 – 191. Pelz, Annegret. »Boote/Schiffe«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 53 – 57. – »wohnen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 324 – 328. Planes, Dolors Sabaté. »›Definieren grenzt an Unterhöhlen und setzt dem Zugriff der Träume aus‹ : Magisch-realistische Konstellationen in Ilse Aichingers Kurzprosa«. In : Wilkes (2021), S. 71 – 80. Präauer, Teresa. »In das Land Salzburg ziehen (Variationen)«. In : Erb/Hamann (2021), S. 152 – 153. – »Vögel«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 311 – 313. Prammer, Theresia. »Entsetzt … der Sinn«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 85 – 89. Rabenstein-Michel, Ingeborg. »Vater«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 285 – 288. Rakusa, Ilma. »Auferstehung in Sicht – oder nicht ?« In : Knott/Wolf (2012), S. 11 – 12. Reulecke, Anne-Kathrin. »Esel«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 90 – 93. Rix, Ruth. »Storeys«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 256 – 257. Rix, Ruth und Gail Wiltshire. »In Conversation«. In : Wilkes (2021), S. 225 – 236. Shindo, Sugi. »Beckett/Cioran«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 37 – 39. – »Risse, Trennung und die Reflexion der Sehnsucht : Zu den Werken Helga Michies«. In : Wilkes (2021), S. 205 – 214. Spalt, Lisa. »Verschiebungen an Balkonkonstruktionen. Mit Ilse Aichinger«. In : Erb/Hamann (2021), S. 154 – 158. Steinlechner, Gisela. »Beerensuchen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 40 – 44. – »Milch«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 183 – 187. Stephan, Inge. »Schnee«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 219 – 223. Stephan, Susanne. »Heu«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 133 – 136. Strigl, Daniela. »Kaffeehaus«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 144 – 149. Tawada, Yoko. »Spiel/Schattenspiel«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 244 – 47. – »Wörter sind Ziegel«. In : Knott/Wolf (2012), S. 42 – 44. Terpitz, Olaf. »Europa/von Osten«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 94 – 98. Thums, Barbara. »›Im Auge des Taifuns‹ – Schreibszene Kaffeehaus : Ilse Aichingers Transformation des Prosagedichts in ›Unglaubwürdige Reisen‹«. In : Wilkes (2021), S. 143 – 156. – »Rand, Ränder«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 210 – 214. – »Wahl«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 314 – 318. – »Zumutung«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 334 – 338. Tišma, Aleksandar. »Zwiespältiges Schicksal«. In : Knott/Wolf (2012), S. 57. Valtolina, Amelia. »blau«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 45 – 48. Vansant, Jacqueline. »Exposing Traumatic Tears in History : Film-making in Ilse Aichinger’s ›Die größere Hoffnung‹ (1948)«. In : Wilkes (2021), S. 103 – 110. Vedder, Ulrike. »Lumpen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 179 – 182. Vogel, Oliver. »Kein Abschied. Zu ›Notiz‹«. In : Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Frankfurter Anthologie (30. Okt. 2021), S. 18. Vogel-Klein, Ruth. »Großmutter«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 113 – 117.
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Auswahlbibliographie
– »Mosaik, Fragment, Leerstelle und Subtext : Ilse Aichingers Evokationen der Schwester und der Großmutter unter dem Zeichen der Judenverfolgung«. In : Wilkes (2021), S. 175 – 186. Waterhouse, Peter. »Die Kinokarte«. In : Knott/Wolf (2012), S. 58 – 59. Wiedemann, Barbara. »unterschreiben«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 281 – 284. Wild, Thomas. »Poetische Verdichtung und politisches Schreiben – ein Widerspruch ? Fünf Gegenworten«. In : Erb/Hamann (2021), S. 121 – 123. – »Versuch«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 302 – 305. Wilkes, Geoff. »›Alte, du wirst unverschämt !‹ Misremembering in Ilse Aichinger’s ›Der dritte Mann‹ and ›Abschied von Weihnachten‹«. In : Wilkes (2021), S. 157 – 164. – »Einleitung«. In : Wilkes (2021), S. 19 – 22. Wiltshire, Gail. »Foreword : ›Between Departure and Arrival‹«. In : Wilkes (2021), S. 15 – 18. – »track lines – Between Departure and Arrival«. In : Wilkes (2021), S. 215 – 224. Wimmer, Gernot. »Antisemitismus und Kriegssentiment in Franz Kafkas ›Kinder auf der Landstraße‹ und Ilse Aichingers ›Das vierte Tor‹«. In : Wilkes (2021), S. 61 – 70. Wolf, Uljana. »›Meine Sprache ist eine, die zu Fremdwörtern neigt‹. Zu Ilse Aichinger«. In : Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Berlin, 2021, S. 39 – 61. – »übersetzen«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 272 – 275. – »Von den Verlassensdisziplinen. Erste Gedanken zu Ilse Aichingers unveröffentlichtem Text ›Tiger Bay‹«. In : Erb/Hamann (2021), S. 124 – 131. Ziegler, Reto. »Seegasse«. In : Erdle/Pelz (2021), S. 237 – 241. Cox, Christoph. »Wort wider Wort. Ilse Aichingers Winterantwort«. In : Der Deutschunterricht 74. Jg. 1 (2022) : Lyrik und Rhetorik. Hg. von Christof Hamann, Gunhild Berg und Sebastian Brinks, S. 35 – 43. Dittrich, Andreas und Jannis Wagner. »Ilse Aichinger : Notizen zum Werke Felix Hartlaubs. Mit einer Vorbemerkung von Andreas Dittrich und Jannis Wagner«. In : Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 74. Jahr. 4 ( Juli–Aug. 2022). Hg. Akademie der Künstler, S. 466 – 469. Ivanovic, Christine. »Rätsel und Sprung – Erinnerungskunst nach dem Holocaust. Zwei Paradigmen der ästhetischen Theorie bei Ilse Aichinger und Helga Michie«. In : Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 52. Jg. 2021/2 (2022). Hg. von Hans Höller, Christoph Leitgeb und Michael Rössner, S. 209 – 233. Leuschner, Ulrike. »Rez. v. Ingeborg Bachmann / Ilse Aichinger / Günter Eich, ›halten wir einander fest und halten wir alles fest !‹ Der Briefwechsel. Hg. von Irene Fußl und Roland Berbig. […] Birgit R. Erdle/Annegret Pelz (Hg.), »Ilse Aichinger Wörterbuch«. In : Arbitrium 40.2 (10. Aug. 2022), S. 235 – 242. Limbourg, Marie. »›Travelling memory‹ neu gedacht. Imaginäre Erinnerungsreisen auf der literarischen Weltkarte Ilse Aichingers«. In : PhiN. Philologie im Netz : Beihefte 29 (2022) : Literatur und Erinnerung / Literature and Memory. Transphilologische Analysen / Transphilological Readings. Hg. von Urania Milevski, Tom Vanassche und Lena Wetenkamp, S. 107 – 120. Lorenz, Matthias N. »6.3.7 Recontextualizations of a Metaphor in Relation to Germany’s History of Violence : World War I, Auschwitz, Stammheim : Alex Capus, Ilse Aichinger, Stephan Wackwitz. Joseph Conrad’s ›Heart of Darkness‹ in German Literature : Gender, Class, Race, and Trauma«. In : Distant Kinship. Berlin, 2022, S. 282 – 289.
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Auswahlbibliographie
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Tawada, Yoko. »Ein Manuskript von Ilse Aichinger«. In : Portrait eines Kreisels. Tübingen, 2022, S. 59 – 62. Yuna, Kubo. »[Der Sprung nach der Hoffnung : Die Erzählstruktur von Ilse Aichingers ›Die größere Hoffnung‹; japanisch]«. In : Waseda Blätter 29 (25. Feb. 2022), S. 50 – 63. Zschunke, Lena. »Kap. 6. Ilse Aichinger : Der Engel als theatrale Figur nach 1945«. In : Der Engel in der Moderne. Eine Figur zwischen Exilgegenwart und Zukunftsvision. Berlin und Boston, 2022, S. 285 – 367. Clar, Peter. »Vom Schreiben und vom Schweigen und von weiter nichts. Für/Mit Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 96 – 112. Dittrich, Andreas. »Zeilenabstände als Gegenstand des Edierens ? Zu Ilse Aichingers Aufzeichnungen«. In : Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive. Hg. von Laura Auteri. Bern, 2023, S. 227 – 237. Fritz, Martin. »urlaub für immer für alle«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 34 – 39. Gürtler, Christa. »Blitzlichter auf zwei Dichterinnen. Zu Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 50 – 59. Havryliv, Tymofiy. »Erinnerte Wirklichkeit. Anders reisen in Raum und Zeit in ›Unglaubwürdige Reisen‹ von Ilse Aichinger«. In : Andere Wirklichkeiten. Pararealitäten in der österreichischen Literatur. Hg. von Attila Bombitz. Wien, 2023, S. 25 – 54. Hochreiter, Susanne. »Verschenkter Rat : Behüte Haus und Haut. Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 7 – 27. Höpler, Brigitta. »(W )ORTE Fotonotizen«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 70 – 79. Kleinschmidt, Christoph. »Versehrte Unversehrtheit. Ilse Aichingers Spiegelgeschichte und die Latenz der Gewalt«. In : Verstörungsprosa. Das Kalkül der Verstrickung in der Literatur der Moderne. Baden-Baden, 2023, S. 308 – 319. Köhle, Markus. »Aichinger«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 28 – 33. Manzey, Carl. »Rez. v. Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Günter Eich : ›Halten wir einander fest und halten wir alles fest !‹ Der Briefwechsel«. In : Zeitschrift für Germanistik (Neue Folge) 33.1 (2023), S. 220 – 222. Markus, Hannah. »Aichinger, Ilse«. In : NDB-online (Deutsche Biographie), veröffentl. am 1.4.2023, URL : www.deutsche-biographie.de/118501232.html – »Rez. v. ›Ilse Aichinger, Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946 – 2005. Hg. von Andreas Dittrich […]‹«. In : Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft 41.1 (Apr. 2023), S. 93 – 98. Medusa, Mieze. »Texte zu Ilse Aichinger und Elfriede Gerstl«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 125 – 139. Müller, Mathias. »versare – drehen und dichten«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 80 – 86. Obermoser, Anna-Lena. »WIA SCHNIALSOMT«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 87 – 95. Rakusa, Ilma. »Wenn eigenwillige Sprachwege ungeahnte Möglichkeitsräume auftun. Reflexionen über Ilse Aichinger, Friederike Mayröcker und Clemens J. Setz«. In : Andere Wirklichkeiten. Pararealitäten in der österreichischen Literatur. Hg. von Attila Bombitz. Wien, 2023, S. 11 – 24. Serles, Katharina. »Gedichtanalyse, skizziert. Grün-rote Linien durch Ilse Aichingers und Elfriede Gerstls Lyrik«. In : Clar/Schmidt (2023), S. 113 – 124.
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Kurzbiographien der BeiträgerInnen Sabine Apostolo Komparatistin und Kunsthistorikerin, Kuratorin am Jüdischen Museum Wien. Ausstellungen und Publikationen : Jugend ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien (2021), Die drei mit dem Stift. Lily Renée, Bil Spira und Paul Peter Porges (2019), Verfolgt. Verlobt. Verheiratet. Scheinehen ins Exil (2018), Genosse. Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden (2017) und Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard (2015). Darüber hinaus seit 2014 Betreuung der Sammlungsbestände des Jüdischen Museums Wien. Forschungsschwerpunkte : Judaica, Jüdische Kultur- und Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, im Besonderen Wiener Gründerzeit, Geschichte der Arbeiterbewegung, Exilgeschichte, Shoah, Erinnerungskultur. Stefano Apostolo promovierte in Mailand und Wien mit der philologischen Erschließung eines unveröffentlichten Romans Thomas Bernhards (Thomas Bernhards unveröffentlichtes Romanprojekt Schwarzach St. Veit. Das Konvolut, die Fassungen und ihre Deutung, 2019). Er war Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2019) und Postdoc an der Universität Mailand (2019-2022). Zahlreiche Publikationen zur österreichischen Literatur und Textphilologie. Zurzeit unterrichtet er an den Universitäten Mailand und Como. Roberta Ascarelli unterrichtet Deutsche Literatur an der Universität Siena und zeitgenössische jüdische Literatur am BA für Jüdische Studien (Union der jüdischen Gemeinden Italiens). Studium : Università Roma La Sapienza, Universität Bielefeld, Harvard University ; Forschungsschwerpunkte : Deutsche und mitteleuropäische jüdische Literatur. Veröffentlichungen : Monographien über Schnitzler, Hofmannsthal und das Junge Wien, über 100 Aufsätze und zahlreiche Herausgaben. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschriften : Austria, Cultura tedesca, Rivista mensile di Israel der Primoli Foundation, und sie ist Mitglied der Accademia di Scienze Morali e Politiche Napoli. Susanna Brogi Literatur- und Buchwissenschaftlerin. Seit 2018 leitet sie das Deutsche Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und Autor*innenbibliotheken. Im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft erschienen
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Kurzbiographien der BeiträgerInnen
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die Aufsätze »Ilse und Helga Aichingers intermediale Korrespondenz« (2014) sowie »Private Bibliotheken emigrierter Autorinnen und Autoren« (2016). Gemeinsam mit Ellen Strittmatter kuratierte sie 2018 im Literaturmuseum der Moderne die Ausstellung »Die Erfindung von Paris«. Christian Däufel StR, Dr. phil., Literaturwissenschaftler und Historiker. Er wurde an der FAU Erlangen-Nürnberg mit der Studie »Ingeborg Bachmanns ›Ein Ort für Zufälle‹. Ein interpretierender Kommentar« promoviert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Zeit des Nationalsozialismus und die österreichische Literatur nach 1945. Andreas Dittrich hat das »Digitale Ilse Aichinger Literaturverzeichnis« (dial) zusammengestellt und darauf beruhend 2021 den Band »Aufruf zum Mißtrauen« mit verstreuten Publikationen von Ilse Aichinger herausgegeben. Neben seiner Dissertation am Graduiertenkolleg (Wuppertal) zur Semantisierbarkeit typographischer Gestaltung, arbeitet er im Versatorium, Neuberg College und am Ilse-Aichinger-Haus. Claudia Fahrenwald Dr. phil. habil., Literaturwissenschaftlerin, Philosophin, Erziehungswissenschaftlerin, Hochschulprofessorin an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz. Veröffentlichungen : Aporien der Sprache. Ludwig Wittgenstein und die Literatur der Moderne, (2000) ; Ludwig Wittgenstein und die Frage der (inter-)kulturellen Übersetzbarkeit. In : Walter Schmitz/Ingeborg Fiala-Fürst (Hgg..) : Wissen durch Sprache ? Historische und systematische Positionen (2013) ; Schweigen. In : Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hgg.) : Ilse Aichinger Wörterbuch. (2021). Christine Frank Professorin für deutsche Literatur an der FU Berlin (Vertretung Peter-André Alt) ; Publikationen zu Ilse Aichinger, Helga Michie u. a. Absprung zur Weiterbesinnung. Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger (mit Sugi Shindo, 2011) ; Wort-Anker Werfen. Aichinger und England (mit Rüdiger Görner und Sugi Shindo, 2011) ; Ilse Aichinger in Ulm (2011) ; I am Beginning to Want what I Am. Helga Michie. Works / Werke 1968 – 1985 (2018) ; Das grüne Märchenbuch aus Linz (2022). Asako Fukuoka Studium der Germanistik in Nagoya (Promotion 2011) und Wien (2004 – 2006), Stipendium der Rotary Foundation (2004) und Preis der Gesellschaft zur Förderung der
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Kurzbiographien der BeiträgerInnen
Germanistik in Japan (2010). 2013 – 2018 Dozentin an der Universität Kobe, seit 2019 Associate Professorin an der Tokyo Metropolitan Universität. Forschungsschwerpunkt österreichische Gegenwartsliteratur, insbesondere Elfriede Jelinek. Irene Fussl Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Literaturarchivs Salzburg ; gemeinsam mit Hans Höller bzw. seit 2021 mit Uta Degner Gesamtherausgeberin der Salzburger Bachmann Edition ; u. a. »halten wir einander fest und halten wir alles fest !« Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich. Der Briefwechsel. Hg. von Irene Fußl und Roland Berbig. Mit einem Vorwort von Hans Höller. München/Berlin/Zürich : Piper, Suhrkamp 2021. Rüdiger Görner Centenary Professor of German with Comparative Literature and Founding Director of the Centre for Anglo-German Cultural Relations an der Queen Mary University of London. Jüngste Buchveröffentlichungen : Franz Kafkas akustische Welten. Berlin : 2019 ; Im Zeichen des Windrads. Literarische Orientierungen. Wien : 2019 ; Europa wagen ! Aufzeichnungen, Interventionen und Bekenntnisse. Baden-Baden : 2020 ; Romantik. Ein europäisches Ereignis. Stuttgart : 2021 ; Die versprochene Sprache. Über Ilse Aichinger. Wien : 2021 ; Hölderlin and the Consequences. An Essay on the German ›Poet of Poets‹. London : 2021. Christa Gürtler lebt als Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin und Literaturvermittlerin in Salzburg, Forschungsschwerpunkt zur Literatur von Autorinnen u. a. Ingeborg Bachmann ; zuletzt gem. mit Martin Wedl, 2012 – 2017, Herausgabe der fünfbändigen Werkausgabe von Elfriede Gerstl ; 2021, gem. mit Uta Degner Hg. von Elfriede Jelinek : Provokationen der Kunst und Gespenstischer Realismus. Texte von und zu Kathrin Röggla. Franz Haas studierte Germanistik und Theaterwissenschaften in Wien, lebt seit 1984 in Rom, war Lektor für deutsche Sprache an den Universitäten Bari, Neapel und Rom, wurde 1992 Professore associato für deutsche Literatur in Udine und lehrt seit 1997 an der Universität Mailand. Seine Interessensgebiete sind die österreichische Gegenwartsliteratur, die deutschsprachige Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und die Komparatistik. Als Literaturkritiker schreibt er seit 1992 vor allem für die »Neue Zürcher Zeitung«.
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Kurzbiographien der BeiträgerInnen
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Reika Hane Dr. phil., Associate Professorin der Faculty of Letters an der Chuo University (Tokyo). Veröffentlichungen u. a.: Gewalt des Schweigens. Verletzendes Nichtsprechen bei Thomas Bernhard, Kōbō Abe, Ingeborg Bachmann und Kenzaburō Ōe. Berlin/Boston 2014 ; Bōryoku no kioku to shisha no tsuitō. Ilse Aichinger ni okeru Grimm dōwa no keishō to danzetsu [Erinnerung an Gewalt und Gedenken an Tote. Erbe von und Bruch mit Grimms Märchen bei Ilse Aichinger]. In : Jissenkyōyōenshū, Faculty of Letters, Chuo University (Hg.), Manabi no tobira wo hiraku. Jikan, kioku, kiroku [Die Tür zum Studium öffnen. Zeit, Erinnerung, Aufzeichnung]. Bd. 2. Tokyo 2022. Desiree Hebenstreit Dr.in phil., Studium der Germanistik und Geschichte in Wien ; Forschungsschwerpunkt und Publikationen zur Österreichischen Literatur nach 1945 ; seit 2011 Mitarbeit in FWF-Forschungsprojekten, u. a. Edition der Tagebücher von Andreas Okopenko ; 2020 – 2023 Projektleitung »Der Österreichische Staatspreis. Kontinuität, Bruch und Kanondiskurs von 1950 bis 1967«, seit 2023 »Vicki Baum : Kommentierte Edition ausgewählter Werke« an der Universität Wien. Deborah Holmes Assoziierte Professorin für Neuere deutsche Literatur, Universität Salzburg ; Herausgeberin, Austrian Studies. Arbeitet v. a. zur österreichischen Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Publikationen (eine Auswahl) : Langeweile ist Gift. Ein Leben der Eugenie Schwarzwald (2012) ; Fragments of Empire. The Habsburg Imaginary (2020, mit Clemens Peck) ; Friderike »Zweig«. Weibliche Intellektualität im frühen 20. Jahrhundert (2023, mit Martina Wörgötter). Kotaro Isozaki Studium der Germanistik in Tokyo (Promotion 2019) und Köln, seit 2009 Associate Professor an der Universität Fukui. Publikationen u. a. zu Adalbert Stifter, Friedrich Hebbel, Gottfried Keller sowie Übersetzungen ins Japanische (Adalbert Stifter, Aleida Assmann). Forschungsschwerpunkte : deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, Literatur und Nationalismus, Gedächtnistheorie. Wakiko Kobayashi Germanistikstudium in Tokyo und in Hamburg, Dr. phil. Seit 2020 Professorin für deutsche Sprache und Literatur an der Gakushuin Universität in Tokyo. Forschungsschwerpunkte : deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Hörspiel. Übersetzungen
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Kurzbiographien der BeiträgerInnen
ins Japanische von Ilse Aichinger Die größere Hoffnung und Film und Verhängnis und Rammstein Keyboarder Flake Heute hat die Welt Geburtstag. Wynfrid Kriegleder Professor am Institut für Germanistik der Universität Wien. Mitglied der Kommission »The North Atlantic Triangle« und des Schubert Research Center der ÖAW. Publikationen : Vorwärts in die Vergangenheit. Das Bild der USA im deutschsprachigen Roman von 1776 bis 1855 (1999) ; Eine kurze Geschichte der Literatur in Österreich. Menschen – Bücher – Institutionen (2011 ; 3. Auflage 2018). Vivian Liska Professorin für deutsche Literatur und Direktorin des Instituts für jüdische Studien an der Universität Antwerpen, Belgien. Distinguished Visiting Professor an der Hebrew University, Jerusalem. Publikationen u. a.: Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne (2011), Giorgio Agambens leerer Messianismus (2011), Prekäres Erbe. Deutsch-jüdisches Denken und sein Fortleben (2021). Kurt Neumann Einige Jahrzehnte Mitarbeit in der Alten Schmiede Wien, literarische Publikationen seit 1982 ; Mitherausgeber u. a. von Einfache Frage : Was ist gute Literatur ? (2016) ; Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945 : 1. Lieferung (2007) ; 2. Lieferung (2013) ; 3. Lieferung (2019). Thomas Pekar promovierte über Robert Musil ; Habilitation in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft an der LMU München mit einer Untersuchung über die europäische JapanRezeption. Stipendien, Forschungsprojekte und Lehrtätigkeit in Deutschland, Japan, Südkorea und den USA. DAAD-Lektor an der Universität Tokio. Seit 2001 Professor für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaften an der Gakushuin Universität in Tokio. Forschungen über Exilliteratur, Kulturkontakte und die Literatur der Klassischen Moderne ; darüber zahlreiche Veröffentlichungen (s. https://thomaspekar.work). Theresia Prammer aufgewachsen in Wien, studierte in Wien und Italien und lebt seit 2003 vorwiegend in Berlin. Übersetzungen, Essays, Unterrichts- und Veranstaltungstätigkeit. 2017 kuratierte sie das zweiteilige Symposium »Was für Sätze. Ilse Aichinger (1921 – 2016). Lektüren und Erinnerungen«. (Zusammen mit Christine Vescoli). Zuletzt erschienen : »Pier Paolo Pasolini : Nach meinem Tod zu veröffentlichen« (Suhrkamp, 2021).
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Helga Schreckenberger Professorin an der Universität von Vermont. Ihre Forschungsgebiete sind österreichische Gegenwartsliteratur und Exil und Migrationsstudien. Veröffentlichungen von zahlreichen Artikeln auf beiden Gebieten sowie den Editionen Ästhetiken des Exils (2003), Die Alchemie des Exils : Exil als schöpferischer Impuls (2005) und Networks of Refugees from Nazi Germany : Continuities, Reorientations, and Collaborations in Exile (2016). Veronika Schuchter Senior Scientist am Institut für Germanistik an der Universität Innsbruck. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Gegenwarts- und Exilliteratur, Geschlechter- und Rezeptionsforschung. Publikationen u. a. Das Geschlecht der Kritik (2021, hg. mit Peter Pohl) ; Ernst Toller. Briefe 1915 – 1939. 2 Bde. (2018, hg. mit Stefan Neuhaus u. a.), Textherrschaft (2012). Alexander Schwieren Dr., Studium der Deutschen Philologie, Mathematik, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Berlin, 2013 als Stipendiat beim Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin mit einer Arbeit zum Thema Gerontographien : Eine Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs promoviert, Forschungsschwerpunkte : Kulturund Wissensgeschichte des Alters, Theorie und Literatur des Zusammenlebens, Literatur des 20. Jahrhunderts. Sugi Shindo Professorin an der Nihon Universität (Collage of Law) in Tokio. Germanistikstudium an der Nihon Universität und an der Universität Wien. Publikationen zu Ilse Aichinger. Japanische Übersetzung des Erzählungsbandes Der Gefesselte (2001). Wolfgang Straub Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Publizistik, Literaturwissenschaftler und -kritiker, Leiter Handschriften, Musikalien und Nachlässe an der Wienbibliothek im Rathaus, Projektleiter am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung der Universität Klagenfurt. Zahlreiche Buchpublikationen, zuletzt : Thomas Bernhards Wien (gemeinsam mit M. Huber), Wien 2023 ; Kommentierte Werkausgabe Werner Kofler, Bde IV u. V (hg. gemeinsam m. C. Dürr), Wien 2023. Yukiko Sugiyama Studium der Germanistik in Tokyo und Salzburg, Dissertation über Stefan Zweigs Freiheitsidee (Universität Salzburg 2016) ; seit 2020 Senior Assistant Professor an der
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Kurzbiographien der BeiträgerInnen
Keio Universität (Tokio/Yokohama) ; Veröffentlichungen zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts sowie zur Kulturgeschichte Österreichs. Übersetzung ins Japanische : Stefan Zweig : Die Reise in die Vergangenheit / Schachnovelle (2021). Ruth Vogel-Klein Emeritierte Germanistikdozentin der Hochschule École Normale Supérieure, Paris. Promotion über Heinrich Böll an der Sorbonne. Publikationen u. a. zu W. G. Sebald, Max Frisch, H. G. Adler, Ruth Klüger, Ilse Aichinger, Literatur und Holocaust, Autobiographie, Textgenese und Manuskriptforschung. Barbara Wiedemann Lehrbeauftragte am Deutschen Seminar der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Arbeitsschwerpunkt sind Editionen, vor allem aus den Werken und Briefen Paul Celans, Forschung zu Einzelaspekten seines Werkes und allgemein zur Literatur nach 1950, zur Gedichttheorie und zur literarischen Übersetzung. Zuletzt Mitherausgeberin des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch (2022). Thomas Wild Professor of German Studies, Bard College, New York. Publikationen u. a.: Hannah Arendt. Leben, Werk, Wirkung (2006) ; Nach dem Geschichtsbruch. Deutsche Schriftsteller um Hannah Arendt (2009) ; Was ich mir wünsche. Gedichte von Thomas Brasch (2005) ; Wolfgang Hildesheimer : 12 Briefwechsel (2016) ; ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger (2021). Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe von Hannah Arendts Schriften (2018 ff.) Hiroshi Yamamoto Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Waseda Universität in Tokyo, Japan. Er forscht unter anderem zu Gulag-Literatur aus zweiter Hand, Autofiktion sowie Translation Studies und übersetzt deutschsprachige Literatur wie Herta Müller, Thomas Bernhard und Alfred Döblin ins Japanische.
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